Der Historische Roman
Geschichte umerzählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart
0916
2009
978-3-7720-5325-2
978-3-7720-8325-9
A. Francke Verlag
Hans Vilmar Geppert
Unter welchen Voraussetzungen kann man von "dem" Historischen Roman sprechen? Und was macht diese Hybride aus Fiktionen und Fakten so vital? Können verschiedene Literaturen einander fruchtbar wechselseitig interpretieren? Wie modern war schon das
19. Jahrhundert, wie traditionell und wieder realistisch sind Moderne und Postmoderne?Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Anspruch und Unterhaltung,
Bestsellern und "großer" Literatur?
Im Mittelpunkt dieser transnational angelegten Gattungsgeschichte stehen Einzelporträts von zahlreichen Romanen der deutschen, englisch-amerikanischen
und französischen Literatur. Dazu kommen Querund Längsschnitte durch literarische Felder und Traditionen. Der gesuchten Vielfalt der Aspekte entgegen steht die systematisch orientierte, zugleich viele weitere Beispiele erschließende Skizze einer Poetik des historischen Romans, seiner paradoxen Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort.
<?page no="0"?> Hans Vilmar Geppert Der Historische Roman Geschichte umerzählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart <?page no="1"?> Der Historische Roman <?page no="3"?> Hans Vilmar Geppert Der Historische Roman Geschichte umerzählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart <?page no="4"?> Umschlagabbildungen: Théodore Géricault, Officier de chasseurs à cheval de la garde impériale chargeant Kretisches Labyrinth Berlin, Siegessäule (Foto: Achim Raschka) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abru ar. © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und stra ar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Satzpunkt, Bayreuth Druck: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8325-9 <?page no="5"?> Inhalt V Inhalt 1. Eine differenzierte Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2. Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans. Walter Scott, Achim von Arnim, Alessandro Manzoni, Steen Steensen Blicher, Alfred de Vigny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2.1 Zum historischen Kontext historischer Romane . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.2 Walter Scott: Waverley or, ’Tis Sixty Years Since / Waverley oder ’s ist nun sechzig Jahre (1814) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.3 Achim von Arnim: Die Kronenwächter (1817) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.4 Steen Steensen Blicher: Brudstykker af en Landsbydegns dagbog / Bruchstücke aus dem Tagebuch eines Dorfküsters (1824) . . . . . . . . 37 2.5 Alessandro Manzoni: I promessi sposi / Die Verlobten (1827) . . . . . . . . . . 40 2.6 Alfred de Vigny: Cinq-Mars (1826) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Ein weites Feld. Die produktive Rezeption Walter Scotts im 19. Jahrhundert. The Waverly Novels, Mérimée, Stendhal, Balzac, Alexis, Thackeray, Fontane. . . . . . . . 50 3.1 Walter Scott: Waverley Novels von Guy Mannering (1815) zu Redgauntlet (1824) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.2 Prosper Mérimée: Chronique du règne de Charles IX (1829) . . . . . . . . . 63 3.3 Stendhal: La chartreuse de Parme / Die Karthause von Parma (1839) . . . 68 3.4 Honoré de Balzac: Les Chouans / Die Chouans. Rebellen des Königs (1829) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3.5 Willibald Alexis: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht (1852) . . . . . . . . . . . . . 77 3.6 William M. Thackeray: The History of Henry Esmond / Die Geschichte des Henry Esmond (1852) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.7 Theodor Fontane: Vor dem Sturm (1878) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.8 Theodor Fontane: Schach von Wuthenow (1882) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 <?page no="6"?> VI Inhalt 4. Zwischen Monument und Nihilismus. Alternativen des historischen Romans im 19. Jahrhundert. J.F. Cooper, Dickens, Victor Hugo, C.F. Meyer, Stifter, Flaubert, Raabe . . . 102 4.1 James Fenimore Cooper: The Pioneers (1823) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.2 Charles Dickens: A Tale of two Cities / Eine Geschichte von zwei Städten (1859) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.3 Victor Hugo: Quatrevingt-Treize / Dreiundneunzig (1874). . . . . . . . . . 114 4.4 Conrad Ferdinand Meyer: Jürg Jenatsch (1876) . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4.5 Adalbert Stifter: Witiko (1865-1867). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4.6 Gustave Flaubert: Salammbô (1863) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4.7 Wilhelm Raabe: Das Odfeld (1888) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5. Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort. Skizze einer Poetik des historischen Romans. . . . . . . . . . . . . . . . 150 5.1 Erzählte Geschichte. Hayden White, Reinhart Kosellek, Paul Ricœur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 5.2 Die produktive Differenz von Fiktion und Historie. . . . . . . . . . . . . . 157 5.3 Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman . . . . . . . . . 167 5.3.1 Konstruktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 5.3.1.1 Illusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 5.3.1.2 Fabelbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.3.1.3 Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 5.3.2 Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 5.3.2.1 Selbstreferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 5.3.2.2 Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 5.3.2.3 Negationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 5.3.3 Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5.3.3.1 Subjektivierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 5.3.3.2 Dialogismen, Revisionen, Complexionen . . . . . . . . . . . . . . 197 5.3.3.3 Metapoetik und Metahistorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 5.4 Diahistorien, Chronotopen, Utopien, Zeitaporie: Zur Poetik der Zeit im historischen Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 6. Polyhistorien. Paradigmen der Moderne im historischen Roman. Döblin, Faulkner, Aragon, Heinrich Mann, Brecht, Feuchtwanger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 6.1 Alfred Döblin: Wallenstein (1920) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 6.2 William Faulkner: Absalom, Absalom! (1936) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 <?page no="7"?> Inhalt VII 6.3 Louis Aragon: La semaine sainte / Die Karwoche (1958) . . . . . . . . . . . . 236 6.4 Der deutsche historische Roman des Exils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 6.4.1 Heinrich Mann: Die Jugend und die Vollendung des Königs Henri Quatre (1935/ 1938) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 6.4.2 Bertolt Brecht: Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar (1938/ 1939). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 6.4.3 Lion Feuchtwanger: Der jüdische Krieg (1932), Die Söhne (1935), Der Tag wird kommen (1945) . . . . . . . . . . 266 7. Traumatische Geschichten. Krieg und Drittes Reich im deutschen historischen Roman der Nachkriegszeit. Alexander Kluge, Alfred Andersch, Uwe Johnson . . . . . . . . . . . . 271 7.1 Alexander Kluge: Schlachtbeschreibung (1964, 1978, 2000) . . . . . . . . . 275 7.2 Alfred Andersch: Winterspelt (1974) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 7.3 Uwe Johnson: Jahrestage (1970-1983) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 8. Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen. Der historische Roman der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 8.1 Das Spiel mit den Katastrophen. Peruz, Vonnegut, Pynchon, Hilsenrath . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 8.1.1 Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke (1953) . . . . . 305 8.1.2 Kurt Vonnegut: Slaughterhouse 5 / Schlachthof 5 (1969) . . . . 311 8.1.3 Thomas Pynchon: Gravity’s Rainbow / Die Enden der Parabel (1973). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 8.1.4 Edgar Hilsenrath: Das Märchen vom letzten Gedanken (1989) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 8.2 Spiele der Erinnerung. Graham Swift, W.G. Sebald, Uwe Timm. . . 326 8.2.1 Graham Swift: Waterland (1983) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 8.2.2 W. G. Sebald: Austerlitz (2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 8.2.3 Uwe Timm: ROT (2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 8.3 Das Spiel der Zeichen gegen die Geschichte. Tournier, Eco, Ransmayer, Unsworth, Brown. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 8.3.1 Michel Tournier: Le roi des aulnes / Der Erlkönig (1970) . . . . 356 8.3.2 Umberto Eco: Il nome della rosa / Der Name der Rose (1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 8.3.3 Christoph Ransmayr: Die letzte Welt (1998) . . . . . . . . . . . . 378 8.3.4 Barry Unsworth: Morality Play (1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 8.3.5 Dan Brown: The Da Vinci Code (2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 <?page no="8"?> VIII Inhalt 8.4 Tradition, Postmoderne und neuer Realismus: Don DeLillo: Underworld (1997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 <?page no="9"?> 1. Eine differenzierte Gattung Was ist ein historischer Roman? Besser, auf alle Fälle anschaulicher als jede Definition zeigen inzwischen fast klassische Anfangssätze, wie vielfältig und doch vergleichbar sich diese Romane immer wieder präsentieren: It is, then, sixty years since […]. (Walter Scott, Waverley, 1814) It was the best of times, it was the worst of times […], it was the season of Light, it was the season of Darkness […]. It was the year of Our Lord one thousand seven hundred and seventy-five. (Charles Dickens, A Tale of Two Cities, 1859) Nachdem die Böhmen besiegt waren, war niemand darüber so froh wie der Kaiser. (Alfred Döblin, Wallenstein, 1918) Henri Maximilian Ligre poursuivait par petites étapes sa route vers Paris. Des querelles opposant le Roi à l’Empereur, il ignorait tout. / Henri Maximilian Ligre war in kleinen Etappen auf dem Weg nach Paris. Von den Streitigkeiten zwischen dem König und dem Kaiser wusste er nichts. (Marguerite Yourcenar, L’Œuvre au noir / Die schwarze Flamme, 1968) Sandkasten. Geschichte berichtet, wie es gewesen. Erzählung spielt eine Möglichkeit durch. (Alfred Andersch, Winterspelt, 1974) Prologue 1123. The small boys came early to the hanging. (Ken Follett, The Pillars of the Earth, 1989) Was macht die Lektüre solcher Sätze interessant? Nicht immer, aber sehr oft, weiß man von den ersten Sätzen an, dass man es mit einem „historischen“ Roman zu tun hat. Und es ist das Hybride dieses Erzählens, das es so vital, so faszinierend für immer neue Leser werden ließ. Das gilt bereits für Walter Scotts Waverley, in dem das „then“ sowohl historisch verortende Funktion hat, verstärkt durch die Zeitangabe, als auch das ursprüngliche, freie Setzen einer fiktiven Handlung unterstreicht (vgl. genauer Kap. 2.2), deren Fortgang im Kontext der Revolution von 1745 noch offen ist und neugierig macht. Diese anfängliche Differenzierung gilt genauso für Döblin oder Ken Follett. So werden etwa im Anfangssatz des Wallenstein einerseits die Schlacht am Weißen Berg (8. November 1620) sowie der Kaiser Ferdinand II. (1619-1637) hinreichend sicher benannt; andererseits aber erlaubt die „Innenperspektive“ bzw. „interne Fokalisierung“ (Genette 1994, 134 ff.) es auf geradezu klas- <?page no="10"?> 2 Eine differenzierte Gattung sische Weise, den „character in fiction“ vom „character in history“ zu unterscheiden (Forster 1927, 67/ 68). Der Wechsel der Zeitdistanz, das Spiel von Verallgemeinerung („niemand so froh“) und Individualisierung, die leise Ironie, welche die „Erzählerstimme“ hörbar macht (Bachtin 1979, 156 f.), die im ganz subjektiven Urteil „war froh“ zumindest minimal aufgebrochene „Einsträngigkeit“ der Historie − eine klassische Möglichkeit des historischen Romans seit Walter Scott (Iser 1972, 148 ff.): All dies unterstreicht die Literarizität. Oberfläche und Tiefe, Nähe und Distanz, Innen und Außen, Persönliches und Allgemeines, fiktives Jetzt und historisches Damals, Gefühl und Wissen differenzieren sich vom ersten Satz an auseinander und sind zugleich aufs Engste dialogisch, eigentlich „polylogisch“ verflochten. Und die Dynamik dieser Differenzierung wird im Verlauf des Romans das Wissbare in der Bedeutung der Fakten ebenso „durchstoßen“ (Döblin 1963, 132), wie sie die bloß identifizierende, illusionäre Verdichtung einer literarischen Person, ihren „effet du réel“, „Effekt des Realen“ (Barthes 1968, 179) bzw. „Wirklichkeitseffekt“ (Lyotard 1990, 38), immer wieder, oft durchaus provozierend, der Erkenntnis des Lesers öffnen wird. So unabgeschlossen und unbewältigt dann die historische Vergangenheit im Wallenstein dastehen wird („Kaiserliche Sachsen Schweden Bayern“, Wallenstein, 739, vgl. unten Kap. 6.1), so unfassbar, als Rätsel und als Aufgabe, zeigt sich zuletzt der Möglichkeitshorizont menschlichen Verhaltens. Ist das von der Art und Weise so grundsätzlich verschieden, mit der Charles Dickens antithetische Werte-Paradigmen (vgl. unten Kap. 5.3), Gegensätze humaner Möglichkeiten aufruft (so auch „weise“ und „närrisch“, „Hoffnung“ und „Verzweiflung“ usw.), um sie um ein ausbuchstabiertes Datum geradezu „kreisen“ (Mengel 1986, 118 ff.) zu lassen? So sehr diese Werte etwas menschlich Allgemeines, man kann geradezu sagen, etwas teils Mythisches, teils Utopisches beanspruchen mögen, ihre Gegensätzlichkeit macht sie unentschieden, das Auftreffen auf die historische Situation macht sie zu Hypothesen. Und so dunkel und unbestimmt beginnt analog das nächste Kapitel: „It was the Dover road that lay, on a Friday night late in November, before the first of the persons with whom this history has business.“ (A Tale of two Cities, 35). Bei Yourcenar weiß die Romanperson von der Historie so wenig − den Lesern freilich ist schnell klar, dass Franz I. (1515-1547) und Karl V. (1519- 1556) gemeint sind −, wie die Quellen und Kompilationen von diesem Henri Maximilian oder dem gleich darauf auftretenden Romanhelden wissen können. Aber ohne ihresgleichen wäre, zugespitzt gesagt, Geschichte nicht, oder sie wäre viel ärmer. Die Möglichkeit, die Andersch entwirft, eine moralisch begründete Kapitulation der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, ist genauso nie real „gewesen“, wie gerade diese „Erzählung“ sie immer konsequenter ausschließen wird. Aber ohne eine solche wechselseitige Negation im Um- <?page no="11"?> Eine differenzierte Gattung 3 spielen einer Leerstelle könnte Geschichte, so Winterspelt, keine humane Zukunftsperspektive entwerfen und wäre nicht lebbar. Die produktive Differenz von historischem und fiktionalem Diskurs, jeder seinerseits zu vielen Formen fähig, die contradictio in adjectu des „historischen Romans“, das Hybride dieser Gattung, können auch auf mehrere Seiten, ja Kapitel gedehnt signalisiert werden: bei Arnim, Blicher, Manzoni oder de Vigny bereits ebenso wie im zwanzigsten Jahrhundert und bis heute. Bert Brechts Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar (1939) oder Marguerite Yourcenars Mémoires d’Hadrien (1958) beispielsweise tragen zwar die Namen prominenter historischer Persönlichkeiten im Titel, beginnen aber „irgendwie“, „irgendwo“ und „irgendwann“: auf dem Weg zu einer schön gelegenen Villa (Brecht) oder mit Gedanken über das Alter, den Körper, den Tageslauf, die Liebe und den Tod (Yourcenar), und erst nach und nach wird eine „ferne“ und dann immer genauer benennbare historische Situation eingekreist. Ken Follett spielt bereits virtuos mit dieser Differenz von Fiktion und Historie: Erst erfährt man zitatweise vom „White Ship“, das am 25. November 1120 vor Barfleur gesunken ist, mit ihm ertrank der englische Erbprinz, und der spätere Bürgerkrieg ist letztlich darauf zurückzuführen. Aber es dauert mehr als hundert spannende Seiten, bis mit dem Satz „King Henry is dead“ dieser historische Diskurs (es geht um den Tod Heinrichs I., 1135) wieder aufgenommen wird. Erst ganz am Ende des Romans, also nochmals fast tausend Seiten voll Krieg, Raub, Vergewaltigung, Mord, aber auch Liebe, Kunst und mittelalterlichem „big business“ später (vgl. The Pillars of the Earth, 1071 ff.), erfährt der Leser, wie der filmartig dicht erzählte „Prologue 1123“, der Troubadour, der Fluch, die Hexe, der Priester, mit dem „White Ship“ zusammenhängen. Und in Martin Amis’ Time’s Arrow (1991) wird diese gedehnte Differenz schließlich zum kalkulierten Schock, wenn ein sympathischer Durchschnittsamerikaner wie in einem verkehrt laufenden Film rückwärts in der Zeit fortschreitend dem historischen „Kern“ seiner Existenz entgegenlebt − seiner Arbeit als KZ-Arzt in Auschwitz. Immer sind es mehrere, aber untereinander unterscheidbare und beim Lesen auch trennbare Diskurse, die sich im historischen Roman verbinden, entflechten, entgegensetzen und wieder verbinden und so fort (vgl. unten Kap. 5): eine Spirale fiktional entwerfender, freier Erfindungen, deren Möglichkeiten gar nicht zu begrenzen, allenfalls strukturell zu dimensionieren sind, und historisch in Raum und (vergangener) Zeit benennender Rekonstruktionen, die ebenfalls sehr verschiedener Logik und verschiedenen „Tropen“ (vgl. unten Kap. 5.3.1.2) folgen können. Aber diese produktive Differenz und differenzierte Pluralität wären nicht möglich ohne ihre gemeinsame Tiefenstruktur: Alle historische Erkenntnis, so kann man eine These vom 18. Jahrhundert bis heute vereinfacht, aber darum nicht falsch wiedergeben, ist narrativ verfasst. Auch Klio dichtet (White, 1991). Geschichte hat, nicht <?page no="12"?> 4 Eine differenzierte Gattung unbedingt in ihrer Darstellungs-, aber immer in ihrer Konstruktionsform die Struktur von Behauptungssätzen (Danto, 1974), nur in erzählerischer, mehrfacher „Mimesis“ sind Zeit und Geschichte überhaupt zu konstituieren (Ricœur, 1983-1985). Als die Literatur in und gegenüber dieser immer nur zu erzählenden Geschichte ihre Chance entdeckte, von Anfang an eine Chance voller literarischer Freiheit in voller Auseinandersetzung mit Historie, und als die spezifische Situation nach den napoleonischen Kriegen dieser Freiheit in der Auseinandersetzung mit Geschichte bedurfte (vgl. unten Kap. 2.1 und 3.1), entstand der historische Roman. Aber auch seine Entwicklung bis heute ist von der produktiven Differenz narrativer, also historischer und/ versus fiktionaler Diskurse geprägt. Die Frage, wie diese Differenz ausgespielt wird, ist zugleich die Frage, wie und wovon erzählt, wie und wofür argumentiert wird und welche Wahrheiten in und gegenüber der Geschichte gesucht werden. Diese Differenzierung, Vielfalt und plurale Kontinuität des historischen Romans lässt sich nur in einer transnationalen, vergleichenden Perspektive beschreiben. Dies zumindest exemplarisch zu versuchen, ist das erste Ziel dieser Gattungsdarstellung. Nicht dass damit die Orientierung innerhalb der Nationalliteraturen entbehrlich wäre. Aber die komparatistische Sicht sollte immer als wesentliche Ergänzung hinzutreten: Das gilt etwa für die mehrfachen, weitestgehend unabhängig voneinander oder als Gegenentwürfe zu Walter Scott (so de Vigny) konzipierten Anfänge des historischen Romans. Auch die experimentelle, die eigenen Schreibweisen innovativ verändernde Dynamik bereits in den Waverley Novels findet beispielsweise in der französischen Literatur ihre konsequenteste und freieste Fortsetzung. Fontane, dessen drei historische Romane ganz verschieden konzipiert sind, erhält in diesem europäischen Kontext einen angemesseneren Platz, als wenn man ihn lediglich neben Alexis, Scheffel, Freytag oder Dahn stellt. Vergleichbares gilt für das Feld zentrifugaler Alternativen des historischen Romans bereits im 19. Jahrhundert, das einen zumindest interessanten Interpretationsrahmen abgibt für Stifter oder C. F. Meyer und erst recht für die Modernität, ja das postmoderne Moment in Raabes späten historischen Erzählungen. Die literarische Moderne, die für den historischen Roman mit Alfred Döblins Wallenstein (1920) beginnt - sollten deutschsprachige Anglisten und Romanisten nicht wichtige Werke ihrer eigenen Literatur so einbeziehen, wie es etwa für französische oder italienische Germanisten selbstverständlich ist? -, hat die Möglichkeiten dieser fiktional-historischen Hybride noch einmal so entschieden „polyhistorisch“ vervielfältigt, dass eine vergleichende der je nationalen Perspektive sinnvollerweise vorangehen muss. So entwerfen etwa Döblins Wallenstein und William Faulkners Absalom, Absalom! (1936) polar alternative Polyhistorien (Vielfalt der Geschichten, Vielfalt der Stimmen) und insofern narrative Paradigmen, die bis zur Gegenwart (Pynchon, DeLillo einerseits, Johnson, Swift andererseits) fruchtbar bleiben. Auf alle <?page no="13"?> Eine differenzierte Gattung 5 Fälle nutzen der historische Roman des Exils und dann und noch gezielter die Auseinandersetzung mit Krieg und Drittem Reich in der deutschen Literatur diese internationale moderne, polyhistorische Poetik selektiv für ihre spezifischen Themen und Zwecke. Gerade die hier so eng problematische und tief traumatische Historie bedurfte kreativ freier literarischer Erkenntnisformen. Gewinnt so die Nationalliteratur erst in vergleichender Perspektive Kontur - sie ist nicht ihre eigene Norm -, so werden umgekehrt Spezifika der Postmoderne dann am klarsten sichtbar, wenn sie unabhängig in mehreren Literaturen auftreten. Das gilt insbesondere für die, wie spielerisch immer, realistische Verankerung und die, wie riskant immer, letztlich aufklärerische Perspektive im historischen Roman der Postmoderne: „halfway hopeful […] Peace“ (Don DeLillo, Underworld 1998, 11 u. 827). Die vergleichende Perspektive, die diese Untersuchung, zumindest, wie gesagt, exemplarisch prägt, verschiebt dann auch gewohnte Grenzen zeitlichepochaler Trennungen. Man könnte das letzte Kapitel (Kap. 8.4) auch als Einleitung lesen. Der historische Roman hatte in seinen von Anfang an vielfältigen Formen schon immer etwas Modernes; wenn man will, eben als Hybride, hatte er auch schon etwas Postmodernes. Und andererseits verleiht sein historischer Fokus ihm realistische Stabilität: Es genügt oft, den Namen zu nennen: so wie früher „Culloden“ (Walter Scott, Waverley, 1814), jetzt „Dresden“ (Kurt Vonneguth, Slaughterhouse 5, 1969) oder „Auschwitz“ (Martin Amis, Time’s Arrow, 1991) oder „ROSHI“ (Hiroshima, Thomas Pynchon, Gravity’s Rainbow, 1973), und alle fiktionalen und narrativen Differenzierungen werden historisch bedeutsam eingeholt. Wie auch immer: Die Moderne in der Tradition, die Kontinuität traditioneller Erzählformen in der Moderne bildet ein zweites durchgehendes Interesse in diesem Buch. Die Moderne des 20. Jahrhunderts legt noch eine weitere Orientierung nahe. An die Stelle nationaler und epochaler Trennungen müssen theoretische und narrativ-systematische Unterscheidungen treten. Insofern steht Kap. 5 in der Mitte dieser Darstellung einer diskontinuierlich-kontinuierlichen Gattung, als hier retrospektiv und prospektiv die Möglichkeiten des historischen Romans, seine Narrativik allgemein, dimensioniert werden sollen: Dimensionen von Veränderungen im Wechselspiel von Fiktion und Historie, Differenzierung und Konstruktion, Tradition, Kritik und Projekt. Denn der historische Roman ist zuerst Roman, er kann sich aller Erzählformen bedienen, aber er wird zusätzlich geprägt durch seinen historischen Diskurs bzw. „Fokus“. Als das Besondere seiner Poetik wird sich die immer neu Geschichte auserzählende „replikativ-iterative“ Spirale, die „nur wenn - dann / dann nicht“-Dynamik von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort erweisen. Wie lassen sich ihre Erkenntnis-Funktionen denken und beschreiben? Und nicht zuletzt wird so vielleicht ein Charakteristikum des historischen Romans, seine Popularität und Unterhaltungsfunktion, dass man es hier von <?page no="14"?> 6 Eine differenzierte Gattung Walter Scott bis zur Gegenwart immer wieder mit Bestsellern zu tun hat, kohärent und doch differenziert beschreibbar. Vielleicht kommt es ja daher, dass der Erfolg immer viele Nachahmer hat - man denke an die Ivanhoe-Nachfolge oder heute an den historischen Kriminal-Roman -, dass die literarisch anspruchsvollen historischen Romane, zugleich die, die am meisten zu denken geben, oft ausgesprochene Unikate sind. Am interessantesten sind die Extreme. Auch „spezialisierte“ Autoren, wie bereits Walter Scott oder später sehr deutlich etwa Leo Perutz oder Edgar Hilsenrath, haben sich selbst kritisch, im wörtlichen Sinne von differenzierend rezipiert. Bei allen traditionalen Vernetzungen und strukturellen Gemeinsamkeiten, die Problemstellungen und Erzählstrategien verlaufen hier immer wieder höchst individuell. Man kann sich der Vielfalt der Gattung angemessen nur von den je einmaligen Werken her nähern. Einzelportraits also, untereinander in Längs- und Querverweisen verbunden, jeweils in eher offene epochale Rahmen gestellt und aus einer um theoretische Klarheit und Kohärenz bemühten Perspektive untersucht, das ist das Prinzip dieses Buches. Historische Romane mögen interessant und spannend sein und zum Nachdenken auffordern, meist sind sie zunächst einmal ziemlich dick. Und es gibt eben sehr viele davon. Insofern bleibt die Auswahl der dargestellten Beispiele immer problematisch und nicht zuletzt der Verfasser ist sich vieler Lücken schmerzlich (man darf es glauben) bewusst. Vor allem aber wendet sich dieses Buch an Leser, die die behandelten Romane (noch) nicht alle gelesen haben. Es ist mindestens ebenso sehr erzählend wie analysierend und interpretierend angelegt. Und das Bemühen um die Texte wird wichtiger genommen als das um ihre Beurteilung in der Forschung. Die vorliegende Forschung schließlich zum historischen Roman ist weitestgehend auf je einzelne Literaturen und Epochen konzentriert. Zu einzelnen Werken, auf die es ja hier vor allem ankommt, ist sie so uferlos (manchmal auch redundant), dass sie im Prinzip nur exemplarisch und als Kurzbeleg berücksichtigt werden konnte. Es liegt mir jedoch daran, festzustellen, dass ich z. B. den Büchern von Aust, Humphrey, Lampart, Nünning, den Sammelbänden von Durani / Preece und Fulda / Tschopp und anderen, vor allem aber auch vielen Spezialuntersuchungen mehr Anregungen verdanke, als vielleicht je im Einzelnen nachgewiesen wird. Dieses Buch ist aus Freude am Lesen entstanden. Es wurde bei seiner Abfassung von viel akademischer Lehre begleitet und enthält nur sehr wenig, was nicht mit Studierenden diskutiert und so auch wieder von ihnen gelernt wurde. Vor allem wendet es sich an eine möglichst breite Leserschaft. Daher wurden durchgehend verlässliche und preiswerte Leseausgaben zugrunde gelegt, was auch ein Auswahlkriterium war, und fremdsprachige Werke vor allem dann einbezogen, wenn sie in deutscher Übersetzung zugänglich sind. <?page no="15"?> Eine differenzierte Gattung 7 Die Kapitel und Abschnitte werden durch knappe Forschungshinweise abgeschlossen, in denen aber nicht alle vorher zitierte Literatur genannt wird. Um Platz zu sparen, wird im Text in verkürzter Form zitiert: Beispiel-Romane nach Titel, Erscheinungsjahr und Seitenzahl, Forschungsliteratur mit Verfasser- / Herausgeber-Namen, Erscheinungsjahr, eventuell Bandnummer und Seitenzahl. Buchinterne Querverweise unterscheiden sich davon durch Nennung des Kapitels und, bei Seitenangaben, durch ein vorangestelltes S. Den Nachweis zitierter Literatur gibt das alphabetisch geordnete Verzeichnis am Ende. Die Übersetzungen fremdsprachiger Zitate stammen, wo nichts anderes vermerkt ist, von mir. Mein Dank gilt vielen wissenschaftlichen Hilfskräften, die, oft im Zusammenhang mit Seminararbeiten, Dossiers zur jeweiligen Einzelforschung erstellt haben. Zu danken habe ich auch den Damen und Herren des Francke Verlages für die gute Zusammenarbeit und nicht zuletzt für ihre Geduld. Insbesondere danke ich Beate Hartley-Lutz, die dieses Projekt als wissenschaftliche Mitarbeiterin unterstützt hat, sowie Sonja Deck für die Herstellung des Manuskripts. Allemano: Historical portraits and visions. 1991. • Aust: Der historische Roman. 1994. • Aust: Die Ordnung des Erzählens oder Die Geburt der Geschichte aus dem Geist des Romans. 1995. • Baßler: Historismus und literarische Moderne. 1996. • Borgmeier / Reitz: Der historische Roman I / II. 1984. • Durrani / Preece: Travellers in Time and Space. 2001. • Fulda / Tschopp: Literatur und Geschichte. 2002. • Geppert: Der ,andere’ historische Roman. 1976. • Kebbel: Geschichtengeneratoren. 1992. • Mengel: Geschichtsbild und Romankonzeption. 1986. • Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. I / II. 1995. • Potthast: Die Ganzheit der Geschichte. 2007. • Schabert: Der historische Roman in England und Amerika. 1981. • White: Metahistory. 1973. • White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. 1991. <?page no="16"?> 2. Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans. Walter Scott, Achim von Arnim, Alessandro Manzoni, Steen Steensen Blicher, Alfred de Vigny Walter Scott (1771-1832) hat, nicht zuletzt durch den schieren Erfolg seines Œuvre, die Gattung des historischen Romans wesentlich angeregt, aber er hat sie nicht eigentlich begründet. Nicht nur gab es vielerlei interessante Vorläufer (vgl. für Deutschland etwa Meyer 1973, Aust 1994, 53 ff., für England Schabert 1981, 98 ff., Humphrey 1993, 56 ff., speziell zu „den deutschen Vorläufern“ Walter Scotts, Reitemeier 2001); allerdings handelt es sich um eher triviale Traditionen, eher um Vorfahren Ivanhoes (1819) als Waverleys (1814; vgl. etwa Gamerschlag 1978, 123). Die Gattung entstand ,mehrfach‘. Von Anfang an ist nur der Plural angemessen. Es gibt mehrere ,erste‘ historische Romane: Achim von Arnim (1781-1831) begann lange vor 1814, dem Erscheinungsjahr von Scotts erstem Roman, seine für ihn spezifische offene, ja wesentlich fragmentarische Kontrastverbindung von Mythos und Geschichte zu konzipieren und weitestgehend selbstständig auszuarbeiten. Alfred de Vigny (1797-1863) will schon 1811, vierzehnjährig, eine Geschichte der „Fronde“ geschrieben haben, auf die er bei der Abfassung seines Cinq Mars (1826) zurückgriff; er hatte eigene Vorbilder (vgl. Graber 2000, 35 ff.); und ihm kam es, wie er später in seinem Journal d’un poète im Mai 1837 anmerkt, ausdrücklich auf den Gegensatz zu Walter Scott an: „Je cherchais à faire le contraire de ce travail (de Scott, H. V. G.) et de renverser sa manière“ („Ich wollte ein Gegenstück zu ihm ausarbeiten und seine Methode umkehren“, Vigny, 1948, 2.1063). So gut der in der deutschen und englischen Literatur sehr belesene Steen Steensen Blicher (1782-1848) Walter Scott kannte (vgl. wiederholt Chraska 1986, 7, 42, 49), hat er doch dessen Erzählmodell so einseitig ausgelegt und seine literarischen Ziele entstanden „before he read Scott“ (Nielsen 1983, 472), dass eine zu Scott geradezu konträre Geschichtssicht entstand. Und dasselbe Wechselverhältnis von „accettazione e ripulsa, assimilazione e violenta opposizione“ (Stagnitto 1973, 37: „Annahme und Abstoßung, Angleichung und leidenschaftlicher Gegnerschaft“) besteht zwischen Scott und Alessandro Manzoni (1785-1873). Auch seine I promessi sposi (1827) sind „vom Konzept her anders“ (Küpper 2002, 58) als alles, was Scott geschrieben hat. Seit Georg Lukács: Der historische Roman (1955, entstanden 1936 / 1937) galt Scott für die weitaus überwiegende Forschung schlechthin als „Gattungsmodell“ (Borgmeier / Reitz 1984, 39), „the historical novel (is) uniquely the discovery of Scottish Enlightenment“ (Macqueen 1989, 7), historische Romane orientieren sich am „esempio scottiano“ (Villari 1985, 1) usw. Meine Studie „Der „andere‘ historische Ro- <?page no="17"?> Zum historischen Kontext historischer Romane 9 man“ (1976) war als Gegenthese gemeint und trug als Dissertation noch den Titel: Vergleichende Studien zu einem neuen Begriff des historischen Romans, wurde aber als typologische Differenzierung verstanden (vgl. z. B. Aust 1994, 46). Da diese Typologie dann v. a. auf den Gegensatz „traditionell“ - „modern“ verengt wurde (vgl. Mengel 1986, Limlei 1988, nachdrücklich Müller 1988, 16 ff., Allemano 1991, Kebbel 1992, Engler / Müller 1994, z. B. 35 ff., Nünning 1995, 212 ff.), wurde das Paradigma Scott indirekt weiter festgeschrieben. Schabert 1981 (vgl. v. a. „Konzepte des historischen Romans“ und „Typologie des historischen Romans“, 1-91), geht demgegenüber von grundsätzlich pluralen Gattungsmöglichkeiten aus, die sich aber sukzessiv entwickeln, Lützeler spricht in mehreren Veröffentlichungen von verschiedenen „Mischungsverhältnissen“ (so in seinem Nachwort zu Arnim 1989.2, 650) von Geschichte, Sage, Märchen, Erfindung usw., Sottong 1992 setzt ein poetologisches Feld von Möglichkeiten voraus (Genaueres unter Kap. 5), das freilich im deutschen Historischen Erzählen von der Goethezeit zum Realismus nur begrenzt realisiert wurde. Aust 1994 sieht Scott als prägend, erkennt aber auch Alternativen an. Klar und überzeugend werden Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans dargestellt in der zeitgleich und im Gedankenaustausch mit diesem Kapitel (vgl. Verf. 1995) entstandenen Untersuchung von Fabian Lampart, Zeit und Geschichte (2002). Das Hauptinteresse in Lamparts Abhandlung gilt dem Entstehen, der Dynamik und produktiven Aporie geschichtlicher Zeit, als einer „vom Menschen organisierten und produzierten öffentlich kollektiven Zeitdimension“ (22), wie sie seit Gianbattista Vico die Geschichtsphilosophie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts prägt (vgl. 39 ff.). Die historischen Romane setzen diese Zeitlichkeitserfahrungen in subjektivierende Geschichten und v. a. in narrativ-ästhetische Experimente um. 2.1 Zum historischen Kontext historischer Romane Pluralität und Differenzierung kennzeichnen die Entstehung des historischen Romans sowohl intertextuell, sehr schnell in vielerlei Formen auftretend, als auch intratextuell: in seiner schon früh vielfach variierten, kontrastierten und reflektierten Poetik (vgl. unten Kap. 5, v. a. 5.3). Der historische Roman ist von Anfang an eine offene „kontrafaktische […] Hybride“ (Küpper 2002, 69 u. 83). Aber nie bewegt sich diese Poetik im luftleeren Raum, natürlich nicht. Es sind immer wieder spezifisch problematische Kontexte, die die Entstehung einer solchen Literatur motivieren und von Anfang an ihre plurale und differenzierte Poetik geradezu fordern. Denn es geht viel weniger um ein Bewusstsein historischer Umwälzungen und „großer Krisen des gesellschaftlichen Lebens“ (Lukács 1955, 30; zur Kritik vgl. z. B. Humphrey 1986, 56 ff.; Aust 1994, 41 ff.) als um Erfahrungen historischer Diskontinuitäten, Zeitaporien, traumatischer Geschichten und insbesondere eines, nach bewegten Zeiten empfundenen Vakuums an aktueller Dynamik. Prägend also für die Entstehung der Gattung ist die historische Situation nach den Napoleonischen Kriegen: auffallend vergleichbar für Schottland (das Lukács überhaupt nicht berücksichtigt; er hält die Geschichte Englands für prägend), für Preußen, Italien oder für das Frankreich <?page no="18"?> 10 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans eines enttäuschten Romantikers wie de Vigny. (Zu weiteren geistes- und literaturgeschichtlichen Voraussetzungen vgl. unten Kap. 5). Als drastisches Beispiel kann die Situation in Dänemark dienen. In sieben Jahren, zwischen 1807 und 1814, hatten historische Umbrüche, die national oder gar von Einzelnen überhaupt nicht zu erwarten, schon gar nicht zu steuern waren, eine wohlhabende europäische Großmacht in „ein kleines armes Land“ verwandelt, wie es P. M. Moeller 1820 emphatisch nannte (vgl. Berndt 1995, 7 sowie allgemein 2 ff.). Die einzelnen Stationen mussten sich jedem Dänen tief einprägen. 1807 wurde Dänemark in den Konflikt zwischen Frankreich und England hineingezogen. Um eine mögliche Schließung der Ostsee zu verhindern und einer Invasion von Dänemark aus zuvorzukommen, forderte Großbritannien die Herausgabe der dänischen Handelsflotte und erzwang dies, indem im September 1807 Kopenhagen vier Tage lang beschossen und zu einem Drittel zerstört wurde. Auch der Student Steen Steensen Blicher verlor dabei seine Wohnung und seine ganze Habe. Die Allianz mit Napoleon − Blicher erlebte auch die Besetzung Jütlands durch eine französische Armee mit −, die Auswirkungen der Kontinentalsperre, der Verlust des Seehandels, der Rückgang der Agrarexporte, schließlich die Kriegskosten trieben die dänische Wirtschaft in den Ruin. 1813 erklärte die Regierung den Staatsbankrott, der auch viele einzelne Bürger verarmen ließ. Die Friedensverträge von Kiel (1814) und Wien (1815) besiegelten erhebliche Gebietsverluste, insbesondere brachten sie das Ende der seit 850 Jahren bestehenden monarchischen Personalunion mit Norwegen. Das Land stand mit hohen Schulden einem völlig zu seinen Ungunsten veränderten politischen und ökonomischen Europa gegenüber, und niemand konnte sich dieser drastisch erlebten, traumatischen und in ein Vakuum führenden „Geschichtlichkeit“ entziehen. Wenn Blicher einen spannungsreichen, ja provozierenden Dialog mit der Geschichte beginnt, die erfahrenen historischen „Diskontinuitäten“ narrativ umsetzt und ausspielt, insbesondere, wenn er die scheinbar glorreiche Vergangenheit Dänemarks vor hundert Jahren als eine individuelle Katastrophe und radikale „Zeitaporie“ erzählt (vgl. unten Kap. 2.4), dann ist seine differenzierte Poetik, etwa die bereits sehr moderne Kunst der „Leerstelle“ (vgl. unten Kap. 5.3.2.3), nicht nur Reflex zeitgeschichtlicher Erfahrungen, sondern auch eine kreative perspektivierende Antwort darauf. In Zeiten direkter historischer Dynamik entstehen keine historischen Romane. Sie entstehen nach Phasen vehementer historischer Veränderungen, wenn die Verhältnisse sich stetiger entwickeln oder problematisch erscheinen oder stagnieren oder bedrohliche Tendenzen erkennbar sind. Der historische Roman entsteht aus einem Ungenügen an der Gegenwart. Das scheint für Scott freilich eher auf blassere, teils nüchterne, teils von Verklärungen, teils von Kompromissen verstellte Weise zu gelten. Vielleicht zeigt überhaupt erst das „differenzierte Feld“ seiner nach 1815, also nach seiner desillusionierenden Europa-Reise entstandenen Romane, zumindest in Einzelzügen, auch das sonst repräsentative Muster (vgl. unten Kap. 3.1). Aber die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Jakobitern und Hannovera- <?page no="19"?> Zum historischen Kontext historischer Romane 11 nern, die in Waverley (1814) ausdrücklich als Vorgeschichte der eigenen Gegenwart dargestellt werden, sind hier sowohl auf die auch in England und Schottland zeitintensiv empfundenen „French Wars“ zu beziehen (vgl. Sutherland 1995, 66 ff.), als auch und produktiv konträr dazu auf ein persönliches Gefühl des Vakuums bei Scott, er fühlte sich „left out of things“, ja „we may assume, experienced survivors guilt“ (ebd. 174). Noch mehr mussten die Folgen der industriellen Revolution, die zunächst und insbesondere für Schottland tiefgreifende Veränderungen des Agrarwesens waren, als „Erfahrung der zeitlichen Beschleunigung“ (Seeber 1993, 218) und geschichtlichen Diskontinuität gewirkt haben. Der Sinn für Wirtschaftsgeschichte und die Geschichte sozialer Auseinandersetzungen zeichnet, bei allen konservativen Vorurteilen des „lawyer-laird“, die Romane Scotts wesentlich aus. Geradezu prägend war für ihn die Erfahrung der „internal colonisation“ (Harvie 1994, 43 ff.), ja von „Scotland’s humiliating colonial status“ (Sutherland 1995, 108) bis hin zum „sense of national inferiority“ (ebd. 226). Der englische „contempt for the Scots“ (ebd.), wird ja auch in Waverley klar formuliert. Es drohte „within the course of half a century, or little more“ (Waverley, 492) der Verlust schottischer Tradition und Identität (für Humphrey 1993, v. a. 14 ff. ist dieser Aspekt des „Changing Scotland“ entscheidend für Scotts Wendung zum historischen Roman). Obwohl sich Scott alles in allem zum „progress we have made“ (ebd.) bekennt, die Sorge um Verlust und Gefahr, Erinnerung an vergangene Veränderungen, ein aktuelles Vakuum an nationaler Identität, problematische zeithistorische Perspektiven stehen für ihn in einem spannungsreichen Wechselverhältnis zu jenem durchaus auch schottischen („a child of the Scottish Enlightenment“, Hook 1972, 14) aufklärerischen Bewusstsein, dass der Fortschritt weniger gegeben als noch herzustellen sei. Es ist ja eigentlich auch keine einfach traditionalistische, konservative Geschichte und ebenso keine reformerisch oder gar revolutionär progressive, die Scott erzählt, also dass Vorbild, Dynamik und Kontinuität aus der Vergangenheit die Entwicklung in der Gegenwart leiten sollen. Es ist eine traumatische Geschichte, die kontinuitätssuchend aufgearbeitet wird. Die Geschichte der englisch-schottischen Interaktionen ist seit Edward I. eine für Schottland traumatische. Aber Scott erzählt keineswegs nur nach, dass sie nun einmal so verlaufen ist („das Geradeso-Sein der historischen Umstände und Gestalten“, Lukács 1955, 38) und dass das gut sei, dass „der gesellschaftliche Fortschritt triumphiert“ (Mengel 1986, 102). Gerade die perspektivischen Differenzierungen, auf die wir uns im folgenden Kapitel konzentrieren werden, eröffnen viel Spielraum für alternative Handlungsverläufe und ein variierendes, durchaus auch kritisches Erzähler- und Leserurteil, nicht nur „dramatische […] Notwendigkeit“, sondern auch „Entscheidungssituationen“ (Aust 1994, 65). Es geht darum, dass aus der Geschichte das relativ <?page no="20"?> 12 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans Beste gemacht werden könne. Der Kompromiss der Gegner, die Versöhnung von Tradition und Fortschritt, „rapid even exponential change“ und „particularized duration“ (Humphrey 1993, 22), Emotion und Vernunft, „romance“ und „history“, auf die es immer wieder hinausläuft, ist ebenso Wunschbild wie Zustimmung und letztlich eine Hypothese gegen die Erfahrung: „Fiction against History […] to revise the patterns of history“(Kerr 1989, 16). Der Zirkel von Diskontinuität, Trauma, Vakuum und Perspektivik ist bei den anderen Begründern des historischen Romans anders besetzt, schlägt weiter aus, wird intensiver erfahren und vor allem offener, widersprüchlicher ausgearbeitet, ist aber doch im Grunde allen gemeinsam. Man denke etwa an die Situation Achim von Arnims und seine „politischen Schmerzen“ (zitiert bei Knaack 1990, 10): die Niederlage Preußens nach Jena 1806 - 15 Gefallene musste er aus seiner weitverzweigten Familie zählen -, seine Flucht nach Königsberg, später die verweigerte Verfassung, die Agrarreformen, die ihn wirtschaftlich bedrohten, seine eigenen Parteinahmen und Enttäuschungen (vgl. Knaack 1976, Kastinger-Riley 1979, Knaack 1990). Er stellt dem nicht nur die versäumten Chancen der Vergangenheit entgegen, sondern auch politische, moralische, utopische, ja eschatologische Perspektiven. Manzoni leidet am Verlust der durch Napoleon 1797 errichteten „Cisalpinischen Republik“, das heißt der Unabhängigkeit Oberitaliens, das nach dem Wiener Kongress dem österreichischen Imperium einverleibt wurde. Die repressiven Karlsbader Beschlüsse von 1819 haben ihn „schwer erschüttert“: „Dio regetta la forza straniera“ / „Gott lehnt die fremde Usurpation ab“ (zit. bei Kapp 1992, 268, vgl. ebd. ff.). Er erzählt in seinem Roman von ausgesprochen traumatischen Kapiteln nationaler Historie: spanischem Regiment, Krieg, der von außen gesteuert wurde, Pest, Adelswillkür, urbanen und familiären Konflikten usw. Vor allem aber sind seine so dominanten heilsgeschichtlichen Entwürfe explizite, allerdings aus unerschütterlichem Glauben heraus entworfene Fiktion, gerichtet gegen die nicht weniger explizite heillose Historie: „Schöner Schein“ kontrastiert dem „Realnexus“ in der „Form der Hybride“ (Küpper 2002, 83). Vigny schließlich verbindet die für ihn tief prägende, frustrierende Erfahrung der Restauration in Frankreich nach 1815 nicht nur mit einer völlig desillusionierenden Erzählung von der Entmachtung des französischen Adels unter Richelieu und so fort, sondern auch mit einer sehr selbstbewussten, gegen die Geschichte argumentierenden Perspektive literarisch-philosophischer Kultur, ja mit einer tendenziell bereits negativen Ästhetik. Man sieht, wie die historischen Entstehungsbedingungen der Gattung mit ihrer von Anfang an differenzierten, eben fiktional-historisch differenzierten und prinzipiell pluralen Poetik zusammenhängen. Die Erfahrung einer historischen Situation, die als Wechselwirkung von vergangener Dynamik und aktuellem Vakuum verstanden werden musste, traf auf literarisch- <?page no="21"?> Zum historischen Kontext historischer Romane 13 philosophische Innovationen, die schon im 18. Jahrhundert und dann vor allem in der Romantik jene differenzierte Poetik vorbereitet hatten, die dann den historischen Roman möglich machte. Die Entstehung eines selbstbewussten historischen Diskurses, eines spezifisch historischen Erzählens (vgl. z. B. Fulda 1996, sowie unten Kap. 5) trat in Wechselwirkung zu vielfältigen literarischen Emanzipationen. Der „Aufstieg des Romans“, The Rise of the Novel (Watt 1957) zur wichtigsten literarischen Gattung war bereits im 18. Jahrhundert in der europäischen Romantik noch einmal potenziert worden (vgl. etwa Mahoney 2004): Individualisierung und Subjektivierung des Erzählens, Freiheit der Imagination bzw. der Phantasie, Autonomie einer Ästhetik des Spiels, Mischung der Gattungen, produktive Negationen (z. B. in den Programmen romantischer Ironie), um nur ein paar Stichworte zu nennen, diese Innovationen, die oft weit über das hinausreichen, was die mehrfachen ersten Autoren des historischen Romans ihrerseits produktiv umsetzten (vgl. exemplarisch etwa die Forschungen zu Achim von Arnim unten Kap. 2), ermöglichten auf alle Fälle und immer wieder jene Freiheit des literarischen Entwerfens, die der historische Roman im differenzierten Gegen- und Zusammenspiel mit dem „Eigensinn“ des historischen Erzählens (Blasberg 2002, 103 ff.) von Anfang an nutzte. So gibt es auch, und vor allem für die innovativen Stationen der Gattungsgeschichte des historischen Romans, eine Art immer wiederkehrendes Muster im Zusammenspiel von kritischer, ja traumatischer Zeit- und Geschichtserfahrung und literarischem Experiment: Prosper Mérimée beispielsweise, auch wenn er Geschichte ironisch und mit leichter Hand präsentiert - die Walter Scott-Rezeption hat in Frankreich früh etwas bewusst Spielerisches (vgl. unten Kap. 3) -, bezieht doch das nationale Trauma der Bartholomäusnacht einerseits und die Korruption der zeitgenössischen, autoritären französischen Regierung andererseits recht provozierend aufeinander. Balzacs historischer Roman hat etwas spielerisch Destruktives, das sich in die gesellschaftskritische, experimentelle (Wehle 1980, 69), „kontrafaktische“ (Warning 1980, 29), „multiple“ (Mozet 1987, 33) Gegenwartsperspektive der Comédie humaine hinein fortsetzt. W. M. Thackerays narrativ gespaltener Romanheld kann, zugespitzt gesagt, die vergangene Geschichte nur erzählen, indem er aus deren Gegenwart emigriert und gegen ihre Kontinuität revoltiert. Distanziert und kritisch, aber auch provozierend gegenwartsbezogen und bereits „metahistorisch-metafiktional“ argumentierend, sieht Theodor Fontane die Vergangenheit Preußens. Wilhelm Raabe empfand die Wirklichkeit um ihn her gegen Ende der 80er Jahre seines Jahrhunderts als bedrückend, hart, kriegslüstern, besitzfixiert: Sein vielschichtiges, sprunghaftes, vielfach reflektierendes Erzählen aus dem siebenjährigen Krieg ist eine experimentelle Vergrößerung dieser Situation und zugleich eine fast verzweifelte Suche nach einer Antwort. Flaubert betont noch mehr als de Vigny die ästhe- <?page no="22"?> 14 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans tische, negative Distanz zur fernen Vergangenheit wie zur eigenen Gegenwart. Aber - eine komparatistisch interessante Kontrast-Parallele - auch in Adalbert Stifters Witiko (1865/ 67) ist hinter der totalen, heilsgeschichtlichen Affirmation („Es ist wie es ist“) ein stilistisches Schweigen zu hören. Die humane Botschaft wird bei Victor Hugo nur im Durchgang durch die Aporie ihrer direkten, historisch-handelnden Verwirklichung authentisch und so fort. Kurz, gerade auch die „Tradition“ des historischen Romans lebt von einer diskontinuierlichen, differenzierenden Poetik. Diese wird im modernen historischen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts allerdings intensiver, ausgreifender und vor allem ausdrücklicher realisiert. Das Experiment beispielsweise einer vielfach erzählenden, „polyhistorischen“ Darstellung des dreißigjährigen Krieges ist bei Döblin völlig offen mit der Situation gegen Ende des ersten Weltkriegs verbunden und wird vorangetrieben von der Suche nach Alternativen, die die geschichtliche Kontinuität geradezu aufsprengen. William Faulkner spielt das Trauma des amerikanischen Bürgerkriegs als Fragepotential an die Geschichte aus; und die Intensität der Zeitaporie, die Kunst der Leerstelle, die Dekonstruktion eines Mythos usw. folgen hier durchaus einer Poetik, die − so kühn dieser Sprung erscheinen mag − bereits bei Arnim oder Blicher oder Raabe vorbereitet ist, so wie Faulkner andererseits die kritisch-produktive Scott-Rezeption (er war mit dem Werk seines „Landsmannes“ sehr gut vertraut) konsequent fortsetzt. Die Blüte des historischen Romans bei den vom „Dritten Reich“ exilierten Autoren in ihrem ganz konkreten historischen Vakuum - „Exil bedeutet Enteignung, aber auch die eigene Geschichte wurde enteignet“ (Koopmann 1995, 79) - hat etwas schlechthin Typisches. Das Thema des Exils ist, von Arnims Staufern bis zu Ransmayrs Ovid oder zu Michel Tournier oder W. G. Sebald, überhaupt bezeichnend für die diskontinuierliche Kontinuität des historischen Romans (vgl. Verf. 1998). Vergleichbar exemplarisch ist das betont experimentelle Aufarbeiten traumatischer Geschichte aus einem Ungenügen an der Gegenwart heraus im Nachkriegsroman − nicht nur in Deutschland, wo es sich natürlich aufdrängt, sondern, man denke an „Dresden“ („there is nothing intelligent to say about a massacre“, Slaughterhouse 5, 3) bei Vonnegut oder „the Raketen-Stadt“ bei Pynchon (Gravity’s Rainbow, 674), auch anderswo. Der Holocaust, die Shoa, das größte Geschichts-Trauma schlechthin, konnte nur mit den experimentellen Mitteln höchst differenzierten Erzählens literarisch-künstlerisch allenfalls eingekreist werden. Was schließlich „postmodern“ bis ins Phantastische hinein, mit vielfachen Brechungen der Handlung, Zeitsprüngen, „Metafiktion“, „Spiel der Zeichen gegen die Geschichte“ aus-geschrieben wird, beginnt, wie vorsichtig immer, bereits mit dem kunstvollen Perspektivismus Walter Scotts. <?page no="23"?> Allemano: Historical portraits and visions. 1991. • Aust: Der historische Roman. 1994. • Blasberg: Der literarische Eigensinn narrativer Geschichtskonstruktionen. 2002. • Borgmeier: Das Gattungsmodell. Sir Walter Scott, Waverley (1814). 1984. • Borgmeier / Reitz: Der historische Roman I / II. 1984. • Engler / Müller: Historiographic metafiction in modern American and Canadian literature. 1994. • Gamerschlag: Sir Walter Scott und die Waverley Novels. 1978. • Geppert: Der ,andere’ historische Roman. 1976. • Geppert: Die Anfänge des historischen Romans in der europäischen Literatur. 1995. • Geppert: Im imaginären Exil. 1998. • Harvie: Scotland and nationalism. 1994. • Humphrey: The Historical Novel as Philosophy of History. 1986. • Humphrey: Walter Scott. Waverley. 1993. • Kapp: Italienische Literaturgeschichte. 1992. • Kastinger Riley: Achim von Arnim in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 1979. • Kebbel: Geschichtengeneratoren. 1992. • Kerr: Fiction against History. 1989. • Knaack: Achim von Arnim - nicht nur Poet. 1976. • Knaack: Achim von Arnim. 1990. • Koopmann: Geschichte, Mythos, Gleichnis. 1995. • Lampart: Zeit und Geschichte. 2002. • Limlei: Geschichte als Ort der Bewährung. 1988. • Lukács: Der historische Roman. 1955. • Macqueen: The Enlightenment and Scottish Literature 2. 1989. • Mengel: Geschichtsbild und Romankonzeption. 1986. • Meyer: Die Entstehung des historischen Romans in Deutschland und seine Stellung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung. 1973. • Müller: Geschichte zwischen Kairos und Katastrophe. 1988. • Reitemeier: Deutsch-englische Literaturbeziehungen. 2001. • Schabert: Der historische Roman in England und Amerika. 1981. • Seeber: Englische Literaturgeschichte. 1993. • Sottong: Transformation und Reaktion. 1992. • Sutherland: The Life of Walter Scott. 1995. • Villari: Storie su storie. 1985. • Watt: The rise of the novel. 1957. • Wehle: Nouveau roman. 1980. 2.2 Walter Scott: Waverley or ’Tis Sixty Years Since / Waverley oder ’s ist nun sechzig Jahre (1814) It is, then, sixty years since Edward Waverley, the hero of the following pages, took leave of his family, to join the regiment of dragoons in which he had lately obtained a commission. It was a melancholy day at Waverley-Honours. (37) So und genau hier beginnt eigentlich der erste historische Roman der Weltliteratur: Die bis heute lebendige Poetik der Gattung ist retrospektiv bereits an vielen Differenzierungen dieses Erstlings und zugleich Klassikers auszumachen, und das zeigt sich auf erstaunlich genaue, punktuelle Weise sofort: Das englische „then“, indem es in dem Satz, in dem es steht, als „demnach“, „also“, aber auch als „damit“, ferner als „dies sei jetzt festgestellt“ oder einfach als „nun“ bzw. „weiterhin“, schließlich auch im Sinne von „in diesem Fall“ gelesen werden kann, diese zunächst so einfach wirkende Konjunktion eröffnet sogleich mehrere Textrelationen und dimensioniert die beginnende Geschichte (zur genaueren Einführung der jetzt genutzten Erzähltheorie vgl. unten Kap. 5): - „Then“ verweist zunächst zurück auf das programmatische erste Kapitel Introductory (33-36), in dem Scott den Rahmen seines Erzählprojekts vorgestellt, insbesondere verschiedene Möglichkeiten für den Romanhelden, seine Wertewelt („neither a romance of chivalry nor a tale of modern man- Walter Scott: Waverley or ’Tis Sixty Years Since 15 <?page no="24"?> 16 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans ners“) und deren Zeitabstand zur Gegenwart reflektiert hatte und aus dem jetzt im Sinne von „demnach“, „also“ praktische Folgen gezogen werden. − Zugleich aber führt „it is, then“ eine andere Aussagelogik ein: „Es gibt von jetzt an einen Edward Waverley“, also nicht: „Wir schlagen einen Helden vor, der auch Mortimer, Stanley oder Belville oder anders heißen könnte.“ Die Fiktion gilt auf ihre Weise und wird sich fortan in der und gegen die Historie behaupten, die auf ihre Weise ebenfalls gilt. − „Then“ im Sinne von „dies sei jetzt festgestellt“ verweist, wie alle Demonstrativa, nicht nur auf Objekte, sondern auch auf das Redesubjekt, auf den fortan verlässlichen Erzähler, der hier zu sprechen beginnt. Und diese jetzt vielleicht noch sehr feine, kaum merkliche Differenzierung kündigt gleichwohl für die Entwicklung der Gattung sehr weitreichende Folgen an, eine dynamische „Bewegung des Themas durch Sprachen und Reden“ (Bachtin 1979: 157), die bis zur Stimmenvielfalt bei Faulkner oder Kluge oder DeLillo (Underworld, 1997) führen wird (vgl. unten Kap. 6.2, 7.1 und 8.4). Denn diese Kommunikationsinstanz ist verschieden von der Autor- Stimme der Introductory: Dort handelte es sich um die „Stimme des Buches“, hier um einen fiktiven Übermittler einer fiktiven Geschichte; dort gab es mehrere erzählbare Alternativen, hier hat sich im Entwurf des „melancholy day“ im Kern bereits eine auch ihre Erzählbarkeit definierende Szene konstituiert; und wie konsequent diese Differenzierung hier funktioniert, zeigt sich daran, dass − die „Buch-Stimme“ dagegen konnte und kann ja anonym bleiben −, auch der historische Autor, allerdings erst in einer Scott selbst zugeschriebenen Fußnote der Centenary Edition (vgl. 29 sowie Waverley, hg. von Lamont 1986, XXXIV u. 409), sich selbst vernehmen lässt: „The precise date (1745) was withheld from the original edition, lest it should anticipate the nature of the tale by announcing so remarkable an era“ (37). Das frühere „Ich als Verfasser dieses Buches“ und das jetzige „Ich als Erzähler dieser Geschichte“ werden, indem ihnen etwas „vorenthalten“ („withheld“) werden kann, durch ein weiteres „Ich Walter Scott“ relativiert, und dies ausdrücklich nur zu dem Zweck, dass dem Erzähler sein Freiraum, sein Recht auf Verzögerung und Spannung („not to anticipate“, „not to announce“), vor allem aber auf gezielte Fokalisierung der historischen Ereignisse erhalten bleibt. - „Then“ im Sinne von „nun also“ kann und muss dann aber auch in einem eigenen Schritt aktiver Lektüre (vgl. allgemein unten Kap. 5) temporal gelesen werden: „Jetzt“ und ein implizites „Damals“ ermöglichen historische Datierungen. Es wird ein spannungsreiches Zeitsystem, ein „Spiel mit der Zeit“ (Ricœur 1989, 2.167) angesprochen, das mindestens drei Zeiten, ja sehr durchdacht „Zeitschichten“ (Kosellek 2000, 19) einführt und verbindet: die in der Introductory genannte Jetzt-Zeit der Abfassung, <?page no="25"?> „the present 1 st November 1805“ − der Roman selbst erschien wohlgemerkt erst 1814 (Genaueres zur Entstehung z. B. bei Millgate 1985, 35 ff.), auch so trennen sich verschiedene Rede-Subjekte -, das historische Damals, „the precise date (1745)“, also von Anfang an „the pastness of the past […], qualitatively different from the present“ (Humphrey 1993, 96), schließlich die Handlungsgegenwart eines bestimmten „day at Waverley- Honour“, auf die allein das temporale Adverb „lately“ gleich darauf sich beziehen lässt. Und diese Gegenwart wird dadurch zur verbindlichen Orientierung, dass sie ihre eigene, noch vage Zukunft („to join“, „presumptive heir“) sowie ihre eigene, historisch verortete Vergangenheit erhält: „a difference in political opinions had early separated the baronet from his younger brother […], the father of our hero“ (37). - Und in gewissem Sinne artikuliert „then“, liest man es als „in diesem Fall“, auch die Einführung mehrerer und widersprüchlicher Konzepte, einen Diskurs differenzierter „Werte“ (vgl. unten Kap. 5.3), unter denen diese Geschichte von Anfang an erzählt wird: Privates („family“) und Öffentliches („political opinion“), Gefühl („melancholy day“) und zweckmäßiges Handeln („to join“), individuelle („the hero of the following pages“) und allgemeine Geschichte, die spätestens bei der Zweitlektüre als bedeutsamer Kontext präsent ist. All das scheint mir bezeichnend. Die Mikroskopie, auch wenn man die Modellfunktion dieses ersten Satzes eines ersten Werkes nicht überbewertet, bestätigt die Makroskopie. So wie die Gattung des historischen Romans im Ganzen mehrfach und widersprüchlich beginnt, so, im wörtlichen Sinne von „unterscheidend“, „auseinander- und nebeneinanderlegend“, ja „aufschiebend“, „auf Kommendes verweisend“ - entspricht das nicht bereits der „différance“ Derridas (vgl. Derrida 1985, 422, allgemein etwa Zima 1994, 51 ff.)? -, so nach „differens“ (unterscheidend) und „deferrens“ (aufschiebend) differenziert werden die Aussagen, Stimmen, Zeitdimensionen und Deutungsmuster an diesem Romananfang eingeführt. Gewiss geschieht das fast beiläufig und die fortschreitende Handlung ordnet sich alles funktional zu. Aber dann handelt es sich schon hier in Waverley um eine kontinuierliche Selektion aus und über differenzierten Erzähl- und Deutungsmöglichkeiten, eine Einheit, die eine Vielfalt voraussetzt. Und die Entwicklung der Gattung wird eben diese widersprüchliche Pluralität nutzen. Wie der erste Satz hat auch die hier erzählte Geschichte im Ganzen nur auf den ersten Blick etwas Gradliniges und Geschlossenes. Edward Waverley, ein sympathischer, gerade etwas mehr als durchschnittlich begabter junger Mann aus alter englischer Familie, wird aus Familienrücksichten Offizier, findet in Schottland Freunde und fängt an, sich zu verlieben. Da bricht die Walter Scott: Waverley or ’Tis Sixty Years Since 17 <?page no="26"?> 18 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans Rebellion von 1745 gegen das regierende Haus Hannover und für die exilierte Stuart-Dynastie aus und Edward, eher von Missverständnissen, Zufällen und Manipulationen anderer bestimmt als eigener Überlegung folgend, schließt sich ihr an. Aber er nimmt nur wenig an politischen Entscheidungen und militärischen Aktionen teil. Als er bei einem Gefecht von der Armee getrennt wird und sich verbergen muss, lernt er aus der Distanz heraus ebenso die historische Situation besser verstehen wie die Stimme seines Herzens. Der Schluss des Romans bestätigt die historische Kontinuität als zivilisatorischen, friedlichen Fortschritt und verurteilt die Rebellion. Fergus MacIvor, Edwards Freund, der wesentlichen Anteil an der Rebellion und ebenso an Edwards Parteinahme hatte, wird als Vertreter der vergangenen Zeit und verlorenen Sache hingerichtet. Edward entscheidet sich gegen dessen enthusiastische, faszinierende Schwester Flora und heiratet am Ende ein sehr gutes, sehr liebes schottisches Mädchen. Zuletzt repräsentiert er Ausgleich und Versöhnung und eine bessere, auf alle Fälle eine ruhigere Zukunft. Im Grunde handelt es sich bei den Erfahrungen und Schicksalen des Edward Waverley und ihrer Bedeutung für die Geschichte Englands und Schottlands um einen Dreischritt von Setzung, Differenzierung und Sinn-Kontinuität, der − und das ist entscheidend und gilt vergleichbar für alle Erzählstrategien in diesem Roman − im Diskurs, in der kombinierenden Verkettung der Erzähleinheiten (vgl. Greimas/ Courtès 1979, 102 ff. sowie unten Kap. 5), phasenvertauscht präsentiert wird. Der Roman beginnt, nicht anders als das Demonstrativadverb „then“, mit Differenzierungen. Alles könnte auch anders sein. Aber dann werden Held und Leser durch alle noch so verwickelten Möglichkeiten und Entscheidungen, Seiten- und Querwege, Rückgriffe und Hintergrundentwürfe hindurch zu einem begrenzten, ausgewählten Ziel geführt, das, wie erst vom Ende her sichtbar wird, in den Voraussetzungen des jeweiligen Erzählweges immer schon angelegt gewesen war. So folgt, was die Handlung, den „plot“ betrifft, Edward eigentlich immer nahezu beliebigen Impulsen: die gefährdete, politische Karriere seines Vaters und der bekannte Jakobinismus seines Onkels lassen ein Zeichen der Loyalität gegenüber dem Haus Hannover ratsam erscheinen, so wird Edward Soldat. Die Freundschaft seines Onkels mit dem Baron von Bradwardine ist nicht so groß, dass sie einen Besuch zwingend vorschreibt, Langeweile und Neugier spielen auch mit; so reist Edward weiter als üblich nach Schottland hinein. Er ist zwar von Flora MacIvor begeistert, sie weckt in ihm den „knight of romance“ (175, vgl. 207 ff.), der für die Stuarts eintritt, aber sie selbst hatte ihm nie Hoffnungen auf ihr Herz und ihre Hand gemacht und so fort. Immer hat Edward die Wahl, sich so oder anders zu entscheiden. Sein Schicksal wird von Zufällen - der „accident“, der ihn nach Waverly-Honours bringt, gehört bereits dazu, später etwa der Jagdunfall oder das verlorene Hufeisen -, Missverständnissen und Täuschungen gelenkt: Man denke an die Gründe für seine Entlassung aus der Armee, an das entwendete Siegel oder daran, wie seine Parteinahme manipuliert wird, weil Fergus und der Prinz ihr politische <?page no="27"?> Signalwirkung für die englischen Jakobiter zutrauen. Aber die Rechnung der Rebellen geht nicht auf, Edward seinerseits hatte sich in ihnen gründlich geirrt, seine Ehre und sein Verstand setzen sich durch, er entscheidet sich für Rose Bradwardine und wird gesellschaftlich und politisch unabhängig. Doch - und das macht eben erst der Schluss einsichtig - genau darauf waren sein Charakter und seine Situation von Anfang an angelegt gewesen. Die Verwicklungen des fiktiven Lebenslaufs führen im historischen Konflikt zurück auf eine von Anfang an kalkulierte Setzung, so dass sich ein, freilich blasser Bildungsroman schließlich in die Kontinuität fortschreitender Geschichte fügt. Dieser „Bildungsroman“ (dem allerdings die offene Ironie des Wilhelm Meister, die Brechungen des Grünen Heinrich oder die abstrahierende Distanz des Nachsommer fehlen) ist „Voraussetzung“ der hier vermittelten „Geschichtserfahrung“ und dient zugleich zur „Refiguration […] des geschichtlichen Gedächtnisses“ (Lampart 2002, 118 u. 127). Edwards wirre Lektüren und imaginative Begabung machen ihn offen für Illusionen, aber auch unbefangen, ja immun gegen enge Parteinahmen; so unfertig er ist, so lernfähig ist er auch; sein Beinahe-Außenseitertum verführt zum Seitenwechsel und begünstigt andererseits die Verständigung. Die verschiedenen Parteien, denen sein Vater, sein Onkel, seine Lehrer und Ratgeber und schließlich seine Freunde angehören, kommunizieren nahezu symmetrisch, „zentripetal“ in der Person und Situation des Romanhelden (seit Otto Ludwig, vgl. Aust 1994, 42 u. 65, wurde diese Bedeutung des „mittleren Helden“ immer wieder betont, insbesondere von Lukács 1955, 26). Und so ist hier alles, was dieser Lebenslauf in der und für die Geschichte bedeutet, auf eine rationale und nicht weniger emotionale Versöhnung von England und Schottland („to promote a better and truer understanding between the nations“, Massie 1994, 137: v. a. auch für englische Leser aus schottischer Sicht), genauso auch auf einen Ausgleich von Tradition und Fortschritt, feudaler Loyalität und bürgerlichem, allgemeinem Nutzen angelegt. Waverley ist „a plea for cultural understanding and cultural tolerance“ (Humphrey 1993, 55). Die Kontinuität der Geschichte soll ihren Sinn in sich tragen, und der Roman, in aktiver, prüfend auserzählender, bewusst „revidierender“ Affirmation, soll ihn belegen. Es ist interessant, dass ein solcher Dreischritt von Differenzierung, retrospektiver These und prospektiver Kontinuität den Roman sowohl, wie eben gesehen, subjektiv, in den vom Leser begleiteten Schicksalen und Entscheidungen des Romanhelden (der „mittlere“ Held „ver-mittelt“ eine Weltsicht, Iser 1972, 161), als auch objektiv, von außen, beispielsweise im von Geschichte erfüllten Raum, als auch intersubjektiv, im Zusammenspiel der Perspektiven und Stimmen prägt. Der Raum des Romans bleibt ja lange recht abstrakt und hat höchstens die Anschaulichkeit einer Karten-Skizze. Um so dichter erscheint er von Kapitel VIII an, A Scottish Manor-House Sixty Years Walter Scott: Waverley or ’Tis Sixty Years Since 19 <?page no="28"?> 20 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans Since (74 ff.), als solle der Roman mit dieser rural-aristokratischen, arm-bunten, bröckelnd-vitalen Idylle erst eigentlich beginnen. Und Vergleichbares gilt etwa für die pittoresken Szenen um Donalds Höhle am See (138 ff.) oder die Natur-Bühne („a sylvan amphitheatre“, 175), wo Flora zur Harfe singt. Zwar erzählen alle diese Räume ihre besonderen Geschichten: die „äußeren“ ihrer Erkundungen, Bewohner, Bebauer, Veränderungen und ebenso die „inneren“ der Gefühle und Pläne von Menschen, die sich jetzt szenisch in ihnen bewegen. Alles das besteht zunächst jeweils für sich, Personen und wohlinformierter, detailverliebter Erzähler sind ganz den Realien per se zugewandt. Und alles differenziert sich in wechselnden Bildern auseinander. Aber dabei bleibt dieser Roman nicht stehen. Bezeichnenderweise ist die intensivste Form, in der hier ein Raum „sich erzählt“, die des Kontrastes. Die Darstellung des vom Krieg verwüsteten Schlosses (432 ff.) ist wörtlich „Schritt für Schritt“ der früheren Idylle entgegengesetzt. Man erfährt Raum-Differenzierungen als Negationen. Im Raum wird Geschichte ablesbar als menschliches und selbst tierisches und pflanzliches Leiden. Aber der Raum „sagt“ zur Geschichte auch, dass dieses Leiden vermeidbar gewesen wäre; die Zerstörungen resultieren letztlich aus Irrtümern, genauso wie in Edwards Leben die Illusion seiner Parteinahme und die Toten des Bürgerkrieges zuletzt eine Einheit bilden. Dann aber ist es für die Geschichtsauffassung in diesem Roman bezeichnend, dass sich die Illusionen als überwindbar erweisen, die Irrtümer sich korrigieren lassen und das Schloss eben wieder in Stand gesetzt wird. Auch dies, „every mark of devastation […] totally obliterated“ (483), können Personen und Leser in genauer Korrespondenz zu den beiden früheren Szenen anschaulich „Schritt für Schritt“ erfahren. Der „Chronotopos“, das Raum-Zeit-, zugleich Form-Inhalt- und Teil-Ganzheits-Schema dieses Romans (ein Begriff von Michail Bachtin, vgl. 1989, 7/ 8) ist das einer Destruktion-Konstruktion, die aber wesentlich auch Rekonstruktion ist. Bei Arnim, Manzoni oder de Vigny kann von solcher, auch noch partiellen Restauration keine Rede sein. Die Stauferburg wird Tuchfabrik, Enzo muss Haus und Garten endgültig verlassen, so wie bei de Vigny alle Räume nur einmal durchschritten werden; gespenstisch wirkt die Dekadenz der Heimkehr bei Blicher: „Ich zweifle daran, dass ich hier eine Bleibestatt finde […] ich bin ein Fremder, ein Ausländer unter ihnen allen“ (Bruchstücke, 63 u. 67). Aber auch bei Scott hebt sich der kultiviert progressive Konsens der Waverley-Bradwardine-Welt, These am Anfang, Ziel am Ende, immer aber ein Konstrukt, gerade in seiner räumlich-fiktiven Anschaulichkeit von den Kontrasten, Perspektiven und Veränderungen ab, in denen der Roman der Historie begegnet war. Wenn die geistige Physiognomie von Landschaften, Städten oder Gebäuden bei Scott solche Differenzierungen schließlich überwindet, dann selbst als „Text“, Entwurf und Fiktion, allenfalls als geschichtsphilosophische Forderung: vergleichbar einer gestrichelten Eintragung in einer Karte <?page no="29"?> oder einer in diese übergroß eingezeichneten Sehenswürdigkeit, über und neben den vielen anderen fiktiven und historischen Markierungen. (Vgl. die Interpretation des Gemäldes am Romanende bei Kerr 1989 als „reduction“ und „domestication“, 19 u. 21). Der Autor gibt ihnen das letzte Wort oder besondere Prominenz, aber immer nur als Kommentar. Die differenzierteste Poetik im Waverley ist die des erzählten Sehens und Redens, der „Perspektiven“ und „Stimmen“ (Genette 1994, 132 ff. u. 151 ff.; grundsätzlich Bachtin 1979, 154 ff.). Sie steht in der Tat unter dem „Signum fortlaufender Verzweigung und ständiger Individualisierung“ (Iser 1972, 151), beispielsweise bei Edwards erstem Zusammentreffen mit Fergus (Kap. XVIII, 152 ff.). Der Diskurs folgt zunächst Edwards Sicht, Gefühlen und Urteil; anschaulich wird der große Eindruck präsentiert, den der selbstbewusste und weltgewandte Clan-Chief, der zugleich in archaischen Traditionen zuhause ist, auf den noch recht naiven, englischen Landedelmann macht, und dass Fergus es auch darauf anlegt. Aber dabei markiert der Erzähler zugleich die Grenzen von Edwards Perspektive: „a skilful physiognomist would have been less satisfied“ (154), und er unterbricht, um dessen Unverständnis zu zeigen, sogar einmal seine sonstigen Vorbehalte gegenüber Vorwegnahmen: „it was not, however, upon their first meeting that Edward had an opportunity of making these less favourable remarks“ (ebd.). Während Fergus mit Waverley über Freuden und Sorgen eines Clan-Lebens allgemein plaudert, trägt der Erzähler seine eminent prägende Vorgeschichte nach, vor allem seine politischen und militärischen Erfahrungen: a „character and history, which were not completely known to Waverley“ (ebd.) usw. Und selbst dieser Exkurs wird zu einer weiteren Abschweifung genutzt, die zugleich alles bisher zu Fergus Erzählte relativiert, eingrenzend differenziert und virtuos ein „Angebot verschiedener Zeitschichten ausspielt“, um in der Tat historische „Wandlungsgeschwindigkeiten zu thematisieren“ (Kosellek 2000, 26): Had Fergus MacIvor lived sixty years sooner than he did, he would, in all probability, have wanted the polished manner and knowledge of the world which he now possessed; and had he lived sixty years later, his ambitions and love of rule would have lacked the fuel which his situation now afforded. (157) Der Erzähler könnte sich Fergus auch zu anderer Zeit und ganz anders handelnd vorstellen, auch in dessen eigener historischer Situation müsste er nicht so sein wie er ist, darüber hinaus verbirgt er hier noch in der direkten Kommunikation mit Edward seinen Charakter und seine Ambitionen, aber der Leser erfährt etwas darüber − so dass man Fergus geradezu „doppelt“ sieht und hört: „a true Highlander“ und zugleich „a recognizably modern figure“ (Kerr 1989, 7), einer, der „mittelalterlichen Highland-Patriotismus mit den Raffinessen moderner Politik […] vereint“ (Lampart 2002, 135). Und nicht nur das: Die kommentierend berichtende Stimme spricht auch aus, was Fer- Walter Scott: Waverley or ’Tis Sixty Years Since 21 <?page no="30"?> 22 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans gus vage denkt und fühlt, zum Beispiel Zweifel an seinem Aufstieg, was er sich aber nicht eingesteht und sich selbst ausreden muss („he had persuaded himself“, 158). Und noch eine Schicht tiefer wird hörbar, was Fergus gar nicht wissen kann, was aber schon jetzt wie eine Aura seine Person umgibt: das tief Illusionäre seines Ehrgeizes und der stets präsente Schatten seines Scheiterns. Sein „earls patent“ wird für ihn immer nur eine trügerische „glittering future“ bleiben (ebd.). So wird die vom Romanhelden erlebte Realität vom Erzähler in wechselnden „Stimmen“ nach Möglichkeit und Zustand, Vorspiegelung und wahrer Absicht, Bewusstsein und unbewusst Gefühltem, Vergangenheit und Gegenwart, schließlich auch Erkennbarem und Illusionärem und in alledem nach fiktional Entworfenem und historisch Gewusstem differenziert, einem Aufblättern verschiedener Folien vergleichbar, die zusammen ein plastisches Bild ergeben: Fergus präsentiert sich Edward als unbefangener Schotte, ist aber ein raffinierter Politiker, er hat seine Zukunft sorgfältig geplant, ohne sich selbst und seine Situation voll zu durchschauen. Edward sieht eine „peculiar grace and dignity“, „an air of openness and affability“, doch der Leser weiß, was dieses Gegenüber wirklich denkt und fühlt und erhält „insight into a bold, ambitious, and ardent, yet artful and politic character“. Und darunter zeichnet sich auch bereits die beiden Personen noch unbekannte Zukunft ab. Alle diese Differenzierungen ändern zwar nichts an der sich durchsetzenden, letztlich einfachen Motivations-Kontinuität: Fergus ist zur Rebellion entschlossen, er ist gegenüber Edward der dominierende Freund, er wird letztlich scheitern. Aber dem war eine Fülle „historisch variabler Operationen“ (Kebbel 1992, 19) perspektivisch entworfener anderer Geschichten vorhergegangen. Und wenn gleich darauf, beim Fest am Abend (162 ff.) Edward das gälische Kriegslied nicht versteht und Fergus von möglichen Auseinandersetzungen nur negativ und im Irrealis redet, wächst zwar der Sog der Ereignisse, aber es beginnen sehr genau und sofort narrativ andere Differenzierungen (vgl. unten Kap. 5). Die Pluralität des Möglichen in den Stimmen und Perspektiven geht über in die Pluralität des Unvollständigen oder gar Falschen: der Missverständnisse, Zufälle und Irrwege, die, wie oben gezeigt, Waverleys Reise in die Geschichte prägen. (Diese Auffassung von Rededifferenzierung ließe sich ergänzen durch sehr aufschlussreiche Untersuchungen zur Sprachdifferenzierung, dem Gebrauch schottischer Dialekte, etwa bei Tulloch 1980, 301 ff. oder Letley 1988, 11 ff., wobei Scott die Variation, ja Verfremdung durchaus über die historische Genauigkeit stellt.). Wenn Kritik zuerst einmal Unterscheidung heißt, dann wächst die kritische Distanz des Romanhelden hier aus solchen Differenzierungen heraus. Zunächst bleibt er dabei ganz passiv. Gerade die ersten Stationen der Rebellion geschehen ja buchstäblich hinter Edwards Rücken: während er verletzt ist, bezeichnenderweise kam es dazu, weil er kein Gälisch verstand, - er <?page no="31"?> selbst weiß nur von einer „distant expedition“ (192) - beginnt die Rebellion („the Rising of the Standard“); er sitzt gefangen, wenn die ersten Truppenbewegungen geschehen; nur die kurze Phase des beginnenden Zuges nach England erlebt der Romanheld mit, selbst hier tut der Erzähler historische Ereignisse ab mit „the rest is well known“ (339), oder: „It is not our purpose to intrude upon the province of history“ (389), oder: „The reader need hardly be reminded“ (403). Erst recht gilt das für die Zeit, die Edward verborgen im Lakeland verbringt. Geradezu lakonisch wird „the decisive battle of Culloden“ (429) lediglich genannt. Sie liegt ja auch bereits weit weg von Edwards Lebensweg. Die Historie bildet nun eine eigene, schon fast fremde Welt, aus der das fiktive anschauliche Einzelschicksal wie ein einzelner Faden aus dem Gewebe herausgeflochten oder − durchaus Öl oder Wasser in einer Emulsion vergleichbar − herausgelöst wird. Alles im Leben dieses Romanhelden hätte auch anders verlaufen können. Und entsprechend anders wäre die Sicht des Romans auf die Geschichte ausgefallen. Je mehr sich also Waverley mit der Rebellion identifiziert, um so komplexer und reicher an möglichen, nicht ausgeführten Alternativen wird dies erzählt. Je größer umgekehrt die Distanz des Helden zu diesem politisch-historischen Focus wird, um so mehr ergänzen sich Erzähler und Personal, Raum und Handlung. Bei Edwards wenig durchdachtem Parteiwechsel hat die Erzählstimme noch eine leise warnende Funktion, wenn sie etwa den Prinzen als „royal adventurer“ und „hero of romance“ (294/ 295) bezeichnet. Bereits in der nächsten, historisch focalisierten Erzählsequenz in Kap. 44 The March kann man sehen, wie Personen- und Erzählersicht sich im Urteil über die Rebellenarmee treffen. Wenn für Waverley „a nearer view, indeed, rather diminished the effect impressed on the mind by the more distant appearance of the army“ (323), so nimmt der Erzähler dies auf und erklärt, wie es zur kleinen Zahl, unzuverlässigen Zusammensetzung und schlechten Ausrüstung dieses Heeres kam, wie es „grim“ und „wild“, selbst von „terror“ ist die Rede (324), bereits in den Lowlands verdächtig wirken musste und so fort. Und dass Waverley jetzt „damped and astonished“ (ebd.) dem ganzen Unternehmen gegenübersteht, schließt sich daran wie die Fortsetzung einer auf Konsens gerichteten Argumentation bei mehreren Sprechern problemlos an. Ganz „topographisch“, „in den Raum hinein geschrieben“, wächst Edwards innere Distanz, je tiefer der Zug nach England selbst führt: Es geht beispielsweise für ihn jetzt nicht mehr um zwei Dynastien, sondern um zwei Länder; die Begegnung mit den Leuten aus der Heimat gibt ihm Anlass zu einem sich selbst anklagenden inneren Monolog („thoughtless cruelty“, „indolence and indecision“, 330); das erste Gefecht, noch dazu gegen das eigene, frühere Regiment, scheint „a dream, strange, horrible and unnatural“ (333); „shocked“ and „cooled“ (354) sieht Edward bald das Verhalten seiner neuen Mitstreiter, die Begegnung mit dem gefangenen englischen Oberst Talbot wird Walter Scott: Waverley or ’Tis Sixty Years Since 23 <?page no="32"?> 24 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans zum langen politisch-historischen Bildungsgespräch (347 ff.), und mit den „melancholy conjectures on […] the dubious issue of the civil contest in which he was engaged“ (380) hat sich Edward innerlich im Grunde bereits von der Sache der Stuarts getrennt. Die wachsende und schließlich endgültige äußere Trennung, vom Streit mit Fergus bis zum Untertauchen, bestätigt das nur. Aber die doppelte Distanz, also einerseits nicht oder nur knapp berichtend und andererseits immer klarer verurteilend − beide Male holt der erlebende Held den Erzähler lediglich ein −, diese doppelte Distanz gilt nur der noch unentschiedenen Vergangenheit. Sie bejaht dagegen ganz folgerichtig die inzwischen selbst historischen Resultate der Rebellion. Scott steht auf der Seite der fortschreitenden Kontinuität der Geschichte. Das narrative Erschließen ist auch ein Abschließen, die Reise in die Vergangenheit kennt gegenüber deren traumatischen Teilen auch deutlich den entschlossenen Schritt des Verlassens. Aber Kontinuität bedeutet hier eben Selektion, eine vom Interesse des Konsens und des Fortschritts gesteuerte Auswahl aus Differenzierungen und Alternativen. Die anderen „ersten“ historischen Romane vermeiden freilich den erzählten Konsens von persönlichem Schicksal und historischer Kontinuität: Arnims Romanheld, zumindest der im Romanfragment voll ausgearbeitete, scheitert in einer historisch ganz offenen Situation. Bei de Vigny wird der ideal gesinnte Cinq Mars von der Geschichte korrumpiert; er rettet seine Selbstachtung in die totale und selbstvernichtende Konfrontation; und die bedeutsam eingefügte, philosophisch-literarische Bildungswelt steht nahezu raum- und zeitlos konträr zur heillosen historischen Kontinuität: eine Fiktion und ein Phantasma. Im Gegensatz zum reifenden, glücklich heimkehrenden Gentleman Waverley, wird der kleine arme Mann bei Blicher im Sog der historischen Zeit buchstäblich zu „gar nichts“ zerrieben (Bruchstücke, 68). Auch Scott allerdings, und diese soziologische Differenzierung liegt ,vor‘ dem bewusst begrenzten Konsens („not a true synthesis“, Kerr 1989, 11), betont den Gegensatz der kleinen Schicksale zu denen der gentry zu oft, um ihn beiläufig zu lassen: Die „twenty young fellows from (his uncle’s) estate“ (65), die noch ganz feudalistisch ihrem jungen Gutsherrn ins Regiment folgen, müssen für dessen Neugier und „wavering“ Entscheidungen teuer bezahlen: „Tims“ beispielsweise „was shot“ (328). Dugald Mahoney, ein mehrmals erwähnter Clansman, irrt am Romanende einarmig durch Edinburgh, „just begging“ (431). Evan Dhu, ausdrücklich ein „poor man“ (466), ist, wenn er in Treue zu seinem Clan-Chief freiwillig dessen Schicksal teilt, vielleicht die einzige tragische Gestalt in Waverley. Zeichnen sich hier nicht mögliche „andere“ Romane ab, auch wenn Scott gerade diesen Ansatz nicht fortsetzt (zu The Heart of Midlothian, 1818, vgl. unten Kap. 3.1)? Die kleinen „gente meccaniche“ (I promessi sposi, 3, „mit den Händen arbeitende Leute“) bei Manzoni sind zwar ebenfalls Opfer der Geschichte, aber die Serie von Prüfungen, <?page no="33"?> die ihr Leben strukturiert, hat nichts, auch nicht per Kontrast, von einem Bildungsroman. Eine Schlussidylle, wie die von Rose und Edward, „vi seccherebbe a morte“ „würde Euch (Leser) zu Tode langweilen“ (ebd. 562), kommentiert bei Manzoni der Erzähler. Die Personen ziehen buchstäblich weg vom Interesse des Romans. Und die Bekehrungsgeschichten, die hier den anspruchsvollsten Romansinn tragen, stehen den unbeschönigt dargestellten Schrecken und Wirren der Geschichte letztlich ohnmächtig gegenüber. Nur eine sehr oberflächliche Lektüre kann im Vergleich zu Scott den „pessimismo“ Manzonis (Di Benedetto 1999, 14) übersehen und einen „Hyper-Scott“ in ihm erkennen: „It was left to Manzoni […] to unite in one work the concerns of the Age of History with the Age of Theodicy“ (Humphrey 1993, 102). Das Gegenteil ist richtig und das ist sprechend für die originäre Vielfalt der Gattung historischer Romane. Scott differenziert Fiktion und Historie, differenziert die Erkenntnisstruktur in Waverley in anderer Weise als Arnim oder Manzoni, aber gleichwohl in einer für den anspruchsvollen historischen Roman bis heute richtungsweisenden produktiven Form. Mindestens zwei wesentliche Traditionen beginnen hier: die Kunst der Perspektiven und Stimmen, wie sie nicht nur zu Autoren des 19. Jahrhunderts (Thackeray, Fontane, Raabe u. a.), sondern etwa auch zu Faulkner - selbst schottischer Herkunft und mit dem „complete“ Walter Scott in der Bibliothek seines Großvaters (vgl. The Unvanquished 1996, 18) produktiv vertraut - und zum Nachkriegs-, ja Gegenwartsroman führt. Und noch wichtiger wird Scotts Poetik der Synekdoche und Metonymie (vgl. White, z. B. 1986, 64 ff.; 1987, 40 ff. sowie unten Kap. 5.3.2). Wenn man will, kann man alles bisher Gesagte in der These zusammenfassen, dass in Waverley eine referentielle Synekdoche und eine konzeptionelle Metonymie in produktiver Spannung zueinander stehen (vgl. Dubois 1974, 162 ff.): Nur sehr wenig, ein kleiner „Teil“ der als „Ganze“ relevanten schottisch-englischen Geschichte wird pars pro toto vom Romanhelden erlebt. „The rest is well known“ (339). Diese und andere, durchaus „metafiktionale“ Reflexionen verbinden sich, wie gesehen, mit vielfachen weiteren Differenzierungen der Erzählpoetik, die den Bezug von Teil und Ganzem dehnen, brechen, komplizieren, potentiell alternieren und so einem mit-, ja gegendenkenden Geschichtsverständnis öffnen. Das wohl wichtigste Ergebnis dieser Poetik ist die begrenzte ‚Bedeutung‘ des versöhnend-progressiven Romanendes. Es steht für einen gewollten, gesetzten Teilaspekt begriffener Geschichte, so dass der Roman „konzeptionell“ ein Argument pars pro parte vorträgt, eine Metonymie (Lampart 2001, 155 ff.), eine prinzipiell „imperfect history“ (Rigney 2001). Und diese Erzählfigur stellt wohl die fruchtbarste, von nun an immer wieder - aber nicht ausschließlich - aufgenommene Innovation dar, die die Gattung des historischen Romans Walter Scott verdankt (vgl. v. a. unten Kap. 3). Walter Scott: Waverley or ’Tis Sixty Years Since 25 <?page no="34"?> 26 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans Schließlich kennt Scott ja auch schon recht raffinierte metahistorische bzw. metapoetische Reflexionsmodelle, komplexere, als es bei oberflächlicher Lektüre erscheinen mag. Der Erzähler gibt sich viel schlichter als er, genauer, sein „implied author“ ist. Hierher gehört etwa Scotts Version eines „realistischen Wegs“ (vgl. Verf. 1994, v. a. 204 ff.): I do not invite (my readers) into a flying chariot drawn by hippogriffs, or moved by enchantment. Mine is a humble English post-chaise, drawn upon four wheels, and keeping his Majesty’s highway. (You) will be occasionally exposed to the dullness inseparable from heavy roads, steep hills, sloughs, and other terrestrial retardations. (63) Die berühmte Postkutschen-Metapher spricht zwar von Verzögerungen und Stockungen, muss aber ergänzt werden durch die im Roman selbst zu findenden alternativen Wege, Seiten-Straßen, das In-die-Irre-gehen, den Weg zurück und so fort. Wer nur in der „Postkutsche“ bliebe und nie von der „Hauptstraße“ abwiche, würde Möglichkeiten und Grenzen dieses Erzählens nicht gerecht. Und Vergleichbares gilt für das so ausdrücklich „differenzierende“ Gespräch von Dichtung und Geschichte, das Edward und der Baron führen: But although Edward and he differed toto coelo, as the Baron would have said, upon (literature) they met upon history as on a neutral ground, in which each claimed an interest. The Baron, indeed, only cumbered his memory with matters of fact, the cold, dry, hard outlines which history delineates. Edward, on the contrary, loved to fill up and round the sketch with the colouring of a warm and vivid imagination, which gives light and life to the actors and speakers in the drama of past ages. Yet with tastes so opposite, they contributed greatly to each other’s amusement. (109) Das erzählte, differenzierte Gespräch von Fiktion und Historie, wie es der Roman realisiert, geht weit über ein bloßes „amusement“ hinaus. Es kennt vor allem viel mehr Stimmen und Perspektiven, wechselnde Meinungen, Kritik und eingrenzende Prämissen; „vivid imagination“ steht im Dienst nicht weniger wacher Erkenntnis; „literature“ wird nicht nur nicht ausgespart, sondern in ihren Möglichkeiten ausgespielt, ein sinnvoller Fortschritt in der Geschichte ist genau und nur dies: eine literarisch vermittelte Möglichkeit. Und „history“ ist alles andere als ein „neutral ground“. Sir Walter Scott: Waverley. Ed. by Andreas Hook. London: Penguin 1972. Ders.: Waverley or ’Tis Sixty Years Since. Ed. by Claire Lamont. Oxford u. a.: Random House, 1986. Beiderwell: Romantic Enlightenment. 2002. • Devlin: The Author of Waverley. 1971. • Harvie: Scotland and Nationalism. 1994. • Humphrey: Walter Scott „Waverley“. 1993. • Iser: Möglichkeiten der Illusion im historischen Roman. 1972. • Mahoney: The Literature of German Romanticism. 2004. • Mayer: The Illogical Status of Novelistic Discourse. 1999. • McGann: Walter <?page no="35"?> Scott’s Romantic Postmodernity. 2004. • Millgate: Walter Scott. 1985. • Rigney: Imperfect histories. 2001. • Sutherland: The Life of Walter Scott. 1995. 2.3 Achim von Arnim: Die Kronenwächter (1817) Als der Erste Band von Achim von Arnims Roman erschien - weitere der einmal geplanten vier Bände gab es nie, der posthum (1854) von Bettina von Arnim herausgegebene Zweite Band stellt eine von ihr redigierte Sammlung früherer Ausarbeitungen dar (vgl. sorgfältig Hoermann, 1990, „clearly invalidates the sequel notion“, 61); das ganze Projekt ist also ausdrücklich und völlig offen geblieben (vgl. dazu v. a. Lützeler in Arnim 1989. 2. 619 ff.) -, 1817 also war auch der Gesamttitel bereits in sich tief widersprüchlich. Die Umarbeitung bzw. Neufassung, die Arnim vorgenommen hatte, orientiert sich nicht mehr an einer „Kunstsage“ (Lützeler, ebd. 645 ff.) von der Wiederkehr der Hohenstauffen. Ein derartig restauratives Geschichtskonzept war für Arnim nach 1814 und angesichts der von ihm sehr negativ beurteilten politischen Entwicklung unmöglich geworden (zu Arnims politischen Ansichten vgl. grundlegend Knaack 1976, anschaulich etwa Kastinger Riley 1979, 54 ff.). Es gab eben keine nationale Einigung, keine Verfassung, lediglich wirtschaftliche und administrative Reformen, keine vom ganzen „Volke“, also auch „von unten“ ausgehenden progressiven Kräfte, stattdessen deren immer konsequentere Unterdrückung. So wird auch die Gemeinschaft der „Kronenwächter“, die an einem verborgenen Ort die alte Krone bewacht und angebliche Nachkommen eines außerehelichen Sohnes von Kaiser Konrad wieder an die Macht bringen will, nach und nach zu einem „Gräuel brütenden“ (202), fast faschistoiden Geheimbund, der mit Erpressung, Feme- Mord, Internierung, Lügenpropaganda arbeitet und von dem die zerstreut lebenden, selbst im Ungewissen tappenden Nachkommen der ursprünglichen Hoffnungsträger sich sämtlich abgewendet haben - eben zugunsten der aktuellen politischen Möglichkeiten zur Zeit der Romanhandlung um 1518/ 1519: der Friedenspolitik Maximilians, der Reformation, des Aufstiegs der freien Reichsstädte, um nur die wichtigsten Punkte zu nennen. (Arnim lässt also nicht „alles Historische […] vieldeutig und widersprüchlich“, Ricklefs 1990, 182, sondern „interpretiert bewusst“, Verf. 1979, 94, „wertet und bezieht Stellung“, Neuhold 1994, 146, plädiert für „historisches Handeln, das Sich- Behaupten in der Geschichte“ und „angewandte Hermeneutik“, Lampart 2002, 175). Aber auch der neue Untertitel dieses Romans Bertholts erstes und zweites Leben hat etwas Unvollständiges. Dass der Hohenstauffenspross ein erfolgreicher Kaufmann und Bürgermeister und dass die alte Residenz der Herzöge von Schwaben zur Tuchfabrik werden, beides mit ausdrücklicher Zustimmung der traumhaft wunderbar hilfreichen Vorfahren, folgt noch dem Achim von Arnim: Die Kronenwächter 27 <?page no="36"?> 28 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans allgemein prägenden Konzeptionswechsel. Aber ob die phantastische Bluttransfusion, die dem Romanhelden nach etwa einem Drittel des Romans ein „zweites Leben“ ermöglicht, Chance oder Verhängnis, wenn nicht Schuld bedeutet, ist bereits nicht mehr zu entscheiden. Die Romanstruktur im Ganzen, ihre immer neu sich verzweigenden Erzählwege und einander überlagernden Textschichten haben sich für solche einfachen Bedeutungsziele bereits zu weit geöffnet: „Die Dissonanzen der Welt sind in der Welt nicht aufhebbar“ (Halbfass 1993, 72). Gleichwohl stellt der diffuse und sprunghafte, auf ein Scheitern hinauslaufende Anti-Bildungsroman hier eine eigene Bedeutungsachse dar (vgl. zu dieser Diskussion Neuhold 1994, v. a. 200 ff.; Lampart 2002 spricht von einer „handlungsüberspannenden Grundfigur“, 186, vgl. zu Strukturen des negativen Bildungsromans ebd. ff.). Er geht aus von einem Quellenfund Arnims in der Schwäbischen Chronik des Martin Crusius (zu den Quellen vgl. Wilhelm 1955 sowie Lützeler in Arnim 1989.2, 625 ff. und 677 ff.), er lässt den dort genannten „Bertholt“ in großen Zügen, aber auch mit vielen liebevoll zusammengetragenen Details teilnehmen an der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung zu Beginn des 16. Jahrhunderts; der Roman führt den Helden vor allem zu einem historischen Fokus: an den Hof Maximilians und nach Augsburg, er lässt ihn mit Luther zusammentreffen, später mit Ulrich I. von Württemberg und so fort. Man sieht, unverkennbar handelt es sich bei den Kronenwächtern um einen „historischen“ Roman. Und „historischer Bildungsroman“ sind die Kronenwächter schließlich in einem ganz spezifischen Sinn. Denn im Kampf gegen den Herzog von Württemberg, also auf Seiten des Schwäbischen Bundes im Städtekrieg von 1519, lernt der Romanheld gerade auch das Negative der Geschichte kennen, das Unverständnis seiner Mitbürger, das Scheitern seiner Pläne, eine für ihn ungewisse Zukunft, ein unstetes Leben und den plötzlichen Tod. Die Einsicht in die „Geschichtlichkeit“ (Ricklefs 1990, 136), die „unauflösbaren Widersprüche der menschlichen Zeitlichkeit“ (Lampart 2002, 216), die jeweilige Bedingtheit und Begrenztheit menschlichen Handelns und Urteilens scheint geradezu ein Bildungsziel darzustellen, wenn zuletzt der Romanheld „Amen“ sagt zu den düsteren Worten, dass ein jegliches Ding seine Zeit und alles unter dem Himmel seine Stunde habe […], denn die zukünftigen Zeiten werden alles zugleich in Vergessen bringen, was wir aufzeichnen von der Vergangenheit und was wir schaffen in der Gegenwart […]. (308) Entspricht dies doch den Worten am Beginn von Bertholts bürgerlicher Karriere, dass alles auf der Welt nur „geliehen“ sei und zu „nichts“ werde (48), oder auch der Konstellation, dass Maximilian, als seine weitreichenden Reichs- und Friedenspläne erörtert werden, nur noch drei Monate zu leben <?page no="37"?> hat, dass Luther sich mit seinen Reformationserwartungen irrt und so fort, wie überhaupt hier kein Wunsch oder Vorhaben, auch Liebe, Ehe, Kinder, je die gewollte oder vorhergesehene Erfüllung finden. Auch in der wichtigen Einleitung mit dem Motto Dichtung und Geschichte gehen die entscheidenden Anstöße, jetzt eben solche zur Erkenntnis und Darstellung der Vergangenheit, von „Zerstörung“, „Zweifel“ und „Vergänglichkeit“ aus (11/ 12). Aber Arnim hat seiner Quelle des eben zitierten, sonst nicht belegten Grabspruches der Hohenstaufen, der über dem Ende seines Romanhelden steht, den Satz hinzugefügt: „nichts erringen wir als die Zukunft“ (308), so wie die Einleitung vor der Traditionslosigkeit reiner Gegenwart und totaler „sinnloser Verehrung“ des Vergangenen warnt, „das Rechte will da errungen sein“, und die „träumende Freude und Sorge aller schaffenden Kräfte“ zum „Zeichen der Ewigkeit“ erhebt (12) und so wie dem Romanhelden in seinem Initiationstraum gesagt wird, der Mensch nehme „nichts“ von der Erde mit „als die Einsicht und den Glauben, den er auf ihr gewonnen“ (48); der ganze Sinn dieses Traumes ist ja, bei aller Vergänglichkeit, auf aktives, die Zukunft gestaltendes Handeln in der Gegenwart und die Transformation des Vergangenen, Überkommenen in dieser Dynamik gerichtet. Die aktive, progressive Dynamik der Gegensätze, der zumindest potentiell sinnvolle Progress, wenn Widersprüche ausgetragen werden: Das scheint mir das neue Konzept dieses Romans zu sein und sein Geschichtsbild zu prägen, nachdem das alte zyklische Wiederkehr-Konzept einer „Kunstsage“ zum Anti-Modell verkommen, im Ganzen verworfen und positiv lediglich im Hausmärchen (204 ff.) gleichsam eingekapselt wurde; nur noch moralisch, als Verpflichtung der Herrscher und darüber hinaus aller historisch Handelnden auf das allgemeine Wohl ist dieses Märchen von der Wiederkehr legitimer Fürsten zu verstehen. Nur im Märchen gehen Ethos und Erfolg zyklisch zusammen (so dass man zu Recht von einer „utopischen Struktur des Hausmärchens“ sprechen kann, Nitschke 2004, 338). Der Romanheld dagegen handelt zwar weitgehend moralisch, aber die Umstände, die er freilich nicht genug bedenkt, verhindern seinen Erfolg; die Zeitgeschichte kennt die erfolgreiche Wiederkehr der deutschen Fürsten, aber eben nur im Herrscher-, nicht im „Volks“-Interesse. Folgerichtig, da die historische wie die aktuelle Gegenwart die sinnvolle Rundung der erzählten Vergangenheit verweigern, erhält diese in ihrem offenen Fragmentarismus entscheidendes, allerdings nicht ausschließliches Eigengewicht, und die Unabgeschlossenheit dieses Erzählens spricht dessen Wahrheit aus. So geraten die Kronenwächter zu einer eigenwilligen, aber in sich konsequenten Form des historischen Romans. Das Irritierende und zugleich Interessante an den Kronenwächtern ist, dass dieses Buch sowohl konzeptionell, im Paradigma des Erzählbaren und Verstehbaren, als auch in der erzählten Geschichte von der Dynamik der Gegensätze geprägt ist. Alles entwickelt sich widersprüchlich fort. (Die Produktivität die- Achim von Arnim: Die Kronenwächter 29 <?page no="38"?> 30 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans ser Widersprüche ist heute in der Forschung allgemein akzeptiert; vgl. z. B. überzeugend Neuhold 1994, 129 f.; Heilmann 1997, 166, spricht vom „Modell der sich selbst zerstörenden Geschichts-Zerstörung“ und „der nur im Durchgang durch die Diskontinuität der Geschichte erfahrbaren Kontinuität“, Lampart 2002 sieht beispielsweise die „Brüche, Widersprüche und Aporien“ im negativen Bildungsroman als „transponiert“ in die „Überkreuzung und Verknüpfung von historischem und fiktionalem Diskurs“, so dass widersprüchliche Gesamtfigurationen „ontologisch-existentiell fundierter Wahrnehmung der Zeitlichkeit“ entstehen, 242; Nitschke 2004 arbeitet überzeugend den produktiven Widerspruch von „utopischer Zielkonstruktion“ und desillusionierter „invertierter Zeitutopie“ heraus, 320 u. 338. Zur genaueren Interpretation von Dichtung und Geschichte, der Einleitung zu Die Kronenwächter vgl. Verf. 1979, 108 ff.; durchdacht Neuhold 1994, 117 ff.; etwas wirr, Arnim an Metaphorik noch überbietend Kiermeier-Debre in: Andermatt 1994, 117-146, sehr vorsichtig, als „poetologischen Vorspann“, der die „Beantwortung der Frage nach der Wahrheit in der Geschichte auf den nachfolgenden Roman auf-„spart“, Lampart 2002, 185, vgl. 178 ff., überzeugend, als Annäherung an einen „ästhetischen Historismus“, Nitschke 2004, 304, vgl. 296-306). In der Einleitung: Dichtung und Geschichte (7-14) beispielsweise kann Arnim nur darum so oft von „Wahrheit“ reden, weil er immer wieder etwas anderes damit meint. Einerseits orientiert er sich an der historisch-kritischen „Wahrheit der Geschichte aus Quellen“, andererseits an einer Erfahrungs-Wahrheit der „eigenen […] Lebensereignisse“, die ja wohlgemerkt historischer Erkenntnis gerade nicht zugänglich ist - ein fundamentales Problem jeder Geschichtstheorie; diesen beiden sozusagen „referentiellen“ Wahrheiten entgegen steht dann aber einerseits etwa die kommunikative „Wahrheit, wie wir sie von […] dem Verkehr mit Zeitgenossen fordern“, andererseits jene direkte, emotive Ausdrucks-Wahrheit, wenn „das ursprünglich wahre, menschliche Herz“ spricht, der „wilde Gesang der Menschen“, eine „Wahrheit“, die nur subjektiv authentisch sein kann, aber nicht, wie von der kommunikativen „Wahrheit“ des „Verkehrs mit Zeitgenossen“ immer zu fordern, intersubjektiv zu vermitteln ist. All diesen Wahrheiten erneut entgegengesetzt ist die Erkenntnismöglichkeit durch Phantasie und Fiktion, wenn eine (referentiell, empirisch, kritisch gesehene) „Lüge“ zur „schönen Pflicht“ und „höchsten Wahrheit“ der Dichtung werden kann. Diese freilich ist nur der Möglichkeit nach wahr, „Geisteswerke müssen in sich den Zweifel dulden, ob böse oder gute Geister den Samen ins offene Herz streuten“: Und da ein solcher Vorbehalt offensichtlich für alle Erkenntnis und intellektuelle wie künstlerische Kreativität gilt, steht auch allen bisher genannten „Wahrheiten“, als müsse eine neue Dimension eröffnet werden, eine ethische Wahrheit gegenüber, eine „Wahrheit“ dessen, was sein soll; nur sie kann die Forderung erfüllen: „wer die Geschichte zur Wahrheit läutert, schafft auch der Dichtung einen sichern Verkehr mit der Welt.“ Erkenntniswahrheit der Vergangenheit und solche der direkten Erfahrung, kommunikative gegen Ausdruckswahrheit, der Wahrheitsanspruch von Phantasie und Fiktion, ethische, human zustimmungsfähige Wahrheit (wie immer sie zu begründen ist): All <?page no="39"?> das ist offenkundig nicht genug. Arnim fordert auch eine metaphysische Wahrheit, die das Gesamt der Geschichte, ihren Ursprung, ihr Wesen, Sinn und Ziel erschließt. Und es ist nicht überraschend, dass hier, wie skizzenhaft immer, sich sogleich weitere gegensätzliche Orientierungen eröffnen: Heilsgeschichte, die Taten Gottes mit den Menschen, wird sehr klar angesprochen, wenn alle Erkenntnis, Tätigkeit und Glauben nur per se ungenügende, „vergebliche“, von einer sich offenbarenden „Ewigkeit“ abhängige „Zeichen (dieser) Ewigkeit“ sind. Eine die Offenbarung der Heilsgeschichte ergänzende, komplementäre, also in gewissem Sinne ihr entgegengesetzte Wahrheit wäre die eschatologische, ein Ziel der Geschichte, das die Erfahrung überschreitet, während Heilsgeschichte ja offenbart und bezeichnet, also grundsätzlich erfahrbar ist: „die Geschicke der Erde, Gott wird sie lenken zu seinem ewigen Ziele, wir verstehen nur unsere Treue und Liebe in ihnen“ usw. Man kann aber auch einen ohne alle Transzendenz argumentierenden, an der Eigendynamik säkularer Geschichte und von ihr erfüllter Individuen orientierten, mythischen Begriff von „Geschichte in ihrer höchsten Wahrheit“ ausmachen, wenn von „ahndungsreichen Bildern“, „Urzeit“, „vergessenem“, aber nicht verlorenem „Wirken“, „einzelnen, erleuchteten Betrachtungen“, allerdings ohne „vollständige Übersicht“ und all dies in „innerer Anschauung“ die Rede ist. Und schließlich, wenn auch in eben romantischer Verkleidung, sieht Arnim in der „Wahrheit der Geschichte“ auch utopische, auf eine noch zu realisierende, immanente Vollkommenheit zielende Funktionen, ein Noch-nicht der erfüllten Wahrheit: „wäre aber das Geistige je ganz irdisch geworden, wer könnte ohne Verzweiflung von der Erde scheiden“, es geht um ein dem „Frühling“ als Hoffnungsträger vergleichbares „Erwachen“ aus „hinübergeleiteten(den) Träumen“, ein „Zurück“ - aber utopisch-eschatologisch gesehen, zugleich ein Hin - „zu ewiger Gemeinschaft“, einen „Leitfaden“ und ein „Suchen“. All dies wirkt offensichtlich zusammen, wenn „Dichtung […] aus Vergangenheit in Gegenwart“ - „denn nichts erringen wir als die Zukunft“ heißt es später (308) -, „aus Geist und Wahrheit geboren“ sein soll. Das ist freilich, wie nicht zuletzt die Rezeption dieses Romans zeigt, auch verwirrend. Auf alle Fälle nötigt ein solches differenziertes, widersprüchliches „Wahrheits“-Programm zu immer neuen, vielfältigen Orientierungen im Roman, so wie er, wohlgemerkt als Fragment, erzählt vorliegt. Unmöglich kann es hier einfache, endgültige Aussagen geben. Andererseits aber sind die Bedeutungs-Schichten und - Netze nicht beliebig. So wie sich die verschiedenen „Wahrheits“-Dimensionen eben in der Konsequenz der Gegensätze erschließen lassen, so kreisen sie gewissermaßen alle um einen Fokus: die Historie, „Geschichte aus Quellen“. Denn ist das Dichten ein Sehen höherer Art zu nennen, so lässt sich die Geschichte mit der Kristallkugel im Auge zusammenstellen, die nicht selbst sieht, aber dem Auge notwendig ist, um die Lichtwirkung zu sammeln und zu vereinen. (14) Es scheint für Arnim überhaupt keine Alternative zu geben. Gerade ein so komplexes, changierendes Programm von Dichtung und Geschichte, in dem gleichwohl auf alle Fälle „die Unterscheidung von falsifizierenden und verifizierenden Dichtungen als Geschichtsadaptionen erhalten“ bleibt (Nitschke Achim von Arnim: Die Kronenwächter 31 <?page no="40"?> 32 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans 2004, 297, vgl. 328 ff.), muss zu einer Form des historischen Romans finden. (Auch der „graduelle Unterschied […] zur diskontinuierlichen Gattung [eines] ,anderen‘ historischen Romans“, Verf. 1979, 103, vgl. 97 ff., löst sich im Feld pluraler Gattungsentstehung auf.) Der Bezug aller Bedeutungsvielfalt auf historische Fakten, Ereignisse, Gestalten, Situationen, „notwendig […] um die Lichtwirkung zu sammeln und zu vereinen“ - wie gesagt „notwendig“ aber nicht hinreichend, hinreichend wäre erst die ganze „Wahrheits“-Fülle - dieses Gattungs-Prinzip ist offenkundig auch für Die Kronenwächter entscheidend, nur eben in einer eigenen, von der Walter-Scott- Tradition unabhängigen Form - die spätestens aus heutiger Sicht dann auch ihre eigene Tradition erkennen lässt. Der „Chronotopos“ (Bachtin 1989, 7), die Raum-Zeit-Strukturen beispielsweise führen gerade in den Kronenwächtern unumkehrbar in die Geschichte hinein: Von historisch fortschreitender Dynamik erfüllt ist zunächst der „Schauplatz unserer Geschichte“ (16). Die kartographische und dann fast filmisch (mit „Zoom“ und „Schwenk“) anschauliche Einführung der Stadt Waiblingen im Remstal setzt sich fort in das Erschließen des Alltags, der Trachten, des Brauchtums, der Vorgeschichte und so fort. So viele „geheime“ Seiten- und Parallelwege, ja Höhlen, in den Binnenerzählungen, und sozusagen kühne Brücken, in den Querverweisen, dieser Handlungsraum auch eröffnet, prägend bleibt seine allmähliche historische Umgestaltung. Aus der Kaiserpfalz wird eine Tuchfabrik, „Weber“, „Tuchscherer“ und „Walkmüller“ (56) siedeln sich an, es wird gebaut und verbaut, gefeiert, auf kommunaler und Landesebene Politik gemacht. Gerade am Ende seiner Laufbahn, das scheint Teil seines negativen Bildungsweges, muss der Romanheld die zeiträumliche Bedingtheit seines Handelns einsehen: Er will Waiblingen zur freien Reichsstadt machen, aber „er fühlte, dass er die Stadt nicht gekannt, sie in seine Absichten habe zwingen wollen […], er sah, dass die reichsstädtische Verfassung zu einer leeren Form wurde, weil sie nicht durch die Notwendigkeit entstanden war, eine allgemeine Kraft zu begrenzen“ (301). Bis zu seinem Tod sind die Schicksale des Romanhelden räumlich und zeitlich angebbar, also historisch verortet. Wenn die „Geschichtlichkeit“ des Menschen einen Fluchtpunkt der Bedeutungswege in diesem Roman darstellt, dann wird dies in Raum und Zeit völlig anschaulich. Das gilt mindestens ebenso konsequent wie beim zentralen Handlungsraum auch für die peripheren, zentrifugalen Räume des Romans. Raumspannung und qualitativ gewordener zeitlicher Kontrast ergeben hier zusammengesehen eine sehr klare geschichtliche Aussage. Von der „Kronenburg“, um die das sagenhafte Ausgangskonzept einen Großteil des Erzählten kreisen lässt, erfährt der Leser nie direkt, sondern nur in Gesprächen, Liedern und Binnenerzählungen. Schon das ergibt einen Vorbehalt der Bedeutsamkeit. Es geht hier um Symbole des Friedens und der Einheit, nicht um mittelalterliche <?page no="41"?> oder gar restaurative Realität. Die zyklische Zeit eines noch ganz romantischen goldenen Zeitalters, die in der Kronenburg anschaulich wird, gilt lediglich als eine Idee, die vor, neben und hinter der Geschichte zugleich gedacht und imaginiert wird: „da sangen die Vögel in ewigem, sichern Frieden und die Blumen schienen keinen Winter zu kennen“; die Menschen sind ewig junge Kinder oder „glorreich in sich“ (82), „sicher […] herrlich […] glücklich in allen Geschäften“ (41) und so fort. Entsprechend hat dieser Raum auch etwas wörtlich U-Topisches; er ist tatsächlich und anschaulich nirgends zu verorten. Nicht nur führt die Romanhandlung selbst nie dorthin, die Burg ist zugleich im Gebirge und in einer Art Schlucht am, ja „im See“ gelegen (38) und noch tiefer geradezu unter Wasser „in der Mitte [des] Wellenschaums […] fast wie der Schatten eines Schlosses“ zu sehen (81); zugleich aber scheint sie auch „in den Wolken“ (167) zu schweben, überall und nirgends. Man sieht, wie die Sage von der Wiederkehr der Hohenstaufen räumlich idealisiert und utopisiert wird. Dem konstrastiert der ganz negative, verkommene Eindruck, den „Hohenstock“, das reale Pendant der Kronenwächterburg macht: hässlich „wie eine gebrochene Kinnlade mit schwarzen Zähnen“ (261), eng, „verwirrt“ gebaut (262) und unbequem, schließlich geradezu stinkend und schmutzig; entsprechend ist dieser Raum von Rohheit, Streit, Bespitzelung - „auch die Wände hätten da Ohren, das ganze Schloss sei von geheimen Gängen durchzogen“ (267) - und „unerbittlicher Gewalt“ (265) erfüllt. Und der hier situierte Geheimbund meist alter Männer bringt im Einzelnen ebenso Unheil über alle, mit denen er zu tun hat, wie er im Ganzen scheitern muss. Das ist nicht nur ein im Kontext der Romantik geradezu provozierendes Mittelalterbild, sondern auch eine sehr deutliche Absage an jede einfach zyklische Geschichtskonstruktion. Und die Idee, die sich mit der Krone − auch sie muss in einem Entwurf des Nachtrags geradezu zerbrochen werden (601, 604) um recht zu wirken - und ihrer Burg verbindet, eine Idee sinnerfüllter Geschichte ganz allgemein, wird durch diesen raumzeitlichen Kontrast „ex negativo bestätigt“ (Nitschke 2004, 345) und so erst recht in Freiheit gesetzt. In den eigentlich historischen Raum des Romans führt dessen Mittelteil, in die schöne, alte und, gerade zu Beginn des 16. Jahrhunderts, zugleich lebendig junge Stadt Augsburg. Diese Partien sind am sorgfältigsten nach Quellen erarbeitet worden: Arnim lässt seinen Romanhelden die großzügige Architektur bewundern, die Gärten und reinlichen Häuser, die Lebendigkeit in Handel und Gewerbe. Auch die Schönheit der Augsburgerinnen wird nicht vergessen. Vor allem aber lobt Arnim zwar mittelbar, aber ausdrücklich die reichsstädtische Verfassung, „den Eifer fürs gemeine Wohl, der in Reichsbürgern liegt […], sie lieben das Öffentliche und Gemeinsame […], sie wissen, dass sie mit zu regieren haben“ (155/ 156). Hier reist der Romanheld durch mehrere Schichten der Gesellschaft, trifft Kleinbürger, Zunftmeister, Patrizi- Achim von Arnim: Die Kronenwächter 33 <?page no="42"?> 34 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans er, Leute vom Hof Maximilians und schließlich diesen selbst, andererseits - was natürlich ein Anachronismus ist - hält sich gleichzeitig Luther in Augsburg auf. Und in all diesen Begegnungen, allerdings nur gesprächsweise, also noch synekdochischer als Waverley bei Walter Scott, erfährt Arnims Bertholt wie Geschichte entsteht. Nicht nur der Niedergang des Feudalwesens und der Aufstieg des Bürgers durchdringen auch die kleinsten Details - im adligen Gebahren der reichen Geschlechter in Augsburg beispielsweise zeichnet sich bereits ihr Abstieg ab -, auch große politische Entwicklungen, das Sichdurchsetzen der Territorialstaaten gegenüber dem Reich und natürlich die Reformation und alle Konflikte in ihrem Zusammenhang werfen ihren Schatten voraus. Interessant ist, dass es Arnim durchgehend auf Pläne und Tendenzen ankommt. So erscheint die reichsstädtische Verfassung als progressives Zukunftsmodell, von Maximilians Plänen für einen Reichsfrieden ist die Rede, für die Begrenzung fürstlicher und päpstlicher Macht, weitreichenden außenpolitischen Vorhaben, auch die Reformation wird als Projekt einer allgemeinen Kirche „von unten“ gesehen und noch genereller, als Impuls „geistiger“, intellektueller, human aktiver Kreativität schlechthin. Arnim entwirft aus seiner problematischen, ja als Vakuum empfundenen „Gegenwart“ heraus ein Modell „vergangener Zukunft“ (Kosellek 1989, 12). Neuzeit wird als eine „iterative Zeitbestimmung“ sichtbar und lesbar gemacht, „die subjektiv mit immer neuen Erfahrungen angereichert werden kann“ (Kosellek 2000, 240). So versteht man auch das negative, desillusionierende Moment in alledem. Denn als Teil dieses Bildes „vergangener Zukunft“ - Luther muss fliehen, bedarf fremden Schutzes, d. h. politischer Interessen und einer beginnenden politischen „Konfessionalisierung“, Maximilians Pläne sind weltfremd, er hat nur noch wenige Monate zu leben, noch im Roman wird sein Reichsfrieden gebrochen, manche Augsburger Patrizier sind bereits zu Karikaturen verkommen - ineins zeichnet sich ab, dass die von Arnim als sinnvoll und progressiv herausgearbeiteten Pläne und Tendenzen sich nicht durchsetzen werden. Ja, liberaler Fortschritt, demokratische Verfassung, entschiedene Friedenspolitik, nationale Einheit, „geistige“ Freiheit und Lebendigkeit sind auch für Arnims eigene Gegenwart lediglich Wunschperspektiven. Es ergibt sich für die Kronenwächter eine doch recht klar durchdachte Raum-Zeit-Struktur. Die Widersprüche ordnen sich zu einem sprechenden Muster. Mythos und Sage trennen sich in die lediglich wunschbildhafte „erfüllte Zeit“ auf der einen, die noch lebende, verkommene mittelalterliche Vergangenheit auf der anderen Seite. Und die in Augsburg dargestellte historisch-gegenwärtige Zeit entwirft ihre eigene, lediglich beabsichtigte Zukunft, die zwar von der historisch relativen, aus der Zeit des Autors gesehen vergangenen Zukunft und ebenso von seiner historisch gegenwärtigen Zeit negiert wird, im gesamten Zeitrahmen des Romans aber gleichwohl ihren Anspruch <?page no="43"?> auf absolute Zukunft behält. Darin korrespondiert sie eigentümlich aber stringent der Kronenburg-Utopie, wie eine relative, einst verfehlte, jetzt noch nicht eingetretene Realisierung, beispielsweise von „Frieden“, dessen absoluter Idee: vergangenes, in seinen Grenzen begriffenes und zugleich zukünftig offenes, noch einzulösendes Vorbild. Geschichte hat vielleicht in diesem Roman gegenüber Phantastik und Spiel einerseits (Wingertzahn 1990 liest ihn als „karnevalistische Groteske“, vgl. 324 ff.), noch mehr Geschichtsphilosophie, Eschatologie und Ethos andererseits, nicht immer das letzte Wort (so vor allem Ricklefs 1990) - der Romanschluss, freilich der des Fragments, ist ganz christlich-transzendent geprägt (vgl. 353 f.); aber das betont wie bei Blicher oder Manzoni auch den Ernst diesseitiger Prüfungen -, doch die „Wahrheit der Geschichte“ hat gegenüber den vielen anderen „Wahrheiten“ zentrale Funktion, entscheidendes Gewicht. (Es gibt so auch Stellen „zurückgenommener Geschichtsphilosophie“, Lampart 2001, 196; man kann hier auch bereits von einer „Antwort der Poesie auf den sich etablierenden Historismus“ sprechen, die den spezifischen „Anspruch der Dichtung auf Geschichte“ anmeldet, Bulang 2003, 95 u. 99.) Die Kronenwächter sind im Feld der pluralen Entstehung der Gattung ein eigenwilliger, aber gerade darin konsequenter historischer Roman. So lassen sie sich von späteren, teils viel späteren Werken her gesehen, durchaus auch modellhaft lesen. Für eine „gattungsgeschichtliche Standortbestimmung“ bleiben sie keineswegs ein kurioser Sonderfall, „ein eigenartig konstruierter, historisch isolierter Entwurf ohne institutionsbzw. funktionsgeschichtlichen Wirkungswert“ (Aust 1994, 60). Das Kompensatorische und zugleich kritisch Zeitbezogene des Geschichte-Erzählens gegenüber Trauma und Vakuum, das Formelement des historischen Fokus, eine hier gezielt widersprüchliche Poetik der „spiraligen“ Differenzierung von Fiktion und Historie (vgl. unten Kap. 5), sind kaum zu übersehen. Es gibt durchaus so etwas wie eine sprunghaft immer neu ansetzende Kronenwächter-Tradition: Die Ambivalenz des Mythos, dass Sinnhypothesen immer neu begriffen und auf Geschichte angewandt werden müssen, explizite Raum-Spannungen, die Erziehung zur, auch negativ begriffenen Geschichtlichkeit, ein utopisches Moment: So wird im Roman des 19. Jahrhunderts, etwa in Charles Dickens, A Tale of two Cities (1859) oder in Victor Hugos Quatrevingt-Treize (1874) beispielsweise die französische Revolution literarisch bearbeitet (vgl. unten Kap. 4.2 u. 4.3). Fragende Mythisierungen, vielfach fragmentarische Geschichtsverläufe, intensive und extensive Chronotopoi − Räume werden durchdrungen, Karten verlebendigt − finden sich in Alfred Döblins, nun freilich noch konsequenter, zentrifugalem Roman Wallenstein (1918, vgl. unten Kap. 6.1). Die von Arnim so konsequent genutzte Zeitstruktur, dass ein relatives - und explizit relativiertes - Vorbild in der Vergangenheit uneingelöst von der seitherigen Geschichte den Anspruch absoluter Zukunft erhält, wird Achim von Arnim: Die Kronenwächter 35 <?page no="44"?> 36 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans für alle human engagierten historischen Romane im 20. Jahrhundert geradezu prägend, auch bei ganz anderen, direkteren Erzählformen. Genannt seien hier nur etwa Heinrich Manns Henri-Quatre-Romane (1935, 1938) oder die Romane von Marguerite Yourcenar: Mémoires d’Hadrian (1951), noch mehr - ein sehr interessanter Vielheitsroman, Bildungsroman zur „Geschichtlichkeit“, der die Fähigkeit zu differenzieren geradezu zum Thema erhebt - L’œuvre au Noir (1968). Überhaupt scheint gerade Arnim das Thema „New Worlds in the Historical Novel“ eingeführt zu haben (vgl. Verf. 2000, v. a. 151 f., und sehr anregend Mahoney 2006, v. a. 156 ff.). Immer noch, bzw. wieder erkennbar ist das Arnim-Modell des historischen Romans in Michel Tourniers Le roi des aulnes (1970): die Ambivalenz des Mythos, die Vertauschbarkeit von Zeiten, spannungsreiche Chrono-Topoi, wie Räume von psychischem und politischem Geschehen durchdrungen werden, der Kontrast etwa von Gefängnis und freiem, unendlichem Raum, die Utopie der Kinder, die Negation zentraler Symbolik und so fort, um nur ein paar Stichworte zu nennen (vgl. unten Kap. 8.3.1). Ist die Raketen-Verschwörung, sieht man von allen Kostümierungen einmal ab, in Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow (1973) so völlig verschieden von der des Kronenwächter-Bundes, die physisch-technische Manipulation des Romanhelden dort von der Bluttransfusion hier? Wurde überhaupt vor der „Postmoderne“ (vgl. unten Kap. 8) Geschichte je so spielerisch phantastisch, so widersprüchlich vielfältig und zugleich so riskant aufklärerisch erzählt wie von Arnim? Achim von Arnim: Werke. 6 Bde. Hg. von Roswitha Burwick u. a. Frankfurt a. M. 1989-1994. Bd. 2. Die Kronenwächter. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M. 1989. Achim von Arnim: Die Kronenwächter. Roman. Hg. von Paul Michael Lützeler. Stuttgart: Reclam, 1983. Andermatt: Grenzgänge. 1994. • Bulang: Barbarossa im Reich der Poesie. 2003. • Hoermann: Achim von Arnims 1854 Kronenwächter Text. 1990. • Geppert: „A Beautyful City and a Brilliant People? “ 2000. • Geppert: Achim von Arnims Romanfragment „Die Kronenwächter“. 1979. • Halbfass: Ironie und Geschichte. 1994. • Kastinger Riley: Achim von Arnim in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 1979. • Knaack: Achim von Arnim - nicht nur Poet. 1976. • Lampart: Zeitaporie und Geschichtstropen in Achim von Arnims Die Kronenwächter. 2001. • Mahoney: Old, New, and (Un)Known Worlds. 2006. • Neuhold: Achim von Arnims Kunsttheorie und sein Roman „Die Kronenwächter“ im Kontext ihrer Epoche. 1994. • Nitschke: Utopie und Krieg bei Ludwig Achim von Arnim. 2004. • Ricklefs: Kunstthematik und Diskurskritik. 1990. • Simon: Konstruierte und destruierte Medien des Erinnerns in Achim von Arnims Romanfragment „Die Kronenwächter“. 2001. • Wilhelm: Studien zu den Quellen und Motiven von Achim von Arnims Kronenwächtern. 1955. • Wingertzahn: Ambiguität und Ambivalenz im erzählerischen Werk Achim von Arnims. 1990. <?page no="45"?> 2.4 Steen Steensen Blicher: Brudstykker af en Landsbydegns dagbog / Bruchstücke aus dem Tagebuch eines Dorfküsters (1824) Wenn die wesentlich voneinander unabhängigen und bewusst gegensätzlich konzipierten ersten historischen Romane die produktive Differenz von Fiktion und Historie vielfältig auserzählen, dann fügt dem die Romanskizze des Dänen Steen Steensen Blicher (1782-1848) - ich kann sie nur in der Übersetzung von Walter Böhlich (1993) lesen und zitieren - eine so eigenwillige Variante hinzu, dass sie hier mit einbezogen werden muss. Romanhaft liest sich der Handlungsentwurf: Ein armer Junge muss seine vielversprechende klassische Bildung abbrechen und Jäger-Diener einer Adelsfamilie werden. Er erlebt mit seinem jungen Herrn die Pest in Kopenhagen (1711), wird nach dem Tod seines letzten Gönners Soldat im „Nordischen Krieg“ (1700-1721: Schweden gegen Dänemark, Sachsen-Polen, Russland u. a.), wechselt die Seiten, das heißt, nimmt schwedische Dienste, gerät in russische Gefangenschaft, wird nach Sibirien verfrachtet und kommt erst nach vielen Jahren, fromm und demütig geworden, nach Hause. Ein Strang der Handlung erzählt seine hoffnungslose Liebe zum Fräulein auf dem Schloss - immerhin genießt er wegen einer Verwechslung eine Liebesnacht mit ihr - und wie er sie einmal viele Jahre später als verkommene Vettel wieder sieht. Die Kürze des Buches, das begrenzte Personal, vor allem das Motiv der plötzlichen, alles verändernden Wiederbegegnung mögen novellistisch sein; das Bildungs-Thema, der Rahmen der Autobiographie, die als Tagebuch präsentiert wird (dafür hatte Blicher historische Vorlagen, vgl. Chraska 1986, 84), die immer neuen Lebensentwürfe und -wendungen, ein solch sprechendes Moment, wie das des sich ändernden Namens („hunc“: „dieser da“, 9, „Martang“, 16, „Morten“, 20, „Martin“, 22, „Morten Vinge“, 57), vor allem schließlich das noch in der negativen Durchstreichung / Überschreibung (vgl. etwa Culler 1988, 149 ff.) erkennbare Handlungsschema der Abenteuer-Erzählung weisen auf einen Roman. Er ist genau in dem Sinne skizzenhaft ausgeführt, wie aus dem als viel umfangreicher implizierten Tagebuch nur Bruchstücke angeboten werden. Nicht zuletzt kennzeichnet eben die Differenz von Fiktion und Historie, die hier als bewusste, distanziert „repräsentative Synekdoche“ (White 1986, 97) pars pro toto oder wie Vorder- und Hinterbühne getrennt / verbunden sind (vgl. unten Kap. 5.3), den historischen Roman. Auch wenn die historischen Namen und Hinweise minimal bleiben und die wohl kühnste literarisch-historische Synekdoche seitdem bilden, es fallen eigentlich nur die Stichworte: „Krieg“, „gefangen“, „schwedischer Soldat“, „Sibirien“, durch die genaue Datierung der weitestgehend privaten Aufzeichnungen ist doch pars pro toto auch ein historischer Diskurs auffallend genau Steen Steensen Blicher: Brudstykker af en Landsbydegns dagbog 37 <?page no="46"?> 38 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans miterzählt. Und das hat durchaus argumentative bzw. eben „interpretierende“ Funktion (vgl. White 1986, 64 ff. zu „Interpretation und Geschichte“): Morten wird 1713 Soldat, um 1714-16 in eine entscheidende Phase des Krieges, die Erfolge Karls XII. und Zerwürfnisse seiner Gegner hineinzugeraten, er nimmt 1718 gezwungen schwedischen Dienst, als mit Karls XII. Tod eine neuerliche Wende des Krieges beginnt; später (vgl. 58) erfährt man, dass Morten noch 1719, also wohl beim Einmarsch der Russen nach Schweden, wieder in Gefangenschaft geraten ist; auf alle Fälle befindet er sich am 15. Mai 1721 bereits in Sibirien, wo er „vierundzwanzig lange, kummervolle Jahre“ bleiben muss (58): Der noch 1721 geschlossene Friede zwischen Schweden und Russland kommt für ihn also genau und fatal ebenso zu spät, wie der Friede von 1720 zwischen Schweden und Dänemark ihm nichts mehr genützt hatte. Schließlich endet der Krieg von 1700-1720/ 21 für Dänemark erfolgreich mit Land- und Machtgewinn. Morton dagegen wird gezielt vom Autor immer wieder auf die Verliererseite gebracht, und er steht genauso krass bis zu seiner Heimkehr 1743, ja lebenslang, im vollkommenen Gegensatz zu jenem „golden age“ (Berndt 1995, 26), das für Dänemark damals anbrach. Der Kurzroman von einem armen Teufel, der unter die Räder der Geschichte gerät, ist für die Frage nach dem historischen Roman sowohl poetologisch als auch komparatistisch interessant. („Blicher probably didn’t set out to be innovative, but he was exactly that“ und darin v. a. auch „quite […] independent“ von Scott, Ingwersen 2004, 88 u. 91.) Man kann sehen, wie stabil ein historischer Diskurs sich auch aus wenigen „indexikalischen“ Momenten herstellen kann, sofern diese auf eine eigenständige, „laterale“ bzw. „intertextuelle Rekonstruktion“ verweisen (vgl. unten Kap. 5.2). Und in vergleichender Perspektive lässt sich Blicher sowohl mit Scott wie mit Arnim und mit Manzoni zusammen sehen. Er überbietet die Synekdoche Scotts auf eine, wenn man will, schon sehr moderne Weise: Man denke an die genaue Chronologie und Punktualität der Historie bei Stendhal (La chartreuse de Parme, 1839), an die fatale Synchronie von historischen Wendepunkten mit solchen des eigenen Lebens bei Thackeray (The History of Henry Esmond, 1852), an die kunstvoll-sprechenden Aussparungen des historischen Hintergrundes in Fontanes Schach von Wuthenow (1882), den gezielten, die privaten Hoffnungen zerstörenden Geschichts-Lakonismus in Faulkners Absalom, Absalom! (1936), die Kürzel für historische Namen bei Bert Brecht, die Nachrichten aus dem Radio oder der Zeitung bei Andersch (Efraim, 1967) oder Uwe Johnson (Jahrestage, 1970-1983). Morten Vinges Schicksale erheben ineins die wirre Phase im Lebensweg Waverleys zur Verallgemeinerung und erzählen eine jener bei Scott nur angelegten, aber präzise umrissenen alternativen Geschichten aus, wie sie die kleinen Gefolgsleute der Gentlemen und Lords („just begging“, Waverley, 431) erleben müssen. Die Metonymie von Damals und Heute, die bei Scott konservativ, bei Arnim progressiv genutzt wird, wendet Blicher nicht weniger konsequent <?page no="47"?> kontrastiv: Morten steht im Gegensatz zur glorreichen dänischen Vergangenheit, korrespondiert aber dessen nach 1814 aktuellem Elend (vgl. oben Kap. 2.1) und spricht es als begrenzt, „nur je und je historisch“ an. Aber es gibt weiterführende Aspekte. Der Chronotopos des lebenslangen Exils - auch bei Scott muss die unmögliche Restauration unterschwellig differenzierend mitgedacht werden, man denke an Old Mortality (1816), Rob Roy (1817) oder Redgauntlet (1824) - zieht sich wie ein roter Faden durch die Epochen des historischen Romans (vgl. Verf. 1998, 359 ff.): „Ich zweifle daran, daß ich hier eine Bleibestatt finde […]. Ich könnte mich nach Sibirien zurückwünschen […]. Ich bin ein Fremder, ein Ausländer unter ihnen allen“ (63-67). Die Form eines negativen historischen Bildungsromans verbindet Die Kronenwächter und die Bruchstücke. Die Erziehung zur Geschichtlichkeit, zur Einsicht in die zeitliche Bedingtheit menschlicher Existenz wird bei Blicher noch direkter und schockierender in Szene gesetzt als bei Arnim. Wenn sofort aufeinander die Eintragungen folgen: „Norkjøeping, den 3ten Februar 1718. Nun bin ich doch schwedischer Soldat geworden […] gegen den Moskowiter“, dann „Sibirien, den 15ten Mai 1721“ und sofort darauf „Riga, den 2ten September 1743“ (56/ 57), dann trifft einen dieser plötzliche Zeitsprung von 23 Jahren, dieser Riss durch jede Kontinuität von Raum, Zeit, Lebensplanung wie ein plötzlicher Schmerz. Zeit ist hier, durchaus im Sinne von Paul Ricœur, in der Tat eine aus dem („aporetischen“) Grundwiderspruch von persönlicher Zeit und Weltzeit heraus entworfene, offene Problemkonstellation (vgl. Ricœur 1991, 3.8 ff.). Natürlich erinnert der kleine Mann, der von der Geschichte buchstäblich weggespült und herumgetragen wird an Manzonis promessi sposi. Und auch diese Parallele lässt sich vertiefen. Denn wie dort gut katholisch die „provvidenza“ alle heillose säkulare Geschichte durchbricht, so ist diese hier, gut lutherisch, allein durch „die Gnade des Herrn“ (69) jenseitig aufgehoben. Aber hier wie dort ist damit historisch-gesellschaftliche Kritik, aber auch Verantwortung keinesfalls erledigt. Morton ist nicht „the victim of an unchangeable human condition but […] caught by ideologies and biases that are products of society“. Und das lässt durchaus „new paths“ für die Zukunft offen (Ingwersen 2004, 97). Und dass sich in solch radikaler Differenzierung und zugleich Wechselwirkung von Fiktion und Historie auch eine negative, wie in einzelnen Perspektiven bei Arnim (ein „tief geschichtsskeptischer Roman“, Halbfass in Andermatt 1994, 60), bei Manzoni „ironische“ (Raimondi 1974, 43; vgl. unten Kap. 2.5), bei de Vigny nihilistisch-ästhetische Geschichtsphilosophie erzählen lässt, macht diese Romanskizze gerade in vergleichender Sicht zusätzlich interessant. Steen Steensen Blicher: Bruchstücke aus dem Tagebuch eines Dorfküsters. Aus dem Dänischen übersetzt und hg. von Walter Boehlich. Berlin 1993. Steen Steensen Blicher: Brudstykker af en Landsbydegns dagbog 39 <?page no="48"?> 40 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans Bernd: Poetic Realism in Scandinavia and Central Europe 1820-1895. 1995. • Chraska: Steen Steensen Blicher zwischen Dichtung und Wirklichkeit.1986. • Ingwersen: Steen Steensen Blicher. 2004. • Nielsen: Sir Walter Scott’s Reception in Nineteenth Century Denmark. 1983. 2.5 Alessandro Manzoni: I promessi sposi / Die Verlobten (1827) Der volle Titel lautete in der Originalausgabe: I promessi sposi. Storia milanese del secolo XVI, scoperta e rifatta da Alessandro Manzoni / Die Verlobten. Eine Mailänder Geschichte aus dem siebzehnten Jahrhundert, entdeckt und neu gestaltet von Alessandro Manzoni. Die heute gültige Ausgabe erschien 1840-1842 und ist das Ergebnis einer gründlichen, vor allem sprachlichen Überarbeitung durch Manzoni selbst. Dieser Roman - man sollte den Titel sinnvoller übersetzen mit Die einander versprochenen Eheleute, denn es kommt ja auf das völlig Ungesicherte ihres Status an -, ein Monument der italienischen und ein Klassiker der Weltliteratur, betont vielleicht am konsequentesten von allen ersten Beispielen die produktive Differenz von Fiktion und Historie, „un componimento […] intrinsicamente contradittorio“ (ein in sich widersprüchliches Gebilde, Manzoni 1990, 218). Denn sie prägt hier die Oberfläche, die Textur des Romans selbst. Er ist einerseits durchsetzt von gediegenen historischen Abhandlungen, die nahezu getrennt vom die Handlung erzählenden Diskurs betont nicht-fiktional gehalten sind: über die spanische Herrschaft in Oberitalien, den Erbfolgekrieg um das Herzogtum Mantua (1628-1631), politische Verwicklungen zwischen Spanien, Frankreich und der Republik Venedig, über die Pest in Mailand, die Auswirkungen des 30-jährigen Krieges und so fort. Und dass dieses sicher traumatische Kapitel italienischer Geschichte hier den Hintergrund einer anschaulich, plastisch, in feinen Charakterisierungen erzählten Romanhandlung bildet, trug gewiss zur großen Wirkung Manzonis im Kontext der italienischen Einigung („il Risorgimento“) im 19. Jahrhundert bei. Andererseits aber hat diese Romanhandlung etwas geradezu topisch, auf überdeutlich konventionelle Weise Literarisches. Es handelt sich um eine „Prüfungsgeschichte“: Ein mächtiger Herr begehrt ein armes, schönes, tugendhaftes Mädchen, er versucht lange erfolgreich ihre Heirat zu verhindern, die einander versprochenen Eheleute müssen sich trennen, jeder der beiden erlebt in dieser historisch bewegten Zeit vielerlei Abenteuer, sie treffen Verräter ebenso wie unvermutete Helfer und am Ende finden sie glücklich zusammen, ja, alles ist für sie fast so, als wäre nichts gewesen. <?page no="49"?> Dieses Schema, dieser „Chronotopos“ ist, wie gerade Bachtin selbst betont hat (vgl. allgemein Bachtin 1989, 38 ff., spezifisch Bachtin 1986, 14 f.), im Prinzip raum- und zeitlos: die Reihenfolge der Abenteuer wäre weithin austauschbar, letztlich altern die Hauptpersonen nicht einmal − was hier beispielsweise sehr subtil so auserzählt wird, dass sie selbst gegen die Pest immun werden. Noch viel mehr als bei Scott oder Arnim, andererseits aber, wie gesehen, Blicher vergleichbar - und wohl erst im 20. Jahrhundert (Aragon, Vonnegut, der deutsche Nachkriegsroman) wieder so eingeholt -, wird hier Geschichte von kleinen Leuten aus und in ihrem Alltag gesehen. Aber diese leiden zwar vorübergehend an Geschichte, beeinflussen sie jedoch keineswegs und gehen letztlich auch unversehrt und so gut wie unverändert aus ihr hervor, während um sie herum nichts mehr ist, wie es war. Der historische und der fiktionale Diskurs überlagern sich hier wie zwei bereits in sich vielfarbige Folien, die zusammen ein Bild ergeben, aber auch jederzeit getrennt und für sich gelesen werden könnten. Manzoni − freilich muss dem jetzt Gesagten noch ein „aber“ folgen − interpretiert die Differenz von Fiktion und Historie nicht als Relation und Funktion, sondern, und eben „vom Konzept her anders als […] Scott“ (Küpper 2002, 58), als Alterität, als ein Nebeneinander „heterogener Materialien“ („materiali, che sono eterogenei“, Manzoni 1990, 209; der Aufsatz Del romanzo storico, aus dem hier zitiert wird, wurde in Grundzügen 1828/ 29 konzipiert, aber erst 1850 veröffentlicht, vgl. ebd. 195 ff.). Die Menschen leiden an der Geschichte, aber sie vermögen nicht, sie zu gestalten in einem für sie „lebbaren“, zustimmbaren Sinne. Heillose Historie nun, der eine Text, und menschlich-moralische Schicksale, der andere Text, „Realnexus“ und „schöner Schein“ (Küpper 2002, 83), würden hier auseinanderstreben ohne ein Drittes, das beide dann dennoch verklammert: Das ist die I promessi sposi außerordentlich prägende christlich-heilsgeschichtliche Perspektive. Was der Roman in immer neuen Wendungen, in den eingefügten Bekehrungsgeschichten - darunter auch die erschütternd negative einer erzwungenen Pseudo-Bekehrung (vgl. Kap. IX und X ) -, vor allem aber im Schicksal der frommen Romanheldin sagt, ist dies: die Menschen sollen im Kleinen wie im Großen sich der göttlichen Vorsehung überantworten (der „provvidenza“) und nach den christlichen Geboten und den Weisungen der Kirche handeln. Nur so wäre Geschichte wirklich begriffen. Allerdings ist diese Heilsgeschichte nie direkt und äußerlich erfahrbar. In der weltlichen Historie lassen sich nirgends „Taten Gottes“ ablesen. Die unbeschönigt schrecklichen Passagen über Pest und Krieg (v. a. Kap. XXX ff.) sind geradezu exemplarisch für Manzonis historischen Diskurs. Nur durch persönliche innere Offenbarung und kirchliche Lehre wirkt die Heilsgeschichte hier auf die profane ein, nur indem sie menschliches Gewissen und menschliches Handeln zu leiten vermag. Und so, das wird nirgends verdeckt („il Dio di Manzoni non garantisce il bene degli Alessandro Manzoni: I promessi sposi 41 <?page no="50"?> 42 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans uomini“ / „Manzonis Gott garantiert nicht das Wohlergehen der Menschen“, Di Benedetto 1999, 21), ist sie eben noch nicht allgemein oder wesentlich wirksam, prägend oder real geworden. „The mixed conditions of human affairs“ bis hin zur „disorderliness of unreason“ werden nur „inconsistantly illuminated by reason and by grace“ (Godt 1998, 154/ 155). Zugespitzt gesagt heißt das: die dynamische, immer gut trennbare wechselseitige Überlagerung von fiktionalem und historischem Diskurs einerseits, dass Manzoni gerade bei der „Beschreibung von Krieg, Hungersnot und Pestilenz […] den Rock des Poeten auszieht und eine ganze Weile als nackter Historiker dasteht“ (so der an Scott orientierte Goethe zu Eckermann, 23.7.1827, Eckermann 1959, 201), andererseits die nicht weniger spannungserfüllte, kontrastreiche, oft geradezu negierende Durchdringung beider mit heilsgeschichtlichen Perspektiven - dass die Historie in die Irre geht und die „provvidenza“ selten begriffen, noch seltener in Handeln umgesetzt wird, beides unaufhebbare „Widersprüche in der persönlichen wie in der historischen Existenz des Menschen“ („contraddizioni sempre in gioco nell’esistenza individuale e storico dell’uomo“, Ferroni 1992, 164) - all das umkreist hier eine Leerstelle sinnerfüllter Geschichte. Was Geschichte im göttlichen wie im menschlichen Interesse wirklich sein könnte, wird als Bedürfnis allenthalben und vehement vernommen, aber konkret nirgends realisiert (Raimondi spricht von einer „paradox modernen“, aber „gewissermaßen christlichen Ironie“, „una ironia, si vorebbe dire, Christiana“, Raimondi 1974, 43), es bleibt explizit leer. Die Menschen können, wie gesagt, durch Offenbarung, Lehrtradition, aber auch eigene Erkenntnis und Gedankenarbeit wissen, wie Geschichte verlaufen sollte, sie könnten es auch tun − der Roman ist voll von, freilich begrenzten, ja im Ganzen hilflosen, mildtätigen Aktivitäten aller Art −, aber eine entsprechende historische Realität gibt es nicht, unaufgelöst bleibt „die Dichotomie zwischen einer sinnvoll-heilsgeschichtlichen und chaotisch-diesseitigen Geschichte“ (Lampart 2001, 378, vgl. ebd. ff.). Es gibt in der Handlung des Romans zu dieser um eine Leerstelle kreisenden Gesamtkonstellation eine eigentümliche Bestätigung: Die entscheidende Wende in der „Prüfungsgeschichte“ können die betont literarischen Protagonisten, so fromm sie sind, nicht selbst herbeiführen; ein mächtiger Bösewicht erfährt ganz individuell und betont sprunghaft, nach einem „dibattersi a vuoto“, „leeren Selbstgesprächen“ (Di Benedetto 1999, 98), die aber in eine „Selbst-Prüfung“ übergehen („esame di tutta la sua vita“, Kap. XXI, 314), ein Saulus-Paulus-Erlebnis und wird, wenn auch in begrenztem Kreis und ohne historische Relevanz, zum allgemeinen Wohltäter. Und dieser „Nullpunkt“ der Handlungskurve gehört einer Gestalt, die der „Innominato“, der „Namenlose“ heißt. (In der Vorstufe der Promessi sposi von 1821 wird noch ein historischer Name genannt, der dann betont zum „Namenlosen“ verändert wird, vgl. zu dieser „ristruttura“ / „Neustrukturierung“ Di Benedetto 1999, <?page no="51"?> 87 ff.). Damit, so scheint mir, ist weniger ein Rätsel (wer „verbirgt“ sich dahinter? wer hat Modell gestanden? ), als vielmehr eben eine „allgemeine Leerstelle“ entworfen: Alle Menschen sollten so handeln, aber sie tun es nicht, eine humane (vernünftige, moralische, sozial, religiös geprägte usw.) Geschichte könnte und soll es geben (Küpper 2002 spricht von einem „dezidiert rationalistischen Zugriff“ auf Geschichte, „Historie als ,magistra vitae‘“, aber „jenseits des Traums von Perfektibilität“, 73 u. 83), doch ihre Stelle bleibt in Historie und Fiktion leer. Das ist von der differenziert affirmativen Geschichtserzählung Walter Scotts aber auch vom progressiven Fragmentarismus bei Arnim gleich weit entfernt. Und es eröffnet ein ganz eigenes - vielleicht ja überhaupt erst in vergleichender Retrospektive sichtbares - modernes Moment. So lassen sich etwa die Geschichtsromane des alten Wilhelm Raabe aus dem Siebenjährigen Krieg Das Odfeld (1888) und das viel zu wenig gelesene Hastenbeck (1898) - auch dies ist eine „Prüfungsgeschichte“ betont kleiner Leute: Ein desertierter Zwangsrekrutierter und seine Geliebte fliehen durch die Kriegsereignisse hindurch und werden bedeutsam-zufällig, eigentlich schon metapoetisch von Gnaden der Kunst, hier also der Porzellan-Kunst des Rokoko, gerettet (vgl. Verf. 1981, 278 f. sowie unten Kap. 4.7, 5.4 u. 8.3) - auch diese bizarren Erzählungen lassen sich so lesen, dass sie in vielfachen, weit ausgreifenden, geradezu intertextuellen Bezügen letztlich Leerstellen einer human erfüllten Geschichte, eines zustimmungsfähigen historischen Handelns umkreisen, das sozusagen dringend benötigt wird und das die Protagonisten nur betont unzureichend vertreten. Auch der „Rabe“ am Ende des Odfeld vertritt allenfalls als Leerstelle eine mögliche Taube des Heils und des Friedens. Oder, um nur drei interessante Punkte zu nennen: „Demain Paques“, „morgen Ostern“, die historisch-utopisch übersetzte christliche Erlösung im letzten Kapitel von Louis Aragons La semaine sainte (1958), ist im „alphabet inconnu de l’avenir“, dem „unbekannten Alphabet der Zukunft“ geschrieben, so wie die Reise an die Grenze des Möglichen („ce voyage aux limites du possible“) auch den möglichen „Abschied ins Nichts“, „partage […] pour le néant“ enthält (La semaine sainte, 578 und 591, vgl. unten Kap. 6.3). Der „große Mahlke“ und sein Glaube an die Jungfrau Maria vertreten in Günter Grass, Katz und Maus (1961) eine unerfüllte „Größe“ und noch leerere „Heilsgeschichte“ in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, so wie das „Wegtauchen“ am Ende ja explizit eine Leerstelle hinterlässt. Alfred Anderschs Winterspelt (1974) ist in vielem ein Gegenstück zu seinem bekannteren Sansibar oder der letzte Grund (1957): Die Personen gehen, auch wenn sie sich in der Handlung treffen, wesentlich aneinander vorbei, ihre Versuche, Geschichte zu „machen“, führen ins Leere; und im Mittelpunkt steht, wie seinerzeit die Barlach-Plastik eines vorbildlich Lesenden, eigentlich aber gerade im Gegensatz zu jedem Vorbild, ein Bild von Paul Klee mit dem sprechenden Titel: „polyphon um- Alessandro Manzoni: I promessi sposi 43 <?page no="52"?> 44 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans grenztes Weiß“, „das vielleicht eine höchste Lichtquelle war, vielleicht aber auch bloß etwas Weißes, ein Nichts“ (Winterspelt, 270, vgl. auch unten Kap. 7.2). Manzonis I promessi sposi ist natürlich viel reicher an Bedeutungsperspektiven, als hier gewürdigt wurde. So wird die zuletzt genannte Leerstelle ja immer wieder durchaus diesseitig gefüllt: synekdochisch, parte pro toto, in den vielen, freilich begrenzten, menschenfreundlichen und vor allem klugen Einzelaktionen, aber beispielsweise auch metaphorisch. Interessant ist hier, um wenigstens auf ein Motiv einzugehen, das Schicksal der den Anfang des Romans prägenden „fragilen Idylle“ (Lampart 2001, 343) eines lebendig-fröhlichen Landlebens. Sie wurde durch Adels-Willkür und -Intrige, dann durch den Krieg unwiederbringlich zerstört. Im Gegensatz zu Tully-Veolan in Walter Scotts Waverley (1814) ist Enzos schöner Garten nicht wieder herzustellen. Aber was aus ihm geworden ist, wird zu detailliert und liebevoll dargestellt, um unbedeutend zu sein: Era un guazzabuglio di steli […], una confusione di foglie, di fiori, di frutti, di cento colori, di cento forme, di cento grandezze: spighette, pannocchiette, ciocche, mazzetti, capolini bianchi, rossi, gialli, azzurri. / Da war ein Wirrsal von Stauden, ein Durcheinander der Blätter, Blüten und Früchte, hundert Farben, hundert Formen, hundert Größen: Ähren, Rispen, Büschel, Dolden, weiße, rote, gelbe und blaue Blütenköpfchen. (Kap. XXXIII, 490) Während Enzo überhaupt nicht hinein will in dieses wuchernde neue Leben („non si curava d’entrare“), hält sich der Erzähler fast zwei Seiten lang auf, also viel länger, als hier zitiert wurde, um ausdrücklich im eigenen Namen („a noi“) diese Skizze zu zeichnen (ebd.). Man liest und hört seine Freude. Denkt man an die Bibel-Metapher („Alles Fleisch ist wie Gras und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blume“, Jesaja 40.6), an die alte Allegorie der Lebenszeit (Blatt, Blüte und Frucht auf einem Zweig), an die romantische Natursymbolik, an das Schlüsselwort „guazzabuglio“, „Wirrsal“ - es taucht am Tiefpunkt der Krise sowohl Enzos auf (Kap. XIV: „un guazzabuglio d’istanze e di rimproveri“ / „ein Wust von Bitten und Vorwürfen“ an die Gerechtigkeit und Ordnung der Welt, 225), als auch in Lucias tiefster Verzweiflung unmittelbar vor der Bekehrung des „Innominato“ (Kap. XXI: „una successionediguazzabugli“ / „einewirreFolge“vonWahn-undSchreckensbildern, 311/ 312), und vermutlich auch sonst noch -, erhält dann diese Metapher einer sonst wirren, sinnlosen Weltsicht, angewandt auf das Leben der Natur, was gut katholisch der Glaubenshoffnung nicht widerspricht, erhält sie nicht punktuell, aber keinesfalls beliebig, ein Moment von Farbe, Vitalität und Reichtum unbekannter, ganz diesseitiger Möglichkeiten? <?page no="53"?> Alessandro Manzoni: I promessi sposi. Edizione commentata con introduzione critica par Vittorio Spinazzola. Milano: Garzanti, 3 1972. Ders.: Die Verlobten. Dt. von Ernst Wiegand. München: dtv, 1977. Ders.: I promessi sposi. A cura di Ezio Raimondi e Liciano Bottoni. Milano 1988. Ders.: Scritti di teoria letteraria. A cura di Adelaide Sozzi Casanova. Milano 2 1990. di Benedetto: Guida da Promessi sposi. 1999. • Ferroni: Alessandro Manzoni. 2 1992. • Godt: The Mobile Spectacle. 1998. • Hösle: Alessandro Manzoni „Die Verlobten“. 1975. • Küpper: Zum italienischen Roman des 19. Jahrhunderts. 2002. • Lizium: Die Darstellung der historischen Wirklichkeit in Alessandro Manzonis „I promessi sposi“. 1993. • Ragusa: Alessandro Manzoni and Developments in the Historical Novel. 2003. • Raimondi: Il romanzo senza idillo. 1974. • Stagnitto: Manzoni e la guerra contro il tempo. 1973. 2.6 Alfred de Vigny: Cinq-Mars (1826) Dieser auf seine Weise erneut erste historische Roman, auf alle Fälle der erste bedeutende der französischen Literatur (Gascar 1980, 7), wurde nicht nur ausdrücklich gegen das Modell Walter Scotts entwickelt - „je cherchai à faire le contraire […] et de renverser sa manière“, „ich versuchte ein Gegenstück herzustellen und seine Manier umzukehren“ schreibt de Vigny später (Mai 1837) in sein Journal d’un poète (Vigny 1948. 2, 1063) - er unterscheidet sich auch deutlich von den anderen drei bisher vorgestellten „pluralen Anfängen“. Man könnte meinen, die Differenz von Fiktion und Historie sei hier weniger relevant, sofern, nach dem Vorbild des Dramas, historische Gestalten groß und ausführlich die Szene betreten - ein teils triviales, dann aber auch in der Tat zu Scott „alternatives“ Vorgehen (vgl. unten Kap. 4 sowie Kap. 5.3). Aber Vigny sieht diese „différence […] entre la VÉRITÉ de l’ART et le VRAI du FAIT“ zwischen „der Wahrheit der Kunst und dem Wahren des Faktums“ (so die ab der vierten Auflage 1829 dem Roman vorangestellten Réflexions sur la vérité de l’art, 22, vgl. 21-29, 548), die Differenz zweier je eigengesetzlicher Diskurse würde man heute sagen, nicht nur außerordentlich genau (ausführliche Interpretationen geben z. B. Saint-Géraud 1988, 133-167, Lampart 2001, 253-260), sondern nutzt sie auch konsequent. Das bedeutet zum einen eine von Auflage zu Auflage wachsende Zahl von vom Roman getrennten, einen eigenen Text bildenden historischen Anmerkungen und Dokumenten (vgl. 489-532), zum anderen die bereits in den Réflexions betonte Freiheit der Phantasie („la liberté que doit avoir l’imagination“, ebd.). Davon profitiert zuerst die quasi-dramatische Anschaulichkeit. Den Roman prägt eine Suite sprunghaft gereihter Tableaus mit viel Dialog und inneren Monologen, vor allem aber mit genau perspektivisch erschlossenen Szenen und oft geradezu filmisch durch Raumaufteilung (etwa in der Konfiguration von „vorn“ und „hinten“, „eng“ und „weit“, „niedrig“ und „hoch“, „leer“ und „voll“), oder durch Farbkontraste oder Hell-Dunkel-Effekte verdichteter Atmosphä- Alfred de Vigny: Cinq-Mars 45 <?page no="54"?> 46 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans re. Das kann hier, bis auf zwei raum-symbolische Beispiele, nicht eigens dargestellt werden. Die Differenz der Fiktion, Kunst und Literatur zur Historie bewegt sich bei de Vigny konsequent zu auf eine Negation der Geschichte als eigenen Sinnzusammenhang. So haben hier, noch viel stärker als bei Arnim, Charakter und Schicksale des Helden etwas Negatives. Es handelt sich um eine wenig profilierte historische Gestalt, einen Marquis, Stallmeister bei Ludwig XIII. und Kopf und Herz einer ebenfalls historischen Adelsverschwörung gegen Richelieu im Herbst 1642. Das Unternehmen freilich ist nicht nur zum Scheitern verurteilt, Richelieus Geheimdienst weiß alles, und der König ist höchst wankelmütig - beide freilich werden bald sterben; in einer Schlussszene (Kap. XXVI, 468 ff.) spielen sie Schach-Patt vor einem gespenstisch schweigenden Hofstaat, ein Beispiel für die genannte räumlich-atmosphärische Verdichtung -, auch der Held verkommt dabei selbst immer mehr: Er stellt seine persönliche Liebe und seinen Ehrgeiz über allgemeine Interessen, was gegenüber der allgemeinen Korruption noch Protestqualität hat, täuscht dann aber seine Mitverschworenen über die Situation und gibt bei unklarer Lage eigenmächtig Befehle; vor allem verrät er schließlich die Sache Frankreichs durch ein intendiertes Bündnis mit Spanien. Es bleibt nur der, allerdings stolz, ja fröhlich ertragene Tod. „Die Aporie zwischen individueller und öffentlicher Zeit […] wird in Cinq-Mars […] auf die Spitze getrieben.“ (Lampart 2001, 249) Vignys Roman ist noch kritischer gegenüber der politischen Historie eingestellt als der Manzonis: Er zeigt etwa den Machtmenschen Richelieu und sein Unterdrückungssystem auf eine Weise, die spätere totalitäre Systeme vorwegzunehmen scheint; sehr eindrucksvoll und mit eigenem Gewicht wird an einem Ketzerprozess religiöse Intoleranz in politischem Interesse desavouiert; eine postrevolutionäre, postnapoleonische und wiederum auch von der Restauration enttäuschte Perspektive (vgl. zum Kontext z. B. Köhler 1987) zeigt sich in der Darstellung des schwachen Königtums und des immer mehr entmachteten Adels. Dem Niedergang der „noblesse“ bis zur französischen Revolution galt Vignys übergreifendes Interesse (vgl. etwa unter Documents, 554 ff.). Die Ablösung des Feudalwesens bildet ja überhaupt ein Großthema des historischen Romans in seinen Anfängen: Man denke an die Clans bei Scott, die Burg Hohenstock bei Arnim, die Adelsgestalten und ihre „bravi“ bei Manzoni. Bei Vigny freilich wird darüber hinaus die Niedrigkeit und Gemeinheit aller Politik gezeigt: Hier herrscht stets Intrige oder Verrat oder Inkompetenz oder enger Egoismus oder alles zugleich. Je weiter man liest, um so mehr erweist sich Vignys historischer Roman als aus dem Geiste romantischen Nihilismus, des „ennui“, des Überdrusses an der Realität heraus geschrieben. Gegen Ende der Réflexions wird das lediglich Richtige („le vrai“) der Historie nicht nur gegen das ästhetisch und philosophisch Wahre („la vérité“) der Kunst abgesetzt, es erweist sich geradezu als <?page no="55"?> zweitrangig („secondaire“), eine „Illusion, auf die die Kunst verzichten kann“ („une illusion de plus […] il pourrait s’en passer“, 28). Historie ist in einem tieferen Verständnis sinnlos. Die Kunst muss die Realität ausgrenzen. Kunst, Literatur, Wissenschaften und Philosophie bilden in einer Schlüsselszene des Romans (Kap. XX, 340 ff.) eine Welt für sich und hinter verschlossenen Türen, eine Republik der Geister, in der Corneille Milton die Hand reicht und alle, wie in einem großen „lebenden Totengespräch“ miteinander konferieren: „Ils eurent de ces conversations qui font regarder comme perdu le temps qui les précéda et le temps qui doit les suivre“, „sie führten Gespräche, welche die Zeit davor und die, die folgen soll, wie verloren erscheinen lassen“ (350), dies freilich ausdrücklich als Fiktion und Phantasma. Es gilt, zugunsten der Idee und der Schönheit Zeit und Geschichte hinter sich zu lassen. Und so hat auch, bei allem Pathos mit dem am Romanschluss die „immortelle énergie“ und „raison supérieure“ des Französischen Volkes angerufen werden (seine „unsterbliche Energie“ und „überlegene Vernunft“), „un homme passe mais un peuple se renouvelle“, „ein einzelner Mensch vergeht, aber ein Volk erneuert sich“ (486/ 487), gegenüber diesem patriotischrhetorischen Vertrauen auf „les secrets de l’avenir“, „die Geheimnisse der Zukunft“ (ebd.), es hat doch die massive Desillusion buchstäblich das letzte Wort, die sich mit dem Namen „Cromwell“ verbindet. Die Machtmenschen wie Richelieu, Cromwell und Napoleon werden auch in Zukunft die Geschichte beherrschen. Für de Vigny ist das eine lähmende Perspektive. Die Distanz zu alledem, wenn Corneille und Milton sich auf fast postmoderne, meta-fiktionale Weise begegnen, lässt schon an den „Elfenbeinturm“ denken, als dessen erster Bewohner de Vigny seit seinem Roman Stello (1832) ja gilt. Cinq Mars ist ein Roman, der allen, die einem zu engen Begriff von den Traditionen des 19. Jahrhunderts anhängen, insbesondere Anglisten und Germanisten, empfohlen werden kann. Leider konnte er hier genauso wenig wie I promessi sposi seinem literarischen Rang entsprechend gewürdigt werden. Zwei Punkte seien abschließend angesprochen, weil sie den Kontrast zu Scotts Tully Veolan, Arnims Kronenburg Hohenstock oder Enzos Garten bei Manzoni zeigen können, zwei wie mir scheint „chronotopisch“ symbolwertige Raummodelle: Es ist ja, allgemein gesehen, hier im Gegensatz zum gewundenen Weg zu einem Ziel bei Scott oder der problematischen Heimkehr bei Blicher oder, zumindest was deren historische Relevanz betrifft, bei Manzoni, auch im Gegensatz zur über sich hinausreichenden raum-zeitlichen Perspektivik bei Arnim - und die Genauigkeit chronotopischer Verallgemeinerung „zu einem sinnvollen (besser: bedeutungsvollen, H. V. G.) konkreten Ganzen“ (Bachtin 1989, 8) ist bei de Vigny mindestens ebenso hoch -, es ist so, dass der Diskurs die Leser wie mit dem Finger auf der Karte zu Schauplätzen von historischer Relevanz führt, dass aber die Protagonisten sich eben dort in der Regel verfehlen. Und dann verbrauchen sich die Räume zu leeren Alfred de Vigny: Cinq-Mars 47 <?page no="56"?> 48 Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans Hülsen. So überdauern sie, während die Menschen durch Verfall oder Gewalt eleminiert werden. Diese Chronotopien entwerfen etwas, was über die Subjektivität des Helden und die Konstruktion der Romanhandlung (so Lampart 2001, 270 ff.) hinausgeht. An einem Knotenpunkt der Handlung findet sich ein interessantes Bauwerk, ein Turm, der nur aus einem doppelten Treppenhaus besteht (Modell stand das Schloss von Blois, das aber hier symbolisch überhöht wird): Un double escalier qui s’élève en deux spirales entrelacées jusqu’audessus des plus hauts clochers […]; deux hommes peuvent y monter au même temps sans se voir. […] On croirait que la pierre docile s’est ployée sous le doigt de l’architecte […], c’est un songe réalisée. / Eine Doppeltreppe, die in zwei ineinander verschlungenen Spiralen bis über die höchsten Türme hinaus reicht; zwei Leute können sie zugleich hinaufsteigen ohne einander zu sehen. Man könnte glauben, dass der Stein selbst sich willig vom Finger des Architekten kneten ließ, ein Traum, der Realität wurde. (314/ 315) Cinq Mars hat oben vom König die halbe Zustimmung zur Revolte erhalten („j’y songerai“ / „ich werde darüber nachdenken“, 325) und ist zum Losschlagen entschlossen; aber wie er herabsteigt, begibt sich der père Joseph, Richelieus „graue Eminenz“ hinauf, und der König wird ihm alles verraten. Man sieht, es handelt sich in der Tat um einen Knotenpunkt der Handlung. Aber dieses Bauwerk ist auch viel allgemeiner ein Raumsymbol für ein sinnloses Widerspiel von Gegenkräften mit einem bis zur Debilität schwachen Kopf, einer entmachteten Vernunft (eine alte Allegorie, z. B. in E. A. Poe The Fall of the House of Usher, 1840, durchaus vergleichbar genutzt) an der Spitze. Noch radikaler kann man darin ein abgründiges Modell für Geschichte als sinnloses Auf und Ab und Auf und Ab erkennen. Aber das Bauwerk ist zugleich von höchster architektonischer Kunst, die das Material völlig durchdrungen hat, ein Traum des Autors, die Realität meisternd und zugleich transzendierend, sinnlos und schön zugleich? An einem anderen Knotenpunkt der Handlung - der Vertrag mit Spanien wird auf einem Pass in den Pyrenäen von Richelieus Geheimdienst abgefangen, und der eine Agent erkennt in seinem eben getöteten Gegner seinen Sohn - wird eine Naturgewalt zu einem völlig desillusionierten Geschichtssymbol überhöht (Kap. XXIII, 391/ 392): Eine Lawine macht Ehre, Treue, Familie, politisches Kalkül usw. völlig bedeutungslos, als sei sie „von Gott gelenkt“ („que Dieu […] vînt à diriger“); sie wirkt wie ein sinnloser Geschehens-Block, der zusammenbricht (un „bloc énorme […] qui croulait“), und vor allem hinterlässt sie ein weißes, schweigendes Nichts: „On ne vit plus (que) la couche épaisse et blanche de la neige […] cette nappe éblouissante“ / „Man sah nur noch die dicke, weiße Schicht Schnee, ein glänzendes Tuch“ (392). Geht nicht hier das Angstbild sinnloser Gewalt in ein Sehnsuchtsbild über - motivisch vergleichbar der Schnee-Grenze in Adalbert Stifters Witiko (1865-1867, vgl. unten Kap. 4.5, vielleicht bereits sogar mit <?page no="57"?> dem Motiv des ewigen Eises in Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit, 1983, oder Christoph Ransmayr, Die Schrecken des Eises und der Finsternis, 1984, vergleichbar) -, ein verzweifeltes Sehnsuchtsbild, Geschichte möge überhaupt aufhören? Auf alle Fälle wird sich auch dieser Geschichtsnihilismus und sein ästhetisches Transzendieren der Historie als ein immer wieder virulentes Modell erweisen: Gustave Flauberts Salammbô (1863) sucht höchste stilistische Intensität und Harmonie einem sinnlosen, bestenfalls schmerzlichen Kreislauf der Geschichte abzugewinnen, in Josef Conrads Nostromo (1904) hebt sich die labyrinthische Geschichte selbst auf, auch Alfred Döblins Wallenstein (1918) hat viel von expressionistischer Geschichts-„Zertrümmerung“; Arno Schmidts historisch-literarische Skizzen wie Gadir, Enthymesis oder Alexander (1949, 1959) zielen neben anderem auf individuell kreative Geschichtsvernichtung und -transzendierung zugleich („wenn es der Menschheit nur bald gelänge, sich selbst zu vernichten“, Alexander, 117). Und sicher gilt dies etwa für Christoph Ransmayrs Die letzte Welt (1988), wo das Rom des Augustus nicht kritisiert, sondern „durchgestrichen“ wird und der Roman, in dem ohnehin der Anachronismus zum Prinzip erhoben wurde, mit einer völligen Metamorphose ins Unbelebte hinein endet. Alfred de Vigny: Cinq-Mars. Éd. par Anne Picherot. Paris: folio classique, 1980. Ders.: Œuvres complètes. Éd. par Fernand Baldenberger. 2 Bde. Paris: Édition Pleiade, 1948. Ders.: Cinq-Mars oder der Rebell des Königs. Dt. von Karin Meddekis. Bergisch-Gladbach 1997. Cambien: Vérité de l’art et rhétorique du vraisemblable. 2001-2002. • Gascar. Préface. 1980. • Graeber: „Kein Heil ohne Lokalkolorit“? 2000. • Köhler: Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur. 1987. • Saint-Gérand: L’intelligence et l’émotion. 1988. Alfred de Vigny: Cinq-Mars 49 <?page no="58"?> 3. Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts im 19. Jahrhundert. The Waverley Novels, Mérimée, Stendhal, Balzac, Alexis, Thackeray, Fontane Die plurale Entstehung der Gattung und ihre sowohl extensiv wie intensiv vielfältige Poetik geben einer zweigeteilten Typologie, z. B. in den „üblichen“ und den „anderen“ historischen Roman (so Verf. 1976), ebenso wenig recht wie einem einfachen Gegensatz von Tradition und Moderne (so etwa Müller 1988 oder Nünning 1995). So geht es auch bei den im Folgenden nachzuzeichnenden Hauptlinien der Scott-Wirkung und -Rezeption - bereits die Waverley-Novels selbst werden sich als ein variantenreiches „Feld“ von Entwürfen erweisen - (die „Diversity of Scott“ war geradezu das Motto der „Aberdeen Scott Conference“ von 1982, vgl. Alexander / Hewitt 1983) - um ein Mehr oder Weniger an Pluralität der Perspektiven und „Werte“ (etwa zwischen Balzac, Mérimée und Dumas), an Dialogismus von fiktionalem Entwurf und historischer Präzision (etwa bei Fontane gegenüber Alexis), an produktivem Zeitabstand (zum Beispiel bei Thackeray im Vergleich zu Scott selbst) oder an gezielter Verengung der Synekdoche (von The Heart of Midlothian über Stendhal, Fontane und Raabe bis zu Faulkner oder Pynchon). Die kritische Walter Scott-Tradition erweitert die Pluralität der Gattung, eben ihre schon früh, nicht zuletzt bei Scott selbst skizzierte, teilweise auch ausgeführte Poetik der Differenz. Daneben und ungleich erfolgreicher aber behauptet sich eine Ivanhoe-, Quentin Durward- und Talisman-Tradition (1819, 1823, 1825) in auffallender Stabilität und durch sehr verschiedene Niveaus hindurch (vgl. z. B. Gamerschlag 1978, X, 86, 122 ff.). Es gibt hier „gelehrte“ Romane mit gleichwohl „trivialer“ Fabelkomposition, beispielsweise ein Geflecht von Liebe und Intrige, von Bulwer-Lytton bis Colleen McCullough (zu genaueren Titeln vgl. unten Kap. 5); immer wieder prägt suggestives, oft „vaterländisches“ Engagement das Geschichtserzählen, wobei die Historie nicht nur überhöht, sondern auch massiv korrigiert werden kann, vom erklärten Württemberger Wilhelm Hauff bis zum nicht weniger erklärten Schotten Nigel Tranter; es gibt spannend-anspruchsvolle Unterhaltung, so dass etwa die historischen Detektivromane von Ellis Peters, John Maddox Roberts, Lindsey Davis oder Sharon Penman immer noch deutlich in der Tradition von Scott stehen; der historische Roman kann Fluchträume in die Vergangenheit eröffnen, an Abenteuern, Exotismus, Leidenschaft, Erfolgen teilnehmen lassen, die „man/ frau“ in der Gegenwart des 19. Jahrhunderts geradeso entbehrte wie heute: eine Tradition, die sicher schon vor Scott beginnt, von ihm verdichtet und <?page no="59"?> „veredelt“ wurde und etwa über Alexandre Dumas bis zu Ken Follett, Tanja Kinkel oder Christian Jacq reicht. Einerseits gibt es beim historischen Roman keine klare Grenze zwischen „Anspruch“ und „Unterhaltung“ (Genaueres unten Kap. 5.3): Es sind durchaus korrigierbare Entscheidungen über die jeweilige Konsequenz der Differenzierung, die hier beispielsweise die Romane von Mérimée oder Cooper zur kritischen und „alternativen“ Tradition gestellt haben. Wohin gehören heute Autoren wie Edward Rutherford oder Gisbert Haefs? Auf alle Fälle in die Walter Scott-Nachfolge: Man denke an die integren mittleren Helden, die sich in den Intrigen der Großen verfangen, aber auch in die Kontinuität und den Fortschritt ihres Landes eintreten in London (1997), oder an den zentralen Geschichts-Beobachter in Hannibal (1989). Andererseits aber gab und gibt es im historischen Roman eindeutig Triviales, z. B. platte Abenteuergeschichten in historischem Gewand, „süßen“ wie „sauren“ Kitsch, in dem Gefühle, Werte und Gedanken vor allem als eine Art Eigenwerbung für den Konsum eingesetzt werden, oder etwa sexistische, chauvinistische, rassistische oder sonstwie aggressive Ideologisierungen. Dafür kann man Walter Scott gewiss nicht verantwortlich machen, aber seine Erzählformen können so etwas zumindest nicht ausschließen: Ihre affirmative Stabilität macht sie beliebig, aber eben auch übel besetzbar. Verdächtig ist, was sich gleich bleibt. Das „klassische“ Ivanhoe- oder Lichtenstein-Modell, so reizvoll es ist, wir alle gehören ja zu seinen Lesern, man kann es nicht leugnen, hat eine Tendenz zum Trivialen; der literarisch und intellektuell interessante historische Roman ist nur in seinen Veränderungen zu begreifen. Dazu gehört dann allerdings auch, dass anspruchsvolle, künstlerisch authentische Autoren und Werke, die zur „Great Tradition“, zur „anerkannten“ Literatur gezählt werden (vgl. zum Folgenden Kap. 4), wie Dickens, C. F. Meyer, Flaubert, Stifter, der Fontane des Likedeeler-Fragments (entstanden 1882-1885), noch Döblin (Wallenstein, 1920), Heinrich Mann oder Feuchtwanger (vgl. unten Kap. 6.4) und viele weitere „Höhenkamm“-Autoren des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, sich immer wieder durchaus auch und durchaus deutlich spezifischer Elemente der populären, ja der trivialen Tradition bedienen: verlebendigte „große“ Protagonisten der Geschichte, vorbildliche Helden, „Parahistorien“ (von den phantastischen Szenen und Handlungssträngen bei Scott bis zur „Science Fiction“ im historischen Roman des 20. Jahrhunderts, vgl. gleich Kap. 3.1 sowie unten Kap. 7.1 u. v. a. Kap. 8), Kampfszenen, identifikatorische Werte-Diskurse, Über-Symbole, Gefühlsrhetorik, Fluchten der Imagination. Aber all dies bleibt hier nicht Selbst- oder Unterhaltungs- oder Verkaufszweck, sondern zielt auf Alternativen zu den erzählten Geschichten (was Scott und seine kritischen Schüler immer vermeiden). So entsteht gegenüber den pluralen Anfängen, den kritischen und den populären Differenzierungen der Scott-Modelle eine weitere alter- Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts 51 <?page no="60"?> 52 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts nativ plurale Tradition (vgl. unten Kap. 4). Ja, Tradition ist gerade hier eigentlich ein re- und prospektiv konstruierter Begriff, der ausdrücklich nachrangig verstanden werden sollte gegenüber jener ursprünglichen Diskontinuität, dass die Differenz von Fiktion und Historie, deren „Spirale“ (vgl. unten Kap. 5) immer produktiv werden kann, und dass, sobald dies im Erzählen geschieht, eigentlich jeder bedeutende Roman die Gattung neu erfindet. Auf alle Fälle wird mit der vergleichenden Perspektive das Gesamtbild historischer Romane im 19. Jahrhundert „bunter“. Bereits die mehrfache Entstehung der Gattung hatte viele, oft auch nur sprunghaft ausgearbeitete Traditionen eröffnet. Und gerade für die Walter-Scott-Rezeption gilt aus vergleichender Sicht erst recht: „Von Anfang an rückt eine Pluralität der Werke in den Blick, die in merkwürdigem Gegensatz zum historisch wie typologisch eher markanten ,Polaritätsprofil‘ des Begriffs steht.“ (Aust 1994, 69; gemeint ist die in der Tat überholte Polarität von „üblichem“ und „anderem“ historischem Roman.) Dann werden freilich auch die in der Anglistik beliebten Typisierungen (vgl. etwa Schabert 1981, 34 ff., Mengel 1986, Nünning 1995) oder die Phasenbildungen der Gattungsgeschichte im 19. Jahrhundert, eine germanistische Spezialität („bis zur Jahrhundertmitte [gäbe es] die Ära Walter Scotts und seiner Nachahmer“ und dies sei „ein in ganz Europa seriell kopierter Romantypus“, Potthast 2007, 28 u. 36, zur „Ganzheit der Geschichte“ vgl. auch unten Kap. 4), problematisch: Ein „dynamischer und zielgerichteter Handlungsverlauf“ (Limlei 1988, 25) als Kennzeichen des historischen Romans im 19. Jahrhundert verfehlt beispielsweise die bereits für Scott (v. a. in Waverley oder The Heart of Midlothian) so prägende „Revision“ (Kerr 1989, 16) mehrerer Handlungsoptionen; das Schema trifft allerdings auf Romane wie Ivanhoe oder Wilhelm Hauffs Lichtenstein (1828) zu, würde dagegen auf Prosper Mérimées Chronique (1829) angewandt, dessen quer zur Handlung argumentierende, zeit- und gesellschaftskritische Tendenz geradezu unterdrücken. Hier, um eine andere Einteilung zu nennen, genauso in Dickens’ A Tale of two Cities (1859) oder Victor Hugos Quatrevingt-Treize (1874), ist der von Sottong am Beispiel der deutschen Literatur durchaus überzeugend herausgearbeitete Paradigmenwechsel von „historischem Initiationsroman“ zum „historischen Zeitroman“(vgl. Sottong 1992, 262 f.) offenkundig aufgehoben. Diese Romane sind recht genau beides. Dagegen wäre etwa die „Dominanz des Individuums“ (ebd.) für de Vigny, Thackeray und Fontanes Schach von Wuthenow (1882) durchaus relevant; aber welche radikalen Unterschiede müssten nicht zu so einem Begriff sogleich hinzugenannt werden! „The age of nationalism […] when the European peoples came to consciousness of and rigorously asserted their historical continuity and identity“ (Fleishman 1971, 18) präge den historischen Roman des 19. Jahrhunderts? Die Nation ist bereits für Scott ein problematisches Projekt, erst recht für Arnim oder Manzoni, keinesfalls eine „vigorous assertion“. Blicher, später Mérimée halten ihr den Zerrspiegel vor. „Continuity and identity“ betont gewiss ein Alexis (der „bedeutendste Autor historischer Romane in der ersten Jahrhunderthälfte“, Limlei 1988, 97, ist er in vergleichender Perspektive allerdings nicht); aber schon de Vigny plädiert eher für „national discontinuity“, für Stendhal sind die dominierenden nationalen Kontinuitäten („das Geld über alles“) Anlass scharfer Kritik; Fontane wird die konsequente Neubesinnung, wenn nicht den Bruch mit Preußens Gloria (eine „Welt des Scheins“, vgl. unten Kap. 3.8), fordern; Flaubert sucht derlei schlechthin zu entfliehen. Und auf alle Fälle gehört zu diesem „nationalism“ auch die traumatische <?page no="61"?> Erinnerung (vgl. oben Kap. 2.1), sei es an die schottische Niederlage 1745 („a traumatic moment from the records of British history“, Kerr 1984), an die Bartholomäus-Nacht oder an die Schlacht von Jena und Auerstedt. Die Form der historischen Romane ist gegenüber allen dargestellten Ereignissen, Personen, Themen und Interessen, fiktiven wie historischen, ebenso auch gegenüber allen einzelnen Behauptungen, immer das weitergehende Argument. Das „Wie“ des Erinnerns, Erzählens und Denkens von Geschichte ist entscheidend. Das „Was“ ist dessen Funktion. Weder die pluralen Anfänge der Gattung, noch die bedeutenderen Beispiele aus der Literatur des 19. Jahrhunderts lassen sich auf bestimmte Weltbilder oder Geschichtsschemata festlegen; denn es sind eigentlich immer mehrere, einander widersprechende, sich ablösende, verzweigende, sich reflexiv aufhebende, auch durchaus einander negierende Perspektiven, in denen sich diese Romane mit Geschichte auseinandersetzen. Es geht um bewusst hybride Prozesse der Differenzierung. Und diese Fähigkeit zu Kritik, Widerspruch, Selbstkorrektur, die Fähigkeit zum Experiment agiert als logica untens des jeweiligen Geschichtsbewusstseins im historischen Roman auch schon des 19. Jahrhunderts. Um dies zu erfassen, gilt es, wie im vorhergehenden, so in den folgenden beiden Kapiteln, die Frageperspektiven möglichst offen zu halten. Auf ein lectio difficilior der Gattung kommt es an. Ob und wie sich dabei doch, bei aller Vorsicht und lediglich als „family resemblances“ (Humphrey 1993, 97), größere und kleinere übergreifende Zusammenhänge ergeben, gemeinsame Verlaufsformen und Argumentationsmuster, wiederkehrende Widerspruchskonstellationen und Veränderungskurven, und im Ganzen wohl ein, wenn auch kritisch distanziertes, bürgerliches, man kann auch sagen „realistisches“ Geschichtsbewusstsein (zur Diskussion des Begriffs vgl. unten Kap. 4): zwischen Trauma, Dynamik und aufgeklärtem Konsens, soll im Folgenden exemplarisch nachgezeichnet werden. Fleishman: The English Historical Novel. 1971. • Geppert: Ein Feld von Differenzierungen. 1999. • Maurer: Representing History. 2002. • Samuels: The Spectacular Past. 2004. 3.1 Walter Scott: Waverley Novels von Guy Mannering (1815) zu Redgauntlet (1824) Walter Scott hat sich selbst kritisch rezipiert. Und diese Fähigkeit zur Innovation seiner Erzählmodelle wird für seine Wirkung und Nachfolge ebenso prägend wie die Stabilität seines Ivanhoe-Erfolgs. Schon, um nur einen Punkt zu nennen, die für Waverley (1814) prägende Verbindung von perspektivierendem Entwicklungsroman, ja Bildungsroman und Geschichts- Walter Scott: Waverley Novels von Guy Mannering zu Redgauntlet 53 <?page no="62"?> 54 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts Synekdoche zieht sich kontinuierlich bis zu Uwe Johnsons Jahrestage (1970-1983) oder, und sehr deutlich bis etwa zu Uwe Timms ROT (2001, vgl. unten Kap. 7.3 u. 8.2.3). Und genauso relevant sind dann auch Scotts Innovationen gegenüber der Tradition in seinem eigenen Œuvre. Zwischen Guy Mannering (1815) auf der einen, Old Mortality (1816) auf der anderen Seite, liegt bereits ein Bruch, der sicher mit Scotts unmittelbaren, fortschrittskritischen, zumindest fortschritts-skeptischen Nachkriegserlebnissen zusammenhängt (er besichtigte z. B. das Schlachtfeld von Waterloo und die Lazarette mit Verwundeten und fühlte sich „genuinely appalled at the reality […] of modern warfare“, Sutherland 1995, 186). Auch der Unterschied dieser Romane zu Waverley ist heute zukunftsweisend. Die Auflösung und märchenhaft spielerische Variation von Geschichtsbezügen in Guy Mannering auf der einen Seite, ihre mediale Distanzierung in The Antiquary (1816) andererseits, fortgesetzt im „Grabsteinpfleger“ in Old Mortality oder der selbstironischen Spielfigur eines Historikers „Dr. Dryasdust“, entwerfen Modelle, die man beispielsweise in der spielerisch-ironischen Selbstreflexion des Erzählens in der französischen Scott-Rezeption wiederfinden kann, einer bewussten „experimentation with selfconscious writing“ (Tilby 2003, 213; vgl. unten Kap. 3.2 bis 3.4), die aber durchaus auch bis zum neueren historischen Roman bei so verschiedenen Autoren reichen kann, wie Edgar Hilsenrath (Geschichte in Märchenform in Das Märchen vom letzten Gedanken, 1989) oder Graham Swift (Waterland, 1983: Der Geschichtslehrer wäre der „Antiquary“ von heute; vgl. unten Kap. 8.1.4 u. 8.2.1). Und wird nicht in Adam Thorpes Ulverton (1992) die Ironie des Dokumentierens, die extreme Synekdoche der „kleinen“ Geschichtsteilnehmer, das Spiel mit der Selbstinszenierung des Autors und vieles andere wie selbstverständlich wiederbelebt? Auch wenn im Folgenden lediglich ein paar wichtige Stationen einer kritischen Walter Scott-Rezeption markiert werden sollen - „kritisch“ im wörtlichen Sinne von „unterscheidend“, eben „differenzierend“ zu verstehen -, auch dieses „Modell Walter Scott“, die „diversity“ und „complexity“ seines Œuvre (Brown 1979, 4), ist noch immer höchst lebendig: Der Erzählweg, der Waverley strukturiert hatte („these journey’s and sojourns are the way into Waverley’s plot structure“, Humphrey, 1993, 37), wird in der Folge der Waverley Novels „zentrifugal“ (Bachtin 1979, 165) variiert; er wird so gut wie märchenhaft modelliert in Guy Mannering (1815), nicht weniger spielerisch, sozusagen kontrapunktisch in nur redender Statik nahezu aufgelöst in The Antiquary (1816); er wird aber auch historisierend erweitert wie in Rob Roy (1817), intensiviert wie in The Heart of Midlothian (1816), kann mehr Höhen und Tiefen durchlaufen wie in Old Mortality (1816), immer wieder gibt es Ausflüge in abgelegene Teile der Historie (Scotts berühmte „historic digressions“, Wagenknecht 1991, 36), das Ganze kann aber auch, was das Profil der Probleme betrifft, flacher verlaufen, dafür aber mehr spannende Beschleunigungen einerseits, <?page no="63"?> fast schon kontrapunktisch komponierte mehrere Ebenen andererseits bieten wie etwa in Redgauntlet (1824). In Guy Mannering (1815), dem zweiten der Waverley Novels, vergleicht man ihn mit Waverley selbst, wird das dort prägende Schema von (verdeckter) gültiger Konstellation, Verwicklungen bzw. „Irrwegen“ und harmonischer Lösung geradezu spielerisch erweitert und im Grunde auch reflektiert. Der Leser weiß sehr schnell, dass ihm hier, was den großen „plot“ betrifft, eine Art Märchen erzählt wird. Es beginnt mit viel rätselhaften und schauerlichen Momenten, die sich in dem Horoskop verdichten. Dann werden nach einem Zeitsprung mehrere Handlungsstränge erzählt und Vorgeschichten nachgetragen (Kinderraub, Liebesverwicklungen, Betrugsmanöver zur „Erschleichung“ von Grundbesitz), und es endet mit der Rückkehr des entführten, lange verschollenen Erben, der Entlarvung und Verurteilung der Verschwörer, schließlich gar mit der Heirat zwischen der Tochter des Astrologen und dem „Subjekt“ des Horoskops. Nicht nur handelt es sich um einen Vergangenheitsroman, dessen Helden entschieden idealer sind als Edward Waverley, dafür aber auch mehr bürgerlich, was zur märchenhaften Wunscherfüllung passt; gerade die Distanz der Fiktion zur Historie in alledem wird weder synekdochisch (es gibt keinen historischen „Fokus“, vgl. unten Kap. 5.2) noch parabolisch überbrückt. Denn das Horoskop ist zwar handlungskonstitutiv, aber nahezu sinnleer. Nichts davon ist für ein Geschichtsbild, eine Geschichtsphilosophie des historischen Romans, so man sie ernst nimmt, noch bedeutsam. Selbst die Frage danach wird eigentlich gar nicht gestellt. Zugespitzt und mit aller Vorsicht gesagt, die Differenz von Fiktion und Historie gerät hypothetisch und vorübergehend zur Trennung: Was muss das für eine Geschichte sein, die nur als Märchen auszuhalten ist? Um so deutlicher treten dafür die Literarizitätssignale hervor. Der Romanheld als ein „Herr der Schicksale“ kann etwa als eine durchaus spielerische Selbstinszenierung der „Autorität“ eines Romanautors gelesen werden, aber dieser hält sich mit dieser „Macht“ nun auch gegenüber der Geschichte deutlich zurück. Und solcher weitgehende Verzicht auf historische Genauigkeit, ebenso auf geschichtsphilosophische Verallgemeinerung sowie das Moment spielerischer Subjektivität geben Freiräume her für eine zwar begrenzte, aber doch pointierte kritische Perspektive. Sie richtet sich auf Einzelnes und vor allem indirekt Aktuelles: Der Handlungsstrang, der um Betrug, Hypotheken-Akkumulation und legal manipulierte Eigentumsübernahme kreist, wäre in seiner Kritik bourgeoisen Verhaltens durchaus eines Balzac würdig. Und in der Szene, in der die „Zigeuner“, trotz alter Gewohnheitsrechte, aus ihren Häusern vertrieben werden, trägt Scott verdeckt vielleicht sogar eine Kritik am berüchtigten Agrarkapitalismus der Highland-Clearances nach, Walter Scott: Waverley Novels von Guy Mannering zu Redgauntlet 55 <?page no="64"?> 56 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts freilich eine lediglich emotionale; auf alle Fälle erzählt er eine Szene, die in ihrer Härte („to unroof the cottages, and pull down the wretched doors and windows“, Guy Mannering, 62) oder in ihrem Blick auf „the decrepit and the helpless, the aged and infant part of the exiled community“ (63) von Ferne schon an viel spätere Autoren, beispielsweise Thomas Hardy (Kap. 52 von Tess of the d’Urbervilles, 1891, oder Part six, Chapter one in Jude the Obscure, 1896) denken lässt. Wenn Guy Mannering den ganzheitlichen Sinn des Erzählens in Walter Scotts Romanen reflektiert und relativiert, dann geschieht dies in The Antiquary (1816) mit deren historisierender Detailfreude. Der spielerischen, metapoetischen Abstraktion dort entspricht die nicht weniger spielerische metahistorische Selbstreflexion hier („a meta-archeological novel that explores the epistemic relations of materials to historical story-telling“, Malley 2001, 237). Denn genauso wie der die Geschicke lenkende Astrologe ist auch der Polyhistor, der Erzähler nahezu unendlich vieler Geschichten (Shawn 2001 spricht zu Recht von „the novel’s pluralism of synchronous stories held in synchronous and ironic truthfulness“, ebd., 250), eine Selbstdarstellung seines Autors. Die Selbstironie dabei wirkt differenzierend: Große und kleine Geschichte, Mythos und Historie (man denke an die immer wieder erwähnten „one hundred and four kings of Scotland“, The Antiquary, 38 u. a.), Geschehen und Urteil stehen gegeneinander (bezieht sich die Inschrift „A.D.L.L.“ auf „Agricola Dicavit Libens Lubens“, also ein „castrum romanum“, oder auf „Aiken Drum’s Lang Ladle“, eine denkwürdige, feuchtfröhliche Festivität? Vgl. 29, 33 u. 376), Anekdote und historischer Überblick, Traum und Tagesrealität, Privates und Öffentliches und so fort, alle diese Gegensätze werden verknüpft, aber deutlich auch voneinander unterschieden. Erinnert der Antiquary Oldbuck nicht bereits an den nicht minder orts- und historienkundigen Magister Buchius, das Spiegelbild des „Geschichts- und Geschichtenerzählers“ in Raabes Das Odfeld (1888), oder an in der Vergangenheit lebende „Alte“ bei William Faulkner (z. B. in Go Down Moses, 1942 oder Requiem for a Nun, 1950)? Graham Swift (Waterland, 1983) wurde bereits genannt. Der Nelson-Antiquar, -Sammler und -Enthusiast in Barry Unsworths Losing Nelson (1999) käme für einen postmodernen Vergleich in Frage. Noch an den Beerdigungsredner - auch er ja ein „Vergangenheits-Pfleger“ - in Uwe Timms ROT (2002) ließe sich denken. Immer geht es um die Aufhebung von Historie in Reflexion, eine Aufhebung, die ihr eigenes Scheitern bereits mitreflektiert. Auf alle Fälle ist bereits The Antiquary auch ein differenzierender, den eigenen Diskurs und seine Sinn-Setzungen relativierender Kommentar zu Scotts Œuvre überhaupt. So statisch die Handlung dieses Romans selbst wirkt, so zentrifugal zeigt sich, aufmerksam gelesen, seine Poetik: Es gibt eine Fülle genauer historisierender Hinweise (auf den Feldzug in Flandern, den <?page no="65"?> zweiten Aufstand in der Vendée, eine franösisch-britische Seeschlacht usw.), die das Erzählte auf wenige Wochen zwischen dem 15. Juli und dem 2. August 1794 begrenzen (vgl. 357); aber nicht nur ist die eigentliche Handlung völlig privat - dazuhin eine fast provozierend clichéhafte „romance“: Liebe und Heirat zwischen dem lange verschollenen Erben eines Earl und einer verarmten Baronesse -, die für Scott sonst so wichtige Synekdoche von Fiktion und Historie wird, wie später in Redgauntlet (1824) gezielt vermieden. Denn die immer erwartete französische Invasion findet eben gerade nicht statt. Gleichwohl umreißen die bewegteren Vor- und Familiengeschichten der jetzt fast statischen Charaktere („the real human significance of the past for men living in the present“, Brown 1979, 48) einen Großteil der angloschottischen Geschichte des 18. Jahrhunderts, also den wesentlichen Zeitraum der Waverley-Novels - jedoch dies wieder nur, damit in einer Fülle inkohärenter Einzelhandlungen jede historische Kontinuität aufgelöst wird. Dasselbe gilt für die eigentümliche Verschränkung der für Scott sonst so wichtigen Sozialordnungen (vom Lord bis zum „offiziellen“ Bettelmann) oder für das sprunghaft wirre Rechtswesen. The Antiquary enthält die Ansätze mehrerer historischer Romane und ist selbst eigentlich gar keiner; genauer gesagt, er ist ein Grenzfall, eine metapoetische wie metahistorische Selbstrelativierung der von Scott selbst entwickelten Gattungspoetik, die nahe an das Spiel ihrer Auflösung führt. Auf andere Weise „zentrifugal“, voll von „instability“, „contradiction“ und „dissonance“ (Shaw 1983, 189-193), die differenzierende Gattung bestätigend, aber den für den einzelnen Roman vorgegebenen und schließlich erreichten Konsens sprengend - Scott „uses the facts of the past both to ratify and to undermine the force of his romance plots“ (Kerr 1989, 1) - verläuft der Erzählweg in Old Mortality (1816). Der Held ist kein „mittlerer“ Charakter mehr wie Edward Waverley, sondern einfach ein „hero“: mutig, selbstlos, tüchtig, einer mit Führungsqualitäten, zugleich treu und sensibel; er wird viel tiefer als Waverley in historische Auseinandersetzungen hineingezogen, und diese werden verbissener, härter geführt und drastischer geschildert als früher. Die Handlungskurve schlägt nach der persönlichen Seite wie in der historischen Konfliktkonstellation weiter aus. Der Held gerät gegen seinen Willen in die kompromisslos militante Sache einer Gruppe schottischer Presbyterianer gegen die englische Kirchenaufsicht unter Karl II. hinein, muss unter James II. fliehen, kehrt mit Wilhelm von Oranien zurück, kämpfend bis zuletzt, und heiratet seine, früher ständisch fast unerreichbare, inzwischen verarmte und schutzlose Jugendliebe. Old Mortality übt also deutlicher als Waverley oder andere Romane Scotts Kritik an einer ganzen Epoche. Konsens und Fortschritt am Ende erhalten dadurch etwas verdeckt, von der betonten „romance“ zugedecktes, Revoluti- Walter Scott: Waverley Novels von Guy Mannering zu Redgauntlet 57 <?page no="66"?> 58 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts onäres. Denn der religiöse Fundamentalismus der „Covenanter“ ist so inhuman wie die englische Version des „ancien régime“, der Partei und vor allem - eine frühe Skizze des „dekadenten Offiziers“ (vgl. unten zu Schach von Wuthenow, Kap. 3.8) - der Generäle Karls II. Die „Wertewelten“ der historischen Parteien depravieren sich im Streit mit ihren politischen Zwecken, ihre „ideologies are either destructive perversions of humanity, or mere blinds for unconscious appetites, or both at once“ (Shaw 1983, 202), entsprechend gewinnen dann die Stärken und Tugenden des Individuums „gegen alle“ an Gewicht. Man sieht, obwohl die Handlungszeit achtzig Jahre vor der in Waverley liegt, es wird viel bürgerlich-liberaler argumentiert als dort („liberal views […] shoe-horned into a seventeenth-century context“, Brown 1979, 75 u. 109); die dargestellten gesellschaftlichen Veränderungen sind trotz ihrer archaischeren Bedingungen im Grunde wesentlich drastischer als dort auserzählt und stehen der mobileren Gesellschaft des 19. Jahrhunderts deutlich näher: Lord und Lady werden klein, der „yeoman“ und „professional man“ steigen auf. Zugespitzt gesagt: Wenn die „romance“ hier ein harmonisches Ende einlöst, dann erst nach einer (latent revolutionären) Umkehr der Vorgaben der „history“. Dass Scott also sich selbst kritisch rezipierte, auf alle Fälle seine Erzählformen variierte und erweiterte, kann auch ein kurzer Blick auf Rob Roy (1817) zeigen. Die Handlung - eine politisch-finanzielle Intrige am Vorabend des Dynastie-Wechsels von 1714 und eine dadurch nötig gewordene „gefährliche Reise“ - ist hier so sprunghaft angelegt, dass ihr nur mehr wenig argumentativer Wert zukommt. Sie dient eigentlich nur noch als Rahmen für Einzelkonstellationen und Einzelcharaktere. Der „mittlere Held“ ist verblasst, eher ein Bourgeois als ein Gentleman, aber auch das Schottland, bis hin zum Clan- Wesen, mit dem er in Berührung kommt, wird diffuser, fast „verkommener“ gesehen als in Waverley - so dass jemand, der den „objektiven“ Verlauf „der“ Geschichte kennt wie Lukács, annehmen konnte, die Handlung spiele „einige Jahrzehnte später“ (Lukács 1963, 54) -, und entsprechend bleiben hier auch die Kontinuitäts- und Konsensperspektiven blass und beliebig. Die im wesentlichen paarweise einander entgegengesetzten Typen sind gleichwohl interessant: Dem verbürgerlichten Romantiker, einem verhinderten Poeten mit Vaterkonflikt, kann man beispielsweise später bei Balzac wiederbegegnen, wozu auch die sehr kritische Sicht einer Bourgeoisie der Kaufleute und Banker passt, die z. B. durchaus zum Betrug bereit ist; der „dark hero“ ist ein kalter, letztlich „kleiner“ Machtmensch geworden; aber die schon kolportagehafte Verschwörungsgeschichte, zwischen Spiel und Paranoia, in deren Mittelpunkt er steht, erinnert vorgreifend - auf Balzacs Les Chouans (1829) werden wir eingehen (vgl. unten Kap. 3.4) - an Erfolgsromane von Dumas oder Sue bis hin zur Gegenwart: etwa an die Historien-Thriller von Robert Harris (z.B. Fatherland, 1992 oder Enigma, 1995). Erst recht typisch wirkt der <?page no="67"?> Gegenspieler des Intriganten, der „parahistoric hero“ (vgl. unten Kap. 5.3.3.1), der legendäre „Rob Roy“ selbst: Er ist zunächst der „große Unbekannte“, dann der Überwinder von Grenzen, der Helfer, der plötzlich auftaucht (wie „the black knight“ oder Leatherstocking oder Winnetou), er stellt seine persönliche Ehre über Normen und Gesetze, aber bei alledem ist er nicht zu fassen und nicht zu besiegen (man denke an seine spektakuläre Flucht im Augenblick der Hinrichtung). Erinnert sei aber auch an die Schelmenfigur des eigensüchtigen, letztlich doch hilfreichen Dieners, an den Besserwisser und skurillen Typen aus Glasgow mit einem Herzen aus Gold, aber auch an die „starken Frauen“, deren Aufstieg hier wie in The Heart of Midlothian oder Redgauntlet ja ebenfalls etwas Zentrifugales hat. The Heart of Midlothian (1818) nun stellt in diesem sich differenzierenden Feld der Waverley Novels bereits so etwas wie eine gelungene poetische Emanzipation Scotts von Waverley dar (bezeichnenderweise von Lukács „gar nicht oder kaum zur Kenntnis genommen“, Gamerschlag 1978, 61). Die Elemente des historischen Romans werden neu verbunden. So hat hier die Kunst der (doppelten) Synekdoche dadurch etwas auf neue Weise Klassisches erreicht, dass eine verhängnisvolle, wie in Old Mortality latent revolutionäre Entladung ihrer Spannungen („pars contra totum“), fast schon transzendent („the duke ex machina“) vermieden wird. Der Logik seiner Konflikte nach müsste dieser Roman tragisch enden. Die Heldin („Jeanie Deans is central to her novel in a way Waverley never is to his“, Shaw 1983, 124), eine Bauerstochter, ist aus moralischem Rigorismus nicht bereit, ihre des Kindsmords angeklagte Schwester durch eine Falschaussage zu entlasten. Stattdessen - der Fall erregt vor dem Hintergrund rechtspolitischer englisch-schottischer Konflikte und Unruhen viel öffentliches Interesse - wandert sie durch viele Abenteuer hindurch von Edinburgh (dessen Zentralgefängnis so heißt wie der Roman) nach London und erreicht durch Vermittlung des mächtigen Herzogs von Argyle die Begnadigung ihrer Schwester und überhaupt eine glückliche Zukunft für ihre Familie. Einerseits wird hier die Synekdoche noch mehr verengt als in Waverley oder Old Mortality, dafür aber ist die sehr geschlossene, dramatisch zugespitzte private Handlung in ihrem punktuellen Auftreffen auf die Historie, die Scott bestens bekannte schottische Rechtsgeschichte, sehr genau motiviert. Und historisiert zeigt sich auch der hier viel konsequenter herausgearbeitete Wertekonflikt (die konzeptionelle Metonymie „pars pro parte“, lange Zeit aber „contra partem“; zur Differenzierung der Theorie Hayden Whites vgl. unten Kap. 5.3.1.2). Der den persönlichen Konflikt prägende moralische Rigorismus war, wie Old Mortality gezeigt hatte, und wie es in The Heart of Midlothian anhand der Vorgeschichte, der Parteinahmen und der Kämpfe des Vaters der Romanheldin nachgetragen wird, durchaus geschichtsmächtig gewesen Walter Scott: Waverley Novels von Guy Mannering zu Redgauntlet 59 <?page no="68"?> 60 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts (ein „energetic component in Scotland’s modern progress“, Sutherland 1995, 213; zum „historical aspect“ von „Jeanie’s moral principles“ nachdrücklich Brown 1979, 120/ 121, vgl. 116 ff.). Es scheint mir sehr konsequent, wie hier die für das „Modell Scott“ prägende Synekdoche „auseinandergezogen“, eben differenziert wird: in ihrer privaten „Ausgangshandlung“ verengt, von der „großen Geschichte“ distanziert, im historisierend-fiktionalisierenden Wechsel von Helen Walker zu Jeanie Deans auch selbstkritisch reflektiert, in ihrer historischen, dann aber nur noch metonymischen Relevanz aber gleichwohl präzisiert (vgl. etwa die genaue Nachzeichnung bei Shaw 1983, 214 ff.). Genau daran werden Stendhal, Thackeray, Fontane (die Pockennarben eines Mädchens und die preußische Niederlage von 1806, vgl. unten Kap. 3.8), sehr intensiv Faulkner, noch E. L. Doctorow in Ragtime (1974) oder Graham Swift in Waterland (1983) oder etwa Don DeLillo in Underworld (1998 - der Baseball und die Atombombe, vgl. unten Kap. 8.4) anknüpfen. Diese „zentrifugale Differenzierung“ erzählter Geschichte trifft natürlich auch auf das Personal von The Heart of Midlothian zu: „Kleine Leute“ stehen erstmals bei Scott eindeutig im Mittelpunkt der Romanhandlung und die Kontrastgestalten sind extremer angelegt als früher; der „mittlere Held“ dagegen, in Jeanies Verlobtem vielleicht noch blass erkennbar, als habe sich dieser Typus in seinen Variationen bereits erschöpft, ist bezeichnenderweise „krank“. Vergleichbares gilt für die Raumsymbolik (der Grenzüberschreitungen, des Gefängnisses, des Treffens am gefährlichen Ort usw.). Sie gewinnt bei aller Genauigkeit des Lokals eine ganz eigenwertige, die Einzelsituationen modellierende Ausdruckskraft, als seien die Akte der Grenzüberschreitungen wichtiger als ihr jeweiliger Sinn. Und das Modell der Reise, in Waverley ein aufklärerischer, die historische Entwicklung zum Konsens perspektivierender Zusammenhang, steht hier zunächst antithetisch zur Historie - „wie Jeanie Deans den verlorenen Sinn in die Geschichte zurückholen ging“ - und führt dann nur sprunghaft zu ihr zurück. (Ein hartes Urteil wie dieses: Der Romanschluss sei „false to tragic tone and historical context“ der Handlung, Lascelles 1980, 102, wird durch die narrativen Differenzierungen zumindest tendenziell aufgehoben.) Denn die freundliche Lösung der Konflikte, ihre „miraculousness“ (Shaw 1983, 236), ist im Grunde ein Verfehlen. Zwar wird die Frau aus dem Volke zur Heldin, aber sie ist weit davon entfernt, ein „Subjekt“ der Geschichte auch nur zu vertreten. Entscheidend bleiben Einsicht und Gnade der Regierung. Selbst die Brücke zwischen „kleiner“ Wertewelt (des religiös moralischen Rigorismus), die hier zugleich die der Vergangenheit ist, und der „großen“, neuen: einer aufgeklärten konstitutionellen Monarchie, funktionierenden Zentralregierung und Rechtssicherheit, dieser Dialog und mögliche Konsens wird nicht durch juristische, politische oder historische Argumente gestiftet, sondern durch Jeanies „domestic virtues“. Ihre Adrettheit <?page no="69"?> und Reinlichkeit, vor allem ihre Fertigkeit bei der Käsezubereitung überzeugen den Herzog, nicht die Rechtsnot, ja Rechtsaporie kleiner, in ihren Traditionen verhafteter Leute - so wie die mutige und selbstbewusste Jeanie, eigentlich ja eine Art „kleine Schwester“ von Helen Mac Gregor und Diana Vernon aus Rob Roy, als Zeichen königlichen Wohlwollens ein Nähzeug erhält. Das eröffnet abschließend einen interessanten Vergleich zu Manzoni: Dort sind die kleinen Leute auch tugendhaft, tapfer, nicht immer klug und werden Opfer der Mächtigen, wie es in Waverley beispielsweise Clansmen und Soldaten geworden waren. Aber auch Jeanie Deans und ihre Familie sind „Opfer“: Opfer der Güte. Doch während bei Manzoni die kleinen Leute die Kontinuität der Geschichte in Frage stellen, während der kleine Mann bei Blicher ihren Sinn sogar negiert (vgl. oben Kap. 2.4 u. 2.5), wird hier die Entscheidung vermieden. Aber ist nicht auch das ein Infragestellen? Der teils idyllische, teils melodramatische Schluss, ein aufgesetztes „happy ending“, „concealing the very conflicts the novel itself has documented“ (Kerr 1989, 84), und eine forcierte („we feel a loss of reality“, Brown 1979, 128), märchenhafte „Katharsis“, verdecken sie nicht ein vorher sehr präzise angesprochenes Verständnis- und Handlungsdefizit, „a process […] deeply destructive“ (Shaw 1983, 248), eine Leerstelle an „Sinn“ in der Geschichte? So gesehen wirkt dann Redgauntlet (1824) bereits wie eine selbstironische, die Bedeutung der Synekdoche so gut wie tilgende Nachbearbeitung von Waverley. (Nach Massie 1994 war Redgauntlet Scott’s „own favourite“ seiner Romane, 151, vgl. 12.) Der Held ist nun wirklich passiv, die Intrige um ihn bildet historisch kaum noch ein Randereignis, der Konsens am Ende steht für gar nichts mehr. Und das ist gerade insofern so bemerkenswert, als die fiktive Handlungsform im Umriss identisch ist mit der Stuart-Intrige in Waverley. Ein Mitglied einer angesehenen Adelsfamilie wird, diesmal allerdings durch seinen Onkel, entführt, damit beim geplanten Aufstand um 1766 ein weiterer Parteigänger als „Zeichen“ für den Erfolg präsentiert werden kann. Aber die Sache der Rebellen ist so aussichtslos, dass sie nicht einmal die frühere Tragik (von Fergus MacIvor oder Evan Dhu) erlaubt. Der seinerzeitige „Bonnie Prince Charlie“ nähert sich jetzt, kahlköpfig, dick, gehbehindert, wegen einer Maitresse alles aufs Spiel setzend usw., bereits dem Bild eines Stuart-Prinzen, wie es Thackeray in Henry Esmond (1852) zeichnen wird. Und die Regierung ist so klug, diese „Rebellen“ kampflos abziehen zu lassen, also sie offiziell, samt dem „Pretender“, gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Historisch gesehen ist am Ende alles wie nicht gewesen. Die getilgte historische Referenz - was nicht in den Akten ist, das ist nicht in der Welt - wirkt bereits wie mit Thackerays „secret ink“ (Henry Esmond, 494) geschrieben. „The historical event that never happened is cunningly constructed“ (Lascelles 1980, 119). So verzweifelt die Rebellen versuchen, mindestens ein „pars Walter Scott: Waverley Novels von Guy Mannering zu Redgauntlet 61 <?page no="70"?> 62 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts pro toto“-Zeichen herbeizuzwingen: den Erben als Vorzeige-Jakobiter, den bei den Krönungsfeierlichkeiten hingeworfenen Fehdehandschuh, so konsequent wird die fiktiv-historische Handlung im Ganzen zur Metonymie einer Erinnerung. Das zweite Scheitern steht „pars pro parte“ als Epilog für das erste, das seinerseits noch („pars pro toto“) für eine Art Zeitenwende gestanden hatte. Und eine solche metonymische Bedeutsamkeit bleibt hier lebendig; zwar ist sie punktuell begrenzt, spricht jedoch mit großer Genauigkeit. Erinnert sei an die bei der Entführung erwähnten „lettres de cachet“ (Redgauntlet, 371), willkürliche Verhaftungen, die im vorrevolutionären Frankreich von 1766 durchaus noch eine feudal-absolutistische Realität darstellten, erinnert sei an die archaischen, aber gerade in ihrer Skepsis („the privilege of free action belongs to no mortal“, 235) noch immer authentischen Überzeugungen des „dark hero“, denen der Kontrast einer sehr klaren Kritik an schottischer Nostalgie gegenübersteht („the race has sunk, or is fast sinking, from ruffling bullies into tame cheaters“, 31); zu nennen ist das offene Eintreten für bürgerlichen Fortschritt (nach Gamerschlag 1978, 119 f. ist der „ökonomische Wandlungsprozeß“ das zentrale historische Thema), z. B. beim Ausbau Edinburghs oder in der Bewunderung für das breit dargestellte landwirtschaftliche Mustergut; und bemerkenswert ist schließlich auch die Abspaltung (nach Sutherland 1995, 270 eine „extraordinary introspection“) eines zweiten „mittleren“ Helden, eines jungen Anwalts, der stoische „constantia“, Freundschaft und unbeirrte Rechtlichkeit verkörpert und sicher ein veredeltes autobiographisches Porträt Scotts von sich selbst ist, aber eben ein Porträt, das im Gegensatz zu früheren „mittleren Helden“ keinerlei historisch-synekdochische Relevanz mehr beansprucht („the autobiographical detail is irrelevant to the novel“, Brown 1979, 152). Interessant ist schließlich die „zentrifugale“ Erzählstruktur dieses Romans. Das betrifft zum einen die kunstvoll spielerische Handlungsführung („Redgauntlet is Scott’s most elaborate defense of the play of historical imagination“, Shaw 1983, 208): zum Beispiel das Gegeneinander von „green mantle“ und „red gauntlet“ oder die Szene, in der dem Helden seine und Scotts Freude an Volksliedern in einer komischen Cœur de Lion-Blondel-Inszenierung zu Hilfe kommt. Zum anderen aber ist der hohe Grad an erzählerischer Selbstreflexion hervorzuheben: der Wechsel der Erzählformen vom Briefroman zu berichtender wie szenischer Erzähldarstellung, zu einem einmontierten „Journal“, dann, im letzten Viertel, zu einem zweisträngigen neuerlichen „narrative“, also Erzählbericht, und abschließend zur „Conclusion by Dr. Dryasdust in a Letter to the Author of Waverley“, einem Brief Scotts an sich selbst in seinen nun offen widersprüchlichen Rollen. Mir scheint, dieser rhythmisch kalkulierte Übergang von fingierter Redaktion zu offener Fiktion ist mehr als nur ein Spiel. Scott „makes the fact of the novels’s fictionality its defining feature […] an elaborate study of his own methods as historian and <?page no="71"?> romancer“ (Kerr 1989, 102). Der „Wirklichkeitsbegriff des offenen Kontexts“ in den Waverley-Novels, ihr „formales Thema (einer) Darstellung der multiplen Offenheit des Undsoweiter der Geschichte“ (Schabert 1981, 93) ist gerade hier mitzulesen. In seiner Erzählform wird Redgauntlet zum Experiment. Es handelt sich dann nicht mehr nur um einen skeptisch-distanzierten, darin durchaus auch gekonnt unterhaltenden, teilweise spielerisch komischen Roman. Dass die Geschichte ihrem Erzähler so über den Kopf wächst, dass sie nur noch in offener Fiktion bewältigt werden kann, eröffnet metapoetische und metahistorische Möglichkeiten, die hier lediglich (noch) nicht genutzt werden. Erzählbrüche, Montagen, wechselnde Perspektiven, mehrere Erzähler, das sind alles recht moderne narrative Verfahren: Hätte Scott sich hier auf ein „wesentliches“ historisches Interesse eingelassen, es hätte ein bemerkenswert kühner historischer Roman entstehen können (vgl. etwa Rollyson 1984, 66 ff. zu Redgauntlet, „Scott’s least conventional historical novel“, und William Faulkners Absalom, Absalom! , 1936; sowie unten Kap. 6.2). Sir Walter Scott: Guy Mannering or the Astrologer. Ed. by James Campbell. London 1987. Ders.: The Antiquary. Ed. by David Hewitt. Harmondsworth 1998. Ders.: Old Mortality. Ed. by Jane Stevenson and Peter Davidson. Oxford / New York 1993. Ders.: Rob Roy. Ed. by W. M. Parker. London 1986. Ders.: The Heart of Midlothian. Ed. by W. M. Parker. London 1971. Ders.: Redgauntlet. Ed. by W. M. Parker. London 1970. Ders.: The Waverley Novels. Standard Edition. 25 Volumes. London 1889-1898. Alexander / Hewitt: Scott and his influence. 1983. • Brown: Walter Scott and the historical imagination. 1979. • Burwick: Competing Histories in the Waverley Novels. 2002. • Gamerschlag: Sir Walter Scott und die Waverley-Novels. 1978. • Geppert: Ein Feld von Differenzierungen. 1999. • Jones: Literary memory. 2003. • Kerr: Fiction against History. 1989. • Lascelles: The story-teller retrieves the past. 1980. • Malley: Walter Scott’s Romantic Archaeology. 2001. • Massie: The Ragged Lion. 1995. • Rigney: Imperfect histories. 2001. • Shaw: Critical Essays on Sir Walter Scott. 1996. • Sutherland: The Life of Walter Scott. 1995. 3.2 Prosper Mérimée: Chronique du règne de Charles IX (1829) Die französische Walter Scott-Nachfolge, hier z. B. bei Mérimée, Stendhal und Balzac, ist schon sehr früh eine spielerische, experimentelle und von hoher literarischer Selbstreflexion geprägt - was freilich schon, zumindest tendenziell, für Scotts eigene, kritische Selbstrezeption galt. Wie eng Vertrautheit, ja Bewunderung, Kritik und differenzierende Innovation im Umgang mit Scott bei französischen Autoren sofort zusammengehen, kann einführend vielleicht die folgende kuriose Szene illustrieren: Als nach seinem Ausflug zur Schlacht von Waterloo Fabrice, der Held von Stendhals La chartreuse de Parme (1839), ein österreichisch-frommes Gebaren („autrichien et dévot“, 113) an den Tag legen muss, da wird ihm unter anderem empfohlen: Prosper Mérimée: Chronique du règne de Charles IX 63 <?page no="72"?> 64 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts En général (il devait) montrer du dégoût pour la lecture, ne jamais lire, surtout aucun ouvrage imprimé après 1720, exception tout au plus pour les romans de Walter Scott. / Ganz allgemein sollte er Widerwillen gegen das Lesen bekunden, nie etwas lesen, vor allem kein Buch, das nach 1720 gedruckt wurde, mit Ausnahme allenfalls der Romane von Walter Scott. (La chartreuse, 118/ 119) Für die Handlung des Romans, die jetzt etwa im Herbst 1815 spielen muss - bestenfalls zwei von Scotts historischen Romanen können bis dahin erschienen sein - ein bizarrer Rat! Die anachronistische Ironie bezeugt zum einen die Popularität Scotts in Frankreich. Balzac lässt im selben Jahr in Un grand homme de province à Paris (1839), dem zweiten Band der Illusions perdues-Trilogie (1837-1843), seinen Helden einen historischen Roman „dans le genre de Walter Scott“ schreiben - und einen Verleger ihm einen Vertrag auf sechs Jahre für zwei Romane jährlich anbieten (Balzac 1977, 5.304 u. 306). Spricht aus dieser Ironie auch Neid auf den Erfolg? Auf alle Fälle halten beide Autoren Distanz gegenüber dem Kompromisscharakter und, aus ihrer Sicht, gegenüber der intellektuellen Folgenlosigkeit der Scottschen Romane. Gleichwohl hat der historische Roman im Frankreich des 19. Jahrhunderts wie überall in Europa zweifellos viel von Scott gelernt: Der Geschichte ,erlebende‘ Held, die Historien-Synekdoche, der genaue Perspektivismus, das Vehikel der Liebesgeschichte, das abenteuerliche „emplotment“, auch der Konflikt zwischen „romance“ und „history“, Lokalisierungen und ihr vergangenes Kolorit, schließlich und vor allem das Wege-Modell sind immer wieder prägend. Aber die historischen Romane von de Vigny, Mérimée, Balzac, Stendhal, auch von Dumas und erst recht Flaubert und noch die von Victor Hugo sind durchweg kontroverser angelegt (von einer „Dekonstruktion […] der Bauform des Scott-Romans“, Engler 1998, 134, sollte man freilich noch nicht reden, zumal es die singulare Form Scotts, man muss es immer wieder sagen, nicht gibt), die Handlungen münden in offene Konflikte: Für die harmonische Geschichts-„Revision“ Scotts, die dieser freilich oft selbst narrativ zugleich in Frage stellte (vgl. oben Kap. 3.1), ist da kein Verständnis mehr; umgekehrt hätte das offen kontroverse Ur-Symbol des Bürgerkriegs, dass der Bruder den Bruder erschlägt, mit dem Mérimées Chronique du règne de Charles IX (1829) endet, wohl kein Modell für Walter Scott abgeben können. Formal benachbart dieser Kultur des Widerspruchs ist die größere Nähe des französischen historischen Romans zum Drama, zu Szene und Dialog. Mérimées Chronique beispielsweise könnte man sich heute sehr gut als Film vorstellen. Und von Anfang an hat die Scott-Rezeption in Frankreich, darin freilich eine klare Tendenz bei Scott selbst fortsetzend, man denke an die Metapoetik oder die Kunst der Zitate, etwas Spielerisches. Die Literarizität der fiktionalen Geschichtsdarstellung (etwa in de Vignys Formel von der „verité <?page no="73"?> de l’art“ / „der Warheit der Kunst“, Cinq Mars, 22, vgl. oben Kap. 2.6) steht immer außer Frage. Eine spielerisch selbstironische und in der Ironie selbstbewusste Metapoetik findet sich beispielsweise bei Mérimée: „Je voudrais bien avoir le talent d’écrire une Histoire de France, je ne ferais pas de contes“ / „Ich hätte gern das Talent eine Geschichte Frankreichs zu schreiben; dann würde ich keine Geschichten erfinden (wörtlich: machen).“ (85). Dieser Satz aus dem Dialog zwischen Leser und Autor (Kap. VIII) macht im Grunde die Chronique zu einem „ironic title“ (Tilby 2003, 13) und scheint explizit die sorgfältigen Studien kleinreden zu wollen, auf die Mérimée im Préface (11 ff.) hingewiesen und aus denen er ja sogleich entschieden historische Argumente gezogen hatte. So endet dieser Dialog ja auch damit, dass der „Leser“ eine Enttäuschung bezüglich „lebendiger Historie“ erwartet und der „Autor“ diese „Befürchtung“ („je le crains“, 88) teilt. Aber dieser offene Selbstwiderspruch geht noch tiefer. Er „verlangt“ nicht nur „Aufmerksamkeitsleistung für die im Text ausgewiesene Fiktionalität“ (Engler 1998, 136), das sicher, sondern bekräftigt die eigentümliche Wahrheit der Dichtung. Im Vorwort hatte Mérimée seine „Überzeugung“ kundgetan („je suis fermement convaincu“, 15), dass das Massaker der „Bartholomäus-Nacht“ ein ungeplanter Volksaufruhr gewesen sei. Im Roman dagegen wird von Kapitel XVII (148 ff.) an in vielen Szenen genau das Gegenteil nachgewiesen: Alles war von oben gelenkt, genau geplant, von vielen vorbereitet. Allgemein gesprochen: Mérimée nutzt die produktive, literarisch produktive Differenz von Fiktion und Historie (vgl. unten Kap. 5.1 u. 5.2), das Hybride des historischen Romans so konsequent wie Manzoni, er wendet die Geschichtsnegation de Vignys sowohl ins Harmlosere und Ironische als auch ins moralisch Prinzipielle, und er nimmt auch wichtige narrative Differenzierungen Walter Scotts auf. (Weder erzählte Scott einfach „lückenlos und kohärent“, in „referentieller Kohärenz [und] prästabilisierter Romangrammatik“, noch wird er von Mérimée „dementiert“, Engler 1998, 138, der freilich nur Ivanhoe zitiert; es ist vielmehr so, dass Mérimées „explorations of the way the novel form generally might be renewed […] demand to be related to an often unacknowledged dimension of Scott’s writing“, Tilby 2003, 210.) Der mittlere, Geschichte erlebende und vermittelnde Held beispielsweise, der zwischen gegnerischen Parteien steht und zu eigenem, vernünftigem Urteil reift, dieser typische Handlungsträger Walter Scotts, etwa in Waverley (1814) oder, und hier noch näher liegend, in Old Mortality (1816), wird von Mérimée in fast schulmäßiger Fortführung einer Poetik der Differenzierung (vgl. unten Kap. 5.3), und auch das hatte, freilich spielerisch-transhistorisch bereits Redgauntlet (1826) erprobt (vgl. oben Kap. 3.1), in zwei Helden aufgespalten: Prosper Mérimée: Chronique du règne de Charles IX 65 <?page no="74"?> 66 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts Der unverdorben mutige, aber auch ein bisschen dumme Bernard de Mergy - er ist leicht zu betrügen und weigert sich geradezu, selbstständig zu denken -, dieser junge hugenottische Adlige kommt wenige Wochen vor der Bartholomäusnacht (24. August 1572) nach Paris, wird in das Leben bei Hof eingeführt, verliebt sich, überlebt mit viel Glück ein Duell und, von seiner katholischen Geliebten versteckt, auch das Massaker selbst. Sein älterer Bruder George war schon früher, notgedrungen aber auch rational über konfessionelle Fragen hinaus, pro forma zum Katholizismus konvertiert; er ist Hauptmann in der königlichen Armee, lehnt es aber ab, einer Anregung Ludwigs IX. selbst zu folgen und auf den Admiral Coligny, den Anführer der Protestanten, zu schießen. Am Abend des 24. August verweigert er den Angriffsbefehl, legt seinen militärischen Status nieder, kann aber wenig verhindern. Nur ein Kind vermag er zu retten. Die Brüder treffen, in gegnerischen Lagern stehend, im Frühjahr 1573 (vgl. 584) bei der Belagerung von La Rochelle wieder zusammen. Bernard gibt einen Feuerbefehl, dem George zum Opfer fällt. George lehnt den Beistand beider Konfessionen ab und stirbt in vollkommener Seelenruhe. Was historisch dann folgte, kann man „in jeder Geschichte Frankreichs nachsehen“ (231) und wie es mit Bernard weitergeht, „mag der Leser sich nach eigenem Gutdünken zu Ende erzählen“ (ebd.). Man sieht, wie die historisierend-suspendierende Formel Walter Scotts: „The rest is well known“ (Waverley, 339) hier nahezu zitiert, dessen harmonischer „romance“-Schluss aber ausdrücklich für beliebig erklärt wird. Auch wenn Mérimée Geschichte mit leichter Hand verlebendigt - es gibt komödiantische Szenen, wie die des ,maskierten Rendezvous‘, oder wenn zwei als Mönche verkleidete hugenottische Haudegen eine Überzahl ihrer Verfolger aufreiben -, der historische Fokus ist entschieden bezeichnet, private und historische Handlung sind so konsequent entflochten, die „Divergenz von historischer Erzählung und Fiktionserzählung“ (Ricœur 1991, 3.295) wird so klar, dass diese nur in signifikanten Synekdochen („partes pro toto“, zur Metahistory nach Hayden White vgl. unten Kap. 5.3.1.2) zusammenhängen, und der Wertediskurs (man könnte mit Roland Barthes von einem „diakritischen Parameter“ sprechen, Barthes 1976, 65) bleibt genauso ausdrücklich kontrovers. Die ersten Ausgaben des Romans (vgl. 7/ 8) hatten als Titel noch die Jahreszahl Quinze-cent-soixante-douze / Fünfzehnhundertzweiundsiebzig getragen, dann erst Chronique usw. Das nationale Trauma, das sich mit diesem Jahr und der Herrschaft Karls IX. verbindet, wurde so noch direkter angesprochen als das implizierte („sixty years since“) des schottischen Traumas von 1745, wo es ja auch, man denke an Culloden, inner-schottisch ,brüderliche‘ Massaker gab. Und ein Kapitel (Kap. XXII) trägt die Überschrift „Le vingtquatre aout“ / „Der vierundzwanzigste August“. Mérimée erzählt Historisches expliziter als Walter Scott; privat Fiktives und allgemeine Geschichte sind enger verflochten. Aber die einzelnen ,Fäden‘, wenn ich so sagen darf, sind je für sich genau zu verfolgen. Die Hinführung beispielsweise zum historischen Fokus, eben der Bartholomäusnacht, ,staut‘ gewissermaßen die Handlung <?page no="75"?> immer wieder zurück. Sie beginnt mit der Vorbereitung eines Nicht-Ereignisses: George lehnt nicht nur den Mord-Vorschlag ab, sondern sucht den Admiral auch noch zu warnen, erfolglos, wie die Historie weiß. Dann folgt lapidar in wenigen Zeilen („on sait“ / „man weiß“, 154) die historische Richtigstellung. Und von da an werden wiederholt genaue Daten genannt: Der 18. August (Tag der sogenannten „Bluthochzeit“ zwischen Henri de Navarre und Marguerite Valois), „Freitag, der 22. August“ (Attentat auf Coligny), schließlich der „Abend des 24. August“ (vgl. 158-163). Aber all dies bleibt wie „Preston“ und „Culloden“ bei Scott ein historisches Gerüst im Hintergrund. Denn dazwischen, und viel breiter auserzählt, versucht die schöne Herzogin ihren geliebten Bernard zu bekehren: zuerst mit ganz naiven Argumenten, dann mit wachsender Angst vor dem sich vorbereitenden „massacre“. Dessen Vorbereitungen wiederum sind allerdings vielsträngig im Gange: Waffen werden transportiert, Häuser markiert, Kleriker stoßen Drohungen aus, ein Freund will Bernard verdeckt warnen. Aber dieser sieht am verhängnisvollen Abend vor sich nur „une nuit faite pour l’amour“ / „eine Nacht für die Liebe geschaffen“ (176). Von den gewalterfüllten Ereignissen nimmt er - und er ist hier der privilegierte Geschichtsvermittler - lediglich Lärm und Feuerschein und Herumrennen wahr bzw. erfährt von allem durch Berichte: wie Waverley beim Ausbruch der Revolution oder Fabrice in Waterloo, oder Fontanes Schach von Wuthenow gegenüber dem drohenden preußisch-französischen Krieg von 1806, oder die Sutpen-Familie („wie Fische in einem berstenden Stausee“) beim ausbrechenden Bürgerkrieg oder Heinrich Cresspahl im März der „Machtergreifung“ 1933 (vgl. oben Kap. 2.2, unten Kap. 3.3, 3.8, 6.2 u. 7.3). Auch sein Bruder bekommt nicht viel mehr als ein paar Einzelheiten mit, allerdings doch so viele, dass seine Aktionen, die Verweigerung des Gehorsams und die Rettung des „blutüberströmten, aber wie durch ein Wunder unverletzten“ (vgl. 188) Kindes, signifikant werden. Dazwischen fasst der Erzähler knapp und auf Quellenzitate gestützt (vgl. 186 und 577 f.) die historischen Ereignisse immer wieder zusammen. Aber seine Stimme und Perspektive sind deutlich abgesetzt von den Szenen und Eindrücken, die die Personen erfahren. Fiktion und Historie sind in ihren Verflechtungen so genau und differenziert bezeichnet, dass ein kritisch-skeptisches Urteil - eben ein „diakritischer Parameter“ (Roland Barthes) - sich in beide Richtungen bewegen kann, durchaus bis zur tendenziellen „dislocation de l’Histoire (et) des discours (Histoire et histoires) chargés de leur faire faire sens“ (Bernard 1990, 109). Einerseits macht der Roman immer wieder klar, dass Fanatismus, Übervorteilung oder politische Korruption ,heute‘ nur andere Formen angenommen haben als ,damals‘ („la représentation du passé est prise dans un présent contingent“, Bernard 1990, 99; „an authentic sense both of the present and of the uncertain nature of even the immediate future“, Tilby 2003, 217): Die Prosper Mérimée: Chronique du règne de Charles IX 67 <?page no="76"?> 68 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts Wahlmanipulation des Ministers De Villèle von 1827 ist nicht weniger verwerflich als ein politischer Mord im 16. Jahrhundert (vgl. 13 und 548), Bruderkriege mit tödlichem Ausgang wird es noch viele geben (vgl. 230), wann hat diese Nation, „ce peuple avide de sang et de miracles“, aufgehört „nach Blut und nach Wundern zu gieren“ (190)? All dies wird durch den Kontext der Differenzierungen betont vereinzelt und, bei aller Deutlichkeit, mit skeptischen Vorzeichen versehen, die Raum für Kritik lassen. Andererseits ist es ebenso bezeichnend, dass der vorbildliche Charakter hier nur der zweite Protagonist ist; „notre héros“ / „unser Held“ (130) ist immer nur Bernard; George dagegen bewirkt ausdrücklich nichts; das gerettete Kind ist ein reines Symbol, so wie später und gewichtiger bei Victor Hugo (vgl. unten Kap. 4.3); George fällt auf tragisch-zufällige Weise dem Bürgerkrieg zum Opfer (vgl. 230 ff.) und er tritt auch betont unzeitgemäß auf: Wenn er eine „italienische Kurtisane“ in einem Madonnenporträt verehrt (65) oder als Gebetbuch eine Rabelais-Ausgabe hat einbinden lassen (66), dann scheint er bewusst in mehreren Welten, ganz wörtlich in verschiedenen Kontexten, zu leben. Zuletzt stilisiert er sich zum radikalen Außenseiter: „laissez-moi mourir comme un chien“ / „lasst mich sterben wie einen Hund“ (228)! Sein Atheismus, seine Toleranz und Humanität, seine autonome Ethik, vor allem seine „raison“ / „Vernunft“ (62) sind nicht nur im 16. Jahrhundert unzeitgemäß, sie sind, das sagt der Roman deutlich, auch ,heute‘ noch nicht eingelöst. Die Widersprüche der Geschichte, das macht gerade ihre spielerisch-theatralische Zuspitzung klar, sind noch lange lebendig. Dasselbe gilt für ihre traumatischen Kapitel. Mérimée will beides zusammen sehen. Prosper Mérimée: Romans et Nouvelles. Vol. 1. Èd. par Maurice Parturier. Paris: Garnier, 1967. Bernard: Roman historique. 1990. • Engler: Die Bartholomäusnacht im französischen Roman 1829 - 1845 - 1980. 1998. • Tilby: Past or Present? 2003. 3.3 Stendhal: La chartreuse de Parme / Die Karthause von Parma (1839) Die ersten Kapitel von Stendhals (Henri Beyle, 1783-1842) Roman La chartreuse de Parme / Die Kartause von Parma (1839), allerdings nur diese ersten Kapitel, haben durchaus etwas von einem historischen Roman: „Le 15 mai 1796, le général Bonaparte fit son entrée dans Milan“ / „Am 15. Mai 1796 zog General Bonaparte in Mailand ein“ (39), lautet ihr erster Satz. Ginge es weiter: „Er war überglücklich“, man hätte einen Romanfang wie bei Döblin („Nachdem die Böhmen besiegt waren, war niemand darüber so froh wie der Kaiser.“, Wallenstein, 9). Doch Stendhal interessiert sich nicht für Napoleon, noch radikal weniger als Scott für „Bonnie Prince Charlie“ (von Waverley, <?page no="77"?> 1814, zu Redgauntlet, 1824, eine schwindende Figur). Gleichwohl entspricht die Romanhandlung recht genau dem Schema des Waverley. Ein sechzehnjähriger, von Napoleon begeisterter Italiener, erlebt, als Soldat verkleidet, die Schlacht von Waterloo mit. Aber Stendhal, dessen ironische Reverenz für Scott bereits zitiert wurde (Kap. 3.2), differenziert den mittleren Helden Scotts sozusagen zurück in seine Gegensätze: grenzenloser Enthusiasmus auf der einen, geradezu brutale Ernüchterung gegenüber der erfahrenen Historie auf der anderen Seite. So wird auch der Perspektivismus der Erkenntnis hier zum Gegensatz gewendet: Der Erzähler begreift alles, das menschliche Herz ebenso wie die historischen Entwicklungen und politischen Konstellationen, die anfangs den sehr genauen und noch im Ganzen den nie ganz vergessenen Hintergrund bilden. Aber der Romanheld - wohlgemerkt, es geht jetzt lediglich um die ersten fünf Kapitel - begreift die meiste Zeit nichts („ne comprenait rien à rien“, 89) von dem, was um ihn her vorgeht. Gerade dadurch, in bemerkenswerter erzählerischer Innovation, wird er als Fokus der Perspektive zum Medium der Wahrnehmung: Es entsteht eine fast filmische Anschaulichkeit erlebter Geschichte, aber auch der nahezu explizite Verzicht, ihr einen Sinn abzugewinnen. Die Desillusion im Zusammenprall verschiedener Wertewelten wird wie bei Walter Scott durch die räumliche Grenzüberschreitung, diesmal die von Italien nach Frankreich, markiert: Der Romanheld, eine diffuse Mischung, die der Erzähler „bien plaisante“ / „recht vergnüglich“ findet (61), aus adeligem Ehr- und Tapferkeitsdenken, Subjektivität des Fühlens und Urteilens, in der Stendhal ihn bewusst mit der geliebten Renaissance vergleicht, nationalem Freiheitsenthusiasmus, der sich zur Begeisterung für Napoleon verdichtet, immer auf authentischer, romantischer Suche danach, seine Seelenwelt in der äußeren Realität verkörpert zu finden, ein junger Mensch, kindlich unschuldig und in alledem kompromisslos handlungsbereit, also weit entfernt vom „wavering Waverley“, reist im Grunde in die bürgerliche Zukunft des 19. Jahrhunderts. Entscheidend, und das hat dieser Roman tief mit Balzac gemeinsam („l’école du désenchantement“, Durand-Le Guern 2006, 264), ist in dieser neuen Welt nur noch das Geld („l’argent par dessus tout“ / „das Geld über alles“, 36). Fabrice muss sich seinen Weg durch das begeistert gesuchte Frankreich Schritt für Schritt buchstäblich kaufen und wird immer von neuem übervorteilt, betrogen, bestohlen und beraubt. Und die wenigen, aber signifikanten, hilfreichen Ausnahmen machen diesen allgemeinen „Code“ des Verhaltens, ganz wörtlich ein „code culturel“ (Barthes 1976, 26), noch deutlicher. Am auffallendsten aber ist hier die extrem synekdochische Geschichtsdarstellung. Erzähler und Leser setzen die Umrisse der Historie voraus. Es genügt zu sagen: „C’étaient les préliminaires de Waterloo“ / „Das war das Vorspiel zu Waterloo“ (68) und später „les alliés envahissaient la France“ / „die Stendhal: La chartreuse de Parme 69 <?page no="78"?> 70 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts Alliierten drangen nach Frankreich ein“ (105), was dem lakonischen „[…] the rest is well known“ Walter Scotts entspricht (und vielen weiteren synekdochischen Lakonismen, ja Aposiopesen, abbrechenden historischen Diskursen, von Mérimée über Fontane bis Faulkner, vgl. oben Kap. 3.2, unten Kap. 3.8 u. 6.2). Die lediglich punktuelle „Überkreuzung von Geschichte und Fiktion (Ricœur 1991, 3.295) wird von Stendhal aufs Äußerste differenzierend zugespitzt. Denn der Romanheld nimmt von der für Frankreich so traumatischen Historie nur wenige, unzusammenhängende Details wahr. Von den etwa drei Monaten, die sich um den historischen Fokus am 18. und 19. Juni 1815 legen - all dies (vgl. das genaue Datum, 97) und auch die Tageszeiten sind sorgfältig angegeben („die Sonne ging gerade unter“, „von der Dorfkirche schlug es elf“, 80, 87 etc., auch das hat Stendhal überraschend klar mit Fontane und Faulkner gemein, vgl. Verf. 2001, 105 ff.) -, von seiner Zeit ,erlebter Geschichte‘ verbringt er dreiunddreißig Tage vor der Schlacht im Gefängnis und danach etwa vier Wochen verwundet in Pflege. Aber auch an der Schlacht nimmt er für etwa vierunddreißig Stunden nahezu passiv teil: zuerst buchstäblich seinem Pferd folgend, dann ein paar versprengten Soldaten, dazwischen schläft er tief, und nur für jeweils weniger als Minuten („pas une minute“, 101) wird er eigentlich ziellos, im Kontext von Niederlage und Flucht und auf eine fast absurde Weise tätig (mit seinem zu langen Säbel kann er nur stechen und wird von einem flüchtenden französischen Husaren verwundet). „J’ignore toutes les façons d’agir […], il n’y comprenait rien du tout […], notre héros, à vrai dire, ne comprenait rien à rien.“ / „Ich weiß überhaupt nicht, wie man sich verhält, er begriff nichts von alledem, unser Held verstand, ehrlich gesagt, nichts von gar nichts.“ (69, 77, 89) Mit solchen Kommentaren geht er durch sein Stück „erlebter Geschichte“. Aber das führt bei ihm nun andererseits, in zugespitztem Perspektivismus, zu einer verfremdenden Übergenauigkeit sinnlicher Wahrnehmung (gewiss verwandelt sich „une des plus célèbres batailles du règne napoléonien en un chaos absurde et incompréhensible“, aber „la perception“ als solche ist eben nicht „brouillée“, sondern fast fotografisch genau, Durand-Le Guern 2006, 253; auch der Vergleich mit einem „unfertigen Bild […] und vielen weißen Flecken“, Kimmich 2000, 222, greift gegenüber der deutlichen Kontinuität und Genauigkeit der Zeit zu kurz): Fabrice erfasst Geräusche, visuelle Eindrücke, z. B. einen sich eigentümlich „bewegenden“ Acker, dessen Erde etwa drei Fuß in die Luft „fliegt“ (76, also Einschläge von Kanonenkugeln), Bewegungen, wechselnde, eng begrenzte Geländeformen, immer wieder grausige Einzelheiten, kleine Gruppen von Leuten, Individuen oder schließlich fliehende Massen. Bezeichnenderweise trifft er nur unwissend, ja ohne Wahrnehmung auf historische Personen: Er kennt beispielsweise und zur argwöhnischen <?page no="79"?> Überraschung der Soldaten, unter die er sich gemischt hat, nicht den berühmten Marschall Ney, und als unter allgemeinem Jubel Napoleon selbst vorüberreitet, ist Fabrice buchstäblich so betrunken, dass er versäumt, was eigentlich den Höhepunkt seines historischen Romans bilden sollte, den Kontakt mit seinem historischen „totum“ (vgl. 79; man kann bei der Entstehung des Textes verfolgen, wie Stendhal das Absurde der Szene zuspitzt, etwa indem er eine innere Stimme Fabrices, seine Gefühle und Überlegungen weitestgehend herausnimmt, vgl. Stendhal 1969, 1.92 ff.). Selten in der Geschichte dieser Gattung wird die „synekdochische“ Geschichtsdarstellung so konsequent differenziert, also wörtlich „auseinander gezogen“. Das gewusste, knapp, aber genau benannte „totum“ der Historie und der fiktional anschaulich entworfene „pars“ erlebter Geschichte sind nur abstrakt, oft geradezu negierend verbunden und streben auf eine Weise auseinander, die jeder erkennenden Integration so lange widerspricht, bis sie zur radikalen Sinnfrage an die Geschichte wird (vgl. unten Kap. 5.3.2.3). Sollte eine Art Urteil in den Gefühlen anderer Personen einen Moment lang sich abzeichnen, etwa in der „leidenden Miene“ des Oberst oder der Kritik des Korporals an „den Generälen“, dann wird auch dies sogleich von anderen, eng begrenzten Eindrücken verdrängt und diskursiv geradezu vergessen. Auch der Romanheld weiß am Ende nur, dass er sich völlig geirrt hat („qu’il avait tort dans tout ce qui lui arrivait depuis deux mois“, 91) und fragt sich ganz wörtlich: „Ce qu’il avait vu, était-ce une bataille? et en second lieu, cette bataille était-elle Waterloo? “ / „War das eine Schlacht, was er gesehen hatte? und zweitens, war diese Schlacht Waterloo? “ (105) Man sieht, wie konsequent und auch künstlerisch bewusst das synekdochische, personal-perspektivische Erzählmodell Walter Scotts hier kritisch, und das heißt eben differenzierend ausgelegt wird - und auch diese Differenzierung war bei Scott ja bereits angelegt. Hier nimmt sie freilich eine fast schon erkenntnis- und sinn-destruktive Wendung, die in der Tradition von de Vigny bis Flaubert (vgl. unten Kap. 4.5) eine in vielem schon moderne Form des historischen Romans vorbereitet. Geschichte, so wie das erste Kapitel der Chartreuse de Parme sie darstellt, ist wissbar, aber nicht erfahrbar und so, zugespitzt gesagt, human nicht interessant, zumindest indifferent. Gerät nicht Fabrice, wenn er den Höhepunkt seines bisherigen Lebens geradezu durchstreichen muss, so wie vor ihm schon die Romanhelden bei Arnim oder Blicher (der große „Sprung“ in der Zeit, vgl. oben Kap. 2.3 u. 2.4) und wie später Faulkners Quentin (vgl. unten Kap. 6.2) in eine Art „Zeitenschrunde“, ein Loch in der Zeit hinein, etwas Unfassbares, in dem sich retrospektiv die fundamentale „Zeitaporie“ jeder humanen Existenz auftut (vgl. Ricœur 1988, 1.15 ff. sowie unten Kap. 5.4)? Jetzt bricht Stendhal mit der Walter Scott- Stendhal: La chartreuse de Parme 71 <?page no="80"?> 72 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts Tradition, sucht aber auch nicht eine „alternative Form“ (vgl. unten Kap. 4) des historischen Romans. Statt eines revidierenden Konsenses, genauer, Kompromisses von Sinn und Faktizität steht hier deren Trennung. Wenn Scotts Waverley einsieht, „that the romance of his life was ended, and that its real history had now commenced“ (Waverley, 415), dann scheint Stendhal das einmal beinahe zu zitieren; denn an einer analogen Stelle, der Held verlässt den Krieg, fühlt sich auch Fabrice für kurze Zeit „délivré de toute la partie romanesque de son caractère“ / „befreit vom romanhaften Teil seines Charakters“ (102). Aber das bedeutet im Ganzen genau das Gegenteil. Er wird im zweiten Teil des Romans ja seine „Romantik“ erst recht und nun mit vollem Risiko gegen eine feindliche und verständnislose Umwelt setzen. Anders gesagt, sein „Roman“ („la partie romanesque de son caractère“) beginnt jetzt eigentlich erst, ein Roman der Seele und der weltüberwindenden Liebe, von allen real-historischen Rücksichten befreit („plus en plus de libertés avec l’Histoire“, „destinée […] invraisemblable, romanesque et inactuelle“, Ansel 2000, 33). Das Interesse an Geschichte, mit ihm der historische Roman innerhalb von La chartreuse de Parme, ist verabschiedet, ein ganz anderer, für Stendhal und seinen Helden der eigentliche Roman beginnt. Stendhal: La chartreuse de Parme. Éd. Michel Crouzet. Paris: Garnier, 1964. Ders.: Œuvres complètes. La chartreuse de Parme. Nouvelle édition ed. par Victor Del Litto et Ernest Abravanel. 2 Vol. Genf 1969. Ansel: Stendhal, le temps et l’histore. 2000. • Durand-Le Guern: Trois romantiques face à l’histoire. 2006. •Kimmich: Wirklichkeit als Konstruktion. 2002. 3.4 Honoré de Balzac: Les Chouans / Die Chovans. Rebellen des Königs (1829) Honoré de Balzac (1799-1850) hat den Einfluss Walter Scotts auf seinen ersten unter eigenem Namen publizierten Roman Le Dernier Chouan ou la Bretagne en 1800 (1829) stets bereitwillig zugegeben. Eine Variante des Untertitels sollte, deutlich anspielend an Scotts ‘Tis sixty years since noch lauten ou la Bretagne il a y trente ans / oder die Bretagne vor dreißig Jahren. Und dieser Einfluss ist viel prägender als die oberflächliche Anspielung auf J. F. Coopers The Last of the Mohicans (1826). Über mehr als das Interesse an einer naturnahen, verschwundenen Kultur und vielleicht das Thema tragischer Liebe geht das nicht wesentlich hinaus. (Interessanter ist die Ähnlichkeit der Geschichtssicht in Coopers The Pioneers, 1823, zu der der Comédie humaine als solcher, vgl. unten Kap. 4.1). Es ist nur konsequent, dass Balzac von der zweiten Ausgabe (1834) an Les Chouans vorzieht, was vielleicht eher an Les Puritains de l’Ecosse erinnert, den französischen Titel von Scotts Old Mortality (1816; vgl. Balzac 1966, 5.627). <?page no="81"?> An Old Mortality erinnert vielleicht auch der religiöse Ernst der Messe unter freiem Himmel (326 ff.) und geradezu prägend das Motiv des einzigen überlebenden Augenzeugen, der freilich bei Balzac eben gerade nicht diese Erinnerungen „pflegt“. Sehr ähnlich zu Waverley (1814) dagegen wirkt der Anblick der royalistischen „Armee“ (335 f.) und noch mehr der devote Ehrgeiz der rebellierenden „chefs“ und ihre Illusionen (vgl. 340 ff.). Am klarsten aber ist der Einfluss von Rob Roy (1817, vgl. oben Kap. 3.1) zu erkennen: das plötzliche Auftauchen des Helden, seine Verkleidungen, der kühne Gang ins gegnerische Lager, die riskante Flucht aufgrund überlegener Geländekenntnisse, die kämpfenden und „lenkenden“ Frauen, allgemein das Thema der Reise in eine pittoresk „andere“ Welt mit dramatischen Grenzüberschreitungen, die Dekadenz der Clan-Kultur, die Historie eines Guerilla-Kriegs, unterlegt von einem Netz der Intrige um Macht, Liebe bzw. Eifersucht und Geld (Corentin entspräche dann Rashleigh Osbaldistone als „black villain“); und speziell solche Handlungsdetails wie die ungleichen Passagiere in einer Postkutsche oder das düster verkommene Haus mit den vielen Geheimgängen (vgl. 195 ff.) wären hier zu nennen. Aber Les Chouans wirkt verglichen mit Walter Scotts Romanen wie die manieristische, desillusionierte, teilweise schon zynische Variation eines klassizistischen Vorbilds. Schon der kunstvolle Chronotopos des Romananfangs mit seiner dramatischen Raum-Grenze, aber auch mehreren einander überlagernden Zeit-Schichten (vgl. unten Kap. 5.4) hat etwas kalkuliert Spielerisches. Dans les premiers jours de l’an VIII, au commencement de vendémiaire, ou, pour se conformer au calendrier actuel, vers la fin du mois de septembre 1799, une centaine de paysans et un assez grand nombre de bourgeois […] gravissaient la montagne de la Pèlerine […]. / In den ersten Tagen des Jahres VIII, Anfang Vendémiaire, oder, um sich dem gegenwärtigen Kalender anzupassen, gegen Ende des Monats September 1799, erklommen etwa hundert Bauern und eine ziemlich beträchtliche Anzahl Bürger den Berg La Pèlerine. (21) Hier, an der Grenze von Maine (heute Mayenne) und Bretagne (vgl. 36), wird sogleich der Überfall der königstreuen bretonischen Bauern stattfinden, „L’Embuscade“, wie ihn die Édition Furne (1845; jetzt Édition l’Intégrale) noch vor dem ersten Satz ankündigen wird (Balzac 1966, 5.628). Aber auch die Überlagerung der Zeitrechnungen und der angesprochene Zeitraum sind interessant. Es stehen noch zwei Monate an bis zum „18 Brumaire“ (9. November), dem Staatsstreich Napoleon Bonapartes, der später (1806) eben diesen revolutionären Kalender selbst abschaffen wird. Und schon Ende 1799, das machen diese Anspielungen historisch klar, hat das Wiederaufflackern der royalistischen Aufstände keine Chance mehr. Das Zeitsystem spielt mit Metonymien der Negation, die zusammen synekdochisch eine nahezu leere Kontinuität bezeichnen (vgl. zu diesen Begriffen unten Kap. 5.3.2). Balzac spielt nicht weniger bewusst mit dem „partem pro toto“ setzenden historischen Diskurs Walter Scotts, wenn er von dem einzigen, eventuell his- Honoré de Balzac: Les Chouans 73 <?page no="82"?> 74 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts torisierbaren Ereignis, das direkt anschaulich erzählt wird, behauptet: „Ce combat (est) presque ignoré au milieu des grands événements“ / „Dieses Gefecht ist neben den großen Ereignissen fast vergessen“ (71), obwohl er offensichtlich wusste („n’ignore vraisemblablement pas“, Balzac 1977, 8.1710), dass es nie stattgefunden hat. Er sucht den pittoresken, dramatischen Effekt in der Geschichte und streicht ihren Geschehensanspruch durch. So sind hier auch die Gegensätze krasser, die zeitlichen Übergänge plötzlicher, selbst die Räume zerklüfteter als bei Walter Scott, und ein möglicher Kompromiss der Parteien - ähnlich wie in Redgauntlet (1824) eine Empfehlung an eine jüngere Generation, ihren Frieden mit dem Verlauf der Historie zu machen (von Balzac allerdings erst 1845 hinzugefügt, vgl. 462, und Balzac 1977, 8.1837) - eine solche Harmonisierung bildet im Grunde nicht einmal eine ferne Möglichkeit. Die Wertsysteme liegen noch weiter auseinander, insbesondere sind die bretonischen Bauern, vor allem am Anfang, noch archaischer dargestellt als die Highlander bei Scott oder die Indianer bei Cooper, geradezu Tieren oder barbarischen Dämonen ähnelnd. Zugleich hat dies alles den Charakter eines historischen Schauspiels oder einer Stationenbühne in charakteristischer Landschaft. So wie der Handlungsraum wiederholt kulissenartig aufgebaut und direkt als „amphithéatre“ bezeichnet wird, so durchzieht das Wortfeld des Theaters von den ersten, noch direkt dramatisch ausgeführten Vorarbeiten (vgl. Balzac 1977, 8.1666 ff.) bis zur ausgesprochen bühnenwirksamen Demaskierung am Schluss den ganzen Roman. Die Personen sprechen immer wieder in Stichomythien („Je suis dans le ciel / Dans l’enfer, peut-être“, „Ich bin im Himmel / Vielleicht in der Hölle“, 149), in Concetti, Sentenzen, „zur Seite“ usw. Vor allem die Heroine wechselt mit jeweils voller Aufrichtigkeit ihre Rolle vom Liebeszum Rache-Engel und zurück und wird dabei zu einer typischen Balzac-Figur (Madame d’Espard, vor allem wohl die Duchesse de Maufrigneuse, „la plus grande comédienne de ce temps“, Balzac 1977, 6.989), einer Schauspielerin ihrer selbst, die auch in der Verstellung völlig natürlich bleibt, „naturelle même dans (la) dissimulation“ (316). In den Aktionen von Gruppen, z. B. den Kampfszenen, wirkt das Geschehen manchmal wie ein Ballett, an anderer Stelle kann der Erzähler die Handlung nicht nur nach Belieben kommentieren, sondern auch, und sei es im spannendsten Augenblick, anhalten, um besonders sprechende, lebende Bilder vorzustellen. Und die einfache, aber immer neue Konfliktkonstellationen präsentierende Handlung kommt dem entgegen. Eine sehr schöne, hilflose, ehemalige („ci-devant“) Adelige, natürliche Tocher eines Herzogs, wird vom Minister Fouché unter Zwang angeworben, den Marquis, der als „le Gars“ die bretonischen Aufständischen befehligt, zu verführen und auszuliefern. Aber die echte Liebe, zu der sich beide nach vielerlei Schwankungen und Missverständnissen am Ende bekennen, lässt sie füreinander in den Tod gehen. <?page no="83"?> Im Grunde sind sich die Hauptpersonen schon früh dessen bewusst, dass sie in einer Tragödie begriffen sind, einer Tragödie der „edlen Herzen“ („des nobles cœurs“, 174), die mit der beginnenden Neigung einsetzt („la tragédie a bien proprement commencé“, 167); und noch konsequenter wissen sie, dass sie und ihre Charaktere, auch humane Werte wie Mut, Treue, Liebe und so weiter, wie die Eigenschaften von Schachfiguren in einem großen Spiel („les jeux d’une pensée immense“, 324) eingesetzt werden. So zynisch dieses Spiel ist („Fouché a toujours joué un double jeu“ / „hat immer ein Doppelspiel gespielt“, 380), sie spielen es bewusst mit: „jouer sa tête, jouer sa vie“ / „um seinen Kopf, sein Leben spielen“, 177/ 337) ist genau die Lebensform, die sie akzeptieren. Peut-être chacun d’eux, embarqué dans une vie aventureuse, était-il arrivé à cette singulière situation morale où, soit par lassitude, soit pour défier le sort, on se refuse à des reflexions sérieuses, et où l’on se livre aux chances du hasard en poursuivant une entreprise, précisément parce qu’elle n’offre aucune issue et qu’on veut en voir le dénouement nécessaire. La nature morale n’a-t-elle pas, comme la nature physique, ses gouffres et ses abîmes où les caractères forts aiment à se plonger en risquant leur vie, comme un joueur aime à jouer sa fortune? / Vielleicht war jeder von ihnen, nachdem er in ein abenteuerliches Leben hineingeraten war, jetzt in der sonderbaren inneren Verfassung, in der man sich den Zufällen des Tages überlässt, eben weil eine Unternehmung keinen Ausweg offen hält und man doch ihre Entwicklung verfolgen möchte. Hat nicht die sittliche Welt gleich der natürlichen ihre Schlünde und Abgründe, in die starke Charaktere sich hineinstürzen, um ihr Leben zu wagen, so wie der Spieler sein Vermögen aufs Spiel zu setzen liebt? (175) Im Grunde formuliert Balzac hier im Namen der Personen das Geschichtsbild, die Mischung aus Kampf, Neugier, Risiko und Spiel, Spiel mit offenem Ausgang, die er in diesem ganzen Roman sucht. Wie alle Wechsel der Motive und des Verhaltens bei den Romanhelden, von Liebe zu Rachsucht, von der Täuschung zur Wahrheit - bezeichnenderweise zieht die Frau zuletzt die Kleider des Mannes an, um statt seiner in die von ihr selbst vorbereitete tödliche Falle zu gehen -, wie individuelles Verhalten hier immer nur die Intrige im ganzen weitertreibt, so erscheint auch die Geschichte als ein per se richtungsloses, wertindifferentes Kräftespiel; wie die „Schachfiguren“ sich auch drehen und wenden, das Spiel geht weiter und über sie hinaus; die Realität ist eine Krise in Permanenz, ein Spiel, bei dem der Stärkste, der Gerissenste sich durchsetzt. Geschichte als interpretierbarer Zusammenhang wird in diesem Spiel letztlich aufgehoben. Aber zugleich entwirft Les Chouans als Krisenmetapher die Welt der Comédie humaine voraus. Bezeichnenderweise beginnt deren erster prägender Roman La peau de chagrin (1830) mit einer Situation des Glücksspiels. Balzac hebt den historischen Roman dialektisch auf, negiert ihn und setzt ihn zugleich fort. Die letzten beiden Absätze des heute akzeptierten Textes von Les Honoré de Balzac: Les Chouans 75 <?page no="84"?> 76 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts Chouans hat Balzac 1845, in der Édition Furne, hinzugefügt: „En 1827“ (463, vgl. Balzac 1977, 8.1211 und 1836/ 1837), also sozusagen ,heute‘, zurückprojiziert in die ihrerseits fiktive Zeit der Niederschrift dieser Geschichte, kennt nur noch ein einziger alter Bauer, dem niemand mehr seine „mörderische“ Vergangenheit ansieht, den ganzen seinerzeitigen Zusammenhang. Und der schweigt. Wird so einerseits eine Situation expliziten Vergessens, ja „Durchstreichens“ inszeniert, so hat Balzac andererseits den Hinweis auf das Arbeitsende am Roman, ursprünglich 1828, auf „Fougères, août 1827“ vordatiert. Dies geschah 1834, als die Architektur der Comédie humaine bereits Formen annahm. Man sieht das Bemühen um Kontinuität. So wird ja auch Les Chouans in die Comédie humaine integriert - was freilich nie ganz gelungen ist (vgl. das spätere Vorwort 507/ 508). Aber der gesuchte Zusammenhang „bäuerlicher Geschichte“ seit der Revolution, der Umbruch in Les Chouans, die lange, brutale Dekadenz in Les Paysans (1844), die ruralen, konservativen Utopien Le médecin de campagne (1833) und Le curé de village (1838/ 39), wie ihn die Architektur der Comédie humaine zumindest erkennen lässt, hat gleichwohl für die Gattung des historischen Romans etwas Interessantes (vgl. auch unten Kap. 5.4). Und umgekehrt werden für Hauptgestalten wichtiger Bücher der Comédie humaine (der alte Goriot, der alte Séchard, natürlich der Colonel Chabert, die großen adeligen Damen usw.) ihre eigenen Vorgeschichten oder auch die ihrer Familien regelmäßig und sorgfältig seit der Revolutionszeit nachgetragen. Die Antwort auf die Geschichtskrise ist ihr Bezug auf die Gegenwart, das hat Balzac mit Mérimée gemein („it is with the immediate period of their own composition that [these] authors are above all concerned, Tilby 2003, 233), und, geradezu „metafiktional“, auf die eigene erzählerische Arbeit (vgl. ausführlich Verf. 1994, 481 ff., v. a. 546 ff.): die illusionslose, multiple, vielperspektivische Sichtung von Realitäten, das große Erzählexperiment („Experimente an der Gesellschaft unter den Bedingungen der Fiktion“, Wehle 1980, 70), das, einerseits schon sehr modern (unübersehbar ist etwa die Kontinuität innovativer Balzac-Lektüre von Faulkner zu Uwe Johnson, vgl. unten Kap. 6.2 u. 7.3), das volle Sinnlosigkeitsrisiko akzeptiert, andererseits aber auch und letztlich immer noch aufklärerisch (Balzac ist „démiurgue et pédagogue“, Madore 2003, 33), den Möglichkeitsraum tätiger Umgestaltung als einer humanen Arbeit an dieser Realität zu öffnen sucht: ein „univers en crise“, aber auch ein „univers ouvert“, „en avant […] il y a tout un possible“ (Barbéris 1971, 198, 124, 229). Honoré de Balzac: Les Chouans. Èd. Pierre Gascar et Roger Pierrot. Paris: Gallimard, 1972. Ders.: La comédie humaine. Édition de la Pleiade. Èd. Pierre-Georges Castex. 12 Vol. Paris 1976 - 1981. Ders.: La comédie humaine. Édition l’Intégrale. Èd. Pierre-Georges Castex et Pierre Citron. 7 Vol. Paris 1965/ 66. <?page no="85"?> Barbéris: Balzac. 1971. • Gumbrecht / Stierle / Warning: Honoré de Balzac. 1980. • Madore: Balzac, romancier et historien. 2003. • Tilby: Past or Present? 2003. • Wehle: Littérature des images. 1980. 3.5 Willibald Alexis: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht (1852) Blickt man von hier - der Sprung sei einem Komparatisten erlaubt - sogleich auf Alexis’ (Georg W. H. Häring, 1798-1871) wohl wichtigsten Roman, den Roman eines Kenners und erklärten Nachfolgers vonWalter Scott (vgl. z. B. Humphrey 1986, 71 ff.), dann scheint dieser der französischen Scott-Rezeption (so wie auf andere Weise später Conrad Ferdinand Meyers Jürg Jenatsch, 1876, vgl. unten Kap. 4.3) eigentümlich nahe. Anders gesagt, es handelt sich um einen interessanten experimentellen Entwurf zu einem Roman offener multiperspektivischer Geschichtssicht. Aber dieser Entwurf wurde blass ausgeführt und schließlich kräftig und eindeutig übermalt. („Erst die petitio principii [der] Vaterlandsliebe […] macht die Vergangenheit als eigene Vorgeschichte erfahrbar“, Niehaus 2000, 524.) Alexis, erster Roman über die preußisch-napoleonischen Kriege teilt mit dem Feld der Waverley Novels („Alexis identifies the prototype of the ,Roman des Nebeneinander‘ in the historical novels of Walter Scott“, Tatlock 1986, 56), mit Balzacs Les Chouans (1829), insbesondere, wenn man sie im Kontext der Comédie humaine liest (vgl. oben Kap. 3.4), oder mit dem späteren Vor dem Sturm Fontanes (1878, vgl. etwa Aust 1994, 78 f.) in der Tat die Tendenz zum Vielheitsroman: Die Szenen reichen von der Landstraße und der Dienstbotenwelt über die Salons und die Vor- und Arbeitszimmer der Minister bis ins Schloss; die jugendlichen Helden kommen einerseits ins Gefängnis, in die Not des Hauslehrerdaseins und ins Bordell, andererseits dringen sie bis zur Zusammenarbeit mit den höchsten und mächtigsten Personen vor bis hin zur Begegnung mit Napoleon selbst. Mit der französischen Scott-Rezeption vergleichbar wäre die (zunächst) spielerische Verbindung von Fiktion und einer Historie, die bis zur Mitte des Romans nur in Gesprächen und Anspielungen erwähnt wird, die Freude an zugespitzten Antagonismen, die Kontrastierung vordergründigen Scheins mit illusionslos gesehenen gesellschaftlichen und historischen Realitäten. In manchem hat Alexis hier in der Tat „dem Naturalismus die Bahn gebrochen“ (Carlsson 1983, 543). So wird etwa die Not der Dienstboten (eine Dame lässt ihren hoch fiebernden Diener stundenlang im Regen auf ihrem Wagen aufstehen, die Fürstin Radziwill ihren Kutscher gar zu Tode prügeln, 27 u. 546) oder die der einfachen Soldaten (vgl. 752) ausdrücklich erwähnt und den adeligen Fassaden hart entgegengesetzt. Speziell Balzac vergleichbar sind eine ganze Reihe von Themen, Motiven und Formen des „emplotment“: das Thema Geld und Liebe bis hin zur Bordell-Metapher, zum Willibald Alexis: Rube ist die erste Bürgerpflicht 77 <?page no="86"?> 78 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts Glücksspiel, zu betrügerischen Wechsel- und Spekulationsgeschäften, zur Bereicherung an Regierungsaufträgen (Mäntel für die Soldaten aus schlechtem Tuch), ja zum finanziell motivierten Mord, die Auflösung eines Großteils der dargestellten politisch-militärischen Historie in ein Spiel von Intrigen und Gegenintrigen und vor allem der Entwurf einer großen Krisenmetapher als ganzheitlichem Geschichtsbild. Die dezidiert kritische Geschichtsmoralistik, die den ganzen Roman durchzieht, vor allem gegenüber den „Gendarmerie-Offizieren“ oder der „Lombardschen Clique“, fügt sich überhaupt in eine, vielleicht die wichtigste Linie in der produktiven Scott-Rezeption von Stendhal über Thackeray, Fontane (zur „Preußischen Dekadenz“ vgl. z. B. Verf. 2001, 112 f.) bis zu Heinrich Mann und der Nachkriegsliteratur. Man denke etwa an die Gestalt des Majors Dinklage in Alfred Anderschs Winterspelt (1974) oder das Kapitel „Formenwelt“ in Alexander Kluges Schlachtbeschreibung (in der Fassung von 1978, 245 ff., vgl. unten Kap. 7.1 u. 7.2). Und in den komisch-satirischen Zuspitzungen, beispielsweise im Kapitel über „die Puten von Exzellenz“ (758 ff.), setzt Alexis eine ja auch bei Scott angelegte lachende Distanz zur Historie auf durchaus eigene Weise fort. Aber es gibt hier, sieht man genau hin, zwar viele und breite Gesprächsszenen, jedoch keinen Dialog der Perspektiven. Alles ist wie mit einer jeweils starren, neutralen Kamera oder wie auf einer breiten Bühne oder, eine wiederholte Situation, wie aus einem Fenster heraus gesehen (vgl. etwa die Kapitel „Fensterskizzen“ und „Blicke aus eines Ministers Fenster ins Volksleben“, 394 ff. u. 598 ff.). Es zieht vielerlei vorbei, „ein riesiges Tableau“ (Grawe 1990, 158), „myriad details of city life“ (Tatlock 1986, 63), aber man weiß, das Wichtige wird sich klären. Genauso werden die beiden Kriminalhandlungen - ein Hochstapler und eine ehrgeizige Dame stehen zuletzt als Giftmörder da - zumindest für die Leser durchsichtig. Und wenn einer dieser Verbrecher sich so rechtfertigt: „Das wahre Motiv, Herr, das ist überall dasselbe: der Größere frißt den Kleineren, wenn er Appetit hat und sein Magen es verträgt, und der Unterschied ist nur der, die großen Verbrecher kommen in die Geschichtsbücher und wir kleinen irgendwo in ein Kriminalregister“ (820), dann wird dieser Handlungsteil deutlich in Analogie gesehen zu Napoleons Machtpolitik und zur französischen und franzosenfreundlichen Diplomatie. In der einzigen Szene, in der Napoleon selbst auftritt, versucht er durch ein betrügerisches Friedensangebot in letzter Minute, in der „Nacht vom 13. zum 14. Oktober“ 1806, also vor der Schlacht von Jena, den preußischen König zusätzlich zu verwirren. Und die Parallelen zwischen dem „Schauspieler“ Napoleon und dem Hochstapler sind offensichtlich beabsichtigt (vgl. etwa 775 ff.). Aber alle diese Scheinmanöver werden zuletzt durchschaut, zumindest vom Leser, während die Öffentlichkeit nur das Resultat, die Opfer, kennt. Bei aller Handlungsvielfalt, der Wertediskurs (vgl. unten Kap. 5.3.1.3) in diesem Roman wird völlig eindeutig geführt. <?page no="87"?> Alexis erzählt eine gedeutete, explizit interpretierte Geschichtsmetapher („tropus“ und „proprium“ zugleich), nicht wie Scott „metonymy and sequentality, but […] metaphor and montage“ (Humphrey 1986, 87; zu Hayden Whites „metahistorischer“ Rhetorik des Erzählens und deren weiterer Differenzierung vgl. unten Kap. 5.3.1.2). Er nutzt die Krise in der fiktiven, dargestellten wie in der historischen, mit-dargestellten Welt allerdings nicht, wie Balzac, als offene Problematisierung dieser und späterer Zeiten, als Zugang zu einem experimentell zu erschließenden historisch-gesellschaftlichen Raum unaufhebbarer Widersprüche, sondern als Übergangsargument zu einer Wahrheit, die historisch beglaubigt und in ihrer Wertdichte, was den Romandiskurs betrifft, auch nicht zu bezweifeln ist. Die - unter dem „Primat der Fiktion“ (vgl. unten Kap. 5.1 u. 5.2) - dargestellte Historie lässt sich kontinuierlich verfolgen. Der Roman beginnt im Sommer 1805 (der 3. August ist genau markiert, vgl. 64); den ersten deutlich angesprochenen politischhistorischen Hintergrund bildet die Frage preußischer Neutralität im sich abzeichnenden dritten Koalitionskrieg (Österreich und Rußland gegen Frankreich, Baden, Württemberg und Bayern), die Nachrichten von der Kapitulation dreier österreichischer Korps bei Ulm (17. Oktober), des Durchmarsches französischer Truppen durch preußisch-fränkisches Gebiet, der Einnahme Wiens (13. November) usw. treffen dramatisch ein. Das Ende fällt in die Zeit nach der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806, der Einzug Napoleons in Berlin (27. Oktober 1806) steht unmittelbar bevor. Der Titel gibt die berühmte Proklamation des Gouverneurs Schulenburg zu diesem Anlass wieder. Und so verlässlich wie die dokumentierte Historie ist die Ethik des Romans. Richtig und Falsch, Gut und Böse werden am Ende des Romans völlig klar; die Verbrecher genauso wie die dekadenten Diplomaten stehen gegen die Partei der Patrioten sowie die ethisch integren drei Romanhelden: Der eine büßt seine jugendlichen Verirrungen, indem er unter Hintansetzung seines Lebens die Niederlage von Jena zu mildern sucht, die weibliche Heldin wurde immer nur verleumdet und steigt zur Vertrauten der Königin auf, der dritte, der Intellektuelle, hat von Anfang an „vaterländisch“ gedacht und wird enger Mitarbeiter des Freiherrn vom Stein. Was in den Waverley Novels nie geschieht, die Verschmelzung von Fiktion und Historie, bildet hier eine klare Gesamttendenz der Handlung. Die Krisenmetapher, selbst bereits eindeutig interpretiert (tropus und proprium zugleich), wird zur Gegenfigur einer nicht weniger eindeutigen generalisierenden (konzeptionellen, den Wertediskurs ordnenden und die Handlung interpretierenden, vgl. unten Kap. 5.3.1.2) Synekdoche oder besser „Ana- Synekdoche“. Es ist ja die zukünftige Geschichte des preußischen Wiederaufstiegs, auf die sehr genau die Verschmelzung der wichtigsten drei fiktiven Lebensläufe und der historischen Ereignisse bezogen ist. In Isegrimm (1854) wird das exemplarisch durchgespielt (auf einem Schloss in der Mark Bran- Willibald Alexis: Rube ist die erste Bürgerpflicht 79 <?page no="88"?> 80 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts denburg entsteht ein Nukleus des Konsenses über preußische Reformen und Widerstand); der Epilog dieses Romans führt die Kontinuität preußischdeutscher Geschichte bis nach 1848 fort. Diese vergangen-zukünftige Geschichte ist als Wertungsinstanz, als Angebot für „das Identifikationsbedürfnis des Lesers mit der Idee des Preußentums“ (Grawe 1990, 149) gegenüber der Krise auch in Ruhe ist die erste Bürgerpflicht von Anfang an präsent - eine Argumentationsform, die sich bei Scott nie findet und der Fontane in Schach von Wuthenow (1882) genau widersprechen wird (vgl. unten Kap. 3.8): ,Preußen hatte die Aufgabe, Deutschland zu retten‘, die hat es vor Austerlitz, erst recht vor und bei Jena versäumt, es wird sie wahrnehmen, „Katzbach“ und „Leipzig“ werden bereits genannt, und jeder - „das große Vaterland, oh das ist das Erhabenste, was es gibt, wer wollte nicht dafür Gut und Blut opfern! “ (493, 823/ 824, 461) - hat das Seine dazu beizutragen. Es handelt sich bei diesem Preußenbild nicht um eine „Aufgabe, ein Postulat, ein Ethos, eine Utopie“ (Beutin 1966, 159), sondern um eine historische Größe, die ethisch überhöht wird. Utopien im historischen Roman sehen ganz anders aus (vgl. unten Kap. 5.4), sie identifizieren sich nicht mit etwas, das historisch bereits gegeben ist (zur stilistischen Differenzierung in Stifters Witiko, 1865-1867, vgl. unten Kap. 4.5). Der Vielheitsroman hebt sich fiktional auf in die „detailrealistische Bebilderung einer vorausgesetzten Idee“ (Balzer 2001, 93), eine argumentatorisch beliebige, ideologisch behauptete Synthese von Ereignis und Wert, Verlauf und Ziel der Geschichte. Willibald Alexis: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Vaterländischer Roman. Hg. von H. Marshall. Halle o. J. Balzer: Realität und Geschichte bei Alexis, Freytag und Fontane. 2001. • Carlsson: Willibald Alexis. 1983. • Grawe: Preußen 1803 bis 1813 im „vaterländischen Roman“. 1990. • Humphrey: The Historical Novel and its „Wider Sweep“. 1986. • Niehaus: Vaterländische Probleme. 2000. • Tatlock: Berlin, Walter Scott and the „Roman des Nebeneinander“.1986. 3.6 William M. Thackeray: The History of Henry Esmond / Die Geschichte des Henry Esmond (1852) So sehr dies einer der wichtigsten historischen Romane des 19. Jahrhunderts, ein skeptischer Gegenentwurf zu einer Geschichtsdarstellung im Zeichen von Kontinuität und Kompromiss ist, wie ein (freilich pauschales, vgl. oben Kap. 2.2 u. 3.1) Walter Scott-Bild sie manchmal nahelegte, so sehr steht er doch auch in der Nachfolge von Walter Scott. Denn vom ersten Satz des Waverley (1814) an hatte das Studium historischer Sitten, Werte und Verhaltensnormen eine differenziert ausgearbeitete Dimension des Scottschen Romans ausgemacht: „The ,manners‘ of the age become […] the most important subject for the historical novelist“ (Brown 1979, 181). Die Waverley-Novels <?page no="89"?> waren in diesem Sinn wesentlich Gesellschaftsromane. Es war nur folgerichtig, dass beispielsweise die kritische, spielerisch differenzierende Walter Scott-Rezeption Balzacs und Stendhals eine solche „étude de mœurs“ als Durchgangsstufe zum zeitkritischen Gesellschaftsroman der eigenen Gegenwart begriff. (Dass dies auch eine Hauptforderung der programmatisch-theoretischen Scottrezeption in Deutschland war, zeigen z. B. Steinecke 1998, 193 ff., oder Aust 1994, 63 ff.). In Thackerays (1811-1863) Roman steht dies, die experimentelle Erkundung individuellen und gesellschaftlichen Verhaltens, am deutlichsten von allen historischen Romanen des 19. Jahrhunderts, in der Intensität vielleicht nur noch Fontane vergleichbar, im Mittelpunkt. Der Entwicklungs- und Gesellschaftsroman, der sich in Frankreich exemplarisch von der Historie befreit hatte - natürlich kennt er längst auch seine eigene Tradition, gerade in England (man denke nur an gesellschaftskritische Romane Thackerays wie Vanity Fair, 1847, oder The History of Pendennis, 1848-1850) - wendet sich zurück zur Darstellung einer vergangenen Welt. (Was eine Parallele zu Fontane ergibt; dieser kannte und schätzte von Thackeray nur Vanity Fair, vgl. Eberhardt 1975, 27 ff., sowie unten Kap. 3.7.) Dabei sind die Ereignisse selbst nicht mehr so wichtig. Henry Esmond ist ein Roman kritisch-historischer Moralistik, „A study of manners in the 18th century, seen from a much later point of view“, könnte man sagen. Insofern kann man die beiden prägenden Strukturierungen des Romans, die fiktive Lebensgeschichte und deren fingierte Memoiren (vgl. dazu unten Kap. 5.3.3.1), eigentlich nie trennen. Und wie beide mit Historie durchsetzt, in sie ,hineingeschrieben‘ sind - allerdings mit „secret ink“, (494), die historisch nicht wahrnehmbar ist -, so stellt auch die betonte narrative Distanz, die zwischen ihnen immer wieder hergestellt wird, ein ständiges produktives Auserzählen der Differenz von Fiktion und Historie dar. Im Sinne dieser Differenz, ja, man könnte wie bei Manzoni und der Sache nach auch bei Stendhal von einem „componimento intrinsicamente contradittorio“, einem in sich widersprüchlichen Gebilde sprechen (Manzoni 1990, 218, vgl. oben Kap. 2.5 u. 3.3), allerdings von einem kritisch genutzten offenen Widerspruch, ist auch die erlebte persönliche „history“ Esmonds nur und ganz wörtlich an ihren Rändern, „lateral-synekdochisch“ mit der überlieferten allgemeinen Historie verflochten. So erfährt gerade auch die Walter Scott-Tradition hier eine äußerst kritische Zuspitzung (vgl. oben Kap. 2.2 u. 3.1): Der Außenseiter schlechthin, zunächst unwissend, dann auch als „officer“ und „gentleman“ geradezu freiwillig ein „Bastard“, führt nicht mehr den „mittleren“ und „vermittelnden“ Helden vor, sondern eine distanzierte Sonde, die die maßgebliche Gesellschaft der damaligen Zeit sichtbar macht und die ihr immer fremd bleibt. Komparatistisch interessant ist dabei an Henry Esmond noch zusätzlich, dass es sich wie bei Arnim (Die Kronenwächter, 1817), Blicher (Bruchstücke, William M. Thackeray: The History of Henry Esmond 81 <?page no="90"?> 82 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts 1824) oder Stendhal (La chartreuse, 1839) um einen Roman „mehrerer Leben“ handelt, der erneut in einer „Zeitaporie“ (Ricœur 1991, 3.8) mündet. Das ist um so mehr interpretationsrelevant als dieser Roman offensichtlich von Anfang an als homogenes Ganzes konzipiert und strenggenommen für die Zweitlektüre geschrieben wurde. Esmond muss sein Leben mindestens zweimal völlig neu entwerfen und findet sich am Ende des Romans, nachdem er sich aktiv auf die Geschichte eingelassen und versucht hat, ihren Verlauf zu ändern, ihr entfremdet und schlechthin ,unzeitgemäß‘: in seinen Vorstellungen von „nobility“ hinter der Zeit zurück, in seinen Überzeugungen von Parlamentarismus, ja Republikanismus aber ihr weit voraus. In vergleichender Perspektive könnte man auch sagen, dass die beiden Helden Mérimées (Chronique, 1829) in einen zusammengezogen wurden, wobei der unzeitgemäße Außenseiter dominiert (vgl. oben Kap. 3.2). Es ist nur folgerichtig, dass mit Esmonds Emigration und durch den ,Zeitsprung‘ in seinem Leben auch eine ,Zeit-Emigration‘, ein „chronotopos“ (Bachtin 1989, 7/ 8) des kritischen historischen Romans formuliert wird, der von Arnim und Blicher über die Literatur des Exils bis in die Gegenwart hinein bedeutsam ist (vgl. Verf. 1998, 359 ff. sowie unten Kap. 5.4 u. 6.4). Das „erste Buch“ nun, erneut Arnim, Blicher, Mérimée oder Stendhal vergleichbar, aber derlei war natürlich auch bei Scott schon vielfach angelegt, ist dann weitgehend als „Initiationsroman“ (Sottong 1992, 29 u. ff.) strukturiert. Der schutzlose „Bastard“ eines englischen Lords wächst im Haushalt seines Vaters auf und wird nach dessen Tod (in der Schlacht am Boyne,1690) vom neuen Viscount Castlewood und vor allem von dessen jugendlicher Frau aufgenommen und gefördert. Da seine Familie traditionell zu den Jakobitern hält, wird Esmonds Leben immer wieder von den Ausläufern historischer Ereignisse seit der Revolution von 1688, auch von religiösen Differenzen (er konvertiert dreimal) beeinflusst. An seinen Wendepunkten treffen wie bei Scott (und verblüffend deutlich später bei Uwe Johnson, vgl. unten Kap. 7.3) immer wieder private und historische Entscheidungen zusammen. Das gilt insbesondere für die erste Zäsur. Esmonds Bildungsgang - „fortune […] but develops (his) character“ (208) - führt ihn nach Cambridge, wo er sich auf den geistlichen Stand vorbereitet. Aber das Duell, an dem er aus Treue zu seinem „Haus“ teilnimmt und in dem sein Beschützer fällt, beendet nicht nur diese Aussichten. Esmond wird erwachsen, definiert sich von Grund auf neu, „an independency which he had never known before“ (224), und entschließt sich für die Offizierslaufbahn. All dies findet statt in engster zeitlicher Nähe zum „Act of Settlement“, der Erbfolgeregelung zugunsten des Hauses Hannover von 1701, und dem Wechsel von Wilhelm III. (von Oranien) zu Queen Anne von 1702 (vgl. 227 u. 231). Es folgt ein Reise- und Liebesroman, der sich im dritten Buch zu einer politischen Intrige und zu nichts Geringerem als einem versuchten Staatsstreich verdichtet. Esmond nimmt an vielen militärischen Expeditionen teil, insbesondere am spanischen Erbfolgekrieg (1701-1713 aus englischer Sicht). Schließlich findet 1714 der Roman seinen historisch-fiktional differenzierten Fokus, eine Zuspitzung, die (man vergleiche etwa Redgauntlet, 1824, oben Kap. 3.1) noch über Walter Scott hinausgeht. Esmond fördert aktiv, ja führend, eine Verschwörung zugunsten einer Stuart-Nachfolge, schafft vor <?page no="91"?> allem incognito den Prinzen James Edward, den sogenannten „Old Pretender“, nach London. (Dafür gibt es keine historischen Belege.) Der als aussichtsreich dargestellte Staatsstreich scheitert, weil der Prinz am entscheidenden Tag aufs Land geritten ist, um Esmonds Angebetete zu verführen. Esmond sagt sich aus persönlichen, moralischen wie politischen Gründen von den Stuarts los, entsagt auch seinem geheimen Recht auf den Adelstitel, heiratet seine mütterliche Liebe, Lady Castlewood, und emigriert nach Virginia, wo er als wohlhabender, angesehener Großgrundbesitzer etwa um 1740 seine Memoiren schreibt, die, so die Romanfiktion, 1778, also mitten im Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Staaten, von seiner Tochter herausgegeben werden (so dass in der Tat die scheinbar „ahistorical domestic arena“, in die der schreibende Esmond sich zurückziehen wollte, „violently [in] both history and politics“ eingezeichnet wird, Burstein 2004, 150 u. 153). Den größten Teil seines Lebens und erst recht als dessen Erzähler ist Esmond ein moralisch integrer, distanzierter Beobachter, who „has taken truth for his motto“ (113). Er erfüllt diese Aufgabe schon als Kind mit vollem Bewusstsein. Aber diese Kommentarfunktion geht, wie später bei den Protagonisten in Fontanes Vor dem Sturm (1878, vgl. unten Kap. 3.7), noch über dieses persönliche Bewusstsein der „Verantwortung des Einzelnen im Bereich von Gesellschaftsmoral und politischer Ethik“ (Eberhardt 1975, 54) hinaus. So wie Manzoni eine konventionelle, betont literarische „Prüfungsgeschichte“ über die Historie „gelegt“ hat, einer ablösbaren Folie oder Druckplatte vergleichbar, so hat Thackeray einen geradezu idealtypischen „autobiographischen Entwicklungsroman“, eine Leitgattung des europäischen Realismus (vgl. Verf. 1994, 9 ff. und 265 ff.), in die Historie hineingeschrieben. Vor allem im ersten und dritten Buch gewinnt dies eine Intensität psychologisch-moralistischer Differenzierung, die auch ohne die historischen Bezüge interessant bliebe. Man denke hier vor allem an die Kindheit Esmonds mit ihrem Wechsel von Enthusiasmus und Zweifel, Geborgenheit und Außenseitertum usw., an das Thema der Waisen, den Topos des „einsam lesenden Kindes“, frühe Erfahrungen völliger Abhängigkeit, die sich in spätere Spaltungen bei der Partnerwahl fortsetzen, oder an die so bezeichnende Wende in der kindlichen vita: „Who was he, and what? Why here rather than elsewhere? “ (105). Was Esmond in der Nacht vor der Ankunft des neuen „Lord“ durch den Kopf geht, das hätten auch David Copperfield am Abend nach seiner Flucht in Dover, Jane Eyre im „red room“ oder Jude Fawley (in Hardys Jude the Obscure, 1895) sagen können. Wie sie muss sich letztlich Esmond - er nimmt eine viel problematischere Entwicklung und Sozialisation als der stärker autobiographische Held bzw. Nicht-Held („A novel without a hero“, so der Untertitel) in Thackerays Roman Pendennis (1849), demgegenüber allerdings der historisch distanzierte Esmond viel mehr Idealisierungen aufweist - er muss sich wie der grüne Heinrich oder die Helden des späten Raabe und letztlich auch der Protagonist Marcel Prousts in seiner Erinnerung und seinem Erzählen definieren und behaupten (so dass der Henry Esmond durchaus zu den William M. Thackeray: The History of Henry Esmond 83 <?page no="92"?> 84 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts Verläufern neuerer „metahistoriographischer […] kultureller Erinnerung und historischer Sinnstiftung“ gehört, Nünning 1995, 1.345/ 348, vgl. auch 2.253 ff.: „Vergangenheit als Fiktion der Gegenwart“). Esmond ist für Thackeray und den historischen Roman ein Held zum perspektivisch-kritischen Experimentieren. Gerade das vertiefte Eigeninteresse seiner vita befördert in immer neuer spannungsreicher Differenz von Fiktion und Historie einen moralistischen Dialog zwischen privaten, fiktional aufgebauten und historisch rekonstruierten Motivationen. Das gilt etwa für das Thema der Familie. Esmond ist tief betroffen von der wachsenden Kälte zwischen seinen Pflegeeltern, Lord und Lady Castlewood, zumal diese ihn seit langem liebt. Der Leser kann das bereits seit dem 11. Kapitel des ersten Buches, also nach dem ersten Viertel des Romans, erraten, spätestens seit der Wende zum zweiten Buch (vgl. das „Zeichen“, 207 u. 513), und dann immer deutlicher wissen. Der erlebende Esmond merkt bis zuletzt nichts, obwohl andere ihn darauf hinweisen, sieht immer nur mütterliche Fürsorge und Aufopferung. Aber der erzählende Esmond, und durch ihn hindurch Thackeray selbst, der sich damit einen Wunschtraum erfüllt (den einer mütterlichen Geliebten), setzen eben die ,Signale‘, arrangieren die Szenerie usw. (etwa durch Thomas Castlewoods frühe Eifersucht - „My Lord looked at Harry hard“, 161 - oder durch Rachels ,wilde‘ Reden, Blicke, Bewegungen). So ergeben sich andererseits diachronisch relevante Beobachtungen, z. B. zum Übergang des adeligen „Hauses“ zur bürgerlichen Kleinfamilie, ein ganzer historischer Eheroman wird erzählt, die Physiognomie geistiger weiblicher Emanzipation in der protestantischen Oberschicht, „to think for herself“ (154), „obedience“ auch als „defiance“ (165), wird sichtbar, es fallen Anmerkungen zur wirtschaftlichen Verantwortung und damit Überlegenheit der Frau, zu familiärer und öffentlicher Moral und so fort. Daraus ergeben sich dann wieder zielsichere politische Ausblicke, etwa aus der Parallele zwischen „Hausvater“, „King of the Fireside“, und absolutistischem Souverän, also vor allem zur „tyranny of the French King“ (143), der damals ja immer noch Louis XIV. hieß. Und in diesem Liebesroman mit politisch gesellschaftlicher Bedeutung werden gegenüber Esmonds Verblendung, seiner „fool’s love“, die ihn ja wesentlich zu politischem Ehrgeiz motiviert, immer nicht nur politische, sondern auch private Alternativen bewusst gehalten. Differenzierende Skepsis erwirbt sich Esmond schon früh, und zwar nach Phasen kindlichen und jugendlichen Enthusiasmus’ gegenüber religiös-konfessionellen Kontroversen und unbedingter Partei- Loyalität. Die Ironie des Erzählers unterstreicht etwa sehr fein sein lange nicht eingestandenes Schwanken zwischen der Rolle eines „staunch young Jacobite“ (147) und der „dangerous admiration for Oliver Cromwell“ (149). Noch konsequenter kritisch spricht Esmonds Außenseitertum, sein „Bastard“-Trauma, zum historisch tradierten und traditionsbildenden Legitimitätsprinzip („genealogical history is one of the most tenuous fictions of all“, Burstein 2004, 142). Geht die Anerkennung des Geburtsadels noch zusammen <?page no="93"?> mit Esmonds persönlich aus Dankbarkeit und Fürsorge motiviertem Verzicht auf den eigenen Titel, so wendet sich dann doch die Parallele zum angeblichen Gottesgnadentum der Stuarts und dessen immer vehementere Verurteilung gegen das ganze System. Wenn am Romanende der handelnde Esmond seine persönlichen Legitimierungen verbrennt und zugleich den Stuarts den Dienst aufsagt (er zerbricht seinen Degen), dann bleibt das implizite Urteil eben noch ganz persönlich motiviert und begrenzt; der erlebende Esmond in England um 1714 negiert nur die Anwendung des Gesetzes auf seinen Einzelfall: Er handelt auch im ,Aufsagen des Dienstes‘ also durchaus noch adelig. Aber der erzählende und reflektierende Esmond, „on a foreign soil and in a land that is independent in all but the name“ und dreißig Jahre später, spricht die allgemeine System-Kritik ganz deutlich aus: Will we of the New World submit much longer, even nominally, to this ancient British superstition? There are signs of the times which make me think that ere long we shall care as little about King George here, and peers temporal and peers spiritual, as we do for King Canute or the Druids. (418) Macht nicht gerade der Irrtum in dieser „Prophetie“ sie historisch authentisch? Und das Vorwort des Romans, am Anfang des Diskurses, aber am Ende der Geschichte, enthält ein Plädoyer gegen jede „heroic“ und an Herrschern orientierte Geschichte: „Why shall History go on kneeling to the end of time? I am for having her rise up off her knees, and take a natural posture.“ (46), wobei „natürlich“ im Sinne des 18. Jahrhunderts, selbst das scheint Thackeray fein differenziert zu haben, „rational“, „kritisch“, „menschlich allgemein“ heißt. Bis es dazu kommt, durchlaufen erlebender wie erzählender Esmond einen in viele einzelne Erfahrungs- und Reflexionsschritte differenzierten Zirkel, in dem sich private und allgemein-historische Motivationen und singularisierendes wie allgemeines historisches Urteil immer neu und je anders durchdringen. Je mehr Esmond beispielsweise politisch Partei nimmt und aktiv historisch handelt, um so klarer wird es ihm, dass er - Lord Castlewood wurde wiederholt mit der Bekanntgabe des wahren Erben politisch erpresst - für „the King’s service“ (374) um seine Stellung in der Gesellschaft betrogen worden war. Seine frühe Aufmerksamkeit für den Herzog von Bervick, den illegitimen Halbbruder des „Old Pretender“ (vgl. 129 u. 386), die sich zum Urteil verdichtet, dies sei, Erbrecht hin oder her, „the better king“ (448 ff.), dieses ganze politisch-moralische Urteil wird durch die Analogie in beider Schicksalen als persönliche Aussage relativiert, als Argument, sofern Esmond ja legitimerweise ein Marquis wäre, aber im Grunde verallgemeinert. Eine vergleichbare Motivierung, Relativierung und dann doch Verallgemeinerung erfährt Esmonds Urteil über den Duke of Marlborough; er sieht William M. Thackeray: The History of Henry Esmond 85 <?page no="94"?> 86 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts ihn äußerst kritisch, als „daring“ und „mean“ zugleich (278), als jemanden, „who had betrayed every friend he had, to further his own schemes of avarice or ambition“ (329), als einen General, der um seines persönlichen Ansehens willen ein „dreadful slaughter“ unter seinen eigenen Soldaten zulässt (361), sogar als einen Politiker, der vielleicht mit gedungenen Mördern arbeitet (433/ 434) und so fort. Aber in genauen narrativen Perspektivierungen, etwa in Esmonds eigenem, „späterem Zusatz“ zu seinen Memoiren („dated 1744“, vgl. 285 f.) sowie als „Fußnote“ eines Enkels, der eine für Esmond beleidigende Anekdote nachträgt (was Marlborough über den „bastard“, seinen „hang-dog look“ und „his rogue of a father“ gesagt hat, 337), mehrfach also werden auch die persönlichen Gründe für solchen „hatred“ (ebd.) beigebracht. Indem Esmond diesen Zusammenhang von Kritik und Motivation, Relativierung und Verallgemeinerung selbst ausführlich reflektiert - We have but to change the point of view, and the greatest action looks mean […]. You may describe, but who can tell whether your sight is clear or not, or your means of information accurate? Had the great man said but a word of kindness to the small one […], no doubt Esmond would have fought for him with pen and sword to the utmost of his might (242) -, durch solche perspektivischen „Konterrelativierungen“, intersubjektive Reduktion der Subjektivität (Iser 1972, 194 ff.), kann der implizite Leser den Zirkel von Motivation und Urteil, persönlicher und nationaler, monumentaler und kritischer Geschichte in seinen genauen Differenzierungen kohärent verfolgen: Das ist Skepsis ,in actu‘. Erst recht gilt dies für Esmonds Verhältnis zur Stuart-Dynastie selbst. Nicht nur ist sein persönliches Schicksal, die Alteritäts-Geschichte zur belegten Historie, wie gesagt, im Ganzen völlig von deren Interesse geprägt: vom Erbbetrug aus Gründen der Jakobiter-Intrige am Anfang über die immer konsequentere, immer riskantere Parteinahme bis zur persönlichen Kränkung durch den Prinzen am Ende des Romans. Genauso deutlich wird auch in Wechselwirkung dazu Esmonds persönlich wie politisch ablehnendes Urteil aufgebaut. Insbesondere ist es stets klar, dass er den Staatsstreich allein aus Liebesblindheit und persönlichem Ehrgeiz unternimmt (das Dilemma Waverley’s wird also radikalisiert, dessen Entwicklung dramatisch verdichtet, vgl. oben Kap. 2.2), während er Sinn und Erfolg des Unternehmens äußerst skeptisch beurteilt, mit „forebodings“ und „sceptical doubts“ (448), und er letztlich wider besseres Wissen handelt: „What cared he, in his heart, who was king? Were not his very sympathies and secret convictions on the other side - on the side of People, Parliament, Freedom? “ (469) Das Scheitern des Unternehmens wegen erwiesener Unfähigkeit des „Pretenders“, abgesehen davon, dass es sehr dramatisch in Szene gesetzt wird, wirkt dann letztlich nur als Bestätigung <?page no="95"?> dieser immer negativeren Verflechtung und immer kritischeren Urteilsdistanz. Man muss als Leser beispielsweise die diskursiv frühe (im ersten Drittel), in der Handlung späte (um 1740) retrospektive Diatribe des erzählenden Esmond („Ours ist the most loyal people in the world surely; we admire our kings, and are faithful to them long after they have ceased to be true to us.“ usw., 229) und die in der Erzählzeit abschließende, in der erzählten Zeit „mittelfristige“ (1714) Verurteilung des Stuart als „traitor“ und „villein“ (409/ 501) zusammen sehen. So unterstreicht gerade auch das Scheitern des Staatsstreichs die in den narrativen Distanzierungen bereits virtuos ausgespielte Differenz von Fiktion und Historie, die schließlich auch so kunstvoll wie bei Manzoni, Raabe, Döblin oder Faulkner (vgl. unten Kap. 3.3.3.3) „metapoetisch“ reflektiert wird. As characters written with a secret ink come out with the application of fire, and disappear again and leave this paper white, so soon as it is cool; a hundred names of men, high in repute and favouring the Prince’s cause, that were writ in our private lists, would have been visible enough on the great roll of the conspiracy, had it ever been laid open under the sun. (494) Streng genommen ist in diesem Roman ja der Staatsstreich der einzige „Fokus“, an dem die Fiktion historisiert, also zur Synekdoche in der Tradition Walter Scotts ausgearbeitet wird. Die Kriegsereignisse dagegen werden von Thackeray zwar, und im Unterschied zu Scott, genauer genannt, auch in ihrer Grausamkeit und politischen Fragwürdigkeit viel offener kritisiert, aber sie werden doch in von der Haupthandlung abgehobenen Kommentaren abgehandelt, darin eher der Schreibweise Manzonis verwandt; und sehr oft, nun wieder deutlich Scott analog, wird die Historie auch mit Bemerkungen wie „need not be described“, „need scarce be told“, „what Englishman or Frenchman doth not know the issue of that day? “ oder dem abwehrenden Verweis auf „the proper books“ geradezu suspendiert (274, 304, 308). Zuletzt freilich hätte Esmond zum „parahistoric hero“ werden können, zu einem ,misanthropisch skeptischen‘ Ivanhoe, der den Verlauf der Geschichte entscheidend beeinflusst (eine Best-Seller-Tradition, vgl. unten Kap. 5.3.1.2). Aber Esmond handelt nicht historisch, er setzt lediglich ein Zeichen. Er versteht und urteilt. Und was nicht in die Quellen kam, da es zuerst vollkommen geheimgehalten wurde und dann scheiterte, das gibt es für die Historie nicht. Der synekdochisch-historische Fokus wird durchgestrichen. Selten in der Geschichte des historischen Romans (in Walter Scotts Redgauntlet, 1824, oder Mérimées Chronique, 1929, beispielsweise bleibt es viel blasser, in Alfred Anderschs Winterspelt, 1874, ist es bereits ,postmodern‘ konstruiert; vgl. unten Kap. 7.2) findet sich das so konsequent narrativ durchgespielt wie hier. Das hat nun auch eine recht klar metapoetische Dimension, die dem „componimento intrinsicamente contradittorio“ Manzonis, dem Gegensatz William M. Thackeray: The History of Henry Esmond 87 <?page no="96"?> 88 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts von „vérité de l’art“ und „vrai de l’histoire“ de Vignys oder den Wahrheits- Antithesen Arnims (vgl. oben Kap. 2.2 ff.) zur Seite gestellt werden könnte. Thackerays „secret ink“ hinterlässt aus der Sicht des in die Handlung involvierten, selbst fiktiven Esmond nur ein weißes Blatt; und in der Tat steht darauf sein eigener Name. Aber für Autor und Leser ist dieser ,historisch geheime‘, nicht nachweisbare Text eben der der Fiktion, der in genauer Vermittlung und Distanzierung immer wieder bedeutsam in den Diskurs der Historie hineingeschrieben wurde. Die History of Henry Esmond taucht auf in der „History of England“ und verschwindet wieder, wie mit „geheimer Tinte“ geschrieben - je nach dem Interesse und dem Verständnis ihrer Leser. Wenn allerdings die Differenz von Fiktion und Historie so konsequent als „Durchstreichen“, „disappearance“ eines fiktiven Ereignisanspruchs ausgespielt wird, dann transformiert das abschließend die ganze historische Tropik und Argumentationsstruktur (zu den Begriffen vgl. unten Kap. 5.2 u. 5.3.2.2). Nicht nur wird alle Aufmerksamkeit der Leser abschließend noch einmal auf die historische Moralistik gelenkt, die strenggenommen keines Ereignissubstrats bedarf. Es tritt auch die Subjektivität des so Erzählenden und Schreibenden hervor: „Who was he […]? Why here rather than elsewhere? “ (105). Die Synekdoche, dass Esmonds Erlebnisse und Reflexionen für ein Stück englischer Geschichte und kritisch-bedeutsam zu ihm stünden, wandelt sich zur Metonymie des erzählenden Interesses selbst. Die Geschichtsdarstellung, genauer, die sorgfältige, distanzierte Entsprechung privater und politischer Daten - hier noch genauer als bei Blicher, wo sie ja antithetisch zu verstehen war (vgl. oben Kap. 2.4) -, der Dialog von persönlichem Leben und allgemeiner Geschichte erhält vom Romanschluss her die Form einer „offenen Metonymie“, die zur „Iterierung“ auffordert: „partes pro partibus futuris“ - bis in Thackerays eigene Gegenwart hinein. Esmond steht, nicht nur, aber gewiss auch, für die lange noch nicht abgeschlossene Geschichte des Parlamentarismus („were my time to come over again, I would be a Whig“, 417) und Liberalismus in England bis hin zum Republikanismus der Vereinigten Staaten - nicht zufällig werden die fingierten Memoiren 1778, mitten im Unabhängigkeitskrieg, herausgegeben; und Esmond, „republican at heart“ (366), hat diese Loslösung seit langem vorhergesehen. Sicher bildet so auch Thackerays eigener erklärter Liberalismus in der Zeit nach der Parlamentsreform von 1836 einen metonymisch-komplementären Gegenwarts-Fokus zur dargestellten Geschichte, was ihn erneut der französischen Scott-Rezeption, aber etwa auch Fontane verbindet. Dabei kommt es freilich nicht auf ein Aufrechnen von Ereignissen gegeneinander an. Nicht zuletzt der Leser wird ja in diese offenen, iterativen Metonymien einbezogen, was noch einmal zeigt, wie dieser Roman die Traditionen der Innovation von Scott bis zur Postmoderne bündelt. (Die Lektüre des Esmond kann allen am historischen Roman Interessierten nur <?page no="97"?> dringend empfohlen werden.) Eine sehr moderne Tendenz (vgl. unten Kap. 6.2, 7, v. a. 7.3 sowie 8.2) zeigt, wenn ein letztes formales Argument erlaubt ist, gerade auch die eigentümliche Offenheit der pronominalen ersten Person: Nicht nur spricht Esmond von sich sowohl als „Ich“, als auch als „Er“, was vielerlei wechselnde „Erzähldistanz“ (Genette 1994, 115 ff., vgl. unten Kap. 5.3.3.1) erlaubt. Er lässt etwa durchaus auch manchmal die Distanz des „Ich“ gegenüber dem zur Identifikation einladenden „Er“ fallen. Er verwendet auch das „we / wir“ mit sehr wechselndem Bezug. Es kann die Freunde von einst meinen und unter ihnen wieder wechselnde Gruppierungen, aber auch spätere ,Ich-Gruppen‘, z. B. die Amerikaner, die sich früheren Solidarisierungen entgegensetzen. Vor allem aber schließt „wir“, dann rhetorisch gebraucht, eben den Leser mit ein in dieses Spiel von Nähe und Distanz. So formuliert dieses unscheinbare Pronomen nicht nur eine amplificatio, sondern in ihr immer auch eine Vereinzelung: eine kommunikative Metonymie. Der Einzelne spricht über Einzelnes, Historisches und Fiktives, zwar in wechselnder Verallgemeinerung, aber immer doch unter perspektivisch vereinzelten Prämissen und zugewandt seinen Lesern als je einzelnen historischen Individuen. Sie werden in dieses skeptisch kunstvolle Fiktions-Experiment mit Geschichte bewusst einbezogen, aber der Erzähler weist ihnen nicht weniger bewusst eine intellektuelle und emotionale Freiheit zu, die er für sich durchaus auch politisch beansprucht. William Makepeace Thackeray: The history of Henry Esmond. Ed. by John Sutherland and Michael Greenfield. London: Penguin, 1970. Ders.: The history of Henry Esmond. The Thackeray Edition Project. Vol. 1. Ed. by Edgar F. Harden. New York - London 1989. Burstein Elizabeth: Narrating women’s history in Britain. 2004. • Eberhardt: Fontane und Thackeray. 1975. • Iser: Der implizite Leser. 1972. 3.7 Theodor Fontane: Vor dem Sturm (1878) Mit seinen drei historischen Romanen Vor dem Sturm (1878), Schach von Wuthenow (1882) und dem Fragment Die Likedeeler (1882-1895) nimmt Fontane eigentlich alle Formen produktiver Scott-Rezeption und -Innovation im 19. Jahrhundert auf, führt sie eigenwillig fort und über sie hinaus. Denn das Fragment gebliebene Projekt Die Likedeeler könnte durchaus zu den „Alternativen des historischen Romans im 19. Jahrhundert“ gestellt werden (vgl. unten Kap. 4). Die Likedeeler (vgl. Verf. 1999, 494 ff.) erzählen einen Entwurf historischer Alternativen so zukunftsbezogen utopisch wie Victor Hugos Quatrevingt-Treize (1874; vgl. auch unten Kap. 4.3 sowie allgemein Kap. 5.4), aber auch so betont stilistisch differenziert wie, bei völlig gegensätzlichen Inhalten, Adalbert Stifters Witiko (1865-1867) oder Gustave Flauberts Sa- Theodor Fontane: Vor dem Sturm 89 <?page no="98"?> 90 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts lammbô (1863). Schach von Wuthenow dagegen führt die Synekdoche und Metonymie persönlicher und allgemeiner Geschichte (Scott, Stendhal, Thackeray) zu einer über alle Traditionen hinausreichenden historischen Intensität. Und Vor dem Sturm verbindet die im differenzierten Feld der Waverley Novels bereits angelegte Tendenz zum Vielheitsroman (später prägend etwa bei Döblin, Aragon, Kluge, Andersch bis zu Pynchon oder DeLillo), wie sie Balzac - insbesondere in der Kontinuität von Les Chouans (1829) zur Comédie humaine - oder auch Alexis, auf seine Weise auch C. F. Meyer (vgl. unten Kap. 4.4) aufgenommen haben, mit jener Moralistik, die zuletzt an Thackerays Henry Esmond (1852) zu beobachten war. Fontane ist in vergleichender Perspektive ein, vielleicht der Autor (Scott war seine „Leitfigur“, Neuhaus 1996, 198, vgl. 180 ff.), der die kritisch-produktive Scott-Rezeption in Frankreich oder bei Thackeray mit der des intensiven Scott-Lesers Faulkner und dann dessen „Schule“ im Zwanzigsten Jahrhundert, nicht zuletzt in Deutschland (Andersch, Johnson u. a., vgl. unten Kap. 7 sowie Verf. 2003, 231 ff.) kontinuierlich zusammen zu sehen erlaubt. Wie im Henry Esmond, und überhaupt im Europäischen Gesellschafts- und Zeit-Roman (Fontane kannte und schätzte Thackerays Vanity Fair, 1847, das in der Tat viel von Vor dem Sturm vorwegnimmt, v. a. die „kaleidoskopartige und per se antidogmatische Meinungsvielfalt“, Eberhardt, 1975, 178) steht auch in Vor dem Sturm die Frage nach gesellschaftlich wirksamen Werten, nach Verhaltenskonventionen und deren Konflikten im Mittelpunkt historisch-narrativen Interesses: Wie kann man sich moralisch integer in seiner jeweiligen, historischen Gesellschaft behaupten? Welche Perspektiven bietet die gesellschaftlich verfasste Geschichte zur Besserung der persönlichen, mitmenschlichen wie der allgemeinen, im wörtlichen Sinne politischen, gemeinschaft-bildenden Moral? Solchen Fragen ist hier die kritische Zuspitzung der (doppelten) Geschichts-Synekdoche in der Tradition Walter Scotts unterstellt (vgl. oben Kap. 2.2, 3.1 u. unten Kap. 5.3.1.2). Der Überfall preußischer Freischärler auf Frankfurt an der Oder im Winter 1812 und dessen Misslingen, der einzige, seinem Modus der Behauptung nach (vgl. unten Kap. 5.2) historische Fokus direkter Handlung in Vor dem Sturm (1878), ist nicht nur ein sehr „enges“, in seiner historischen Relevanz fast nebensächliches Ereignis, noch dazu ein von Fontane erfundenes (vgl. 363 und 729), es dient hier vor allem, ja fast ausschließlich als eine historisch moralistische Sonde: Gerade indem zunächst nur eine Niederlage angesprochen wird, fragt man sich: „Was ist das ,totum‘ dieses ‚Teils‘? Wofür steht das Ereignis? “ Das Argument ist nur als eine rückfragende Problematisierung der Motive denkbar: „Was führte in die Niederlage? Was ließ die daran Beteiligten so handeln? “ Diese Frage wird kritisch, geradezu bohrend gestellt. Ihr antwortet der Vielheitsroman. Und erst dieser als ganzer, alles das, das vielerlei Verschiedene, was „vor dem Sturm“, also „vor dem Krieg“ die Personen bewegte, <?page no="99"?> erlaubt es dann, Folgerungen für die Situation „während“ und vor allem „nach dem Sturm“ zu ziehen, also die zweite, weitergehende Synekdoche zu erfassen. Die historische „Frage nach den verläßlichen Grundlagen des öffentlichen politischen Handelns im Augenblick der Führungskrise“ wird pars pro toto zur Frage nach dem „riskanten Lebensprinzip geschichtlicher Erneuerung“ (Aust 2007, 86/ 87). Es ergibt sich ein kritischer Blick auf Geschichte und Mentalität Preußens seitdem, nicht zuletzt auf deren noch offene Perspektiven. Man kann an Scott, Manzoni, noch mehr Thackeray anknüpfen (die „Forderung nach erhöhter Verantwortung des Einzelnen“ gegenüber jeder „Gesellschaftsmoral“, Eberhardt 1975, 54), wenn man das relative Eigengewicht des Entwicklungs-, Liebesund, wenn auch blassen, Bildungsromans gegenüber der Historie bedenkt. Genannt seien etwa die literarische Erziehung, die Teilautobiographie, der Weg durch Bedeutungs-Räume hindurch („Schwellenpunkte“ der Grenzüberschreitungen als Orte „der Persönlichkeitsentwicklung“, so dass „tatsächlich so etwas wie Wahrheit“ entsteht, Stroop 2008, 103 u. 112) und durch mehrere Schichten der Gesellschaft, der „Abstieg“ bis ins Gefängnis (wie in Waverley, Old Mortality, Rob Roy, Redgauntlet und eben auch Henry Esmond), das Auftreten von Mentoren (jetzt also mehr an die Tradition des Wilhelm Meister erinnernd), der Doppelgänger bzw. Stellvertreter (Tubal), die weiblichen Paradigmen der Humanität (Marie, Renate) und der „regulativ“ (vgl. Verf. 1994, 468 ff., die Zweckmäßigkeit des Ganzen geht über den Zweck des Helden hinaus) offene Schluss. Das Leben des Lewin von Vitzewitz, soweit wir es kennenlernen, bildet wie in der ganzen Scott-Nachfolge einen Kommentar zur Geschichte - längst nicht so deutlich kritisch distanziert wie bei Thackeray, schon gar nicht offen kontrovers wie in der französischen Scott-Rezeption, aber auch nicht mehr „versöhnend“, „vermittelnd“ im Sinne des „mittleren“ Helden wie bei Waverley und seinen anglo-schottischen Brüdern, schon gar nicht so integrierend und überhöhend wie im Fall des untadeligen Walter von Asten bei Alexis (aus Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, 1852, der in Isegrimm,1854, erneut auftritt). Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was die völlig unstandesgemäße Heirat - sie wird ja geradezu mit der französischen Revolution zusammengesehen (vgl. 706) -, die literarischen Interessen, „gründlicher und ernsthafter als es sich mit dem Edelmännischen verträgt“ (331), der progressive Geist und die liberale Urbanität für einen preußischen Landjunker nach 1814 gesellschaftlich wohl bedeutet hätten. Interessant ist, dass es wie bei Scott (die „dark heroes“), aber eben auch bei Arnim oder de Vigny in Vor dem Sturm auch einen scheiternden, negativen, jedenfalls einen problematischen Helden gibt. Und sein Fehlverhalten ist sehr genau historisch motiviert. (Ein früherer Entwurf wäre noch „historischer angelegt“ gewesen, Grawe 2002, 239, vgl. ebd. ff.). Im Grunde führt Theodor Fontane: Vor dem Sturm 91 <?page no="100"?> 92 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts die Entwicklung des Berndt von Vitzewitz von einem „Geschichtstrauma“ (der Niederlage Preußens 1806 und, indirekt durch einen Besatzungsoffizier verursacht, dem Tod seiner Frau) zu einem anderen, eben im Roman erzählten traumatischen Ereignis, wenn er vorschnell aus persönlichem Ressentiment und nicht „realistisch“ genug (man vergleiche den Rat des Berufssoldaten von Hirschfeld, 586, und Berndts spätere Einsicht, 648/ 649) die unnötige und auch verlustreiche Guerilla-Aktion vorantreibt. Wenn so der negative, zumindest problematische Held den historischen Fokus prägt, der Bildungsheld aber sich aus der Geschichte hinaus entwickelt - eine gegenüber Scott (man denkt etwa an Waverley, 1814 und noch deutlicher an Redgauntlet, 1824) radikal veränderte Situation -, dann wächst ganz konsequent die Bedeutung des „Vielheitsromans“. Was im 20. Jahrhundert dominieren wird (sehr gut vergleichbar etwa bei Aragon La semaine sainte, 1958, vgl. unten Kap. 6.3), wird hier vorbereitet. Und wesentlich genauer, auch feiner als bei Scott und seinen Nachfolgern - ein „historischer Realismus, der soziale Bewusstseinslagen und Diskurse kritisch ausstellt, indem er sie als Stimmenvielfalt modelliert“ (Mecklenburg 1998, 140; man müsste hinzusetzen „Wertevielfalt“, vgl. unten Kap. 5.3) - sind die Nebengestalten hier historisch-gesellschaftlich ebenso wie moralisch verortet: ein Feld sich ergänzender, aber auch alternativer Verhaltensmöglichkeiten zur Geschichte. Dem Vertreter eines „Freiheits-Idealismus“, der sich über ständische Vorurteile ebenso hinwegsetzt wie über reale, historische Bedingtheiten und der auf authentische Weise tragisch endet (Othegraven), steht nicht weniger authentisch der Skeptiker Turgany gegenüber, den sein ausgeprägtes Interesse an Geschichte, vor allem an den Wenden (heute würde man von „praekolonialer“ Zeit und „ethnischen Minoritäten“ reden), also sein Verständnis für Alternativen gelehrt hat, dass Patriotismus kein Argument ist; und er steht wieder im ausgesprochenen Gegensatz zum archäologischen „Tendenz-Sammler“ (86), also auch voreingenommenen Tendenz-Historiker, dem Pastor. Steht dieser in der Nachfolge von Scotts Antiquary (1816), den Fontane gut kannte (vgl. Neuhaus 1996, 193 sowie 180 ff.)? Und bezeichnend ist, dass die „Kritik“ an dessen „chauvinistischem Germanenkult […] nicht zur Handlungszeit, aber bei Erscheinen“ von Vor dem Sturm richtig „virulent“ wurde (Grawe 2002, 238). Interessant sind die literarisierenden Doppelgänger und Kontrastgestalten Lewins: Der sensible, passive Tubal ist sein tragischer Stellvertreter. Dem Schöngeist und Anempfinder, der für die Realität keine Konsequenzen aus seinem ästhetischen Enthusiasmus zieht (Faulstich), steht der fast plebejisch-bürgerliche Hansen-Grell gegenüber, teilweise wohl auch ein wenig, und ein wenig ironisch, ein Selbstporträt Fontanes (er „hatte das Tütenprinzip“, 483, und dichtet Balladen): Ist er vielleicht ein realistischer Autor in futuro, vielleicht sogar in seinem Engagement ohne persönlichen Vorteil (er fällt als einfacher Soldat), die „Leerstelle“ eines „preußisch-literarischen citoyen“? Die kompetenten Berufsoffiziere (Meerheim, Hirschfeld, die ganz anders gesehen werden als die späteren dekadenten Rienäcker aus Irrungen, Wirrungen, 1888, erst recht St. Arnaud aus Cécile, 1887, und deren „Bruder“ ist dann auch Schach) und ihr nüchternes Geschichtsbild stehen im Kontrast zu <?page no="101"?> Berndt von Vitzewitz und seinem Kreis; der polnische Weltmann und Preußen-Kritiker Wronski wird als eine Alternative vorgestellt, die Achtung verdient; sehr differenziert führt Fontane die vielerlei weiblichen Lebensentwürfe ein, dann die der kleinen Leute bis hin zu Existenzen am Rande der dörflichen Gesellschaft (wie Hanne Bogun, Hoppenmarieken) und so weiter. Und zu all dem nun ihrerseits in Kontrast steht die „hypothetische Mythisierung“ (vgl. unten Kap. 4), also derjenige Diskurs, in dessen Mittelpunkt die Gestalt der Marie steht. Sie hat insofern etwas betont Antihistorisches, als sie erzählerisch abgehoben präsentiert wird. Der Winter wird Sommer, wenn sie auftritt, sie „lebt“ in der Erzählerrede, „spricht“ fast nur in ihren Symbolen, ihr Zerrbild Hoppenmarieken verstärkt indirekt ihre Idealität, und sie durchbricht deutlich auch das gesellschaftliche Feld der Konventionen und Werte: außerständisch, das Kind eines fahrenden Artisten, zugleich eine „Prinzessin“ aus dem Märchen, völlig passiv und erst so überhaupt begreifbar („Sie sah in die Welt wie in einen Traum und schritt selber traumhaft darin umher“, „die Predigt von einer letzten Gleichheit aller irdischen Dinge sprach das aus, was dunkel in ihr lebte“, „innerhalb einer Welt des Scheins war ein Menschenherz erblüht, über das die Lüge nie Macht gewonnen hatte“, 82), ein verblasstes, aber noch erkennbares romantisches Wunschbild, auf alle Fälle Symbol für etwas von der Geschichte noch nicht Eingelöstes. Das Märchenhafte, das diese Gestalt umgibt, läuft dann nicht neben der Historie her wie in Guy Mannering (1815) oder öffnet allenfalls und auch nur in retrospektiver Interpretation, eine Leerstelle an Sinn wie in The Heart of Midlothian (1818), „verleiht“ aber andererseits nicht einfach „der Geschichte Leben und Zukunft“ (Potthast 2007, 331), sondern es erhält, vergleichbar den noch expliziteren Märchenmotiven in Dickens, A Tale of two Cities (1859) - was ist das für eine Geschichte, der nur noch ein Märchen Sinn verleiht? - etwas Utopisches. Vor dem Sturm ist ein „poly-synekdochischer“ Geschichtsroman. Die Bedeutsamkeit der Niederlage „vor“ dem sogenannten Sieg stellt dessen einfache Sinnevidenz grundsätzlich in Frage. Die Führungsqualität des Adels, aber auch das „Volksempfinden“, erst recht jeder Hurra-Patriotismus, werden sehr konsequent kritisch zur Disposition gestellt. „Preußisches Ethos“ wird „kritisch befragt“ (Grawe 2000, 490). Und am konsequentesten argumentiert auch im historisch-politischen Sinn die Erzählform. (Von einer „geschlossenen Form“, die lediglich „mit ironischer Distanz betrachtet“ wird, Potthast 2007, 333, kann ernsthaft keine Rede sein; es kommt darauf an, die offene Dynamik der „Bewußtseinsveränderungen“ zu verstehen, die in Vor dem Sturm „geschrieben werden“, Berbig 2007, 173, und die deren Wirkungsästhetik auslösen will). Wenn sie ein solches Feld von Relativierungen entwirft, eine Konfiguration von Alternativen gesellschaftlichen und politischen Handelns, manches davon seitdem geschichtsrelevant, anderes, vor allem der „Bildungsroman“ und das „Märchen“, aber auch als Verkörperung von Hoffnungen interpretierbar, die in der Geschichte (noch) nicht erfüllt wurden, - gerade als tendenzieller „historischer Vielheitsroman“ (Aust 1995, 106) entwirft Vor dem Sturm im Grunde ein liberales Geschichtsbild, das viel Theodor Fontane: Vor dem Sturm 93 <?page no="102"?> 94 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts konsequenter als Scotts „fiction against history“ eine Forderung gegen die preußische Geschichte erhebt. Die allgemeinere freilich, oder relativ spätere, oder für Fontane zeitgenössische Relevanz dieses Geschichtsbildes bleibt genauso offen (Aust 1998, 45, spricht von „brisanter Gegenstimmigkeit“) - für Scott, massiv für Alexis haben angedeutete spätere Zeiten die Forderungen der dargestellten früheren bereits eingelöst -, wie das erzählte Humanum sich gegen die bloße Ereignisfolge stellt - am Schluss steht nur noch die Erinnerung an „Grabsteine“ vor „niedersteigender Sonne“ (712) - und wie die Pluralität historischer Moralistik jedem selbstevidenten Geschichtssinn widerspricht. Theodor Fontane: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Dritter Band. Vor dem Sturm. Hg. von Walter Keitel und Helmut Nürnberger. Darmstadt 2 1971. Aust: Theodor Fontane. 1998. • Aust: Zur Modernität des vaterländischen Romans bei Fontane. 2007. • Berbig: Mediale Textprozesse. 2007. • Eberhardt: Fontane und Thackeray. 1975. • Grawe: Der Zauber steckt immer im Detail. 2002. • Grawe: Preußen 1803 bis 1813 im „vaterländischen Roman“. 1990. • Grawe / Nürnberger: Fontane-Handbuch. 2000. • Mecklenburg: Theodor Fontane. 1998. • Neuhaus: Freiheit, Ungleichheit, Selbstsucht? 1996. • Shoop: Raum und Erzählen in „Vor dem Sturm“. 2008. 3.8 Theodor Fontane: Schach von Wuthenow (1882) Nur vier Jahre nach Vor dem Sturm (1878) erschien Schach von Wuthenow. „Der vaterländische Roman“, auch wenn dieses Vaterland für Fontane ethisch-moralisch noch zu finden war, „ist in sein Gegenteil, in die Anklage gegen das Vaterland umgeschlagen“ (Grawe 1990, 176). Und gerade darin stellt dieser novellistische Roman noch einmal eine erheblich gesteigerte und verfeinerte Differenzierung der kritischen Walter Scott-Rezeption dar. Man kann ganz anschaulich verfolgen, wie Scotts (synekdochisches) Erzählmodell - Historie als „Schiff am Horizont“ - kunstvoll und konsequent zu einem Fokus „hinter dem Horizont“ gedehnt wird, der Niederlage Preußens gegen Napoleon von 1806. Das zeigen auch solche zeitweilig von Fontane erwogene alternative Titel wie Vor Jena, Vor dem Niedergang (Fall, Sturz) ebenso wie der Untertitel Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes; denn dieser Verband Gardekürassiere nach dem Vorbild französischer Adels-Regimenter (z. B. der berühmten Musketiere) wurde 1806 kampflos gefangengenommen, dann gedemütigt und dann nicht mehr aufgestellt (vgl. 961-963). Vor diesem Hintergrund ist es auch bezeichnend, dass Fontane die faktische Begebenheit aus der „Berliner chronique scandaleuse“ um einen Herrn von Schack und ein Fräulein von Crayen um elf Jahre vorverlegt hat (vgl. 952 f. oder Guenther 1981, 181 ff. und 197 ff.): Rittmeister von Schach verehrt sowohl die schöne Frau von Carayon als auch deren feine, geistvolle, aber von Pockennarben entstellte Tochter Victoire. Vor einem sehr genau skizzierten historischen Hintergrund, <?page no="103"?> insbesondere vielen Hinweisen und Gesprächen zur politisch-militärischen Situation Preußens, geschieht lange Zeit fast nichts. Nach einer Soirée beim Prinzen Louis Ferdinand (1772-1806, Neffe Friedrichs II.), in der dieser auch über die „hässliche Schönheit“ („la beauté du diable“) plaudert, kommt es zu einer, freilich äußerst diskret dargestellten, intimen Begegnung zwischen Schach und Victoire. Als Victoire ein Kind erwartet, willigt Schach zunächst in eine Ehe ein; dann erscheinen Karikaturen, die seine Situation zwischen zwei Damen verspotten, er flieht aufs Land, Frau von Carayon geht zum König (Friedrich Wilhelm III., 1797-1840), der befiehlt Schach die Heirat; auch die Königin Luise rät dazu; die Trauung findet statt, ein Empfang schließt sich an, doch gleich danach schießt sich Schach eine Kugel in den Kopf. Man sieht, wie die Synekdoche hier auf produktive, Bedeutungen erzeugende Weise „gedehnt“, die Auflösung kunstvoll hinausgeschoben wird. (Meines Wissens geschieht dies ähnlich kunstvoll nur noch in Louis Aragons La semaine sainte,1958, vgl. unten Kap. 6.3, sowie in Jurek Beckers Jakob der Lügner, 1969, und wiederholt sehr deutlich bei Uwe Johnson, vgl. unten Kap. 7, v. a. 7.3; in Jahrestage, 1970-1983, wird Schach von Wuthenow geradezu als Modell genannt, vgl. 169 ff., wobei Johnson Fontane mit an Faulkner geschulten Augen gelesen haben könnte, vgl. Verf. 2003, 231 ff.). Zunächst scheint die private Anekdote, die entschieden fiktional vermittelt wird, der Historie ja fast indifferent, in „Alterität“, der zeitenthobenen, moralischen Prüfungsgeschichte bei Manzoni vergleichbar (vgl. oben Kap. 2.4), gegenüberbzw. entgegenzustehen: Was hat die Verzweiflung über eine pockennarbige Frau mit der Geschichte Preußens zu tun? Der Satz, der am Ende fällt: „Wir werden an derselben Welt des Scheins zugrunde gehn, an der Schach zugrunde gegangen ist“ (680), ist ein Schlüssel, aber auch lediglich ein Hinweis. Man muss prüfen, was „Schein“ hier bedeutet, bis in Feinheiten hinein, das heißt, man kann die Fiktion des Privaten und die allgemeine Historie im Grunde nur metaphorisch („totum pro toto“) befragen. Und das hat eigentümliche Konsequenzen. Es ist durchaus bedeutsam, dass Schachs Name an ein Spiel erinnert. Wie in Balzacs Les Chouans (vgl. oben Kap. 3.4) geht die Theatermetapher in die des Spiels über. Aber während dort die Gestalten innerlich ihrer Rolle und ihrem „Spielwert“ frei gegenüber standen und gerade darin ihr Risiko fast zu genießen vermochten, findet Schach, „Schachfigur im Untergangsspiel“ (Aust 1999, 91), aus seiner Rolle nicht mehr heraus, und das bis zu seinem finalen Selbstbetrug. Dann ist sein Charakter endgültig hinter der Figur, zu der er sich stilisiert hat, nicht mehr zu erkennen. Aber auch die meisten um ihn her leben in einer „Welt des Scheins“. Frau von Carayon ebenso wie der König verlangen vor allem eine Erfüllung der Form: „Remedur“ (666) ist ein Wort aus dem Kartenspiel, „carte blanche“ (633) kann alles und nichts wert sein. Das Luther-Drama (von Zacharias Werner), von dem so viel die Rede Theodor Fontane: Schach von Wuthenow 95 <?page no="104"?> 96 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts ist, und die Schlittenfahrt, sein Zerrbild, stellen Scheinwerte einem Scheinprotest gegenüber: Es ist nur konsequent, dass Victoire gerade daran verzweifelt. Und Schach selbst, der Victoire als Frau ja nicht abstoßend fand, erträgt lediglich das Bild nicht, das „man“ sich von ihnen machen wird („Est-elle riche? Sans doute“/ „Ist sie reich? Zweifellos.“, 647). Bis in sein Denken, bis in die Logik seiner Argumentation hinein, reicht dieser Selbstbetrug, aus dem er, wie wenig später die Welt um ihn, nicht mehr herausfindet. Bei seiner ersten Argumentation gegen von Bülow geht Schach von dem (allgemeinen, fast „topischen“) Satz aus (zur Theorie der Argumentation vgl. etwa Ueding / Steinbrink 1986, 246 ff.): „Der Staat Friedrichs des Großen muss sich wieder auf sich selbst besinnen“, wir brauchen „ein starkes und selbständiges Preußen“. Er prüft (als „res dubia“) den Vertrag mit Frankreich, den der preußische Außenminister Graf Haugwitz abgeschlossen hat (vom 15. Februar 1806), und fragt, als Folgerung eine Negation implizierend: „ist das, was uns Graf Haugwitz heimgebracht hat […] ist das ein starkes und selbständiges Preußen? “ (560) Nicht nur kann er „Zeichen“ (den Vertrag) und „Sache“ (Preußens politisch-militärisches Gewicht) nicht auseinanderhalten, er verändert nachträglich auch seine Prämisse: Denn „Stärke“ kann jetzt nur noch „Stärke der Selbstdarstellung“, ja „Anschein von Stärke“ bedeuten. Preußens „Stärke“ ist für ihn überhaupt nicht mehr zu unterscheiden von einer gelungenen Parade, so wie Schach, freilich aus der Sicht einer anderen Person, nur „ein blauer Rock mit einem roten Kragen“ ist (655). Man sieht, wie genau Fontane Schachs Selbstmord als Metapher für Preußens Niederlage gelesen haben will. Das bedeutet für den Leser, ganz im Gegensatz zum diskursiven Vielheitsroman Vor dem Sturm mit seinen allenfalls hypothetischen Alternativen, eine Aufforderung zu kreativer Lektüre und zu deren neuerlicher kritischer Konzentration zugleich. Es ist, als habe das Argumentationspotential der Synekdoche sich erschöpft (zu diesen gerade für Schach von Wuthenow sehr fruchtbaren „meta-historischen Tropen“, vgl. z. B. White 1986, 7 ff. sowie unten Kap. 5.3.1.2; selten kann man den für den historischen Roman charakteristischen Prozess ihrer Dynamisierung so genau und intensiv verfolgen). Denn diese „Welt des Scheins“ ist nicht einmal konfliktfähig. Bülow behält immer recht, aber erreicht nichts, Schach, „einer unserer Besten“ (572), wird völlig haltlos, ja, er weiß das auch, etwa wenn er sagt: „Der Prinz nimmt keine Rücksicht auf den Schein. Was vielleicht das allerschlimmste ist“ (615), ohne es zu begreifen. Gerade das Lachen - auch für Fontane, z. B. in Der Stechlin (1897), eine der Formen, mit dem Nichts umzugehen - zerstört ihn. Was die Synekdoche des Walter Scott-Romans und die oben analysierte Argumentation Schachs verbindet, ist die Schwäche der Symptomatik. Das „deduktive“ Argument (natürlich grob vereinfacht) in Waverley lautete: „Die Rebellion von 1745 betraf England und Schottland“, „Waverley wechselt <?page no="105"?> zweimal die Seiten“, „seine im ganzen glücklichen Schicksale repräsentieren die englisch-schottische Geschichte“. Der Leser kann und darf dem einfach folgen. (Es greift also, so richtig es bleibt, zu kurz, Scott und Fontane im Sinne von „Verständnis und Toleranz“ und einer „Politik des Ausgleichs“ lediglich zu verbinden, Neuhaus 1996, 237.) In der Metapher in Schach von Wuthenow dagegen muss die Prämisse im Sinne einer fragenden, exemplarischen Argumentation erst noch gefunden werden: „Es geht um die preußische Niederlage“ (das ist ein Resultat), „ein Offizier kann Spott nicht überleben“ (ein exemplarischer Einzelfall), „was haben beide gemeinsam“? Entleerte Rituale anstelle realer Kompetenz? Ichbzw. Führungsschwäche? Veraltete Verhaltensformen, erstarrte gesellschaftliche Strukturen usw.? Was „Welt des Scheins“ genannt wird, steht für alles, „totum pro toto“; „die Lüge, die Schach und Preußen leben, ist dieselbe“ (Grawe 2000, 544); man kann und muss immer weiter fragen, in den Roman wie in die Geschichte hinein. So entdeckt man beispielsweise eine ganz neue Form intensiv auserzählter „Zeitaporie“ (Ricœur 1988, 1.15 ff.; vgl. auch unten Kap. 5.4): Schach, Frau von Carayon, „der alte Köckritz“, der König, erst recht die ganze Armee sind hinter ihrer Zeit zurück. Und je weniger sie es merken, um so dichter und drückender wird die Qualität dieser Aporie für den Leser, der die Historie „hinter dem Horizont“ schon kennt. (Wenn Schach beispielsweise aus Wuthenow zurückkehrt, ist die preußische Armee am 8. August 1816 bereits mobilisiert worden. Wie bei Blicher oder Thackeray - und verblüffend genau wieder bei Faulkner, Aragon oder Johnson - ist die historische Chronologie im Hintergrund der fiktiven Handlung genau und bedeutsam rekonstruierbar, vgl. oben Kap. 2.3 und 3.6, unten Kap. 6.2, 6.3 u. 7.3; zum zeitlichen Umfang der Handlung von April bis etwa 20. August als Tag von Hochzeit und Suizid vgl. Guenther 1981, 259 sowie Verf. 2001, 107 ff.). Victoire und von Bülow dagegen sind auf diffuse, ganz wörtlich „ungewisse“ Weise ihrer Zeit voraus. Bülow, ein verbitterter, verhinderter „Weltmann“ und „Aufklärer“, hat nur in seinen Negationen recht, und mit der „Weltmonarchie“ und „Weltkirche“, die er erwartet, entwirft er eine so vage Zukunft, dass er selbst schon wieder weltfremd wird. Der historische von Bülow hätte übrigens, kennt man seine persönliche Geschichte „hinter dem Horizont“ des Erzählten, der Held eines womöglich noch skeptischeren historischen Romans werden können: Als Weltbürger wie als Reformer verhindert, erfolglos und verbittert wurde er wegen seiner Kritik an Österreich und Rußland politisch verfolgt, dann verhaftet und starb 1807 in einem russischen Gefängnis. Fontane wusste das (vgl. 971). Interessant aber ist auch die Gestalt der Victoire. Sofern der Verlust ihrer Schönheit sie gesellschaftlich - sprich, für eine standesgemäße Heirat - nicht akzeptabel macht, bliebe ihr, wofür es viele Hinweise gibt („ich darf alles“, „ich Theodor Fontane: Schach von Wuthenow 97 <?page no="106"?> 98 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts bin ich“, 576, 615), nur eine Emanzipation, die noch über Fontanes eigene Gegenwart hinauswiese, „Fontanes Erzählen ist Victoires Perspektive sehr viel näher als dem Bülowschen Entlarvungsgestus“ (Kaiser 1978, 494). Könnte Victoire sich nicht durch Bildung emanzipieren? Man denke an ihren „esprit“, ihren „Hang zu philosophieren“, daran, dass regelmäßig sie diejenige ist, die „schreibt“, man denke an die Künstlerinnen bei Fontane (die Tripelli aus Effi Briest, 1895, Rosa aus Cécile, 1887) oder an die zuletzt auch einen Brief schreibende, in manchem ähnlich konzipierte (beleidigte) Gräfin Melusine aus Der Stechlin (1898), oder an die Autodidaktin Mathilde Möhring (1907) und so fort. Je mehr man sich in die textinternen Bedeutungsverweise hineinliest, die die Differenz und Relation von Fiktion und Historie intensiv „spiralig“ (vgl. unten Kap. 5) immer neu ausspielen, um so klarer tritt auch die konsequente Semantik des Zeitabstandes hervor. Die Metapher (von privatem und historischem „Schein“) wird mit großer Stringenz als Metonymie von „einst“ und „jetzt“ fortgeführt. Preußen um 1805 und Preußen um 1882 sollen einander kommunizieren und korrespondieren. Die „Zerfallssoziologie des alten Preußen“, die „Hohlheit seiner Bewußtsseinsbasis“ (Dutsche 1989, 103 u. 113) soll als gegenwärtige Gefahr erkannt werden. Der weibliche Lebensentwurf, den Victoire verkörpert, ist, wie gesagt, auch für Fontanes eigene Zeit noch nicht eingelöst. Aktuell für die 80er Jahre wirkt der, allerdings auf eine Oberschicht beschränkte, Milieu-Determinismus: „Die Gesellschaft ist souverän. Was sie gelten lässt, gilt, was sie verwirft, ist verwerflich.“ (615). (Vergleichbares, also einen komfortablen Naturalismus, gibt es etwa bei Ibsen oder Meredith, z. B. für den „Helden“ in The Egoist, 1879, oder bei Henry James.) Bülows Ansichten zur verhängnisvollen Rolle des preußischen Militarismus („Nicht die Freiheit ist auf dem Vormarsch, sondern der Militarismus“, Friedrich 1988, 281) wirken „vor Verdun“ noch prophetischer als „vor Jena“. Und auffallend deutlich auf das Ende des 19. Jahrhunderts verweist die Gestalt des dekadenten Offiziers. Wir finden ihn wiederholt bei Fontane (St. Arnaud in Cécile, 1887, Rienäcker in Irrungen Wirrungen, 1888, Tschacko in Der Stechlin, 1899), aber viel krasser noch etwa bei Schnitzler (Lieutenant Gustl, 1900, oder Liebelei, 1896), erst recht in späteren Romanen über das „alte Österreich“, z. B. bei Joseph Roth. Geradezu an Fontane anzuknüpfen scheinen Heinrich Mann in Eugenie oder Die Bürgerzeit (1928) und noch deutlicher Hermann Broch in Pasenow oder die Romantik (1928). In Frankreich hat Maupassant die preußischen Offiziere so gesehen (Boule de suif, 1881, Mademoiselle Fifi, 1881), und geradezu typisch ist diese Gestalt für den kritischen Kolonialroman in England: von Joseph Conrad (Lord Jim, 1900, Heart of Darkness, 1902) über E. M. Forster bis zu Barry Unsworth (Sacred Hunger, 1989). Schach, dessen „Schönheit“ fast zu oft erwähnt wird, hat sein Gut verpachtet, schützt „allerhand Dienstliches“ allenfalls vor, seine „Liebhabereien“ sind „Kupferstiche und Rennpferde“ (593), auch hält er auf einen wie eine „Puppe <?page no="107"?> […] kleinen Groom“ (575), „safranfarbene Nachthandschuhe“ (573) und dergleichen; der Ästhetizismus als Lebensform, dem er huldigt und von dem er nicht loskommt, das Bedürfnis, „alles so ganz und gar auf das Ästhetische zurückzuführen“ (571), bestenfalls „Eitelkeit gegen Eitelkeit (zu) setzen“ (624), was er noch im Tode tut, genau darin ist er „immer er selbst“ (573), dieser Ästhetizismus als, besser statt eines Charakters (Kaiser 1981, 486 spricht von geradezu „brutaler ästhetischer Form“) macht ihn zum preußischen, militaristischen Vetter der Dandys, die in Paris oder London zuhause sind. Und in dieser „Décadence“ (564, so Bülow über die Religion), einer Dekadenz der Werte und „Prinzipien“ (die beispielsweise den „Eitelkeiten“ geopfert werden, 563), in einer Welt „symbolischer Handlungen“ (569) und „Surrogate (als) letzte Weisheitsessenz“ (606) ist Schachs Schicksal nur folgerichtiger zu Ende geführt als das seiner Umgebung. So ist auch, wenn das „Leben (als) eine Frage von Minuten“ erscheint und „der Tod“ der „Furcht vor dem Leben“ vorgezogen wird (668, 681), Natur - sie hat gerade im historischen Roman ihre eigene Zeit (vgl. auch unten Kap. 5.4) - in diesem Roman entweder indifferent, oder sie erscheint in morbider Schönheit wie die Schwanenflottille (609f.) oder die dunkle Zypressenallee, die „wie tot“ (659) wirkt, oder aber Natur wird erfahren als ein nicht minder morbides „Wuchern“ wie in dem verwilderten, seine Nachtinsekten beängstigend dicht aussendenden nächtlichen Garten (643 ff.), der „schwer“ duftet, Schach betäubt, aber keinerlei Zuflucht gewährt und ihn nur, treibend auf dunklen Wassern, in einen symbolischen Todes-Schlaf entlässt (viele Beispiele für symbolistisch-dekadente Motive bringt Pfeiffer 1994, 264 ff.). Am sprechendsten für diesen Ästhetizismus als „décadence“, der literarisch zu intensiv gestaltet wird, um lediglich kritisiert zu werden, ist wohl die Stelle im drittletzten Kapitel, wenn Schach das Ziel seiner imaginativen Lebensreise nennt, auch sie ja ein tief symbolistisches Motiv - man denke an Charles Baudelaires Gedichte Le Voyage, das Schlussgedicht der Fleurs du Mal (1857- 1868) -: „Die Stelle“, wo die Grenze zwischen den Erdteilen sich in „Luftbilder und Spiegelungen“ auflöse, wo nur noch der „Zauber der Farbe“ bliebe, aber „beständig wechselnd seien die Scenen und Gestalten“; „mitunter sei’s, als lach es. Und dann schwieg’ es und schwänd’ es wieder. Und diese Spiegelung aus der geheimnisvollen Ferne, das sei das Ziel! “ (672) Fontane lässt seine Romanperson in ihrer „Todesfantasie“ (Grawe 2002, 257) ahnen, dass eine Grenzüberschreitung über Geschichte und Gesellschaft hinaus gesucht werden kann: in ästhetische Distanz, imaginative Freiheit oder das offene „Unbekannte“ hinein. De Vigny oder Flaubert haben dies beispielsweise ausgeführt (vgl. oben Kap. 2.5 und unten Kap. 4.6). Aber Victoires abschließendes Urteil darüber: „Fata morgana“ (ebd.), sofern ja auch das ganze Kapitel so überschrieben ist, ist implizit auch das des Autors. Der Diskurs des Romans führt genau so weit, und darin äußert sich sehr viel Skep- Theodor Fontane: Schach von Wuthenow 99 <?page no="108"?> 100 Ein weites Feld. Die kritisch-produktive Rezeption Walter Scotts sis, eine sehr radikale Kritik, dass eine Alternative zu diesem dekadenten Aspekt preußischer Geschichte und Gegenwart gefordert wird. Der „realistische Roman […] siegt über den Ästhetizismus des Titelhelden“ (Pfeiffer 1994, 276), sucht ihn zumindest zu überwinden (vgl. auch Verf. 2001, 114 ff.). Der Schein verlangt seinen Gegensatz genauso, wie die damalige und die zeitgenössische Dekadenz Preußens, so oder so, Reform oder Untergang, überschritten werden wird. Aber diese Alternative wird nicht formuliert, schon gar nicht gibt es irgendeine Utopie. Schachs Kind, das nach seinem Tod geboren wird, mag ein „Hoffnungsschimmer nach der Katastrophe“ sein (Aust 1998, 92), aber dieser glimmt weit außerhalb der preußischen Welt, und Victoire befindet sich, wie übrigens ja auch bald Bülow, bezeichnenderweise (vgl. Verf. 1998, 362) im Exil. Man kann, wie bei Manzoni oder Arnim, nur von einer konsequent ausgegrenzten Leerstelle geschichtlichen Handelns und sinnmöglicher Geschichte sprechen. In dieser fast schon experimentellen Verdichtung der Poetik des historischen Romans auf eine Leerstelle hat Fontane auch andere Möglichkeiten des 19. Jahrhunderts konsequent fortgeschrieben: die zugespitzte Synekdoche wie beim späten Scott (The Heart of Midlothian, Redgauntlet) oder, und vor allem, bei Stendhal, die konsequent „ausgespielte“ Theater-Metapher und die des Spiels wie bei Balzac - und wie dieser spielt Fontane sein Erzählspiel mit preußischer Geschichte und Gegenwart und gegen sie ja durchaus weiter -, fortgeschrieben wird auch die iterative Metonymie von einst und später und jetzt und möglicher Zukunft wie bei Thackeray und eine Ästhetisierung, die allerdings nicht wie bei de Vigny und Flaubert zur prinzipiellen Distanz führt, sondern als „décadence“ bereits wieder - ein faszinierter Idealismus in absentia? - kritisch zurückgenommen wird. Vergleichbare Re-Historisierungen und Re-Moralisierungen ästhetischer Distanz werden Louis Aragon oder etwa sehr deutlich Alfred Andersch auserzählen: bewusste Ästhetik (das ganz abstrakte Bild) als „Plan“ für den Weg ins „Nichts“ oder in eine utopische Zukunft (vgl. unten Kap. 6.3 u. 7.2)? Anderes, etwa der als historischer Kommentar benutzte Symbolismus der Dekadenz, die Dekonstruktion von „Schein“-Werten, die Zeitaporie (man denke an Quentins voraus angekündigten Selbstmord) findet man intensiviert und explizit durchgespielt bei Faulkner (vgl. unten Kap. 6.2). Gerade die Grenze von Geschichtsals Gegenwartskritik und geforderter Neuorientierung, auch wenn diese Brüche und Leerstellen einkalkuliert (man denke an das „Spiel mit Katastrophen“, vgl. unten Kap. 8.1), die Grenze, auf der sich Schach von Wuthenow bewegt, wird im 20. Jahrhundert immer wieder interessant. Theodor Fontane: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Erster Band. Hg. von Walter Keitel und Helmut Nürnberger. Darmstadt 1970. [Schach von Wuthenow 555-684 und 951-991] <?page no="109"?> Dutschke: Geselliger Spießrutenlauf. 1989. • Friedrich: Fontanes preußische Welt. 1988. • Geppert: Ein Feld von Differenzierungen. 1999. • Geppert: Prussian Decadence. 2001. • Geppert: Vergangene Vergangenheit? 2003. • Guenther: Preußischer Gehorsam. 1981. • Kaiser: Schach von Wuthenow oder die Weihe der Kraft. 1978. • Pfeiffer: Tod, Entstellung, Hässlichkeit. 1994. Theodor Fontane: Schach von Wuthenow 101 <?page no="110"?> 4. Zwischen Monument und Nihilismus. Alternativen des historischen Romans im 19. Jahrhundert. J. F. Cooper, Dickens, Victor Hugo, C. F. Meyer, Stifter, Flaubert, Raabe „Poetischer Realismus“ ist nichts spezifisch Deutsches. Eine solche lange fortgeschriebene Annahme wäre „patently untrue“ (Berndt 1995, XIII). Und der historische Roman, der bis in die Postmoderne hinein auf seine Weise realistisch bleibt (vgl. unten Kap. 5.2 u. 8), ist gerade darin interessant, dass er die Dynamik in Inhalt wie Umfang dieses Begriffs von „poetischem Realismus“ vertieft. „Realismus“ im 19. Jahrhundert: Wenn man den Epochenzusammenhang als „Familienähnlichkeit“ („family resemblance“, Humphrey 1993, 97) begreift - es gibt viele Gemeinsamkeiten, aber keine „geschlossene Einheit“, vielmehr Charakteristika, die sich „verändern“, voneinander „entfernen“, auf neue Kontexte „reagieren“ (Aust 2006, 9), das Gemeinsame ist nie bei allen Angehörigen anzutreffen -, dann verschärft die Poetik des historischen Romans (die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort, vgl. unten Kap. 5) die Unterschiede und Alternativen in der Epochen-Physiognomie. Denn es bleibt ja doch wohl das offene Problem eines poetischen Realismus, wohin die „Phantasie der Realisten“ (Warning 1999) sich wendet. Ist in dem „komplexen Prozess von Wiedergabe und Reflexion“ (Swales 1997, 128), von Kreativität, Experiment und Referenz das Poetische Funktion des Realistischen, geht also aus ihm hervor und über es hinaus, oder umgekehrt? Das Zweite ist der weitere Begriff: „Poetische“ Freiheiten wie Imagination, Spiel, Selbstreflexion der Literatur, Experimente des Entwerfens, Humor - sofern man ihn versteht als Widerspruch von Darstellung und Gegenstand, als Sprung vom Exempel zum Sinn -, alles, was literarisch möglich ist, kann zur narrativen Darstellung und diskursiven Erkenntnis von Wirklichkeit fruchtbar gemacht werden. Insbesondere geht es im Realismus (vgl. Verf. 1994) um Zeichen eines im Ganzen zweckmäßigen Erzählens, das konsensfähig auf zu begreifende und auf lange Sicht („in the long run“) auf herzustellende humane Wirklichkeit zielt. Die produktive Walter Scott-Rezeption bliebe so gesehen auf diesem „realistischen Weg“, so wie sie ja auch wesentlich „realistischem Erzählen […] die Bahn gebrochen“ hat (Aust 2006, 141, vgl. ebd. ff.). Aber so wie der historische Roman als plurale, diskontinuierliche Gattung mehrere Anfänge hatte (vgl. oben Kap. 2), so gibt es das ganze 19. Jahrhundert hindurch Autoren und Bücher, die diesen narrativen Weg nur gewisse Strecken lang mitgehen. Wenn die realistische Erzählform sich durch Stichworte eingrenzen lässt wie (vgl. ausführlich Verf. 1994, 19 u. 121 ff.; Aust 2000, 3 u. 72 ff., Aust <?page no="111"?> 2006, 8/ 9 u. 90 ff.): Anschaulichkeit, Individualisierung und Indexikalität, v. a. der Perspektiven, Kontinuität der Bezeichnung und der Motivation, hier z. B. und v. a. im historischen Diskurs (vgl. unten Kap. 5.2), das, oft kritische Darstellen von Verhaltenskonventionen, die die Leser interessieren können („Alltagswirklichkeit als ernstzunehmender Gegenstand“, Aust 2006, 49), Bündelung der Handlung in Gestalten („Erlebnissubjekten“, Aust 2006, 90), in Entscheidungsprozessen und, und dies im historischen Roman besonders deutlich, in erzählten Räumen, beispielsweise auch das Geld als „metonymische Störung“ (Barthes 1987, 45), als „Haufen“ oder „Loch“ im Weg des Erzählens (vgl. Verf. 1994, 174 ff.), was z. B. sehr genau Scott, Stendhal, Balzac, Alexis und Fontane zwar noch mit Cooper verbindet, auch noch mit einem Teil der Handlung in Flauberts Salammbô (1863), doch nur mit einem Teil (darin unterscheidet sich dieser Roman tiefgreifend von Madame Bovary, 1857, L’Éducation sentimentale, 1870, oder Bouvard et Pécuchet, 1881), was aber einen klaren Gegensatz bildet zu den historischen Romanen C. F. Mayers, Stifters oder Raabes - so könnte man noch viel feiner differenzieren -, ein solcher realistischer Rahmen wird immer wieder durchbrochen, wenn ein im weitesten Sinne transhistorisches „Poetisches“ Funktion dieses Realistischen wird. Genau hier kann die produktive Differenz von Fiktion und Historie eine Alternative, sozusagen eine „Fiktion hoch zwei“ hervorbringen, eine neue Drehung der Spirale (eine replikative Iteration, vgl. unten Kap. 5) und einen der mehreren Wege des 19. Jahrhunderts zur Moderne und Postmoderne (vgl. unten Kap. 6 ff.). Denn prägend gegenüber der Scott-Nachfolge, auch der kritischen, spielerischen und innovativen, die bisher exemplarisch nachgezeichnet wurde und die sich, vermittelt v. a. durch Faulkner (vgl. unten Kap. 6 u. 6.2) auf ihre Weise auch in die Moderne (z. B. die deutsche Literatur, vgl. unten Kap. 7) hinein fortsetzt, ist jetzt das literarische Experiment mit hypothetischen Totalitäten, die eben Fiktion bleiben und die, darin zeigt sich die „replikative Spirale“, immer kontrafaktische Folgen haben können: Sie können sich erfüllen oder auch nicht. Immer wieder wird der historisch-realistische Weg verlassen zugunsten von postulierten Ideen, geglaubten Mythen, großen Symbolen, Utopien, ganzheitlichen Entwürfen menschlicher Größe oder Schönheit, oder auch zugunsten von Negationen oder, und besonders interessant, zugunsten eines Unbekannten, das man in der Historie (noch) nicht finden kann. Die ,große Natur‘, die bei Cooper auch als unterlegene Recht behält, geht über Vergleichbares bei Scott weit hinaus. Dickens’ ,Erlöser von unten‘, der den Schrecken zum Heil wendet, ist ein fiktionaler Entwurf, den Scott ebenso vermeidet wie Manzoni, selbst Arnim (vgl. oben Kap. 2.3), auch Mérimée, Alexis oder Fontane, der aber deutlich etwa Dickens mit Stifter oder Victor Hugo verbindet. Die Scott-Nachfolge ist durch die kreative Synekdoche und Zwischen Monument und Nihilismus 103 <?page no="112"?> 104 Zwischen Monument und Nihilismus Metonymie geprägt - eine genaue, weil ganz formale Grenze -, dagegen nun das „symbolische Feld“ (Barthes 1987, 24), das ja eigentlich ein ikonisch-metaphorisches ist (vgl. Nöth 2000, 181 ff.), der Farben und von Dunkel und Licht bei Dickens ist metonymisch nicht einzuholen. Und das gilt ebenso für die Kunst der Katachrese bei Flaubert oder die offene Logik der „Raben“- Zeichen bei Raabe (vgl. auch unten Kap. 8.3). Die bis zur Abstraktion idealisierte Macht bei Stifter, das freigesetzte Monumentale und Dämonische bei C. F. Meyer, der überedle Held bei Victor Hugo und seine ganze explizite Utopie und so fort - Le Dernier Chouan / Der letzte Chouan (1829) bei Balzac, so der ursprüngliche Titel (vgl. oben Kap. 3.4) ist im Gegensatz zu The Last of the Mohicans (1926) bei Cooper überhaupt nicht edel -, diese großen Hypothesen stellen immer schon durchaus Alternativen des Gattungsmodells bereit im historischen Roman des 19. Jahrhunderts. So gehen diese Alternativen dann ja auch mit der populären, teilweise trivialen Scott-Nachfolge des Ivanhoe-Lichtenstein-Typs viel unbefangener um, sie veredeln sie gewissermaßen (vgl. oben Kap. 3 und durchgehend unten Kap. 5.3). Sie zeigen uns groß und szenisch agierende historische Gestalten - was die Waverley Novels vermeiden -, lichte und diabolisch dunkle Helden, Kampf und Abenteuer, den Mythos vom „verborgenen König“ (der „schwarze Ritter“ bei Scott, der Herzog Ulrich bei Hauff, Zdik bei Stifter, Lantenac bei Victor Hugo), schicksalhafte Liebesgeschichten oder die so typisch triviale (den „Wertediskurs“ klärende, vgl. unten Kap. 5.3.1.3) Übermotivierung, wie man sie etwa in Ivanhoe oder, und sehr klar, in Lichtenstein, aber eben auch bei C. F. Meyer, Flaubert und besonders sorgfältig auserzählt (vgl. unten Kap. 4.5) bei Stifter findet. Allerdings macht es dann doch wieder den Rang dieser Autoren aus, dass solche Trivialisierungen Vehikel der Diskurse sind. Ihre Eindeutigkeit wird gegenüber der Historie Teil und Funktion weitergehender Hypothesen. (Diese hypothetische Funktion kommt zu kurz in Thesen wie: „Die Totalität der Historie tritt im 19. Jahrhundert an die Stelle der aufklärerischen Ideale“; es gäbe hier ein „identisches Grundmuster“ und eine „stereotype Form“; „die Synthese, nicht die Antithese ist das gestalterische Ideal der Romane“, Potthast 2007, 12, 48-50; nicht nur wäre eine fiktionale „Ganzheit der Geschichte“, ebd., als eine in der Tat lediglich „ästhetische Geste“, ebd. 44, vom je eigens geführten historischen Diskurs zu differenzieren; noch wichtiger scheint mir, man kann es nicht oft genug sagen, die Verständnisprämisse, das Überzeugungspotential, den Wertediskurs, durchaus auch die Idee dieser Romane, vgl. unten Kap. 5.3, nicht einfach mit der Geschlossenheit des, wohlgemerkt ja lediglich narrativen „Zusammensetzens und Re-Konstruierens einer Ganzheit“, ebd. 55, zu identifizieren.) Liest man genau, dann erhalten diese hypothetischen Ganzheitsentwürfe - darin zeigt sich erneut das Prinzip produktiver Spirale - letztlich die Funktion von Fragen. Denn auch diese Alternativen - Alternativen zu Walter Scott, aber auch untereinander, <?page no="113"?> das wird sich immer wieder zeigen - bleiben historische Romane. Ihre Fiktionen, Konstruktionen, Imaginationen, Ganzheitsentwürfe, auch und gerade ihre ästhetische Autonomie stellen die dargestellte Historie in Frage. Aber diese ist, gerade auch bei Stifter und Flaubert, den „beiden Extremen [im] historischen Roman des 19. Jahrhunderts“ (Glaser 1994, 188), zu breit dargestellt und reicht immer in ihrem Bedeutungsanspruch zu sehr über die Ränder der Texte hinaus, um sich den Hypothesen einfach unterzuordnen. Auch diese werden von der Geschichte in Frage gestellt. Wer hat dann in dieser Diskussionsspirale, die dann doch die von „Poesie“ und „Realismus“ ist, das letzte Wort? Allerdings geht so gesehen die diskursive Offenheit dieser Romane über das Modell eines Weges hinaus. Bei Cooper laufen der Weg der „pioneers“ und der des „Leatherstocking“, der ja bezeichnenderweise immer jünger wird (vgl. unten Kap. 4.1), diametral auseinander; bei Dickens, C. F. Meyer oder Victor Hugo trennen sich, allerdings auf je spezifische Weise, die Perspektiven und Wertungen. Flaubert und, sieht man genau hin, letztlich auch Stifter suchen konsequent eine stilistische Distanz zur Historie, die zur ästhetischen Negation tendiert. Das gilt auf ganz andere Weise auch für Raabe. Er spielt mit den hypothetischen Totalisierungen des 19. Jahrhunderts und zerstört sie. Unter der Maske behäbiger Plauderei gewinnt sein Erzählen eine moderne, ja postmoderne Polysemie und Polyhistorie, in der der Sinn - „Noah […] ließ einen Raben ausfliegen, der flog immer hin und wieder her“ (1. Mose 8,7) - etwas unüberwindbar Widersprüchliches oder etwas Unbekanntes oder eine Leerstelle wird. Aust: Literatur des Realismus. 2000. • Aust: Realismus. 2006. • Barthes: S / Z. 1987. • Bernd: Poetic Realism in Scandinavia and Central Europe 1820 - 1895. 1995. • Geppert: Der realistische Weg. 1994. • Potthast: Die Ganzheit der Geschichte. 2007. • Swales: Epochenbuch Realismus. 1997. • Warning: Die Phantasie der Realisten. 1999. 4.1 James Fenimore Cooper: The Pioneers (1823) Betrachtet man diesen Roman für sich allein, dann könnte er sowohl zur Phase der „pluralen Entstehung der Gattung Historischer Roman“ gezählt werden (so etwa Lampart 2002, 37 u. 78; vgl. oben Kap. 2), als auch zur kritischproduktiven Rezeption Walter Scotts (so z. B. Aust 1994, 63 ff.; vgl. oben Kap 3). Für das erstere spricht etwa die eigenwillige Verbindung von Gesellschaftsroman und historischem Roman und die ebenso eigenwillige Konstruktion eines ,vergangen-vergangenen‘ Fokus. Für die zweite Zuordnung lassen sich viele Gründe anführen: der Übergang „forty years […] since“ (16) von alter und neuer Zeit, die Verbindung von narrativem Museum: wie bei James Fenimore Cooper: The Pioneers 105 <?page no="114"?> 106 Zwischen Monument und Nihilismus Scott mit markant geographischem, architektonischem kulturhistorischem und genuin geschichtsphilosophischem Interesse (für Humphrey 1986 das entscheidende Qualitätskriterium), das seinerseits wie bei Scott von der Balance zwischen Bewahrung verlorener Vergangenheit und der Zukunft zugewandtem Fortschrittspragmatismus geprägt ist. An Scott erinnert der ,plot‘ einer Geschichtsrevision und dessen märchenhafte Züge: der zurückgekehrte Erbe (Guy Mannering, 1815, The Antiquary, 1816, Redgauntlet, 1824) oder die „romance“ als historische Versöhnung und anderes. Schließlich und vor allem wirkt das differenzierte Feld personell verarbeiteter Geschichtsverläufe wie eine amerikanische Umsetzung der Waverley Novels. Auch die Gestalt des Leatherstocking scheint Ivanhoe, Black Knight, Robin Hood (aus Ivanhoe, 1819) oder etwa auch Rob Roy (aus dem gleichnamigen Roman, 1817) fortzusetzen. Aber stellt man The Pioneers in die Kontinuität der Leatherstocking Tales (1823-1841), dann dominiert doch, und nicht zuletzt aus heutiger Sicht, der Entwurf einer historischen Alternative, also eine ebenfalls eigenwillige Variation von Strukturen, die bei Dickens, Stifter, Flaubert, C. F. Meyer usw. zu beobachten sein werden: die Aporie eines notwendigen Mythos. Der Roman ist vom Konflikt mehrerer Zeitrhythmen geprägt. Jede der Hauptpersonen, beziehungsweise Personengruppen, lebt in ihrer eigenen Zeitkonstruktion (vgl. zum Prinzip v. a. Lampart 2002, 45 ff.), die eine jeweils eigene, mehr oder weniger traumatische Vergangenheit verarbeitet (vgl. oben Kap. 2.1). Und liest man durch die bunte freundliche Oberfläche hindurch, wird deutlich: Nur einer dieser Konflikte wird, und auch dies lediglich in märchenhafter „romance“, am Ende gelöst. Mit der Einführung dieser Personen beschäftigt sich die erste Hälfte des Romans, deren Handlung nicht einmal zwei Tage, vom Nachmittag des 24. Dezember bis zum frühen Morgen des 26. Dezember 1793, umfasst. Judge Temple (vgl. Kap. II, 30 ff.) hat während des Unabhägigkeitskrieges und unmittelbar danach das ihm anvertraute Vermögen, darunter große Ländereien seines royalistischen, durch den Krieg vertriebenen Freundes Effingham an sich gebracht und, indem er konfiszierten englischen Besitz günstig erwarb, gewaltig vermehrt. Seit sieben Jahren leitet er die Besiedlung einer seiner Ländereien am Lake Otsego (daher der Untertitel: or The sources of The Susquehanna). Er und seine Tochter treffen bei einem Jagdunfall den Leatherstocking, einen etwa siebzigjährigen Jäger mit mehrfach erwähnter, ruhmvoller Vergangenheit, vor allem im britisch-französischen „old war“ (1755- 1763), und mit ihm einen rätselhaften jungen Mann: teils sehr kultiviert, teils eigentümlich ,wild‘. Man erfährt bald, dass er der Sohn eines weißen Vaters, aber auch Enkel eines großen Delaware-Häuptlings ist. Gegen Ende des Romans (Kap. XL, 436 ff.) stellt sich heraus, dass sein Name (natürlich) Effingham ist und dass sein Großvater und Vater und er mit ihnen von den Delawares lediglich adoptiert wurden („I have no other Indian blood or breeding“, 441). Nun löst sich alles in Harmonie auf: Temple hatte sich all die Jahre als Treuhänder seines Freundes verstanden, seine Tochter und Effingham heiraten. <?page no="115"?> Der zweite Erzählstrang besteht aus einzelnen Episoden, die bis in den Herbst 1894 reichen: Leatherstocking rettet mehrmals Temples Tochter das Leben, gerät aber auch, teils durch hinterhältige Manipulationen, teils durch Vorurteile und Übereifer der Siedler, teils aufgrund seiner überholten Vorstellung von Jagdrecht, mit dem Gesetz in Konflikt, wird eingesperrt, befreit, verfolgt, am Ende begnadigt. Aber er kann in dieser ‚Zivilisation‘ nicht leben und geht weit in die freie Wildnis fort. Solch eine Inhaltsangabe wird dem Roman natürlich kaum gerecht. Nicht nur Aussehen, Geräte und Wohnungen, Sitten und Gebräuche der verschiedenen Siedler werden sorgfältig vorgestellt, die wichtigsten Personen führen auch jeweils ihre eigene, bis nach Europa oder in die Kolonialzeit zurückreichende Lebensgeschichte mit sich: Der französische Edelmann hat einen Kaufladen, der englische Matrose ist Hausdiener, „the justice of the German character“ setzt sich fort (234). Und neben den dramatischen Szenen gibt es viele alltägliche. Aber der Roman ist entschieden mehr als nur ein „verbal museum“ (Humphrey 1997, 26). Es ist bezeichnend, dass seine Handlung mit einer ,Verwundung‘, eben einem Trauma beginnt - Judge Temple schießt auf einen Rehbock, trifft aber den jungen Effingham in die Schulter -: eine durchaus als symbolisch zu deutende Aktion. Denn diese bunte, freundliche, oft humorvoll erzählte Welt hat mehrfach traumatische Wurzeln. Die rücksichtslose Legalität der Aneignungen hat etwas Brutales. Wenn der „englische“ Besitz amerikanisiert wird, so fügt das Beispiel Effingham-Temple dem das Odium eines Nahezu-Betruges hinzu. Genauso sorgfältig erzählt wird der Beginn der Vertreibung des Leatherstocking: Er hatte Temple zuerst freundlich beherbergt (vgl. 236 ff.), und an ihm beweist den ganzen Roman hindurch nahezu jeder der Charaktere sein Maß an Fairness und Güte, aber auch an Vorurteil, Niedertracht und Grausamkeit. Ein gewichtiges Thema, das in den Gesprächen unbeschönigt durchgeführt wird, ist die Mischung aus Betrug und Gewalt, mit der nicht nur die Rechte der sogenannten ,Indianer‘, „the original owners of the soil […] dispossessed“ (83), sondern deren ganze „Existenz“ ausgelöscht wurde. Indian John, der frühere - bzw. in der Folge der Romane spätere - Ideal-Krieger Chingachgook, jetzt ein teils noch äußerst fähiger Jäger, Fischer und ,craftsman‘, teils ein ständig seiner vergangenen Größe resigniert gedenkendes, lebendes Monument, teils, beispielsweise betrunken, eine traurige menschliche Ruine, ist der buchstäblich letzte Überlebende seiner Nation, am Romanende erinnert nur noch sein Grab an ihn. Sein Sohn, „the last of the Mohicans“, wird in der Erzählzeit später bereits lange gestorben sein. Diese durchaus zu den Protagonisten zu zählende Gestalt, nicht zuletzt auch gerade dadurch, dass sie in die Handlung eigentlich nicht eingreift, lebt in einer anderen Zeit und Geschichte, die nur als Konflikt und offen traumatisch mit der der „Pioneers“ verknüpft ist. Von Vergangenheitsverklärung oder gar Indianer-Romantik kann in diesem Roman Coopers keine Rede sein. James Fenimore Cooper: The Pioneers 107 <?page no="116"?> 108 Zwischen Monument und Nihilismus Die größten Verallgemeinerungen erfährt der Konflikt verschiedener Zeitrhythmen und Geschichtskonstruktionen in dem bemerkenswert klar durchgeführten Thema der Umweltzerstörung. Auch die Natur, deren Schönheit immer wieder geradezu lyrisch intensiv gewürdigt wird, lebt in ihrer eigenen Zeit. Auch Bäume und Tiere haben hier jeweils ihre eigenen Geschichten. Der Raubbau zugunsten von Feuer- und Bauholz (104 ff. und 190 ff.) oder Ahornsirup (228 ff.) schafft so ein eigenes spezifisches ,Geschichtstrauma‘. Noch drastischer, weil genau in den Rhythmus natürlichen Lebens eingreifend, wird geradezu ein Krieg gegen die Natur-Zeit und Natur-Geschichte auserzählt am Beispiel der einem Massaker gleichenden Vogeljagd (selbst Mörser und Schrapnell werden hier eingesetzt, 245 ff.), oder des ebenso brutal übertriebenen Fischfangs mit Licht und Treibnetz (251 ff.). Alle diese Zeit-Konflikte kommentieren, intensivieren und erweitern einander. So konsequent, wie diese Welt von einem ,Trauma‘ eröffnet wird, endet sie mit einem Exil. Der Mythos des Leatherstocking beginnt mit dessen verjüngter Rückkehr, er ist dann Mitte dreißig, in The Last of the Mohicans (1826). Aber dieser Mythos steht eben immer schon unter der Prämisse von The Pioneers, also unter dem Vorzeichen seines Scheiterns. Die Differenz von Fiktion und Historie wird konzeptionell weiter, je enger der Jäger, Waldführer, Kundschafter, Lebens- und ,Geschichts-Retter‘ selbst in die Geschichte eingreift. (Etwa in The Pathfinder, 1840, wo der Romanheld einen englischen Teilerfolg herbeiführt.) Auch sein Tod in The Prairie (1827) hat etwas von einem mythischen Opfer, so wie der zuletzt erschienene Roman der Serie The Deerslayer (1841) den Mann der Wälder noch einmal verjüngt. Cooper erzählt wie Dickens, Stifter, Flaubert, C. F. Meyer oder Victor Hugo ein Kapitel aus der Geschichte und zugleich eine Alternative dazu. Wie Witiko (im gleichnamigen Roman, 1865- 1867) oder Gouvain (Quatrevingt-Treize, 1874) hat auch der Leatherstocking in seiner romanhaften Entwicklung etwas die Geschichte Transzendierendes, wie er ja immer schon plötzlich aufgetaucht und überall zu Hilfe gekommen war, ein Mann mit vielen Namen, in allen Bindungen doch völlig frei, ein den Frieden liebender, gleichwohl unüberwindlicher Kämpfer, der Grenzgänger schlechthin, auf der Suche nach einer Versöhnung ,indianischer‘ und ,weißer‘ Kultur, ja einer Versöhnung von Natur und Zivilisation überhaupt. Noch bevor er sich sozusagen immer jünger werdend, immer anschaulicher und in der Romanfiktion „natürlicher“ entfaltet, wird klar: Er hat in der realen Historie keine Chance gehabt. Aber seine Evidenz ist nicht nur die der Fiktion, sondern auch die einer Idee, die ihre eigene, aus ihrem Wert begründbare Notwendigkeit hat. Die Versöhnung von Natur und Geschichte, wie sie der Leatherstocking zu leben versucht, soll als etwas für die Menschheit unverzichtbares anschaulich werden, ein lebenswichtiges Bild, die humane Notwendigkeit einer Vorstellung, also ein Mythos. Die Leatherstocking-Tales <?page no="117"?> beschwören diesen Mythos, The Pioneers erzählt von Anfang an seine historische Aporie. James Fenimore Cooper: The Pioneers. Hg. mit Einführung und Anmerkungen von James D. Wallace. (= Worlds Classics Paperbacks). Oxford - New York 1980. Beard, James Franklin / Elliott, James P. (ed.): The Writings of James Fenimore Cooper. New York 1980 ff. 4.2 Charles Dickens: A Tale of two Cities / Eine Geschichte von zwei Städten (1859) Der Romantitel, würde er ohne jede Vorbereitung gelesen, die Überschriften des ersten Buches Recalled to Life und des ersten Kapitels The Period hätten zusammen fast schon etwas Rätselhaftes. Und der eigentliche Anfang mit seinen ambivalenten Verallgemeinerungen schiebt jede Antwort für lange auf. Man soll gespannt warten, wohin diese exemplarische (vgl. oben Kap. 1 u. unten Kap. 5) Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort führen wird. It was the best of times, it was the worst of times, it was the age of wisdom, it was the age of foolishness, it was the epoch of belief, it was the epoch of incredulity, it was the season of Light, it was the season of Darkness, it was the spring of hope, it was the winter of despair […]. It was the year of our Lord one thousand seven hundred and seventy-five. (35) Das Ausbuchstabieren der betont ans Ende des ersten Abschnitts gesetzten Jahreszahl ist auch hier, wie später bei Victor Hugo und bei Raabe ein differenzierendes Literarizitätssignal, man „hört“ die Stimme des fiktionalen Erzählers, obwohl die Zahl selbst genauso betont ein historischer Index ist (vgl. unten Kap. 5.2). Genauso differenziert stehen das Allgemeine der Bewertungen und die Superlative gegen deren Ambivalenz („das Beste, das Schlimmste, Hoffnung, Verzweiflung“), und beides wieder steht gegen das ausgesprochen Singulare dieser ganz bestimmten Zeit, bald auch ganz bestimmter Orte und Tage, zuletzt nur noch Stunden: „Nine gone for ever, ten gone for ever, eleven gone for ever, twelve coming on to pass away […]. Twelve gone for ever“ (378). Wenn so die Singularität auf der einen, die Ambivalenz auf der anderen Seite die Leser in ein mehrfach Unbekanntes gleichsam spiralig hineinsaugen (vgl. unten genauer Kap. 5.2), dann kann die „idea of this story“, von der der Autor im Preface ausgegangen sein will (vgl. 29), nur eine Hypothese sein. Man wartet auf Entscheidungen. Dem entspricht ein deutlicher Zeitsog: So wie gleich darauf die Zukunft der Vereinigten Staaten genannt wird (gefordert in der „message“ des Kongresses von Philadelphia vom 5.9.1974), Charles Dickens: A Tale of two Cities 109 <?page no="118"?> 110 Zwischen Monument und Nihilismus oder wie die „terreur“ der französischen Revolution vorausblickend beschworen und der kriminelle Alltag in London als wachsende Bedrohung charakterisiert werden („now“, „today“, „to-morrow“), alles Zukunftsperspektiven, so kommt es im ganzen ersten Kapitel auf die Dynamik von Geschichte an, ihr unaufhaltsames Voranschreiten. Das Kapitel endet mit der Zeit-Figur, dass das Jahr 1745 große und kleine Leute in ihre Zukunft, in die Geschichte der Revolution hinein führt, „along the roads that lay before them“ (37). Und mit dem rhetorisch durchaus raffinierten (Epanalepse als amplificatio) Stichwort „It was the Dover road that lay, on a Friday night late in November […]“, also mit dem Weg in eine dunkle Zukunft (vgl. ebd.) beginnt das folgende Kapitel. Ambivalenz, Hypothesen, Zeitsog - dazu passt als Spannungsmoment, dass A Tale of two Cities, wie viele Romane von Dickens, von einer Kriminalgeschichte ausgeht. Die Handlung beginnt mit einem vermeintlichen Überfall, die erzählte private Geschichte mit einem Verbrechen, und nach vielen, wechselvollen, auch gewalterfüllten, oder zumindest sehr bedrohlichen Schicksalen, stehen am Ende einerseits familiäres Glück, andererseits eine Hinrichtung. Auch die Präsentation der „story“, dass mit den Folgen des Verbrechens begonnen und dieses selbst erst so spät aufgedeckt wird, dass es noch weitere Verbrechen nach sich ziehen konnte, entspricht dem Kriminalschema. Für den Leser, und auch das ist bezeichnend, schließen sich die Anfangsszenen allerdings schneller zu einem „plot“ zusammen als für die Personen: Ein Bankangestellter und eine junge Frau (Lucie), er gütig, sie lieblich, reisen nach Paris, um einen alten, lange grundlos in der Bastille eingesperrten Mann (Manette, Lucies Vater) nach London zu holen. Fünf Jahre später sind alle drei in London Zeugen einer satirisch auserzählten Gerichtsverhandlung, bei der ein junger Exilfranzose (Darnay) nur wegen seiner verblüffenden, die Belastungszeugen verwirrenden Ähnlichkeit mit einem verbummelten Juristen (Carton) von einer, natürlich konstruierten, Anklage des Hochverrats freikommt. Es folgen mehrsträngig erzählt Familienidyllen im Hause Manette in London, dann scharf kontrastiert Szenen aus Frankreich, aus dem Volk, aber auch aus dem Leben eines dekadenten Marquis „in Town“ und „in the Country“ - der Leser erfährt, dass Darnay dessen Neffe ist und sein hochadliges Erbe für eine freiwillige, aufgeklärt-human motivierte Emigration aufgegeben hat; dem wird eine Liebesgeschichte entgegengestellt, in deren Verlauf Darnay und Lucie heiraten, der abgewiesene Carton aber für beide selbstlose Hingabe bewahrt; dann schwenkt die Handlung zur vorrevolutionären Wut in Paris, setzt Hochzeit und Glück der Darnay-Manettes in London dagegen, um schließlich in einem letzten Kontrast sich für die mächtigen Szenarien des Ausbruchs der Revolution in Paris und auf dem Land zu öffnen, in denen der grausame Marquis ermordet und sein Schloss niedergebrannt werden. Ein Zeitsprung in das Jahr „one thousand and seven hundred and ninety-two“ (264) leitet den „Thriller“-Teil des Romans ein. Darnay reist nach Frankreich, mitten in <?page no="119"?> die „terreur“ hinein, um einem alten Bediensteten seiner Familie zu Hilfe zu kommen; er wird verhaftet und als Aristokrat angeklagt; seine Familie reist ihm nach; nicht zuletzt dank Manettes Fürsprache kommt er frei. Aber eine sofortige neuerliche Verhaftung, Anklage und Gerichtsverhandlung bringen die tiefste Schicht des Romans zu Tage: Darnays / St. Évremondes Vater und Onkel, zwei gewissenlose Libertins, haben seinerzeit Manette in der Bastille verschwinden lassen, um einen Mitwisser ihrer Grausamkeiten zu beseitigen. Manettes Aufzeichnungen aus der Bastille werden verlesen. Darnay ist die Hinrichtung sicher, aber Carton nimmt, ihre Ähnlichkeit noch einmal nutzend, seinen Platz ein und stirbt für ihn, für Lucie, für beide Kinder, letztlich für eine bessere Welt. Das Sentimentale in den Inhalten, Dickens eben, darf nicht über das kalkulierte und abgewogene Argument gegenüber der Geschichte hinwegtäuschen. Die komplexe Handlung beispielsweise lässt verschiedene, betont literarische Muster erkennen: Dem Kriminalschema, einer „Aufklärung“, die sich nach ihrem eigenen Gesetz herausarbeitet, kontrastieren die, ja auch sonst bei Dickens häufigen Märchenstrukturen der verdeckten Herkunft, der bösen Wünsche, der wunderbaren Erlösung, der Verwandlungen - sowohl der Marquis als auch die leidenschaftliche Jakobinerin nehmen im Zwielicht die Gestalt von Tigern an (vgl. 156 u. 391) - und so fort. Ein blasser, aber noch klar erkennbarer, bürgerlich-liberaler Bildungsroman erzählt demgegenüber von ehrlicher Arbeit, gediegenem „business“, Vertragstreue, guten und bösen Ratgebern, Freundschaft und Familienglück, alles Werte, die ein Ziel propagieren, wie Dickens es exemplarisch und teilweise autobiographisch in David Copperfield (1849/ 1850) auserzählt hatte (das Strukturelement des „historischen Bildungsromans“ reicht von Scotts Waverley, 1814, durchaus bis zur Postmoderne, vgl. unten Kap. 8.2 u. 8.4). Dazu passt auch das Motiv des Stellvertreters („I again“ in Great Expectations, 1860/ 61), der einen unvollständigen oder negativen Bildungsweg kompensieren wird: „winning his way up in that path of life which once was mine“ (404). Aber dementgegen steht ein auf lange Strecken zyklisches Geschichtsschema von altem und neuem Unrecht, Unterdrückung und neuem Schrecken. Weist es dem individuell fortschrittlichen Bildungsroman nur die Grenzen auf, oder macht es ihn grundsätzlich marginal und beliebig? Man sieht, wie genau Ambivalenz und Zeitsog des Anfangs in Erkenntnisfragen transformiert werden. Auf alle Fälle rundet sich der „plot“ von A Tale of two Cities erst durch ein mythisch-heilsgeschichtliches Opfer, das ja auch in Darnays / St. Évremondes Abstieg ins Volk schon präfiguriert war. Welche Bedeutung hat diese Mythisierung gegenüber der so betont durch das Zeitgerüst (die ausbuchstabierten Jahreszahlen) und die räumlichen Lokalisierungen (man denke an die Reisen) von Anfang bis Ende des Romans betonten Historie? Charles Dickens: A Tale of two Cities 111 <?page no="120"?> 112 Zwischen Monument und Nihilismus Denn den Mythisierungen entsprechen die Symbolismen. Die Semiotisierung von Geschichte (vgl. dazu die folgenden Kapitel sowie v. a. Kap. 5.3.3 u. 8.3) verläuft hier nicht so polysem wie bei Raabe, schon gar nicht im Umschlag in Negation, wie auf freilich verschiedene Weise bei Stifter und Flaubert, auch nicht so „autoreflexiv“ und als „Spiel gegen die Geschichte“ wie im 20. Jahrhundert. Gleichwohl werden auch bei Dickens die dichterischen Zeichen so deutlich abgehoben von der Historie, dass sie als eigene Formen von Bedeutungsstiftung erkennbar werden: Wenn etwa ein Rotweinfleck oder das Wasser eines Brunnens und Dinge, die die Morgensonne rötet, sich imaginativ metaphorisch in Blut verwandeln (61, 157f.), oder wenn später ein realer Blutfleck wie in einem perspektivischen „Zoom“ synekdochisch („pars pro toto“) vergrößernd hervorgehoben wird (293), dann wirkt das so, als tauchten in einem Schwarz-Weiß-Film farbige Details auf. Nicht weniger expressiv machen sich die vielen Schatten bemerkbar, die immer wieder auf Personen oder Szenen fallen: „as if they had seen the shadow of the actual Bastille“ (110, eine sehr klare Metonymie, pars pro parte), „darkness closed around […] the women […] knitting, knitting“ (216), „the shadow […] seemed to fall […] threateningly and dark on the child“ (196) und so fort. Wenn wiederholt die revolutionäre Menge sich anschaulich in eine stürmische See verwandelt (244 ff.), dann hat man den Eindruck eines manieristischen „Concetto“ (wo der Vergleich den Gegenstand vorübergehend verdeckt) oder - die Karren auf dem Weg zur Hinrichtung „pflügen“ durch die Menge (400 ff.) - einer filmischen Überblendung. Nicht weniger kunstvoll als diese Metaphern verbinden die akustischen Echo-Effekte, „the echoing footsteps of years“ (239, vgl. 128 ff., v. a. 133) metonymisch private und historische Handlungsteile. Aber überall setzt diese bewusst gehandhabte Poetik solche Zeichen auch von der Historie ab. Fiktion wird (replikativ) interpretiert von differenter Historie und beide wieder von gegenüber beiden differenter Fiktion (vgl. unten Kap. 5). Es handelt sich um explizite, narrative Bedeutungsstiftungen. Nicht nur dann, wenn es ausdrücklich konditional heißt, „as though it were the light of freedom“ (76), „if the glass could ever have rendered back its reflections“ (94), „if a picture of the château as it was to be […] could have been shown“ (153), sondern ihrer inneren Logik nach durchweg bewegt sich diese Geschichtssemiotik in Hypothesen. So verändert sich gerade auch der wichtigste Motiv-Strang, der den Roman durchzieht, die Symbolik von Dunkel und Licht, auf pathetische, aber zugleich selbstkritisch durchdachte Weise. Das beginnt mit rhythmischem und komplementärem Wechsel, etwa zwischen drinnen und draußen (38, 47, v. a. 70 ff.), Nacht und Tag, Umfeld und Lichtpunkt, oder Vorder- und Hintergrund: „The darkness deepened and deepened […] until a light gleamed through the chinks in the wall“ (79), „the corner was in shadow, though not in shadow so remote but that you could see beyond it into a glare of brightness“ <?page no="121"?> (123). Es folgt die Phase ambivalenter Blitz- und Feuer-Visionen: „there is a great crowd […], and I see them - by the Lightning“ (133), „the crimson […] sun“ (144), „in the glow […] the château […] reddened […] gleamed […] sparkled“ (157/ 158), bis zum Höhepunkt im Kapitel „Fire rises“ (256 ff.). All dies sind wesentlich ambivalente Sinnbilder von Veränderung und Befreiung auf der einen Seite, Rache, Wut, Destruktion, wie immer man es nennen will, auf der anderen. Gegenüber dem dunklen Fatum, das den ganzen Roman in immer neuen Entwürfen von Schatten und Nacht durchzieht und gerade am Ende noch vertieft wird - „the night comes on dark (for a) darkly ominous council“ (387), erhält die Licht-Symbolik zumindest einen Augenblick lang utopische Bedeutung: I see a beautiful city and a brilliant people rising from this abyss […] in their struggles to be truly free, in their triumphs and defeats, through long, long years to come. (404) Es erhebt sich die eingangs gestellte Frage mit anderen Alternativen erneut: Wird diese Vision durch den viel mächtiger präsentierten, sich immer wieder erneuernden Kreis von Unterdrückung und Terror von vornherein widerlegt? Crush humanity out of shape once more, under similar hammers, and it will twist itself into the same tortured forms [of horror, H. V. G.]. Sow the same seed of rapacious licence and oppression over again, and it will surely yield the same fruit according to its kind. (399) Gegenüber dieser erzählerischen Verdichtung eines historischen Fatums, „changeless and hopeless“ (400), liest sich die, noch dazu durch einen Irrealis eingeleitete („if he had given an utterance“, 404) und schnell sich in private Glücksbilder zurückziehende Vision eines Einzelnen, auch wenn sie „prophetic“ ist (ebd.), wie eine Randbemerkung. Aber die Anspielung auf die Johannes-Offenbarung, die im Roman seit langem vorbereitet ist - „the fair city of (his) vision […] in which the fruits of life hung ripening, waters of hope that sparkled in his sight“ (121/ 122) -, wie sie die Licht-Motive („brilliant“) intensiviert („the holy city had no need of the sun for the Glory of God did lighten it and the nations of them which are saved shall walk in the light of it“, Revelation 21, V.1, 23, 24) - stiftet doch auch ein Moment von Transzendenz, das durch die „Imitatio Christi“-Figur des Opfers unterstrichen wird. Damit bricht sehr deutlich die so prägende Polarität der beiden erzählten Räume auf. Denn wenn die späte und die frühere Vision Cartons („the city of his vision“) mit der Apokalypse zusammenhängen, dann erscheint hinter den „two cities“, Paris und London, von denen dieses „tale“ erzählt hatte, eine dritte, „ou-topische“, nirgends angesiedelte Stadt, die die Historie hinter sich Charles Dickens: A Tale of two Cities 113 <?page no="122"?> 114 Zwischen Monument und Nihilismus lässt. Anders gesagt: Wie der bürgerliche Bildungsheld Darnay ohne seinen alternativen Doppelgänger (Carton), den radikalen tragischen, transzendenten Märtyrer eines „far far better thing“ nicht überleben könnte, so steht auch der Leser vor der Alternative, welchem Diskurs die weiterreichende Bedeutung zukommt. Die Handlung des Romans mündet in eine lediglich private Versöhnung und in ein lediglich relatives Futurum. Das wäre den Romanschlüssen Walter Scotts vergleichbar, ist hier aber vor dem Hintergrund der Geschichte viel beliebiger motiviert. Es vermag sich vom Schema eines schicksalhaften Kreisens von Geschichte kaum abzusetzen: Aber die Zeichensprache des Romans spricht, wenn auch sehr mittelbar, von Utopie, zumindest von utopischer Funktion (vgl. unten Kap. 5.4), anders gesagt, sie evoziert eine Hoffnung auf Humanität, die von Erfahrung, also auch von der bis jetzt bekannten Geschichte, (noch) nicht eingelöst ist und die etwas Vieldeutiges und Unbekanntes hat. Charles Dickens: A Tale of two Cities. Ed. by George Woodcock. Harmondsworth: Penguin 1970. 4.3 Victor Hugo: Quatrevingt-Treize / Dreiundneunzig (1874) Die Jahre 1870/ 1871 waren nicht nur für Frankreich allgemein (Ende des II. Kaiserreichs, die Commune in Paris), sondern auch für Victor Hugo selbst Jahre des Umbruchs: Rückkehr aus dem Exil und neuerliche politische Enttäuschungen, Tod und Krankheiten in der Familie, mehrere nicht immer freiwillige Umzüge (vgl. z. B. Body 1965, 9 u. 15 f.). In seinem 1872 begonnenen Roman geht es um grundsätzliche Stellungnahmen zur französischen Geschichte und Gegenwart: Voici la Convention. Le regard devient fixe en présence de ce sommet. Jamais rien de plus haut n’est apparu sur l’horizon de l’histoire […]. Le 14 juillet avait délivré. Le 10 août avait foudroyé. Le 21 septembre fonda. Le 21 septembre, l’équinoxe, l’équilibre. Libra. (150/ 151) Da ist der Nationalkonvent. Der Blick erstarrt angesichts dieses Gipfels. Nie ist etwas Größeres am Horizont der Geschichte erschienen. Der 14. Juli hatte befreit. Der 10. August hatte vernichtet. Der 21. September begründete. Der 21. September, Tag- und Nachtgleiche, Gleichgewicht. Begründete die Freiheit. Hier sind nicht nur die Pausen im Lesefluss vorgesehen. Dieser Diskurs tritt ganz direkt als preisende Gedenkrede auf, Preisrede auf historische Institutionen und Ereignisse (hier also den französischen Nationalkonvent, der von <?page no="123"?> 1792 bis 1795 bestand). Keine noch so fundierte Literaturtheorie könnte diese Rede, obwohl sie zweifellos in einen Roman integriert ist, für lediglich fiktional erklären (vgl. unten Kap. 5.1 u. 5.2). Aber auf eine besondere Weise differenziert ist auch dieser Diskurs. Die rhetorische „Stimme“ - der Zeige- Gestus („Voici“), die affektive Integration der Hörer und Leser („le regard“ - von uns allen), die Hyperbel („jamais“), Anaphern und Geminatio („le 21 septembre“), Bekanntheit und Zustimmung wachrufende metonymische Verkürzungen („le 10 août“ - jeder weiß, für welches Ereignis dieses Datum steht), die generalisierenden Metaphern („l’équinoxe, l’équilibre“), die Klimax im Ganzen („délivré […] libra“) und noch mehr machen sie kenntlich - dies ist zweifellos die Stimme des Autors, der, indem er die Schrecken, ja das Scheitern der Revolution aufzeigt, zugleich für deren humane Notwendigkeit eintritt und sich an seine eigene Zeit wendet („Hugo montre l’échec de la Révolution en même temps qu’il la prouve dans sa réalité et sa nécessité [et il] réagit à la Commune de 1871.“, Roman 1999, 434 u. 447). Er will seine Leser rhetorisch für seine Geschichtssicht gewinnen. Dafür setzt er völlig sicher einen eigenen, längst etablierten historischen Diskurs voraus, wobei dessen Sicherheit nicht unbedingt der rhetorischen Suggestion entsprechen muss. Dass am 14. Juli (1789) der Sturm auf die Pariser Bastille erfolgte und die eigentliche Revolution begann, wissen wir meist. Aber welcher deutsche Leser müsste nicht nachschlagen: Am 10. August 1792 leitet die Eroberung der Tuilerien die Abschaffung des Königtums ein, am 21. September desselben Jahres tritt der Nationalkonvent zusammen? War das vor über hundert Jahren in Frankreich wesentlich anders? Vielleicht! Aber entscheidend ist, dass Victor Hugo gerade die „Wissbarkeit und Nachschlagbarkeit“, das Vorhandensein der Textsorte und der Spezialbibliothek: Geschichte der Französischen Revolution, sicher voraussetzen konnte. Und so offen wie Historie und Rhetorik hier, gerade weil sie sich theoretisch überschneiden (vgl. unten Kap. 5.1, v. a. die Thesen von Hayden White), auseinanderzudifferenzieren sind, so bewusst werden auch Fiktion und Historie von Anfang an in Quatrevingt-Treize in ihrer Verflechtung gegeneinander ausgespielt. Dans les derniers jours de mai 1793, un des bataillons parisiens amenés en Bretagne par Santerre fouillait le redoutable bois de la Saudraie en Astillé. / Es war an einem der letzten Tage des Jahres 1793, als eines jener Pariser Bataillone, die über Santerre in die Bretagne gebracht worden waren, den gefährlichen Wald von Saudraie in Astillé durchkämmte. (24) Die Distanz von Jahreszahl und historischem Hintergrund wird sogleich, wie in einem „Zeitsprung“, von einer Perspektive des „jetzt gerade“ abgelöst. Und die Kommentare einerseits zur Rekrutierung, Stärke, Ausrüstung dieses Bataillons sowie zur Gegend allgemein, andererseits in sie hineingeschnitten Victor Hugo: Quatrevingt-Treize 115 <?page no="124"?> 116 Zwischen Monument und Nihilismus die szenischen Ausblicke aus der Sicht der Soldaten, diese Diskurse historischen Wissens und fiktiven Erlebens sind noch ein ganzes Stück weit so rhythmisch voneinander abgesetzt, wie die erinnerten Schrecken des Krieges und die anschaulich präsentierte, friedliche Schönheit der Natur einander kontrastieren: Pas de lieu plus épouvantable. Les soldats s’y enfonçaient avec précaution. Tout était plein de fleurs […] Les oiseaux gazouillaient au-dessus des baionnettes. / Es gab keine fürchterlichere Gegend. Vorsichtig drangen die Soldaten ein. Alles stand in voller Blüte […] Die Vögel zwitscherten über den Bajonetten. (25) Victor Hugos letzter historischer Roman (zu einer genaueren Deutung des Anfangs vgl. unten Kap. 5.4; zur Entstehung und den Quellen vgl. z. B. Boudout 1963, I ff., Moatti 1985, 103) lässt sich also sowohl in die Tradition der Diskurstrennung (z. B. Manzoni, vgl. oben Kap. 2.4) einordnen - das zeigen sehr deutlich und großformatig v. a. die in Paris situierten Kapitel (109 ff.) - als auch in jene ungleich breitere Tradition szenischer Lebendigkeits-Illusion, ohne die kein historischer Roman auskommt (vgl. unten Kap. 5.3.1), die aber gerade in Frankreich, vor allem wohl durch die Vorbildfunktion des Theaters bedingt, seit Alfred de Vigny das ganze 19. Jahrhundert prägt. Und wie Dickens, Stifter oder C. F. Meyer sucht auch Victor Hugo, allerdings auf erneut spezifisch eigene Weise, die populären, ja trivialen Ivanhoe-Traditionen mit rhetorisch-künstlerisch höchstem Anspruch zu verbinden (vgl. oben Kap. 4, unten Kap. 5.3). So greifen etwa, was Scott, Thackeray, Fontane sorgfältig vermeiden, Bulwer-Lytton, Hauff, Alexis, auch Dickens oder Stifter aber nicht, fiktive Gestalten massiv in den Verlauf der Geschichte ein („L’histoire a de ces inconnus“ / „In der Geschichte gibt es solche Unbekannten“, 122). Auf alle Fälle sind typische Elemente des Abenteuerromans hier nicht zu übersehen: die gefährlichen Reisen in ein unheimliches Land (die Bretagne), unerwartete Nothelfer und knappes Entkommen, Kämpfe mit jähen Wendungen, unschuldige Opfer und deren Rettung, lichte und dunkle Helden, der Episoden-Rhythmus von Spannung und Ruhe, schließlich jene „Billard“-Form der Handlung - heute v. a. durch die Romane von Ken Follett sehr populär (The Pillars of the Earth, 1989, World without End, 2007) -, dass die Hauptakteure sich immer wieder treffen, mitnehmen und abstoßen, um erst zuletzt zur dramatischen Entscheidung, zumindest zu einem Schlussbild zusammen zu kommen, und sicher noch anderes mehr. In gezielter Mehrsträngigkeit beginnt der Roman, um an einem synthetischen, freilich einem problematisch-synthetischen Punkt zu enden. Das bereits genannte Bataillon des Revolutionsheeres, von den Kämpfen gegen die royalistischen Aufständischen in der Bretagne bereits bis auf einen sehr harten Kern zusammengeschmolzen, trifft auf eine schutz- und orientierungslose Mutter mit drei <?page no="125"?> Kindern und „adoptiert“ sie. Der (fiktive) Marquis und „prince breton“ Lantenac setzt mit dem Schiff von England nach Frankreich über, um dort das Oberkommando der (historischen) Aufständischen zu übernehmen; er erreicht nach vielen Gefahren und Schicksalswechseln die Küste der Bretagne, wird sofort steckbrieflich gesucht und von allen Seiten gejagt, aber ein Bettler und weiser Natur-Mensch rettet ihn. Der Marquis freilich, sobald er Anschluss an seine Partei findet, „töten, töten, töten! “ (vgl. 80) war schon lange seine Devise, lässt als erste, auffällige Tat die eben gefangengenommene Mutter erschießen; der Bettler jedoch findet sie noch rechtzeitig und pflegt sie wieder gesund; die Kinder werden auf Befehl des Marquis als eine Art Geiseln entführt; denn der Autor braucht sie für die letzte, endgültige Konfrontation. Diese an sich bereits recht spannende Handlung wird mit Beginn des zweiten Teils unterbrochen durch lange, mit vielen Anekdoten gefüllte Abhandlungen über die revolutionäre Stimmung auf den Straßen von Paris (110 ff.) und über das Funktionieren sowie die historische, politische, ja human-utopische Rolle der Nationalversammlung (150 ff., daraus wurde oben zitiert). Zwischen diesen beiden, von Lokalitäten ausgehenden, rhetorisch-historischen Blöcken findet sich die Biographie einer weiteren fiktiven, aber geschichtsmächtigen Gestalt: Cimourdain, ehemaliger Hausgeistlicher Lantenacs und väterlich liebevoller Erzieher von dessen verwaistem Neffen Gauvain - der wiederum im dritten Teil des Romans als republikanischer Oberst wichtig werden wird -, dieser Cimourdain ist ein Revolutionär von eiserner Prinzipienstrenge geworden, und, nach einem langen szenisch präsentierten, aber wie ein Totengespräch verdichteten, alle Fragen der Zeit abhandelnden Disput (125 ff.), schicken Danton, Robbespierre und Marat ausgerechnet ihn als Bevollmächtigten des Wohlfahrtsausschusses, also der revolutionären Regierung, in das Kampfgebiet in der Bretagne. Dort spielt der dritte Teil des Romans. Er beginnt mit einer breiten historisch-geographischen Vorstellung des Landes, seiner Wälder, seiner erdnah-bigotten Leute und so fort und führt, nach vielem Hin und Her der Gefechte - Cimourdain taucht beispielsweise plötzlich auf und rettet seinem Schüler-Sohn das Leben - zum letzten Schauplatz der Handlung, wo dann auch alle wichtigen Personen zusammentreffen. Lantenac und eine Handvoll Getreuer haben sich im düster archaischen Stammsitz seiner (und Gauvains) Familie „La Tourgue“ vor der republikanischen Übermacht verschanzt. Sie drohen im Falle eines Angriffs die drei in einem hölzernen, sonst unzugänglichen Anbau untergebrachten Kinder zu verbrennen. Der Angriff findet statt, das Feuer beginnt, Lantenac, zuletzt allein unversehrt, entkommt durch einen Geheimgang -, aber, aufgerüttelt durch den Entsetzensschrei der Mutter, die rechtzeitig dazukommt, kehrt er um, befreit die Kinder und gibt sich selbst gefangen. Doch Gauvain, nun seinerseits beeindruckt vom „Sieg der Menschlichkeit über den Menschen“, ja über „das Unmenschliche“ (vgl. 338), tauscht mit seinem Onkel den Platz im Gefängnis, lässt ihn also entfliehen. Er wird ausdrücklich selbst schuldig. Cimourdain muss das Todesurteil fällen. Die eigens für Lantenac herbeigeschaffte Guillotine tötet Gauvain, aber im selben Augenblick schießt sich Cimourdain durchs Herz: „Und die beiden tragisch verschwisterten Seelen entflohen zusammen, die Schatten der einen durchdrungen vom Licht der anderen.“ (vgl. 380) Victor Hugo: Quatrevingt-Treize 117 <?page no="126"?> 118 Zwischen Monument und Nihilismus Das letzte Zitat macht freilich deutlich, dass eine derartige Inhaltsangabe dem Roman nie gerecht werden kann. Alles ist intensiv stilisiert. Und gerade hier zeigen sich die Alternativen des historischen Romans: Statt der differenzierten Perspektivierung in der produktiven Scott-Nachfolge spricht der Erzähler / Autor selbst mit dem Leser und mit den und für die Personen, allerdings, wie gesehen, als ein rhetorisch-öffentliches Subjekt; sein betonter Stil inszeniert die für das 19. Jahrhundert zu Scott und seiner Tradition alternativen anti-historischen Differenzierungen (vgl. oben Kap. 4 sowie unten Kap. 5.3.2; Hugo „a pris ses distances avec Walter Scott“, Moatti 1985, 106), unterscheidet sich aber auch radikal von der ästhetischen Negation bei Flaubert, der quietistischen Distanz bei Stifter, der reflektierten, alles in Frage stellenden Auflösung der Historie in Gespräch, Konfiguration und Zeichen bei Raabe. Nur entfernt ähnelt dieser Stil den monumental-ästhetischen Überhöhungen aber auch Verwerfungen bei C. F. Meyer. Victor Hugos Rhetorisierung und Stilisierung von Geschichte arbeitet zwar, und darin steht sie wiederum deutlich in der französischen Tradition des historischen Romans, Widersprüche heraus, bis hin zu jener spielerisch entgegensetzenden Theatralik, die man auch bei de Vigny, Balzac, Mérimée oder Flaubert findet. Zugespitzte Antithesen prägen alle Erzählteile und Ebenen: On était entre un naufrage et un combat. (80) / „J’en suis le mendiant, et vous en êtes le seigneur.“ (90) / A la ville tragique succéda la ville cynique. (130) / Cimourdain […] savait tout de la science et ignorait tout de la vie. (119) / La Gironde c’était une élite; la Plaine, c’était la foule […] tragédies nouées par les géants et dénouées par les nains. (161/ 162) / Gauvain avait […] l’œil sérieux d’un prophète et le rire d’un enfant. (204) / „Tiens, c’est toi, prêtre! - Oui, c’est moi, traître.“ (247) / Cette mère […] avait le cri de la bête et le geste de la déesse. (324) / Man stand zwischen Schiffbruch und Kampf. / „Ich bin hier der Bettler und Sie sind der Herr.“ / Auf die tragische Stadt folgte die zynische. / Cimourdain wusste alles in den Wissenschaften und nichts vom Leben. / Die „Gironde“ war eine Elite, die „Ebene“ (zwei Parteien im Nationalkonvent) eine Masse […] Tragödien, von Riesen geschürzt, von Zwergen entwirrt. / Gauvain hatte das ernste Auge eines Propheten und das Lachen eines Kindes. / „Sieh an, Du bist es, Priester! - Ja, ich bin es, Verräter.“ (französisch ein Wortspiel) / Die Mutter sprach mit dem Schrei eines Tieres und der Geste einer Göttin. Aber alle diese Gegensätze sind historisch, politisch, moralisch - auch „mythisch“, wie das Beispiel der „Mutter“ zeigt -, und zuletzt utopisch auflösbar. Genau so sollen sie gesehen werden. Das gilt auch für die breiter ausgeführten Antithesen: etwa im Kapitel „Les deux poles du vrai“ / „Die beiden Pole der Wahrheit“ (226 ff.), wo der Autor keinen Zweifel daran lässt, dass die „république de la clémence“ (der Güte) über die „république de la terreur“ (des Schreckens, ebd.) wird siegen müssen oder im letzten Kapitel „Cependant le soleil se lève“ („Während die Sonne aufgeht“ aber auch „Gleichwohl geht die Sonne auf“, 373 ff.), wo die Konfrontation von mittelalterlichem <?page no="127"?> Turm und revolutionärer Guillotine, Vergangenheit und Gegenwart usw., unübersehbar bereits im Licht der Zukunft, also ideell und visionär (vgl. 379, „idéaliste avide de justice sociale“, Moatti 1985, 100) aufgehoben erscheint. Hugo nimmt in hohem Maße an den diskursiven und stilistischen Differenzierungen des 19. Jahrhunderts teil. Das geht bis ins Schriftbild hinein, etwa im Wechsel langer Abhandlungen und kürzester einzeiliger Absätze der zugespitzten Wechselreden oder Sentenzen. Kein Roman des 19. Jahrhunderts und wenige seitdem wirken auf den ersten Blick so „zerstückelt“ wie dieser („his novels tend to be centrifugal“, Brombert 1984, 7). Aber all das folgt einem integrierenden, von der Idee der Revolution ausgehenden Werte- Diskurs. (Dass „the ideals of 1789, logocentric and bourgeois through and through, are desoriented, made to suffer a devastating disarticulation“, Mehlman 1977, 89, scheint mir eine zu einseitige These.) Die vielen Rededuelle mit ihren durchaus theatralischen Effekten („Bist du bei den Weißen, bist du bei den Blauen? - Ich bin bei meinen Kindern! “, vgl. 30) sind in der Idee der Humanität auflösbar, so wie eben auch die Handlung diesen Widerspruch von Mutter, Kindern und Revolution auflösen wird. Die geschliffenen Reden, die die wichtigsten Personen manchmal halten, erreichen alle ihr Ziel. Die Mythisierungen von Maschinen (z. B. der anarchisch gewordenen Kanone, „tormentum belli“, 47 ff; natürlich die der Guillotine, 373ff.), die symbolische Überhöhung von Bauwerken oder Landschaften, diese expressive Bildersprache fügt sich in einen großen Mythos der Zivilisation: Der Fortschritt der Menschheit wird sich trotz aller Kämpfe und trotz aller Rückschläge immer weiter sublimieren. Auch der den ganzen Roman durchziehende, immer wieder betonte Gegensatz von Natur und Geschichte löst sich ideell auf, einerseits mythisch zurück -, andererseits utopisch vorausgreifend. Nur so, aber so durchaus kohärent, erhält beispielsweise die breite Erzählung vom Erwachen und den Spielen der drei Kinder ihre Bedeutung, die die Spannung des Romanschlusses unterbricht (258 ff.). Die Kinder - „Ces petits enfants, c’était l’immense avenir“ / „diese kleinen Kinder waren die unendliche Zukunft“ (114) hatte es schon früh geheißen - symbolisieren „adorables et purs“ / „anbetungswürdig und rein“ (271), einerseits die natürliche Unschuld der Menschheit, noch unkorrumpiert von der Geschichte, ihr goldenes Zeitalter („tout aimait tout“ / „alles liebte alles“, ebd.); andererseits aber stehen sie genauso deutlich für ein utopisches Jenseits aller historischen Zwänge, Aberglauben und Grausamkeiten, so wie im Spiel der Kinder „le massacre se termina par un évanouissement dans l’azur“ / „das Massaker sich im blauen Himmel auflöste“ (270). So hat auch in der mehrfach ausgearbeiteten Antithetik der Hauptpersonen (vgl. die Handlungszusammenfassung) Gauvain, der Vertreter utopischer Zukunft („l’utopie“, „l’avenir“, 370 u. 373) gegenüber der Vergan- Victor Hugo: Quatrevingt-Treize 119 <?page no="128"?> 120 Zwischen Monument und Nihilismus genheit (Lantenac) und der Gegenwart (Cimourdain), zugleich der Anwalt einer humanen Versöhnung von Natur und Geschichte das letzte Wort; und ihm gilt auch die letzte utopische Verklärung: Soyons la société humaine. Plus grande que nature […] la nature sublimée […] l’avenir / Lasst uns die menschliche Gesellschaft sein. Größer als die Natur, eine erhaben veredelte Natur, die Zukunft. / Il ressemblait à une vision […] superbe et tranquille. Le soleil, l’enveloppant, le mettait comme dans une gloire. / Er glich einer Vision, herrlich und ruhig. Die Sonne umhüllte ihn mit ihrem Licht wie mit einem Glorienschein. (372/ 373, 379) Von einer Idee der Humanität aus, die die Faktizität der Geschichte utopisch weiterdenkt und zugleich ihre Forderung ihr entgegen entwirft, ist Quatrevingt-Treize konzipiert. Das ist wohlgemerkt lediglich eine konsequente Fortsetzung jener synekdochischen („pars pro toto“) Verallgemeinerung, die von Anfang an zur Kernpoetik des historischen Romans gehört. Utopische Momente finden sich hier ja auch seit je (vgl. auch unten Kap. 5.4): konstitutiv bei Arnim, beiläufig bei Manzoni, konsequent bei Dickens, verdeckt vielleicht bei Thackeray, problematisch bei Stifter, romantisch-retrospektiv in Fontanes Vor dem Sturm, aber womöglich noch experimenteller als bei Hugo in seinem Likedeeler-Fragment (vgl. oben Kap. 3.7). Und natürlich begegnet man utopischen Perspektiven vielfach im historischen Roman des 20. Jahrhunderts: Heinrich Mann, Louis Aragon, Marguerite Yourcenar, Kurt Vonnegut, um nur ein paar der wichtigsten zu nennen, folgen letztlich auch der von Hugo ausformulierten, allerdings bei ihm so thetisch wie nirgends sonst konstruierten utopisch-transzendierenden Verallgemeinerung (vgl. unten Kap. 5.4). Gleichwohl gibt es Unterschiede, und der wichtigste ist dieser: An die Stelle der sonst, vor allem im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts eingeführten narrativen Brechungen, spielerischen Momente, hypothetischen Vorbehalte - aber auch bei Hugo steht die Sicherheit der idealen Behauptung, das zweifelsfreie Postulat der Humanität, ihr lediglich exemplarischer, fiktiver Nachweis, gegen das noch unaufgelöst Schreckliche der erzählten, allgemeinen Geschichte („the immensely hopeful future“ steht gegen „the justification of revolutionary violence“, Brombert 1984, 207/ 208) - an die Stelle der diskursiven Anführungszeichen, die sonst die utopischen Passagen im historischen Roman umgeben, tritt bei Victor Hugo eben die explizite Rhetorik. Doch auch dies, so auffallend (heute vielleicht abstoßend) es auftritt, bedeutet nur einen relativen Unterschied. Jede Beschäftigung mit Geschichte sucht die Plausibilität ihrer Wahrheit, ihren Überredungs-Zweck diskursiv herzustellen. So impliziert Geschichte immer Rhetorik. Und die Differenzierung von Fiktion und Historie treibt das erst recht heraus (vgl. unten Kap. 5.3). Victor Hugo führt diese Rhetorisierung von Geschichte nur offener und konsequenter aus als andere. <?page no="129"?> Und Rhetorisierung bedeutet umgekehrt durchaus auch Relativierung. Nicht nur beanspruchen beispielsweise die von Gauvain im Namen des Autors vorgetragenen konkreten politischen Vorschläge (Abschaffung des Wehrdienstes sowie der direkten Steuern, völlige familiäre, soziale und politische Gleichberechtigung der Frau, Landverteilung, Nutzung erneuerbarer Energien, Republik der besten Geister, vgl. 369 ff.) kaum dieselbe Allgemeinheit wie die das Ganze prägende, grundsätzliche, jedes Detail hinter sich lassende, humanistisch-utopische Perspektive, „a utopion future based on collective salvation“ (Brombert 1984, 223), „le germe d’une autre justice, cette de la clémence“ (Roman 1999, 437). Der Autor besteigt mit Quatrevingt-Treize sozusagen öffentlich die Rednertribüne: Ich schlage Euch diese Idee mit aller Überzeugung und aller Kunst vor, über die ich gebiete. Aber sie ist mit der Historie nicht einfach identisch. Im Gegenteil: Die Geschichte lehrt, dass meine ideal-utopischen Forderungen noch lange nicht eingelöst sind; aber sofern mein Roman Euch anrührt und überzeugt, haben sie vielleicht eine Chance. Victor Hugo: Quatrevingt-Treize. Hg. von Jacques Body. Paris: Garnier 1965. Ders.: Quatrevingt-Treize. Hg. von Jean Boudout. Paris: Garnier 1963. Body: Chronologie et Préface. 1965. • Boudout: Introduction. 1963. • Brombert: Victor Hugo and the visionary novel. 1984. • Gohin: Victor Hugo. 1987. • Mehlmann: Revolution and Repetition. 1977. • Moatti: „Quatrevingt-treize“. 1985. • Roman: Victor Hugo et le roman philosophique. 1999. • Rosa: „Quatrevingt-treize“ ou la critique du roman historique. 1975. 4.4 Conrad Ferdinand Meyer: Jürg Jenatsch (1876) Der Schluss dieses Romans liest sich aus heutiger Sicht wie ein Drehbuch zu einem reich ausgestatteten Historien-Film; man sieht zwei Einstellungen, von denen die letzte als Bild stehen bleibt, und hört dazu einen Kommentar im „off“: Jetzt, in traumhaftem Entschlusse, hob sie mit beiden Händen die ihr vererbte Waffe und traf mit ganzer Kraft das teure Haupt. Jürgs Arme sanken, er blickte die hoch vor ihm Stehende mit voller Liebe an, ein düsterer Triumph flog über seine Züge, dann stürzte er schwer zusammen. […] Als das erste Entsetzten vorüber war und die Verwirrung der Gemüter sich löste, kamen die Häupter der Stadt eines nach dem anderen in die Totenkammer und klagten um Bündens größten Mann, seinen Befreier und Wiederhersteller. […] Sie beschlossen, ihn mit ungewöhnlichen, seinen Verdiensten um das Land angemessenen Ehren zu bestatten. (272/ 273) Auch inhaltlich geht es um starke Aussagen: Ein mythisches, reinigendes Opfer scheint vollzogen; persönlich „liebende Feindschaft“ hat sich tragisch aufgelöst („das Haupt des Erschlagenen lag in ihrem Schoße“, ebd.); ein historischer Konflikt geht in ruhigen Fortschritt über. Der Untertitel Eine Conrad Ferdinand Meyer: Jürg Jenatsch 121 <?page no="130"?> 122 Zwischen Monument und Nihilismus Bündnergeschichte wird zuletzt als der einer Geschichte von Wert und Sinn bestätigt. Aber wie diese Projektion einer dramatischen Szene auf die historische Landschaft den Gestalten etwas Übergroßes und Übermächtiges verleiht („mit ganzer Kraft“, „hoch vor ihm stehend“, „stürzte schwer zusammen“), so abstrahiert die Bildfolge zur offensichtlich gewollten Theatralik. Und die letzten Sätze verweisen bereits auf ein Denkmal, in dem die Geschichte aufgehoben scheint. Auch C. F. Meyer, genauso wie Dickens, Stifter, selbst Flaubert, scheut die Berührung mit trivialen Traditionen nicht (diese sollten zumindest der „literarischen Inszenierung des Heldenbildes der klassischen Geschichtsphilosophie“, Jäger 1998, 133, hinzugezählt werden). Dieser Romanheld ist wirklich ein „Held“: edel, stark - bei seinem ersten Auftreten schleift er „einen gewaltigen Raufdegen“ (32) - übermotiviert (vgl. unten exemplarisch Kap. 4.5), militärisch erfolgreich, sozial gesehen eigentlich ja ein Aufsteiger und, wie gesagt, durch die Geschichte bestätigt. Aber so würde man der Konzeption dieses Romans sicher nicht gerecht: Die „Gewalt eines unbändigen Willens“ und „die Gefahren eines stürmischen öffentlichen Lebens“ (32) stehen von Anfang an in einem immer tiefer reichenden unlösbaren Konflikt miteinander, den der Roman verortet, beurteilt, aber auch genießt: Der Hinweis auf den „protestantischen König“ in Prag (8) und den „reichen Prunk von Blättern und Trauben“ (31) lässt die Handlung im Herbst 1919 beginnen. Der Pfarrer und „Volksführer“ (43) Georg Jenatsch, motiviert von Heimatliebe, konfessioneller Verantwortung, Angriffen auf ihn persönlich (seine Frau, eine liebevolle Dienerin kommt dabei zu Tode), nicht zuletzt getrieben von der inneren Energie dieses „seine wilde Freiheit über alles liebenden Volksstammes“ (70), wird Anführer einer politischen, dann militärischen Partei, die auch nach jahrelangen Rückschlägen noch für die Unabhängigkeit Graubündens gegenüber Spanien-Oberitalien-Österreich (konkret dessen Interesse an den Alpenpässen) kämpft. Zunächst („er troff von Blut“, 74) hat er Erfolg. Bald aber muss er fliehen und geht „zum Mansfeld“ in den „großen deutschen Kampfplatz“ um dort „das Los (s)einer Heimat“ mit zu entscheiden (76). Als „Kriegsmann“ (83) kehrt er im Winter 1634 auf die Roman-Szene zurück. Er schließt gegen Habsburg ein Bündnis mit Frankreich, nach dessen Erfolg aber, um Richelieus Expansions- und Machtpolitik zu begegnen, 1636 ein Geheimabkommen mit Spanien, ein „Judasgedanke“ (176) der zum „Weg […] der Schande“ (179), aber auch zum Erfolg führt. Jenatsch, der im Verlauf dieses Bündnisses sogar zum Katholizismus konvertiert, wird zum „verratbefleckten Befreier Bündens“ (224), während sein früherer Gönner und jetziger Gegner, der französische Hugenotte Herzog Rohan, seinen Überzeugungen treu bleibt („ist es für mich unmöglich, zugleich ein Franzose und ein Ehrenmann zu sein, so wähle ich das letztere“, 218) und als einfacher Soldat im dreißigjährigen Krieg fällt. Endgültig tragisch verläuft Jenatschs Leben allerdings erst durch die Verbindung politischer und privater Konflikte. Er, arm und protestantisch, liebt seit seiner Kindheit die reiche und katholische Lucretia. Ihr Vater ist sein Hauptgegner; Jenatsch ist zumindest mitbeteiligt an seiner Ermordung; dennoch bleibt Lucretias Liebe so stark, dass sie ihn verschiedentlich warnt und ihm hilft. Noch in der Schlussszene (sie ist durch den Hinweis <?page no="131"?> auf die Schlacht von Rheinfelden einerseits, die „Fastnachtzeit“ andererseits, vgl. 260 ff., auf das Frühjahr 1638 datierbar) verschmelzen Liebe für den „rettungslos“ von spanisch gelenkten (vgl. 241) „meuchlerischen Waffen“ umgebenen Jenatsch, „Verzweiflung“ und „blutige“ Familienbindung zu einer, allerdings nur auf den ersten Blick, mythisch reinigenden Handlung: „Jürg ist mein“. (249) C. F. Meyers Roman ist der „französischste“ historische Roman der deutschsprachigen Literatur im 19. Jahrhundert. Wie bei de Vigny, Mérimée, Balzac, Flaubert oder Victor Hugo dominieren offene Antagonismen und unlösbare Konflikte, die in „Entscheidungssituationen“ (Jäger 1998, 127) theatralisch verdichtet werden; wie bei de Vigny muss der Held sich zwischen Ehre und Patriotismus entscheiden; tragische Liebe zwischen Gegnern hatte Walter Scott beispielsweise in The Bride of Lammermoor (1819) in eine Seitenepisode der Historie verschoben, in Old Mortality gewichtiger und dem Jenatsch vergleichbarer dargestellt, zuletzt aber eindeutig der Überzeugung von historischem Fortschritt zugeordnet und entsprechend glücklich enden lassen; in der kritisch-kreativen Scott-Rezeption wird so melodramatisch nie argumentiert; aber deutlich ist die Ähnlichkeit zu Balzacs Les Chouans (1829) oder Flauberts Salammbô; wie in Cinq Mars (1826), Les Chouans, Salammbô, Quatrevingt-Treize (1874), anders gesagt, wie in einer klassischen Tragödie, bestimmen Liebe und Tod die Schlussszene. Auch das rhetorisch-theatralische Moment tritt bei C. F. Meyer so massiv hervor, wie sonst eben v. a. im französischen historischen Roman des 19. Jahrhunderts. Die Zuspitzung, den Geliebten „mit reinen, gerechten Händen töten“ zu müssen (249), wird so klar, wie in einem Monolog ad spectatores, meines Wissens nur noch im Dialog des vorletzten Kapitels von Quatrevingt-Treize vorgetragen. Und wie v. a. eben im französischen Roman ist die Spiegelung gegenwärtiger Konflikte (hier also der protestantisch-katholische „Kulturkampf“ als geradezu „kultureller Kode“, Andermatt 2002, 32) in der Historie nahezu offen inszeniert. Auf den Vielheitsroman voraus verweisen die durchaus alternativen Lebensentwürfe. Es entsteht ein „überaus komplexer Spielraum“, in dem „verschiedene Spiegelebenen“ diskursiv „zur Interaktion“ gebracht werden (Andermatt 2001, 181). Nicht nur der tragische Held Rohan, moralisch integer, tapfer, klug und mild zugleich, von Richelieu betrogen, von Jenatsch verraten, stellt zu diesem einen Gegenentwurf dar. Auf erneut diametral andere Weise gilt das für den kalten Diplomaten Grimani - gerade dieser aber nimmt analysierend die nähere wie die ferne Zukunft vorweg (vgl. 122 und 132 f.). Auch die weiteren Gegenentwürfe zu Jenatsch sind zu plastisch ausgeführt, um beliebig zu sein. Da ist etwa der Humanist und Züricher Staatsbeamte Waser, Jenatschs Freund, oft ein die Perspektive gebender Beobachter (darin zeigt sich noch am ehesten die Walter Scott-Tradition; am Romananfang „reist“ Waser wie ein „mittlerer Held“, vgl. oben Kap. 2.1, in die Historie hinein): eine personifizierte beobachtende, also vorwegnehmend bereits his- Conrad Ferdinand Meyer: Jürg Jenatsch 123 <?page no="132"?> 124 Zwischen Monument und Nihilismus torische Vernunft. Zu ihm, Jenatsch, Rohan, aber auch untereinander im Gegensatz stehen beispielsweise der christlich-stoische Märtyrer Blasius oder der historische Motoriker und Opportunist Wertmüller. Damit sind nur die wichtigsten Gestalten genannt. Diese vielfache Antithetik von „Geschichts- Helden“ ist plastischer und trennschärfer ausgeführt als das vergleichbare Personenfeld in Fontanes Vor dem Sturm (1878, vgl. oben Kap. 3.7). Denkt man an Mathô, Spendius, Hanno usw. in Salammbô, Lantenac, Cimourdain, Gauvain in Quatrevingt-Treize oder an Romane wie La semaine sainte (1958) von Louis Aragon oder und besonders an L’œuvre au Noir (1968) von Marguerite Yourcenar, so zeigt sich eigentümlich genau erneut die französische Tradition bei C. F. Meyer. Der Jürg Jenatsch ist durchaus auch ein Roman mehrerer Perspektiven. Darin setzt er wiederum die Scott-Tradition fort. Das ließe sich differenziert zeigen, sei hier jedoch, da kaum zu überlesen, nur genannt. Aber wie diese mehrfachen Sichtweisen in monumentalen Bildern, vor allem jedoch in der Gestalt des Jenatsch selbst zusammengeführt werden (ein „Sinnzentrum der Geschichte“, das selbst, eben im Schnittpunkt der Perspektiven „Gegenstand der Überprüfung durch die Erzählung“ wird, Jäger 1998, 140), so ist auch die farbige, wechselvolle, in ihre Tiefe hinein gegliederte Raum- und Naturdarstellung - man denke nur an die Gebirgslandschaft am Anfang mit ihren jähen Gegensätzen und gefährlichen Verweisungen oder an das Unwetter am Romanende - mit Jenatschs leidenschaftlichem, von Konflikten geprägtem Charakter immer im Bunde. Er verkörpert diese Landschaft, sie spricht ihn aus. So überragt und verdeckt seine Gestalt hier auch die eben genannten alternativen Helden. Der „gesetzlose Kraftmensch“ mit seinem „unbändigen Willen“, den „sein Dämon trieb“ (238, 254), wächst über alle politische oder moralische Vernunft hinaus. Aber inwiefern gerät er damit, und das sind im Roman seine eigenen Worte, „ins Unbekannte, ins Leere hinein“ (259)? Auf dem Gipfel des Ruhmes (genauso wie) in der Tiefe des Elends […] war etwas Maßloses in seinem Wesen, eine gereizte Gewaltsamkeit in seiner Stimme und Haltung, als hätte eine übermenschliche Kraftanstrengung ihn aus dem Geleise und über die letzten, seiner Natur gesetzten Marksteine hinausgeworfen. (257, 229) Es ist bezeichnend, dass man hier Erzähler- und Personenreden so bruchlos zusammenschneiden kann. Die Perspektiven vereinen sich, der Diskurs hebt sich auf zum Bild. So wird retrospektiv ja auch der moralisch-politische Konflikt aufgelöst: Es waren schließlich „zum Heile des Vaterlandes notwendige Taten, die von reinen Händen nicht vollbracht werden können“ (254), die Jenatsch sich vorzuwerfen hätte - noch dazu, und diese neuerliche Übermotivierung ist nicht zu bestreiten, war der „gewissenlose […] Wortbruch“ (174, 217) zuerst von Frankreich ausgegangen -, so wie ja auch die „Ehren“ des „Befreiers“ von Graubünden (273) in der Geschichte fortleben. <?page no="133"?> Dass Jenatsch nach und nach „sein Selbst vernichtet“ (242, vgl. 188), heißt zugleich, dass er sich als dämonischer, historisch-monumentalischer Held erst eigentlich verwirklicht. Worauf zielt also dieses „ins Leere“ Treiben und sich „selbst“ Vernichten? Einerseits steht Jenatsch am Ende des Romans in der Schweizer Geschichte - es wird ja immer auch der ruhigere demokratische Fortschritt in Zürich oder der „solide Reichtum“ in Chur (250) dargestellt - wie ein Standbild an seinem bekannten, wichtigen Platz. Andererseits aber, und seine private Tragik vertieft gerade darin seine öffentliche, ist er nicht nur in sich zerrissen, sondern entfernt sich auch von anderen immer weiter. So selbstverständlich, aber damit eben auch begrenzt interessant, seine historische Bedeutung geworden ist, so unverständlich wird er sich und anderen. Gerade so kann ihn Lucretia zugleich lieben und töten. Dem innerlich „Unbekannten“ und der „Selbstvernichtung“ entspricht der äußerliche, sinnlos-zerstörerische „wilde Tanz“ eines bloßen „Maskenhaufens“ (270/ 271) in der Schlussszene. Solche Negationen („die Idee einer höheren sinnhaften Ordnung […] bleibt leer“, besser: wird nach und nach entleert, Jäger 1998, 178) passen nicht mehr in den historischen oder den moralisierenden Diskurs. Vielmehr legen sie, so scheint mir, als originären Zugriff auf Geschichte wie Fiktion eine ästhetische Einstellung frei. Dass die Differenz von Fiktion und Historie auch in ästhetische Negation umschlagen kann - erzähltheoretisch gesehen wäre dies eine „diastratische“ Differenzierung: Stil und narrativer Entwurf setzen sich ab von den Bezeichnungs-, Verknüpfungs- und Deutungsfunktionen der Diskurse (vgl. unten Kap. 5) - wurde prinzipiell bereits bei Alfred de Vignys Cinq Mars (1826) sichtbar: Die Sinnlosigkeit der Geschichte (das Auf und Ab der Treppen), ihre Kälte (das Schneefeld nach der Lawine), ihre Dekadenz usw. waren nur in ästhetischer Distanz autonomer Kunst („la vérité de l’art“) auszuhalten gewesen. Und diese ästhetische Einstellung konnte sich mit dem, hier gegen die Historie gar nicht zu riskierenden Eigenwert von Wissenschaft, Philosophie und eben Kunst verbinden (vgl. das „zeitlose“ Gespräch am Ende des 26. Kapitels sowie oben Kap. 2.6). Wie die Stilisierungen bei Stifter und Flaubert zu gegensätzlichen Formen ästhetischer Negation von Geschichte führen, wird gleich zu zeigen sein (vgl. unten Kap. 4.4 und 4.5). Man kann dabei wieder einmal sehen, dass es „den“ traditionellen historischen Roman oder „den“ des 19. Jahrhunderts nie gegeben hat: Thackerays Henry Esmond (1852) etwa, um ein alternatives Beispiel der kritisch-produktiven Walter Scott-Nachfolge zu zitieren, lehnt solche Ästhetisierungen im Gespräch mit Addison ausdrücklich ab („Sir, had you made the campaign, believe me, you never would have sung it so.“, Henry Esmond, 297), das Verlangen, „alles so ganz und gar auf das Ästhetische zurückzuführen“, ist in Fontanes Schach von Wuthenow (1882, 571) verwerflich, in Raabes Odfeld (1888) führt ein bloßes Spiel der Conrad Ferdinand Meyer: Jürg Jenatsch 125 <?page no="134"?> 126 Zwischen Monument und Nihilismus Farben und Konfigurationen („Rot und Blau, Grün, Gelb und Weiß, silberne Litzen und goldene“, 210) in einen Wirbel von Sinnlosigkeit. Solche Vergleiche zeigen aber auch das durchaus eigene Profil von C. F. Meyers Jürg Jenatsch: Wo de Vigny intellektuelle Distanz sucht, Stifter indifferente Stille, Flaubert eine kontrafaktische, und als solche ausgekostete ästhetische Autonomie („le vide historique [et] l’art pur“, Scepi 2003, 51), da führt Meyers Ästhetisierung - man kann an die Lebensphilosophie im späten 19. Jahrhundert erinnern, an Symbolismen in Dichtung und Malerei, die ein Gegenbild zur „décadence“ ihrer Zeit suchten, das „Unbekannte“ ist ein zentrales Stichwort - zur Evokation starken, intensiven Lebens, das nur sich selbst zum Inhalt hat. Dieser Roman, genauer: sein Wertediskurs, spricht mit mehreren Stimmen (zur Erzähltheorie im Anschluss an Bachtin und zum „modernen“ Paradigma Faulkner vgl. unten Kap. 5.3.2.2 und 6.2; „eine spannungsreiche Gebrochenheit, die Mehrdeutigkeit erzeugt“, Zenker 2006, 230, scheint mir treffender als die These: „Die behauptete Einheit von Gesetz und Sinn in der Geschichte erweist sich als Farce.“, Jäger 1998, 21): Der historische Erzähler arbeitet am Monument; die moralische Erzählerstimme weist unüberwindbare Konflikte auf. Aber der implizite Autor, der Regisseur des Ganzen und zugleich die primäre Instanz erzählerischer Entwürfe spricht von einem dämonischen Willen, der sich verwirklicht, indem er sich verzehrt. So hatte schon der Stil am Romanbeginn noch vor aller Kontur fiktiver wie historischer Welt - das kann freilich nur ein punktuelles Beispiel sein - am Bild der Gebirgslandschaft das „Brennen“, „Stechen“, das „geballte Quellen“, „grelle Leuchten“, das „Schwüle“, „Drückende“ und „Nackte“ betont. Kräftige, leuchtende Farben, starke Bewegungen, kontrastreiche Gliederungen, intensive Eindrücke beherrschen die Szenerie, so wie Handlung und Charakter sich dynamisch in Extremen entwickeln. Aber dieser Symbolismus hat nicht, wie etwa der von Dunkel und Licht in Dickens’ A Tale of two Cities (1859) einen geschichtsphilosophischen, zuletzt utopischen Sinn; schon gar nicht steht wie in Victor Hugos Quatrevingt-Treize (1874) eine harmonische Natur im Kontrast zur Geschichte. Indem die Jenatsch-Gestalt alle diese vitale Bildhaftigkeit, und dies durchaus auch im Sinne von „Kontingenzmetaphern“ (Fauser 2000, 218) auf sich zieht, indem ihre dämonische „Rätselhaftigkeit“ (Zenker 2006, 230) immer wieder verallgemeinernd interpretiert wird von der Natur und dem erzählten Raum, soll sie in der Energie ihrer Wirkung auf andere und auf die Leser nicht nur über ihre Gegenspieler sondern auch über alle moralischen, ja intelligiblen Bedenken hinauswachsen: in eine „tendenzlose Geschichtsteleologie“ (Jäger 1998, 178) also „ins Unbekannte“, nur noch ästhetisch zu Erfassende hinein. Aber diese ästhetische, post-rationale und post-diskursive Botschaft des Romans ist, wie gesagt, nur eine unter andern. Die moralische Tragik und das <?page no="135"?> historisch-patriotische Denkmal werden keinesfalls von ihr aufgehoben („Metaphysisches, Ästhetisches und Ethisches vermischen“ sich ohne eine „einheitsstiftende Synthese“, Zenker 2006, 243). So wie der „wilde Tanz“ des Lebens und des Todes am Ende des Romans die Geschichte nicht verlässt, so spricht auch aus dieser Ästhetik der Vitalität, Größe und Leidenschaft eher eine halb eingestandene Faszination als ein Programm. Aber auch so, blickt man nach vorn, eröffnen sich Bezüge: zum Dämonischen des Titelhelden und zum Vitalismus am Ende von Döblins Wallenstein (1918), zu einem kreativ-zerstörerischen Willensmenschen wie William Faulkners Sutpen in Absalom, Absalom! (1936, vgl. unten Kap. 6.1 u. 6.2), bis hin zum „Erlkönig“, der immer nur seinem vitalen Trieb folgt, der rettet und vernichtet zugleich, in Michel Tourniers Le roi des aulnes (1970) oder zu dem besessen planenden, auf seine Weise durchaus ein perverses „Gesamt-Kunstwerk“ schaffenden Raketen-Konstrukteur in Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow (1973, vgl. unten Kap. 8.1.3 u. 8.3.1). Das ästhetisierte Dämonische enthält aus späterer Sicht auch etwas latent Katastrophales. Conrad Ferdinand Meyer: Jürg Jenatsch. Stuttgart: Reclam, 1972. Andermatt: Conrad Ferdinand Meyer und der Kulturkampf. 2001. • Andermatt: Konfessionalität, Identität, Differenz. 2002. • Fauser: Historische Größe. 2000. • Jäger: Die historischen Erzählungen Conrad Ferdinand Meyers. 1998. • Zenker: Conrad Ferdinand Meyers erzählte Welt. 2006. 4.5 Adalbert Stifter: Witiko (1865-1867) Der Mann […] noch in jugendlichem Alter […] hatte ein blaßgrünes Ritterkleid von Sammet, Gold und edlen Steinen. […] Er hatte blonde Locken, blaue Augen, sanfte Wangen und einen goldschimmernden Bart […] „Witiko, jetzt ist dir keiner gleich.“ (12, 821 u. 966) Nie in der Geschichte des historischen Romans wurden triviale Muster so entschieden veredelt wie bei Stifter. So wie hier Zitate des Anfangs, ersten Höhepunkts (Witikos Hochzeit) und des Nahezu-Schlusses zusammengeschnitten werden, so unbeirrbar verläuft der soziale Aufstieg dieses starkblond-blauäuigigen, tapfer-edel-sanften Helden: vom einsamen Reiter zum adeligen Lehens-Herrn und zum „Heerführer, Gesandten und obersten Truchseß des Königreichs Böhmen“ (965) - aber immer noch können zu ihm wie eh und je „des Abends Männer in Lammspelzen“ (966) kommen. (So wie in Jeffrey Archers As the Crow Flies, 1991, ein junger Inhaber eines beweglichen Obststandes es zum Kaufhauskönig und Lord bringt und immer noch gelegentlich in einer alten Jacke und mit Schiebermütze an seinem Verkaufskarren seine Ware ausruft.) Doch die letztlich einfache Handlung wird extrem gereinigt und stilisiert. Hätten wir ausführlicher zitiert, es wäre sofort Adalbert Stifter: Witiko 127 <?page no="136"?> 128 Zwischen Monument und Nihilismus sichtbar geworden, wie z. B. die ritualisierten Handlungen und Reden, die edlen Stoffe und Steine usw. die Gestalt völlig zudecken. „Die Ordnung Witikos setzt sich durch, weil er sie in ritualhaften Handlungen als bereits durchgesetzte zelebriert“ (Bolterauer 2003, 387, vgl. 383 ff.). Was der Romanheld „zelebriert“ hat sein Autor stilisierend gesetzt, ausdrücklich auch dann, wenn es „historisch unrichtig sein mag“ (ebd.). So eröffnet diese extreme und konsequente Stilisierung, eine „Herstellung von Ordnungen, die nichts sind als Text“ (Begemann 1995, 87), zumindest als eine ihrer Deutungsperspektiven die Möglichkeit, negativ und antihistorisch gelesen zu werden: „Es kommt zu einem Konflikt von Form und Inhalt(en), das Ästhetische hält Einzug in den Roman“ (Lach 2005, 438). Die Handlung des Witiko ist so genau in die Geschichte Böhmens eingefügt, wie ihre historischen Daten sorgfältig genannt werden. Sie beginnt im Spätsommer 1138. Der junge Kleinadelige Witiko sucht und findet in Böhmen sein Glück. Nach dem Muster eines (freilich zutiefst problemlosen) Bildungsromans trifft er zuerst seine noch kindliche, jedoch lebenslange Geliebte und spätere Frau, dann den späteren Herzog von Böhmen. Er dient zwar zuerst dem alten und kranken Herzog Sob ˇ eslaw (ich übernehme Stifters Schreibweisen) - statt zu spionieren ist er völlig aufrichtig und hat gerade dadurch Erfolg -, dann aber nach einem genau motivierten Seitenwechsel im Verlauf der Erbfolge-Wirren und Kriege, das bildet den Höhepunkt und Hauptteil der Handlung 1142/ 43, schwenkt er über zum Neffen Sob ˇ eslaws, Wladislaw II (Herzog seit 1140, von 1158-1177 erster König von Böhmen). Für seine teils sehr tapferen, von der Treue seiner Landsleute aus dem Böhmerwald unterstützten, teils sehr klugen Dienste - er lässt z. B. Anführer einer aufständischen Adelspartei entkommen und gibt ihnen so die Möglichkeit, sich kampflos zu unterwerfen -, wird er mit der Erhebung zum Lechen / Baron sowie mit Land und Untertanen, die ihm freilich ohnehin folgen würden, belohnt. Seine Hochzeit und der Bezug seiner Burg (auf 1144 zu datieren) markieren eigentlich schon die Entscheidung seiner Schicksale. Seine Teilnahme am zweiten Italienzug Barbarossas 1158-1162, zuletzt am Mainzer Reichstag Pfingsten 1184 bestätigt nur, wie genau sein Aufstieg in den Böhmens eingefügt ist. Das alles entscheidende Ereignis ist sein Parteiwechsel. Er ist in einer für die Tradition des historischen Romans sehr sprechenden Weise „übermotiviert“ (vgl. auch unten Kap. 5.3). Und das hat durchaus auch historische Relevanz. Auf alle Fälle knüpft Witiko hier an die populäre, ja triviale Walter Scott- Nachfolge an. Für Waverley in Scotts gleichnamigem Roman (1814) war sein Parteienwechsel von einem Gewirr aus Verliebtheit, Verwechslungen, Zwang, Täuschung und Selbsttäuschung motiviert, und der klare Verstand hatte sofort widersprochen. Aber schon in Ivanhoe (1819) gehen Emotionen (Liebe, Freundschaft, Antipathie), Ethik in Form von Treue und einem sicheren Gefühl für Gut und Böse, gehen der hier sehr wichtige Sog des Abenteuers (die gefährliche Reise, Macht und Geheimnis des „schwarzen Ritters“, die Helfer aus dem Gebüsch, der gerade noch glückliche Kampf) und nationale Idee (die <?page no="137"?> vereinigte Stärke von Sachsen und Normannen) eine Verbindung ein, die nahezu unwiderstehlich ist. Und dazu tritt letztlich auch ein durchaus bürgerlich-liberales Kalkül. Ivanhoe investiert seine Fähigkeiten zwar riskant, aber - der Rebecca-Strang bringt alles in allem keinen Verlust - mit maximalem Gewinn. Noch konsequenter gilt eine solche eindeutige Wertentwicklung für Georg Sturmfeder in Wilhelm Hauffs Lichtenstein (1828). Nicht nur Liebe zieht ihn auf die Seite Württembergs, es kommt die persönliche Beleidigung durch den Truchsess Georg von Waldburg hinzu (den späteren „Bauernjörg“), einen Heerführer des „Schwäbischen Bundes“ im Krieg gegen Ulrich von Württemberg (1519 ff.), moralische Bedenken gegen den „unehrenhaften“ Auftrag als Spion arbeiten zu sollen und überhaupt ethische Skrupel sprechen mit, dass eine „Sache“ gegen einen durch „geheime Ränke“ ausmanövrierten Gegner „ihre Ungerechtigkeit an der Stirne trug“. Diese Moral erweist sich schnell als klug erkannter Vorteil: „Sobald (er) über die Alb wäre“, hätte so ein Spion nicht lange überlebt (Lichtenstein, 51 und 217). Die moralische wie militärische Autorität schlechthin, Frundsberg selbst, stimmt dem Seitenwechsel zu. Dass die Bündischen Georg verwechseln und angreifen, bringt das Argument persönlicher Gefahr und Notwehr bei, die Persönlichkeit des Herzogs macht Eindruck, die Landschaft ist am Albtrauf wirklich sehr schön, kurz, der makellose Held kann sich nur für Württemberg entscheiden; und zuletzt bringt ihm seine gute Gesinnung auch gut schwäbisch „viel Sach“ ein. In Witiko nun wird solche Höchstmotivation noch einmal überboten. Sein Seitenwechsel ist persönlich verständlich aufgrund früher Sympathie gegenüber dem neuen Herzog und Abneigung gegenüber der gegnerischen Adelspartei (man denke an die Kränkungen und Bedrohungen bei der Prager Versammlung in Kapitel 3). Witiko kann seine Entscheidung aber auch ausführlich staatsrechtlich begründen: Das Erbprinzip, 1138 erst in Böhmen eingeführt, ist aufgrund traditioneller Rechte noch bestreitbar; Sobôslaw hat selbst seinem Sohn empfohlen, sich zu unterwerfen (prophetisch, was im historischen Roman leicht fällt, die künftigen Machtverhältnisse vorhersagend, vgl. 154/ 155); vor allem hat dieser seinen eigenen Anspruch beim Aufstand zu Gunsten Konrads und der Adelspartei aufgegeben: „Jetzt lebt die Anerkennung (s)eines Vaters für Wladislaw als Recht auf“, ein „Recht, das neu geworden ist.“ (258/ 259). Der Kaiser als oberster Lehensherr unterstützt Wladislaw. Sehr deutlich wird der politische Aspekt der Parteinahme herausgearbeitet, dass eine starke Zentralgewalt Wohl und Recht aller besser verbürgt als viele selbstgerechte Herren. Ethisch gesehen ist es völlig eindeutig, wo „die besten“ Leute (258) stehen, wer dagegen mit Verrat arbeitet, für wen wiederum das Volk und vor allem die Geistlichkeit sich entschieden haben. Die Natur, hier „der Wald“, „die Rose“ usw., selbst die Tiere sprechen implizit mit (der spätere Verräter Strich von Plaka lässt z. B. „auch im Som- Adalbert Stifter: Witiko 129 <?page no="138"?> 130 Zwischen Monument und Nihilismus mer jagen“, 235). Emotional ist Witikos Drang nach oben durch seine früh erwachte Liebe zur höher stehenden Berta ins Edle gewendet. Schließlich profitiert der kleine Adelige überhaupt nicht von denen, die ihre Privilegien verteidigen, aber am meisten von einem starken Fürsten (vgl. ausdrücklich 187/ 188); persönliche Tüchtigkeit und gute Dienste werden von der vorübergehend schwächeren Partei besser belohnt. Gewiss stellt Witiko „den politisch aktiven Menschen dar, der aus sittlicher Verpflichtung in gesellschaftliche Konflikte eingreift und dabei mit dem Wohl des Staates zugleich sein eigenes befördert“ (Wiesmüller 1991, 60), aber dabei hat er seine wichtigste Entscheidung eben auch kaufmännisch sehr klug, als „antizyklische“ Investition getroffen. Er handelt immer emotional, ethisch, juristisch, politisch und ökonomisch richtig und erfolgreich zugleich. Dass ein gereinigtes und sozusagen gedehntes Ivanhoe-Muster dem Witiko zugrunde liegt (es ist wesentlich deutlicher prägend als das von Old Mortality, vgl. Lach 2005, 428; und Stifters Ordnungsprinzip geht weit über die „Balance“, ebd. 417, hinaus), kann man auch an der „dark lady“ („schön gewachsen“, „schwarz“ von „Haaren“ und „Augen“ und mit „Lippen rot wie die Kirschen in dem Felde“, 191) erkennen, die hier wie dort den Helden nicht von seiner edlen Liebe ablenken kann. Auch ein „black knight“ taucht auf: „Odolen ganz in schwarze Kleider getan mit einer schwarzen Feder auf der Haube und in ein schwarzes glanzloses Waffenhemd gehüllt, war auf seinem schwarzen Pferde mitten in den Feinden, er warf nieder, was sich ihm nahte.“ (290). Ein hoher Herr muss vorübergehend verkleidet im Volk untertauchen. Treulose, übermütige Barone bedrohen das allgemeine Wohl. Aus dem Walde kommt zwar kein Robin Hood, erst recht kein Friar Tuck, aber doch entscheidende Hilfe. Der fiktive Held greift maßgeblich in die Geschichte ein, was allerdings weniger Scott selbst als die populäre Scott-Nachfolge von Wilhelm Hauff bis Ken Follett charakterisiert. Deutsche und Tschechen verschmelzen zum Wohle Böhmens wie Angelsachsen und Normannen zum Wohle Englands. Die Habsburg-Monarchie wird dieses Erbe kontinuierlich antreten wie dort das Vereinigte Königreich. Aber diese Gemeinsamkeit geht einher mit erheblichen Unterschieden. Nicht nur wird die doppelte Synekdoche Walter Scotts hier zu einer Figur „in praesentia“ und das dortige implizite Argument zur expliziten „amplificatio“ (vgl. oben Kap. 2.1 sowie unten Kap. 5.2 u. 5.3.2) auserzählt: „pars et totum“, Witikos Schicksale und die im Rahmen des Romans ganze, auf alle Fälle die wichtige böhmische Geschichte, im Dritten Band auch der italienische Feldzug bis hin zur Apotheose des Reichs; und all dies wird ausdrücklich im Werte-Diskurs verallgemeinert zur Verkündigung des Sittengesetzes in Politik und Geschichte. Die abgeschlossene Induktion, die die Handlung aufzeichnet, von Einzelheiten zu Resultaten zum Gesetz, ist zugleich übercodiert, also so geschlossen überhaupt erst möglich, „weil schon am Anfang alles so ist, wie es <?page no="139"?> am Ende sein soll“ (Koschorke 2004, 154), also durch ein vollständiges, freilich völlig formales, lediglich behauptetes Paradigma. Es zeigt sich immer wieder, dass ethische Freiheit, die innere Sicherheit, nur dem Gewissen zu folgen, und äußere, sachliche Bedingungen, alltägliche, ökonomische, wie rechtliche und politische zutiefst identisch sind: Folge dem Gewissen, und du folgst den Dingen. […] Und wenn du zu tun strebst, was die Dinge fordern, so wäre gut, wenn alle wüßten, was die Dinge fordern und wenn alle täten, was die Dinge fordern: denn dann täten sie den Willen Gottes. (799) Wie immer man den hier umfassend gebrauchten Begriff „Dinge“ definiert und begründet - alltägliche Verrichtungen werden so bezeichnet, genauso wie höchst brisante und folgenreiche politische Konstellationen und Konflikte - diese Identität von „Gewissen“ und „Ding“ lässt sich nur im Raum der Fiktion beweisen. Sie durchdringt deduktiv alle erzählerischen Entwürfe: Setzung nach Setzung unter einem vorweg definierten Gesetz. Aber das bedeutet dann auch einen entschieden negierenden Zugriff auf alles, was diesem Gesetz nicht entspricht. (Es ist nicht so, dass die „Ordnung […] dem Chaos abgerungen werden muss“, Bolterauer 2003, 387. Sie wird fiktional behauptend darüber gelegt; das „Prekäre“, ebd., wird zugedeckt, von einem diskussionslos vorgegebenen Code verdrängt.) Der Romanheld macht nicht den kleinsten Fehler, von der Wahl seiner Lederkleidung über die Pflege seines Pferdes, den Umgang mit allen Schichten und Ständen von Menschen bis hin zu gravierenden militärischen Entscheidungen. Und, wie oben am Beispiel des politischen Parteiwechsels gezeigt, die Romanwelt kommt ihm Setzung für Setzung entgegen. Genau im Rhythmus beispielsweise, ein Beispiel unter vielen, in dem sich Witikos adeliges Lehen abzeichnet, verliehen als Gunst des Herzogs, haben seine zukünftigen Untertanen ihn bereits von sich aus zu ihrem Herren gewählt: „Witiko, der Führer […] Witiko, der Führer.“ (585). Doch die so demonstrierte Einheit von Selbst- und Fremdbestimmung, um es vereinfacht, aber nicht falsch auszudrücken, ist nur durch konsequente Selektion zu sichern. „Der Bund der Guten“ behauptet sich „allwärts“ (667). Es gibt in dieser Romanwelt keine wirklichen Alternativen: „wer nicht gut ist, kann es werden, und ist gewonnen“ (ebd.); wo er aber „es“ nicht werden will (die Leute vom Plaka-Hof, Nacerats Partei), wird er hinausgedrängt oder beseitigt oder geht über kurz oder lang von selbst unter. Es gibt entsprechend dem Prinzip solcher Ausgrenzungen auch Negationen in die Tiefe des Textes hinein. Die gehäuften Nennungen der Kleider, Ausrüstung, Abzeichen und Geräte, durch die die Personen charakterisiert werden, verleihen den Menschen dahinter bzw. darunter etwas Gesichtsloses oder auch Maskiertes. Sie wirken wie Puppen, die der Autor bewegt. Selbst Witiko, wenn er am Tag seiner Hochzeit wie zum ersten Mal in völliger Au- Adalbert Stifter: Witiko 131 <?page no="140"?> 132 Zwischen Monument und Nihilismus ßenperspektive aufgenommen erscheint (vgl. das Eingangszitat) wird in die Tiefe des Bildes hinein verfremdet: eine aus dem Paradigma selegierte Kunstfigur, ein zumindest den Augenblick der Präsentation lang unbekanntes, noch dazu flächiges Wesen. Er verschwindet als Subjekt unter der immer wiederholten Dichte seiner Attribute. Dass Witikos makellose Kindheit nachgetragen und von anderen zur Sprache gebracht wird, hebt diese ins Paradigma des Erwachsenseins auf, was auch Negation bedeutet: Das Kind ist völlig Funktion der Erwachsenen. Zugleich verleihen solche Vorzeichen fremder Erinnerung der Kindheit mittelbar eine Aura ungeheurer Einsamkeit. Sind nicht die drei Knaben des Osel, von denen dieser rituell immer wieder sagt, er „habe“ dies oder jenes mit ihnen geschehen „lassen“ (189, 262 u. p.) in ihrer völlig zum Objekt gewordenen, plural nivellierten Nichtexistenz - sie werden ja sorgfältig zum Heldentod erzogen (eine „todbringende Ganzheit der Geschichte“, Potthast 2007, 259) - sind sie nicht verräterische Doppelgänger zu Witikos „aufgehobener“ Kindheit? Und zeigt nicht der „sehr schöne“, wiederholt auftretende, immer so genannte und sich selbst so nennende „Sohn des Nacerat“ (67, 146 u. p.), der erst im Tod seinen Namen erhält (295), eine Negativstelle des Systems auf: eine negative Ergänzung der systematisierten Personalität gerade auch des Helden, also sein tragischer Doppelgänger? Dass die fiktional „gesetzte“ Identität von Ethos und Geschichte im letzten Teil des Romans (erzählt wird der Feldzug in Italien) brüchig wird, ein fast schon verzweifeltes Gut-Nennen von Ereignissen, deren historischer Diskurs schierer Machtpolitik einfach dasteht, diese Müdigkeit fiktionaler Setzungen ist nicht zu übersehen („totalitär“ und „schiere Ideologie“, Glaser 1994, 185; „ein politisch-ikonisches Vakuum“, Bulang 2003, 270; „Resignation“, Wiesmüller 2006, 53; „monumentale Beschwörung“ bereits „verlorener Ganzheit“, Potthast 2007, 267). Aber auch an bestimmten Gipfelpunkten der Personenreden, wenn die Identität aller Aspekte: Gefühle, Wünsche, Forderungen, Konstellationen, Zwänge usw. absolut verallgemeinert wird, klingt das entlarvend leer: „Der hocherlauchte Herzog wird nur dasjenige tun, was ist, und wie es ist, und wie es besteht“ (603/ 604). Immer wieder verkehrt sich solcherart die Erfüllung und Bestätigung in leere Tautologie: „Wie es ist, wird es mir recht sein.“ (167), „es hat sich so gefügt […] wie es eben geschieht“ (174), „ja so ist es, so ist es“ (225). Und die äußersten Zuspitzungen lauten dann: „So ist es wie es ist.“ (44), zuletzt in völliger Reinheit: „Es ist wie es ist.“ (626). Aber differenziert sich über ihre Entleerung hinaus nicht gerade in solchen Verallgemeinerungen die nennende, rein thetische Identifikation von Sittengesetz und Geschichte auseinander in ein ohnmächtiges, auf alle Fälle ein ganz passiv hinnehmendes „so ist es eben“ auf der einen Seite und ein verzweifelt leeres „es sei“ auf der anderen? Ist es so, dass sich „Schweigen und Verstummen […] hinter der Mitteilung verbirgt“ (Doppler 2004, 45) oder nicht vielmehr so, dass diese Sprache ein Verstummen ist? <?page no="141"?> Stifter erweist sich in vergleichender Perspektive als genauer Antipode sowohl zu Victor Hugo als auch zu Flaubert (vgl. oben Kap. 4.3 u. unten Kap. 4.7). Wie jeder stimmige Kontrast geht auch dieser von gemeinsamen Voraussetzungen aus und führt, was natürlich interessanter ist, auch wieder zu gemeinsamen Bedeutungsperspektiven - bei Stifter freilich mittelbar und sozusagen „gegen den Strich“ zu lesen. Das „Wissen um die Kontingenz dieser Ordnung“ (Bolterauer 2003, 389) müssen die Leser gegen die Übermacht des Textes behaupten - was heute dann allerdings naheliegt. Und eine vergleichende Perspektive legt solche Sicht erst recht nahe. Mit Hugo (Quatrevingt-Treize, 1874) teilt Stifter die Veredelung eines gleichwohl genau durchkonstruierten trivialen Grundmusters, das theatralische Moment, auch wenn dies mehr ins rituell Weihespielartige gerät, die Rhetorisierung - hier wie dort halten Personen regelrechte Ansprachen aneinander, „breit angelegte und rhetorisch ausgefeilte Argumentationen“ (Wiesmüller 1991, 48; vgl. ebd. ff.) -, die extreme Bedeutungsüberhöhung von „Dingen“, wobei auch bei Hugo dem freigelegten Konfliktpotential ein Ordnungsgedanke zugrunde liegt. Denn beide Autoren führen ihren Diskurs systematisch: Hugo in offenen, immer jedoch voraus entschiedenen Antithesen, Stifter ausgrenzend, wobei wohlgemerkt die „Ränder“ sowohl im Raum (die Leute aus Mähren, vgl. 241, oder gar von der Grenze zu Polen, vgl. 649) wie in der Zeit, also der Vorgeschichte (die Erzählungen von den Wr ś en, 72 ff., von Swatopluk, 76 ff., von Heinrich V., 520 ff., eine „Geschichte der Grausamkeit und Machtbesessenheit“, Doppler 2004, 40) ihre Gefahren behalten. Vor allem aber gehen beide, Victor Hugo wie Stifter, von einer Idee human totalisierter Geschichte aus, die sich in einem untadeligen Helden verkörpert und unter anderem immer wieder dessen Bündnis mit der Natur betont. Die Blumen und die Kinder korrespondieren Gauvain so genau wie die Bäume und die Waldrosen Witiko. Natürlich sind die Kontraste dann nur um so deutlicher: Tragische Handlung und offene Utopie im Revolutionsroman, geschlossene Vollendung und behauptete Identität von Ethik und Geschichte im Roman verklärten Mittelalters, der seiner Entstehung nach ja als „poetische Antwort auf die Revolutionserfahrung“ konzipiert war (Koschorke 2004, 146; vgl. z. B. auch Wiesmüller 1991, 55 ff.; Lach 2005, 417 ff. u. a.). Victor Hugo legt es völlig offen, dass seine human revolutionären Forderungen noch lange nicht eingelöst sind. Aber auch Stifters Witiko macht an seinen Rändern wie in der Tiefe seiner zugespitzten Verallgemeinerungen das Brüchige, nur Formale, ja Unhaltbare dieser rein thetischen Gleichsetzungen sichtbar. Für den Helden haben wir das schon gezeigt, so wie er zunächst betont als „einzelner Mann“ auftritt (61), so steht bei seinem ersten Zusammentreffen mit historischen Konflikten ein Moment absurder Tragik im Raum: „Lasset einen hohen Pfahl […] errichten, und hängt diesen jungen Mann auf den Pfahl.“ (108). Der Rhythmus der Natur, Geborgenheit und Adalbert Stifter: Witiko 133 <?page no="142"?> 134 Zwischen Monument und Nihilismus Stetigkeit des Waldes tragen den Helden („Witikos Weg durch die Wälder […] scheint […] ins Überzeitliche zu wachsen.“, Ehlbeck 1996, 474) und die um ihn gescharten Waldleute: Sie verteidigen sich so zäh wie „die Wurzeln (der Bäume) den Waldboden […] fest halten“ und greifen an, „wie die Moldau […] durch Gestein und Trümmer dahin tost“ (633, 675). Aber die Natur vermag wie bei Hugo oder später bei Döblin, bis hin zu Vonnegut (vgl. unten Kap. 5.4) auch gegen die Geschichte zu protestieren, wenn etwa „das Grün […] sich mit Blut tränkte, und die zarten Gesträuche […] vom Blut rieselten.“ (288). Sehr signifikant scheint mir eine wesentliche Nahtstelle bei Witikos erster und enttäuschter Heimkehr zu sein: Witiko aber […] ritt […] bis er zu dem großen Walde gekommen war, der am Mittage und Abende das Land Böhmen von dem Lande Baiern schied. Es war jetzt Schnee auf seinen Zweigen und zwischen seinen Stämmen, und oft längere Zeit die Stille des Winters. Witiko ritt in die Gehölze hinein, und in ihnen fort. (164/ 165) Genau von hier an wenden sich Witikos Schicksale: Er wird in Harmonie mit der Natur leben, Freunde gewinnen, auf die richtige Partei setzen und so fort. Doch die Nahtstelle ist auch eine Bruchstelle. Die Projektion des Helden auf die Landkarte verleiht ihm etwas Übergroßes, unterstreicht aber auch das Konstruierte. Die immer im Roman bedeutsame Grenzüberschreitung, vor allem der markante Wechsel von Außen- und Innenperspektive, chronikhafter und erlebter Zeit, Zeitordnung und Zeitdauer, alles akzentuiert die bewusst gesetzte Zäsur im Text. So wie der Held aus dem Raum der Geschichte in den der Natur übertritt, differenzieren sich auch historischer und fiktionaler Diskurs einen Moment lang auseinander. Sichtbar wird diesen bedeutsamen Augenblick lang eine radikale Alternative: eine Welt der Reinheit und Stille. Nicht das Bestreben, Geschichte zu verklären, sondern eine tiefer liegende Sehnsucht, sie möge überhaupt aufhören, kommt zur Sprache. Das wird vielleicht deutlicher, wenn man das Schnee-Symbol vergrößert. „In der alles erfüllenden Weiße spürt man eine kosmische Negation am Werke.“ (Bachelard 1987, 62): Genau solch eine „kosmische Negation“ hatte de Vigny im Kontrast von historischem Verrat und Natur-Lawine, vor allem dem stillen zeitlosen Augenblick danach inszeniert (vgl. oben Kap. 2.6). Und man kann sie wiederfinden etwa in der Faszination weiter weißer Landschaft bei Michel Tournier („comme une terre promise, comme le pays des essences pures“ / „Wie ein Land der Verheißung, wie ein Land reiner Wesenheiten“ - die alle einen negativen Verlauf nehmen werden, Le roi des aulnes, 1970, 281; vgl. unten Kap. 8.3.1), oder in postmodernen Spielen „weißer“ Zeitnegation etwa in Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit (1983) oder, und noch sprechender, in Christoph Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984). <?page no="143"?> Eine solche Negation historischer Zeit, die an einer Bruchstelle des Diskurses einen Moment lang, dann aber mit geradezu lyrischer Intensität hervortritt, bildet durchgehend die sinn-abgewandte Bedeutungsdimension der Stifterschen Stilisierungen. Sie haben nichts von den Selbstreflexionen des Geschichtserzählers und seiner Subjektivität, aber auch seiner perspektivischen Offenheit, wie sie die kritisch-produktive Scott-Nachfolge ausarbeitet; so wird Stifters Konstruktion wehrlos gegen jede Lektüre „gegen den Strich“, ja sie scheint sie immer schon resignativ vorzusehen. Wo C. F. Meyer das Monumentale in das Unbekannte übergehen lässt, droht hier dessen Entleerung. Alternativen bürgerlichen Fortschritts, historischen Fatums aber auch einer jede Erfahrung überschreitenden Utopie brechen am Ende von Dickens´ A Tale of two Cities als offene Frage auf. Bei Stifter werden solche Optionen bis zur Fraglosigkeit gereinigt und gleichgesetzt; aber dies gelingt nur um den Preis ihrer Reduktion auf den kleinsten gemeinsamen Nenner historischer wie bürgerlich-ideologischer Zustimmung: „Es ist wie es ist.“ Trennt sich nicht auch dann die Sehnsucht nach einer beruhigten Geschichte (eine „Flucht nach vorn in die Autonomie der Lexeme“, Bulang 2002, 214) von allem, was sie erzählend-stilisierend ergreift? Auf alle Fälle erhält Stifters Roman in diesen Gegenüberstellungen etwas faszinierend Ambivalentes. Und das gilt erst recht im Vergleich zum französischen historischen Roman. Nicht nur ergibt sich das eigentümliche Paradox, dass die tragischen Romane Balzacs oder Mérimées, auch der tragischutopische Geschichtsroman Victor Hugos, wegen ihrer offen problematischen Dynamik und etwa der direkten rhetorischen Parteinahme in Quatrevingt- Treize mehr Geschichtsvertrauen vermitteln als Stifters erfüllter Erfolgsroman verklärten Mittelalters, sofern die Erfüllung eben in Abstraktion umschlägt. Aber dieser Umschlag, liest man ihn als jederzeit mögliche und in der Tiefe des Diskurses wie in der Stilisierung sich durchhaltende ästhetische Negation, nähert auf noch paradoxere Weise den Witiko in einem sich Berühren konsequenter Gegensätze - „Flauberts Eruptionen und Stifters Reihen […] bezeichnen die beiden Extreme, die der historische Roman des 19. Jahrhunderts ausbildete“ (Glaser 1994, 188) -, auch der Salammbô Gustave Flauberts (1863). Adalbert Stifter: Witiko. Eine Erzählung. Mit den Bruchstücken früherer Fassungen. Hg. von Max Stefl. Darmstadt 1963. Ders.: Witiko. Roman. Mit einem Nachwort von Fritz Krökel. 4. Aufl. Frankfurt a. M.: dtv, 2005. Ders.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 5.1 - 5.3. Witiko. Eine Erzählung. Hg. von Alfred Doppler und Wolfgang Wiesmüller. Stuttgart u. a. 1984 - 1986. Wilhelm Hauff: Lichtenstein. Romantische Sage aus der württembergischen Geschichte. Hg. von Margarete Berg und Paul Michael Lützeler. Stuttgart: Reclam, 1988. Bachelard: Poetik des Raumes. 1987. • Begemann: Die Welt der Zeichen. 1995. - Bolterauer: Der Literat als Beschwörer der Ordnung. 2003. • Bulang: Barbarossa im Reich der Poesie. 2003. Adalbert Stifter: Witiko 135 <?page no="144"?> 136 Zwischen Monument und Nihilismus - Doppler: Witiko, der Wald und die Waldleute. 2004. • Ehlbeck: Zur poetologischen Funktionalisierung des Empirismus am Beispiel von Stifters „Kalkstein“ und „Witiko“. 1996. • Glaser: Auf Witikos Spuren. 1994. • Koschorke: Bewahren und Überschreiben. 2004. • Wiesmüller: Der historische Roman im Spannungsfeld von Geschichte, Fiktion und Ideologie. 2006. • Wiesmüller: Schreiben zwischen Flucht und Widerstand. 1991. 4.6 Gustave Flaubert: Salammbô (1863) Die ästhetische Negation von Geschichte - „History […] is a nightmare from which I am trying to awake“ (James Joyce, Ulysses, 1922, 42) -, die Stifter defensiv und stilistisch verdeckend erzählt, verdeckt unter dem immer neuen Gestus der Bejahung - „was Stifter geblieben ist (in der) Resignation angesichts der problematischen Lektüre der Geschichte […] sind seine sprachlichen Zeichen und deren Organisation zu einer perfekten und autonomen ästhetischen Welt“ (Wiesmüller 2006, 53) -, also als widersprüchliches Argument der Tiefenstruktur des Diskurses und nur an dessen Bruchstellen anschaulich hervortretend, ein monotoner Grundton sozusagen, der, hört man auf ihn, immer wieder „nein“ sagt, diese Negation gestaltet Flaubert offen, aggressiv, variabel und als ein wertfreies, ja wert-destruktives Sichabsetzen des ästhetischen „style“ von jedem erzählbaren Sinn von Geschichte. La lune se levait au ras des flots, et, sur la ville encore couverte de ténèbres, des points lumineux, des blancheurs brillaient: le timon d’un char dans une cour, quelque haillon de toile suspendu, l’angle d’un mur, un collier d’or à la poitrine d’un dieu. Les boules de verre sur les toits des temples rayonnaient, cà et là, comme de gros diamants […]. On n’entendait plus le grincement des roues hydrauliques […]. Au loin quelquefois la fumée d’un sacrifice brûlant encore s’échappait par les tuiles de bronze, et la brise lourde apportait avec des parfums d’aromates les senteurs de la marine et l’exhalaison des murailles chauffées par le soleil. (66) / Der aufgehende Mond stand über den Wellen, und über der noch von Dunkel bedeckten Stadt glänzten leuchtende Punkte und weiße Flecken: die Deichsel eines Wagens in einem Hof, ein aufgehängter Fetzen Leinwand, die Ecke einer Mauer, eine goldene Kette auf der Brust eines Gottes. Die Glaskugeln auf den Dächern der Tempel funkelten hier und da wie große Diamanten […]. Das Ächzen der Wasserräder war nicht mehr zu hören […]. In der Ferne drang manchmal noch der Rauch eines Opferfeuers durch die bronzenen Dachplatten, und der schwüle Wind trug den Duft aromatischer Pflanzen herbei, mit ihm die Gerüche des Meeres und die Ausdünstungen sonnenerhitzter Mauern. So krass die Gegensätze sein mögen, hier herrscht eine im Kontrast vergleichbare Ästhetik wie in Stifters Satz: „Es war jetzt Schnee auf seinen Zweigen und zwischen seinen Stämmen, und oft längere Zeit die Stille des Winters.“ (Witiko, 165). Dort verriet die einen Augenblick angehaltene, in ihrer Ruhe beschworene Naturzeit eine tiefer liegende historische Sinnkrise, ja <?page no="145"?> -katastrophe. Hier ist die Natur so indifferent gegenüber der Geschichte - der für alle Seiten desaströse Krieg wird sogleich beginnen -, wie die Kunst der Darstellung sich, kühn gesagt, über die Aporie der historischen Realität („le cours de l’histoire ne prouve rien“, Séginger 2000, 42), Dinge wie Menschen, erhebt und sich gegen sie behauptet. Das bedeutet zunächst eine Auflösung. Es gibt nur augenblickliche Impressionen, plötzlich gesehene und verschwindende Details („des details qui obnubilent“, Ray 2004, 118), Licht und Farbeffekte, Erinnerungen an Geräusche, Gerüche und so fort. Ihre punktuelle, rasche und sprunghafte Evokation, ihr Gemisch (z. B. der Düfte), ihr „irgendein“ genauso wie ihre Pluralisierung distanzieren ihre sprachlich erzeugte Präsenz von ihren Gegenständen. Im gleichen Maße aber schließen diese sprachlich-stilistischen Entwürfe sich zu eigenwertigen Anschauungen, Rhythmen und Konfigurationen zusammen. Ein stilistisch-künstlerisches Ereignis macht die historische Realität und Zeit halluzinatorisch nah - aber man weiß: es ist Halluzination - und zugleich rätselhaft fern. Und dies ist in seiner stilistisch-ästhetischen Distanzierung („un point de vue extérieur“, Scepi 2003, 53) durchaus vergleichbar der monoton nennenden, anschaulichen Verfremdung bei Stifter. Noch deutlicher gewinnt Flauberts stilistische Distanzierung an Relief, wo sie sich gegen aktionsreiche Geschichtsentwürfe behauptet. On aurait dit un océan où bondissaient des aigrettes rouges avec des écailles d’airain, tandis que les clairs boucliers se roulaient comme une écume d’argent. Quelquefois d’un bout à l’autre, de larges courants descendaient, puis ils remontaient, et au milieu une lourde masse se tenait immobile. (167/ 168) / Man hätte von einem Ozean reden können, in dem rote Federbüsche (auch: Silberreiher) mit erzenen Schuppen herumsprangen, während die glänzenden Schilde hin und her wogten wie silberner Schaum. Manchmal flossen große Strömungen von einem Ende zum anderen hinunter, dann wieder hinauf, und in der Mitte blieb eine schwere Masse unbeweglich stehen. Les éléphants entrèrent dans cette masse d’hommes […]; les tours, pleines de phalariques, semblaient des volcans en marche; on ne distinguait qu’un large amas où les chairs humains faisaient des taches blanches, les morceaux d’airain des plaques grises, le sang des fusées rouges. (284) / Die Elefanten drangen ein in diese Menschenmasse. […] Die Türme, voll von Brandpfeilen, sahen aus wie sich bewegende Vulkane. Man konnte nichts unterscheiden, es gab nur eine große Masse, in der das Menschenfleisch weiße Flecken bildete, das Metall graue Platten, das Blut rote Raketen. Es geht um Darstellungen vom Beginn und vom vernichtenden Umschlag einer Schlacht. Aber das stilistische Ereignis der Bewegungskomposition, der Farbkontraste, der großen Anschauungen aber auch sprunghaften Eindrücke, nicht zuletzt der kühnen Metaphern, bis hin zur Sprachmelodie - man beachte die Balance der Satzteile: lang - kurz - lang im ersten oder die rhythmisch sich verkürzenden parallelen Nominalgruppen im zweiten Schlusssatz -, die- Gustave Flaubert: Salammbô 137 <?page no="146"?> 138 Zwischen Monument und Nihilismus se ästhetische Überformung behauptet Eigenwert („l’imaginaire peut se donner libre cours […], le language seul s’y prend à son propre jeu“, Bottineau 1984, 92 u. 103). Der Stil zeigt und verdeckt zugleich, nähert und distanziert, stellt dar und negiert - im Prinzip vergleichbar der betonten reinen Kontur in der Anschauung und der bloßen nennenden Reihung, wenn es bei Stifter heißt (es geht um eine Belagerung): „Auch Feinde sah man fallen, oft wurden mehrere zugleich samt ihren Geräten von den Leitern gestürzt, und man sah, wie Männer von den Mauern weg getragen wurden.“ (Witiko, 361). Was Stifter und Flaubert im Prinzip verbindet (auch Stifter beschreibt „mit fast Flaubert’scher impassibilité den Schmerz und den Tod“, Glaser 1994, 186) ist die diastratische, verschiedene Ebenen des erzählenden Entwurfs gegeneinander setzende Differenzierung von Fiktion und Historie (vgl. als weiteres Beispiel den expressionistisch verfremdeten Anfang von Alfred Döblins, von Salammbô beinflusstem Wallenstein, 1920, 9 ff., untersucht unten Kap. 6.1, sowie allgemein Kap. 5). Der Diskurs selbst - die argumentierende Form dieser ganzen Entwürfe - sucht dagegen keinerlei fiktional-historische Differenzierungen (zu Flauberts Anti-Scott-Konzeption vgl. z. B. Séginger 2000, 194 ff., Ray 2004, 112 ff.): Historische Gestalten treten breit und anschaulich auf, privates und geschichtsmächtiges Geschehen greift ineinander, pars et totum, der Aspekt des „lebendigen Museums“ ist unverkennbar und an trivialen Momenten wie „action“, Heldentum, Melodrama, Geheimgeschichte, Übermotivation, Monumentalismus, Grausamkeiten usw. besteht kein Mangel. Der breit und recht genau erzählte historische Fokus des Romans (Flaubert arbeitete historisch und archäologisch sorgfältig, „scrupulously researched“, Dürr 2001, 212, „œuvre exemplaire d’archéologie réflective“, Saminadayar-Perrin 2003, 42), umfasst den Söldneraufstand gegen Karthago, ein Intermezzo des ersten Punischen Krieges, im Jahr 241 vor Christus. In diesen eingefügt, durchaus als zentrale Motivation, ist die fiktive Liebesgeschichte zwischen Mâtho, dem Söldnerführer, und Salammbô, der Tochter des karthagischen Oberkommandierenden Hamilkar. Sie beginnt mit einem Liebeszauber während eines Siegesfestes und wächst sich zu einem unüberwindlichen Schicksal aus, das immer Kampf und Anziehung zugleich ist. Die Söldner meutern, weil Karthago sie nicht bezahlt, aber es ist Salammbô, die Mâtho immer wieder nach und gegen Karthago treibt. So bemächtigt er sich in einer abenteuerlichen Einzelaktion des für Karthagos Bestehen hoch-sakralen Schleiers der Göttin Tanit, mit der Salammbô existentiell verbunden ist; und umgekehrt holt Salammbô diesen Schleier als Preis für eine Liebesnacht zurück. Auch Hamilkar übernimmt den Oberbefehl vor allem wegen der ihm, nicht zuletzt durch seine Tochter, zugefügten Beleidigungen. Er schlägt nach langem Hin und Her der Kämpfe, Belagerungen, Heeresbewegungen, Verluste durch Hunger, Durst, Verrat, spektakulären Einzelaktionen usw. die Aufständischen vernichtend. Nur Mathô wird gefangen genommen. Während der Siegesfeier wird er von der Bevölkerung Karthagos zu Tode gekratzt. Und mit ihm im selben Augenblick wie er stirbt, ohne äußere <?page no="147"?> Einwirkungen, Salammbô, „denn sie hatte den Mantel der Tanit berührt“ (vgl. 311). Auch Stifter hatte ein triviales Schema stilisiert und dabei fiktiv Privates mit Historischem aufs Engste verbunden. (Man fragt sich: Hätte es ohne Witiko ein Königreich Böhmen, ohne Salammbô die späteren Erfolge Hannibals usw. gegeben? ) Aber Flauberts Welt ist das diametrale Gegenteil von der Stifters. Der extremen Reinigung dort steht hier ein gezieltes Herausarbeiten ritueller wie wilder Grausamkeiten gegenüber, fremdartiger Gegenstände, Gebräuche, Institutionen, mentaler Extremfunktionen vom stumpfsinnigen Vegetieren oder vitaler Lähmung, über Angst, Gier, Rausch, Einzel- und Massenhysterie bis zu verräterischem oder sonst mitleidlosem Machtkalkül. Wo Stifter beispielsweise „Geräte“ möglichst allgemein nennend aufzählt, schwelgt Flaubert in preziösen, exotischen und bizarren Details, und die plurale Abstraktion dort ist durchaus der Überfülle des Fremdartigen hier („styrax, métopion, baccaris, malobathre, besoar, psagas“, vgl. 150) in seiner erneut stilistisch distanzierenden Funktion vergleichbar. Dasselbe wie für diese Duft- und Gewürzpflanzen (unter den exotischen Namen verbergen sich freilich unter anderem auch Baldrian und Zimt) gilt für Edelsteine, Kleidung, Waffen oder Interieurs. Kriegsgeschehen, Feste, aber auch erotische Szenen - man denke an Salammbôs berühmten Tanz mit der Schlange (198 f.) -, Rituale aller Art bis hin zu Menschenopfern oder grausamen Strafen - „le sang s’éparpillait en pluie […] des masses rouges se tordaient […] en hurlant“ (154) / „das Blut verspritzte als Regen, rote Massen wanden sich schreiend“ - werden genauso farbig und rhythmisch stilisiert wie Architektur oder Landschaften. Wo Stifter das verklärte Mittelalter in Monotonie und Statik überführt, was etwas Abtötendes hat, sucht Flaubert nicht nur das Fremde und Exotische, sondern mit aller Konsequenz das Unmenschliche als ästhetische Herausforderung. („Flaubert s’est d’emblée tourné pas vers le rare, mais vers l’intolérable.“, Backès 1994, 120.) So wie Stifter bürgerliche Tugenden ins Mittelalter integriert, so entdeckt Flaubert im noch so exotischen antiken Karthago immer noch das hässliche Gesicht (z. B. einen „ins Hyperbolische gesteigerten modernen Kapitalismus“, Potthast 2007, 477) seiner eigenen Gesellschaft. Das kann jetzt nicht eigens dargestellt werden (in den ersten Entwürfen ist Hamilkar z. B. klar „le père bourgeois“, der bürgerliche Vater, Flaubert 1971, 2.283), ebensowenig die Art und Weise, wie etwa in Salammbôs Langeweile, nervöse Zustände, sexuelle Frustration usw. letztlich doch Frauenbilder des 19. Jahrhunderts zurückprojiziert werden, in die Orgien „the collective anxieties and fantasies of the 19th century“ (Dürr 2001, 214) und so fort. Dies „bürgerliche“ Verhalten verstärkt aber aus der Sicht Flauberts das Sinnlosigkeitsargument in der Gesamthandlung. Nicht nur gibt es, liest man die historischen, über die erzählte Zeit hinausreichenden Implikati- Gustave Flaubert: Salammbô 139 <?page no="148"?> 140 Zwischen Monument und Nihilismus onen mit, in diesem Konflikt keine Sieger; und das Morbide gehört hier von Anfang an zur Darstellung Karthagos hinzu. Es gibt auch keine politische, wirtschaftliche oder militärische Vernunft („le degré zero de la rationalité“, Séginger 2000, 174): nur begrenzte Manöver, kurzsichtige Interessen und ein Agieren aller gegen alle. Auch die klugen oder gerissenen Gehirne, Hamilkar selbst oder der Grieche Spendius, ebenso das für seine Zeit immense Wissen des Priesters Schahabarim (vgl. 192 f.) ordnen sich irrationalen Leidenschaften unter und nehmen einen rein destruktiven Weg: „le vertige du vide“ (Scepi 2003, 66), „un déchaînement de la barbarie […] sans résultat historique“ (Séginger 2004, 48). Dasselbe gilt für die bei aller Komplexität ihrer Naturnähe letztlich doch linear einsinnige Mythologie, in der der grausame Moloch die lebengebende Tanit besiegt. Die Augenblicke humanen Glücks oder tragischer Größe, ein befreiter Sklave atmet die klare Nachtluft, ein Sterbender erkennt seine conditio humana, verstärken noch diese katastrophale Gesamtaussage. Die Großform des Romans zielt wie die Mikro-Ästhetik des „style“ auf eine „néantisation“ (Scepi 2003, 13), eine Negation von Geschichtssinn. Gustave Flaubert: Salammbô. Èd. par Jacques Sufel. Paris: Garnier 1964. Ders.: Salammbô. Dt. von Robert Habs. Hg. von Günter Metken. Stuttgart: Reclam, 1970. Ders.: Œuvres complètes. Èdition nouvelle établie d’après les manuscrits inédits de Flaubert par la Societé des ètudes littéraires françaises. Bd. 2. Salammbô. Paris 1971. James Joyce: Ulysses. Annotated Student’s Edition. Ed. by Declan Kiberd. London 1992. Backès: Le Divin dans Salammbô. 1984. • Bottineau: La représentation de l’espace dans Salammbô. 1984. • Dürr: Functions of Violence in Flaubert’s Salammbô. 2001. • Rey: Gustave Flaubert. 2004. • Saminadayar-Perrin: L’archéologie critique dans Salammbô. 2003. • Scepi: Présente Salammbô de Gustave Flaubert. 2003. • Séginger: Flaubert. 2000. • Séginger: La Tunisie dans l’imaginaire politique de Flaubert. 2003-2004. 4.7 Wilhelm Raabe: Das Odfeld (1888) Raabe nimmt viele Traditionen des 19. Jahrhunderts auf, wandelt sie aber alle so eigenwillig ab, dass sein wichtigster historischer Roman Das Odfeld (1888), wie auf andere Weise auch Fontanes Schach von Wuthenow (1882, vgl. oben Kap. 3.8), an der Grenze von Tradition und Moderne steht. Insbesondere spielt Raabe hier mit jenen Totalisierungen des 19. Jahrhunderts, darunter durchaus auch trivialen, die bereits bei Dickens, Stifter, C. F. Mayer, durchaus auch Flaubert - man denke an die Ästhetik der Grausamkeit oder das Sinnlosigkeitsrisiko der Symbolik (vgl. unten Kap. 8.3.1) - usw. zu beobachten waren. Modern daran ist, dass dieses Spiel seine Negationen offen lässt. Raabe erzählt an gegen „objektive Begründungszusammenhänge“, „verkürzende Kausaltraditionen“ oder ein „notwendiges, zielgerichtetes Kontinuum“ der Geschichte (Vormweg 1993, 159). Aber Raabe kennt moderne Offenheit <?page no="149"?> (vgl. unten Kap. 6) vor allem als Ambivalenz: Negiert dieser Roman die Möglichkeiten von Liebe und humaner Vernunft gegenüber der Grausamkeit der Geschichte oder setzt er auf Humanität, selbst gegen die erzählte Erfahrung? Deutlich extrem beispielsweise und spielerisch zugespitzt wird in Das Odfeld, um eine wichtige Tradition zu nennen, die seit Walter Scott den historischen Roman prägende fiktional-historische Synekdoche (vgl. oben Kap. 2.2 und unten Kap. 5.3.1.2): Die eigentliche Handlung umfasst recht genau nur einen Tag, von Abend zu Abend des 4. und 5. November „siebzehnhunderteinundsechzig“ (20, vgl. 36, 86, 132, 143, 154 u. a.; vgl. zur Poetik ausbuchstabierter Jahreszahlen unten Kap. 5.2 u. 5.4). Und so überaus explizit wie das Datum immer wieder buchstabiert wird, so genau sind auch geographische Details, Bauten, Namen von Regimentern und Generälen usw. angegeben. Aber bereits in dieser spielerischen Präzision wird das „factum“ selbst widersprüchlich differenziert. Einerseits hat sich eigentlich (ähnlich dem Überfall auf Frankfurt im Winter 1812 in Fontanes Vor dem Sturm, 1878) gar nichts genau so an diesem Tag zugetragen (vgl. z. B. zu den Quellen Weniger 1966), andererseits ist der historische Kontext des siebenjährigen Krieges sorgfältig auserzählt: ein bewegliches aber festes Netz von Relationen, in dem die erzählte Handlung stets historisch verortet erscheint. Dabei gibt es sowohl globale Ausweitungen, etwa in der Bemerkung, dass „Kanada in Deutschland erobert“ wurde (99), als auch punktuelle Verdichtungen, beispielsweise wenn eine „verirrte Geschützkugel“ über den (fiktiven) Personen in einen Baum schlägt: Und „das zerschmetterte Gezweig prasselte nieder auf die ratlose Gruppe“ (126) - ein bereits metapoetischer synekdochischer Historientropus (vgl. unten Kap. 5.3.3.3), ein aggressiver Index, der noch in Stopfkuchen (1891) auf den Siebenjährigen Krieg und auf Raabes Diskurs (vgl. Verf. 1994, 631 ff.) verweisen wird. Dieses Netzwerk von Relationen wird nicht nur benannt, sondern durchaus sinnlich evoziert: durch direkten Kontakt, wie eben zitiert, aber auch in vielfarbigen Kriegsbildern (vgl. 139/ 140, 204/ 205 oder 210 über die Uniformen der Gefallenen: „Rot und Blau, Grün, Gelb und Weiß, silberne Litzen und goldene“), dann wieder akustisch (Böschenstein 1995 spricht von „Katastrophenmusik“, 13) und so fort. Einmal beispielsweise „wurde es ganz still […] man roch den Krieg nur noch, man hörte ihn nicht mehr“ (205). Als „Geschichte gegen die Geschichte“ (Killy 1968, 229), fruchtbare „Paradoxie der Geschichts-Dichtung“ (Verf. 1976, 45 ff.), „Oppositionen […] von Historie und Fiktion“ (Vormweg 1993, 158), „explizite Betonung der Grenze zwischen Historie und Fiktion“ (Bertschik 1996, 240) steht Das Odfeld nicht nur zum „üblichen historischen Roman“ (Killy 1968, 234), dem „Geschichtsroman eines Dahn oder Scheffel“ (Bertschik ebd.) im Gegensatz; der Roman erweist sich vielmehr als vorzügliches Paradigma sowohl für eine Wilhelm Raabe: Das Odfeld 141 <?page no="150"?> 142 Zwischen Monument und Nihilismus voll ausgespielte Poetik des historischen Romans im besten Sinn (vgl. unten Kap. 5), als auch für den Zusammenhang von Tradition und Moderne, ja Postmoderne (vgl. unten Kap. 8.3). Thesen von einer „aufgehobenen Verweisfunktion (der) Zeichen“ und „Indifferenz des Wirklichen“, „als wahr präsentiert der Text nur sich selbst“ (Vormweg 1993, 158 u. 173), greifen allerdings zu kurz. Gerade weil historische Vernetzungen, fiktive Handlung und Erkenntnisfiguren (Metahistorie als Metapoetik, dazu gleich, vgl. auch unten Kap.5.1, 5.3.1.2 u. 5.3.3.3), alle für sich gesehen lange vorbereitet, in Das Odfeld immer neu und immer differenzierbar auseinander hervorgehen, kann dieser Roman verblüffend vielstimmig, diskontinuierlich und parenthetisch, „diahistorisch“, zu den verschiedensten Zeitparallelen abschweifend, erzählt werden. Der „Geschichts- und Geschichtenschreiber“ (5) nimmt die Historie völlig ernst, gerade indem er mit ihr spielt. Dieses Wechselverhältnis von pluraler, diskontinuierlicher Poetik und Erkenntnisintensität hat bereits als solches in der Tat etwas sehr Modernes. Fast „postmodern“ (vgl. unten Kap. 8) wirkt es, wenn Raabe auch mit trivialen Traditionen der Gattung spielt: Es gibt den jugendlichen Lichthelden, aber er stirbt völlig sinnlos; die fiktiven Personen begegnen von Angesicht zu Angesicht der historischen Macht, aber erreicht wird damit ausdrücklich nichts; Wertwelten sind überdeutlich präsent, aber als widersprüchliches Zitat, und am Ende werden sie signifikant zerstört, signifikant in einem, seinerseits erneut an die Postmoderne erinnernden, „Spiel der Zeichen gegen die Geschichte“. Mit einem wunderbaren Vorzeichen („Praesagium“, „Portentum“, „Prodigium“, 26) beginnt die eigentliche Handlung: Der Amtmann der hannoverschen Domäne bzw. des früheren Klosters Amelungsborn und der emeritierte Magister des ebenda kürzlich aufgelösten Internats beobachten am Abend des 4. November 1761 ein ominöses Naturschauspiel, eine Schlacht zweier Rabenheere; wie der Magister einen verletzten Raben ergreift, um ihn zu verbinden und mitzunehmen, „in demselben Augenblick“ (30) hören beide die ersten Kanonenschüsse. In der Nacht kommt der ungeratene entlaufene Schüler Thedel von Münchhausen nach Amelungsborn und quartiert sich beim Magister ein. Am Morgen beginnt die Schlacht zwischen preußisch-braunschweigisch-englischen und französischen Truppen; das heißt konkret, dass „wüstes, wildes, zerlumptes Fußvolk“ zur Plünderung und „Vergewaltigung“ (sic! , 100) über Amelungsborn herfällt, aber der Magister, Thedel, dessen Angebetete, ein halbtot geschlagener Knecht und eine Magd, fast noch ein Kind, retten sich ins Freie. Diese fünf Personen irren durch die kriegerischen Ereignisse hindurch, durch „Blutlachen, zerfahrene Wege, zerstampfte Felder“ (133), verbergen sich, werden aufgestöbert, treffen den Feldherrn Herzog Ferdinand von Braunschweig; Thedel wird ortskundiger Kavallerist und fällt sofort, die anderen retten sich am Abend zurück ins geplünderte Amelungsborn. Nur die Stube („Zelle“) des Magisters scheint verschont, aber der wiedergenesene Rabe hat sie völlig verwüstet; der Magister kann ihn, ein letztes „Zeichen“ (227), das an das erste anschließt, nur noch freilassen. <?page no="151"?> Selten (Manzoni, Flaubert) wurden im historischen Roman des 19. Jahrhunderts die Schrecken des Krieges so drastisch erzählt wie hier, das bereits expressionistisch Visionäre einzelner Stellen wirkt heute modern. Man denke an die Szene, in der die Flüchtlinge den sterbenden oder eben gefallenen Soldaten ihre Essensvorräte abnehmen, und - eine weitere intensive Synekdoche - an den „Knorren abgenagten“, vom frischen Blut „schauerlich feuchten schwarzen Roggenbrodes“ (160, das „Kannibalismusmuster“ wird zur „Antikriegsmetapher“, Bertschik 1995, 207), oder an die später sichtbare „krampfhaft zerkrümmte Menschenhand, die aus dem Sumpf“ von Menschen, Pferden und Erde aufragte (203). Konsequenter als je zuvor wird jede Form von „Heldentum“ - man vergleiche etwa C. F. Mayer oder Stifter (oben Kap. 4.4 u. 4.5) - in Frage gestellt. Schon die Konstruktion, dass es drei Helden gibt, die sich wechselseitig spiegeln, bricht ihre Idealität. Der jugendliche Held ist das Traum-Ich des alten Schulmeisters, verliebt, enthusiastisch, mutig, dauernd „vivat“ rufend. Aber eben dieser Idealismus erweist sich als Illusion, ja kurzweg als „Dummheit“ (213); der historische Held, Herzog Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg (1721-1792), „mildherzig“, „fröhlich“, selbstlos (188), darin erneut ein Spiegelbild des fiktiven Protagonisten (vgl. 194), richtet gleichwohl ein Gemetzel an, seine Welt ist ein „riesenhaftes Schlächterhaus“ (182) und er selbst zögert, bei aller Güte, keinen Augenblick - „was haben wir noch von unserer Kavallerie? “ (193) - bis zuletzt die Logik zu befolgen, dass, sofern die Verluste des Gegners größer sind als die eigenen, ein Angriff Sinn macht, eine Logik, die geradewegs nach Verdun führen wird. Ist schließlich der liebevoll differenziert ausgearbeitete, „vollkommen passive“ (17/ 18) Anti-Held - was hier überhaupt nicht nachgezeichnet werden kann -, der verschrobene gelehrte Alte, ohne den die anderen alle verloren wären, der immer noch entwicklungs- und lernfähig („lebendig“, 131) bleibt, der Gesprächspartner des Erzählers, vor allem der Deuter der „Zeichen in der Welt“ (28), ist er gerade darum der Geschichte am besten „gewachsen“ (26, 67), weil er nichts zu ändern versucht und zuletzt die ganze „Angst der Welt“ (230) akzeptiert? Seine Fähigkeit, Geschichte topographisch und durchaus gelehrt zu „lesen“, seine Passivität, sein Humor, auch sein Alter, nicht zuletzt seine Freundlichkeit gegenüber Mensch und Tier - er hilft wie jener den Liebenden - machen Raabes Romanheld auffallend klar zu einem Nachkommen von Scotts The Antiquary (1816), mehr noch als beispielsweise den Pastor in Fontanes Vor dem Sturm (1878, vgl. oben Kap. 3.1 u. 3.7). Aber er ist auch bereits vom Trauma der Geschichte stigmatisiert, so wie etwa viele in der Vergangenheit lebende Gestalten bei Faulkner: Reverend Hightower in Light in August (1931) beispielsweise oder Miss Rosa in Absalom, Absalom! (1936, vgl. ausführlicher Verf. 2002, 1 ff.). Und seine Krise streift zumindest bereits jenes Sichverlieren in der Geschichte, wie es viel später etwa den verzweifelten („the end of history“, 45) Lehrer und Erzähler in Graham Swifts Waterland (1983) kennzeichnet oder den weltfremden Nelson-Enthusiasten, dessen enttäuschte Verehrung in Mord Wilhelm Raabe: Das Odfeld 143 <?page no="152"?> 144 Zwischen Monument und Nihilismus umschlägt (Barry Unsworth, Losing Nelson, 1999), oder jene verzweifelt alternativen „Antiquare“ in Uwe Timms ROT (2002), der eine ein Stadtführer durch verlorene linke Geschichte, der andere ein „Begräbnisredner“ (vgl. unten Kap. 8.2), für die bezeichnenderweise ihre Archive und Bibliographien „auf die Müllhalde wandern“ (268). Aber der „Held“ Raabes, so nahe er der Postmoderne teilweise kommt (vgl. auch Verf. 2007, 30 ff.), verliert alles, aber nicht sich selbst. Seine Schluss-Geste hat auch etwas von einer Herausforderung. Im Aushalten der Aporie, ganz wörtlich, der ausweglosen Situation, dass es notwendig und zugleich unmöglich ist, aber eben doch notwendig bleibt, der Geschichte einen humanen Sinn zu geben (in einem anderen Ansatz kenntnisreich nachgewiesen als „eine fortwährende, je und je wieder für das Ende gehaltene und doch immer wieder weitergehende Apokalypse“ bzw., dass „das Ausbleiben der Erlösung im Roman als Leerstelle markiert“ wird, Detering 1984, 95 und 1990, 187), in dieser ohne alle Illusion die Geschichte für „alle Rätsel der Vergangenheit und alle Ungewißheit der Zukunft“ (Killy 1968, 234) öffnenden Erkenntnis treffen sich Erzähler und „Held“ dieses Romans. So scheint mir die Erzählform das avancierteste Argument zu tragen: Stimmendifferenzierung, Reflexivität („dia-, poly- und meta-history“), Chronotopen der offenen Aporie, Transformationen der „Zeichen“ lassen sich lesen als verschiedene Aspekte derselben Tendenz: Ein überhaupt nur möglicher Sinn von Geschichte ist nur zu finden in deren riskanter, aber offener Zukunft. Darum muss Geschichte polyhistorisch begriffen und erzählt werden. Und auch darin ist Das Odfeld ein erstaunlich modernen Roman. Stimmendifferenzierung war im Roman des 19. Jahrhunderts vielfach angelegt: im Perspektivismus seit Walter Scott, im Spiel mit fingierten Aufzeichnungen bei Manzoni, Blicher oder Thackeray, im Vielheitsroman, wie er sich bei Fontane abzeichnet, im Auseinandertreten historischer, moralischer und ästhetischer Einstellung bei C. F. Mayer, in der Geschichtsrhetorik Victor Hugos. Bei Raabe ist die Stimmenvielfalt (vgl. auch unten Kap. 5.3.2.2 sowie exemplarisch für die Moderne Kap. 6.2) schlechthin prägend. Man denke an den Kontrast des Angriffsbefehls (34 f.) mit einer anonymen Stimme: „Sie kommen zu Tausenden und Hunderttausenden […] was sollen wir tun? “ (36/ 37), oder an die schon wie ein Hörspiel wirkende Stimmen- Inszenierung, dass die Kommentare des Herzogs zum Schlachtverlauf ineinander geschnitten sind mit den Selbsttröstungen des herumirrenden Magisters (119 ff.), die als Zitate ihrerseits vielstimmig, ja, wie eine Montage wirken. Geradezu programmatisch heißt es immer wieder: Wir reden mit ihm wohl noch einmal darüber oder hören seine Meinung aus der Vergangenheit. / Wir haben eben hiervon erzählt wie von einem Gespräch zwischen zweien und dreien; aber dem war nicht so […]. Der ganze große Krieg redete mit hinein, und zwar von Augenblick zu Augenblick grimmiger. (16, 125) <?page no="153"?> Offen vielstimmig - übrigens hier deutlicher als sonst in Raabes Spätwerk - wirken die vielen Zitate (Quellen, Lexika, Klassiker, Bibel, Gesangbuch, Dichtung des 18. Jahrhunderts und vieles mehr: „Das Odfeld ist ein Text, der anderen Texten Spielraum gibt.“, Gehrke 1995, 128), die Anspielungen sowohl des Erzählers wie der Personen, die Abschweifungen, selbstironischen Verallgemeinerungen, Sentenzen, Fragen und Ausrufe in der fiktionalen Stimme und natürlich, dem korrespondierend, die Tatsache, dass der Roman ohnehin überwiegend aus Personenrede besteht. Die produktive Differenz von Fiktion und Historie, die schon der selbstironische „Geschichts- und Geschichtenschreiber“ (5) von Anfang an einführt, wird hier Redevielfalt: Es reden viele vieles, der Erzähler ist einer unter ihnen, aber darin redet man durchaus auch und zentral über Historie, über „solide Fakten“ (Killy 1968, 230), über das, „was war“ (Ricœur 1991, 3.11). Es „entsteht historische Wahrheit der epischen Fiktion“ (Aust 1995, 40). Dies ist zwar nicht der ultimative Gegenstand dieses Erzählens, sicher nicht, aber es ist darin ein wichtiges Element. Erzähler wie Protagonist - manchmal machen nur die Anführungszeichen klar, wer eigentlich redet - nehmen die Historie völlig ernst, ohne sich ihr auszuliefern. In der Stimmenvielfalt werden alle Standpunkte relativiert, auch die des Erzählers selbst. Aber darin lassen sich humane Ansichten und Forderungen zugleich behaupten und radikal riskieren und die offenste Haltung wird die verbindlichste. Außerordentlich nahe kommen sich Erzähler und „Held“ des Romans in ihrer Fähigkeit Raum und Zeit, damit auch die Historie, zu transzendieren ohne sie zu negieren (zur „Diahistorie“ vgl. unten Kap. 5.4). Gleich anfangs werden zusammen mit dem Handlungsraum „Odfeld“ als „weltgeschichtlicher […] Walstätte“ mehrere Zeitschichten zusammen in den Blick genommen: Römer und Cherusker haben sich hier befehdet, „Franken mit Sachsen und die Sachsen sich sehr untereinander“ (6), Union und Liga, Schweden und Kaiserliche und nun also die Parteien des Siebenjährigen Krieges. Aber auch zu Schauplätzen wie „Châlons-sur-Marne“, den „Katalaunischen Feldern“, Ravenna (29) und anderen werden Bezüge hergestellt. Vergleichbares geschieht mit dem Kloster, der „Zelle“ des Magisters und vor allem mit diesem selbst. Gerade der „Held“ des Romans wird immer wieder historisch verfremdet: „Troglodyt“ (156), Einsiedler, Bruder Philemon der letzte Zisterzienser, ein Stoiker „wie ein richtiger alter Römer“ (107), Gestalt aus der glaubensstarken Frühzeit der Reformation und neben vielen anderen biblischen Gestalten vor allem Noa, „Trost“ (ein häufiges Wort in diesem Roman) und schlechthiniger Retter der Menschheit. Und des Magisters eigene Assoziationen, Gedanken und Reden führen all dies nicht nur noch weiter aus: Gerade in dieser „diahistorischen“ Geschichtssicht ist er, wie gesagt, vom Erzähler oft kaum noch zu unterscheiden. Wilhelm Raabe: Das Odfeld 145 <?page no="154"?> 146 Zwischen Monument und Nihilismus Doch all dies vertieft zugleich die Verbindlichkeit des Hier und Jetzt. Der Raum, der für die Vorstellung weit geöffnet ist, setzt auf der Handlungsebene den Bewegungen der Personen unentrinnbar konkrete Widerstände entgegen, etwa wenn es gilt, sich im Nebel zu orientieren oder durch Gestrüpp hindurchzukommen oder einen Verwundeten einen Abhang hinaufzutragen; so wie ja auch körperliche Gefahren und Verletzungen nicht „weg transzendiert“ werden. (Der „Raum einer unendlichen Historisierung“ korrespondiert dem „Diskurs des Krieges und der […] Körper“, Kinzel 2006, 97.) Dasselbe gilt für die genaue chronologische Zeit. Ein Hauptinteresse des Magisters ist es, dass er „die Turmuhr in Ordnung“ hält; die Uhr schlägt später immer wieder, weil eben sie hier „allein richtig ging“ (63 u. 119); auch sonst wird die Zeit genau angegeben: „um die selbe Stunde […] gegen zehn Uhr morgens“ (181), „nach drei Uhr nachmittags“ (205) usw. Individuelle Lebenszeit, chronologische Zeit, Historie - erinnert sei an die immer wieder übergenau vergegenwärtigte Tages-, Monats- und Jahreszahl - und die vielfach einbezogene „Weltzeit“ scheinen auseinanderzustreben, ja sich geradezu zu verfehlen, und sind doch immer wieder genau, und schmerzlich unentrinnbar, aufeinander angewiesen. (Zu vergleichbaren Zeit-Interferenzen einerseits bei Blicher, Stendhal, Dickens, Flaubert, Hugo, Fontane, andererseits bei Faulkner, Johnson u. a. vgl. unten Kap. 5.4. sowie die entsprechenden Kapitel.) Sieht man dies zusammen mit dem Handlungsverlauf, ein Kreis von Abend zu Abend, in dem sich doch alles verändert, ein Herumirren, das sich als Zwang zum Elend herausstellt, eine Rückkehr, die keine sein kann, gerade auch das letzte Refugium ist ja signifikant zerstört, so kann man von einem Chronotopos, einer Raum-Zeit-Struktur offener Aporie reden: Die Geschichte ist orientierungslos (sie steht „in einem eschatologischen Horizont, der immer leer bleibt“, Detering 1990, 189), haltlos und unentrinnbar zugleich. Dasselbe gilt für die Reden der Personen wie des Erzählers: Sie fliehen in Geschichte und Geschichten hinein, um sich im jeweiligen Hier und Jetzt gefangen wiederzufinden. Man denke etwa auch an die phantastischen Geschichten, die die fünf Flüchtlinge, vorübergehend einmal in einer Höhle geborgen, sich erzählen. Sie führen letztlich nur zur Gefangennahme durch die Schotten und mitten in die Kämpfe hinein. Selbst die Träume wiederholen und variieren das historisch Unvermeidliche, etwa wenn der Magister „sich alleingelassen auf der Landstraße [sah] und hatte immerfort vor sich hin zu sprechen: siebzehnhunderteinundsechzig, siebzehnhunderteinundsechzig, siebzehnhunderteinundsechzig.“ (86). Welche Bedeutung hat demgegenüber das hohe Maß an Selbstreflexion, das diesen Roman auszeichnet? Das reicht vom Spiel des Erzählers mit der „Tugend der Wahrhaftigkeit“ und seinem „Recht als Poet“ (14) über die Art und Weise, wie der Knecht Schelze zwischen „Brotleib“, „Hering“ und „Suppenpott“ <?page no="155"?> den Schlachtplan vorausspielt (51 f., vgl. auch unten Kap. 5.3.3), bis zur Zerstörung des „Museums“, also des Ortes, wo historische Erinnerung gepflegt wird (vgl. 42 ff. und 225 ff.). Die vielerlei Selbstreflexionen in Erzähler- und Personenreden („draußen bringen sie die Welthistorie zum Austrag“, 176) sind hier gar nicht zu würdigen. Natürlich gehört zu dieser Selbstreflexion auch die ganze, um die Rabenschlacht kreisende meta-literarische, also eben über Literatur reflektierende, Zeichenebene. Sehr plastisch sind hier („metahistorische“, vgl. unten Kap. 5.3.1.2) Erkenntnisfiguren von Geschichte ausgearbeitet: Synekdochische Verdichtungen und Ausweitungen und metaphorische vielfache Vergleiche wurden bereits genannt; metonymisch („pars pro parte“) ist beispielsweise der zweisträngige Bezug zwischen Magister und Herzog strukturiert und katachrestisch-ironisch, Bedeutungsrelationen „per negationem“ vorschlagend, lässt sich die Historizität des Phantastischen lesen, wobei die Historie sich immer wieder als noch viel schrecklicher erweist als jedes ihrer phantastischen Gegenbilder. Nur im Erzählen, darauf scheint alles bisher Beobachtete hinzuführen, lässt sich Geschichte aushalten. „Von den Geschichten aus der Geschichte ist für das verunsicherte Subjekt nichts mehr zu erwarten“ (Vormweg 1993, 268)? Nur im Spiel der Geschichten lässt sich diese Geschichte aus-, und das heißt offenhalten. Nur ein Erzählen wie dieses hier kann einerseits von Heldentum, Liebe, Hilfe, Trost usw. reden und andererseits von der illusionslos in ihrem ganzen Schrecken belassenen Geschichte. Und dass der „Held“ des Romans in seiner redenden, erinnernden, vermittelnden und deutenden Funktion so weitgehend daran Teil hat, macht seinen Rang aus. Nur auf diese Art also ist die Sinnerwartung bzw. -hoffnung, wie sie der Erzähler immer wieder bekundet, wie sie der Held im Namen trägt und wie sie auch die Personen von ihm erwarten, ist dieses Bedürfnis nach Sinn in der Geschichte und sein so intensiv dargestelltes Scheitern zu vermitteln. So richtig es ist: „Die Reihe der Raabeschen Versuche, metaphysische Konzeptionen narrativ zu erproben, scheint mit diesem Experiment an eine unüberwindliche Grenze gekommen zu sein“ (Detering 1990, 193), so wichtig bleibt die Einsicht, dass diese große Leerstelle Raabes Erzählen nicht lähmt. Das gilt nun erst recht für die spielerischste Selbstreflexion dieses Erzählens: die „Rabenschlacht“. So wie sie einerseits intensiv auf den Romanhelden bezogen ist (vgl. 26 ff., 38, 115, 218: „dem Herrn Magister sein Rabenvolk“), so ist andererseits die Anspielung auf den Namen des Autors unübersehbar. Dem entsprechen umgekehrt literarisierende Namen wie „Buchius“ (all seine Kompetenz „stammt aus Büchern“, und er selbst ist „ein reines Produkt der Literatur“, Gehrke 1995, 100) oder „Münchhausen“. Historie wird hier nicht nur rhetorisiert und reflektiert, und das bewusst Spielerische dabei macht alles auch literarisch, sie wird auch „semiotisiert“. (Zum Einwand: „Es sind nicht die Zeichen, die das Prinzip der Geschichte definieren“ son- Wilhelm Raabe: Das Odfeld 147 <?page no="156"?> 148 Zwischen Monument und Nihilismus dern „Kräfte und Körper“, „Zufälle“, „Leidenschaften“ und „Kämpfe“, Kinzel 2006, 91, vgl. unten Kap. 5.) Selten wird im historischen Roman überhaupt der Grundsatz so offen gelegt, dass „Fakten“ und Geschehen der Geschichte aus Zeichen, Relikten, Quellen, Darstellungen usw.: „Spuren und Gedenkzeichen“ (21) einstiger Ereignisse rekonstruiert werden müssen (vgl. Verf. 1981, 266 ff.). In der Handlung spielt - erneut ein postmoderner Zug - ein Jackenknopf (sehr ähnlich etwa in Barry Unsworth’s Sacred Hunger, 1992 - die Spur eines Betruges wird zu der des utopischen Experiments) eine zentrale hilfreiche Rolle; für den Magister wird er gar zum „Wahrzeichen […] dass in der Welt das Licht nimmer ganz in Greuel, Blut und Nacht verlischt“ (57). Spricht sich nicht darin auch eine Relativierung aber zugleich relative Bestätigung (auch ein Knopf gehört zu einem „textum“) der ganzen Zeichenebenen aus? Auch bei der „Rabenschlacht“ ist es ja „einerlei ob (sie) aus dem christlichen Himmel oder vom Ida oder aus Walhall“ gesandt wurde (31). Nicht das „Signifikat“ bedingt das „Signifikans“, sondern umgekehrt. Das macht das Zeichen dynamisch (vgl. unten Kap. 8.3). Das heißt dann vor allem: Lediglich eine Form von Geschichte, auch nicht die der Apokalypse als „universale, metaphysisch begründete Grundbefindlichkeit menschlichen Seins“ (Christiansen 1999, 19), gibt dieser Roman nicht her. Es geht um ein Wechselspiel bezeichneter Fakten und bezeichneter vielfältiger Deutungs- Möglichkeiten. Entscheidend ist die metahistorische Übersetzbarkeit von Geschichte als solche, der nachvollziehbare Diskurs also, dass Geschichte überhaupt in diese Erzähl-, Zeichen- und Spielform gebracht wird: ohne Beschönigung, aber offen für menschliche Deutungen, wenn man will, für „menschliche Schicksale“. Die ausformulierten Jahreszahlen bei Dickens beispielsweise fügten sich ein in den „Zeitsog“, der sie hinführte auf die Schrecken der Geschichte aber auch auf eine religiös-utopische Zukunft. Die nicht genannten Jahreszahlen bei C. F. Meyer verblassen vor dem Graubündner Denkmal. Das ausbuchstabierte „Quatrevingt-Treize“ bei Victor Hugo bezeichnete ein Erbe, mehr noch: eine zu lösende unabdingbare Aufgabe. Bei Raabe wird das „siebzehnhunderteinundsechzig“ so oft wiederholt, dass seine Interpretation ins Kreisen kommt: ein zentripetales Fixiertsein, aber auch ein zentrifugales Sich- Öffnen für Spiel, Reflexion und letztlich auch Möglichkeitssinn. Und da ein solches Erzählen, Bezeichnen, Spielen und Reflektieren seinem Wesen nach friedlich ist, tritt darin wohl auch der Sinnaspekt dieser Geschichtsaporie am deutlichsten zu Tage: Dieser Noah-Ra(a)be-Buchius, der nur sein „Buch“ und das Spiel seiner „Zeichen“ gegen die Geschichte zu setzen vermag - „wir lassen uns heute noch gern da an den Zeichen in der Welt genügen, wo Besserunterrichtete ganz genau das - Genauere wissen“ (28) - versucht es zumindest, ohne alle Illusion, aber mit bewusster Kunst, „uns [zu] trösten […] in [der] Angst der Welt“ (10, 230). <?page no="157"?> Der Schluss des Romans, wenn das Museum zerstört und der Rabe freigelassen wird, beides Zeichenhandlungen, hebt einerseits alles bisher über Liebe, Humanität, Trost, Frieden, Vernunft usw. lediglich Behauptete auf. Er transformiert aber auch endgültig diesen je und je nur behaupteten Sinn in eine Leerstelle, deren Notwendigkeit vom Erzählen, Reflektieren und Bezeichnen offen gehalten wird: unverzichtbares Ziel der ganzen literarischen Auseinandersetzung mit Geschichte, aber historisch unvorhanden. Der „polyhistorische“ Roman des zwanzigsten Jahrhunderts und vor allem die alternativen Paradigmen (vgl. unten Kap. 6): Alfred Döblins Wallenstein (1920), William Faulkners Absalom, Absalom! (1936) und Louis Aragons La semaine sainte (1958), werden zeigen, wie auch dies etwas tendenziell deutlich Modernes hat. Hier wird ja regelmäßig auch mit religiös versprochener Heilsgeschichte gespielt: dem historisch absurden Selbstopfer aus Liebe am Ende des Wallenstein, einer nicht weniger absurden Christus-Figuration in Absalom, Absalom! („he had crucified himself and come down from his cross for a moment and now returned to it“, 172) oder mit dem völlig ungesicherten Ausblick „Demain Pacques“ / „Morgen ist Ostern“ (549 ff.) in La semaine sainte. Nicht weniger deutlich spielt der Schluss von Das Odfeld auf die Bibel an: „Noah […] ließ einen Raben ausfliegen; der flog immer hin und wieder her“ (1. Mose 8, 6/ 7). Ein Ende der Sintflut, eine Friedens-Taube oder ein Regenbogen sind bei Raabe nicht in Sicht. Aber möglich bleiben sie. Die Anspielung auf die Bibel, der immer noch vorbildliche Roman-Held, die Polysemie des Raben-Symbols, nicht zuletzt auch die Kontinuität in Raabes Œuvre - „Gehe aus dem Kasten“ (1. Mose 8,16) wird das Motto des Helden in Stopfkuchen (1891) werden; Hastenbeck (1902), eine Art Komplementär-Roman, schließt mit einer, freilich fragil-komödienhaften „utopischen Funktion“ (vgl. unten Kap. 5.4) -, solche offenen Kontexte enthalten zu viel Möglichkeitssinn, um dessen gleichwohl harte Leerstelle in der letzten Szene des Odfeld auch noch durchzustreichen. Wilhelm Raabe: Das Odfeld. Eine Erzählung. Hg. von Ulrich Dittmann. Stuttgart: Reclam, 1977. Ders.: Das Odfeld. Braunschweiger Ausgabe. Band 17. Hg. von W. Koppe. Braunschweig 1966. Aust: Die Ordnung des Erzählens oder Die Geburt der Geschichte aus dem Geiste des Romans. 1995. • Bertschik: Maulwurfsarchäologie. 1995. • Böschenstein: Fermentierter Sud und flimmernder Schutt. 1995. • Detering: Theodizee und Erzählverfahren. 1990. • Gehrke: Trost der Philosophie? 1995. • Geppert: Das Odfeld. Zur Zeichensprache der Geschichte. 1981. • Geppert: „Prodigium“ und Chaos der „Zeichen in der Welt“. 2007. • Geppert: Raabe und Faulkner. 2002. • Killy: Geschichte gegen die Geschichte. 1969. • Kinzel: Das Paradigma des Tages. 2006. • Kristiansen: Wilhelm Raabe und Arthur Schopenhauer. 1999. • Vormweg: Wilhelm Raabe. 1993. • Weniger: Die Quellen zu Wilhelm Raabes „Odfeld“. 1966. Wilhelm Raabe: Das Odfeld 149 <?page no="158"?> 5. Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort. Skizze einer Poetik des historischen Romans Die Moderne und Postmoderne äußern sich in der Gattung des historischen Romans nicht so revolutionär, die Tradition des 19. Jahrhunderts ist längst nicht so überholt, wie es auf den ersten Blick aussieht und wie es immer wieder behauptet wird. Um gleich Beispiele vorzustellen: Sind eigentlich heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, die folgenden beiden, nun wirklich exemplarischen Texte so tief verschieden? „Eh bien, mon prince, Genua und Lucca sind weiter nichts mehr als Apanagegüter der Familie Bonaparte. Nein, ich erkläre Ihnen, wenn Sie mir nicht sagen, dass wir Krieg bekommen werden […], so kenne ich Sie nicht mehr. Vous n’êtes plus mon ami, vous n’êtes plus mein treuer Sklave, comme vous dites. Vor allem aber: Guten Abend, guten Abend.“ […] So sprach im Juni 1805 das bekannte Hoffräulein Anna Pawlowna Scherer. (Leo Tolstoj, Krieg und Frieden, 1872, 5) In one of these streets, in the morning fog, plastered over two slippery cobblestones, is a scrap of newspaper headline, with a wirephoto of a giant white cock, dangling in the sky straight downward out of a white pubic bush. The letters MB DRO ROSHI appear above with the logo of some occupation newspaper, a grinning glamour girl riding astraddle the cannon of a tank, steel penis with slotted serpent head, 3rd Armored treads’n’triangle on a sweater rippling across her tits. (Thomas Pynchon, Gravity’s Rainbow, 1973, 693/ 694) So eindeutig der szenische Vordergrund präsentiert wird, Salongeplauder bei Tolstoj, Pin-up bei Pynchon, so unübersehbar sind die historischen Hinweise. „Genua“, „Lucca“, „Familie Bonaparte“, „Juni 1805“, „Krieg“: Jedes Geschichtsbuch, jeder historische Atlas kann über die Zusammenhänge Auskunft geben (also über das von Napoleon geschaffene Königreich Italien und den späteren dritten Koalitionskrieg, an dem sich Rußland beteiligt, beides Ereignisse des Jahres 1805). Und weil die Nachricht „Bomb dropped on Hiroshima“ sich auf ein Ereignis vom 6. August 1945 bezieht, das fest im amerikanischen Gedächtnis, ja dem der Welt verankert ist, gerade darum und nur so - wohlgemerkt, der Roman selbst gibt keinerlei Erklärungen oder Hinweise - kann eben auch die verstümmelte Nachricht noch den szenischen Vordergrund eindeutig durchbrechen. Primat der Fiktion, historische Deixis, die produktive Differenz beider, die Konstruktion illusionärer Gegenwart, aber auch - vorsichtig in den Gesprächen, nachdrücklicher beispielsweise in der sexistischen mehrfachen Medialität - die Selbstreferenz des Erzählens, die <?page no="159"?> Negation von Wert-Konventionen und Vorurteilen, Raum-Zeit-Modelle („Chronotopen“) der Distanz in der Krise, im Keim eine prozessuale und erkenntnisbezogene, beispielsweise desillusionierende, ja sprengende Differenzierung von Fiktion und Geschichte und neuerliche, freilich nur hypothetische Integration und so fort: Die Texte weisen, so scheint mir, schon von sich aus auf Bausteine einer Poetik, wie sie für den historischen Roman prägend ist. 5.1 Erzählte Geschichte. Hayden White, Reinhart Kosellek, Paul Ricœur Alle Geschichte ist erzählte Geschichte, so wie alle Fiktion erzählt werden muss. Aber nicht alle Fiktion eröffnet historische Bezüge. Dass die Konstruktionen von Geschichte auf Erzählfunktionen beruhen, hat die Geschichtstheorie seit langem (mit Sicherheit seit Schiller, Gibbon, nachdrücklich Droysen) gewusst, aber vor allem in den letzten Jahren wiederholt nachgewiesen. Exemplarisch seien drei für die Frage nach dem historischen Roman besonders fruchtbare Theorien vorgestellt: Für Hayden White (grundlegend: Metahistory, 1973, dt. 1991, hier zitiert 1994; vgl. einführend 1990, 40 ff. oder 1991, 64 ff.) ist „das Werk des Historikers (eine) offensichtlich verbale Struktur in der Form einer Erzählung“ (1994, 9): „Die Narration ist […] sowohl die Art und Weise, wie eine historische Interpretation zustande kommt, als auch die Form des Diskurses, in der sich ein gelungenes Verstehen historischer Sachverhalte präsentiert“ (1990, 80). Nicht die „Fakten“ sind entscheidend - freilich bleiben sie bei aller „Auswahl und Anordnung“ (1994, 18) nicht hintergehbar - „Konsistenz“, „Kohärenz“ und „erhellende Kraft des jeweiligen Blicks auf das Feld der Geschichte“ (1994, 17) hängen ab von der „Modellierung der Erzählstruktur“ (1994, 22). Dabei besteht zwischen der Vorentscheidung für ein Erzählverfahren, z. B. „der Wahl einer ,prägenerischen Plotstruktur‘“ und einer allgemeinen philosophisch-ideologischen Deutungsperspektive (vgl. 1994, 47 ff.) ein unlösbarer Zusammenhang. Und insbesondere - dies scheint mir der fruchtbarste Teil dieser Theorie für die Frage nach dem historischen Roman - kommt dabei den „vier Grundtropen“ der klassischen Rhetorik fundierende „vorstrukturierende“ Bedeutung zu (1991, 50, vgl. ebd. ff.): „Das tropische Verfahren ist […] die Seele des Diskurses“ (1991, 11). Es wird, gerade von Literaturwissenschaftlern, Hayden White oft nachgesagt, er setze Fiktion und Historie gleich. Oft klingt es bei ihm auch so: „Es ist öfter gesagt worden […] der Unterschied zwischen ,Historie‘ und ,Fiktion‘ bestehe darin, dass der Historiker seine Geschichte ,finde‘, während z. B. der Romancier die seine ,erfinde‘. Diese Vorstellung verschleiert jedoch, in wel- Erzählte Geschichte. Hayden White, Reinhart Kosellek, Paul Ricœur 151 <?page no="160"?> 152 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort chem Ausmaß die ,Erfindung‘ auch die Arbeit des Historikers prägt“ (1994, 20). Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen heißt eine deutschsprachige Sammlung seiner Aufsätze (1991); und eine ihrer zentralen Thesen lautet: „Tatsache ist, dass Geschichte - die reale Welt, wie sie sich in der Zeit entwickelt - in der gleichen Weise sinnvoll gemacht wird, wie der Dichter oder der Romanautor dies versuchen. […] Es spielt keine Rolle, ob die Welt als real oder lediglich vorgestellt verstanden wird; die Art der Sinnstiftung (making sense) ist die gleiche“ (1991, 121, vgl. dazu unten Kap. 5.2 zu Unterscheidung und Zusammenhang von logischer Paradoxie und replikativer Argumentation). Aber man muss sich das durchgehend „metahistorische“ Interesse dieser Theorie vor Augen halten. Es geht um Bedingungen möglicher Geschichtswissenschaft; gezeigt werden soll eben das unverzichtbare rhetorische, literarische und imaginative Moment in der erzählenden „Tiefenstruktur“ historischer Erkenntnis; anders gesagt, White will eine Bewusstseinskritik der Geschichtswissenschaft anregen und insbesondere für die Vielfalt ihrer Denk- und Darstellungsmöglichkeiten eintreten. Das Verhältnis von Geschichte und literarischer Erzählung bzw. Fiktion (im Englischen oft dasselbe) lässt sich für White, vereinfacht, aber nicht falsch, als das einer inklusiven Opposition bezeichnen: Alle Geschichte ist Fiktion, aber sie ist nicht nur Fiktion, so wie Fiktion nicht immer Geschichte ist. White stellt die Relevanz der „Daten“, „Überlieferung“, „Fakten“ usw., wie es eine total fiktionalisierende These tun müsste, nie in Frage. Im Gegenteil, unhintergehbar bleibt, dass historische Ereignisse sich von fiktionalen Ereignissen in eben der Weise unterscheiden, wie dies in der Nachfolge von Aristoteles immer wieder beschrieben worden ist. Historiker haben es mit Ereignissen zu tun, die einem bestimmten raumzeitlichen Ort zugewiesen werden können, Ereignissen, die im Prinzip beobachtbar sind oder wahrnehmbar sind (oder waren), während Autoren fiktionaler Literatur - Dichter, Romanautoren, Dramatiker - es sowohl mit jener Art als auch mit vorgestellten, hypothetischen oder erfundenen Ereignissen zu tun haben. (1991, 145) Genau hier kann eine Skizze der Poetik des historischen Romans ansetzen. Im Grunde ist dann auch eine Theorie produktiver Differenz von Fiktion und Historie von White mehrfach vorgesehen. So wie es beispielsweise „spezielle Merkmale“ einer „Diskursmodalität zur Darstellung ,realer‘ Ereignisse“ gibt, so kann man „einen imaginären Diskurs über reales Geschehen führen, der, obschon er (imaginär) ist, deshalb nicht weniger ,wahr‘ zu sein braucht“ (1990, 76/ 77). „Historische Erzählungen“ können „komplexe Strukturen“ sein, in denen die „eine Erfahrungswelt als ,real‘ kodiert ist und die andere im Verlauf der Erzählung als illusionär ,entlarvt‘ wird“ (1991, 120). Auch wenn dies kritisch auf jene gängige „Fiktion des Historikers“ bezogen ist, seine Erzählung einfach als „geschehen“ zu bezeichnen (ebd.), die Thesen <?page no="161"?> Whites von der Tiefenstruktur des Erzählens, vom Primat der Fiktion, von der inklusiven Opposition von Fiktion und Historie (beides allerdings meine Formulierungen), v. a. von der Relevanz der metahistorischen Tropen erlauben auch einer Darstellung des historischen Romans den Anspruch, die „Vermessung des Grenzverlaufs zwischen dem Imaginären und dem Realen“ (1990, 62) für dessen Poetik zu nutzen. Wenn man einzelne Stellen herausgreift, kann man bei vielen Theoretikern immer wieder die Differenz von Fiktion und Historie verschwimmen sehen, allerdings nur vorübergehend: Wir haben uns von den Märchenerzählungen aus alter Vergangenheit weit entfernt. Aber die Vielfalt der geschichtlichen Zeiten, mit der sich die Historiker heute beschäftigen, sollte sie nicht daran hindern zu sehen, dass es immer noch dieselben Menschen sind, von denen sie erzählen. (Kosellek 2000, 297) Dieser Satz könnte auch bei Walter Scott stehen. Aber hier wie dort muss man sogleich hinzusetzen: Nur wenn Geschichte(n) selbstkritisch als Erzählungen begriffen werden, lässt sich dieser Zusammenhang von vielerlei vergangenen Historien und durchgehendem humanem Interesse „immer noch“ und „immer wieder neu“ (ebd. 14) überzeugend herstellen. Die Frage nach dem Verhältnis pluraler Zeiten, „Zeitschichten“, „Zeitdifferenzen“ zu einer neuzeitlichen, aber heute verbindlichen Frage nach „geschichtlicher Zeit“ im Singular bzw. „Geschichte überhaupt“ (Kosellek 1989, 9, 369) zieht sich wie ein roter Faden durch Reinhart Koselleks Geschichtstheorie (hier: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 1989, und: Zeitschichten. Studien zur Historik, 2000). Und diese Frage „nach den zeitlichen Strukturen […], die der Geschichte im Singular und den Geschichten im Plural zugleich eigentümlich“ sind (1989, 131), führt - neben sehr vielen anderen wichtigen Überlegungen - zur Reflexion auf sprachliche und fiktionale Voraussetzungen aller Geschichtserkenntnis, die sich mit denen bei Danto, White oder Ricœur zusammen sehen lassen und die auch für diese Skizze einer Poetik des Historischen Romans wegweisend geworden sind. Wir befinden uns […] in einer methodisch unauflösbaren Spannung, dass zwar jede Geschichte, während sie sich ereignet und nach dem Geschehen, auch etwas anderes ist, als ihre sprachliche Artikulation leisten kann; dass aber dieses Andere ebenfalls nur im Medium der Sprache erkennbar gemacht werden kann. (So) kommt der sprachlichen Reflexion eine theoretische und eine methodische Priorität gegenüber allem Geschehen und der Geschichte zu. Denn die außersprachlichen Bedingungen und Faktoren, die in die Geschichte eingehen, lassen sich nur sprachlich erfassen. (1989, 131) Es ist klar, dass diese „sprachliche Artikulation“ und „Reflexion“ von Geschichte, und gerade auch die „Aporie“ in ihrem Verhältnis - „in der Sprache ist immer mehr oder weniger enthalten und aussagbar, als in der wirklichen Erzählte Geschichte. Hayden White, Reinhart Kosellek, Paul Ricœur 153 <?page no="162"?> 154 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort Geschichte der Fall war. So wie umgekehrt in jeder Geschichte immer mehr oder weniger enthalten ist, als jeweils darüber gesagt wird“ (2000, 14) - grundlegend als erzählerische Konstitution begriffen werden können. So lassen sich gerade auch drei wichtige Konsequenzen, die Kosellek aus diesem konstitutiven Missverhältnis zieht, in ein Erzählmodell einschreiben: 1.) Die unhintergehbare „Semantik“, also Bedeutungszuschreibung „geschichtlicher Zeiterfahrungen“ (1989, 12 ff.), ebenso wie die Feststellung, dass „Ereignisse“ immer nur im Wechselverhältnis zu „überindividuell und intersubjektiv“ (ebd. 147) wirkenden und zeitlich (gegenüber) den Ereignissen (relativ) stabileren „Strukturen“ erzählbar sind - „die Verschränkung von Ereignis und Struktur darf nicht zur Verwischung ihrer Unterschiede führen“ (ebd. 150, vgl. 144-157) - wird für diese Untersuchung durchgehend als die Dialektik von Geschichtsform und Wertediskurs (vgl. z. B. auch 2000, 336 ff. zur „Gerechtigkeit“ in der Geschichte) auf die spezifischen Probleme des historischen Romans angewandt werden. 2.) Wie White geht auch Kosellek von der „Fiktion des Faktischen“ aus, sieht sie aber noch genauer als dieser und völlig im Sinne dieser Untersuchung als inklusive bzw. replikative Unterscheidung (meine Formulierung, vgl. unten Kap. 5.2), so dass der „Primat der Fiktion“ (ebenfalls meine Formulierung) die zusätzliche Erkenntnisleistung historischer Indices, Konnexe, Spuren, Zeugnisse und Quellen nötig macht. Es geht um eine „nur wenn“ und „dann ja oder dann nicht“-Bedingtheit des historischen Diskurses: Jedes historisch eruierte und dargebotene Ereignis lebt von der Fiktion des Faktischen, die Wirklichkeit selber ist vergangen. Damit wird ein geschichtliches Ereignis aber nicht beliebig oder willkürlich ersetzbar. Denn die Quellenkontrolle schließt aus, was nicht gesagt werden darf. Nicht aber schreibt sie vor, was gesagt werden kann. (Und) der Fiktionalität der erzählten Ereignisse entspricht auf der Ebene der Strukturen der hypothetische Charakter ihrer ,Realität‘. (1989, 153) Das sind sehr scharfsinnige Unterscheidungen, die auch und gerade für den historischen Roman zum einen die völlige Freiheit fiktionaler Entwürfe offen lassen, gleichwohl den „historischen Fokus“ einräumen und drittens eben die immer neue, produktive Differenzierbarkeit beider: Denn ein Unterschied läßt sich nicht verleugnen, der zwischen Erzählungen bestehen muß, die von dem berichten, was sich tatsächlich ereignet hat, oder die von dem berichten, was sich ereignet haben könnte, oder die vorgeben, es habe sich ereignet, oder die selbst auf jedes Wirklichkeitssignal verzichten. (ebd. 281) 3.) „Das Auf-, das Fort- und das Umschreiben der Geschichte“ gehören untrennbar zusammen (2000, 41). Nicht zuletzt der „polyhistorische Roman“ <?page no="163"?> (vgl. unten Kap. 6), der mit dem 20. Jahrhundert nicht beginnt, aber seitdem prägend ist, zieht weit über jede wissenschaftliche Darstellung hinausgehende Konsequenzen daraus, dass „Geschichte“ immer wieder „umgeschrieben, im kritischen Rückblick geradezu neu konstituiert“ werden muss (ebd. 52). So ist es, z. B. im Hinblick auf die Möglichkeiten „bewusst reflektierter, perspektivisch gebrochener Erfahrungsgeschichte“ auch für Kosellek durchaus schlüssig, dass „heute […] Romane, etwa von William Faulkner oder Christa Wolf, oder (die) Schlachtbeschreibung von Alexander Kluge […] allemal als geschichtliche Texte lesbar sind“ (ebd. 62; vgl. unten Kap. 6.2 u. 7.1). Auch Paul Ricœur in seinem weit ausgreifenden Werk Temps et récit (1983- 1985, hier zitiert als Zeit und Erzählung, dt. von Rainer Rochlitz und Andreas Knop, 3 Bde., München 1988-1991), sieht zwischen Erzählung und Geschichte geradezu einen „Ableitungszusammenhang“ (1.137), was durchaus unserem Begriff von der „Tiefenstruktur des Erzählens“ entspricht. Und das gilt auch für ganz analytische oder synchron-gesetzmäßige oder tabellarische Darstellungen: Geschichte, wenn sie jeden Zusammenhang mit unserer Grundkompetenz […] des narrativen Verstehens aufgäbe, […] würde aufhören, historisch zu sein. (ebd.) Denn, das ist Ricœurs zentrale These, nur durch ein Erzählen, das, vereinfacht aber nicht falsch gesagt, von den primitivsten Strichen in einem Kalender bis zu den komplexesten Aufzeichnungsformen heutiger Medien reicht, darunter immer auch solchen der Kunst und Literatur, lässt sich die „Aporie“, die „letztendliche Unvorstellbarkeit der Zeit“ (3.392) überhaupt aushalten. Und dabei kommt nun gerade der „Überkreuzung der referentiellen Zielrichtung von Geschichte und Fiktion“ (3.391), kommt „Geschichte und Fiktion in ihrem Zusammenwirken“ (3.159) besondere Bedeutung zu. Denn nur wenn die „Phantasievariationen“ (3.160) - eine sehr schöne Formulierung - fiktionaler Zeiten mit der engeren „eigentlichen historischen Zeit“ (3.159 - dazu gleich Genaueres) zusammenspielen, besteht die Aussicht, dass „eine dichterische Verwandlung […] die Aporie von der sie bedrohenden Sinnlosigkeit befreit“ (1.17). Ließe sich das Letztere nicht ganz direkt als Motto über viele historische Romane schreiben, von Arnim oder de Vigny über Flaubert, Fontane, Raabe, Döblin, Faulkner, Andersch, Johnson bis zu Tournier, Sebald oder DeLillo? Wenn dieses ganze Buch davon ausgeht, dass zwischen Fiktion und Historie, Dichtung und Geschichte, ein produktives „Verhältnis der Kontinuität und Diskontinuität“ (1.279) besteht, dann kann sich dieser Ansatz auf Ricœur berufen. Der große Vorzug der Theorie Ricœurs liegt darin, dass er den fiktionalen Umgang mit Geschichte nicht als einen Grenzfall begreift, sondern als le- Erzählte Geschichte. Hayden White, Reinhart Kosellek, Paul Ricœur 155 <?page no="164"?> 156 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort bensnotwendige, erweiternde Korrektur historiographischer Verengung. Er „privilegiert“ noch mehr als etwa Kosellek („Zeitschichten“) oder White („Geschichtstropen“) „in der Refiguration der Zeit den Plural auf Kosten des Kollektivsingulars“ (3.414), und es sind die Formen einer „Poetik der Erzählung“ (3.159) als „einer Poetik der Zeitlichkeit“ (1.114), die dieses Zusammenspiel so produktiv machen. Denn die historiographische Erzählung ist auf „Forschung“ (1.269) bezogen, muss sich am kontinuierlichen Nexus der (indexikalischen) „Signifikanzbeziehung“ der „Spur“ orientieren - „die Spur ist Zeichen und Wirkung in eins“ (3.193) -, und ebenso kontinuierlich in „einzelnen Kausalzurechnungen“ (1.271) verbleiben (pars pro parte, der „metonymische Rahmen“ der Historie in unserer Begrifflichkeit): „Der Historiker (ist) kein bloßer Erzähler; er gibt die Gründe an, aus denen er diesen oder jenen Faktor statt eines anderen für die hinreichende Ursache dieses oder jenes Ereignisablaufs hält“ (1.287). Dagegen gilt: „Der Dichter schafft eine Fabel“, die gerade „nicht den Gegenstand einer Argumentation“ bildet (1.278). Das heißt genauer: Die fiktive Fabel muss nicht begründet werden, sondern ist selbst Entwurf eines Weltverständnisses (was ich den „Wertediskurs“ nenne). Sehr scharfsinnig verbindet und trennt Ricœur Fiktion und Historie, wenn er feststellt: „Der Dichter geht von der Form aus“, er entwirft in ihr die Möglichkeit „Geschichte hervorzubringen und erzählend zu erklären“, dagegen „der Historiker (geht) zur Form hin“ (1.278), zur Form einer Argumentation, die seine Erzählung begründen und zusammenfassen muss. Am produktivsten aber wird dieses „Verhältnis der Kontinuität und Diskontinuität“ (1.279) sofern erst die Fiktion „ein Spiel mit der Zeit“ (2.167) ermöglicht, ein Spiel „fiktiver Erfahrung, deren Horizont eine imaginäre Welt ist, die die Welt des Textes bleibt“ (2.170). Denn, das scheint mir der entscheidende Denkschritt, auch die freiesten Spiele der „Phantasievariationen“ von Zeit und Geschichte werden von konkreten Lesern in konkreten Situationen rezipiert und auf diese bezogen. In „der Lektüre schlägt die Divergenz von historischer Erzählung und Fiktionserzählung um in Konvergenz“ (3.295). Anders gesagt, gerade die gemeinsame Tiefenstruktur des Erzählens bewirkt, verlängert man sie in die Lektüre hinein, eben in der Asymmetrie und „Überkreuzung von Geschichte und Fiktion“ (3.295) einen, und sei es erst auf lange und längste Sicht, sich doch immer herstellenden Wirklichkeitsbezug. Gerade der historische Roman, das schreibt Ricœur nicht, aber es lässt sich folgern und wird sich gerade an der sogenannten „Postmoderne“ erweisen, ist letztlich immer realistisch. Seine vielerlei freien und spielerischen „Konfigurationen“ von Zeit und Geschichte münden spiralig, zirkelhaft in „Refigurationen“ des Gelesenen in die Welt der Leser: eine „Wiedereinschreibung erlebter Zeit in die Zeit der Welt“ (3.208). Und eine erlebte Zeit ist auch die fiktive. <?page no="165"?> 5.2 Die produktive Differenz von Fiktion und Historie Wenn Klassiker neuerer Geschichtstheorie so weitgehend in wichtigen Thesen übereinstimmen: Alle Geschichte(n), fiktive wie historische sind erzählt, Historie ist eine weitergehende, zusätzlich determinierte Fiktion, eine nach einer eigenen „Diskursmodalität“ (White 1990, 76) konstruierte Erzählung, die ebenso von freien Fiktionen differenziert bleiben kann, wie sich beide Diskurse „konfigurativ“ und v. a. „refigurativ“ (Ricœur) interpretieren können und so fort. Was lässt sich daraus folgern für eine eben differenzierend konstruierende Poetik des historischen Romans? Muss man sich das Zusammenspiel von Fiktion und Historie nicht wie eine mehrdimensionale Spirale vorstellen, in deren Dynamik der fiktionale Diskurs den historischen bedingt, von diesem partiell determiniert wird, ihn aber auch wiederum interpretiert, dann aber jederzeit frei überholen kann, was wiederum neue interrelationale Bedeutungszuschreibungen ermöglicht, ein virtuell unendliches - wo enden „utopische Funktionen“ (Bloch 1967, 1.166)? - Sichumkreisen von narrativen Bedeutungsprozessen, die differenzierbare Kommunikationsteilnehmer bzw. „Stimmen“ (Bachtin 1979, 156) involvieren, Voraussetzungen „struktureller“ (Kosellek), „praefigurierender“ (Ricœur), „kulturell codierter“ (Barthes 1976, 26) Modalität aktivieren - man kann sie „Werte“ nennen -, Erzählprozesse, die differenzierbare Ereignissequenzen, fiktive und historische Geschichten, erzählte Welten auf- und abbauen („gerade weil ich vergesse, lese ich“, Barthes 1976, 16), die dabei immer auch argumentieren, folgern, zum Denken anregen, und die sich immer wieder auf Sinn-Zweck-Resultate, zumindest Zwischenresultate einigen, die sich ihrerseits „refigurativ“ in das Repertoire von Überzeugungen, das kulturell-historische Wissen, man kann auch sagen Gedächtnis, ein fluktuierendes Paradigma von „Werten“ einschreiben? Dieser Entwurf einer nach „Stimmen“, „Geschichten“ und „Werten“, Fiktion und Historie, Differenzierung und Konstruktion und so fort, auf alle Fälle prozessual aufzufassenden Poetik des historischen Romans geht aus von dreidimensionalen Zeichen- und Erzählmodellen: der dreistelligen Zeichentheorie von C. S. Peirce und seinen Nachfolgern (und ihren philosophischen, v. a. auch rhetorischen Voraussetzungen), von Roman Jakobsons Kommunikations- und Poetik-Modell, der Erzähltheorie v. a. von Michail Bachtin, von Brémonds und Greimas’ replikativer „logique à rebours“ des Erzählens, Roland Barthes S/ Z-Modell, Wolfgang Isers Triade von Imagination, Fiktion und Historie und anderen Theorien, natürlich auch von eigenen Überlegungen, soweit sie eben in entscheidenden Gedanken von den eben (vgl. Kap. 5.1) referierten Geschichtstheoretikern, aber z. B. auch von den Theoriekapiteln bei Aust (1994, 1 ff.) oder und noch mehr Nünning (1995, 1., v. a. 173 ff.) angeregt und geklärt wurden (vgl. dazu ausführlicher begründet Verf. 1994, 77 ff.; 2003, 141 ff.; 2005, 49 ff.; 2006, 75 ff.; 2007, 61 ff.; 2009, 305 ff.). Zu Gunsten anschaulicher Beispiele werden im Folgenden theoretische Hinweise auf ein Minimum beschränkt. Die produktive Differenz von Fiktion und Historie 157 <?page no="166"?> 158 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort Man muss also von einem Primat der Fiktion ausgehen („fiktionalen Privilegien“, Nünning 1995, 1.173). Ein fiktional entwerfender, die erzählte Welt und alle ihre Subjekt-, Kommunikations-, Raum-, Zeit- und „Wert“-Dimensionen „setzender“ Diskurs hat immer das erste Wort (der „semantische Code“ einer fundamentalen „Benennung“ nach Barthes 1976, 95; die „Imagination“ auch des „Realen“ nach White 1990, 77; die unhintergehbare „Sprachlichkeit“ aller fiktiven wie historischen Relevanznahme nach Kosellek 1989, 131; das „Entwerfen des Gegenstandes durch das Wort“ nach Bachtin 1979, 176; die hypothetisch-problematische Interpretationsvoraussetzung jeden Zeichen-Bezugs auf ein dynamisches Objekt nach Peirce 1977, 73 ff. und so fort). Jedem „es war“ muss im historischen Roman genauso wie in einer noch so wissenschaftlichen Abhandlung theoretisch ein „es sei“ vorausgegangen sein. Erzählen ist zuerst ein Behaupten: „Ich schlage einen Mann vor, der ist froh“, „fixing, then, the date of my story …“ usw. −, erst dann sind nach der Tiefenstruktur fiktionalen wie historischen Erzählens Sätze möglich wie die: „Nachdem die Böhmen besiegt waren, war niemand darüber so froh wie der Kaiser.“ (Alfred Döblin, Wallenstein, 1918, 9), oder „It is, then, sixty years since Edward Waverley, the hero of the following pages took leave of his family […]“ (Walter Scott, Waverley, 1814, 37 vgl. 34). Einerseits wird dieser Übergang schon bei Walter Scott reflektiert, andererseits ist etwa auch eine extreme Erweiterung wie „The Fire-Bombing of Dresden, Germany (told) in the Telegraphic Schizophrenic Manner of Tales of the Planet Tralfamadore, where the Flying Saucers Come From“ (der Untertitel von Kurt Vonneguts Slaughterhouse 5, 1969) davon zwar grotesk graduell, aber nicht prinzipiell unterschieden. So wie dieser Primat der Fiktion beispielsweise die weitere Konstruktion solcher Setzungen zu wissenschaftlich haltbaren Aussagen in bestimmten Formen historischen Erzählens keinesfalls hindert, so finden sich auch im historischen Roman, wenn Namen wie „Bonaparte“, „Dresden“, „Hiroshima“ fallen oder Jahreszahlen wie „one thousand seven hundred and seventy-five“ ausformuliert werden (Charles Dickens, A Tale of two Cities, 1859, 35), Erzähler, Personen, Leser eines zunächst wie immer fiktionalen Entwurfes in ein anderes Erzählen integriert, das in der Konstruktion („configuration“ nach Ricœur) theoretisch sekundär, in der „Rekonstruktion“ („réfiguration“) aber „älter“ ist und ein „Schon-Konstruiertes“, „Schon-Gelesenes“ anspricht (Barthes 1976, 25), „überindividuelle, intersubjektive Strukturen“ (Kosellek 1989, 150), die nie nur Fiktion bleiben. Sie gehören anders zu unserer Welt, wir gehen, auch erzählend, anders damit um als mit bloßen Erzählentwürfen. Erst wenn ponendo ponens der historische Diskurs einsetzt, beginnt der historische Roman und kann sich dessen Fiktionalität in ihrer eigenen Wahrheit ihm gegenüber produktiv behaupten. Das klingt banal, kann es aber nicht sein, sonst wäre es nicht so umstritten. Sei es, dass ganze Werke ganz oder <?page no="167"?> doch weit überwiegend aus der fiktionalen Verarbeitung von Historie bestehen, wie etwa Alfred de Vignys Cinq Mars (1826), Alfred Döblins Wallenstein (1920), Heinrich Manns Henri Quatre (1935/ 1938), Louis Aragons La semaine sainte (1958), Tanja Kinkels Die Löwin von Aquitanien (1989) oder die Rom- Romane von Colleen McCullough (1990-1998), sei es, dass die Synekdoche- Tradition von Walter Scott über Thackeray, Fontane, Faulkner bis zu Andersch, Böll, Johnson oder Rutherford oder Ellis Peters nur einen Teil stellvertretend für größere historische Zusammenhänge (pars pro toto) präsentiert, ein funktional relevanter „Kern“ des Erzählten muss in dieser Gattung historisch fundiert, in einem eigenen historischen Diskurs konstruiert sein. Das reicht, wenn man will, von der Vernichtung einer Familie von Neandertalern durch Menschen des Mittelpaläolithikums (40000 v. Chr., William Golding, The Inheritors, 1952) oder dem Kampf der letzten Höhlenmenschen am Ende der Würm-Eiszeit etwa 28000 Jahre später gegen eine (historisch absurde) Invasion von Kelten (David Friedrich Weinland, Rulaman, 1878) über den Sieg des Pharaos Ramses II über die Hethiter (1285 v. Chr., Christian Jacq, Ramsès. Bd. 3: La bataille de Kadesh, 1996) über die anglo-schottische Geschichte bei Walter Scott vom Normannenkönig William Rufus um 1090 (Count Robert of Paris, 1831) bis zur Zeit um 1800 (St. Ronan’s Well, 1824) und so fort bis zum Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei am 20. August 1968 (Uwe Johnson, Jahrestage, 1983), oder bis zur Zerstörung des „World Trade Center“ am 11. September 2001 (Bernhard Schlink, Die Heimkehr, 2006). Man könnte nach Seymour Chatman und anderen (vgl. z. B. Bauer 1997, 164 ff.) den historischen Roman so definieren, dass mindestens ein „Handlungskern“, also ein für das Ganze unverzichtbares Element der geformten Erzählung („plot“, „fabula“, Teilgeschichte, Erzählstrang etc.) historisch wiedererkennbar ist. Mindestens eine „Erzählsequenz“ muss, in Roland Barthes’ Diktion, von einem historiographisch-kulturellen Code „markiert“ sein; über den allgemeinen „Effekt des Realen“ muss sich „Code über Code“ ein dem Erzähltext, dem „Lesbaren“ eingeschriebenes historisierendes Leser-Erzähler-Interesse legen (vgl. Barthes 1976, 58 ff., 64 f., 95 ff.). Und ohne diesen historischen Fokus gibt es keinen historischen Roman. Dass man hier das eine nicht aus dem anderen folgern kann, „daß zwischen Historiographie und historischem Roman eine asymmetrische Beziehung besteht“ (Nünning 1995, 1.201), ist durchaus folgerichtig. Der historische Fokus konstituiert den historischen Roman, legt ihn aber keineswegs fest. Er schließt von einem bestimmten Punkt der Erzählsequenz und für einen bestimmbaren Teil der Geschichten „aus, was nicht gesagt werden darf“, schreibt aber nicht vor, „was gesagt werden kann“ (Kosellek 1989, 153). Alle fiktionalen Voraussetzungen sind auf ihre Weise „wahr“, keine noch so freie Erfindung ist ausgeschlossen − „Tuesday 14 April 1964 […] World news: In London it had been announced that King Edward and Queen Wallis were to Die produktive Differenz von Fiktion und Historie 159 <?page no="168"?> 160 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort pay a state visit to the Reich“ (Robert Harris, Fatherland, 1992, 1 und 40) − von der Phantastik bei Arnim und durchaus auch bei Scott bis zur Verbindung von Zweitem Weltkrieg und dem Leben auf dem Jupitermond Mimas oder dem fernen Stern Tralfamadore bei Alexander Kluge und Kurt Vonnegut. Aber − man sieht die produktive Differenz − zugleich gehört dieser historische Fokus eben auch einer historischen Kultur, also immer schon einem der Fiktion und dem Roman vorgegebenen Kontext an. Man kann oder könnte zumindest auch anderswo schon darüber erfahren haben oder sich darüber informieren. Wer könnte dieses einmal geweckte historische Interesse begrenzen? Interesse ist dabei allerdings im weitesten, nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch politischen oder philosophischen, auch unterhaltenden oder satirischen oder in irgendeinem Sinn zu verstehen, eben alles, wofür sich Geschichte erzählen lässt. Doch darauf kommt es jetzt nicht an. Denn sogleich gilt auch die umgekehrte Paradoxie: Die gesamte Fiktion kann als fruchtbar für eine Erkenntnis von Geschichte gelesen werden. Das wilde Aufblühen eines verwüsteten Gartens (Alessandro Manzoni, I promessi sposi, 1827), die Kälte eines Studentenzimmers (William Faulkner, Absalom, Absalom! , 1936), ein Bild von Paul Klee (Alfred Andersch, Winterspelt, 1974) oder auch das überraschende Auftauchen einer leeren Bierflasche (Graham Swift, Waterland, 1983): Alles kann im Roman zur Historie hinzu erfunden werden, jede noch so freie Fiktion kann historisch interessant erzählt werden. Die maßgebliche, in der Regel die erste „Markierung“ des historischen Diskurses konstruiert eine historische Deixis. Wie fiktional und auf alle Fälle sprachlich-zeichenhaft immer sie primär (als notwendige, nicht hinreichende Bedingung weiterer Erzählsequenzen) entworfen wurden, bestimmte semantische Einheiten, Erzählzeichen, Narreme „zeigen“ auf etwas, das nicht nur Sprache oder Gedanke war. Aus dem Rahmen (der umschließenden semantischen Menge) der Fiktion heraus vernetzen sie diese mit weitergehend und spezifisch („assertorisch-dicentisch“, vgl. Peirce 1958, 8.337: „capable of being asserted or denied“) behaupteter Historie: Namen, Orts- und Zeitangaben, Spuren, Zeugnisse, Dokumente und Quellen sind konstitutiv für den historischen Diskurs. Fiktional ist ihre deiktische, indexikalische, also hinweisende Funktion nicht aufzuheben. Ein solches historisch „zeigendes“ Zeichen, sofern es verstanden wird, also überhaupt funktioniert, erschließt einen raum-zeitlichen Nexus, der seinen Gebrauch motiviert. Die Namen „Schlacht am Weißen Berg“, „Napoleon Bonaparte“, die Daten der „preußischen Kriegserklärung“ am 8. Oktober 1806 und so weiter, auch wenn sie im Druck erscheinen, über Satelliten oder im Internet kommuniziert werden, stehen in bruchloser Kontiguität, Zuordnung, Verweisungskette (das gilt auch für die Übertragung elektromagnetischer Wellen) mit dem historischen Konstrukt, also ganz wörtlich dem „factum“, das sie bezeichnen. Nicht dass <?page no="169"?> dieses „geschehen“ ist oder „sicher“ bekannt ist, ist entscheidend; das erstere ist streng genommen der Erkenntnis nicht zugänglich, das zweite immer falsifizierbar: „Diese Ereignisse sind real, nicht weil es sie gab, sondern weil man sich, erstens, an sie erinnerte und weil sie, zweitens, sich in eine chronologisch geordnete Abfolge einreihen lassen“ (White 1990, 33). Entscheidend ist, dass der Nexus („an index represents an object by virtue of its connection with it“, Peirce 1958, 8.368), der das Zeichen noch in seinem spätesten, übertragendsten Gebrauch (zumindest mit) konstituiert, auch Teil der Konstruktion des Bezeichneten war, und so gesehen „tatsächlich auf es einwirkt“ (Peirce 2000, 3.279). So wurde ein vielleicht wirres, als Ganzes möglicherweise von niemand vollständig wahrnehmbares kriegerisches Geschehen irgendwann nach seinem Ende als „Schlacht am Weißen Berg“ herausgelöst aus Vor-, Nach- und Parallelgeschehen, es wurde als eine Einheit aufgefasst, benannt, auf den 8.11.1620 datiert und dann immer neu, eventuell abweichend oder differenzierter erzählt; anders gesagt, es wurde in die „chronologisch geordnete Abfolge“ der Geschichte Böhmens, Bayerns, der Pfalz, des Dreißigjährigen Krieges, der Konfessionen in Deutschland oder in die Geschichte der tschechischen Sprache (deren Gebrauch etwa jahrhundertelang zurückging) aufgenommen. Der Name enthält dann noch heute den Imperativ (wer dem nicht folgen will, versteht ihn eben nicht „historisch“), dass man seine Aufmerksamkeit auf das so benannte Faktum richten solle. Indices sind „Aufmerksamkeitsvektoren“ (Eco 1977, 157). So wird dieses ja erst zu einem „factum“, „Gemachten“, das nur in der nexalen Kontinuität der Benennungen in den jeweiligen Geschichten zugänglich ist. Mit anderen Worten: Es ist erst diese als Appell vermittelte „Blickrichtung“, die das „Bewusstsein“ veranlasst, „sich auf ein ,wirklich‘ stattgefundenes Ereignis zu beziehen“, erst so „wird das Dokument zur Spur, das heißt […] zugleich zu einem Überbleibsel und Zeichen für das, was war, aber nicht mehr ist.“ (Ricœur 1991, 3. 10/ 11). Von der Freiheit fiktionaler Entwürfe ist diese historisierende Bezeichnungsfunktion nicht kategorial verschieden. Auch fiktive Welten werden wesentlich indexikalisch aufgebaut (vgl. z. B. Barthes 1976, 44 ff.). Entscheidend ist, ob, behauptend oder nicht, von Fall zu Fall „assertorisch“ die „direct attention“, die ein Index verlangt (Peirce 1931, 2.306), historisierend verstanden werden kann. So trennen und verbinden sich immer wieder fiktionale und historische Diskurse. Und beide Funktionen erst erschließen zusammen die Bedeutung eines solchen Schlüsselsatzes der Gattungspoetik wie: „Als die Böhmen besiegt waren, war niemand darüber so froh wie der Kaiser.“ (Alfred Döblin, Wallenstein, 1918, 9). Die Kontinuität des historischen Diskurses ist etwas, womit Döblin hier spielt („nachdem“), was er aber zweifellos voraussetzt. Dasselbe galt schon, wenn Scott „Preston“ und „Culloden“ erwähnte oder Faulkner nicht weniger lakonisch anmerkt: „News came of Lincoln’s election and of the fall of Sumpter.“ (Absalom, Absalom! , Die produktive Differenz von Fiktion und Historie 161 <?page no="170"?> 162 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort 1936, 64). Hier lässt sich nichts umstellen, ohne eben den historischen Diskurs zu verlassen. Dieser ist in allen seinen Rekonstruktionen auf das Kontinuum der Chronologie, aber auch auf den deiktischen Konnex räumlich-kartographischer Zuordnungen angewiesen. A. C. Danto (1974, 112 ff.) stellt das erhellende Gedankenexperiment an, die Welt wäre vor fünf Minuten erschaffen worden: Alle ihre Geschichte wäre dann mit erschaffen. Denn sie ist nichts anderes als ein kontinuierlicher Reflex, eine raum-zeitlich nexale Rekonstruktion gegenwärtiger Spuren, Quellen und Darstellungen. Wenn beispielsweise eine assyrische Schriftsammlung dieser Tage (ich lese am 18.3.1999 eine Zeitungsnachricht darüber) entdeckt wird und über bisher unbekannte Ereignisse oder Mentalitäten Auskunft gibt, so ist all dies genau dann Geschichte, wenn die raum-zeitliche Diskurskontinuität (eventuell nach langer Unterbrechung wieder) geschlossen ist. Und nur weil ein solcher Nexus erwartet werden kann, können oder müssen (aufgrund anderer Einsichten, also Diskurse) Eintragungen in ihm verändert werden − mit dem Anspruch, fortan, aber immer nur bis auf weitere, eventuell andere Überzeugung, zu gelten. Nur so ergibt sich beispielsweise die Erzählfigur, dass die Romane mit der Erwartung eines historischen Ereignisses schließen und dieses völlig sicher implizieren: die preußische Kriegserklärung an Frankreich vom 8.10.1806 (die Handlung von Fontanes Schach von Wuthenow, 1882, springt vom 14.9.1806 auf den 18.8.1807), die Ardennenoffensive in Anderschs Winterspelt (1974), beginnend am 16.12.1944 um 5.30 Uhr, während die Romanhandlung am 12. Oktober endet (vgl. 491, 586 u. 596), die Befreiung des fiktiven jüdisch-polnischen Ghettos in Jurek Beckers Jakob der Lügner (1969), die geradezu dramatisch ausdrücklich nicht erzählt wird (vgl. 257 ff. u. 272 ff.), wären Beispiele dafür. Oder man denke an die ausgespart-implizite Historie am Ende von Uwe Johnsons Jahrestage (1983, 1888-1892): Die Romanheldin ist am 20. August 1968 unterwegs nach Prag, die Aufzeichnungen enden mit einem Spaziergang am Meer und völlig privaten Erinnerungen. Aber - und der Autor weiß, dass die Leser es wissen, bzw. wissen können, nach der vorhergehenden Lektüre des Romans wissen sollten - dies ist auch der Tag, an dem die Warschauer-Pakt-Staaten in die damalige Tschechoslowakei einmarschiert sind. Solche immer genau kalkulierten produktiven Differenzen wären nicht möglich, wenn eine raum-zeitliche Kontinuität der historischen Diskurse („das folgt da auf das“ etc.) nicht vorauszusetzen wäre. Genauso kalkuliert verweisen die teilweise extrem versetzten und sprunghaft verbundenen vielfachen Zeitebenen, wie sie seit Faulkner zur Poetik des historischen Romans gehören, immer auf die Kontinuität historisch bereits erzählter Zeit zurück. Alle historischen Romane setzen diese konstitutive Kontinuität des Geschichte-Erzählens voraus − gerade auch die kühnsten „Durchstreichungen“ und Negationen der „Postmoderne“ bringen sie, wie schon das Beispiel MB DRO ROSHI aus Thomas <?page no="171"?> Pynchons Gravity’s Rainbow (1973) zeigt, immer wieder und immer wieder ganz gezielt hervor. Historie, gerade auch in ihrer expliziten Form als Geschichtswissenschaft, kann nicht nur in die Freiheit fiktionalen Erzählens, sondern beispielsweise immer auch in die argumentativen Zusammenhänge von Politiktheorie, Wirtschaftssystematik oder Geschichtsphilosophie übergehen. Aber, so möchte ich behaupten, der Argumentwechsel ist dann als solcher erkennbar. Geschichte ist immer etwas anderes als Theorie, auch wenn beide sich durchdringen. „Die Verschränkung von Ereignis und Struktur darf nicht zur Verwischung ihrer Unterschiede führen“ (Kosellek 1989, 150). Wer klar denkt, wird sie immer unterscheiden und nie trennen. Wie immer die bereits mehrfach genannte „Niederlage Böhmens“ 1620 historisch betrachtet wird − zum Beispiel im Hinblick darauf, dass ihre Ergebnisse im Westfälischen Frieden, der vom „Normaljahr 1624“ ausging, nicht korrigiert wurden, und Tschechen oder Schlesier betrifft das vielleicht noch heute −, der „Rahmen“ des historischen Diskurses besteht (pars pro parte) darin, dass (mindestens) zwei „Koncretive“ (Peirce 2000, 3.228) zueinander in Bezug gesetzt werden. So legt Döblin durch seinen Wallenstein-Roman hindurch eine klare „Metonymiekette“ (White 1990, 28), eine „Sequenz“ von „Funktionen“ (Barthes 1988, 102 ff.), in der beispielsweise die Berufung Wallensteins durch seine Erfolge, diese durch seine Entlassung, diese wieder durch den Kriegseintritt Schwedens, das Ganze durch Wallensteins neuerliche Berufung, all dies wieder durch dessen Ermordung überhaupt erst bemerkenswert, für Fragen nach Zusammenhängen interessant, für ein Verständnis von Veränderungen interpretierbar wird. Und dem folgen erst die anders argumentierenden − und der Wechsel des Arguments ist lesbar − Verallgemeinerungen, die es in Döblins Wallenstein erst recht gibt (vgl. unten Kap. 6.1): etwa zum System von Macht, zur Chance von Gewalt und Frieden, zum Verhältnis von Natur und Geschichte, Mythos und Historie und so fort. Schon Aristoteles’ Poetik (etwa 335 v. Chr.) lehrte, dass die Historie „kat’ hekaston“, „zum Einzelnen“, rede, die Dichtung wie die Philosophie („philosophoteron“) dagegen „kat’ holou“, „zum Allgemeinen“ (Aristoteles 1982, 28). Bei der Ausdifferenzierung der Diskurse von Geschichtsphilosophie, -wissenschaft und Dichtung Ende des 18. Jahrhunderts, also zur Entstehungszeit des historischen Romans, spielte dieser Gedanke eine zentrale Rolle. In der neueren Geschichtstheorie wurde die metonymische Figur der historischen Erzählung wiederholt analysiert. A. C. Danto argumentiert immer wieder mit der Tiefenstruktur des Erzählsatzes, dass ein Ereignis erst durch seinen Bezug auf mindestens ein weiteres, späteres, und unter dem erkenntnisleitenden Interesse, einem Interesse, den Wechsel bzw. Wandel zu begreifen, historisch signifikant wird (vgl. Danto 1974, 5 f., 226 ff., 246 ff., 371 ff.). Im Prinzip genauso beschreibt White den theoretisch wichtigen Übergang von der Chronik zur Geschichte. Er zitiert aus den letzten Eintragungen der Annalen von St. Gallen: „1056 Kaiser Heinrich gestorben, und sein Sohn Heinrich bestieg den Die produktive Differenz von Fiktion und Historie 163 <?page no="172"?> 164 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort Thron“; dies enthalte, so White, „die Elemente einer Erzählung im Embryonalzustand“; denn genau dann, wenn wir „wissen“, dass es sich um Heinrich III. und Heinrich IV. handelt und „was den jüngeren Heinrich […] in der Zeit des Investiturstreits“ erwartet, können wir diese „Narreme“ aus einem „Meer von Daten“ heraus zur Geschichte formen (White 1990, 20, 26-28, 33 ff.). Dieser metonymische Rahmen des historischen Diskurses, oder doch Teil- Diskurses, eröffnet für die Differenzierungen des historischen Romans viele Möglichkeiten. Zunächst, das wäre vielleicht auch wieder eine Paradoxie, scheint er hier immer wieder bewusster und genauer markiert zu werden als (vielleicht? ) in der Geschichtsschreibung allgemein. Die differierenden Strategien tropischer Erkenntnisformen, bzw. der „Fabelbildung“ (vgl. unten Kap. 5.3.1) formen sich aufeinander hin, grenzen sich ein, heben Verallgemeinerungen, Analogien, Negationen etc. demgegenüber ab. (Parahistorien vom Typ: „Die Nazis haben den Krieg gewonnen“, können nur verallgemeinernde Deutungen, z. B. die der Zwangsläufigkeit in Frage stellen, nicht die eigens, eben historisch, erzählten Ereignisse.) Dann scheint hier auch gleich ein Gradmesser für literarischen „Anspruch“ vorzuliegen: Metonymien sind schwierige Figuren; die trivialen Traditionen des historischen Romans dagegen werden wesentlich von der erwarteten (synekdochischen oder metaphorischen) Allgemeinheit ihrer Wertungen und Parteinahmen getragen (vgl. unten Kap. 5.3.1.3). Ein weiterer Punkt betrifft das in diesen Metonymien enthaltene Moment „vergangener Zukunft“ (Kosellek 1989). Nicht nur, was nahe liegt, verschiedene Relevanznahmen interpretierender Nachzeitigkeit, verschiedene „Zeitschichten“, können und werden zu immer neuem „Umschreiben“ führen (Kosellek 2000, 52). Auch schlechthin zukünftige Erwartungen können das Interesse an Geschichte, und erst recht das an deren freier Erzählbarkeit, steuern (vgl. dazu auch unten Kap. 5.4). Markiert nicht gerade auch dann der „metonymische Rahmen“ den Übergang zu philosophischem, apokalyptischem, eschatologischem oder utopischem Interesse? Denn eben dann, wenn sie den Widerstand historischer Singularisierung rekonstruieren, können die Romane ihr Spiel, ihre Zeitsprünge, ihre freien Entwürfe gegen diese Verfestigungen setzen. Die replikativ-kontrafaktische Logik „à rebours“ (Greimas / Courtès 1979, 245) zwischen fiktivem und historischem Diskurs („ich schlage vor“, „das ist historisch relevant oder nicht“, „ich schlage weiterhin vor“, „das kann für das vorher Gesagte und für weitere historische Markierungen bedeutsam sein oder nicht“ und so fort) trennt und verbindet auch das Spiel verschiedener Intertextualität. Der historische Diskurs enthält immer intertextuelle Verweise, er bezieht sich immer auf Spuren, Dokumente, Quellen: Text von Texten. Auch die kollaterale Darstellung desselben Ereignisses, genauer, des „Vor-Konstruierten“, ist hier, zumindest als Möglichkeit, niemals auszuschließen. Dem „Schon Gelesenen“ der Historie entspricht notwendig ein <?page no="173"?> „Anders Lesbares“. Dies gehört seit je und bis heute zum poetologischen Kalkül des historischen Romans. Geschichte wird hier als immer schon erzählte vorausgesetzt und immer umerzählt. Wenn die Romane beispielsweise in Fußnoten oder in Quellenhinweisen den Text-Charakter der Historie offenlegen, erkennen sie auch dessen Lese- und Deutungsvarianten an. Das kann schon früh (z. B. Walter Scott, deutlich Joseph Victor von Scheffel, Ekkehard, 1855) „verfremdend“ wirken; mit fortschreitender Moderne wird es immer kontroverser genutzt (etwa in den Dokumentationsteilen bei Andersch und besonders intensiv wie extensiv bei Kluge, vgl. unten Kap. 7.1 u. 7.2). Immer schon spielen die Autoren (beispielsweise Manzoni) aber auch mit diesen historischen „Prae-Texten“ und − der alte Raabe ist hier schlechthin exemplarisch − setzen ihnen ganz alternative intertextuelle Bezüge entgegen (vgl. oben Kap. 2.4 u. 4.7). Denn Differenzierungen der Intertextualität bedeuten hier fast immer auch Differenzierungen der Argumentation. Im spiraligen Progress des Relevanzaustauschs zwischen Fiktion, Historie, Fiktion und so fort, kreist der historische Diskurs um Induktionsachsen (zur Begrifflichkeit gleich): Es geht ihm um ein Mehr oder Weniger an (aus Quellen) zu sichernder, „gemachter“ Faktizität, um Rekonstruktionen vergangener Zustände oder Geschehensverläufe, die von Fall zu Fall stabiler werden oder nicht, und auf dieser induktiven Grundlage um Begriffe und Gesetzmäßigkeiten und Strukturen für geschehene zeitliche Veränderungen. Das setzt wie jede Argumentation Hypothesen voraus. Aber die Hypothesen der Historie sind - man kann erneut eine inklusive Differenzierung erkennen - Teilmengen jener möglichen Hypothesen, wie sie der Fiktion ohne Begrenzung offen stehen. (Zur Argumentationstheorie vgl. z. B. Peirce 1983, 89 ff.; Perelman / Olbraechts-Tyteca 85 ff.; Kienpointner 1992, 187 ff.; was Barthes 1976 den „hermeneutischen Code“ nennt, ist eine Auswahl aus argumentierenden Verlaufsformen des Wertediskurses; recht genau umschreibt er z. B. immer wieder die von Peirce empfohlene Form der Abduktion, die eine „neue Idee in Umlauf bringt“, vgl. Barthes 1976, 23, 56, 78, 88 f., Peirce 2000, 1.394 ff., 398 ff.) Wenn etwa Dickens, Hugo oder Raabe ausbuchstabierte Schreckensjahre der Geschichte nennen - „one thousend seven hundred and seventy five“ (A Tale of two Cities, 1859, 35), „Quatrevingt-Treize“ (so der Titel 1874), „siebenzehnhunderteinundsechzig, siebenzehnhunderteinundsechzig, siebenzehnhunderteinundsechzig“ (Das Odfeld, 1888, 86) -, dann entwerfen sowohl der in dieser Zahl verdichtete historische als auch der von ihr ausgehende, besser, bei ihr neuerlich einsetzende fiktionale Diskurs Hypothesen für etwas Unbekanntes. Die gedehnte Zahl saugt die Leser geradezu in dieses Unbekannte hinein. Aber historisch gelesen fordert diese Hypothese ein Argument aus „Fällen“ (z. B. die Opfer der Guillotine, die „Verluste“ an bestimmten Tagen des siebenjährigen Krieges etc.) und „Resultaten“ (z. B. vertiefte fami- Die produktive Differenz von Fiktion und Historie 165 <?page no="174"?> 166 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort liäre, soziale oder regionale Konflikte, neue Grenzverläufe), ein induktives Argument, das die Hypothese bestätigt. Doch der Romandiskurs umkreist diese induktive Achse, verbiegt sie aber auch, verlässt oder durchbricht sie. So setzen Dickens, Hugo oder Raabe z. B. der Historie ein spielerisches Prüfen mythischer Modelle entgegen (vgl. oben Kap. 4.2, 4.3 u. 4.7), in dem im Prinzip deduktiv, oft durchaus problematisierend oder negativ vom Allgemeinen auf das Besondere geschlossen wird. Während die Historie solches Denken beispielsweise historischen Personen (z. B. Marat) zuordnen, also es induktiv präzisieren und einrahmen müsste, macht die Fiktion es hier direkt zum Problem der Leser. Döblin etwa macht aus mythischen Vorgaben eine spannende Meta-Erzählung von Bedrohung und Flucht (vgl. unten Kap. 6.1). Der Roman argumentiert anders als die Historie. Und noch deutlicher anders (als „abduktive“ Schlüsse auf mögliche, neue Fälle, was „any flight of imagination“ erlaubt, Peirce 1931, 5.196), verläuft die Argumentation, wenn etwa fiktive Einzelne, Carton bei Dickens, Gauvain bei Hugo, Buchius bei Raabe oder der ganz klar zuletzt „anti-historische“ Ferdinand bei Döblin eben solche Hypothesen des Schreckens zu durchbrechen suchen. Nicht die Handlung, sondern das über jede Induktion hinausgehende (wie hypothetisch-problematisch immer) und gezielt offen zu interpretierende, aber immer doch auf Überzeugungen zielende Argument ist entscheidend. Fiktionale und historische Diskurse „funktionieren […] gleichzeitig, aber auf verschiedener Wellenlänge“, so dass zwischen ihnen „eine Art diakritischer Parameter“ entsteht: „ein Sinn mehr“ (Barthes 1976, 64/ 65). All das können jetzt nur punktuelle Hinweise sein. Man könnte die mehrfache Argumentation elaborierter Zeitschichten und „Diahistorien“ anführen (vgl. unten Kap. 5.4) oder analysieren, wie etwa spielerisch-zeichenhafte Möglichkeits-, aber auch Negations-Argumente gerade in der Moderne und Postmoderne immer wieder präzise auftreffen auf historisch rekonstruierte und induktiv klärbare Entwicklungen: beispielsweise das fiktional zersetzte, dekonstruierte Werte-System „männlich-weiblich“, „weiß-schwarz“ etc. und das Ende des Bürgerkriegs bei Faulkner, die kreativen, aber nicht beliebigen Lesarten eines Klee-Bildes und eine historisch genau verortete, raum-zeitliche Stunde Null bei Andersch, oder der zeichen-logische Zusammenbruch einer Symbolwelt und der Kriegsverlauf 1944/ 45 bei Tournier (vgl. unten Kap. 6.2, 7.2, 8.3.1). Im historischen Roman des Exils, um ein vorläufig letztes, sehr klares Beispiel zu nennen, folgt die „induktive Beispielargumentation“, die historische Persönlichkeiten zu rekonstruieren und diese ganz wörtlich für die Leser als „neu in der Erfahrung auftauchende Fall“-Studien zu präsentieren sucht (Peirce 2000, 3.285) - z. B. Henri Quatre, Caesar, Josephus (vgl. unten Kap. 6.4) - immer einer differenzierbar (aber nicht trennbar) anderen Strategie als deren human-engagierte Verallgemeinerung, dazu gehört auch eine kritische, ja, wie bei Brecht, zerstörerische, die ebenfalls typisch <?page no="175"?> ist für diese sonst sehr unterschiedlichen Romane und die ihrerseits selbst aus sehr komplexen durchaus widersprüchlichen Erzählformen hervorgeht. Kurz, die Differenzierung von Fiktion und Historie im historischen Roman lässt sich produktiv nur begreifen im Zusammenhang, im spiraligen „Kreis von Verbundenem […] des Lesbaren (Barthes 1976, 156), im „Wechselverhältnis“ von mehreren „schöpferischen Standpunkten“ und der „Wechselwirkung“ […] dialogisch zueinander in Beziehung gebrachter […] Redevielfalt (Bachtin 1979, 111 u. 279), in der - Spirale von sich „überkreuzender“ fiktional-historischer „Konfiguration“ und „Refiguration“ (Ricœur 1991, 3.294 ff.), im „differenzierenden“ und „reintegrierenden Interdiskurs“ (Nünning 1995, 1.344) mehrerer narrativ variierter Erkenntnisformen des Erzählens, eines Erzählens eben von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort. Und dies wird am besten sichtbar im jeweils einzelnen, ganzen Text. 5.3 Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman Die Freiheit des Erzählens wird da, wo sie um einen historischen Fokus, einen historischen Diskurs kreist, nicht begrenzt. Und Historie ist nie nur Funktion dieser freien Entwürfe. Doch sie gibt den Fiktionen, von der souveränen Imagination der Romantik bis zu den Anti-Historien der Postmoderne, immer wieder eine Richtung, also einen Sinn. Die Freiheit fiktionalen Erzählens nutzt die Historie zum Zweck narrativer Erkenntnis. Und diese Erkenntnis kann auch im Spiel, im Experiment, ja in der Negation von Sinn bestehen - oder etwa in der Einsicht, dass es richtig ist, dass es Lesevergnügen verspricht, weitere solche „Bestseller“ zu kaufen, wie den eben gelesenen. Auf alle Fälle entfaltet sich die Vielfalt narrativer Möglichkeiten im historischen Roman nicht beliebig. Der Versuch, eine Poetik des historischen Romans zu skizzieren, gleicht der Aufgabe - die „anatomie comparée“ war einmal Modell der „Vergleichenden Literaturwissenschaft“ - wesentliche Lebensformen z. B. „im Wasser lebender Säugetiere“ zu beschreiben. Auch hier gibt es Funktionsverbindungen wie bei „Geschichtsdichtung“ oder „historischem Roman“. Sagt man bei Walen, Seehunden, Nilpferden usw. auch so leicht entweder: „Das lässt sich nicht mehr vergleichen“, oder: „Da gibt es keinen wesentlichen Unterschied zu Elefanten, Füchsen und Kühen“? Gewiss müssen diese Tiere, wie alle Säugetiere, atmen, ihre Körpertemperatur erhalten, sich paaren, gebären und so fort. Aber all dies geschieht unter den Bedingungen des Lebens im Wasser. Auch die Möglichkeiten, solche Lebensfunktionen zu erfüllen, sind vermutlich differenziert, vielleicht unendlich variabel, aber keineswegs beliebig. Der kategoriale Unterschied zu den Fischen oder Lurchen beispielsweise ist unüberwindbar; es bringt auch nichts, einen oder wenige Realtypen zu verallgemeinern und so weiter. Anders gesagt: Die poetischen Möglichkeiten des historischen Romans sind zunächst die des Romans allgemein; es gibt da nichts Wesentliches, was es nur hier gäbe. Ent- Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 167 <?page no="176"?> 168 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort scheidend ist die weitergehende, nämlich funktionale Frage: Wie gehen die Formen des Romans um mit Historie? 5.3.1 Konstruktionen Der Roman ist eine Unform. Es war seit je sein Prinzip, sich selbst zu widersprechen. Daher liegt ihm das Hybride, Differenzierende, die poetischhermeneutische Paradoxie der Verbindung mit Historie ja auch so nahe. Man könnte annehmen (so ich selbst 1976): Je differenzierter, um so „anspruchsvoller“, je einheitlicher, um so trivialer ist der historische Roman. Aber so ist es längst nicht mehr. Es gibt bewusst plural erzählte, gleichwohl eindeutig für den Massen- und Verkaufserfolg geschriebene, damit aber noch keineswegs „schlechte“ historische Romane. Wie gehen sie mit der produktiven Differenz von Fiktion und Historie um? Es gibt, wie immer wieder gezeigt (vgl. oben Kap. 2.5, 4.5, 4.6, unten z. B. 8.3.3), bewusst artistische Geschichtserzählungen, die historische Integration mit ästhetischen Negationen verbinden können und so durchaus eine Spielart der produktiven Differenz von Fiktion und Historie ausformen. Und, so viel hat die theoretische Klärung auf alle Fälle ergeben, die (inklusive, replikative) Differenzierung der Diskurse bedeutet in allen Dimensionen und auf allen Ebenen des Erzählens nicht deren Trennung, sondern ermöglicht erst ihre produktive Wechselwirkung. Differenzierungen und Konstruktionen sind aufeinander angewiesen. 5.3.1.1 Illusion Der Knabe war klein, die Berge waren ungeheuer. (Heinrich Mann, Die Jugend des Königs Henri Quatre, 1935, 13) Gleitet nicht mit dem zweiten Halbsatz die Vorstellung wie der Schwenk einer Kamera ganz direkt an diesen Bergen hinauf? So tritt die Illusion ein in die Historie des ersten Bourbonen-Königs (1553-1610), die der Titel des Romans angekündigt hatte. „Daß der historische Roman Geschehnisse der Vergangenheit […] verlebendigt“ (Aust 1994, 2) ist immer eine Illusion. Und ohne diese Illusion gibt es keinen historischen Roman. Sie reicht von Situationsskizzen wie „it was a melancholy day at Waverley-Honour“ (Walter Scott, Waverley, 1814, 37) über den räumlichen und zeitlichen „Zoom“, mit dem Arnim, Manzoni oder de Vigny die Leser in die historische Szenerie illusionär „hineinversetzen“, bis zu Augenblicksaufnahmen der Anschaulichkeit, auf die auch ein weitgehend aus „Dokumenten“ montierter Roman, also eine „aus dokumentarischem Material bestehende […] Fiktion“ wie die Alexander Kluges nicht verzichten will: Natur, Sonne. Über die Augen eines vereisten Toten auf einer Anhöhe haben sich Krähen hergemacht. In der Steppe sind Vögel ungewöhnlich. Die kleine weiße Sonne, <?page no="177"?> die durch eine weißliche Dunstschicht zu sehen ist, hat die vertraute Tünche abgelegt, hilft nicht. (Schlachtbeschreibung, 1978, 368 und 9) Hat man nicht auch jetzt, wie bei den genannten „Zoom“-Effekten, den Eindruck gelesener Intermedialität? Denn die verdichtete, momentane, szenische Illusion wirkt wie ein Foto in einem Buch oder wie eine Filmeinspielung in einem Vortrag. Sie ist einen Augenblick lang ganz nah und durchbricht die Distanz der Dokumente - wobei diese freilich genau so erst recht unfassbar werden. Die Illusion der Anschaulichkeit für einen winzigen Zeitraum verstärkt die Unvorstellbarkeit der Katastrophe (es geht um die Schlacht von Stalingrad), die der Roman im Ganzen vermittelt (vgl. unten Kap. 7.1). Meist markiert einfach das betonte Nebeneinander von (vergangener) Historie und illusionärer Gegenwart diese Grenzüberschreitung. Aber auch die Intensität der Illusion kann, wie eben punktuell gesehen, diese wie einen überblendenden Film in eigentümliche Distanz zur Historie setzen. In William Faulkners Absalom, Absalom! (1936) meint man immer wieder die Luft und die Gerüche eines amerikanischen Südens („a dim hot airless room […] full of dust“, „it was a summer of wisteria […] and of the smell of his father’s cigar“, 5, 25) noch beim Lesen mitzuriechen, so wie auch sonst viele atmosphärische Details dicht und nah evoziert werden. Aber diese intensive Illusion macht zugleich auch die Ferne der fast mythisch gewalterfüllten Familiengeschichte nur noch spürbarer. Alles wirkt alt, fremd, abgestorben, und zugleich bedrückend gegenwärtig; und das menschliche Erbe des amerikanischen Bürgerkriegs wird noch für inzwischen sehr entfernte Leser zur direkten Provokation. Der auf den Erfolg im Buchmarkt ausgerichtete historische Roman der Gegenwart scheint diese indirekte Distanzierung bereits geradezu gelernt zu haben. So macht etwa die illusionäre Nähe von Gerüchen („es roch nach feuchtem Leder, nassem Stoff, Asche und Glut, Pferdekot und Männerschweiß, [ein Windstoß] brachte einen Schwall Knoblauch, Braten und Wein“) - der Roman ist voll von solchen Impressionen oder ganzen filmisch ablaufenden Szenen - in Gisberth Haefs Hannibal bzw. Karthago-Roman (1989, 633) die Fremdartigkeit dieser ganzen Welt immer zugleich mit bewusst: hier freilich als gezielte Einladung an die Bewohner des heutigen ,globalen Dorfes‘, die durch Medienerfahrungen oder Fernreisen usw. sich auf alles Exotische vorbereitet glauben, sich mit dieser reizvollen Fremde zu identifizieren. Im Gegensatz dazu nun hatte schon die Intensität totaler Visualisierung in Flauberts Salammbô (1863), um im selben Themenkreis und bei einer Vorlage für Haefs Hannibal zu bleiben, den Effekt, dass die Präsenz des Stils die Negation des Sinns im Dargestellten noch verstärkt (vgl. oben Kap. 4.6). Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 169 <?page no="178"?> 170 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort Hier gäbe es noch viele Kontrastierungs-, Brechungs- und Annäherungsmöglichkeiten. Ken Follett beispielsweise, um einen weiteren ,Bestseller‘ der Gegenwart anzuführen, scheint mit der Gegenwärtigkeit der Illusion zu spielen, wenn er sie zum einen am Romananfang klar von der Historie absetzt, dann aber zum anderen dieselbe Szene („The small boys came early to the hanging“, The Pillars of the Earth, 1989, 3 u. 1064) am Romanende wiederholt: Es ist dieselbe, oder nahezu dieselbe Szene, aber mit anderen Akteuren, wobei der Bösewicht von jetzt, böse seit langem, stellvertretend das von seinem Vater mitverursachte Unrecht von einst büßt. Man merkt die Inszenierung und hält sie doch für historisch gerechtfertigt: Poetische Gerechtigkeit, tief befriedigend für die Leser, tritt endlich ein, zusammen mit der vollständigen Auflösung des ursprünglichen Rätsels. Die von einem impliziten Autor genau geformte und geschlossene fiktive Fabel, deren Funktion die Szene und ihre Illusion ist, fügt sich ein in die umfassende Historie, lässt sich aber genauso problemlos - genau darauf macht die Wiederholung aufmerksam - auch immer aus ihr heraus lösen. Sie versetzt einen weg und lässt einen, wo man ist, sie ist spannend, aufregend, abstoßend und beruhigt zugleich dann doch wieder. Sie enthüllt ihre Konstruktionen genau so weit, dass diese die Illusionen und Sinnbehauptungen zusätzlich stützen, ohne deren Konsum zu belasten. 5.3.1.2 Fabelbildung Dass Geschichten Formen haben, folgt aus ihrer narrativen Tiefenstruktur. Man kann Geschichte nicht „nicht erzählen“. Die entwerfende Verkettung von Behauptungen (in der Fiktion) und deren deiktische Spezifizierung, die rekonstruktive Verbindung von Daten (in der Historie), all das kann immer nur auf eine „bestimmte Weise“ erfolgen (das war v. a. das Thema Hayden Whites, vgl. oben Kap. 5.1). Dominanz einer Geschichtsform, deren Pluralität, ihr Wechsel, wären weitergehende Figuren, die allerdings für den historischen Roman erst die interessantesten sind. Wenn ein „plot“ eine begriffene, in ihren wesentlichen Schritten unter einem „Wert“ zusammengefasste Geschichte ist, eine „Fabel“ die erzählend-erkannte Konfiguration einer Geschichte − diese Minimaldefinitionen sollen hier genügen −, dann kommen zu ihrer Beschreibung viele Ganzheitsbegriffe engeren oder weiteren Umfangs in Frage: die Tropen der Rhetorik beispielsweise, die Hayden White in der historischen Erkenntnis überzeugend nachgewiesen hat und deren wir uns in den anderen Teilen dieses Buches immer wieder bedient haben (exemplarische Erläuterungen gebe ich sogleich), auch die „Chronotopen“ Michail Bachtins als fundamentale Form- Inhalt-Strukturierungen allen Erzählens (vgl. unten Kap. 5.4), „einfache Formen“ wie Mythos, Märchen, Legende, aber natürlich auch traditionale Gattungsbegriffe, also Begriffe von Romanganzheiten wie „Bildungsroman“, <?page no="179"?> „Kriminalroman“ etc., all dies kann zur Integration wie Differenzierung von Fiktion und Historie relevant werden. Eine der für die Frage nach der Poetik des historischen Romans anregendsten Theorien Hayden Whites ist seine Metahistorik der Fundamentaltropen (ausführlich 1994, konzise 1986, 7 ff.). Und sie ist für die freiere, romanhafte Geschichtserzählung noch viel fruchtbarer als für die Geschichtswissenschaft. White unterscheidet (letztlich den binären Modellen des New Criticism und des Strukturalismus verpflichtet, vgl. z. B. Zapf 1991, 147 ff. u. 231 f., Dubois 1974, 152 ff., Greimas / Courtés 1979, 29 ff., Chandler 2002, 139 ff.) vier Grundformen der Integration durch Fabelbildung bzw. des „emplotment“ historischer Erzählungen. Da eigentlich in fast jedem Kapitel bisher und im Folgenden mit diesen Begriffen gearbeitet wird, sollen diese der klassischen Rhetorik entlehnten und von der neueren Rhetorik neu definierten Kategorien hier nur kurz vorgestellt werden, allerdings bereits in der für die Fragen nach dem historischen Roman modifizierten Weise. Von den vielerlei Formen der Synekdoche interessiert hier vor allem die eine, dass ein Teil für das Ganze (pars pro toto, z. B. „Glas“ für „Getränk“, oder etwa englisch „hand“ für Seemann, Landarbeiter, Hilfe, Beifall, Spielkarten usw.) erschlossen wird. So entstehen exemplarische, auf Verallgemeinerung angelegte Geschichten. Die Metonymie (pars pro parte) verbindet zwei Elemente innerhalb einer umfassenden Kontinuität („ich habe mir einen Ford gekauft“, für: „[…] ein Auto aus der Produktion einer von Henry Ford gegründeten Firma“). Wir sind oben davon ausgegangen, dass dies zur Tiefenstruktur aller historischen Erkenntnis gehört, nämlich ein factum, ein Ereignis von seiner späteren Relevanz für ein anderes späteres Ereignis (oder mehrere) her zu (re-)konstruieren. Man erkennt hier als vielleicht wichtigste Möglichkeit des historischen Romans die Grundform wechselseitiger Spiegelung, besser, des Wechselbezugs mehrerer Zeitebenen zueinander. Die Metapher dagegen entsteht aus der Verallgemeinerung von Merkmalgemeinsamkeiten frei kombinierbarer und offen interpretierbarer Elemente, z. B. eben mindestens zweier Texte: totum pro toto (etwa „der Löwe“ für einen Mann, womit nicht nur „Mut“, sondern auch „Kraft“, „Unberechenbarkeit“, „kämpferische Schönheit“ usw. mit gemeint sind). Heterogene Handlungsstränge beispielsweise, vor allem etwa Liebesgeschichten und politisch-ökonomische Entwicklungen, aber auch modellhafte, direkt gesehen bezugslose Teile des Erzählten, z. B. die Form eines Gebäudes oder ein Bild (wie in Louis Aragons La semaine sainte, 1958, oder Alfred Anderschs Winterspelt, 1974) können so auf den historischen Fokus eines Romans bezogen werden. Die große Schwäche dieser Klassifizierung ist es, die Ironie als vierten fundamentalen Tropus neben die anderen zu stellen. (In der klassischen Rhetorik stünde hier die Katachrese, eine antifunktionale Metapher, z. B. „Tischbein“, wobei die Nichtverallgemeinerung gemeinsamer Merkmale bedeutungsrelevant ist; Barthes 1976 nennt die Katachrese „vielleicht eine noch grundlegendere Figur als die Metonymie, denn sie umgibt mit ihrem Wort ein leeres Verglichenes“, 38). Auf alle Fälle ist gerade für eine Poetik des Geschichtserzählens nicht nur des modernen und postmodernen, sondern durchaus auch des traditionellen historischen Romans davon auszugehen, dass alle diese tropischen Integrationen negierbar sind. Negative Relevanznahmen können genauso gut wie positive Zuordnungen synekdochisch, metonymisch oder metaphorisch funktionieren: pars contra totum, wie immer wieder Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 171 <?page no="180"?> 172 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort schon in der französischen Walter-Scott-Rezeption, pars contra partem, wie bei Thackeray, totum contra totum, wie bei Flaubert oder durchaus auch bei Stifter (vgl. oben Kap. 4.5 u. 4.6) und so fort, wofür gleich (vgl. unten 5.3.2.3 Negationen) Beispiele vorgestellt werden. Und insbesondere müssen diese Formen der Integration prozessual mit anderen zusammen und in ihrer einander ablösenden Vielfalt genauso wie in ihren argumentativen Folgezusammenhängen gesehen werden. In Walter Scotts Waverley (1814) beispielsweise (vgl. genauer oben Kap. 2.2) ist das (fiktive) Leben des Helden mit der anglo-schottischen Historie um 1745 synekdochisch (pars pro toto) verbunden − ein Erfolgsmodell für den historischen Roman bis heute; doch diese verallgemeinernde Funktion wird durch den hier ebenfalls deutlich eine Fabel konstituierenden Chronotopos der „Reise und Rückkehr“ sowohl durchsichtig gemacht als auch begrenzt; im blassen „Bildungsroman“, der Waverley ja auch ist, auch er ein synthetisches Erzählmodell, wird dieser begrenzte Totalitätsanspruch noch zusätzlich reflektiert; und der schließlich alles zusammenfassende „Wert“, unter dem ein solches „emplotment“ begriffen werden soll, ist sehr klar der einer „fortschreitenden Versöhnung“. In Balzacs Les Chouans (1829, vgl. oben Kap. 3.4) dagegen lässt sich der „Wert“ des „Experiments“, ja des „Spiels“ (man denke an die Intrige oder das Bildfeld des Theaters oder das des Glücksspiels) metaphorisch (totum pro toto) verallgemeinern; chronotopisch folgt der Roman dem Modell des „Sich Begegnens und Verfehlens“, man kann ihn auch als „Krisenroman“ bezeichnen: Ein Kapitel Vergangenheit ist abgeschlossen, Desillusionen bei allen gegnerischen Parteien, aber das große Geschichtsexperiment des bürgerlichen Frankreichs, offen was Gewinn und Verlust bedeutet, wird seinen Lauf nehmen. Nur hingewiesen sei auf die in Thackerays Henry Esmond (1852, vgl. oben Kap. 3.6) sich herausarbeitende Metonymie (pars pro parte), die „Werte“ wie Demokratie, Liberalismus, Toleranz über verschiedene Epochen hinweg nicht nur zu verallgemeinern sucht, man hat hier immer viel Skepsis gesehen, sondern ihre immer neue, je aktuelle Verbindlichkeit einfordert, ja diese (pars contra partem, wenn Esmond emigriert) für die Geschichte Englands geradezu bestreitet. In Wilhelm Raabes Das Odfeld (1888, vgl. oben Kap. 4.7) wirken − meines Wissens erstmals − alle Geschichtstropen zusammen, in Theodor Fontanes Schach von Wuthenow (1882, vgl. oben Kap. 3.7) lösen sie sich auf folgerichtige Weise ab. Die Kontinuität dieser Veränderung wird zur einzigen Sinnperspektive und vermag auch die sich abzeichnende Katachrese (totum contra totum), eine negative Geschichtssemantik, zur Forderung nach einer Alternative umzuformulieren. In Alfred Döblins Wallenstein (1918, vgl. unten Kap. 6.1), um in einem vorläufig letzten Beispiel den Zusammenhang von Tradition und Moderne zu zeigen, bewegen sich alle Formen des „emplotment“, alle Geschichtstropen, auf Negationen zu. Die Flucht des Kaisers aus der Geschichte negiert sehr eindringlich die „Reise in die Historie hinein“, wie sie die Walter Scott-Tradition <?page no="181"?> kennt; man findet aber diese immer noch synekdochische, jetzt freilich genau negative, pars contra totum-Argumentation etwa auch in den „kleinen“ Geschichten (z. B. von den Bürgermeistern niedersächsischer Kreise, die in Wien ihr Recht suchen); und die weitergehende (rhetorisch-argumentative) Frage muss lauten: Wie weit ist diese Figur noch zu verallgemeinern? Die textinternen Metonymieketten etwa in den Stationen von Wallensteins selbstzerstörerischem Machtspiel zielen auf Trennung und Gegensatz ab, als wolle Döblin auch noch den Diskurs der Macht „zerfallen“ lassen. Die sehr klaren (textextern metonymischen) Gegenwarts- und Zukunftsbezüge, zum Beispiel im Thema des „totalen Kriegs“ oder dem der „Militärdiktatur“, tragen ebenso klar dystopische, zukünftige Schreckensbilder entwerfende Züge. Eindringlich postulieren die (metaphorisch-hypothetischen) Mythisierungen, beispielsweise der „Drache Wallenstein“, die Überwindung dieser bildhaft vergrößerten, aber so auch fassbar gemachten Angst. Auf Kontrast, explizit katachrestisch angelegt sind die minimalen Romantismen, etwa der blühenden Natur, die den Roman durchziehen. Und absurd, erneut katachrestisch, aber keineswegs beliebig, ist schließlich hier in den zentralen Episoden der „Liebenden“ im Angesicht ihrer Hinrichtung oder des metapoetisch bedeutsamen „Narren“ oder schließlich des sich wahnsinnig opfernden Kaisers von Humanität die Rede. Der historische Fokus scheint als Funktion fiktionalen Erzählens Fabelbildungen geradezu zu erzwingen. Selbst die polyhistorisch offensten Romane wie Döblins Wallenstein oder Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow (1973, vgl. unten Kap. 8.1.2) schließen ihre einzelnen Erzählstränge zu erkennbaren „plots“: In Gravity’s Rainbow beispielsweise sind die oft labyrinthisch durcheinanderlaufenden Konflikte alle von der Parabel-Bahn und -Form der letztendlich doch gezündeten Hyper-Rakete betroffen, stehen also unter einer großen Metapher. In Michel Tourniers Le roi des aulnes (1970, vgl. unten Kap. 8.3.1) erlebt der bizarre, monströse Held jähe Schicksalswechsel, aber er verfolgt im Ganzen eine in Antithesen und Transformationen geradezu logisch (als Denk- Metapher) sich vollendende Lebensspur: in die Historie hinein und über sie hinaus. Geradezu spielerisch bedeutsam kreist in Graham Swifts Waterland (1983, vgl. unten Kap. 8.2.1) die in mehreren Zeitebenen verlaufende Handlung (Geschichte der Fenlands seit dem 18. Jahrhundert, Kriegsjahre, ökonomische Reform der Thatcher-Ära: „cutting down history“, 21) bis hinein in vielfache Abschweifungen (etwa über das Leben der Aale), all das kreist doch letztlich (poly-metonymisch) um die verräterische Bierflasche, den mit ihr begangenen Mord und dessen Vor- und Nachgeschichten. Und deutlich vergleichbar hält der legendäre Baseball in Don DeLillos Underworld (1997, vgl. unten Kap. 8.4) - der fiktive Held fängt ihn; gleichzeitig erfährt auf der Tribüne eine historische Gestalt von der sowjetischen Atomrüstung - letztlich die noch so weit verzweigte und vielstimmig erzählte Handlung zusammen. Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 173 <?page no="182"?> 174 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort In allen diesen Fällen sind die fiktiven „plots“ interpretativ, genauer gesagt: als Deutungshypothesen, provozierend, ja destruktiv, aber zugleich eben auch perspektivierend, bis hin zu punktuellen Utopien mit der größeren, vertrauten Historie verbunden. So hatte sich schon immer zumindest ein literarischer Strang des historischen Romans von den trivialeren Traditionen unterschieden: Edward Waverleys Taten sind ohne Einfluss auf den Verlauf der schottischen Revolution von 1745, so wie die des Rittmeisters Schach von Wuthenow auf den preußisch-französischen Krieg von 1806, die der Sutpen- Familie auf die Niederlage des amerikanischen Südens oder die der Gesine Cresspahl auf den Einmarsch des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei am 20. August 1968; obwohl die Jahrestage (1970-1983, vgl. unten Kap. 7.3) von Anfang an auf dieses Datum hin angelegt waren. Und von den spielerischen Geschichtsbzw. Anti-Geschichtszeichen der Postmoderne (Sexual- Rakete, Bierflasche, Baseball usw.) gilt das erst recht. Aber der fiktive Ivanhoe verhalf Richard Löwenherz dazu, heil wieder auf den Thron zu kommen (Walter Scott, Ivanhoe, 1819), noch massiver rettet der fiktive Georg Sturmfeder dem Herzog Ulrich von Württemberg wiederholt das Leben (Wilhelm Hauff, Lichtenstein, 1826), die fiktiven de la Môle und Coconnas helfen Henri de Navarre, dem späteren König Henri IV., zur Flucht aus dem Louvre und so fort (Alexandre Dumas, La reine Margot, 1845), bis hin zum fiktiven Augsburger Richard Artzt, der in Tanja Kinkels Die Puppenspieler (1993) sowohl Cosimo Medici als auch Cesare Borgia das Leben rettet. Erst recht entscheidend greift in Gisbert Haefs Hannibal (1989) der fiktive Hellene Antigonos, engster Freund Hamilkars und seiner Familie, immer wieder in den Verlauf der karthagisch-römischen Kriege ein. Aber die explizit „mediale“ Stilisierung (als Briefe, Autobiographie, Chroniken etc.) und die immer wieder wie ein Ausstattungsfilm hervorgehobene „Über-Illusion“ geben dieser Integration bereits wieder etwas Spielerisch- Reflektiertes. Darin nähern sich die trivialen oder doch unterhaltenden Traditionen des historischen Romans bis hin zu Bestsellern und „Edelschmökern“ dessen postmodernen Formen. Die Postmoderne überschreitet in diesem Spiel dann aber doch deutlich traditionelle Grenzen. So entsprechen in Gravity’s Rainbow die sexuellen Erfolge des Helden während des Londoner „Blitz“ präzise den Einschlägen der V-2-Raketen, der „Erlkönig“ Tiffauges kommt in Le roi des aulnes als Waldarbeiter und Jagdhelfer Hermann Görings den Spitzen des deutsches Heeres ganz nahe, Umberto Ecos Baudolino (im gleichnamigen Roman von 2000) wird sogar von Friedrich Barbarossa adoptiert und verursacht nach vielen weiteren historischen Taten unwissend dessen Tod. Wo ist die Grenze zwischen dem beruhigend Spielerischen gelungener oder sogar anspruchsvoller Unterhaltung - etwa in den beliebten historischen Detektiv-Romanen, wenn die Ermittler die Catilina-Verschwörung aufdecken (John M. Roberts, The Catiline Conspiracy, 1991), Anschläge <?page no="183"?> auf Vespasian (Lindsey Davis, The Silver Pigs, 1989) oder Marc Aurel (Gisbert Haefs, Roma, 2001) gerade noch vereiteln oder eine geheime Liste im letzten Augenblick sichern, deren Übergang in gegnerische Hände den englischen Bürgerkrieg zwischen König Stephen und „Empress Maud“ hätte wenden können (Ellis Peters, Saint Peter’s Fair, 1981) - wo ist hier die Grenze zu den provozierenden Fiktions- und Historie-Spielen der Postmoderne? Es ist klar, man muss andere Dimensionen der Erzählform historischer Romane einbeziehen. 5.3.1.3 Werte Denn immer müssen sich interpretierende Integrationen und Differenzierungen mit solchen Bausteinen, Planungsgrößen oder eben Dimensionen allen Erzählens wie „Idee“, „Mythos“, „Ideologie“, „Engagement“, „Paradigma“, „Auffassung“ (z. B. von Geschichte), „Konzept“, „topic“, „code“ etc. auseinandersetzen. Man kann diese begriffliche, aber durchaus auch gefühlsmäßig, ja unbewusst wirksame Erzähldimension als „Wertwelt“, „Wertentwicklung“, „Wertargumentation“ oder „Wertediskurs“ ansprechen (zum bewusst „vagen“ Begriffsumfang von „Wert“ als erzähltheoretischer Entsprechung des „Interpretans“ bei Peirce vgl. ausführlicher Verf. 2003 u. 2009). Es ist vielleicht falsch, wenn ich jetzt erzähle, wie mein Großvater die Mühle weggeschwemmt hat, aber vielleicht ist es auch nicht falsch. Auch wenn es auf die Familie zurückfällt. Ob etwas unanständig ist oder anständig, das kommt darauf an, wo man sich befindet − aber wo befinde ich mich? −, und mit dem Erzählen muß man einfach anfangen. Wenn man ganz genau weiß, was man erzählen will und wieviel davon, das ist, denke ich, nicht in Ordnung. Jedenfalls es führt zu nichts. Man muß anfangen, und man weiß natürlich, womit man anfängt, das weiß man schon, und mehr eigentlich nicht, nur der erste Satz, der ist noch zweifelhaft. Also den ersten Satz. Die Drewenz ist ein Nebenfluß in Polen. Der Anfang von Johannes Bobrowskis Levins Mühle (1964, 5) redet um den „plot“ nicht lange herum. Dazu gehört auch die Beliebigkeit oder doch Neutralität des ersten erzählten Sachverhalts. Alle Aufmerksamkeit gilt Fragen nach „richtig“ und „falsch“, „anständig“ oder nicht, „wo befinde ich mich“ gegenüber den Traditionen der Familie? Und das sind Wert-Traditionen: Nation, Religion, das Denken in Besitz und Privilegien, wie verhalten sie sich zu Fragen nach Fairness, Solidarität, Offenheit, Natur und so fort? Sicher geht es um deutsch-polnische, noch mehr um deutsch-jüdische Geschichte, aber noch mehr um eben wertende Stellungnahmen zu ihr. „Es führt zu nichts“ oder Schlimmerem, sagt dieser Erzähler, wenn man Werte und Verhaltensanweisungen einfach behauptete oder zu „wissen“ meinte. Die hier extrem differenzierende, dabei durchaus parteiische Erzählform, auch der sozusagen mündliche Stil haben erkundende, experimentelle Bedeutung. Alles Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 175 <?page no="184"?> 176 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort kommt auf eine Veränderung, zumindest auf die Lebendigkeit von Denken und Fühlen, anders gesagt, auf einen lernfähigen Umgang mit Werten an, die historisch wirksam waren und sind. Das Beispiel zeigt auch, dass ein Bündnis von Illusion, „emplotment“ und Wert nicht in jedem Fall konservativ ausgerichtet sein muss. Es kann, wie beispielsweise hier, auch spielerisch-aggressiv wirken. Das Volk ist bei Bobrowski nicht „tümlich“. Engagement braucht Kohärenz. Aber es gibt natürlich auch und eher mehr Beispiele, in denen poetische Integration und Wert-Ideologie zusammengehen. Die edlen, charismatisch ihre Nation, ja Rasse vertretenden Helden beispielsweise von Ivanhoe (Walter Scott, 1819) über Georg Sturmfeder (Wilhelm Hauff, Lichtenstein, 1826), die Gotenkönige in Felix Dahns Ein Kampf um Rom (1876), alle so edel und tüchtig, dass ihnen nur und immer wieder durch Verrat beizukommen ist, bis zu den schottischen Helden und dem „Hero King“ bei Nigel Tranter (Robert-the-Bruce- Trilogy, 1969-1971), den unermüdlich für ihre Nation kämpfenden Wallisern bei Sharon Penman (Here be Dragons, Falls the Shadow, The Reckoning, 1986- 1991) und bis zum gottgesandten Herrscher und „Lichtsohn“ bei Christian Jacq (Ramses, 1995-1997) sind Beispiele dafür. Nationalismen, Sehnsucht nach starken Führern, das Bedürfnis, zu den Siegern zu gehören, sind seit je für den historischen Roman wirksame Werte-Identifikationen, die den Diskurs der Geschichtserzählungen mit den Erwartungen des Publikums verbinden. Gerade die Bestseller von Ivanhoe bis Ramses wissen das zu nutzen. Vergleichbares gilt für die Fiktion und Historie integrierende Funktion von Liebeshandlungen, wobei die Skala der Möglichkeiten von schierer Identifikation (der Gotenkönig Totila in Felix Dahns Kampf um Rom, 1876, verliert Schlacht und Leben aus Liebe zur schönen Römerin Julia) über alle Formen der Distanz reichen kann, sei sie metaphorischer Struktur (die Liebesfähigkeit des guten Königs verallgemeinert seine Humanität, geht aber lediglich parallel zu seiner z. B. religiösen Toleranz und humanen Größe in Heinrich Manns Henri Quatre, 1935 und 1938, vgl. unten Kap. 6.4.1) oder metonymisch singularisierend ausgelegt (Dinklage und Kaethe bewegen nur wenige Schritte in der Kette bedeutsamer Grenzüberschreitungen in Alfred Anderschs Winterspelt, 1974, vgl. unten Kap. 7.2) bis hin zu schlechterdings katachrestischen, konträren Bedeutungen etwa in sonst so völlig verschiedenen Romanen wie Leo Perutz’ Nachts unter der steinernen Brücke (1953, vgl. unten Kap. 8.1.1) und Uwe Johnsons Jahrestage (1972-1983, vgl. unten Kap. 7.3): Nur im Traum, nur in der Erinnerung an einen Toten spricht die Liebe zur historischen Welt. Ihr totum steht gegen das totum von Gewalt, Dummheit und Vergessen, Verfolgung und Krieg in der Geschichte. Punktuell, doch jeweils ganz deutlich kann man bei den beiden wohl wichtigsten „Paradigmen der Moderne“, bei Döblin und Faulkner den Umschlag des Themas der Liebe in der Geschichte von minimaler Synekdoche in eine <?page no="185"?> konsequente Katachrese erkennen: Es ist nur eine kleine, historisch bedeutungslose, gerade für das zwanzigste Jahrhundert aber fast prophetisch signifikante Episode, wenn in Wallenstein in die Darstellung des Fürstentages von Regensburg (1630), ein Knäuel von Macht-Intrigen, die grausam genaue Szene eingefügt wird, wie zwei Juden, Mann und Frau, öffentlich verbrannt werden (439 ff.). Und genau zu diesem Anlass hat sich die Frau schön angezogen, „man wußte nicht warum; es war, weil sie so ihrem Mann am lieblichsten erschien […]. Alles bewegte sie an sich, wies es ihm, ließ es lebendig sein“ (440). Ganz anders peripher und sprengend wird das Thema „Liebe in der Geschichte“ in Absalom, Absalom! erzählt. Die Liebe zwischen Judith Sutpen und Charles Bon war nie über Vermutung („a shadow […] which might fade, vanish, at any instant“, 107), Wunsch („love’s androgynous advocate“, 12) und lediglich einen Moment realer Möglichkeit hinausgekommen: von den erzählenden und urteilenden Stimmen bis zur Unkenntlichkeit überlagert und von den mentalen und materialen Faktoren der Zeit (Halbbruder, die inzestuöse Projektion Henrys, Charles gilt als „schwarz“, die Gefahren des Krieges etc.) geradezu zerrieben. Es bleibt allein die Erinnerung „dass“ diese Liebe möglich war, eine bloße Spur: At least it would be something just because it would have happended […] and it would be at least a scratch, something that might make a mark on something that was once for the reason that it can die someday […], that scratch, that undying mark on the blank face of the oblivion. (106/ 107) Auch die Abstraktheit dieser Erzählsprache ist signifikant. Die Synekdoche der Liebe (pars) in der Geschichte (totum, eine „referentielle“ Synekdoche der Handlung, vgl. z. B. Dubois 1974, 162 ff.) reduziert sich bei Faulkner auf einen bloßen „scratch“, einen „mark“, einen multiplen Index (der Liebe und ihrer Konflikte, wenn man will, ihrer Tragik). Bei Döblin entspricht dem ein momentanes Bild, das von den fanatischen, berechnenden und brutalen Kontexten sofort getilgt wird. Aber das Thema Liebe appelliert bei beiden Autoren an die Aufmerksamkeit der Leser. Es spricht emotionale, religiöse, ethische, auf alle Fälle zentrale humane Werte an. Die Autoren zielen darauf ab. Und in diesem Wertediskurs, auf den hin das Erzählen zweifellos argumentiert, schlägt das Minimum an („referentieller“) Teilhabe um in eine („konzeptionelle“, Modus „sigma“ nach Dubois, vgl. ebd.) Totale der Konfrontation. Die Liebe, die aus der Geschichte vertrieben wurde, wird totum contra totum der für/ gegen die Geschichte signifikante „Wert“: Es war so, aber es soll nicht so sein. Solche komplexen und widersprüchlichen Figuren, bei denen vieles offen bleibt, weitreichende Metonymien, implizite Katachresen etc. vertragen freilich solche historischen Romane nicht, die für den Verkaufserfolg geschrieben sind. Sie verlangen Klarheit und Zustimmung. Aber sie funktionieren Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 177 <?page no="186"?> 178 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort grundsätzlich in denselben narrativen Dimensionen. Ein letztes hier anzuführendes Beispiel sehr deutlicher Werte-Integration, ein Zustimmungs- Dialog zwischen Autorinnen und Autoren, Handlungen und Publikum findet sich in neueren Bestsellern: Das Thema der „starken Frau“ dominiert längst nicht nur von Frauen geschriebene Bücher wie Donna W. Cross’ Pope Joan (1977) oder Sharon Penmans (Here be Dragons, 1986, When Christ and all His Saints Slept, 1994) oder eben Romane von Tanja Kinkel, von der romanhaften Biographie der Eleanor, Königin von Frankreich und England (Die Löwin von Aquitanien, 1989) über eine Grenzgängerin zwischen Mauren, Spaniern und Juden zur Zeit der Reconquista (Mondlaub, 1995), die zuletzt (vermutlich) die Neue Welt miterobern hilft, bis zur schönen, selbstbewussten und einflussreichen Nichte Richelieus, die indirekt dessen Ermordung verhindert, weil sie den Attentäter, einen Hugenotten, liebt (Die Schatten von La Rochelle, 1996). Nicht immer, aber doch meistens sind es dabei erst die jetzigen Leser, die im Gegensatz zu ihrer Umwelt die Größe dieser Frauen erkennen. Starke Frauen finden sich genauso beispielsweise in den Romanen von Ken Follett, etwa die erfolgreiche Unternehmerin Alethea in The Pillars of the Earth (1989) oder „the firebrand of a woman“, ein bettelarmes Mädchen, das Kunstreiterin wird und dann in die höchste viktorianische Gesellschaft aufsteigt, in a A Dangerous Fortune (1992) oder die Standes-, wie Nationen-, wie Kultur-Grenzen des 18. Jahrhunderts überschreitende, zuletzt glückliche Bovary-Schwester, die mit ihrem Liebhaber ihrem bedrückenden Eheleben in die Noch- Wildnis Nordamerikas entflieht, in A Place called Freedom (1995) oder die ganz unkonventionell und riskant lebende und liebende Unternehmerin, beinahe verurteilte Hexe, Nonne, schließlich Ärztin, die alle Widerstände, nicht zuletzt die männlichen Vorurteile überwindet, in World without End (2007). Die mental und sinnlich emanzipierten Künstlerinnen in der Antike bei Gisbert Haefs (eine Sängerin und Parfüm-Designerin in Hannibal, 1989, noch mehr die Schauspielerin, die in Roma, 2001, geradezu im Mittelpunkt der Handlung steht) ließen sich genauso anführen und viele andere mehr (vgl. auch unten Kap. 5.3.2.2 zu Ellis Peters). Freilich, alle diese Frauen sind nicht nur klug und stark, sondern auch sehr schön, oder doch apart und attraktiv; und nicht selten sind sie von Magie begleitet. Gerade hier zeigt sich, dass der Werte-Diskurs, etwa wenn er wunsch-, ja sehnsuchtsbestimmt ist, gegenüber der Geschichte eine ganz eigene Dimension bildet. Leserinnen und Leser können beide problemlos gläubig identifizieren und / oder spielerisch differenzieren. 5.3.2 Differenzierungen Zwischen Fiktion und Historie besteht ein Verhältnis paradoxer bzw. kontrafaktischer, replikativer Folgerichtigkeit in der inklusiven Opposition: Alle Historie setzt Fiktion voraus; und da das Umgekehrte nicht gilt, müssen <?page no="187"?> historische Bezüge immer ponendo ponens eigens eingebracht werden (vgl. oben Kap. 5.2). Dann sind zwischen beiden Diskursen nicht nur jede Menge Doppelfunktionen und „Grenzüberschreitungen“ (Iser 1991, 21, vgl. 18 ff.) möglich (eine vergangene historische Gestalt beispielsweise wird fiktiv-illusionär gegenwärtig), noch wichtiger ist, dass ihre Differenzierung sowohl historisch hinweisend gesetzt als auch in narrativer Poetik, in erzählten „Differenzierungssignalen“ (Nünning 1995, 1.201, vgl. ebd. ff.), Differenzierungsfunktionen und -strategien herausgearbeitet werden muss. Anders gesagt: Die Historie ist für den Roman, eben in der spiraligen Funktionsfolge Fiktion, Historie, Fiktion und so fort, ein Erweiterungsdiskurs, ein „Zusatzstabilisator“ der Konstruktion, oft auch ein sekundärer „Werbeträger“ des Verkaufserfolgs, bei dem der Autor es von Fall zu Fall, oft von Satz zu Satz in der Hand hat, und erst recht gilt das für die Leser, in welche Richtung dieser differenzierend-untrennbare Diskurs wirken soll. Das prägt die Gattung von ihren pluralen Anfängen an, und es war offensichtlich auch von Anfang an den Autoren bewusst: „[…] Imperciocchè, essendo cosa evidente, e a verun negata non essere i nomi se non puri purissimi accidenti …“ […] Questa riflessione dubitativa, nata nel travaglio del decifrare uno scarabocchio che veniva dopo accidenti, mi fece sospendere la copia, a pensar più seriamente a quello che convenisse di fare. / „[…] Daher denn, da es offenbar und von niemandem geleugnet wird, dass die namen nur reiner zufall sindt …“ […] Diese zweifelhafte Überlegung, die aus der Bemühung erwuchs, ein Gekritzel zu entziffern, das hinter dem Worte „zufall“ stand, ließ mich die Arbeit an der Abschrift vorübergehend einstellen, um ernsthafter darüber nachzudenken, was hier wohl zu tun sei. (Alessandro Manzoni, I promessi sposi, 1827, 24) Je ne puis m’empêcher de jeter ici ces reflexions […] sur la différence que je vois entre la VERITE de l’Art et le VRAI du Fait. / Ich kann nicht anders, als hier ein paar kurze Überlegungen vorzustellen über den Unterschied, wie ich ihn sehe, zwischen der WAHRHEIT der Kunst und dem WAHREN des Faktums. (Alfred de Vigny, Cinq Mars, 1826, Vorwort von 1829, 22) Ceci n’est pas un roman historique. Toute ressemblance avec des personnages ayant vécu, toute similitude de noms, de lieux, de détails, ne peut être l’éffet que d’une pure coïncidence, et l’auteur en décline la responsabilité au nom des droits imprescriptibles de l’imagination. / Dies ist kein historischer Roman. Jede Ähnlichkeit mit Personen, die gelebt haben, jede Verwandtschaft von Namen, Orten oder Einzelheiten kann nur rein zufällig zustandegekommen sein, und der Autor lehnt jede Verantwortung dafür ab im Namen jener Rechte der Phantasie, die nicht verjähren können. (Louis Aragon, La semaine sainte, 1958, 7) War er nicht von Anfang an zum Mathematiker bestimmt? […] Zeigt sich bei N nicht eine deutliche Neigung zum Offiziersberuf? Würden beide Ansätze nicht am besten vereint, wenn er zur Marine geht? […] Es war nicht seine Bestimmung, Artillerieoffizier zu werden, es war seine Bestimmung, Landwirt zu werden. […] Es war nicht seine Bestimmung, Landwirt zu werden, es war seine Bestimmung, Schriftstel- Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 179 <?page no="188"?> 180 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort ler zu werden. […] Da denkt N als junger, aufstrebender Geistlicher natürlich anders. (Dieter Kühn, N, 1970, 20-36) Besser als jede Theorie können solche Beispiele die Weite und Vielfalt fiktional-historischer Differenzierungsmöglichkeiten zeigen. Zwischen diesen Textpartikeln, genauso zwischen denen, die wir am Anfang von Kapitel 1 und Kapitel 5 zitiert haben, bestehen sicher erhebliche Unterschiede. Aber wird es nicht verblüffend deutlich, auch wenn es in der Verkürzung besonders hervortritt, wie relational differenzierend, das eine nicht ohne das andere betrachtend, bereits sowohl Manzoni als auch de Vigny argumentieren und wie noch Aragon betont konventionell jene „unverjährten Rechte“ (romantischer) Phantasie einfordert, die Dieter Kühn in seinem Napoleonroman mit spielerischer Konsequenz demonstriert? 5.3.2.1 Selbstreferenz Differenzierungen tendieren zum Spiel, zumindest ein Stück weit. Natürlich ist es ein Scherz, dass Manzonis „Anonymus“, der Verfasser des „aufgefundenen Dokuments“ - „Natürlich, eine alte Handschrift“ (Eco, Der Name der Rose, 5), also eine sofort durchsichtige Fiktion -, dass dieser ganz konstruierte Vor-Erzähler einen gelehrten Einwand gegen die Realität von Allgemeinbegriffen (im Sinne des „Nominalismus“) anmeldet, um ihn mit der Zufälligkeit von Einzel-„Namen“ zu verwechseln. Jede historische Bezeichnung, damit auch jedes historische Urteil, damit der historische Diskurs scheinen außer Kraft gesetzt, doch das ist eben nur Spiel, Element jener „ironischen Pose, die das kontrafaktische Moment“ zwischen Fiktion und Historie „aktualisiert“ (Küpper 2002, 65). Und gerade so aber erhalten die Stichworte „accidenti“ (Zufälle) und „scarabocchio“ („Gekritzel“, wörtlich: „verschreckt den Mund“) durchaus weitreichende Bedeutung. Einen Augenblick lang wird das Sinnlosigkeitsrisiko dieses paradoxen Unternehmens, vielleicht sogar das der Geschichte (vgl. oben Kap. 2.4) überhaupt sichtbar: eine plötzliche gefährliche Leerstelle. Und diese reflektierte Paradoxie - man denke an das spätere Schlüsselwort „guazzabuglio“ (Wirrsal) und noch mehr an den für die Handlung entscheidenden „innominato“, den „Namenlosen“ - treibt auch die Textqualität dessen hervor, was „eigentlich“ so gar nicht geschrieben werden kann. Selbstreferenz, die „Einstellung auf die Botschaft (message) als solche“ (Jakobson 1979, 92), „Autoreflexivität“ der Zeichen, insbesondere ihrer Genese (Eco 1987, 352), dass die Zeichen „gesetzmäßig“ auf sich selbst und ihre „Realitätsthematik […] verweisen“ (Bense 1977, 200), diese (letztlich ästhetische, vgl. Verf. 1994, 221 ff.; 2003, 156 ff.) Voraussetzung aller Fiktion, bedeutet, nun verstanden als spezifische poetische Möglichkeit des historischen Romans, dass die Stimme der Fiktion als solche hervortritt, hörbar bzw. lesbar <?page no="189"?> wird: sei es die Stimme des Textes - dazu gleich -, sei es die eines Erzählers oder auch die Regie des (implizierten) Autors, sei es eine private oder phantastische oder sonstwie eine „Geschichte gegen die Geschichte“. Die „Selbstanzeige“ der „Fiktionalität“ (Iser 1993, 36) verweist auf deren „Primat“ gegenüber der Historie (vgl. oben Kap. 5.2). Im berühmten „It is, then, sixty years since“ Walter Scotts lesen wir, wie oben gesehen (vgl. Kap. 2.2), vor aller chronologischen Einordnung, wie die bloßen immanenten Textbezüge sich aufbauen, wie ein Erzähler zu einer Entscheidung gekommen ist, sich nunmehr festlegt, und wie das „als ob“ der Fiktion beginnt. Die mehrfachen Romananfänge bei Arnim zeigten auf ihre Weise den Erzähler als „Arbeiter auf geistigem Felde“; Vergleichbares gilt für die abgesetzten, pathetischen oder quasi-religiösen „Reden“ bei Dickens oder Victor Hugo. Die fingierten Aufzeichnungen bei Blicher oder Thackeray wiesen auf eine bewusst begrenzte Perspektive und personale Distanz hin; all dies setzt sich vielfach bis in die Gegenwart fort. Der Erzählweg aus der Karte und der Geographie, die immer ja auch „heute“ noch gilt, in die Historie hinein - in der zweiten Einleitung Arnims, bei Manzoni oder de Vigny geradezu einem filmischen „zoom“ vergleichbar -, die zugespitzte, und das heißt meist auch verzögerte Synekdoche (ein kleines, beiläufiges Teil, oft nur wenige Nennungen, stehen für ein historisches Ganzes), eine Erzähltradition von Walter Scott über Thackeray, Fontane, Faulkner bis zum Roman der Gegenwart, die betonte Entflechtung, aber dann auch sprechende Zuordnung privater Schicksale und historischer Entwicklungen im 19. Jahrhundert, aber etwa auch bei Louis Aragon, Michel Tournier, Graham Swift (Waterland, 1993), das Spiel mit wunderbaren, phantastischen, auch mit Science fiction-Elementen, das Romantik und Postmoderne verbindet (von der „Bluttransfusion“ und dem „großen Treibhaus“ bei Arnim bis zu den historisch relevanten Raumschiffen bei Kluge oder Vonnegut), die raffinierte Ambiguität, mit der etwa Bert Brecht (Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar, 1939) und Marguerite Yourcenar (Mémoires d’Hadrien, 1958) zunächst irgendeine Gegenwart suggerieren, die dann allmählich in die Ferne der Antike übergeht - es gibt viele Möglichkeiten, fiktive Geschichten selbstreferentiell gegen Historie abzusetzen und zugleich auf Historie zu beziehen. Aber auch die Intensität der erzählerischen Mittel selbst, wie sie etwa am Anfang von Döblins Wallenstein (1920, vgl. 9) hervortritt, ein Erbe des Expressionismus, hat deutlich autoreferentielle („focussing on the message“) Funktion. Dass im Wallenstein eine durchgehende Erzählstimme hörbar wird, werden wir zeigen (vgl. unten Kap. 6.1). Mikrostrukturell selbstreferentiell nun wirken beispielsweise die intensiven Farbeindrücke, „rot“, „purpurn“, „schneeweiß“, die geradezu kubistische Auflösung von Gestalten („untersetzt, dickleibig, auf den kurzen Säulen der steif gewordenen Beine trug sich vom Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 181 <?page no="190"?> 182 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort obersten Platz unter dem Baldachin her Kaiser Ferdinand der Andere“), das Relief der Urteile („der schwere kopfhängerische Büffel zu seiner Linken“, „der schluckende und gurgelnde Botschafter“), der bewusste, subjektive Akt der Mythisierungen („als wäre die Reihe der Herren am Tisch ein Wurm“): Autoreflexion annonciert sich hier als ein Hervortreten der Textur des Erzählens selbst. Man kann anschaulich bis in die kleinsten Textpartikel hinein verfolgen, wie Döblin aus den erzählerischen Materialien heraus fiktive Welten aufbaut, historisches Wissen einbringt, zugleich dessen Sicherheit, genauer, die Urteilssicherheit im Umgang mit Historie, suspendiert und so eben kreative Erkenntnis von Geschichte - im weitesten, über bloße Wissenschaft entschieden hinausführenden Sinn - provoziert. Es scheint mir für die Relevanz dieser Poetik zu sprechen, dass eine solche Selbstreferenz der Textur, sprachliche Imagination, Kreativität und Autonomie in actu, sich auch bei dem anderen, dem alternativen Paradigma eines modernen historischen Romans, bei Faulkners Absalom, Absalom! (1936) beobachten lässt, und auch hier von Anfang an. Die Sinnlichkeit der visuellen Eindrücke, aber auch der Gerüche („the dim coffin-smelling gloom sweet and oversweet with the twice-bloomed wisteria […] and the rank smell of female old flesh“, 5/ 6), die Evokation eines räumlichen und zeitlichen Limbo („the long still hot weary dead September afternoon“, „a dim hot airless room with the blinds all closed“, 5), die Vergegenwärtigung der Stimmen mehrerer Erzähler, die abrupten Mythisierungen („man-horse-demon“, „wild niggers like beasts“, 6) und so fort bis hin zur Selbstreflexion von Erinnerung und Erzählung („she wants it told, […] so that people […] will read it“, 8): Dies ist bewusste Erzählkunst, die ihre Eigenwilligkeit offen signalisiert, und zugleich ein aufmerksames Experiment damit, wie, bis in feinste psychische Regungen des zentralen Subjekts hineinreichend, mit dem Trauma Geschichte umgegangen werden könnte. Es ist das Verifikations-Argument des historischen Diskurses, das im narrativen, dialogisch-differenzierenden Gegenzug (Fiktion - Historie - Fiktion und so fort) der Selbstreferenz fiktionalen Erzählens grundsätzliche Erkenntnisfunktion verleiht: ein immer neuer Stimulus, die ganze Sinn-Konstruktion oder -Dekonstruktion eines historischen Romans immer neu zu durchdenken. Ihre Sichtbarkeit lädt dazu ein, sie zu überprüfen. Das Gewicht, das die Historie mitbringt - und oft ist es ja eine traumatische Historie -, verleiht noch dem freiesten, selbstbewussten Spiel mit ihr ein Erkenntnismoment. Dagegen steht nun sehr klar jene komfortable Lektüre, die alle, auch die ausgesprochen gute Unterhaltung verlangt. Und sie würde durch solche selbstreferentiellen Differenzierungen unweigerlich gestört: <?page no="191"?> Laute, erregte Stimmen rissen Antigonos aus dem Schlaf. Er setzte sich auf. Überall liefen Massyler herum und starrten zum Fluss hinunter. Antigonos rieb sich die Augen, sprang auf und suchte Naravas. (Gisbert Haefs, Hannibal, 1989, 243) Dunkelheit hing noch in der Kammer, als Sybille Fugger spürte, wie sich ihr Mann erhob und sich fast geräuschlos ankleidete. Jakob begann seinen Tag gewöhnlich mit der Dämmerung. (Tanja Kinkel, Die Puppenspieler, 1993, 467) The idea of killing an archbishop was too terrifying, even though he had already been absolved of his sin. He was afraid that if he went to sleep he would have nightmares. […] The dim light of grey winter morning leaked into the room through the arrowslit windows. After a while William got up. (Ken Follet, The Pillars of the Earth, 1989, 1044/ 1045) Man könnte es wahrscheinlich testen: Sehr viele Erzbischöfe sind in der englischen Geschichte nicht ermordet worden. So wie den (inzwischen heilig gesprochenen) Thomas Beckett würde man wahrscheinlich auch „den“ Jakob Fugger, den „Reichen“ (1449-1525) erraten. Antike, Nordafrika - gleich darauf ist von Numidern, „broncebesetzten Lederpanzern“, Elefanten und Söldnern die Rede -: allein diese Stichworte würden eine grobe Zuordnung möglich machen, auch wenn vielleicht der Name „Naravas“ nicht von Flauberts Salammbô (1863) her geläufig wäre. So wie alle drei Texte leicht filmisch umzusetzen wären, so werden hier historische Deixis einerseits, Illusionsentwurf andererseits sofort durchlässig für ihr fiktives Geschehen. An dieses Geschehen nah und spannend heranzuführen ist ihre Funktion. Das gilt auch dann, wenn die Unterhaltungsliteratur postmoderne Anleihen macht und völlig spielerisch selbstreferentiell ihr eigenes fiktionales Entworfensein reflektiert: Oh! Now we are talking about the book River God, are we? […] I read most of Wilbur Smith’s stuff. He amuses me. […] I must admit that he had me fooled. Whilst I was reading it, I sort of wished that it might be based on fact. […] The information that has come down to us has been garbled by Taita, then by Duraid, and finally by Wilbur Smith (into a) labyrinth of deliberate misinformation. (Wilbur Smith, The Seventh Scroll, 1995, 63 u. 308) Ein spannendes farbiges Labyrinth von Liebe, gefährlichen Reisen, Intrigen, fürchterlichen Bosheiten und Krieg zur Zeit der Hyksos-Invasion im alten Ägypten (etwa 1760-1660 v. Chr.), das sich für die Leser erst im Nachwort des dritten Bandes der River God-Trilogie (Warlock, 2001) auflöst: „Taita lives only in my imagination.“ (695). In River God (1993) erzählt Taita selbst, ein überaus genialer Königs-Sklave, Arzt, Architekt, Konstrukteur, Maler, zuletzt schlechthin ein Magier, freilich auch ein armer Eunuch, sein Leben und das der ihm anvertrauten Königsfamilie. Das Nachwort von River God fingiert, Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 183 <?page no="192"?> 184 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort dass sein Bericht in einem Königsgrab gefunden und lediglich romanhaft ausgearbeitet wurde. In The Seventh Scroll, das um 1995 spielt, öffnet ein Team sympathischer gelehrter und zugleich extrem sportlicher englischer und ägyptischer Abenteurer das in River God beschriebene Pharaonen-Grab, verfolgt von reptilienartig gierigen, grausamen und perversen Gegenspielern (in ihrer Mitte, natürlich: ein Deutscher). Und die Korrekturen, die sich gegenüber River God ergeben, erhöhen noch, wenn man will, die Illusion des Faktischen. Der dritte Band bringt schließlich, zurück im alten Ägypten, die Nähe einer „multiple neutral omniscience“ (die Erzählerstimme ist überall dabei und kann in alle Personen eindringen), aber die erneut sehr spannende, vielleicht noch abenteuerlichere Handlung kippt völlig ins Magische und Mythische: Heil dem siegreichen neuen Pharao und wahren Sohn des Horus! Man sieht, dass es nicht auf Selbstreferenz als solche ankommt, sondern eben auf ihre differenzierende Funktion zur Historie. Und diese ist hier genauso wenig definitiv wirksam wie in den anderen Bestsellern. Die River God- Romane sind völlig Fiktion und Illusion und klar auf Unterhaltung angelegt: mit eindeutigen Gut- und Böse-Menschen, überraschenden Wendungen, der Nähe des Fremden, detaillierten Kämpfen, identifizierbaren Gefühlen, anschaulichen Sexszenen, Grausamkeiten, idealisierendem Edel-Kitsch und so fort. Zugleich aber sind diese Bücher reich an geographischen und historischen, ökonomischen und technischen, strategischen und kunstgeschichtlichen, mythologischen und kulinarischen Details, die auf eigene Weise interessant bleiben: eine nicht weniger perfekte, in alle Richtungen durchlässige Historien-Fiktion als The Pillars of the Earth oder Die Puppenspieler oder Hannibal. Die Postmoderne überschreitet ständig die Grenze zwischen „ernster“ und „unterhaltender“ Kultur, so wie umgekehrt die neueren Bestseller auch. Aber wo beispielsweise auch in den River God-Romanen im Spiel mit Fiktion und Historie eine geschlossene Welt, vor allem eine der Werte konstruiert wurde, werden hier Unterhaltung und Kunst, Illusion und deren Brechung, Selbstreferenz und historische Diskurse eher noch differenzierender und sprengender gegeneinander ausgespielt. Die traditionelle autobiographische Einbettung beispielsweise (Walter Scott: Redgauntlet, 1824, William M. Thackeray: Henry Esmond, 1852) wird grotesk überboten in den „sinistren“ Aufzeichnungen bei Tournier (Le roi des aulnes, 1970) oder den überbordend wirren, zugleich karikaturistisch historisierenden (der Held ist verantwortlich für Barbarossas Tod und fälscht eigenhändig die heiligsten Reliquien) wie schlechthin phantastischen - dabei freilich durchaus mittelalterlichen - persönlichen Erzählungen in Umberto Ecos Baudolino (2000). Die sich selbst vernichtenden Erzähler wie in Graham Swifts Waterland (1993) oder Barry Unsworths Losing Nelson (1999) - aber wie „postmodern“ war dann bereits <?page no="193"?> Wilhelm Raabe? - heben eben darin ihre unverzichtbare Erzählfunktion hervor (vgl. oben Kap. 4.7 u. unten 8.2). Immer wird einem hier das Spiel der Texte bewusst. Vergleichbares gilt für die provozierenden Tabubrüche (etwa die pornographischen Spiegelungen militärischer Macht in Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow, 1973), die auf ihr bewusstes Gesetztsein rückverweisen, oder die das hic et nunc des Schreibens hervortreibenden Anachronismen (etwa wenn in Christoph Ransmayrs Die letzte Welt, 1988, der seinen Freund Ovid suchende Romanheld einer Kino-Aufführung beiwohnt); oder es gilt etwa auch für die Tradition, Moderne und Postmoderne verbindende Metapoetik (vgl. unten Kap. 5.3.3.3). Denn jede Metasprache ist immer auch ein Index eben dieser ihrer bloßen Sprachlichkeit. 5.3.2.2 Pluralität Vielfältiges Erzählen ist zweifellos die wichtigste differenzierende poetische Möglichkeit des historischen Romans. Solche Pluralisierung kann in Tradition, Moderne und Postmoderne der Gattung alle Erzählmöglichkeiten erfassen: Wechsel der Perspektiven, Stimmenvielfalt, Mehrsträngigkeit der Handlungen, das Gegeneinander von Oberfläche und Tiefe, Pluralität der Räume, Zeitebenen, Zeitsprünge, Rhythmen erlebter Zeit und vor allem Vielfalt der Werte sowohl in den Handlungen der Personen als auch in deren Geschichtssicht. Da uns das hier ständig beschäftigt, fast bei jedem Beispiel neu, braucht es im Rahmen einer Poetik des historischen Romans nur genannt zu werden. Noch die knappste Skizze eines solchen Feldes von Erzählmöglichkeiten liefe auf eine Zusammenfassung dieses ganzen Buches hinaus. Freilich verwirklicht nicht nur kein einzelner Roman alle diese Möglichkeiten. Die fiktional-historischen Pluralisierungen wurden auch in der Gattungsgeschichte erst nach und nach erschlossen. Das 19. Jahrhundert hat sie vielfältig und manchmal sehr weitgehend vorbereitet: vom „Feld“ verschiedener Geschichtsdarstellungen in den Waverley Novels über die Mehrsträngigkeit bei Dickens, Victor Hugo, Fontane bis zu den „Diahistorien“ Raabes. Aber prägend, extensiv und intensiv genutzt wird eine solche plurale Poetik erst im modernen historischen oder eben „polyhistorischen“ Roman (vgl. unten Kap. 6). Dessen vielleicht deutlichste Beispiele, Alfred Döblins Wallenstein (1919), William Faulkners Absalom, Absalom! (1936) und Louis Aragons La semaine sainte / Die Karwoche (1958) verwirklichen, indem sie einander, freilich erst in der retrospektiven Analyse, komplementär ergänzen, nahezu das gesamte Feld plural poetischer Möglichkeiten. In Wallenstein dominiert die Pluralität der Geschichten, eine explodierende Vielfalt der Handlungsstränge, Räume, Motive, Stimmungen und Bilder. Dem gegenüber steht die Vielzahl der Stimmen in Absalom, Absalom! , die sich ablösen, die einander zitieren (Quentin erzählt, was sein Großvater seinem Vater erzählt hat, was Sutpen Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 185 <?page no="194"?> 186 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort diesem erzählt hat), aber die einander auch unterbrechen oder überlagern, mit zwischen ihnen ständig differierender Wahrheits-Modalität, ohne dass eine dieser Stimmen diese Wahrheit vollständig erreichte. Aragon dagegen intensiviert in seiner ebenfalls vielsträngigen, aber oft dicht ineinander verwobenen Handlung, deren Rahmen lediglich eine Woche umfasst, den Konflikt der Werte, vor allem den der Zeit-Aporien, -Strukturierungen und -Deutungen: progressive, krisenhafte, fatale, existentielle oder auch ganz monotone Zeiten. Und da Werte prä- und transfiktional gelten, bestritten, verändert, negiert oder verallgemeinert werden können, ist es nur konsequent, dass hier auch die eigene Stimme des historischen Autors selbst eingebracht wird. Insofern ist das folgende, mit solchen Paradigmen der Moderne befasste Kapitel (Kap. 6) nichts anderes als schlechthin eine Anwendung der Poetik des historischen Romans. Und die Postmoderne hat diese Pluralität des Erzählens vielleicht anders gefüllt und negativer interpretiert - doch durchaus nicht nur -, aber keinesfalls übertroffen. Auf seine Weise plural erzählt wird freilich oft auch der unterhaltende historische Roman, insbesondere der Gegenwart. Insofern ist er alles andere als lediglich trivial. Gleichwohl erlaubt diese Poetik gerade der Pluralität, insbesondere der Pluralität der Werte, recht klare Unterscheidungen. Denn es lässt sich leicht zeigen, dass eine Pluralität des Erzählens, jetzt vor allem freilich eine spannende Pluralität der Erzählstränge, hier nicht darauf zielt, die Historie und ihre Deutungen für Fragen aller Art zu öffnen und Innovationen in den Werteparadigmen zu ermöglichen, sondern umgekehrt: Pluralität hat die Funktion mehrfach sich ergänzender und bestätigender Argumentation. Bei Ken Follet (The Pillars of the Earth, 1989) beispielsweise, um nur eines von vielen möglichen Beispielen zu nennen, bestätigt der eine Erzählstrang (Williams Geschichte, also die des Anti-Helden, des bösen Feiglings), genau in der Negation des Gegensatzes, was andere Handlungsfolgen (etwa die der guten Protagonisten Philipp und Alethea) positiv nicht nur behaupten, sondern geradezu fiktional beweisen und durch historische Verflechtungen (z. B. Philipp und Thomas Beckett) zusätzlich beglaubigen: Edelsinn, Mut und kluge Geschäfte verbünden sich letztendlich mit dem historischen Fortschritt. In der eben erwähnten River God-Trilogie (1993-2001) werden Handlungen konfrontiert, die etwa 3800 Jahre auseinander liegen. Und doch arbeiten und denken die Protagonisten letztlich auf die Sekunde und den Meter genau zusammen; Taita scheint geradezu gewollt zu haben, dass Harper ihn findet. Was geht hier vor? Ein bloßes Spiel, das sich schließt? Lesen wir eine Tiefenbotschaft englischer Verantwortung für das Heil Afrikas? Oder ist all dies nicht mehr als ein gut konstruierter „plot“, der sich sehr gut verkaufen lässt? Bestseller sind Bücher, die sich bestens verkaufen. Sie werben erfolgreich für sich selbst. Und in diesem Sinne, als eine Rhetorik der Eigenwerbung <?page no="195"?> (die Übertragung erzählender und erzählter Positiva auf das Produkt, das Buch, vgl. z. B. Eco 1972, 267 ff., Nöth 1977, 47 ff., Nöth 2000, 185 ff.) lässt sich ihre Poetik analysieren. Wie Werbung zu Serien und Kampagnen tendiert, so tendieren Bestseller zu Reihen und Fortsetzungen. Das ermöglicht oft ein hohes Maß an Pluralität der Themen und Erzählformen, auch an Historie, auch an fiktional-historischen Differenzierungen. Aber diese ist immer dem Erfolgs-Paradigma, der Topik erzählender (dispositio) und erzählter (inventio, zu den Begriffen vgl. z. B. Ueding / Steinbrink 1986, 191 ff.) Positiva untergeordnet. Und die Historie wird so zum Werbeträger: primär, wie etwa in Sharon Penmans When Christ and All His Saints Slept (1994), wo historische Gestalten kämpfen, lieben, leiden und so fort, oder sekundär, synekdochisch, pars pro toto (vgl. oben Kap. 5.3.1.2), wie etwa in Ken Folletts ungefähr im selben Zeitraum angesiedelten The Pillars of the Earth (1989). Der fiktive, besser, der fiktional motivierte Wertediskurs (dessen Subjekt die Leser sind, vgl. oben Kap. 5.1 u. 5.3.1.3) verweist auf historische Persönlichkeiten, Ereignisse oder Zustände, die ihrerseits Positiva verkörpern oder ansprechen, hier z. B. die nationaler und regionaler Identität, die der Fiktion Interesse, Gewicht und Sympathie einbringen - und es gewinnt das Buch. Bei Ken Follett geschieht das sehr massiv. In Ellis Peters’ (Edith Pargeters) The Cadfael-Chronicles (1977-1994, sowie A Rare Benedictine, 1988), auch sie mit demselben frühen 12. Jahrhundert befasst, werden solche narrativen Überredungsstrategien auf elegante Weise und mit leichter, sicherer Hand geführt. Diese Serie mittelalterlicher Kriminalfälle ist immer genau historisch verortet: „In this early summer of 1138 the fratricidal strife was already two years old“ (One Corpse too Many, 1979, 7). Und der Erbfolgekrieg zwischen König Stephen und Mathilda („the Empress“, Witwe Kaiser Heinrichs V.) bildet nicht nur den Hintergrund - „the year of Our Lord 1141 […] the battlefields of the north“ (die Belagerung von Lincoln), „Stephen [in] captivity“ (Dead Man’s Ransom, 1984, 7 u. 18), „the eighteenth day of October of the year 1142“ (Belagerung von Oxford und Flucht Mathildas, The Hermit of Eyton Forest, 1987, 5) und so fort, bis zum Jahr 1145, wenn Cadfael die Empress vor sich selbst rettet (Brother Cadfael’s Penance, 1994) - der Dauerkonflikt und seine vielen Parteien, wallisische Prinzen oder der mächtige Earl of Chester beispielsweise, spielen auch immer in die Handlungen in und um Shrewsbury und seine Benediktinerabtei hinein: Lösegeld-Probleme, Spione, Unterschlagungen und deren Verfolgung, skrupelloser Ehrgeiz der Parteigänger, persönliche Gewaltakte wie Raub und Mord unter dem Schutz der öffentlichen und großen; sehr oft sind die Kriminalfälle, die der Detektiv in der Kutte löst, direkt oder indirekt historisch motiviert. Natürlich stehen fiktive Träger von Sympathie und Antipathie im Mittelpunkt: arrogante Adelige, fanatische Priester, sture Väter, fiese Streber und so fort auf der einen Seite, auf der anderen jugendlich wilde, oft sehr schöne Männer, viele starke Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 187 <?page no="196"?> 188 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort Frauen, von entschlossen ihre Partner wählenden Mädchen (eine leibeigene Trubadoura brennt mit einem Novizen durch, The Holy Thief, 1992; eine wallisische Schöne folgt dem Wikinger, der sie gekidnappt hat, The Summer of the Danes, 1990) bis beispielsweise zu einer alten, „steely“ (206) willensstarken Dame, die ein Gift-Duell mit einer Nebenbuhlerin überstanden hat (The Potter’s Field, 1989). Es gibt Wohltäter aller Art, besonnene Bürger, stolze Walliser, tapfere Ritter, treue Lehensleute, einen klugen Bischof mit bemerkenswert pragmatisch aufgeklärter Theologie (The Heretics Apprentice, 1989, 233 ff.), einen kultivierten Earl, der viel besser zum Regieren geeignet wäre als „the loud, headlong King or this lady“ (The Holy Thief, 1990, 176) und so fort. Und schließlich und vor allem ist da Bruder Cadfael selbst. Er durchschaut Vorurteile, hilft als Kräuter-Arzt den Kranken, als Detektiv den Unschuldigen, die fast immer ihrerseits Sympathieträger sind, oft Waisen, Diener, Außenseiter (z. B. ein reisender Gaukler und Musikant, The Sanctuary Sparrow, 1983, ein nach wallisischem Recht „ehrbarer“ Bastard, Monk’s Hood, 1980); als äußerst liberaler Mönch mit bewegter Vergangenheit hilft er immer wieder den Liebenden. Und so ist er ein Vermittler schlechthin: zwischen England und Wales, wo er zuhause ist, zwischen arm und reich, freilich immer auf der Seite der kleinen Leute, zwischen den Parteien in vielen begrenzten Konflikten, die doch Teil der großen Auseinandersetzungen sind, und letztlich auch, wenn er etwa auf eigene Verantwortung begnadigt, Leibeigenen zur Flucht verhilft und so fort, zwischen mittelalterlicher Tradition und Norm und einer besseren Zukunft. Denn der Kriminal- und Detektivroman, der mental ja der reformierten Prozessordnung des 18. Jahrhunderts folgt (Pitaval und so fort) ist eine aufklärerische Gattung. Man sieht, wie lebendig die Walter Scott-Tradition des synekdochischen Geschichten- und Geschichte-Erzählens ist - auch bei Scott (z. B. in Guy Mannering, 1816, Rob Roy, 1817, The Heart of Midlothian, 1818, Kenilworth, 1822, vgl. oben Kap. 3.1), so auch etwa bei Alexis oder Dickens ging es oft um Kriminalfälle -, und wie eine durchaus plural und differenziert gehandhabte Poetik den historischen Roman zum Bestseller führen kann. Die fiktiven Werbe-Träger, nicht nur die Personen, natürlich auch die spannenden Detektiv-Diskurse, die sachlichen Informationen und Illusionen (man riecht bei Ellis Peters z. B. geradezu Cadfaels Kräuter, Salben und Elexire, man lernt etwas über wallisisches Recht, mittelalterliche Landwirtschaft oder die Herstellung von Pergament usw.), all das tauscht sich aus mit der bewegten regionalen und nationalen Geschichte, dem sekundären Werbeträger, und die Auflagen und Auszeichnungen machen den Erfolg der Serie durchaus messbar. So ist es gewiss das Ansehen, das Cadfael bei den Lesern genießt, das seinem historischen Urteil Gewicht verleiht; und umgekehrt hat er ja historisch Recht behalten, etwa wenn er über den jungen Sohn Mathildas und des Grafen von Anjou (später König Henry II.) nachdenkt, und die Leser hören <?page no="197"?> mit: „No doubt, thought Cadfael, we shall hear more of this Henry Plantagenet“ (The Heretics Apprentice, 11), oder wenn er erklärt, dass die Gegner lediglich „waste men and harvest and the wellbeing of the land“ (The Holy Thief, 176), „there is no salvation in either empress or king“ (Brother Cadfaels Penance, 261). Wer könnte da widersprechen? 5.3.2.3 Negationen bir varmisch, bir yokmusch, bir varmisch… Es war einmal einer, es war einmal keiner, es war einmal. (Edgar Hilsenrath, Das Märchen vom letzten Gedanken, 1989) Schon immer hatte der historische Roman die Möglichkeit, „Geschichten gegen die Geschichte“ zu erzählen (so ein seinerzeit programmatischer Aufsatz Walter Killys zu Raabe, Killy 1963, 146 u. ff.). Das ist durchaus kein spätes oder modernes Privileg. Schon die Option „alles könnte auch anders sein“, aufgestellt und durchgehalten in Perspektivismus und Handlungsführung bei Walter Scott („fiction against history“, Kerr 1989, 16, vgl. oben Kap. 2.2 und 3.1), wird dadurch nicht außer Kraft gesetzt, dass in der Regel das Romanende in die bekannte und akzeptierte Historie mündet. Bereits für Arnim ist beispielsweise die Negation heilsgeschichtlicher Mythen - selbst deren zentrales Symbol, die Krone, soll „verschwinden“ oder zerschlagen werden (Die Kronenwächter, 1817, vgl. den Nachtrag in Arnim 1989.2, 601 u. 604) -, diese Negation ist mehr als ein bloßes Zwischenergebnis, sie bleibt als gültiges, fruchtbares Unruhepotential hermeneutisch wirksam. Alfred de Vigny entwirft wohl als erster eine totale, nur ästhetizistisch auszuhaltende Negation jeden Geschichtssinnes (Cinq Mars, 1826, vgl. oben Kap. 2.6). Eine wichtige Tradition des historischen Romans im 19. Jahrhundert (vgl. oben Kap. 4) erzählt „Alternativen“ zur bekannten Geschichte, in deren Konsequenz es liegen kann, dass etwa Flaubert (Salammbô, 1863) stilistisch zur Indifferenz gegen jede Wertung strebt oder bei Raabe (Das Odfeld, 1888) sozusagen das „Prinzip Zerstörung“ in der Geschichte symbolisch das letzte Wort erhält. Negationen gehören strukturell zur Poetik des historischen Romans. Jede Differenzierung enthält Negationen. Sobald die Unterscheidung (nicht Trennung, also auch kein „Hiatus“, Verf. 1976, 34) von „fiktiv“ und „historisch“ überhaupt gelesen wird, entstehen auch Leser-Sätze der Art: „Dies ist nicht historisch“ bzw. „dies ist historisch unwahrscheinlich oder nicht belegt, oder anders zu sehen“ usw. oder eben auch: „Dies stellt den bisher gültigen oder zumindest nächstliegenden oder sogar allen Sinn dieser oder vielleicht überhaupt jeder Geschichte in Frage“. Der fortschreitenden Radikalität der Negationen sind im historischen Roman keine Grenzen gesetzt. Und natürlich sind auch solche negativen Aussagen immer kündbar, revidierbar oder verbesserbar. Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 189 <?page no="198"?> 190 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort Dabei gilt freilich in jedem Fall die Paradoxie der spiralig progressiven, inklusiven Opposition im Verhältnis von Fiktion und Historie und Fiktion und so fort: Negierbar sind hier nur die historischen Aussagen. Imagination und Fiktion haben immer Recht, aber dies nur fiktional. Anders gesagt: Sofern der „historische Fokus“ für eine Literatur wie den historischen Roman eine poetisch notwendige, hermeneutisch aber hinreichende Voraussetzung ist - alles kann „zur Geschichte“ sprechen - kann diese hermeneutische Relevanz der Fiktion immer auch eine negative sein. Aber zugleich handelt es sich lediglich um fiktive Negationen. Sie sagen „Nein“ zur Geschichte, doch streng bzw. lediglich „faktisch“ genommen sagen sie auch „Nichts“. Nur rhetorisch, indirekt, durch Appelle an weitere Fragen der Leser - in deren „Lektüre schlägt die Divergenz von historischer Erzählung und Fiktionserzählung um in Konvergenz“ (Ricœur 1991, 3.295) - werden sie historisch relevant. Der moderne historische und postmoderne Roman (vgl. unten Kap. 6 bis 8) nutzt diese strukturellen Möglichkeiten der Negation freilich konsequenter als der des 19. Jahrhunderts; dies gilt sowohl im intensiven wie im extensiven Sinn: Für das Erste wäre beispielhaft zu nennen die „Dekonstruktion“ (der Begriff ist hier völlig angebracht, vgl. unten Kap. 6.2) des Werte-Systems „weiß / schwarz“, „männlich / weiblich“ usw. in Faulkners Absalom, Absalom! (1936) und der narrativ antizipierte Selbstmord des Erzählers. Für das zweite Paradigma kann das narrative Aufsprengen der Geschichtskontinuität, der ganz plakativ antihistorische Schlussteil und vieles mehr in Döblins Wallenstein (1918) angeführt werden (vgl. unten Kap. 6.1). Die Dekonstruktion des Schulbuch-Cäsar bei Bert Brecht wäre ebenfalls als produktive, fiktional-historische Negation, eine Negation von Fiktionen der Historie, zu lesen (Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar, 1939), oder die „Begegnungen mit dem Nichts“, die für Marguerite Yourcenar erst den Zugang zur Geschichte ermöglichen: das sozusagen „transhistorisch“ gegenwärtige „Gesicht meines Todes“ („je commence à apercevoir le profil de ma mort“) als Gegenwart dessen, „was wir nicht sind“ („qui n’est pas nous“) am Anfang der fingierten Aufzeichnungen Mémoires d’Hadrien (1958, 13 u. 22), oder das programmatische Modell der Vernichtung aller Substanz im Zuge ihrer alchimistischen Verwandlung im Titel von L’Œuvre au Noir (1968). Erst recht wird dann jene eigentümliche „Selbstzerstörung der Zeichen“, die wir von Anfang an im historischen Roman finden, die aber für die sogenannte „Postmoderne“ charakteristisch ist, diese Kontinuität der Negationen zeigen: Beginnt sie aber nicht bereits mit der „verschwindenden“ Krone bei Arnim oder der „Geheimtinte“ , also der verschwundenen Ereignis-Aufzeichnung bei Thackeray (vgl. oben Kap. 3.6), und der Sache nach bei Scott (Redgauntlet, 1824, vgl. oben Kap. 3.1: Alles ist wie historisch nicht gewesen)? War nicht das Schnee-Motiv bei de Vigny und auf bedeutsame Weise auch bei Stifter (Witiko, 1865-1867), wenn auch nur jeweils einen Augenblick lang, gegen alle <?page no="199"?> Texte von Geschichte gerichtet (vgl. oben Kap 2.5 u. 4.5)? In Christoph Ransmayrs Romanen (Die Schrecken des Eises und der Finsternis, 1984, Die letzte Welt, 1988, Morbus Kitahara, 1995) werden genau diese Motive neu und intensiv durchgespielt: Das Verschwinden des „Geschichts-Suchers“ in Nacht und Eis, die sich auflösenden Texte in der „letzten Welt“, die Verwandlung der Kultur ins Anorganische (vgl. unten Kap. 8.3.3), die historisch verursachte „Erblindung“ und so fort. Bei Victor Hugo (Quatrevingt-Treize, 1874) zerstören sich die Unterdrückungsinstrumente: der mittelalterliche Turm und die neuzeitliche Guillotine auf symbolische Weise wechselseitig. Auch dazu gibt es ein „postmodernes“ Pendant: In Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow (1973) verwandelt sich die Handlung, die Suche nach der Hyper-Rakete, die immer mehr zu einem „Hyper-Zeichen“ wird, am Romanende in einen Film (Die Enden der Parabel, so der Titel der deutschen Übersetzung, im Grunde eine treffende metapoetische Interpretation des Originals, scheint darauf anzuspielen); und in diesem Film wird der Start eben jener Rakete gezeigt, die eben gerade auf das Kino, den medialen Ort dieses „Handlungs-Films“ gerichtet ist. So wie die Zuschauer im Kino sollen die Leser des Romans die faszinierende Vernichtungsmaschine einerseits als medial suspendiert, andererseits als genau auf sie selbst gerichtet erfahren. Bei Wilhelm Raabe (Das Odfeld, 1888) wird am Romanende das Museum zerstört, bei Umberto Eco (Il nome della rosa, 1980) brennt die Bibliothek nieder, in W. G. Sebalds Austerlitz (2002) verschwinden die Archive in verlassenen Häusern und vergessenen Kellern, in Uwe Timms ROT (2002) werden sie vom Wohnungsauflöser als Müll entsorgt. Der „letzte Chouan“, der bei Balzac vom verzweifelten Liebesglück in der Geschichte zu erzählen wüsste (Les Chouans, 1829) schweigt, so wie der „Paradise-Nigger“, der letzte Überlebende des utopischen, rassen- und klassenlosen Sozialexperiments bei Barry Unsworth (Sacred Hunger, 1992) von niemand mehr verstanden wird. Und derlei ließe sich fortsetzen. Aber, so Pynchon zum Beispiel, das historische Zerstörungspotential ist noch größer und gefährlicher als das fiktive. Es lässt sich nicht weg-spielen, weg-erzählen, lediglich spielerisch fiktional negieren: MB DRO RO- SHI (vgl. den Anfang dieses Kapitels), bleibt Geschichte, es bleibt vor allem Geschichtstrauma. Die Dekonstruktion der um 1939 zeithistorisch höchst aktiven Diktatoren steht, so der klare Appell von Brechts Caesar-Roman, noch aus (vgl. unten Kap. 6.4.2). Dasselbe gilt für Barry Unsworths historisch noch nicht eingelöste Utopie (vgl. auch unten Kap. 5.4). Auch Ransmayrs „letzte Welt“, das zeigen etwa ihre gezielten Anachronismen, wird zum Spiegel unserer Welt. Martin Amis’ Time’s Arrow (1991) - rückwärts erzählt entpuppt sich ein allseits beliebter „You’re-okay-I’m okay […] Tod Friendly“ (14) als Vernichtungs-Arzt in Auschwitz - kehrt sich gegen seinen eigenen Text: Ist denn nicht die Aussage „creation is easy“ (128) angesichts der Verbrennungsöfen von Auschwitz eine unmögliche Negation, die sich als Zero- Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 191 <?page no="200"?> 192 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort Semantik, als zynische Indifferenz selbst zurücknimmt? Dieter Kühns Napoleon-Roman, der Roman trägt den Titel: N (1970), erzählt immer wieder neu das Nicht-Historische, allenfalls Mögliche und nicht Eingetretene (nach der Expedition nach Ägypten etwa wechselt Napoleon vollständig ins Geschäftsleben, statt seiner wird General Barras Erster Konsul), und alles endet in eindrücklichen, geradezu herausgeschrieenen Kaskaden negierter Geschichte: Kein Schlachtengemälde von Jena, Bewegung nach links, Murats Dragoner greifen die Sachsen an […]. Kein Notlazarett vor Preußisch-Eylau […]. Kein Hohlweg von Ebelsberg, mit Leichen fast aufgefüllt: zusammengeschossen, niedergestochen, von Kartätschen zerfetzt, von eigenen Kanonen überrollt beim Entlastungsangriff […]. Kein Übergang über die Beresina, schreiende Flucht vor anrückenden Russen, Körper in Morast gestampft, Körper zwischen Eisschollen versackend, Körper niedergetrampelt, Kolben in Gesichter gestoßen, Körper, die sich an Körper festkrallen, Körper, die sich von Körpern losschneiden, Körper, die Körper ins Wasser reißen, 17.000 Tote und Verwundete […]. (123-128) Aber diese Aussagen kehren sich beim Lesen um (ein Beispiel für die triadischen „Grenzüberschreibungen“ nach Iser 1993, 19 ff.). Man spürt, wie von der einen Seite die Imagination, von der anderen eben der historische Diskurs - „Schlacht von Jena“ (14.10.1806), „Übergang über die Beresina“ (26.- 28.11.1812) - die grammatischen Negationen außer Kraft setzen. Die Perspektive rückt immer näher an die Details und verhindert eine distanzierende Vision; wenn so oft von „Körpern“ die Rede ist, kann, ja muss der Leser den eigenen Körper empfinden, er friert mit und spürt geradezu physisch den Schmerz. Aber was sich statt der Fiktion, statt des offenkundig zusammengebrochenen Spiels der Alternativen emanzipiert, ist die subjektive Friedenssehnsucht des Autors und eventuell die des Lesers auch. Ist sie, die nur noch als Leerstelle dem Romanende eingeschrieben ist, zeitlos? Sie kann nur als gegenwärtig und zukünftig interpretiert werden. Denn die Geschichte hat sich hier über alle Negation hinweg die Fiktion untergeordnet, deren Gestaltungsanspruch ist nun seinerseits „durchgestrichen“, Geschichte steht zwar als Provokation ihrer Aufhebung, aber jetzt eben doch als sinnlose, überlieferte Faktizität „nur da“. 5.3.3 Reflexionen Nichts einmal Gelesenes, die freieste Fiktion wie die bestgesicherte Historie, bleibt wiedergelesen dasselbe. Wenn Texte sich bereits in der Kontinuität ihrer Diskurse in sich spiegeln, dann erst recht in ihren produktiven Differenzierungen. Der historische Roman reflektiert von Anfang an das „dass“, „wie“ und „wozu“ seines Erzählens. Das beginnt, wenn man will, mit Walter Scotts Postkutschen-Metapher (im Vorwort von Waverley, 1814), die zugunsten anerkannter Gediegenheit auf dem „highway“ bleibt und dem freien Flug <?page no="201"?> des poetischen Pegasus entsagt; oder man denke an Achim von Arnims Bild des „Pflügers auf geistigem Felde“ (im Vorwort zu Die Kronenwächter, 1817), der auf Überreste vergangener Zeiten stößt. Und diese Reflexionen begleiten die Gattung so gut wie immer. Spätestens bei Raabe erhält solche Reflexion des widersprüchlichen Geschichte- und Geschichtenerzählens etwas skeptisch Spielerisches, das die Postmoderne vorwegzunehmen scheint: Man vergleiche: Will man die Geschichten, die ich hier […] erzähle […] anhören, so ist es mir recht. Wenn nicht, muß ich mir das auch gefallen lassen und rede von den alten Sachen, wie schon recht häufig, zu mir selber allein […]. Ach ja, wenn man so das Ohr an ein Bündel vergilbter Papiere, an ein würdig Pergamen, an einen Folianten in Schweinsleder […] legt! Oft hört dann kein Kind, das eine Muschel an sein Ohr hält, von ferne her ein geheimnisvolleres, tiefgründigeres Tönen, Sausen und Brausen. Man kann dann und wann sogar, über seiner Materie, seinem gelehrten Rüstzeug auf beiden Armen liegend, gründlich gelangweilt einschlafen und beim Wiedererwachen zu seiner Verwunderung bemerken, daß man doch etwas gelernt habe zum Weitergeben an andere. Auch in dieser Hinsicht beschert es der Herrgott den Seinen […] auch dem Geschichts- und Geschichtenschreiber […] nicht selten im Traume. (Wilhelm Raabe, Das Odfeld, 1888, 5) So I shouldered my Subject. So I began to look into history - not only the wellthumbed history of the wide world […]. So I began to demand of history an Explanation. Only to uncover in this dedicated search more mysteries, more fantasticalities, more wonders and grounds for astonishment than I started with […] But man - let me offer you a definition - is the story-telling animal. […] History: a lucky dip of meanings. Events exclude meaning, but we look for meanings. Another definition of Man: the animal who craves meaning - but knows - […] Price bites his pen. He’s not laughing with the others […] „sir […] you - you can stuff your past! “ (Graham Swift, Waterland, 1983, 62 u. 140/ 141) Der „Geschichts- und Geschichtenschreiber“ bei Raabe steht dem Helden des Odfeld-Romans, dem ausgemusterten und in den siebenjährigen Krieg hineingeworfenen Schulmeister, sehr nahe, dieser wieder dem zweihundert Jahre später, in der Thatcher-Ära, von der Entlassung bedrohten Geschichtslehrer bei Swift: Er war, von Zeit und Erinnerung traumatisiert und geradezu zum Erzählen von Geschichte und Geschichten gezwungen, vom Lehrplan abgewichen, und das Fach soll ohnehin reduziert werden. Und beide haben ihr Vorbild sicher in so „alten“ Figuren wie dem Helden des Romans The Antiquary (1816) bei Walter Scott oder dessen anderen Selbstinszenierungen als „Old Mortality“ oder „Dr. Dryasdust“. Die betonte Außenseiterrrolle, die hier immer wieder der Autor historischer Romane einnimmt, ja dessen Nicht-Funktionieren - „Grabsteinpfle- Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 193 <?page no="202"?> 194 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort ger“, „nicht […] anhören“, „We’re cutting History“ (Waterland, 25), „you can stuff your past“ - und die ironische Distanz der Buch-Stimme zu ihm reflektieren die Paradoxie der Gattung (vgl. oben Kap. 4.7, unten Kap. 8.2.1). Aber sowohl Raabe als auch Swift betonen zugleich deren fundierende Erzählstruktur: Der „Geschichts- und Geschichtenerzähler“, „the story telling animal“ behaupten sich, wie spielerisch immer, in diesen Reflexionen. Sie behaupten sich in der paradox-produktiven Differenzierung und zugleich Verbindung von „Geschichte“, „history“ einerseits und andererseits „Sausen und Brausen“ (nach Apostelgeschichte 2,2 immerhin eine mächtige Offenbarung), „mysteries“, „Traum“, „fantasticality“ und „wonder“, kurz, aller Freiheit des Fabulierens. Aber solche ironischen Selbstdarstellungen der Autoren - vom „scarabocchio“ Manzonis bis zu Ecos Bekenntnis: „Ich hatte den Drang einen Möch zu vergiften“ (Eco 1986, 121) ließen sie sich beliebig vermehren - sind zugleich immer nur Signale, Frage- und Denkimpulse. Die Poetik der Reflexion im historischen Roman geht weit darüber hinaus. 5.3.3.1 Subjektivierungen Der „mittlere“, also „vermittelnde“ Held Walter Scotts bündelt bereits die Perspektive, unter der ein Ausschnitt erzählter Welt präsentiert wird (wer sieht was? ), die Stimme ihrer Vermittlung (was sagt er dazu? ) und deren Zuordnung zum Wertediskurs (unter welchen Voraussetzungen, nach welchen Normen und Überzeugungen wird das Erzählte beurteilt(? ). Genettes Kategorie des „Modus“ und deren exemplarische Anwendung lässt sich kohärent mit der Kantischen Kategorie der Modalität und deren Ausdifferenzierung bei Peirce zu den Triaden des Interpretans zusammensehen (vgl. Genette 1994, 115 ff.; Peirce 1960, 8.346 ff., 1977, 83 ff., 2000, 3.214 ff., von „hypothetic“ bis „assurance of form“). So lässt sich auch ein Begriff von Subjekt und Subjektivität kohärent neu formulieren als dynamisches „Zwischenresultat“ von Gefühls-, Sprach-, Denk- und eben Zeichenprozessen (vgl. z. B. Verf. 1994, 59 ff.), als eine „Abkürzung“ im Spiel der Diskurse (Baßler 2003, 99) und so fort. Der Erzähler behält sich abweichende Gesichtspunkte und Aussagen vor, sieht anders, urteilt anders als der Held, beispielsweise indem er auch sagt, was dieser nicht weiß (vgl. oben Kap. 2.2), was andere Personen sehen und denken, wie vergleichbare Situationen früher oder später ein anderes Verhalten nahegelegt hätten und so fort. Beide Erzählinstanzen stehen zu ihrer Subjektivität. Der Prozess ihrer Vermittlung von Geschichten und Geschichte wird selbst offen gelegt, seine Formen, Voraussetzungen und Ziele stehen zur Diskussion. (Die „Codes“ liegen „mit dem Bauch nach oben“, Barthes 1976, 104.) Bereits bei Stendhal (der erste Teil von La chartreuse de Parme, 1839, ist ein kleiner historischer Roman) hatte diese Subjektivierung eine Begrenzung und Zuspitzung erfahren, die kritisch nicht nur die Perspektive, sondern auch den Sinn der erfahrenen Geschichte in Frage stellt. Wie Moralistik, <?page no="203"?> Subjektivierung und Multi-Subjektivierung bei Thackeray oder auch Fontane zusammenhängen (vgl. oben Kap. 3.2, 3.6, 3.7), haben wir gezeigt. Die Moderne (und Postmoderne, vgl. unten Kap. 8.2) im historischen Roman arbeitet mit nicht weniger, aber auch nicht mehr als der Radikalisierung dieser subjektivierenden Selbstreflexion eines nun oft ganz offen paradoxen, fiktional-historischen Erzählens. Das Paradigma, das sehr genau die Tradition in die Moderne übersetzt, ist wieder einmal die Erzählform William Faulkners, insbesondere seines Romans Absalom, Absalom! (1936, vgl. unten Kap. 8.2): Die Intensität des Geschichtstraumas von Bürgerkrieg, Rassismus und Südstaatenvergangenheit geht direkt in das Experiment multi-subjektiver Narrativik ein. (Bachtins „innere Dialogizität des Wortes“ ist der Entwurf einer sprachlich verfassten, erkenntnisbezogenen Differenzierung erzählender Subjektivität, vgl. Bachtin 1979, 157, 176, 205, 238.) Jede der personalisierten Stimmen und Perspektiven vermittelt hier ihren spezifischen Erfahrungs- und Wertehorizont. Ihr Antagonismus gibt ihnen Relief; nicht zuletzt der strukturell vorweggenommene Selbstmord des zentralen, erzählenden Mediums legt das Funktionieren aller dieser Subjektivierungen von Anfang an gleichsam „vivisektorisch“ bloß. Gerade dieser Funktionszusammenhang wird für die neue Subjektivität des deutschen Nachkriegs-Geschichtsromans (vgl. unten Kap. 7) schlechthin prägend werden. Aber auch weitaus die meisten anderen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts setzen Formen der Subjektivierung ein: genau abgestuft, in ihrer Vielfalt konzentriert und auf die Veränderung von Vorurteilen bezogen (den „Schulbuch-Cäsar“) Bert Brecht (Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar, 1939), als wechselndes Gespräch der Stimmen Heinrich Mann (Die Jugend und die Vollendung des Königs Henri Quatre, 1935/ 1938), zum Hervorheben existentieller Extremsituationen Marguerite Yourcenar (das Meer, der Tod in L’Œuvre au Noir, 1968), in von Augenblick zu Augenblick fortschreitenden Erfahrungs-Simulationen und Bewusstseins-Notaten z. B. Arno Schmidt (von Gadir bis Kosmas, 1949-1959). Man betrachte nur das Beispiel aus Enthymesis oder W. I. E. H (Wie ich euch hasse, ist es nicht bezeichnend, dass der Autor diese subjektive Stimme verrätselt hat? ) von 1949: 12. Tag Nordwind mit Sandgewölk (klingt wie ein Menü); in den Schwaden huschen Schatten. - Ich habe fast 4 Stadien Fehler befohlen, weil ich während des größten Tagesteiles die Sonne nicht sah, und so die Südrichtung nur erahnte. Na; wir latschen halt drauflos; in Erathosthenes Namen. - Wenn es der Menschheit nur bald gelänge, sich zu vernichten; ich fürchte zwar: es wird noch lange dauern, aber sie schaffen es bestimmt. Fliegen müßten sie auch können, damit man leichter Feuerbrände in die Städte werfen kann […]. Nun, sie werden’s schon schaffen (wenn mir schon so viel einfällt! ). Denn alles verkehrt sich ihnen ins Böse. (Arno Schmidt, Alexander 116/ 117) Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 195 <?page no="204"?> 196 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort Die Verdichtung der Illusion, die Anachronismen, die gleichwohl erkennbare historische Deixis (Eratosthenes von Kyrene, ca. 284-201 v. Chr., berechnete nach Experimenten wie dieser Vermessungsexpedition den Erdumfang), Erinnerungen, Erfahrungen, Assoziationen, Selbstironie und Selbstdefinition: All dies wird in einem subjektiven Bewusstsein zusammengehalten, und nur über diese offene Subjektivierung, Empathie, Distanz und Reflexion zugleich führt der Weg in diese erzählte Welt und aus ihr sowohl in die Historie wie in spätere Zeiten. Now it was late enough to hear The Shadow, on the radio. The Shadow […] possessed the power to […] become invisible. By this means he fought crime. […] The thought of having this power made my ears hot. Yes, I would spy on naked girls but I would also do good. I would invisibly board a ship […] and I would fly to Germany and find out where Adolf Hitler lived. I would in absolute safety, with no chance of being caught, go to Hitler’s palace, or whatever it was, and kill him […]. The Shadow had no imagination. He neither looked at naked women nor thought of ridding the world of dictators like Hitler or Mussolini. If this program hadn’t been on a Sunday afternoon, I would probably not have listened to it. Hitler was on my mind a lot lateley […]. (E. L. Doctorow, World’s Fair, 1985, 125) I began to feel the first twinges of panic. Then an Asian voice on the loudspeaker: a delay on the line due to security checks at Glaucester Road Station. / It was thirteen minutes to twelve. Imagine my feelings. This was the 14th of February, it was the two hundredth anniversary of the Battle of Cape St. Vincent, Horatio’s first great disobedience, the day he became an angel. On this day, at 12.50 p.m. - just over an hour’s time - his ship, the Captain, went into close action. And here was I, among this mute herd, sweating despite the cold, a good two miles from my table and my models - the ships were not even set out. It mattered so much to get the time right, therein lay the whole meaning, how else could I keep my life parallel with his? (Barry Unsworth, Losing Nelson, 1999, 1/ 2) Sind diese Texte strukturell so sehr verschieden von der Art und Weise, mit der der kleine Henry Esmond vor Lady Castlewood wie vor einem „superior being or angel“ auf die Knie sinkt, oder einen Toast auf „The King“ ausbringt, für ihn wohlgemerkt der exilierte James I. (W. M. Thackeray, The History of Henry Esmond, 1852, 50 u. 52), oder von der Situation, in der der junge Edward Waverley in der Bibliothek seines Onkels „waking dreams“, „legends“, „internal sorcery“ mit „past or imaginary events […] in action“ verbindet, um gerade so seine Rolle als Geschichts-Vermittler vorzubereiten (Walter Scott, Waverley, 1814, 49 u. 52)? Der kleine Judenjunge in der Bronx um 1936 bei Doctorow, der seine Identität zusammen mit seiner Geschichtlichkeit entdeckt („you are not a typical American boy“, 266), der Ichschwache Nelson-Enthusiast in London um 1997 bei Unsworth, der an seinem Enthusiasmus verzweifelt, sind sorgfältig in ihrem Gefühlsleben, ihren Überzeugungen und ihrer Erfahrungsbereitschaft entworfene „transparent <?page no="205"?> minds“, subjektive Sonden, die Historie vermitteln - man beachte jeweils deren unverkennbare „Spur“ -, die dieser Vermittlung kritische Authentizität verleihen, und all dies gerade dadurch, dass sie sie reflektieren. Das galt für Walter Scott im Prinzip schon so wie für seine fernsten Nachkommen. 5.3.3.2 Dialogismen, Revisionen, Complexionen Subjektivierungen sind im Historischen Roman immer nur - aber darin wichtige - Zwischenresultate. Darum haben sie häufig einführende Bedeutung. Die Leser sollen ihnen gegenüber auch Distanz gewinnen. Wenn Arno Schmidts Enthymesis mit einem die Geschichte transzendierenden Flug der Imagination endet, E. L. Doctorows World’s Fair auf eine Entdeckung problematischer, aber auch reicher, ein historisches Möglichkeitsspektrum eröffnender sozio-kultureller Identität abzielt, wenn in Losing Nelson der „hero worship“ („our quintessential hero and quintessential national representative“, 103) in einer psychischen Extremsituation implodiert, so ist all dies diskursiv lange vorbereitet. Und das galt auch schon für die dramatische, zumindest entschiedene Revision der Parteinahmen und der historischen Wertungen bei Scott oder Thackeray. Der Diskurs argumentiert. „Dialogismus“ meint dann die Spannung zwischen Allgemeinem und Besonderem der „Werte“ (Denk-Konzepte, Gefühls- und Verhaltensmuster, Überzeugungen, soziale und andere Normen, Ideen usw.), „Revision“, die kritische, oft korrigierende Rückwendung von den Folgen auf die Voraussetzungen (begründet in der gerade für den historischen Roman wichtigen, replikativen „logique à rebours“ allen Erzählens, vgl. oben Kap. 5.2), „Complexio“, ein Begriff der klassischen Rhetorik, das Erschließen eines Resultats allgemein, in der Literatur oft ja („abduktiv“, vgl. oben Kap. 5.2) von etwas Neuem. Es ist klar, dass diese Funktionen fiktionalhistorischer Narrativik eigentlich in jedem der hier untersuchten Beispiele bedeutsam werden und dass sich ihre Differenziertheit der einfachen Zusammenfassung entzieht: der „Bildungsroman zur Geschichtlichkeit“ bei Arnim und andere historisierte Bildungsromane, z. B. sehr deutlich in Fontanes Vor dem Sturm (1878), oder etwa die, wie heilsgeschichtlich-ironisch immer sie sich auswirkt (vgl. oben Kap. 2.4), Verpflichtung aller Personen, einschließlich der Leser, auf göttliche „provvidenza“ bei Manzoni, die radikale Kritik politischer Macht bei de Vigny und noch konsequenter bei Flaubert gehören hier ebenso dazu wie die provozierenden Schlussaussagen: „You’ve got one nigger left“ und „I dont […] hate the South“ in Faulkners Absalom, Absalom! (1936, 311), oder die durchgeführte Kritik solcher geschichtsträchtiger Begriffe wie „Organisation“, „Heldentum“, „Verantwortung“, „Pflicht“, „Unglück“ usw. in Alexander Kluges Schlachtbeschreibung (1964, 1978, 2000, vgl. unten Kap. 7.1). Denn, so Kluge, der „Protestgrund, daß Erinnerungslosigkeit irreal ist“ (1978, 7), lässt sich nur argumentierend finden. Aber auch, so Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 197 <?page no="206"?> 198 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort meine Überzeugung, wichtige Autoren der „Postmoderne“, allerdings wohl nicht alle, betreiben eine komplexe, riskante, narrativ-konzeptionelle „Aufklärung“. So muss etwa in Michel Tourniers Le roi des aulnes (1970) das wertindifferente „gut / böse“ System der „phorie“ und seine Symbolik gegenüber der Erfahrung des Holocaust unumkehrbar „kippen“ (vgl. unten Kap. 8.3.1). Lässt dagegen die Umkehr-Welt in Martin Amis’ Time’s Arrow (1991) angesichts der Öfen von Auschwitz lediglich die Frage zu: „What tells me that this is right? What tells me that all the rest was wrong? […] Creation is easy. Also ugly. Hier ist kein warum“ (128)? So wie man Geschichte nicht „nicht erzählen“ kann, so kann man im historischen Roman nicht die Voraussetzungen, Formen und Ziele dieses Erzählens nicht reflektieren, also nicht nicht-argumentieren. 5.3.3.3 Metapoetik und Metahistorie Da fließt die Weser. Hier wo der Brodlaib liegt, ist der Solling. Da über den Hering weg brechen die Französischen wieder ein aus dem Göttingenschen, das weiß jeder […]. Aber nun da drüben um seinen Suppenpott ist das Westfälische, und dort steht der Herzog; längs der Weser lang steht es voll von seinen Völkern. (Wilhelm Raabe, Das Odfeld, 1888, 51) Behind the smokehouse that summer, Ringo and I had a living map. Although Vicksburg was just a handful of chips from the woodpile and the River a trench scraped into the packed earth with the point of a hoe, it (river, city, and terrain) lived, possessing even in miniature that ponderable though passive recalicitrance of topography which outweighs artillery, against which the most brilliant of victories and the most tragic of defeats are but the loud noises of a moment […]. „What’s that? “ Loosh said. „Vicksburg“, I said. Loosh laughed. He stood there laughing, not loud, looking at the chips. […] I didn’t have time to wonder or speculate, because suddenly Loosh stooped before Ringo or I could have moved, and with his hand he swept the chips flat. „There’s your Vicksburg“, he said. (William Faulkner, The Unvanquished, 1934-1938, 3 u. 5) Hier wie dort wird spielerisch konsequent nicht nur eine historische Situation und strategische Lage durchgespielt. Reflektiert wird auch eine bestimmte Perspektive, Geschichte zu sehen und darzustellen oder eben zu erzählen. Bei Raabe geht es um die Perspektive der Opfer. Und die ärmliche alltägliche Nahrung verleiht der Szene, also der historischen Metapher (vgl. oben Kap. 5.3.1.2), ein Moment vitalen, naturwüchsigen Ausgeliefertseins. Die armen Leute spielen den Krieg nach, der Krieg wird schon bald mit ihnen, der „gejagten“ oder anderswie bedrängten „Kreatur“ (203, ein Schlüsselwort des Romans) spielen. Bei Faulkner (der Erzähler, genauer, sein kindliches Ich, überlässt gleich darauf erstmals seinem Kontrahenten die Rolle von „General Lee“) steht nicht weniger klar hinter dem Spiel der Kinder die Frage, ob Sieg <?page no="207"?> und Niederlage „but the loud noises of a moment“ sind, ob der „schwarze“ Loosh von so etwas wie Freiheit, einem befreiten „Lachen“, nur träumen kann, ob und wie ein Wort wie „Heimat“ mehr ist als eine „passive recalcitrance of topography“ und so fort. Wie immer wieder im historischen Roman sagt die Kinderperspektive zur Geschichte: Überleben bedeutet mehr als Sieg. Und in beiden Fällen reflektiert die hilflose Sinnsuche der Spielenden in der Fiktion auch die Situation der Autoren, die mit der Fiktion gegen die Geschichte zu spielen versuchen. Auch seine Metapoetik, also die Möglichkeit des historischen Romans, über den narrativen (im weiteren Sinn „poetischen“) Umgang mit Historie zu reflektieren, sei es explizit, wie in den Vorworten, Einschüben (Autor und Leser bei Mérimée beispielsweise, vgl. oben Kap. 3.2) oder in Personen-Reflexionen, wie etwa in den berühmten Gesprächen zwischen Waverley und Bradwardine (vgl. oben Kap. 2.2) oder in der Art und Weise, in der bei Bert Brecht verschiedene Zeit-Zeugen von Caesar bereits in der Form von Mini- Romanen berichten (vgl. unten Kap. 6.4.2), all das hat eine lange Tradition. Genauso alt sind die bildhaften Modelle der Geschichtsbewältigung, auch ihrer Grenzen oder ihres Scheiterns: Walter Scotts Postkutschen-Metapher als Modell des Erzählweges, die Architektur-Modelle bei Scott, Arnim, Cooper oder de Vigny, die Anspruch und Aporie von Geschichts-Konstruktionen sinnbildlich machen. Es ließe sich eine Geschichte der Metapoetik als Metahistorie schreiben, die bis zu den ästhetischen Denk- und Verhaltensplänen bei Alfred Andersch geht (Winterspelt, 1974, kreist um ein als „Plan“ gelesenes Bild von Paul Klee) oder zu den Passagen in Don DeLillos Underworld (1997, vgl. unten Kap. 8.4), in denen Geschichte in utopisch-ästhetische „object art“-Experimente aufgehoben wird. Gleichwohl war es keine beliebige Entscheidung, mit einem Beispiel aus Wilhelm Raabes Roman Das Odfeld (1888) dieses Kapitel zu eröffnen. Die vielen Reflexionen, die Dia-Historien, die in meta-historische Verallgemeinerung umschlagen, diese aber auch unterminieren, die Modelle von Bibliothek und Museum, die „Geschichte und Geschichten“ reflektieren, vor- und weiterspielen, die große, zwischen Chaos und „Prodigium“ oszillierende Allegorie der „Rabenschlacht“ (vgl. oben Kap. 4.7), an der der Romanheld, aber auch der Autor (man denke an seinen Namen) ironisch intensiv teilnehmen - ich lese diese Signatur als die gewünschte, herbei-gedichtete Transformation des Prinzips „Gewalt und Krieg in der Welt“ in einen friedlichen, von „Ra(a)be und seinesgleichen verfassten, lediglich geschriebenen Krieg“ der Worte und Argumente -, nicht zu vergessen das wichtige „Zeichen“ des Jackenknopfes: Hier eröffnet die Differenzierung von Metahistorie und Metapoetik bereits eine spielerische Diskussionstiefe, die moderne, ja „postmoderne“ Polyhistorien vorwegnimmt. Es wird sich zeigen, wie genau etwa die Zeichenspiele Raabes durchaus bereits ein „Spiel der Zeichen gegen die Ge- Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 199 <?page no="208"?> 200 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort schichte“ bei Autoren wie Eco, Tournier, Swift oder Unsworth vorwegnehmen und in ihm wiederkehren werden (vgl. unten Kap. 8.3). Erneut sind es die beiden frühesten Paradigmen der Moderne im historischen Roman, die sehr radikal selbstkritische und zugleich apologetische Reflexionsmodelle abgeben. Metapoetisch-metahistorisch (der Begriff wird hier enger gefasst als manchmal üblich: als Sprechen über den „Code“ einer Sprache im Sinne von Jakobson, 1979, 88 ff., als anschauliche „Modellierung“ der „Systeme“ eines „künstlerischen Textes“ nach Lotman, 1973, 96 ff., hier also als Darstellung von Erzählstrukturen, was dann auch Whites Begriff von „Metahistory“ entspricht, als „Modellierung der Erzählstruktur“, in der „Konsistenz“, „Kohärenz“ und „historische Interpretation“ konstruiert werden, White 1994, 17 u. 24; vgl. oben Kap. 5.1 u. 5.3.1.2) lässt sich beispielsweise jene Szene aus dem ersten Buch von Alfred Döblins Wallenstein (1920) lesen, in der der „Narr“ am Hofe Kaiser Ferdinands sich als Autor betätigt. Er kleckst mit Tinte in „große leere Folianten“ etwas zusammen und behauptet, er schreibe ein großes Werk „über die Sterne, den Himmel, die Hexen und die Teufel […] auch von dir, Ferdel, und meinen Feinden. […] Die Weisheit muß verbreitet werden unter die Menschen“. Und der Erzähler merkt aus eigener Perspektive an: „Wie sonderbar, daß der Kaiser nicht lächelte, starr und streng auf die Bogen sah! “ (80-82) Ist dies nicht angesichts der Kostbarkeit solcher Schreibmaterialien im 17. Jahrhundert - und die Wirtschaftsgeschichte des Krieges wie des Alltags ist im Wallenstein von großem Interesse - eine so anachronistisch absurde Szene, dass sie allgemeiner interpretiert werden muss? Und bildet dann nicht dieses Spiel mit Vernunft und Phantasie, kleiner Szene, Makrohistorie und Polyhistorie, auch mit Allmacht und Ohnmacht erzählter Geschichtsmetaphysik, projiziert nicht all dies eine metapoetische Selbstverkleinerung und zugleich reflektierende Selbstbehauptung des Autors in das angefangene Erzählwerk hinein, gegen dessen Schluss hin es dann ja auch in der Romanhandlung um eine historisch absurde, fiktive Sinnsuche geht? Döblin nimmt den alten Topos vom „Dichter als Narren“ auf, Faulkner - der diesen Topos sehr wohl auch kennt („a tale of sound and fury, told by an idiot“) - den noch älteren von der Literatur als „Gewebe“, „textum“ im wörtlichen Sinn (vgl. etwa auch das schlechterdings paradigmatische Zitat am Anfang von unten Kap. 6). Rosa Coldfield, „the county’s poetess“ (8), die alte, erste Erzählerin von Absalom, Absalom! (1936), scheint jene später von jemand anderem im Roman geäußerte Metapher wörtlich zu nehmen, dass durch einen „meager and fragile thread […] corners and edges of men’s secret and solitary lives may be joined for an instance now and then“ (207). Sie literarisiert ihre Umwelt geradezu, wenn sie sich eine „romance“ (von Walter Scott <?page no="209"?> bis Margaret Mitchell ein Geschichtsmodell) zwischen ihrer Nichte und einem jungen Mann aus New Orleans erdichtet (er wird sich als deren „schwarzer“ Halbbruder herausstellen) und jetzt für diese eine Aussteuer näht, wobei sie die Fertigkeit dazu nie gelernt hat: sewing […] garments while news came of Lincoln’s election and of the fall of Sumpter, and she scarce listening, hearing and losing the knell and doom of her native land between two tedious and clumsy stitches […] still doing that when Mississippi seceded and when the first Confederate uniforms began to appear in Jefferson. (64 u. 66) Die Szene verbindet eine äußerst zugespitzte fiktiv-historische Synekdoche der Walter Scott-Tradition (pars pro toto, klassisch: Waverley verbirgt sich und hört „von den Ereignissen bei Preston“), mit deren metapoetischer Reflexion. Denn es geht ja um das „Zusammenfügen“ („joined“) von „Text-Geweben“, es geht um den Versuch, dem einen humanen Sinn abzugewinnen (vgl. unten Kap. 6.2), reflektiert wird die Subjektivität dieses Versuchs und schließlich, in bitterer Ironie, auch deren äußerste Ohnmacht. Die Metapher der „genähten Geschichte“ ist der der „Ra(a)benschlacht“ bei Raabe oder der „Narrenchronik“ bei Döblin durchaus vergleichbar, beide wieder dem „Œuvre au Noir“, dem „Werk in Schwarz“ bei Yourcenar, dem Antagonismus zweier Bildteile bei Aragon (vgl. unten Kap. 6.3) oder dem „ventriloquism selftaught“ in der „time-capsule“ in E. L. Doctorow’s World’s Fair (1985). Denn hier handelt es sich nicht nur um einen „kleinen“, subjektiv-fiktiven Gegenentwurf zur „großen“ historischen Weltausstellung. Man kann auch den Reflexionsweg des Erzählens hin zu einem ganz spielerischen, gleichwohl selbstbewussten metapoetischen Modell noch einmal nachzeichnen. Die Zukunftsentwürfe der Weltausstellung in New York von 1939/ 1940 konkurrieren mit deren aktuellem historischem Hintergrund (die Judenverfolgung in Deutschland, vgl. z. B. 96, „France had fallen to Hitler“, 207 etc.), sie sind auch in sich ambivalent: einerseits abstrakte Möglichkeitssignaturen der Leinwand-Plastiken („they seemed about to take off“, „a secret summons, worldless, indelible“, 224, 239), dagegen das Modell einer zukünftigen Stadt, eine „totally planned […] brave new world“ (268 f.), aber auch der entfesselte, aggressive Liberalismus, „a great mad crackling horde […] crashing and banging“ der Spaßautos, „this is Futurama“ (273). Welche Zukunft nun wird aus dieser inzwischen vergangenen, aber immer noch bedrohlich aktuellen Gegenwart folgen, die sozusagen „offizielle“? The Time Capsule had been devised to show people in the year 6939 what we had accomplished and what abour our live we thought meaningful [: ] a Micky Mouse plastic cup […], Gone with the Wind by Margaret Mitchell [, the] United States Navy on manoeuvres [, a] fashion show in Miami Florida, [but nothing of] Jewish and Erkenntnisformen des Erzählens im historischen Roman 201 <?page no="210"?> 202 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort Italian and Irish people […] or the working man […] or Indians on reservations or Negroes who suffer from race prejudice. (271) Man sieht aus dem Kontrast, welche weitreichende Bedeutung die subjektive Authentizität anmeldet, die diesen Roman prägt, und der fiktional-historischfiktionale Gegenentwurf, ein erzählend kommunizierender Gegenentwurf, der er ist. Genau dieser spiralige Erzählweg wird am Ende reflektiert, wenn der gerade noch kindliche Held dann seine eigene, private „time capsule“ vergräbt (bezeichnenderweise wird sie jetzt klein geschrieben und ist doch gerade so auch wieder ein Umschlag von der äußersten Synekdoche in eine zumindest mögliche Katachrese, vom kleinen Teil zum offenen Gegensatz). Jetzt geht es um ganz private (indexikalische) Zeichen und Spuren: neben vielem anderen etwa eine alte Mundharmonika, eine zerbrochene Kassenbrille, aber auch - wie eigenartig! - ein Buch „Ventriloquism Self-Taught“ (274). Ist das nicht wieder so ein spielerisch-selbstironisches Fiktions-Modell? Von Aristoteles Forderung, in der Mimesis dürfe der Autor nicht als er selbst sprechen bis zu Bachtins Theorie des „fremden Wortes“ und so fort war das Erzählen „als ein anderer“, z. B. wie ein „Bauchredner“, eine zentrale Möglichkeit der Narrativik gewesen. Hier wird genau dies zu einem Verfahren der Subjektivierung, wobei dieses Ich historisch pro futuro zu gelten beansprucht. So ist es nur konsequent, dass auch seine kommunizierende „Stimme“ nicht verloren gehen soll. („In der Lektüre schlägt die Divergenz von historischer Erzählung und Fiktionserzählung um in Konvergenz“, Ricœur 1991, 3.295). Denn ganz zuletzt bewahrt der Junge sein Buch vor dem Vergrabenwerden: „It seemed to me a waste of a book to bury it like that.“ (275). 5.4 Diahistorien, Chronotopen, Utopien, Zeitaporie: Zur Poetik der Zeit im historischen Roman Im historischen Roman geht es immer um erzählte Zeit. Sein fiktionaler und, wenn auch auf eigene Weise, sein historischer Diskurs sind geprägt von Zeit- Kategorien. Gerade hier sind „Zeiterfahrung und Romanästhetik“ intensiv aufeinander bezogen (Middeke 2002, 1). Die Zeit führt nicht zuletzt das spiralige (vgl. oben Kap. 5.2) Wechselspiel von differenzierenden Entwürfen und Zuordnungen, auch von verschiedenen Zeiten, immer wieder zu Gesamtperspektiven fort, zu „Zeit-Konfigurationen“ (Ricœur 1991, 3.7 ff.), auch wenn diese immer ihrerseits lediglich Hypothesen für die Geschichte bilden, ja problematisch oder aporetisch oder auch, und dies möglicherweise zugleich, utopisch gefüllt sind. Immer ist die Poetik der Gattung um ihre „Zeitlichkeits- und Geschichtsproblematik zentriert“ (Lampart 2002, 35). So ist in den folgenden drei Textbeispielen sicher zunächst nur ein Plural der <?page no="211"?> Zeitschichten und Zeitauffassungen angemessen. Und alle drei Texte zeigen, wie genau darin die Eigenzeit der jeweiligen Historie die vielerlei Zeitformen der Fiktion fokussiert. Das Gewicht der Geschichte prägt die Poetik des historischen Romans. Doch in allen Beispielen kündigen sich auch von den ersten Sätzen an synthetisierende, generalisierende („all-time“ in Slaughterhouse 5), aporetische („tragique“ bei Victor Hugo), aber auch utopische Perspektiven an: „Statt der Wahrheit Wünsche an sie“, denn „Geschichte ist ein Entwurf“ (Jahrestage, 1983, 1891). Dans les derniers jours de mai 1793, un des bataillons parisiens amenés en Bretagne par Santerre fouillait le redoutable bois de la Saudraie en Astillé. On n’était plus de trois cents, car le bataillon était décimé par cette rude guerre. […] On ne se hâtait point. On regardait à la fois à droite et à gauche, devant soi et derrière soi […]. Il y avait longtemps qu’on marchait. Quelle heure pouvait-il être? A quel moment du jour en était-on? Il êut été difficile de le dire, car il y a toujours une sorte de soir dans de si sauvages halliers, et il ne fait jamais clair dans ce bois-là. Le bois de la Saudraie était tragique. C’était dans ce taillis que, dès le mois de novembre 1792, la guerre civile avait commencé ses crimes […]. Pas de lieu plus épouvantable. Les soldats s’y enfonçaient avec précaution. Tout était plein de fleurs; on avait autour de soi une tremblante muraille de branches d’où tombait la charmante fraîcheur des feuilles […]. Les soldats avançaient pas à pas, en silence, en écartant doucement les broussailles. Les oiseaux gazouillaient au-dessus des bayonettes. / Ende Mai 1793 durchkämmte eines der Pariser Bataillone, die über Santerre in die Bretagne herangeführt worden waren, den gefährlichen Wald von La Saudraie en Astillé. Es waren nur noch dreihundert Leute übrig, denn das Bataillon war in diesem brutalen Krieg dezimiert worden. Man hatte es durchaus nicht eilig, schaute immer zugleich nach rechts, nach links, nach vorn und nach hinten […]. Man war schon lange marschiert. Wie viel Uhr war es wohl? Welche Tageszeit? Das wäre schwer zu sagen gewesen, denn unter dieser überhängenden Wildnis herrscht immer eine gewisse Dämmerung, niemals wird es in einem solchen Wald richtig hell. Der Wald von La Saudraie war voller Tragik. In diesem Dickicht hatten im November 1792 die Verbrechen des Bürgerkrieges begonnen […]. Es gibt keinen schrecklicheren Ort. Vorsichtig drangen die Soldaten ein. Alles stand in voller Blüte; man war von einer sich leise bewegenden Mauer von Zweigen umgeben und atmete die schöne Frische der jungen Blätter […]. Schritt für Schritt und lautlos gingen die Soldaten vor, vorsichtig schoben sie das Unterholz beiseite. Die Vögel zwitscherten direkt über den Bajonetten. (Victor Hugo, Quatrevingt-Treize, 1874, 24) LISTEN: BILLY PILGRIM has come unstuck in time. Billy has gone to sleep a senile widower and awakened on his wedding day. He has walked through a door in 1955 and come out another one in 1941. He has gone back through that door to find himself in 1963. […] He says. Billy is spastic in time, has no control over where he is going next, and the trips aren’t necessarily fun. […] Diahistorien, Chronotopen, Utopien, Zeitaporie 203 <?page no="212"?> 204 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort And somewhere in there was springtime. The corpse mines were closed down. The soldiers all left […]. World War Two in Europe was over. Billy and the rest wandered out into the shady street. The trees were leafing out. […] Birds were talking. One bird said to Billy Pilgrim, ,Poo-tee-weet? ‘ (Kurt Vonnegut, Slaughterhouse 5, 1969, 17 u. 157) Auswendig gelernt, die äussere Kruste des Gewesenen, gezwängt in die Kette der Jahre, die zurückrasselt in den Brunnen. Statt der Wahrheit Wünsche an sie, auch Gaben von der Katze Erinnerung, dem Gewesenen hinterher schon durch die Verspätung der Worte, nicht wie es war, bloss was ich davon finden konnte: 1888. 1938. 1968. Damals. Jetzt. (Uwe Johnson, Heute neunzig Jahr, 1996, 7, zitiert nach der ersten Niederschrift von 1975, vgl. 153 f.) Ist die Gemeinsamkeit des Motivs: „Vögel zwitschern an gegen den Krieg“ bei Victor Hugo und fast hundert Jahre später bei Vonnegut beliebig? Sofern „Poo-tee-weet? “ eben eine grundsätzliche Frage ist („was habt ihr da angerichtet? “). Diese Vögel leben in einer anderen Zeit als die Soldaten. Schon bei Arnim „sangen die Vögel“ im unerreichbaren Glasschloss „in ewigem sicherem Frieden“ (Die Kronenwächter, 1817, 84); Birdsong ist ein neuerer Anti- Kriegs-Roman betitelt (Sebastian Faulks, 1993); die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Macht nicht immer wieder diese ,Stimme der Natur‘ zumindest einen Augenblick lang, später wird das breiter auserzählt (vgl. z. B. Kap. 4.3 u. 8.1.2), den Ort der Geschichte zur Gegenwelt eines Nicht-Ortes, eben eines ,ou-topos‘? Zeit-Fragen eröffnen hier noch weitere Vergleichsperspektiven. So korrespondieren beispielsweise die privaten Zeit-Ebenen, bzw. „Diahistorien“, zwischen denen Billy Pilgrim hin und her wechselt, und die historischen, als die Gesine Cresspahl, Stimme und zentrales Bewusstsein der Jahrestage und von Heute neunzig Jahr, die „Kruste des Gewesenen“ zu lesen sucht: „1888. 1938. 1968. Damals. Jetzt“, ergänzen sie einander nicht wie Frage und Gegenfrage? Auch in Slaughterhouse 5 geht es ja um eine Art „Jahrestage“, während umgekehrt die „Katze Erinnerung“ auf ihre Weise auch unberechenbar, hin und her springend „unstuck in time“ ist (vgl. unten Kap. 7.3 und den Anfang von Kap. 8). In allen drei Beispielen - das Datum „1841“ in Slaughterhouse 5 schließt sich sofort mit dem Romantitel, der auf „Dresden“ weist, zum Stichwort „World War Two“ zusammen - macht der sogleich angekündigte historische Fokus den erzählten Raum zu einem „Chronotopos“, einer anschaulichen Raum-Zeit-Verdichtung, die bewertet und durchaus geschichts-philosophisch bedacht sein will: eine der Krise bei Hugo, des Weges aus der Katastrophe, wie spielerisch immer, bei Vonnegut und eben eines Erinnerungsraums, eines viele Zeitschichten durchgrabenden „Brunnens“ <?page no="213"?> gesuchter „Wahrheit“ bei Johnson, wobei diese Wahrheit immer auch als seine Zukunft suchender „Entwurf“ zu verstehen ist. Genauso eindringlich beginnen die drei Romane mit einer „Zeitaporie“, einer uneinholbaren Differenz zwischen persönlicher Lebens- und allgemeiner Welt-Zeit, bzw. hier einer Geschichtszeit, die eigensinnig und auf alle Fälle fremd ist. Bei Vonnegut und Johnson wird die Hilflosigkeit der Romanhelden und ihres Bewusstseins gegenüber der Geschichte sogleich formuliert: „spastic in time“, immer mit „Verspätung dem Gewesenen“, und dies ist ein traumatisch Gewesenes, „hinterher“. Aber auch bei Victor Hugo treiben die vielen Zeitdifferenzierungen und Zeitbrüche des Romananfangs („ruptures temporelles“, „une certaine intemporalité“, Moatti 1985, 109) einer Geschichtsaporie entgegen. Die Zeiten, in denen die Personen leben, und dies betont und unkontrollierbar inkohärent („schon lange“, „immer wieder“, „plötzlich“ etc.), diese Zeiten verfehlen sich geradezu sinnlich untereinander (die Soldaten verstehen die Mutter mit ihren Kindern nicht, auch wenn sie sie adoptieren: „Es-tu des blancs? Es-tu des bleus? Avec qui es tu? Je suis avec mes enfants.“ / „Bist du bei den Weißen [Royalisten]? Bist du bei den Blauen [Revolutionären]? Bei wem bist du? Ich bin bei meinen Kindern“, Quatrevingt-Treize, 13). Und die sie umgebende Natur mag voll von Blüten, Frische und Harmonie sein, ihr Zeit-Rhythmus ist gegenüber den wechselwirkend unbegreiflichen Lebens- und Geschichts-Zeiten („desoriented“, „devastating disarticulation“, Mehlman 1977, 89) erneut etwas ausdrücklich Fremdes. Dieser ,Wald der Zeit‘ - liegt die Metapher nicht nahe? - ist „redoutable“, wörtlich: eine immer wieder zu bezweifelnde Umwelt. Denkt man an Dante (Inferno 1.2 ff.), wird dann nicht auch dieser Wald („a nocturnal world of horror and terror“, Brombert 1984, 210) zum Chronotopos einer Aporie, wo „la diritta via era smarrita“, der direkte Weg verloren ist und Angst und Tod in den Sinn kommen („nel pensier rinnova la paura […] che poco è più morte“)? Die Erzählform des Chronotopos ist seit Michail Bachtin anerkannt als eine „Form-Inhalt-Kategorie der Literatur […] von grundlegender Bedeutung“, in der „räumliche und zeitliche Merkmale zu einem (bedeutsamen) Ganzen […] verschmelzen, […] wobei in der Literatur die Zeit das ausschlaggebende Moment des Chronotopos ist“ (Bachtin 1989, 7/ 8). Dass solche narrativen Möglichkeiten im historischen Roman besonders nahe liegen, ist ein Ansatz, der diese ganze Untersuchung prägt. „Die Zeit verdichtet sich“ im historischen Roman auf anschauliche und für die Auffassung von Geschichte bedeutsame Weise: Sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. (Bachtin 1989, ebd.) Diahistorien, Chronotopen, Utopien, Zeitaporie 205 <?page no="214"?> 206 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort Das kann man im historischen Roman buchstabengenau immer wieder anschaulich beobachten, von der Zeitreise in die Vergangenheit und nach Schottland und dann etwa dem restituierten, schottisch-englischen Haus der „gentry“ bei Walter Scott, oder von der Raumspannung zwischen verkommener, mittelalterlicher Burg, progressiver Stadt und utopischer Glasarchitektur bei Arnim bis zu den multipel zeit- und kulturhybriden „Zonen“ bei Hilsenrath, Ransmayr oder Eco, aber auch zu den auserzählten, räumlichen „Geschichtssignaturen“ etwa bei Sebald, Timm oder DeLillo. Chronotopen können dabei eigentlich immer differenzierend, „zentrifugal“ (vgl. Bachtin 1979, 164 f.) gelesen werden, oft aber haben sie auch, und das ist keine quantitative Frage, sondern eine der Interpretation (vgl. z. B. Verf. 2007, 68 f.), synthetische, „zentripetale“ Bedeutung. So bleiben die utopischen Orte im historischen Roman - dazu gleich ein paar Beispiele - meist peripher, eben ,Nicht-Orte‘; wie zentral sie für den Wertediskurs des Romans werden, muss (und kann) der Dialog der „Stimmen“ erweisen, der nicht zuletzt die Leser mit einbezieht. Vergleichbares, und das ist kein Widerspruch, gilt für den „topos aporos“, wie er gerade eben bei Victor Hugo, dem doch entschiedenen Anwalt einer Geschichtsutopie, sichtbar geworden war. Edward Waverly etwa vollzieht die Wende in seinem Leben, einen Wechsel historischer Parteinahme im Gefängnis, krank, dann im Versteck; Die Kronenwächter beginnen in einem Turmzimmer, das die Personen, Opfer der alten Zeit, nie verlassen, und enden in einer Gruft. Man denke an den sich immer stärker verengenden Raum, in dem der Romanheld in Fontanes Schach von Wuthenow (1882), ein Vertreter der preußischen „Welt des Scheins“, sich zuletzt bewegt, oder an den Wechsel zwischen ausweglosem Herumirren auf dem Schlachtfeld und zuletzt nicht weniger zerstörter, verschlossener Zelle in Raabes Das Odfeld (1888) und so fort, bis hin etwa zu den ,Erzähl-Gefängnissen‘, mit denen Faulkners Absalom, Absalom! (1936) beginnt und endet, das eine vertraut, luftdicht, staubig, das andere fremd und kalt, oder zu den ,Gefängnissen des Wissens‘, den labyrinthischen oder wie vergrabenen Bibliotheken und Archiven etwa bei sonst so verschiedenen Autoren wie Umberto Eco oder W. G. Sebald. Längst nicht alle Chronotopen im historischen Roman sind so aporetisch strukturiert, natürlich nicht; und die Poetik der Gattung hat auch andere Möglichkeiten, Konflikte von Stimmen beispielsweise, Inkongruenz der Handlung, Symbolik, explizite Reflexion und so fort, um die fundamentale, ja existentiale Zeitaporie, das individuell wie kollektiv Unentgehbare und zugleich Unbegreifliche aller Zeiterfahrung (vgl. Ricœur 1988, 1.15 ff.) auszudrücken. Dasselbe gilt für die prinzipiell mehrfachen „Zeitschichten“ (Kosellek 2000, vgl. oben Kap. 5.1) historischer Zeitkonstruktion und -neukonstruktion. Slaughterhouse 5, Johnsons Jahrestage, überhaupt die Faulkner- Nachfolge (vgl. unten Kap. 7, auch Graham Swifts Waterland, Kap. 8.2.1), <?page no="215"?> erheben das zum Erzählprinzip. Aber schon immer halten Autoren - Scott wie Arnim wie Manzoni etwa die Zeit nach den napoleonischen Kriegen (vgl. oben Kap. 2.1), Fontane Preußens falsche, gefährliche Wilhelminische Gloria, Döblin den I. Weltkrieg, Perutz die Verfolgung der Prager Juden und so fort -, die Verfasser historischer Romane halten die eigene Gegenwart und jüngste Vergangenheit sehr genau mit im Blick, wenn sie weiter zurückliegende Zeiten erzählen, was nicht einfach Gleichsetzung, sondern wechselwirkende Reflexion (ganz wörtlich „Wiederspiegelung“) bedeutet. Die Art, wie etwa Louis Aragon die Schlacht von Crécy (1346) einerseits, eigene Erlebnisse aus dem II. Weltkrieg andererseits mit der Handlung von 1815 verbindet, oder die gezielten Anachronismen im deutschen historischen Roman des Exils sind dafür nur weitere, besonders plastische Beispiele (vgl. unten Kap. 6.3 u. 6.4). Solche Diahistorien können aber auch immer wieder ganz verdichtet erzählt werden: (La) vie souterraine était immémoriale en Bretagne […] Les larves de la légende et les monstres de l’histoire, tout avait passé sur ce noir pays, Teutatès, César, Hoël, Néomène, Geoffrey d’Angleterre, Alain-gant-de-fer, Pierre Mauclerc, la maison française des Blois, la maison anglaise de Montfort […] René II, vicomte de Rohan, les gouverneurs pour le roi […], au quinzième siècle les boucheries seigneuriales, au seizième et au dix-septième siècle les guerres de religion, au dix huitième siècle les trente mille chiens dressés à chasser aux hommes; sous ce piétinement effroyable le peuple avait pris le parti de disparaître. Tour à tour les troglodytes pour échapper aux celtes, les celtes pour échapper aux Romains, les Bretons pour échapper aux Normands, les hugenots pour échapper aux catholiques […]. Ressource de bêtes. / Das Leben unter der Erde gab es seit unvordenklicher Zeit in der Bretagne. Die Gespenster aus der Legende und die Scheusale der Geschichte, alle waren über dieses schwarze Land hinweg gezogen, Teutatès, Caesar, Hoël, Geoffrey von England, Alain mit dem eisernen Handschuh, Pierre Mauclerc, das französische Geschlecht de Blois, das englische Geschlecht Montfort […], René II., Graf von Rohan, die Gouverneure in Vertretung des Königs […], im 15. Jahrhundert die Gemetzel im Namen des Adels, im 16. und 17. die Kriege im Namen der Religion, im 18. Jahrhundert dreißigtausend Hunde für die Menschenjagd; wo sie so entsetzlich immer wieder zertreten wurden, entschieden sich die Leute dafür zu verschwinden: der Reihe nach die Höhlenbewohner, um den Kelten zu entkommen, die Kelten vor den Römern, die Bretonen vor den Normannen, die Hugenotten vor den Katholiken […]. So retten sich Tiere. (Quatrevingt-Treize, 182/ 183) Nur wenige werden das ohne Kommentar alles zuordnen können (vgl. zu den wichtigsten Details die Fußnoten z. B. in der Ausgabe von Boudout, 1963, 223). Und hier wurde längst nicht alles zitiert. Die Fülle der Namen und Hinweise soll nicht nur punktuell (eine Kette von historischen Metonymien wird zu einer geschichtsphilosophischen Synekdoche, vgl. oben Kap. 5.3.1.2) große Räume von Geschichte ganz wörtlich über- und ineinander- „schichten“, sie spielt auch mit dem Unbekannten, zumindest Rätselhaften, das evo- Diahistorien, Chronotopen, Utopien, Zeitaporie 207 <?page no="216"?> 208 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort ziert wird (Hoël, Alain-gant-de-fer, dreißigtausend Hunde? ). Die verdichteten Diahistorien saugen die Leser geradezu hinein in diesen „stampfenden“ („piétinement“) Chronotopos immer neuer Unterdrückung („despotisme“, „battue inexorable“, ebd.). Und so wie die auch sonst in diesem Roman häufig wiederkehrenden Raum-Zeit-Entwürfe des Verstecks und des Gefängnisses („comme si la terre était une prison“, Brody 1965, 16) hier historisiert und multipliziert werden, so schlägt ihre Verallgemeinerung zur „Bestialität“ der Geschichte diskursiv um in eine zumindest gesuchte Anti-Historie: „Soyons la société humaine“ (ebd. 479). Der „topos aporos“ erhält bei Victor Hugo utopische Funktion. Diahistorie, Zeitaporie und Anti-Historie, die gegenüber der Geschichte zur „potentia-possibilitas“ des Neuen drängt: Diese Zeitdimensionen gehen nicht immer im historischen Roman so explizit, wenn man will plakativ auseinander hervor. Aber sie sind bezeichnend für seine Poetik der Zeit. Nur zwei jüngere Beispiele seien genannt. In Uwe Timms Roman ROT (2002) wird die Berliner Siegessäule als „Schnittpunkt vieler geschichtlicher Linien“ (280), und als Monument der Zeitschichten von hundert Jahren Krieg gelesen (vgl. ausführlich unten Kap. 8.2.3). Und dagegen wird fiktiv sowohl das „Zeichen“ (220) ihrer Sprengung als auch die Ästhetik des Lichts gesetzt („Licht! Kein Sprengstoff“, 102), ein zentrales Hoffnungs- und Erlösungs- Symbol: „Erlösung“, „Allgegenwart“ - „all-time“ hatte die Anti-Historie bei Vonnegut geheißen, die die Geschichte dialektisch aufhebt (vgl. unten Kap. 8.1.2) - „Licht“ (393), so endet Timms Roman. In W. G. Sebalds Austerlitz (2002) steht sowohl die Last der Geschichte allgemein als auch die Suche nach einem von ihr verdrängten, noch tieferen und engeren, aber nicht nur individuellen, jüdisch-humanen Trauma im Mittelpunkt. So intensiviert sich noch einmal die Diahistorie des aporetischen Orts (man denke an Anfang und Schluss des Romans, den „Saal der verlorenen Schritte“ und das „Festungs-Gefängnis“). Am Londoner Bahnhof „Liverpool Street-Station“ (188 ff.) liest der Romanheld an Ort und Gebäude die Zeitschichten von mehr als dreihundert Jahren. Er spürt den „Sog der verflossenen Zeit“ (170), der auch die Leser erfassen soll. Aber dann wird diese allgemeine Diahistorie durchbrochen von einem persönlichen „Augenblick“ plötzlicher Erinnerung, der Teil mehrerer epiphanieartiger Erlebnisse wird - eine anti-historische Umkehr der zeitgeschichteten Kette von Metonymien -, und der immer genauer auf die Spur eigener Identität führt, damit an den „Ort einer ersten Kindheit“ (220). Hier geht es vor allem um Erinnerung und um Trauerarbeit. Aber zielt dieses Anschreiben gegen das Vergessen nicht auch auf eine Umkehr der Gefühle und des Verhaltens, damit „in der Welt etwas […] entsteht […], das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“ (Bloch 1967, 3.1628 - der Schluss von Das Prinzip Hoffnung)? <?page no="217"?> Nicht ausgeführte utopische Konstruktionen sind bezeichnend für die zeitutopischen Dimensionen des historischen Romans, bzw. sie sind selten. Balzacs rurale Utopien etwa (Le Médecin de campagne, Le curé de village) folgen nach der Architektur der Comédie humaine kontinuierlich, wie eine Antithese zur französischen Geschichte seit der Revolution, auf die desillusionierenden Bauern-Romane Les Chouans (vgl. oben Kap. 3.4) und Les Paysans: „J’étudie la marche de mon époque et je publie cet ouvrage. […] Il s’agit ici d’éclairer, non pas le législateur d’aujourd’hui, mais celui de demain“ (Ich erkunde den Verlauf meines Zeitalters und ich veröffentliche dieses Werk, nicht um den Gesetzgeber von heute, sondern den von morgen aufzuklären; Balzac 1978, 9.49, vgl. ebd. 1231 ff. u. Balzac 1977, 8.1650 ff.). Man könnte an Stifters gereinigte, ins politisch vorbildliche stilisierte Ordnungs- und Friedens-Szenarien denken, an Fontanes Likedeeler-Welt (Fragment, 1882-1895): „Freiheit“, „Gleichheit“, Solidarität, „sie waren Likedeeler und teilten alles, auch die Ehre“ (Fontane 1984, 7.533 u. 535). Aber diese Kolonie mit „eigenen politischen Grundsätzen“ (ebd. 526) wird ebenso zerstört („eine Phantasmagorie soll es schließlich auch wieder werden“, ebd. 776) wie die ganz ähnliche Geschichts-Insel in Barry Unsworths Sacred Hunger (1992): Englische aufklärerische Intellektuelle, meuternde Seeleute und v. a. von einem Sklavenschiff befreite Afrikaner verschiedener Stämme formen in einem „desperate experiment“ in Florida eine Kommune, die nach einer „doctrine of liberty“ und „hope“ lebt, „men living free and equal in a state of liberty“ (512, 517), und deren sichtbarer Erfolg Kinder in allen Hautschattierungen sind, „from ebony to dark sand“ (ebd.). Das ist sicher eine in die Geschichte des 18. Jahrhunderts, also hier in Krieg, Gewaltherrschaft, Sklavenhandel hineingeschriebene kleine Insel „Utopia“. Aber sie wird, noch bevor sie von außen erobert wird, auch von innen zersetzt, sofern bereits unter den „Kommunisten“ neue Ungleichheiten (Zwangsarbeit Einzelner für Einzelne) und Parteiungen entstehen und so fort. Nur die betrunkenen Gesänge des „Paradise Nigger“ (ebd., 541), des letzten Überlebenden, erinnern später noch an sie. Auch das ist bezeichnend. Viel wichtiger und sprechender für den historischen Roman als explizite Utopien sind indirekte „utopische Funktionen“: „der Geschichts-Inhalt der Hoffnung“, „die Freiheit eines widersprechenden Gegenzugs gegen das schlecht Vorhandene“, „methodisches Organ fürs Neue“, „Anschluss an den Prozeß […] der bewusst hergestellten Geschichte“, „sich ins Bessere denken“ (Bloch 1967, 1.166, 168, 180, 198/ 199, 224, vgl. 129 ff.). Immer wieder sucht der historische Roman, so wie er in diesem Buch vorgestellt wird (und dafür ausgewählt wurde), jene „Offenheit der Geschichte für das zuvor nie Dagewesene“, wie sie gerade aus deren fiktonal ausgespieltem „diskontinuierlichem Kontinuum der Zeit“ und ihren „forttreibenden Widersprüchen“ hervorgehen kann (ebd., 53, 340, 390): Perspektiven, die in eine bessere Zukunft weisen (z. B. die Schlussvision in Dickens’ A Tale of two Diahistorien, Chronotopen, Utopien, Zeitaporie 209 <?page no="218"?> 210 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort Cities, 1859: „I see a beautiful city and a brilliant people“, 404; vgl. oben Kap. 4.2), zur Faktizität antithetische Folgerungen und Forderungen (das wäre zumindest eine Lektüre-Option zu Bert Brechts Caesar-Roman, vgl. unten Kap. 6.4.2), betont fiktive, ja theatralische oder rhetorisch-programmatische Verklärungen von historischen Gestalten zu Vorbildern (so bei Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger, aber etwa auch in Marguerite Yourcenars Hadrian- Roman, 1951 - das Exil drängt zu Anti-Historien in der Geschichte, vgl. unten Kap. 6.4), und v. a. eben geschichtssprengend oder doch ganz alternativ zu interpretierende Motive, Bilder oder Themen. Das gilt etwa - erinnert sei an das Motiv: Vögel zwitschern gegen den Krieg - immer wieder für Darstellungen der Natur: La nature est impitoyable; elle ne consent pas à retirer ses fleurs, ses musiques, ses parfums et ses rayons devant l’abomination humaine. / Die Natur ist unerbittlich; sie ist nicht bereit ihre Blumen zu verbergen, ihre Musik, Düfte und Sonnenstrahlen zurück zu nehmen angesichts der menschlichen Abgründe. (Victor Hugo, Quatrevingt-Treize, 375) Dieser Satz, dass die Natur eine freudigere, harmonischere zukünftige Welt verspricht als die Geschichte („l’irruption de la nature dans le social appelle le social à un devenir illimité“, Gohin 1987, 66), freilich nur der Möglichkeit nach und aus dem Kontrast heraus - eine Guillotine steht zwischen blühendem Heidekraut -, könnte als Kommentar zu Partien vieler historischer Romane stehen, von Enzos zerstörtem und neu sprießendem und blühendem Garten bei Manzoni (vgl. oben Kap. 2.4) über Balzac („cette scène que la nature avait fait si ravissante, et que l’homme rendait si terrible“ / „eine reizende Natur, von Menschen so schrecklich verwandelt“, Les Chouans, 927, vgl. 912 ff.) oder Döblin („draußen blühte der Frühling, herrlich über alles Denken“, drinnen plante man den Krieg, Wallenstein, 73) bis zum eigenrhythmischen Waterland, das bei Graham Swift vielleicht eine überlegene Geschichts-Zeit verkörpert (vgl. unten Kap. 8.2.1), oder zur exzentrisch alternativen, natürlich wuchernden Zeit-Insel, in der der Held von W. G. Sebalds Austerlitz (2002, vgl. unten Kap. 8.2.2) sich wünscht, dass er „in dem Frieden, der dort ununterbrochen herrschte, spurlos hätte vergehen können“ (119, vgl. ebd. ff.), und wo er eine nicht-traumatisierte kurze Lebenszeit, ja eine Phase der Anti-Historie verbringen kann: „von dem sogenannten Zeitgeschehen […] ausgeschlossen“, als ob „nichts von dem, was die Geschichte erzählt, wahr wäre“ (152). Immer wieder entwerfen im historischen Roman religiöse Themen und Werte zugleich einen durchaus immanenten Anspruch humaner Zukunft, von Arnim, Blicher oder Manzoni bis zu Feuchtwanger, Perutz oder Hilsenrath (vgl. oben Kap. 2.2-4, unten Kap. 6.4.3, 8.1.1 u. 8.1.4). Erinnert sei aber auch an die „imitatio Christi“ bei Faulkner oder das „demain Pacques“, das <?page no="219"?> „Ostern von morgen“ und viele ähnliche Perspektiven bei Aragon (vgl. unten Kap. 6.2 u. 6.3). Zumindest ist dies immer wieder eine gerade auf den historischen Diskurs im fiktionalen sozusagen „antwortende“ Nebenbedeutung: „Denn nichts erringen wir als die Zukunft“, wie Achim von Arnim paradigmatisch für die Gattung seine ihrerseits gerade von der Bibel, dem Buch Kohelet bzw. Prediger geprägte Quelle im Zitat ergänzt (Die Kronenwächter, 332). Nach den Entwürfen für seine Fortsetzung hätte das Kronenwächter-Projekt über einen Künstlerroman zu einem eschatologisch-utopischen Schluss, einer völligen Erneuerung der Geschichte, ja einer „komplexen Gesellschaftsutopie“ (Nitschke 2004, 237, vgl. v. a. 266 ff.) führen sollen: „Ein neuer Tag vom Geist der Kunst durchdrungen“ (Arnim 1989, 2.596, vgl. oben Kap. 2.3). Das ist romantisches Erbe, das Arnim bereits nicht mehr ausarbeitet. Für die Autoren des 19. Jahrhunderts bedeutete der Gedanke bzw. die diskursive Perspektive, dass der Möglichkeitssinn der Kunst im widersprüchlichen Dialog mit der Geschichte auch zu deren besserer Zukunft drängt, bedeutete diese ästhetische Geschichts-Utopie („l’art pour l’espoir“ / „Kunst für die Hoffnung“, Bloch 1967, 1.198, zugespitzter: die bloße „Offenheit“ des ästhetischen Spiels als Impuls, „die Welt gemäß der Kategorie Möglichkeit zu begreifen [und] zu sehen“, Eco 1977, 185) eine zu sprunghafte, alternative Antwort auf den historischen Diskurs, als dass sie ihr vertrauen könnten (zum Kontinuitäts- und Zweck-Prinzip des literarischen Realismus vgl. oben Kap. 4). Schon bei de Vigny scheint solche „vérité de l’art“, Wahrheit der Kunst (Cinq Mars, 22), sofern sie pro futuro verstanden werden sollte, in negative Ästhetik und ein abgeschottetes Gespräch kreativer Geister im Elfenbeinturm hinter verschlossenen Türen umzuschlagen (vgl. oben Kap. 2.5). In Wilhelm Raabes letztem historischem Roman Hastenbeck (1902), einem Gegenstück zu Das Odfeld (vgl. oben Kap. 4.7), sind es bezeichnenderweise Gestalten fragiler Porzellankunst des Rokoko, die fiktiv lebendig werden und als „der Welt Lieblichkeit“ (Hastenbeck, 213) gegen die unbeschönigt grausame Faktizität des siebenjährigen Krieges, „der Welt Vieheit“ (ebd.), protestieren. Aber dies tun sie bewusst meta-fiktional, aus Büchern und Sammlungen hervortretend, und in zuletzt ganz komödienhaftem, von der Gnade des Fürsten aufgelöstem Versöhnungsspiel. Deutlich utopische Bedeutung erhalten Themen und Motive erzählter Kunst dann im späteren zwanzigsten Jahrhundert: Louis Aragons La semaine sainte (1958, vgl. unten Kap. 6.3) ist wesentlich aus Bildern (die selbst historisch sind) heraus erzählt und arbeitet deren zeitdynamische Versöhnungs- und Innovationskraft heraus. Noch antithetischer zum deutschen Trauma nach 1945 zitiert und interpretiert etwa Siegfried Lenz in Deutschstunde (1968) die Kunst von den Nazis verfolgter Maler, sehr klar vor allem die Emil Noldes Diahistorien, Chronotopen, Utopien, Zeitaporie 211 <?page no="220"?> 212 Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort (vgl. z. B. Petersen 1995, 20 ff.) als Entwürfe möglicher, frei kreativer und human sensibler Zukunft: Die Farbe […] hat immer etwas zu erzählen (33). Keine Farbe ist neutral. […] Sie wird noch dauern […] wenn ihr alle [Nazis und ihre Handlanger] verschwunden seid (168/ 169). Hinweise, Zeichen, Andeutungen […], eines Tages, ich weiß nicht wann, in einer anderen Zeit wird alles sichtbar sein (237). Unsichtbare Bilder [die] enthielten alles, was er mitzuteilen hatte über die Zeit, da sei von allen Dingen bekenntnishaft die Rede (251). Weißt du, was Sehen ist? Vermehren. Sehen ist durchdringen und Vermehren […] gegenseitige Veränderung […]: wenn du etwas machst, ein Gesicht, ein Ding, dann mußt du die Möglichkeit dazuliefern, die es in sich trägt (322). Man muß immer wieder Anfänge machen […], einen klaren Tag […] und ein besseres Licht […] so viel Licht. (381, 29 u. 73). Freilich diese utopische Perspektive erzählter Kunst, in dieser Zitatcollage auch noch überbetont, ist unlösbar verbunden mit Skepsis aus historischer Erfahrung. Denn so wie diese Malerei bei Lenz, verboten, verbrannt, missverstanden und museal neutralisiert wird, noch die Erinnerungen an sie werden im Gefängnis niedergeschrieben, so kann - ausführliche Anmerkungen dazu unten (Kap. 7.2, 8.2.3 u. 8.4) - die Mitte des bedeutsamen Bildes in Alfred Anderschs Winterspelt (1974) nur tief ambivalent gelesen werden: „Plan“ einer Anti-Historie und „neuer, nie gesehener“ Welten, deren Mitte „vielleicht eine höchste Lichtquelle [sein kann], vielleicht aber auch bloß etwas Weißes, ein Nichts“ (271). Vergleichbar bleibt in Uwe Timms ROT (2002) die Alternative zur deutschen Siegessäulen-Geschichte offen, „Sprengstoff“ oder „Licht“ (102) oder ein bloßer Irrealis: „Vielleicht hätte sich Joseph Beuys der Berliner Siegessäule annehmen müssen.“ (96); und nicht weniger skeptisch, freilich auch jetzt produktiv skeptisch, ist in Don DeLillos Underworld (1997) das zeitintensive Drängen und Ziehen der Farben („they pushed and pulled“, 83), die das Kriegsgerät verwandeln sollen, eben in die Wüste verbannt: Das Eigentliche ist im Menschen wie in der Welt ausstehend, wartend, steht in der Furcht vereitelt zu werden, steht in der Hoffnung zu gelingen. Denn was möglich ist, kann ebenso zum Nichts werden wie zum Sein. (Bloch 1967, 1.285) Noch dieses ganz illusionslose Axiom der „Hoffnung“ folgt, konsequent fortgedacht, jener narrativen Tiefenstruktur (vgl. oben Kap. 5.1), nach der Zeit und Geschichte überhaupt erfahren werden können. Denn gerade die nur kontrafaktisch formulierbare Folge: „Sein“ oder „Nichts“, Utopie oder Aporie der Zeit, ist in der replikativen, widersprüchlichen Logik („à rebours“) der Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort immer schon mit vorgesehen. Das Offene seiner Poetik ist für den historischen Roman Voraussetzung seiner Konstruktionen. <?page no="221"?> Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. 1979. • Bachtin: Formen der Zeit im Roman. 1989. • Barthes: Das semiologische Abenteuer. 1988. • Barthes: S/ Z. 1976. • Baur: Romantheorie. 1997. • Bense: Die semiotische Konzeption der Ästhetik. 1977. • Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 1967. • Chandler: Semiotics. 2002. • Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. 1974. • Deines / Jaeger / Nünning: Historisierte Subjekte - Subjektivierte Historie. 2003. • Dubois / Dedeline: Allgemeine Rhetorik. 1974. • Eco: Das offene Kunstwerk. 1977. • Eco: Einführung in die Semiotik. 1972. • Eco: Semiotik. 1987. • Eco: Zeichen. 1977. • Genette: Die Erzählung. 1994. • Geppert: Bedeutung als unendlicher Prozess. 2003. • Geppert: Dreistellig-semiotische Erzähltheorie. 2009. • Geppert: Rhetorik und Literaturtheorie. 2005. • Geppert: Vom Erzählen, vom Lachen und von der Zeit. 2007. • Geppert: „Von einem einfachen Mann wird hier erzählt.“ 2006. • Greimas / Courtès: Sémiotique. 1979. • Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. 1993. • Jakobson: Poetik. 1979. • Kienpointner: Alltagslogik. 1992. • Koselleck: Vergangene Zukunft. 1989. • Koselleck: Zeitschichten. 2000. • Middeke: Zeit und Roman. 2002. • Nöth: Dynamik semiotischer Systeme. 1977. • Nöth: Handbuch der Semiotik. 2000. • Nünning: Die Rückkehr des sinnstiftenden Subjekts. 2003. • Peirce: Collected Papers. 1931 - 1960. • Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen. 1983. • Peirce: Semiotics and Significs. 1977. • Peirce: Semiotische Schriften. 2000. • Perelman / Olbrechts-Tyteca: The New Rhetoric. 1969. • Reinlein: Erinnern als Gesprächskultur. 2002. • Ricoeur: Zeit und Erinnerung. 1988-1991. • Ueding / Steinbrink: Grundriss der Rhetorik. 1986. • White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. 1991. • White: Die Bedeutung der Form. 1990. • White: Metahistory. 1994. • Zapf: Kurze Geschichte der angloamerikanischen Literaturtheorie. 1991. Diahistorien, Chronotopen, Utopien, Zeitaporie 213 <?page no="222"?> 6. Polyhistorien. Paradigmen der Moderne im historischen Roman. Döblin, Faulkner, Aragon, Heinrich Mann, Brecht, Feuchtwanger Seit Walter Scotts „Postkutschen“-Metapher oder den Architektur-Modellen bei Achim von Arnim oder Alfred de Vigny begleiten metapoetische Reflexionen selbstkritisch, oft, wie z. B. in Thackerays „secret ink“-Vergleich provozierend negativ die Tradition des historischen Romans (vgl. oben Kap. 5.3.3.3). Und Metapoetik impliziert immer schon die Möglichkeit von Pluralität. Die Reflexion „dies ist so und so konstruiert“ enthält nicht nur den Satz „das ist die Grenze dieses Entwurfs“, sondern auch die virtuelle Schlussfolgerung „man könnte es auch anders erzählen“. Der historische Roman der Moderne ist ein „polyhistorischer Roman“. Das ist lange vorbereitet (vgl. detailliert oben Kap. 5.3) und wird bei Döblin oder Faulkner oder in anderen Paradigmen dieser Moderne explizit freigesetzt. Der offene Raum von Funktionen öffnet die Zweckmäßigkeit des „realistischen Wegs“, dem die produktive Walter Scott-Rezeption im Wesentlichen gefolgt war (vgl. oben Kap. 3), aber er öffnet genauso auch die jeweils doch begrenzten Alternativen jener „großen Hypothesen“, wie sie immer wieder (vgl. oben Kap. 4) das 19. Jahrhundert in dieser Gattung prägten. Und dies ganz konsequent gerade dadurch, man denke an die Mythen der Gewalt und die bejaht absurde Friedenssehnsucht bei Döblin, die produktive Negation des Südstaaten-Mythos („one nigger Sutpen left“) bei Faulkner, das Thema „demain Pacques“ / „morgen eine Auferstehung“ bei Aragon oder die Utopien im Roman des Exils, dass solche Hypothesen voll ausgespielt werden. Dabei ist freilich, was ja nur konsequent ist, der erste Eindruck dieses modernen polyhistorischen Erzählens meist der einer Krise. Die Text-„Gewebe“-Metaphern beispielsweise, die William Faulkners Absalom, Absalom! (1936) durchziehen, z. B. die des „Erzählfadens“, „that meager and fragile thread“ (ebd., 207), verdichten sich eindrucksvoll zu dem folgenden, für die Moderne schlechthin paradigmatischen Krisen-Modell. The strings are all in one another’s way like five or six people all trying to make a rug on the same loom only each one wants to weave his own pattern into the rug; and it cant matter, you know that, or the ones that set up the loom would have arranged things a little better, and yet it must matter because you keep on trying or having to keep on trying and then all of a sudden it’s all over. (Absalom, Absalom! , 105) Besser als jede Theorie kann diese metapoetische Metapher die Aufhebung von Traditionen in der Moderne sichtbar machen. Mehrere verschiedene <?page no="223"?> Muster zugleich in einen „Text“ hineingearbeitet und jeder „Faden“ des Erzählens darin hat seinen eigenen Anspruch („you keep on trying“), seinen Zwang („having to keep on trying“), das Ganze undurchschaubar krisenhaft („the strings are all in one another’s way“) mit ungewissem Resultat („then all of a sudden it’s all over“): Sicher ist dies, es handelt sich ja um eine tief betroffene Personenstimme, die direkte Reaktion auf eine historisch gesellschaftliche und ineins damit familiäre Krise - der amerikanische Süden vor dem und im „civil war“ (vgl. unten Kap. 6.2), man könnte verallgemeinernd gleichsetzen: der (indirekt projizierte) Erste Weltkrieg, das Dritte Reich aus der Sicht des Exils, das deutsche Trauma nach 1945 -, all das zeigt sich verwirrend und zwanghaft zugleich: like trying to, having to, move your arms and legs with strings only the same strings are hitched to all the other arms and legs and the others all trying and they dont know why either except that the strings are all in one another’s way […]. (ebd.) Die Fäden von Marionetten nach widersprüchlichen Mustern in einen Teppich gewoben: Die „mixed metaphore“ bzw. eben Katachrese rahmt das metapoetische Modell von der einen Seite ein, ein ganz „harter“ Index bzw. eine minimale Metonymie von der anderen (zu den Begriffen vgl. z. B. oben Kap. 5.2, 5.3.1.2 u. unten Kap. 8.3): „It would be at least a scratch, something, something that might make a mark on something that was once“ (ebd., 105/ 106). Das bezieht sich auf die unmögliche („schwarz-weiße“) Liebeshandlung, die durchaus in der fortgeschrieben-aufgehobenen Walter Scott-Tradition (vgl. genauer unten Kap. 6.2) bedeutsam, hier freilich dekonstruktiv in die Historie, „that was once“ hineingeschrieben wurde. Man sieht, nicht nur geht Tradition über in Moderne - Faulkner sollte für alle, die sich mit dem historischen Roman beschäftigen, insbesondere Germanisten, zum Lektüre-Kanon gehören -, sondern eben auch die Darstellung von Krise und Trauma, hier ja geradezu zu historischem Determinismus intensiviert (der Einzelne als Marionette von Zeit und Gesellschaft), schlägt um in ein komplexes vielstimmiges Erzählspiel, das mit multiplen Perspektiven, mehreren Zeitebenen und -sprüngen, Alternativen (z. B. Judith, die hier spricht), Negationen und so fort im Ganzen das Belastende der Geschichte offen zu legen und für eine zumindest unbekannte „lebbare“ - „breathing, to know and to be alive“ (ebd., 171) - Zukunft zu öffnen sucht. William Faulkner: Absalom, Absalom! . Harmondsworth: Penguin, 1971. Polyhistorien. Paradigmen der Moderne im historischen Roman 215 <?page no="224"?> 216 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman 6.1 Alfred Döblin: Wallenstein (1920) Der moderne historische Roman ist ein „polyhistorischer Roman“ und Döblins ab 1915 konzipierter, 1916 bis 1919 geschriebener, „im Ersten Weltkrieg entstandener“ und so geprägter (Kobel 2003, 939 vgl. ebd. 955 f.), 1920 veröffentlichter Roman Wallenstein ist das erste konsequente Beispiel dieser Moderne. Daher konnte im Kapitel zur Poetik des historischen Romans (Kap. 5) fast durchgehend auf den Wallenstein verwiesen werden, von der hohen Differenzierungsintention des Anfangssatzes über die plurale Raumperspektive bis zur geradezu „sprengenden“ Metapoetik, ein „Narr“, wer eine Gesamtgeschichte „klecksen“ will, die auch den Behauptungswillen des sich durchsetzenden Erzählers immer schon überholt hat: Es geht um ein Erzählexperiment mit Geschichte, das prinzipiell offen ist. Aber diese Modernität stellt, auch das hat Kapitel 5 bereits gezeigt, genau gesehen nichts anderes dar als eine Intensivierung, Vervielfältigung und „fundamentalnarrativische“, aus den freien Möglichkeiten fiktionalen Erzählens neu konstituierte Erneuerung der Tradition. So lassen sich, auch wenn man diese Frage nicht überbewertet und natürlich nur retrospektiv (aus heutiger Sicht) stellen darf, durchaus Vorläufer, vielleicht sogar „Einflüsse“ angeben. An Achim von Arnim (Die Kronenwächter, Erstes Buch, 1817) erinnert vielleicht das In- und Gegeneinander von Historik und Phantastik, überhaupt das sehr bewusst Sprünge und Widersprüche suchende Erzählen und das Argumentieren aus Negationen heraus; aber beispielsweise die Mythisierungen sind ganz anders verfasst, und schon gar nicht gibt es die Forderung nach einem triadischen Geschichtsverlauf. Das Gegeneinander von „großer“ und „kleiner“ Geschichte findet sich exemplarisch bei Manzoni (I promessi sposi, 1827), gehört aber natürlich überhaupt zur Tradition des historischen Romans. Am klarsten lassen sich meines Erachtens einerseits französische Autoren und andererseits Tolstoj zum Wallenstein-Roman in Beziehung setzen. An de Vigny (Cinq Mars, 1826) erinnert die intensive Darstellung einer Machtpolitik und -diplomatie, die ins Absurde führt, das Sezieren exemplarischer religiös-ideologisch motivierter Sinnzerstörungen (der Ketzerprozess bei de Vigny), die expressive Szenerie, die semantisierte Architektur, das Aushalten der Möglichkeit eines Sinn-Nihilismus der Geschichte, gegen die ein prinzipieller ästhetisch-metaphysischer Vorbehalt angemeldet wird. Hier wie dort führt die Fabelkomposition ja dann auch zum ausdrücklichen Nichthandeln. Aber im Gegensatz zur Adels-Ideologie de Vignys fehlt die eindeutige politische Parteinahme, natürlich die Liebes-Intrige usw. Das unterscheidet Döblin genauso selbstverständlich von Dumas (père, La reine Margot, 1845): Aber die breite Darstellung der Hof-Intrigen, die Schizophrenie der Herrscher, die Verbindung von Macht und Scharlatanerie, die Kritik am aggressiven Katholizismus (Dumas’ Darstellung der Bartholomäusnacht steht Döblins Böhmen-Kapitel durchaus nahe) schaffen immerhin Gemeinsamkeiten. An Balzac - nicht an Les Chouans (1829), sondern an das Gesamtwerk - erinnert sehr deutlich ein Hauptthema: der Krieg als Geschäft und das Geschäft als Betrug, oder die Faszination durch Machtmenschen, die sich selbst zerstören; überhaupt ist der Vielheitsroman als multiples Epos einer Zeit hier weltliterarisch vorgebildet, - aber es fehlt strukturell wie thematisch so etwas wie Balzacs <?page no="225"?> konservativer Vorbehalt gegenüber der Geschichte einerseits, sein konstruktiver Pragmatismus „trotz allem“ andererseits und vieles andere mehr. Am deutlichsten tritt die Verwandtschaft mit Flauberts Salammbô (1863) hervor, zu der sich Döblin ja auch bekannt hat (vgl. z. B. überzeugend Wegner 2001, 99 ff.): das Thema einer unkontrollierten Eigendynamik des Krieges und der Macht, der große Selbstbetrug der historisch Handelnden, Massenszenen, Mythisierungen, die sich jeden Sinnanspruchs entleeren, die Effekte der Grausamkeit; aber für die bewusste historische „Entfernung“, das Suspendieren der gegenwärtigen Relevanz bei Flaubert hat Döblin kein Verständnis, es ist ihm „nicht genug“ (Döblin 1963, 338; vgl. dazu z. B. Scherpe 1990, 228 f., Huguet 1991, 137 ff. u. a.), und sicher ist sein „Stil“ dem Flauberts genau entgegengesetzt. An Tolstoj (Krieg und Frieden, 1872) schließlich erinnert nicht nur die schon erwähnte Kunst des Gegensatzes von szenischer Oberfläche und Geschichtstiefe, sondern auch der anschauliche Karten-Überblick, die Quantifizierung von Antrieben und deren Integration im Einzelnen, die Dynamik der ruhenden militärischen Macht, vielleicht auch der Gegensatz von Napoleon und Besuchow / Karatejew. Aber natürlich fehlen nicht nur die Kontinuitäten eigenwertiger, kommentierender privater Schicksale. Der kosmische Humanismus Tolstojs ist für Döblin eine universale Leerstelle, etwas, das vielleicht schweigend hinter allem stehen mag, aber immer vermisst wird. Ist nicht der „irre“ gewordene Kaiser, zwar auf dem Weg in eine vital sinnentleerte Natur, doch erfüllt von der Sehnsucht nach einer liebenden Welt? So diskontinuierlich, sprunghaft, polyhistorisch der Wallenstein erzählt ist („a dynamism with no specific direction, intrinsically contradictory and heterogeneous“, Hüppauf 1991, 81), es lassen sich gleichwohl mehrere, kontinuierlich den Roman deutende (also die entworfenen und die historisch bezeichneten Sachverhalte artikulierende und unter „Werten“, in Formen der Erkenntnis und Argumentation ordnende, vgl. oben Kap. 5.3.1) Diskurse von Anfang bis zum Ende hindurch verfolgen. Ein kontinuierlicher historischer Diskurs durchzieht den Roman, und zwar recht genau von 1621 bis 1637 zum (historisch freilich ganz anders dokumentierten) Tod Ferdinands II. und 1638, dem Kriegseintritt Frankreichs. Man könnte ohne weiteres eine Chronik und eine Sammlung von Dokumenten erstellen (vgl. inzwischen die Nachweise in der kommentierten Ausgabe von Kobel 2003, 853 ff., zum Tod Ferdinands II. z. B. 938), und das ist keine müßige Überlegung. Vielmehr ist das (eben aus der differenzierenden Zuordnung von Fiktion und Historie hervorgehende) Argument nicht beiseite zu schieben, dass alle Verallgemeinerungen, die Mythisierungen, die apokalyptische Schlussvision usw. historisch-metonymisch relativiert werden (vgl. oben Kap. 5.2). Es gibt immer schon implizite, Relevanz setzende Ereignisse, vom damaligen Westfälischen Frieden (den der Roman ausdrücklich nicht erwähnt) bis zur heutigen Unabhängigkeit der Tschechischen Republik, deren mögliche retrospektive Bedeutsamkeit die noch so zersprengten historischen „Fakten“ ordnet und die keine noch so mächtige Fiktion ausschließen kann. Gerade darum aber gewinnt umgekehrt im dialogischen Wechselspiel das freie, hypothetische Sinn- Alfred Döblin: Wallenstein 217 <?page no="226"?> 218 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman oder Nicht-Sinnangebot des Romans seine gerade bei Döblin so deutliche, auf die Situation 1918-1920 beziehbare („the experience of absurdity in the First World War“ etc., Hüppauf 1991, 83), aber prinzipiell auch je „heutige“, immer neue Aktualität. Anders gesagt: Der Autor - erinnert sei an die durchgehaltene Erzählerstimme, die räumliche Übersicht, auch die Kraft der Vision - Döblin stellt sich der Geschichte, auch wenn diese mehr sagt, als er darstellen kann, und gerade weil er ihren Sinn nicht kennt. Einen zweiten kontinuierlichen Diskurs bilden hier die politischen und diplomatischen Szenen und Gespräche. Der Roman wirkt auf lange Strecken wie ein zerdehntes, filmisch-episches Drama. Hier wird durchaus politische Arbeit dargestellt: Deren Bedingungen werden aufgezeigt (vgl. etwa 272-274 über die Geldmittel der Kriegsparteien), es gibt verantwortungserfüllte Regierungs- und Vermittlungsversuche usw., vor allem aber ein Knäuel von Ehrgeiz, Macht- und Besitzstreben, ein großes Aneinandervorbeireden, labyrinthisch verworren, mit satirischen Episoden (z. B. Kurfürst Johann Georg von Sachsen und sein Diener, 131 ff.), absurden Handlungslinien (etwa die Prätendenten auf die Kurpfalz, 138 ff.), wobei die meist ins Leere laufenden Beratungen („eine ehrerbietige stark verbitterte ratlose fast verzweifelte Runde“, 142) immer wieder sprunghaft und gewaltsam mit neuen Situationen konfrontiert werden. Der Fürstentag von Regensburg beispielsweise (1630; vgl. z. B. Kobel 2003, 952 f., sowie die Belege und Erläuterungen ebd. 895 ff.) ist vom völligen Gegeneinander der Diplomatie geprägt, „dumpfem Wiegen der Parteien, dumpfem Warten und Verharren“ (451); sowohl Maximilian von Bayern als auch Wallenstein bereiten einen Staatsstreich vor (429f., 439 f., 466), vielerlei Nebenhandlungen, aber auch der Triumph der Verblendung und Gewalt, die ausführlich erzählte Judenverbrennung sind eingefügt (471ff.). Und die Entscheidung, Wallenstein zu entlassen, erfolgt zwar machtpolitisch klar motiviert, aber im Verlauf ihres Zustandekommens völlig sprunghaft und fremdbestimmt: auf päpstliche Weisung an Ferdinands Beichtvater, der dazu den Kaiser einer Art Gehirnwäsche unterzieht, ihn „schänden“, die „Zertrümmerung“ von dessen Vernunft vornehmen und „das reine Gesicht […] verwüsten“ (462) muss. Hier beginnt dann - die politischhistorische Vernunft schlägt um in ihren fiktiven Nicht-Sinn - der Irrsinn des Kaisers. Doch vom V. Buch an danken Politik und Diplomatie überhaupt weitestgehend ab gegenüber der bloßen Gewalt. Diplomatie wird endgültig „ein gottloses Spiel“ (642), ist schließlich nur noch auf Mord gerichtet, die Politiker erkennen als ihre letzte Einsicht: „Man kann Gewalt nicht begrenzen.“ (722). So verselbstständigt sich - „keiner wusste, was da war“ (617) - die Dynamik militärischer Potentiale und Aktionen, eine Dynamik, die im Grunde niemand mehr kontrolliert. Ebenso autonom wirken die Massen, die sich bewegen und handeln, und mit deren Vision der Roman endet: <?page no="227"?> Unter die aufmarschierenden Heere der Kaiserlichen Sachsen Schweden Bayern gerieten von allen Seiten die losgelösten verzweifelten Volksteile […] Die Söldnermassen selbst brachen gegeneinander los, schlugen sich nieder, verfolgten sich, metztelten sich von neuem, Kaiserliche Sachsen Schweden Bayern. Im Westen hatten sich die Welschen gesammelt. Sie warteten in frischer Kraft auf ihr Signal, um sich hineinzuwerfen. (738/ 739) Natürlich beansprucht die Entwicklung Wallensteins selbst hier eigenes Interesse. (Und hier hat Döblin „keine Veränderungen“ seiner Quellen „vorgenommen, wohl aber die Akzente anders gesetzt“, Kobel 2003, 944). Sehr konsequent geht eine mehrmalige verfremdende Sicht „von außen“ in anschauliche hypothetische Beschreibungen, ja Sezierungen seines Inneren über. Die Außenperspektive setzt dreimal neu ein: Zuerst tritt Wallenstein anonym als ein „hagerer“, „spitzbärtiger“, raffgieriger böhmischer Oberst auf (102-104), dann wird er wie eine völlig fremde Romangestalt von seinen zukünftigen Partnern eingeführt („De Witte schlug“ einen Mann mit „einem anrüchigen Namen“ vor etc., 168). Und schließlich, in mythisierender Verfremdung, erblickt ihn der Erzähler selbst: „Nachdem es sich einige Zeit umgeblickt hatte, trat ein erschreckendes Wesen, der Fürst von Friedland, aus seinem Bau“ (188). Döblin charakterisiert Wallenstein in der ersten Phase seiner Laufbahn (Pacht der Prager Münze im II. Buch, 166 ff.) als geldbesessenen „Spekulanten“ (173) und Betrüger, vor allem als Spieler: „Friedland kannte von je nur das Spiel, dessen Drang wuchs mit der Größe der Einsätze“ (374), ein Spieler, der „unverfroren […] riesige Gelder“ zur politischen Bestechung einsetzt (215), der auch zu „furchtbaren Verlusten“ an Menschen (404) oder eben zum Staatsstreich bereit ist und so fort. Noch konsequenter aber wird schon früh und dann immer mehr ein „moderner“ Aspekt in Wallensteins Militär-Kapitalismus (199 ff.) umkreist: nicht nur ein historisch nie ralisierter Reichsabsolutismus „nach französischem Muster […] ein Land, ein König“, „der Kaiser über Deutschland und sonst nichts“ (382, 280); dahinter zeichnet sich vielmehr recht klar ein bedrückend gegenwärtiges Modell von Staatstotalität und Militärdiktatur ab, das teilweise faschistische Brutalität vorwegnimmt, teilweise stalinistische Perfektion: „das Heer solle […] das Reich platt hinlegen“ (268 u. 365), „eine Diktatur […] deren Gesicht und Ziele unkenntlich waren“ (388), „ein einiges deutsches Reich, eine einige Knechtung“ (391), dabei zwar der Anspruch, „welche große Kraft Deutschland innewohne, wenn es ein einziges Haupt habe“, aber auch die klare Sicht, dass eine solche „Despotie über Deutschland“ nur die eine „Sprache des neuen Herrschers“ kenne: „Armut Entrechtung Versklavung“ (391). Sieht man diese sehr klare Vision „vergangener Zukunft“ zusammen mit der noch anschaulicheren, mächtigeren eines totalen Krieges, dann geht das über Anspielungen auf wilhelminischen Militarismus und den Ersten Weltkrieg hinaus: Eine negative Utopie entsteht, ein Schreckbild, ein „Me- Alfred Döblin: Wallenstein 219 <?page no="228"?> 220 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman netekel“ (Kobel 2003, 939), das, gerade weil es noch nicht im historischen Kontext des Romans eingeholt wurde, als mögliches absolutes Futurum einfach „da“ steht. In der dritten Phase des Wallenstein-Diskurses holt die Romanstruktur dessen Ansprüche sichtbar ein; die Person zersetzt sich in Widersprüche. Hat dieser auserzählte Verfall, der auch ein ,Zersprengen‘ ist, dann nicht die argumentative Funktion einer Negation der Negation, die auch die erzählte Geschichte neu öffnet? Einerseits wird Wallenstein immer wieder als „gelähmt, blind“ gezeigt, er „alterte furchtbar“, war der „Gewalt des Todes“ konfrontiert (470, 546, 648) usw.; andererseits wirkt er „wilder und brutaler als je“, „ein Größenwahnsinniger“, für den „geradezu höllisch Verderb und Wachsen“ eins sind (575, 576); er verfolgt seinen Zentralismus militärischer Macht „so logisch wie ein Verhängnis“ (595), behauptet aber auch, als zitiere er ,sich selbst von Schiller‘: „Ich will einen ehrlichen beständigen aufrichtigen Frieden im Reich stiften.“ (645). Die Wallenstein-Gestalt und -Handlung, das eigendynamisch widersprüchlich sich befreiende Werkzeug der Reichspolitik, bleibt zuletzt bedeutungsoffen. Noch hinter der negativen Utopie bzw. Dystopie steht eine Leerstelle an Sinn. Es gilt festzuhalten, dass auch „Nebenromane“ hier ihre eigene Kontinuität beanspruchen. Löste man sie heraus, wären sie völlig konventionell in der Scott-Nachfolge erzählbar: etwa der Roman der pflichtbewussten, vielfach umhergetriebenen kurpfälzischen Räte Rusdorf und Pavel (die erstmals schon 27 auftreten, die beispielsweise in typisch romanesker Konstellation Augenzeugen sind, wenn die bayerische Armee gegen die Oberpfalz aufbricht, 88 ff., und die erst auf 641 verabschiedet werden, ausdrücklich als eine Art „Gewissen dieses Krieges“, 639), oder der absurde, aber auch abenteuerliche kleine Roman des alten Pfalzgrafen von Pfalz-Neuburg (43 ff.) oder die kontinuierlich immer wieder aufgenommene morbide Geschichte von der Hassliebe des Böhmen Slawata gegenüber Wallenstein, die vom zweiten Buch (191) bis fast zum Romanschluss (711-720) reicht, oder die (bei Scott, Blicher, Manzoni, Dickens vorgebildete) Geschichte der kleinen Leute, der Bürgermeister aus Niedersachsen, die am Hof ihr Recht suchen (300 ff.), wegen „Vergessen der Untertanenpflicht“ grausam bestraft werden (301) und als Bettler (311 f.) wieder heimziehen müssen, schließlich und vor allem die immer wieder aufgenommene Skizze einer Geschichtsdarstellung aus der Sicht der Prager und anderer Juden, die mit ihren Hoffnungen beginnt (180 ff.) und mit den „Angriffen“ der enttäuschten Böhmen „auf die Judenstadt“ (552) endet, eine Geschichte, die Feuchtwanger, Perutz, Hilsenrath in ihrer Darstellung des alltäglichen bis fanatischen Antisemitismus („O heiliges jüdisches Reich deutscher Nation“, „daß man sie nicht samt und sonders erwürgt“, 306, 442) vorwegnimmt, ja teilweise bereits überbietet. <?page no="229"?> Man sieht, die Auffassung, dass im Wallenstein „die reale historische Zeit aufgehoben (wird in der) Beschwörung einer zeitlosen Welt“ (D. Mayer 1972, 51 u. 188), oder auch die, dass dies „nicht, wie es nahezu topoihaft in der Forschung immer wieder betont worden ist, ein historischer Roman“ sei, dass es vielmehr auf „Artifizialität, Serialität, Diskontinuität, Groteske usw.“ ankomme (Moser 2003, 178 f.), dass solche beliebig zu vermehrenden Deutungen zu kurz greifen. Döblins „Geschichtsroman“ ist „Auseinandersetzung der gegenwärtigen mit der vergangenen Realität, um eine komplexere Realität, als sie die Gegenwart allein oder die Vergangenheit allein wiedergeben kann, zu erfassen“ - eine weit über Döblin hinaus fruchtbare Einsicht -, und dazu gehört auch die plurale, widersprüchliche, aber durchaus konstruktive „Perspektive des im nachhinein überschauenden Historikers“ (Wichert 1978, 212 u. 22). „Wallenstein, in form at odds with itself, forces the reader“ neben vielem anderem auch dazu, „to connect and integrate […] the characters’ psychological developments as well as the political intrigues imbricated with events of war“ (Donahue 2004, 89). „Fraglos ist die historische Zeit der dominierende Zeitmodus des Romangeschehens (und) Wallenstein ist insofern ein historischer Roman im strengen Sinn“ (Quack 2004, 918 u. 2009). Es bleibt freilich die Frage, wie sich der „antihistorische Roman“, der allein Wallenstein „keineswegs“ ist, zum „historischen Roman“ verhält, der er, und zwar bewusst „als literarhistorische Provokation“ eben auch ist (Scherpe 1990, 227). Zum Auffallendsten in Wallenstein gehören die Tier-Metaphern und die Mythen. Sie sind im wörtlichen Sinne „problematisch“ entworfen, sofern sie nicht nur das Überwältigende oder doch Rätselhafte der Ereignisse sichtbar machen, sondern, geradezu im logischen Verständnis von „problematisch“, nach falsch und richtig nicht zu interpretieren sind. Insofern sind sie plural motiviert, funktional hypothetisch auf die historischen Ereignisse bezogen und lösen sich in ihrer Bildhaftigkeit auch ganz konsequent auf - was verblüffend genau das „Spiel der Zeichen gegen die Geschichte“ in der Postmoderne vorwegnimmt (vgl. unten Kap. 8.3, v. a. etwa die Bedeutung des „Mythos“ in Michel Tourniers Le roi des aulnes, Kap. 8.3.1). Man kann die Entstehung dieser Mythisierungen jedesmal genau verfolgen: Die Teufelsmythen etwa entstehen kollektiv aus dem Volksglauben und sind bei aller phantastischen Anschaulichkeit Vergrößerungen eines allgemeinen Sinndefizits. Umgekehrt Analoges gilt, als Ideologisierung mentaler Macht, für die Verlebendigungen religiöser Bilder und Rituale (etwa für Ferdinands Beicht-Exerzitien oder für Maximilians Selbstgeißelung). Als Verdichtung naturwissenschaftlicher Einsicht dagegen, die phantastisch-dämonische Größe erhält (naturalistisch-poetisches Vorbild war vielleicht Zola mit seinen großen Krankheits-Metaphern für das Zweite Kaiserreich), zeigt sich die Erzählung von der Entstehung der Seuche, die sich aus den Sümpfen erhebt, die „Mücken und Stechfliegen“ vital grausam wachsen lässt, dann die Menschen erfasst und zur Riesen-Metapher in praesentia (Bild und Gegenstand zugleich) von Pest und Krieg gerät (92 ff.). Am wichtigsten freilich sind die Mythisierungen, die der Erzähler selbst vornimmt. Man kann erst recht ihre Entstehung beobachten, Döblin Alfred Döblin: Wallenstein 221 <?page no="230"?> 222 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman inszeniert sie geradezu: Spontane, vitalistische Metaphern durchziehen den ganzen Roman von den ersten Seiten an („Fürst Caraffa“ ein „kopfhängerischer Büffel“, „als wäre die Reihe der Herren am Tisch ein Wurm“, 9, 12), sie treten oft nur einen Augenblick hervor (z. B. Wallenstein und seine Kompagnons „werfen sich auf den Handel mit der niedertretenden Wucht einer Stierherde“, 109, das Meer, „das graue weißzottelige, schäumende Untier“, 375), wachsen aber auch nach und nach zu visionärer Größe heran, zum erstenmal, nachdem die Raubtiermetapher mehrmals verwandt worden war, am Ende des Ersten Buches: In München, in der Residenz, saß der Melancholiker Maximilian, äugte nach allen Seiten. Saß über seiner Beute. […] Er knurrte fauchte sprühte. Das Blut troff in zwei Rinnsalen aus seinen Mundwinkeln, bildete Lachen auf dem Boden, indessen seine Hinterbeine schon zum Sprung eingezogen waren, die Vorderpranken locker; der Atem rauschend. (143) Aber so eindrucksvoll dieses Bild einen Abschnitt lang ist, so schnell wird es wieder verlassen („Er warnte den Kaiser, er möge auf der Hut sein“, ebd.). Der noch länger durchgehaltene Drachen-Mythos für Wallenstein dagegen entsteht aus einem „Traumgesicht“ Ferdinands wie in einem phantastischen Film (220 ff.: „dann lag es am Himmel, über der Erde, etwas Schwarzes, Breites, langsam Bewegliches […] ein Tausendfuß, unter dessen Bauch er ritt“); erst danach tritt die zentrale mythisierende Vision der beiden großen Generäle der zwanziger Jahre auf (243 f.). Tilly wird gleichsam „synthetisch“, ja „kubistisch“ mythisiert: Aus den „tausenden erschlagenen Menschen“, „verstümmelten Regimentern“, „Vernichtung von Städten“, „ausgerotteten Dörfern“ baut sich eine Art Leib auf, „über seine Schultern schoben sich her, zappelten die Körper der gemetzelten Türken, der Franzosen, der Pfälzer“, bis er wie ein Riesentier dasteht, „ein Mammut belastete er den Boden“. Und ihm entgegengesetzt scheint dann auch der Drache Wallenstein, der Bildlogik folgend, aus der Vision einer Romanperson in die des Erzählers zu treten: Der Friedländer ihm gegenüber, ein gelber Drache aus dem böhmischen blasenwerfenden Morast aufgestiegen, bis an die Hüften mit schwarzem Schlamm bedeckt […] mit dem prallen, breiten Rumpf in der Luft sich wiegend, die langen Kinnladen aufgesperrt und wonnig schlangenwütig den heißen Atem stoßweise entlassend, mit Schnauben und Grunzen, das zum Erzittern brachte. Hinter ihm vierundzwanzigtausend Männer. (244) So wie das Bild sich hier in der Tat verselbständigt, so tritt der „Drache“ immer wieder als die Illusion einer Präsenz auf, als „widriges feuergeglühtes Geschöpf“, „nackter Leib der Gewalt“ (290, 292) usw. Aber es ist völlig konsequent, dass diese Mythisierung Wallensteins immer mehr auf Ferdinands Vision begrenzt („und wieder […] das Reptil“, 633), ja bei ihm zu einer Art <?page no="231"?> ,mythischer Reminiszenz‘ wird: „Und plötzlich schüttelte er sich, erinnerte sich des dicken Tausendfußes, des Drachen Wallenstein“ (588). Mit dem sich vollendenden Wahnsinn Ferdinands, den er als „tiefe Ruhe“ und „sonderbares Glück“ empfindet (675), verschwindet auch die Drachen-Vision aus dem Roman: „Er sah auf, kein Tausendfuß, kein ekliger Bauch war über ihm. Er kicherte.“ (699). Diese Mythisierungen gelten also nicht einfach. Die Massenbewegungen im letzten Teil werden nicht mehr in solche Bilder gefasst; auch der Tod Wallensteins wird historisch, allenfalls dramatisch, aber ohne jeden mythisierenden Apparat dargestellt. Die Realität ist noch unfassbarer als jede mythische Totalisierung. Aber sie ist kein irgendwie mythisches Geschick. Zusätzlich relativiert wird diese in den Tier-Metaphern und -Mythen entworfene Naturalisierung, begrenzt wird sie nicht zuletzt auch dadurch, dass auch „Natur“ allgemein hier sehr verschieden bedeutsam werden kann. „Natur“ wird genauso plural semantisiert wie „Geschichte“. Punktuell, aber genau genug und im Kontrast zu den absurdesten und schockierendsten Kriegsaktionen wird beispielsweise immer wieder eine geradezu rousseauistisch-romantische Natur angesprochen, ein Naturschönes, das man gar nicht anders lesen kann als von Sehnsucht nach einem ,goldenen Zeitalter‘ erfüllt. Wie bei Arnim im utopischen Ort die „Vögel in ewigem Frieden (singen) und die Blumen keinen Winter […] kennen“ (Die Kronenwächter, 84, vgl. auch oben Kap. 2.3), so heißt es bei Döblin: „Draußen blühte der Frühling, herrlich über alles Denken“, während ,drinnen‘ die Entscheidungen fallen, die bedeuten: „das ist Krieg“ (73, 66), „der blendende Maienhimmel vom jungen Grün, von weißer Apfelblüte“ blickt an anderer Stelle auf ein „zerschmettertes“ Heer (96) usw. - deutlich vergleichbar dem oben (Kap. 4.3 u. 5.4) zitierten Romananfang bei Victor Hugo („die Vögel zwitscherten über den Bajonetten“) oder dem Kontrast der lieblichen Landschaften in Kapitel 1 bei Manzoni mit ihrer späteren Verwüstung in Kapitel 30 bis hin zur berühmten zweimaligen Beschreibung des idyllischen und des verwüsteten Tully-Veolan in Walter Scotts Waverley. Besonders deutlich kontrastieren die Natur-Bilder beim Massaker Magdeburgs: einerseits ein „blauer süßer Maientag“, „blütendurchhaucht“, „alles war zum Leben hingebreitet“ und andererseits „das knurrende Untier aus der unkenntlichen Finsternis“ (502), ein Ur-Kontrast von Natur und Geschichte, der fast genauso noch in Kurt Vonneguts Slaughterhouse 5 (1969) evoziert werden wird (vgl. unten Kap. 8.1.2). Wenn man diese Stellen also als momentane Erinnerungen / Evokationen eines „Sinnes in absentia“ liest, dann eröffnen sie für den Wallenstein-Roman eine sehr konsequente Poetik. Auch Ferdinand wird, wenn seine Orientierung an einem Prinzip „Frieden durch Macht“, „Frieden durch Politik“, in der Gehirnwäsche der Beichte, der „Zertrümmerung“ seiner Vernunft (462) zusammenbricht und sein Wahnsinn („der Kaiser schien zu derilieren“, 463), Alfred Döblin: Wallenstein 223 <?page no="232"?> 224 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman aber auch eine neue, ganz passive „Phantasie des Friedens“ (480) beginnt, genau an diesem Wendepunkt seines eigenen Romans wird auch er als „sprießendes, blütenrauschendes Wesen“ (384) bezeichnet, als „ein Kirschbaum, der nach einem Mairegen plötzlich sich in einen weißen lieblichen Blütenträger verwandelt“ (455), so, als identifizierte er sich mit dem Sehnsuchtsbild des Erzählers. Vergleichbares gilt für andere romantische Motivik: „Wie ein Kind“ erscheint der Kaiser mehrmals (455, 483), - „wo Kinder sind, ist ein goldenes Zeitalter“, schreibt Novalis, und das unterschrieben Arnim, Dickens, Victor Hugo, noch beispielsweise Edgar Hilsenrath in so dunklen Romanen wie Nacht (1964) oder Das Märchen vom letzten Gedanken (1989, vgl. unten Kap. 8.1.4) -; genauso, aber nur ganz abwesend, ganz negativ wird dasselbe Symbol bei Döblin evoziert, wenn den Soldaten und ihrer Bewaffnung, darunter „die eingemauerten Eisenmenschen, die Kürisser“, „die Kinder vor den Kellertüren“, die „Säuglinge“ usw. entgegengesetzt werden (288), oder wenn es an anderer Stelle bei einer der vielen Invasionen heißt: „Die Kinder konnten spielen, Pferdehufe und Kavallerieregimenter unterschieden nicht zwischen Steinen und Knochen“ (311), oder wenn die letzte Tat Ferdinands wie die des alten Marquis bei Victor Hugo oder die Besuchows bei Tolstoj der Versuch ist, ein „Kind“ (731) zu retten. „Keine Liebe, kein Traum“ (311) - das sind weitere romantische Stichwörter - halten der historischen Realität stand: Das gilt für Ferdinands Liebes- und Friedensbedürfnis genauso wie etwa für die lange, grausame Beschreibung der Judenverbrennung (439 ff.), in die die Frau nur aus Liebe hineingeraten ist (für einen sprechenden Moment nimmt der Erzähler ihre Perspektive ein: „Jetzt war ihr Geliebter geschwunden“ und scheint noch ihren „erstorbenen Blicken“ gestisch zu antworten, 455). Wirkt dann nicht auch die ähnlich grausame Belustigung, wenn „zwei Menschen“, wie es ausdrücklich heißt, sich buchstäblich zu Tode „boxen“ (394 ff.), wie die Evokation einer „humanitas in absentia“? Aber das sind nur Punkte von Erinnerungen an Sinn in Augenblicken, die den totalen Sinnverlust nur um so deutlicher machen. Das letzte Wort im Roman beziehungsweise das vorletzte gegenüber der Vision eines totalen Krieges („Der letzte Absatz des Wallenstein führt wieder zurück, aus dem Traum vom friedlichen Leben in die Realität des Krieges“, Wichert 1978, 222), auf alle Fälle eine wichtige Bedeutung im Diskurs, der mehr sagt als Text und Geschichte (vgl. oben Kap. 5.3), hat eine Leerstelle an Sinn, wie sie ähnlich konsequent etwa die letzte „Arbeit am Nichts“, L’Œuvre au Noir mit und gegenüber einer multipel und widersprüchlich erzählten Geschichte in Marguerite Yourcenars gleichnamigem Roman (1968) zu Ende führt: Der Held beobachtet in erlebter Rede seinen eigenen Tod, und dieser „refus […] in aeternum“ (Verweigerung auf ewig) eröffnet „un jour aveuglant qui était en même temps la nuit“ (einen blendenden Tag, der zugleich die Nacht war, 434 u. 443). Man könnte auch an das zielbewusste Verschwinden Mazzinis in <?page no="233"?> Nacht und Eis, das Ovids im toten Stein in historischen Romanen Christoph Ransmayrs denken (Die Schrecken des Eises und der Finsternis, 1984, Die letzte Welt, 1988, vgl. unten Kap. 8.3.3). Das „antihistorische“ Ende des Wallenstein vor dem „historischen“ und ganz sinnlosen, entwirft eine leere Alternative gegenüber der Geschichte, bestenfalls ein Offenhalten ganz unbestimmt „anderer“ Möglichkeiten: In dieser Leerstelle an Sinn laufen die plurale Poetik des Romans, die Übersicht und Selbstbehauptung des Erzählers und die Entwicklung des Kaisers zusammen. Ferdinand wird gleich mehrfach vom Erzähler privilegiert: Er hält sichtbar Anfang und Schluss zusammen, wenn einer, dann ist er die Romangestalt, die „ganz nah“ an die Historie heranführt, um sie zugleich von Anfang an und erst recht am Ende (dass der Kaiser Ferdinand II. verschollen endet, ist Döblins Erfindung) völlig frei zu „durchstoßen“ (Döblin 1963, 132), er eröffnet die am konsequentesten subjektive Sicht der Geschichte, er steht noch näher als Wallenstein zum Zentrum der erzählten Handlungsstränge, vor allem durchschreitet er (wie ein radikal ,umgedrehter‘ Bildungsheld) alle Schichten der Gesellschaft von der höchsten zur niedrigsten Stufe; sein Wahnsinn formuliert die negative Bedeutungskurve aller Handlungsstränge auf seine Weise aus („es […] dachte [in ihm], wodurch werde ich zu solchem Wahnsinn getrieben? “, 671), insbesondere identifiziert er sich zuletzt vollständig und rückhaltlos mit den Opfern der Geschichte: In die wandernden Scharen der Landesflüchtigen, in die Verödung der Landschaften geriet Ferdinand hinein […] Er strudelte mit den Bettelnden Hungernden Plündernden. Ferdinand, längst schmierig wie sie, aß Fleisch von gefallenen Pferden wie sie, lief vor hetzenden Hofhunden. (727) Die letzte Phase seines Lebens verläuft wie eine rätselhafte Parabel, er lebt geradezu die radikale Suche nach einer Alternative: beteiligt sich an Aufständen, begegnet inkognito dem „kläglichen Holzsarg“ Wallensteins (729f.) - eine Szene fast selbstreferentieller theatralischer Zuspitzung -, sagt jeder Form von Gewalt ab, will nur noch einen leeren „Raum“, „Sanftheit und Stille, worin er Platz nehmen wollte“ (730), wird verschiedentlich gefangengenommen, gefoltert; aber „als wäre er alle Sorgen losgeworden“ (732), wächst seine Fröhlichkeit bei alledem, er „lacht“ und „lacht“ und ruft „fröhlich, fröhlich“ (733). Ganz zuletzt findet er sich im „grünen Wald. Es war sonnig. Er suchte sich zu heilen“ (734). Das Naturschöne, an das der Erzähler immer wieder punktuell erinnert hatte, streift den wahnsinnigen ,Helden‘ des Romans einmal ganz subjektiv als etwas, das „tief beglückt“ (737), zum anderen anschaulich, aber lediglich als alternativer Raum: „der Wald, der Grund eines weiten Meeres“ (734), in dem ein kindliches, wildes „Tierwesen“, ein „Waldmensch“, letzte Verkörperung der Narren, der grotesken Spiegelungen der Macht und zugleich letzte Fortsetzung seines eigenen Wahnsinns (er Alfred Döblin: Wallenstein 225 <?page no="234"?> 226 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman schien „ein vollkommener Narr geworden zu sein“, 732) schließlich in fast erotischer Weise „den erschauernden freudvoll Blickenden“ ermordet (738). Dem Wallenstein kommt man nicht mit „entweder-oder“-, aber auch nicht mit „weder-noch“-Argumenten bei. Darin ist er ein konsequent moderner, die Differenz von Fiktion und Historie dynamisch ausspielender, „polyhistorischer“ historischer Roman. Wie die Schreckensvisionen und negativen Utopien durch den sicheren historischen Diskurs historisch-metonymisch begrenzbar sind, aber auch in ihrem fiktionalen Möglichkeitssinn freigesetzt werden, wie Döblin anschaulich die Zerstörung von Politik erzählt, dem aber auch in der Wallenstein-Handlung eine Negation der Negation entgegensetzt, wie es eine mythische Naturalisierung von Geschichte gibt, aber auch eine anti-historische Sehnsucht nach Heilsnatur in absentia, ex negatione, wie der Erzähler sich durchweg behauptet, dem aber von Anfang an die Metapoetik des „Geschichtsnarren“ entgegensteht, so scheint sich am Ende des Romans ein Subjekt von Geschichte zu verabschieden, aber auch eine Art Opfer zu vollziehen zugunsten von etwas Unbekanntem, das dann nur etwas unbekannt Neues sein könnte. Alfred Döblin: Wallenstein. Roman. München: dtv, 1989. Ders.: Wallenstein. Roman. Kommentierte Gesamtausgabe. Hg. von Erwin Kobel. München: dtv, 2003. Döblin: Aufsätze zur Literatur. 1963. • Donahue: The Fall of Wallenstein, or the Collapse of Narration? 2004. • Huguet: De l’histoire au mythe. 1991. • Hüppauf: The Historical Novel and a History of Mentalities. 1991. • Kobel: Anhang. 2003. • Mayer: Alfred Döblins Wallenstein. 1972. • Moser: „Durch seinen Traum hatte sich das Schaurige Betäubende gewaltig und fessellos geschwungen“. 2003. • Quack: Geschichtsroman und Geschichtskritik. 2004. • Scherpe: „Ein Kolossalgemälde für Kurzsichtige“. 1990. • Wegner: Erzählte Geschichte. 2001. • Wichert: Alfred Döblins historisches Denken. 1978. 6.2 William Faulkner: Absalom, Absalom! (1936) Der Titel (er spielt an auf das Alte Testament, 2. Buch Samuel, 13 bis 18) umreißt eine rätselhafte Parabel, eine Geschichte zerbrechender Werte: Inzest, Brudermord, Kampf des Sohnes gegen den Vater, Krieg und Tod. Und von Anfang an wird in Faulkners Roman ein bizarrer Mythos angekündigt („the man-horse-demon“, 6), der sich schnell zum Handlungsrahmen einer sich zerstörenden Familie erweitert (vgl. 7). Genauso direkt jedoch tritt auch von Anfang an der historische Fokus hervor: „the deep South dead since 1865“ (6) oder „the South since 1861“ (15). Dass es sich um einen historischen Roman handelt, eine fiktive Familiengeschichte, nicht nur vor dem Hintergrund, sondern als bewusste, genaue Reflexion des amerikanischen Bürgerkriegs und seiner Bedingungen, ein Trauma („a haunting remanence“, Bleikasten 1991, 50, „traumatic memory“, Duck 2003, 89), das im Roman so präsent ist wie die <?page no="235"?> Erinnerung an ein eben überstandenes Fieber, all das steht sehr schnell außer Frage. „In no other novel is Faulkner so consciously aware of history as history, of not only recounting the facts and quasi facts of history but also of attempting to order them, to understand them, to ask why? “ (Justus 1998, 150). Aber mit aller Wucht wird in diesem Erkenntnisrahmen auch die Komplexität entschieden modernen Erzählens ausgespielt („history is both a subject matter […] and a source of experimental form, language and structure“, Bevilacqua 1991, 255), so dass Absalom, Absalom! neben Döblins Wallenstein in der Tat als Paradigma dienen kann für eine Poetik des historischen Romans (vgl. oben Kap. 5). Der Roman aktiviert von Anfang an die Erkenntnisarbeit seiner Leser. So kann man etwa die Handlung erst nach und nach aus sprunghaft, diskontinuierlich, zeitversetzt, vielstimmig und widersprüchlich übermittelten Details zusammensetzen, aber am Ende ist ihr Verlauf so klar, wie ihre detaillierte Chronologie schlüssig ist (vgl. 313 f.). „Whatever its intricacies, obscurities, and uncertainties, Faulkner’s novel is still […] a historical novel with realistic commitments“ (Bleikasten 1991, 50). Thomas Sutpen, ein „self-made-man“, hatte seine erste Frau und ihren Sohn wegen eines „little spot of Negro blood“ (254) verlassen und versucht, in Jefferson, Mississippi, eine „aristokratische Dynastie“ zu begründen. Er heiratet ein Mädchen aus respektabler Familie, hat einen Sohn und eine Tochter, baut eine Plantage und ein großes Herrenhaus. Verwicklungen zwischen seinen Kindern (Freundschaft, inzestuöse Neigungen, persönlicher Ehrgeiz, Familienehre, rassistische Vorurteile) führen dazu, dass der „weiße“ Sohn Henry den nur noch nominell „schwarzen“ Charles Bon erschießt, danach flieht, sich später im Herrenhaus Sutpens Hundred versteckt. Sutpen versucht erfolglos, eine Dynastie zu gründen, und wird schließlich, weil er ein armes weißes Mädchen beleidigt, das ihm „nur“ eine Tochter geboren hat, von deren Vater erstochen. Seine Töchter, eine weiß, die andere schwarz, versuchen, die Familie zusammenzuhalten, aber nur die schwarzen Nachkommen überleben, bis hin zum schwachsinnigen Urenkel Jim Bond. Der Besitz verbrennt. Nach dem Tod der letzten Augenzeugin Rosa Coldfield versucht Quentin Compson, Enkel von Sutpens Freund, die ganze Geschichte aus Erzählungen und Erinnerungen zu rekonstruieren. Der Roman ist die Versprachlichung dieser Rekonstruktion. Die Erkenntnisintensität dieses komplexen Erzählens, ein ständig neues Wechselspiel von produktiv ausgespielter Differenz von Fiktion und Historie und genauen Zuordnungen beider, in der Tat eine immer neue dynamische, dialogische Spirale, prägt bereits den Anfang des Romans. Der Modus der fernen Erinnerung, unterstrichen durch die intensive Gegenwartsatmosphäre - staubig, heiß, von gealterter, frustierter Leidenschaft geprägt - verdichtet sich fast zur Suspension jedes Urteils („her voice would just vanish“, 5), so zwanghaft eindrücklich dieses auch geäußert wird. So steht gegenüber dem früh festgelegten (historischen) Fokus und (fiktiven) plot eigentlich sofort nicht nur Miss Rosas Werthorizont, ein Denken in Schuld und Sühne in Fra- William Faulkner: Absalom, Absalom! 227 <?page no="236"?> 228 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman ge, sondern auch Quentins eigenes, erstes, noch halb passives Deutungsschema einer großen Katharsis kündigt sich als hilflos an: „only through the blood of our men and the tears of our women could He stay this demon“ (8). Alles wird in „Stimmen“, Erinnerungen, subjektiven Empfindungen und Rekonstruktionen erschlossen, aber zugleich bedeutet dies eine Krise solcher Subjektivität. Denn nicht nur Miss Rosa erzählt aus ihren Verletzungen heraus und verzerrt mit ihren Erinnerungen - „the long dead object of her impotent yet indomitable frustration would appear, as though by outraged recapitulation evoked“ (5) - auch ihr eigenes Ich; erst recht traumatisiert ist das zentrale „personale Medium“ dieses Romans selbst. Man kann Quentin ja aus The Sound and the Fury (1929) kennen und wissen, dass er vom Romanbeginn am 9. September 1909 nur noch bis zum 2. Juni 1910, dem Tag seines Selbstmords, zu leben hat - ein drastisches Signal. In Absalom, Absalom! wird das frühere familiäre Trauma Quentins, das auch jetzt noch ab und zu anklingt - sein Interesse an einem „pure and perfect incest“ (79, vgl. auch 267 ff.), seine emotionale Identifikation mit Henry Sutpen: „I will believe! […] Whether it is true or not, I will believe“ (91) und noch mehr mit dessen Schuld, „Nevermore of peace. Nevermore of peace. Nevermore Nevermore Nevermore“ (307, „Quentin sees in Henry a foreshadowing of his own fate - to die guilty and alone“, Bauer 2005, 122) -, das Private wird zu einem historischen Trauma erweitert. Der sensitive, aufmerksame Junge aus dem Süden, 24 Jahre nach der Niederlage geboren, „too young to deserve yet to be a ghost, but nevertheless having to be one“ (6), ist fest und quälend mit dessen Vergangenheit belastet: His very body was an empty hall echoing with sonorous defeated names; he was not a being, an entity, he was a commonwealth. He was a barracks filled with stubborn back-looking ghosts still recovering, even forty-three years afterwards, from the fever which had cured the disease […], looking with stubborn recalcitrance backward beyond the fever and into the disease with actual regret. (9) Die Stelle ist über den Hinweis auf Quentins „historisches Trauma“ hinaus, das der Romanschluss unterstreichen wird, noch mehrfach weiter interessant. Sie zeigt, dass Quentins Subjektivität in ihrer Dissoziation - „two separate Quentins now talking to one another in the long silence of notpeople, in notlanguage“ (6) -, dass dieses tief problematische rezeptive Ich auf die Stimme und das Urteil des Erzählers angewiesen ist. (So sollte man in der Tat von „metaficion [with] caution“ sprechen, Herget 1989, 37.) Und daraus folgt ein prinzipieller Vorbehalt gegenüber allen diesen personellen Erzählerstimmen und ihren „alten“, überholten Prämissen. Auch das so auffallend klare eigene Urteil des Erzählers in der zitierten Passage: Der Krieg war nur das Fieber, krank waren die alte Südstaaten-Gesellschaft und ihre Überzeugungen, ein Urteil, das übrigens auch die historische Relevanz der fiktiven Handlung unterstreicht, <?page no="237"?> denn ein „feverish violent defeat“ charakterisiert sicher auch Sutpen und seine Familie, diese so explizite Geschichtsdeutung gleich am Anfang des Romans erhält geradezu eine metapoetische und metahistorische Dimension. Doch wie die ganze Anfangspoetik des Romans treibt sie die genaue, konzentrierte Fragefunktion dieser Geschichtsdifferenzierungen heraus. Sie sagt vor allem, dass diese ganze um Quentin kreisende Erinnerungs- und Erzählpoetik historisch interessant ist, so wie eigentlich von Anfang an auch nur festgestellt wurde, dass es sich um einen historischen Roman handelt. Auch Quentins eigene, im Grunde ja ihrerseits bereits metapoetische Reflexion über die Erzählerin Miss Rosa kommt über ein prinzipielles Interesse eigentlich nicht hinaus: „she wants it told, he thought, so that people […] will read it and know at last why God let us lose the War“ (6). Der Romananfang öffnet die Erkenntnismöglichkeiten seines modern „polyhistorischen“ Erzählens über jedes Einzelbewusstsein von Personen hinaus, aber dies geschieht in einem prinzipiell aufklärerischen Interesse („to reach historical experience in and beyond language“, Herget 1989, 37), das vor allem die historische Deutungsrelevanz dieser Fiktion nie aus den Augen zu verlieren erlaubt. Was für Quentin „that logicand reason-flouting quality of a dream“ (18) haben mag, kann und soll in der Erkenntnis der Leser Entscheidungen und neue Perspektiven ermöglichen. So nimmt Absalom, Absalom! durchaus noch wichtige Strukturierungen der Walter-Scott-Tradition auf, vor allem die kritischen; aber diese werden negativ gewendet, präsentieren sich in hilflosem Pathos, absurd, ja dekonstruktiv gegenüber ihrem immanenten Sinn. Der historische Fokus etwa wird, ganz wie bei Scott, immer wieder umkreist: in punktuellen Anmerkungen (der alte Compson, 1833 „a young man […] would become General“, 27), in vagen, fragwürdigen Verallgemeinerungen („the folly of men“, „the turgid background of a horrible and bloody mischancing of human affairs“, 72, 83), aber auch in sehr genauen Hinweisen. Wenn es heißt: „Bull Run had been fought“, oder wenn von „the Yankee guns at Pittsburgh Landing“ die Rede ist oder lapidar vermerkt wird „then it was Shiloh, the second day“ (98, 103, 284), dann wird die historische Referenz noch genauso nur benannt wie bei Scott („the rest is well known“) oder Thackeray („it need scarce be told“, vgl. oben Kap. 2.2 u. 3.6). Aber es ist beispielsweise nicht nur eine abenteuerliche Situation (man denke an Waverleys Jagdunfall und Hufeisen-Episode oder an Esmonds Duell), sondern eine pathetische Katastrophen-Metapher (die Geschichte der Sutpens wie die des Südens gleichen einem aufgestauten See, in dem die Romanpersonen schwimmen und dessen Dämme bald brechen werden, vgl. 60), die den eigentlichen Eintritt in die kontinuierlich erzählte Historie markiert. Und noch deutlicher wirkt die absurd-metapoetische Situation, wenn Rosa die völlig sinnlose Aussteuer näht, ein „textum“ herstellt, das geradezu zwanghaft so etwas wie eine sentimentale Liebesgeschichte in die William Faulkner: Absalom, Absalom! 229 <?page no="238"?> 230 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman Historie hineinprojizieren will, ein hilfloser Text für etwas Unfassbares: „sewing […] garments while news came of Lincoln’s election and of the fall of Sumpter“, „she continued to sew […] when Mississippi seceded and when the first Confederate uniforms began to appear in Jefferson“ (65/ 66). Spätestens von jetzt an hat der historische Diskurs in Absalom, Absalom seine eigene Kontinuität, aber diese steht von Anfang an unter sinnlosen Vorzeichen. Die glückliche, alle Grenzen überwindende Liebe ist ein Topos des populären historischen Romans, von Walter Scott bis zu Tanja Kinkel. So etwas stellte Rosa sich vor, Faulkner spielt damit - und Uwe Johnson hat hier vielleicht Tante Marguerite aus Fontanes Schach von Wuthenow wiedererkannt (vgl. Verf. 2003, 241 ff.). Aber auch, was beispielsweise Mr. Compson abenteuerlich, fast filmisch ausmalt: „the most moving mass-sight […] young men […] marching away to battle“, „the private who carried that officer […] while the regiment fell back“ etc. (101, 103), ist ein Topos populärer Geschichtsdichtung, von Ivanhoe und Lichtenstein bis zu Ken Folletts World without End (2007, der Knappe Ralph rettet in der Schlacht von Cre ź y dem Prince of Wales das Leben). Wenn andererseits anlässlich von Quentins lebhaften Imaginationen („If I had been there I could not have seen it this plain“, 156) diese Art verlebendigte Geschichte auf ihre Subjektivität hin reflektiert wird, auch auf ihre fiktionalen Prämissen - „creating […], out of the rag-tag and bob-ends of old tales and talking, people who perhaps had never existed at all anywhere“ (250) -, so ist auch dies bei Scott und in dessen kritischer Rezeption vorgebildet und allenfalls graduell, nicht prinzipiell verschieden. Wie in The Heart of Midlothean, erst recht wie bei Stendhal, Fontane, selbst Raabe, wird in Absalom, Absalom! der Höhepunkt der Handlung, die entscheidende fiktive, aber für die Geschichtssicht relevante Szene - der Bruch zwischen den Compson-Söhnen und ihrem Vater und der gleichzeitige Zusammenbruch des Südens - sorgfältig vorbereitet, in der Handlung gezielt verengt und verzögert und so nur um so eindrücklicher als Synekdoche (pars pro toto) plaziert. Aber die Intention dieser Verallgemeinerung ist eine völlig negative, so dass ein ganz neuer Diskurs entsteht. Eine gewundene Reise zur Versöhnung, das wurde immer wieder sichtbar, Kollisions-, Verfehlungs-, aber dann auch Emanzipationsreisen prägen die Waverley-Tradition. Auch bei Faulkner reisen wir in die Historie hinein und mit ihr mit: „the army retreated across Alabama, into Georgia […] then they were in Carolina“ und so fort (286, 287). Der Erzähler bekennt sich sogar für Augenblicke zu direkter historischer Rhetorik, wenn er die „mounting tide of the names of lost battles“ (man beachte die „nennende“ Distanz) kommentiert als „battles lost […] because of generals who should not have been generals […], an absolute caste system (und nun eine typische „diahistorische“ Verallgemeinerung) already as obsolete as Richard or Roland or du Guesclin“ (285, vgl. oben Kap. 5.4). Dem folgt eine szenisch <?page no="239"?> intensive Begegnung („the Colonel wants you in his tent“, 288), die in einer Entscheidungssituation gipfelt (traditionell etwa: der Duke of Argyle würdigt Jeanie Dean, Esmond sagt sich los von den Stuarts, der König befiehlt Schach die Ehe); aber das bedeutet zwischen Sutpen, Henry und Charles keine Versöhnung, keine Fortschrittsperspektive, auch kein humanes „trotzdem“ (wenn etwa Buchius bei Raabe ausdrücklich nichts vom Herzog von Braunschweig will). Die Reise in den Nicht-Sinn führt in die Werte-Aporie: „his mother was part negro“, „I’m the nigger that’s going to sleep with your sister“ (292, 295), solche einfachen Aussagen erhalten aufgrund von „iron old traditions“ (171) sofort Gesetzeskraft, blockieren jedes weitere Argument und schließen den Horizont. Und wo die Personen diese Werte-Barrieren nicht oder nur peripher und zu spät überwinden, muss der Roman im ganzen sie dekonstruieren: Nur eine konsequent moderne Poetik ist dazu imstande. Absalom, Absalom! erzählt einen in sich sehr stabilen, kontinuierlichen historischen Diskurs, dem die fiktive Handlung unterlegen bleibt - es gibt keine fiktive Versöhnung oder Verbesserung, keine Emigration in ein besseres Land etc., und darin geht Faulkner über jede frühere Walter-Scott-Rezeption hinaus -, aber die fiktional-narrative Erkenntnis kann mit dieser Historie keinerlei Konsens oder Kompromiss finden. Der „zentrifugalen“ (Bachtin 1979, 165 ff.) Poetik in Absalom, Absalom! - wir haben sie in Kapitel 5 ausführlich beschrieben, da sie eben beispielhaft ist für den modernen historischen Roman -, diesem differenzierenden Erzählen einer gleichwohl eigenkontinuierlichen Historie entspricht ein konsequent dezentrales, systemkritisches Denken von Geschichte. Die Personen sind, wie in ihren Räumen (auch das wurde in Kapitel 5 dargestellt), so auch in ihren Denkmustern buchstäblich „gefangen“. Aber um so unerbittlicher werden die Leser angehalten, diese Muster zu zerbrechen, zu „dekonstruieren“ („negations become a maze in which the reader has to find his/ her way“, Herget 1989, 36, freilich ein Labyrinth, das aus einem Gefängnis herausführen soll) - und dies auf lange, zukünftig hoffende Sicht auch im Sinne möglicher Geschichte. („Dekonstruktion“ wird hier nicht als absolut und endlos verstanden, sondern, im Sinne „dreistelliger“ Semiotik und Erzähltheorie, als Teil immer neu narrativ entworfener und negierbarer, hypothetischer Bedeutungs-Prozessualität, vgl. oben Kap. 5.3, v. a. 5.3.2.3.) Insofern könnte man immer noch die Kontinuität, aber eine weit vorangetriebene Kontinuität kritischer Geschichtsrevision in der avancierten Walter-Scott-Tradition erkennen, ja man könnte sie als eine transformierte Scott-Faulkner-Tradition bis in die Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur hinein (Andersch, Johnson, Christa Wolf und viele andere, vgl. Verf. 2001, 259 ff; v. a. U. Müller 2005, 123 ff., sowie unten Kap. 7 und 8) kontinuierlich fortschreiben. Faulkner hat das 19. Jahrhundert in die Moderne übersetzt. Und bei ihm konnten die deut- William Faulkner: Absalom, Absalom! 231 <?page no="240"?> 232 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman schen Nachkriegsautoren lernen, eine traumatische Vergangenheit neu, formal avanciert und kritisch produktiv zu erzählen, produktiv auf lange Sicht im Blick auf eine zukünftige, bessere Geschichte. Welches sind diese strukturierbaren - schon das macht sie auch angreifbar - in hierarchischen Wert-Oppositionen sich manifestierenden Denk- und Verhaltensmuster? Es gibt untergeordnete wie „respectability“ (11), ganz wörtlich als „immer wieder öffentliche Sichtbarkeit“ zu verstehen, und „the stranger“ (25), „other and later strangers“ (11), bis hin zum „public enemy“ (36); man kann, löst man nur diesen einen Werte-Diskurs heraus, verfolgen, wie er aggressiv wird, z. B. wenn man Sutpen grundlos „arrested“ (39), und erst recht, wenn man ihn bei seiner Hochzeit mit Dreck bewirft (40-47); das ist eine jener Gipfelszenen, denen die Handlung immer wieder zustrebt; das Verhaltensmuster wird über jeden „common sense“ hinausgeführt, um es einer variierenden Wiederholung zu überlassen, die abstrakt wird, gleichwohl Zwang bleibt - hier etwa im abstrakten Gegensatz „einer“ gegen „alle“ bei Mr. Coldfield (54 ff.) oder im Ausgeschlossensein gegenüber „weiß“, wegen seiner Herkunft, und „schwarz“, wegen seines Aussehens, bei Charles Etienne, oder im nur gewussten, nur geahnten Aufenthalt von Henry Sutpen, „something […] living hidden“ in Sutpen’s Hundred (142) usw. bis hin zum Südstaatler Quentin in Harvard -, und die in diesem Roman eigentlich immer in eine absurde Tragik führt: So kann Ellen Coldfield-Sutpen, eine verspätete „Southern Belle“ (Margaret Mitchells Gone with the Wind erschien im selben Jahr wie Absalom, Absalom! ) ohne allgemeine Anerkennung nicht überleben; in der Konfrontation von Charles Bon und Henry, beide geschlagen, arm, fast verhungert, vollstreckt doch Henry das allgemeine Gesetz an dem Außenseiter, in dem sich ja auch die Ankunft seines Vaters in Jefferson wiederholt hatte (76); Charles Etienne treibt die Gegnerschaft gegen alle, „the thunderous solitude of his despair“ (163), von Kind an zu einer absurden „Imitatio Christi“; Henry wird zum Eremiten, der Zeugnis ablegt für den Nicht-Sinn, Jim Bond ist zuletzt fast nur noch ein heulendes Tier (309), ausgestoßen von allen und jedem. Während der Antagonismus der Kinder gegen ihre Väter und umgekehrt („the father whom she hated“, „the father who is the natural enemy of any son“, 49, 86), gipfelnd in der dem Romantitel verpflichteten Absage („abjured“, 65) Henrys an seinen Vater, während diese schlechthin handlungsprägende Konfliktstruktur auf eine Art „Urtragik“ zu verweisen scheint, die die historische Krisensituation lediglich freisetzt, wird beispielsweise beim ebenfalls dominanten, unerbittlichen Werte-Paradigma „arm / reich“ anders argumentiert. Ihm gegenüber hat die Historie zwar zunächst sicher etwas Affirmatives; der Aufstieg des self-made-man Sutpen („he wasn’t even a gentleman“, 11) nimmt - im Wertediskurs, nicht in der Handlung (vgl. oben Kap. 5.3) - vielleicht schon den Sieg der liberalen Wirtschafts-Ideologie des Nordens <?page no="241"?> vorweg (insbesondere wenn man das Thema weiter verfolgt, von Sartoris, 1929, über Light in August, 1932, bis zu Intruder in the Dust, 1948), gibt ihm aber in der selbstzerstörerischen Synekdoche eine Geschlossenheit, die über ihn hinausweist und einen, freilich ganz unbestimmten, aber eben darin offenen fragwürdigen Akzent erhält. So gültig die „reich-arm“-Gesetze real verankert bleiben, so konsequent präsentiert sie der Diskurs für das Urteil des Lesers als etwas human völlig Arbitrarisches. Auch jetzt sind zwei Gipfelszenen sprechend. Sutpens kindliches Initiations-Trauma (ein schwarzer Butler hatte den zerlumpten weißen Jungen harsch zur Hintertür des Herrenhauses geschickt, 191), fast metasprachlich zugespitzt zur Einführung in ein ,Denken der strukturalen Differenz‘, zeigt die Struktur aus der Perspektive eines verlorenen, unbestimmten, aber humanen „Außerhalb“: He learned the difference not only between white men and black ones, but he was learning that there was a difference between white men and white men […] that was the same second when he discovered his innocence […] he would have to do something about it in order to live with himself for the rest of his life [: ] „to combat them you have got to have what they have“. (186, 192, 197) Man sieht, wie die Überanpassung von Anfang an nicht nur eine mentale, bezeichnenderweise aus der tiefsten Zeitschicht erinnerte Distanz freigibt, sondern auch einen zerstörerischen Impuls, der über das erzählte Geschehen hinausweist und diskursiv eben dem Urteil des Lesers überantwortet wird. Und dasselbe gilt für die korrespondierende Gipfelszene am Ende von Sutpens Leben: „better if his kind and mine too had never drawn the breath of life on this earth“ (239); auch Wash Jones’ Aufstand, privat, armselig, pathetisch-absurd, die hilflose Verallgemeinerung, die er beansprucht, schließlich sein klassisches Heldentum als Farce wiederholender Angriff gegen „alle“: „running toward them all“ (240), die Zuspitzung des strukturellen Konflikts enthält, denkt und imaginiert man weiter, ein zwar vages, aber sicher noch offenes revolutionäres Moment. Die ebenfalls durchgehend wirksame Struktur männlich-weiblicher Hierarchie dagegen zersetzt Faulkner durch mehrere provokative Aporien: Nur männliche Erben zählen für Sutpen, aber den ersten Sohn muss er verstoßen, der zweite sagt sich von ihm los, schließlich vermag er „nur noch“ („the old cannon has just one more shot“, 230) ein Mädchen zu zeugen. Gerade die Frauen, die im Roman immer wieder beleidigt wurden, Rosa, Judith, Klytemnestra (beides natürlich auch mythologische Rächerinnen), sind am Ende noch handlungsfähig, und für Charles Etienne verstärkt seine mädchenhafte Feinheit („delicate as a girl“, 170) nur seinen ausweglosen Konflikt. Die mächtigste Struktur in diesem Roman, die als diskursive Strukturierung „auseinander gedacht“ wird („negation must mean destruction [but also] gives expression to the expectations and frustrations of the culture that prod- William Faulkner: Absalom, Absalom! 233 <?page no="242"?> 234 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman duces it“, Herget 1989, 36/ 37), ist die radikal hierarchische Opposition von „weiß“ und „schwarz“. Die ganze differenzierende Poetik läuft hier zusammen. Evident ist gerade hier der Dialog (der eine produktive Differenz voraussetzt) zwischen Fiktion und Historie („the substance of history - sexual matters, class, castle, race“, Karl 1987, 213) und wieder Fiktion und so fort („the categories of rich and poor, black and white, male and female […] show itself vulnerable to radical and emotive de-composition“, Wittenbergh 1989, 99 und 108): Jeder weiß, dass die „Sklavenbefreiung“ einen Kriegsgrund darstellte. Doch im Roman, das ist eine Wirkung seiner gebrochenen, zeitversetzten Erzählweise, treten nicht nur die entscheidenden Konflikte zwischen den Sutpen-Nachkommen nach Kriegsende hervor, auch die viel früheren (the „little spot of Negro blood“, 254) werden explizit spät präsentiert, als sollte die Kausalität dekonstruktiv umgekehrt werden. Die klare, unangetastete Kontinuität der Historie wird fiktional übersetzt in einen ihr entgegenlaufenden fragenden, kritischen, negierenden Prozess des Denkens. So entlarven und desavouieren die erzählten, fiktiven Folgen ihre historischen, strukturellen Voraussetzungen: Nur die schwarzen Nachkommen überleben, „One nigger Sutpen left […] in time the Jim Bonds are going to conquer the western hemisphere“ (311); und die radikale neue Folgerung kündigt, wie ironisch und vage immer, eine ganz andere Geschichte an. Auch jetzt ist der Impuls, die Richtung, die Logik entscheidend, nicht der äußerst offene Inhalt. Gerade in ihren wie selbstverständlich vorgetragenen Urteilen über die „Schwarzen“ treten die Werte-Paradigmen der erzählenden Stimmen reliefartig hervor: Miss Rosas von klein an beschädigte Natürlichkeit und Vitalität („a crucified child“, 6) etwa, wenn sie Sutpens Wildheit mit der seiner tierhaft wilden „niggers“ und beide mit den „very dark forces of fate“ gleichsetzt, „which he had evoked and dared“ (135), oder Mr. Compsons fragile, fragwürdig „weiche“ Mischung aus „natürlichem“ Denken (er liebt die Naturmetaphern für Geschichte), „fairness for the South“, sentimentalem Glauben an „the old virtues“ (100), aber auch der Fähigkeit, sich in alle „hinein zu versetzen“, dem Hang zur Emphase (etwa Sutpens „gift of dying once or loving once“, 73) - all das zeigt beispielsweise einen harten, strukturierten, ganz selbstverständlich vorausgesetzten Kern, wenn mit „amazement“ berichtet wird, dass Sutpen „had now come to town to find a wife exactly as he would have gone to Memphis market to buy livestock or slaves“ (34, Hervorhebung von mir). Auch jetzt wirken Variationen zersetzend, z. B. in der Boxkampfszene, wenn Sutpen die Hierarchie von „weiß“ und „schwarz“ in eine natürliche Überlegenheit transformieren will, damit aber nur den Willen zur „deadly […] retention of supremacy, domination“ (24) beweist und so die Struktur selbst als konventionell und „arbitrarisch“ entlarvt. War dies zugleich eine Überanpassung und darin auch Abstraktion (nur so ist die „weiß / schwarz“- Struktur zu „beweisen“, aber das erträgt sie nicht), so führt in der ganz anders <?page no="243"?> entworfenen Extremsituation von Charles Bon die Abstraktheit seines „Geburts-Makels“ (es ist ihm ja nichts anzusehen) zusammen mit seinen sonstigen Privilegien zu einer Form negativer Freiheit, einem „reserved and inflexible pessimism“, „sardonic and surprised distaste“ (77, 85), die nicht nur allen Vorurteilen überlegen, sondern - man denke auch an Charles’ Fähigkeit, über den Krieg zu lachen (107 ff.) - ihrem Potential nach lebensfähig („something that lives“, 288) gewesen wäre. Am weitesten geht die im Diskurs entworfene „Anti-Historie“, der kritische Gegenzug des erzählend experimentierenden Denkens gegen die unbeschönigte Vergangenheit in dem offenen Trauma, der personifizierten Leerstelle an Sinn, wie sie Quentin, also die zentrale, rezeptive Subjektivität, verkörpert. Aber es gibt beispielsweise auch kleine und ganz verschiedene, dezentrale, absurde oder zugespitzt formale Sinn-Markierungen: Dazu gehört vielleicht Sutpens retrospektiv-elegische „innocence“, sicher gehört dazu Judiths persönliche Grenzüberschreitung (wenn sie ihren „schwarzen“ Neffen zu sich holt, pflegt und sich an ihm tödlich infiziert), ihre Erkenntnis „nothing matters but breath, breathing, to know und to be alive“ (171). Der Liebesbrief, den Judith wie ein Dokument aus der geradezu antihistorisch stilisierten Fiktion heraus („without date or salutation or signature“, 107) der Erinnerung übergibt, also auch dem potentiellen Dialog mit der Geschichte anheimstellt, dieses schon erzähltechnisch den Horizont des Erzählers überschreitende fingierte Dokument liest sich wie eine metapoetisch reflektierte „offene“ Metonymie (pars pro parte incerta), eine nahezu abstrakte Zeichenfunktion, das bloße Verweisen auf etwas „anderes“ in der Geschichte (zugleich ein vorzügliches Beispiel, wie die dekonstruktive „trace“ hier konsequent historisiert wird, verblüffend ähnlich dem Schluss von Michel Tourniers Le roi des aulnes, 1968, vgl. unten Kap. 8.3.1): „something that might make a mark on something that was once for the reason that it can die some day […], to make that scratch, that undying mark on the blank face of the oblivion“ (106, 107). Und schließlich findet auch der Bibel-Diskurs in Absalom, Absalom! vom alttestamentarischen Titel zu einer deutlichen „figura Christi“. Nicht nur hatte der Erzähler das Kind Charles Etienne zu jenem „little strange lonely boy“ stilisiert, den man von Dickens oder noch klarer als Thomas Hardys „little Father Time“ (in Jude the Obscure, 1895) kennen kann: „a face not old but without age, as if he had had no childhood“ (161), als kündige er einen negativen Bildungsroman an. Im gesuchten Leidensweg, wenn er sein „schwarzes“ Los bewusst und extrem auf sich nimmt, wird Charles Etienne nun in der Tat wie ein absurder (er „leidet“ an seinen Schlägereien, seiner „coal black and ape-like woman“, 169 usw.), aber auf seine Art authentischer Christus dargestellt: „treading the thorny and flint-paved path toward the Gethsemane which he had decreed and created for himself, where he had William Faulkner: Absalom, Absalom! 235 <?page no="244"?> 236 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman crucified himself and come down from his cross for a moment and now returned to it“ (172). Daraus spricht nun sicher kein naiver (aber im Gesamtwerk, von Light in August, 1932, bis Requiem for a Nun, 1951, immer wieder manifester) Glaube an eine Erlösung, aber auf alle Fälle ein unabgegoltenes Bedürfnis danach, zumindest eine Sinnfrage, die mit der Geschichte, wie sie war und ist, niemals einverstanden sein kann. William Faulkner: Absalom, Absalom! . Harmondsworth: Penguin, 1971. Ders.: The Sound and the Fury. Authoritive Text, Backgrounds and Contexts, Criticism. Ed. by David Minter. London 1994. Baur: William Faulkner’s legacy. 2005. • Bevilacqua: History into Narrative. 1991 . • Bleikasten: Faulkner, modernism and metafiction. 1991. • Duck: Haunting Yoknapatawpha. 2000. • Geppert: Das Exil als metahistorische Figur. 2001. • Herget: The poetics of negation in Faulkner’s „Absalom, Absalom! “. 1989. • Hoffmann: „Absalom, Absalom! “ A postmodern approach. 1989. • Hönnighausen: Faulkner’s Discourse. 1989. • Justus: „Absalom, Absalom! “ as an epic novel. 1998. • Kral: Race, history, and technique in „Absalom, Absalom! “. 1987. • Lombardo: The Artist and His Masks. 1991. • Müller: William Faulkner und die deutsche Nachkriegsliteratur. 2005. • Wittenberg: Gender and linguistic strategies in „Absalom, Absalom! “. 1989. 6.3 Louis Aragon: La semaine sainte / Die Karwoche (1958) Dieser entschieden moderne, auch in Deutschland, nicht zuletzt dank der Übersetzung von Hans Mayer (Die Karwoche, 1961) inzwischen durchaus paradigmatische Roman (vgl. z. B. Aust 1994, 22 ff.) von Louis Aragon (1897- 1982): multi-personal, vielstimmig, vielperspektivisch, polylogisch, also in variierender Argumentation erzählt, durchsetzt von Diahistorien und wechselnden Chronotypen, auch immer wieder seine eigene Metapoetik und Metahistorie mitreflektierend (vgl. oben Kap 5.3.2 bis 5.4), entwirft eine offene, widersprüchliche Geschichte, aber in ihr auch die Möglichkeit humaner Entwicklung und einer freien Demokratie. Selten wird die literarische Moderne im historischen Roman bei aller Betonung ihres Kunstcharakters so konsequent human-sozialistisch, als Bildungsroman zur historischen Verantwortung interpretiert. Die Karwoche vom 19. zum 26. März 1815, vom Morgen des Palmsonntag bis zum Ostermorgen, ist die der Flucht des Königs, des Hofes und der königlichen Armee vor dem kampflos nach Paris vordringenden Napoleon. Eine Vielzahl von Erlebnisperspektiven reicht von Louis XVIII und den Prinzen, darunter die späteren Könige Charles X und Louis Philippe d’Orléans, über konvertierte napoleonische Generäle und Offiziere, später berühmte Dichter (wie Alfred de Vigny oder Lamartine), picklige blasse Jurastudenten, die als Freiwillige dienen und in denen man zukünftige Politiker erkennen kann, Soldaten aller Art, etwa einer Gruppe plebejischer Hauptleute, die, in erlebter Rede präsentiert, ihr Regiment umdrehen (vgl. 253 ff.), bis zu Leuten aus dem Volk: einem kaufmännischen Angestellten, der Werthers Leiden nachvollzieht, einem Torfstecher, verschiedenen Bediensteten, einem Mädchen, das <?page no="245"?> heimlich den jungen Lamartine liebt, von einem adligen Leutnant vergewaltigt wird und aus Scham in die Welt hinauslaufend aus dem Blick gerät, und vielen anderen mehr. Und der Vielzahl von Stimmen und Perspektiven, auch der Autor berichtet aus seinem eigenen Leben, entspricht bei größter chronologischer und geographischer Genauigkeit eine Fülle von Details: Aufnahmen von Landschaften, Straßen, Plätzen, Zimmern und Möbeln, unendlich genaue Beschreibungen der Uniformen, der Kleidung, des Essens, der Pferde, bis hin zum Rasierzeug oder dem Tafelservice. (Zur Entstehung, den professionellen Mitarbeitern, den Quellen, der Zitierweise bis hin zu Collagen, auch zu den Freiheiten, vgl. z. B. Ravis/ Victor 1988, 61 ff.; Richard-Principalli 2000, 38 ff. u. 297 ff.) Der Roman ist in einem Extrem seiner Strukturierungen eine bereits postmoderne „Zone“ (vgl. unten Kap. 8, „de l’entrelacement [et] des passages“, Richard-Principalli 2000, 15 u. 19), in der sich alle Ordnungen auflösen, alle Bezüge vervielfältigen und in der alle allen begegnen können - dazu gleich ein Beispiel -, andererseits strebt er, durchaus in der dramatisch-rhetorischen Tradition des französischen Romans stehend (vgl. oben Kap. 4, z. B. zu Victor Hugo Kap. 4.3), Gipfelszenen zu, gewichtigen Dialogen und allgemeinen Sentenzen, und in einem dritten Sinne handelt es sich unverkennbar um einen historischen Bildungsroman: Der historisch dokumentierte und durchaus bedeutende Maler Théodore Géricault (1791-1824, als sein berühmtestes Werk gilt Das Floß der Medusa von 1818/ 1819; auch der Beginn einer neuen Phase in seiner Malerei um 1815/ 1816 ist kunsthistorisch evident, vgl. z. B. Sagne 1991) steht im Mittelpunkt dieses polyhistorischen Romans. Und in dieser einen Woche, die er als königlicher Musketier erlebt, reift er vom dekadenten Dandy, der aus Langeweile und zum Sport in den Krieg zieht, zu historischer Verantwortung heran: Il y a eu quelque chose de changé dans la vie […], une vie où la liberté règne vaut qu’on la vive […] Être le soldat ni d’un roi, ni d’un général, mais d’une idée. C’est peut-être cela la liberté. / Etwas in unserem Leben hat sich verändert. Ein Leben, in dem die Freiheit regiert, ist es wert, gelebt zu werden. Der Soldat nicht eines Königs, nicht eines Generals, sondern einer Idee zu sein. Vielleicht ist das die Freiheit. (560/ 561) Wie im klassischen Bildungsroman verbindet sich die subjektive Idee der Freiheit mit sozialer und hier auch nationaler Solidarität: „Les rapports entre lui et les autres avaient changé de fond et de comble […]. Humaine d’abord, une affirmation des autres, […] il en avait eu la révélation / Die Beziehungen zwischen ihm und den anderen hatten sich von Grund auf verändert. Human war vor allem die Anerkennung der anderen, das war ihm klar geworden“ (364/ 466). Und „die Anderen - das ist […] die Solidarität der Völker innerhalb der Menschheit“ (H. Mayer 1961, 674). Freilich, und auch dies entspricht der besten Tradition des Bildungsromans, ist dieses Ziel sogleich eher als eine Frage angesprochen („L’homme est-il à la hauteur de l’histoire? / Der Louis Aragon: La semaine sainte 237 <?page no="246"?> 238 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman Mensch, ist er auf der Höhe der Geschichte? “, 364), eher als eine Funktion von Widersprüchen („L’âme apparaît à la cassure / Die Seele erscheint an der Bruchstelle“, 466), ja, einer „Kunst des Zweifels“ („l’art du doute“, Richard- Principalli 2000, 275), denn als eine fiktionale Setzung. Weitere traditonelle Strukturen des Bildungsromans seien nur genannt: die Form der Reise, die so wichtige ästhetische Erziehung, die Doppelgänger (vgl. 581 ff.), die hier nur angedeutete, aber recht klar angedeutete Liebesgeschichte (vgl. 36 ff.), die Bezüge zur Autobiographie, das theatralisch-rhetorische Moment der Begegnungen (z. B. der geheimen Versammlung von Republikanern, die für den Helden ein Initiationserlebnis bedeutet, vgl. 2.67 ff.), die Ratgeber und Bildungsgespräche, die metapoetischen Modellierungen (z. B. die erzählten und sogar sich weiterentwickelnden Bilder Géricaults), die Ironie und der Humor in alledem („par quel foutu hasard tu t’es trouvé là-dedans / durch welchen verflixten Zufall bist du da hineingeraten? “, 593), die offene Perspektive einer „Reise an die Grenzen des Möglichen / ce voyage aux limites du possible“ (591), und sicher noch vieles mehr. Und natürlich setzt Aragon hier eine für den historischen Roman seit Scott, Arnim, Thackeray oder Fontane immer wieder zentrale Tradition fort, die bis zu Swift, Sebald, Timm aber z. B. sehr klar auch zu DeLillo führen wird. Relativiert wird dann dieser Bildungsroman - wohlgemerkt: Auch dies war immer so, nur in verschiedener Intensität und Breite (es geht um ein Bildungsprogramm, um die Idee, nicht um einen „vorbildlichen“ Helden, H. Mayer 1961, 677) - durch die Vielfalt der erzählten Schicksale. Hinreichend klar kann man dabei geradezu die Konturen mehrerer historischer Romane verschiedener Form erkennen. Romanhafte historische Biographien erhalten zum Beispiel der Feldmarschall Berthier mit seiner großen Liebe, seinen Parteinahmen, Erfolgen und Demütigungen und seinem vom Erzähler vorgreifend dargestellten sentimental-dramatischen Selbstmord, oder der Oberst Fabvier: unglücklich verliebt für sein Leben, von Loyalitätszweifeln zerrissen, professionell, später noch in Spanien gegen die Bourbonen kämpfend, schließlich - die „Exilmetapher“ als Metapher einer „Zeitaporie“ ist im historischen Roman ein typisches Motiv (vgl. mit vielen Beispielen Verf. 1998, 360) - aus dem zweiten Kaiserreich nach Amerika auswandernd. Einen „lateralen“ historischen Roman, eine Biographie als „Sonde“ humanen Überlebens in einem bestimmten historischen Kontext (wie in Manzonis I promessi sposi, 1828, oder Thackerays Henry Esmond, 1856), auf alle Fälle eine radikal desillusionierende Prüfungshandlung als Antwort auf die Frage: Ist der Mensch auf der Höhe der Geschichte? , einen solchen Binnen-Roman bildet die bezeichnenderweise in Träumen einer anderen Person vorweggenommene Erzählung von einem zerlumpten, auf absurde Weise „selig“ gesprochenen Heimkehrer aus sibirischer Gefangenschaft, der eine sentimentale Reise durch die napoleonischen Kriege hinter sich und den Suizid in der Heimat vor sich hat (vgl. 453 ff.). Ist dies nicht eine die Traditionen der Gattung <?page no="247"?> (Bolkonskij und Besuchow aus Tolstojs Krieg und Frieden, 1872, in einem) in die Moderne hinein fortsetzende Skizze? So findet man etwa auch eine radikale, exzentrische (pars minima pro toto) Synekdoche: der arme Torfstecher, der ein paar Stunden lang an der Geschichte teilnimmt. Aber diese Episode ist noch in mehrfach anderer Weise interessant. Jede der Personen, die hier im Kapitel La vallée de la Somme (381 ff.) zusammentreffen: der Torfstecher, der junge Adelige, der plebejische Berufssoldat, mittelbar der Künstler und der enttäuschte, aus Sibirien heimkehrende Lebens-Romantiker, tragen ihre eigenen Zeitstrukturen und -perspektiven mit sich. Sie treffen nicht nur in der Handlung zusammen, beziehungsweise sind in ihr untereinander vernetzt, worin sich bereits eine erlebte, zugleich kunstvoll inszenierte bzw. orchestrierte Geschichte verdichtet, ihre „Zeiten“ laufen auch untereinander in wechselnden Angleichungen und Überlagerungen synchron. Und so, denn diese Synchronie bedeutet formal und hypothetisch bereits zwischen den Personen so etwas wie trans-subjektive Freiheit, aktive Weltgestaltung und Konsens, entsteht ein Ausblick auf eine mögliche, humanere Zukunft. Die Episode ist lange vorbereitet (vgl. 45 f.) in einem heute noch im Louvre (und auf dem Buchdeckel) zu besichtigenden Bild Théodore Géricaults Le Chasseur de la Garde oder Le Chasseur vert von 1812. Historisch überliefert ist (vgl. etwa Sagne 1991, 31 ff.), dass dafür zwei Personen Modell standen: Der Körper ist der des Adeligen Marc Antoine d’Aubigny, er tritt auch im Roman auf, für den Kopf stand ein Alexandre Dieudonné Modell, der nahezu gleichzeitig mit der ersten Ausstellung des Bildes in Rußland fiel. Aragon lässt ihn, allerdings als seinen eigenen fiktiven Zwilling Robert im Roman weiterleben: eine subtile Akzentuierung der produktiven Grenze von Fiktion und Historie. Und von nicht minder paradigmatischer Relevanz ist es, dass in der fiktiven Inszenierung der Romanhandlung Kopf und Körper des hybriden Bildes („monstre hybride“, 45) als Gegner zusammentreffen. Und wenn man will, kann man das dabei durchgehende Pferd Marc Antoines in dem Bild bereits gedeutet finden. (Es empfiehlt sich unbedingt, eine illustrierte Ausgabe zur Hand zu nehmen, z. B. von Laffont, 1967, 2.8, 128, 144/ 145, 208, 240/ 241, 320, 368/ 369; alle diese Bilder und Skizzen Géricaults können auf dieses Romankapitel bezogen werden.) Eingeleitet wird diese Episode durch die intensive Vergegenwärtigung des alltäglichen, zyklischen Arbeits- und Lebensrhythmus des Torfstechers oder besser Torf-Hebers (er schöpft moorigen, torfhaltigen Schlamm und lässt ihn trocknen), dessen persönliche und ihn umgebende, trostlos sich immer wiederholende Zeit keine Perspektive auf Veränderung oder Besserung enthält: In seinem Sichtfeld finden das Zusammentreffen der Gegner und der Unfall statt. Anders gesagt: Für den Leser wird diese hoffnungsleere zyklische Zeit mit der verdichtenden historischen Krise konfrontiert, sofern im Unfall die hybride Einheit Frankreichs, seine Vitalität und „Größe“ (repräsentiert in Louis Aragon: La semaine sainte 239 <?page no="248"?> 240 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman dem Bild) in antagonistische Teile zerfällt. Aber andererseits findet kein wirklicher Kampf statt (ein Soldat schießt aus Versehen in die Luft und Marc Antoines eben requiriertes, halb wildes Pferd geht durch). Der Bild-Partner kommt dem Verletzten sofort zu Hilfe und übernimmt widerspruchslos den Befehl über alle Soldaten, pro König oder Kaiser hin oder her. Ist dies ein Ausblick auf jene Perspektive eines friedlich-freiheitlichen, aus den realen Bedürfnissen entwickelten Konsens’, die auch sonst im Roman immer wieder entworfen wird („une volonté de tous de trouver en commun quelque chose, quoi, on ne le savait pas, mais une vérité en tout-cas […], discuter démocratiquement du parti à prendre, peut-être est-ce cela la liberté / ein Wille aller zusammen etwas zu finden, was, das wusste man nicht, aber jedenfalls eine Wahrheit; demokratisch diskutieren, welche Partei zu ergreifen sei, vielleicht ist das die Freiheit“, 328, 560)? Auf alle Fälle entsteht so auch eine kleine Parabel für die Entwicklung des Bildungshelden, des ursprünglichen „Malers“ der Szene. So wie er zwischen Marc Antoine und Robert geschwankt hatte (vgl. 87), so nimmt deren Solidarität seine Zukunft vorweg (das zeigt auch der Romanschluss, wenn Robert Théodore durch die Linie hilft, vgl. 593 f.). Und dies gilt vor allem auch für seine Entwicklung als Maler, wenn er „les autres […] cette implacable nudité des hommes“ entdecken will, „un être de chair et de sang comme lui“, „être le peintre de ce qui change / die anderen, jene unerbittliche Nacktheit des Menschen, ein Wesen aus Fleisch und Blut wie er selbst, der Maler dessen zu sein, was sich verändert“ (329, 462, 514). Und indem der Autor metapoetisch (auch er ein ,Maler‘ etc.) hier seinen eigenen fiktionalen Beitrag mit thematisiert, tritt erneut das nur Entworfene, bewusst Gewollte dieser Bedeutungen zu Tage. Das zeigt auch das Spiel der Synchronisationen in alledem. Marc Antoine hatte wie Theodore am Romanbeginn in einer Zeit unreflektierter, unwillkürlicher Identifikation mit seiner Situation gelebt: Soldat aus Sport und dandyhafter Eitelkeit, ein Leben in Präexistenz. Der Zerfall einer Welt, die Krisen, die Begegnungen erschüttern all dies. Zu Tage tritt die verborgene Analogie mit der rhythmisch-hoffnungslosen Zeit des Torfstechers (bildhaft gilt das vielleicht für die ganze Armee, die sich stundenlang „im Moor, Torf, Schlamm herumbewegt“, 562). Wenn der verletzte Marc-Antoine in dessen Hütte gebracht wird, taucht er auch sichtbar in diesen Chronotopos ein. Und sein Koma, seitenlang mit der Intensität einer die Schwelle des Bewusstseins unterschreitenden lyrischen Sprache evoziert - eine der eindrucksvollsten Stellen des Romans (vgl. 400 ff.) - führt ihn in einen noch tieferen, kreatürlichen Zeitstrom, aus dem heraus erst ein wortwörtlich „neues“ Leben beginnen kann. Man sieht die Analogie, aber auch den Kontrapunkt zur geistigen Entwicklung des Romanhelden, der ja ebenfalls durch Erschütterung, Schmerz, Schande, Angst (vgl. 528/ 529), eine „große Leere“ („il avançait <?page no="249"?> dans ce grand vide“, 492) hindurchgegangen ist, denn „die Seele erscheint an der Bruchstelle“ (466). Mit diesen zunächst hoffnungslosen Krisen der persönlichen und der allgemeinen Geschichte, („plaie ouverte à l’extrême de la patrie“, 568) identifiziert sich auch der Autor: in letzter Konsequenz mit einem Sterbenden, der von Vergangenheit und Zukunft halb deriliert, halb träumt (vgl. 579 ff.). Und in einer wieder anderen extremen Zeit lebt der Heimkehrer (nahe der Unfallstelle beheimatet, als Kind ein Freund des Torfstechers, zum Sterben in den Schlamm, die zyklische Zeit, zurückkehrend), für den die Leere der erlebten Zeit, leer von jeder Bedeutung, von Dauer ist: „Tout lui paraît d’une égale vanité […] tout est possible. Et tout est indifférent / Alles schien ihm gleich sinnlos. Alles ist möglich. Und alles ist unterschiedslos“ (454 und 459). Man könnte diese Pluralität, Gegensätzlichkeit, aber auch immer wieder Synchronisation erzählter Zeiten noch viel weiter untersuchen: beispielsweise die als „Leiden und Auferstehung des Menschen“ interpretierte christliche Heilsgeschichte der Karwoche (vgl. etwa 592/ 593), das Spiel mit Zeitabständen und -wiederholungen (etwa das Warten desorganisierter, untereinander aggressiver Truppenteile auf die Deutschen am 26./ 27. Mai 1940, Aragon selbst unter ihnen, nahe der Stelle, an der Louis XVIII die Grenze überschreitet, vgl. 567 ff.), oder die vielerlei Diahistorien von Menschen, aber beispielsweise auch Landschaften (diesen da wird man im Herbst füsilieren, jener wird noch 1871 die einmarschierenden Preußen freudig begrüßen, hier wurde ein französisches Heer in der Schlacht von Crézy vernichtend geschlagen, in hundert Jahren werden von jener Landschaft nur Kohlehalden bleiben, usw., vgl. auch oben Kap. 5.4). Der Roman ist bei aller historischen Genauigkeit und im gewählten historischen Rahmen ein Experiment mit Zeitstrukturen und Geschichtsperspektiven. So wie sein Kunstcharakter offen gelegt und die Stimme seines Autors selbst hörbar wird (dazu gehört auch das berühmte Anfangsspiel mit der Negation des Nichtnegierbaren, der Historie: „Dies ist kein historischer Roman“, 7, vgl. oben Kap. 5.3.3), so soll auch seine Perspektive auf eine humane Revolution aller Lebensverhältnisse und eine bessere Zukunft zwar sich im Ganzen durchsetzen, aber nur als Perspektive - Demain Pâques (549 ff.) ist das letzte Kapitel überschrieben: Ostern ist immer erst morgen -, und behauptbar nur eingedenk möglicher Negationen („j’ai entrepris follement de détourner tout le passé vers l’avenir / ich habe den wahnsinnigen Versuch gemacht, die ganze Vergangenheit der Zukunft zuzuwenden“, sagt der Autor, 580): „mettre dans les choses une logique nouvelle“, zugleich „tout […] dans le domaine de l’imagination / in die Dinge eine neue Vernunft bringen, alles im Reich der Phantasie“ (586). Man sieht, wie genau der Autor „A“ hier an die „droits impréscriptibles de l’imagination“ aus dem Vorwort (7) anschließt. Letztlich ist es sein voll bewusstes literarisches Konstruktionsspiel, das Zukunft einfordert. Dazu gehört nicht weniger unbestechliche Skepsis: „Écrire l’indicible reste Louis Aragon: La semaine sainte 241 <?page no="250"?> 242 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman l’ultime recours pour continuer à vivre“ (das Unsagbare zu schreiben ist die letzte Überlebenshilfe, Richard-Principalli 2000, 272). Aber dazu gehört auch, dass die Literatur eine neue, bessere Geschichte herbeischreiben will: „C’est comme une histoire qui s’écrit“ (591). Louis Aragon: La semaine sainte. Paris: Gallimard, 1958. Ders.: La semaine sainte. Hg. von Robert Lafford. 2 Bde. (= Collection Œuvres romanesques croisées d’Elsa Triolet et Aragon. 29/ 30). Paris 1967. Ders.: Die Karwoche. Dt. von Hans Mayer. Berlin 1961. Mayer: Vorwort. 1961. • Ravis / Victor: Histoire/ Roman. 1988. • Richard-Principalli: La Semaine Sainte d’Aragon. 2002. • Sagne: Géricault. 1991. 6.4 Der deutsche historische Roman des Exils So wie das Motiv und die Metapher des Exils im historischen Roman lange vorbereitet waren und bis heute prägend bleiben (Verf. 1998, 359 ff.), so ist die historische Vakuum-Situation, ja Ohnmacht, in der sich die vor den Nationalsozialisten geflohenen Autoren nach 1933 befanden, vor allem, aber nicht nur die Deutschen (Marguerite Yourcenars, die sich in den USA wie im Exil fühlte, historische Romane Mémoires d’Hadrien, 1924-1951, und L’Œuvre au noir, 1968, wären sprechende Beispiele, vgl. Gottlieb / Verf. 1997, 249 ff. sowie oben Kap. 5.3.3), geradezu paradigmatisch für die Entstehung dieser literarischen Form. „Vielleicht ist die Exilerfahrung nirgendwo deutlicher literarisiert worden als gerade hier.“ (Koopmann 1985, 19; zu typischen Entstehungssituationen für den historischen Roman vgl. oben Kap. 2.1). Insofern gilt in der Tat: Wo bei Schriftstellern die Emigration ist, ist auch gern der historische Roman. Begreiflicherweise, denn abgesehen vom Mangel an der Gegenwart ist da der Wunsch, seine historischen Parallelen zu finden, sich historisch zu lokalisieren, zu rechtfertigen, die Notwendigkeit zu besinnen, die Neigung sich zu trösten und wenigstens imaginär zu rächen. (Döblin 1989, 313/ 314) Deutlich vergleichbar nennt Marguerite Yourcenar das Schmerzlich-Produktive der Exilsituation als Voraussetzung, sich der Antike und dem historischen Roman zu nähern: Il fallait peut-être cette solution de continuité, cette cassure, cette nuit de l’âme que tant de nous ont éprouvé […] pour m’obliger à essayer de combler […] la distance me séparant d’Hadrien. / Vielleicht war diese Auflösung der Kontinuität notwendig, dieser Bruch, diese selische Nacht, die so viele von uns empfunden haben, vielleicht zwang sie mich zu dem Versuch, den Abstand zu überwinden, der mich von Hadrian trennte. (Yourcenar 1974, 326) <?page no="251"?> Das Exil sucht diese diskontinuierliche Gattung. Denn wie das Exil die typische Entstehungskonstellation verschärft, so betont es auch bestimmte Möglichkeiten der Gattungspoetik. Das Bedürfnis nach „Kompensationsgeschichten“ macht diese Romane kohärenter, faktentreuer und -reicher als etwa die synekdochisch-vermittelnde Tradition der Walter-Scott-Nachfolge, die freilich („the basic attitude of these exiles writers is humanist“, ebd., 103) selektiver („teilaktivierte Geschichte“, Koopmann 1985, 21) und vor allem von Faulkner in das 20. Jahrhundert „übersetzt“, in der Nachkriegsliteratur (Andersch, Johnson, vgl. Kap. 7) wieder auflebt und bis in die Gegenwart (Swift, Sebald, vgl. unten Kap. 8.2) fortwirkt. („The literature of exile remained in exile after 1945“, Roberts 1991; 52, aber das ist nicht die eigentliche „discontinuity in the historical novel as a whole“, ebd., in dem viele Traditionen immer wieder aufleben). „The German historical novel by authors exiled after 1933 is by no means unique.“ (Broerman 1986, IX). Man muss ihn als spezifische Profilierung von Tradition und Moderne der Gattung sehen. Die stets empfundene Gefahr weitergehender Aggression, noch mehr die Empörung über jüngste Vergangenheit und Gegenwart und das Verlangen nach Widerstand, machen die Exilromane durchweg im geschichtskritischen wie im humanistisch engagierten Sinn pointierter als die offenen polyhistorischen Romane, die das zwanzigste Jahrhundert prägen. Und sofern ihr Engagement die Isoliertheit, die Fremde und das kommunikative Vakuum in der Schreibsituation ihrer Autoren, ihre „Kulturapoetik“ (Englmann 2001, 139), überwinden muss - und diese führte ja auch wesentlich zur Vorliebe für diese Gattung (Geschichte als „portatives Vaterland“, Koopmann 1995, 81, dies freilich in einem durchaus weltbürgerlichen Sinn) -, haben diese Romane oft etwas rhetorisch Spielerisches, ja Abstraktes. Gleichwohl ist der historische Roman des Exils ein polyhistorischer Roman im avancierten Sinn des 20. Jahrhunderts, aber historisch enger fokussiert und überformt von klarem, ja abstrakt klarem Engagement. Wo Döblin, Faulkner oder Aragon, so wie später Kluge, Andersch oder Johnson auf das Trauma der Geschichte einerseits mit der Vielfalt offenen, lebendigen Möglichkeitssinns antworten, andererseits durchaus mit Leerstellen besserer Humanität, ja mit Perspektiven von Transzendenz, da suchen Feuchtwanger, Heinrich Mann oder Brecht (die „drei eigentlichen Meister des historischen Romans“ im Exil, Hackert 1983, 373) ganz direkt Vorbilder oder Feindbilder, die richtige Idee, moralische Orientierung und politisch-historische Urteile: „Geschichtsdeutung konzentriert sich […] im zukunftsschaffenden Bild“ (Koepke 1987, 82). Bei alledem ist der Unterschied zwischen modernen und Exilromanen ein inklusiver und gradueller. Es geht hier nicht einfach um Behauptungen oder Bekenntnisse oder Verurteilungen oder Lehrstücke oder ein „ja so war es“ und „in keinem Falle (um einen) nostalgisch motivierten Rückzug in die Welten eines besseren Einst“ (Werner 1989, 358). Die poly- Der deutsche historische Roman des Exils 243 <?page no="252"?> 244 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman historische Poetik, insbesondere die produktive Differenz von Fiktion und Historie, bleibt nicht nur prägend - das wird zu zeigen sein -, sie wird, was sie immer war, nur jetzt eben noch eindeutiger, selbst zum Argument. Tendenz und Engagement nutzen das Spiel der Möglichkeiten mit den und gegen die Fakten, noch mehr die Widersprüche oder das Gleiten der Perspektiven, die produktiven Zeitabstände, aber auch die Überschneidungen, mehrsträngigen oder sprunghaften Bestätigungen und insbesondere das Potential an Folgerungen, kritischen, aber auch humanistischen Folgerungen, das sich aus der Kombinatorik fiktionaler wie historischer Differenzierungen ergibt. Anders gesagt: Was die Romane Feuchtwangers, Heinrich Manns und Brechts interessant und authentisch macht, ist der intellektuelle und kreative Anspruch eines Gesprächs, das sie zu führen suchen: ins Leere und Fremde hinein, im Simulationsraum der Literatur und im „Wartesaal“ der Zeit (Koepke 1987, 83), aber darin doch immer mehr als ,eine‘ bloße „Selbstverständigung“ (Hackert 1983, 369), ein eben vor allem gesuchtes und vorausentworfenes Gespräch mit wechselnden Lesern über Gefahren und Möglichkeiten vergangener und gegenwärtiger Geschichte, bis hin zum dialogischen Experiment, „aus der Geschichte heraus verständlich (zu) machen […], was von der eigenen Gegenwart her das absolut Unverständliche war.“ (Koopmann 1985, 24). Und für ein Gespräch, das etwas bringen soll, braucht es Positionen und Ziele. Alfred Döblin: Der historische Roman und wir. In: Ders.: Schriften zur Ästhetik, Politik und Literatur. Hg. von Erich Kleinschmidt. Olten - Freiburg i. Br. 1989, 291-316. Marguerite Yourcenar: Mémoires d’Hadrien suivi de Carnets de notes de Mémoires d’Hadrien. Paris: Gallimard, 1974. Dies.: Ich zähmte die Wölfin. Die Erinnerungen des Kaisers Hadrian. Deutsch von Fritz Jaffé. München: dtv, 1961. Broerman: The German historical novel. 1986. • Englmann: Poetik des Exils. 2001. • Geppert: Im imaginären Exil. 1998. • Gottlieb / Geppert: Marguerite Yourcenar „Mémoires d’Hadrien“. 1997. • Hackert: Die Forschungsdebatte zum Geschichtsroman im Exil. 1983. • Koepke: Konzepte des historischen Romans nach 1933. 1987. • Koopmann: Geschichte ist die Sinngebung des Sinnlosen. 1985. • Koopmann: Geschichte, Mythos, Gleichnis. 1995. • Roberts: The German Historical Novel in the Twentieth Century. 1991. • Werner: Transparente Kommentare. 1989. 6.4.1 Heinrich Mann: Die Jugend und die Vollendung des Königs Henri Quatre (1935/ 1938) Der im französischen Exil von 1935 an geschriebene und 1938 in zwei Bänden erschienene Roman (zu den genaueren Kontexten vgl. 967 ff., Schröter 1967, 119 ff., Haupt 1980, 145 ff., Stein 2002, 128 ff.) gehört sicher zu denen, bei denen die Poetik der Gattung: „historischer Roman“, also die produktive Differenz von Fiktion und Historie (vgl. oben Kap. 1 sowie Kap. 5.3), einprägsam schon den ersten Satz strukturiert. (Heinrich Mann liebt solche theatralischen <?page no="253"?> Einsätze ohnehin.) Und doch hebt sich dieser Eingangssatz sogleich auch ab von Anfängen wie: „It is, then, sixty years since […] it was a melancholy day at Waverley Honours“ (Walter Scott, Waverley, 1814, 37) oder, und noch sprechender: „Nachdem die Böhmen besiegt waren, war niemand darüber so froh wie der Kaiser“ (Alfred Döblin, Wallenstein, 1920, 9). Wenn der Henri Quatre-Roman nach den Zwischen-Überschriften „Die Pyrenäen“ und „Die Herkunft“ beginnt: Der Knabe war klein, die Berge waren ungeheuer (13), dann liest sich das zunächst einmal vergleichbar konzise wie der Erzählanfang bei Döblin (der ebenfalls intensiv verdichtete Einsätze suchte). Deutlich erkennt man die Grenze zwischen historischem und fiktionalem Diskurs: „Der Knabe“, das ist nach Romantitel und Zwischenüberschriften doch wohl zweifellos der aus Historie und volkstümlicher Überlieferung bekannte König Heinrich IV. von Frankreich (1553-1610), der erste einer langen Reihe von Bourbonen, der mit der „Messe und Paris“, der mit dem „Huhn im Topf“, mit den vielen Frauengeschichten und eben vielen populär idealisierenden „Legenden“ (vgl. v. a. die Studien von Blattmann 1972 ff.). Vielleicht weiß man auch: Henri IV. erließ das Edikt von Nantes (1598), das Toleranz für die Hugenotten bedeutete und 1685 durch Ludwig XIV. widerrufen wurde, so kamen etwa viele Hugenotten nach Preußen, er war mit der Schriftstellerin Marguerite von Navarra verheiratet, deren Novellen noch heute lesenswert sind, er setzte wesentlich den Zentralismus durch, der in vielfacher Weise immer noch für Frankreich charakteristisch ist, oder anderes. Das heißt: Heinrich Mann schreibt den „Knaben“ ein in Ketten historischer Aussagen, die einerseits signifikante Faktizität beanspruchen - „factum“ als bis auf Weiteres gültiges historisch-narratives Konstrukt verstanden, das nur durch vergleichbar haltbare Konstrukte korrigiert werden kann, sofern vielleicht neue Quellen neue Fakten nahe legen - und die andererseits als retrospektive Interpretationen im Lichte immer neuer historischer Relevanz (die Religionskriege, die Geschichte Preußens, der französische Staat usw.) ihre eigene Offenheit behalten. Der offene Deutungshorizont des zweiten Satzes dagegen: „Die Berge waren ungeheuer“, ist grundsätzlich anderer Art. Es wäre Unsinn, das „ungeheuer“ messen oder korrigieren zu wollen. Es geht um einen von Heinrich Mann entworfenen Beginn einer fiktiven Geschichte. Die Kinderperspektive und die frei einsetzende Erzählerstimme, die den kindlichen Eindruck formulieren (freier indirekter Diskurs), machen das deutlich. So weit entspricht die erzählerisch offen gelegte, hin und her produktiv überschreitbare Grenze von Historie und Fiktion genau der im Anfangssatz bei Döblin. (Man könnte filmisch mit Zoom auf die kleine Gestalt und Schwenk den Berg hinauf arbeiten.) Aber über diese produktive Differenz legt sich Heinrich Mann: Henri Quatre 245 <?page no="254"?> 246 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman zugleich im Wertediskurs das „klein - nicht klein“-Paradigma, das die Semantik dieser Differenz von Anfang an ordnet. Wird nicht den Lesern der Satz nahe gelegt: Der kleine Knabe wird nicht nur einmal König, sondern er wird ein „großer“ König werden? Und enthält nicht die emotionale Nähe zu den Eindrücken des Kindes - es wird gleich erzählt, wie die Welt „duftet“, „kühl“ oder „warm“ ist, wie sie sich mit „bloßen Füßen“ anfühlt und so fort (diese „sinnliche Wesensart Henris“, Koebner 1985, 110, wird den ganzen Roman prägen) - kommuniziert nicht diese Nähe sogleich durchaus offene Bewunderung? Alles was von Mut, „Lebenslust“, Naturnähe, Energie, „Mühen und Freuden des Knaben“ im ersten Abschnitt erzählt wird, erweitert und bekräftigt diese humane Parteinahme. Wenn der Abschnitt eingerahmt wird von den Sätzen: „Der Knabe war klein […] er hieß Henri“, dann ist dazwischen bereits das erste Portrait eines großen und späteren Herrschers entstanden. Man sieht den Unterschied zum Anfang von Wallenstein (vgl. oben Kap. 6.1): Döblin ließ seine Erzählerstimme mit den Personen fühlen und zeigte die Welt durch ihre Augen, aber er spielte distanziert, ja ironisch und offen mit ihren Werten und Überzeugungen. Heinrich Mann fühlt und sieht ebenfalls mit seinen Personen, aber zugleich sucht er im Dialog mit ihnen und den Lesern die Überzeugung zu stärken, dass ein „gutes Leben“ - das schließt gerade hier und im ganzen Roman auch eine „gute […] Körperlichkeit“ ein (Schonlau 2006, 131) - in der und gegen die Historie nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist. Geschichte bedarf der Idee der Humanität. Diese selbst steht als Wert-Orientierung im Roman von Heinrich Mann nie in Frage. Sie wird als „Wunschbild“ in die Vergangenheit projiziert (Koenig 1972, 303, vgl. ebd. ff.), es geht um eine „Fiktion vom guten Herrscher“ (Koebner 1985, 107), oder, und mit Heinrich Manns eigenen Worten, um ein „wahres Gleichnis“ von der „Macht der Güte“ (Mann 1988, 489 u. 493). Aber eine solche „wahre Macht“ ist äußerst gefährdet: Das wird das Leben Henris zeigen. Und das Engagement des Autors, das halte ich für sehr wichtig, geht grundsätzlich auch noch über jede vergangene historische Größe hinaus. Während der Romanheld und seine (historische wie fiktive) Welt ständig mit Gewalt, List, Fehlern, Kompromissen und so fort zu tun haben, kann die narrative Überzeugungsarbeit des (impliziten) Autors, also des Roman-Diskurses im Ganzen, die gesuchte Macht der Humanität nur auf freie Überzeugung gründen. Insofern kehrt der Henri Quatre-Roman und überhaupt der literarisch gültige historische Roman des Exils zur polyhistorischen Offenheit der Moderne zurück. Die Festigkeit humaner Überzeugung vertraut sich dem völlig offenen Horizont ihrer letztendlichen Realisierbarkeit an und setzt auf ein nicht weniger offenes Erzählspiel, in dem es immer um die Zustimmung der Leser geht, bis hin zu deren eigenem humanem Engagement und zu deren eigener historischer Zukunft. Der Roman ist „Hoffnungshilfe“ <?page no="255"?> (Koopmann 1995, 91) für die Leser, aber hoffen, denken und handeln sollen diese selbst. Was an Henri Quatre am meisten auffällt, was seine Schreibweise charakterisiert: die gleitende Vielfalt einander überlagernder Personen- und Erzähler-Stimmen und die vielleicht noch größere Vielfalt fast theatralisch inszenierter Geschichtsszenen, lässt sich beides auf dieses Überzeugungsspiel einer Geschichtsidee zurückführen, deren Verwirklichung der Autor sucht. So gesehen hat die im Folgenden (vgl. 110-112) untersuchte Durchsichtigkeit der Bewusstseins- und Urteilsebenen in einer (fiktiven) Unterhaltung zwischen Jeanne d’Albret, Henris streng protestantischer Mutter, und der höfisch gebildeten Marguerite de Valois, seiner zukünftigen Frau, die die Protestanten vor der bevorstehenden „Bartholomäus-Nacht“ warnen will, - dieses In- und Gegeneinander von Verstehen, Täuschen, Korrigieren und Trennen der Positionen hat gewiss etwas Spielerisches, wie das Gewebe eines „Florentiner Teppichs“, so die Kapitelüberschrift; aber zugleich handelt es sich um ein letztendliches Zusammenspiel der Perspektiven und Stimmen, das sowohl historisch als auch transhistorisch fokussiert ist, „Geschichtsdeutung“ und „zukunftschaffendes Bild“ zugleich (Koepke 1987, 82). (Es lässt sich leider nur lückenhaft verkürzt zitieren, was ungünstig, aber bezeichnend ist; der Henri Quatre ist ein Buch, bei dessen Lektüre man immer wieder innehält, nachdenkt, herumblättert, sich in einzelne Szenen und Sentenzen vertieft, deren engere und weitere Bedeutung erwägt und so fort.): Jeanne sagte weiter: „Mein Sohn ist ein Junge vom Lande, und doch ein Königssohn. Er ist Soldat, daher hat er sowohl das Ehrgefühl als auch den unscheinbaren Edelmut, die beide den echten Soldaten gehören.“ „Güte und Ehre sind ein und dasselbe. Ich habe im Plutarch gelesen -“ […]. Plutarch ist ein Klassiker für die Leser der Renaissance. Montaigne, der später im Roman so wichtig werden wird, zitiert niemanden so oft wie ihn. So wird das Gespräch der beiden Frauen über Henri historisch plausibel. Aber gerade das Fertige ihres Urteils trennt die Standpunkte. Jeanne, so können, ja müssen die Leser bedenken, sieht ihren Sohn im Licht klassischer Vorbilder und in liebevoller Verklärung. Margot dagegen weicht in allgemeine, von einer Autorität beglaubigte Wahrheiten aus, um sich nicht über Henri äußern zu müssen. Henri kann aus der Sicht der Leser eigentlich nur dazwischen stehen. Er wird schon bald jedes Ehrgefühl unterdrücken müssen und sich bis zur Unkenntlichkeit verstellen; „taktisches Anpassungsverhalten wird bestimmend sein für seine gesamte politische Laufbahn“ (Viering 2001, 37); die Affären seiner Frau, die Ermordung seiner Freunde, die ständige eigene Gefahr als Gefangener im Louvre, dann der Kampf aus unterlegener Position nach seiner Flucht, all das wird für „Edelmut“ wenig Raum lassen. Die Leser können dies qua gewusster Historie, erst recht bei der Zweitlektüre kaum Heinrich Mann: Henri Quatre 247 <?page no="256"?> 248 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman übersehen. Erst auf lange Sicht, in der „großen Geschichte“, in die er schließlich eintreten wird, kann sich Henri vielleicht einem solchen Ideal nähern, aber in der Dialogregie des Autors geht es immer schon genau darum. Und auch das können die Leser zwischen den Stimmen der Personen und des Erzählers herauslesen. Wenn im Folgenden so oft Täuschungen, Missverständnisse, Selbstüberredungen und eine verpasste Konsensmöglichkeit zwischen den Personen offen bleiben, dann hört man doch durch all dies eine Erzählerstimme hindurch, die die Widersprüche vergrößert, eben weil sie alles versteht: Margot setzte das Charakterbild unmittelbar fort: „Er hat königliches Blut, das aber ganz gesund ist und sein Geist ist sich seiner Verfeinerung wenig bewusst.“ Dies war das gerade Gegenteil ihrer eigenen Lage, daher konnte sie es sich denken. Jeanne glaubte stattdessen irrtümlich, ihr inständig angepriesener Sohn habe jetzt an das Gefühl gerührt. „Unmittelbar“ gilt hier nur für den ganz äußerlichen Zeitverlauf der Szene. Margots Wahrheitsverständnis dagegen ist höchst „mittelbar“: Sie konstruiert als Gegenentwurf ihres eigenen Selbstbewusstseins etwas, was ihr Gegenüber Jeanne hören will. Man kann dabei gut beobachten, wie Außenperspektive, Personenrede und immer tiefere Schichten der Innen-Sicht gleitend ineinander übergehen und wie auch die Erzählerstimme dieses Spiel von Projektionen mitmacht, die als Feststellungen auftreten („ist ganz gesund“: „war das Gegenteil“), um von Mutmaßungen („konnte sie sich denken“) unterlaufen zu werden. Durch den Kontrast zur Innensicht der Gesprächspartnerin, und indem der Erzähler zwischen „Glauben“ und „Irrtum“, ineins mit Nichtwissen der Person und Durchblick der Leser den Vorhang öffnet, wird das ganze Spiel der gleitenden Perspektiven dann auch rückblickend noch einmal ausdifferenziert. Und gerade dadurch wird sein Ziel immer weniger paradox. Die Verständigung, die die Personen teils vortäuschen, teils irrtümlich glauben, ist nicht nur das Thema der Szene. Sie wird auch künstlerisch zum Ereignis. Denn der ganze narrative Aufwand, indem Erzähler und Leser in das Innere der Personen blicken, also deren Täuschungen und Irrtümer durchschauen, bedeutet doch wohl, dass wir Leser den Personen auch unsere eigenen Stimmen, Gefühle und Urteile leihen sollen. Im Erzählen wird die Brücke gesucht, im Lesen soll sie formuliert werden, die die Personen nicht finden, die sich aber der Autor wünscht. Er inszeniert für eine noch herzustellende „große Geschichte“, was die historischen Fakten per se verweigern. Im Fortgang der Szene empfinden und reden die Personen dann selbst immer mehr im Sinne dieser „großen Geschichte“, aber immer nur vorübergehend. Und auch dieser negative Horizont bleibt im Erzählen ständig bewusst; die Personen teilen dann geradezu das Wissen des Autors um die Differenzen zwischen Historie, Fiktion und Idee. Sie sehen mehrfache <?page no="257"?> Inszenierungen im Lichte einer Wahrheit, die sie allenfalls fühlen, die aber doch ihre Eindrücke prägt: Alles geheim, voll von Verstecken, unter Prunk und Zierrat unheildrohend, wenn man es ein einziges Mal recht ansah - und so die Menschen! So die Menschen, fühlte Jeanne, schaudernd, sie wußte nicht warum. Der Prinzessin Margot war mehr bekannt als ihr. Sie hatte manches erlauscht bei Hof und damit die Gesichter ihrer Mutter und ihres königlichen Bruders verglichen, wenn die beiden miteinander flüsterten. Während sie jetzt die unschuldige Catherine umarmt hielt, fühlte sie wunderbarerweise etwas sich regen, es konnte ihr Gewissen sein. Vielleicht war es im Gegenteil ein Stolz und Hochmut, der nichts Tückisches will. [… Aber] Eigensinn und Unglauben waren alles, was Margot in ihrem ehrlichsten Augenblick bei Jeanne fand. [… Und auch] die Schwester Karls des Neunten, so kühl wie je, fand keinen Grund mehr, weder zu Gewissensregungen noch zum Edelsinn. Sie dachte, wie am Anfang dieser Unterredung: Gefährlich! Sie sind eine große Gefahr; meine Mutter hat recht, etwas Entscheidendes muß gegen sie unternommen werden. Aber sie verderben sich selbst: hier ist Schicksal im antiken Sinn! dachte die Gelehrte. (110-112) Alle Fiktion ist schließlich wie nicht gewesen. Die Parteien sind am Ende der Szene so aufgestellt, wie es historisch plausibel ist. Die Romanhandlung kapituliert sichtbar vor dem gewussten Ereignis aus der Geschichte, jener „Bluthochzeit von Paris“, die seit langem der historische Fokus all dieser Inszenierungen gewesen war. Auch die allgemeinen Werteparadigmen (Plutarch, die Antike) werden wieder geschlossen. Lediglich vorübergehend hatten die Personen nicht nur an den Wünschen und Ideen des Romanautors teilgenommen - man hört geradezu, wie ihre Stimmen sich überlagern und miteinander kommunizieren und wie das Gleiten der Erzählperspektiven die Personen innerlich belebt -, sie fühlten auch jene atmosphärisch verdichtende Raumsymbolik mit („alles geheim“ und „unheildrohend“ im Louvre), die der Erzähler für die Leser immer wieder wie eine Theater- oder Filmkulisse aufbaut; die Personen nehmen Teil an Zeitverkürzungen und Ausblicken („hatte erlauscht“, „jetzt“, „muß unternommen werden“), die sie dem Erzählerüberblick nähern; und sie vollziehen schließlich bewusst den Wechsel von Konsens und Antagonismus, Täuschung, Wissen und Abstraktion der Wünsche und Überzeugungen mit, den die narrative Stimmen-Regie zwischen ihren Bewusstseinsebenen hatte gleiten lassen. So dienen ihre „transparent minds“ der für die Henri Quatre-Romane charakteristischen Überzeugungs-Narrativik. Denn wenn eben auch die Leser in dieses Spiel der Meinungen und Sehweisen hineingezogen werden, dann nicht einfach wie Zuschauer in einem Geschichts-Theater, die noch dazu räumlich von vielen wechselnden Stimmen umgeben sind. Heinrich Mann geht es offensichtlich um eine intensivere, eine parteiische Teilnehme, die auch durch wechselnde Distanzierungen nur gesteigert wird. Die Leser, darauf ist die ganze Stimmen- und Heinrich Mann: Henri Quatre 249 <?page no="258"?> 250 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman Perspektivenkomposition angelegt, sollen gerade die Spuren eines Humanum in der Geschichte, die verpassten Möglichkeiten für Frieden und Gerechtigkeit und die Entwürfe des „Guten“, die dort nur partiell entstanden sind, sehen, fühlen, sprechen und sich zu eigen machen. Die Geschichtsidee des Autors ist der alternative Gesprächspartner in der Stimmenvielfalt, in die Heinrich Mann die Historie erzählerisch überführt. Und ebenso gehen alle Autor-Überzeugungen hier völlig in diesem Gespräch auf. Dies ist ein Roman ohne Rätsel, ohne verborgene Tiefe oder zweite und dritte Bedeutungen. Alles ist sichtbar, alles wird ausgesprochen. Aber hier herrscht gleichwohl nicht jene „hohe und reife moralische Einfalt“, die Bruder Thomas Mann mit „begeistertem Lächeln“ zu finden meinte (Klein 2005, 174). Denn alles ist vielfach und wechselnd zu beurteilen und so immer wieder anders. Das gilt auch für die Autor-Stimme. Insofern ist es höchst bezeichnend, dass im Kontrast, genau gelesen aber als Ergänzung, ja als Teil dieser Stimmenvielfalt, jedes Kapitel mit einer legendenartig monumentalisierenden Gesamtwürdigung schließt. Schritt für Schritt wird Henri Quatres schwerer, aber guter und vorbildlicher Weg moralisch gewürdigt. Doch diese „Moralités“ sind ausdrücklich in einer „Fremd“-Sprache verfasst, auf Französisch, das in der Erstausgabe und auch später lange nicht übersetzt wurde. Der Autor setzt sich als eine fremde Stimme. Die Fremdsprache zeigt an, dass er jede Autorität dem Urteil „anderer“ Stimmen überantworten will. Ich habe diese gleitende Stimmen- und Werte-Modulation exemplarisch und relativ ausführlich behandelt. Denn sie stellt das prägende Erzählverfahren im Henri Quatre-Roman dar. Und ihr typischer Diskursverlauf, antithetische fiktive Differenzierungen aufzubauen, die den historischen Fokus entzerren und, da sie eben lediglich kommentierend explizit werden, zugleich als gültig belassen, bestimmt auch andere Erzähldimensionen dieses Romans. Immer nur vorübergehend wird hier einerseits die Heillosigkeit der Geschichte narrativ aufgelöst: Die idealen Projektionen haben keine Dauer. Andererseits aber zielen diese Differenzierungen auf eine humane Überredung, die die Geschichte zu transzendieren sucht. Die Idee wurde vorübergehend anschaulich in der Geschichte, genauer, sie wird bewusst in ihr erzählt, soll aber leben und wirken in der Überzeugung der Leser. Diese flexible Rhetorik, die immer schon ihre eigene faktische Machtlosigkeit miteinbezieht, prägt auch das andere wichtige Erzählverfahren in diesem Roman, die Szenenregie; sie erhält darüber hinaus ihre eigenen Texte, vor allem in den skeptischen Aufklärungsgesprächen, z. B. zwischen Henri und Montaigne, aber auch zwischen anderen Überzeugungsträgern (Agrippa d’Aubigné, Mornay, Rosny). Und sie strukturiert schließlich auch den Gesamtaufbau des Romans, sofern die Macht der Güte im späteren Leben des Königs, so wie sie jetzt dauernd gefährdet ist, sich immer mehr zerstreut und <?page no="259"?> aufreibt, zugleich aber immer mehr aufgehoben wird in Geschichts-Theater und zeitüberschreitende Apotheose bzw. Utopie. Das soll nun im Folgenden, allerdings wesentlich kürzer als das bisher Gezeigte, angesprochen werden. Die so genannte „Bartholomäusnacht“ beispielsweise (24. August 1572) wird in Szenen und Gesprächen lange angekündigt: gestaute Aggressionen, Ahnungen, Ängste, Pläne. Man liest mit, wie das historische Wissen des Autors und der Leser von den Romanpersonen erst fein und sporadisch, dann immer mächtiger aufgenommen, besprochen und agiert wird, bis hin zu intensiven sprachlich-atmosphärischen Verdichtungen. Genannt seien etwa nur die Kapitel über die direkte Vorbereitung und dann Durchführung der Attentate auf den Admiral Coligny, wenn es immer wieder heißt „lauernd“, „lauert. Lauert“ (275/ 276), oder geradezu filmisch der Ablauf der Ermordung selbst („Da drangen sie in den Hof“, „die Schweizer halten die Treppe“, 296, 298). Nichts wird beschönigt. Die historischen Personen agieren selbst. Das schließt durchaus an eher populäre Traditionen des historischen Romans an (vgl. oben Kap. 5.3.3). Prosper Mérimée dagegen hatte dasselbe Ereignis noch in der Walter-Scott-Tradition nach langer historischer Vorbereitung an seinem Höhepunkt lediglich durch Andeutungen, Gespräche, Geräusche, Blicke aus dem Fenster („des cris de douleur et des hurlements de joie, une fumée rouge âtre“ / Schmerzensschreie und Freudengeheul, rötlicher Rauch, etc., Chronique du règne de Charles IX, 1829, 182, vgl. 148 ff.), bis hin zu bewusster Distanz des moralistischen Helden „ver-mittelt“ (vgl. oben Kap. 3.2). Alexandre Dumas (père: La reine Margot, 1845) suchte die Balance von fiktiver Melodramatik und gezielt ausgekostetem historischem Horror. Heinrich Mann geht noch direkter in das Geschehen hinein, aber er löst es differenzierend auf in viele einzelne Szenen, betont Perspektivierungen („die drei hinter dieser Tür horchten auf die Geräusche draußen, das Mordgeschrei, auf den Aufprall von Waffen, Sturz von Körpern, das Röcheln“, 302), arbeitet Vorder- und Hintergründe und in ihnen Kontraste aus: so etwa Henris begeisterte Liebesnacht mit Margot, „auf der“, so Henri, „ich liege, reite und dahinfliege bis in den Himmel selbst“ (274), während überall sonst das Massaker „lauert“ (viermal auf derselben Seite). Vor allem aber spielen Personen immer wieder ausdrücklich sich selbst, sie nehmen beim Lesen ihre Rolle an wie ein Kostüm, und dann ist es nur ein kleiner Schritt, wenn dies in bewusste Verstellung und Maskerade übergeht: Karl IX. beispielsweise, schwankend zwischen Ehre und Furcht, Unterwerfung und Aggression, „wählte etwas Drittes, er wurde toll. Sein Ausbruch von Raserei bewahrte ihn im letzten Augenblick vor dem Untergang in Verzweiflung“ (295). Und Henri selbst spielt gleich darauf bewusst den Narren - er „lachte, er kicherte in sich hinein […]. Das Komische wird durch das Grausen noch komischer […]. ,Tue! Tue! ‘ machte er nach“ und „begriff zugleich den vollen Wert der Heuchelei“ (306/ 307) -, er muss den Clown machen, um das unfassbare Geschehen nicht Heinrich Mann: Henri Quatre 251 <?page no="260"?> 252 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman nur aushalten, sondern geradezu überleben zu können. So könnte man noch viele Stellen zitieren. Die Personen treten dramatisch heraus, stellen sich zu Gruppen und Bildern, fallen in übertriebener Gestik auf die Knie, gehen ballettartig aufeinander los, und immer wieder öffnen sich auch in ihren Vorstellungen und Gefühlen immer neue Kulissen wie in einer italienischen Oper. Die Szenen- und Personenregie präsentiert sich als bewusste Kunst narrativer Inszenierung. Das entspricht der Kunst gleitend differenzierender Stimmenführung. So wie dort der Konsens nur vorübergehend und halb verstanden zur Sprache kam, so zeigt sich hier im Handeln der Personen die Humanität als etwas, was fiktional in die Geschichte „hinein gespielt“ und selektiv überhöhend aus ihr heraus gearbeitet werden muss, beides in bewusster Kunst, die die Leser nachvollziehen können. Die Geschichte bleibt auf begrenzte, differenzierte Weise lediglich exemplarisch, die Idee erweist sich vor allem als etwas Gesuchtes, nur Mögliches: Zwischen beiden vermittelt das kunstvolle, narrative Engagement; es soll in Praxis übergehen. Und diese Praxis, zunächst ja eine Praxis des Vorstellens und Denkens, wird genau dadurch gefördert, dass die Leser das Erzählen als Spiel, ja Theater begreifen und sich an ihm beteiligen. „Totus mundus exercet histrioniam“ / Die ganze Welt übt sich in der Schauspielkunst, „Komödianten sind wir alle“ (2.82). „Fortis imaginatio generat casum“ / „Wer eine Sache lebhaft im Sinn hat, macht Wirklichkeit aus ihr“ (2.412): Es ist bezeichnend, dass Heinrich Mann, für dessen Œuvre eine „theatralische Grundstruktur“ (Stein 2002, 35) ohnehin kennzeichnend ist, gerade solche Reflexionen aus den Essais (1580, 1595) von Michel de Montaigne (1533-1592), im Roman Henris wichtigster Gesprächspartner, immer wieder zitiert. In ihnen wird geradezu „das Prinzip des Königs“ (ebd.) ausgesprochen. Und wie intensiv Heinrich Mann Montaigne verarbeitet hat (den „zweiten Mittelpunkt“ des Romans, Mayer 1991, 961; weitere Belege in Verf. 1976, 269 ff.), kann man daran erkennen, dass gerade in Montaignes Essay De la force de l’imagination (Über die Kraft der Phantasie, Band I.21) dieser über Faktizität und Möglichkeit nachdenkt und seine Aufgabe im Wecken des Möglichkeitssinns sieht („dire ce qui peut advenir“, Montaigne 1962, 104). Eben dies, das gute, gesuchte Mögliche im differenzierten und reflektierten Spiel des Erzählens mit der Historie kommunikativ und rezeptiv zu fördern, ist „das Prinzip“ des Henri Quatre-Romans. Das bedeutet hier freilich auch ein immer bewusst gehaltenes Risiko. Es ist so bereits sprechend, dass Heinrich Mann hier Montaigne auch falsch übersetzt. Denn zusammen mit der oben zitierten Schauspiel-Metapher, einem in der Renaissance sehr weit verbreiteten Bild, im Roman die vielleicht meist zitierte Sentenz (2.82, 130, 136, 276 usw.), steht bei Montaigne: „La plus part de nos vacations sont farcesques „ / „Das meiste womit wir uns beschäftigen, ist Farce“, man soll die Rollen in seinem Leben nur als „geliehene Personen“ spielen und aus dem <?page no="261"?> Schein nicht ein wirkliches Wesen machen („de l’apparence il n’en faut pas faire une essence reélle“, Montaigne 1962, 989). Heinrich Mann ersetzt (bewusst oder missverstanden? ) „vacation“ durch „vocation“, „Beschäftigung“ durch „Berufung“: „Das meiste, wozu wir berufen sind, ist Farce“ (2.134, vgl. 130). Nicht nur ist der Henri Quatre dieses Romans seinem Rollenspiel viel rückhaltloser ausgeliefert, als sein Gesprächspartner Montaigne ahnen konnte. Sein „Ich existiert in der Rolle“ bis hin zum „Ungewißwerden der eigenen Identität“ (Viering 2001, 32 u. 38, wobei freilich die wirkungsästhetische Dimension dieser Theatralik zu wenig gewürdigt wird). Diese Sentenz von der „Berufung“ zur „Farce“ spricht in der Nussschale auch das Risiko dieser Überredungs-Poetik und Wirkungs-Theatralik an und sei sie noch so kunstvoll und reflektiert eingesetzt. Sie spielt mit Möglichkeiten beliebiger Manipulation. Und auch dem wird im Henri Quatre-Roman narrativ Rechnung getragen, auf mehrfache Weise. Nur zwei Aspekte seien abschließend genannt. Auch Henris Gegner, die Fanatiker, kalten Machtmenschen, Opportunisten und Betrüger, veranstalten Schauspiele, an die sie dann zuletzt oft selbst glauben und die noch öfter zur Realität werden: Madame Catherine (Katharina von Medici, Witwe Heinrichs II., Regentin von 1559-1589) inszeniert und dirigiert ihre öffentlichen Unternehmungen wie Schauprozesse und ihre Intrigen wie Kammerspiele, die „Liga“ (die Partei Guise-Lothringen) beruht auf „Aberglauben“, „unwahrhaftiger Vermessenheit“ und „Lügen“ (2.43), der große General Farnese hat die wichtigsten Erfolge durch Scheinbewegungen, vorgetäuschte Positionen und Finten, insofern ist er in der Tat „ein Künstler“ (2.76). Philipp II. von Spanien, zur „Unmenschlichkeit verkrüppelt“ (Schonlau 2006, 139), belügt in einer gespenstisch dichten Szene („Der Besiegte“, 194 ff.) auch seinen Beichtvater, noch der Mord an Henri wird von den Handlangern der Jesuiten geprobt wie eine „Staatshandlung, die von mittelmäßigen Schauspielern gesprochen wird“ (903) und so fort. Kurz und schneidend gesagt: Auch „die lange genug gepredigte Lüge vergießt wirkliches Blut“ (671). Werden nicht auch so den Inszenierungen vernünftiger, humaner Macht in diesem Roman immer wieder ihre Grenzen aufgezeigt? Die zuletzt zitierte Sentenz steht in einer der plakativsten Partien des Romans: der figuralen Verkleidung der Partei der Guise als Nazis („Führer verjagt Hungergespenst! “, 651, „Heil mein Führer! “, 664, „tausendjähriges Reich“, 707 usw.). Das weist auf eine weitere, narrativ bewusst markierte und reflektierte Grenze des Sinn-Spiels in diesem Roman hin, die der oben untersuchten offen unvollständigen Überzeugungskraft als Stimmen-Konsens und ebenso der mit-dargestellten Inszenierung in der Szenen-Regie auf neue Weise entspricht: die exemplarische Grenze historischer Evidenz. Sie nimmt in dem Maße zu, in dem in der Handlung Henri die Macht in Frankreich wirklich erhält, prägt also vor allem den zweiten Band. Die Vollendung des Heinrich Mann: Henri Quatre 253 <?page no="262"?> 254 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman Königs Henri Quatre zeigt immer mehr die Grenze seiner Bedeutsamkeit. Es geht nicht, auf alle Fälle nicht nur darum, dass der Autor an seinem großen Projekt offensichtlich müde wird. Es entspricht dessen Prinzip, wenn der zweite Band immer mehr in Einzelheiten zerfällt und sich in ein bloßes Hin und Her der Handlung, in Dehnungen, Sprünge, routiniertes Fabulieren oder auch fast beliebige Überzeichnungen verliert. Auch die langen Liebesgeschichten haben jetzt etwas Kompensatorisches. Das große Exemplum aus der Geschichte verfließt und verblasst. „Der Erfolg ist zweifelhaft […]. Die Erfüllungen lohnen nicht“ (2.488, 489): Das sind Kommentare von Personen und von Henri selbst zur Verkündigung des Edikt von Nantes, einem der historischen Höhepunkte des Romans - als wüsste man schon in der fiktiven Gegenwart um dessen historische Zukunft. Im letzten historischen Ausblick des Romans (im Kapitel „Die Partei“, 2.885 ff.), danach werden eigentlich nur noch Vorbereitung und Verlauf der Ermordung Henris erzählt, überlagern sich düstere Kriegsvisionen: „die unerträglich gewordene Weltmacht“, der „Schrecken […] der Auflösung Europas“, „Umgreifen der Barbarei“, „Raub […] an dem Gewissen und Recht der Völker […]. Die Partei, deren ganzen Bestand der Hass der Völker und Menschen ausmacht, ist überall, wird überall und immer sein“ (2.887, 888). Das ist so allgemein formuliert, dass es mit dem Krieg der Niederlande gegen Spanien oder dem Dreißigjährigen Krieg oder der „Partei Habsburg-Spanien“ nicht ausgefüllt erscheint. Reicht nicht das Macht- und Aggressionsszenario, das hier auf Henris Tod wartet um losgelassen zu werden, auch über die Kriege des 20. Jahrhunderts und unsere eigene Gegenwart noch hinaus? Retrospektiv, indem ihre historische Evidenz sich auflöst, erhält die Idee humaner Vernunft in der Geschichte utopische Funktion. Es ist also nicht einfach so, dass „Vergangenheitsgeschichte als utopisches Gegenbild“ entworfen wird (Werner 1989, 374), „turning the mundane into an absolute“ (Broerman 1986, 101), solche Ureile ließen sich vermehren - der Henri Quatre ist vielleicht das Paradigma des historischen Romans im Exil -, sondern es wird immer auch die Nichtübereinstimmung, der Bruch zwischen Historie und Idee bzw. Utopie ästhetisch mitreflektiert. Insofern ist gerade dieser Roman auch ein Paradigma für die Gattungspoetik, eben die produktive Differenz von Fiktion und Historie. So laufen die Erzählstrategien der Leserüberzeugung, der reflektiert spielerischen Überhöhung und zugleich der Begrenzung fiktiv-historischer Sinnentwürfe zusammen. Die „Erfüllungen“, die sich gegen „Hass“, „Schrecken“ und „Barbarei“ in der Geschichte nicht „gelohnt“ haben (2.488), die „Vollendung“, die zerfällt, der doch nur vorübergehende „Erfolg“, sollen den bewusst und kunstvoll gelenkten Blick freigeben auf eine noch unerfüllte und unvollendete Geschichte: „Geschichte einer vielfach uneingelösten großen Hoffnung“ (Koebner 1985, 119). So kann Heinrich Manns Henri IV. im Nachwort auf einer Wolke ins Ungreifbare <?page no="263"?> entschweben. Die Ideen, Forderungen und Entwürfe aber, die er verkörpert hatte, werden zur Utopie, zur „bewusst gewußen Hoffnung“, „Potentia- Possibilitas“, die eben gerade nicht wie ein „Fertiges“ und bereits „Vorhandenes“ sein darf, das sich „lediglich auszuwachsen hätte“, sondern gegenüber der Geschichte immer ihre „Offenheit“ bewahren muss (Bloch 1967, 1.163 und 146; vgl. auch unten Kap. 5.4). Für den Roman heißt das: Die Friedenspolitik, das Streben nach Toleranz, Recht und sozialem Ausgleich bis hin zu gütiger Humanität und Menschenliebe, die der Henri IV. Heinrich Manns immer wieder verkörpert, müssen sich als narrativ-rhetorischer Zweck auch aus diesen begrenzten, ja zuletzt zerfallenden historischen Verkörperungen befreien, um ihre gesuchte, zukünftige Energie wirklich zu entfalten. Weiß aber doch, dass wir geboren sind, die Warheit zu suchen, nicht sie zu besitzen […]. Halt aber auch die Unmenschlichkeit für das ärgste der Laster, und nichts, […] verehr ich wie die Vernunft. (2.220) Das ist fast ein Zitat aus Montaigne („Car nous sommes nais à quester la vérité“, Montaigne 1962, 906); und der Doppelaspekt von aufklärerisch-idealistischer „continuing search for truth“ (Broermann 1986, 108) und prinzipieller Geschichtsskepsis, von „Glauben an die Vernunft“ und steter Einsicht, wie sehr „die Vernunft in Wirklichkeit zu Schaden gekommen war“ und immer wieder ist (Koopmann 1995, 93), gerade auch dieser Gegen-Sinn ist bezeichnend für den Henri Quatre und den historischen Roman des Exils: „L’humanité n’est pas faite pour abdiquer ses rêves, qui ne sont que des réalités mal connues“ / „die Menschheit [besser: die Humanität, H. V. G., ist] nicht dazu erschaffen […], ihren Träumen zu entsagen, die nichts anderes sind als wenig bekannte Realitäten“ (2.939/ 944), so die „Allocution“ / „Ansprache“ des wiedererscheinenden Henri Quatre „von einer Wolke herab“. Der Schluss der Romanhandlung selbst freilich hebt diese Erscheinung schon vorweg gewissermaßen utopisch-skeptisch auf: „Der einzige König lebt bis heute bei den Armen“ / „Seul roi de qui le pauvre ait gardé la mémoire“ (2.936). Die utopische Perspektive in der Geschichte bedarf immer wieder neu einer anderen, ,fremden Muttersprache‘. Denn was sie verkörpern soll, z. B. wahre Macht, wahrhaft im Dienste der Armen, hat es das je wirklich gegeben? Heinrich Mann: Die Jugend des Königs Henri Quatre. Roman / Die Vollendung des Königs Henri Quatre. Roman. Mit einem Nachwort von Hans Mayer und einem Medienanhang, zusammengestellt von Peter-Paul Schneider. Frankfurt a. M.: Fischer, 1991. Blattmann: Henri Quatre Salvator. 1972-1993. • Haupt: Heinrich Mann. 1980. • Klein: Unveröffentlichte Briefe von Otto Basler [u. a.]. 2005. • Koebner: Henri Quatre - Die Fiktion vom guten Herrscher. 1985. • Koenig: Heinrich Mann. 1972. • Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt. 1988. • Mayer: Nachwort. 1991. • Montaigne: Oeuvres Complètes. 1962. • Roberts: The German Historical Novel in the Twentieth Century. 1991. • Schonlau: Der Körper des guten Königs in Hein- Heinrich Mann: Henri Quatre 255 <?page no="264"?> 256 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman rich Manns Exilroman „Henri Quatre“. 2006. • Schröter: Heinrich Mann. 1967. • Stein: Heinrich Mann. 2002. • Viering: Nicht „Held“, sondern „Heldendarsteller“. 2001. 6.4.2 Bertolt Brecht: Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar (1938/ 1939) Die gesuchte Offenheit der Geschichte verbindet die historischen Romane Heinrich Manns und Bert Brechts, die beiden wohl bedeutendsten, auf alle Fälle die literarisch interessantesten des Exils. Ansonsten aber sind sie extrem verschieden. Bei Brechts Romanfragment (zur Entstehung, den Quellenstudien, Zielen und den Gründen für den Abbruch vgl. Jeske 1989, 509 ff., Jeske 2002, 282 ff.) ist gerade im Kontext des Exils das Fragmentarische letztlich auch strukturell zu verstehen: Eine bessere Geschichte als die hier erzählte steht noch aus. Das verbindet trotz aller Unterschiede Brecht, Heinrich Mann und Feuchtwanger. Gemeinsam ist ihnen auch das polyhistorische Erzählen. Aber dies ist bei Brecht aggressiv kritisch perspektiviert. Im Caesar- Fragment geht es um eine mehrstimmige, aber um einen zentralen Ich-Erzähler kreisende Rekonstruktion der politisch-ökonomischen Bedingungen für Caesars Aufstieg. Anders gesagt, es geht um die Kritik eines monumentalen Caesar-Bildes, die Dekonstruktion eines „Schulbuch-Caesars“ als einer „geschichtsmächtigen Ausnahmebefähigung“ (Jakobi 2005, 299), eines Caesar-Bildes, das nicht zuletzt historische Romane immer wieder zeichnen (dazu gleich), aus mehreren Perspektiven, vor allem aus einer Sicht „von unten“ und aus einer Sicht der Wirtschafts-, ja der Kapitalgeschichte. Seine Schulden haben Caesar zum Politiker gemacht, seine Geschäfte, „das sind die, die er macht und die, die mit ihm gemacht werden“ (H. Müller 1985, 303). So ist es bezeichnend, dass die fingierten Aufzeichnungen von Caesars Buchhalter im Mittelpunkt stehen. Etwa zwanzig Jahre nach Caesars Tod will ein römischer Schriftsteller dessen offizielle Biographie verfassen. Er hört verschiedene Zeitzeugen. Vor allem erhält er von Caesars ehemaligem Bankier die tagebuchartigen Aufzeichnungen des Sklaven Rarus, der Caesars persönlicher Buchhalter gewesen war. Die wörtliche Wiedergabe dieser selektiv-perspektivischen Anti-Biographie, die allerdings lediglich die Anfänge von Caesars politischer Karriere im Spiegel seiner „Geschäfte“ zeigt, v. a. Schulden, Bestechlichkeit und Gewinne an der Grenze der Legalität, macht etwa drei Viertel des Romanfragments aus. Die Aufzeichnungen beginnen mit der Verschwörung des Catilina (63 v. Chr.) und brechen ab, mit ihnen das Roman-Fragment als solches, am Vorabend der Wahl Caesars zum Konsul, also mit dem Jahr 60 vor Christus. (Der Nachlass an Aufzeichnungen und Entwürfen, vgl. Werke 17, 349 ff., gibt allerdings wichtige Hinweise und Zusammenfassungen, wie in drei weiteren geplanten, also insgesamt sieben Büchern, die Geschäfte konsequent bis zum „Ruin des römischen Volkes“, ebd. 352, fortgeführt werden sollten.) Diese radikal kritische Einsicht aber sollen Erzähler wie Leser sich erst nach und nach erarbeiten. Zunächst herrscht durchaus ein „für den klassisch modernen <?page no="265"?> Roman typischer Relativismus“ (Jeske 2002, 286). Mehrstimmig und aus fingierten Dokumenten wird eine für den Ich-Erzähler und ebenso für die Leser noch unbekannte Geschichte rekonstruiert. Die Romanhandlung verläuft auf mehreren Zeitebenen. Sehr klar zeigt sich jenes Paradigma der Moderne, das oben am Beispiel von William Faulkners Absalom, Absalom! (1936, vgl. Kap. 6.2) vorgestellt worden war. Aber damit ist nur ein Aspekt angesprochen. Geradezu exemplarisch kann man sehen, wie das Schreiben im Exil, potenziert durch Brechts kämpferische Schreib-Intentionen, den polyhistorischen Roman der Moderne einerseits konsequent ausarbeitet. Die Form der Erkenntnis von Geschichte, die damit verbunden ist, sagt auch für Brecht mehr als der dargestellte Inhalt. Andererseits aber wird diese Stimmen-, Zeit- und Handlungsvielfalt mindestens ebenso konsequent und eben engagiert auf einen Wirkungszweck bezogen: Der Romanaufbau folgt einem Prinzip sich entwickelnder und vertiefender Erkenntnis. („Die Polyphonie“ kennt zwar keine „auktoriale Auflösung der Widersprüche“, aber der Roman bleibt eine „Herausforderung“ für Erkenntnis und Engagement, Jakobi 2005, 310/ 311.) Bei Faulkner kreisen die Stimmen um ein intensiv vermitteltes historisches (Niederlage, Rassen-Hierarchie) und privates (Inzest? ) Trauma in der Vergangenheit, das in der Gegenwart erst eigentlich aufbricht. Bei Brecht bildet die ferne, vor allem exemplarische Historie („ein grundlegendes Modell für die Zusammenhänge von Geschäft und Politik“, Knopf 2000, 281) einen festen Problemrahmen („Vorbild aller Diktatoren“, 14 - dazu gleich), und eine spätere Zeitebene interpretiert eine frühere. Die Zeitdynamik wird zweifach bedeutsam: Sie weist auf die Notwendigkeit einer wahreren Geschichte in der Vergangenheit. Und die Arbeit des Erzählens im Ganzen weist auf die Notwendigkeit einer besseren Geschichte in der Zukunft. Beides jedoch bleibt prinzipiell im Modus der Frage: Was kann, was soll zur wahren Geschichte werden? Genauso relativieren sich bei Brecht wie prinzipiell auch bei Faulkner die Stimmen wechselseitig und treffen sich in einem zentralen Subjekt. Aber genauso wie ein intensives, oft geradezu lyrisches Mitleiden dort gegen distanzierende Sprachverfremdungen und -kontraste hier stehen - der Unterschied von Ich-erzähltem Gegenwartsrahmen bei Brecht und erlebter Rede bei Faulkner ist dafür ein Indiz -, so geht es bei Brecht genau nicht um eine Verrätselung des Wertediskurses (hat Henry Sutpen seinen Halbbruder aus inzestuöser Eifersucht oder wegen Rassenvorurteilen erschossen? ), sondern um einen einsinnigen Fortschritt der Um- und Neubewertungen. Insofern ist auch das personale Zentrum, das zentrale Erzähl-Medium am Romanbeginn nicht ein desorientierter Sammelplatz sinnloser und schmerzlicher Traditionen („an empty hall echoing with sonorous defeated names“, „a barracks filled with stubborn back-looking ghosts“, Absalom, Absalom! , 9), sondern dieses ganz anonyme Ich ist angefüllt von klaren Vorurteilen. Auch sie jedoch sind, und prinzipiell genauso wie bei Faulkner, Bertolt Brecht: Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar 257 <?page no="266"?> 258 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman nicht nur seine eigenen, sondern historisch-gesellschaftlich repräsentativ. Zwar geht es bei Faulkner um schmerzliche, selbstkritische Trauerarbeit über den eigenen, amerikanischen Süden, bei Brecht um ein distanziertes kritischaufklärerisches Kalkül im Umgang mit einer fernen, aber immer noch „vorbildlichen“ römischen Geschichte. Aber bei beiden Autoren geht es um unumkehrbare Bewusstseinsveränderungen. Faulkners Quentin („nevermore of peace“, Absalom, Absalom! , 307) wird diese Geschichte nicht überleben. Aber auch bei Brecht soll nichts mehr so gesehen werden wie vorher. Die Vorurteile des Romananfanges sollen nach und nach beim Erzähler und erst recht bei den Lesern korrigiert, negiert und durch bessere Einsicht ersetzt werden. Faulkner beginnt mit Widersprüchen, die sich auszulöschen scheinen („notpeople […] talking to one another […] in notlanguage“, Absalom, Absalom! , 6), aber die scheinbar wie in Stein gehauene Klarheit am Romananfang bei Brecht ist nicht weniger problematisch und auf Widersprüche angelegt: Der große Caius Julius Caesar […] war eben zwanzig Jahre tot. Er hatte ein neues Zeitalter eingeleitet. Vor ihm war Rom eine große Stadt mit einigen zerstreuten Kolonien gewesen. Erst er hatte das Imperium gegründet. Er hatte die Gesetze kodifiziert, das Münzwesen reformiert, sogar den Kalender den wissenschaftlichen Erkenntnissen angepaßt. Seine Feldzüge in Gallien, welche die römischen Feldzeichen bis ins ferne Britannien trugen, hatten dem Handel und der Zivilisation einen neuen Kontinent eröffnet. Sein Standbild stand unter denen der Götter, nach ihm nannten sich Städte und ein Jahresmonat, und die Monarchen fügten seinen erlauchten Namen zu den ihrigen zu. Die römische Geschichte hatte ihren Alexander bekommen. (14) Dabei stehen die genannten Ereignisse selbst überhaupt nicht in Frage. Entscheidend ist, was diese offizielle Geschichte bisher verschwiegen hat. Und damit verlagert sich auch das Interesse. Vergangenheit ist nicht ein Trauma und ein Rätsel, sondern ein scheinbares Idol, das sich in ein kritisches Exemplum und vielleicht in ein noch tieferes Trauma verwandelt: immer und immer neue Diktatoren. Dafür, für dieses Fortleben der Vergangenheit steht bereits die recht klare Jahresangabe („zwanzig Jahre tot“): 24 v. Chr. weist auf einen Höhepunkt der Macht des Augustus, der sich auf die Nachfolge Caesars berief und dessen „Größe“ propagierte. Auch die „Fehler“ (vgl. dazu ausführlich Lebek 1983, 167 ff.) in der Definition von Macht sind bezeichnend. Die Machtfülle des Augustus wird mit „Monarch“ sehr allgemein angegeben: Imperium (militärischer Oberbefehl), consul (Regierungsamt), auctoritas principis senatus (politische Richtlinienkompetenz) und tribunicia potestas (Verantwortung für das Volk in Rom) usw., all diese Funktionen von Macht waren von formal fortbestehenden Staatsorganen verliehene Befugnisse, bei und seit Augustus allerdings auf Lebenszeit. Wenn es umgekehrt wenig später von Caesar heißt: „es war schon klar, dass er das unerreichbare Vorbild aller Diktatoren werden würde“ (14), dann ist das für das Rom des Jahres 24 v. Chr. <?page no="267"?> streng genommen ebenfalls nicht „klar“, sofern Caesars Macht als dictator (alleiniger Sonder-Bevollmächtigter des Senats, allerdings bei ihm auf Lebenszeit) mit Augustus und dann auf lange Zeit funktionslos geworden war. Doch dies sind offensichtlich gezielte, rhetorisch-argumentativ zweckmäßige „Fehler“ (nach den Möglichkeiten der amplificatio). In ihnen spricht durch den Erzähler hindurch der Autor. Und er scheint damit zu rechnen, dass die Leser diese „Fehler“ erkennen. Denn Brecht hebt die unterschlagenen Differenzierungen auf in deren wahre Verallgemeinerung. Nicht nur werden die von Brecht dargestellten Machtmechanismen in Bezug auf Caesars Aufstieg inzwischen durchaus wissenschaftlich anerkannt (vgl. z. B. Christ 1994), gerade ihre Allgemeinheit bringt auch viel spätere Machtformen, etwa den Absolutismus der frühen Neuzeit oder und vor allem eben die Diktaturen aus Brechts eigener Gegenwart ins Spiel. Dabei, genauso wie in den Anachronismen (z. B. und v. a. „City“ für das römische Bankwesen oder Berliner Dialekt: „Jehe mit zwanzigtausend Sesterzien in die Sache“, 77), vermeidet Brecht allerdings direkte Anspielungen, etwa auf Nazideutschland - im Gegensatz z. B. zu Lion Feuchtwanger (der in Der falsche Nero, 1936, Portraits von Hitler, Göring und Goebbels auftreten lässt), oder Heinrich Mann (vgl. oben Kap. 6.4.1) oder später Arno Schmidt („Sarissen hoch, die Phalanx dicht geschlossen“, in: Alexander oder Was ist Wahrheit, 1953, 160) und so fort. Das hätte bei dem historischen Erfolg des Modells Caesar-Augustus für Brechts eigene Gegenwart etwas geradezu Lähmendes gehabt. Brecht geht es in kritischer, ja dekonstruktiver Absicht um das Allgemeine, Typische, Gesetzmäßige im exemplarisch Vergangenen, um eine „Modellkonstruktion, die historisches Material verwendet“ (H. Müller 1985, 592): Politik, insbesondere die Verbindung von Diktatur und so genannter „Demokratie“ als Geschäft, genauer, als Funktion, ja Werkzeug des Kapitals, und der „große Caesar“ als lediglich eine besonders agile Figur, eine „abhängige Variable“ (Jakobi 2005, 298), in diesem einseitigen Gewinnspiel. Insofern sind auch die einzelnen Stimmen, die das kritische Caesar-Bild nach und nach und immer unvollständig entstehen lassen, immer genau individuell geprägt. Jede vertritt eigene Werteparadigmen, Interessen, Auswahl- und Gewichtungskriterien und gesellschaftliche Bindungen. Und wenn man will (es ist in der Tat so, dass Brecht „auch das Modell des ,trivialen‘ Geschichtsromans ins Visier nahm und in seine ,Versuchsreihe‘ einbezog“, Aust 1998, 135), könnte man in ihnen satirische Skizzen von Formen historischer Romane erkennen, deren Beispiele durchaus bis in unsere Gegenwart erfolgreich sind: Der Rhetor und Wirtschafts-Syndikus Afranius Carbo (vgl. 39 ff.) z. B. stellt einen Mini-Roman nach dem Lucács-Ideal vor: Anschaulich verwirklichen sich im kampfvollen Handeln von Individuen (des „großen Caesars“) epochale Veränderungen, in Rom und Europa also damals die weltweite Liberalisierung der Märkte; und genau Bertolt Brecht: Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar 259 <?page no="268"?> 260 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman und nur das heißt hier ganz selbstverständlich Demokratie. Der Bankier Spicer, der Caesars Schulden, später sein Vermögen betreute, trennt skeptisch-anekdotisch, aber auch im Überblick individuelle, politische und wirtschaftliche Interessen, doch dies genau und nur, weil ihm die Mechanismen ihrer Abhängigkeit in „schamloser“ (33) Offenheit bekannt sind („In der Politik ist es wie im eigentlichen Geschäftsleben. Kleine Schulden sind keine Empfehlung“, aber „ein Mann, der wirklich viel schuldet, genießt Ansehen“, 183/ 184), genauso wie er sein Mustergut, v. a. die Sklavenarbeit und -behandlung, ökonomisch-zweckmäßig, also durchaus gefühllos und, wenn es sein muss, grausam organisiert und optimiert. Erzähltechnisch entspräche seine reflektierte, kritische Halb-Distanz bei ständiger Nähe vielleicht der des fingierten Caesar-Biographen im Caesar-Roman von Allan Massie (1993: Ein Untergeneral Caesars und dann ein Verschwörer gegen ihn erzählt betroffen desillusionierend von dessen Stärken und Schwächen), oder und noch viel mehr - wobei manche Passagen wie wörtlich aus Brechts Romanfragment übernommen wirken („Senatoren, Priester, derlei Gesindel“, „das war bevor er Hispanien ausbeuten durfte“, 74, die vielen Kriege, „weil er Schulden hatte und Beute machen mußte“, 253) - im Roman Caesar (2007) von Gisbert Haefs: Ein eng vertrauter Logistik-Manager und Geheimagent erlebt, diskutiert und erzählt Caesars Erfolgsjahre, völlig desillusioniert über die Macht- und Geschäftsintrigen der römischen Geschichte, aber letztlich doch voller Anerkennung für Caesars Menschenkenntnis, strategische Begabung und Mut zu historischen Veränderungen („Caesar, das unbekannte Wesen […] ist Roms größter Mann“, 274). Der dekadent-bürgerliche „Dichter“ Vastius Adler sucht allein die dramatisch-spannenden Effekte („Die Verschwörung. Briefe und geschlossene Türen! Dolche und Schwüre“, 180), ohne die kein historischer Erfolgsroman und inzwischen auch -film (z. B. die Fernsehserie Rome der BBC 2005) auskommt (vgl. auch oben Kap. 5). Ein jüngeres Beispiel wäre etwa die Emperor-Serie von Conn Iggulden (The Gates of Rome, 2003, The Death of Kings, 2004, The Field of Swords, 2005), die das Leben Caesars als harten, ja brutalen Kampf-, Intrigen- und Erfolgsroman erzählt. Da passen die Themen der Schulden und Gewinne Caesars hinein oder, dass Crassus in die Catilina-Verschwörung verwickelt ist. Aber vor allem kommt es auf dramatische Zuspitzungen an (Brutus ist ein verwegener Schwertkämpfer, Caesar überwindet Catilina so gut wie eigenhändig usw.). Und im Mittelpunkt steht Caesars politisches wie militärisches Genie: Persönlich unglücklich und einsam, opfert er sich und andere seiner großen Vision von Roms Macht. Steht nicht ein vergleichbarer Führer-Mythos - der offensichtlich wieder erschreckend aktuell zu sein scheint - auch hinter den Caesar-Bildern, die Brecht zu destruieren sucht? Der ehemalige Legionär dagegen vertritt die Sicht „von unten“, auch darin, dass er nicht viel mitbekommt, eine begrenzte Perspektive, wie sie seit Scott, Blicher oder Stendhal zu den typischen, traditionellen Möglichkeiten des historischen Romans gehört. Dazu kommen, in die Rarus-Aufzeichnungen eingebettet, noch viele andere Stimmen, die sich manchmal geradezu hörspielartig in kurzer Folge ablösen (vgl. etwa 226-228), und unter denen vor allem eine besonderes Gewicht hat. Der Sklave Alexander, Bibliothekar, Epikureer, „gewöhnlich am besten“ informiert, zugleich, so Caesar selbst, der „einzige echte Demokrat auf italienischem Boden“ (63/ 64), steuert illusionslos kluge Analysen der politisch-wirtschaftlichen Lage bei („Der Bauer […] wird […] von den Sklaven besiegt, in die er die Feinde verwandelt hat“; aber umgekehrt würden die römischen Plebejer „als Siedler die Bestechungssporteln einbüßen, die sie als Wähler erhalten“, so ist „die Bodenfrage“ zwar „wirklich entscheidend“, aber sie kann nicht „durch Wahlen gelöst werden“, 64/ 65, vgl. 68: „Eine Demokratie, <?page no="269"?> die hier nicht kämpft, ist keine Demokratie“, 77 f., 112, 133: den „Acker“, nicht die „Kornspende“, 150: „die Herrschenden“ und „die kleinen Leute“ usw.). Manchmal klingt er wie ein Sprachrohr des Romanautors. Aber er bleibt Analytiker, der immer mehrere historische Möglichkeiten erkennt. Bezeichnenderweise steht er in den Diensten des Crassus, den Brecht als schlechthin brutalen Ausbeuter zeichnet. Und auch solche überlegene Einsicht im humanen Interesse, die machtlos bleibt, aber die Leser zu überzeugen sucht, gibt es im historischen Roman: immer wieder sehr deutlich etwa in Lion Feuchtwangers Josefus-Trilogie (vgl. das folgende Kapitel 7.4.3), früher z. B. bei Thackeray (vgl. oben Kap. 3.6) oder Victor Hugo (vgl. oben Kap. 4.3), später bei Andersch, Johnson (vgl. unten Kap. 7.2 u. 7.3), Hilsenrath (vgl. unten Kap. 8.1.4) und vielen anderen. Legte man mehrere dieser Perspektiven und Werte-Paradigmen, insbesondere die der historischen Akteure zusammen und bereitete alles konventionell breit, spannend und populär eindeutig auf, man erhielte vielleicht einen Rom-Roman, wie ihn Colleen McCullough in ihrer First Man in Rome-Serie (1990 ff.) vorgelegt hat, zum Vergleich etwa Caesars Woman (1996), eine vielsträngige, multiperspektivische Verbindung von persönlich-psychologischer Motivation (Ehrgeiz, Liebe etc.), finanziellen Zwängen und Wirtschaftsmanövern, öffentlicher und geheim intriganter Politik, Kunst und Literatur, Rhetorik und Recht, Kriegs- und Verfassungsgeschichte und so fort, aber auch von nahezu unendlichen Details der Küche, der Mode, der körperlichen Hygiene oder der Einrichtung. All das kommt in Brechts Caesar-Roman prinzipiell, freilich auch sehr selektiv, durchaus ebenfalls zur Sprache: Man hört Cicero oder Cato, sieht die elegante oder abgerissene Kleidung oder den Schmuck oder die Möbel, riecht Parfüms, Saucen, Schweiß und Urin, wobei noch viel ausdrücklicher elegante Villen und Elendsquartiere konfrontiert werden. Doch all dies ist immer Teil kritischer und zielgerichtet aufklärerischer Argumentation. Anders gesagt: Brechts Absichten wären wohl nicht falsch befolgt, wenn man heute sein Caesar-Fragment als Korrektur nach einem Roman wie dem von Massie oder McCullough oder Haefs läse. Im Montieren und Zitieren fingierter Dokumente schließlich nähert sich Brechts Caesar-Roman in formal auffallender Ähnlichkeit dem von Thornton Wilder (The Ides of March, 1948). Aber dort ist dieses Prinzip so weit vorangetrieben, dass die Vielzahl der Dokumente, ihre numerische Anordnung und mehrfache, sich überlagernde und immer weiter ausgreifende Chronologie die Subjektivität der Stimmen und Perspektiven im Einzelnen tilgt und im Ganzen eine neue kohärente Geschichte entstehen lässt. Was bei Brecht prinzipiell offen bleibt, schließt sich hier wie ein narratives Puzzle, in dem alle Teile zusammenpassen. Und der Held, Caesar selbst (bei Wilder weiß er von der Verschwörung und nimmt seinen Tod an), transzendiert letztlich die Geschichte zugunsten zeitlos-humaner Existenz. Einen solchen inneren Freiraum lässt Brechts Geschichtssicht und Erzählform nicht zu, er interessiert hier nicht.Geschichte ist nicht etwas, was es zu transzendieren, sondern etwas, was es noch herzustellen gilt. Was Brechts Caesar-Roman sowohl von zeitgenössischen Beispielen (vgl. sehr interessant Aust 1998, 141 ff.) als auch von den neueren Erfolgsromanen, erst recht von Thornton Wilder unterscheidet, ist die konsequente Verkleinerung der Person Caesars und dass „jenseits aller avantgardistischen Umerzählbarkeit […] das eine Thema der Geschäfte nie aus den Augen“ gerät (Aust, ebd., 147/ 148). Der folgende Entwurf aus dem Nachlass zum Beginn des Bürgerkriegs macht das drastisch deutlich: Bertolt Brecht: Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar 261 <?page no="270"?> 262 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman Wochenlang handeln die Bankiers die neue Staatsform mit ihm aus. Nach einem totalen Nervenzusammenbruch wird er endlich im halbbewußtlosen Zustand über den Rubikon getragen. (Werke 17, 352) Das Besondere an Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar sind so ganz konsequent eben die fingierten Aufzeichnungen des Buchhalters, und wie sie im Zusammenspiel der Stimmen und in deren Abfolge platziert sind. Es ist unübersehbar, wie der desillusionierende Geschichtsüberblick des Bankiers und der alltägliche des Buchhalters sich ergänzen und einander entsprechen. So bestätigen sie sich wechselseitig und formulieren in der Tat, allerdings immer nur in Annäherung, so etwas wie eine wahrere Geschichte bzw. eine den anderen überlegene Einsicht in „die wirklich bestimmenden Kräfte der geschichtlichen Prozesse“ (Jeske 2002, 294). Dazu gehört auch, dass diese beiden Hauptzeugen wechselseitig einander überlegene Informationen nachweisen: Spicer kennt den Mechanismus von Geld und Macht und interessiert sich für die Resultate, aber nicht für die eigentliche Ereignisfolge der Geschichte. Rarus dagegen folgt genau diesen Ereignissen chronikartig von Tag zu Tag, etwa und vor allem dem spannenden Hin und Her der Catilina-Verschwörung. Er enthüllt nach und nach, wie „City“ (die Geschäftswelt) und „Senat“ (die Großgrundbesitzer) wechselseitig einander, beide aber die um ihre Existenz kämpfenden Kleinbürger Roms betrügen - die City etwa unterstützt Catilina, um den Senat zu erpressen (sie will Handels-, Steuerpacht- und Finanzierungs-Privilegien), lässt ihn und seine Anhänger aber rechtzeitig wieder fallen, so dass dann zuletzt „Besitzlose gegen Besitzlose gekämpft“ haben (175). Caesar intrigiert nach allen Seiten, unterschlägt, besticht und lässt sich bestechen, verspekuliert sich („Der Catilinaputsch war kein Geschäft […] ein Politiker großen Formats ist C. nicht und wird es nie sein“, 158) und rettet sich, um in erster Linie seine eigene Verstrickung vertuschen zu können, in das Amt des Praetors, also des Richters über eben die Machenschaften, an denen er selbst maßgeblich teilgenommen hatte. Und so kann er auch noch Crassus erpressen. In diesem, erst von seinem Ende her durchschaubaren desillusionierenden Macht- und Geschäftsknäuel haben die Rarus-Aufzeichnungen ihr Zentrum. Aber Rarus weiß längst nicht alles (er hat „immer nur hintenherum Einblick in C.s Geschäfte“, 123). Wie in einem Kriminalroman gibt es sowohl Beweise dafür, dass Caesar die Verschwörung unterstützte, als auch dafür, dass er sie denunzierte; aber Rarus und die Leser erfahren nur, dass es sie vielleicht gibt (Caesar und die „gallischen Kaufleute“, deren Dokumente „Ciceros Enthüllungen“ möglich machen, 144/ 145), nicht worin sie genau bestehen; und politisch oder rechtlich wirksam werden sie ohnehin nicht. <?page no="271"?> Es bleibt in diesem Roman bei einer lediglich graduell fortschreitenden Aufklärung, einer lediglich wahreren Geschichte, die an das Gegen- und Miteinander je subjektiver Geschichtsperspektiven zurückgebunden ist. Nur in den verschiedenen Stimmen wird Caesar immer wieder umerzählt. Und jede dieser Stimmen ist „standortgebunden“ (vgl. K.-D. Müller 1967, 115). Brecht beansprucht und präsentiert nicht „objektive Realität“ (Jeske 2002, 286), das hätte etwas Lähmendes, sondern zielt auf eine mögliche, zukünftige Leser überzeugende „Modellkonstruktion“ (H. Müller 85, 592), auf „strategisch komplementäre und funktionale Fügungen“ (Aust 1998, 145), „Einsicht in Strukturen der Wirklichkeit“ (K.-D. Müller, 1967, 100), „am historischen Stoff (soll) ein grundlegendes Modell für die Zusammenhänge von Geschäft und Politik“ sichtbar werden, das Stellungnahmen und Engagement nahe legt (Knopf 2000, 281); dass das dann „im engeren Sinn kein historischer Roman“ (ebd.) sein soll, zeigt einmal mehr einen viel zu engen Begriff der Gattung. Diese prinzipielle, intersubjektive Offenheit des Fragens nach Geschichte, die „Relativität aller […] Ergebnisse“ (K.-D. Müller 1967, 106) gilt, bei aller Kritik, gerade auch für das, was von Caesars „Größe“ übrig bleibt: Rarus bewundert seine skrupellose Wendigkeit und vor allem sein rhetorisches Talent, versteht aber nicht mehr - er verbucht eben lediglich Einnahmen und Schulden - die ökonomisch fortgeschrittenen Prinzipien von Investition und Profit, die dagegen Spicer an Caesars Statthalterschaft in Spanien bewundert („die erste, die nach vernünftigen, das heißt geschäftlichen Gesichtspunkten erfolgte“, 195). Und eine immer noch graduelle, allerdings tiefe Veränderung kann man vor allem beim Ich-Erzähler selbst feststellen. Hatte er anfangs noch von seinem „Idol“ gesprochen (15), vom „großen Staatsmann“, der schon in jungen Jahren „gegen die Korruption der konservativen Senatoren das junge demokratische Banner flattern“ ließ (23) - Spicer antwortet sarkastisch: „Er galt als kommender Mann. Er kam um Geld“ (23/ 24) - und hatte er auf die Entlarvung der wirtschaftlichen Motivationen und Korruptionen „ärgerlich“ (25), ja „an(ge)widert“ (33) reagiert, so geht er bereits nach dem Gespräch mit dem ehemaligen Legionär viel passiver, lediglich „gedankenvoll weg. Die menschliche Unfähigkeit, Größe da zu sehen, wo sie ist“ (39), macht ihn betroffen. Dann ist seine „Enttäuschung“ über „Gesichtspunkte“, die „anfechtbar“ scheinen (41), bereits vom Zweifel an den bisherigen Überzeugungen durchsetzt. Die „gereizte Stimmung“ wenig später (46) verrät ein Bewusstsein, sich in der Defensive zu befinden. Und sein Verstummen nach der Lektüre der ersten Rarus-Aufzeichnungen - „Ich ging in Gedanken […] Ich fühlte plötzlich wieder mit einem Aufatmen, daß doch drei Jahrzehnte seit diesen Geschehnissen […] vergangen waren“ (163) - wird dann zu einer sehr beredten, desillusionierten Stellungnahme. Bertolt Brecht: Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar 263 <?page no="272"?> 264 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman So wie der Roman in seiner Stimmenvielfalt und fortschreitend desillusionierenden Argumentation aufgebaut ist, kann für den Ich-Erzähler eigentlich nur eines folgen, nämlich auf sein Projekt einer Caesar-Biographie ganz zu verzichten. Die „Geschäfte des Herrn Julius Caesar“ werden zur Erkenntnisaufgabe der Leser. Und diese ist vor allem eine negative: C. wird übermorgen als einziger demokratischer Kandidat in die Konsulatswahlen gehen. […] An allen Mauern klebt heute die einfache Parole: „Demokratie ist Friede! “ (234) So, mit dieser „Aufzeichnung des Rarus“, endet das Fragment. Das scheint mehr als ein nur zufälliger oder äußerlich motivierter fragmentarischer Schluss zu sein. Man kann die gezielte Mehrdeutigkeit nicht übersehen. Es geht um den Vorabend der Wahlen zu Caesars Konsulat und im weiteren Ausblick („Das dreiköpfige Ungeheuer“ ist das vierte Buch überschrieben, 201) um sein taktisches Bündnis mit Pompejus und Crassus. Historisch sind diese Namen mit den Kriegen in Gallien, der Niederlage im großen Feldzug gegen die Parther, schließlich und vor allem mit dem Bürgerkrieg (zwischen Caesar und Pompejus) verbunden, auf den der Roman früher bereits hingewiesen hatte. Von Friede kann keine Rede sein, noch weniger von wahrer Demokratie, wie sie im Roman etwa der Sklave Alexander versteht (man muss den Weg der Demokratie „bis zu Ende gehen“, 77). Sowohl die wahre Erkenntnis der Vergangenheit als auch ein human zustimmungsfähiger Begriff von Geschichte bleiben unerfüllt. Eine Notiz des Nachlasses scheint geradezu einen unaufhebbaren Widerspruch zwischen „materialistischem Geschichtsbild“ (Jeske 2002, 292) und sozialistischer Perspektive festzuschreiben oder doch Letztere auf eine ganz abstrakte Alternative zu reduzieren: Um sich von Caesar ihre Herrschaft über die Sklaven sichern zu lassen, muß die City durch ihre eigene Versklavung Caesars Herrschaft sichern. Die Aufrechterhaltung der Sklaverei als Grundlage der Wirtschaft wird zu einer Versklavung allgemeinster Art, das heißt aller Schichten der Gesellschaft führen. (Werke 17, 352) Ein so zu Ende erzählter Roman hätte für die Idee des „Sozialismus als alternativen Weg der Weltgestaltung“ (Aust 1998, 152), erst Recht in der Situation, „Widerstand gegen den Nationalsozialismus leisten zu müssen“ (Koepke 1986, 77) etwas Lähmendes gehabt: Eine für Jahrhunderte erfolgreiche Modell-Diktatur - wer hätte da irgendwie Mut schöpfen können? Das Fragment dagegen kann immerhin offen lassen, wie eine unbekannte Zukunft „über den indikativen oder konjunktiven Modus des Caesar-Projekts […] entscheidet“ (Aust, ebd.). Gerade als Fragment erreicht Brechts Caesar-Roman eine praxisbezogene Geschichtssicht (Geschichte „als ein - bei aller sozialhistorischen Kausalität - in bestimmter Weise offener Prozeß, der den menschlichen <?page no="273"?> Eingriff nicht allein möglich, sondern notwendig macht“, K.-D. Müller 1985, 208) und jene produktive Unvollständigkeit, die auch Heinrich Manns und Lion Feuchtwangers humanistisch perspektivierte Geschichtsromane prägt. Dadurch, und durch die unhintergehbare Brechung der Darstellung in je subjektive Stimmen - wer „spricht“ die oben zitierte Sentenz aus dem Nachlass? -, wird auch bei Brecht „die Diskrepanz zwischen Fakt und Fiktion […] produktiv ausagiert“ (Englmann 2001, 142), nicht nur im Sinne einer „Poetik des Exils“ (ebd.), sondern durchaus als Paradigma einer modern-polyhistorischen Poetik des historischen Romans. Damit gewinnen dann auch die punktuellen und fiktiven Hoffnungssignale an Bedeutung, die gegen den Gesamtverlauf der Handlung, erst recht der Geschichte allein keine Chance hätten. Hierzu zählt bereits die betonte Perspektive von unten und die überlegene, aber eben auch machtlose Einsicht der beiden Sklaven Rarus und Alexander. Die prinzipielle Lernfähigkeit der Erzählerfigur wäre zu nennen. Immer wieder gibt es utopische Momente: Dass eine Volksmenge sich gerecht zu organisieren vermag, „bestürzt“ und „beunruhigt“ das Kapital (103), es kommt durchaus zu vorübergehenden Solidarisierungen von Plebejern und Sklaven (vgl. 136), aber ausdrücklich nur vorübergehend (vgl. 177), oder und vor allem zu Aussagen von Einzelnen, buchstäblich auf der Straße, die diese Solidarität fordern („Wir werden über das Geschmeiß auf dem Forum und dem Capitol nicht Herr, ohne mit den Sklaven zusammenzugehen“, 135). Und ganz in diesem Sinne bildet die letzte Szene in der Gegenwartshandlung - einem Sklaven des Spicer gelingt mit Hilfe der anderen, aber auch des alten Legionärs die Flucht, er „hatte Glück“ (200) - eine winzige, völlig romanhafte utopische Synekdoche (pars pro toto), die nichts beweist, aber als reine Fiktion in ihrem Bedeutungsanspruch auch nicht zu widerlegen ist. Bertolt Brecht: Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar. Romanfragment. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1969. Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Bd. 17. Romanfragmente und Romanentwürfe. Bearbeitet von Wolfgang Jeske. Berlin u. a. 1989, 163-390. Massie, Allan: Caesar. London 1994. Haefs, Gisbert: Caesar. München 2007. McCullough, Colleen: Caesar’s Women. London 1996. McCullough, Colleen: The October Horse. London 2002. Wilder, Thornton: The Ides of March. Harmondsworth 1968. Aust: Leben des Caesar. 1998. • Christ: Caesar. 1994. • Jakobi: Die epische Form als Kritik der Geschichtsschreibung. 2005. • Jesche: Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar. 2002. • Jesche: Kommentar zu Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar. 1989. • Knopf: Bert Brecht. 2000. • Lebek: Brechts Caesar-Roman. 1983. • Müller: Anmerkungen zu Brechts historischem Roman „Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar“. 1985. • Müller: Bertolt Brecht. 1985. • Müller: Die Funktion der Geschichte im Werk Bertolt Brechts. 1967. Bertolt Brecht: Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar 265 <?page no="274"?> 266 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman 6.4.3 Lion Feuchtwanger: Der jüdische Krieg (1932), Die Söhne (1935), Der Tag wird kommen (1945) Feuchtwangers romanhafte Biographie des Schriftstellers Flavius Josephus (37 - etwa 100 n. Chr.), daher auch Josephus-Trilogie, macht im Gegensatz zu Heinrich Manns und Bert Brechts historischen Romanen das Exil in mehrfachem Sinn zum Thema. Der Roman variiert immer wieder das Motiv, genauer, die Handlungsstruktur von Grenzüberschreitungen im räumlichen Sinn wie in dem von Lebensphasen, oft schmerzlichen, erzwungenen, und arbeitet zugleich, das Exil und die Historie als „aktuelles Selbstverständigungsmedium“ nutzend (Werner 1989, 358), als deren Bedeutung die Idee kultureller Vermittlung heraus. Nicht zuletzt sollen die Leser nah, anschaulich und mit vollem intellektuellem Bewusstsein an diesen Grenzüberschreitungen teilnehmen und für die Idee gewonnen werden, dass interkulturelle Verständigung einer besseren Humanität dient - hätte dienen können, muss man sagen. Denn das Scheitern des Romanhelden in der Vergangenheit transformiert die Idee, die er zu verwirklichen suchte, in eine diskursiv (der Erzähllogik nach) verbindliche Aufgabe für eine offene Zukunft. Interkulturelle Erfahrung und Verständigung gehörten zur Tradition gerade des historischen Romans, seit Walter Scotts Edward Waverley in die fremde Welt der schottischen Hochland-Clans reiste (Waverley, 1814) oder James Fenimor Coopers Leatherstocking immer neu und immer tiefer die Kultur der ersten Amerikaner erkundete und zu retten suchte (von The Pioneers, 1823, bis zu The Deerslayer, 1841). Im historischen Roman der Gegenwart sind interkulturelle Historien oft geradezu Programm, etwa wenn es um europäisch-afrikanische Grenzüberschreitungen geht in Uwe Timms Morenga (1983) oder Barry Unsworths Sacred Hunger (1992). Auch philosophisch erweiterte, interkulturell-weltanschaulich verbreiterte historische Grenzüberschreitungen gehören zur Tradition der Gattung. Paradigmatisch wären für das 19. Jahrhundert Gustave Flauberts Salammbô (1862) oder Victor Hugos Quatrevingt- Treize (1874) zu nennen. Mit anspruchsvoller Unterhaltung verbunden findet man solche interkulturellen, v. a. multireligiösen Grenzüberschreitungen heute z. B. in manchen Romanen Gore Vidals (Julian, 1964, Creation, 1981). Und Exotismus, die Konsum-Variante von Interkulturalität, ist natürlich in allen Formen und Richtungen im historischen Roman seit je und heute erst recht zuhause. Die Josephus-Trilogie ist ein vielsträngiger, vielszenischer und vielthematischer, insofern durchaus ein polyhistorischer, moderner Roman im Sinne des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt im Sinne von Feuchtwangers eigenen zeithistorischen Realisierungen dieser Erzählform, etwa in Erfolg (1930) oder Exil (1940). Aber Feuchtwanger scheut sich auch nicht, Traditionen des eher populären historischen Romans zu nutzen (vgl. explizit z. B. Kröhnke 2003, 151 ff.): das Hineinversetzen in historische Gestalten etwa, sehr oft in erlebter Rede und ohne dass wie bei Heinrich Mann (vgl. oben Kap. 6.4.1) die Allwissenheit des Erzählers sich im „inneren Dialogismus“ mit Personen und <?page no="275"?> Lesern zur Diskussion stellt. Das je Gesagte gilt. Genauso sind Gut und Böse, Recht und Unrecht immer letztlich doch recht klar festzustellen, die Orientierungen wechseln, werden aber nicht aufs Spiel gestellt. Es gibt ausgedehnte theologische, philosophische oder literarische Erörterungen, aber auch nicht nur viele lebendig-museale Details, sondern durchaus auch drastische Szenen: Kämpfe, Leiden, Liebesszenen usw., die die Leser in Ersatzwelten locken und den Kitzel des Extremen bieten. Und vor allem ist der Held des Romans bei allen seinen Fehlern und gerade in seinen Richtungsänderungen zweifellos ein Held, er verkörpert ein Vorbild, das zur Identifikation und zugleich zur Bewunderung einlädt. Der Roman beginnt, die indirekte Datierung ist sehr klar („Der Brand vor drei Monaten hat die Stadt sehr verändert“, 1.8), im Jahr 64 nach Christus. In komplizierten Verhandlungen, verbunden mit Begünstigungen und Bestechungen aller Art, gelingt es dem jüdischen Priester und Schriftsteller Josephus drei alternde religiöse Fundamentalisten aus der Gefangenschaft in Rom freizubekommen. Zugleich wird er immer mehr heimisch in Rom, wo sich vielerlei römische, hellenistische und jüdische Elemente durchdringen („Gott ist nicht mehr im Lande Israel, Gott ist jetzt in Italien“, 26). Er trifft auf Verständnis, aber auch auf offenen Antisemitismus („Judenhaß“, 62 ff.) und entwirft seine Lebensaufgabe: „Es mußte möglich sein, beides zu begreifen, den Osten und den Westen“ (79). Aber ohne es zu wollen befördert er indirekt sowohl als Schriftsteller eine Verschärfung der römischen Politik gegen Judäa (so wird er zum „Schädling“, 86, vgl. ebd. ff.), als auch als Jude (er lässt zur Unzeit seinen „Hass“ auf „Bildwerke“ sprechen, 142 u. ff.) eine provozierende Aktion; und selbst als Diplomat, der drei später wieder aktive Fanatiker freibekommen hat (vgl. 103 und 116), nährt er den jüdischen Aufstand. Dieser „Makkabäer-Krieg“, detailliert verfolgt in seinem Ausbruch und Verlauf bis zur Zerstörung Jerusalems und des Tempels, also die Jahre 66 bis 70, füllt den Rest des ersten Buches. Josephus wird tief in diesen Krieg, auch in sinn- und ehrlose Grausamkeiten (vgl. etwa 100/ 101) hineingezogen und vollzieht extreme Seitenwechsel. Er nimmt als begeisterter Unterbefehlshaber aktiv und zäh am „Heiligen Krieg“ (146) teil, betrügt aber in aussichtsloser Lage seine letzten Mitstreiter auch um das letzte Wasser (190) und überlebt. Dann aber erklärt er in „abenteuerlich frecher Lüge“ (194) den Feldherrn und späteren Kaiser Vespasian zum Messias, wird dessen Vertrauter, ein Sekretär von „schmiegsamer Bescheidenheit“ (201), ja „ein Haufen Dreck“, der jede „Schande“ auf sich nimmt (226); er glaubt immer noch, „dass Jahve in ihm sei“ (223), nimmt aber römische Identität an als „Flavius Josephus“ (265). Er identifiziert sich mit dem „hellen, skeptischen Geist“ des Hellinismus im multikulturellen Alexandrien und wird „eine neue Art Mensch, nicht mehr Jude, nicht Grieche, nicht Römer: ein Bürger des ganzen Erdkreises, soweit er gesittet war“ (275, vgl. 282 ff.); aber er verfällt auch leidenschaftlich einer gräzisierten Orientalin, unterwirft sich grausamen jüdischen Sühneritualen (286 ff.) um sie heiraten zu können, wird Vertrauter auch des Flavius Titus, so dass er die extrem harte Belagerung und Zerstörung Jerusalems aus der Nähe miterlebt, muss sich immer neue Demütigungen gefallen lassen („schallend verlachten ihn Juden und Römer“, 393), den eindrucksvoll erzählten „Brand des Tempels“ betrachtet er zunächst „verhärtet […] wie ein Forscher eine Naturerscheinung“ (429), dann aber, getroffen vom Gebet eines frommen Juden, reagiert er mit „Erschütterung“ (431). Zuletzt beschließt er ganz in seiner schriftstellerischen Lauf- Lion Feuchtwanger: Josephus 267 <?page no="276"?> 268 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman bahn zu leben („er hat sein Buch und seinen Ehrgeiz“, seine „Zukunft ist Rom“, 444); aber der „ungeheure Hass“ und die „Mauern aus Verachtung“, auf die er bei den römischen Juden trifft (453), machen seine Situation untragbar. Anlässlich des Triumphzugs mit seinen jüdischen Gefangenen wird er jedoch wieder zum frommen Juden, der „inbrünstig […] das Bekenntnis“ (468) anstimmt. Im zweiten Roman erreicht Josephus große Erfolge als Schriftsteller, aber immer wieder, nicht zuletzt von seiner Frau und mehr und mehr von seinem römischen Sohn, erfährt er blanken Hass gegenüber „dem Juden, dem Lumpen, dem Hund“ (2.138). Vor allem aber ist er jetzt Beobachter der sehr lebendig und szenisch dargestellten theologischen Auseinandersetzungen um Universalismus oder Nationalismus der jüdischen Religion einerseits, der Machtintrigen in Rom und am Kaiserhof andererseits. Im dritten Band rückt dieser Aspekt, die Willkürherrschaft Domitians und insbesondere seine immer offener judenfeindliche Politik, noch entschiedener in den Mittelpunkt. Es entsteht ein antithetischer Domitian- und Josephus-Roman. Josephus kann sich noch „hohes Verdienst um die Sache Israels erwerben“ (3.148), zieht sich aber immer mehr die auch persönliche Feindschaft des Kaisers zu. Als dieser seinen jüdischen Sohn und Hoffnungsträger töten lässt, sein römischer Sohn hat sich zum Judenhasser entwickelt, folgt Josephus’ innerer Zusammenbruch; er begreift: „Alles, was er je in seinem Leben unternommen, hat er aus Eitelkeit getan“ (3.367). Domitian aber muss zuletzt hinter der Verschwörung, die ihn beseitigt, erkennen, „dass es der Gott Jahve war, mit dem er zu tun hatte“ (3.399). Josephus kehrt demütig nach Judäa zurück, aber er „lebt“ jetzt erst recht, wie schon so oft bisher, „wie ein Fremder unter seinem Volke“ (3.410). Als im Rahmen der Vorbereitung von Trajans Eroberungspolitik (vgl. 3.416 ff.) eine härtere Verwaltung Judäas verfügt wird, entschließt sich Josephus, bedingungslos noch einmal einen jüdischen Aufstand zu fördern, „glücklich […] gegen die Vernunft“ zu handeln, „so weise […], unweise zu sein“ (3.438). Da wird er von römischen Soldaten aufgegriffen und - in offensichtlicher Parallele zum frommen Sühne- und Opfertod am Ende von Jud Süß (1925) - freundlich-sportlich („Es ist wie in der Arena“, 3.442) zu Tode gehetzt. Gerade weil er Höhen und Tiefen, Verdienst und Schuld, Erfolge und Demütigungen, ja Elend durchlebt hat, ist Josephus der Held dieses Romans. Seine Wandelbarkeit („der ewig Wandelbare konnte seine Vergangenheit abschütteln wie glatte Haut das Wasser“, er hat „von seinen Vätern und Vorvätern wohl ihr Wesen“ ererbt, „aber nicht ihr Schicksal“, 2.523), auch seine Fehler sind Teil seines Lebensentwurfs: Judentum als Weltbürgertum zu begreifen und als Auftrag zu einer lebendigen Weltkultur. Feuchtwanger „schrieb dem jüdischen Volk eine zweifache Sendung zu: Kosmopolitismus und Vermittlerrolle zwischen dem Orient und dem Okzident“ (Shoham 1991, 182). So ausführlich viele Gegenpositionen diskutiert und gewürdigt werden, Josephus’ Perspektive ist in diesem Sinne die des Gesamtromans und seines Autors: „Die andern verstehen Sie nicht. […] Hier ist alles eng und in Mauern. Sie haben den Blick ins Weite“ (2.453). Wie so oft im populären Roman ist es ein kindlich-jugendliches Urteil, mit dem sich der Autor identifiziert. Und diese Wertschätzung wird nie erschüttert: „Er hatte die Welt zu früh gesucht“ (3.444), das ist nahezu das letzte Wort <?page no="277"?> des Erzählers, in dem man zweifellos die Stimme des Autors hört. (Den Schluss als Zurücknahme von „universal, rational principles alone“ zugunsten von „Jewish nationalism“ und „Jewish selfidentity“ zu deuten, Dollinger 2006, 80, verkennt den sehr klaren „Wertediskurs“ des Romans, vgl. oben Kap. 5.3). So weist auch der Titel des letzten Teil-Romans Der Tag wird kommen nicht nur über die hier erzählte, sondern über alle bisher bekannte Geschichte hinaus. (Der „Mißerfolg“ der „Sendung“ des Romanhelden bedeutet zugleich „ihr Vertagen auf einen späteren Zeitpunkt“, Shoham 1991, 190.) Der Blick in eine offene Zukunft, „eine utopisch-zukünftige Dimension“ (Koopmann 1995, 92), verbindet Feuchtwanger mit Brecht oder und noch mehr mit Heinrich Mann. Dort freilich war diese „zukunftsschaffende“ Perspektive (Koepke 1987, 82) eine konkrete Konstruktionsaufgabe bzw. unlösbar verbunden mit geschichtsskeptischer Fiktion. Hier jedoch sollen die Leser diesen großen Perspektiven einfach folgen. (Von „Brechtian strategy“, Dollinger 2006, 78, kann man nun wirklich nicht reden.) Die Josephus-Trilogie ist auch insofern eine Verschmelzung anspruchsvoller Unterhaltung mit einem philosophisch-politischen, letztlich im besten Sinne rhetorischen Roman, als alles explizit gemacht wird. Die Personen sprechen sich klar aus; der Erzähler dringt in ihr Innerstes ein; er schaut in alle Räume und Parteien hinein; und er erklärt auch selbst in eigener Rede ausführlich, was etwas jeweils zu bedeuten hat und wie man es verstehen soll. Die Leser brauchen wenig selbst zu erschließen oder weiter zu denken. Wenn so der Autor selbst zu seinen Lesern spricht, direkt oder durch die Personen hindurch, dann geschieht das fast immer entschieden parteinehmend, aber stilistisch ausgewogen, meist in ruhiger Prosa, in nachdenklicher aber klarer Rhetorik. Nur selten hat der Roman etwas Bühnenhaftes; die Themen des Exils, des Antisemitismus, religiöser und „völkischer“ Intoleranz, der Schrecken des Krieges usw. sind voller Gegenwartsbezug, aber es fehlen die plakativen Parallelen, z. B. aus Der falsche Nero (1936); und selten auch findet man gedankenschwer Verkünderisches (die lyrischen Partien allerdings, also Josephus’ „Psalmen“, wirken überanstrengt, „phrasenhaft didaktisch“, Kröhnke 2003, 258, sozusagen wie ein Bekenntnis-Design). Aber im Ganzen handelt es sich um einen anschaulichen, flüssig und klar erzählten und ebenso geradlinig zu akzeptierenden Roman. Wie bei anderen historischen Romanen des Exils auch wird die polyhistorische Möglichkeitsform der Geschichtsdarstellung - hier allerdings, auch im Vergleich zu Feuchtwangers Zeitromanen, doch eher Tradition als Experiment - zweckmäßig auf eine im weitesten Sinne human-aufklärerische Tendenz bezogen; von dieser positiven jüdisch-liberalen Tendenz, dem Aufruf zum Weltbürgertum und seiner geradlinig-flüssigen Erzählform, in dem also alle Wendungen der Handlung, Grenzüberschreitungen, Personenstimmen und Handlungsstränge letztlich affirmativ zusammenpassen, lebt dieser Roman. Lion Feuchtwanger: Josephus 269 <?page no="278"?> 270 Polyhistorien, Paradigmen der Moderne im historischen Roman Lion Feuchtwanger: Der jüdische Krieg. Roman. Frankfurt a. M.: Fischer, 1982. Ders.: Die Söhne. Roman. Frankfurt a. M.: Fischer, 1982. Ders.: Der Tag wird kommen. Roman. Frankfurt a. M.: Fischer, 1982. Ders.: Der falsche Nero. Roman. Frankfurt a. M.: Fischer, 1984. Vidal, Gore: Julian. With a new introduction by the author. London 1993. Ders.: Creation. London 1998. Dollinger: In Defense of Reason and Justice. 2006. • Kröhnke: Feuchtwangers Josephus Flavius und seine Idee des Judentums. 1997. • Shoham: Der Jude als Vermittler zwischen Orient und Okzident. 1991. <?page no="279"?> 7. Traumatische Geschichten. Krieg und Drittes Reich im deutschen historischen Roman der Nachkriegszeit. Alexander Kluge, Alfred Andersch, Uwe Johnson „Sie haben mir eine Strafarbeit gegeben.“: Der Anfangssatz aus Siegfried Lenz’ Deutschstunde (1968, 7) hat, ebenso wie der Titel - welche Lehren („Deutschstunde“) sind die Deutschen bereit aus ihrer Geschichte zu ziehen? - etwas über diesen einzelnen Roman hinaus Bezeichnendes. Angesichts der Konfrontation einer noch immer unbewältigten Nazi-Vergangenheit, die Deutschstunde erzählt (der historische Fokus, vgl. oben Kap. 5.2), mit einer bereits wieder unbewältigten Gegenwart der 50er und frühen 60er Jahre, in der der Roman spielt, in der die falschen Kontinuitäten fortleben („Pflicht“ ist ein Schlüsselwort) und die Alternativen wirkungslos museal geworden sind (in diesem Fall die Möglichkeitsentwürfe der Kunst, die noch über die historischen Vorbilder, Emil Nolde u. a., hinaus zeitkritisch und zugleich offen antihistorisch, als Ausdruck von Möglichkeitssinn gedeutet werden - die Kunst „erhebt Einspruch gegen das Vorgefundene [und] weist die Welt als vollendete Tatsache zurück“, der „Elfenbeinturm“ wird „Barrikade“, Lenz 1983, 103; vgl. z. B. Petersen 1995, 20 ff., sowie oben Kap. 5.4), in dieser Konstellation muss es einer „Strafe“ gleichkommen, diese Divergenzen erzählerisch aufzuarbeiten. Der Erzähler, als Kind hilflos im Widerstand, als kritischer Jugendlicher ausgegrenzt, kehrt die „Strafarbeit“ für sich um in eine für die Öffentlichkeit; er verwandelt sie narrativ in nachzuholende Erinnerung, in Trauer und in noch zu begreifende Mahnung. Ein Außenseiter schreibt experimentell kritisch über - historisch verortete Außenseiter, und dies im Interesse allgemeiner Aufmerksamkeit für die gemeinsame, traumatische deutsche Geschichte. Das gibt einen Rahmen ab, der für viele weitere Romane der späten sechziger und frühen siebziger Jahre gelten wird. „,Mein Gott […] du schreibst ja deutsch‘“(174): Man sieht die Gemeinsamkeiten. Alfred Andersch inszeniert in Efraim (1967) die Beschäftigung des deutschen Romans mit der deutschen Geschichte als etwas völlig Überraschendes, ungewohnt sowohl gegenüber dem eigenen bisherigen Lebensentwurf des Romanhelden, als auch gegenüber einer Umwelt, die zum Verdrängen neigt, um unreflektiert „bis zur Vergasung“ (125, eine noch rohere Kontinuität als die der „Pflicht“ bei Lenz) sich dem Erfolg in der Gegenwart zuzuwenden. Der „freche Hochmut […] respektablen Gesindels“ (ebd.) will alles „in den Griff bekommen“, „am Drücker sein“(10), sich notfalls „am Riemen reißen“, ehe zu viel „in den Eimer geht“ (46) und so fort. Diese Sprachkritik ist nur eine der vielen Erzähl-Strategien in diesem Roman. Dazu gehö- <?page no="280"?> 272 Traumatische Geschichten ren auch und vor allem mehrere Zeitebenen - die fiktive Gegenwart der Jahre 1961 bis etwa 1963 wird von Mauerbau, Kuba-Krise, Spiegelaffäre, Ermordung J. F. Kennedys usw. geprägt -, denen mehrere Bewusstseins- und Reflexionsebenen des Ich-Erzählers korrespondieren. Seine Erzähl-„Arbeit“ (vgl. 70 u. 117) widerlegt z. B. seine qua Personenstimme vorgetragene, ahistorische Zufallstheorie. Und dieses Erzähl-, Zeit- und Reflexionsnetz umkreist ein weit in die Gegenwart fortwirkendes Trauma: das Schicksal eines 1938 verschollenen, kleinen jüdischen Mädchens (vgl. 51 ff.), das zuletzt nur so narrativ ertragen werden kann, dass der Erzähler, der selbst als Kind vor den Nazis geflohen war, sich selbst, und dies ganz bewusst „für andere“ (79), für mögliche Leser („von Anfang an als Roman konzipiert“, 240), rückhaltlos ins Spiel bringt: „Ich kann nichts weiter beschreiben als die Wahrheit meiner Existenz.“ (151) Ich habe schon tausendmal versucht, diese verfluchte Geschichte loszuwerden, immer vergebens. Entweder es waren nicht die richtigen Leute, denen ich sie erzählen wollte, oder ich habe irgendwelche Fehler gemacht. (Jurek Becker, Jakob der Lügner, 1969, 11) Wie bei Lenz oder Andersch entsteht auch bei Becker ein mühsamer Dialog von Erzählzwang und Vakuum der Adressaten. Ein Vakuum, eine Leerstelle (vgl. oben Kap. 5.3.2.3) bezeichnet präzise auch den eigentlichen und engsten historischen Fokus dieses Romans: Das Ghetto von Lodz hat es zwar historisch gegeben, Jurek Becker hat ein Dokument seiner eigenen Einweisung dorthin gefunden. Aber der Roman, eine Erfindung verlorener, weil nicht zu erinnernder Zeit (vgl. 303 ff.), erzählt eine Geschichte, die historisch nicht aufgehen konnte, eine radikal zugespitzte hypothetische Alternative (vgl. oben Kap. 4): Ein Ghettobewohner will den Lebensmut seiner Freunde durch „Lügen“ so lange aufrechterhalten, bis die Befreiung durch die Rote Armee da ist. Diese Befreiung freilich kam historisch zu spät (vgl. 316 ff.). „Majdanek […] Auschwitz“ (86), der Holocaust behalten historisch das letzte Wort. Eine „erlogene“ Hoffnung scheitert an der Historie: „Wir fahren, wohin wir fahren“ (288). Auch die Leser geraten am Ende aus den Möglichkeiten des Romans in den Alptraum der Geschichte. Aber angesichts der Lügen der NS-Ideologie, die historische Realität geworden sind, erhält die „Lüge“ der Erzählung neue Vorzeichen und geradezu „utopische Funktion“ (Bloch 1967, 1.166 ff; vgl. oben Kap. 5.4). Sie könnte zumindest Anstöße geben zu „wahrer“ Erinnerung, Trauer und Hoffnung. Wobei auch hier diese Fiktion immer gegen die damalige und seitherige Geschichte anerzählen muss (vgl. die Folgebände einer Art Trilogie: Der Boxer, 1976, und Bronsteins Kinder, 1986). Heinrich Böll erzählt in Gruppenbild mit Dame (1971) eine ganz andere Geschichte, einen Vielheitsroman, der spielerisch die hypothetischen Mythisierungen <?page no="281"?> alternativer Traditionen des historischen Romans fortzusetzen scheint (vgl. oben Kap. 4): Ein rheinisches Mädchen, vital und von Herzen im Widerstand gegen Nazi-Herrschaft, Krieg und Nachriegskapitalismus, wächst zu einer narrativen Heiligen, einer ganz irdischen Madonna „von unten“ heran, die zuletzt „aufgrund noch zu klärender Reflexionen sich selbst erscheint“ (374). Um sie herum „gruppieren“ sich viele mächtige böse und hilflose gute, aber immer von den Zeitschichten seit dem Dritten Reich bis in die Gegenwart geprägte, von ihnen beschädigte, ausgegrenzte, aber auch emporgetragene Gestalten. Wie bei Lenz, Andersch und Becker ist auch hier die Konfrontation von vergangener und gegenwärtiger Zeitebene prägend. Wie bei Andersch oder etwa Uwe Johnson (Jahrestage, 1968-1980, vgl. unten Kap. 7.3) oder etwa Christa Wolf werden dabei auch sprachliche Distanzierungen zeit- und verhaltenskritisch gewendet: Die vielstimmigen, oft konträren, meist mündlicher Rede angenäherten Personenerzählungen verfremden sich wechselseitig. Und der Ich-Erzähler, der sich selbst nur „Verf.“ (Verfasser) nennt, strebt einen distanziert nüchternen und berichtenden Diskurs und Sprachgestus an, alles jedoch so, dass die entlarvenden und wertenden Perspektiven nur noch deutlicher werden. Je weiter dabei die suchende Rekonstruktion einer unbewältigten Vergangenheit voranschreitet und sich gegen gegenwärtige Antagonismen behauptet, um so klarer gewinnt auch dieser Roman seinen historischen Fokus: Von 1933 an geht es mit dem (auf Kasernen- und Bunkerbau etc. spezialisierten) Geschäft aufwärts […] ab 1937 steil (67). Festzustellen bleibt, dass A […] sich bei seiner Division in Schneidemühl am 19.6.41 einzufinden [hat. Der Rußlandfeldzug wird vorbereitet]. Schon am 24. Juni 1941 abends kam die Meldung, dass A. bei der Einnahme von Grodno „fallen gelassen“ worden sei (117). Zwischen dem 12. 9. und dem 31.11.44 gab es siebzehn Tagesangriffe, es fielen ungefähr 150 Luftminen, etwas mehr als 14 000 Sprengbomben und ungefähr 350 000 Brandbomben; man muß begreifen, dass das unvermeidliche Chaos dem Paar günstig war. (213) Denn genau jetzt findet die fiktive Handlung ihren Höhepunkt: die Liebe der Romanheldin zu einem russischen Kriegsgefangenen, dessen tief menschenunwürdige Situation „der Verf.“ dann auch, ganz im Sinne eines historischen Romans, durch zitierte Dokumente belegt (vgl. 223 ff.). Diesem Handlungskern strebt alles zu. Von seinen Folgen wird alles erfasst. Ist das so sehr verschieden von der fiktiv-historischen Synekdoche (pars pro toto) oder etwa den exemplarischen humanen Grenzüberschreitungen, die Walter Scott in das Erzählen von Geschichte eingeführt hat (vgl. oben Kap. 2.2 u. 3.1)? Auf alle Fälle kann man so gesehen Gruppenbild mit Dame ebenso wie in wechselnder engerer oder weiterer Konzentration auch die anderen hier eben vorgestellten Beispiele als eben „historische Romane“ bezeichnen. Denn gerade für das Nach-Nachkriegs-Deutschland seit den 60er Jahren gilt: Traumatische Geschichten 273 <?page no="282"?> 274 Traumatische Geschichten Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd. (Christa Wolf, Kindheitsmuster, 1976, 9) Nicht nur teilt Christa Wolf viele der bereits beobachteten Erzählverfahren (vor allem dann auch mit Uwe Johnsons Jahrestage, 1970-1983, vgl. unten Kap. 7.3): die zwei Zeitebenen, Mehrstimmigkeit („solche Stimmen nun, haufenweise“, 35), diese auch in der Distanz der Ich-Erzählerin zu sich selbst als „du“, „sie“, „wir“, „man“, „das Kind“ usw., die prägende Figur einer Erinnerungs- und Reflexions-Reise, hier v. a. auch lokale Fokussierungen, aufzuarbeitendes Trauma und nachgetragene Trauer, Zeitkritik, waches Sprachbewusstsein, das Suchen nach vergangenen Möglichkeitsperspektiven und so fort. Der Anfangssatz, ein Zitat aus William Faulkners Requiem for a Nun (1951), zu dem sich etwa auch Alfred Andersch im Motto von Winterspelt (1974, 7) und auch sonst immer wieder bekannte (Wehdeking 1983, XIII), könnte alle in diesem Kapitel vorgestellten Romane einleiten. Und der zweite Satz über und gegen das Verdrängen auch. Denn gerade beide Sätze zusammen haben weithin repräsentative Bedeutung. Die nachgeholte europäische und amerikanische Moderne, für die hier der Name Faulkners stehen kann (vgl. exemplarisch Verf. 2001, 261 ff., sehr detailliert und ausführlich U. Müller 2005, 156 ff.), öffnet den „Weg zur Geschichte“ (H. Mayer 1988, 206, vgl. 176 ff.). Das polyhistorische Erzählen wendet sich gegen die spezifische deutsche Situation, als etwa ab Mitte der sechziger Jahre „die Nachkriegszeit […] zu Ende ging“ (Kindheitsmuster, 133), die Gegenwart „normal“ schien (ein Schlüsselwort in Kindheitsmuster), aber der seinerzeitige „totale Krieg“ und alles, was v. a. an Schuld an dieser Zeit hing, radikal gesagt mit „totaler Amnesie“ (42) beantwortet wurde: „wie man zugleich anwesend und nicht dabeigewesen sein kann, das schauerliche Geheimnis der Menschen dieses Jahrhunderts“ (ebd). In der Tat, man trennte sehr oft die Vergangenheit ab und stellte sich fremd. Dagegen erzählen diese Romane so an, dass die Leser sich fiktional verfremdet in ihnen immer noch wiederfinden können. Literarische Innovationsschübe einerseits, die freilich schon früher eingesetzt hatten (beispielhaft etwa der Schritt zu Nachdenken über Christa T., 1967, einer Zäsur in Christa Wolfs Erzählen, und dann Kindheitsmuster), andererseits eben eine Situation von vergangenem Trauma und gegenwärtigem Vakuum (vgl. oben Kap. 2, wobei die schnellen, tiefen Veränderungen auch das „sixty years since…“ verkürzt haben), lassen die Autoren, und dies weitgehend unabhängig voneinander, Strukturen des historischen Romans ( vgl. oben Kap. 5) neu aufgreifen: den historischen Fokus, den produktiven Zeitabstand mehrerer Zeitschichten („schreibend zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit vermitteln, sich ins Mittel legen“, 153), Subjektivierungen und Pluralisierungen, historisch-narrative, ja antihistorische <?page no="283"?> Metapoetik (etwa in den Kunstreflexionen bei Lenz, Andersch, Böll usw.), und sehr klar die produktive Differenz von Fiktion und Historie, die gerade jetzt in einem deutlich aufklärerischen Interesse auserzählt wird: „Denn du bist gehalten, die Fakten zu verwirren, um den Tatsachen näherzukommen […]. Es wird uns nicht gelingen, zu erklären, warum es so und nicht anders gekommen ist, doch sollten wir nicht davor zurückschrecken, wenigstens die Vorarbeiten für künftige Erklärungen zu leisten (57, 139). Auch das könnte in jedem der hier angesprochenen deutschen ,anderen‘ historischen Romane zwischen 1967 und 1976 stehen. Natürlich steht dort immer auch noch viel mehr. Die Kontinuität der Formen des historischen Romans, das neue Ineinander von Tradition, Moderne und vorausgreifend auch Postmoderne (vgl. z. B. unten v. a. Kap. 8.2), bildet nur einen, allerdings einen prägenden Aspekt dieser Beispiele. Genau darin sind sie ja auch so verwandt. Hier täte sich freilich ein sehr weites literarisches Feld auf. Die literarische, auch die narrativ experimentelle Auseinandersetzung mit Krieg und Drittem Reich durchdringt fast die gesamte deutsche Nachkriegsliteratur (vgl. auch unten Kap. 8 zu Hilsenrath, Sebald, Timm u. a.) und ist heute noch lange nicht zu Ende. Dasselbe gilt für die Forschung zu diesem Thema und dieser Epoche. Hier konnte nur extrem auswählend, eben exemplarisch vorgegangen werden. In diesem Sinne sollen im Folgenden nun nur drei, allerdings drei eher extreme, je für sich ganz eigenartige, und gerade darin (vgl. oben Kap. 1) besonders interessante romanhafte Auseinandersetzungen mit Krieg und Drittem Reich im deutschen historischen Roman näher vorgestellt werden. Alfred Andersch: Efraim. Roman. Zürich: Diogenes 1976. Jurek Becker: Jakob der Lügner. Mit einem Kommentar von Thomas Kraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000. Ders.: Der Boxer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979. Ders.: Bronsteins Kinder. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988. Heinrich Böll: Gruppenbild mit Dame. München: dtv, 1974. Siegfried Lenz: Deutschstunde. München: dtv, 1973. Ders.: Elfenbeinturm und Barrikade. Erfahrungen am Schreibtisch. Hamburg 1983. Christa Wolf: Kindheitsmuster. Darmstadt: Luchterhand, 1979. 7.1 Alexander Kluge: Schlachtbeschreibung (1964, 1978, 2000) Die erste Ausgabe trug noch den Untertitel Der organisatorische Aufbau eines Unglücks, der in späteren Fassungen teils in editorische Kommentare (vgl. 1968, 29; 1983, 4), teils wieder in den Titel aufgenommen wurde (so v. a. in die bisher letzte Fassung von 2000; im Folgenden steht die wichtigste Neubearbeitung von 1978, hier ohne weitere Angaben zitiert nach der Taschen- Alexander Kluge: Schlachtbeschreibung 275 <?page no="284"?> 276 Traumatische Geschichten buchausgabe von 1983 im Mittelpunkt; die Fassungen von 1964, zitiert nach der vom Autor überarbeiteten Taschenbuchausgabe von 1968, und die weitgehend mit der Neubearbeitung von 1978 textgleiche Fassung von 2000 in der zweibändigen Chronik der Gefühle werden exemplarisch verglichen). Aber der Anfang des Romans von 1964, das allererste Vorwort, setzt als Gegenstimme zum angekündigten organisatorischen Aufbau ganz unorganisiert und ironisch widersprüchlich ein: „Wir wollen nicht vergessen, dass Stalingrad ein Fanal war“; „und nicht zuletzt Schlimmeres verhütete.“ „Im Kessel war von uns ein Kreisleiter sowie der Tennismeister Adam Bawarowski.“ „Die Mittel, Stalingrad zu verhindern, bestanden nicht.“ […] „Ein Unglück wie dieses hat den Vorteil, dass es unmöglich mit zwei Augen zu sehen ist. So sah keiner von uns alles […].“ Was heißt überhaupt wird. Wir SA-Leute waren es nicht, wir Stabsoffiziere haben vorausgesagt, dass Bedenken […] bestanden, wir Intendanturrräte hatten Zweifel (an der) Eisenbahnkapazität in Südrußland […]. Wir, die unmittelbare Umgebung Hitlers - und Hitler selbst - standen mißtrauisch […] der oberen Führung gegenüber […]. Wir, die Philologen und Denker Deutschlands, haben immer betont, dass die Bildung im Sinken war. Wir von der Industrie hatten kein Interesse am bloßen Raum bei Stalingrad. Wir, die strategischen Fachleute, haben die großen Fragenkreise durchdacht […]. Rechenschaftsbericht Dienstag, 10. November 1942: In Stalingrad Stoßtruppentätigkeit. (1968, 7-11) Man sieht und hört geradezu aufdringlich nah jenes kollektive Verdrängen, Ausweichen, Rechtfertigen, trotzige „weiter so“ und schiere Geschwätz, gegen das auch Lenz, Andersch, Böll oder Christa Wolf anerzählt hatten (vgl. oben Kap. 7). Polyhistorie, die prägende, avancierte Erzählform der Moderne (vgl. oben Kap. 6), wurde im deutschen historischen Roman zu kritisch differenzierender Erinnerungs-, Trauer- und Reflexionsaufgabe. Jede der eben zitierten „Stimmen“ könnte ohne weiteres einem Handlungsstrang in Deutschstunde, Efraim, Gruppenbild mit Dame usw. zugeordnet werden. Aber die Montage-Technik Alexander Kluges lässt in ihrem „analytischen Realismus […] herkömmliche Abbildungsmodelle weit hinter sich“ (U. Müller 1988, 114, zu herkömmlich erzählten Stalingrad-Romanen, auch sowjetischen, vgl. Carp 1987, 97 ff.). Dort bündelten personale, oft in Ich-Form gehaltene Vergangenheitserkundungen die kritischen, aber auch zur Identifikation einladenden Impulse für die Leser. Kluge nun bietet eine solche zentrale Personenperspektive nicht an. Aber die gezielt arrangierten Materialen, die „Stalingrad“, die Vernichtung der 6. Armee im Winter 1942/ 1943 mit <?page no="285"?> insgesamt ca. 150.000 Toten umkreisen, eines der größten Traumata der deutschen Kriegsgeschichte, das „Unbesiegbarkeitsanspruch und Überlegenheitsgefühl“ des Dritten Reiches unumkehrbar zur „Illusion“ machte (Welte / Ueberschär 1992, 38), stellen von Anfang an das Unfassbare noch über das historisch allenfalls Rekonstruierbare. Auf alle Fälle fordern sie sofort die Leser zu eigenen kritischen Urteilen heraus. So bedeutet der Romananfang einerseits zwar einen Schritt vom Gerede zum Dokument; andererseits aber ist der kritische Impuls schon bei dieser ersten Montage, und das gilt erst recht für das Fort- und Wiederlesen, eine Aufforderung zu prüfender, viel weitergehender Differenzierung, und dies so konsequent, dass die „Einäugigkeit des je einzelnen Dokuments“ (Siebers 2000, 160) gesprengt wird und gerade der Rechenschaftsbericht sofort selbst zu einer Fiktion gerät. Die späteren Fassungen von 1978 und 2000 werden sehr sprechend genau diesen scheinbaren bloßen „Bericht“ als Höhepunkt der Verdrängung und Verschleierung an das Ende des Romans stellen und - „Sie starben, damit Deutschland lebe. Ihr Vorbild wird sich auswirken bis in die fernsten Zeiten“ (365) - genau in jenes „Fanal“ übergehen lassen, das am Beginn der Erstfassung selbstbetrügerisch und andere betrügend nicht „vergessen“ werden sollte. Die Fiktion des Romans - dass es sich um einen Roman handelt, wird sich immer wieder zeigen - differenziert, entlarvt und zersetzt die Fiktionen verdrängter, aber auch dokumentierter Geschichte: Das Buch, wie jede Fiktion (auch die aus dokumentarischem Material bestehende), enthält ein Gitter, an das sich die Phantasie des Lesers anklammern kann, wenn sie sich in Richtung Stalingrad bewegt. (1968, 237 vgl. 1983, 368) Mit dieser Nachbemerkung endet sowohl die erste als auch die zweite Fassung (1978). Der kritisch differenzierende, aufklärerische Impetus, der auch die Aufklärung der „Phantasie“ und der „Gefühle“ (Chronik der Gefühle) bedeutet, prägt alle Fassungen von Schlachtbeschreibung. Aber die zweite und dann auch die dritte Fassung (2000) beginnen noch einmal wesentlich negativer als die erste: Nachricht Eine Nachricht z. B. ist: „Ein Junge weint nicht.“ Das ist eine Nachricht über den Wirklichkeitssinn. „Ein Unglück wie Stalingrad hat den Vorteil, dass es unmöglich mit zwei Augen zu sehen ist. So sah keiner von uns alles…“ „Ein Junge weint nicht.“ „Der Oberst Gallus weinte, als 70 eigene Panzer, die nicht erwartet worden waren, 1943 einige Kilometer westlich seines bereits so gut wie verlorenen Haltepunktes erschienen […] In Stalingrad weinte am 26. Jänner der Rittmeister v. G. […] Oberst Selle […] begann zu weinen. […]“ Alexander Kluge: Schlachtbeschreibung 277 <?page no="286"?> 278 Traumatische Geschichten Dies ist der organisatorische Aufbau eines Unglücks. Es baut sich quasi fabrikmäßig, in den Formen der Staatsanstalt auf; die menschlichen Reaktionen darauf bleiben privat. Sie addieren sich nicht fabrikmäßig. […] „Natur, Sonne. Über die Augen eines vereisten Toten haben sich Krähen hergemacht. […]“ (7-9; 2000, 513/ 514) Und als Fußnote zur Überschrift „Nachricht“ steht: „Dazu verhält sich der Kessel von Stalingrad als Nicht-Nachricht“ (ebd.). Das ist von Anfang an ein entscheidendes Stichwort. Das Trauma Stalingrad lässt sich nicht wie eine Nachricht eingrenzen und einordnen, weder in eine kohärente Geschichte noch in ein Paradigma von Werten (vgl. oben Kap. 5.3). So ist es historisch ganz wörtlich unfassbar. Sowohl die direkte Anschauung („unmöglich mit zwei Augen zu sehen“) als auch eine abstrahierende Rekonstruktion („organisatorischer Aufbau eines Unglücks“) müssen sich in unendlichen Differenzierungen verlieren. Die „menschlichen Reaktionen“ beispielsweise negieren die „fabrikmäßige“ Herstellung der Katastrophe - das „Weinen“ kehrt auch später im Roman immer wieder -, der gleich anfangs genannte „Realitätssinn […] in Gesellschaft zu verharren“ (8), zersetzt jede Vernunft: „Was ist das für eine Vernunft, […] die die Leute davon abhält, in einer solchen Situation einfach auseinanderzulaufen? “ (ebd.). Es gibt dagegen allerdings nur in der Niederlage Momente der „Freiheit“, aber „seit tausend Jahren werden sie nicht genutzt: In solche Not kann nicht die Natur bringen“ (9). „Auch die Zukunft ist leider nicht mehr das, was sie einmal war. Paul Valery“ (so das Motto der Fassung von 2000, 510). Gleichwohl betonen die Fassungen von 1978 und, nur geringfügig abweichend, auch die von 2000, was im Grunde für alle Fassungen gegolten hatte: Schlachtbeschreibung ist ein auf Wirkung, ja Erziehung der Leser gerichtetes Buch. Kluges „Kunst“ versteht sich als „Teil eines Gesamtprozesses der Realität“ (Burmeister 1985, 12). Aber dazu bedarf es einer anderen „Vernunft“, als der des „Krieges“ oder der „Fabrik“. Notwendig ist gegenüber diesem unfassbaren und verdrängten Trauma Stalingrad eine spielend-zer-spielende, kritische Vernunft des Romans, das Denken einer literarischen Form, die sich selbst widerspricht. Dies Buch hier über Stalingrad muß der Leser gegen den Strich lesen, in einem ganz unpraktischen, inaktuellen, von der BRD-Gegenwart [von der Gegenwart der Berliner Republik, 2000, 511] abgewendeten zähen Interesse, so antirealistisch wie die Wünsche und die Gewissheit, dass Realitäten, die Stalingrad hervorbringen, böse Fiktionen sind. Dass ich auf Stalingrad beharre, hat den Protestgrund, dass Erinnerungslosigkeit irreal ist. (7) <?page no="287"?> Man sieht, wie die Leser von Anfang an (die Fassung von 2000 stellt diesen Text noch vor das Inhaltsverzeichnis) aufgefordert werden „gegen den Strich zu lesen“, Widersprüche nicht nur auszuhalten, sondern auszutragen: „zähes Interesse“ für das Unfassbare, „antirealistisch“ gegenüber solchen „Realitäten“, die „böse Fiktionen“ hervorbringen, „unpraktisch“ - sprich: zweckfrei, eine alte Definition des Ästhetischen - um zu protestieren, „inaktuell“ lesen, um „irrealer Erinnerungslosigkeit“ zu entgehen und so fort. Die kritischen Differenzierungen, um die es seit 1964 in allen Fassungen gegangen war, die gegeneinander ausgespielten verschiedenen „Optionen zu den historischen Ereignisketten“, die mehrfachen „Modalitäten geschichtlicher Prozesse“ (Siebers 2000, 165), erhalten 1978 und 2000 etwas Selbstzersetzendes. Die Kritik an den Fiktionen der Realität, an deren Konstruktcharakter („organisatorischer Aufbau eines Unglücks“) und scheinbaren Gegebenheit, gehen über in die Kritik am Glauben an Kritik, am Glauben, dass es mit kritischer Erkenntnis getan sei. Das bekommt immer mehr eine neue Qualität. Kluge geht es auf seine Weise, aber fortschreitend immer radikaler um eine postmoderne (vgl. unten Kap. 8), in sich paradoxe, anti- und überaufklärerische Aufklärung, zu der die hybride Form des historischen Romans seit je viel Affinität hat, eine fiktional-historische Aufklärung, die sich dem vollen Risiko ihres eigenen Scheiterns aussetzt. Postmodern allerdings wirken auch die späteren Fassungen dieses Romans allenfalls an ihren Rändern - dazu gleich mehr. Prägend ist auch am neuen Anfang des Romans schon bald das kritische Erkenntnisinteresse, sich durch Dokumente und Fiktionen hindurch „in Richtung Stalingrad“ zu bewegen, so unfassbar dieser historische Kern im Ganzen immer bleiben mag. Denn in der montierten Folge der Dokumente, zum Beispiel alten Heeresvorschriften wie Richtlinien für den Winterkrieg (11 ff.), geheimen Anweisungen des „Reichspressechefs“ im Kapitel Pressemäßige Behandlung (332 ff.), Protokollen von Befragungen Überlebender: „Praktiker“ (Offiziere und einfache Soldaten, 31 ff.) oder „Ärzte“ (61 ff., in der Erstfassung noch mit „Wunden“ überschrieben, 1968, 97 ff.) und vielem mehr, in dieser Montage steht in allen Fassungen das chronikartig von Tag zu Tag fortschreitende längste Kapitel Die Unglückstage (73-166, bzw. Tagesabläufe, 1968, 111-190) im Mittelpunkt. Dass es in den beiden späteren, überhaupt ja erheblich erweiterten Fassungen mehr nach vorn gerückt wird, ändert nichts an der offensichtlichen Konstruktions-Tendenz des Gesamtromans: Dieses dichteste und anschaulichste Kapitel soll mit immer neuen Kreisen von Fragen umgeben werden, die sowohl zentrifugal ausgreifen, als auch ganz gezielt sich zusammenziehen. Dabei werden Fiktionen durch Fiktionen kritisiert. Und diese ganz wörtlich „diskursiven“, „hin und herlaufenden“ Funktionen, indem sie Stimmen, Geschichten und Werte (vgl. oben Kap. 5.3) verknüpfen, sind durchaus Alexander Kluge: Schlachtbeschreibung 279 <?page no="288"?> 280 Traumatische Geschichten umkehrbar. Schon das direkt Gesehene, genauer, das als gesehen Präsentierte, ist hier mehrfach ein zweifelhaft Hergestelltes. Wie zuverlässig ist etwa die Eintragung: „Rückmarsch zu einer gedachten Linie im Schnee, die teilweise durch Pflöcke und Bindfaden markiert war. Es wurde gesagt, dies sei nun die endgültige Abwehrlinie“ (152)? Wie relevant ist: „Gefr. Krichen hat am 13.1. wegen Fußverstauchung Truppenarzt aufgesucht“ (118)? Andererseits dann die vielen taktischen und organisatorischen Notierungen, etwa: „Der Auftrag der Ersatzgruppe für den 14. lautete: Halten des Brückenkopfes Sa., Aufklärung auf Goo., Scha. und Wegeerkundung nach Westen und Osten“ (103); solche Planungen werden in diesem alltäglichen Kontext so abstrakt, dass sie, wie dokumentiert sie immer sein mögen, in Fiktionen übergehen. Hier beispielsweise heißt es gleich darauf: (Es) „lag auf allen Bewegungen der Zweifel, ob sie nicht im Grunde unmöglich seien“ (ebd.). Viele Passagen, etwa die Kriegserlebnisse eines einzelnen Offiziers, seine immer neuen Verluste von Freunden und Untergebenen, für die er sich verantwortlich fühlt, mit dem ,Höhepunkt‘: „Setzte er sich in eine Ackerfurche und weinte [leichtes Infanteriefeuer deckte ihn ein]“ (156/ 157) -, solche Teile sind bereits mikrostrukturell geschlossene, kleine historische Romane. Nicht nur das zentrale Kapitel Die Unglückstage kann wie der Entwurf einer breiten, multipel epischen oder filmischen Darstellung gelesen werden. Erst recht fiktiv präsentieren sich die phantastischen oder Science Fiction-artigen Erweiterungen, die in der Fassung 1978 hinzugekommen sind (in der Fassung 2000 allerdings teilweise ersetzt wurden). Geradezu postmodern (vgl. unten Kap. 9), mit den Übergängen von Science Fiction und Historie spielend - hier freilich in letztlich aufklärerischem Interesse -, wirkt beispielsweise jener, nur in der Fassung von 1978 zu findende, recht lange Ausblick (262 ff.), dass deutsche Offiziere „am 30. Januar 1943“ nach Osten „irgendwie in Richtung China“ ausbrechen (265), für die Kuomintang, dann den US-Geheimdienst arbeiten, „der Endkatastrophe“ (277) der Kriege auf der Erde entkommen, um auf dem Jupitermond Mimas „hellwach“, als „die gefährlichsten Gegner […] in der Galaxis“ weiterzukämpfen (280). Gleichwohl bleibt den ganzen Roman hindurch kein Zweifel daran, dass es sich bei dem Fokus „Stalingrad“ in Schlachtbeschreibung um historische Ereignisse handelt (zur historischen Genauigkeit vgl. z. B. Wette / Ueberschär 1992). Die Grenzen und Differenzierungen von Fiktion und Historie (vgl. oben Kap. 5.2 u. 5.3) werden sehr konsequent genutzt. Einerseits werden sie in alle Richtungen und auf verschiedenen Niveaus der Verallgemeinerung so oft überschritten, dass sie sich im Einzelnen immer wieder verwischen. Andererseits aber werden genau so immer wieder Fiktionen gegen Historie abgesetzt. So wird etwa völlig klar, dass Hitler und die höhere militärische Führung mit fiktiven Bedingungen und Einheiten operieren, „es sind aber Menschen daran gestorben“ (298), oder dass die vielerlei „Sprachregelungen“, <?page no="289"?> die „Militärgeschichtlichen Entwürfe“ (213 ff.), Predigttexte, von deren Wiederholung immer gleicher Leitworte und Gedanken „mindestens ebenso starke Suggestionskraft ausgeht wie von Goebbel’s indoktrinierendem Insistieren auf immer gleichen Vokabeln“ (Bosse 1989, 76), die „Formenwelt“ des Offizierskorps (245 ff.) und so fort, erst recht die Konstruktionen politisch geführter Presse (332 ff.), dass diese realitätsmächtigen Sprachspiele Fiktionen hervorbringen. Denn all dies bricht sich an einer Historie, die, auch wenn sie im Ganzen wie im Einzelnen nie völlig sicher bekannt ist, gleichwohl ihre faktische Resistenz gegen Fiktionalisierungen aller Art beweist. Gerade auch solche gelenkten Negationen bzw. Aussparungen wie Nachrichtensperre 1943 (321 ff.) finden ihre Grenze daran, dass „Stalingrad war“ (297). So ist gerade auch Schlachtbeschreibung ein „polyhistorischer“, die Differenz von Fiktion und Historie produktiv nutzender Roman: Das Buch, wie jede Fiktion (auch die aus dokumentarischem Material bestehende), enthält ein Gitter, an das sich die Phantasie des Lesers anklammern kann, wenn sie sich in Richtung Stalingrad bewegt. (368) Wenn „Postmoderne“ heißt, das volle Sinn-Risiko der Moderne auszuspielen, oder, anders angesetzt, das Projekt Aufklärung auch durch Negationen von Vernunft hindurch zu verfolgen, dann macht Schlachtbeschreibung diese Kontinuität, von der gerade der historische Roman seit langem geprägt ist (vgl. unten Kap. 8), exemplarisch deutlich. Vor allem die Fassung von 1978 kann wohl nur so angemessen verstanden werden. Ihre auffallendsten Erweiterungen bilden einerseits die bereits genannten Science Fiction-Partien, oder alten Utopien (Eine Großstadt in 50 Jahren, 26 ff., Die Polarfestung, 280 ff.), oder teils reichlich absurde, teils populäre Illustrations-, Pop- und Comic-Momente (vgl. 320 und 298), die doch wohl einer „cross-the-border“-Literatur zuzurechnen sind; andererseits gibt es hier zwar sprunghaft montierte, aber doch historisch-reflektierende Partien: etwa über die Vorgeschichte der Reichs- und Gehorsams-Organisation seit dem Mittelalter (vgl. 300 ff.), oder über die (meist hilflosen) damaligen und späteren Kontinuitätsstiftungen Bertrams Proportionsgefühl (284 ff.), eine an eine Satire grenzende Kürzest-Form eines historischen Romans im Walter-Scott-Stil, oder Gabi Teicherts Geschichtsbegriff, Voßkamps Mittel-Kurzgriff und Pratschkes Langzeitbegriff (294 ff.), in denen man vielleicht nicht weniger satirische Skizzen jüngerer Romanformen, wie etwa Umberto Ecos Das Foucaultsche Pendel (1988) oder Barry Unsworths Losing Nelson (1999) erkennen kann (vgl. unten Kap. 8). All das setzt aber immer noch jenen sprach- und verhaltenskritischen Diskurs fort, der schon die Erstfassung geprägt hatte und der durch die auffallenden Umstellungen der Zweitfassung noch verdeutlicht und intensiviert wird. Alexander Kluge: Schlachtbeschreibung 281 <?page no="290"?> 282 Traumatische Geschichten Das gilt sehr deutlich auch für die folgende Veränderung: Die im Nazi- Sinne schulbuchreife („Sie starben, damit Deutschland lebe. Ihr Vorbild wird sich auswirken bis in die fernsten Zeiten“, 365) Chronik Rechenschaftsbericht (347-365) steht jetzt nahezu am Ende des Buches und folgt dem schneidendentlarvenden Kapitel Pressemäßige Behandlung (332 ff.), während diese beiden Partien in der Erstfassung in umgekehrter Reihenfolge am Anfang gestanden waren. Die Kritik an den Nachrichtenmanipulationen und Kompetenz- oder auch Helden-Fiktionen wird dadurch noch kräftiger. Die Lüge ist nicht mehr nur ein Nebel, der aufgelöst, sie ist ein Schlussstein, der zusammen mit der ganzen Konstruktion zerbrochen werden muss, intellektuell zerstört bis in die kleinsten Teile des Sprach-, Denk- und Gefühlsverhaltens hinein: Gehorsam, Zusammenhalt, Nationalismus, Führungsqualitäten („Erfolgreiche Generäle putschen nicht […] unglückliche Feldherrn können nicht putschen“, 257), Militärbegeisterung, „Helden“-Verehrung (vgl. die „Tagesparolen“ und letzten Teile des „Rechenschaftsberichts“, in denen dieses Wort andauernd wiederholt wird, 342 ff. und 360 ff.) und so fort. Der „Beschreibung“ dieser „Schlacht“ geht es nicht nur um ein verbessertes, genaueres Bild, schon gar nicht um eine verbesserte militärisch-industrielle Strategie usw., es geht um eine differenzierend-destruktive Sicht, eine kompromisslos kritische Darstellung und Rezeption, die neues, besseres Denken und Sich-Verhalten begründen, zumindest als Möglichkeit offenhalten soll. Insofern ist Schlachtbeschreibung ein radikal aufklärerischer Roman, der ganz folgerichtig mit einem Zitat von Diderot schließt: „Kein Mensch hat von der Natur das Recht erhalten, anderen zu befehlen.“ (367). Aber aufklärerisch argumentiert dieser Roman eben unter dem Vorzeichen eines vollen Sinnrisikos der trans-konstruktiven Postmoderne. Das macht gerade auch seine Einordnung von 2000 als eine von mehreren Basisgeschichten der Chronik der Gefühle deutlich: In uns sitzt ETWAS, das will spielen. Dieses ETWAS läßt sich nicht beruhigen durch US-Kalender, die mit Null anfangen: jeden Moment beginnt ein neues Leben. Noch hält dieses ETWAS die strenge (und vertrauenswürdige) EINSICHT aus: wir Menschen seien in den Krallen der Vorgeschichte gefangen und der Weg zur Emanzipation führe durch alle Höllen der Vergangenheit. Dieses ETWAS gilt als „verwildert“. Und „es behauptet sich selbst“. Es hat ein Auge darauf, dass nichts so ist, wie es definiert wird (: ) Geschichten […] (2000, 797) So beginnt das auf Schlachtbeschreibung in der Chronik der Gefühle folgende Kapitel Verwilderte Selbstbehauptung. Und dieses Programm könnte auch über großen Partien des historischen Romans der Postmoderne stehen mit seinem „Spiel mit den Katastrophen“ („Höllen der Vergangenheit“), exzentrischen Subjektivitäten im „Spiel der Erinnerungen“ (z. B. extremen „Gefühls“-Lagen und „verwilderter Selbstbehauptung“), Spiel mit Bezeichnungen („dass <?page no="291"?> nichts so ist, wie es definiert wird“) und so fort. Auch das Thema vom „end of history“ („Kalender, die mit Null anfangen“) findet sich dort immer wieder. Anders gesagt, dieses eben zitierte Programm fasst durchaus die spielerisch- „strenge“, auf „Einsicht“ und „Emanzipation“ gerichtete, die „Krallen der Vorgeschichte“ aufbrechende Multi-Montage von Schlachtbeschreibung noch einmal zusammen, es grenzt aber auch davon ab. Denn einerseits finden sich in der Chronik der Gefühle viele ähnlich wie Schlachtbeschreibung konzipierte, traumatische Vergangenheiten dezentral rekonstruierende Texte: Ungeschick mit Todesfolge beispielsweise (über die „Befehlsverhedderung“, jüdische Kinder zu „beseitigen“, 2000, 444 ff.), oder Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 (2000, 2.27 ff.), oder Verschrottung durch Arbeit (über ein „Produktions“- und zugleich „Vernichtungs“-Lager, 2000, 2.101 ff.), oder Der Versuch, einfach zu denken (über die perverse Ratio eines „Nazi der Wissenschaft“, 2000, 2.291 ff.). Auffallend ist auch, wie sorgfältig der Fokus „Stalingrad“ von den umrahmenden Kapiteln der Chronik der Gefühle vorbereitet wird („die Schlachtbeschreibung“ sieht Valentin Falin „auf der subjektiven Seite“, 2000, 507), bzw. wie sie daran anknüpfen, etwa wenn in einem „Kessel“ des Krieges eine „Front-Theatertruppe von der Roten Armee überrollt“ wird, um dann „spezialisiert auf Pantomime sprachunabhängig“ auf der Gegenseite weiter zu „tingeln“ (801). Andererseits bedeutet all dies, wie gerade das eben genannte Beispiel zeigt, für die letzte Fassung des Romans auch eine neuerliche Umverteilung der spielerisch-aufklärerischen Akzente. Die Unterschiede zwischen den Fassungen von 1978 und 2000 sind minimal, aber sprechend. Sie finden sich v. a. im Kapitel Verhedderung (262-296, vgl. 2000, 709-737). Denn hier sind zwei ausgesprochen spielerisch postmoderne, zentrifugale Geschichten, jede für sich ein kleiner Roman, herausgenommen worden: Bertrams Proportionsgefühl, das literarhistorisch interessant das Scheitern bzw. Ins-Leere-Laufen eines „mittleren Helden“, eines „Vermittlers“ durchaus im Sinne von Walter Scott (vgl. oben Kap. 2.2 und 3.1) erzählt und dies bis in eine absurde Diskussion um den „Hegelschen Weltgeist“ (288) im Frankfurter Institut für Sozialforschung hinein (284-289). Und herausgenommen wurde auch die oben angesprochene Science Fiction- Fortsetzung dreier Stalingrad-Schicksale, die ihre „Heimat […] schon in Stalingrad verloren“ hatten (262), um im galaktischen Endkampf auf dem Jupitermond Mimas ein „Wiederauftauchen des Sinnzusammenhangs“ (279) zu erfahren. Während diese Geschichten, die in Zeit und Raum den historischen Fokus auseinander spielen (ebenso der sehr deutlich postmoderne, ein Subjekt dekonstruierende Text „ich bin gar kein Ich“, 269), in andere Teile der Chronik der Gefühle ausgelagert wurden (vgl. 2000, 2, 18 ff., unter dem bezeichnenden Motto: „Geschichten ohne Oberbegriff“, ebd., 11, und 2000, 2. 842 ff; zur Entstehung vgl. 2000, 2. 1013 ff.), wurden neue Geschichten in das Kapitel Verhedderung aufgenommen, die teils absurd, teils aber auch scho- Alexander Kluge: Schlachtbeschreibung 283 <?page no="292"?> 284 Traumatische Geschichten nungslos verhaltenskritisch in einer „Hermeneutik des Nichtaussprechens“ (Carp 1995, 675), den jetzt also leeren, so erst recht historischen (vgl. oben Kap. 5.2) Fokus Stalingrad umkreisen. Absurd, aber auf ihre Weise konsequent motiviert wirken die neuen Anekdoten über Hitler (z. B. Der Friseur des Führers ist verantwortlich dafür, dass „Hitler nach Stalingrad keinen Frieden schloß? “, 2000, 715), oder die Analyse: „Was (Hitler) nicht hatte, das war er nicht bereit aufzugeben, was er hatte, wollte er gern opfern“ (712); geradezu zynisch-aufklärerisch dagegen liest sich - was freilich in der „obszön […] zergliedernden Sprache“ der Arztberichte (Carp 1987, 230) bereits vorweggespiegelt ist -, wie das Kapitel Brennstoff der Freiheit in der Niederlage (2000, 720) in kleinen, geradezu filmischen Szenen („sie entrissen ihm den toten Bruder“, 2000, 721) den Kannibalismus im Kessel anschaulich macht. Eine andere Geschichte dagegen, in der einerseits zwei „Militärrichter“ als „Engel der Vergeltung“ bis ganz zuletzt Konsequenz zeigen, andererseits ein bereits „amputierter“ Offizier eine entgegengesetzte, persönliche „Vergeltung“ üben will, indem er den ersten ihm begegnenden „Verantwortlichen“ erschießt (709), und wie beide Intentionen ihr Ziel verfehlen, dieser Mini-Roman, liest er sich nicht wie eine Parabel jener postmodern riskanten Aufklärung, die auch und gerade Leerstellen an Sinn in ihr kritisches Kalkül mit einbezieht? Alexander Kluge: Schlachtbeschreibung. Frankfurt a. M. - Hamburg: Fischer, 1968. Ders.: Schlachtbeschreibung. Roman. Erweiterte und revidierte Fassung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983. Ders.: Schlachtbeschreibung. Organisatorischer Aufbau eines Unglücks. In: Ders.: Chronik der Gefühle. Bd. 1. Basisgeschichten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000, 509-793. Bosse: Alexander Kluge. 1989. • Burmeister: Kunst als Protest und Widerstand. 1985. • Carp: Kriegsgeschichten. 1987. • Carp: Schlachtbeschreibung. 1955. • Roberts: The German Historical Novel in the Twentieth Century. 1991. • Schulte: Die Schrift an der Wand. 2000. • Sieberz: Was zwei Augen nicht sehen können. 2000. • Wette / Ueberschär: Stalingrad. 1992. 7.2 Alfred Andersch: Winterspelt (1974) Die Übergabe eines Bataillons durch seinen kommandierenden Offizier an den Feind [hat es] während des 2. Weltkriegs und vielleicht aller Kriege […] niemals gegeben. […] Schön wär’s ja [gewesen] selbst im Falle des Scheiterns. [Aber] so weit darf Erzählung die Fiktion nicht treiben. Ihr genügt ein Sandkastenspiel. (63) Doch der Roman ist mehr als dieses Sandkastenspiel, auf dessen Freiheit er sich beruft. Es genügt Andersch auch nicht zu erklären: Weil es derlei „nicht gegeben hat“, musste es „erfunden werden“ (63). Im Gegenteil: Weil für einen Roman jemand, der so etwas plante, „erfunden wurde, gibt es ihn jetzt“ (63/ 64). Die Differenz von Historie und Fiktion wird frei und selbstbewusst <?page no="293"?> genutzt. Andersch zitiert Leopold von Rankes Sentenz: „Geschichte berichtet, wie es gewesen / Erzählung spielt eine Möglichkeit durch“, als „Sandkasten“ (22, vgl. auch oben Kap. 1), und das ist nun wichtig, genau gegen dessen Intention (vgl. Wehdeking 1983, 134 f.). Es geht, bei aller historiographischen Genauigkeit, um den experimentellen Schritt von der Idee zur Frage, zur Frage nach einer (historisch) möglichen, Alternativen bedenkenden, historisch zu fordernden Verwirklichung einer solchen Idee, nicht um eine bloße Korrektur von Geschichte. „Erzählen heißt ja nicht: das Lasso einer Absicht über ein Objekt werfen.“ (64) Die dichteste Aussage des Romans ist eine konsequent ästhetische und, wenn auch formal, oder besser: funktional-energetisch, eine radikal utopische, die „das Gegebene transzendiert und Neues schafft“, indem sie es in der „Wechselwirkung von Kunst und Wirklichkeit“ entwirft (Heidelberger-Leonard 1986, 224). Sie transzendiert sowohl die Fiktion - das zitierte Bild Polyphon gefaßtes Weiß (1930) von Paul Klee ist im Roman nicht abgebildet, befindet sich überhaupt anderswo, aber es gab und gibt es (vgl. 599) - als auch die Historie, also den Kontext der „Ardennen-Offensive“ (16. Dezember 1944 - 12. Januar 1945). Aber genau darin wird der Roman, ein „Sandkastenspiel mit dem Entsetzlichen“ (Scherpe 1994, 133), für das Denken von Geschichte und den Umgang mit ihr relevant. Die Handlung ist geographisch (östlich und westlich von Hemmeres, d. h. der heutigen deutsch-belgischen Grenze entlang der Our, vgl. aber 128: „Retuschen an der Hauptkampfzone“) und zeitlich (Höhepunkt ist Donnerstag, der 12. Oktober 1944) sehr genau in einen Kriegsabschnitt relativer und vorläufiger Ruhe hinein entworfen. („Diese Überschaubarkeit ist eine entscheidende Voraussetzung des ,Sandkastenspiels‘.“ Petersen 1994, 84; „der Roman inszeniert einen Moment der Stille vor dem Sturm“, Reinhold 2004, 157.) Ein deutscher Bataillons-Kommandeur (Dincklage) spielt mit dem Gedanken, seinen Verband kampflos den Amerikanern zu übergeben; durch seine Geliebte (Käthe) und deren Kontakte zu einem untergetauchten Altkommunisten (Hainstock) sowie durch diesen zu einem aus dem belgischen Exil immer wieder die Grenze überschreitenden Kunsthistoriker (der sich in einer Art ästhetischem Widerstand zum Nazi-Regime befindet, Scheffold), schließlich über diesen wiederum zu einem amerikanischen Kompaniechef, einem leicht rebellischen Südstaatler (Kimbrough, eine Hommage an Hemingway, vgl. Wehdeking 1983, 132), in der Dynamik dieser Verkettung erst (eigentlich war Käthe „der Motor dieses ganzen Unternehmens“, 100) beginnt der Plan konkret zu werden, ohne dass - und daran besteht schon bald kein Zweifel - einer der Beteiligten an seine Durchführbarkeit glaubt. Scheffold soll nun erste Kontakte zwischen Kimbrough und Dincklage vermitteln. Aber, als „Zeichen“ dafür, dass „beide Seiten es ernst meinen“ (198), auch um Dincklages „Ehre“, einem „inhaltslose(n) Ehrbegriff“ (Schütte, 1980, 150), der deutlich an entsprechende Passagen etwa in Kluges Schlachtbeschreibung (1964-2000) erinnert (vgl. oben Kap. 7.1), gerecht zu werden, muss er „durch die Linie“ (149) kommen. Der Soldat, der ihn festnimmt und wieder zurückbringt (Reidel, ein aggressiver, vielfach gedemütigter, verdeckter Homosexueller, der Leute wie Scheffold hasst, und gerade in alledem ein „mordend […] staatserhaltender Mensch“, Koeppen Alfred Andersch: Winterspelt 285 <?page no="294"?> 286 Traumatische Geschichten 1980, 160), erschießt ihn, kurz bevor er den rettenden Wald erreicht hat. (Dies ist das „handlungsauslösende Element des Ganzen“, Reinhold 2004, 161.) Käthe nutzt noch am selben Tag die „undichte Stelle in (der) Front“ (187) und flieht hinter die amerikanischen Linien. („Die echte Freiheit besteht darin, sich seine Unfreiheit selber auszuwählen,“ Heidelberger-Leonard 1986, 206.) Um diesen Handlungskern gruppieren sich die Lebensgeschichten, Gefühle und Gedanken der Hauptfiguren, sowie vielerlei einmontierte kriegsgeschichtliche Darstellungen, Tabellen (vgl. etwa die erschütternde, nüchterne Bilanz: Menschenverluste während der Ardennen-Offensive, 594 f.), Überlegungen zu Geologie, Kunstgeschichte, Politökonomie usw., schließlich literarische Skizzen verschiedener Form bis hin zu Prosagedichten. Man merkt zunächst den Einfluss Faulkners, vor allem in der Erzähltechnik, also in der mehrsträngigen, räumlich und zeitlich konzentrierten Handlung, in den retrospektiven Biographien, dem Wechsel der Perspektiven und Stimmen, dem Zusammenhang von privatem und historischem Trauma, von Demütigung und Aggressivität und vielem mehr, insbesondere von Light in August (1931). Aber, was generell ein Kennzeichen der deutschen Faulkner- Rezeption ist (vgl. oben Kap. 7 zu Christa Wolf, unten Kap. 7.3 zu Uwe Johnson), alles wird distanzierter, hypothetischer, als Experiment und als Reflexion, als Text und Buch präsentiert. In dieser bewussten Literarizität hat Andersch auch sehr deutliche Spuren zu seinem bisherigen Œuvre gelegt: Die ganze Erzählform, das Motiv des geretteten Kunstwerks, das Thema der Privataktion und vieles mehr nehmen Elemente aus Sansibar oder der letzte Grund (1957) wieder auf. Der Rat zu desertieren, die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, überhaupt die Randgestalten der jungen Männer, erinnern an Die Kirschen der Freiheit (1952), die Fritz-Kien-Erzählungen (1980 ff.) und damit an Anderschs eigene Biographie (vgl. Schröter 1988). Die ausbrechende junge Frau knüpft an Die Rote (1960) an, Dincklages Theorie von Chaos und Zufall zitiert fast schon wörtlich Efraim (1967), der Übergang Scheffolds von der Autonomie der Ästhetik zur Freiheit humanen Engagements verweist auf Die Blindheit des Kunstwerks (1965) und so fort. So wirkt Winterspelt wie Anderschs letztes, großes, fiktional-historisches, imaginativpraktisches, literarisches Experiment. Man kann den Roman nur in solchen Widersprüchen charakterisieren. Der Versuch einer symbolischen Aktion - um mehr hätte es sich selbst im Falle des Gelingens nie gehandelt, ja, genau genommen steht noch radikaler die eine symbolische Handlung (Scheffold geht „durch die Linie“) für eine andere, die ,ehrenhafte‘ Privat-Kapitulation - dieser Versuch eines Versuchs, „Zeichen (für ein) Zeichen“ (331), wird schon im Ansatz durch eine unglückliche und unvorhersehbare Verkettung von Umständen falsch. Aber das bedeutet eben aufgrund dieser Erzählform keinesfalls das letzte Wort. Auf die Handlung kommt es immer weniger an. Spätestens bei der Zweitlektüre treten vielmehr die Motive, Alternativen, möglichen Konsequenzen usw. selbst <?page no="295"?> immer stärker hervor, und dies genau in dem Maße, in dem die Unmöglichkeit des Gelingens zur Gewissheit wird (Kimbrough wird jede eigenmächtige Aktion verboten, das Verbot wird überwacht; und Dincklages Bataillon wird noch in der Nacht des 12. Oktober, also bevor irgendetwas realisiert werden könnte, verlegt). Entscheidend ist es, dass ein mehrfacher Werte-Konflikt in einer je exemplarischen, genau bezeichneten, historischen Situation zumindest eine Leerstelle von Möglichkeiten entwirft. Ist das Bild von Paul Klee, Polyphon umgrenztes Weiß, dessentwegen Scheffold in den Widerstand ging, dann der eigentliche Held des Romans? Es zeigt eine Bewegung [von] Farbwerte[n], die, obwohl sie sich in liegenden oder aufrechten Rechtecken abspielte, das weiße Rechteck in der Mitte einkreiste. Diese Bewegung von einem dunklen Rand in ein helles Innere wirkte tatsächlich mehrstimmig, polyphon, weil der Maler es verstanden hatte, die Tonwerte der Aquarellfarben einander durchdringen zu lassen. Die Transparenz, das durchfallende Licht, nahm nach der Mitte hin zu, bis es in dem weißen Rechteck aufgehoben wurde, das vielleicht eine höchste Lichtquelle war, vielleicht aber auch bloß etwas Weißes, ein Nichts. (272/ 273) Sicher ist es bedeutsam, dass Andersch seine Romangestalt Käthe sagen lässt: „Das Bild ist ein Plan“ (ebd.). Dieser Plan interpretiert den Roman und führt zugleich über ihn hinaus. So wird vor allem jene Bewegung plausibel, dass eine Kette von Handelnden, genau wie die farbigen Rechtecke im Bild um das weiße Zentrum, um Dincklages symbolische Aktion kreist. Wie die Farben dort überschreiten die Akteure hier Grenzen und beeinflussen die Lebensentwürfe anderer. (Es ist bezeichnend, dass Andersch Paul Klees Titel „Polyphon gefaßtes“ in „begrenztes Weiß“ verändert hat.) Scheffold etwa will an seinem letzten Lebenstag „einen Schritt in ein Land [tun], das auf der Karte seines Lebens weiß geblieben war“ (329). Er meint die Beziehung zu einer Frau, erfährt aber den Tod. So wie er erlebt jede der Figuren die Ambivalenz von Hoffnung und Scheitern, „Lichtquelle“ und „Nichts“. Auch Käthe geht zuletzt in ein „Niemandsland“ (247). Der „Hohlraum [eines] leeren Krieges“ (96), der das Fiktions-Experiment historisch ermöglicht hatte, wird von der faktischen Offensive buchstäblich zerdrückt. „Die fiktionale Konstruktion der sechs Einzelgänger (wird) nach und nach aufgelöst in die historische Faktizität […] der mehr als 75 000 Toten.“ (Schütz 1980, 130). Folgte man dem „Plan“ des Bildes nur in eine Richtung, in das Zentrum hinein, dann müsste die negative Lesart dominieren. Alles führte in ein humanes Nichts. (In Anderschs Œuvre kann „Weiß“ auch eine „Farbe der Vernichtung“ sein, Heidelberger-Leonard 1986, 247.) Aber nicht nur gibt es andere modellwertige Leitmotive, die Formen des Verhaltens zur Geschichte entwerfen: Der Steinbruch etwa lehrt, sie fatalistisch zu „betrachten wie eine Sedimentbank“ (125), der Steinkauz, ihr wie unter einer „Tarnkappe“ (291) zu entfliehen (man beachte seine Innen-Perspektive, 206); der Vitalismus der Katzen hat „tatzenzart, schattenhaft, lautlos“ (597) das letzte Alfred Andersch: Winterspelt 287 <?page no="296"?> 288 Traumatische Geschichten Wort, freilich ein melancholisches und ganz privates. Nicht nur werden so alle Pläne in Frage gestellt. Auch in dem Bild von Klee ist es so, dass dem ambivalenten Zentrum die „stärkste farbige Energie“ (271) an den Rändern gegenübersteht. So kann und muss man die Entwicklungen der Romanpersonen auch so lesen, dass sie wie Käthe „nicht ins Innere“ wollen, „sie wollte an den Rand“ (244). Die utopische Tendenz dieses Romans erschließt sich im Nachvollzug der Handlung und in gedachten Alternativen zu ihr, zentripetal und zentrifugal zugleich. Die Leser, zu „aktivem Mitvollzug“ aufgefordert (Reinhold 1988, 217), könnten so gesehen das Spiel des „großen Planes“ im Ganzen fortsetzen, ihm in einzelnen Positionen, „Handlungsmodellen“ (ebd., 219), Werten und Konfigurationen aber immer auch widersprechen, also weitere „Denkweisen im Möglichkeitsfall“ (Schütte 1980, 147) entwerfen. Geht es vielleicht darum, je eigene und neue „farbige Energie“ einzuspielen? Das kann jetzt natürlich nur beispielhaft skizziert, nicht in Gänze ausgeführt werden: Dincklage etwa, die problematische Hauptfigur (möglicherweise nach dem Ardennen-Kommandeur von Rundstedt modelliert, vgl. Wehdeking 1983, 133; man könnte auch Erinnerungen an Anderschs Vater erkennen, vgl. Schröter 1988, 18), wird von vorneherein mit „Fehlern“ charakterisiert (40), die nie mehr gutzumachen sind. Seine Klarsicht geht einher mit Abstraktion, einer Verantwortung „in Anführungszeichen“ (49), aber es bleibt in seinem Verhalten andererseits doch jener prozessuale Impuls wertvoll, dass auch seine symbolische Aktion niemals in der „Spur der Schrift und der Energie, die sie zeichnete, ausgelöscht werden und in Vergessenheit geraten konnte“ (56). Hier überlagert sich seine Motivation mit der Scheffolds („zu seinem Beruf gehörte es, an Zeichen zu glauben“, 137), oder Käthes, die beispielsweise der „Zeichenkette ihres Traumes“ folgt, indem sie ihr zu entfliehen sucht (240; dieses „Spiel der Zeichen gegen die Geschichte“ ist auch ein zentrifugales postmodernes Moment, vgl. unten Kap. 8.3). Die, freilich verschieden gefüllte Beschäftigung mit „absoluten und undurchführbaren Wahrheiten“ (189) nähert Dinklage dem politisch diametral ihm entgegenstehenden Hainstock; genaue Pflichterfüllung als Tarnung für inneren Widerstand hat er mit Reidel gemeinsam (174); die Bereitschaft, grundsätzlich neues Verhalten „durchzuspielen“ (61, 322) mit Kimbrough, wobei allerdings seine Art, auch „Träumereien, Phantome“ (47) konkret zu prüfen, radikale Alternativen zu entwerfen (etwa dass die gegeneinander liegenden Soldaten „in ein ungeheures Gelächter ausbrechen würden“ und so den Krieg beenden, 58), ihn wiederum Scheffold, wenn nicht sogar dem Romanautor selbst, nahe bringt. Und so fort. Die Wirkungsästhetik von Winterspelt kann man am besten als kritisches Spiel in alle Richtungen der Diskurse auffassen. Es umkreist die genau bezeichnete Historie und die nicht minder präzise „eingegrenzte“ Leerstelle der Sonderkapitulation in ihr; der Roman hat seinen „plot“, seine Fabel. Aber <?page no="297"?> die Anweisungsfunktion der literarischen Zeichen, nach denen der Roman strukturiert ist, ist auf fortzusetzende Alternativen angelegt. Scheffold und Käthe leben dies noch in der Romanhandlung am konsequentesten vor. Sie kommen der für Andersch seit langem vorbildlichen „existentiellen Entscheidungsfreiheit Sartres“ am nächsten (Wehdeking 1983, 135), und sie verstehen ja auch das Klee-Bild am besten. Ihre Lebensentwürfe sind in diesem Roman sozusagen die positivsten. Aber es müssen aus den anderen Entwicklungslinien etwa die Werte der intellektuellen Verallgemeinerung, der historischen Konkretheit, der revolutionären Konsequenz, des zwangfreien Konsenses, durchaus auch der politischen Macht und so fort mit der von ihnen gelebten, individuellen Autonomie oder auch der von ihnen gesuchten Harmonie von Kunst, Natur und Kultur vermittelt werden. Es ist bezeichnend und entspricht ja auch erneut dem Zusammenhang der Farb-Konstruktionen bei Klee, wie klar man begrifflich den seinerseits kreisend differenzierten, vermittelten Werte-Diskurs dieses Romans fassen kann. Bei aller historischen Genauigkeit und detaillierten, stofflichen Vielfalt, bei aller Anschaulichkeit der Szenen und Modelle, Winterspelt ist ein ,kopflastiger‘ Roman. Die Utopie, besser, die utopischen Perspektiven, die hier verfolgt werden, deren vorausweisende Spuren die Leser finden sollen, stellen eine intellektuelle Aufgabe dar. Anders gesagt: So entschieden hier polyhistorisch-modern erzählt wird (exemplarisch wurde mit Faulkner verglichen, es wären aber auch andere Paradigmen der Moderne interessant, vgl. Kap. 6), so sehr man etwa im „Sandkastenspiel mit dem Entsetzlichen“ (Scherpe 1984, 133), im „Spiel der Zeichen gegen die Geschichte“ oder im Widerspiel von Zentrum und Peripherie auch postmoderne Momente erkennen kann (vgl. unten Kap. 8), letztlich ist Winterspelt einem Projekt Aufklärung und dessen Risiken verpflichtet - die Ambivalenz der Leerstelle hat eine lange Tradition (vgl. oben Kap. 5.3.2.3), die „Ana-Synekdoche“ des Handlungsendes verbindet Fontane, Faulkner und Johnson mit Anderschs Roman (vgl. oben Kap. 5.4), die Metapoetik und Metahistorik des Kunstwerks reicht von Arnim und de Vigny bis zu DeLillo oder Sebald (vgl. oben Kap. 2.2 u. 2.5, 5.3.3, sowie unten Kap. 8.2.2 u. 8.4) -, das leere Zentrum des Romans ist jene riskante Aufklärung, die wohl überhaupt die Gattung historischer Roman im Ganzen prägt. Alfred Andersch: Winterspelt. Roman. Zürich: Diogenes, 1977. Ders.: Efraim. Zürich: Diogenes, 1976. Haffmanns: Über Alfred Andersch. 1980. • Heidelberger-Leonard: Alfred Andersch. 1986. • Koeppen: Die Leute von Winterspelt. 1980. • Petersen: Fabula Non Docet. 1994. • Reinhold: Alfred Andersch. 1988. • Reinhold: Denkanstöße für die „Zwischenkriegszeit“. 2004. • Scherpe: Alfred Anderschs Roman „Winterspelt“. 1994. • Schröter: Alfred Andersch. 1988. • Schütte: Sachbuch über Denkweisen im Möglichkeitsfall. 1980. • Schütz: Alfred Andersch. 1980 • Wehdeking: Alfred Andersch. 1983. Alfred Andersch: Winterspelt 289 <?page no="298"?> 290 Traumatische Geschichten 7.3 Uwe Johnson: Jahrestage (1970-1983) 20. Oktober, 1967 Freitag Die letztwöchigen Verluste der U.S.A. in Viet Nam [: ] 13 907 Tote und 88 502 Verwundete seit dem 1. Januar 1961. Die Studenten des Brooklyn College, die gegen die Anwesenheit von zwei Werbeoffizieren der Marine auftraten, sind schwer von der Polizei heimgesucht […]. Für das Wochenende steht eine Demonstration gegen den Krieg bevor, in Washington, D.C. […]. Auf dem Weg von London nach Jerichow wollte Cresspahl in Lübeck einen Zug überschlagen. […] Er hatte ein flaues, widerwärtiges Gefühl künftiger Schuld. […] Es war indes ein gewöhnlicher Arbeitstag, der 2. März 1933, ein Donnerstag, und er wollte einmal in der Freien Hansestadt Lübeck nachsehen, ob sie da auch so aus dem Häuschen waren. [Cresspahl gerät in Polizeiaktionen gegen kommunistische Funktionäre und gegen seine ehemaligen sozialdemokratischen Freunde hinein, weiß kaum, was vorgeht, wird verwechselt, verhaftet, am nächsten Tag wieder freigelassen.] An diesem Morgen, Freitag den dritten März 1933, wurde Gesine Cresspahl in Jerichow geboren. (194-201) Auch ein solches, an sich schon etwas langes Zitat kann den Aufbau dieses 1892 Seiten dicken Romans kaum anschaulich machen. Aber es zeigt, dass in seinem Kern eine Poetik des historischen Romans am Werke ist. Cresspahl reist, einer klassische Erzählfigur seit Scott oder Arnim (vgl. oben Kap. 2) folgend, in die Geschichte hinein - angesprochen sind die Ereignisse zwischen dem Reichstagsbrand (29. Februar) und den Neuwahlen zum Reichstag (5. März: NSDAP und Nationale erreichen 52 %) - aber er nimmt nur synekdochisch pars pro toto peripher und wie benommen daran teil: „Die Zeit fing an so schnell zu laufen, dass er am nächsten Tag nicht mehr alles glaubte. (Er hatte) die Empfindung von zwei verschiedenen Wirklichkeiten, und wäre lieber nur in einer gewesen.“ (196, 199). Im Prinzip ist er so überrascht und überfordert wie Edward Waverley in Walter Scotts Gattungs-Klassiker beim Ausbruch der Schottischen Revolution (Waverley or ’Tis Sixty Years Since, 1814) oder, und noch drastischer, wie Stendhals Romanheld in Waterloo („ne comprenait rien de rien“ / „begriff nichts von nichts“, La chartreuse de Parme, 1839, 89): Die Folgen der Reichstagswahl treffen Cresspahl „ratlos, mit offenem Mund, mit einer tauben und zugleich horchenden Miene, wie ein Hase, der ertappt ist und auf den Schlag wartet“ (226). Später freilich wird er ein aktiverer Held werden, doch unbekannt und vorübergehend. Und die wichtigen Lebensdaten der Romanheldin Gesine fallen, wie etwa die des Protagonisten in W. M. Thackerays Henry Esmond (1852, vgl. oben Kap. 3.6), oder, und noch intensiver, das Duell der „schwarz-weißen“ Halbbrüder in <?page no="299"?> William Faulkners Absalom, Absalom! (1936, vgl. oben Kap. 6.2) mit markanten historischen Krisen und Wendezeiten zusammen: ihre Geburt mit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, ihr „Exil“ von der DDR, besser: von Mecklenburg, mit den Ereignissen des 17. Juni 1953, der Tod ihres Geliebten Jakob mit der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands (1956), ihr sozusagen letzter Tag am Romanschluss (was daher kein „Zufall“ ist, Neumann 1994, 798, sondern sorgfältig fiktional-historisch von Anfang an geplant war, so z. B. Grambow 1997, 86 ff.) mit dem Ende des Prager Frühlings am 20. August 1968. (Und wenn man das posthum erschienene Erzählfragment Heute neunzig Jahr, Vorarbeit, Exkurs und abgebrochene Fortsetzung der Jahrestage zugleich, mitberücksichtigt, dann hätte dasselbe Prinzip schon für Gesines Vater gegolten, der etwa im „Dreikaiserjahr“ 1888 und ausdrücklich ein Jahr vor Adolf Hitler geboren wurde, vgl. Heute neunzig Jahr, 7 ff.) Auch das am deutlichsten experimentelle Moment an der Erzählform dieses Romans, die Überblendung und bedeutungsstiftende „diahistorische“ Interferenz mehrerer Zeitebenen (im Anfangsbeispiel etwa der Polizeiaktionen in New York 1968 und in Lübeck 1933) ist strukturell in der Poetik der Gattung vorgesehen (vgl. oben Kap. 5.4) und in ihrer Tradition zwar spurenhaft, doch hinreichend deutlich angelegt: etwa in der rahmenhaften Konfrontation von „Now“ und „Then“ bei Walter Scott (vgl. oben Kap. 2.2), der Bezugnahme auf eine signifikante Erzählzeit (die amerikanische Revolution) gegenüber der erzählten Zeit der letzten Stuart-Jahre bei Thackeray (vgl. oben Kap. 3.6), in der kaum noch verdeckten Art und Weise, in der Fontane (Schach von Wuthenow, 1882) das Preußen seiner Zeit in dem von 1806 spiegelt (vgl. oben Kap. 3.8), im Einmontieren eigener Weltkriegs-Erfahrungen in eine Geschichtserzählung von 1815 in Louis Aragons La semaine sainte (1958, vgl. oben Kap. 6.3) - auch Johnson lässt sich selbst im Roman auftreten -, und natürlich auf vielfache Weise im Roman des späteren zwanzigsten Jahrhunderts (vgl. zu Lenz, Andersch, Böll u. a. oben Kap. 7, unten zu Graham Swift Kap. 8.2 und sehr deutlich 8.4 zu DeLillo). Ausgearbeitet freilich werden hier diese strukturellen Möglichkeiten und Traditionen in bis dahin unbekannter Konsequenz und auf eine ganz eigenständige Weise, auch wenn diese, und dann um so sprechender, den Einfluss Faulkners, die Nähe überhaupt zum „polyhistorischen“ Roman der Moderne, in vielem aber auch den Übergang zur anti-synthetischen Offenheit der Postmoderne erkennen lässt. Die Gegenwartshandlung schreitet Tag für Tag fort, vom 20. August 1967 bis zum 20. August 1968. Sie eröffnet den Alltag von Gesine Cresspahl und ihrer Tochter Marie (10 Jahre alt, aber eine fast erwachsen wirkende Gesprächsfreundin): Arbeit und Karriere in einer Bank (Fremdsprachenkorrespondentin, dann Sachbearbeiterin Tschechoslowakei), Schulsituationen und -probleme, Freunde, Bekannte, darunter viele vor den Nazis geflohene, Deutsch sprechende Juden, Zufallsbegegnungen, kurze Urlaube, Einkaufen, Ausgehen, genaue Erfahrungen mit der New Yorker U-Bahn Uwe Johnson: Jahrestage 291 <?page no="300"?> 292 Traumatische Geschichten und viel, viel mehr (für die Details sehr hilfreich ist der Kommentar von Helbig 1999, für das Personal fast unerlässlich das „Register“ von Michaelis, 1983). Die Vergangenheitshandlung wird ausdrücklich in diesem Rahmen von Gesine ihrer Tochter erzählt. Sie umfasst ihre Familiengeschichte und die entsprechende Regionalgeschichte seit der Ansiedlung ihres Großvaters im Nordwesten Mecklenburgs (Klützer Winkel), wobei der Schwerpunkt auf den Jahren 1933 bis etwa 1952 liegt und mit dem dreifachen: ethischen, amtlichen und dem intellektuellen „Reifezeugnis“ (dem Weggang aus der DDR) abschließt (vgl. 1813 ff., v.a. 1824; der weitere Lebenslauf wurde im Wesentlichen schon früher im Roman mitgeteilt). An dessen Ende plant Gesine eine Ehe mit D. E. (Dietrich Erichson, ebenfalls aus Mecklenburg, jetzt Professor für Physik und mit gutem Verdienst als Experte für Frühwarnsysteme für die US-Luftwaffe tätig: anerkannterweise ein Selbstportrait Johnsons; Dietrich ist sein zweiter Vorname, sein Vater hieß Erich; zu den vielen biographischen Bezügen vgl. z. B. Fahlke 1994, Neumann 1994, Grambow 1997), aber dieser kommt bei einem Flugzeugabsturz ums Leben; doch soll Gesine auch für einige Zeit nach Prag gehen, um dort US-Kredite zu vermitteln. So bewegt sie sich am Ende des Romans heimatlos, ziellos und in einer geradezu lähmenden Übergangszeit. Einen die Gegenwartshandlung erweiternden, gleichwohl eigenen, dritten Haupt-Diskurs liefert die von Gesine regelmäßig und ausführlich gelesene New York Times, deren Berichte, Schlagzeilen und Bilder zusammengefasst, kommentiert und reflektiert werden, Gesines „amerikanisches Bewusstsein“ (Begleitumstände, 416): ein ständiger verdeckter oder offener kritischer Dialog, vor allem, darin ist der oben zitierte Textabschnitt durchaus repräsentantiv, über den Vietnam-Krieg - die täglich wachsende Zahl der Toten wird immer weiter registriert -, New York, die beiden Deutschen Staaten, gegen Ende besonders aufmerksam an der Entwicklung in der Tschechoslowakei interessiert. Unübersehbar handelt es sich bei den Jahrestagen um einen polyhistorischen Roman (vgl. oben Kap. 5.3 u. 6). So gibt es neben der prinzipiellen Überlagerung mehrerer Zeitschichten und Erzählstränge auch eine beträchtliche Vielfalt an Stimmen: Gesine in verschiedenen Sprechsituationen (für sich, für Marie, der sie längst nicht alles erzählt, für die Leser), neutrale Erzählerstimmen und -perspektiven (oft wird Gesine ja auch „von außen“ gesehen und sprachlich vorgestellt), montierte oder berichtete Reden, viele Szenen, bis hin zu den Stimmen der „Toten“, die wie eingearbeitete Hörspielteile wirken, und bis hin zur Stimme des Autors selbst, etwa wenn er sich mit seiner Identifikationsfigur unterhält. Die produktive Differenz von Fiktion und Historie (vgl. oben Kap. 5) im immer neuen Wechsel von „spielerischer avantgardistischer Illusionsbrechung“ und „realistischer Beglaubigung“ (Mecklenburg 1997, 18) wird in den Jahrestagen bewusst und kreativ auserzählt. Eine offene Erzählstruktur erzeugen aber auch die nach allen Seiten sich verzweigenden Einzelschicksale und Portraits, die literarisch entworfenen Landschaften und Stadtteile, überhaupt Architektur, Berufe und Erwerbsformen, <?page no="301"?> Mode, Gebrauchsgegenstände, die immer wieder als historisch-kulturelle Signaturen gelesen werden (vgl. unten Kap. 8.2), schließlich die Reflexionen über Politik, Ökonomie, Interkulturalität, Ethik, Psychologie, nicht zuletzt Literatur. Aus all diesem „Nebeneinander der Kulturen [und] Nebeneinander von Alt und Neu“ (Hamann 2002, 279) könnte man durchaus mehrere, je eigene kontinuierliche Diskurse herausflechten. Doch gibt es auch gegenläufige, zentripetale Tendenzen. Bei allem Interesse, bei aller Freude an der schieren Vielfalt von historischen Konstellationen, Kulturformen und menschlichen Möglichkeiten, synthetisierend, als „topographische Speicher historischer Zeit“ (Westphal 2007, 201), wirken nicht nur die immer genauer festgehaltenen Schauplätze (das Haus am Ziegeleiweg, die Wohnung am Riverside Drive, die Bank usw.), natürlich die zentralen Personen oder auch rhythmische Wiederholungen (das Schwimmen in verschiedenen Gewässern, Fahrten mit der U-Bahn, samstägliche Ausflüge mit der South-Ferry). Noch stärker, und hier zeigt sich eben die Dominanz eines historischen, sozusagen eines „multi-traditonalen“ Romans, werden alle Handlungs- und Erzählstränge von Fokussierungen geprägt, die ganz konsequent Historisches zitieren, referieren, einmontieren und/ oder (fiktional-historisch-synekdochisch) Geschichte in erzählbare Erlebnisse übersetzen. In einer ausführlichen Würdigung von Gesines Deutschunterricht (vgl. 1694 ff.: „Und wir hatten [...] das Deutsche lesen gelernt“, 1707) beruft sich Johnson bezeichnenderweise auf Fontanes Schach von Wuthenow (1882) als Vorbild: dessen historische Genauigkeit, Perspektivenreichtum, atmosphärische Dichte, Kritik an sinnleeren, erstarrten Konventionen, Abzielen auf die Urteilsfähigkeit der Rezipienten („Fontane wünschte seine Leser unabhängig! “, 1705). Johnson liest Fontane mit an Faulkner geschulten Augen (vgl. ausführlicher Verf. 2003, 231 ff.). Aber damit ist zugleich die europäische, kritische Walter-Scott-Tradition mit angesprochen, die William Faulkner produktiv in das 20. Jahrhundert übersetzt hat. An Faulkner erinnert die (verglichen mit Fontane) größere Wucht der privat-historischen Traumatisierungen, die Mitnahme des solcherart verletzten Erzählers aus einem früheren Buch (Gesine aus Mutmaßungen über Jakob, 1959, Quentin Compson aus The Sound and the Fury, 1929, nach Absalom, Absalom! , 1936, vgl. oben Kap. 6.2), dessen emotionale, bis ins Unbewusste reichende, unlösbare Nähe zu den vergangenen Ereignissen (ähnlich Personen in Light in August, 1931, Johnsons erster Faulkner-Lektüre, Neumann 1994, 129), vor allem aber die experimentelle Vernetzung zeitversetzter Mehrsträngigkeit und -stimmigkeit, auch von „Erinnerung“ und „Erfinden“ (Begleitumstände, 127), die Bedeutungsverdichtungen (vgl. das gleich Folgende) und prosa-lyrischen Passagen und im Ganzen das konsequent eingegangene Risiko eines Sinnverlustes von Geschichte. Natürlich steht Jahrestage damit auch in der breiteren Faulkner-Nachfolge (vgl. sehr überzeugend U. Müller 2005, v. a. 260 f. u. 274 ff.); man denke etwa an den ,Erzählzwang‘ bei Andersch (Efraim, 1967), Lenz (Deutschstunde, 1968), Christa Wolf (Nachdenken über Christa T., 1968; vgl. oben Kap. 7). Auffallend nahe kommt diese experimentelle Verbindung von gegenwärtiger Krise (am Ende geht Gesine in ein Exil vom Exil) und Familienbzw. Regionalsaga dem gleichzeitig mit dem letzten Band erschienenen Roman Waterland (1983) von Gra- Uwe Johnson: Jahrestage 293 <?page no="302"?> 294 Traumatische Geschichten ham Swift (vgl. unten Kap. 8.2.2). In Don DeLillos Underworld werden die vielerlei Stimmen, v. a. aber Zeitsplitter, Zeitsprünge und -verwerfungen, insbesondere Zeitschichten letztlich doch wie in den Jahrestagen durch persönliche Schicksale zusammengehalten (vgl. unten Kap. 8.4) und so fort. Es sind, wie bei Faulkner, der hier aber, wie gesagt, eine lange Tradition intensiviert, wieder und wieder private, aber historisch bedingte Traumatisierungen der Romanheldin, denen die Handlung zustrebt, und um die sie dann kreist. Dass es sich bei der komplexen, vielfachen Geschichte doch um eine „Geschichte aus einem Bewusstsein“ handelt (Begleitumstände, 416), freilich einem traumatisierten, sich ins Erzählen rettenden Bewusstsein, bedeutet das wichtigste synthetische Moment der Jahrestage. Und hier steht als persönliche Metonymie („pars pro parte“, vgl. oben Kap. 5.3.1.2) des Nationalsozialismus, insbesondere der Judenverfolgung, an erster Stelle die „Regentonnen“-Geschichte (vgl. ausführlicher Verf. 2003, 239 ff.): Die vierjährige Gesine will nach der Katze hinter dem Fenster greifen, fällt in die Tonne und ihre Mutter schaut zu, wie sie beinahe ertrinkt (617, vgl. schon 64/ 65 und dann immer wieder). Diese Episode ist gleich mehrfach (synekdochisch und metonymisch) mit dem Trauma deutscher Geschichte verbunden: Gesines Mutter Lisbeth hatte schon immer zu religiösen Neurosen geneigt. Ihre Abscheu vor dem Aufkommen der Nazis verbindet sich mit dem sie belastenden, halb eingestandenen Bewusstsein und den Schuldgefühlen, ihren Mann zur Rückkehr und zum Bleiben in diesem Deutschland geradezu genötigt zu haben. Das Leiden ihres Kindes (sie lässt die kleine Gesine hungern), ja dessen möglichen ,Opfer-Tod‘ legt sie sich so als Selbstbestrafung auf. Und all dies verdichtet sich im Jahr 1937 zur Gemütskrankheit. In dieses Jahr fällt die Regentonnen-Episode und dann Lisbeths Versuch, aufs offene Meer hinaus zu schwimmen, um dabei zu ertrinken; schließlich in der Pogromnacht am 9. November 1938 - nachdem der Nazi-Bürgermeister ein jüdisches Kind erschossen und Lisbeth ihn dafür geohrfeigt hatte (erneut eine klassische fiktional-historische Synekdoche) - begeht sie Selbstmord (vgl. 721-750). Noch die Rede an ihrem Grab, die diesen Suizid politisch-historisch motiviert, bringt den Pastor in ein Konzentrationslager. Man kann nun, von diesem Beispiel ausgehend, im weiteren Roman genau verfolgen, wie sich deutsche Geschichte von 1937/ 1938, Regentonnen-Episode, Motiv der Katze, die Gestalt und der Tod der Mutter und deren Kontext in Gesines Erinnerungen auf das Engste verbinden, wie das „Muttertrauma“ zum „Erinnerungsdrama“ wird (Krellner 2003, 378 f.), bis hin zu unbewussten Reaktionen (vgl. schon 62-65) oder traumerfüllten Fieberanfällen (750 ff.). Für die „Katze Erinnerung“ (670) sind privates Trauma und historisches Trauma nicht zu trennen und zwingen, wie bei Faulkner und bei vielen anderen deutschen Nachkriegsautoren, zum Erzählen. „Joachim de Catt“, um nur einen von vielen weiteren <?page no="303"?> Querverweisen zu nennen, war eines der Pseudonyme Johnsons für sich selbst (Skizze eines Verunglückten, 1981, vgl. auch Jahrestage, z. B. 1775). Worauf zielt dieses Erzählen? Sicher in erster Linie auf „Erkenntnis- und Trauerarbeit an der deutschen Geschichte“, auf einen „paradigmatischen Gegenentwurf gegen Verkümmerung geschichtlicher Erfahrung und Verdrängung geschichtlicher Schuld“ (Mecklenburg 1997, 141 f.). Das schließt von Anfang an eine durchaus aufklärerische Erziehung der Leser ein. Der Grundfigur der Metonymie folgend geht es um die vielfache Vernetzung von Einzelnem mit Einzelnem, um ethisch-politisches und soziales Augenmaß, eine Erziehung oder Stimulierung der Leser zur kritischen Wachheit gegenüber Zeit und Geschichte. Toleranz, interkulturelle Kommunikation, ökologische, pazifistische, antiautoritäre Kreativität: Das sind alles Denk- und Verhaltensfiguren metonymischer Vernetzung und erkennbare, prägende Tendenzen dieses Romans. Dem entspricht umgekehrt eine Grundhaltung kreativer Skepsis, ein Vorsichts-Argument, das sowohl gegenüber dumpfen Trends als auch totalen Programmen erhoben wird. Auf beiden Handlungsebenen gibt es ja auch viel Engagement. Immer wieder umkreist wird die „Frage nach der persönlichen Integrität des einzelnen angesichts seiner Verstrickung in Politik und Gesellschaft“ (Mecklenburg 1997, 130). Cresspahl kämpft (als Informant des britischen Geheimdienstes) aktiv gegen die Nazis, Gesine und ihre Tochter setzen sich ein gegen Rassendiskriminierung, demonstrieren gegen den Vietnam-Krieg, helfen Flüchtlingen aus dem Ostblock; auch bei der neuen Aufgabe, die Gesine in Prag für sich sieht, geht es ihr nicht nur um US-Kredite, sondern primär um einen humanen Sozialismus. Aber dieser wiederum ist vor allem eine Perspektive und nicht programmatisch fassbar. Genauso bleiben die utopischen Momente: Maries Kinderland „Cydamonoe“ (482 ff.), Johnny Schlegels genossenschaftlicher Musterhof (1270 ff. u. 1840 f.), die Gestalt der Marjorie („so anmutig kann sie leben“, 264), oder etwa die alternative Wohngemeinschaft von Frauen (1244 ff.), auch diese kleinen Hoffnungsräume bleiben nur angedeutete, vereinzelte Gegenentwürfe zur herrschenden Realität. Gegenüber dem Netz von Verweisen und Reflexionen, das ja eben immer auch relativierend wirkt, gleichen alle diese freundlichen Ausblicke in etwa Abzweigungen von Straßen, die einladend aussehen, aber sich nicht fortsetzen, und an denen man unweigerlich vorbeifahren muss. Die Wege und Bewegungen selbst haben in den Jahrestagen das letzte Wort, Gefühls-, Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Denkbewegungen der Personen, aber noch mehr solche, die von den Lesern erwartet werden. Es geht um ein Unterwegssein zwischen den vernetzten Geschichtsteilen und auf der Suche nach ihrer Verbesserung, um eine mobile, aktive immer neue Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und perspektivierter Zukunft: Uwe Johnson: Jahrestage 295 <?page no="304"?> 296 Traumatische Geschichten „Geschichte ist ein Entwurf“ (1891); das ist das programmatische Schlusswort der Jahrestage. Und dieser erneuerte „realistische Weg“ kann ganz anschaulich verfolgt werden: Metapoetische, metahistorische, metatheoretische und metapraktische, immer also modellhafte Bewegungsfiguren entwerfen die weitestreichende Verhaltens-Aufforderung, die hier herauszulesen ist. Zu denken wäre an die Kommunikationsmodelle der Eisen- und U-Bahnen, an die rhythmisch wiederkehrenden, geradezu eine Lebensform vorstellenden Fahrten mit der South-Ferry, aber auch an das noch elementarere Gehen (etwa durch die Türen des Bankgebäudes, vgl. etwa 124 f.) und natürlich an das Schwimmen: Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, wölben Buckel mit Muskelsträngen, heben zitternde Kämme, die im grünsten Stand kippen. Der straffe Überschlag, schon weißlich gestriemt, umwickelt einen runden Hohlraum Luft, der von der klaren Masse zerdrückt wird, als sei da ein Geheimnis gemacht und zerstört worden. Die zerplatzende Woge stößt Kinder von den Füßen, wirbelt sie rundum, zerrt sie flach über den graupligen Grund. Jenseits der Brandung ziehen die Wellen die Schwimmende an ausgestreckten Händen über ihren Rücken. Der Wind ist flatterig, bei solch drucklosem Wind ist die Ostsee in ein Plätschern ausgelaufen. Das Wort für die kurzen Wellen der Ostsee ist kabbelig gewesen. (7) So beginnt dieser Roman, und in genauer Entsprechung endet er auch so. Man muss also diesen Text in einer bewussten zweiten Lektüre mit dem Gesamtzusammenhang eigentlich aller Vernetzungen und Verweise verbinden. Dann wird das Wasser, das zugleich ganz sinnlich und doch auch in einer an Reflexionsfiguren heranführenden Bilddichte erschlossen wird, zu einem recht präzise vieldeutigen Medium, das ein noch potentiell allgemeines Subjekt: Erzähler - Gesine - Leser, durchquert. Kindheit und das seither „durchschwommene“ Leben (vgl. 1020) sind ebenso präsent, wie die Traumata der Wassertonne oder des Selbstmordversuchs der Mutter in der Ostsee („gestriemt“, „ziehen an ausgestreckten Händen“ hat etwas Qualvolles). Das Spiel mit „Geheimnissen“, die „zerdrückt“ werden - man denke an Cresspahls Aktionen im Krieg oder an Jakobs Tod - ist zu explizit um beliebig zu bleiben. Auch ohne den offen ausgesprochenen Rückbezug am Ende des Absatzes ist das Schwimmen im Meer hier Teil von Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Erfahrung, Trauma und Leben in einem. Das Motiv zieht sich ohnehin durch Johnsons Œuvre, vom ersten Roman („ihr war Schwimmen wie Atmen“, Ingrid Babendererde, entstanden 1953-1956, 51) bis zu einer späten Parallele („sie geht schwimmen so oft sie kann“, Skizze einer Verunglückten, 1981, 22). In den Jahrestagen ist all dies unlösbar verknüpft und vernetzt mit Geschichte. Auch die vielfachen intertextuellen Anspielungen an Ovid, Shakespeare, Thomas Mann, Virginia Woolf (vgl. Verf. 2003, 248 ff.) werden über das Symbol vergehender Zeit hinaus bei Johnson historisch fokussiert. <?page no="305"?> Gleich der Fortgang des Textes - „Neger sollen hier nicht […] liegen [im] Sand. Auch Juden sind hier nicht erwünscht“ (7) - macht das provozierend deutlich. So gehen auch die Schwimmszenen, mit denen die folgenden Bücher anfangen, auf vielfache Weise mit der Zeit und verändern sich mit deren Erfahrung. Im unterirdischen Hallenbad (487) dominieren Sport, „Prallen“ und „Schlagen“, Kampf, Selbstbehauptung und so fort: der Kontext der Gegenwart in den USA. Im künstlichen See auf dem Gelände eines früheren Panzerübungsplatzes, jetzt einer Ferienhaus-Kolonie, die nach einem Weltkriegs-Helden benannt ist, heißt es in postmodern beliebiger, alltäglicher Verzweiflung lapidar: „Das Wasser ist schwarz […] schwarzes Pattonwasser“ (1017, 1020). Noch am Schluss des Romans gruppieren sich die Lebensalter, Vaterbindung und mütterliche Verantwortung, lange Erinnerung an viele immer auch historisch genaue Zeitschichten, zugleich freilich fiktiv sinnlich erfahrene Gegenwart und fast schon geschichtsmetaphysisch fragende, tief ungewisse Zukunft - und sicher noch vieles mehr - zu einer Konfiguration, die bezeichnenderweise „ins Wasser“ gerät. Durch die perspektivische Distanzierung „und sie“ kommen unmittelbar auch Erzähler und Autor ins Bild. Sich „an den Händen“ zu halten spricht zumindest von Kommunikation, ganz vage ja doch wohl auch von Sozialismus; „die Toten“ waren den ganzen Roman über präsent (in der Margarete von Trotta-Verfilmung von 1998 schauen sie von der Düne herab den Lebenden zu, vgl. Wiebel 2000, 151); zu ihnen „unterwegs“ zu sein, hat nichts Schreckliches, führt auf alle Fälle sowohl in die Vergangenheit wie in die Zukunft, in „die Erinnerung an das Eigene [und] zugleich ein radikal Anderes“ (Hamann 2002, 295). Erhält nicht in diesem Zusammenhang von All-Zeit und Niemandsland Gesines Sehnsucht nach Heimat - „das Kind das ich war“ hatte sie nie - besondere Authentizität? Und liegt an einem 20. August das neuerliche Losschwimmen als immer neue „utopielose […] Utopie“ (Strehlow 1993, 296) völlig außerhalb jeder Möglichkeit? Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten einander an den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind das ich war. (1891) Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Frankfurt: Suhrkamp, 1970- 1983. [1892 Seiten; seitenidentisch mit allen vierbändigen Suhrkampausgaben; die Seitenzahlen der einbändigen Ausgabe Insel-Taschenbuch, 1703 Seiten, ergeben sich recht genau, wenn man 10% abzieht] Ders.: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Mit einem Nachwort von Siegfried Unseld. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985. Ders.: Mutmassungen über Jakob. Frankfurt a. M.: Suhrkamp: 1974. Ders.: Skizze eines Verunglückten. Frankfurt a. M. 1981. Ders.: Heute Neunzig Jahr. Aus dem Nachlass hg. von Norbert Mecklenburg. Frankfurt 1996. Ders.: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1980. Uwe Johnson: Jahrestage 297 <?page no="306"?> 298 Traumatische Geschichten Bengel: Johnsons Jahrestage. 1985. • Fahlke: „Die Katze Erinnerung“. 1994. • Geppert: Uwe Johnson „Jahrestage“. 2003.• Grabow: Uwe Johnson. 1997. • Hamann: Doppeltes Scheitern. 2002. • Helbig: Johnsons „Jahrestage“. 1999. • Krellner: „Was ich im Gedächtnis ertrage“. 2003. • Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons und andere Prosa. 1997. • Michaelis: Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. 1983. • Neumann: Uwe Johnson. 1994. • Reinlein: Erinnern als Gesprächskultur. 2002. • Strehlow: Ästhetik des Widerspruchs. 1993. • Westphal: Literarische Kartografie. 2007. <?page no="307"?> 8. Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen. Der historische Roman der Postmoderne Gibt es einen Sinn in diesem Irrsinn? (Uwe Timm, Halbschatten, 2008) Das ist fast ein rückblickendes Motto für die Geschichtsfaszination der Postmoderne. Der bei Timm das sagt und „stochert“ da rum „zwischen den Gräbern des Berliner Invalidenfriedhofs (185), auf dem „die deutsche […] Geschichte begraben“ liegt, ist (vgl. 65 f.) kein anderer als der „Held“ des Romans ROT (2001, vgl. unten Kap. 8.2.4), der sich selbst bereits, und dies im Augenblick seines Sterbens, in Erinnerungen und die Geschichten anderer aufgelöst hatte. Dieser „Invalidenfriedhof“, der bis zum Fall der Mauer „militärisches Sperrgebiet“, „freies Schussfeld“ und „Todesstreifen“ (8, 236) gewesen war, ist ebenso deutlich lesbar als genau konträre „Zeit-Signatur“ (vgl. oben Kap. 5.4) zu jener Berliner „Siegessäule“, die in ROT den historischen Fokus gebildet hatte und die selbst „ein Symbol [ist], das seine Bedeutung auch von hier, von diesem Ort, von den hier Versammelten bekommt“ (Halbschatten, 92). Die Totengespräche, aus denen dieser Roman weitgehend besteht, machen den Friedhof nach und nach zu einer postmodernen „zone“ (Mc Hale 1987, 11 ff.) - dem Nachkriegsdeutschland bei Pynchon, der „letzten Welt“ bei Ransmayr und vielen anderen vergleichbar (vgl. unten Kap. 8.1.3, 8.3.3) -, in der sich die verschiedensten Parteien (z. B. „Demokraten und Nazis“, 73) und die verschiedensten Zeiten fragmentarisch und schonungslos austauschen, v. a. eben die Täter (z. B. der SS-Verbrecher Reinhard Heidrich), aber auch die Opfer von Holocaust und Krieg, „wo alle zusammenliegen, die von Bomben Zerfetzten, die im Phosphor Verbrannten, die Erschossenen und Erschlagenen. Und einige von ihnen hatten vorher andere erschlagen und erschossen“ (192). In dieses Erzählspiel aus Friedhofswanderung und Gesprächen mit Toten und Lebenden hinein erzählt werden zwei alternative deutsche Biographien und der kurze Zeitraum, vor allem ein nächtliches Gespräch, in dem sie sich begegnen. Sie hätten vielleicht ein kleines Zeichen abgegeben: „Nicht viel, aber doch etwas, ein wenig […]. Vieles weniger hätte ein wenig mehr verhindert“ (195). Und vor allem die Biographie einer ihrerseits historischen Flugpionierin („her-story“ statt „history“ heißt es im Jargon der Postmoderne) kreist nicht nur um eine vitale, friedlich-technische Emanzipation, sondern, durchaus im Sinne von Ernst Bloch (vgl. oben Kap. 5.4), um eine Spur von Utopie: „Flugträume, meist die leichten, beglückenden Träume. Verbotene <?page no="308"?> 300 Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen Träume. Träume, die insbesondere Frauen haben. […] Der Ausblick wird möglich […], Verständigung über alle Grenzen hinweg, zwischen den Völkern […] zu einem friedlichen Zusammenleben […]. Der Flug ist das Leben wert.“ (174-176). So hat ja auch der „Halbschatten“, eine Zwischenwelt der Zeit, immer noch und wieder, freilich eben unentschieden und riskant mit einem Licht der Aufklärung („im Licht ist Bewegung“, 171) zu tun, vielleicht auch („bewegt von einem Licht, das von außen hereindringt“, 7) - „Erlösung […] Licht. Licht“, so hatte ROT (2001, 394) geendet - mit einem „Licht (das) scheint in der Finsternis, und die Finsternis hatt’s nicht begriffen“ (Johannes 1, 5)? Auf alle Fälle bleibt dieses „Licht“, sei es als riskante Aufklärung, sei es als Möglichkeits-„Sinn in diesem Irrsinn“ (185), sei es als Bedürfnis nach „Erlösung“ - auch dafür wird es gerade in der Postmoderne immer wieder Beispiele geben - auf Geschichte bezogen: Das Vorher, das Nachher, das Jetzt. Die Wahlmöglichkeiten. Hier ist alles wahllos. Wir können ein wenig auswählen, vielleicht ein wenig Licht bringen, einen Halbschatten, ein Zwielicht. (171) „Hier ist alles wahllos“, „anything goes, nothing matters“, „Ambiguität, Ambivalenz und Indifferenz“ (Zima 1997, 242), diese Kitschform der Postmoderne wäre als Begriff sicher zu eng und zu flach (zur Kritik vgl. z. B. Welsch 1994, 19 ff.; Zima 1997, 242 ff.; Zapf 2005, 205 ff.), liegt aber immer nahe; oft ist es den Lesern (und Literaturwissenschaftlern) überlassen, das gehört eben zum Risiko der Postmoderne zwischen „Indifferenz“ und „Irrsinn“, was sie als Bedeutung, und sei es nur „ein wenig (,) auswählen“ (Halbschatten, 171). Zur „Hybride“ des historischen Romans, seiner von Anfang an pluralen Form und Poetik der differenzierenden Spirale von Fiktion, Historie und so fort (vgl. oben Kap. 2 u. Kap. 5), hatte solch ein Risiko der Beliebigkeit immer schon gehört. Solcher Verdacht hat ihn seit je begleitet. Andererseits haben ja sicher auch die Lektüren von postmodernen Romanen einen gezielt „differenzierenden“ Begriff der Gattung als solcher wesentlich beeinflusst (vgl. z. B. Verf. 1967, Allemanno 1991, Wesseling 1991, Nünning 1995). In der Tat, liest man Schlüsselbegriffe der Postmoderne, was natürlich keine Definition sein kann, dann kommen sie einem für die Tradition des historischen Romans eigentümlich bekannt vor: „Pluralität“ (Welsch 1997, 13), „decentering“ […] dissemination […], dispersion“ (Hassan 1977, 55), „Heterogenität“ (Lyotard 1990, 33), „Bricolage“ (Culler 1988, 149), „cross the border - close that gap“ (Leslie Fiedler, zitiert nach Zapf 2005, 216), so könnte man noch lange zitieren. Die Postmoderne im historischen Roman bedeutet nicht einen Bruch mit der Tradition, auch nicht mit den Traditionen der Moderne, sondern deren radikales Ausspielen. <?page no="309"?> Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen 301 Das gilt auch für jene vielleicht wichtigste Programmatik und Theorie, in der Postmoderne und „Dekonstruktion“ untrennbar sind (vgl. z. B. Engelmann 1990, 18 ff.; Zima 1994, IX f. u. 34 ff.; Zapf 2005, 207 ff.). Der Schlüssel-Begriff einer „Nicht-Präsenz“ des Sinnes (was nicht einfach dessen Verlust bedeutet, vgl. Derrida 1983, 23-48; Zima 1994, 42/ 43) verbindet beispielsweise den „Innominato“ bei Manzoni, den Riss durch die Zeit bei Blicher, das Verschwinden der Geschichte, die Suspension ihres Zwecks im „Glücksspiel“ heterogener Kräfte bei Balzac - wie, warum und wozu alles geschah, das weiß nur ein alter, bretonischer Bauer und der schweigt (vgl. oben Kap. 3.4) - mit jenem „Verschwinden“ der Romanhelden, wie sie Tournier, Pynchon oder Ransmayr in Szene setzen. Dies war in Tradition, Moderne und Postmoderne, allerdings immer sprengender und provozierender, mit einem Verschwinden von Texten und Zeichen einhergegangen. Ein weiterer Schlüsselbegriff der Postmoderne hieße „Abdrift“, „Iterabilität“, „trace“, „unendliche Derivation“ der Zeichen und ihrer Interpretationen (vgl. etwa Culler 1988, 95 ff., v. a. 123; Zima 1994, 34 ff., v. a. 51 ff.). „Bedeutung“ wird zu einem unendlichen „and so on ad infinitum“ des Zeichengebrauchs (vgl. Peirce 1983, 64 ff., für den diese Dynamik ausdrücklich ihr mögliches Vernunftziel impliziert, vgl. auch unten Kap. 8.3). Es ist einsichtig, dass ein radikales Verständnis von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, wie es gerade die intensiv erzählten historischen Romane seit langem kennen (vgl. z. B. oben Kap. 5.3.2.3), solche Gedanken zumindest indirekt vorbereitet hat: „Geschichte ist immer als Bewegung einer Aufhebung der Geschichte gedacht worden, als eine Derivation zwischen zwei Präsenzen“ (Derrida 1985, 439). Hierzu ein weiteres, freilich ein für die Kontinuität der Gattung in ihrer Diskontinuität schlechthin zentrales Beispiel: ein kritisch differenzierendes Ausspielen, „Herausspielen“ der Elemente eines Systems, seiner systembildenden Oppositionen, „von innen her“, mit den „subversiven, strategischen und ökonomischen Mitteln der alten Struktur“ selbst (Derrida 1983, 45; vgl. programmatisch Derrida 1990, 76-139, oder Derrida 1985, 422 ff.; knapp einführend Engelmann 1990, 18 ff.; sehr klar Culler 1988, 95 ff.; differenzierend Zima 1994, 51 ff.) ist wesentlicher Motor, so die Theorie, dieser „Abdrift“ und „Dissemination“. Genau in diesem Sinne erzählt z. B. William Faulkner in seinem Roman Absalom, Absalom! (1936, vgl. oben Kap. 6.2), wie Südstaaten-Systeme, gerade indem sie sich durchsetzen, sich auch zer-setzen und damit zugleich eine Nordstaaten-Ideologie ad absurdum führen können, sofern hier eben ein „selfmade man“ eine „alte Dynastie“ gründen will. Die Katastrophe seiner Familie folgt mit äußerster Konsequenz aus dem Funktionieren der System-Oppositionen: „männlich-weiblich“ (nur Söhne würden zählen), „weiß-schwarz“ (der „weiße“ Halbbruder tötet den „schwarzen“), „Vater-Sohn“ (der Vater „tötet“ seine Kinder), „reich-arm“, selbst „innen-außen“, „nah-fern“ usw. Eine „Hoffnung“ läge allenfalls im <?page no="310"?> 302 Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen „Hinausschieben“ (das iterabile, bereits genannte „deferre“ der „différance“, welches das „differe“ des Spiels der Oppositionen ergänzt), der bloßen „Spur“, die von den jeweils hierarchisch sekundären Strukturelementen in deren Realisierung gezogen wird: Denn eben und gerade nur die armen, schwarzen, dementen, weiblicher Fürsorge anheimgestellten Nachkommen werden überleben. Hier zeigen sich sehr folgerichtig dann auch weitere Momente postmoderner Poetik: die Dezentralisierung in der Zerstörung des „dynastischen“ Besitzes, aber auch der Erzählkontinuität, oder die periphere Perspektive, sofern erst viel später und aus räumlicher Ferne heraus die Handlung rekonstruierbar wird. Gleichwohl ist genau jene Tradition „synekdochischen“ Geschichtserzählens gewahrt, dass nur punktuell, aber genau, Nachrichten und Ereignisse des amerikanischen Bürgerkriegs in die fiktive Handlung eindringen. Geradezu abgründig führt hier die „Abdrift“ der Diskurse auf eine Leerstelle des Sinns: Der einzige, der die Motivationskontinuität des Romans lückenlos herstellen kann, das personifizierte Erzählmedium, hat in Faulkners früherem Roman The Sound and the Fury (1929), der aber spätere Ereignisse erzählt, für das Wissen möglicher Leser bereits Selbstmord begangen. Aber nicht nur er löst sich damit auf in ein Spiel der Texte und Bedeutungen. Anderes wird fortleben und neu entstehen, andere Traditionen, Spuren („that mark“), Forderungen, Bilder (auch eine imitatio Christi), Impulse und Perspektiven, wie sie nicht zuletzt auch aus dem komplexen, vielstimmigen und vielsträngigen „Gewebe“ (vgl. oben Kap. 6) des Œuvre hervorgehen, führen in eine offene Zukunft. Die dezentralen, das Dominante zerstreuenden, das Heterogene verdichtenden Erzählspiele des postmodernen historischen Romans - dazu gehört auch die „Metafiktion“ (Hutcheon 1988, Nünning 1995): Selbstreferenz bedeutet relativierende, hypothetische, eben auf Anderes verweisende Vorzeichen (vgl. oben Kap. 5.3.3.1) - stellen immer wieder eine heillos zerbrechende, eine „letzte Welt“ (Ransmayr) dar, „the End of History“ (Swift), „letzte Gedanken“ (Hilsenrath), eben den „Irrsinn“ der Geschichte (Uwe Timm, Halbschatten, 2008, 185). Aber ebenso oft - messen, zählen oder verallgemeinern kann man nicht - entwerfen sie einen Möglichkeitsraum für Antihistorien, utopische Funktionen, die Suche nach Identität („das Neue, in dem man sich selbst neu erfährt […] sich selbst neu entdecken würde“, ebd., 237, vgl. unten Kap. 8.2) und Fragen nach einem „realistisch“ möglichen Sinn-Konsens. Auch wenn diese immer nur Möglichkeiten unter anderen, also immer auch negierbar bleiben, auch der Zweifel und der Irrealis sind ja realistische Modi: Der Flug ist das Leben wert? Vielleicht. Ich denke, eher nicht. <?page no="311"?> Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen 303 Wer weiß. So könnte es gewesen sein […] (Halbschatten, 267) Uwe Timm: Halbschatten. Roman. Köln 2008. Culler: Dekonstruktion. 1988. • Derrida: Die différance. 1990. • Derrida: Die Schrift und die Differenz. 1985. • Derrida: Grammatologie. 1983. • Elias: Defining Spatial History in Postmodernist Historical Novels. 1995. • Engelmann: Postmoderne und Dekonstruktion. 1990. • Engler / Müller: Historiografic Metafiction in Modern American and Canadian Literature. 1994. • Hassan: The Postmodern Turn. 1987. • Holmes: The Historical Imagination. 1997. • Hutcheon: Poetics of Postmodernism. 1988. • Kohpeiß: Der historische Roman der Gegenwart in der Bundesrepublik Deutschland. 1993. • Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? 1990. • Mc Hale: Postmodernist Fiction. 1987. • Nicol: Postmodernism and the contemporary novel. 2002. • Nünning: Die Rückkehr des sinnstiftenden Subjekts. 2003. • Nünning: Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion. 2002. • Nünning: Von historischer Fiktion zu Historiographischer Metafiktion. 1995. • Welsch: Unsere Postmoderne Moderne. 1997. • Welsch: Wege aus der Moderne. 1994. •Wesseling: Writing history as a prophet. 1991. • Zapf: Postmoderne Literaturtheorie. 2005. • Zima: Die Dekonstruktion. 1994. • Zima: Moderne / Postmoderne. 1997. 8.1 Das Spiel mit den Katastrophen. Peruz, Vonnegut, Pynchon, Hilsenrath Edgar Hilsenrath hatte seinen Roman Der Nazi und der Friseur (1968/ 69) in deutscher Sprache geschrieben, aber es erschienen erst englische, italienische und französische Übersetzungen, bis sich 1977 ein deutscher Verleger fand. Das hat etwas Bezeichnendes. Diese Art von historischer Erzählung musste als geradezu schockierend neuartig empfunden worden sein; genau darin ist sie vergleichbar etwa mit Michel Tourniers Le roi des aulnes / Der Erlkönig (1970, vgl. unten Kap. 8.3.1) oder Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow / Die Enden der Parabel (1973, vgl. unten Kap. 8.1.3): Raketen- und Atomkrieg aus der Sicht eines Romanhelden, der vom Geruch bestimmter im Raketenbau verwendeter Isolierstoffe wie ein Pawlowscher Hund eine Erektion bekommt (Pynchon), Nazideutschland, identifikatorisch erlebt von einem französischen Perversen (Tournier), ein Massenmörder der SS tauscht erfolgreich mit einem Opfer des Holocaust die Identität (Hilsenrath). Man braucht die großen Handlungslinien nur zu nennen, um die Gemeinsamkeiten zu sehen. Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust, die beiden größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts: Völlig unabhängig voneinander erzählen die drei Autoren sie auf eine extrem exzentrische Weise, die alle konventionellen Normen und Werte aufs Spiel zu setzen scheint. Wie lässt sich das verstehen? Dazu eine meta-poetische Schlüsselstelle: Wenn der Spiegel ein Modell realistischer Erzähltradition ist („Der Spiegel der spazierengeht“ seit Stendhal, Le rouge et le noir, Kap. 19), und wenn <?page no="312"?> 304 Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen Subjektivität ein zentrales „Zwischenresultat“ dieses „realistischen Weges“ ist (vgl. zu beidem Verf. 1994, 59 ff. u. 378 ff.), schon das bedeutete eine Transformation jedes allgemeinen oder transzendentalen Subjekts, das Subjekt wird eine „Abkürzung“ im Spiel der Diskurse (Baßler 2003, 99, vgl. 93 ff.), dann wird beides spielerisch-konsequent, ja durchaus dekonstruktiv zur Disposition gestellt (zu den Begriffen vgl. oben Kap. 5.3.3 u. 8), wenn auf den ersten Seiten von Der Nazi und der Friseur der Romanheld in einen von Sprüngen durchzogenen Spiegel blickt: Ich […] sah, was ich sah! Verschiedene Gesichter zwischen den vielen Sprüngen im Spiegelglas: das Gesicht eines Friseurs … das Gesicht eines studierten Herrn … das Gesicht eines Halbidioten … das Gesicht eines Dichters … das Gesicht eines Perversen … das Gesicht eines Normalen … das Gesicht eines Ariers …. das Gesicht eines Juden … das Gesicht eines Fußballspielers … aber noch andere Gesichter - besonders, wenn meine Froschaugen vom langen Starren zu tränen anfingen … dann sah ich zwischen den gläsernen Laufmaschen des gesprungenen Handspiegels … noch eine Menge anderer Gesichter … Gesichter aus einer fernen Zukunft, die ich nicht kannte … gebrochene Reihen, … Gesichterreihen … und eines davon … ein ganz bestimmtes … eines, das sich bewegte, wegtanzen wollte … aus den Reihen tanzen … aus den Reihen tanzen … den Gesichterreihen … als ob es nicht dazugehörte … das … das eine: das Gesicht eines Mörders! … aber ein seltsames Mördergesicht war das, denn es schien zugleich die Züge aller Sterblichen zu tragen, die nach „Seinem Ebenbild“ erschaffen wurden … und doch konnte ich das nicht mit Bestimmtheit sagen, obwohl es ein bestimmtes Gesicht war, das ich sah, weil alles verschwommen war, das ich sah, weil alles verschwommen war … weil meine Augen tränten […] und weil ich nicht wußte, ob ich dem Handspiegel […] trauen konnte. (41) Was hat diese Szene mit dem Erzählen von Geschichte zu tun? Ihr „historischer Fokus“ wäre doch wohl und recht klar ein Satz wie: Es gab deutsche Durchschnittsmenschen, die haben Tausende von Juden ermordet. Aber dieser historische „Kern“ entzieht sich der Darstellbarkeit, „als ob es nicht dazu gehörte […] das Gesicht eines Mörders“. Das historische, lastend reale Trauma ist realistisch-mimetisch („im Spiegel“) nicht fassbar. Doch es provoziert - das ist immer noch die Sicht aristotelischer „Mimesis“ - die Frage, was an ihm das Allgemeinmenschliche („nach ,Seinem Ebenbild‘ erschaffen“) sein könne, ja sein müsse. Die Antwort, die die Szene vorschlägt, ist eine radikal dekonstruktive, zugleich eine radikal „mediale“ (der gesprungene Spiegel) und in beidem eine radikal experimentelle. Die Subjektivität, die das sich entziehende Trauma in humaner Perspektive erzählen und perspektivieren will, muss ihrerseits als unendlich „differenzierbar“ aufgefasst werden (ein Dichter, ein Halbidiot, ein Perverser, ein Fußballer etc.), zugleich wird sie „deferriert“, „hinausgeschoben“, sie bildet allenfalls noch das unbekannte Resultat einer Menge von möglichen Subjektivitäten „aus einer fernen Zukunft, die ich nicht kannte“. <?page no="313"?> Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke 305 Und der solcherart dekonstruierten Subjektivität korrespondiert ein postmodern dekonstruiertes, ausdrücklich in Widersprüche gesplittertes Medium. Erst der vielfach gesprungene Erzählspiegel scheint für eine in unendliche Möglichkeiten, in ihre eigene „différance“ aufgelöste Subjektivität das unfassbare Trauma des Holocaust erzählbar zu machen. Anders gesagt: Ein postmodern spielerisches Experiment mit einer Katastrophe, die menschlich unfassbar ist und dies doch werden soll („ein seltsames Mördergesicht […] schien zugleich die Züge aller Sterblichen zu tragen“) muss an die Stelle realistischer Erzähltradition treten. Man sieht, wie in dieser metapoetischen Szene die drei „postmodernen“ Aspekte zusammenhängen, in denen im letzten Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts Geschichte immer wieder erzählt wurde: als Spiel mit Katastrophen, dafür gleich weitere Beispiele, als Auflösung von „Subjekt und Geschichte in (eine) Vielfalt von möglichen Geschichts- und Subjektbegriffen“ (Deines / Jäger / Nünning 2003, 2), wie sie die „Spiele der Erinnerung“ prägen wird (vgl. Kap. 8.2), und (dafür stünde hier der zersprungene Spiegel) als Spiel der Zeichen mit der und gegen die Geschichte (vgl. Kap. 8.3). Es wird sich auch weiterhin zeigen, wie diese Aspekte sich wechselseitig durchdringen und eigentlich immer zusammenwirken. Doch auch das wird sich als prägend erweisen für den historischen Roman zwischen Postmoderne, Utopie und neuem Realismus: In Hilsenraths Roman geht es durchaus um kritisches Urteil, Kontinuität von Geschichte (zuletzt in Israel), Möglichkeitssinn (vgl. auch oben Kap. 5.4 u. unten Kap. 8.1.4) und humanes Engagement. Auch und gerade das - hier vorübergehend modellhafte, sonst oft weiter und radikaler ausgespielte - „subjektdezentrierende“ Erzählen geschieht immer wieder „in der Perspektive des Subjekts“ (Deines 2003, 76) gegenüber einer - der Holocaust lässt sich nicht weg-dezentralisieren - erst recht zu verantwortenden Geschichte. Edgar Hilsenrath: Der Nazi und der Friseur. Mit einem Nachwort von Helmut Braun. München: dtv, 2004. 8.1.1 Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke (1953) Die historischen Romane von Leo Perutz, von Die dritte Kugel (1915) bis zu Nachts unter der steinernen Brücke (1953), um- und überspielen seit je die Grenzen von Tradition, Moderne und Postmoderne. Gerade noch und bereits spielerisch traditionell beispielsweise wirken ihre synekdochischen, (pars pro toto) vom Individuellen zum Allgemeinen, vom Kleinen zum Großen, von der Fiktion zur Historie fortschreitenden Konstruktionen, etwa wenn in Turlupin (1924, einem „Gegenmodell“ zu jedem monumentalisch-didaktischen Roman seiner Zeit, Schmidt-Dengler 2002, 18) ein kleiner, fast närrischer Waise aufgrund einer Reihe ineinander verwickelter Täuschungen in die <?page no="314"?> 306 Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen große Geschichte Frankreichs eingreift und mit derselben Aktion sowohl einen Adelsaufstand gegen Richelieu als auch eine gegenläufige Revolution des Volkes (noch dazu mit Billigung des Ministers) gegen den Adel vereitelt. Geradezu kühn modern (vgl. allgemein Lauener 2003, 36 ff. und 199 ff.: „Perutz spielt zwar mit den Fakten, fügt sie frisch zusammen oder erfindet neue Tatsachen, doch das Ergebnis der bekannten Historie bleibt unangetastet.“, 45) wirken etwa die Erzählerperspektive (ein Fiebertraum) und die ineinander verschränkten und in sich gebrochenen Zeitebenen in Die dritte Kugel (1915), zusammen mit der expressionistisch harten Darstellung von (dreißigjährigem) Krieg und kolonialer Eroberung von Südamerika, gegen das die bereits postkoloniale Vision einer Verbrüderung der Kulturen gesetzt wird. Und die Dekonstruktionen von Subjektivität beispielsweise in diesem Roman (wer erzählt, wer agiert diese Geschichten? ) oder, und geradezu schizoid, in Der schwedische Reiter (1936) vermittelt schon immer zwischen romantischer Phantastik und einem entschieden modernen und postmodernen Thema (vgl. unten Kap. 8.2). In Nachts unter der steinernen Brücke schließlich werden zwei katastrophale Geschichten, die des Dreißigjährigen Krieges und, noch wichtiger, die der Prager Juden, konsequent durch das Prisma, man kann sagen, durch kaleidoskopartig und durchaus spielerisch wechselnde Farbfilter von Anti-Historien betrachtet (Aust 2002 spricht von einer „reproduktiven Dynamik“, die sich aus einer „irisierenden Vielfalt“ sich „auch widersprechender Lesarten“ ergibt, 45): völlig eigenartig, und doch durchaus vergleichbar den anderen in diesem Kapitel vorgestellten Beispielen eines postmodernen historischen Romans, der mit den großen Katastrophen der Geschichte spielt. So präzise die ersten Jahreszahlen 1589, 1598, 1609 (11, 24, 38) und punktuelle Hinweise, etwa auf „die Pest“ (11), den „Kaiser des Römischen Reiches, Rudolf II“ (23), oder die Anmerkung: „Nach der Schlacht am Weißen Berg (wurden) vierundzwanzig […] Herren vom böhmischen Adel auf dem Altstädter Ring hingerichtet“ (36), einen historischen Rahmen skizzieren (diese „Ebene der historischen Referenzialisierbarkeit“ ist bezeichnend für Perutz, Lauener 2003, 49), so verworren wirkt zuerst der Zusammenhang der Gesamthandlung, den man wegen der offenen Rätselstruktur der ersten Erzählung gleichwohl vorausblickend (daher: „proleptische Rätselromane“, Martinez 2002, 107) annehmen muss (vgl. 23: „In dieser Nacht…“). Und gezielt verfremdend wirkt der dem mündlichen Erzählen angenäherte, Mythen, Legenden, Märchen, Aberglauben, Anekdoten etc. in den Vordergrund stellende, narrative Zugang zu dieser trotz alledem unzweifelhaft in ihrer Faktizität fokussierten Historie. Anders gesagt: Die Spannung zwischen einer ersten polyhistorischen, zentrifugalen Lesart und einer Zweitlektüre, die durchgehende Handlungsstränge, zentrale Personen, thematische, ausdrücklich auch wertende, motivische und symbolische (z. B. Kunst und Musik), <?page no="315"?> schließlich immer wieder strukturierende Momente (z. B. die Wechselbeziehung von Traum und Wirklichkeit) herausarbeitet, diese produktive Differenzierung ist niemals in die eine oder andere Richtung aufzuheben. Nur die fiktionalen, ja poetischen Antihistorien eröffnen den Zugang zur katastrophalen Geschichte und sollen dazu helfen, sie auszuhalten. Und ohne den historischen Fokus würden sie ihren Richtungssinn gewünschter Alternativen, ihren Tagtraumcharakter verlieren und blieben beliebig. So scheint es, folgt man der Ankündigung der ersten Geschichte (Die Pest in der Judenstadt, vgl. 22/ 23) und der märchenhaften Poesie der siebten (Nachts unter der steinernen Brücke, vgl. 99-104) im Romantitel um eine zauberischtraumhafte Liebe zwischen Rudolph II. und einer schönen Prager Jüdin zu gehen; durch die Magie des (selbst historischen) Rabbi Löw finden die durch Welten getrennten Liebenden nachts im Traum zusammen, da ihre Seelen mit einem Rosmarin und einer Rose verbunden sind, die unter der Steinernen Brücke in Prag wachsen und einander umschlingen. Aber erst in Der Engel Asael (254 ff.), der vierzehnten Geschichte (man beachte die Symmetrie und, wenn man will, die Zahlensymbolik), wird dieses Spiel von Historie und Antihistorie durchsichtig, erst dann nämlich, wenn Perutz Rudolph II. sagen lässt: „Sie wird meine Liebste sein, [wenn nicht] will ich die Juden allesamt als ein ungetreues Volk aus meinen Königreichen und Ländern vertreiben […] das werde ich tun, so wahr mir Gott helfe.“ (258) Hier spricht nicht nur die Willkür der Macht im späten 16. Jahrhundert zu einem rechtlosen Volk und in einer Zeit, in der Vertreibungen und Pogrome historische Realität waren. Gleich darauf berichtet der Autor von dem in seiner Kindheit noch erlebten (historisch begann er 1893) Abriss der alten Prager Judenstadt. Diese Schichtung von Zeiten ließe sich fortsetzen. Spricht hier dann nicht der historische Autor deutlich wahrnehmbar, also „dezidiert aus einem Heute heraus“ (Clausen 2002, 54) mit, der in Israel, das für ihn ein Exil bedeutete, die letzten Kapitel des Romans zwischen 1943 (Kap. 4, Die Sarabande, dazu gleich Genaueres) und 1951 geschrieben hat? Erst wenn man sich vergegenwärtigt, und der Roman ist zuletzt so genau konstruiert, dass man nicht anders kann, dass die Ankündigung des Kaisers, Pogrome und Vertreibungen der Juden zu veranstalten, inzwischen vielfach und zuletzt im Holocaust des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer Realität geworden sind, die alle historischen Vorläufer übertrifft, genau dann bekommt die märchen- und traumhafte, anti-historische Magie des Rabbi Löw jene Bedeutung, die die Gesamtanlage des Romans von Anfang an entwirft: aus dem Alptraum der Geschichte im Wunschtraum von Liebe und Frieden zu „erwachen“. Genau diese postmoderne, dem „Märchen“ bei Hilsenrath, den Licht- und Farb-Experimenten bei DeLillo oder Timm vergleichbar, auf alle Fälle anti- Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke 307 <?page no="316"?> 308 Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen historische Sinnperspektive kündigt sich an, wenn man die Wechselreden der Liebenden in Kap. 7 ineinander verschränkt: Wenn die Wirrnis der Zeit wie ein Alb auf mir lastet […] und rings um mich treibt die Welt ihr Wesen mit Untreue, Arglist und Verrat […] - dann fliehen meine Gedanken zu dir, du bist mein Trost. Bei dir ist Klarheit, mir ist’s, wenn ich bei dir bin, als verstünde ich den Weltenlauf […]. Dann vergeht der Tag, wie ein Spuk zerstiebt, wie Rauch verweht, und ich bin bei dir. Du allein bist Wirklichkeit. (101-103) Erst wenn das Nichtwirkliche wie Magie, Märchen oder der Traum von Liebe wirklich wäre, würden wir den „Weltenlauf“ verstehen und die Geschichte ergäbe einen Sinn. Aber das ist nur ein Wunschtraum, allerdings ein lebensnotwendiger. Das entspricht der Doppelgesichtigkeit des Märchens als „Zeitspalter“ (Cramer 1993, 229) bei Hilsenrath (vgl. unten Kap. 8.1.3). Das Unwirklich-Wünschenswerte bringt in diesem Roman immer nur vorübergehend Entlastung vom Druck der historischen Abläufe und nur die unheilvollen Vorhersagen werden historische Realität. Insofern ist es konsequent, dass die Einzelerzählungen sowohl konstruktiv verbunden sind als auch dekonstruktiv, gegen den Verlauf der Historie „anspielend“, auseinander streben. In Kap. 1, Die Pest in der Judenstadt, wird nach viel jüdischer Mythologie und kabbalistischer Magie das Friedens- und Liebesexperiment beendet, denn es verstieß als Ehebruch gegen Gottes Gebot, und dieser Gott, „kein Gott, der lächelt und verzeiht“ (101), hat darum die Pest geschickt. Die Historie, hier fokussiert in Rudolf II. (geb. 1552, Kaiser von 1576-1612), wird ihren Lauf nehmen. Kap. 2, Des Kaisers Tisch, erzählt eine Anekdote, deren Kern, eine Prophezeiung, auf den Dreißigjährigen Krieg verweist: den Verlust der „evangelischen Freiheit“ und die Verwüstung des „goldenen Böhmerlandes“ (36). Kap. 3, wieder eine mythologisierende Anekdote, kreist um alltägliche Drangsalierungen der Juden, für die „Das Tal Hinnons - so heißt die Hölle in der Redeweise der Juden“ (41), jederzeit Realität werden kann. Kap. 4, Die Sarabande, 1943 in Israel geschrieben und geprägt durch das „persönliche Erlebnis“ der „Vernichtung der Juden durch die Deutschen“ (Müller 1994, 290), beginnt als Anekdote um zwei Adlige, einer davon in den jahrhundertelangen Türkenkriegen tätig - die Historie ist vor allem eine traumatische Kette von Kriegen und Verfolgungen -, und es endet mit einer wichtigen amplificatio, einer Verallgemeinerung jüdischen Leidens, das, so muss man folgern, noch viel länger dauern wird als diese Türkenkriege. Rabbi Löw hört ganz wörtlich de profundis, „aus den Tiefen der Verzweiflung“, eine Stimme, die gefangen in einer Kombination aus Mordlust und Volksfrömmigkeit „nach einem Jesusbild schrie, und dass ein Mensch aus Todesangst zu retten war“ (63). Das „Bild“, das ein „steinernes Herz […] ohne Erbarmen und ohne Furcht Gottes“ zu rühren vermag, verbindet ausdrücklich christlichen Glauben, jüdische Existenz und allgemeine Humanität: „Es war ein ,Ecce homo‘ [Jesus vor der Kreuzigung dem Volk gezeigt, H. V. G.], aber es war nicht der Heiland, nicht der Gottessohn“ - es genügt der Glaube an ihn, um den „Blitzschlag des Selbsterkennens“ zu bewirken -, „es war ein ,Ecce homo‘ von anderer Art. Doch solche Erhabenheit lag in seinen Zügen, so erschütternd war das Leiden, das aus seinem Antlitz sprach“, dass diese mordlustigen Christen ihn für „den <?page no="317"?> Heiland“ halten müssen und friedlich werden. Aber „es war nicht Christus. Es war das Judentum, das durch die Jahrhunderte hindurch verfolgte und verhöhnte Judentum, das auf diesem Bild sein Leiden […] die Dornenkrone der Verachtung […] und die Geißelhiebe der Verfolgung […] offenbart hat“ (64). Im Roman überlagern sich hier die Stimmen von Personen und Erzählern aus verschiedenen Zeiten, aber man kann nicht anders als den Autor selbst und den Verweis auf Krieg und Holocaust des zwanzigsten Jahrhunderts durch all dies hindurch zu hören: Christus und der Messias verschmelzen zur Utopie von Barmherzigkeit und Frieden. Und dann wird diese Perspektive auch für alle weiteren Themen und Deutungsdimensionen in diesem Roman relevant. Kap. 5, Der Heinrich aus der Hölle, kreist um eine weitere Prophezeiung: Nach Rudolphs Herrschaft „werde der Krieg kommen in allen Ländern […] mit Rebellion, Blutvergießen, fallenden Seuchen und Hungersnot“ (70). Das Thema von Illusion und Wirklichkeit kontrapunktisch variierend, ist es jetzt des Kaisers Wahnsinn, der gegen allen Augenschein einen wahren Sachverhalt erkennt. Gleichwohl kann auch die fromme Reaktion auf die Prophezeiung die Katastrophe des 30-jährigen Krieges nicht verhindern. Die Kap. 6, Der entwendete Taler und 8, Der Stern des Wallenstein, kontrastieren in den Themen Geld und Macht dem zentralen 7., das die Traumliebe zur Sprache bringt. Sie kontrastieren auch untereinander. Kap. 6 berichtet legendenhaft vom Beginn des in Prag, so der Erzähler selbst (vgl. 263), legendären Reichtums des Mordechai Meisl, dessen Frau, die schöne Esther, die Traumgeliebte des Kaisers ist; Kap. 8 beginnt mit einer mentalitätsgeschichtlichen Situationsskizze, einem frühaufklärerischen exemplarischen Gespräch Johannes Keplers über Mathematik und Astrologie; danach gerät diese Erzählung teils zur Anekdote über die Anfänge des Aufstiegs von Wallenstein, teils wird sie satirische Komödie, der zufolge Wallenstein nur durch glückliche Fügung nicht ein ebenso großer Verbrecher wurde wie er tatsächlich als „ein guter Rechner“ seinen plötzlichen Reichtum in „zwei Dragonerregimenter“ (145), also in den Krieg zu investieren und so schließlich zum Unternehmer-Feldherr des 30-jährigen Krieges schlechthin aufzusteigen vermochte. Kap. 9, Der Maler Brabanzio, ergänzt das Thema wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Denkens in der frühen Neuzeit durch das korrespondierende der neueren flämischen, realistischen Malerei. In diesem Kontext entsteht ein unfreiwillig treffendes Portrait der toten, schönen Esther - der Traum erzeugt Wahrheit, aber nur eine Wahrheit der Kunst -, während umgekehrt Mordechai und Rudolph, in ihrem Leid um Esther seelisch verbunden, diese Gemeinsamkeit einerseits wie einen Tagtraum erfahren („da widerfuhr dem Kaiser etwas Seltsames. Es war ihm als hätte er selbst diese Worte gesprochen und nicht der Jude“, 158). Andererseits aber wird hier das Thema der unwirklichen Wirklichkeit weiter und neu variiert, denn eigentlich verbunden sind Kaiser und Jude gerade erst in jener „Vergessenheit“ (160), die ihre Geschichte inzwischen vereinnahmt hat. Der vergessene Alchimist, Kap. 10, setzt dieses Thema fort. So wie die Alchemie erst im Durchgang durch ihr Vergessen-Werden, ihre Wirkungslosigkeit, zum Symbol unmöglich-notwendiger, spielerisch-ernster Verwandlung wird, die wahren „Goldmacher“ der Neuzeit dagegen, also die Geschäftsleute, Finanzbeamten und vor allem die Betrüger sind (vgl. 164), so münden diese mentalitätsgeschichtlichen Skizzen in eine radikale, freilich auch illusionslose, darin bereits postmoderne Aufklärungskritik. Gegenüber dem Lauf der Geschichte, wie er sich inzwischen gezeigt hat, wären da nicht die Narren, hier und in der folgenden Erzählung ein zentrales Thema, die selbstvergessenen „Spieler“ (vgl. auch 252, das Ende der vorletzten Erzählung), die Träumer, die Liebenden, die Mystiker, auch die, Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke 309 <?page no="318"?> 310 Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen die „lachen“ können (174), wären nicht sie vielleicht die besseren Herrscher gewesen? Die letzten vier Kapitel, 11. Der Branntweinkrug (zwei Volksfest-Spaßmacher hören Todesprophezeiungen, darunter die des ,besitzlosen‘ Mordechai), 12. Die Getreuen des Kaisers (eine Szene „am Abend des 11. Juni 1621“ (208), also an dem Tag, an dem Hauptvertreter der böhmischen Stände hingerichtet wurden), 13. Das verzehrte Lichtlein (Mordechai begreift die Verbindung zwischen Esther und dem Kaiser und beschließt, sein überhaupt nicht mythisch-magisch, sondern v. a. durch Schutzbriefe, Handelsprivilegien und Beteiligung des Kaisers gewachsenes „Gut“ vollkommen wohltätig zu verwenden, damit es nicht an den Kaiser fällt), 14. Der Engel Asael (Rabbi Löw gesteht, dass und warum, und warum nur vorübergehend, er seine magische Geschichtsmanipulation begangen hat) und der Epilog (der Erzähler erinnert sich an den Abriss des „einstigen Ghettos“, der alten Prager Judenstadt, „um die Jahrhundertwende“, 261/ 262: Von den ganzen hier erzählten Geschichten bleibt nur eine „Wolke von rötlichgrauem Staub“, bis auch diese „ein Windstoß forttrieb und verschwinden ließ“, 267), dieser Romanschluss hat in mehrfachem Sinne eine zugleich abschließende als auch wirkungsästhetisch vermittelnde Funktion. Das Ende des Romans und seine Aufklärungen binden einerseits das Erzählte, Fabulierte und Geträumte mehrfach an faktische Historie zurück, die die Leser kennen können, und legen andererseits die Konstruktion des Gesamtromans offen, beantworten also alle Rätsel, die die sprunghaft zeitversetzten, vielperspektivischen, vielthematischen, Geschichte von immer neuen Peripherien her erschließenden einzelnen Erzählungen offen gelassen haben. Mythos, Magie, Legende und so fort und faktische Historie differenzieren sich in dem Maße auseinander, in dem ihre Verbindung als eine durchsichtig wird, die lediglich im Bewusstsein der Romanpersonen besteht. Anders gesagt, durchsichtig wird ihr fiktionaler Entwurf. Der Autor spricht über sein Erzählspiel über die Personen hinweg zu seinen Lesern. Und das eröffnet dann sehr klar und schlüssig eine Ebene metapoetischer Bedeutung: Erzählprinzipien als solche, das Spiel des Erzählens selbst, wird modellhaft reflektiert und zur Anschauung gebracht. So erklärt sich eine eigenartige kleine Episode: In der letzten Erzählung vollbringt der Rabbi Löw eine Tat, die typisch ist für Helden konventioneller, ja unterhaltender, historischer Romane (vgl. Perutz’ Turlupin sowie oben Kap. 5): Er rettet dem Kaiser das Leben vor einem Attentat böhmischer Adliger, das diese auf „die Juden“ schieben wollten (255). Das ist bezeichnend. Denn vergleichbar reflektiert sich der (implizite) Autor, der Konstrukteur des Gesamtromans, in diesem weisen Rabbi, der hier ja auch ausdrücklich nicht in die Historie eingreifen will („nicht ich habe in die Hände der Könige die Macht gelegt“, 259). Der Autor und seine Fiktionsspiele mit der und gegen die Historie, so wie sie alles das, was hier Mythos, Magie, Märchen, Legende und Traum war, wachgerufen und lebendig gemacht haben, so ,verwandeln‘ sie es - ,alchemistisch‘ (vgl. Kap. 10) gesprochen: im Durchgang durch Negationen: Verschweigen (vgl. Kap. 12, <?page no="319"?> 227), Verspielen (Kap. 13, 252/ 253) und Vergessen (vgl. ebd., sowie 161) - in gesuchte Bedeutungen und postmoderne, genauer: postmodern-ethische - diese Übergänge finden sich im Folgenden immer wieder - Antihistorien. (Mandelartz 2002 spricht zutreffend von einer „hoch reflektierten Poetik“, die zu „ethischen Überlegungen“ führen will. Perutz sucht „den Gesetzen des historischen Ablaufs die Liebe und die Gnade entgegen zu setzen“. Auch wenn diese Perspektiven „zuletzt wieder in den Strudel der Geschichte gezogen“ werden, „ihre Gültigkeit […] wird davon nicht berührt.“, 203/ 204). Der Autor hat ebensowenig wie sein Rabbi die Macht, der Geschichte einen alternativen, und das heißt hier, einen humanen Verlauf zu geben. Das Höchste, was er erreichen kann, ist die Fiktion eines Traumes von Liebe und Frieden. Aber durch diesen hindurch, also zugleich fiktional-phantastisch träumend und aufklärerisch völlig illusionslos und ,wach‘ sollen die Leser diese katastrophale Geschichte verstehen. Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke. Hg. von Hans-Harald Müller. München 1994. Aust: Amen! (…) Die Suppe steht auf dem Tisch. 2002. • Clausen: Leo Perutz. 2002. • Forster / Müller: Leo Perutz. 2002. • Lauener: Die Krise des Helden. 2003. • Mandelartz: Kunst als Erkenntnis. 2002. • Martinez: Proleptische Rätselromane. 2002. • Müller: Leo Perutz. 1992. • Müller: Nachwort. 1994. • Schmidt-Dengler: Der Autor Leo Perutz im Kontext der Zwischenkriegszeit. 2002. 8.1.2 Kurt Vonnegut: Slaughterhouse 5 / Schlachthof 5 (1969) Die „metafiction“ (Schäbler 1983, 591; Nünning 1995, 1.283/ 284) des Vorworts (ein Romanerzähler erzählt, warum und wie er zum Erzählen seines Romans kommt), polyhistorisches Erzählen sprunghaft verknüpfter Zeitebenen, „science-fiction“ mit fliegenden Untertassen und Leben auf fernen Planeten, verbunden mit Autobiographie und Roman über Ereignisse des II. Weltkriegs, all dies wiederum gespiegelt in banalem US-amerikanischem Nachkriegsalltag, extreme Verfremdungen von kulturellen Zeichen und Symbolen (drei Musketiere, „mustard and roses“) und vieles mehr: Dies ist sicher (vgl. oben Kap. 8) ein „postmoderner“ Roman. Und gerade darin zeigt er deutlich die Kontinutät von Tradition, Moderne und Postmoderne in dieser Gattung („Rather than being a traditional novel or a purely experimental ,Tralfamadorian‘ novel, Slaughterhouse-Five is more like one superimposed on the other“, Allen 1991, 89). Es ist die stabilisierende Funktion des historischen Fokus, man kann auch sagen: das hartnäckige Trauma geschehener Geschichte, das diese Kontinuität bewirkt. Denn noch das exzentrische Spiel mit den Möglichkeiten der Fiktion, z. B. „schizophrene Science-Fiction“, nutzt, im Prinzip genauso wie das „it is then“ Walter Scotts, deren produktive Differenz zur Historie. Schon der barock-postmoderne, vielfältige, widersprüchliche, dezentralisierte („Tralfamodore“) Titel lässt sich entsprechend in einzelne Schichten der Argumentation zerlegen: Kurt Vonnegut: Slaughterhouse 5 311 <?page no="320"?> 312 Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen Slaughterhouse-Five or the Children’s Crusade. A Duty-Dance with Death. (By) Kurt Vonnegut, Jr. a fourth-generation German-American now living in easy circumstances on Cape Cod (and smoking too much), who, as an American infantry scout hors de combat, as a prisoner of war, witnessed the fire-bombing of Dresden, Germany, ,the Florence of the Elbe‘, a long time ago, and survived to tell the tale. This is a novel somewhat in the telegraphic schizophrenic manner of tales on the planet Tralfamadore, where the flying saucers come from. Peace Die (nur zunächst) rätselhafte Hausnummer korrespondiert dem aus den Geschichtsbüchern bekannten historischen Ereignis (13./ 14. Februar 1945, die Bombardierung Dresdens) und wird durch alles, was der historische Autor dazu beglaubigend beibringt, bestärkt; die Metapoetik und Metahistorik, die dann den ganzen Roman durchziehen wird, spricht nicht nur aus Angaben wie „a novel“ oder „manner of tales“, sondern wird natürlich auch durch den ganzen Titelaufbau und die Topik der Buchpräsentation eröffnet: Man weiß einfach sofort, welches literarische Genre man vor sich hat. Die Untertitel allerdings werden immer problematischer, rätselhafter und aggressiver: „Kinderkreuzzug“ hat den Erkenntnisanspruch und - wie der Roman gleich zeigen wird - das Aggressionspotential historischer Vergleiche, aber „Pflichttanz“ katachrestisch (vgl. oben Kap. 5.3.1.2 u. 8) verbunden mit „Totentanz“? Ein Ritual bürgerlicher Festveranstaltungen, eine mittelalterliche literarischkünstlerische Form, die „Pflicht“ der Soldaten (und vieler Zivilisten), für ihr Land, die Freiheit usw. zu sterben - den zeithistorischen Hintergrund bildet der Vietnam-Krieg -, all dies soll zugleich ein bewusstes, literarisch-ästhetisches „Tanz-Spiel“ sein? Der Romantitel stellt die Leser genau vor die alte und immer neue Frage des historischen Romans, wie das Erzähl-„Spiel“, dessen metafiktionale Reflexion und der zweifellos ebenfalls durchgehaltene historische Diskurs miteinander konferieren. All this happened, more or less. The warparts, anyway, are pretty much true. […] Listen: Billy Pilgrim has come unstuck in time. Billy has gone to sleep a senile widower and awakened on his wedding day. He has walked through a door in 1955 and come out another one in 1941. He has gone back through that door to find himself in 1963. […] He says. Billy is spastic in time, has no control over where he is going next, and the trips aren’t necessarily fun. […] Listen: Billy Pilgrim says he went to Dresden, Germany […]. (1,17, 99) So beginnen das erste, das zweite und das sechste Kapitel. Die Einführung des Erzählspiels, hier v. a. ein Spiel der ordnungslos und sprunghaft verbundenen Zeit-Schichten und -Fragmente, und die Annäherung an den historischen Focus fangen also genau parallel an. Die dem Mündlichen angeglichene <?page no="321"?> Umgangssprache der Erzählerstimme - der Erzähler tritt nicht nur in den Anfangskapiteln, sondern auch dazwischen immer wieder auf („I was there“, „That was I. That was me. That was the author of this book“, 49 u. 91) - schafft den ganzen Roman hindurch einerseits eine narrative „Litotes“, ein „understatement“ der Deutungen („so it goes“), hinter dem sich ein traumatisiertes Ich zugleich verdeckt und offenbart („a troubled mind at work behind it“, Freese 1994, 210), andererseits ein kommunikatives Gegenüber. Die Leser sollen in einem „process of sense-making co-authering“ (ebd. 214) antworten. Und der Name „Pilgrim“ vermittelt den Anspruch von „Everyman“. So weit das Spiel auszugreifen vermag, so gebrochen und vielfältig „untertrieben“ erzählt wird, der „Dance with Death“: Das Spiel mit der Katastrophe soll als „Dekonstruktion geschlossener Formen“ und eines „gut und dauerhaft geordneten“ Geschichtsverständnisses gelesen werden, sie sozusagen „zum Tanzen bringen“ (Schäbler 1983, 593/ 594): Dies ist ein konsequent kritischer, moralischer Anti-Kriegs-Roman. Das Leben des Helden wird durchgehend als eine Mixtur sprunghaft verbundener Ausschnitte aus verschiedenen Zeitebenen erzählt. Gleichwohl lässt sich zuletzt eine kontinuierliche Handlung herstellen: Billy wächst auf als betont durchnittlicher „mittlerer“ Held, gerät in den Zweiten Weltkrieg und überlebt im Keller des Gebäudes „Schlachthof 5“ die Bombardierung von Dresden. Aber in einem anderen Handlungsstrang wird er von einer fliegenden Untertasse durch ein Zeit-Tor in eine Welt namens Tralfamadore entführt. Dort herrscht „all-time“, jeder Augenblick aus Vergangenheit und Zukunft „co-exists“ (62). So bleibt es in Billy Pilgrim’s irdisch-historischem Leben unbemerkt, dass er gleichbzw. „all“-zeitig auf Tralfamadore zusammen mit einer ebenfalls geraubten B-Film-Schauspielerin in einem Zoo von einer neugierigen Menge kleiner grüner Monster bestaunt wird usw. Gegen Ende des Romans freilich erfährt man, dass diese interplanetarischen Zeitreisen auch auf Halluzinationen beruhen können, hervorgerufen eben durch ausgiebige Science-Fiction- Lektüre; auch Billys eigene Geschichte ist dort vorgesehen (147). Und einmal war der Romanheld auch schwer am Kopf verletzt worden. Fiktion und Historie, Autobiographie und Halluzination, Vorkriegs-, Kriegs- und Nach-kriegs-, Personen- und Autor-Zeit, Meta- und Science-Fiction, Erlebnisse und Lektüren, Spiel und Moral: All dies überlagert und durchdringt sich nicht nur, es ist auch durch vielfältige motivische und thematische Entsprechungen vernetzt: Das Motiv der „drei Musketiere“ (ein traditioneller Romanstoff, ein Candy-Bar, eine Konstellation von Pseudo-Kameraderie, 7, 30 u. 35), der Geruch von „Senf-Gas und Rosen“ (der Atem verschiedener Betrunkener, der Gestank der Leichen in Dresden, 3, 53 u. 157) zum Beispiel tauchen in den verschiedenen Romanteilen immer wieder auf. Ein Deutscher, der Kriegsgefangene misshandelt, benutzt dasselbe Argument wie die kleinen intergalaktischen Kidnapper: „Vy you? Vy anybody? […] Why you? Why us Kurt Vonnegut: Slaughterhouse 5 313 <?page no="322"?> 314 Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen for that matter“ (55 u. 66), und die Leute von Tralfamadore setzen auf Deutsch hinzu: „Hier ist kein Warum.“ (ebd.). Die semantischen Verdichtungen der verschiedenen Zeit- und Handlungsebenen bzw. -modi, für die eben nur wenige Beispiele vorgestellt werden konnten, deuten auf dieselbe Funktion wie dieser Verzicht auf ein „Warum“. Aber das immer wiederholte „so it goes“ genügt nicht als Erklärung. Die Faktizität wird Provokation („challenges readers to make sense of a world gone mad“, Marvin 2002, 113). Nicht die Entstehung und der Verlauf von „Fakten“ und „Fiktionen“ interessiert, sondern deren Bewältigung im Denken. Was „sagt“ so gesehen, um die wichtigsten Handlungsstränge zu verbinden, die Science-Fiction zur Geschichte? Zunächst scheint sie deren Gegenwelt zu entwerfen, zumindest für den Romanhelden: Dies sind „the only sort of tales he could read. […] Billy had seen the greatest massacre in European history, which was the fire-bombing of Dresden. So it goes. So they were trying to re-invent themselves and their universe. Science-fiction was a big help“ (73). Im selben Atemzug fast wird diese Erfindung jedoch bezeichnet als „a lot of wonderful new lies, or people just aren’t going to want to go on living“ (ebd.). Zunächst scheint auf Tralfamadore allgemeiner, ewiger Friede zu herrschen, aber das ist eine, freilich dauerhafte, unwiederlegbare, illusionäre Wirkung von „all-time“. Nicht nur gibt es auch dort fürchterliche Kriege; da man dort alle Zeit, auch die Zukunft in einem kennt, weiß man auch, dass von dort die Zerstörung des ganzen Universums ausgehen wird. Aber diese Zeitform erlaubt es auch, Zeiten auszublenden und andere zu betonen: „Ignore the awful times and concentrate on the good ones.“ (85). Diese hyperfatalistische Indifferenz verbindet nicht nur Science-Fiction und Geschichts-„Bewältigung“, sondern auch Kriegshistorie und Postmoderne. Einerseits wird so lediglich die nahezu offizielle Verdrängung des Dresden- Traumas gespiegelt: Dieses gilt, so Slaughterouse 5, in den USA offiziell als geheim (vgl. 139), die Geschichte des Krieges ist ersetzt durch Filme mit „Frank Sinatra and John Wayne or some of those other glamorous, war-loving dirty old men“ (11), ein Antikriegs-Roman scheint einem Kulturkenner so sinnvoll wie ein Anti-Gletscher-Roman (3) usw. Wer wollte die effektive Gültigkeit solcher Geschichts-Verdrängungen leugnen? Und andererseits stellt die indifferente Gleichzeitigkeit aller Gegensätze, die Instant-Pluralität der Positionen, der vollständige, interaktive Austausch von Fakt und Illusion ein bemerkenswert klares Modell der Medienrealität dar, in der wir heute leben. „So it goes“ klingt nicht zufällig wie die inzwischen geläufige Formel: „Everything goes (nothing matters).“ Aber dieser Diskurs, indem er vergleicht und verallgemeinert und das volle Risiko der Sinnlosigkeit eingeht, bringt auch Gegenargumente hervor und zielt auf Alternativen. „All-time“ kann die Realitätsflucht einer beliebigen „Gegen-Zeit“ bezeichnen, oder die Zeitnegation einer bewussten Lüge, <?page no="323"?> oder, wie eben gesehen, eine Allgemein-Zeit unserer Kultur, darin die Jederzeit der Medienillusion, und, nicht zu übersehen, die Spielzeit, das Zeitspiel literarischer Imagination und Fiktion, beispielsweise genau dieses Romans. Wenn das so ist, dann ist „all-time“ aber nicht nur Erzählzeit, sondern, freilich radikalisiert, allgemeine Zeit-Erfahrung und Zeit-Denken (vgl. oben Kap. 5.1 u. 5.4). „In reality one does as much ,backward‘ travelling in time through memory as ,forward‘ travelling in anticipation of the future“ (Allen 1991, 83). Und wir „denken“ Zeit und Geschichte, indem wir vergangene Ereignisse zu ihrem Futurum und gegenwärtige Ereignisse, Bedingungen, Zustände mit ihren Vergangenheiten in Beziehung bringen. Nur so werden Veränderungen, Kontinuität, Brüche usw. begreifbar. Jede Zeit-Semantik formuliert auf ihre Weise diese „all-time“. Dann zielt das ganze Zeit-Erzähl-Spiel auf durchdachte Alternativen. Auch die ganze Science-Fiction-Logik kann ja überhaupt nichts ändern an historischen Katastrophen oder individuellem Tod. Es kommt darauf an, ein neues Humanum durchdacht, illusionslos und realitätskundig zu entwickeln, anders gesagt: ein alternatives menschliches Selbst zu erfinden, „to re-invent themselves and their universe“ (73), alternativ sowohl zum bloßen Spiel der Science-Fiction als auch zur Verzweiflung innerhalb der geschehenen Geschichte. Das geht über die partiellen Alternativen hinaus, etwa über die Passagen skeptischer, doch zugleich unbeirrbarer Friedenserziehung, oder die Alternative zum ,real existierenden Christentum‘ („there are right people to lynch“, Jesus war dafür lediglich „the wrong guy“, der wahre Christus lebt in jedem „bum“ und „nobody Jesus was“, 73), oder über die deutlich alternativ zur Geschichte lebende, diese in Frage stellende Natur (vgl. 157, sowie oben Kap. 5.4). Der Diskurs als ganzer in seiner vielfach gebrochenen, aus Heterogenem anti-komponierten Form ist nicht nur „one of the best solutions we have to the problem of describing the unimaginable“ (Lundquist 1977, 83), sondern, und darin etwa ähnlich spielerischen Bearbeitungen des deutschjüdischen Holocaust vergleichbar (vgl. unten Kap. 8.1.4), er argumentiert an gegen seine Geschichten: ,Lies das Buch so, dass das, was es erzählt, unmöglich wird! ‘ ist der implizite Zwischentext auf jeder Seite. Am deutlichsten wird das ganz folgerichtig in den metapoetischen Passagen, etwa wenn es von den Romanen auf Tralfamadore heißt: There isn’t any particular relationship between all the messages, except that the author has chosen them carefully, so that, when seen all at once, they produce an image of life that is beautiful and surprising and deep. (162) Strukturell gleichen diese Romane dem polyhistorischen Modell der Moderne und Postmoderne, das ja explizit spätestens seit Döblins Wallenstein (1920) auch den historischen Roman selbst prägt (vgl. oben Kap. 6), etwa auch Slaughterhouse 5. Aber so wie „all-time“ als Zeitdenken hier in das Denken Kurt Vonnegut: Slaughterhouse 5 315 <?page no="324"?> 316 Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen und Erfinden von Alternativen zur geschehenen Geschichte übergeht, so ist auch das metapoetische Resultat dieses reflektierten Modells eine Alternative, zugespitzt gesagt: eine Alternative zu der Geschichte, in der es steht, und darin durchdacht („deep“), neu („surprising“) und trotz, ja gerade wegen allem, auf eine bessere („beautiful“) Welt gerichtet. Kurt Vonnegut: Slaughterhouse-Five. London: Vintage, 1991. Allen: Understanding Kurt Vonnegut. 1991. • Freese: Kurt Vonnegut’s Slaughterhouse-Five or, How to Storify an Atrocity. 1994. • Geppert: „A Beautyful City and a Brilliant People? “ 2000. • Lundquist: Kurt Vonnegut. 1977. • Marvin: Kurt Vonnegut. 2002. • Schäbler: Amerikanische Metafiktion im Kontext der Europäischen Moderne. 1983. 8.1.3 Thomas Pynchon: Gravity’s Rainbow / Die Enden der Parabel (1973) Von allen hier in dieser Untersuchung behandelten Romanen ist dies der sprengendste. Er kreist um die Möglichkeit, ja um die zukünftige Gewissheit totaler Vernichtung, sofern riesige Interkontinentalraketen einerseits, andererseits neue nukleare Sprengkraft zusammentreffen. Doch dies wird völlig spielerisch dezentralisierend erzählt. Gleichwohl ist andererseits der Ansatz dieses Spiels klar definiert: die unendlich varriierbare, aggressive Analogie von Raketen- und Phallusform. Schließlich jedoch und bei alledem handelt es sich um einen zwar phantastisch erweiterten, gleichwohl historisch klar fokussierten, postmodern-historischen Roman: „Gravity’s Rainbow is a historical novel“ (Bové 2004, 658; darin aber einen „conflict between good and evil“ zu sehen, 660, scheint mir zu einfach). Den Fokus in der Historie, einen nicht nur für die Intellektuellen der USA traumatischen Punkt weitestreichender, gerade heute bedrohlicher Konsequenzen, bildet ganz eindeutig, wenn auch lediglich am Horizont dieses Erzählraums sich abzeichnend, das Zusammenschließen deutscher Raketentechnologie mit der in den USA entwickelten und von ihnen erstmals eingesetzten Atombombe. Die in diesem Buch mehrfach als exemplarisch zitierte (vgl. z. B. oben den Anfang von Kap. 5), zugespitzte einmalige Synekdoche (ein minimaler Teil für ein gewaltiges Ganzes) der Zeitungsnachricht „MB DRO ROSHI“ (bomb dropped on Hiroshima, 693) und die noch weiter im Zahlensystem verkürzte Bezeichnung „00000“ (z. B. 391) für „the Blackrocket“ (ebd.), die ultimative Großrakete, das sind die beiden katastrophalen Mikro- und zugleich Hyperzeichen, mit denen und gegen die der Roman spielt. Spielerisch, freilich dies als fiktive Zuspitzung einer ganz historischen Situation, beginnt der Roman an einem Wintermorgen in London damit, dass eine der neuen, lautlosen deutschen V-2-Raketen (vgl. 6) erwartet wird - wenig später wird die gerade stattfindende „Rundstedtoffensive“ erwähnt (52), so dass der Zeitpunkt Januar 1945 recht genau bezeichnet ist, auch darin zeigt sich die Tradition des historischen Romans -, und eine Romangestalt stellt <?page no="325"?> sich vor, dass die Rakete genau seinen Kopf trifft: „for a split second you’d have to feel the very point, with the terrible mass above, strike the top of the skull…“ (7). Die nächsten Abschnitte erzählen aus ganz verschiedenen Perspektiven, wie diese Bombeneinschläge als Kriegsalltag erlebt werden. Und noch der Schluss des Romans übersetzt diese Vorstellung in eine metafiktionale Medien-Verallgemeinerung: In einem Kino wird ein Film über eine Rakete gezeigt, und zugleich nähert sich die den ganzen Roman hindurch verfolgte „00000“ (vgl. „Pre-Launch“ etc. 750 ff.) eben diesem Kino selbst, „the pointed tip of the Rocket, falling nearly a mile per second, absolutely and forever without sound, reaches its last unmeasurable gap above the roof of this old theatre, the last delta-t“ (760). Das ist nur einer der unendlich vielen Querverweise historisch fokussierter Hyper-Zeichen in diesem Roman. Extrem spielerisch, man könnte auch von einer grausamen Satire sprechen, doch zugleich durchaus wissenschaftlich möglich und, obwohl voll von „alternatives to official accounts of history“ (Punday 2003, 251), genau auf den historischen Fokus bezogen, ist auch die zentrale „plot“-Konstruktion des Romans entworfen, die sich noch durch die phantastischsten und labyrinthischsten Abzweigungen der Handlung hindurch hält: Ein junger Amerikaner, Tyrone Slothrop, wurde in seiner Kindheit in einem psychisch-chemischen Experiment wie ein Pawlowscher Hund so konditioniert, dass er seitdem vom Duft einer bestimmten chemischen Verbindung eine Erektion bekommt. Und da dieser Kunststoff inzwischen zur Ummantelung von Elektronikteilen benutzt wird, die höchste Temperaturen aushalten, so eben in den deutschen Raketen, deckt sich am Romananfang die Karte sexueller Aktivitäten des Romanhelden mit der von Einschlagstellen der V-2 in London. Ein Geheimdienst wird darauf aufmerksam und schickt Slothrop in das Deutschland der letzten Kriegs- und ersten Besatzungstage, damit er aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten die vermutete Großrakete und ihr zentrales Steuerungsinstrument, ihre „black box“ findet. Im Niemandsland von zerfallendem Deutschland und vorrückenden, mehrfach untereinander feindlichen Kommandos, die immer extremer und phantastischer werden, unter ihnen etwa eine Gruppe „schwarzer“ Hereros, die nach der „black rocket“ und „black box“ suchen, in diesem zentrifugal und zentripetal zugleich (alles flieht, alles sucht) ständig wechselnden Spannungsfeld spielt der Hauptteil des Romans. Bis am Ende der fast wahnsinnige deutsche Konstrukteur die Rakete zusammen mit seinem sadistisch geliebten Lustknaben („delicious […] sacrifice (to) your mistress Death“, 749/ 750) abschießt. Die Rakete verkörpert den „dynamism of history - a movement toward inanimateness and death“ (Marquez 1981, 54). Gezielt extrem und zugleich intensiv verdichtet wird dieses Niemandsland, in dem wie eine mythische „queste“, eine Heroenreise zu einem sakralen Machtzentrum, die Suche nach einem fünffachen Nichts („00000“), Thomas Pynchon: Gravity’s Rainbow 317 <?page no="326"?> 318 Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen zugleich dem Inbegriff totaler Vernichtung stattfindet („the heretical […] twentieth century’s gospel“, Marriott 1985, 69 u. 80), anders gesagt, unter Einsatz aller literarischen Mittel wird ein Deutschland des Frühjahrs 1945 zur postmodernen „zone“ (Smith 1983, 245; Riese 1989, 1323 u. v. a.) auserzählt, in der die verschiedensten nationalen, kulturellen, durchaus religiösen, wirtschaftlich-wissenschaftlich-militärischen Traditionen und Instanzen - Information beispielsweise ist bereits Krieg: „Mister Information“ (644) - und untrennbar mit ihnen verbunden emotionale, kreative und v. a. eben sexuell-libidinöse Energien zusammentreffen und sich austauschen. Alliierte Geheimdienstchefs und deutsche Wissenschaftler-Techniker etwa geben sich vergleichbaren sado-masochistischen Exzessen hin, eine ihrer Partnerinnen dabei wechselt mehrmals die Fronten, es gibt aber auch ganz grimmig romantische Liebesgeschichten („magic love [while] the rocket falls […] with the blast still reverberatig“, 38/ 39), dann werden wissenschaftliche Theorien verschiedenster Art erörtert, regelmäßig gibt es punktuell genaue historische Verweise, die Handlung führt von Alltagsorten zu Rehabilitations-Inseln, zu Trümmerverstecken, zu phantastischen Party-Orgien, zu geheimen militärischen Anlagen, z. B. den unterirdischen Fabriken der Raketenherstellung und angeschlossenen Gefangenenlagern und so fort, dann wieder auf verschiedene Traum- und Totenschiffe, oder in ein verlassenes Filmstudio voller suggestiver Requisiten, anderswo in vegetative oder aquatische Wildinseln, Science fiction- oder Comic strip-Szenarien und überhaupt in Träume, kurz in ein Pandämonium. Und all das wird sprachlich intensiv ebenso wie filmisch anschaulich genau aus den verschiedensten, aber jeweils personal identifizierbaren Perspektiven erschlossen, viel eindrücklicher und reicher, als hier wiedergegeben werden kann. Der Romanheld, so sorgfältig seine Herkunft, Kindheit und Jugend wie in einem Entwicklungsroman nach und nach berichtet werden, wechselt nicht nur immer wieder seine Verkleidung und seinen Namen, sondern immer mehr auch seine Identität, er hat mehrere Wiedergänger (z. B. den abtrünnigen russischen Agenten Tchitcherine), vorübergehend wird er geradezu zur Comic-Figur („the Rocket-Man“) und so fort. Wenn er schon als Kind von einem „technocapitalistic interface between paranoia and schizophrenia“ (Pettman 2002, 265), einem „metacartel which sometimes is even considered to be God“ (Link 1994, 188), als chemo-psychisches Versuchsobjekt so konditioniert wurde, „that he might be in love, in sexual love, with his, and his race’s death“ (738), dann ist dies eine extreme Variante postmoderner Subjekt-Dekonstruktion. Auf alle Fälle ist dieser Romanheld viel mehr Opfer als Täter. Immer treibt er nur mit den verschiedensten Energiezentren mit. Dass er sich gegen Ende des Romans geradezu verliert und in („scattering fragments“, 742) auflöst, „it may be too late to get home“ (744), ist das letzte, was der Leser von ihm erfährt, das scheint zusammen mit seiner Erlebnis- <?page no="327"?> und Leidensfähigkeit überhaupt sein Humanum auszumachen. (Heißt das aber bereits, „(he) has extricated himself from the nightmare of history“, Marquez 1981, 61? ) Denn übermächtig beherrscht den Roman das Symbol, das Hyperzeichen, des vitalen Todes, der „Raketen-Phallus“, der sich am Ende des Romans gleich mehrfach siegreich-selbstvernichtend erhebt: in der historischen Vergangenheit der V-Raketen und der Atombombe, in der gedachten Verallgemeinerung der fiktiven Romangegenwart („Descent“ lautet die letzte Überschrift, 760), aber auch in verschiedenen Zukunfts-Projektionen, etwa einer raketenförmigen Stadt, „so tall that elevators are long-haul affairs, with lounges inside: padded seats and benches“ etc. (735), oder wenn die ultimative Ziel-Prophetie eines Raketen-Intellektuellen schlicht „The World“ lautet (749). Gegenüber der „apocalypse which the ,rocket‘ indicates“ (Zink 1994, 189) bietet die Romanhandlung keinen Ausweg oder eine Alternative, alles bleibt „unsolved“ (ebd.). „The rocket is the dominant symbol and image of a historical, cultural and technological force […] history is an integral part of a spiritual wasteland, whose insanity and proclivity for death Pynchon sees as symptomatic of the modern age“ (Marquez 1981, 54), solche Urteile könnte man noch viele wiederholen. Gleichwohl ist dies sicher ein postmodernes Spiel mit Katastrophen. Vergrößert das Spiel lediglich die Gefahr, staut sie gewissermaßen im Labyrinth des Romantexts, um sie am Ende ungehemmt freizulassen, oder ist das intellektuelle, kreative Spiel der Fiktion als solches letztlich doch, wie so oft, auch hier eine freilich völlig riskante, ungesichert offene, dann auch Transzendenz nicht ausschließende Alternative zum Alptraum der Geschichte? Betrügt aber, wer so zu lesen versucht, hier nicht immer schon sich selbst, wie die, die das Lied am Ende des Romantexts singen: „a hymn by William Slothrop […]: There is a Hand to turn the time, though thy Glass today be run […]… Now everybody -“ (760)? Man muss sich klar machen, dass dieser Roman darauf keine Antwort gibt. Thomas Pynchon: Gravity’s Rainbow. London: Vintage, 1995. Ders.: Die Enden der Parabel. Dt. von Elfriede Jelinek und Thomas Piltz. Reinbek b. H.: Rowohlt, 1981. Bové: History and Fiction. 2004. • Link: In Search of the Figure in the Carpet of History. 1994. • Márquez: The Nightmare of History and Thomas Pynchon’s Gravity’s Rainbow. 1981. • Marriott: Gravity’s Rainbow. 1985. • Pettman: Thomas Pynchon. 2002. • Punday: Pynchon’s Ghosts. 2003. • Riese: Thomas Pynchon „in der Zone“. 1989. • Smith: Performing in the Zone. 1983. 8.1.4 Edgar Hilsenrath: Das Märchen vom letzten Gedanken (1989) Der Roman, dem „jahrelange, intensive Recherchen vorausgingen“ (Dopheide 2000, 150), seit 1970 mehr oder weniger in Arbeit und 1986 bis Ende 1988 niedergeschrieben, war Hilsenraths erster großer Erfolg in Deutschland. Er wurde sofort wirksam verlegt und noch als Manuskript mit dem Al- Edgar Hilsenrath: Das Märchen vom letzten Gedanken 319 <?page no="328"?> 320 Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen fred Döblin-Preis des Literarischen Colloquiums Berlin ausgezeichnet (zur Rezeption im Feuilleton vgl. ebd., 280 ff.). Aber vorher hatten viele namhafte Verlage „auch bei diesem Buch des Autors ablehnend“ reagiert: Und wieder hieß es: so kann man über dieses Thema nicht schreiben. Hatte bei Nacht der harte Realismus gestört, bei Der Nazi und der Friseur die satirische Darstellung, so wurde diesmal die gewählte Märchenform zum Stein des Anstoßes, denn das wiederum sei dem ernsten Stoff nicht angemessen. (Helmut Braun im Nachwort, 636) Aber genau diese oberflächlich gelesene (wahrscheinlich hatten die zuständigen Lektoren Germanistik studiert und waren an Lukács geschult) „Unangemessenheit“ eröffnet den Bedeutungsreichtum dieses Buches und macht es zu einem international „angemessenen“, postmodern engagierten, ernsten Spiel mit Katastrophen, das „in der Überschreitung der historischen Realität ästhetische Autonomie erlangt, dadurch jedoch an Wirklichkeitsgehalt nicht verliert, sondern im menschlichen Sinn des Erzählens erst wahr wird“ (Zanthier 2000, 155). Eigentlich ist auch der Begriff „Katastrophe“ hier noch zu weit, denn der historische Fokus, um den dieses Spiel kreist, ist ein riesiges Verbrechen: der Völkermord an etwa 1,5 Millionen türkischen Armeniern (1915/ 16), in dem sich der Völkermord an noch viel mehr deutschen und europäischen Juden (1933-1945) spiegelt. Das sind zugleich tiefe historische Traumata - der Opfer wie der Täter. Noch heute kann mit Gefängnis bestraft werden, wer in der Türkei von diesem Geschehen öffentlich redet. Und das Märchen, so wie es hier dieser Historie aus- und entgegengesetzt wird, ist eine Form von ihr zu reden, die paradoxerweise, aber auf den zweiten Blick konsequent („Märchen sind Zeitspalter“, Cramer 1993, 229), jede märchenhafte Ganzheit, jede Bewältigung, jede „Angemessenheit“, jede „Sinngebung angesichts der bezeugten Unmenschlichkeit“ (Dittmann 1993, 176) gezielt ausschließt. Dieser Roman kreist um historische und fiktive Leerstellen: „Bir varmisch, bir yokmisch, bir varmisch… Es war einmal einer, es war einmal keiner, es war einmal… So fangen nämlich alle Märchen in jener Gegend an.“ (26). Und „Märchen“ bezeichnet selbst einen Oberbegriff. Insbesondere die „Märchenwelt“ (299) des Zweiten Buchs (213 ff.) enthält viele Arten volkstümlich verfasster Antihistorien: Mythen, Sagen, Legenden, Anekdoten, Fabeln, idyllisch verklärte Erinnerungen, abergläubische oder parabolische Weisheiten usw., das reicht von der Bibel oder dem Koran bis hin zu eben auch volkstümlichen Zoten. Und dass sich die traumatische Historie hier in antihistorischen Erzählformen spiegeln und brechen, v. a. sie immer wieder durchbrechen soll, diese extensive Fiktionaliät des Zugangs zur Geschichte, die produktive „Paradoxie, dass erfundene Geschichten ihre Wahrheit haben“, sogenannte „Fakten dagegen ein Lügengebäude“ konservieren können (Hey’l 1993, 157), <?page no="329"?> all das wird von Anfang an im Prolog und dann noch einmal zu Beginn des Ersten Buchs deutlich: „Ich bin der Märchenerzähler in deinem Kopf. Nenne mich Meddah. Und nun sei ganz still, Thovma Khatisian. Ganz still. Denn es dauert nicht mehr lange. Bald ist es soweit. Und dann… wenn deine Lichter allmählich ausgehen… werde ich dir ein Märchen erzählen.“ „Was für ein Märchen, Meddah? “ „Das Märchen vom letzten Gedanken. Ich werde zu dir sagen: Es war einmal ein letzter Gedanke. Der saß in einem Angstschrei und hatte sich dort versteckt […], um mit dem letzten Angstschrei ins Freie zu segeln… durch deinen sperrweit aufgerissenen Mund.“ „Wohin, Meddah? “ „Nach Hayastan. […] Ins heilige Land der Armenier, das die Türken entweiht haben? “ […] Es war einmal ein letzter Gedanke. Der konnte in alle Richtungen der Zeit fliegen, auch in die Zukunft und in die Vergangenheit, denn er war unsterblich. […] Der letzte Gedanke flog zurück in die Zeit und landete im Kriegsjahr 1915, an einem Frühlingstag auf der Kuppel des einen Stadttors […] von Bakir. (5, 31) Dort findet der letzte Gedanke aus dem Angstschrei des sterbenden Romanhelden den Meddah, den Märchenerzähler; der wird in ihm selbst, in seinem Innern wohnen und ihm im „Bruchteil einer Sekunde“ (32) die Geschichte seiner Familie und seines Volkes erzählen - 618 Romanseiten lang. Dann folgt noch der Epilog: „Es muß ja nicht alles einen Sinn haben […], sagte Thovma Khatisian. Und dann hauchte er seine Seele aus.“ (622). Zugleich aber bleibt diese spielerisch distanzierte Erzählform unausgesetzt und geradezu bedrückend eng ausgerichtet auf ihren historischen Diskurs und historischen Fokus. So erfährt der „letzte Gedanke“ noch im Prolog eine geradezu klassische fiktional-historische - dazu gehört dann auch diese Form ihrer Vermittlung -, persönlich-nationale Synekdoche pars pro toto: seine eigene Geburt mitten im „Holocaust“ (445/ 446) seines Volkes. Ein türkischer Soldat hat ihn beim Todeszug der Armenier im „August 1915“ (11, vgl. ebd. ff.) mit dem Bajonett aus seiner sterbenden Mutter herausgeschnitten, und wenig „später am Tage kam die heilige Jungfrau Maria vorbei. Sie kam in Gestalt einer muselmanischen Türkin“ (16) und rettet den Neugeborenen, damit „er einmal bezeugen wird, dass nicht alle Menschen böse sind“ (ebd.). Man sieht, wie Märchen und Legende auch einen historischen Kern, ein factum aus raum-zeitlichen Hinweisen und übermittelten Nachrichten konstruieren. Ebenso wird dessen Nexus, Voraussetzung und Konsequenz zugleich (vgl. oben Kap. 5.2), nämlich Dokumentation, kulturelles Gedächtnis und öffentlicher Diskurs, gleich im Prolog angesprochen: Bevor er in der Zeit zurückfliegt, bringt der „letzte Gedanke“ in seiner Gegenwart im „Jahr Edgar Hilsenrath: Das Märchen vom letzten Gedanken 321 <?page no="330"?> 322 Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen 1988“ (20) den türkischen Ministerpräsidenten, der nur von einer „Geschichtslücke“ (19) weiß, aber ihretwegen „Angst“ hat und deshalb schlecht, nämlich „nur von Lücken und Löchern“ träumt, immerhin zum „Schreien“, aber dessen „Schrei“ fiel „ins Bodenlose“ (19). Dann versucht er mit einer Putzfrau im Archiv der Vereinten Nationen und sogar (historisch richtig, vgl. z. B. Bormann 1993, 89) mit dem „Schweigen“ in deren Plenarsaal, zuletzt mit deren Generalsekretär zu reden, der ihn auf die „letzte Klarheit“ verweist, die „mit dem letzten Gedanken“ und daher „immer zu spät“ kommt (25). „Hinter dem ,Schweigen‘ steht ein massives Versagen“ (Hey’l 1993, 156). Erst das „Märchen“, das aus diesem extremen Zusammenspiel von Leerstellen („Geschichtslücke“, „Schweigen“, „zu spät“) und nahezu punktuell verengter historischer Kontinuität (der letzte Gedanke eines Einzelnen) hervorgeht und auf sie antwortet, anders gesagt, erst die befreite Fiktion (z. B. im Prolog bereits auch Traum und Legende) kann den Zugang zu einer „wirklichen Geschichte“ (25) eröffnen. Und dieses Märchen selbst beginnt historisch konzentriert am Stadttor von Bakir - unter dem „drei Armenier hängen“ (32). So konsequent reflektiert und extrem zugespitzt dieses fiktionale Spiel mit einer traumatischen Katastrophe hier angelegt ist, es bewahrt, ja erneuert ganz traditionelle Funktionen des historischen Romans. Denn durch die Konstruktion eines (Märchen)-Erzählers in einem sich befreienden (sterbenden) subjektiven Bewusstsein entsteht ein allwissendes und all-sprechendes, nicht zuletzt auch ein erfindungsreiches Medium, das alles Dargestellte, vor allem alle Reden, Gefühle und Gedanken aller Personen jederzeit völlig transparent macht. Dabei bleibt diese fiktionale Vermittlung ständig in der Erzähl- und Personenrede hörbar und durch die Filter der vielerlei antihistorischen Erzählmedien auch für die Leser in deren Vorstellung sichtbar. Und zugleich können so jederzeit historische Erklärungen, Informationen, Überblicke usw. eingebracht werden. Die historische „Wahrheit (wird nur) anders erzähl(t)“ (85). Alles ist sehr anschaulich, oft szenisch und dialogisch präsentiert, ohne einfach ein illusionäres „als ob“ abzugeben. Alles ist möglich, aber nichts hilft. Die ausgespielte fiktionale Freiheit führt nur immer tiefer hinein in eine heillose Geschichte. So werden auch die beiden wichtigsten Zeitformen, eine gedehnte Krise weniger Tage und eine mehrjährige Entwicklungsgeschichte, immer schon und nur im Zeitsog des historischen Massakers erfahrbar. In ihrem Mittelpunkt steht Wartan Khatisian, der Vater des seine Geschichte suchenden Erzählsubjekts und seines „letzten Gedanken“. Die Handlung des Romans ist, wie so oft im historischen Roman und insbesondere in der Literatur des Holocaust (in der Intensität etwa W. G. Sebalds Austerlitz, 2001, in der betonten Phantasie Jurek Beckers Jakob der Lügner, 1969, vergleichbar) die Rekonstruktion, besser noch, eine Erfindung verlorener Zeit. <?page no="331"?> Das Erste Buch erzählt vor dem Hintergrund der Anfänge des Massakers und mit vielen grausamen Details, zugleich mit vielen märchenhaften (s. o. im weitesten Sinn) Abschweifungen, intensiv szenisch und dialogisch von Folter und Verhör Wartans, der schließlich gesteht - er war aus „reinem Zufall“ (107 u. ff.) am 28. Juni in Sarajevo (wieder eine zugespitzte Synekdoche pars pro toto) -, im Auftrag einer „armenischen Weltverschwörung“ (115 u. ff.) den österreichischen Thronfolger erschossen zu haben. Das ist, wie v. a. ausländische Beobachter sofort sehen (vgl. z. B. 175, 197, 203 ff. usw.), völlig absurd, soll aber in einem Schauprozess in „Konstantinopel“ die Vorbereitung des Massakers rechtfertigen, das schon bald, wenn dieser Erzählstrang wieder aufgenommen wird, auch die „Endlösung“ des „Armenierproblems“ heißen wird (475, 477).Vorher aber springt der Roman zurück in der Zeit und erzählt sehr ruhig, mit vielen mythischen, märchen- und legendenhaften usw. Zügen, von den Vorfahren und Verwandten, der Kultur, dem Alltag, den Festen und Riten, die Wartans Geburt und Heranwachsen begleiten: ein Stück detailliert ausgemalter, poetisch verklärter, aber auch derber („difficult for an Armenian reader to digest it all“, Peroomian 2003, 281) und immer wieder grausam drastischer armenischer Kulturgeschichte, eine „Märchenwelt“ (299) und zugleich eine unbeschönigt harte „Geschichte… irgendwo am Arsch der Welt“ (334). Denn nicht nur gibt es ständige Drangsal von Seiten der Regierung („Jedesmal, wenn der Sultan Reformen ankündigt, plant er ein kleines Massaker“, 422) und / oder der räuberischen kurdischen Stämme: Wartans Mutter etwa wird als Kind aus einem von ihnen niedergebrannten Haus gerettet, unter legendenhaften Umständen - „der schwarzgraue Vogel des heiligen Sarkis“ bringt Hilfe (427) -, sie hat seitdem ein verbranntes, also „gar kein Gesicht. Sie hatte nur noch Augen“ (11, vgl. 437). Und alle erwarten überhaupt ständig, dass „der große Tebk anfängt […], der irgendwann kommen wird, ein großes Massaker, das keiner von uns überleben wird“ (237, 439). Je mehr der Roman sich mit dem Dritten Buch (435 ff.) seinem historischen Fokus nähert („Happy New Year 1914! “, 364), um so mehr verzichtet der Märchenerzähler auf jede poetische Einkleidung und nimmt nur noch seine Funktion der Allwissenheit wahr. Nun überschneiden sich mit Wartans Hochzeit und der Zeugung seines Sohnes, der später den „letzten Gedanken“ haben wird, auch die beiden Erzählstränge, die sich mit der Verhaftung Wartans sogleich wieder trennen. Von jetzt an hat man es weitgehend mit einem traditionellen historischen Roman zu tun. Nur punktuell-synekdochisch, im Grunde wie bei Walter Scott, kommt der Romanheld mit der Historie in Berührung, ja der Punkt ist eine Leerstelle, denn Wartan wird ja für etwas verhört, gefoltert und zum Geständnis gezwungen, was ihn überhaupt nichts angeht. Aber die von Scott, über Thackeray, Fontane bis zu Faulkner und bis zur Gegenwart im historischen Roman immer wiederkehrenden, der Synekdoche antwortenden, lakonisch-historischen Hinweise („the rest is well known“, Walter Scott, Waverley, 1814, 339 - „they have exploded a bomb“, Don DeLillo, Underworld, 1997, 23) kann es hier, angesichts einer offiziell unterdrückten Geschichte nicht geben. Stattdessen wird in Überblicken und Szenen, der Märchenerzähler ist nur noch allgegenwärtig, unbeschönigt und explizit - was Scott vermeidet („to intrude upon the province of history“, Waverley, 389) -, sozusagen in die strukturelle Leere hinein („keiner von uns will irgend etwas gesehen haben“, 585), der Verlauf des Massakers von 1915 dargestellt (Drittes Buch, Kap. 3, 458 ff.). Und der historische Diskurs verselbstständigt sich auch insofern, als Wartan, der fiktive Geschichts-Held, nach Folter, Flucht und tödlicher Verwundung, sein Gedächtnis genau an das verliert, was ihn parte pro toto Geschichte hatte erleben lassen. Er lebt dann „in vielen Ländern“, wechselt „öfter die Staatsbürgerschaft“ (599) und gerät Edgar Hilsenrath: Das Märchen vom letzten Gedanken 323 <?page no="332"?> 324 Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen zuletzt „zufällig“ (607) in Polen in eine Razzia der Deutschen unter den Juden, die in einem Vernichtungslager endet. Das ist dann bereits „ein jüdisches Märchen“ (602), das im letzten Kapitel des Romans erzählt wird. Und es endet selbst noch einmal sehr bezeichnend, nämlich direkt vor jenen Verbrennungsöfen, die für Menschen bestimmt sind: „[…] Hinter dem Stacheldraht standen große Öfen, die unaufhörlich rauchten. Da die Leute im Waggon hungrig und durstig waren und Halluzinationen hatten, glaubten sie, die Öfen wären eine Brotbäckerei. (Aber) einer der Juden […] hatte den richtigen Schnüffler (und) schrie plötzlich. Es riecht nach Menschenfleisch. Einige Juden begannen zu weinen, andere zu brüllen. Wartan aber beruhigte sie. […] Hört mir zu. Ich werde euch ein Märchen erzählen. (Und er) erzählte ihnen das Märchen von Max und Moritz. […] Aus Max und Moritz wurde Brot gemacht, sagte Wartan. Der Bäckermeister hat die beiden einfach zu Brot verarbeitet und dann in den Ofen gesteckt. Ein Märchen […]. Nur ein Märchen. […] Ein deutsches Märchen, sagten die Juden. […] Wilhelm Busch […] hat uns überzeugt, dass so etwas bei den Deutschen nur im Märchen vorkommt. […] Wartan mußte ihnen nochmals die Geschichte von Max und Moritz erzählen und wie das mit dem Brot backen war. Und die Juden hörten ihm zu, und als er geendet hatte, fingen sie herzlich zu lachen an. Sie hatten keine Angst mehr. Sie waren beruhigt. Dann wurden die Türen aufgerissen.“ (609/ 610) Man sieht, wie das Märchen im Märchen (das deutsche im jüdischen im türkisch-armenischen) sich in die diesmal ganz traditionell, denn sie ist wohlbekannt, lakonisch verkürzte Geschichte hinein aufhebt. (Insofern sollte man weder von „Zynismus“ reden, noch davon, dass „diese Welt keine Grenze mehr zwischen Märchen und Wirklichkeit kennt“, Brecheisen 1993, 225; eher steht der „unerträglichen Ungewissheit der Überlieferung […] die entlastende Unbestimmtheit des Märchens“ gegenüber, aber gerade „das Märchen selbst [steht zwar] jenseits der dokumentierbaren Geschichte, dennoch mitten in einem Kontext von Historizität. An diesem Ort verweist es auf die schmale Grenze zwischen Leben und Tod, bezeugter und ausgelöschter Existenz“, Hey’l 1993, 158.) Alles ist möglich und nichts hilft. Der Schluss des vorletzten Kapitels ist aber auch ein Beispiel für die den ganzen Roman deutlich durchziehende Verbindung (vgl. bereits im ersten Kapitel das deutsch-türkische Gespräch, 45 f.), Spiegelung (eine „Endlösung“ von fast „preußischer Gründlichkeit und Präzision“, 477, 481) und Gemeinsamkeit („armenierrein“, 520, als ein Beispiel für viele) zwischen Armenier- und Judenverfolgung im 20. Jahrhundert. Man kann von „einer Art Transzendenz armenischen Schicksals […] in das Leid des […] jüdischen […] Opfervolkes“ sprechen (Dittmann 1993, 171). Alles ist genau singular <?page no="333"?> bezeichnet und doch exemplarisch dargestellt. Exemplarisch wofür und wozu? Das letzte Kapitel des Romans erzählt, und wieder in Ton und Inhalt völlig märchenhaft, wie die „Seelen der vergasten und verbrannten Juden“, darunter auch „die Seele eines Türken und die eines Armeniers“ (611) - keine Beschönigungen bis zuletzt - in ihre jeweilige Heimat zurückkehren, wie die Seelen der Romanfamilie auf einem Blumenfeld in Hyastan zusammenfinden und traumhaft den Gründungsmythos Armeniens erneuern: „Und die Kinder Hayks und ihre Kindeskinder werden das Land bevölkern, das für immer für sie bestimmt war“ (618). Und im Epilog sagt der „letzte Gedanke“ voraus, dass er die bisherigen „türkischen Geschichtsbücher“ in „Alpträume“ verwandeln und „die ganze Welt“ gegen alle Widerstände mit seinem „Geflüster“ erreichen wird (621/ 622). All das ist sicher exemplarisch für den postmodernen historischen Roman und sein literarisch-imaginäres Spiel mit Katastrophen und Verbrechen. Exemplarisch ist hier aber nicht nur der Inhalt, so wichtig er bleibt, sondern letztlich die Form des Erzählens, Denkens und Vorstellens. So hilflos Märchen und literarisches Spiel anerzählen gegenüber Vergangenheit und Gegenwart einer heillosen Geschichte („the Armenian genocide becomes a crime against humanity“, Peroomian 2003, 289, es geht um eine „kollektive, kulturelle Tradition der Vernichtung“, Lanthier 2000, 220), als so unzerstörbar sollen die Heilsversprechen der Mythen, Legenden und Märchen - z. B. immer wieder sehr deutlich die imitatio Christi in der „heiligen“ Romanfamilie - für die Zukunft gelesen werden: „ein Märchen vom Überleben der Menschheitsgeschichte“ (Hey’l 2005, 85). Insofern ist das Märchen vom letzten Gedanken ein grausames und zugleich tief gläubiges Buch. Man könnte von einer punktuell, aber auf einen intensiv strahlenden Punkt reduzierten Erlösungssehnsucht im historischen Roman der Postmoderne sprechen, die freilich eine lange Tradition hat, bis zurück zur heilsgeschichtlichen Leerstelle bei Manzoni oder einem Noah alter Verheißung, der bei Raabe lediglich einen Raben - wo bleibt die Taube? - fliegen ließ (vgl. oben Kap. 2.4 und 4.7). Michel Tourniers Le roi des aulnes / Der Erlkönig (1970) endet mit dem Aufblick zum Davidsstern, Don deLillos Underworld (1997) mit dem „einen Wort“, das „erscheinen“ soll: „Frieden“, Uwe Timms ROT (2001) mit den Worten „Erlösung“ und „Licht“ (394) und so fort (vgl. unten Kap. 8.2.3, 8.3.1 u. 8.4). So hatte auch Edgar Hilsenrath in den grausamen Roman Nacht (1964), der den mit allen Mitteln unter- und gegeneinander geführten Überlebenskampf von Ghettobewohnern zum Thema hat, gleichwohl die eine Szene eingefügt, in der „Gott […] erlebt“ wird (242), und überhaupt mit dem Heiligenbild von Mutter und Kind geendet. Und der „blutige Schelmenroman“ Der Nazi und der Friseur (1977, so der Klappentext), eine Satire über den Identitätswechsel zwischen Mörder und Opfer, ein Wechsel, „keine Lösung“, denn „es gibt keine Strafe (die Täter und) Opfer versöhnen könnte“, schließt mit einem, freilich traumhaft transzendenten „Freispruch“ und einer utopisch offenen „Wind“-Zukunft, die bereits an das letzte Kapitel des Märchen vom letzten Gedanken erinnert: „Irgendwohin. Dorthin! “ (456/ 457, 465) Edgar Hilsenrath: Das Märchen vom letzten Gedanken 325 <?page no="334"?> 326 Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen Gerade die höchst spielerische, postmoderne Form dieses Erzählens, bei allem Sinnrisiko, das sie eingeht - „Es muß ja nicht alles einen Sinn haben“ (622) lautet der allerletzte im „letzten Gedanken“ -, sucht diese traumatische, verdrängte Geschichte ihrer Aufklärung und gesuchten und erdichteten Alternative zuzuführen. Edgar Hilsenrath: Das Märchen vom letzten Gedanken. Mit einem Nachwort von Helmut Braun. München: dtv, 2006. Ders.: Nacht. Mit einem Nachwort von Helmut Braun. München: dtv, 2005. Ders.: Der Nazi und der Friseur. Mit einem Nachwort von Helmut Braun. München: dtv, 2004. Bormann: Dokumentarische Phantastik. 1996. • Brecheisen: Literatur des Holocaust. 1993. • Cramer: Laudatio anlässlich der Verleihung des Alfred-Döblin-Preises 1989. 1996. • Dittmann: Den Völkermord erzählen? 1996. • Dopheide: Das Groteske und der Schwarze Humor in den Romanen Edgar Hilsenraths. 2000. • Götze: 1001 Nacht der langen Messer. 1996. • Hey’l: Edgar Hilsenraths „Das Märchen vom letzten Gedanken“. 2005. • Hey’l: Hilsenraths Zauberformeln. 1996. • Kraft (Hg.): Edgar Hilsenrath. 1996. • Peroomian: The truth of the Armenian genocide in Edgar Hilsenrath’s fiction. 2003. • Zanthier: Julian Stryjikowski und Edgar Hilsenrath. 2000. 8.2 Spiele der Erinnerung. Graham Swift, W. G. Sebald, Uwe Timm Während die Besitzerin des Antiquariats „in der Nähe des British Museum […] linkshändig (eines) dieser verdrehten englischen […] Kreuzworträtsel auf der letzten Seite des Telegraph löst“ - für jeden Ausländer eine Signatur des absoluten Fremd- und Ausgeschlossenseins - hört der Romanheld zufällig im Radio ein Gespräch über Kinder-Emigranten, die „im Sommer 1939 […] mit dem Fährschiff PRAGUE von Hoek aus über die Nordsee nach Harwich“ gereist waren. Sofort setzt seine „plötzliche Offenbarung“ ein: Er selbst war dabei (W. G. Sebald, Austerlitz, 2001, 206-209). Und dies ist die Wende in seinem Leben, der entscheidende Hinweis auf dem Erinnerungs- und Rekonstruktions-Weg zu seiner Identität. Solche „plötzlichen Offenbarungen“ und unwillkürlichen Erinnerungen, die ihre explizite literarische Tradition haben (die „epiphany“ bei Joyce, „apparition“ und „mémoire involontaire“ bei Proust, um nur die wichtigsten zu nennen), finden sich im historischen Roman der letzten etwa fünfzig Jahre nicht allzu häufig, aber doch signifikant regelmäßig: Der Geruch eines „Fischsalats“ in einem New Yorker Restaurant überfällt die Romanheldin in Uwe Johnsons Jahrestage (1970-1983) sekundenschnell und unentrinnbar mit der Erinnerung an den genau gleichen Geruch einer bestimmten Regentonne an einem bestimmten Tag vor dem Haus ihrer Eltern in Mecklenburg: Ihre Mutter hätte sie an diesem Tag fast ertrinken lassen, wenig später war sie freiwillig in den Tod gegangen - genau in der Pogromnacht vom 8./ 9. November 1937 (vgl. Jahrestage, 62 ff. u. 615 ff., sowie <?page no="335"?> oben Kap. 7.3). Die augenblickliche, halluzinatorisch unentrinnbare Präsenz eines kindlichen Traumas wird (pars pro toto) auserzählt zur nicht weniger festen, kleinen aber erhellend scharfen Verbindung zu einem lastenden, ja letztlich nie zu bewältigenden („die Erinnerungen an das Eigene [als] ein radikal Anderes“, Hamann 2002, 295) Stück national-allgemeiner Geschichte. In Leon de Winters Roman Place de la Bastille (1981) glaubt der Romanheld auf einem Foto aus Paris plötzlich seinen in der Nazizeit im jüdischen Untergrund in Holland geborenen und dann verschollenen Zwillingsbruder, in der Tat sich selbst als einen anderen zu erkennen. Und auch er begibt sich auf die Suche nach der Vergangenheit. Auch hier erschüttert die plötzliche Offenbarung und unwillkürliche Erinnerung wie bei Johnson oder Sebald „gleichzeitig das individuelle wie auch das kulturelle Gedächtnis“ (Reinlein 2002, 89). Es gibt nur eine Antwort: die Geschichte neu zu erzählen. Man könnte die kindliche Schach-Episode nennen und ihren augenblickhaften Nelson-Bezug, wie sie Jahre später präzise und unentrinnbar erinnert, und dann erzählt wird in Barry Unsworths Losing Nelson (1999), oder die plötzliche, unwillkürlich aggressive Reaktion auf ein Stück roher deutscher Umgangssprache („bis zur Vergasung“, 125), die den Romanhelden in Alfred Anderschs Efraim (1967) nach und nach in seine bis dahin verdrängte jüdischdeutsche Geschichte und in deren Erzählung („von Anfang an als Roman“, 240) hineinzieht, so dass diese wie etwas ganz Fremdes und Neues, aber eben auch neu Verbindliches erscheint: „Mein Gott, du schreibst ja deutsch“ (174, vgl. oben Kap. 7), oder den verstörenden Auftrag aus der Vergangenheit in Uwe Timms ROT (2001, vgl. unten Kap. 8.2.3) oder „the moment, I am now sure, that has remained so persistently lodged in my memory“, in dem im hinteren Korridor von Darlington Hall der formvollendet verknöchernde Butler endgültig die Liebe aus seinem Leben verdrängt („on the other side of that door, Miss Kenton was at that moment crying“), während gleichzeitig im „drawing room […] the fate of our continent“ beraten wird, das Verhalten Großbritanniens gegenüber Nazi-Deutschland (Kazuo Ishiguro, The Remains of the Day, 1989, 237/ 238), oder „a certain […] bizarre […] event“ („theft of child […] ,God told me to do it‘“, 6), das in Graham Swifts Waterland (1983) die Kontinuität der Gegenwart zerreißt, die Vergangenheit unentrinnbar wachruft und ein „New Beginning“ im geschichte-rekonstruierenden Erzählen („Once upon a time“, 7) erzwingt (vgl. unten Kap. 8.2.1). Was macht solche Szenen so sprechend für den Zusammenhang von Tradition und Postmoderne im historischen Roman? Bei Sebald und Johnson kann man das bewusste, fast zitathafte Anknüpfen an Proust erkennen, bei Sebald etwa an die Szene, in der das Geräusch eines Flugzeugmotors augenblicklich den Albertine-Komplex anspricht, an die berühmte Madeleine-Episode bei Johnson. Auch bei den anderen Autoren ruft die unwillkürliche Erinnerung ein privates Trauma wach. Das bedeutet gegenüber Proust zumindest Spiele der Erinnerung. Graham Swift, W. G. Sebald, Uwe Timm 327 <?page no="336"?> 328 Erzählspiele, katastrophale Historien, riskante Aufklärungen eine Akzentverstärkung. Und entschieden anders als bei diesem ist diese Erinnerung an die „kleine“ private Geschichte immer wieder ein direktes Tor zum Eintritt in ein allgemeineres, größeres historisches und nationales, traumatisches Geschehen. Insofern ist genauso durchgehend und verblüffend deutlich auch die Faulkner-Tradition (vgl. oben Kap. 6.2 und v. a. auch 7) zu erkennen: die sich durchdringende, auf mehreren Zeitebenen spielende, sprachlich intensive Rekonstruktion einer frühen, persönlichen, unheilbaren Verletzung, ineins mit der schmerzlichen und ebensowenig „toten“, allgemein historischen Vergangenheit. Aber Proust wie Faulkner übersetzen hier zugleich viel ältere Traditionen des 19. in die Literatur des 20. Jahrhunderts. Das betrifft nicht nur das immer weiter intensivierte und differenzierte synekdochische (pars pro toto) Erzählen, wie es Walter Scott eingeführt hat (Waverley verliert ein Hufeisen und wird in den Bürgerkrieg von 1745 hineingezogen, Waverley, 1814; deutlicher: Der „ästhetisch“ motivierte Selbstmord eines preußischen Offiziers ereignet sich am Vorabend des Krieges von 1806 in Theodor Fontanes Schach von Wuthenow, 1882, vgl. oben Kap. 2.2 und 3.8). Was hier immer wieder zusammengeführt und transformiert wird, ist diese eine Tradition des spezifisch historischen Romans und die im 19. Jahrhundert weitgehend davon getrennte andere Romantradition, nämlich die einer beschädigten Kindheit und eines negativen Bildungsbzw. Desillusionsromans: Jane Eyre wird im „red room“ eingesperrt (Charlotte Brontë, Jane Eyre, 1947), David Copperfield verliert beinahe jedes Selbstvertrauen in der Tretmühle der Kinderarbeit (Charles Dickens, David Copperfield, 1849/ 1850), der „grüne Heinrich“ begeht seine „Kinderverbrechen“ und wird aus der Schule ausgeschlossen (Gottfried Keller, Der grüne Heinrich, 1854/ 1855), familiäre Kälte und Außenseiter-Existenz in mehreren Romanen Honoré de Balzacs (v. a. in Louis Lambert, 1832-1835 und Le lys dans la valleé, 1834), frühe Kränkungen der Liebes-Sehnsucht in den Vorstufen zu Gustave Flauberts Éducation sentimentale und in diesem Roman selbst (1836 bis 1870), der Junge, der, von allen verlacht, „unter der Hecke liegt“, in Wilhelm Raabes Stopfkuchen (1891), oder der einsam in einer kalten Welt sich selbst entwerfende und daran verzweifelnde „Bildungs“-Held in Thomas Hardys Jude the Obscure (1895). Es ist nicht nur dieses Modell traumatisierter (fiktiver) Autobiographie, das immer wieder aufgegriffen, radikalisiert und - und das ist nun freilich entscheidend - entschieden geschichts-synekdochisch gewendet wird. Aber auch das ist nicht völlig neu. W. M. Thackerays The History of Henry Esmond (1852) ist ein historischer Roman in der Form einer fiktiven und konsequent desillusionierenden Autobiographie. „Bastard“-Kindheit und kindliche Ich-Gefährdungen („who was he […] why here rather than elsewhere? “, 105, vgl. oben Kap. 3.6) passen durchaus in die Tradition von Charlotte Brontë bis Thomas Hardy. Oder, um andere Traditionsstränge anzusprechen, legte man Fontanes Autobiographie (v. a. Meine Kinderjahre, 1894) und seine <?page no="337"?> historischen Romane wie Folien aufeinander, oder, und noch näher liegend, zöge man Raabes „Braunschweiger Trilogie“ (neben Stopfkuchen v. a. Die Akten des Vogelsangs, 1896) und seinen Odfeld-Roman (1888, vgl. oben Kap. 4.7) in eine einzige Reflexions- und „Resignations“-Erzählung zusammen, träten also der alte Stechlin (aus Fontanes letztem Roman Der Stechlin, 1898) oder der alte Magister Buchius (aus Raabes Das Odfeld) als Geschichts-Vermittler und Erzähler auf (beide besitzen ja auch ein Museum), so wie die alternden Geschichtslehrer bei Swift und de Winter, der Polyhistor bei Sebald, der Nelson-Memorabilien-Sammler bei Unsworth, der professionelle Beerdigungs-Redner bei Timm, kämen sich diese Traditionen nicht verblüffend nahe? Man erkennt die Poetik der Gattung (vgl. oben Kap. 2, 5.3 u. 5.4) und wie die Postmoderne sie in solchen Spielen der Erinnerung zugleich intensiv, eben in der Verdichtung auf einen Augenblick, als auch extensiv, in vielen Geschichten, an eine riskante Grenze führt. Noch die desillusioniertesten, an den Rand ihrer Welt gedrängten Entwicklungshelden des 19. Jahrhunderts, etwa der grüne Heinrich oder Stopfkuchen oder sehr deutlich Henry Esmond (vgl. oben Kap. 3.6), behaupten sich in ihrer Geschichte. Ihre „postmodernen Wiedergänger“ lösen sich immer wieder auf in den Geschichten anderer. Der Nelson-Enthusiast im Roman mit dem sprechenden Titel Losing Nelson (Barry Unsworth, 1999) ist dafür ein intensives Beispiel. Er hat Nelsons Leben und Zeit voll Phantasie und Hingabe und in allen ihm zugänglichen Details rekonstruiert, um, was ihm selbst nie, den Lesern aber bald klar wir