Kants Opus postumum und das Ganze der Philosophie
Gesellschaft, Wissenschaft, Menschenbild
0408
2010
978-3-7720-5327-6
978-3-7720-8327-3
A. Francke Verlag
Johann Rheindorf
Kant wollte, wie von ihm mehrfach angekündigt, seine Philosophie mit einem systematischen Hauptwerk ab -schließen. Diese von ihm vielfältig vorbereitete Synthese und Summe wird aus den Fragmenten des Opus postumum herausgearbeitet und als folgerichtige, höchste Stufe seines Gesamtwerkes sowie als zusammenfassende Antwort auf die Frage nach dem Menschen nachgewiesen: Der Wissenschaftler Kant zeigt, dass Gott, Welt und Mensch aufeinander verweisen und nur so zu begreifen sind. Dieses klassische, zeitwidrige Denkergebnis geht über das herkömmliche Kantbild hinaus, es deutet auf den Revolutionär und Gesellschaftskritiker Kant und seine Gegner.
<?page no="0"?> Johann Rheindorf Kants Opus postumum und das Ganze der Philosophie Gesellschaft, Wissenschaft, Menschenbild <?page no="1"?> Kants Opus postumum und das Ganze der Philosophie <?page no="2"?> Basler Studien zur Philosophie 16 Herausgegeben von Emil Angehrn und Lore Hühn <?page no="3"?> Johann Rheindorf Kants Opus postumum und das Ganze der Philosophie Gesellschaft, Wissenschaft, Menschenbild <?page no="4"?> Titelabbildung: Die Umschlagzeichnung nach Georg Agricola zeigt Kant im Alter von 24 Jahren nach der Kreidezeichnung der Gräfin C. Ch. A. Keyserling und den Titel des Hauptwerkes nach dem Faksimile der Handschrift, das dem Band 21 der Akademie-Ausgabe beigegeben ist. Die vorliegende Arbeit ist die gekürzte Fassung meiner Dissertation, die im Jahre 2008 mit dem Titel Die Einheit der Erfahrung: Gott, Welt, Mensch. Kants Hauptwerk im Opus postumum von der Phil.-Hist. Fak. der Universität Basel angenommen wurde. Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 0941-9918 ISBN 978-3-7720-8327-3 <?page no="5"?> V Den Angriffen des Bösen bleibt jeder moralisch wohlgesinnte Mensch ausgesetzt; seine Freiheit zu behaupten, muss er immer zum Kampfe gerüstet bleiben. Wenn er sich nach den Ursachen und Umständen umsieht, die ihm diese Gefahr zuziehen, so kann er sich leicht überzeugen, dass sie von Menschen kommen, mit denen er in Verbindung steht. (Rel. 6; 93.) <?page no="6"?> VI Für ihre Unterstützung, unerschöpfliche Geduld, steten Zuspruch, anregende Colloquien und Gespräche danke ich Frau Prof. Dr. Annemarie Pieper, Basel; für die Übernahme der Zweitkorrektur Herrn Prof. Dr. Urs Thurnherr, Karlsruhe; für die Aufnahme in die Basler philosophischen Studien Frau Prof. Dr. Lore Hühn, Freiburg i. Br., und Herrn Prof. Dr. Emil Angehrn, Basel; für ihre Hilfe bei der letzten Hürde Christina Esser, Karin Burger und Mareike Reichelt, Francke-Verlag; für Ansporn und Aufmunterungen Anna-Maria Holthuis, Altenmedingen; für Zuwendungen und Zuschüsse Fritz und Marlis Rheindorf, Euskirchen; für Verständnis, Verzicht und Beistand meiner Frau Elisabeth. <?page no="7"?> VII Inhalt Zitierweise und Abkürzungsverzeichnis VIII 1. Das Ganze im Fragment - Kantbild und Opus postumum 1 2. Vernunft-Grenzen: Kuriosum oder neues Licht? 9 2. 1. Wissen ist Stückwerk - Torheit im Narrenspital 16 2. 2. Das allerliebste Selbst und der Gott dieser Welt 25 3. Der gefährliche Bürger und große Revolutionär 29 3. 1. Das Kindheitsdrama - Kant im Ungleichgewicht 32 3. 2. Der beliebte Magister und unkluge Kant 41 3. 3 Werdet nicht der Menschen Knechte 47 4. Das Op - ein Zeichen, dem widersprochen wird 55 4. 1. Letzte Äußerungen als erstes Zeugnis des Hauptwerkes 56 4. 2. Freunde, Frevel und Fragen der Vernunft 64 4. 3. Summe und weltanschauliche Quintessenz 73 4. 4. „Das Op darf nicht übergangen werden“ 80 5. Das Hauptwerk - Chaos oder Kosmos? 85 5. 1. Architektonische Wissenschaft und oberster Zweck 88 5. 2. Hauptwerk und Nachlasswerk 97 5. 3. Der Kreis unserer Wissbegierde 103 5. 4. Titel und Thema: System, Gott, Welt, Mensch 113 5. 5. Die Philosophie - Eine wissenschaftliche Lehre 121 6. Selbsterkenntnis und Weisheit 125 6. 1. Das Ich als Subjekt, und das Ich als Objekt 127 6. 2. Erkenne dich selbst 129 6. 3. Der Mensch - Gott und Welt verbindend 143 6. 4. Also ist ein Gott 145 7. Kants Opus postumum als Alterswerk 155 7. 1. In allen Grenzen ist auch etwas Positives 159 7. 2. Die verborgene Ordnung: Alles geschieht nach Regeln 164 7. 3. Fürs Weltbeste arbeiten 168 Literaturverzeichnis 171 <?page no="8"?> VIII Zitierweise und Abkürzungsverzeichnis Kant wird zitiert nach Kant’s gesammelte Schriften (Ak.); angegeben werden (Werktitel Band; Seite); das Op wird mit Band (21 oder 22) und Seite zitiert, die Kritik der reinen Vernunft (KrV) nach der ersten (A) oder zweiten Auflage (B). Kant-Nachweise werden in () angegeben; die Schreibweise wurde behutsam modernisiert. Ergänzungen und Zusätze des Verfassers sind in [] eingeschlossen. Abl. Gedanken bei dem frühzeitigen Ableben des Herrn Johann Friedrich von Funk Anf. Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte Anth. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Auf. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Bem. Bemerkungen zu den Beob. Beob. Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen Bew. Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes Ende Das Ende aller Dinge Entd. Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll Erdb. Geschichte und Naturbeschreibung […] des Erdbebens […] des 1755sten Jahres Erde Die Frage, ob die Erde veralte, physikalisch erwogen Fr. Zum ewigen Frieden G Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Idee Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht Konv. Konvolut(e) Kf. Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise, deren sich Herr von Leibniz und andere [...] bedient haben [...] KpV Kritik der praktischen Vernunft Kr. Versuch über die Krankheiten des Kopfes KU Kritik der Urteilskraft Lo. Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen MAdN Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft MS Die Metaphysik der Sitten Nat. Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung […] des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen… Neg. Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen Pä. Immanuel Kant über Pädagogik Preis. Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat? Pro. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können R Reflexion(en) Rel. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft St. Der Streit der Fakultäten Theod. Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee Theor. Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis Ton Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie Tr. Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik Vorl. Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen [...] von 1765-66 Vr. Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie <?page no="9"?> 1 1. Das Ganze im Fragment Kantbild und Opus postumum Ohne die Einheit der Erkenntnis ist alles Wissen Stückwerk (Vorl. 2; 313). Das moderne Kantbild beruht auf der Kritik der reinen und der praktischen Vernunft sowie, wenn auch in geringerem Maße, auf der Kritik der Urteilskraft; diese Trilogie hat den ostpreußischen Philosophieprofessor weltberühmt und zu einem Klassiker seines Faches werden lassen; sie ist zwar repräsentativ für sein Denken und das Ganze der Philosophie (an Garve; 21. 9. 1798), aber nur eingeschränkt für die gängige Kantforschung, deren Standardinterpretationen der von dem Universalgelehrten 1 in der KrV vorbereiteten und vorgezeichneten Idee des Ganzen (an Herz; 20. 8. 1777), der Einheit der Erfahrung (A 307) und Vollendung des kritischen Geschäftes (A 670) nicht ganz gerecht werden; denn es war Kant schließlich gelungen, gegen die modernen Tendenzen, die allgemein schädlich werden können (B XXXIV), gegen den Gott dieser Welt (Rel. 6; 161) „die philosophischen Ideen, die zutiefst mit den politischen und theologischen zusammenfallen, Freiheit, Gerechtigkeit, Mensch und Gottheit, so zu fassen, dass sie vor radikalster Kritik bestehen können“, wie Max Horkheimer als einer der wenigen erkannte 2 , die im Unvollkommenen, Fragmentarischen der Kant-Werke das Ganze, den ganzen Kant sehen, dem es um den ganzen Menschen, um die mit allem verflochtene Natureinheit (A 667) von Gott, Welt, Mensch (21; 21) ging, deren Darstellung Kant sein Hauptwerk, ein Chef d’oeuvre nannte, das bei seinem Tod unter dem Titel: System der reinen Philosophie in ihrem ganzen Inbegriffe, mit sehr wichtigen Gegenständen: Philosophie, Gott, Freiheit, völlig bearbeitet und nur noch zu redigieren vorlag. Für diese Angaben verbürgte sich Johann Gottfried Hasse 3 , Professor der orientalischen Sprachen und der Theologie, "einer der häufigsten Mittagsgäste Kants in seinen letzten Lebensjahren“ 4 , ausdrücklich: Der Titel findet sich wörtlich und von Kant unmissverständlich als solcher hervorgehoben im zweiten Teil des Op (21; 135), in dem auch die sehr wichtigen Gegenstände behandelt sind - Kant pflegte „oft“ mit „einer wahren Begeisterung“ davon zu sprechen 5 . In dieser Synthese und Summe hatte Kant nicht nur die Erkenntnisse der Naturwissenschaften, Mathematik und Logik verarbeitet 6 , sondern auch Selbstsucht, Ungerechtigkeit, Eitelkeit, Heuchelei, Neid und Betrug kritisiert als 1 Jachmann S. 137. 2 Zit. nach: Immanuel Kant zu ehren S. 379. 3 Hasse S. 23f.; S. 24 Anm. [Umgestellt; Rh.] 4 Vorländer Immanuel Kant 2. Bd. S. 287. 5 Jachmann S. 128. 6 Vgl. Zehbe Die Bedeutung der Naturwissenschaften für die Philosophie Kants. <?page no="10"?> 2 Würde und Freiheit des Menschen bedrohend - für die Herrscher der Welt 7 eine schädliche Schrift 8 eines gefährlichen Bürgers (A 752). Die in der KrV skizzierte Idee des Ganzen, die Einheit der Erfahrung in einem Hauptwerk auszuarbeiten war Kant möglich geworden, weil er die Lücke in seinem System mit dem Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik hatte schließen können 9 : So waren das All der Wesen, das Universum als geordnetes Ganzes, als Kosmos zu begreifen (21; 30) - ein Grenzfall, der mit dem vielleicht irritierenden Begriff transzendental bezeichnet ist: Transzendentalphilosophie meint in der vorliegenden Arbeit Grenzphilosophie. Die verstreuten Notizen zu diesem derart bezeugten Hauptwerk werden hier soweit ausgewertet, dass es möglich wird, das Ganze im Fragment zu erkennen; Hinweise auf den allgemeinmenschlichen und gesellschaftlichen Hintergrund sollen es erleichtern, die Geschichte und Rezeption des wohl weitgehend ausgearbeiteten, aber nicht erhaltenen Chef d’oeuvres zu verstehen. Es wird als Themenkomplex mit aufeinander verweisenden, miteinander verflochtenen Leitbegriffen - Einheit, Erfahrung, System; Transzendentalphilosophie; Gott, Welt, Mensch, Moral; Wahrheit, Weisheit -, am ehesten methodenpluralistisch zu erschließen sein, „hermeneutisch in jenem schlichten […] Sinne, der es möglich macht, die Einsichten und Befunde anderer Richtungen des Zugangs und Weisen des Zugriffs zu berücksichtigen, wenn an ihnen etwas ist, das zum Verständnis der Texte beiträgt“ 10 : Diese höchste Stufe der Transzendentalphilosophie (vgl. 21; 10) ist im spannungsreichen Gesamtzusammenhang des Lebens und Werkes Kants und seiner Zeit innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft widerspruchsfrei zu verstehen; zugleich wird deutlich, dass seine Anklagen, An- und Absichten, seine Zumutung der Selbstbesserung (Rel. 6; 51) den Blick der Mit- und Nachwelt, das Op, seine Philosophie und ihn selbst betreffend, erheblich und nachhaltig getrübt haben, verstärkt durch seine antithetische, barocke Denkart und oft eigenwillige, mitunter neuartige Ausdrucksweise. So hat sehr Verschiedenes dazu beigetragen, dass lange Zeit nicht einmal die Aufzeichnungen für dieses Alterswerk eingesehen werden konnten, geschweige denn, dass eine Auseinandersetzung damit möglich gewesen wäre - aber beides ist auch nur selten gesucht worden, wie sich zeigte, als das Op in der Ak. vollständig vorlag: Wegen des Durcheinanders der Notizen ist es mühsam, sich damit zu beschäftigen, das Hauptwerk ist Stückwerk, zudem entspricht es kaum oder gar nicht dem herkömmlichen Kantbild und dem sich von Kants Philosophie entfernenden Zeitgeist, der herrschenden Meinung über Gott, Welt, Mensch und Moral: Der im Aufklärungs-Aufsatz geforderte (8; 35), 7 Vgl. J. Ziegler Die neuen Herrscher der Welt […]. München 2003. - Z. war Schweizer Nationalrat und Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission. 8 Zit. nach: Vorländer Immanuel Kants Leben S. 180. 9 Rekonstruiert von Mathieu. 10 Recki S. 1. <?page no="11"?> 3 in der Religionsschrift gepriesene (6; 57; 183) Mut, selbst zu denken, bleibt notwendig, um den zweiten Teil des Op in seinem Anspruch und Wert erkennen und anerkennen zu können: Das Unvertraute oder Befremdliche des geplanten Hauptwerkes kann verständlich werden durch Hinweise auf die Herkunft der Besserungs-Zumutung, des scheinbar Unkritischen aus früheren Überlegungen Kants, aus der Tradition sowie durch die Konvergenz oder Übereinstimmung dieser Gedanken mit denen anderer, auch heutiger Wissenschaftler. So werden, verkürzt und vereinfacht, Sachverhalte rekapituliert oder skizziert, die zwar im Großen und Ganzen den Philosophiehistorikern und Kantforschern gut, gelegentlich sogar bestens bekannt sein mögen, deren Folgerungen aber kaum oder gar nicht beachtet oder ernst genommen werden, weshalb das Chef d’oeuvre als der von Kant angekündigte Abschluss nicht bedacht wird; deshalb werden auch Problemfelder, Themenbereiche und Einzelheiten genannt, die den weiten Umkreis des kantschen Lebenswerkes betreffen, aber wieder nicht ausgeführt, sondern nur schlaglichtartig durch Beispiele, Stichwörter und Zitate angedeutet werden, um Kants Vorstellungen nachvollziehbar und sein Hauptwerk als solches erkennbar und begreiflich werden zu lassen - seine Ankündigungen und seinen Anspruch also ernst zu nehmen und nicht als euphorisches oder seniles Wunschdenken, als eine allenfalls ansatzweise versuchte Ausführung alter Pläne abzutun, sondern sein Hauptwerk als konsequente Konzeption einer Synthese und Summe seines Lebens und Denkens, als „ein (absolutes) sein System vollendendes Ganze“ 11 zu verstehen: gerichtet auf den in seiner Würde, Freiheit und Sittlichkeit bedrohten Menschen. Kants optimistischer, der gängigen Kantforschung fremder Rechnungsabschluss und die darauf zu beziehenden Notizen werden erläutert mit Hinweisen auf Kants Zeitgenossen, Briefe, Vorlesungen, Reflexionen und Werke, vor allem auf die KrV, die beiden anderen Kritiken und seine, auf das Op vorausweisenden Spätschriften. So werden Altes und Neues, frühe Ansätze und späte Ausführungsversuche, Traditionelles und Revolutionäres, Kontinuität und Konsequenz in den Entwürfen klarer; in ihnen sind viele der mitunter längere Zeit und oft scheinbar unverbunden nebeneinander herlaufenden, schließlich aber unübersehbar einander zustrebenden Gedanken Kants gesammelt: Sie werden aufgehoben in der kritisch-analytisch erreichten und synthetisch darzustellenden Einheit, zu der Kants erlebte und erlittene, erarbeitete und erschlossene, spannungsreiche, fragmentarische, unausdeutbare Erfahrung folgerichtig führte; die sich teilweise zunächst oder tatsächlich widerstreitenden Ansätze, Gedankengänge und -experimente seines nahezu sechs Jahrzehnte währenden Philosophierens sind in der Erfahrungs-Einheit aufgehoben als keineswegs konstruierte, hypothetische oder gar spekulative, sondern als erarbeitete, empirisch fundierte, nicht nur systemtheoretisch erschlossene Elemente. Die Voraussetzungen, 11 Hasse S. 24 Anm. <?page no="12"?> 4 die Erkenntnisse der Wissenschaften möglichst konsistent zu konzipieren in einer allumfassenden philosophischen Interpretation der Wirklichkeit sah Kant erst im Alter hinreichend erfüllt - etwas spät, um diese kühne Vision auszuarbeiten, in einem System darzustellen und zu spät, um sie selbst auf den Weg der Veröffentlichung zu bringen. Gleichwohl hatte Kant, ungeachtet der angedeuteten Einschränkungen sowie seiner zu unterstellenden Ansprüche an sein Alterswerk und unabhängig von dem unvermeidlichen Non finito einer derartigen Arbeit, in der Konzeption und Vorzeichnung seines Chef d’oeuvres, wie im ersten Werk angekündigt und später bekräftigt (vgl. an Fichte; 12. 5. 1793), seinen angetretenen Lauf (Kf. 1; 10) und die selbst vorgezeichnete Bahn ein- und durchgehalten (an Rickmann; 17. 12. 1796) und den Abschluss endlich unter der Feder (an Lichtenberg; 1. 7. 1798), obschon er ihn, in manchen seiner Erwartungen getäuscht, wohl auf anderen Wegen erreicht hatte, als er sich in seiner Jugend alters- und situationsgemäß hatte versprechen und vorstellen können (vgl. Abl. 2; 41): Das Hauptwerk war nicht nur das Ergebnis jahrzehntelanger, subtiler Nachforschungen (vgl. A 237) mit der sie krönenden Revolution der Denkart (B XIf.), es beruhte, weit darüber hinaus und existenziell entscheidend, auf einer Revolution in der Gesinnung (Rel. 6; 47; vgl. B XII), wie sie die herkulische Arbeit (Ton 8; 390) und Höllenfahrt der Selbsterkenntnis (MS 6; 441) vollendet und auch christlich gefordert ist; zugleich hatte er, der Theonomie-Anlage 12 des Homo noumenon gemäß, aller menschlichen Weisheit Anfang erreicht (ebd.): Seine Philosophie mündet folgerichtig in die klassische, unwillkommene, aber unerlässliche Verbindlichkeit, ein neuer Mensch zu werden (Rel. 6; 163) in der einzigen Aufklärung, deren Erfolg die Aufklärenden bei strengem Bemühen ein wenig sicherer als sonst in der Hand haben, in der Selbstaufklärung. Das ideale Ziel des Menschen konnte auch für Kant nur sein, Bewusstsein und Sein, Theorie und Praxis, Leben und Lehre zu verbinden, dem Primat der praktischen Vernunft (vgl. KpV 5; 119ff.) gemäß: Sapere aude sei weise... (21; 134.) Da allein Gott weise ist (21; 120; 30; 156), führen dieses Weisheits-Ziel, Kants Ethik und die Idee der transzendentalen Anthropologie folgerichtig zu der bereits in der KrV programmatisch genannten transzendentalen Theologie (A 580) und zugleich zur Begründung des Primats der praktischen Vernunft: Der höchste Standpunkt der praktischen Vernunft ist ein Bestreben des Wissens zur Weisheit (Philosophie). Das nosce te ipsum (21; 121), das theoretische Voraussetzungen hat: Kant hat de facto das Erkennen des dem Menschen zu- und angemessenen Weges und Wesens, seines Zweckes und Zieles als maßgebende, richtungweisende Bedingung der Praxis anerkannt. Erst so entsprechen der gute Wille und Kants Moralphilosophie dem unverzichtbaren „Unbedingtheitsanspruch“ einer „überzeitlichen“ Ethik 13 , einer überzeitli- 12 Thiede in: Glauben aus eigener Vernunft? S. 66. 13 A. Pieper Normenbegründung S. 10. <?page no="13"?> 5 chen Ästhetik korrespondierend 14 : Ohne die rechte Theorie - bewusst oder unbewusst - letztlich keine gute Praxis, die alles entscheidet; erst dieses wechselseitige „Über-sich-hinaus-Drängen“ von theoretischer und praktischer Vernunft „bekräftigt“ ihre „in sich differenzierte Einheit“ 15 und Weite, mit der sie zur Philo-sophie, zur Liebe zur Weisheit (21; 156), zur Praxis, zur eigenen Existenz und zum Glauben führen. Kant hatte so seine Gewaltenteilung der „Selbstregierung der Vernunft“ 16 einerseits eingeschränkt und andererseits erweitert; mit dem Primat der praktischen Vernunft hatte er auch geantwortet auf die Ränke und falschen Kunstgriffe in der bürgerlichen Gesellschaft, auf den sittsamen Schein, bei dem man sowohl des Verstandes als der Rechtschaffenheit entbehren kann, wenn nur der schöne Schleier dicht genug gewebt ist (Kr. 2; 259; 261). Die oft bloß proklamierte Tugend im tintenklecksenden Saeculum, in unseren spruchreichen Zeiten (Theor. 8; 277), womit die gewöhnliche, direkte oder indirekte Gewalt und die Gräuel der Geschichte übergangen oder bedauert werden, dieser Widerspruch von Schein und Sein, Theorie und Praxis dauert: Kant bemühte sich, die Bedeutung des rechten Tuns den Zeichen der Zeit gemäß zu begründen und seine Irritation durch die gewöhnlichen Maximen in der bürgerlichen Gesellschaft (Kr. ebd.), durch die Bösartigkeit der menschlichen Natur (Rel. 6; 29) zu überwinden. Aus der Verflechtung von Wissen und Wollen, aus dem Willen zur Wahrheit auch über sich selbst, über die eigene Schwäche und Schuld folgt ein Übergang zur Grenze alles Wissens (21; 9), dessen Bewusstwerdung im Zeitalter der Wissenschaften und ihres Allmachtsanspruches tröstlich ist; diese höchste Stufe schließt die Annäherung an die Idee des Menschen ein (vgl. 21; 41): Der Endzweck alles Wissens ist, sich selbst in der höchsten praktischen Vernunft zu erkennen (21; 156), deren Folgerungen und Grenzen sich damit ebenso abzeichnen wie die der theoretischen Vernunft, deren Selbstbegrenzung unzureichend bleiben und versagen wird - bloße Vernunft kann vor der auch von Kant gefürchteten Barbarei (B XIV; vgl. MS 6; 449) 17 nicht bewahren: Es gehört ein gut’ Herz dazu, um die Wahrheit zu finden (R 6900)… Kants transzendentaler Idealismus umfasst, nach Prinzipien einer systematischen Einheit (A 686), eine transzendentale Logik, Ontologie, Anthropologie und Theologie (vgl. R 903), ihre Probleme aufhebend. Damit und mit seinem erweiterten Theorie- und Praxisverständnis hatte er sich sowohl Platon als auch Aristoteles genähert und, weniger deutlich, Leibniz; in der Einheit der Erfahrung waren Kants Dualismen aufgehoben - im Ansatz und Prinzip hatte er die „Vollendung seines philosophischen Systems“ 18 erreicht und durfte 14 Vgl. Schiller; - Krämling; - G. Schneider. 15 Höffe Völker S. 263. 16 Höffe a. a. O. S. 261. 17 Vgl. Kodalle in: Vernunftfrieden. - Vgl. J. Ziegler Die Barbaren kommen. München 1999. 18 Jachmann S. 128. - Vgl. Lehmann S. 319. <?page no="14"?> 6 von einem Hauptwerk sprechen, in dem wichtige Forderungen des Christentums zeitgemäß philosophisch begründet sind - für manche a priori indiskutabel, für die Herrscher der Welt kein Kuriosum, sondern ein zu ignorierendes oder bekämpfendes Ärgernis - Geschichte und Rezeption des Op kündigten sich an, zugleich ein oft missbrauchter, verfälschter Kant... Erst wenn die alle Trennungen begrenzende, aufhebende oder übersteigende Erfahrungs-Einheit beachtet wird, ist vom ganzen Kant zu sprechen - trotz der Problematik dieses Begriffes sowie der mitzudenkenden und zu tolerierenden, kleineren und größeren Spannungen und Lücken in seinem Rechnungs- und Lebensabschluss als der weitgespannten, die Fülle des Seins in ihrem Wahrheitsanspruch im Blick auf das vielfarbige Selbst (vgl. B 134) bedenkenden Summe seiner Arbeiten zu Makro-, Mikro- und Mesokosmos. Von dieser höchsten Stufe aus lassen sich Richtung und Ziel, Um- und Abwege des Denkens und Handelns ebenso erkennen wie die Folgerungen, die daraus zu ziehen sind und mit denen sich Kant die Voraussetzungen für seine unvermeidlich problembeschwerte Synthese erfüllt hatte, mit der er sich einordnete in die philosophisch-theologische Tradition des Abendlandes, die er den Zeichen der Zeit entsprechend fortführte und in der er mit seinem Mut, neue Wege zu suchen und zu Ende zu gehen, mit seinem Kampf für Würde und Wahrheit einen hervorragenden Platz einnimmt nicht zuletzt deshalb, weil er im Bemühen um Selbsterkenntnis, -beschränkung und -gestaltung im lebendigen Fleische gearbeitet hat 19 , sich seinen Gaben und Aufgaben, Grenzen, Illusionen und Selbsttäuschungen stellend, seiner Pflicht gegen sich selbst (MS 6; 413) folgend, die stets angefochtene Würde in seiner eigenen Person bewahrend (Pä. 9; 489). Dieses hohe Bild des Homo faber war und ist, mit seinen für alles Sollen und Streben konstitutiven Pflichten gegen sich selbst, als Zumutung der Selbstbesserung, stets kritisch und unwillkommen; das zeigen der Zensurkonflikt als Spitze eines Eisbergs aus Eigenliebe, Neid und Hass sowie die vielen Gegner, die Kant und seine Philosophie aus sehr verschiedenen Gründen offen oder versteckt, in Bausch und Bogen oder nur mit einigen seiner Thesen ablehnen, verfälschen oder bekämpfen - dieser im Allgemeinen nicht ganz ernst genommene menschlich-gesellschaftliche Hintergrund gehört zu den Voraussetzungen der Geschichte und Rezeption des Hauptwerkes eines für seine rigorose, auch die Gesellschaft betreffende Kritik, für seine Antithesen und Dunkelheiten bekannten Autors, der allenfalls teilweise der jeweils herrschenden Meinung von Gott, Welt, Mensch und Moral hätte entsprechen können; das in den Fragmenten durchaus deutliche Ganze widerspricht in seinem Welt- und Menschenbild entschieden den positivistischen, pluralistischen, relativistischen, szientistischen Trends der Gegenwart, denen es gleichwohl grundsätzlich, in nuce, kritisch und konsequent, antizipatorisch antwortet mit dem Aufweis und Anspruch der ignorierten oder 19 Vgl. van Gogh an É. Bernard; Juni 1888. <?page no="15"?> 7 bestrittenen Verflechtung von Freiheit und Gesetz, Recht und Pflicht, Wahrheit, Würde und Schönheit - Kant ist aktueller, als man wahrhaben will, seine Korrekturen sind „ein Glücksfall“ 20 , aber dieser ganze Kant ist in der Diskussion der Moderne kaum zu finden: Es heißt zwar Kant lebt, heute, in der Gegenwart - diesen Titeln entgegen wird jedoch seine Philosophie als Ganze und damit sein abschließendes, letztes Wort weiterhin nur wenigen willkommen sein und lebendig werden - es ist oft nicht der kritische, sondern seit über einhundert Jahren weitgehend ein selbst gemachter Kant 21 , von dem gesagt wird, er sei der Philosoph der Moderne 22 … Die hier vorgelegten Ergebnisse werden durch Kants Gesamtwerk, ihre Plausibilität und Folgerichtigkeit bestätigt: Das geschmähte und missverstandene, vernachlässigte und übergangene Op zeigt insgesamt und vor allem im zweiten Teil neben anderem Ungewohnten auch ein mehr oder minder neues, in der KrV vorbereitetes, selten gesehenes und gewürdigtes, unzeitgemäßes Kantbild, das mehr ist als die Summe seiner Teile, von denen viele, ansatzweise oder stärker ausgebildet, früh zu erkennen sind. Diesen menschlich-unvollkommenen, unausgeglichenen, bis zuletzt (selbst)kritisch-konstruktiv arbeitenden Philosophen wahrzunehmen und anzuerkennen setzt den guten Willen voraus, seine eigenwillige Persönlichkeit und verschiedenen Leistungen zu integrieren in einem facetten- und spannungsreichen, unbequemen Gesamtbild, das vom „Symbolwert des Namens“ 23 eher verals gedeckt wird: Der vielseitige, lange beengt und bedrängt lebende Junggeselle und Privatdozent, oft verkannte, unbürgerlich-radikale Professor, der sich intensiv mit den Naturwissenschaften, der Mathematik und Logik auseinandersetzende, durch sie eine Zeitlang verunsicherte Gelehrte weisen auf einen beispielhaften, philosophischen und persönlichen Denkweg, der verständlich wird, wenn er nicht nur als Ergebnis von Theorien gesehen, sondern wenn das Hauptwerk in seinen Hauptaussagen lebendig wird als sinnstiftende Einordnung des Menschen als eines Bürgers zweier Welten in den Kosmos: Alles ist organisch im Weltganzen (22; 506), dessen Verflechtung, Richtung, Zweck und Ziel mit dem von Kant Erarbeiteten näherungsweise verstanden werden kann. Die bloß in einem, wie es den Anschein haben konnte und kann, unerquicklichen „Durcheinander scharfsinniger Konsequenzen und seniler Abmühungen“ 24 erhaltenen Notizen Kants geben zwar keinen vollständigen oder auch nur zusammenhängenden Abriss seiner Vorstellung von seinen Leitbegriffen Gott, Welt, Mensch, sie vermitteln gleichwohl stichwortartig, teilweise klar konturiert, aufschlussreiche Gedanken und Hinweise zu dieser triadischen 20 Fischer in: Kants Metaphysik und Religionsphilosophie S. XIII. 21 Paulsen S. XIX. 22 Schnädelbach in: Kant in der Diskussion S. 11. - Vgl. die Titel im Literaturverzeichnis. 23 Gablentz, v. d. in: Kant Politische Schriften S. VII. 24 Vaihinger Bericht S. 736. <?page no="16"?> 8 Ausfaltung seiner Antwort auf die Frage nach dem Menschen, „jenseits von heutigen Positionen in der Wissenschaftstheorie der Geistes- oder Sozialwissenschaften“ 25 : Als Ergebnis seiner Kritiken, des Primats der praktischen Vernunft und seiner Lebenserfahrung lautet Kants das Wesentliche zusammenfassende Wort sapere aude sei weise - die kritisch begründete Quintessenz einer, die Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts im Voraus überholenden, integralen Anthropologie. Da die herrschende, modische Meinung naturgemäß rasch wechselt und zumeist ziemlich schnell aus dem Vorderin den Hinter- oder Untergrund gerät, da sie aber für die jeweilige Zeit und Gesellschaft aufschlussreich ist - gleichsam im Kontrast zu Kants zeitlosem, kritischem, konsequentem Konzept -, wird hier versucht, das manchmal mehr oder minder kantverfälschende oder -feindliche Meinungsumfeld punktuell, beispielhaft und konstruktiv dadurch zu verdeutlichen oder zu korrigieren, dass entweder der Vernunft- und Gesellschaftskritiker Kant oder andere, auch fachfremde Wissenschaftler sowie Künstler zitiert oder in Erinnerung gerufen werden. So sei zugleich die geistige Gemeinschaft angedeutet - ein Corpus mysticum der vernünftigen Wesen (A 808) -, der - oder dem - Kant mit seiner Arbeit und einsamen Existenz angehört als ein weiterhin ernst zu nehmender Gesprächspartner: Sein Bemühen, die philosophischen Ideen, die mit den politischen und theologischen zusammenfallen, Freiheit, Gerechtigkeit, Mensch und Gottheit, so zu fassen, dass sie vor radikalster Kritik bestehen können, ist ein aktueller Beitrag zu der fortwährenden Verpflichtung und Aufgabe, das Geheimnis des Menschen zu erhellen und mitzuwirken dabei, dass für die dringlichsten Fragen unserer Zeit eine Lösung gefunden wird. Bereits eine Skizze der von Kant geplanten Synthese und Summe, wie sie hier, ausgehend vom Op und im Blick darauf, versucht wird, setzt eigentlich die Kenntnis der Ergebnisse der Kantforschung voraus - eine Aufgabe, die kein Einzelner leisten kann; so konnte die Sintflut von Büchern - fast schon zu Kant -, womit unser Weltteil jährlich überschwemmt wird (Bem. 20; 42), nur lückenhaft gesichtet und befragt werden, zumal die vorliegende Arbeit unter den ihr zugehörigen, extremen Bedingungen entstanden ist, ermöglicht und erschwert u. a. durch geringfügige Beschäftigungen - quasi außer Konkurrenz, ein kleines, kontingentes, kafkaeskes Kuriosum, einem konsequenten Umfeld gemäß. 25 Sturm Kant und die Wissenschaften vom Menschen Buchrückseite. <?page no="17"?> 9 2. Vernunft-Grenzen: Kuriosum oder neues Licht? Kants Opus postumum in gegensätzlicher Sicht „Man muss in der Beurteilung der Schriften anderer die Methode der Teilnehmung an der allgemeinen Sache der menschlichen Vernunft wählen. Aus dem Versuche, dasjenige herauszusuchen, was das Ganze angeht, findet man es der Prüfung wert, dem Verfasser oder vielmehr dem gemeinen Besten hilfreiche Hand zu bieten und die Fehler als Nebensachen zu traktieren.“ (R 4992.) „Es wird immer ein Kuriosum in der Geschichte der Philosophie bleiben, dass man Kants nachgelassenes Werk erst im 20. Jahrhundert ernst zu nehmen begann.“ So eröffnete Kurt Hübner seinen im Jahre 1953, knapp 150 Jahre nach Kants Tod, erschienenen, auf seiner Dissertation beruhenden Aufsatz Leib und Erfahrung in Kants Opus postumum 26 . Die kritisierte, traditionelle Sicht des Nachlasswerkes eines der großen Philosophen des Abendlandes war damit nicht überwunden - Hübners Einsatz kann den unzutreffenden Eindruck eines endgültigen Ernst-nehmens des ganzen Op erwecken, das zudem von Anfang an ernst genommen worden ist, von Einzelnen, die in der internationalen Kantforschung bis heute nicht recht beachtet werden: Im reichhaltigen „Kabinett negativer [Kant]Hagiografie“ 27 kann Hübners Kuriosum nur eins der geringeren, gleichsam glanzlosen Exponate bezeichnen, wie seine zahlreichen, sehr verschiedenen Vorläufer und Nachfahren nahelegen, die es unter namenlosen, unauffälligen Gegebenheiten wie unter mehr oder minder deutlichen Bezeichnungen hat; denn es war und ist von vielen Gedanken und manchen Werken Kants zu beklagen, dass sie nur teilweise oder gar nicht ernst genommen worden sind und werden. So wurde - über das anfängliche Unverständnis hinaus, das zu vielen herausragenden Leistungen gehört -, oft Kurioses in der Forschung vermerkt: ein selbst gemachter Kant, eine verkehrte Auffassung, der größte Widersinn sowie ein schiefes und verzerrtes Bild Kants 28 , sogar, ob mit oder ohne understatement, ein Skandal 29 , worauf, aus gegebenem Anlass, noch eine Generation später Heinz Heimsoeth 30 hingewiesen hat. Vor aller Kritik und ungeachtet „vielfältig umlaufendem Miss- und Unverständnis“ 31 ist aber hervorzuheben, dass in der Kantforschung „viel geleistet“ wurde, „das für immer nützlich und dankenswert“ 32 und zu beachten ist 26 Hübner Das transzendentale Subjekt. 27 Ludwig in: Kant Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre S. XXIV. 28 Wundt S. 2ff. 29 Paton 1. Bd. S. X. 30 Heimsoeth S.VII. 31 Cramer in: Kant in der Diskussion S. 303. 32 Jaspers S. 614. <?page no="18"?> 10 auch gegen den Zeitgeist und Gott dieser Welt; so sollten größere Defizite nicht ganz übergangen werden; Manfred Kühns detailreiche Kant-Biografie ist nicht die „beste“ 33 , da sie Kants Person und Philosophie weder den Zeugnissen noch dem Forschungsstand gemäß darstellt und Zweck und Ziel seiner Arbeit verfehlt. Im Zusammenhang gesehen kann also Hübners Kuriosum nicht überraschen, sondern allenfalls seine Vor- und Frühgeschichte, die jedoch in einer Zeit des perennierenden, immer modernen Flachkopfgeschwätzes, wie Nietzsche spottete, mit zahllosen Kuriosa nicht nur entfernt, systemtheoretisch, sondern mehr oder minder direkt verflochten sein musste, zumal angesichts „akademischer philosophischer Scheinforschung“ 34 . Wer als kritischer Kantforscher in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Situation der Zeit bedachte, kam zum Ergebnis, das damals beklagte, sich seither ausweitende, sog. Bildungsloch bestätigend: „Kant ist im heutigen Deutschland weitgehend zu einer terra incognita geworden“ 35 , wozu passt, dass Gerhard Lehmann im Jahre 1967 resümierte: Sogar berühmte Kantforscher „interpretieren einseitig und gewaltsam; ihre Umakzentuierungen grenzen an Textverfälschungen“ 36 . Zehn Jahre später fiel auf, dass selbst von „Kantspezialisten“ „nur zu oft mit mangelndem systematischen Sachverstand ein Kantverständnis zu erarbeiten versucht wurde.“ 37 So konnte sich mancher „eines verwunderten Kopfschüttelns“ über das Geschehen im „Binnenraum deklarierter Kantforschung“ 38 nicht erwehren; im Jahre 1996 sollten immerhin zwei Bände Analysen - Probleme - Kritik „auf die erstaunliche Aktualität der Kantischen Philosophie - und auf gravierende Mängel der gegenwärtigen Kantrezeption - aufmerksam machen.“ 39 Im selben Jahre wurden „fundamentale Fehler“ in der Interpretation des für das Kantverständnis grundlegenden - und für jede Philosophie, Politik- und Rechtstheorie sowie Anthropologie entscheidenden - „Freiheitsbegriffs“ 40 festgestellt; Kant betreffend, hat Otfried Höffe im Jahre 2000 „in der gegenwärtigen Ethik-Diskussion“ „gravierende Missverständnisse“ vermerkt 41 . Zwei Jahre zuvor waren, trotz einer fast uferlosen Kantliteratur, „Versäumnisse“ bei „zentrale[n] Lehrstücke[n]“ der KrV zu beanstanden. Diese „nicht geringen Defizite[n]“ 42 sind verbunden mit der von Höffe im Jahre 2003 konstatierten, „übliche[n] Nichtlektüre“ wichtiger Teile dieses „Schlüsseltext[es] 33 So die FAZ, s. Rückseite der Taschenbuch-Ausgabe, München 2007. 34 Jaspers S. 614. 35 Ebbinghaus S.139. 36 Lehmann S. 27. 37 Königshausen S. 6 Anm. 20. 38 Habichler S. 11. 39 Oberer in: Kant. Analysen 2. Bd. S. 7. 40 Meyer S. 189 Anm. 19. 41 Höffe Immanuel Kant S. 171. 42 Heidemann S. 11. <?page no="19"?> 11 der modernen Philosophie“ 43 , des wichtigsten Buches, das jemals in Europa geschrieben worden ist, wie Schopenhauer überschwänglich meinte 44 - wie die meisten Leser hat er es nicht ganz ernst genommen. Nach all’ dem kann es nicht verwundern, „Verwirrung“ 45 und „gewagte[n] Thesen“ in der Kantliteratur ebenso zu finden wie eine „Banalität“ 46 - gelehrter, originaler Unsinn war schon zu Kants Zeit nichts Neues (Neg. 2; 170; vgl. KU 5; 307), die „Liste“ der „verkürzten oder verfehlten Interpretationen“ 47 ist auch im Jahre 2010 noch lang. In der Geschichte der Kantrezeption und -forschung hat wohl ein unterschwelliges Unbehagen an einem Kollegen mitgespielt, der nicht nur die Vernunft, sondern auch die Gesellschaft kritisierte, der Eitelkeit, Neid, Hochmut, Hass und Heuchelei anprangerte und der akademischen Philosophie die Richtigkeit ihrer Selbstbenennung bestritt 48 mit der fast revolutionären, auf das Op vorausweisenden Feststellung, dass es der Philosophie sehr unnatürlich sei, eine Brotkunst zu sein, indem es ihrer wesentlichen Beschaffenheit widerstreitet, sich dem Wahne der Nachfrage und dem Gesetze der Mode zu bequemen (Vorl. 2; 308); das war für einen Privatdozenten so naiv wie mutig; der Ordinarius formulierte freundlicher, dass Philosophie eine bloße Idee von einer möglichen Wissenschaft sei, die nirgend in concreto gegeben ist (A 838); obwohl er an Platon anknüpfen konnte 49 , war ihm damit Groll gewiss, zumindest seitens der gründlichen Philosophen, wie sie sich selbst nennen (Neg. 2; 201). Forschungsdefizite, Widersinn, Verfälschungen, Banalitäten, kurz: Kuriosa sind mit einem sie ermöglichenden und tragenden Umfeld verflochten, das auch die dem akademischen Alltag angehörende „Langeweile der neueren Kantstudien“ 50 - und nicht nur dieser - begünstigt, die zwar Kants Kampf für Menschenwürde und -rechte entgegen, aber halbwegs harmlos sind und die, wie die wenigen zitierten und die vielen nicht zitierten Kabinettstücke der Kantliteratur, zu den menschlich-allzumenschlichen Begleiterscheinungen der Erträge und des Fortschreitens der Wissenschaften gehören, die nicht nur aus Sternstunden und Meisterwerken bestehen können, zumal das Interpretieren sowohl Handwerk als auch Kunst sein sollte und sich zuweilen schon bei der Sichtung der Literatur die Frage stellt, was und wie gelesen und rezipiert worden ist, so bei Büchern, Rezensionen, Gutachten, 43 Höffe Kritik S. 303; S. 12. 44 An K. Rosenkranz u. F. W. Schubert; 24. 8. 1837. 45 Baumanns S. 19. 46 Wenzel S. 70; S. 199. 47 Sturm S. 9. 48 Das gilt im modernen Sprachgebrauch nicht mehr, da z. B. jemand, unabhängig davon, ob er sich mit der Textsorte Lyrik befasst oder nicht, systemtheoretisch konsequent als Lyriker gilt, sobald er seine Texte entsprechend sortiert und etikettiert. 49 „Die Philosophie gibt sich […] auf, in dem sie sich versteht als eine akademische Fachdisziplin.“ J. Pieper in: Ders.: Philosophie S. 27. 50 Puder S. 12. <?page no="20"?> 12 bei Titeln wie Ethik ohne Metaphysik 51 oder, ebenso modern, doch ganz anders, Das Andere der Vernunft 52 . Beide Bücher sind nicht ganz so geschrieben, wie die Titel lauten. Der positivistisch-abstinent klingende, recht späte Wiener-Kreis-Titel ist repräsentativ für ein populäres Programm und eine progressive Praxis nicht nur ohne, sondern gegen Kant, dessen einschlägige Argumente ignoriert werden - es sei denn, man bezöge diese Arbeit auf eine eigene, enge, gleichsam grenzfreie Welt; denn wie die Versuche, eine metaphysikfreie Ethik zu konstruieren, zeigen, sind die Voraussetzungen, diesem reduktionistischen Vorhaben zu entsprechen, weder systematisch noch wissenschaftstheoretisch zu erfüllen; das Paradoxe des Titels ist mit Platon, Aristoteles, Pascal, Planck, Einstein, Wittgenstein und Heisenberg zu zeigen. Das Buch mit dem poetisch-(post)modernen Vernunft-Titel verfehlt, freudianisch-szientifisch-populär geblendet, verkürzt und bebildert, nicht nur die von Kant geforderte, de facto das Andere der Vernunft einschließende, herkulische Arbeit und Höllenfahrt der Selbsterkenntnis sowie die darauf beruhende, stets löchrige Einheit der Erfahrung, „üblichen Kant- Klischees“ 53 kapriziös entgegen kommend, sondern auch Kants klassische, für die durch dieses Andere bewirkte Unruhe geltende Weisheits-Antwort; zudem gibt es zu jedem Thema, Werk und Buch das Andere - Fehlendes wäre weniger polemisch als philosophisch zu behandeln. Zusammenfassend, über Hübners Kuriosum und Kant hinaus ergibt sich: „Eigentlich so zu nennende philosophische Kritik ist in der Gegenwart gewiss kein Fach, das allzu viele Meister hätte.“ 54 Nicht nur für die „aktuelle[n] philosophische[n] Diskussion um den Idealismus und Realismus“, sondern für die Philosophie - und andere Wissenschaften - wird gelten: „Eine […] Auseinandersetzung mit Kant steht […] noch bevor.“ 55 Dazu könnte Hübners Kuriosum, verstanden im Sinne augustinischer curiositas, beitragen und dazu könnte auch die Diskussion um Glaube und Vernunft auffordern, die zeigt, dass Versäumnisse, Skandale und Kuriosa derart kumulieren, dass ein schiefes oder falsches Kantbild verbreitet ist; denn man sollte das Ja hören, das trotz aller Zweifel, vieler Ja - Aber unbedingte, eindeutige Ja Kants zu einem Gott, der zwar innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft nicht zu beweisen sein kann, doch als „fehlerfreies Ideal, ein Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönt“ (A 641), den Gott dieser Welt stört: Kants, im Motto dieses Kapitels vorgestellte Methode der Teilnehmung an der Sache der menschlichen Vernunft ist stets einer Gegenkraft ausgesetzt; seine Methode widerstrebt dem Kuriosen, das nicht ganz vernünftig ist, eine meist kaum zur Kenntnis genommene, lebensfeindliche 51 Patzig. 52 H. u. G. Böhme. 53 G. Schneider Naturschönheit S. 3. 54 Hoffmann u. Ungler in: Aufhebung? S. 7. 55 Heidemann S. 251. <?page no="21"?> 13 Kehrseite hat, nicht das Ganze angeht, sondern bloß Teile betrifft, allenfalls scheinbar dem gemeinen Besten hilfreiche Hand bietet und die immer zu findenden oder jeweils fraglichen Fehler nicht als Neben-, sondern mit Fleiß als Hauptsachen traktiert, so einen Vorwand findend, etwa eine unliebsame, kritische (Hand)Schrift - oder Person - nicht wirksam werden zu lassen: Hübners Kuriosum kontrastiert mit einer keineswegs nur mühsam erkenn- und begreifbaren Wirklichkeit, die stärker subjektiv wahrgenommen und wiedergegeben wird, als es einem wissenschaftlichen, vernünftigen oder menschlichen Vorgehen angemessen sein kann; die seither propagierte, pluralistische Problematisierung einer immer umfassender in Frage gestellten und manipulierbaren Realität kann hier außer Betracht bleiben, doch ist es aufschlussreich, das Kuriose, seine Bedingungen und Hintergründe kurz zu bedenken; denn hinter der Kulisse dessen, was Hübner zusammenfassend als Kuriosum wertete, ist mancherlei Menschlich-Allzumenschliches zu vermuten - jedes Kuriosum ist Teil eines größeren Ganzen. Dem verbreiteten Desinteresse am gemeinen Besten gemäß begab sich Hübner auf ein kaum bearbeitetes Gebiet, einiges übersehend 56 : Ein quantitativ-qualitativ trotz der Fülle der Kant-Kuriosa auf- und überfälliges, zu Hübners Zeit anderthalb Jahrhunderte altes, von Anfang an umstrittenes Kuriosum ist aufklärungsbedürftig und in seiner Kontinuität, in seinen Kontroversen und Konsequenzen nicht einfach hinzunehmen; es entsteht und lebt weder von selbst noch zufällig, hat eine kürzere oder längere Vor-, Haupt- und Nachgeschichte und ist Teil konkreter, komplexer Zusammenhänge, die zu untersuchen sind, da sie, systemtheoretisch betrachtet, wie bei einem Biotop nicht alle zu Tage liegen und manches verbergen können, so die gesellschaftlichen Kräfte, denen Kant ausgesetzt war und ist, gegen die er sich behaupten musste und die noch sein Op, dessen Geschichte und Rezeption beeinflussen: Hübner hat nicht nach den Ursachen des Kuriosums gefragt; diese Frage ist zwar unmodern, doch Kant ist kein hochgelobter Modephilosoph, sondern ein Gesellschaftskritiker, der stört, da er das Ganze ernst nimmt - dazu hat Hübner geschwiegen: Was wird außer dem Eigeninteresse ernst genommen über ein unverbindliches Theoretisieren und Diskutieren hinaus? Wie Heraklit, Sokrates-Platon, Aristoteles, Augustinus und zahllose andere Aufklärer wird auch der große Revolutionär 57 Kant allenfalls theoretisch oder teilweise, aber selten ganz ernst genommen 58 , sonst wäre Hübners Kuriosum kaum möglich sowie eine - ohnehin bloß theoretische - Rehabilitierung der praktischen Philosophie so überflüssig gewesen wie sie, abgesehen von kleineren und größeren Diskussionen und Veröffentlichungen, praktisch, im Sinne Kants, folgenlos geblieben ist: Der bestirnte Himmel über und das moralische Gesetz in mir werden bestenfalls wie andere Bil- 56 Lehmann kritisierte „Simplifikationen“; S. 400. 57 Ebbinghaus S. 119. 58 Vgl. Becks zurückhaltendes Resümee in: Akt. d. 5. Intern. Kant-Kongr. Teil II S. 3-14. <?page no="22"?> 14 dungs-Berühmtheiten bewundert, bleiben aber meist so unverpflichtend wie der kategorische Imperativ unverbindlich (KpV 5; 161), während Kants Widerlegung des Materialismus, Atheismus und Skeptizismus (B XXXIV) sogar in der einschlägigen Literatur nur selten die von ihm ausgewiesene Beachtung findet und das Schöne als Symbol des Sittlich-Guten (KU 5; 353) aus dem allgemeinen Bewusstsein, wenn es denn je dazu gehörte, längst entschwunden ist - erklärlich angesichts einer Inflation dessen, was als Kunst ausgegeben und, bei dem Hang des Menschen, sich gerne täuschen zu lassen (Anthr. 7; 152), angenommen, bezahlt und gepriesen wird und allenfalls als kurios gelten kann. Hübner verstand das Op nicht als verpflichtend 59 ; nach dem verheißungs- und verdienstvollen Auftakt mit seiner Dissertation hat er sich darauf beschränkt, die naturwissenschaftlichen Aufzeichnungen im Op untersuchen zu lassen. 60 Er hat auch nicht beachtet, dass im Jahre 1938 Gerhard Lehmann, der „eigentliche Bearbeiter“ 61 des Op für die preußische Akademie der Wissenschaften, seine Sicht damit zusammengefasst hatte, dass mit dem Op Kants „ganze Philosophie in ein neues Licht“ 62 komme: Hübners Kritik war de facto in einem Forschungsanliegen und -auftrag vorweggenommen und eine seit Erich Adickes zu beachtende Vermutung konkretisiert, mit der schon kurz nach Kants Tode, im Jahre 1805, darauf hingewiesen worden war, dass das Op „ein ganz neues Licht“ 63 hervorzurufen geeignet sein könne - zudem hatte bereits gut eine Generation vor Lehmann der Hamburger Pastor, Kantverehrer und -forscher Albrecht Krause seinen Kampf um das Op und gegen die herrschende Sicht im Jahre 1902 abgeschlossen mit einem Buch mit dem vielsagenden Titel: Die letzten Gedanken Immanuel Kants. Der Transzendental-Philosophie höchster Standpunkt: Von Gott, der Welt und dem Menschen, welcher beide verbindet. 64 Hübner hatte in der schwierigen Nachkriegszeit die Literatur nicht gründlich gesichtet sowie, den Grenzen einer Dissertation gemäß, einige Fragen nur nebenbei oder gar nicht berührt und so dazu beigetragen, das von ihm konstatierte, in seiner Komplexität wohl unterschätzte Kuriosum zu konservieren. Die Notizen zu Gott, Welt, Mensch, die dem zweiten Teil 59 H. hat sich, in Zeiten des Umbruchs, mit wertkonservativen Arbeiten seinem akademischen Anfang genähert, aber weder den ganzen Kant noch das Hauptwerk des Homo religiosus berücksichtigt, da er schreibt, dass „die unleugbare Historizität von Wertvorstellungen“ genüge, „um Kants Formulierung des Sittengesetzes ins Wanken zu bringen“. Glaube und Denken S. 462. Nicht die Formulierung ist entscheidend, sondern die Erfüllung des unverzichtbaren Unbedingtheitsanspruches einer überzeitlichen Ethik. Das ist auch Thiede entgangen, der H. zustimmend zitiert in Glauben aus eigener Vernunft? S. 75 Anm. 35. 60 Hoppe Objektivität. - Ders.: Kants Theorie der Physik. - Vgl. Mathieu. 61 Lehmann S. 8. 62 Lehmann S. 289. 63 Buchholz zit. nach: Adickes S. 6. 64 Auf Krause hat Brandt, nicht ganz konsequent, hingewiesen: Die „Krause-Papiere“. <?page no="23"?> 15 des Op seine Eigenart geben, blieben fast unbeachtet, diese Begriffs-Trias gilt ohnehin als un- oder vorkritisch, jedenfalls als unmodern, unabhängig davon, dass sich Kant im Alter hyperkritisch über seine vorkritischen Schriften geäußert hat, seines Optimismus-Aufsatzes doch gar nicht mehr 65 gedacht wissen wollte, andere Arbeiten so flüchtig hingeworfen fand, dass er es nicht gern sähe, wenn sie wieder ans Tageslicht gezogen werden sollten (an Blumenbach; 5. 8. 1790) und wünschte, dass keines seiner kleinen, vor dem Jahre 1770 erschienenen Werke neu gedruckt würde (an Tieftrunk; 13. 10. 1797). Diese Selbstkritik ist für sein wichtigstes Werk 66 zu bedenken, aber nicht nur negativ, sondern auch als positive, konstruktive Absicht; denn Kant ist weder vom Thema noch vom Ziel seines Hauptwerkes abgerückt, was er widerspruchsfrei nicht hätte tun können. Seine etwas übertrieben anmutende Selbstkritik ist angesichts seiner Revolutionen in Denkart und Gesinnung verständlich, obwohl sie so, wie sie gemeint war und trotz einer gewissen Berechtigung kaum beachtet wird. Die Begeisterung, mit der er oft von seiner letzten Arbeit sprach, galt dem ihm vorschwebenden Buch und nicht dem geheimnisvollen Werk 67 , als das das Durcheinander von Allotria 68 sowie der verschiedensten Entwürfe zum Übergang und zum Hauptwerk erscheinen konnten und können so, wie sie überliefert sind. Entgegen Hübners pauschaler Kritik ist von Anfang an auf den nicht ungeprüft auszuschließenden Wert des Op hingewiesen worden: Mehr, als sich für die Veröffentlichung und Prüfung des lange unzugänglichen Op einzusetzen, war einer Minderheit ohne Macht nicht möglich, und mehr ist bei postumen Aufzeichnungen zunächst nicht zu erwarten; denn einerseits werden nachgelassene Werke in der Regel fürs Erste kaum beachtet 69 , andererseits bestimmen im Allgemeinen de facto allzu oft Selbstsucht, Geld als Gott dieser Welt die Rangordnung des Ernst-nehmens; diesem Gott lässt sich zwar auch mit Kant dienen, aber nur mit dem Theoretiker, nicht mit dem konsequenten, konstruktiven Kritiker, dem ganzen Kant; gefördert wird eine um ihre praktischen Forderungen und Folgerungen gekürzte Philosophie, der Kant wie Platon diese Bezeichnung bestritten; ein Ernst-nehmen der Philo-sophie, des Ganzen stört den Gott dieser Welt, wie u. a. Sokrates, Kepler, Pascal, Hamann und Wittgenstein zeigen… 65 Borowski S. 29 Anm. 66 Wasianski S. 294. 67 Kowalewski S. 158. 68 Hasse S. 24 Anm. 69 „Schillers dramatischer Nachlass ist lange von der Forschung unbeachtet geblieben [...] im ganzen scheint den Entwürfen zu sehr der Makel des Unzulänglichen und vom Dichter selbst Verworfenen angehaftet zu haben, als dass ihnen angesichts der vollendeten Werke ein eigener Wert zuerkannt werden konnte.“ L. Blumenthal Schillers Dramenplan ‚Die Prinzessin von Zelle’. Berlin 1963. (Abhdlgn. d. Sächs. Ak. d. Wiss. zu Leipzig. Philol.-hist. Kl. Bd. 56) S. 33. <?page no="24"?> 16 2. 1. Wissen ist Stückwerk - Torheit im Narrenspital Die genannten Kuriosa und Defizite relativieren Hübners Diktum und illustrieren Vernunft-Grenzen, die sich, da alles Wissen Stückwerk ist, wie Kant mit Paulus sagt (Vorl. 2; 313), vielfach auswirken müssen - der Mensch ist ersichtlich mehr als eine bald zu berechnende und beherrschende Maschine (Aufkl. 8; 42), als die ihn, cartesische Ansätze fortführend, der als Mitglied der Berliner Akademie verstorbene und von seinem Gönner, Friedrich dem Großen gerühmte Militärarzt Julien Offray de Lamettrie dargestellt hat 70 : Der Mensch ist im Gegenteil gerade in seiner Eigenliebe und Bosheit unberechenbar, obwohl nicht immer des Menschen Wolf, wie Hobbes, aber auf keinen Fall von Natur aus gut, wie Rousseau meinte, sondern eine Frage, der sich Kant zwar nur selten unmittelbar zuwandte, die er jedoch, wie zahlreiche, überwiegend kritische Bemerkungen in seinen Werken zeigen, auch bei seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten kaum je aus dem Blick verlor in seinem Bemühen, eine den, vor allem von den französischen Materialisten repräsentierten Zeichen der Zeit gemäße Antwort zu geben, die der unglücklichen Fähigkeit, sündigen zu können (Nat. 1; 365), ebenso Rechnung trägt wie der entgegengesetzten, Gutes zu tun sowie Gewalt, Hass und Lügen zu widerstehen. In der Theorie des Himmels, in der, teils in groben und undeutlichen Begriffen (1; 356), wichtige Gedanken seiner Lebensarbeit enthalten sind, hat Kant, seiner Tendenz zur Philosophie folgend und sein Thema ausweitend, den Menschen bezeichnet als unerforschtes Problem (1; 355), was verlangt, sein Inneres zu erkennen (Anthr. 7; 125). Er hat im Beschluss vermerkt, es sei nicht einmal recht bekannt, was der Mensch wirklich ist, obgleich uns das Bewusstsein und die Sinne hievon belehren sollten (1; 366). Das ist eine triviale, doch stets neu zu konkretisierende Feststellung 71 - einerseits; andererseits war mit dem Maschinen-Menschen ein modernes, seither ständig aktualisiertes und inzwischen brisantes Programm vorgelegt worden, mit dem nicht nur unerforschte, sondern unerforschliche Probleme prinzipiell verabschiedet sein sollen, zwar jeweils zur Zeit noch nicht ganz, aber künftig gewiss - zugleich jedoch ging und geht es bei wissenschaftlich verbrämten Reduzierungen mehr oder minder unauffällig um die Verabschiedung eines Menschenbildes, dessen angemessenes Verständnis gebunden ist an das Unerforschliche, das Geheimnis des Menschen, der sich unklug verhalten kann über Groll, Neid und Hass hinweg, der sogar dagegen handeln und sich entscheiden kann, sein Leben zu opfern. Der angeblich wissenschaftlich beweis- und verantwortbaren, obwohl verschleierten Reduzierung der Rechte des Menschen - die de facto, soweit möglich, unaufhörlich praktiziert wird - widersprach der junge, unbekannte, von Existenzsorgen geplagte Magister ausdrücklich; dieser Widerspruch blieb, als positives Pro- 70 L’homme plus que machine. - L’homme machine. 71 Vgl. z. B. A. Görres Kennt die Psychologie den Menschen? München; Zürich 1978. <?page no="25"?> 17 gramm, sein Hauptanliegen - das Andere der Vernunft war mitbetroffen, nicht mitthematisiert. Kant begründete Würde, Rechte und Freiheit des Menschen eingedenk der abschreckenden Abgründe des Herzens, der Unwissenheit (A 575 Anm.) 72 und des zu einer überhandnehmenden Barbarei (Lamberts Briefwechsel 8; 4) führenden Atheismus. Die Grenzen des Erforschbaren, den Geheimnis-Charakter der Welt hat Kant ebenso betont wie die leicht zu verschleiernde und übersehende Kehrseite des Fortschritts - die weiten Felder des Vernunftwidrigen, der Unvernunft, der faulen (A 689; 773) und der verkehrten Vernunft gehören indirekt oder direkt zur transzendentalen Anthropologie, deren pragmatischen Teil er in der MS um einen metaphysischen sowie dann um einen psychosomatischen erweitert hat (St. 7; 97-116). Den Ausklang der Theorie des Himmels hat Kant zwar zeitgemäß, aber unwissenschaftlich beendet, sein Gemüt zur Sprache bringend, klassisch-antik das Sichtbar-Unendliche mit dem zwar Unsichtbaren, aber Empfindbaren verbindend, mit der über dreißig Jahre später, im Beschluss der KpV aufgenommenen und weitergeführten Selbstaussage, dass der Anblick eines „bestirnten Himmels […] eine Art des Vergnügens [gibt], welches nur edle Seelen empfinden. Bei […] der Ruhe der Sinne redet das verborgene Erkenntnisvermögen des unsterblichen Geistes eine unnennbare Sprache und gibt unausgewickelte Begriffe, die sich wohl empfinden, aber nicht beschreiben lassen.“ (1; 367.) Dieser archaisch-archetypische Aufblick, dem Lebensgefühl und der Literatur des Barock noch vertraut 73 , entspricht weder der Heeresstraße noch der Blickrichtung der „Hinz und Kunz“ 74 ; Kant hatte sich philosophisch-theoretisch vom Bösen gelöst, nicht praktisch, die so eifrig wie beliebig Empfindungen und Überzeugungen heuchelnden, unedlen Seelen erbitterten ihn weiterhin. Seine barocke Beschreibung dieses Vergnügens war dem guten Herzen nahe; er hat sich dann bemüht, Verborgenes und Unnennbares ins Bewusstsein und deutlicher zur Sprache zu bringen - das Problem Mensch trotz der Vernunft-Grenzen genauer zu beschreiben und kritisch aufzuheben, zunächst als Aufklärung im Sinne seines Jahrhunderts, schließlich, nach Umkippungen, traditionell-zeitlos, im Sinne einer Philosophia perennis 75 , hinsichtlich einer vollkommenen Weisheit, die uns die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft zeigt (Lo. 9; 24). Das ist ein höchster Standpunkt, kein jugendlicher und, cum grano salis, kein bei akademischen Untersuchungen, Vorträgen und Diskussionen beliebter. 72 Es ist möglich, dass Kant von einer seit dem 16. Jahrhundert gelegentlich erörterten Ignorantia invincibilis wusste; für diesen Hinweis danke ich Herrn Prof. Dr. Dr. Reinhold Weier, Trier. 73 Vgl. A. Elschenbroich Nachwort. In: B. H. Brockes Irdisches Vergnügen in Gott. Auswahl u. Nachwort v. A. Elschenbroich. Stuttgart 1966. S. 84-95. S. 94. 74 O. Seel Quintilian oder Die Kunst des Redens und Schweigens. München 1987. S. 297. 75 Vgl. A. Huxley The Perennial Philosophy. New York 1945. - Deutsch: Die ewige Philosophie. Zürich 1949. <?page no="26"?> 18 Wenn Eigenliebe, Geld und Gut zum Gott werden, wird es, bei menschlichen Schwächen und begrenztem Wissen, früher oder später zu mehr oder minder geistfernen, geistwidrigen, gelegentlich kuriosen Geschehnissen führen, zumal ihnen auf dieser Schaubühne der Eitelkeit (Erdb. 1; 460) ohnehin der Boden bereitet ist und kultiviert wird von Menschen, die je zivilisierter, desto mehr Schauspieler sind (Anthr. 7; 151), womit sie ihre, in der Tiefe zu erkennende, von Kierkegaard auf den Begriff gebrachte Verzweiflung zu überspielen suchen. Diese oft beklatschte, so erfolgreich wie empfindlich ausgeübte und vervollkommnete Kunst des schönen Scheins, der Selbstverbergung und -darstellung zeigt denen, die Augen haben zu sehen, Ohren zu hören, die willens sind, die Geister zu unterscheiden und gegen den Strom zu schwimmen, also ihre Praxis sokratisch-platonisch auszurichten, die verschiedensten Kuriosa, vom unauffälligen, rational verbrämten, lächerlichen oder peinlichen bis zum skurrilen und skandalösen - Kant hat nicht nur allerlei Anlässe für Angriffe und Kuriosa, sondern auch Hinweise zu deren Voraussetzungen gegeben, die, ernst genommen, zur Verhinderung, Aufklärung und Abkürzung des Hübner-Kuriosums hätten beitragen können. Das Nicht-Ernst-Nehmen der Grenzen der Vernunft, des Wissens und des existenziell Wichtigen gehört ebenso zum Menschen wie Illusionen und Irrtümer, wie das dadurch zum Teil erst ermöglichte oder hervorgerufene Kuriose, das mehr oder minder jeden betrifft, den von Kant kaum beachteten Goethe 76 ebenso wie Leibniz, von dessen Lebensleistung, „einem Werke von wahrhaft enzyklopädischem Umfang“, bemerkt worden ist, dass es „zumeist eher als Liebhaberei und Kuriosum denn als lebendiges Anliegen unserer geistigen Tradition und Situation betrachtet wird.“ 77 Ähnliche Kuriosa durchziehen die gesamte Geistesgeschichte, vom Sokrates des Aristophanes über Schelling bis zu Wittgenstein, die Beispiele der Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte sind Legion. Das Unverständnis eines Rezipienten äußert sich mitunter in einer „absichtliche[n] Lächerlichkeit des Ausdrucks“, die dann, wenn das zunächst lächerlich Erscheinende aufgeklärt ist, „von der unfreiwilligen [Lächerlichkeit] verdunkelt“ wird 78 . Zur Gebrechlichkeit und Gegensätzlichkeit des Homo terrenus gehören mit dem Bruchstückhaften allen Wissens und Erkennens auch das damit verflochtene Kuriose; ohnehin muss der Mensch kapitulieren vor der Überfülle 79 der 76 Goethe siegelte zeichenhaft sein Hauptgeschäft ein; der „Weisheit der Goetheforschung“, „Germanistenmär“ u. ä. konnte er nicht entgehen; W. Rothe Goethe, der Pazifist. Göttingen 1998. S. 40; S. 134. 77 H. H. Holz Leibniz. Stuttgart 1958. S. 7f. 78 W. H. Friedrich Vorbild und Neugestaltung. Göttingen 1967. S. 7. 79 Überfülle kennzeichnet die Natur, die Geistes-, Kunst- und Kulturgeschichte; die Fülle ausgedruckter und die Überfülle angekündigter Kant-Indices ist etwas Eigenes - Stark nennt einen auf 35 Bde. konzipierten Kant-Index (Stark in: Immanuel Kant und die Berliner Aufklärung S. 222 Anm. 17): Das ist, anders als Immanuel Bekkers Aristoteles- Index, philosophiefern, es deutet Ursachen für Kuriosa und Skandale an: „Was Mittel <?page no="27"?> 19 Wirklichkeit und der zu erforschenden, teilweise gegensätzlichen und widersprüchlichen Werke der Philosophiegeschichte, deren Kuriosa und „Legenden, von denen die Geschichtsschreibung [...] voll ist“ 80 , weiterhin mehr oder minder wirksam bleiben werden. 81 Dies alles, das Kuriose wie das Kritische, das Fragmentarische wie das darüber hinaus weisende Faustische, das Erwähnte wie das Folgende, sei möglichst philo-sophisch im Wortsinne, freundlich, gütig und gelassen, wahrgenommen und eingeordnet, wie es der Liebe zur Weisheit entspricht, um die sich der Mensch - angesichts der Drangsale und des Unbestandes der Welt (Erdb. 1; 460f.) - folgerichtig zu bemühen hat, allen Irrtümern, Wissens- und Erkenntnisgrenzen, Heuchlern und Hassenden entgegen, der abendländischen Tradition sowie der höchsten Stufe der Philosophie gemäß. Ebenso wie Wissenslücken sowie kultur- und kontextbedingten Erkenntnisprobleme können auch Kuriosa, Legenden, Skandale, Ironien, Unzeitgemäßheiten, Gegensätzlich- und Widersprüchlichkeiten die Geschichte beeinflussen und sei es dadurch, dass sie, von ihren Urhebern gelöst und sich verselbständigend, dazu beitragen, die zunächst ohnehin nicht sehr klare Sicht der Mit- und Nachwelt zu trüben, zu verwirren oder zu polarisieren. So lässt sich Hübners Kuriosum besser begreifen, wenn es in seiner Komplexität, in seinen Voraussetzungen und Verflechtungen, mit einigen seiner allgemeinen und besonderen Gegebenheiten gesehen wird; denn seine Kontinuität kann ebenso auffallen wie seine unaufgeklärte Komplexität; das Kuriose hat eine Kehrseite, die nicht einfach übergangen werden sollte. So sei einiges zu verschiedenen, herkömmlicherweise wenig oder gar nicht beachteten Gegebenheiten, Geschehnissen und Gegensätzlichkeiten dieses kleinen, kuriosen, aber auch kontroversen Kant-Komplexes - darunter weitere Kuriosa, Skandale und Ironien - einleitend und erläuternd dieser Arbeit vorausgeschickt oder eingefügt, zumal damit zugleich das Verständnis des Op, seiner Geschichte und Rezeption vorbereitet und erleichtert werden kann, auch dadurch, dass die gegensätzliche Sicht des Op inzwischen deutlicher zu begreifen ist als winziger Teil eines großen, geistigen Kampfes, in dem der ganze Kant ebenso eine Rolle spielt wie Platon, Aristoteles, Augustinus, Thomas von Aquin, Nikolaus von Kues, Pascal, Hamann und Goethe, weil er auf eine störende Weise aktuell ist und sich wie alle Großen nur gewaltsam modernisieren lässt - was ständig neu versucht wird. Nicht nur begrenztes Wissen und Kurioses, auch das gewöhnliche, alltägliche Verhalten des Homo sapiens kann dazu anregen, über seine Eigenheiten sein sollte, wird zum Zweck; das Werkzeug behauptet, das Werk zu sein.“ E. Staiger in: Ernst Beutler. Hg. v. Artemis Vlg. Zürich u. Stuttgart 1962. S. 23. 80 Ebbinghaus S. 293. 81 Vgl. das Dunkel, das die Spätwerke Platons, Kants, Goethes, Schellings und Wittgensteins umgeben hat sowie das Unrecht an Baader, von dem schon J. E. Erdmann in seinem Grundriss schreibt; s. P. Koslowski in: Die Philosophie, Theologie und Gnosis Franz von Baaders. Hg. v. P. Koslowski. Wien 1993. S. 9. <?page no="28"?> 20 und Schwächen nachzudenken, um das dem in einem Narrenspital (R 488) vergleichbare Geschehen im Theatrum mundi ertragen zu können, wie eine Stammbucheintragung Kants andeutet, mit der er Terenz zitierte: „Homo sum, nihil humani me alienum puto.“ (25. 8. 1767; 12; 415; vgl. 13; 581.) Aus diesen noch immer bekannten Worten ergibt sich ein Verständnis nicht zuletzt für Torheiten; im Lichte dieser freundlichen Betrachtung wird sich manches relativieren, das anfangs vielleicht mit einiger Verwunderung zur Kenntnis genommen wurde; obwohl Hübners Kuriosum im Allgemeinen durchaus nicht nur lächelnd oder gar lachend betrachtet werden kann, hat es naturgemäß eine nicht ganz ernst zu nehmende Seite: Eine Tatsache, die im Großen und Ganzen für jedes Kuriosum gelten wird, weil es mit den Schwächen des Menschen derart verflochten ist, dass mitunter jeder, ob unbewusst oder bewusst, Kurioses gestaltend, sich kurios verhaltend, kurz, selbst Anlass zu Kuriosem geben wird. Kant hat diese Seite des Menschen gelegentlich - geistesüberlegen und ganz ohne Groll - gelassen, sogar heiter nehmen können: Betrachten wir den Menschen nur auf dieser Welt, so ist er ein Objekt zum Lachen (R 1486), weil ein jeder Mensch seine Dosis Torheit besitzt (App. zu R 488, Z. 15): Wir sind vollgepfropft von Torheit (R 1421) und zwar derart, dass Kant, angesichts zunehmender Selbstzerstörungstendenzen verständlicherweise, fragt, ob nicht alle Menschen in gewisser Weise gestört sind (R 488) und schließlich, verharmlosend, aber vielleicht ein wenig lächelnd und auf dem Weg zur Weisheit, meinte, die Welt sei das Narrenspital des Universi (ebd.; vgl. R 1486). Diese Reflexionen zeigen nicht den bekannten, pedantischen, strengen Professor, sondern einen zumindest zuweilen ein wenig lächelnden Philosophen; sie betreffen zwar keineswegs Unbekanntes, aber gesellschaftlich gesehen Randerscheinungen, derartige Eigenheiten des Homo sapiens werden kaum beachtet. Hübners eingangs zitierter Satz kann den irrigen Eindruck erwecken, die Rezeptionsgeschichte des Op sei ein Sonder- oder gar Unglücksfall. Dem ist nicht so, im Gegenteil; aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. (Idee 8; 23.) Das gilt grundsätzlich, nicht nur theoretisch oder ausnahmsweise, und musste sich auch auf das Hauptwerk auswirken: Kurioses gehört in den vielfältigsten, unzähligen Variationen, vom Grotesken bis zum Absurden, zum Alltag, zum Üblichen und fällt deshalb oft kaum oder gar nicht auf oder wird als solches gewertet - weder Kant-Klischees noch irgendein Kuriosum können konkurrieren mit grenzenloser, hochmütiger Toleranz (Aufkl. 8; 40) - de facto der oft beklagten Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit -, wobei wie üblich eine Ausnahme die Regel bestätigt: „So weit, so absurd.“ 82 Auch Kants Liebe, die Metaphysik, ist, unabhängig vom Op, aber dessen Geschichte beeinflussend, kurios rezipiert worden; denn wenn ein Philosoph am Beginn seiner Laufbahn bekennt, das Schicksal zu haben, in die 82 H. Liebs Da steht ein Pferd auf dem Flur… In: Süddt. Ztg. 3.11.2006. S. 14. <?page no="29"?> 21 Metaphysik verliebt zu sein (Tr. 2; 367), in seinem berühmtesten Buch schreibt, sie sei die Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft, die unentbehrlich ist (A 850f.), sie eine Naturanlage nennt (B 21f.), ohne die es gar keine Philosophie geben könnte (St. 7; 114), wenn also Kant, in dessen Werk-Titeln siebenmal die Wörter Metaphysik oder metaphysisch vorkommen, anlässlich seines 200. Geburtstages als Metaphysiker gleichsam entdeckt werden musste, ohne dass dies für die Metaphysik-Verneinung oder für das, dieser Liebe Rechnung tragenden Nachlasswerk größere Folgen hatte, so ist das, ungeachtet eines nicht unproblematischen Sachverhaltes und der die Regel bestätigenden Ausnahmen, ein Kuriosum eigener Art, das, wie viele Kuriosa, Hübners Kuriosum ergänzt, erläutert und sich zudem weiterhin, in einer nach wie vor metaphysikfeindlichen Zeit, auf das Op auswirkt. Ähnlich Kurioses wie von der Metaphysik-Rezeption und -Verneinung lässt sich auch von anderen Thesen und Argumenten Kants sagen sowie allgemein von der Rezeption seiner Geschichts- und Rechtsphilosophie, seiner Politik-Theorie, der MS im Ganzen sowie von seinen naturwissenschaftlichen, naturphilosophischen und mathematischen Schriften bzw. Gedanken, deren Bedeutung für seine Philosophie und die Naturwissenschaften nur selten gewürdigt wird. Während das Desinteresse an der Metaphysik und damit am Metaphysiker Kant sowie am metaphysischen Teil des Op mitbedingt war und ist durch die Erfolge in den Naturwissenschaften, in der Medizin, Biologie und Technik, beruhen die paradox - oder kurios - erscheinende Vernachlässigung sowie die unzulängliche Rezeption der naturwissenschaftlichen und -philosophischen Leistungen Kants auf mehreren Entwicklungen, auf der mit der Wissensexplosion gegebenen Spezialisierung sowie dem damit verbundenen eindimensionalen Denken: Die Grundlagen der Wissenschaften, ihre Voraussetzungen geraten, ebenso wie das Ganze, immer mehr aus dem Blick und werden Spezialisten überlassen; die rezeptive Beachtung der Verflechtung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und ihrer Folgen wird zunehmend zu einem, inzwischen gut zu vermarktenden Sonderfall, den trennenden, isolierenden Zeitgeist kaum störend: Die von Kant beabsichtigte Synthese und Summe, sein Menschenbild und Wissenschaftsverständnis entsprechen immer weniger den Denk- und Arbeitsgewohnheiten moderner Akademiker, gerieten also schon vor ihrer Entdeckung ins Abseits. Das alles ist menschlich-allzumenschlich, wäre Kant nicht fremd gewesen und von ihm, wenn überhaupt, allenfalls ironisch kommentiert worden. Doch ist damit ein grundsätzliches Problem angesprochen, für das er auf Platon verwies (KU 5; 363) und das durch die sich auseinander entwickelnden (Natur- und Geistes)Wissenschaften wichtiger geworden ist: Nur eine ganzheitliche Rezeption und Interpretation des geistigen und materiellen Kosmos ermöglichen ein angemessenes Verständnis nicht nur der Wissenschaften, die in den Händen von Toren lebensfeindlich werden können, <?page no="30"?> 22 sondern auch der Narren und ihrer Narrheiten. So ist Kenntnis der Messkunst (vgl. KU ebd.; 22; 486) eine Bedingung, die Arbeiten des Universalgelehrten Kant im Ganzen - einschließlich des Op - zu verstehen; die - apokryphe - Eintrittsbedingung für Platons Akademie gilt implizit auch für Kants Lebenswerk, das annähernd vollständig zu überblicken, zu rezipieren und zu interpretieren anders kaum möglich sein dürfte; Weite und Tiefe seiner Gedanken erschweren eine Durchsicht und Rezeption, wie sie für das Verständnis einer Zusammenfassung seiner ganzen theoretischen und praktischen Weltanschauung erforderlich ist, als die das zweite Werk des Op geplant war. 83 Damit gehört zu den Voraussetzungen, es im Kontext des kantschen Gesamtwerkes zu untersuchen, auch ein fast kurios zu nennender Mut zur Lücke; ohnehin ist jeder „der Lächerlichkeit“ preisgegeben, „der es wagt, sich Kantexperte zu nennen“ 84 . Für die genannten Kuriosa und Besonderheiten der Rezeption gibt es viele Ursachen: Den subjektiven Schwierigkeiten, die Kuno Fischer, Hans Vaihinger und andere Kantforscher hatten, das Op unbefangen zu lesen und es arbeitshypothetisch ernst zu nehmen, stehen nicht nur die positivistischen, pluralistischen Trends der Moderne, sondern auch objektive Probleme gegenüber, die nicht in der Natur der Rezipierenden oder im Zeitgeist, sondern in der Sache begründet sind: Einerseits konnte und kann der teilweise chaotische Zustand des Op das Urteil provozieren, es sei nicht wert, ernst genommen und veröffentlicht zu werden; andererseits ist der auch nicht jedem genehme Anspruch Kants zu sehen, ein Chef d’oeuvre unter der Feder zu haben, was heißt, sich den höchsten Fragen der Vernunft (vgl. 22; 759f.) auszusetzen, deren Konkretion kontrovers und kontraproduktiv sein muss in einem Narrenspital, dessen Gott Geld ist, nicht Geist: Hübners Kuriosum ist komplex, das rezipierende Subjekt - ob vollgestopft von Torheit oder nicht - sieht sich einem Objekt gegenüber, das zu erschließen vielfältige, äußere und innere, textliche und thematische Mühen bereitet. Das Kuriose hat oft auch ernst zu nehmende Gründe, aus denen aber meist mehr oder minder subjektiv, kurzschlüssig und kurios gefolgert wird, was zwar durchaus objektive Zusammenhänge haben kann, jedoch häufig nicht so weitreichende, wie es vielleicht gewünscht wird und scheinen mag oder soll; denn das Schwierige, das kurios Erscheinende ist oft nur Anlass oder Vorwand, dem subjektiv oder objektiv Unbequemen, die Schwäche oder Torheit der Rezipierenden Betreffenden auszuweichen. Exemplarisch und abschließend seien die Grenzen einer Bewusstwerdung des eigenen Erkennens und Wissens gezeigt. In der Rechtslehre unterstellte Kant dem 1794, wenige Jahre zuvor, im Alter von sechsundfünfzig Jahren verstorbenen „Marchese Beccaria“, „aus teilnehmender Empfindelei einer affektierten Humanität [...] seine Behauptung der Unrechtmäßigkeit aller Todesstrafe aufgestellt“ zu haben: Alles Sophisterei und 83 Vaihinger in Archiv f. Gesch. d. Philos. (1891)734. 84 Gerhardt/ Kaulbach S. 1. <?page no="31"?> 23 Rechtsverdrehung. (6; 334f.) Kants Anspruch, die objektiven und subjektiven Gründe des Juristen und Kriminalpolitikers beurteilen zu können, widersprach den Zeichen der Zeit, seiner eigenen Philosophie, der Würde des Menschen, dem Sinn des Strafens sowie der stets gegebenen und zu bedenkenden Möglichkeit eines Irrtums (vgl. Rel. 6; 187); Friedrich der Große hatte eine Humanisierung des Strafvollzugs veranlasst, wie sie grundsätzlich von Thomasius, Montesquieu und Voltaire gefordert worden war; Maria Theresia war ihm darin gefolgt. Ähnlich selbstwidersprüchlich schrieb Kant mitunter über Frauen und Juden; vergleichbare Härten finden sich allenfalls in seinen Briefen an Reinhold, die Streitschriften des Hallenser Philosophieprofessors Johann August Eberhard betreffend (11; 33-48). Kants Polemik zeigt, wie schwierig es ist, Anderen und sich selbst gegenüber kritisch zu sein; da er Gott, Welt und Mensch in Theorien und Taten nur verflochten mit Irrtum und Zweifel (an Euler; 23. 8. 1749) 85 , mit mancherlei Umkippungen (an Lambert; 31. 12. 1765), erfassen konnte, nur fragmentarisch, in den Grenzen seiner spannungsreichen und widersprüchlichen Natur, kann die Rezeption seiner Philosophie und seiner so verschiedenen Leistungen nicht leicht sein, was seinen Freunden einige Mühe bereiten, seinen Feinden ihren Kampf erleichtern und zugleich dem Kuriosen vielfach den Boden bereiten musste. Es mag die Bereitschaft fördern, sich möglichst unbefangen auf ungewohnte Gedanken Kants einzulassen, dass z. B. Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie an Kants Werken kritisierte die ganz roh empirische Art des Vorstellens und die gänzliche Unwissenschaftlichkeit der Form, eine philisterhafte Vorstellung, Seichtigkeit und Mattheit. Das muss weder interpretiert noch kommentiert werden und zeigt, dass Verständnisschwierigkeiten vielfältige subjektive und objektive Zusammenhänge und Gründe haben können - für Kant waren manche Argumente Hamanns und Herders, obwohl er beide aus Gesprächen, Briefen und Veröffentlichungen verhältnismäßig gut kannte bzw. kennen konnte, mehr oder minder unverständlich, es gelang ihm erst spät und lückenhaft, ihre Ansätze und Auffassungen so ernst zu nehmen, wie es für eine Auseinandersetzung erforderlich gewesen wäre. Kant war trotz allem ein Erkenntnis- und Wissenschaftstheoretiker par excellence, der relativ rasch einige Schwächen und Lücken in seinem System bemerkte und deshalb, nicht zuletzt angestachelt durch die Verständnislosigkeit und die Einwände mancher Zeit- und Zunftgenossen, an seinem philosophischen Gebäude weiterarbeitete. Die Unstimmigkeiten, Spannungen und Widersprüche in seinen Werken sind Gründe genug für Missverständnisse und Kuriosa, doch beweist „seine gesamte philosophische Entwicklung, dass er sein Denken nie als fertige Lehre, sondern immer als einen ständigen Prozess neuer Einsichten und neuer Fragen“ verstand 86 . 85 Nicht in Ak.; zit. nach: Kant Briefe S. 13. 86 Höffe Kant S. 41f. <?page no="32"?> 24 Zur Forschung gehört neben dem Stückwerk-Charakter des Wissens nicht zuletzt dieses Andere, ab und an auch Abwegige der Vernunft: Das mehr oder minder individuell und kontextbedingte Kuriose in den verschiedensten Graden, selten ernst genommen, mit Erfolg fortgesetzt, sodass Hübners Kuriosum im „unbestimmte[n] Reich der Kuriositäten“ 87 , auf dieser Schaubühne der Eitelkeit, nicht mehr als eine Quantité négligeable sein kann; über dieses vereinfachend so genannte Kuriosum hinaus ist zu konstatieren, dass „einer der meistgelesenen und -berufenen Philosophen [sc. Kant] zugleich auch einer ist, dessen Werk kaum wirklich in seiner Fülle erforscht ist,“ - dies „gehört zu den Ironien der Philosophiegeschichte, wie sie so viele bereit hält“ 88 , und zu denen die Nichtbeachtung des Op ebenfalls zu zählen ist. Daraus folgt, dass, da Kants Hauptsachen den Gott dieser Welt stören, seine Fehler des Öfteren nicht als Neben-, sondern als Hauptsachen traktiert werden, da es selten um das gemeine Beste geht, sondern meist, wenn auch geheim und verschleiert (MS 6; 458), um Geld und Gut, um Eigenliebe, die, als Prinzip aller unserer Maximen angenommen, gerade die Quelle alles Bösen ist (Rel. 6; 45), weshalb Kant vereinfacht, verkürzt, verdunkelt, verdreht oder „vergessen“ wird, sei es „als pathetisch inszenierter Abschied von der Vernunft“, sei es mit dem „Prinzip der Böswilligkeit (principle of malevolence)“oder um den „Text […] zu eitlem Besserwissen zu missbrauchen“ 89 , sei es, um sich von Kant bestätigen zu lassen - die Aufklärung des kleinen Kant-Kuriosums kann ein Licht werfen auf das Störende, Beispielhafte und Lehrreiche des Denkweges und Lebenswerkes eines einsamen Philosophen im großen Kampf zwischen Glauben und Unglauben, auf seine Fragen und Antworten… 87 C. G. Jung an E. Böhler; 1.1.1960. In: C. G. Jung und Eugen Böhler. Zürich 1996. S. 105. 88 Goetschel S. 13. 89 Höffe Kritik S. 11f. <?page no="33"?> 25 2. 2. Das allerliebste Selbst und der Gott dieser Welt Kant hatte den Homo peccator in Königsberg und in der Provinz erlebt; seine unfreiwilligen anthropologischen, pädagogischen, psychologischen Praktika waren eine harte Schule, in der es an Eigenliebe, Eitelkeit, Schikanen, Schlingen, Neid, Groll und Hass nicht mangeln konnte - im Theatrum mundi wurden weder nur literarische Topoi noch bloße Theorien vorgeführt, es wurde zur bitteren Erfahrung der gesellschaftlichen Wirklichkeit: Kriege im Großen und Kleinen, Gewalt, Grausamkeit, Heuchelei und Lügen umgaben und betrafen Kant mehr oder minder jederzeit: Die Grenzen des Wissens und des Menschen, seine Torheit sind selten ernst genommene Trivialitäten, der Gott dieser Welt, das Böse selten ernst genommene Tatsachen - Machiavelli ist vielfach bestätigt, aber nicht modern: Die Menschen sind undankbar, wankelmütig, heuchlerisch, voll Angst vor Gefahr, voll Gier nach Gewinn - es ist bitter, dem bösen Willen der Menschen ausgesetzt zu sein, „Legalität aus Egoismus“ 90 und niederträchtige Wesen, die sich fest an die Eitelkeit heften, zu erleben, wie Kant im Beschluss der Friedrich dem Großen gewidmeten Theorie des Himmels klagte: Elende Geschöpfe hatten ihn bedrängt (Nat. 1; 367f.), sodass er bereits in seiner ersten Arbeit Eigenliebe und Eitelkeit nannte, die den Blick des Homo sociologicus auf die Wirklichkeit verzerren und trüben können - Kant hatte es erlebt und erlitten und nicht nur literarische Topoi des Barock, der Renaissance und der Antike zitiert: Im physikalischen Kontext der Lebendigen Kräfte wesentliche, weit verbreitete, vielfach zu Neid und Hass führende psychische Kräfte bezeichnend, gab er zu Beginn seiner Laufbahn eine erste, auszuführende Summe - weniger eine theoretische seiner Studien oder seines alles Lesen und Lernen begleitenden Meditierens (Lo. 9; 150) als eine pragmatische Summula seiner Erfahrung; er konnte sich bestätigt sehen von der Gesellschaftskritik pietistischer Kreise, 91 in die sich seine Angriffe einfügen lassen, und den Stürmern und Drängern, was ihn vielleicht ermutigte, seinerseits kein Blatt vor den Mund zu nehmen, er war aber allein. Die elenden Geschöpfe, die sich anders zeigen, als sie sind, werden sich von ihm nicht über sich selbst haben aufklären lassen, sondern, sich weiterhin fest an die Eitelkeit heftend, mit Ränken und falschen Kunstgriffen, in der bürgerlichen Gesellschaft gewöhnliche Maximen (Kr. 2; 261), geantwortet haben, wie er ihnen bescheinigte, seine Erfahrung in einem populärwissenschaftlichen Artikel, nicht ganz zum Thema passend, zusammenfassend: 90 Saner S. 53. 91 „Es ist […] Kennzeichen der pietistischen Frömmigkeit, dass sie Leben und Sitte der bürgerlichen Gesellschaft angreift und auf deren Neugestaltung, die der inneren Erneuerung zu entsprechen hat, hindrängt. […] Immer schließt die pietistische Frömmigkeit eine Kritik an dem nur äußerlichen Scheinwesen der Gesellschaft ein.“ P. Meinhold Goethe zur Geschichte des Christentums. Freiburg/ München 1958. S. 12. <?page no="34"?> 26 Der „künstliche Zwang und die Üppigkeit der bürgerlichen Verfassung […] gebiert den […] sittsamen Schein, bei dem man sowohl des Verstandes als der Rechtschaffenheit entbehren kann, wenn nur der schöne Schleier dicht genug gewebt ist […]. […] Vernunft und Tugend [werden] das allgemeine Losungswort, doch so, dass der Eifer, von beiden zu sprechen, wohl unterwiesene und artige Personen überheben kann, sich mit ihrem Besitze zu belästigen.“ Es kann „entbehrt werden […] die Redlichkeit, die in solchem Verhältnisse nur hinderlich ist. Ich lebe unter weisen und wohlgesitteten Bürgern, nämlich unter denen, die sich darauf verstehen, so zu scheinen“ (Kr. 2; 259). Als ob der vierzigjährige Privatdozent um jeden Preis das Maß übererfüllen wollte, sich im Kreise der weisen Bürger gänzlich unbeliebt zu machen, gab er noch eine Lagebeurteilung, deren persönlicher Charakter und Erfahrungshintergrund nicht zu übersehen sind, obwohl er nicht mehr ungeniert Ich lebe unter… geschrieben hat: Es sei kein Wunder, wenn ein sonst verständiger und redlicher Mann allerwärts in Schlingen geraten müsse (Kr. 2; 261). Das musste sich in der Königsberger Zeitung, die von dem, wie Kant dem Kleinbürgertum entstammenden, krassen Außenseiter Hamann herausgegeben wurde, als Provokation, als Kriegserklärung an die bürgerliche Gesellschaft lesen, als Bekenntnis eines Homo novus, der, als verständiger und redlicher Mann, wie er sich bescheinigte, den elenden Geschöpfen, unter denen er lebte, mit einer Schilderung ihrer Verhältnisse, in denen man sowohl des Verstandes als der Rechtschaffenheit entbehren kann, einmal unverblümt ins Gesicht sagte, wie er sie als kaltblütiger Beobachter (G 4; 407) erlebte und dass er ihre allerwärts ausgelegten Schlingen kannte; er blieb jedoch diesen Verhältnissen ausgesetzt, auch wenn er sich von dieser Gesellschaft, in der der gründlichen Philosophen täglich mehr werden, bereits verabschiedet hatte bzw. nun verabschieden musste - er hat es „sorgsam vermieden“, „einem Fachkollegen auch nur zu begegnen“ 92 , - und umgekehrt; die Professoren Karl Ludwig Pörschke und Christian Jakob Kraus bestätigen dies als Ausnahmen, da sie Kants Schüler waren; Hasse galt als „Ausländer“ 93 . Kants anonyme, ihn kaum verbergende Kritik musste Groll bewirken, vor allem bei den genauer gezeichneten artigen Personen, jenen unverbesserlichen Hinze’s, dem altbekannten Typus des Tartuffe, des sich fest an die Eitelkeit heftenden niederträchtigen Wesens, das keinerlei Ironie oder Kritik ertragen, vergeben oder vergessen kann, sondern auf solche unverschämten, unverzeihlichen Beleidigungen mit lebenslangem, geheimem und verschleiertem Hass antwortet, wie Kant den Groll der narzisstisch Gekränkten charakterisierte; immerhin hatte er, um nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, auf das Reizwort Eitelkeit verzichtet; außerdem gibt es von denen, „die ihr allerliebstes Selbst als den einzigen Beziehungspunkt ihrer Bemühungen starr vor Augen haben, und die um den Eigennutz als um die große Achse 92 Gerhardt/ Horstmann in: Akt. d. IX. Intern. Kant-Kongr. 1. Bd. S. 4. 93 Vorländer Kant-Biographien S. 30. <?page no="35"?> 27 alles zu drehen suchen, […] die meisten“ (Beob. 2; 227). Als Ordinarius hatte Kant gehofft, eigenen Groll mäßigend oder übergehend, seine Gedanken, seine Zweifel öffentlich zur Beurteilung vorlegen zu können, ohne darüber für einen unruhigen und gefährlichen Bürger verschrieen zu werden (A 752), aber betont: Es ist notwendig, dass unser ganzer Lebenswandel sittlichen Maximen untergeordnet werde (A 812); auch seinen Ausblick hatte er mit einem Hinweis auf den guten Lebenswandel geendet (A 853). Das klang gewiss harmlos-allgemein und konnte übergangen werden, wurde aber in Kants weiteren Werken derart erläutert, dass er nach dem Tode Friedrichs des Großen doch als gefährlicher Bürger verschrieen wurde - von höchster Stelle; denn er konnte nicht nur in seiner Heimatstadt, sondern allen Interessierten bzw. von ihm Kritisierten als Revolutionär mit Klagen über die Gewalttätigkeit, welche Bürger von Bürgern zu besorgen haben (B XXV; vgl. Fr. 8; 355), über Heuchelei, Hochmut und Hass, Neid und Niedertracht bekannt sein. In der KU bezeichnete er den Menschen als ein verabscheuungswürdiges Objekt, wenn man ihn nach seinem Innern betrachtet (5; 443): Betrug, Gewalttätigkeit und Neid werden immer um ihn im Schwange gehen (5; 452) - Kant hatte erlebt, dass alle Appelle an Vernunft und Menschlichkeit bei gestörten Bürgern, bei ihrer guten Meinung von sich selber (Fr. 8; 367 Anm.) vergeblich sind - er hat hartnäckige Therapieresistenz noch in seinen letzten Notizen zwar unwissenschaftlich, aber anschaulich in das damals gebräuchliche Bild des tierisch verkrüppelten Menschen gefasst. Gleichwohl war sein bitteres, ungleichgewichtiges, fast beleidigendes Urteil über den Menschen und dessen Inneres allzu streng und einseitig: Kant musste damit, als unversöhnt Grollender, die Zahl seiner Feinde vergrößern, zumal er in der KU nicht nur die Stimmung einiger trüber Tage im Leben eines alten Mannes wiedergegeben hatte (Anf. 8; 122), sondern offenbar beanspruchte, Ergebnisse mitzuteilen, die er in seinem Friedensentwurf, vielleicht auf Grund von Kritik, abgeschwächt wiederholte, auf das NT anspielend: „Da ein jeder […] böse Gesinnung bei allen anderen voraussetzt, so sprechen sie einander wechselseitig ihr Urteil: dass sie alle, was das Faktum betrifft, wenig taugen“ (8; 376 Anm.; vgl. Röm 3, 10-18). Abgesehen von der Anfechtbarkeit einer Aussage, die in dieser Allgemeinheit allenfalls einem pietistischen Prediger anstehen mochte, war das kein Kompliment an seine Zeitgenossen und Königsberger Mitbürger, konnte aber, als ersichtlich subjektiv und übertrieben, wie üblich ignoriert oder toleriert werden. Störender musste der Hinweis darauf sein, dass es „im Ausgange [des Lebens; Rh.] nimmermehr einerlei sein könne, ob ein Mensch sich redlich oder falsch [...] verhalten habe, wenn er gleich bis an sein Lebensende, wenigstens sichtbarlich, für seine Tugenden kein Glück, oder für seine Verbrechen keine Strafe angetroffen habe.“ (KU 5; 458.) Das erinnert an eine zwar auch phaenomenal, etwa psychosomatisch-sichtbarlich erfahrbare, aber allgemein verdrängte Wirklichkeit, klingt wie eine <?page no="36"?> 28 Ermahnung und kann, zumal in unruhigen Zeiten, als ruhestörend und schädlich eingestuft werden; vor allem trifft es, ob eingestanden oder nicht, den wunden Punkt derer, die sich an das Sichtbarliche klammern, die von Eigenliebe und Eitelkeit beherrscht werden, deren Groll so nicht zu mindern ist und deren Geld und Gut Macht bedeuten - hinter Freiheit verbirgt „sich nur allzu oft der krasseste Egoismus“ 94 . Angesichts dieser Wahrheiten, in einer Zeit revolutionärer Unruhen wurde Kant häufig nicht als subtiler Theoretiker der Vernunft gewürdigt, sondern als störender Aufklärer gesehen und schließlich obrigkeitlich gerügt. Es war normal, dass es ihm nach seinen Anklagen nicht gelang, den unter dem Schleier glaubhaft klingender Gründe ausgelegten Schlingen zu entgehen, wie deren Folgen, seine Bitterkeit und weiteren Angriffe zeigen. Der Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit, gegen den weltlichen Gott, muss mit Groll und Gegenwind 95 verbunden sein, es gilt Rankes alter Widerstreit, der Kampf sittlicher Mächte gegen die momentan herrschende Gewalt: Ein kritisches Werk mit sehr wichtigen Gegenständen, postume Aufzeichnungen eines kämpferischen Philosophen stören: „Man […] ediert, was bestimmten Interessen“ entgegenkommt 96 , wie man meist auch nur derartiges liest und fördert: Von Anfang an hatte das Op, ohnehin eine nachgeordnete Größe, keine gute Aufnahme und große Zukunft zu erwarten - falls es nicht, allen gegenteiligen Beteuerungen des Homo oeconomicus 97 zum Trotz, überhaupt unwillkommen sein sollte -, andernfalls wäre Hasse nach dem Hauptwerk zu fragen gewesen, das kaum jemand ernst nehmen will 98 : Hübners Kuriosum lässt bereits auf den ersten Blick eine klärungsbedürftige Kehrseite erkennen, die komplexer und kontroverser ist, als bei einem lange als wertlos angesehenen Handschriften-Sammelsurium zu vermuten ist. Wer es der Prüfung wert findet, dem Verfasser oder dem gemeinen Besten hilfreiche Hand zu bieten und die Fehler als Nebensachen zu traktieren, wird angesichts der Schwächen des Menschen sowie der Überfülle des Kuriosen die Hauptsachen des Verfassers traktieren wollen. 94 K. Mommsen Goethe und unsere Zeit. Frankfurt/ M. 1999. S. 28. 95 Henrich Die Vernunft am Abgrund S. 41. 96 Mittelalter. Hg. v. K. Flasch. Stuttgart 1982. S. 47. 97 „Ein jeder Mensch hat seinen Preis“ (Rel. 6; 38). - Vgl. den „Zuschlag [deal]“ für 500 000 US-Dollar; in: Wirtschaft und Ethik. Hg. v. K. Lenk u. M. Maring. Stuttgart 1992. S. 25 Anm. 2. - Vgl. die Rezeption des Kulturschocks, den der Zusammenbruch eines Energiekonzerns als „Symbol für die hässliche Rückseite eines Wirtschaftssystems“ bedeutet: K.-H. Büschemann Kulturschock Enron. Süddt. Ztg. 19./ 20.1.2002. S. 21. 98 Reinhard Brandt nennt in seinem Spiegel-Interview Beim Denken beobachtet kein zweites, philosophisches Werk im Op, obwohl, genau beobachtet, nicht zu übersehen ist, dass Kant geordnet, auf eine Hierarchie der Zwecke gerichtet, dachte: Brandt hat weder Kants Liebe noch seinen Idealismus beachtet. In: Der Spiegel S. 171. <?page no="37"?> 29 3. Der gefährliche Bürger und große Revolutionär Geistesüberlegenheit, Groll und Gegenwind Ich denke nicht, was die Welt gerne hätte, dass ich es dächte (Kf. 1; 12). Der Besitz der Gewalt verdirbt das freie Urteil der Vernunft (Fr. 8; 369). Wo es um Wahrheit zu tun ist, muss es eine Oppositionspartei geben (St. 7; 35). Friedrich Theodor Rink, Pastor in Danzig und Herausgeber der Entwürfe der Preisschrift, schrieb in seiner im Todesjahre Kants datierten Vorbemerkung vom Groll, den Kants Geistesüberlegenheit hie oder da unschuldiger Weise veranlasste (20; 258) und nannte damit ein kaum beachtetes, für Hübners Kuriosum aufschlussreiches Faktum; der ehemalige Königsberger Extraordinarius meinte weder eine sachliche Kritik an Kants Philosophie noch eine andere Weltsicht, sondern Neid 99 , eine fast tabuisierte, häufige Charakterschwäche, die mit Hass und Niederträchtigkeit, mit Lastern verbunden ist, die einer abscheulichen Familie angehören (MS 6; 458). Seinerzeit wird der Groll bekannt gewesen sein, weil Kant ihn in Leben und Werk provoziert hatte, da er sich offenbar nicht mit seiner Überlegenheit zurückhalten und das Getriebe seiner Gegner gelassen hinnehmen konnte, wie es seiner Liebe entsprochen hätte: Er hat auf seine von Natur aus mehr oder minder widersprüchlichen Mitmenschen zunächst in der Art Heranwachsender, sodann als ein menschlich vielfach Verletzter nicht nur mit Anpassung, sondern auch mit Widerstand und Gegenreaktionen geantwortet, also oft keineswegs mit der in seiner Lage gebotenen Klugheit als der Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten Wohlsein (G 4; 416). Die Spuren dieser Wechselwirkungsprozesse mögen in seinem Leben und Werk zwar vergleichsweise gering sein, doch gilt: Kants „Philosophie ist im Ganzen von Anfang an auch politische Philosophie“ 100 - Groll gehört dazu. In der Auseinandersetzung eines jungen Menschen mit den Konflikten des Homo politicus, mit den Wirren der Geschichte ist die Frage nach dem Homo sapiens sowohl die grundlegende als auch übergeordnete, als „Zentralidee der Aufklärung“ 101 damals aktuelle. Kampfspuren zeigen, dass der unpolemische Kant durchaus nicht um jeden Preis ein geruhsames Leben im Windschatten des in Europa tobenden, zeitlosen Kampfes zwischen 99 Auch Schiller klagte über den Geist des Neides; zit. nach C. J. Burckhardt in: Schiller. Reden… 1955. Hg. v. B. Zeller. Stuttgart 1955. S. 39. - Erst mit Galileis Tod hatte der Neid ein Ende. S. Drake Galilei. Freiburg u.a. o.J. S. 147. - Vgl. die Nebenbuhler Michelangelos bei Vasari sowie Mozarts Feinde und Verleumder am Wiener Hof; weitere Beispiele bei H Schoeck Der Neid und die Gesellschaft. Freiburg/ Br. 1971. 100 Saner S. 7. 101 F. Meinecke Die Entstehung des Historismus. München 1965. S. 41. <?page no="38"?> 30 Glauben und Unglauben führen wollte und geführt hat 102 , wie Dieter Henrich vermuten lässt, wenn er schreibt, „dass Kant keinem Gegenwind ausgesetzt war und dass er sich selbst mit den Tendenzen seines Zeitalters identifizieren konnte“ 103 . Kant wusste: „Die Persönlichkeit wird immer im Kampf stehen mit der Umwelt und Mehrheit“ 104 - allen bedeutenden Menschen ist ein Leben voller Stürme und Kämpfe beschieden, wie Victor Hugo in seiner Grabrede auf Balzac sagte, auch wenn dies, wie bei Kant und Goethe, nicht sofort erkennbar sein sollte; Kants, zu Zeiten ziemlich verzweifelte Klagen über Eigensucht und Eitelkeit, Ungerechtigkeit und Lüge bestätigen es, weil, wo es um Wahrheit zu tun ist, es auch eine Oppositionspartei geben muss - womit er nicht die gewöhnlichen Gräuel der Geschichte meinte, von denen er verschont war, sondern der Gegenwind der weisen Bürger - an seinen Kampf gegen Materialismus und Unglauben (B XXXIV) brauchte er nicht zu erinnern. Henrich verweist selbst auf einen, dem fehlenden Gegenwind widersprechenden Kontext, indem er mehrfach Schiller erwähnt, der, wie Kant und Goethe ein Repräsentant seiner Zeit, stärker als beide Sturm gesät und nicht nur geerntet hat. Henrichs Tendenz-These lässt sich, angesichts der Zerrissenheit dieser saturnischen Epoche 105 , die nicht nur Schiller als ungeheure Kulturkrise erschien, allenfalls mit Verweltlichungs-, Aufklärungs-, Empirismus- und Rationalismus-Tendenzen vertreten; doch kennzeichnet Kant, dass er sich von Anfang an nicht einer Tendenz oder Autorität zuordnen wollte und zuordnen ließ und in der KrV die so vehement propagierten, modernen Tendenzen, die allgemein schädlich werden können, widerlegte, womit er sich selbstverständlich und keineswegs unbewusst Gegenwind und Groll ausgesetzt hat; er hat für Menschenwürde und -rechte gekämpft 102 Borowski S. 84; Kant hatte Anfang April 1778 an M. Herz geschrieben, er habe für sich eine „friedliche […] Situation […] gewünscht und erhalten“; vgl. Saner S. 126f. 103 H. ebd.; H. mag den angedeuteten Gegenwind für unerheblich halten, trotz dessen Einfluss auf Kants Entwicklung und Werke; diese vereinfachende, harmonisierende, verbreitete und beliebte Sicht beruht wohl darauf, dass die menschenfreundlichen Tendenzen einer Zeit, wie sie sich in Reden, Artikeln, Büchern, Proklamationen und Kodifizierungen manifestieren, als repräsentativ für diese Zeit angesehen und die sich gleichzeitig, im grausamen Geschehen und Geschehen-Lassen des Grausamen, der Verelendung und Verwüstung zeigenden, de facto herrschenden Mächte unterbewertet werden. H. bezieht sich offenbar auf die Theorie einer Zeit, nicht auf deren Praxis: Die „Geschichte […] ernst nehmen, heißt nicht sie harmonisieren, sondern als Kampf der Geister sehen“. H. Sedlmayr Kunst und Wahrheit. Hamburg 1958. S. 86. - „Es ist hier, wie in allen Fragen, die die Natur des Menschen betreffen, zu unterscheiden zwischen dem offiziellen Bewusstsein und den tatsächlich das geistige Leben beherrschenden Mächten.“ E. Brunner Der Mensch im Widerspruch. 3. Aufl. Zürich 1941. S. 177 Anm. 1. - H.s theoretische Geschichts-Rezeption wird keineswegs von allen Kantforschern geteilt; Ebeling schrieb im Jahre 1990 von einem gegenwärtigen „Zeitalter inzwischen weitgehend ohne Recht und ohne Moral“; in: Kant Metaphysik der Sitten S. 29. - Vgl. Kodalle in: Vernunftfrieden. 104 R. Schneider Schwert und Friede. Frankfurt/ M. 1977. S. 353. 105 Rothe S. 45; s. Anm. 76. <?page no="39"?> 31 nicht nur auf Grund der Misstände und Tendenzen seiner Zeit, sondern auch auf Grund eines lebenslang erlittenen Grolles und Gegenwindes seitens seiner nicht nur hie oder da, sondern häufiger zu findenden, offenen und versteckten Gegner. Sein Kampf wurde ihm durch das politische Geschehen - die Russen in Königsberg, die Regierung Friedrichs des Großen, die Französische Revolution - sowie durch seinen wachsenden Ruhm zwar erleichtert oder auch ermöglicht, sodass er größerem Ungemach entgangen ist; der Groll seiner Gegner wird dadurch eher zugenommen haben. Rink hatte, zweifellos politisch-persönlich begründet, zurückhaltend darauf aufmerksam gemacht, dass es auf dieser Schaubühne der Eitelkeit nicht nur einen Kant in einem heimatlichen, sondern auch in einem heimlichen Gegenwind gab, eine vom Ruhm des Philosophen unangefochtene, gegensätzliche, alternative, pluralistische Sicht, die zu den Bedingungen des Kuriosums sowie zum allgemeinmenschlichen Hintergrund gehört, vor dem Kant und seine Philosophie, ihre kuriose Rezeption in Geschichte und Gegenwart zu sehen sind. Rinks Hinweis auf einen anderen, unbeliebten Kant sowie auf einen kontrastreichen Kontext, der vom Kuriosen bis zum Skandalösen vielerlei Möglichkeiten und Wirklichkeiten barg, wurde bisher kaum ernst genommen, obwohl Kants Gegner nicht vergessen sind, zumal ihr philosophischer Flügel vor allem durch Fichte, Schelling und Hegel einigen Auf- oder Rückenwind erhielt. Angesichts der Geschichte des Op sowie der egalisierenden Tendenz zur Isolierung, zur Trennung von Leben und Werk, der Person von ihrer Philosophie ist es angezeigt, etwas zu Kants Geistesüberlegenheit (Theor. 8; 291) zu sagen, die über das einem berühmten Philosophen zugebilligte Maß hinaus geht - Hamann bekannte Herder freimütig, wie geblendet vom Glanz des Metalls, „mein armer Kopf ist gegen Kantens ein zerbrochener Topf - Ton gegen Eisen“ - und dies, obwohl er kurz darauf seine überlegene, entschiedene und entscheidende Kritik an Kants Meisterstück, die Bedeutung der Sprache betreffend, anklingen ließ 106 : Der Groll einiger Zeitgenossen ist, was Kants Überlegenheit betrifft, ebenso verständlich wie die modernen Gleichstellungsversuche; denn sie kollidiert gewöhnlich mit Eigenliebe und Eitelkeit - Kant gab nicht zufällig das von Rink aufgegriffene Stichwort, das auf die Lage bei Kants Tod weist; dem gegenüber weisen die Lebendigen Kräfte, deren Widmung Kant auf seinen 23. Geburtstag datiert hat, auf den Ursprung und Anfang nicht nur seiner Philosophie, sondern auch des Grolles; schon die Kollision der von ihm überlegen verfochtenen Wahrheiten mit der üblichen Selbstliebe, einem kompensatorischen Hochmut und dem gewöhnlichem Neid reichte aus, Groll auszulösen - mit der geistigen Überlegenheit eines Untergeordneten, Rangniederen, Jüngeren sowie mit bitteren Wahrheiten einverstanden zu sein, setzt eine unbewusste oder bewusste 106 Hamann an Herder; 8. 12. 1783; 10. 5. 1781; - vgl. Hamann an Jacobi; 2. 11. 1783. - Vgl. Schmitt in: Dimensionen der Sprache. <?page no="40"?> 32 Bejahung der Ordnung voraus, die sich zwar überall, im Großen und Kleinen, im Makro- und Mikrokosmos zeigt, aber übergangen werden kann; eine freie Selbsteinordnung in die natürliche Hierarchie und Wertordnung des Menschlichen und Geistigen ist selten und auch Kant hatte damit Mühe. Wenn der Wille zur Bescheidung gering ist, kann bereits eine besondere Begabung unschuldigerweise Neid und Groll hervorrufen, die sich dadurch als Probleme der Grollenden erkennen lassen - es soll neben oder gar unter ihnen niemand mehr sein‚ als sie sind bzw. scheinen möchten, die preußische Devise Mehr sein als scheinen umkehrend - eine Reaktion der Hochmütigen, die jede Distanzierung, Kritik oder gar Ablehnung mit Hass beantworten, geheim und verschleiert, nur hie oder da ans Licht kommend, fast tabuisiert und von den nicht Betroffenen meist gleichgültig ignoriert oder toleriert, aber kennzeichnend für den königlichen, herrsch- und eifersüchtigen Hochmut derer, die, gleichsam als Homo imperator (s. imperium paternale; Theor. 8; 290), um jeden Preis Ehre und Ruhm, Macht oder Besitz erstreben, ihr Verhalten gut begründend, sei es pädagogisch, mit den besten Absichten (I. Bergman) und einer väterlichen Regierung, sei es mit der Schädlichkeit von Schriften, wie bei Kant, sei es wie immer, wobei sie die jeweils passend erscheinende Überzeugung heucheln (Theod. 8; 265), schauspielernd, dass sie die guten Menschen wären, als die sie um jeden Preis gesehen werden wollen, die damit Andere und endlich auch, je länger, je mehr, sich selbst täuschen und so ihre gute Meinung von sich selber befestigen: Mundus vult decipi: ergo decipiatur (R 1525) - es ist, lebenslang geübt, leicht zu tun, als ob, zumal bei dem Hang des Menschen, sich gerne täuschen zu lassen; aber erst und nur im Narrenhaus ist das harmlos, nicht auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit, weder für Erwachsene, noch gar für Kinder… Neid wird in Verhältnissen, in denen Redlichkeit hinderlich ist, nur selten beachtet, in philosophischen Arbeiten - außer etwa zu Sokrates, Böhme und Schelling - oft vernachlässigt. Wegen der Bedeutung des Grolles der Kant-Gegner für das Op ist es sinnvoll, Rinks - und Kants - Stichwort der Geistesüberlegenheit als Leitfaden aufzugreifen. 3. 1. Das Kindheitsdrama - Kant im Ungleichgewicht Der Groll, der Kant über seinen Tod hinaus verfolgte, gehört zum Preis, den er für seine Gaben und den Kampf für Wahrheit und Würde zahlen musste; als armer, begabter Handwerkersohn hatte er zwar das Gymnasium und die Universität besuchen, aber nicht unangefochten leben können, weder als Schüler noch als Student und auch nicht als Hauslehrer und Privatdozent. Der familiäre, gelegentlich verharmloste Hintergrund sowie die schwarze Pädagogik und Tyrannei der Schule 107 lassen sich nur in wenigen, 107 Ruhnken schrieb an Kant von der „Zucht der Fanatiker“; 10. 3. 1771. <?page no="41"?> 33 doch hinreichend deutlichen Zügen aus der Überlieferung erfassen: Kant „selbst bekannte später, wie Hippel berichtet, dass ihn noch immer Schrecken und Bangigkeit überfalle, wenn er sich seiner Jugendsklaverei erinnere.“ 108 Die Zeit in Elternhaus und Schule kann für Kant „keine angenehme Erinnerung […] gebildet haben. Sonst hätte er […] nicht […] aussprechen können […]: Viele Leute denken, ihre Jugendjahre seien die besten und angenehmsten ihres Lebens gewesen. Aber […] es sind die beschwerlichsten Jahre, weil man da sehr unter der Zucht ist, selten einen eigentlichen Freund und noch seltener Freiheit haben kann.“ 109 Bei einer verarmenden Familie mit vier Kindern, deren Mutter starb, als Kant dreizehn Jahre alt war, und der Vater ein Armengrab erhielt, sowie ohne größeren Rückhalt 110 konnten Krisen in seiner Kindheit und Jugend kaum fehlen - ein keineswegs ungewöhnliches, selten beachtetes Drama. Kants allmählich hervortretenden Eigenheiten, etwa als Rezipient und Produzent, seine Sensibilität für die ungesellige Geselligkeit (Idee 8; 20), die moralischen, rechtlichen, politischen und pädagogischen Möglichkeiten und Maßstäbe des Miteinanders weisen auf Ursprünge, die Empfindsamkeit forderten und förderten; es kann nicht anders gewesen sein, als dass er früh nicht nur Anerkennung und Förderung, sondern auch Groll, Missgunst und Neid kennen gelernt hat, so wie er als Kleinkind durch die Liebe seiner Mutter gestärkt worden war, wie er berichtet 111 , aber auch verletzende Verständnislosigkeiten, Bevormundungen und Willkür 112 hatte erdulden müssen, obgleich ihm wohl so frühe und tiefe Blicke in die „moralischen und intellektuellen Abgründe des Menschen“ 113 , wie sie Schiller tun musste, erspart geblieben sind. Kants Armut setzte ihn dem Groll derer aus, die ihm gegenüber meinten freie Hand zu haben, da sie sich ihrer gesellschaftlichen Überlegenheit bewusst waren, sich aber nicht um ein Einverständnis mit sich und der Welt soweit bemühten, dass sie die geistige Überlegenheit eines sozial - und körperlich - Unterlegenen hinnehmen konnten; Kant hat Eigenliebe und Eitelkeit, Falschheiten und Verblendungen mit einer, von ihm selbst empfundenen Härte (Kf. 1; 12) bereits in seinem ersten Werk genannt: Nicht einmal die in Königsberg natürlich bekannte Lage des fast Kleinwüchsigen, stets Kränkelnden hat die ihm Grollenden beschwichtigen können - er erfuhr Feindschaft statt Förderung, Hass statt Hilfe; so haben seine Gegner unfreiwillig dazu beigetragen, dass er, um nicht hilflos ihrer Willkür und ihren Falschheiten ausgeliefert zu sein, den kindlich-unkonventionellen, intuitiven Zugang zur Wahrheit kultivierte und früh zum Erkenntnistheoretiker wurde; 108 Biographie Hippels. Zit. nach: Noack in: Kant Die Religion S. XII. 109 Vorländer Immanuel Kant 1. Bd. S. 42. 110 Es halfen ein Oheim, einige Bekannte, später Studenten; vgl. Vorländer a. a. O. S. 45. 111 Jachmann S. 162. 112 Christian Jakob Kraus, Kants Schüler und Freund, vermerkt zu Walds Gedächtnisrede, dass Kant Willkür „nicht leiden konnte.“ Zit. nach: Immanuel Kant zu ehren S. 73. 113 A. B. Wachsmuth in: Schiller. Reden… 1959. Hg. v. B. Zeller. Stuttgart 1961. S. 381. <?page no="42"?> 34 als Objekt und Opfer des Grolles der Großen konnte er sich helfen durch die Unterscheidung der Geister, ihrer Ansprüche und Absichten, ihrer zur Schau getragenen guten von ihren wahren Gesinnungen (A 747f.): Erfolge wirken verstärkend, Erkenntnis erleichtert die Orientierung, den Alltag, bringt Licht in das Dunkel einer frag-würdigen Welt, die zu einer intensiven, theoretischen Fortsetzung, Erweiterung und Vertiefung der vorwissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen herausforderte. Kant hat „von Jugend auf“ 114 die Menschen mehr oder minder genau beobachtet - ähnlich wie mit ähnlichen Ergebnissen Lichtenberg - und mit zweiundzwanzig Jahren bereits in einem erstaunlichen Maße verarbeitet, welche menschlichen Kräfte lebendig sind und welche oft nur berufen werden: Er hatte lernen müssen, dem Scheine nicht zu trauen (Kf. 1; 41) und sich dem Zwange der Wahrheit nicht zu widersetzen (Kf. 1; 45), auch wenn sie bitter sein sollte - der Mensch ist häufig des Menschen Wolf, ob als Pietist oder artige Person. Das wird bei Hobbes, dem Kinderfreund, der niemandes Wolf war, theoretisch ausgeführt - Kant hatte selbst erfahren müssen, dass die Verharmlosung des Bösen allgemein schädlich werden kann; er notierte sich, Groll übergreifend: Homo homini lupus (22; 61; 21; 121). Doch die Welt ist ebenso von Hass, Reichtum, Willkür und Gleichgültigkeit gekennzeichnet wie sie in Liebe, Geduld und Zuversicht ertragen und gestaltet wird. So wurde früh Kants Empfindsamkeit geweckt und geschärft für die kontrastreiche, widersprüchliche politischsoziale Wirklichkeit, für Recht und Unrecht, gut und böse, Wahrheit und Lüge, Schein und Sein: Als gebranntes Kind litt er an Ungerechtigkeit und Lügen und fühlte sich aufgefordert zu analysieren, anzuklagen sowie konstruktiv aufzuklären: Groll war von Anfang an zu erwarten und gehörte zu dem Kampf, den er auf sich genommen und zu bestehen gelernt hatte - eine erlebnis- und erfahrungsbedingte Wurzel seiner naturwissenschaftlichen, erkenntnistheoretischen, analytischen Orientierungsbemühungen und seiner Frage nach dem Menschen: Auch Kant hatte ein Drama des begabten Kindes zu bestehen 115 , dessen Ursprünge und Anfänge sich verselbständigen und zur Tragödie entwickeln können. Der schlesische Barocklyriker Johann Christian Günther, dessen Leben nach 27 Jahren, kurz vor Kants Geburt, verlosch, sowie Karl Philipp Moritz, Franz Kafka, Thomas Bernhard, Gabriele Wohmann und Elfriede Jelinek haben derartiges geschildert; das kann helfen, Hinweisen in Kants Werken nachzugehen, um das schwächliche, sensible „Manelchen“ 116 , seinen menschlichen und philosophischen Weg, seine Anfälligkeit für Groll besser zu verstehen; die Voraus- 114 Saner S. 7. 115 Vgl. A. Miller Das Drama des begabten Kindes. Frankfurt/ M. 1996.; G. Zenz Kindesmisshandlung und Kindesrechte. Frankfurt/ M. 1981. - Vgl. Hofmannsthal: „Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen, / Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben, / Und alle Menschen gehen ihre Wege.“ 116 Vorländer Immanuel Kant 1. Bd. S. 17. <?page no="43"?> 35 setzungen, die Vorgeschichte sowie der Hintergrund des Hübner-Kuriosums umfassen auch das gesellschaftliche Umfeld Kants und seine Familienkonstellation, die im Lichte der Ergebnisse der Kinder- und Jugendpsychologie zu sehen ist, zu der die Erkenntnis der bleibenden Bedeutung der Eindrücke und Erlebnisse in der frühen Kindheit gehören; das ist schon von Kant berührt worden in der exemplarischen Erwägung, es könne richtig sein, was Herr v. Buffon vermutet, dass diejenige Gestalt [der Frau; Rh.], die den ersten Eindruck [in der Kindheit; Rh.] macht, das Urbild bleibe (Beob. 2; 237). Obwohl Kant keine Folgerungen aus dieser Vermutung des berühmten Philosophen (Nat. 1; 277) gezogen zu haben scheint, ist es bemerkenswert, dass sie ihm aufgefallen ist und dass er die Möglichkeit frühkindlicher Prägungen für wichtig genug hielt, um sie im „erziehungswütigen 18. Jahrhundert“ 117 , einer „Epoche des Nachdenkens und des Veränderns von Erziehung“ 118 , in seinen Beobachtungen mitzuteilen. Ein so unspektakuläres Drama, wie es für Kant anzunehmen ist, wird kaum auf Konflikte und Konsequenzen befragt, für den Betroffenen bleibt es jedoch eine meist lebenslange Aufgabe, die emotionalen und affektiven Belastungen mit ihren kleineren oder größeren, verborgenen oder psychosomatisch manifest werdenden Folgen zu erkennen, anzunehmen und aufzuarbeiten; denn häufig erscheint die Kindheit wie ein verlorenes, „verschlossenes Paradies“ 119 : Das davon Abweichende oder dem Widersprechende wird verdeckt oder verdrängt, doch werden die Spuren unbewältigter Konflikte manchmal von aufmerksamen Zeitgenossen wahrgenommen; so schrieb der Kant-Kenner Schiller, der als Württemberger Soldatenkind und Eleve einer Fürstenschule 120 selbst ein Kindheits-Drama zu bestehen gehabt hatte, am 22. [21.] 12. 1798 an Goethe, anlässlich ihrer Lektüre der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, dass sich Kant nicht ganz von dem Lebensschmutz hat losmachen können, ja selbst gewisse düstere Eindrücke der Jugend nicht ganz verwunden hat. Damit sind Belastungen angesprochen, die darüber hinausgingen, was zur Lebensbewältigung gehört und jedem im Daseinskampf zugemutet wird. Da die Unterschiede in dieser Hinsicht extrem sein können, ist es verständlich, dass Schiller die Düsternis der Kindheit und Jugend Kants, das Ausmaß des Lebensschmutzes, dem er ausgesetzt war, wohl unterschätzt hat - vielleicht wegen der Härten, die er selbst hatte ertragen müssen; zudem war das Königsberger Klima vermutlich rauher als das Marbacher und Stuttgarter, auch der soziale Abstand zwischen dem Ostpreußen und dem Schwaben ist erheblich. 117 A. Wandruszka Das Haus Habsburg. Freiburg u.a. 1968. S. 148. 118 H. Günther Karl Philipp Moritz oder Die Erfindung der Kindheit. In: Deutsche Kinder. Hg. v. Cl. Schmölders. Reinbek 1999. S. 90-110. S. 90. 119 R. Schneider Verpflichtung und Liebe. Freiburg u. a. 1964. S. 153. 120 Burckhardt Schillers Mut. In: Schiller. Reden… 1955. Stuttgart 1955. S. 27. <?page no="44"?> 36 Kant wusste nur zu gut - gewiss im Gegensatz zu den allermeisten Kantforschern -, was es heißt, in einem Gedränge von vielen Sorgen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen (G 4; 399) ein mit lauter Mühseligkeiten beständig ringendes Spiel (Anf. 6; 100) spielen zu müssen - auch wenn er sich zeitweilig, wohl etwas kompensatorisch, als eleganter Magister 121 durch einen Strudel gesellschaftlicher Zerstreuungen fortreißen ließ, wie Hamann, vielleicht übertreibend, an beider Freund Lindner schrieb (1. 2. 1764): Die Mühseligkeiten eines unter unbefriedigten Bedürfnissen auf sich genommenen, unbürgerlichen Lebens sowie die Erbitterung über die Bosheiten seiner missgünstigen Mitbürger hatten ihm viele Jahre so verdüstert, dass er im Alter den „Wert“ des Lebens, „bloß nach dem geschätzt […], was man genießt […], unter Null“ beurteilte (KU 5; 434 Anm.). Kindheit und Jugend konnten diese Bilanz nicht aufhellen, auch das Dasein als berühmter und wohlhabender Professor nicht - Schmutz und Groll waren geblieben, der Kampf dagegen fiel Kant schwer, wie Schiller solidarisch und kritisch bemerkte - indes ist zu bedenken, dass manches Kindheits-Drama früher oder später tragisch endet und in jedem Falle Spuren hinterlässt… Angesichts der Mühseligkeiten im Narrenspital bemühte sich Kant, die Freiheit einer höchsten Stufe zu erreichen, wie sie einem strengen Denken entspricht (Vr. 8; 413; 22; 63) und stets bezeugt worden ist. Das Belastende seiner angefochtenen Existenz musste ihn schließlich über alle Verpflichtungen und Interessen hinaus auffordern, zumindest einzelne Schwierigkeiten seines Daseins aufzuklären, sich also um Selbsterkenntnis und -befreiung zu bemühen nicht nur als sich nahelegendes Aufgreifen traditioneller, damals modischer Themen, sondern auf Grund eigenster Einsichten und Anliegen: Durch seine Kindheit und Jugend waren für den Hauslehrer, Privatdozenten, Professor und Emeritus einige Themen vorgegeben, vom Groll seiner Gegner bis zur eigenen Bitterkeit und den Grenzen seiner Überlegenheit. So sind Lauf und Ziel, Krisen und Wandlungen seines Lebens und Werkes bis hin zum Op 122 nicht angemessen zu verstehen ohne ihre Ursprünge und Anfänge, die sich zwar im Dunkel einer nur wenig aufzuhellenden Geschichte verlieren, von denen aber soviel erkennbar ist, dass sich einiges Auffällige in seinem Verhalten und Werk begreifen lässt, so seine gelegentliche, kompensatorische Kühnheit, wie sie schon in der Vorrede seines ersten Werkes und noch in den Notizen für seine letzte Arbeit zu bemerken ist, Fichtes Verflechtung von Philosophie und Persönlichkeit bestätigend - ein Homo novus 123 , ein Philo-soph in der Königsberger Gesellschaft und auf der akademischen Bühne… 121 Schöndörffer in: Reichls Philosophischer Almanach 1924. Hg. v. P. Feldkeller. Darmstadt 1924. - Vgl. Stavenhagen S. 24. 122 Vgl. Lehmann Kants Lebenskrise. In: Ders.: Beiträge S. 411-421. 123 Stavenhagen S. 6. <?page no="45"?> 37 Als Kant vom Hauptwerk sprach, dachte er vielleicht an seine Ankündigung, das Ansehen der Newtons und Leibnize für nichts zu achten, wenn es sich der Entdeckung der Wahrheit entgegensetzen sollte (Kf. 1; 7) - sein Verständnis für beider Leistung und damit wohl auch sein Respekt vor ihnen war seitdem gewachsen, doch war der Entdeckergeist seiner Jugend noch immer lebendig: Auch der alte Kant meinte, endlich und endgültig Wahrheit verkünden zu können gegen Newton - im Op wird niemand so oft genannt wie der große Newton, und dieser, nicht Leibniz, erscheint als Gegenspieler Kants, den er, trotz aller Hochschätzung, philosophisch korrigieren und somit übertreffen wollte, seine ein wenig respektlose und rebellische Ankündigung von ehedem de facto doch noch einlösend. Ungeachtet der damit verbundenen Problematik sowie seiner Rezeptionsschwierigkeiten ist sein Auftreten in der ersten Arbeit in verschiedener Hinsicht aufschlussreich, nicht nur, weil es angesichts seiner eigenen Leistung und seines Verständnisses von Newton und Leibniz als etwas unglücklich erscheint, sondern vor allem, weil es darüber hinaus in manchem symptomatisch für ihn ist bis ins Alter: Er gab am Beginn seiner Laufbahn unbewusst einige Hinweise auf die fortdauernde, seine Bemühungen bisweilen beschränkende Wirkung des Dramas seiner Kindheit und Jugend. Angesichts seiner Selbstsicherheit gegenüber zwei, unstreitig für immer auf dem Parnass Wohnenden kann es nicht erstaunen, dass er sich von denen, die nur unten wohnen (vgl. Kf. 1; 8), ausdrücklich abgesondert hatte, seine einsame Existenz erklärend und verklärend auch dadurch, dass er sich mit dem Motto seiner Vorrede Seneca anschloss, der aufforderte, nicht dem gedankenlosen großen Haufen zu folgen, der wandere, wo gegangen wird, anstatt auf dem Wege, den man gehen soll! (Kf. 1; 7.) Das sind der Fußsteig der KrV, die enge Pforte und der schmale Weg, zu denen sich Kant auch in der Religionsschrift bekannte und die er dort, dem Thema entsprechend, biblisch benannt hat (6; 161). Wenn er sich, fast in einem Atemzug damit, genötigt fühlte mitzuteilen, dass er große Dinge unternimmt, Wissenschaften zu verbessern und seine eigenen Gedanken der Welt anzupreisen (Kf. 1; 8), so zeigt das, wie dringend er Zuspruch brauchte - er gab ihn sich selbst; wenn er dann gesteht, dass er nicht denke, was die Welt gerne hätte, dass ich es dächte, so ist diese Absage zwar offenherzig, aber, wie die Anpreisung großer Dinge und seiner Gedanken, etwas vermessen, durchaus verfrüht, damit seiner Überlegenheit nicht gemäß - zu der berühmten, poetisch-prägnanten Kritik des fünf Jahre jüngeren Nicht-Naturwissenschaftlers Lessing, dass Kant seine eigenen Kräfte nicht zu schätzen wisse, gehört auch, dass Kant die gesellschaftlichen Kräfte, denen er ausgesetzt war, unterschätzte - er befand sich nicht im rechten Gleichgewicht der Gemütsneigungen (Kf. 1; 15). Damit und mit der Frage, ob die Seele eine bewegende Kraft habe (Kf. 1; 20), kündigt sich in einem physikalischen Text der Psychologe an, der ahnt, dass jedes größere Ungleichgewicht Folgen haben wird und eine selektive Wahrnehmung bewir- <?page no="46"?> 38 ken kann - eine Möglichkeit, für deren Verwirklichung er selbst zuvor Beispiele gegeben hatte, da er auf die kleinen Kunstgriffe hinwies, die er nicht verachten wollte (Kf. 1; 11), sich damit paradoxerweise ebenso politisch wie unpolitisch verhaltend, und sich, nach der gleichfalls unklugen Anpreisung seiner Gedanken, viel Vermessenheit zubilligte - zwar etwas rhetorischkonventionell, zugleich jedoch ein unbewusstes Eingeständnis eines kompensatorisch übersteigerten Selbstwertgefühles, - sowie ein edles Vertrauen in die eigenen Kräfte (Kf. 1; 10) zusprach; dieser nobilitierende Zuspruch zeigt, wie nötig Kant, seit dem Jahre 1746 Vollwaise mit drei jüngeren Geschwistern, eine Ermunterung brauchte, sodass er sie drucken ließ entgegen der naheliegenden Erwägung, dass der große Haufen, die mächtige Mehrheit bzw. die Machthabenden, jede Vermessenheit eines Homo novus, vor allem, wenn sie mit einer grundsätzlichen und schichtspezifischen Kritik verbunden ist, mit Groll beantworten musste. So zeichnen sich Prägungen durch Lieblosigkeiten und Erniedrigungen ab und auch Kants antithetische Denkweise - er musste sich Mut machen, um im Kampf gegen Unwissenheit und Bewunderung, Vorurteil und Bequemlichkeit (Kf. 1; 7f.) den eigenen Kräften vertrauen zu können, sich so einen gewissen Schwung erteilend, der zwar der Untersuchung der Wahrheit sehr beförderlich ist, aber nicht unbedingt dem Autor, weil Wahrheit üblicherweise nicht nur dem gedankenlosen großen Haufen und dem gelehrten Pöbel (Neg. 2; 200), sondern den meisten Menschen nur als allgemeine, rechnerische oder spezielle, etwa fachwissenschaftliche Richtigkeit zuzumuten ist, während es als vermessen gilt, darüber hinaus gehende, existenzielle Wahrheiten dann an- oder gar auszusprechen, wenn sie mehr oder minder direkt ad personam zu verstehen sind und darum als Ärgernis übergangen, wegdiskutiert, pluralistisch bestritten oder auf den Kopf gestellt werden - mit Eigenliebe und Eitelkeit, Falschheiten und Verblendungen hatte Kant dazu bereits bilanzierend Stich-, Haupt- und Reizwörter genannt: Veritas otium parit - er brauchte von dem Renaissance-Dichter Pietro Aretino nichts zu wissen, um dessen antiken Wahlspruch zu begreifen. Als angehender Hauslehrer in der Provinz zeigte sich Kant durch die ernüchternde Bilanz seiner Jugend sowie durch die damit gegebenen Belastungen jedoch nicht niedergedrückt oder entmutigt, sondern fühlte sich aufgefordert, sich seine Lebensbahn vorzuzeichnen und zudem zu verkünden, dass er entschlossen sei, sich durch nichts daran hindern zu lassen, sie fortzusetzen (Kf. 1; 10) - und zwar in der gelehrten Welt, die so gut ihre Kriege, ihre Allianzen, ihre geheimen Intrigen etc. als die politische hat (an Reinhold; 28. u. 31. 12. 1787): Davon wusste der junge Kant wahrscheinlich wenig, doch zeigte er sich geistesüberlegen grundsätzlich mit Groll und Gegenwind einverstanden, etwas unbedacht und wohlgemut, hatte er doch den großen Haufen und gelehrten Pöbel durch die Missachtung ihrer Macht - nichts soll mich hindern - herausgefordert… <?page no="47"?> 39 In der jugendlich-unbekümmerten Erklärung mit ihrem, den Leser kaum interessierenden, eigentlich an sich selbst gerichteten Laufbahn-Entschluss lässt sich einerseits die Sicherheit des Genies ahnen, andererseits die Hybris des Revolutionärs wittern; ungleichgewichtig hatte Kant nicht bedacht, dass derartiges nicht gut behauptet werden kann angesichts der Drangsale und des Unbestandes der Welt, der Unberechenbarkeit der Dinge an sich und der Zukunft - um von den Grenzen des Menschen zu schweigen; mit dieser Einsicht, die ihm zwar lange vertraut, aber nicht immer genehm war, hat der alte Kant ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen, kategorisch, letztlich selbstwidersprüchlich bestritten, wohl nicht zuletzt wegen seiner zeitweise ziemlich verzweifelten Erbitterung über die Verlogenheit der Bürger, über die Heuchelei und die Halbwahrheiten von Hinz und Kunz. Kant verdankte es seinem langen Leben und seiner fast unverminderten Schaffenskraft, seine selbst vorgezeichnete Bahn bis zu einer, seiner Überlegenheit angemessenen Leistung fortsetzen zu können; denn angesichts seiner schwachen Gesundheit hatte er seinem Leben „in der Jugend nicht eine so lange Dauer“ versprochen 124 , und er hätte natürlich jederzeit, als Hauslehrer, Privatdozent und Subbibliothekar enden können - dass er als 57jähriger Ordinarius die KrV erscheinen sehen konnte, hatte er der Güte des Geschicks zu danken, zu der auch ein König wie Friedrich der Große sowie ein Minister von Zedlitz gehörten, dem Kant die KrV widmete (A III-V). Schon die Vorrede der Lebendigen Kräfte zeigt einen Kant im Gegenwind, der sich den Aufwind, dessen er bedurfte, selbst gab, sich dabei auf seine ihm sehr bewusste Überlegenheit verlassend, durch die er sich zugleich zu weitreichenden Ankündigungen und Ansprüchen berechtigt glaubte sowie zu viel Vermessenheit hinreißen ließ, was Groll hervorrufen musste, an dem er darum nicht ganz so unschuldig war, wie Rink meinte; wenn sich auch schon in der Vorrede „ein souveränes Sich-über-hoben-Fühlen über allgemeines Gerede von Hinz und Kunz dokumentiert […], ein Grundelement der Selbstachtung, der souveränen Freiheit gegenüber jedem konventionellen Reputationsklischee“ 125 , so hatte Kant seine Überlegenheit über den großen Haufen, über Hinz und Kunz nicht diplomatisch formuliert und zu früh verkündet, wenn sie nicht überhaupt zu verschweigen oder, besser noch, im eigenen Fleische weise zu verwandeln gewesen wäre. Dieses Ungleichgewicht dauerte an: Die durch Willkür bewirkte kompensatorische Vermessenheit kennzeichnet Kant - trotz späterer Abschwächungen - fast sein Leben lang, die Liste seiner extremen Formulierungen ist groß, er hat seine überzogenen oder gar unrichtigen Ansprüche mitunter schon in Werk-Titeln erhoben, so in der wahren Schätzung, im Einzig möglichen Beweisgrund, in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, im Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee. Bemerkenswert ist die Einschränkung der 124 Borowski S. 49. 125 O. Seel S. 297f. <?page no="48"?> 40 Prolegomena, da der Wissenschaftlichkeit jeder Metaphysik von vornherein Grenzen gesetzt sind. Schon die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ist nur Grundlegung, der Anfangsgründe folgen, zunächst metaphysische der Naturwissenschaft, elf Jahre später die der Rechts- und Tugendlehre. In der KrV kündigte Kant ein System der reinen Vernunft und die Vollendung der Metaphysik in kurzer Zeit, mehr Unterhaltung als Arbeit, an (A XXf.) - Kuriosa, die im Allgemeinen einfach übergangen werden. In die zweite Auflage der KrV hat er diese Träume nicht übernommen, doch schien ihm stattdessen widerlegt zu werden keine Gefahr: Auch scheinbare Widersprüche lassen sich sehr leicht auflösen (B XLIIIf.). Kant schloss die KrV in allen fünf, zu seinen Lebzeiten erschienenen Ausgaben - die letzte erschien im Jahre 1799 - unverändert mit der erstaunlichen, von ihm selbst überholten Zuversicht, dass bei Mithilfe des Lesers vor Ablauf des Jahrhunderts das, was viele Jahrhunderte „nicht leisten konnten, […] erreicht werden möge: nämlich, die menschliche Vernunft in dem, was ihre Wissbegierde jederzeit, bisher aber vergeblich, beschäftigt hat, zur völligen Befriedigung zu bringen.“ (A 856.) Es sei an die oft zitierten Worte aus der Vorrede der KrV (A) erinnert: „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal [...]: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“ (A VII.) Diese Beispiele verdeutlichen in ihrer Irrationalität ein stärkeres Ungleichgewicht, einen Zwiespalt zwischen dem rationalistischen Analytiker und seinem Gemüt. Kant scheint sich seiner Gegenreaktionen, Illusionen, Träume und Wünsche nicht bewusst geworden zu sein, er hat ihnen gegenüber die Stimme der Vernunft und den Einspruch der Wirklichkeit wohl nur dunkel, wenn überhaupt vernommen, und zwischen seinen Ansprüchen - etwa die Wissbegierde der Menschheit zur völligen Befriedigung zu bringen - und den unübersehbaren, unwiderleglichen Ein- und Widersprüchen der Wirklichkeit lange nicht zu vermitteln vermocht, er fand etwas unmöglich, dessen Wirklichkeit unbestreitbar ist, wie das zweifache Ich (Preis. 20; 270); in diesen Zusammenhang gehören auch die Einsprüche Hamanns, Herders und Eberhards; zudem hatte er selbst mit der Unerkennbarkeit der Dinge an sich und den Grenzen der Vernunft (Theod. 8; 263) gegenüber allen allzu optimistischen Auffassungen von der Macht und den Möglichkeiten des Menschen auf Erkenntnis-, Verständnis-, Machbarkeits- und Anspruchs-Grenzen hingewiesen, die er bei den eigenen Ansprüchen hätte bedenken sollen - erst spät finden sich Ansätze, die zeigen, dass er sich einem Gleichgewicht von Anspruch und Einspruch, Wunsch und Wirklichkeit näherte: Das Wissen bis zu den Grenzen desselben (Sokrates) macht demütig. (R 2446 [um 1770? ].) Die Forderung Sei Weise schließt die Einsicht und Absicht ein, Ansprüche und Vermessenheit zu verabschieden - ein Hauptwerk des Titels System der reinen <?page no="49"?> 41 Philosophie entspricht dem nicht ganz. Kant wird selbstverständlich besser als durch Vermessenheit charakterisiert durch sein Genie, sein Vertrauen in seine Kräfte, den Willen, die Wahrheit zu entdecken auch gegen Vorurteile, Willkür und Bequemlichkeit, sowie seinen Kampf für Menschenwürde und rechte, die jederzeit und überall bedroht sind und verletzt werden - so wie er, wenn auch scheinbar geringfügig, verletzt worden war und wogegen er aufbegehrte. Er führte die Auseinandersetzung im Großen, geistig-theoretisch weiter, die er im Kleinen, in seiner Kindheit und Jugend in Anziehung und Abstoßung erlebt und auf sich genommen hatte: Den „universalen Kampf alles Natürlichen“ 126 hat er im Kleinkrieg des Alltags kennengelernt, und er wird bald von den Kriegen gehört haben, die näher oder ferner, in Vergangenheit und Gegenwart stattgefunden hatten und, sein Leben begleitend, stattfanden. Die „Denkformen des frühen Naturphilosophen“ 127 sind mitbedingt durch das Drama des Kindes, das in Gesellschaft und Geschichte, in der Natur, wiederfand, was es als Antagonismus erlebt und erlitten hatte über den sehr betrüglichen Schein der Wahrheit (Kf. 1; 9; 14) hinaus der Analytiker und Aufklärer, Kritiker und Kämpfer war geweckt. 3. 2. Der beliebte Magister und unkluge Kant Kant war zuversichtlich, sich auf seiner vorgezeichneten Bahn sowie in der Entdeckung der Wahrheit gegen Groll, Neid und Hass behaupten zu können. Er dankte dies der Liebe seiner Mutter sowie, damit verflochten, frühen Erfolgserlebnissen, doch hatte er sich jugendlich-optimistisch nicht nur über sein Durchsetzungsvermögen und seine Überlegenheit, sondern auch über die Eigenliebe der Menschen getäuscht: Das aus der Selbstsucht erwachsende Böse gehört zu der Erfahrung, ohne die ein Opus summum viri summi nicht zu denken ist - Schiller hat düstere Eindrücke bemerkt, die Kant derart in ein Ungleichgewicht gebracht hatten, dass er den schon erfahrenen Groll bei seinem Auftreten auf der Schaubühne der Eitelkeit unnötigerweise verstärkte, Ränke durch Klagen und Anklagen provozierend, wohl ermutigt durch die sich in Frankreich, im Pietismus und Sturm und Drang verschärfende Gesellschaftskritik, aber auch durch besondere, lokale Bedingungen: Die Aristokratisierung der alten zopfigen Stadt in der Zeit des Siebenjährigen Krieges sowie das Ansehen, das der liebenswerte Magister, dessen „sozialer Standort“ unbestimmt und der bei dem insularen Charakter Königsbergs „so gut wie jemand von auswärts fremd“ 128 war, im vergleichsweise vorurteilslosen Adel gewonnen hatte - auch Hamann hat das geholfen. 129 Hein- 126 Saner S. 25. 127 A. a. O. S. 64. 128 Stavenhagen S. 21ff.; S. 4ff. 129 Stavenhagen schildert S. 72f. einen Besuch des Reichsgrafen von Keyserling bei Hamann; vgl. K. Gründer in: Fürstenberg… Münster 1955. S.74-91. <?page no="50"?> 42 rich Christian, Reichsgraf von Keyserling, schätzte den Hauslehrer seiner Kinder ebenso wie seine Frau Caroline Charlotte Amalie - eine Zierde ihres Geschlechts (Anthr. 7; 262 Anm.), die den fünf Jahre jüngeren Magister gezeichnet hat, der später bei Besuchen soweit möglich den Ehrenplatz neben ihr erhielt. Der Privatdozent war bei seinen Studenten und Hörern, darunter viele Adlige und Offiziere, sehr angesehen und hat während der Zugehörigkeit Königsbergs zum Zarenreich für viele russische Offiziere privatim gelesen und an ihrem Treiben regen Anteil genommen 130 . Dieser Aufstieg setzte sich fort: Hamann schrieb an Lindner, dass Kant „ein Collegium für den General Meyer und seine Offiziere“ hielte, „das ihm viel Ehre und Nutzen bringt, weil er fast täglich [beim General; Rh.] speist“(1. 2. 1764). Jachmann berichtet, dass Kant auch mit dem Generalleutnant von Lossow „auf einem besonders freundschaftlichen Fuß gelebt“ habe und in der Königsberger Führungsschicht ein gern gesehener Gast war (S. 181). Diese Karriere des etwas buckligen Kant musste Neid verstärken oder wecken. Es wäre klug gewesen, trotz des Rückhaltes im Adel, nicht die Ehrsucht und Herrschsucht derer herauszufordern, die Gewalt in Händen haben (KU 5; 433), gleichviel, wie groß oder klein diese Gewalt sein mochte, zumal angesichts des Unbestandes der Welt: Kant war lange ein Grollender, „mit der Großzügigkeit des Philosophen“ 131 , der Ausnahmen übergeht, anklagend. Damit seien die mehr oder minder deutlichen Folgen seines Kindheitsdramas, Persönliches und Philosophisches, Zeitbedingtes und Zeitloses angedeutet - eine Aufklärungs-Herausforderung, zu der das Kuriosum gehört, das kritisierte Bürgertum sei fähig, einer Idee „den Garaus“ 132 zu machen… Herausforderungen können verschieden wirken, durchaus gegensätzlich; sie können übergangen, als eigene Überzeugung geheuchelt, in ihr Gegenteil verkehrt oder als Anregungen aufgegriffen und beantwortet werden - Kants Gesellschaftskritik, sein meist unfreundliches, dunkles Menschenbild sowie sein Verhalten mussten die Spannungen in seinem Königsberger Umfeld und in seinen letzten Lebensjahren verstärken. Gleichwohl sind unter diesem Gesichtspunkt, soweit zu erkennen, bisher weder der gesellschaftliche noch der dem vorausliegende familiäre Hintergrund besonders beachtet worden, obwohl es naheliegend ist zu fragen, ob und wie dadurch auch die Geschichte und Rezeption des Op beeinflusst worden sein könnte. 130 Stavenhagen S. 19. 131 H.-U. Wehler Politik in der Geschichte. München 1998. S. 106. 132 Dorschel S. 1; D. kann sich darauf stützen, dass Kants Leben als gelebtes Bürgertum vor- und auf den Kopf gestellt worden ist, (An)Klagen, Leben und Werk gleichsam entwertend, doch sagt D. nichts zum transzendentalen Idealismus, zu Platon, Leibniz, Goethe und Broch sowie Balzacs und Benjamins Ruinen des Bürgertums. Zu Goethe vgl. z. B. H. Broch Die Idee ist ewig. Hg. v. H. Binde. München 1968. S. 12; zu Balzac vgl. z. B. W. Benjamin Illuminationen. Frankfurt/ M. 1977. S. 183. - D.s These würde kaum auffallen, wäre sie nicht paradoxer- und kurioserweise in Schriften zur Transzendentalphilosophie zu lesen. <?page no="51"?> 43 Der alte Kant hat die weisen Bürger nicht mehr gleichsam persönlich angegriffen - so hat er im Jahre 1793 von unseren spruchreichen und tatleeren Zeiten geschrieben, was nach der amerikanischen und Französischen Revolution nur ironisch gemeint sein konnte und wohl die Königsberger charakterisieren sollte; an dieser Distanzierung mag mitgewirkt haben, dass derartige Aufklärungs- und Therapie-Versuche, wie er sie hartnäckig unternommen hatte, meist erfolglos sind, da zur Eigenliebe und Eitelkeit die gute Meinung von sich selber und damit eine gewisse Therapieresistenz gehören, weshalb jede Distanzierung, Ablehnung, Kritik oder gar die Zumutung der Selbstbesserung als Irrtum oder Bosheit, jedenfalls als falsch oder schädlich angesehen und aggressiv abgewehrt wird - das Wunschbild der eigenen Person wird zum Selbstbild, die Täuschung wird zu einer, normalerweise durch nichts und niemanden zu erschütternden Selbsttäuschung, die weisen Bürger behalten ihren Platz in der Gesellschaft; denn die Menschen sind mit ihrem Gewissen gerne passiv (Theod. 8; 269 Anm.). Nachdem schon im Sommer 1791 dem König vorgeschlagen worden war, Kant „künftiges Publizieren zu verbieten“ 133 , wurden ihm im Jahre 1794 bei fortgesetzter Renitenz unfehlbar unangenehme Verfügungen angedroht (St. 7; 6) - Friedrich Wilhelm II. war unzufrieden: „Mit Kantens schädlichen Schriften muss es auch nicht länger fortgehen“ 134 - das war nicht nur die Meinung Ihrer im Jahre 1797 verstorbenen Majestät gewesen, sondern kann als Wunsch und Bestreben der verschiedensten, in- und ausländischen Gegner des allzu kritischen, rigorosen und radikalen Philosophen gelten; manche rechneten wie Campe mit einer Amtsenthebung und Vertreibung Kants, an Wolff in Halle und Fichte in Jena denkend. Vieles in Kants späten Werken ging sogar jungen, reformfreudigen, für seine Philosophie aufgeschlossenen Zeitgenossen zu weit, obwohl Kant in einem sich christlich verstehenden Staate letztlich nur ein gleichsam reformatorisch radikal reduziertes Rumpf-Christentum anmahnte. Das war und ist nicht immer klar und vor allem meist unwillkommen. So wurde in Kants Friedensentwurf sein „manchmal wirklich zu grell durchblickender Demokratismus“ von Wilhelm von Humboldt 135 gerügt - das Kant-Kuriosum kann auf kaum beachtete Zusammenhänge und Probleme aufmerksam machen... Angesichts des politischen Klimas in Preußen ist es erstaunlich, mit welchem Mut und „vollem Vertrauen auf den endlichen Sieg der Wahrheit“ 136 der verwarnte Kant in einer Zeit revolutionärer Wirren seine Kritik an der preußischen Politik und menschlichen Schwächen fortsetzte, seinen Blick 133 Dietzsch S. 249. 134 Zit. nach: Vorländer Immanuel Kants Leben S. 180. 135 An Schiller; 30. 10. 1795. - Vgl. z. B. den „Ärger“, den Herders „demokratische Ansichten und Vorurteile gegen die privilegierten Stände“ dem Herzog Karl August „bereitet hatten“. E. Baur Johann Gottfried Herder. Stuttgart 1960. S. 164. 136 Jachmann S.147. <?page no="52"?> 44 nochmals schärfend und erweiternd, seine Kritik am Bürger, vereinfachend gesagt, von Rousseau und der Französischen Revolution zu Recht gebracht (vgl. Bem. 20; 44), einordnend: Das radikal Böse betrifft jeden. Das entsprach zwar, wie Kants Gesellschaftskritik, der Auffassung der Pietisten, aber er hat in der Entscheidungsfreiheit für gut oder böse die Würde des Menschen betont und den Kampf dafür und für die allen zustehenden Rechte als philosophische und politische Aufgabe gesehen, was ihn veranlasste, weitere Wahrheiten auszusprechen: Die Tugendlehre enthält einen umfassenden Lasterkatalog, angefangen von Lüge, Geiz und falscher Demut (Kriecherei) (6; 428) über die der Menschenliebe entgegengesetzten Laster, die abscheuliche Familie des Neides, der Undankbarkeit und der Schadenfreude (6; 458) bis zu den die Pflicht der Achtung für andere Menschen verletzenden Lastern Hochmut, Afterreden und Verhöhnung (6; 465). Das ging über die Kritik an den weisen Bürgern hinaus, diese anthropologischen Analysen betrafen die gesellschaftlich-politische Wirklichkeit, was eine gewisse Schädlichkeit einschließt und bekämpft wird - in seinem Falle mit einem, oft auf Wissenslücken oder Eigenliebe und Eitelkeit beruhenden Antikantianismus. Kant hat jedoch, ungeachtet allen Gegenwindes, noch in den Kritiken seinen Zeitgenossen - nicht mehr nur Hinz und Kunz - gelegentlich geradezu rücksichtslos einen Spiegel vorgehalten, weiterhin erbittert über den Lebensschmutz, über die bei den niederträchtigen Wesen beliebten falschen Kunstgriffe, die ihn, wie Schiller bemerkte, bis ins Alter belasteten. Aber nicht nur die elenden Geschöpfe setzten ihre Ränke fort, sondern auch Kant seine Erfolge, sodass sein zunehmender Ruhm ihm zwar einen gewissen Schutz gewährte, ihn aber nicht in ein und sei es auch nur ungefähres Gleichgewicht seiner Gemütsneigungen brachte. Die Ränke der artigen Personen trugen sicherlich dazu bei, dass die Daseinsbilanz des Sechsundsechzigjährigen in der dritten Kritik ganz anders ausfiel als die des Zweiundzwanzigjährigen - allem bürgerlichen Aufstieg und Ansehen, seinem Wohlstand, seinen Einkünften und Ehrungen entgegen war aus dem Optimismus des mittel- und elternlosen Hauslehrers der unbürgerliche Pessimismus eines berühmten Gelehrten geworden, der nicht nur das Dasein als Plage empfand und wie Rousseau den Überdruss des denkenden Menschen am zivilisierten Leben behauptete (Anf. 8; 122) sowie den Wert des Lebens, „bloß nach dem geschätzt, was man genießt, unter Null“ beurteilte (KU 5; 434 Anm.; vgl. an M. v. Herbert; 1792) 137 , sondern zugleich die oft erlebte Niedertracht der Bürger verallgemeinerte und den Menschen als verabscheuungswürdig bezeichnete, damit den Gräueln der Geschichte Rechnung tragend, doch die meist unauffällig wirkenden edlen Seelen übergehend. 137 Borowski berichtet S. 53, dass Kant „überaus oft“ sagte, „dass er um keinen Preis unter der Bedingung, ebenso noch einmal vom Anfange an zu leben, seine Existenz wiederholen möchte! “ Das war nicht Kants letztes Wort; vgl. Kap. 7. <?page no="53"?> 45 In der KU, vor einem großen Publikum, nicht mehr gleichsam privat, hat er sehr kritisch geurteilt, gegen Rousseaus schmeichelhaftes Menschenbild, alle Standes- und sonstigen menschlichen Unterschiede übergehend, damals deshalb schädlich und das umso mehr, weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt, wie Kant, Machtmissbrauch und Willkür der Gewalthabenden, ihre Günstlinge und Strafen betreffend, in einem ironischerweise geheimen Artikel zum ewigen Frieden bemerkte. Kants Schärfe wird gerechtfertigt durch seine klare, zunehmend aktuellere Befürchtung, dass, trotz aller von ihm nicht berücksichtigten bzw. erwähnten, jedoch immer vorauszusetzenden Ausnahmen, der Mensch selbst, soviel an ihm ist, an der Zerstörung seiner eigenen Gattung arbeitet (KU 5; 430). Vor der Schreckenszeit der Französischen Revolution geschrieben, ist diese apokalyptische Sicht bei Kants gelegentlichem Optimismus zu bedenken. Im Lichte seiner rigorosen Charakterisierungen des menschlichen Innern und des Menschen überhaupt wirkt es wie eine exemplarische Bestätigung, wenn in einem Brief vom 14. März 1806, den Wasianski an den Schwiegersohn von Kants Bruder, den Prediger Dr. Karl Christoph Schoen, geschrieben hat, von einem Todfeind Kants zu lesen ist, wie der Herausgeber der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, Christoph Friedrich Nicolai, bezeichnet wird, der aus Neid und Hass gegen den großen Mann geschrieben habe, womit die Endstufe der Schädlichkeit der Schriften Kants erreicht und das Ausmaß des Grolles deutlich wird 138 - diese Todfeindschaft galt natürlich schon dem lebenden, von dem berühmten Berliner missverstandenen Königsberger Aufklärer, der wie Goethe ein Opfer geworden war jenes unglücklichen dünkelhaften Bestrebens Nicolais, sich mit Dingen zu befassen, denen er nicht gewachsen war, wodurch er sich und andern in der Folge viel Verdruss machte, und darüber zuletzt, bei so entschiedenen Verdiensten, seine literarische Achtung völlig verlor. 139 Nicolai hatte Gleichgesinnte, von denen Herder, der seinem Lehrer in den Humanitätsbriefen so herzlich gedankt hatte, der bedeutendste gewesen sein wird; er hat im Alter „wahre Hassschriften gegen Kant“ verfasst, „die zu lesen eine Qual“ ist 140 - Kant ist nichts Neues widerfahren, Menschen sind so, wie Heraklit geklagt hat, Sokrates erfahren musste und Machiavelli summierte… Kant war kaum bemüht, der nicht nur auf seiner Überlegenheit und Wahrheitsliebe, sondern auch auf seiner, damit verbundenen Umkehr- Aufforderung beruhenden, ohnehin schwer zu vermeidenden Unbeliebtheit entgegen zu wirken, wie es seiner Erfahrung, seinem Menschenbild sowie dem Bösen entsprochen und sich zudem als Selbstschutz eines alten Mannes in einer Umbruchszeit nahe gelegt hätte. Er hat es im Gegenteil seinen Gegnern mitunter leicht gemacht, gegen ihn zu wirken - was sie nicht ent- 138 Zit. nach Adickes S. 12. 139 Dichtung und Wahrheit. 13. Buch. Hamburger Ausgabe 9. Bd. S. 591. 140 Kühnemann in: Immanuel Kant. Gedenkblatt der Königsbg. Allg. Ztg. 1924 S. 13. <?page no="54"?> 46 schuldigen kann. So hat er im Jahre 1798 eine Einladung der Königin Luise auf das Königsberger Schloss ausgeschlagen und diese Taktlosigkeit sogar selbst berichtet - ein Mitglied der Königl. Akademie der Wissenschaften in Berlin, wie auf dem Titelblatt der KrV (B) steht, hatte die „tugendsamste“ Königin 141 , eine besondere Zierde ihres Geschlechts, brüskiert 142 - entgegen der langjährigen, bevorzugten Behandlung, mit der ihn die schon und erst vor sieben Jahren verstorbene Reichsgräfin von Keyserling ausgezeichnet hatte. Das zeigt, wie tief die Verletzungen gedrungen sein müssen, die er erlitten hatte; denn diese Zurückweisung seiner jungen Königin in einer für sie schweren Zeit passt weder zu dem gerühmten, früheren galanten Magister und Cavalier des ancien régime 143 noch zu dem zweimaligen Rector magnificus der Albertus-Universität - Rollen, die er mehr oder minder freiwillig gespielt hatte, die ihn aber nicht verwandeln konnten, da sie dem Forscher aus Neigung nicht angemessen waren. Zudem hätte er, als Universalgelehrter und in seinem Alter, frei von Anpassungsdruck, an die Grazie der Weisheit (an Herder; 9. 5. 1768) denken können, und sei es in einem verpflichtenden Wissen von einer alteuropäischen, „höfliche[n], ritterliche[n] Haltung“ 144 , wie sie etwa im Wien Maria Theresias, der bedeutendsten „in der langen Reihe bedeutender Frauen aus der habsburgischen Familie“ 145 , und dann des Rosenkavaliers noch lange galt, oder sei es aufgefordert durch die Freundschaften, die Leibniz mit der Kurfürstin Sophie und ihrer Tochter Sophie Charlotte, der Philosophin auf dem Königsthron, verbunden hatten, oder eingedenk des frühen Todes des Descartes, der zu seinem Unglück der Einladung der Königin Christine ins rauhe Stockholm gefolgt war, oder in Erinnerung daran, was er Leonhard Euler verdankte, dessen Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie (Leipzig 1769) ihn hätten klug handeln lassen sollen, zumal er selbst die erleuchtete Frau von Chastelet gerühmt hatte (Kf. 1; 67; 133). Kants Beiträge zu seiner Unbeliebtheit zeigen zugleich die Grenzen der Krönungsstadt sowie der Erfahrung des Lehrers und Bekenners, des nach Weisheit strebenden Gelehrten - er hat versäumt, mit einer „wahrhaft königliche[n] Frau“ 146 zu sprechen; es hätte nicht zuletzt an ihm gelegen, daraus einen menschlichen Gewinn zu ziehen. 141 G. Heinrich Geschichte Preußens. Frankfurt/ M. u. a. 1984. S. 277 142 Vorländer Immanuel Kant 2. Bd. S. 308f. 143 Stavenhagen S. 56. 144 A. Borst Reden über die Staufer. Frankfurt/ M. u. a. 1981. S. 185. 145 Wandruszka S. 91; s. Anm. 117. 146 M. Kühn Schloss Charlottenburg. Zit. nach: Heinrich S. 140. - Napoleon hat nach einem Gespräch mit der Königin zum Zaren bemerkt, er sei versucht, ihr eine Krone zu Füßen zu legen (statt sie ihr zu nehmen, was der Zar verhindert hat); s. F. L. Müller Die letzte Reise. Luise. In: Monumente 1997 S. 71. <?page no="55"?> 47 3. 3. Werdet nicht der Menschen Knechte Als ob er unangreifbar sei und die ihm doch unmissverständlich und doppelt, grundsätzlich im Zensuredikt und persönlich in einer Kabinettsorder, verdeutlichten Zeichen der Zeit einfach übergehen könnte, hat Kant seinen Kampf für die Würde und die daraus abzuleitenden Rechte des Menschen verschärft fortgesetzt und es gewagt, im Schatten der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege, nicht nur überlegen und ironisch auf Misstände hinzuweisen und sich als Weltbürger und Friedensfreund zu bekennen, sondern darüber hinaus zum Widerstand gegen Ungerechtigkeit überhaupt aufzufordern. In beiden Teilen der MS ging er gleichsam zum direkten Angriff auf den herrschenden Absolutismus über - ein eindeutiger Fall von Renitenz. In der Rechtslehre ist zu lesen: „Von einem Landesherrn kann man sagen: er besitzt nichts (zu eigen), außer sich selbst“ (6; 324). Das war von jemandem, der - ungeachtet seiner Unbürgerlichkeit - nicht das franziskanische Armutsideal anstrebte, so radikal einfach gesagt, dass es weder philosophisch noch rechts- oder staatstheoretisch bloß als Anmerkung interessant erscheint, sondern grundsätzlich-allgemein, politisch sowie, nach dem Umsturz in Paris, entschieden konkret, alle mehr als nur sich selbst Besitzenden und die zwar altbekannte, aber stets mehr oder minder brisante Eigentumsfrage betreffend, die Kant noch dazu so delikat wie dialektisch-drastisch, gleichsam änigmatisch-deutlich ansprach: „Aber man kann auch sagen: er [der Landesherr; Rh.] besitzt alles“ [ebd.]. Weitere, nicht weniger radikale Konsequenzen aus seinem kompromisslosen Kampf für die heiligen Rechte der Menschheit (Aufkl. 8; 39) zog Kant in der Tugendlehre. Schon in seiner Religionsschrift hatte er eine Revolution in der Gesinnung gefordert, wie sie zwar christlich grundlegend, aber unbequem ist und zudem gerade von den Überzeugung heuchelnden Hinze’s jederzeit als vollzogen behauptet werden kann. Diesen altehrwürdigen Appell verdeutlichte und verschärfte Kant folgerichtig und herausfordernd derart, dass er besagten Heuchlern nicht mehr so leicht von den Lippen gehen wird, und postulierte in der Einleitung, typografisch hervorgehoben: „Eigene Vollkommenheit - fremde Glückseligkeit“ als „die Zwecke, die zugleich Pflichten sind“ (6; 385; umgestellt; J. Rh.). Von den Pietisten gefordert, in der KpV (5; 34 Anm.) und in der Vorrede zur Religionsschrift (6; 3) angemerkt, entspricht es einer theoretisch-abstrakten Ausfaltung des christlichen Hauptgebotes der Nächsten- und Selbstliebe, das moderne Solidaritätsprinzip mit seiner Fürsorgepflicht ausdrücklich, als auf die Praxis zielender Pflicht-Zweck, einschließend; obwohl die von Kant in seinem teilweise düsteren Menschenbild ausgeklammerten Ausnahmen <?page no="56"?> 48 entscheidend sind, gilt im Allgemeinen, ihn bestätigend: „Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde nichts,/ Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der Gesunde nicht.“ 147 Das wird nicht gern gehört, nicht einmal poetisch, von einem Dichter im Abseits, und schon gar nicht wird es philosophisch begründet gern zur Kenntnis genommen, zumal von einem Denker im Rampenlicht, in einer Tugendlehre und in einem „Jahrhundert der Toleranz“, das „mit dem Versuch endete, die Tugend mit dem Fallbeil zu entdecken“ 148 ; zudem konnten in einer Epoche, in der Viele um das Überleben oder gegen Terror und Tritte zu kämpfen hatten, Kants Pflicht-Zwecke, weltlich verstanden, nicht den Nerv der Zeit treffen - eigene Vollkommenheit war weder ein avantgardistisches noch ein revolutionäres Postulat, sondern ein altes, geradezu klassisches, im 18. Jahrhundert seit Christian Wolff als Perfektibilismus fast modisches, nur selten durchdachtes und ernst genommenes Ideal, das gleichwohl alle Gräuel der Geschichte überdauert hat. Vollkommenheit war von Kant als Zweck, der zugleich Pflicht ist, gleichsam aus dem Ideenhimmel einer jeweils individuellen Freiwilligkeit auf den Boden gut begründeter, allgemeinverbindlicher Forderungen geholt worden, noch dazu in Verbindung mit fremder Glückseligkeit, wobei ausdrücklich Armut, als eine große Versuchung zu Lastern (MS 6; 388), Anteil nehmend und anklagend einbezogen war. In dieser brisanten Verbindung war der doppelte Pflicht-Zweck bei den damaligen Wirren revolutionär - mochte diese Forderung auch in der Theorie richtig und christlich sein. Kant hatte das ebenso furchtbare wie „fruchtbare Bathos der Erfahrung“ (Pro. 4; 373 Anm.) allenfalls theoretisch berücksichtigt, praktisch jedoch nur unzulänglich im Blick, was schon Hamann an Kants Aufklärungs-Aufsatz kritisierte als geschrieben von einem „Räsoneur und Spekulant[en] hinter dem Ofen und in der Schlafmütze“ 149 - eine verbreitete erkenntnistheoretische und praktische Schwäche karikierend, die auch Herder an dem bewunderten Montesquieu missfallen hatte. 150 Diesem Räsonnement folgt der revolutionäre, zeitlose Rat, alle Aufklärungs-Appelle hinter sich lassend, zur Handlungs-Aufforderung erweitert: „Werdet nicht der Menschen Knechte; - lasst euer Recht nicht ungeahndet von anderen mit Füßen treten.“ (MS 6; 436.) Das war von jemandem, der nicht zu Tode und auch nicht zum Krüppel getreten war, der sogar seiner Neigung leben konnte, leicht zu sagen, wurde aber allzu vielen Knechten nicht gerecht: „Manche freilich müssen drunten sterben“, wie Hofmannsthal zeitlos klagte… 147 August Graf von Platen Neue Ghaselen XLVI. 148 S. Andres Toleranz. In: Ders.: Der Dichter in dieser Zeit. München 1974. S. 189-201. S. 194. 149 Hamann an Kraus; 16. 12. 1784. 150 Vgl. Gadamer in: J. G. Herder Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Nachwort v. H.-G. Gadamer. Frankfurt/ M. 1967. S. 175. <?page no="57"?> 49 Diese Tugendlehren waren als Ahndungs-Aufforderungen zwar allgemein formuliert, an ein als ausreichend verinnerlicht unterstelltes Rechtsbewusstsein appellierend, doch entschieden scharf und deutlich genug, um als schädlich eingestuft zu werden, nicht nur zur Zeit ihrer Veröffentlichung. Kant erläuterte seinen theoretisch-abstrakten, selten erwähnten Emanzipations-Appell und Aufruf zur Eigeninitiative: „Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, dass er mit Füßen getreten wird.“ (MS 6; 437.) Das erinnert an Hamanns Räsoneur, konnte aber den Gewalthabenden noch weniger angenehm in den Ohren klingen als denen, die sich mit ihrem Wurm-Dasein abgefunden hatten, weil sie es nicht ändern konnten. Kant geriet in eine „verdächtige Nähe zur, wie Lichtenberg das genannt hat, neufränkischen Experimentalpolitik“ 151 ; die aus der Rechts- und Tugendlehre zitierten Sätze waren unklug und sachlich nicht ganz richtig, hatte doch Kant selbst beklagt, dass bereits jedes Aufbegehren gegen die Eigenliebe, Eitelkeit und Willkür zumindest der Hinze’s und zumeist auch der Gewalthabenden Groll oder Hass hervorruft und mit Gewalt beantwortet wird, die von Ränken bis zum Tode reichen kann. In der Pädagogikvorlesung hat Kant auf eine besonders unbeliebte Voraussetzung dafür hingewiesen, dass der Homo humanus Wirklichkeit werden kann: Jeder muss beginnen, sich selbst besser zu machen. Wenn man das aber reiflich überdenkt, so findet man, dass dieses sehr schwer sei. (9; 446.) Das interessiert natürlich nur dann, wenn die von Kant wie von den Pietisten geforderte Selbstbesserung ernst genommen wird; darum stören derartige Hinweise und Ermahnungen im Allgemeinen nicht weiter, zumal sich Besserung erstens bequem von sich selbst, betont bescheiden und zurückhaltend, als bereits im Vollzug befindlich oder auch als vollzogen behaupten und zweitens noch bequemer jederzeit und überall als Empfehlung eindrucksvoll weitergeben lässt; zudem ist diese Aufforderung an alle gerichtet - was zugleich heißt, an niemanden. Anders liest sich unsere Pflicht, dem Armen Gutes zu tun. (Pä. 9; 491.) Auch mit dieser Christen-Pflicht kann so umgegangen werden wie mit der Besserungs-Aufgabe, doch ist damit immerhin ein ungerechtes, unsoziales Verhalten angesprochen… Es war zu erwarten, dass die von Kant so hartnäckig herausgeforderten Gewalthabenden ihren Groll geltend machen würden; offen war eigentlich nur, wie die Männer von entweder großem oder doch unternehmendem Geiste (Ende 8; 337) auf Kants despektierliche Anspielungen und Aufforderungen antworten würden: Wie die meisten lesen die unternehmenden Männer Kritik und Ironie, die mehr oder minder deutlich auf sie gemünzt sind, nicht gerne, sind sie sich doch ihrer Macht bewusst, auf sie bedacht und lassen sich darum nicht einfach durch bittere Wahrheiten, radikale Folgerungen und 151 Dietzsch S. 229. <?page no="58"?> 50 Forderungen angreifen; dergleichen aber hatte Kant viel zu oft und geradezu mit der doch regierungsamtlich abgemahnten, fortgesetzten Renitenz vorgetragen. Zudem musste sein bleibendes, vielleicht abgeschwächtes Eintreten für eine blutige Revolution ein Stein des Anstoßes sein und konnte als Bekenntnis eines prominenten Professors als schädlich eingestuft werden - es war aber auch mit dem Pflicht-Zweck, eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit zu befördern, ohne Gewalt ebenso wenig zu versöhnen wie ein absolutes Lügenverbot sinnvoll sein kann in einer Welt, die, wie Kant wusste, betrogen werden will und über deren Gott er keine Illusionen hatte; so konnte er als Jakobiner und Atheist 152 sowie von „führende[n] Vertreter[n] des revolutionären Frankreich“ als einer „der Ihrigen“ 153 angesehen werden; mit seinen Bußpredigten, als großer Revolutionär hatte er die Grenze des Schädlichen erreicht; dabei ist sein entscheidendes positives Anliegen, die konstruktive Seite seiner Kritik oft übersehen oder übergangen worden - konstitutiv ist seine Begründung der Freiheit, womit ihre liberalistische Interpretation, etwa in der Diktatur des Relativismus, widerlegt und jedem Freiheitsdünkel und Allmachtsstreben des fast als Übermenschen agierenden Homo inhumanus ein Nein entgegengesetzt ist: Diese subtilen Bestreitungen des Gewohnten und Bequemen sind anspruchsvoll, zumal wenn Angriff und Verteidigung, Recht und Unrecht dialektisch verwirrt sind - abgesehen davon, dass Kant erst nach gut zweihundert Jahren im Großen und Ganzen recht verstanden und gewürdigt worden ist und nur durch einprägsame Bilder wie das des bestirnten Himmels oder Formeln wie der des kategorischen Imperativs populär und wirksam werden konnte. Kants schädliche Sätze sind zitiert worden auch hinsichtlich eines angemessenen Verständnisses seiner Gegner, seiner Unbeliebtheit und seines Ungleichgewichtes; das geforderte Bemühen um eigene Vollkommenheit bedarf keines Kommentars, das um fremde Glückseligkeit kann, wie die Geschichte seit den Gracchen zeigt, undankbar sein und gerade bei den Gemeinten nicht nur auf keinerlei Gegenliebe, sondern auf Unverständnis und Ablehnung stoßen; beides ist nicht einfach aufzuklären: Kant hat - „ähnlich wie viele andere Aufklärer - die Kraft rationaler Argumente und vernünftiger Urteile überschätzt“. 154 Es war a priori unwahrscheinlich, dass er mit seinen Forderungen beliebter und erfolgreicher sein würde als seine Vorgänger und Zeitgenossen, er hatte die Spannung kaum hinreichend bedacht, geschweige denn philosophisch bewältigt, die besteht etwa zwischen der Aufforderung, selbst zu denken, und der Tatsache, dass der Preis dafür sehr hoch sein kann. Schon ein Aufbegehren gegen Ungerechtigkeiten und Misstände kann große Opfer fordern - das war Kant selbst, nach einer für ihn relativ ruhigen Zeit, im Zensurkonflikt klar gemacht worden; seine 152 Christian Gottfried Schütz an Kant; Februar 1786. 153 Klemme S. LI. 154 Fetscher in: Die aktuelle Barbarei S. 106. <?page no="59"?> 51 Forderungen können die Bereitschaft zum Martyrium einschließen - doch kann sich nur der Einzelne für sich selbst entschließen, die Opferforderung einer Idee zu erfüllen: Kants Aufklärungs-Appelle blieben nicht immer in den Grenzen der bloßen Vernunft und dessen, was billigerweise zu fordern sein kann, vor allem in apokalyptischen Zeiten - so saßen die Köpfe Selbst- und Andersdenkender oder derer, die nicht schnell genug die Zeichen der Zeit erkannt hatten, im Frankreich der Schreckensherrschaft, das damit Russland und Deutschland einiges voraus war, sehr locker, und Sokrates, Seneca, Savonarola, Servet, der Entdecker des kleinen Blutkreislaufs, und Edith Stein können stellvertretend für die stehen, die wie Würmer zertreten wurden, weil sie sich nicht dazu hatten machen lassen wollen: Es gab also Gründe genug für eine gewisse Unbeliebtheit eines eigenwilligen Menschen, der kaum weniger schwierig war als seine Philosophie, der, wie alle Interessierten wissen konnten, nicht in die Kirche ging, keine Möbel von Wert hatte, den naher Hahnenschrei ebenso störte wie Singen und andere lärmende Unterhaltungen (Anf. 8; 111 Anm.)… Die von Kant postulierte, Gutes wie Schlechtes, Schein und Sein, Illusion und Irrtum, Wunsch und Wirklichkeit, Sollen und Streben umfassende Erfahrungs- Einheit war bei seinen frühen Aufklärungsappellen noch ein wenig Theorie. Das Tun und Lassen der großen und kleinen Gewalthabenden, ihr schimmerndes Elend (Idee 8; 22) 155 wurden wohl für den Weisheit Liebenden in einem schmerzlichen Lernprozess 156 uninteressant, wissend, dass - im Gutenberg- Zeitalter, günstigenfalls - die Zeit alles sichtet und nur das sich erhält, was einen inneren Wert hat (Lo. 9; 79): Eine Ermunterung zur Wahrheit, eine Verabschiedung von Klagen, ein weiterer Wink auf dem Wege zur Weisheit. Dieser Weg vom Erkennen zum Handeln, von der Theorie zur Praxis, von der Einsicht zur Umkehr, zur Weisheit, ist einsam, weit und steinig. So ist der Mut zu bewundern, mit dem Kant sagte, was er als recht erkannt hatte, auch wenn es unwillkommen ist, wie die Sicht der Ehe, die, was die Würde von Mann und Frau und der Familie 157 , das eigentlich Menschliche, nicht das Körperliche betrifft, kaum begriffen oder gewürdigt wird und am kürzesten mit streng katholisch zu umreißen ist - verwandt der Auffassung Goethes in den Wahlverwandtschaften sowie der Hofmannsthals 158 : 155 „Kant schafft […] nicht nur philosophische Fachworte, sondern zeigt auch eine merkwürdige Aufgeschlossenheit für moderne Zeitausdrücke. So verwendet er den bei Goethe und Jung-Stilling zu findenden, vorher schon aus […] TERSTEEGEN (1729) zu belegenden Ausdruck glänzendes Elend.“ Kainz in: Deutsche Wortgeschichte. Hg. v. F. Maurer u. F. Stroh. 2. Bd. Berlin 1943. S. 238. 156 Höffe Kritik S. 315. 157 Hofmannsthal hat sein „Leben lang […] die Heiligkeit der Familie gepriesen“ als „Kern[s] jeder nur denkbaren Gesellschaftsstruktur“. H.-A. Koch Hugo von Hofmannsthal. München 2004. S. 13f. 158 „Wahre Ehe ist […] nur durch den Tod lösbar, ja eigentlich auch durch diesen nicht.“ Koch S. 137. <?page no="60"?> 52 „Es ist der Ehevertrag kein beliebiger, sondern durchs Gesetz der Menschheit notwendiger Vertrag, d. i. wenn Mann und Weib […] [zusammenleben; Rh.] wollen, so müssen sie sich notwendig verehelichen, und dieses ist nach Rechtsgesetzen der reinen Vernunft notwendig.“ (MS 6; 277f.) Konkubinate, Lebensabschnitts-Partner, offene Beziehungen waren und sind nahezu jederzeit und überall beliebt - nicht bloß bei dem seinerzeit soeben verstorbenen Friedrich Wilhelm II.; eine Kritik an den für die herrschende Moral repräsentativen Widersprüchen zwischen Theorie und Praxis, Recht und Realität ist schädlich. Kant nannte Rechtsgesetze der Vernunft, ein Gesetz der Menschheit, das de jure, theoretisch in Geltung war und durchaus noch gelebt wurde, so von der Kaiserin Maria Theresia, der Königin Luise, Matthias Claudius, de facto, praktisch aber gegebenenfalls übergangen wurde - dagegen kämpfte Kant konstruktiv; Groll und Gegenwind konnten irgendwann in einen Sturm übergehen, der auch das Op erfasste. Die seit der Französischen Revolution an- und abschwellenden, kürzer oder länger pausierenden Orkane zeigen, was wohl Kant mit der Zerstörung der eigenen Gattung, zu deren Grundlagen Ehe und Familie gehören, gemeint und geahnt hat. In der Trümmerspur der mannigfachen, modernen Revolutionen ist eine Schöne neue Welt im Werden, in deren pluralistischer Humanität, unter dem hochmütigen Namen der Toleranz (Aufkl. 8; 40) sowohl Groll und Gegenwind als auch Kurioses aufgehoben sind im überlegenen Lächeln und machtbewussten Achselzucken der Aufgeklärten über so antiquierte, dann doch kuriose Auffassungen wie der Kants, Goethes und Hofmannsthals von der Ehe; es versteht sich, dass von diesem Kant ein Werk über Gott, Welt, Mensch bei den von ihm so hartnäckig angegriffenen, immer modernen Menschen unerwünscht sein musste; der Unglauben ist jederzeit sehr dogmatisch und bekämpft oder ignoriert willkürlich, was er nicht aufkommen lassen will. 159 Was Kants, von Benjamin gerühmtes Ehe-Verständnis betrifft 160 , so hat ihn wohl nur die übliche Nichtlektüre davor bewahrt, wie Platon zum Ahnherren des Faschismus oder zum Fundamentalisten aufzusteigen… Die Kabinettsorder hatte Kant gezeigt, wie unbeliebt er geworden war; er hätte daraus die üblichen Konsequenzen ziehen und sich, zumal in seinem Alter und bei stets schwankender Gesundheit, zurückziehen können, um sein 159 Repräsentativ: „Die Aussagen, die Russell über den zentralen Inhalt des christlichen Glaubens […] macht, sind einfachhin falsch, unverstanden und primitiv. Die Sache, die Gegenstand der Kritik sein soll, wird überhaupt nicht oder völlig schief gesehen“. H. Fries Ärgernis und Widerspruch. 2. erw. Aufl. Würzburg 1968. S. 26. - Vgl. die „Unverträglichkeit“ der Theorie Russells „mit seiner Praxis“. U. Steinvorth in: B. Russell Philosophische u. politische Aufsätze. Stuttgart 1971. S. 222. 160 „Kants Definition der Ehe aus der MS, deren einzig als Exempel rigoroser Schablone oder als Kuriosum der senilen Spätzeit hin und wieder gedacht wird, ist das erhabenste Produkt einer ratio, welche […] in den Sachverhalt unendlich tiefer eindringt, als gefühlvolles Vernünfteln tut.“ W. Benjamin Illuminationen. Frankfurt/ M. 1977. S. 65. <?page no="61"?> 53 überfälliges System auszuarbeiten. Stattdessen fuhr er, gänzlich unbürgerlich, nicht nur in seinen Aufklärungs-Bemühungen fort, sondern wendete sie ins Kosmopolitische - eine Praxis, die philosophisch-theoretisch folgerichtig und rühmenswert, politisch-gesellschaftlich konkret aber unklug war: Ein Pygmäe, als den sich Kant realistisch sehen konnte, wagte, seiner Philosophie, seinen Ideen und Idealen folgend, sich im Streit der Starken kritisch zu Wort zu melden (an Spener; 22. 3. 1793). Kant, der Thomas Morus mehrmals erwähnt hatte, wusste, wie gefährlich Wahrheitsliebe werden kann und dass inzwischen in Preußen ein Hofmann, der es als Pflicht erkennt, jederzeit wahrhaftig zu sein, nicht lange Hofmann bleiben wird (an Beck; 3. 7. 1792). Kant näherte sich damit Platon (Staat 361e-362a), Leibniz und Goethe: Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen? Die wenigen, die was davon erkannt, Hat man von je gekreuzigt und verbrannt. 161 Als Pygmäe hat sich Kant zurückgehalten; gleichwohl hat er die Grenzen dessen, was gesellschaftskonform gerade noch beim rechten Namen genannt werden darf, überschritten, für mehr ist seit alters in „der bürgerlichen Gesellschaft“ und auch „in der Welt der kirchlichen Gesellschaft“ 162 allenfalls ausnahmsweise und erst neuerdings gewissermaßen als Narrenfreiheit Platz. Die Feindschaft, die Kant erfuhr, war, ohnehin durch seinen Ruhm und sein Alter gebremst, „nichts Besonderes“ 163 . Kants unbürgerlich kritisch-konsequentes Verhalten, sein Mut trugen dazu bei, dass er verehrt und geliebt wurde - zugleich ist die missgünstig wetteifernde Eitelkeit, getrieben durch Ehrsucht und Herrschsucht (Idee 8; 19f.) geweckt oder verstärkt worden: „In Königsberg […] machte sich […] eine Abneigung gegen Kant breit“ 164 , er war in der von ihm so gerühmten Hafenstadt unbeliebt, die Seinen nahmen ihn nicht an - der verpflichtende, Kant anregende kulturelle Reichtum des alten Europa in der, dem Baltikum, Polen und Russland nahen Stadt, in der Großbritannien und Frankreich ebenfalls repräsentiert waren, konnte ihn nicht vor den weisen Bürgern schützen, die, von Eigenliebe und Eitelkeit getrieben, davon allenfalls oberflächlich berührt werden, wie sich auch ganz äußerlich zeigte: „Der Nachlass des vergötterten Weisen […] wurde verschleudert, sein Heim unwürdiger Behandlung ausgeliefert.“ 165 „Um die irdischen Reste dieses Unsterblichen breitete sich mehr als ein Jahrhundert hindurch ein wenig ehrfürchtiges Geschick“, sein Grab „geriet mehr und mehr in einen unwürdigen 161 Urfaust V. 236f.; 240. - „Zwar wird, wer die Wahrheit sagt, nicht mehr gehenkt, aber er wird auch nicht gehört.“ W. Hildesheimer Büchner-Preis-Rede 1966. In: Büchner- Preis-Reden 1951-1971. Stuttgart 1972. S. 181. 162 G. Eichholz Einführung in die Gleichnisse. Neunkirchen-Vluyn 1963. S. 53. 163 Vgl. H. R. Schlette Über das Interesse an Simone Weil. In: S. Weil Philosophie - Religion - Politik. Hg. v. H. R. Schlette u. A. Devaux. Frankfurt/ M. 1985. S. 23. 164 Dietzsch S. 227. 165 Regiomontanus Immanuel Kants Heim. In: Immanuel Kant. Gedenkblatt d. Königsbg. Allg. Ztg. S. 23. - Das Pseudonym zeigt: Kritik war noch immer unerwünscht. <?page no="62"?> 54 Zustand.“ 166 „Die Abneigung oder mindestens Gleichgültigkeit“ der ehemaligen Schule Kants zeigte sich darin, dass sich in ihrer Bibliothek „zwar eine ganze Anzahl“ „philosophischer Schriften des 18. Jahrhunderts […], aber keine einzige von Immanuel Kant! “ befanden. 167 In der Rede zu Kants Beerdigung gab es keine Andeutungen über ein Unwesen (St. 7; 10) oder einen Streit des preußischen Königs mit dem platonischen Philosophen; der neue König steuerte innenpolitisch einen anderen Kurs und politische Streitigkeiten eines anderen Ausmaßes hielten die Welt weiterhin in Atem; dass der zu Feiernde in seiner Heimatstadt, in Berlin und darüber hinaus umstritten war, konnte mit dem Ruhm des Toten nicht konkurrieren. Doch bereits bei der Vorbereitung der amtlichen Feierlichkeiten für Kants Begräbnis hatte es einen Kampf hinter den Kulissen gegeben, zu dem auch Kants im Streit der Fakultäten geäußerte Erwartung eines frühen Todes des Monarchen beigetragen haben dürfte, eine Taktlosigkeit, die drucken zu lassen nicht nur bei eingefleischten Royalisten als peinlich und anstößig empfunden werden konnte, zumal der allerdings stärker kränkelnde König immerhin zwanzig Jahre jünger gewesen war als Kant. Es wird viele Gründe für Kants Unbeliebtheit gegeben haben, wie der selten erwähnte Streit vor seiner Beerdigung zeigt - Vorländer vermerkt „allerlei Eifersüchteleien und andere unerwartete Hindernisse“, die „eine würdige Totenfeier“ verzögerten, wie sie „die Studierenden“ wollten, die „anscheinend nur Königsbergs Oberbürgermeister“ unterstützte; schließlich wollte „auch der Senat [der Universität; Rh.] nicht ganz zurückbleiben“ und beschloss „eine besondere Gedenkfeier“. 168 Zu den Hindernissen gehört, dass Kant als Rector magnificus seine Teilnahme an einem Festgottesdienst für Friedrich Wilhelm II. wegen einer Unpässlichkeit abgesagt hatte 169 : Sitzet nicht, wo die Spötter sitzen… Kant nahm ernst, was für viele Heuchelei, Selbsttäuschung oder Schauspielerei ist. 166 Stettiner Kants Grabstätte. A. a. O. S. 24. 167 Vorländer Immanuel Kant 1. Bd. S. 42 Anm. 1. 168 Vorländer Immanuel Kant 2. Bd. S. 355ff. 169 A. a. O. S. 48. <?page no="63"?> 55 4. Das Op - ein Zeichen, dem widersprochen wird Anmaßung, Protest und die Ohnmacht der Vernunft Der Unglauben ist jederzeit sehr dogmatisch (B XXX) und bekämpft oder ignoriert willkürlich, was er nicht aufkommen lassen will (MS 6; 208). Im Lichte der skizzierten Verflechtung von Politik und Perfidie, Hochmut und Hass, Persönlichem und Philosophischem, Bewusstem und Unbewusstem sind Rinks Groll und Hübners Kuriosum zu sehen; im Spannungsfeld von Aufklärung, Anfechtung, Anpassung und Widerstand, von wechselseitigem Groll kämpften in dem sich anbahnenden Skandal nur wenige für das Hauptwerk, zu dem gehört, was sich Kant in Georg Friedrich Meiers Auszug aus der Vernunftlehre (Halle 1752) notiert hatte: einen Autor zu seinem Vorteil auszulegen (R 3476). Was über Wahrheit und Methode, Theorie und Praxis des Auslegens üblich ist, zeigen die Auslegungsgeschichten Platons, Leibniz’, Kants, Goethes und Schellings; nicht nur Kants offene oder versteckte Gegner legten ihn zu ihrem Vorteil aus. Es ist menschlich, dass sich Kant selbst nicht immer an seine Ansprüche und Einsichten gehalten hat, gegenüber der Königin Luise nicht und auch nicht beim Auslegen; das kann niemanden entschuldigen: Kants Hauptwerk wurde weggelegt, seine Philosophie nachlässig rezipiert, Sorgfalts- und Informationspflicht wurden ignoriert, und so kam es absichtlich oder unabsichtlich zu der „absonderliche[n] Geschichte dieses merkwürdigen Werkes“ 170 , in die sich fremde Hände einmengten (A 744), wie sich ex negativo und zeichenhaft bereits aus der Rede ergibt, die der dafür von Amts wegen zuständige Professor der Theologie und Eloquenz, Samuel Gottlieb Wald, bei der akademischen Trauerfeier am 23. April 1804, an Kants Namenstag nach dem in Preußen geltenden Kalender, einen Tag nach seinem 80. Geburtstag und zehn Wochen nach seinem Tode, in der Aula der Universität zu halten hatte. Wald erwähnt das Op nicht, obwohl ein seit mehreren Jahren bearbeitetes Werk an diesem Ort und in dieser Stunde ein Wort wert gewesen wäre. Es gab für eine mit dem Toten befreundete oder näher bekannte Person keine Möglichkeit, über seine letzte Arbeit, seinen Schwanengesang etwas Persönliches oder Philosophisches zu sagen oder zu hören. 171 Zu den von Wald um Auskünfte für seine Rede gebetenen Personen gehörte nicht der im Op mehrfach genannte Johann Gottfried Hasse (1759-1806). Dank seiner Erinnerungen lassen sich Anspruch und Widerspruch, Freundschaft und Feindschaft, Wahrheit und Lüge im Streit um das Op unterscheiden, dessen Geschichte anders verlaufen wäre, hätte man ihn ernst genommen. 170 Vgl. Lehmann S. 45. 171 Die Rede und die Auskünfte der befragten Personen sind abgedruckt in Kantiana. <?page no="64"?> 56 4. 1. Letzte Äußerungen als erstes Zeugnis des Hauptwerkes Hasse ist bisher, soweit zu überblicken und kurioserweise, unkritisch kritisiert, aber nicht kantisch gelesen und gewürdigt worden. In Thüringen geboren, seit 1786 Professor in Königsberg und dort als Ausländer geltend, war der Konsistorialrat im Jahre 1794 wegen einer Broschüre Über jetzige und künftige Neologie „gemaßregelt“ 172 worden. Kant hatte diesem ungewöhnlichen Kollegen im Jahre 1801 seine Senatsstelle überlassen, ihn häufig zum Essen eingeladen und sein Hauptwerk einsehen lassen, wovon der durch diesen Gunstbeweis Ausgezeichnete und wohl auch Gezeichnete berichtet: Dieses erste Zeugnis über Kants letztes Werk ist enthalten in den wenigen Blättern einer Schrift, betitelt Merkwürdige Äußerungen Kants, erschienen im Selbstverlage des Verfassers. Sie war „so schnell vergriffen“, dass nach „wenigen Wochen“ ein zweiter Abdruck mit dem Titel Letzte Äußerungen Kants von einem seiner Tischgenossen erschien, bei Friedrich Nikolovius, Kants Freund, Königsberger Verleger und ehemaligem Schüler, eine Anerkennung Hasses, die als öffentliches Bekenntnis zu würdigen ist. Die Titeländerung ist damit begründet, dass es „wirklich“ letzte Äußerungen Kants seien, die mitgeteilt werden, und dass sie „unter diesem Namen nicht zu viel versprechen.“ 173 Damit werden die Angaben über das Hauptwerk betont - sie sind nicht kritisiert, korrigiert oder widerlegt worden, wie Hasses Berichte über biografische Details. Die Neuauflage „enthält […] interessante kleine Zusätze“ 174 , ist also nicht so rasch entstanden, dass keine Änderungen möglich waren - es gab hinsichtlich des Op nichts zu berichtigen, obwohl auch dieses Buch nicht fehlerfrei und irrtumslos ist. Aus einer frischen, bereits überprüften Erinnerung berichtet er, was er über das Op von Kant selbst, meist mehr als einmal, gehört habe, und daher verbürgen kann: „Schon seit mehreren Jahren lag auf seinem Arbeitstische ein handschriftliches Werk von mehr als Hundert Folio-Bogen, dicht beschrieben, unter dem Titel: System der reinen Philosophie, in ihrem ganzen Inbegriffe, an dem ich ihn oft, wenn ich zum Essen kam, noch schreibend antraf. Er ließ mich es mit Willen mehrere Male an- und einsehen und durchblättern. Da fand ich denn, dass es sich mit sehr wichtigen Gegenständen: Philosophie, Gott, Freiheit, und wie ich hörte, hauptsächlich mit dem Übergange der Physik zur Metaphysik beschäftige.* Bei dem Begriffe der Philosophie schien der erhabene Denker mit sich selbst lange im Kampfe gewesen zu sein; so sehr war dieser Artikel durchstrichen, überarbeitet und durchgeackert! Einst äußerte ich meine Verwunderung darüber“ und Kant sagte am „15ten Juni 1802“, „dass er den Morgen viel über den Begriff Gott gedacht und geschrieben hätte; es sei ihm aber sehr schwer geworden. Das leitete er aber nicht von einer Schwäche seiner Denkkraft, sondern von der Schwierigkeit des Gegenstandes selbst her.“ (S. 23f.; 26f.) Hasses *-Anmerkung lautet: 172 Vorländer Kants Leben S. 182. 173 Hasse S. 9. 174 Vorländer Kant-Biographien S. 31f. <?page no="65"?> 57 „*Dieses Werk pflegte Kant im vertraulichen Gespräche sein Hauptwerk, ein Chef d’oeuvre zu nennen, und davon zu sagen, dass es ein (absolutes), sein System vollendendes Ganze, völlig bearbeitet, und nur noch zu redigieren sei, (welches letztere er immer noch selbst zu tun hoffte.) Gleichwohl wird sich der etwaige Herausgeber desselben in Acht nehmen müssen, weil K. in den letzten Jahren oft das ausstrich, was besser war als das, was er überschrieb, und auch viele Allotria (z. B. […] Gerichte […]) dazwischen setzte. Damals hieß es, dass es unserm Hrn. Prof. Gensichen (dem K. auch seine Bibliothek und 500 Rthlr. Geld vermacht hat) zur Herausgabe übergeben werden sollte. Jetzt ist es vorläufig dem Hrn. Hofpred. Schultz (Kants Kommentator, einem kompetenten Richter) zur Beurteilung kommuniziert, der mich aber versicherte, dass er darinnen nicht fände, was der Titel verspräche, und zu der Herausgabe desselben nicht raten könne.“ (S. 24 Anm.) Dieser Bericht sollte jeden ansprechen, den Kant, sein Werk oder die Philosophie interessiert: Es gibt keine Gründe für berechtigte, sinnvolle Zweifel an der Authentizität der in einer zweiten, verbesserten Auflage bekräftigten, im Op bestätigten, von Kant selbst gehörten Angaben Hasses - niemand verbürgt sich für Belangloses, Selbstverständliches. Hasse hat die Authentizität seines Berichtes offenbar hervorgehoben, da er bestritten werden könnte - was wohl zu erwarten war; Hasse wollte Wichtiges klar- und sicherstellen, bevor die Öffentlichkeit durch andere Darlegungen verunsichert oder irregeführt würde - die kritisierte Eile Hasses war notwendig; im Lichte sich abzeichnender, für das Hauptwerk ungünstiger Umweltbedingungen ist das übrige zu lesen: Seit mehreren Jahren arbeitete Kant an einem System der reinen Philosophie, an dem schreibend ihn Hasse oft antraf und dessen Gegenstände sich damals bei einem Werk dieses Titels von selbst verstanden. Kant nannte es sein Chef d’oeuvre und sagte, es sei ein sein System vollendendes Ganze, völlig bearbeitet, nur noch zu redigieren. Außerdem hörte Hasse von Kants hauptsächlicher Beschäftigung, die den Übergang von der Physik zur Metaphysik betreffen sollte und damit von dem, was Hasse an- und eingesehen hatte, gänzlich abweicht. 175 Es wäre zu erwarten, dass Kant in den Jahren, in denen Hasse einer seiner häufigsten Gäste war, gelegentlich etwas von seiner hauptsächlichen Beschäftigung gesagt hätte, sei es im vertraulichen Gespräch, sei es bei Tisch oder sonst, zumal sich für die weiten Felder der Physik und Metaphysik wohl hinreichend Stichwörter angeboten haben werden; dass dem nicht so war, wird etwas erläutert dadurch, wie Hasse davon berichtet: Er gibt ausdrücklich Gehörtes wieder und weiter, ohne dessen Quelle zu nennen oder anzu- 175 Mit Op und Übergang werden seit längerem der dafür inzwischen fast allgemein gebräuchliche Übergangs-Titel assoziiert, als Bestätigung des von Hasse als hauptsächlicher Beschäftigung Gehörten, während der System-Titel, der für den zweiten Teil gilt, mehr oder minder unbeachtet geblieben ist; so z. B. von Frank u. Zanetti in: Kant Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie. Werke III. Hg. v. M. Frank u. V. Zanetti. Frankfurt/ M. 1996. S. 892. - Auch Dietzsch nennt S. 262 nur den ersten Teil. <?page no="66"?> 58 deuten und auch nur mit einem Wort auf die Auffälligkeiten und Unstimmigkeiten einzugehen oder sie auch nur andeutungsweise zu kommentieren. Dagegen, dass diese Nachricht von Kant stammt, spricht, dass sich Hasse in diesem Fall anders ausgedrückt und auch den Übergang gemäß der Lücke von der Metaphysik zur Physik angegeben hätte. Zudem hätte Kant wohl kaum in einem Gespräch so verschiedene Themen wie die eines Systems und eines Übergangs ohne irgendeine Erläuterung nebeneinander gestellt oder nacheinander erwähnt - Kant hat jedoch offenbar in der Zeit, in der Hasse sein Gast war, dies weder selbst getan noch eine Frage dazu gehört, und Hasse ist nichts eingefallen, als er vom Übergang hörte oder seine Erinnerungen zu Papier und zum Druck brachte, letzteres immerhin zwei Mal. Das ist seltsam, da Verschiedenstes zur Sprache kam, von Kepler und Napoleon bis zu den Barbaresken und etymologischen Möglichkeiten, aber anscheinend nichts, das mit dem Übergang derart zusammenhing, dass es Hasse wenigstens nachträglich auf- oder eingefallen wäre; zudem ist dieses Thema als letzte Beschäftigung eines kritischen Philosophen, dessen Hauptfrage dem Menschen galt, ungewöhnlich und auch in der Philosophie Kants ein Sonderfall, gleichviel, ob von der Physik zur Metaphysik oder umgekehrt; von einer Frage oder Bemerkung dazu gibt es keine Spur, obwohl beispielsweise mit dem von Jachmann erinnerten Gespräch über Newton und dem von Wasianski erwähnten Kepler jeweils Stichwörter gegeben waren. Zu dieser Lücke gehört die Frage, ob der Übergang richtig, falsch oder nur ungenau wiedergegeben worden ist; der ungenannte Berichterstatter kann ihn unrichtig aufgefasst, Hasse sich geirrt, Physik und Metaphysik in der falschen Reihenfolge genannt, Kant den umgekehrten Übergang erwähnt haben; aus seiner zu erschließenden Sprachlosigkeit, seine angeblich hauptsächliche Beschäftigung betreffend, wird zugleich verständlich, wie Hasse davon berichtet: kommentarlos und beiläufig - er übergeht das ungewöhnliche Thema mit Schweigen - vielleicht ein beredtes -, obwohl er es ohne Nachteil bei dem Stichwort Übergang und in der zweiten Auflage hätte erwähnen können und einiges berichtet, das als indiskret teilweise scharf kritisiert worden ist. 176 Es ist nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich, dass Kant diese Arbeit und die damit verbundenen Fragen bewusst nicht erwähnte. Auch hätte Hasse das Gehörte nicht zu nennen brauchen; vielleicht gehört es zu einer Antwort, die er auf eine Frage nach dem Verbleib und dem zu erwartenden Schicksal des Op erhalten hatte und von dem er zwar Weiteres und ebenfalls Auffälliges mitteilt, aber manches im Unklaren lässt, sodass es dadurch auffallen kann und möglicherweise auch soll, etwa, wie zu einem Werk mit dem System-Titel und seinen Gegenständen eine hauptsächliche Beschäftigung gehören soll, die den Übergang von der Metaphysik zur Physik betrifft, dessen Ausführungen Hasse hätten auffallen müssen bzw. bei mehrmaligem Durchblättern nicht unbe- 176 Vgl. Kantiana S. VI. - Vorländer Kant-Biographien S. 32. <?page no="67"?> 59 merkt hätten bleiben können und ein Wort wert gewesen wären: Er hörte nur davon und zwar nicht von Kant selbst - er sah nichts, obwohl er doch auf jedem Bogen und vielen Seiten etwas Naturwissenschaftliches hätte sehen müssen, sei es eine Überschrift, einen herausgehobenen Begriff oder einen Physikalisches behandelnden Abschnitt. Vertraulich sprach Kant offenbar bloß von dem Werk, das er damals unter der Feder hatte; da Hasse dafür keinen Titel angibt, kann er sich nur auf das unmittelbar zuvor genannte System beziehen. Unabhängig davon passen die betreffenden Angaben nicht zu einem Übergang, sei es ein Übergang von der Physik zur Metaphysik oder umgekehrt; bei der Arbeit an einem Werk des System-Titels, mit den genannten Gegenständen wird sich Kant hauptsächlich mit dem beschäftigt haben, was dem entsprechen kann, was als Summe seiner Lebensarbeit zu systematisieren war und in der Tat ein Hauptwerk hätte werden können, was sich vom Übergang nicht ohne weiteres sagen lässt, unabhängig davon, ob es sich um einen Übergang von der Physik zur Metaphysik oder umgekehrt oder um beides gehandelt hätte. Die Verbindung dieser verschiedenen Gebiete, in welcher Reihenfolge auch immer, kann in einem System der reinen Philosophie überdies nur einen Teil und nicht das Ganze ausmachen; die letzte Arbeit sollte jedoch ein sein System vollendendes Ganze sein bzw. werden und ein Übergang kann kaum rechtens als Pars pro toto stehen und nicht zu einem, Kants System vollendenden Ganzen werden, ungeachtet der Bedeutung, die einem derartigen Übergang sowohl in der Philosophie Kants als auch grundsätzlich zukommen kann. Während Hasse nichts Physikalisches fand, erkannte er offenbar mühelos Philosophisches, dessen Gegenstände er also nicht erst in einem naturwissenschaftlichen Kontext entdecken bzw. aus ihm heraus- oder in ihn hineinlesen musste. Es gibt keinen Grund anzunehmen, Hasse habe das einzige von ihm in diesem Zusammenhang berichtete Gespräch erfunden oder gefälscht, da Hasses Titel und Gegenstände im Op zu finden sind; die Etymologie des Wortes Philosophie entsprach einer Vorliebe Kants und einer Frage sowie der betonten Fachkunde Hasses. 177 Bei dem System als Hauptwerk bleibt Hasse auch in dem unmittelbar auf die Erwähnung des Gehörten folgenden Haupttext, in dem er den sehr überarbeiteten Artikel zum Begriffe der Philosophie schildert. Hasses Verwunderung über Kants Kampf heißt auch, dass es weitere Artikel gab, die weniger überarbeitet waren: Der Zustand des nach Kants, nicht von vornherein unmaßgeblicher und von Hasse auch nicht korrigierter Meinung völlig bearbeiteten, nur noch zu redigierenden Manuskriptes konnte nicht derart sein, dass es für eine Veröffentlichung ungeeignet gewesen wäre; zudem wäre Hasse noch zwei Jahre lang, bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1806, zu Rate zu ziehen gewesen. Kant wird gegenüber Hasse den Übergang auch deshalb nicht erwähnt haben, weil er am System arbeitete, an dem Hasse aber nicht so 177 Hasse S. 24ff. <?page no="68"?> 60 viel Anteil nahm, dass er darüber Genaueres zu berichten wusste, ebenso wie er dem absoluten Ganzen nicht nachgefragt zu haben scheint, unbeeindruckt von der Bedeutung, die der erhabene Denker dem beimaß und die ein potentielles Chef d’oeuvre dieses Titels auch für einen Theologen haben kann. Kant machte kein Geheimnis daraus, wem er sein Hauptwerk anvertrauen wollte, überzeugt, sein Manuskript sei so, wie er es hinterlassen würde, veröffentlichenswert: Damals hieß es, dass das Op unserm Hrn. Prof. Gensichen zur Herausgabe übergeben werden sollte. Johann Friedrich Gensichen, Extraordinarius der Mathematik, hatte im Jahre 1791 einen Authentischen Auszug aus Kants allgemeiner Naturgeschichte veröffentlicht und sollte Kants Bücher erben; das konnten Andere als kränkend empfinden, es hat vielleicht zu einer Uneinigkeit unter den für das Op zuständigen Personen beigetragen. Kants Wunsch und Willen wurden trotz dieser Bekanntmachung einfach übergangen, Gensichen erhielt das Op nicht einmal zur Einsicht oder Begutachtung, sondern nur Schultz, wenn auch vorgeblich bloß vorläufig; aber in einer Zeit napoleonischer Kriege und Siege und allgemeiner Krisen und Wirren war zu erwarten, dass es im Allgemeinen wichtigeres zu tun und zu bedenken gab, als der Begutachtung und dem Schicksal einer Handschrift nachzusinnen oder gar nachzulaufen... Gensichen war es offenbar ebenso wenig wie Hasse möglich, die an sich selbstverständliche Respektierung des Willens des Verstorbenen, zumal nach seiner Bekanntgabe, zu erreichen; das zeigt Macht und Arroganz der Verantwortlichen. Kant hat diesen gesellschaftlichen Hintergrund wohl völlig verkannt und es versäumt, seinen Willen unanfechtbar zu hinterlassen - was bei Tischgenossen verständlich erscheint, jedoch zeigt, wie richtig und wichtig das so unfreundlich erscheinende Menschenbild Kants ist sowie, dass er selbst zuweilen die seinen Erkenntnissen und Forderungen entsprechenden praktischen Folgerungen nicht zog bzw. sie zu ziehen scheute - was sofort ungeniert ausgenutzt wurde. Schultz erhielt das Op als kompetenter Richter; ob vom Richteramt auf Meinungsverschiedenheiten zu schließen ist, die zu schlichten waren, oder ob Hasse nur höflich sein wollte, kann offen bleiben: Das Op ist jedoch in seinem naturwissenschaftlichen und philosophischen Teil so weit von der KrV entfernt, dass es begreiflich ist, wenn Schultz keinen Zugang dazu hätte finden können; zudem ist fraglich, wie motiviert „die Säule der Kant- Orthodoxie in Königsberg“ 178 war, Kants Aufzeichnungen ernst zu nehmen - das Verhältnis Kants zu seinem Kommentator scheint in der Zeit vor dem Tode des Philosophen nicht ungetrübt gewesen zu sein; Schultz kann zudem gekränkt gewesen sein, weil ihm das Hauptwerk weder zur Einsicht gegeben noch zur Herausgabe überlassen worden war und er Kants Bibliothek nicht erben sollte. Zudem war Schultz’ Kompetenz nicht über jeden Zweifel erhaben, hatte ihn doch schon Jakob Sigismund Beck kritisiert (20. 178 Lehmann S. 46. <?page no="69"?> 61 6. 1797). So ist der kompetente Richter als einzige Stütze des negativen Urteils über das Op nicht überzeugend; gleichwohl ist aus seiner vorläufigen Beurteilung, ungeachtet des Widerspruchs, auf den sie bereits gestoßen war und bald noch einmal stieß, fast eine endgültige geworden... Zugleich ist bemerkenswert, dass Hasse keinen Titel zu Schultzes unpassendem Inhalt nennt, sodass dessen Aussage nur auf das System zu beziehen sein kann - der später für das Op fast allein bekannt gewordene Übergangs-Titel wird von Hasse ja nicht einmal erwähnt, er hörte nur von einer dazu passenden Beschäftigung Kants. Im Übrigen kann niemand wissen, was der Titel des Op dem Hofprediger versprach und was nicht, was der Inhalt des Manuskriptes nach den Maßstäben und der Meinung des Theologen nicht hielt und aus welchen Gründen er zur Herausgabe nicht raten konnte oder wollte - Hasse hatte sehr wichtige, zum Titel, zu Kant und zur Philosophie passende Gegenstände gesehen; Schultz müsste sehr viel anspruchsvoller gewesen sein als Kant und Hasse, die in diesem Falle sehr anspruchslos gewesen sein müssten, woraus sich eine sehr große Diskrepanz ergäbe, die sehr unwahrscheinlich ist. Die Versicherung Schultzes, das Op enthalte nicht, was der Titel verspräche, erlaubt weder Rückschlüsse vom Inhalt auf den Titel noch umgekehrt - ein Detail, wie es in Kriminalromanen interessant, hier aber nur als solches zu vermerken ist. Die allgemein gehaltene, einer nachprüfbaren Begründung entbehrende Versicherung des Hofpredigers widerspricht auch der von Hasse mitgeteilten, nicht eingeschränkten oder abgeschwächten Aussage Kants, sein Hauptwerk sei völlig bearbeitet. Hasse deutet nicht an, Kant habe sich teilweise oder völlig getäuscht; zudem ist es unwahrscheinlich, dass ein mit Veröffentlichungsfragen so vertrauter Wissenschaftler wie Kant in diesem nicht einmal heiklen Punkte einer Illusion erlegen sei: Eine so weitgehende Diskrepanz zwischen Titel und Inhalt, wie sie Schultz behauptete, entspricht in keiner Weise einem so erfahrenen Autor wie Kant und ebensowenig dem Eindruck eines ebenfalls nicht unerfahrenen Gelehrten wie Hasse: Es ist unwahrscheinlich, dass sich beide völlig getäuscht haben sollten. Doch Schultzes Urteil galt - ein ungewöhnlicher Umgang mit dem Werk eines Autors, für dessen letzte Arbeit es einen Augenzeugen gab, der wie Gensichen nicht um eine Stellungnahme gebeten worden ist; andere Auskünfte oder Gutachten sind offenbar nicht eingeholt worden. Aus Hasses Erinnerungen wird auch deutlich, dass er mit Kants Gedankenwelt und seinen Werken nicht besonders vertraut gewesen sein kann. Die MAdN lagen zwar weit zurück, im Jahre 1787 war eine zweite und, abgesehen von zwei unbefugten Nachdrucken, im Jahre 1800 eine dritte Auflage erschienen, wovon ein Kollege und Tischgenosse Kants etwas hätte wissen können. Hasse hatte sich für das von ihm Gesehene verbürgt: Seit mehreren Jahren lag auf Kants Arbeitstisch ein Werk von mehr als Hundert Folio-Bogen mit dem <?page no="70"?> 62 Titel System der reinen Philosophie. Dieses Werk liegt nicht vor, es gibt nur teilweise reinschriftliche Ausarbeitungen zum Übergang sowie ein Sammelsurium von philosophischen und anderen Notizen, ungefähr ebenfalls in dem von Hasse angegebenen Umfang. Hasse stellte Kants Vermächtnis vor nicht als nachsichtiger Freund eines alt und schwach gewordenen Autors, ohne Genaueres über das ihm nach Kants Tod unzugängliche Werk sagen zu können, das selbst bei mehrmaligem Durchblättern nicht leicht zu erfassen sein konnte, sondern ein Studium erfordert hätte, wie es bei mittäglichen Besuchen kaum zu leisten war; dem vorausliegend ist zu berücksichtigen, dass Hasse nicht ahnen konnte, dass er der einzige um Wahrheit bemühte Augenzeuge sein und bleiben würde; denn da zunächst davon auszugehen war, dass Gensichen dieses Werk herausgeben würde, konnte Hasse nicht sehr motiviert sein, sich dieses schwierige Manuskript genauer anzusehen. Eine unvoreingenommene Lektüre Hasses muss den Eindruck erwecken, das Manuskript, das Hasse mehrmals einsah, habe nichts von einem Übergang enthalten oder doch nur so wenig, dass es Hasse nicht auffiel bzw. nicht auffallen konnte; ob Hasse diesen Eindruck hervorrufen wollte oder nicht, wird kaum zu entscheiden sein - er hat jedoch nichts getan, ihn zu vermeiden. Die Herkunft des von Hasse Gehörten wird zwar nicht aufzuklären sein, doch können sich nur wenige Personen zu dieser Auskunft für berechtigt gehalten haben - Jachmann lebte seit einigen Jahren nicht mehr in Königsberg; so kommen als primäre Berichterstatter nur Schultz sowie die als Kant-Biografen bekannten, hier noch vorzustellenden Borowski und Wasianski in Frage, die auch vom Übergang berichten - sie hingegen haben vom System nichts gesehen oder gehört, weder von Kant noch von dem von ihm geschätzten Tischgenossen Hasse, weder damals, als Kant lebte, noch jetzt, nach seinem Tode... Mit Hasses Bericht war angekündigt, was der Mit- und Nachwelt bald über das Op unterbreitet worden ist; da Kants letzte Arbeit nicht zu bestreiten war, wurde sie ins (natur)wissenschaftlich-unschädliche umgedeutet, was sich anbot, da Aufzeichnungen dazu, von Kant angekündigt und teilweise auch ausgearbeitet, vorlagen - aber nicht ganz in dem von Hasse genannten Umfang. Für eine Vertuschungs-Aktion ließen sich Entwürfe zum Hauptwerk verwenden. Diese Gegenposition zu Hasse, die eines unvollendeten, naturwissenschaftlichen, zur Veröffentlichung ungeeigneten Manuskriptes, wurde ungeniert vorgetragen - Eile war geboten, Hasses Bericht lag in einer zweiten Auflage vor, es wird Veröffentlichungs- Wünsche gegeben und die Erben werden eine baldige Übergabe der Handschrift erwartet haben. Auf diese, ein wenig kuriose Weise sind immerhin zwei Philosophisches betreffende Konv., das VII. und das I., erhalten geblieben! Damit ist das Hauptwerk nun doch erkennbar in Vorarbeiten, Entwürfen und Gedanken, die entweder zu diesem Alterswerk selbst gehören oder mit ihm zusammenhängen. Die Hasse vorliegenden, rund 100 Folio- <?page no="71"?> 63 Bogen eines Systems der reinen Philosophie, das Kant gehofft hatte, noch selbst herausgeben zu können, sind wohl verloren - es ist unwahrscheinlich, dass sie, nach zwei Weltkriegen, irgendwo zu finden sein könnten, etwa in einem vermutlich gar nicht vorhandenen Nachlass Borowskis oder einer anderen Person - man könnte suchen… Damit ist Hübners Kuriosum um ein Hasse-Kuriosum zu erweitern: Ein Augenzeuge der Entstehung und Existenz des Op nahm es ernst, ohne erreichen zu können, dass er ernst genommen würde: Hasses Bericht erweist sich, wie das Op, als ein sonderbares Rezeptionsphänomen, da er von den meisten Kantforschern und selbst von Hübner kaum zur Kenntnis genommen, geschweige denn kritisch gelesen worden ist. Für die offizielle Rezeption des Op waren Hasses Angaben so gut wie nicht vorhanden, ohne das Licht, das er geben kann, sind Entwirrung und Verständnis des Op nur selten gelungen, die Möglichkeit, das herrschende, unzulängliche, lückenhafte und einseitige Kantbild zu korrigieren, wurde nicht genutzt. Mit Kants Philosophie konnte auch Hasse nicht vergessen werden - so haben Artur Buchenau und Gerhard Lehmann in ihrer zum 200. Geburtstage Kants erschienenen Schrift Der alte Kant Hasses Büchelchen abgedruckt: „Diese unter dem Eindruck persönlichen Erlebens stehenden Zeilen sind die beste Einleitung und Erläuterung zu dem Kantischen Text“ 179 , womit allerdings nur das erste Konv. gemeint ist, nicht die Hinweise auf das Hauptwerk; auch diese Anspielung darauf, dass das Op ernster zu nehmen sei, wurde nicht beachtet; sie war wohl zugleich als Kritik an dem Kuriosum gedacht, Hasses Bericht könne nur „zu den Quellen zweiten Ranges“ gerechnet werden - eine Auffassung, die Karl Vorländer in seiner großen Kant- Biografie vertreten und die vielleicht dazu beigetragen hat, dass Hübner dieses Zeugnis übergangen hat. 180 Hübners Kuriosum ist komplex; Hasse hat die offiziöse Einschätzung des Op bekannt gemacht, damit nolens-volens der stärkeren Partei entgegen kommend und ihre Behauptung kommentarlos wiedergebend, da er offenbar keine andere Möglichkeit sah, einem offenen, für ihn nicht zu kalkulierenden Konflikt mit den Kantgegnern auszuweichen; bereits gemaßregelt, hatte er mit seiner Kant-Broschüre ohnehin sehr viel gewagt, der wenig später verkündeten Darstellung im Voraus widersprechend: Das Schicksal des Hauptwerkes hat er nicht ganz wenden können - das Verhängnis ging seinen kuriosen Gang: Wenn Kant sein Menschenbild ernst genommen und sich klug verhalten hätte, wäre ihm oder dem Op vielleicht einiges erspart geblieben. 179 A. a. O. S. 3f. 180 Malter in: Vorländer Kants Leben S. XXIV. <?page no="72"?> 64 4. 2. Freunde, Frevel und Fragen der Vernunft Als Vernunft-Kritiker war Kant ein Fall für sich und für sein Fach, als Rechts- und Staatsphilosoph, als Gesellschafts- und Religions-Kritiker aber konnte er als Jakobiner und Atheist erscheinen, der zudem zugleich beanspruchte, mit seinen Aufforderungen zur Umkehr, zur Revolution der Denkart und Gesinnung Gehör und Gefolgschaft zu finden - sapere aude… Von der Spannung zwischen dem Weltruhm des Philosophen und dem verwarnten Aufklärer ist in den biografischen Skizzen der drei Königsberger Theologen, die bald nach Hasses Schrift erschienen, wenig zu spüren; sie hatten als Studenten Kant gehört, woraus sich Kontakte zum Privatdozenten bzw. Professor ergeben hatten; ihre Arbeiten gehören zu den wichtigsten Quellen für sein Leben, ihr Wert für das Verständnis Kants, seines Philosophierens, seiner Werke sowie vor allem des Op ist noch zu bestimmen, da das „biographische Kleeblatt“ 181 nur Kants Leben und Charakter beschreiben wollte; daraus lässt sich einiges über sein Denken und Schaffen ableiten, worum sich Jachmann, ein treuer Verehrer Kants, auch bemühte. Die Berichte sind zu einem Buche vereinigt, gewiss weder zufällig noch selbst- und interesselos, sondern um durch dieses gemeinsame Erscheinen ihrer ungleichartigen Schriften bei Kants und Hasses Verleger Nikolovius ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Das unter dem Titel Über Immanuel Kant erschienene Buch beginnt mit der Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants von Ludwig Ernst Borowski. Von Kant selbst genau revidiert und berichtigt, wie es heißt, aber nicht ganz den Tatsachen entspricht. Borowski (1740-1832), königlich-preußischer Kirchenrat, Professor der Theologie und später geadelter, einziger Erzbischof der evangelischen Kirche in Preußen, hatte, noch nicht 15 jährig, Kants erste Vorlesung gehört und berichtet, dass Kant „das lange projektierte Werk Übergang der Physik zur Metaphysik, welches der Schlusstein seiner philosophischen Arbeiten sein sollte, nicht beendigen“ konnte (S. 192); „kein Freund der Kantischen Philosophie“ 182 , hatte Borowski diese Angaben aus zweiter Hand; so ist ihm entgangen, dass Kant den Übergang länger unter der Feder und beendigt hatte, also nicht bloß lange projektierte - was im Jahre 1794 noch galt, aber nicht mehr im Jahre 1804, als Borowski seit längerem keinen persönlichen Kontakt mehr zu Kant hatte. Die angedeuteten Schwächen und die ihnen zugrunde liegenden Charaktereigenschaften erklären, warum der Kirchenrat „nicht unter die [...] näheren Freunde und späteren Tischgäste“ Kants gehörte 183 und sich nur in „Gesellschaften, deren Freude unser K. ist“ 184 , verkehrte - Kants Rückzug wird 181 Vorländer Kant-Biographien S. 12. 182 A. a. O. S. 15. 183 Vorländer Kant-Biographien S. 15. 184 Borowski S. 11. <?page no="73"?> 65 niemanden gewundert haben; denn Borowski „galt selbst bei seinen nächsten Bekannten […] als eine streberhafte, zur Eitelkeit und Herrschsucht neigende Natur, die er unter der Maske äußerer Demut verbarg“ 185 ; so hatte er von Kant biografisches Material erhalten, das dieser, einen offenen Bruch vermeidend, nicht zurückforderte, sodass der Theologe diese nur teilweise durchgesehenen, korrigierten und autorisierten Unterlagen, ergänzt und aktualisiert, mit dem Schein eines wieder bestehenden Wohlwollens veröffentlichen konnte; Borowski zeigt, wie weit sich Kant vom Bürgertum entfernt hatte und seinen Kollegen, Mittagsgästen und Bekannten innerlich weitgehend fremd gegenüberstehen musste; vielleicht wollte Borowski Negatives eines Professors aus kleinbürgerlichem Hause andeuten; denn dessen wertlose Möbel mögen annehmbar gewesen sein, ebenso die schmucklosen Räume mit nur einem einzigen Bilde, einem Geschenk mit der Darstellung Rousseaus, Kants Taktlosigkeiten gegenüber dem verstorbenen König sowie der Königin Luise waren es kaum. 186 Von anderer Art als Borowskis Bericht sind die fiktiven Briefe des Schuldirektors Reinhold Bernhard Jachmann (1767-1843), „Kants Mustereleve“ 187 ; er hat großteils selbst erlebt, was er schreibt; nahezu gleichwertig ist, was sein zwei Jahre älterer Bruder, der in Königsberg praktizierende Arzt Johann Benjamin Jachmann (1765-1832), der ebenfalls zu Kants Schülern im weiteren Sinne gehörte, in einem nicht abzuschätzenden Ausmaß beigesteuert haben wird; denn als Kants Amanuensis - eine Art Hilfsassistent - hatte der Ältere die Ausarbeitung der kritischen Philosophie 188 miterlebt und konnte Einzelheiten berichten, die kaum vom Jüngere stammen konnten. Kant hat in seiner Vorrede zu der, von ihm selbst angeregten Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beigelegte Ähnlichkeit mit dem reinen Mystizismus (Königsberg 1800) den jüngeren Jachmann bezeichnet als seinen ehemaligen und aufgeweckten Zuhörer, jetzt sehr geschätzten Freund (8; 441), der schreibt, ewig bedauern wird „jeder Freund der Philosophie, dass den großen Denker das Alter übereilte und ihn an der gänzlichen Vollendung seines philosophischen Systems verhinderte. Mit einer wahren Begeisterung pflegte der unsterbliche Mann oft mit mir über sein letztes Werk zu sprechen, welches nach seiner Äußerung der Schlusstein seines ganzen Lehrgebäudes sein und die Haltbarkeit und reelle Anwendbarkeit seiner Philosophie vollgültig dokumentieren sollte, das aber ganz unvollendet geblieben ist. Es sollte den Übergang der Metaphysik zur eigentlichen Physik darstellen und auch diesen Titel führen.“ (S. 127.) 185 Vorländer Kant-Biographien S. 15. 186 Als Kuriosum sei angemerkt, dass diese wie fast alle Unbürgerlichkeiten Kants kaum zur Kenntnis genommen werden - bis hin zu freundlichen Fälschungen, wie dem oft reproduzierten Bild von Döring, das Kant gutbürgerlich im Kreise seiner Gäste zeigt, oder der Darstellung seines Lebens als gelebtes Bürgertum. 187 Henrich in: Kant; Gentz; Rehberg Über Theorie und Praxis. Frankfurt/ M. 1967. S. 19. 188 Jachmann S. 130. <?page no="74"?> 66 Das beruht wahrscheinlich auf Gesprächen kurz nach 1800, als Kant begeistert an der Vollendung des Systems arbeitete; die dem widersprechende Identifizierung des letzten Werkes mit dem Übergang sowie die Titel-Angabe beruhen auf Gehörtem, können nicht von Kant stammen und Hasses, im Op bestätigten Bericht nicht widerlegen. Jachmann schreibt, „das Vermögen, einzelne Begriffe bis in ihre einfachsten Vorstellungen zu verfolgen und voneinander abzusondern, blieb auch am längsten ein Eigentum seines Geistes; auch da noch, als seine übrigen Erkenntniskräfte, besonders die Kombinationsgabe der Begriffe, die seiner Sagazität nie gleich gewesen war, merklich dahin schwanden. Seine letzte schriftliche Arbeit an dem Übergange der Metaphysik zur eigentlichen Physik beweist dies ganz offenbar. Kant hatte einzelne Begriffe tief durchdacht und lichtvoll dargestellt, aber sie waren auch nur einzeln und ohne Verbindung hingeworfen. Er hatte auf mehreren Bogen immer von neuem angefangen und war immer wieder auf dieselben Begriffe zurückgekommen. Er hatte nicht mehr das Vermögen, das Ganze zu umfassen und die einzelnen Begriffe systematisch zu ordnen. Es würde für den Menschenkenner interessant sein, diese letzten Kraftäußerungen eines so großen Geistes ganz unverändert vor sich zu sehen. Mit diesem tiefen Forschungsvermögen war von jeher die besondere Eigentümlichkeit des Kantischen Geistes verbunden, dass sich einzelne Begriffe in ihm so fest fixierten, dass er unablässig und oft unwillkürlich auf sie zurückkam. Bei eintretender Altersschwäche nahm dies noch mehr zu und bewirkte in seinem sonst so reichhaltigen Gespräche eine gewisse ermüdende Einförmigkeit.“ (S. 129-130.) Diese Darstellung eines verständigen und warmherzigen Mannes ist „keine authentische“, irrtumslose Schilderung. 189 Die Begeisterung und Kants Absicht, sein System mit einem Schlusstein seiner philosophischen Arbeiten 190 bzw. seines Lehrgebäudes zu vollenden, erinnern an den Brief an Garve und an Hasse, sie passen zum Hauptwerk, nicht zum Übergang, ebenso, dass Kant einzelne Begriffe tief durchdacht und lichtvoll dargestellt, aber ohne Verbindung hingeworfen hatte: Die Übergangs-Aufzeichnungen sind teilweise ausgearbeitet, sie mussten mit ihren naturwissenschaftlichen Begriffen Jachmann so fremd sein, dass er doch wenigstens einen, ihm auffallenden Begriff genannt hätte, während das bei den Begriffen des zweiten Teiles nicht zu geschehen brauchte. Jachmann wünschte, anscheinend nebenbei, aber unübersehbar, Kants letzte Kraftäußerungen ganz unverändert vor sich zu sehen - er war also überzeugt, sie seien der Veröffentlichung wert - eine klare, Hasse unterstützende Stellungnahme im Streit um das Op. Der Prediger Ehregott Andreas Christoph Wasianski (1755-1831) betreute Kant seit etwa 1799 191 , ging seit November 1801 fast täglich zu ihm und war als Testamentsvollstrecker und Nachlassverwalter auch für den handschriftlichen Nachlass zuständig; er berichtet: 189 Vorländer Kant-Biographien S. 22ff. 190 Borowski S. 84. 191 Vorländer Kant-Biographien S. 26. <?page no="75"?> 67 „Kants letztes Werk und einziges Manuskript, das vom Übergange von der Metaphysik der Natur zur Physik handeln sollte, hat er unvollendet hinterlassen. So frei ich von seinem Tode […] sprechen konnte, so ungern schien er sich darüber erklären zu wollen, wie es mit diesem Manuskript gehalten werden sollte. Bald glaubte er, da er das Geschriebene selbst nicht mehr beurteilen konnte, es wäre vollendet und bedürfe nur noch der letzten Feile, bald war wieder sein Wille, dass es nach seinem Tode verbrannt werden sollte. Ich hatte es seinem Freunde Hrn. H.[ofprediger] P.[rofessor] S.[chultz] zur Beurteilung vorgelegt, einem Gelehrten, den Kant nächst sich selbst für den besten Dolmetscher seiner Schriften erklärte. Sein Urteil ist dahin ausgefallen, dass es nur der erste Anfang eines Werkes sei, dessen Einleitung noch nicht vollendet und das der Redaktion nicht fähig sei. Die Anstrengung, die Kant auf die Ausarbeitung dieses Werkes verwandte, hat den Rest seiner Kräfte schneller verzehrt. Er gab es für sein wichtigstes Werk aus; wahrscheinlich aber hat seine Schwäche an diesem Urteil großen Anteil.“ (S. 294.) Der Diakon berichtet aus dem Februar 1804: „Fragte man ihn in seiner größten Schwäche, wenn er sich über die gemeinsten Dinge nicht verständlich ausdrücken konnte, über Gegenstände der physischen Geographie, Naturgeschichte oder Chemie, so gab er noch nach dem 8. Oktober [1803; Rh.] zum Erstaunen bestimmte und richtige Antworten. Die Gasarten […] waren ihm so bekannt, dass man sich noch in der letzten Zeit seines Lebens, sehr befriedigt von seinen Aufschlüssen, darüber mit ihm unterhalten konnte. Die Keplerischen Analogien konnte er noch in seiner größten Schwäche hersagen. Am letzten Montage seines Lebens, als seine Schwäche […] auffallend groß war und er nichts mehr fassen konnte, was man mit ihm sprach, so sagte ich leise zu dem anderen Tischfreunde: Ich darf das Gespräch nur auf gelehrte Gegenstände lenken, und ich bürge dafür, dass Kant alles versteht und in das Gespräch entriert. Dies schien dem […] Freunde […] unglaublich. Ich […] fragte Kant etwas über die Barbaresken. Er sagte kurz ihre Lebensweise und bemerkte noch dabei, dass in dem Worte Algier das g auch wie ein g ausgesprochen werden müsste.“ (S. 295f.) Damit ist es gerechtfertigt, auch Kants letzte Notizen, die vor dem 8. Oktober 1803 entstanden sind und Zusammenhänge betreffen, an deren Aufzeichnung ihm sehr gelegen war, ernst zu nehmen. Wasianskis Beitrag zur Kenntnis Kants in seinen letzten Lebensjahren, wie es auf dem Titelblatte seiner Schrift heißt, gibt wohl das „anschaulichste Bild, freilich nur von dem Greise.“ 192 Die unterschiedlichen Erklärungen Kants über sein letztes Werk lassen sich als Stimmungsschwankungen verstehen, doch auch der Diakon berichtet, Kant habe gemeint, das Geschriebene wäre vollendet und bedürfe nur noch der letzten Feile, was zum philosophischen, nicht zum naturwissenschaftlichen Teil des Op passt, den Kant auch nicht mit dem wichtigsten Werk gemeint haben kann. Zudem ist die Angabe, Kant sei Ende 1803 so schwach gewesen, dass er seinen Namen nicht mehr schreiben konnte, durch mehrere datierte Aufzeichnungen in einem Sudelbuch widerlegt 193 , so der des 192 Vorländer Kant-Biographien S. 30. 193 G. Mecklenburg Kants letzte Aufzeichnungen. KS 61(1970)93-96. S. 96. <?page no="76"?> 68 Schullehrers Pestalozzi in der Schweiz vom 3. Dezember 1803 - dieser Bericht „von einem täglichen Augenzeugen“ ist leider nicht „etwas ganz Zuverlässiges“, wie Wasianskis beteuert (S. 217), offenbar, um seine Glaubwürdigkeit gegenüber Hasse zu unterstreichen. Wie die Berichte des biografischen Kleeblatts erkennen lassen, konnte Kant die Bedeutung seiner philosophischen Anliegen lebendig werden - positiv wie negativ, subjektiv wie objektiv; denn seine zunehmende Hinfälligkeit ließ bei ihm wie bei seinen Gästen, seinen Helfern und seiner Schwester Menschlich-Allzumenschliches hervortreten, das er vordem übersehen oder übergehen konnte: Die ungesellige Geselligkeit wurde für den hilfebedürftigen Greis zu einer unausweichlichen Qualität und Herausforderung über das ihm Vertraute hinaus: Er war auf Menschen in einer bis dahin unbekannten Nähe, in einer grenzüberschreitenden Intimität angewiesen, aber es konnte nicht mehr der Wille zur erkenntnistheoretischen Analyse vorherrschen, die frühere Distanz war nicht mehr möglich und auch nicht mehr wichtig, sie hatte zurückzutreten hinter die täglichen Erfordernisse; das natürliche Kontrollbedürfnis ließ nach bzw. musste eingeschränkt werden, sein Zustand kommentierte sowohl den Primat der praktischen als auch die Bedeutung der theoretischen Vernunft, es entstand, als von ihm nicht vorhergesehene oder bedachte Folge auf Grund eines erkenntnistheoretischen Defizits ein (rechts)freier, von ihm nicht bestimmter und bestimmbarer, weil theoretisch-juristisch ungeregelter Bereich der Menschlichkeit und des Vertrauens, dessen problematische Seite sich nach seinem Tode zeigte und vor allem das Op betraf. Zur Frage nach dem Menschen gehören die Fragen nach der Gesellschaft und der Freundschaft. Das Paradox des Aristoteles: Meine lieben Freunde, es gibt keine Freunde, von Kant vielfach umschrieben, hatte er gemäß Wasianski adoptiert, der hinzufügte: „Hierin war ich mit ihm nicht einerlei Meinung“ und fortfuhr, dass Kant, „bei Gelegenheit“ darauf angesprochen, von Aristoteles abrückte und „offenherzig“ gestand, „jetzt“ mit seinem getreuen Helfer „einerlei Meinung“ zu sein (S. 245f.) - ein unfreiwilliger, aber klarer Kommentar zu Aristoteles, Kant und sich selbst; von einer Auseinandersetzung mit dem, was Kant sein Leben lang beschäftigt hatte und weshalb er berühmt war, kann bei dem Diakon nicht zu sprechen sein, auch nicht von Kenntnissen über den Schülers Platons und Lehrers Alexanders des Großen, der Tugendlehre (§§ 46f.) oder der Gründe Kants; eine Adoption geschieht kaum grundlos und wäre des Nachforschens, Nachlesens oder Nachfragens wert gewesen. Wasianski hatte nicht einmal bedacht, was im Neuen Testament steht und als Testamentsvollstrecker und Nachlassverwalter gezeigt, dass der getreue Helfer nur eine Seite seines Wesens war, und dies, ohne dass ihm die mildernden Umstände einer Grenzsituation zuzubilligen waren. Immerhin ist Kant erspart geblieben zu erleben, was mit dem Hauptwerk geschah. <?page no="77"?> 69 Rückblickend erscheint es fast als prophetisch, wenn und wie Kant in seiner Fichte-Erklärung, ein italienisches Sprichwort zitierend, erläutert: „Gott bewahre uns nur vor unseren Freunden [...]. Es gibt nämlich gutmütige, gegen uns wohlgesinnte, aber dabei in der Wahl der Mittel, unsere Absichten zu begünstigen, sich verkehrt benehmende (tölpische), aber auch bisweilen betrügerische, hinterlistige, auf unser Verderben sinnende und dabei doch die Sprache des Wohlwollens führende [...] so genannte Freunde, vor denen und ihren ausgelegten Schlingen man nicht genug auf seiner Hut sein kann.“ (12; 371). Das klingt nicht nach einem theoretischen Konstrukt oder einer bloßen Aristoteles-Reminiszenz, sondern nach früh begriffenen Betrügereien: Kant hatte in seiner Heimatstadt offenbar außer den ihm Grollenden einige so genannte Freunde, deren Hinterlist er durch diese Charakterisierung nicht verwandelt haben wird; dieser zwar offenherzigen, aber unklugen Beschreibung falscher Freunde entgegen versäumte er es, vor deren Schlingen auf der Hut zu sein, wie das Verschwinden seines Hauptwerkes zeigt... Unabhängig davon, wie die im Einzelnen wohl nicht zu klärenden Umstände der Fichte-Erklärung gewesen sein mögen, hatte Fichte seinen Mentor an einer empfindlichen Stelle getroffen, sodass dieser noch einmal mit einer gleichsam jugendlichen Härte antwortete; Kants Enttäuschungen brachen in einigen mehr oder minder unkontrollierten Unmuts-Augenblicken durch, waren aber insgesamt zweifellos nicht situativ gebunden, sondern erfahrungsgesättigt und wurden darum von ihm als allgemeingültig angesehen. Die Ereignisse nach seinem Tod, das Op betreffend, haben ihn im Großen und Ganzen bestätigt. Einige der von Kant apostrophierten Freunde werden seine unadressierten Klagen und Anklagen gelesen haben, sehr ungern und kaum mit dem Willen zur Wahrheit, zur Selbsterkenntnis und Gesinnungs-Änderung, sondern im Gegenteil mit einem weiter wachsenden Missfallen. Wasianski hat zu Kants Klagen über falsche Freunde nichts bemerkt, obwohl seine Falsifizierung des Paradoxons die passende - unpassend konnte sie für ihn ja nicht sein - Gelegenheit dafür war und davon auszugehen ist, dass die Fichte-Erklärung seinerzeit in Königsberg keineswegs totgeschwiegen worden war, sondern einen Gesprächsstoff abgegeben hatte, der dem Diakon schwerlich entgangen sein kann. Während durch Fichte erneut deutlich und von Kant unverhüllt ausgesprochen wurde, welche Enttäuschungen er in seiner Heimat - nicht wie Hasse in der Fremde - erleben musste, hatte dem gegenüber Herder, mit Kant längst philosophisch zerfallen, seinerzeit gezeigt, was in dem von Kant so gerühmten Königsberg fehlte: eine kritische Persönlichkeit, die energisch und mit menschlicher, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Autorität für Kant und sein Op eingetreten wäre; Herder hatte bekanntlich in einem Humanitätsbrief seinen ehemaligen, ihm in Vielem fremd gewordenen Lehrer mit größter Dankbarkeit und Hochachtung genannt; das war nicht der vom Lehrer erwartete, provozierte Dank eines Schülers, der gar <?page no="78"?> 70 nicht weiß und wissen will, wer sein Lehrer eigentlich ist, sondern der freie, absichtslose Dank eines auch als Kant-Kritiker bekannten Geistlichen, vielseitigen Gelehrten und Schriftstellers, der jedoch, über alles Trennende hinweg, wie Kant die Wahrheit suchte, ihr dienen wollte, sie, willkommen oder nicht, aussprach und so einen Freundesdienst leistete - die anspruchsvollen Voraussetzungen von Freundschaft waren zwar einerseits hinreichend erfüllt, andererseits aber zugleich eingeschränkt durch die philosophischen Standorte der beiden Ostpreußen, die inzwischen so verschieden waren wie ihre Wohnorte, sodass es einer eigenen Anstrengung bedurft hätte, dies freundschaftlich zu verstehen und zu überbrücken: Der Wille zur Wahrheit, zur Selbstverständigung und Selbstaufklärung ist so selten, wie es Kant mit Aristoteles von der Freundschaft sagte. So begann Hübners Kuriosum im Bekanntenkreise Kants, der auch dadurch ein wenig charakterisiert ist: Jeden Menschen kennzeichnen mehr oder minder die Beziehungen, denen er sich aussetzt, zuordnet oder entzieht, die Personen, die er sich wählt und die ihn wählen, mit denen er sich umgibt, mit denen er freiwillig umgeht oder eben nicht (mehr) umgeht - Kant hatte Borowski so gut kennen gelernt, dass er sich von ihm zurückzog, aber sein biografisches Material nicht eingefordert: die Chance für Borowski, nach Kants Tod dessen Zurückweisung gleichsam zu überspielen und ungeschehen erscheinen zu lassen dadurch, dass er dieses Material veröffentlichte und damit so tat, als ob Kants, ohnehin nicht allgemein bekannte Distanzierung von ihm, wenigstens bei ihm selbst keine Spuren hinterlassen hätte: Konventionen sind wichtig, was Kant meist berücksichtigte; er überschritt aber Grenzen, indem er Gottesdiensten fern blieb - ein nicht nur damals unbürgerliches Verhalten, das zu den erwähnten Begräbnisschwierigkeiten und letztlich auch zum Geschick des Op beigetragen haben wird. Dabei hatte es Kant nicht entlasten können, dass sich der, vor dem Ausbruch der Französischen Revolution, im Münsteraner Freundeskreis der Fürstin Gallitzin verstorbene Hamann als allerchristlichster Eulenspiegel ähnlich un- oder antibürgerlich verhalten hatte - immerhin war dessen Zusammenleben mit der ehemaligen Magd seines Vaters primär privat. Hamann und der Münsteraner Kreis zeigen, was Freundschaft heißt, in der Konventionen, Standes- und Einkommensgrenzen nebensächlich werden - Kants ungewöhnliche Freundschaften mit dem englischen Kaufmann Green sowie mit seinem ehemaligen Schüler und späteren Kollegen Kraus illustrieren auf ihre Weise die Bedingungen von Freundschaft, ihre Seltenheit und zugleich, dass Kant einen einsamen Weg ging, ungeachtet weniger, Anteil nehmender Bekannter, zu denen auch sein Schüler, späterer Kollege und häufiger Tischgast Pörschke, nach allen Nachrichten ein zuverlässiger und aufrichtiger Mann, zu zählen ist, der jedoch seine Erinnerungen nicht, wie 1798 in einem Brief an Fichte angekündigt, veröffentlicht hat. Wenn also außer Hasse, Jachmann, Nikolovius und Rink kaum jemand <?page no="79"?> 71 für das Op eingetreten ist, so zeigt das die Machtverhältnisse in Königsberg und Preußen: Das Unwesen hatte Kant erreicht und steuerte nicht nur vorübergehend die Geschicke des Op, da sich fremde Hände eingemengt hatten, um den natürlichen Gang der Vernunft nach erzwungenen Absichten zu lenken - ein Vorgehen, dass Kant offenbar vertraut war, da er es allgemein, zugleich wiederum fast prophetisch - nicht nur, was das Op betrifft -, schon in der KrV beschrieben hatte als Hindernis der allemal nützlichen Forschungsfreiheit (A 744). Nach Kants Tod war die forschende und prüfende Vernunft zwar in völlige Freiheit versetzt, aber dadurch beeinträchtigt, dass das fragliche Objekt unzugänglich war. Zudem ist bei diesem Optimismus zu bedenken, dass Freiheit allemal recht unterschiedlich und selten als Chance, als Gelegenheit zum Nachdenken, zur Lebensgestaltung und Selbstverwirklichung gewürdigt und genutzt wird - lange sind sowohl Kants Liebe zur Metaphysik als auch seine Spätphilosophie und seine naturwissenschaftlichen Leistungen, seine kritische Anthropologie und Theologie nur ausnahmsweise vorurteilsfrei zur Kenntnis genommen worden, wie es dem natürlichen Gang der forschenden und prüfenden Vernunft entspräche - die fremden Hände sind oft manipulierende und manchmal fast unmerklich verinnerlicht; es gibt eine Apperzeptionsverweigerung, das freie Nein zu Anfragen und Angeboten, weil allgemein gilt: Das Vorurteil tut der Bequemlichkeit und der Eigenliebe Vorschub (Kf. 1; 8) - völlige Freiheit ist unbequem... Mit nützlich meinte Kant im zitierten Passus offenbar den geistigen Nutzen, den Wahrheit bedeuten (vgl. Kf. 1; 10) und der sich aus einer Befreiung von Illusionen, Irrtümern, Sophistereien, Schranken, Vorurteilen und Lügen ergeben kann und zunächst und zumeist nicht das Sichtbarliche betrifft, sondern die Zufriedenheit, die aus dem Bewusstsein erwächst, sich um Wahrheit auch, wenn sie bitter ist, bemüht zu haben sowie darum, ein Mensch zu sein bzw. zu werden (vgl. Bem. 20; 41). Nützlich konnte die Freiheit der Vernunft im Hinblick auf das Op wegen und innerhalb der äußeren und inneren Schranken darum allenfalls für die sein, die es wagten, selbst zu denken, sich eine eigene Meinung über das Op zu bilden und die bereit waren, für die Erweiterung oder Aufhebung der Schranken zu kämpfen und damit zugleich für die Korrektur des Kantbildes. Die gewöhnliche Gleichgültigkeit des Homo faber gegenüber allem für ihn nicht mehr oder minder sichtbar Nützlichen wirkte sich auch auf die Anfänge des Kant-Kuriosums aus; der auffällige Widerspruch zwischen Hasses, Borowskis und Wasianskis Angaben sollte daran erinnern, dass eine Unordnung erkünstelt sein kann (Fr. 8; 190); zudem gilt: Fac et excusa. Ergreife die günstige Gelegenheit, und der Gott bonus eventus ist nachher der beste Rechtsvertreter, wie Kant sarkastisch, realistisch und zeitlos, obwohl etwas pessimistisch in seinem Friedensentwurf geschrieben hatte (8; 156). Der gute Ausgang der Nicht-Veröffentlichung des Op war den daran Beteiligten und Interessierten so gut wie sicher, eine als gegeben anzusehende <?page no="80"?> 72 Entschlossenheit, Verschwiegenheit und Rückendeckung vorausgesetzt - die Gelegenheit war günstig, die vorgetragenen, bei dem Manuskript eines Greises plausibel erscheinenden Gründe schienen ausreichend; im übrigen gab es für die, die damit nicht zufrieden sein sollten, kein Mittel, auch nur einen Diskurs herbeizuführen oder die Entwirrung der unterschiedlichen Berichte oder die Prüfung der Handschrift zu erreichen: Freiheit zeigt sich auch in der Weigerung, die Ansprüche der Vernunft gelten zu lassen oder zur Kenntnis zu nehmen - um von denen des Anstands, des Rechts oder der Wirklichkeit abzusehen. Kant hatte doch Freunde, die sich bemühten, mit Hilfe der Presse auf das Geschehen in Königsberg aufmerksam zu machen in der Hoffnung, das Schicksal des Op zu wenden. Dieser Versuch sollte, soweit zu sehen, für mehr als ein Menschenalter der letzte im Kampf um das Op sein. Mit Hasses Angaben, die im wichtigsten Punkte, der Existenz eines nachgelassenen Werkes, von Borowski, Jachmann und Wasianski bestätigt wurden, lagen Anfragen an die Öffentlichkeit vor, wie auf das Verhalten der Verantwortlichen zu reagieren sei; ein Jahr nach Kants Tod wurde in einem Zeitschriftenartikel gegen den Umgang mit dem Op, der an den Geist der Schikane (Fr. 8; 157) erinnert, scharf protestiert und die schon von Jachmann erhobene Forderung nach einer Veröffentlichung des Op erneut vorgetragen. Die Kenntnis dieses der Presse anvertrauten Aufbegehrens ist dem um Kants handschriftlichen Nachlass verdienten Erich Adickes zu danken, der auch die „bisherige Geschichte des Opus postumum“ dargestellt hat und aus dem Artikel von Friedrich Buchholz Über Kants letztes Werk zitiert: Kant „gehört der ganzen Welt, allen kommenden Jahrhunderten“, darum dürfe sein „letztes Werk ihnen durch einen Akt“ der „Anmaßung“ nicht „entzogen“ werden. „Angenommen sogar, dass das Verdammungsurteil, welches [...] über sein letztes Produkt ausgesprochen“ worden ist, „von der Nachwelt bestätigt würde,“ so erlaube das nicht, es nicht zu veröffentlichen auf Grund eines „willkürlichen Verfahrens“. Buchholz fragt, ob „das unterdrückte Werk [...] nicht“ „ein ganz neues Licht“ geben könnte. „Es gibt aber noch einen Gesichtspunkt, aus welchem […] die Unterdrückung des obigen Werkes ein unvergesslicher Frevel ist. Dies ist der historische. [...] Ist also das kantische Werk nicht vernichtet, sondern nur zurückgelegt, so gebe man es heraus als der Welt angehörend.“ 194 Der befürchtete Frevel zeigt einen Hass, wie er, geheim und verschleiert, nicht nur bei den Hinze’s, sondern, im Kleinen wie im Großen, immer zu finden ist und die mitunter fast verzweifelten Klagen Kants, zunächst über die artigen Personen, dann über die Menschen überhaupt, verständlich werden lässt - er muss unerbittlichen Hass erlebt haben, kaum beachtet, gleichgültig übergangen, Zeichen der oft beklagten Ohnmacht der Vernunft. Was damals nicht auszuschließen war, muss als durchgeführt angesehen werden, da das Manuskript, das Hasse einsah, nicht vorliegt, nirgends 194 Adickes S. 4ff. <?page no="81"?> 73 bekannt geworden ist, auch dem Erben des handschriftlichen Nachlasses, Dr. Schoen, nicht vorgelegen hat, ihm also nicht ausgehändigt worden ist; es ist nur jenes etwas chaotische Sammelsurium von Notizen aus dem Nachlass Schoens - vermutlich um einige sog. Lose Blätter oder gar um einzelne Bogen ärmer (vgl. 22; 760) - erhalten, das in der Ak. als Op abgedruckt ist und das glücklicherweise ausreicht, sowohl Hasses Angaben zu bestätigen als auch die Antithese und herrschende Meinung zu korrigieren - das Kant-Kuriosum ist, ergänzt um das Hasse-Kuriosum, auch noch um eine verschwundenen Handschrift, um einen kleinen Kant-Krimi zu erweitern… Buchholz’ Artikel hatte keine erkennbare Wirkung, für die Klärung des Sachverhaltes oder die Rettung dieses Kulturgutes wurde nicht gekämpft - die politische Entwicklung ließ wohl eine Fortsetzung des Kampfes als aussichtslos erscheinen, doch resignierten die Kant-Freunde nicht. 4. 3. Summe und weltanschauliche Quintessenz Mit den Berichten aus Kants Bekanntenkreis konnte das Op nicht ganz vergessen werden - diese Freiheit der Vernunft war in der Tat nützlich; denn so bestand ein Anspruch der Vernunft, die auffälligen Widersprüche, Unklarheiten sowie die Unterdrückung des Op aufzuklären. Dem wurde lange nicht entsprochen, schließlich galt das Op als verschollen. Das bleibende, wenn auch Schwankungen unterworfene Interesse an Kant und seiner Philosophie führte dazu, dass Friedrich Wilhelm Schubert, als Kant-Herausgeber und -Biograf nach dem Verbleib des Op forschend, es bei Nachkommen von Verwandten des Philosophen aufspürte und einsehen konnte. In einem im Jahre 1858, über fünfzig Jahre nach Kants Tod, erschienenen Zeitschriftenartikel berichtete Schubert, das Op sei beachtenswert, es „gehört der Geschichte des Entwicklungsganges und des gesamten geistigen Lebens unseres großen Denkers an“ und sei ein „lebendiges Zeugnis für die Beschäftigungen des großen Mannes in dem letzten Stadium seines Lebens“. 195 Schubert hatte also bereits auf den ersten Blick einen ganz anderen Eindruck vom Op als seinerzeit Schultz, er wagte, selbst zu denken und auf eine Lücke im Kantbild hinzuweisen. Über diese ansprechende, allgemein gehaltene, knappe Würdigung hinaus konnte der Literaturwissenschaftler, Publizist und Philosoph Rudolf Haym, der Begründer der Preußischen Jahrbücher, genauere Angaben machen; er schrieb noch im selben Jahre wie Schubert in seinen Jahrbüchern, dass Kants Op wirklich als Abschluss und Summe „der ganzen Tr.[anszendental]ph.[ilosophie] gedacht war,“ es gehe „um die Vermittlung der Begriffe Gott und Welt“ 196 , es sei „unstreitig“ „die Anstalt gemacht 195 Zit. nach: Adickes S. 9ff. 196 A. a. O. S. 11. <?page no="82"?> 74 und ein gleichsam ununterbrochener Anlauf genommen zur Lösung der höchsten Fragen, welche die denkende Vernunft interessieren können“ (22; 759f.). Haym nennt Hauptbegriffe des Hauptwerkes, mit den höchsten Fragen der Vernunft gab es, unabhängig von den Berichten aus Kants Umgebung, auf Autopsie beruhende Hinweise auf einen philosophischen Teil des Op. Ungeachtet dieser Gegen-Gutachten zweier anerkannter Wissenschaftler und damit ihrer indirekten Proteste gegen die Missachtung des Op wurden erst in den Jahren 1882 bis 1884, über zwanzig Jahre später, fast achtzig Jahre nach Kants Tod, größere Teile des Op von Rudolf Reicke, einem Königsberger Bibliothekar, veröffentlicht, allerdings auf wissenschaftlich anfechtbare Weise und zudem ziemlich entlegen in der Altpreußischen Monatsschrift - „einer angesehenen Zeitschrift für heimatliche Kultur, in welcher sich die Kantfragmente wie soeben ausgegrabene Fossilien ausnahmen“ 197 , wie Lehmann ironisierte. Immerhin reichte diese Grundlage aus, den Wert des Op zu erkennen und seine Erforschung in Gang zu setzen - ein langwieriger, wechselhafter Prozess, in dem Einzelne dem Anpassungsdruck und der Macht der Mehrheit widerstanden: Anpassung und Widerstand bestimmten weiterhin die Geschichte und Rezeption des Op. Von Reickes Fossilien fühlte sich der Hamburger Pastor Albrecht Krause, ein „Kantianer eigener Prägung,“ 198 wie ein guter Altertumsforscher angesprochen, den von dem berühmten, wegen seines Positivismus umstrittenen Heidelberger Philosophieprofessor angegriffenen Immanuel Kant wider Kuno Fischer zum ersten Male mit Hilfe des verloren gewesenen Kantischen Hauptwerkes: Vom Übergang von der Metaphysik zur Physik zu verteidigen (Lahr 1884). Fischers Angriff hatte darin bestanden, dass er „in den ersten drei Auflagen des 3. Bandes seiner Geschichte der neueren Philosophie“ „seinen Standpunkt“ hinsichtlich des Op „festgelegt“ hatte, „ohne es zu kennen“ und geschrieben hatte, man dürfe „den Wert dieser Schrift“ „ohne weiteres bezweifeln, wenn man den hinfälligen Zustand des Philosophen erwägt und zugleich bedenkt, bis zu welchem Abschluss er seine Lehre geführt hatte.“ 199 Fischer bekannte sich ungeniert zur Nichtlektüre, obwohl es die vorliegenden Kantfragmente einem kritischen Laien wie Krause erlaubten zu erkennen, dass sie nicht unbesehen in ihrem Wert bezweifelt werden sollten, den (Vor)Urteilen eines Fachmannes zuwider, Schelers Pionierschaft des Dilettantismus bestätigend. Ein Pastor hatte gewagt, selbst zu denken und einem anerkannten Wissenschaftler zu widersprechen, der ohne weiteres etwas bezweifelte und einen Abschluss sah, den Kant anders geplant hatte und der zu einer Generalrevision des Positivismus Fischers hätte führen müssen; richtig und falsch, Recht und Unrecht sollten hier leicht auseinander zu halten und aufzuklä- 197 Lehmann S. 48. 198 Ebd. 199 Zit. nach: Adickes S. 17. <?page no="83"?> 75 ren sein, ungeachtet offen bleibender Fragen; doch wenn es kurios zugeht, dann entspricht es der Schwerkraft der Dinge, dass die Heeresstraße nicht ohne weiteres verlassen wird - bis heute ist diese Kontroverse zwischen den beiden so verschiedenen Kontrahenten nicht eigentlich bereinigt. Krauses Verteidigung Kants bleibt verdienstvoll: Er hatte dem von Fischer gleichsam repräsentierten Zeitgeist entgegen erkannt, dass das Kantbild zu korrigieren sei. Fischer, der das Op auch weiterhin nicht ernst nahm und schon gar nicht einen engagierten Geistlichen und philosophischen Dilettanten, „antwortete [...] in einem, an Bosheiten reichen Heftchen“ (22; 765), Argumente ebenso übergehend wie die Angaben Hasses, Schuberts und Hayms sowie die auf ein abschließendes Werk vorausweisenden, in Kants Werken formulierten, allfälligen Ansprüche der Vernunft, von denen sich allemal angenehm absehen lässt, etwa als seien sie im fraglichen Falle zu abstrakt, zu allgemein, zu anders- oder auch abartig… Durch diese Kontroverse, ihren ein wenig kuriosen Kontext sowie durch die damit erneut vorgetragenen Anfragen an die bereits florierende Kantforschung waren viele Gründe und Aufforderungen gegeben, als Wissenschaftler, Aufklärer oder einfach als von der Vernunft angesprochen im Sinne Kants für Wahrheit und Recht Partei zu ergreifen: Der Streit zwischen dem Hamburger Pastor und dem Heidelberger Philosophieprofessor wurde jedoch keineswegs vernünftig und sachlich ausgetragen: Krause- Kant kontra Kuno Fischer ist eigentlich kein kurioses Kapitel der Philosophiegeschichte, sondern allenfalls ein kleines Beispiel für stärkere Rezeptionsschwierigkeiten eines erfolgreichen Wissenschaftlers sowie, damit verflochten, für menschliche Unzulänglichkeiten, ein Fall, der als weiteres, winziges Licht im Lande des schönen Scheins dienen kann: Ein mutiger Denker in dürftiger Zeit hat selbst mit gar nicht dürftigen Daten kaum eine Chance, gegen die herrschende Meinung und Mode ernst genommen zu werden - das gelingt in aller Regel nur mit ihnen, von ihnen in der jeweiligen Eigentlichkeit getragen und gefördert; Denken und Daten sind dann dem Zeitgeist genehm und, ob dunkel oder dürftig, in aller Munde; das ist bequem, zumal sich Denker und Daten bekanntlich immer anbieten, finden bzw. erfinden oder ernennen lassen... 200 Kurioses zeigte sich nicht nur in Fischers Bosheiten als Zeichen seines Grolles auf Grund mangelnder Argumente sowie seiner Weigerung, mit diesem Alterswerk fachgerecht umzugehen, sondern auch an den Ausführungen Hans Vaihingers, der im Jahre 1891 im Archiv für Geschichte der Philosophie knapp, aber im Wesentlichen richtig schrieb: Man hat sich 200 Aus der Überfülle zeitloser Klagen seien nur gestrige zitiert: „Wehe dem, der das zeitgemäße Vokabular nicht spricht“. G. Mann in: DIE ZEIT. 13.10.1972; zit. nach: C. J. Burckhardt Geschichte zwischen Gestern und Morgen. München 1974. S. 22. - „Jede Überzeugung, der zufolge es [...] bleibende Werte gäbe, wird“ „augenblicklich“ denunziert. Burckhardt a. a. O. S. 16. <?page no="84"?> 76 „bestimmen lassen, das nachgelassene Manuskript zu bezeichnen: Vom Übergange von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik. In der Tat ist diesem Thema der größere Teil des Manuskriptes gewidmet. Allein andere Teile desselben beziehen sich auf ein ganz anderes, zweites Werk, welches mit jenem nicht im Geringsten identisch ist. Kant bezeichnet es selbst verschieden, einige Male als System der reinen Philosophie in ihrem Zusammenhange, meistens: der Transzendentalphilosophie höchster Standpunkt im System der Ideen Gott, die Welt und der Mensch. Das Werk sollte eine Zusammenfassung seiner ganzen theoretischen und praktischen Weltanschauung enthalten, und beschäftigte sich besonders mit dem Gottesbegriff, [...] mit dem Ding an sich [...]. Es ist unrichtig, von einem nachgelassenen Werke Kants zu reden, Kant hat vielmehr zwei unvollendete Werke hinterlassen. Und dieses allgemeine transzendentalphilosophische Werk ist dazu viel interessanter als jenes spezielle naturphilosophische, auf welches man bis jetzt allein die Aufmerksamkeit gerichtet hat. Es liegt der Gedanke nahe, das erstere mit dem von Kant in der Kr. d. r. V. in Aussicht gestellten ausführlichen System der Transzendentalphilosophie zu identifizieren.“ (S. 734.) Auch diese Bestätigung Hasses ist bis heute, so weit zu überblicken, weder im Einzelnen diskutiert noch widerlegt, sondern lange entweder mehr oder minder pauschal zurückgewiesen oder stillschweigend übergangen worden, sie gilt, von häufiger werdenden Ausnahmen abgesehen und cum grano salis, im Positiven wie im Negativen immer noch bis jetzt, nicht mehr allein, da der damals leider nicht veröffentlichte Rest des Manuskripts seit den Jahren 1936 und 1938 in einem diplomatisch getreuen - und nur mit Mühe zu lesenden - Abdruck in der Ak. bereitliegt und zunehmend genutzt wird, wenn auch nicht eigentlich zur Prüfung der widersprüchlichen, offenbar kaum einem größeren Kreise von Kantforschern bekannten Auffassungen. Mit Vaihingers Artikel hatte die sog. Zwei-Werke-Theorie das Licht der Welt erblickt, eine Theorie, die, teils ernst zu nehmen, teils ein wenig kurios, zur Ehre gelegentlicher Erwähnungen gelangt ist. Während in der Kantforschung weiter an den Unwert des Op geglaubt wurde, war doch ein Erkenntnisprozess nicht aufzuhalten: Die wissenschaftliche und weltanschauliche Unattraktivität des Op wurde gleichsam unterlaufen durch den klaren Blick, mit dem Einzelne das Wesentliche vom Unwesentlichen im Durcheinander der Notizen unterscheiden konnten. Die Aufmerksamkeit der Gelehrten auf jenes naturphilosophische Werk war angesichts des wachsenden Einflusses der Naturwissenschaften und der Triumphe der Technik, am Beginn ihrer Weltherrschaft, verständlich, doch kann das Ignorieren der Zeugnisse und vor allem die allgemeine Nichtbeachtung des zweiten Teiles des Op als kurios erscheinen - ebenso jedoch, dass Vaihinger daran insofern beteiligt war, als er seine Hervorhebung des zweiten Werkes in gewisser Weise wieder zurückgenommen und entwertet hat, indem er seinen Bericht begründungslos mit der pauschalen, eigentümlichen, apodiktischen Behauptung schloss, „systematisch hat das Manuskript natürlich gar keinen Wert [...], sondern hat nur Bedeutung für die persönliche Entwicklungsgeschichte Kants“ (S. 736). Diese selbstsicher vor- <?page no="85"?> 77 getragene, selbstwidersprüchliche Behauptung hätte kritisch aufgenommen werden müssen - als ob die persönliche Entwicklungsgeschichte eines Philosophen wie Kant nicht zu beachten sei, und weshalb kann etwas philosophisch interessant sein, wenn es systematisch gar keinen Wert haben soll? Damit war, als Symptom einer Rezeption und Interpretation im Ungleichgewicht, u. a. ein unhaltbarer Systembegriff behauptet. Vaihingers Verdikt entsprach der herrschenden Meinung, die er nicht dadurch ändern konnte und wollte, dass er auch in seiner Philosophie des Als ob kurz auf das Op einging und wiederum paradox, ohne Folgerungen aus seiner Charakterisierung zu ziehen, anmerkte, das zweite Werk sei „viel wichtiger [...] als das erste“ 201 , was zwar als Kritik an dessen allgemeiner Missachtung aufgefasst werden konnte, aber nicht mehr bewirkte, als dass es einen weiteren Hinweis auf ein zweites Werk gab; denn Vaihinger war „von den offiziellen Kantforschern um die Jahrhundertwende der einzige, der sich um das Nachlasswerk kümmerte“. Außer ihm nahm nur der „Außenseiter“ Krause als Rufer in der Wüste das Op uneingeschränkt ernst, wie seine noch vorzustellende, de facto fast folgenlose „Bearbeitung“ (22; 768) des zweiten Werkes zeigt; denn es konnte „die Entschiedenheit, mit der er [sc. Krause] sich für Kants Hauptwerk einsetzte, dem opus postumum auch nicht zur Anerkennung verhelfen“ 202 , obwohl Max Heinze im Jahre 1894 den „Herrn Pastor Krause in Hamburg“ als „bekannten und verdienten“ Kantforscher gerühmt 203 und in der von ihm bearbeiteten 8. Auflage von Ueberwegs Grundriss ein zweites, unvollendetes Werk Kants mit zwei verschiedenen Titeln und einem Hinweis auf Vaihinger angeführt hatte 204 ; auch Karl Vorländer nennt in seiner großen, zum 200. Geburtstag Kants veröffentlichten Biografie 205 ein zweites Nachlasswerk - im Jahre 1920 war allerdings die nicht zu übersehende und zu übergehende Darstellung Kants Opus postumum des Spezialisten Erich Adickes erschienen, der die bis dahin geleistete, das Op betreffende Arbeit fortführte und zu einem ersten Abschluss brachte. Adickes hatte jedoch kein Verständnis für die Transzendentalphilosophie und folglich auch nicht für deren höchste Stufe und das dieser gewidmete Buch des nun zu würdigenden Pastors Krause, der in einem weiteren und letzten Anlauf seiner Bemühungen um das Op und Kant sowie als erster überhaupt die letzten Gedanken Kants dargestellt hat. Von der Fachwelt unsachlich und ungerecht behandelt und nur ausnahmsweise ernst genommen, wollte er genau wissen, was Kant nach einem so entbehrungs-, arbeits- und ertragreichen, vielfach angefochtenen Leben angesichts des 201 H. Vaihinger Die Philosophie des Als ob. 7. Aufl. Leipzig 1918. S. 722 Anm. 1. 202 Lehmann S. 273. 203 Heinze S. 8. 204 3. Bd. Berlin 1896. S. 258f. - Auch R. Falckenberg erwähnt ein zweites Nachlasswerk in seiner Geschichte der neueren Philosophie… 6. Aufl. Leipzig 1908. S. 296. 205 Vorländer Immanuel Kant 2. Bd. S. 288; S. 292f. <?page no="86"?> 78 Todes ausarbeitete, und war bereit, sich das etwas kosten zu lassen: Er konnte das Manuskript des Op erwerben, sich so auch des zweiten Werkes annehmen und im Jahre 1902 das Ergebnis seiner Arbeit veröffentlichen unter dem, aus Kants Entwürfen wörtlich zitierenden, o. S. 14 genannten Titel, der einen anderen als den bekannten Kant verheißt und der akademischen philosophischen Scheinforschung, wie sie Jaspers charakterisiert hatte, entgegen war. Krause wies nach, Kants letzte Gedanken und die höchste Stufe der Transzendentalphilosophie seien keineswegs naturwissenschaftlich, sondern, wie im Titel seines schmalen Buches zitiert und dann ausgeführt, philosophisch im Sinne der Tradition, der Philosophia perennis, die spätestens seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht mehr in das herrschende Welt- und Kantbild passt. Dem gemäß ist auch dieses Buch, ungeachtet seiner klaren und eindeutigen, gewichtigen Titel-Aussage sowie seiner Ausführungen und Argumente, nur selten berücksichtigt worden, ebenso wie das Op selbst, wie Vaihingers paradoxe Auf- und Abwertungen sowie die übrigen vorliegenden Hinweise auf einen philosophischen Teil des Op. Ein bisher kaum gewürdigter Meilenstein auf dem Wege der Rezeption des Op, steht diese Leistung eines Kant-Verehrers, erschienen knapp einhundert Jahre nach Kants Tod, wenig beachtet in der Flut der Kant-Veröffentlichungen - ein selten gelesener Kantianer gegen die Zeit, ein aufgeklärter Vorläufer in der Erschließung des Op - sein Geschick dürfte billigerweise ebenfalls als Kuriosum zu bezeichnen sein, das, Hübner einschließend, als Hamburger Krause-Kant-Kuriosum im großen Komplex der Kant-Kuriosa von seinem Königsberger Ursprung zu unterscheiden wäre. Von denen, die das Op dann ernst nahmen, ist zuerst Erich Adickes zu nennen, der sich im Wesentlichen nur mit dem Übergang beschäftigte und mit „zahlreichen Fehlurteilen“ seine Arbeit belastete. 206 Dem gegenüber bemühte sich Gerhard Lehmann zu zeigen, dass durch das Op Kants Philosophie in ein neues Licht trete, doch lehnte er die mit Vaihingers Namen verknüpfte Zwei-Werke-Theorie ab mit einer Begründung, die nicht einmal deren Schöpfer gerecht wird 207 ; er stellte weitere Daten und Kuriosa aus der 206 Lehmann S. 207 Anm. 23; vgl. S. 35 Anm. 24; S. 118 Anm. 3. 207 L. schreibt in einer Fußnote seiner, dem Op fast kurioserweise nachgestellten Einleitung, also nach der Beendigung seiner Arbeit, dass die zahlreichen Titelentwürfe, auf die sich Vaihinger stützte, nicht beweisen, „dass Kant ein zweites Werk schreiben wollte, sondern höchstens, dass er nach einem zusammenfassenden Titel für seine, […] über die ursprüngliche Thematik hinausgegangene Arbeit sucht. Aber auch das ist zweifelhaft. Die Titel-Entwürfe können auch den Sinn haben, eine abschließende Formulierung der Transzendentalphilosophie zu erschreiben.“ (22; 770 Anm.) L. scheint geahnt zu haben, wie absurd seine Sätze sind, als er schrieb, dass manche Kantforscher einseitig und gewaltsam interpretieren und dass ihre Umakzentuierungen an Textverfälschungen grenzen. Dies soll nicht seine Verdienste schmälern - es ist allenfalls zu verstehen, was Kant zu der rhetorischen Frage veranlasst haben mag, ob nicht alle Menschen in gewisser Weise gestört sind. <?page no="87"?> 79 „absonderliche[n] Geschichte dieses merkwürdigen Werkes“ 208 vor, die zu ergänzen sind, so um eine, kurz nach dem Erscheinen des Op veranstaltete Auswahl aus Kants Gesamtwerk: Doch das Kant-Brevier des Bremer Bibliothekars und Privatgelehrten Johannes Pfeiffer ist ebenfalls kurios rezipiert worden, trotz einiger bemerkenswert positiver Rezensionen. Dieser weitere Sonderfall in der an Sonderfällen und Kuriosa so reichen Rezeptionsgeschichte des Op war zugleich ein Protest gegen das seinerzeit herrschende, politische System; Pfeiffer hatte den Mut, durch „kritische Vernünftigkeit an die ethisch-religiösen Bindungen zu erinnern, die den Menschen zum Menschen machen und seine wahre Würde ausmachen: eine Aufgabe, die auch heute nichts von ihrer Dringlichkeit verloren hat.“ 209 Pfeiffer, ein weiterer, von Hübner übergangener Vorläufer in der Geschichte des Ernst-Nehmens des Op, hat als erster eine umfassende Summe, die weltanschauliche Quintessenz der Kantischen Philosophie aus dem beide Teile des Op einschließenden Lebenswerk Kants gezogen; er konnte seine, soweit möglich allgemein verständlich gehaltene Blütenlese zwar noch im Kriege veröffentlichen, die erwünschte Breitenwirkung oder ein größeres Echo blieben begreiflicherweise aus; nicht einmal sehr positive Rezensionen konnten diesem Werk in der Nachkriegszeit zum Erfolg verhelfen, obwohl Max Bense geschrieben hatte, es gehe um „den philosophischen Anthropologen, um […] den existentiellen Kant“; Jaspers hatte, gegen Husserl, Heidegger und Sartre, gepriesen: „In knapper Form wird das Wesentliche ausgesprochen und dadurch fühlbar gemacht, worin der Ernst, die Entschiedenheit und die Modernität dieser Philosophie liegt, der wahren Philosophie noch heute.“ Herman Nohl hatte die Auswahl als außerordentlich gelungen, eine wirkliche Summe bezeichnet, Christian L. Lewalter gerühmt, dass Pfeiffer das Wesentliche freigelegt habe und zwar vorbildlich 210 - eine Generalrevision der Sicht des Op und damit des Kantbildes blieb aus, der Zeitgeist wies andere Wege. Das konnte auch Hermann Noack nicht ändern, als er in einer umfangreichen Einleitung: Die Religionsphilosophie im Gesamtwerk Kants, etwas entlegen, die Bedeutung der „immer erneuten Ansätze und Entwürfe zu einem abschließenden Werk über die Transzendentalphilosophie“ im zweiten Teil des Op herausstellte. 211 So sind für die rund zweihundert Jahre nach Kants Tod mehrere Personen zu nennen, die das Op ernst genommen, die weitere Zeichen des Widerstands gesetzt und den endgültigen Abschluss der absonderlichen Geschichte des geheimnisvollen Nachlasswerkes eingeleitet haben. Die Erforschung des Op begann zwar auf Umwegen, mit Unterbrechungen, Miss- 208 Lehmann S. 45. 209 Pfeiffer im Vorwort zur Taschenbuch-Ausgabe, München 1966, S. 7. 210 Bense, Jaspers, Nohl u. Lewalter sind zit. nach dem Vorsatzblatt der Taschenbuch- Ausgabe. 211 S. LXXVIII. <?page no="88"?> 80 achtungen und Merkwürdigkeiten, doch trotz aller Hinderungen unaufhaltsam, ungeachtet der herrschenden Meinung und Moden. 4. 4. „Das Op darf nicht übergangen werden“ Eine Voraussetzung, das Op als Ganzes, mit den Schwierigkeiten persönlicher Entwürfe und Notizen, zu untersuchen und Klarheit über seinen Inhalt und Wert zu erlangen, war mit der Veröffentlichung in der Ak. endlich erfüllt. Es war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Frage der Zeit, wann die nach dem Ersten Weltkrieg eingeleitete Erforschung, in völliger Freiheit, fortgesetzt würde. Die dem vorangehenden Schriften spezialisierter Kantforscher wie Adickes und Lehmann bewirkten zwar weitere Studien, aber weder eine Diskussion des Op noch eine und sei es partielle Revision der herrschenden Kant-Auffassungen. Diese relative Wirkungslosigkeit mochte einerseits an der Ungunst der Stunden liegen - in der Zwischenkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit wurden weniger theoretische als praktische Arbeiten gefordert und gefördert -, andererseits auch an den Einseitigkeiten und Eigenwilligkeiten einiger Kantforscher, wie sie an Adickes’ oft überheblicher Kant-Kritik sowie an Lehmanns Zurückweisung der Zwei-Werke-Theorie deutlich werden; nicht zuletzt zeigte sich das Beharrungsvermögen überkommener Meinungen. Inzwischen sind mit einem geschärften Problem- und Methodenbewusstsein auch zuvor vernachlässigte oder übergangene Themen und Werke Kants untersucht worden. Damit ist zugleich das Vorurteil vom altersschwachen Kant, der kaum noch und schließlich - so in seinem Op - gar nicht mehr ernst zu nehmen sei und dessen prominentester Vertreter Schopenhauer war, mehr oder minder stillschweigend aufgegeben worden. Die Kantforschung ist mit den Spätwerken dem Op sowohl zeitlich als auch thematisch näher gekommen; es wird nun ohne Bedenken befragt, und es ist auch versucht worden, es durch neue Ansätze zu erschließen. Diese, in ihren Ergebnissen unterschiedlichen Studien haben zwar den Hintergrund des Op und seine Probleme in ein besseres Licht gerückt und teilweise erhellt sowie neue Zugänge geöffnet, gleichwohl hat das veränderte Verständnis des Op nur einen geringen Niederschlag in den in dieser Hinsicht traditionellen Gesamtdarstellungen sowie in Kongress-Program-men und Forschungsberichten gefunden: In das herrschende Kantbild ist das Op als Ganzes in seiner Eigenart und in seinem Eigenwert nicht aufgenommen - Albrecht Krause ist gleichsam ein fester Bestandteil des Hübner-Kuriosums und als solcher nicht zitier- oder gar diskussionswürdig... <?page no="89"?> 81 Trotz der überkommenen Vorurteile ist nicht zu übersehen, dass sich die Sicht des Op - dieses „monströsesten Produktes aus Kants Feder“ 212 - fast unauffällig und ohne eigentliche Diskussion gewandelt hat; es wird, wenn auch noch nicht allgemein, als ernst zu nehmender Text mit ungewöhnlichen Eigenarten akzeptiert, gefördert dadurch, dass das geschmähte, in den Wirren des Zweiten Weltkrieges erneut verschollene Op nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wieder aufgetaucht ist und im Jahre 1999 von der Berliner Staatsbibliothek erworben werden konnte - im rechten Augenblick, um eine größere Aufmerksamkeit auf das so zu feiernde Op anlässlich zweier Ereignisse zu lenken, die ohnehin bedeutend genug waren, um das Op nicht ganz unbeachtet bleiben zu lassen: der IX. Internationale Kant-Kongress sowie Kants zweihundertster Todestag. Beides war Anlass zu den vielfältigsten Aktivitäten, die von jemandem, der nicht als Privatgelehrter leben kann, nicht zu erfassen sind; immerhin liegt in den Kongress- Akten 213 ein als repräsentativ anzusehender Querschnitt durch die Kantforschung vor. Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus - das galt auch für die genannten Kant-Ereignisse, zumal dank der politischen Lage die Kongress- Stadt der Welt, ihren philosophischen Institutionen, akademischen Aktivitäten und Gepflogenheiten gleichsam ein wenig näher gerückt und so die Feier in einem geradezu globalen Ausmaß, fast ohne die Grenzen und Gräben der Weltpolitik, möglich war. Das zeigte sich, als mit dem Jahrtausendwechsel alte Zeiten zu verabschieden und neue einzuleiten waren und der IX. Internationale Kant-Kongress im Jahre 2000 nicht nur in Berlin, dem alten und neuen Aufbewahrungsort des Op, stattfand, sondern den sowohl weltstädtisch-kosmopolitischen als auch preußisch-patriotischen Titel Kant und die Berliner Aufklärung erhielt - letztere, altmodische, vaterländische Assoziation als vermutlich ungewollt mögliche, mehr oder minder unvermeidlich mitschwingende, aber auch, als außerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, wohl so gut wie unbemerkt bleibend, erstere beabsichtigt, als, nach so vieler weltpolitischer Aufregung um diese Stadt, werbewirksam und wissenschaftlich erfreulich mehrdeutig. Die veröffentlichten Kongress- Vorbereitungen konnten den Eindruck erwecken, das Op werde nun endlich als Ganzes gewürdigt, da zu lesen ist, D. Emundts werde versuchen, „die Genese der philosophischen Gedanken des Nachlasswerkes zu rekonstruieren“ 214 ; in dem so angekündigten Beitrag findet sich jedoch nichts darüber, was schon Hasse dazu mitgeteilt hatte, und die Autorin beschränkt sich dann in ihrer Berliner Dissertation auf Kants Übergangskonzeption im Opus postumum. Zur Rolle des Nachlasswerkes für die Grundlegung der empirischen Physik. Sie erwähnt den zweiten Teil des Op nicht einmal im 212 Lehmann S. 8. 213 Kant und die Berliner Aufklärung. Akten d. IX. Intern. Kant-Kongresses. 214 Emundts in: Kant und die Aufklärung S. 10-17; 17. <?page no="90"?> 82 Unterkapitel Das Programm des Nachlasswerkes (S. 21-31). Nur indirekt, ohne jeden Hinweis auf Thema und Inhalt, schreibt sie in ihrer Einleitung, sich auf Adickes berufend, von „Vorarbeiten zu einem [weiteren; Rh.] Werk […]. Aufgrund des Themas der Arbeit ist dies hier nicht zu diskutieren.“ (S. 20 Anm. 20.) Das publizierte Material dieses Kongresses mit mehr als 500 Kantforschern aus aller Welt 215 darf dieser Arbeit als Dokumentation der herrschenden Meinung zugrunde gelegt werden, da die seither erschienene Literatur auch nach neun Jahren, soweit zu überblicken, kein neues Bild ergibt: Von achtzehn Hauptvorträgen sowie ebenfalls achtzehn Sektionen mit zahlreichen Referaten, die in fünf Bänden mit 3233 Seiten vorliegen, betrifft nur die XIV. Sektion Kants Naturphilosophie und das „Opus postumum“, kein Hauptvortrag ist dem Op gewidmet. Von den 23 Referaten dieser Sektion behandeln 22 naturphilosophische Themen, im ersten Referat „Wir machen alles selbst“. Kants Transzendentalphilosophie im ‚Opus postumum‘ stellt H.-U. Baumgarten einen nicht-naturwissenschaftlicher Begriff in den Vordergrund; drei weitere Titel sind themenübergreifend formuliert: S. A. Tchernov: Kants Metaphysik der Wissenschaft; D. Thiel: Spuren des platonischen Timaios in Kants ‚Opus postumum’ sowie I. U. Zenekorta: Der transzendentale Begriff der Bewegung. Versuch einer Rekonstruktion ausgehend vom ‚Opus postumum’; den transzendentalphilosophischen Teil zitieren nur Baumgarten und Zenekorta, ohne über ihr Thema hinaus darauf einzugehen. 216 Als Ausnahme der gleichsam ungeschriebenen Kongress-Regel eines Übergehens des Op bezieht sich D. Henrich in seinem Hauptvortrag Systemform und Abschlussgedanke - Methode und Metaphysik als Problem in Kants Denken ausdrücklich auf den höchsten Standpunkt der Transzendentalphilosophie, ohne Kants Antwort auf die aktuelle Rechtfertigungsaufgabe angesichts der Deformation des sittlichen Bewusstseins zu erwähnen 217 - sie erscheint wohl innerhalb der Grenzen der modernen Philosophie als nicht erwägenswert, doch wäre, Kant zuliebe, auf diesen „New Kant“ 218 aufmerksam zu machen. Ungeachtet der Lücken ist die einzige explizite Erwähnung des zweiten Teiles und mit ihr auch die des Systems der reinen Philosophie hervorzuheben. Stichproben bestätigen das Kantbild dieses Kongresses, W. Schlüter nennt in seinem Kant-Buch weder das Op noch gibt er einen Hinweis auf dessen Gegenstände. 219 Auch in dem als Studienbuch angelegten, nicht sehr umfangreichen Band Warum Kant heute? wird das Op wird nicht erwähnt, obwohl V. Gerhardt in seinem Kant-Buch das Op verhältnismäßig ausführlich be- 215 Gerhardt/ Horstmann in: Kant und die Aufklärung S. 8 216 Alle vier Referate a. a. O. 4. Bd. S. 493-502; 643-647; 648-657; 685-693. 217 A. a. O. 1. Bd. S 94-115; 114. 218 R. B. Pippin Rigorism and the ‚New Kant’. In: Kant u. d. Berliner Aufklärung. 1. Bd. S. 313-326. 219 1. Aufl. 1999; wegen der Nachträge der 3. Aufl. dürfte diese Grenzüberschreitung in ein den Kant-Ereignissen vorausliegendes Jahr gerechtfertigt sein. <?page no="91"?> 83 spricht und auch keinen Zweifel an dessen Bedeutung lässt. 220 M. Kühn erwähnt das Op im Sinne der herrschenden Meinung und nur den Übergang betreffend: Das Op sei „für Kants philosophisches Vermächtnis“ „von untergeordneter Bedeutung“ 221 - das Gegenteil ist richtig. So ergibt sich ein Kantbild, in dem Hübners Kuriosum weiterlebt, als ob Hasse, Haym und Heinze, Schubert, Vaihinger, Krause, Lehmann, Pfeiffer und Noack nie gelebt, als ob nicht seinerzeit Bense den existentiellen Kant und Jaspers die Modernität dieser Philosophie gerühmt hätten; doch Kants Kritik wirkt weiter in den Zeichen des Widerspruchs gegen Ungerechtigkeit und Lüge, Heuchelei und Hass, Egoismus und Eitelkeit, als Aufruf, die Welt in einem der Würde des Menschen angemessenen Sinne zu erhalten und zu gestalten - die Wahrheit des kritisch-konsequenten, meist konventionell gerühmten, nicht ganz geliebten Philosophen kommt umständlich und bruchstückhaft ans Licht des ausgehenden Gutenberg-Zeitalters, vielleicht rechtzeitig und deutlich genug, um ein bequemes, dem Zeitgeist angepasstes Kantbild zu korrigieren, bevor sich das zunehmende Dunkel der unausweichlich werdenden Sachzwänge der Computer-Ära und Medien-Macht auf nicht-pluralistische Gedanken und Werke ausbreiten wird - eine philosophische Summe und weltanschauliche Quintessenz, die der herrschenden Meinung und Mode, dem mächtiger werdenden Zeitgeist widersprechen, zählen zu den unbequemen Texten, den missachteten Zeugnissen, denen verkannte Rufer, vielfach vergeblich, zu ihrem Recht zu verhelfen versuchen - Groll und Gegenwind, Neid und Hass gehören zu den Gegenkräften, denen Kritik und wahre Aufklärung ausgesetzt sind, vor allem Kuriosen, von Anfang an. Da Kant eindringlich an die Kraft der Vernunft appelliert hat und auch mit seinen Aufklärungsbemühungen berühmt geworden ist, kommentieren schon die wenigen genannten Tatsachen aus der Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte des Op den Vernunft-, Aufklärungs- und Fortschritts-Optimismus seiner, unserer und aller Zeit: Der gegenüber der herrschenden Meinung fast wirkungslose, dennoch unvergessliche Protest der wenigen, konsequenten Kantianer und Kritiker gegen die unvernünftige, gelegentlich kuriose Anpassung des Kantbildes an die communis opinio wird zwar zunehmend verblassen, gleichwohl wird, anders als bei den vergesslichen Kuriosa, Winzigstes dieser Opposition weiterwirken - es bleibt im Untergrund der Geschichte gegenwärtig, ist nichts Ungewöhnliches und reiht sich, wie gering es sei, ein in die kleinen und großen geistigen Auseinandersetzungen um Wirklichkeit und Wahrheit, um die Rezeption und Interpretation des Gegebenen und seine Bedeutung für den Menschen mit ihrer Überfülle an Kuriosa, Ironien, Skandalen, Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten - Anpassung und Widerstand gehören dazu: Schon die „Antike ist [...] beim Wegräumen unbequemer Texte autoritativer Philosophen 220 Gerhardt Immanuel Kant S. 118f.; 336-346. 221 Kühn S. 472-478; 477f. <?page no="92"?> 84 nicht zimperlich gewesen“ 222 ; zudem ist, die Missachtung der Kritiker des Kant-Kuriosums betreffend, zu konstatieren: „Aber das ist nichts Besonderes, denn die Welt ist voll von missachteten Zeugnissen und verkannten Rufern. Die lärmenden Stimmen der Macht und des Egoismus übertönen allenthalben“ 223 und lange die Stimmen derer, die den von Kant geforderten und gepriesenen Mut, selbst zu denken, aufbringen und folgerichtig gegen die Missachtung oder Verdrehung der von Kant so eindringlich berufenen Ansprüche der Vernunft sowie den daraus abzuleitenden Anspruch des Menschen, menschlich behandelt zu werden und leben zu können, protestieren, in ihrer Ohnmacht bestätigend, „wie selten es gelingt, einen Menschen, und wäre es der willigste, auch nur halbwegs zur philosophischen Einsicht zu bringen“ 224 : Ein Kommentar zu Theorie und Praxis, Anspruch und Wirklichkeit des Selbstdenkens, ein Kommentar zur Wahrheit und Methode des Rezipierens und Interpretierens, zur Aufklärung und ihrer Dialektik, zur Diskursethik, scientific community, zu Kant, seinen Unklugheiten und Inkonsequenzen, seinen Kritiken und Kämpfen, seinem Ruhm und seinem Recht… Es wird immer sich einmengende Hände geben und der Nutzen der Freiheit wird weiterhin auf Menschen guten Willens angewiesen und begrenzt sein; der im Großen und Ganzen, trotz aller Lücken, erreichte Abschluss der absonderlichen Geschichte eines merkwürdigen Werkes ist eine Aufforderung, den Kampf für die Würde und Rechte des Menschen auch auf diesem Felde der Philosophie fortzusetzen, als winziger Teil des immer neuen Anfangs und Auftrags, auf die alten Anfragen und Aufgaben zu antworten, den Zeichen der Zeit entsprechend. Wie im Blick auf zwei Jahrhunderte Kantrezeption angedeutet, wurde und wird Hübners Kuriosum über seine Konstatierung hinaus wie gewohnt, routinemäßig, gelegentlich auch mit der Arroganz der Macht, in einer verkehrten Welt mehr oder minder künstlich, unkantisch und unkritisch am Leben gehalten und fortgeschrieben; dazu gehört, dass Kants Hinweise auf eine sachlich-philosophisch zu wünschende und von ihm beabsichtigte, lange vorbereitete und gelegentlich angekündigte Vollendung seines Systems und seiner Philosophie im Großen und Ganzen ebenfalls übergangen wurden und werden. 222 O. Gigon in: Platon Meisterdialoge. Zürich u. München 1974. S. LX. 223 Schlette Über Simone Weil S. 23. 224 Gigon S. XXXIV. <?page no="93"?> 85 5. Das Hauptwerk - Chaos oder Kosmos? Pläne, Pflichten und Vorbereitungen Die ganze Zurüstung der Vernunft ist darauf gerichtet zu wissen, was zu tun sei (A 800f.). Kant hatte in der Schätzung der lebendigen Kräfte jugendlich-optimistisch seine selbst vorgezeichnete Bahn bekannt gemacht, damit ein Programm andeutend, das der Hauslehrer, Privatdozent und Professor, trotz aller Hemmnisse, beharrlich weiterverfolgte, auch wenn er oft seinen Weg wieder zurücknehmen und Umkippungen verarbeiten musste. In der KrV kündigte er an, die Metaphysik der Natur sowohl als der Sitten, als Bestätigung der Richtigkeit der Kritik der spekulativen sowohl als der praktischen Vernunft, zu liefern (B XLIII); er wollte die Pläne, die ich nur zur Hälfte ausgeführt habe, und alles, was ich mir als meine Pflicht denke, erfüllen (an Biester; 29. 12. 1789) und seine vielfältigen Arbeiten vollenden (an Erhard; 21. 12. 1792), um seinen Plan noch vor dem Toresschlusse zu beendigen (an Reinhold; 21. 12. 1792). In der KU erklärte er, ungesäumt zum doktrinalen [Geschäft zu] schreiten (5; 170), die Erwartungen einer interessierten Öffentlichkeit bestärkend. Angespornt von Fichtes und Schellings jugendlich-unbeschwerten, konkurrierenden Systementwürfen, war er schließlich überzeugt, das Ganze der Philosophie in einem System ausarbeiten und seine Lebensarbeit abschließen zu können; auch wenn sein Plan nur eingeschränkt zu erfüllen war, wäre sein handschriftlicher Nachlass daraufhin durchzusehen gewesen: Eine so anspruchsvolle, gleichsam grenzenlose Pflichterfüllung, wie er sie selbstgewiss benannt und sich zugemutet hatte, ist ebenso eine Forschungsaufgabe wie der erste Teil des Op. Beides hat Kant ohne Vorkehrungen für seinen Tod seinen Tischgenossen hinterlassen, sodass er ein letztes Mal, als redlicher Mann, den Ränken der Bürger nicht entgangen ist. Gleichwohl ist sein unvollkommener Weg zu diesem idealen Ziel eine Aufgabe der forschenden und prüfenden Vernunft. Nach der Beendigung seines kritischen Geschäftes wandte sich Kant der Frage zu, wie die im natürlichen Lebensvollzug unproblematisch zu erfahrende, von der Lücke in seinem System gestörte Einheit des Homo phaenomenon und noumenon, von sensibler und intelligibler Welt, Naturkausalität und Freiheit, Physik und Metaphysik zu denken, wie das Ganze darzustellen sei: Es besteht ein Vernunft-Anspruch, die unreflektiert als solche erlebte Einheit der Welt zu begreifen. Kant hat sich diesem skeptisch bestrittenen Anspruch spät gestellt - berühmt sind die Dualismen Pflicht und Neigung, a priori und a posteriori, sensible und intelligible Welt und vor allem der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir 225 ; noch die MS besteht aus zwei 225 Das schließt Missverständnisse nicht aus; Whitehead gilt „Kants Bewunderung bei der Betrachtung des Sternenhimmels“ als „Triumph des Offensichtlichen über den <?page no="94"?> 86 Teilen, was nicht selbstverständlich ist. Gleichwohl hat Kant immer wieder den Einheitsgedanken betont, der sich verschieden fassen lässt, als System, Idee des Ganzen. Die Einheit in ihrer Verschiedenheit, die Zusammenfassung des Erarbeiteten, eine Synthese waren an den Übergang von der Metaphysik zur Physik gebunden, Gebiete, die etwa für Leibniz und Maupertuis ohnehin nicht getrennt zu begreifen waren - es galt, die Voraussetzungen sowohl der Einen Erfahrung als auch die eines transzendentalphilosophischen, allumfassenden Systems, des Ganzen von Gott, Welt, Mensch zu bewältigen, zumal in der KU die Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft aufgehoben war, dem Anspruch auf Vernunfteinheit entsprechend und einem Gesamtsystem vorarbeitend. Obwohl in Kants Werken dualistische Unterscheidungen und Gegenüberstellungen vorherrschen, war deren Aufhebung lange vorbereitet und also zu erwarten: Bereits in seiner ersten Arbeit hat er einen Plan der Natur genannt, deren Weg nur ein einziger sei (Kf. 1; 61); er würde in dieser Arbeit nichts vermocht haben ohne den Leitfaden des Gesetzes der Kontinuität (1; 181), auf das er sich auch in der KU (5; 182) und im Op bezog und das Übergänge einschließt. Das mochte zwar eher konventionell als originell gewesen sein, doch war damit zugleich der Ausgangspunkt bezeichnet sowohl für Kants Beschäftigungen mit dem Kraftbegriff und mit dem Phänomen der Bewegung als auch mit der großen Ordnung der Natur, der Voraussetzung jedes Systems - daraus hat Kant in der Theorie des Himmels seine avantgardistischen Vorstellungen von der Ordnung im Kosmos entwickelt und einen neuen Begriff von der systematischen Verfassung der ganzen Schöpfung gebildet (Nat. 1; 237); als Ausdruck dieser Ordnung müssen unter der Regierung der Vernunft unsere Erkenntnisse ein System ausmachen (A 832), das noch darzustellen war - in der Erfahrungs-Einheit werden längst genannte Vorstellungen und Absichten aufgegriffen, die zum Chef d’oeuvre weisen, als einem Geheimnisse einschließenden Grenzfall: Das geordnete Ganze der Stern-Ordnungen bleibt ein Abgrund einer wahren Unermesslichkeit, trotz der Hilfe der Zahlwissenschaft (Nat. 1; 256). Zugleich nannte Kant als Grenzfall, die Erzeugung eines Krauts oder einer Raupe deutlich und vollständig kund zu tun (Nat. 1; 230), die organische Welt, die Übergänge vom Unbelebten zum Belebten, von der Pflanze zum Tier und zum Menschen andeutend (vgl. Beweisgrund 2; 138; KU). Ungeachtet der noch zu leistenden (System)Arbeit und ihrer zum Teil erst allmählich hervortretenden Probleme hatte er schon in der KrV deutlich, wenn auch nicht zusammenhängend, seine Zielvorstellung eines Gesamtsystems formuliert. Er war überzeugt, die Vernunft sei ihrer Natur nach architektonisch, d. i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System (A 474), das seine vornehmste Einheit in der Einheit der Zwecke findet: So überzeugt eine vollendete Kritik, dass die eigentliche Bestimmung philosophischen Standpunkt“, was Whitehead „gegen Kants Philosophie zur Geltung“ bringt; Kann S. 227. <?page no="95"?> 87 „dieses obersten Erkenntnisvermögens sei, sich aller Methoden […] nur zu bedienen, um der Natur nach allen möglichen Prinzipien der Einheit, worunter die der Zwecke die vornehmste ist, bis in ihr Innerstes nachzugehen“ (A 703). Das betrifft den Primat der praktischen Vernunft und damit Freiheit; denn es ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellt. (A 801.) Schon daraus ergibt sich grundsätzlich eine Aufhebung des Dualismus von praktischer und spekulativer Vernunft, wobei wieder Kants Auseinandersetzung mit Leibniz - hier mit dessem Reich der Gnade - zu erkennen ist: „Die systematische Einheit der Zwecke in dieser Welt der Intelligenzen, welche, obzwar, als bloße Natur, nur Sinnenwelt, als ein System der Freiheit aber, intelligible, d. i. moralische Welt (regnum gratiae) genannt werden kann, führt unausbleiblich auch auf die zweckmäßige Einheit aller Dinge, die dieses große Ganze ausmachen, nach allgemeinen Naturgesetzen, [...] und vereinigt die praktische Vernunft mit der spekulativen.“ (A 815.) Damit ist ein das große Ganze umfassender, nachvollziehbarer, aufzubereitender Naturbegriff gefordert, der für eine neue Philosophie der Natur nicht übergangen werden sollte, wie es üblicherweise geschieht; zudem ergibt sich eine systematische Grundlegung der Verflechtung von Gott, Welt, Mensch in der Erkenntnis, Gott sei eine schlechterdings notwendige Voraussetzung im praktischen Gebrauch der Vernunft (A 818): Kant hatte seinen zeitweise anklingenden Anthropozentrismus philosophisch und systematisch eingeordnet und aufgehoben, was den letzten Schritt zur Vollendung seines Systems ermöglichte und erforderte: Programmatisch, obwohl noch theoretisch-allgemein, formulierte Kant, dass uns die Vernunft aus der Natur der Handlungen „lehrt, Gott dadurch zu dienen, dass wir das Weltbeste an uns und an anderen befördern [...], unsere Bestimmung hier in der Welt zu erfüllen, indem wir in das System aller Zwecke passen“ (A 819). Kant hatte schon in der KrV das Ganze im Blick, ungeachtet aller Um- und Fortbildungen seiner Philosophie. Er verstand unter einem System die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen: Der szientifische Vernunftbegriff enthält also den Zweck und die Form des Ganzen (A 832), ein auch für die noch zu bearbeitenden Wissenschaften geltender Gedanke. Hinsichtlich des Gesamtsystems und richtungweisend für seine weitere, so viele Wissenschaften betreffende oder berührende Arbeit betonte er, nur architektonisch, aus der Ableitung von einem einigen obersten und inneren Zwecke, der das Ganze allererst möglich macht, kann dasjenige entspringen, was wir Wissenschaft nennen (A 833). Diese erneute Betonung der Bedeutung eines obersten Zweckes und eines einzigen philosophischen Systems, in dem die praktische Vernunft mit der spekulativen vereinigt sei, liest sich wie eine Ankündigung des Hauptwerkes, wobei zugleich der systematische Ort der Hauptfrage deutlich wird: Wesentliche <?page no="96"?> 88 „Zwecke sind noch nicht die höchsten, deren (bei vollkommener systematischer Einheit der Vernunft) nur ein einziger sein kann. Daher sind sie entweder Endzweck, oder subalterne Zwecke [...]. Der erstere ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen [...]. Die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft (Philosophie) hat nun zwei Gegenstände, Natur und Freiheit, und enthält also sowohl das Naturgesetz, als auch das Sittengesetz, anfangs in zwei besonderen, zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System.“ (A 840.) Der Systemgedanke in der KrV lässt vielleicht besser verstehen, weshalb Kant in der Fichte-Erklärung behaupten konnte, das vollendete Ganze der reinen Philosophie in der KrV gepriesen - nicht: gegeben - zu haben; denn damit ist die Bezeichnung der KrV als Propädeutik (A 841) nicht berührt. Bereits diese Skizze seiner Einheitsvorstellung und seines Systemgedankens zeigt, dass er nicht theoretisch-abstrakt argumentierte, sondern im konkreten Zusammenhang seines Welt- und Menschenbildes, wobei ausdrücklich Gott einbegriffen ist - das Ganze, die Einheit der Erfahrung: Gott, Welt, Mensch als höchste Stufe der Philosophie deutet sich an. 5. 1. Architektonische Wissenschaft und oberster Zweck Wie viel Kant im Jahre 1781 zur Ausführung seines großen Planes fehlte, wird aus seinen geschichtsphilosophischen Aufsätzen, aus den MAdN und der KU ersichtlich; diese Werke können die Bereiche der Welt, der Wissenschaften und des Menschen repräsentieren, deren Bearbeitung Kant seinem System näherbrachte. Dabei sah er sich Fragen gegenüber, deren Bewältigung zunächst noch unklar war, doch ermöglichte auch ihm, wie Kepler, Harvey und Leibniz, die Grundüberzeugung der großen Ordnung einen tragfähigen Entwurf, sodass er der Architektonik der reinen Vernunft in den Hauptzügen entsprechen zu können meinte, wie mit einigen Hinweisen auf seine Sicht der Geschichte der Natur und des Menschen gezeigt sei. Im Titel seiner ersten großen Schrift nennt Kant mit Naturgeschichte den Entwicklungsgedanken, in seinen Werken kaum beachtet, von Anfang an und auch in der Theorie des Himmels dem ungeschichtlich-naturwissenschaftlichen oder theoretischen Gesichtspunkt neben- oder untergeordnet. Beide Gedanken stehen in einem, erst im 20. Jahrhundert begriffenen Spannungsverhältnis, das, obgleich Kant wohl nicht bewusst, bereits angedeutet ist in der Erläuterung von dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt. Eine Synthese beider Sichtweisen - etwa: Geschichte und Mechanik - konnte er auch im Op kaum leisten, er hat sie erstrebt und vorbereitet in der spannungsreichen Erfahrungs- Einheit, die de facto Geschichte, Mechanik und das Andere der Vernunft einschließt und nur so begriffen werden kann. Diese Sicht, mit der Kant die erste, auf den Prinzipien und Gesetzen Newtons basierende Kosmogonie entwickelt hat, war von ihm erprobt in der Untersuchung, ob die Erde in ihrer Um- <?page no="97"?> 89 drehung um die Achse einige Veränderung erlitten habe sowie in der Erwägung, ob die Erde veralte. Das Lissabonner Erdbeben hat Kant ebenfalls geschichtlich-wissenschaftlich betrachtet, womit er zu den Pionieren der Seismologie zählt. Die Absicht, das Ganze zu begreifen, ist deutlich. Anders als Naturgeschichte war Geschichte ein Thema der Philosophie. Vermutlich war der polnische Erbfolgekrieg (1733-1738) das erste große politische Ereignis, das Kant mehr oder minder bewusst erlebte. Es folgten, nach den Regierungsantritten Friedrichs II. und Maria Theresias sowie, für Königsberg benachbart, der Zarin Elisabeth, die Schlesischen Kriege, in derem letzten die Preußen im Jahre 1757 in der Nähe Königsbergs, bei Groß Jägersdorf, eine Niederlage erlitten - die Kriegsgräuel waren nah. Frankreich verlor, was Großbritannien gewann - es war Kant durch seine englischen Freunde vertraut, anfangs auch als Land republikanischer Freiheit. Zeitweilig russischer Untertan, bewarb sich der Privatdozent bei der Zarin, der Allergnädigsten Kaiserin und großen Frau, um die Professur der Logik und Metaphysik (14. 12. 1758). Die mit dem Entstehen der USA verbundene Menschenrechtserklärung erschien ihm dann als Zeichen, im widersinnigen Gange menschlicher Dinge (Idee 8; 17) eine Tendenz zu Freiheit und Recht anzunehmen, wie sie sich zuvor auch in den Niederlanden und der Glorreichen Revolution gezeigt hatte; so galt als Kants Lieblingsidee, dass der Endzweck des Menschengeschlechts die Erreichung der vollkommensten Staatsverfassung sei (Gothaische Gelehrte Zeitungen; 11. 2. 1784; 8; 15; 468). Dieser optimistischen, für Kant eine Zeitlang bezeichnenden Sicht voraus lagen Betrachtungen zur Weltgeschichte, zu denen er vielfältig angeregt worden sein wird, u. a. von Montaigne, Leibniz, Montesquieu, Hume, Voltaire, Rousseau und nicht zuletzt von seinem Schüler Herder. Damit sei der lebendig-konkrete, politisch-militärische und biografisch-philosophische Hintergrund angedeutet, vor dem Kant eine Geschichtsphilosophie entwickelte in der seit der KrV gefestigten Überzeugung, im Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im Großen einen regelmäßigen Gang entdecken zu können (Idee 8; 17), der für ihn nach einem Plane der Natur auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung gerichtet war. Diese Idee dürfte zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen als ein System darzustellen (Idee 8; 29). Kant hat das später realistischer gesehen; er glaubte zwar, dass durch die Französische Revolution die moralische Tendenz des Menschengeschlechts bewiesen sei (St. 7; 85), doch zeigten Gegenwart wie Geschichte, dass dieser große Zweck verloren ging: Wir müssen geduldig an diesem Unternehmen arbeiten und warten (R 1397). 226 In der Religionsschrift meinte Kant nüchtern, ohne Aufklärungs- oder Fortschritts-Optimismus, dass die wirkliche Errichtung desselben [eines ethischen Staates; Rh.] noch in unendlicher Weite von uns entfernt liegt (6; 122). Ziel und Zweck der Geschichte bleiben 226 Aus inneren Gründen sind die soeben zitierten Reflexionen vermutlich nach 1781 und vor 1784 geschrieben, also ca. 10 Jahre später als a. a. O. datiert. <?page no="98"?> 90 davon unberührt, weil wir wissen, was wir zu tun haben (6; 152). So glaubte Kant, an einer Naturabsicht (Idee 8; 17) für die Geschichte festhalten und die Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei (St. 7; 79), bejahend beantworten zu können, ohne dass dabei die moralische Grundlage im Menschengeschlechte im mindesten vergrößert werden müsse, wozu auch, wie er skeptisch und ironisch hinzufügte, eine Art von neuer Schöpfung (übernatürlicher Einfluss) erforderlich sein würde (St. 7; 92). Zudem ergriff Kant eine, der praktischen Vernunft gemäße menschliche, nicht nur diesseitig, wie in der Religionsschrift, zu verstehende Bestimmung, für die ein System weder möglich noch erforderlich sein dürfte und die seine Idee, den Leitfaden der Geschichte und den Endzweck des Menschengeschlechts, seinem vertieften Welt- und Menschenbild entsprechend aufhob (R 1396): „Das Reich Gottes auf Erden: das ist die letzte Bestimmung des Menschen.“ Das verpflichtet, Gott und Welt zu verbinden (21; 37), die Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat (Idee 8; 30), ist eingeschränkt: Geschäftige Torheit ist der Charakter unserer Gattung (St. 7; 82), in der jeder Einzelne dem Kampf des guten Prinzips mit dem bösen ausgesetzt ist (Rel. 6; 57) und für das Fortschreiten zum Besseren durch eine Umkehr selbst beizutragen hat: Die Bestimmung des Menschen, das Reich Gottes, 227 konkretisiert sich, letztlich unabhängig vom politisch-gesellschaftlichen Geschehen, individuell-persönlich, auf Weisheit gerichtet; da allein Gott weise ist, gebietet die Vernunft, sich ihm in der Liebe zur Weisheit anzunähern... Die Erfahrungs-Einheit betrifft auch die Biologie; kurz nach dem Antritt seiner Professur erschien Kant eine Arbeit Von dem körperlichen wesentlichen Unterschiede zwischen der Struktur der Tiere und Menschen wichtig genug, um sie zu rezensieren. Wie in seinem Aufsatz Von den verschiedenen Rassen der Menschen standen zwar aktuelle Fragen sowie seine anthropologischen Interessen im Vordergrund, doch war zugleich vom Geheimnis des Lebendigen zu lesen, das den naturnahen Städter 228 und um Strenge bemühten Philosophen herausforderte: Eindringlich hat er das Wunder des Lebendigen betont; berühmt geworden, wenn auch selten recht bedacht, sind seine Überzeugung, er habe „dem Materialismus [...] die Wurzel abgeschnitten“ (B XXXIV) sowie, dass es ungereimt sei zu hoffen, dass dereinst ein Newton „aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde“ (KU 5; 400). Nicht agnostizistisch gemeint, zeigt Kant, dass ordnende und orientierende Ideen wie Naturabsicht und Zweckmäßigkeit (KU 5; 180) für die Naturforschung unverzichtbar sind, weil wir zwar in Ansehung des rationalen Gebrauchs unserer Erkenntnisvermögen Grenzen bestimmen können, im empirischen Felde aber 227 Vgl. Habichler. 228 Vgl. Jachmann S. 163. <?page no="99"?> 91 keine Grenzbestimmung möglich ist. (KU 5; 188.) Mit den Grenzen der Vernunft mussten zugleich die Probleme, dem Systemanspruch gerecht zu werden, deutlicher werden; die uns sehr verborgene Ordnung der Dinge (A 814) musste sich begrenzend auf ein Gesamtsystem auswirken, zumal bei der Welt des Lebendigen. Überdies war mit einem System ein architektonischer Anspruch verbunden, der nicht ohne weiteres zu erfüllen sein konnte; noch in der Einleitung in die MS hatte Kant geschrieben: Die Deduktion der Einteilung eines Systems: d. i. der Beweis ihrer Vollständigkeit sowohl, als auch der Stetigkeit [...] ist eine der am schwersten zu erfüllenden Bedingungen für den Baumeister eines Systems. (6; 218 Anm.) Gleichwohl hielt er an seiner Systemvorstellung und -absicht fest, da die große Ordnung ein Gesamtsystem nicht nur zu fordern, sondern zu garantieren schien. So war es ihm in der KU gelungen, eine Theoretische Biologie zu entwerfen, wobei er sich wie in seiner Geschichtsphilosophie einer Naturabsicht als Leitfaden bediente: Es ist „nötig, der Natur den Begriff einer Absicht unterzulegen, wenn wir […] ihren organisierten Produkten […] nachforschen wollen; […] dieser Begriff ist also schon für den Erfahrungsgebrauch unserer Vernunft eine […] notwendige Maxime. Es ist offenbar: dass da […] ein solcher Leitfaden die Natur zu studieren […] bewährt gefunden ist, wir die gedachte Maxime der Urteilskraft auch am Ganzen der Natur wenigstens versuchen müssen, weil sich nach derselben noch manche Gesetze […] dürften auffinden lassen, die uns nach der Beschränkung unserer Einsichten in das Innere des Mechanismus derselben sonst verborgen bleiben würden.“ (5; 398.) Kant meinte, nicht nur die Welt des Lebendigen in sein System einordnen zu können, sondern er hatte weitreichende Argumente für sein Systemziel gewonnen; denn da die Materie, sofern sie organisiert ist, den Begriff von einem Naturzwecke notwendig bei sich führt (5; 378), weist dieser Begriff notwendig auf die Idee der gesamten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke, welcher Idee nun aller Mechanismus der Natur nach Prinzipien der Vernunft untergeordnet werden muss. (5; 379.) Es ist für die Möglichkeit eines solchen Systems erforderlich, dass es einen letzten Zweck der Natur gibt, „den wie nirgend anders als im Menschen setzen können, weil er das einzige Wesen ist, welches sich einen Begriff von Zwecken machen und aus einem Aggregat von zweckmäßig gebildeten Dingen durch seine Vernunft ein System der Zwecke machen kann.“ (5; 426f.; umgestellt; Rh.) Trotz seiner Pläne ging Kant nicht ungesäumt an das System, sondern veröffentlichte die Religionsschrift, den Friedensentwurf, die Theodizee, etwas Über Theorie und Praxis, über Das Ende aller Dinge und sogar Etwas über den Einfluss des Mondes auf die Witterung. Diese Werke können als Nebenbeschäftigungen eines vielseitigen Gelehrten erscheinen, aber sie sind auch angesichts seines noch unerfüllten Planes, die Metaphysik betreffend, und in Anbetracht seines Alters zu rechtfertigen, da sie auf das übergeordnete Programm zu beziehen sind, das Kant in einem Brief vorgestellt hat: <?page no="100"?> 92 „Mein schon seit geraumer Zeit gemachter Plan der mir obliegenden Bearbeitung des Feldes der reinen Philosophie ging auf die Auflösung der drei Aufgaben: 1) Was kann ich wissen? (Metaphysik) 2) Was soll ich tun? (Moral) 3) Was darf ich hoffen? (Religion); welcher zuletzt die vierte folgen sollte: Was ist der Mensch? (Anthropologie; über die ich schon seit mehr als 20 Jahren jährlich ein Kollegium gelesen habe).“ (An Stäudlin; 4. 5. 1793.) 229 Mit diesem, gegenüber seinen metaphysischen Aufgaben erheblich erweiterten Plan beschrieb Kant adressatenspezifisch seine Ziele und die sich daraus ergebende Arbeit, ohne seine naturwissenschaftlichen Interessen, Schriften oder anstehende Fragen zu erwähnen. Damit hatte er eine in seinen Werken sichtbare Linie ausgezogen, die leicht zu verfolgen ist und keinesfalls ohne gute Gründe vor dem Op abgebrochen werden sollte, zumal sie gerade in die Richtung weist, in der das Hauptwerk als Endstufe seines Philosophierens zu sehen ist: Der genannte Plan lässt sich treffend mit Hasses, im Op enthaltenen System-Titel zusammenfassen. In der Religionsschrift hatte Kant die dritte Abteilung seines Plans zu vollführen gesucht - obwohl nur innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft -, und so hatte er, nach der im Jahre 1793 offenbar als näher rückend angesehenen Vervollständigung seiner metaphysischen Aufgabe durch die Metaphysik der Sitten und der Natur, danach nur noch die vierte Aufgabe zu lösen, zu der sich der 69jährige durch seine Kollegien vorbereitet sah - Pläne machen ist eine üppige, prahlerische Geistesbeschäftigung, dadurch man sich ein Ansehen von schöpferischem Genie gibt 230 (Pro. 4; 262): Er war also entschlossen, es dabei nicht zu belassen, wie nicht nur die beiden Teile des Op zeigen, sondern in ihrer Vielfalt bereits die Werke der 90er Jahre, von denen zwar einige in keinem direkten Zusammenhang mit dem angekündigten doktrinalen Geschäft zu stehen scheinen, aber vorbereitend, als Stationen auf dem Wege zur Erfüllung seines Plans, auch mit seinem metaphysischen Ziel verflochten sind. Kant war zwar eigenwillig, nicht sehr systematisch, doch ertragreich und vor allem im Kampf um die bedrohte Würde des Menschen bewundernswert streng bemüht, seiner vorgezeichneten Linie treu zu bleiben und sein kritisches Systemprogramm im Wesentlichen zu erfüllen - überdies in manchem umfassender und gründlicher, als es den Anschein hat und bei seinen damaligen akademischen Verpflichtungen und seinem Alter zu erwarten war: Seine Friedensschrift enthält eine Theorie der Politik, die zur Beantwortung der Frage nach dem Menschen als Zoon politikon ebenso wichtig ist wie seine Pädagogik für den Homo educandus und seine vorauswei- 229 Es ist eine der Ironien der Philosophiegeschichte (Goetschel S. 12), dass diese, in der Logik (9; 25) bestätigte Beschreibung dessen, was Kant wollte, oft ignoriert wird. Vgl. Schmitz Was wollte Kant? - Rez.: Sala in: Ph. Jb. 98(1991)200-204. 230 Ein Beispiel: Für die Ankündigung eines sechsbändiges Gesamtwerks über die Transzendentalphilosophie Kants ist in einer Habilitationsschrift im ersten und einzigen, seit über vierzig Jahren erschienenen Halbband eine ganze, sonst leere Seite reserviert. <?page no="101"?> 93 senden, psychosomatischen und autosuggestiven Gedanken Von der Macht des Gemüts. Diese Ergänzungen seiner im Jahre 1798 erschienenen Anthropologie deuten an, wie tiefgreifend Kant seine transzendentale Anthropologie hätte ausführen können: Er näherte sich endlich und relativ rasch einer summarischen Erfüllung seiner Ankündigungen und seiner Lebensarbeit; denn als im Jahre 1798 diese Teile seines Programms erschienen waren, arbeitete er bereits seit längerem, seit er im Sommersemester 1796 seine letzten Vorlesungen gehalten hatte, auch am Übergang, an der Voraussetzung für die versprochene Metaphysik der Natur (an Schütz; 13. 9. 1785). So gehören die Spätwerke nicht nur mehr oder minder am Rande zu den über sein doktrinales Geschäft hinausgehenden vier Aufgaben der Bearbeitung des Feldes der reinen Philosophie, die ihm als Pflichterfüllung oblag, sondern bestätigen dieses Ziel, wie sogar ohne Berücksichtigung des Op erkannt worden ist: „Als Torso eines die Lehre von der Kenntnis des Menschen in ihrer Ganzheit umschließenden Gedankengebildes“ gehören diese „Altersschriften Kants“ zu „den Fragmenten einer unvollendet gebliebenen philosophischen Anthropologie“ 231 - einer der Forschungserträge, der auf dem weiten Ozean der Büchergelehrsamkeit (Bem. 20; 42) fast untergegangen ist... Erst im 75. Lebensjahr, nach dem Jahre 1798, konnte sich Kant befreien von der Mannigfaltigkeit der Arbeiten (an Schiller; 30. 3. 1795), die sich einander wechselseitig unterbrechen (an Tieftrunk; 11. 12. 1797), um sich endlich und endgültig einem neuen Thema zuzuwenden, dem seit einigen Jahren angekündigten Übergang von der Metaphysik zur Physik, wie ein Brief seines Schülers Johann Gottfried Karl Christian Kiesewetter bezeugt (8. 6. 1795).An dieser, ihm spätestens seit den MAdN bewussten Lücke hat er wohl seit dem Jahre 1796 gearbeitet, anfangs noch mit Unterbrechungen. Es galt, die Voraussetzung zu erfüllen, innerhalb seines Systems diesen Übergang begreiflich zu machen und damit ein Problem von grundsätzlicher Bedeutung angesichts der polaren Struktur der Wirklichkeit exemplarisch zu überwinden, wie u. a. durch die theoretische Physik und die Bio-Wissenschaften deutlich geworden ist 232 : Für den Forscher aus Neigung ließen die Vernunft-Ansprüche nicht nach, und da er den Übergang als pars pro toto für die damit im Prinzip ermöglichte Metaphysik der Natur ansah, konnte er danach die erwünschte Synthese und Summe in Angriff nehmen. Diesen monistischen Plan hat er mit wenigen, klaren Worten in zwei Briefen skizziert, bemüht, seine Liebe zur Metaphysik zu bezeugen - seiner Hauptfrage Schicksal und zugleich die Hauptschwierigkeit, die Kluft zu überbrücken zwischen den von der Physik repräsentierten modernen Wissenschaften und dem Glauben, für den es damit endgültig Platz zu schaffen galt, um eine zusammenhängende und zusammenfassende Antwort auf die Frage nach dem Menschen in einer transzendentalen Anthropologie entwerfen zu können. Er- 231 Rossmann in: Kant Streit S. VII; umgestellt; Rh. 232 Vgl. Mathieu; vgl. die Rez. v. Zehbe in: ZphF 47(1993)144-148. <?page no="102"?> 94 mutigt durch die Freiheit als Emeritus berichtet er, zunächst ungeduldig, dann gelassener, von seinen Hoffnungen: Einen ernsten, mit Erinnerungen eigener Art verbundenen Anlass zu einer rückblickenden und vorausschauenden Besinnung bot der Brief, mit dem Kant am 21. September 1798 dem schwerkranken, wenig später, am 1. Dezember, verstorbenen Christian Garve dankte für die Zueignung und Zusendung seiner Übersicht der vornehmsten Prinzipien der Sittenlehre. Von dem Groll, den die unglückliche Rezension der KrV in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen bei Kant hervorgerufen hatte, war beiderseits keine Spur geblieben, und Kant antwortete mit einer für einen säumigen Briefschreiber, der sich oft für seine gewöhnliche Nachlässigkeit im Schreiben entschuldigen musste (an Herder; 9. 5. 1768), ungewöhnlichen Schnelligkeit, indem er schon zwei Tage, nachdem er Garves Post erhalten hatte, seine Anteilnahme am Schicksal des dem Toresschlusse Nahen bekundete. Kants Verständnis für die Leiden des Dahinsiechenden, der zwar unkantisch, aber konservativ philosophiert hatte, zeigt einen einfühlsamen, um Zuspruch bemühten, alles Trennende beiseite setzenden Philosophen, keineswegs einen bloßen Theoretiker oder kühlen Analytiker und Verstandesmenschen. Kant wollte den würdigen Gelehrten (Fr. 8; 386) so gut es ging trösten, wohl auch damit, dass er dem 18 Jahre Jüngeren sein eigenes, so genanntes Gesundsein schilderte als das eines beinahe bloß noch Vegetierenden (Essen, Gehen und schlafen können): Ich eile, Teuerster Freund! den Empfang Ihres liebevollen und „seelenstärkenden Buchs und Briefes [...] zu melden. - Die erschütternde Beschreibung Ihrer körperlichen Leiden, mit der Geisteskraft über sie sich wegzusetzen und fürs Weltbeste noch immer mit Heiterkeit zu arbeiten, verbunden, erregen in mir die größte Bewunderung. - Ich weiß aber nicht, ob [...] das Los, was mir gefallen ist, von Ihnen nicht noch schmerzhafter empfunden werden möchte, wenn Sie sich darin in Gedanken versetzten; nämlich für Geistesarbeiten, bei sonst ziemlichem körperlichen Wohlsein, wie gelähmt zu sein: den völligen Abschluss meiner Rechnung, in Sachen, welche das Ganze der Philosophie (so wohl Zweck als Mittel anlangend) betreffen, vor sich liegen und es noch immer nicht vollendet zu sehen; obwohl ich mir der Tunlichkeit dieser Aufgabe bewusst bin: ein tantalischer Schmerz, der indessen doch nicht hoffnungslos ist. - Die Aufgabe, mit der ich mich jetzt beschäftige, betrifft den Übergang von den metaphys. Anfgr. d. N.-W. zur Physik. Sie will aufgelöst sein; weil sonst im System der krit. Philos. eine Lücke sein würde. Die Ansprüche der Vernunft darauf lassen nicht nach: das Bewusstsein des Vermögens dazu gleichfalls nicht; aber die Befriedigung derselben wird, wenn gleich nicht durch völlige Lähmung der Lebenskraft, doch durch immer sich einstellende Hemmungen derselben bis zur höchsten Ungeduld aufgeschoben.“ (12; 256f.) Kant hatte die Beschwerden des Alters (Briefentwurf; Febr. 1798; 12; 234) übertrieben, an den Todkranken denkend, doch musste er Kopfarbeiten eine Zeitlang zur Seite legen (Briefentwurf; Febr. 1798; 13; 476), mit Intervallen (Briefentwurf; Febr. 1798; 12; 234); diese den Kopf bedrückende Unpässlichkeit (Briefentwurf; Febr. 1798; 13; 476) behinderte die Vollendung seiner Lebensar- <?page no="103"?> 95 beit, sodass er fürchtete, sie vor dem Torschlusse nicht mehr zu erreichen (an Tieftrunk; 11. 12. 1797): Ein tantalischer Schmerz, den Abschluss seiner Rechnung vor sich liegen, aber noch immer nicht vollendet zu sehen, trotz der Tunlichkeit, weshalb er davon in seiner Begeisterung dem Todkranken schrieb. Kant schloss mit einer Anspielung auf das erlösende Ende - in der qualvollen Lage Garves eine mitfühlende Anteilnahme; den Abschluss seiner sachlichen Ausführungen verdeutlichte Kant durch einen Gedankenstrich, der Neues anzeigt: Die Aufgabe, mit der ich mich jetzt beschäftige, betrifft den Übergang. Einem unbefangenen Leser ist schon sprachlich-inhaltlich klar, dass die jetzige Aufgabe eine andere war als die zuvor beschriebene; auch sachlich ist eine Lücke vom Abschluss, das Ganze betreffend, zu unterscheiden; beide Aufgaben, durch Ausdrucksweise und Zeichensetzung getrennt, haben Gemeinsamkeiten, sind aber nicht gleichzusetzen: Beide betrifft das Bewusstsein der Tunlichkeit, der Hemmungen entgegenstanden, die unmittelbar nur die jetzige Aufgabe betrafen, mittelbar aber auch die anschließende und abschließende, die den Übergang voraussetzte, an dem er jetzt, im Jahre 1798 arbeitete; dem völligen Abschluss konnte er sich noch nicht zuwenden. Diese Selbstaussagen sind überzeugend, sie sind weder unkantisch noch altersschwach und passen zu dem Brief an Stäudlin. Am 19. Oktober 1798, vier Wochen nach diesem in manchem kontextabhängigen Brief, berichtete Kant Kiesewetter, sein Gesundheitszustand sei der eines alten, nicht kranken, „aber doch invaliden, vornehmlich für eigentliche und öffentliche Amtspflichten ausgedienten Mannes, der dennoch ein kleines Maß von Kräften in sich fühlt, um eine Arbeit, die er unter Händen hat, noch zu Stande zu bringen; womit er das kritische Geschäft zu beschließen und eine noch übrige Lücke auszufüllen denkt; nämlich den Übergang […] zur Physik, als einen eigenen Teil der philosophia naturalis, der im System nicht mangeln darf, auszuarbeiten.“ Kant schrieb nach Berlin, wohl auch, um öffentlichen Pflichten zu entgehen, nur vom Beschluss sein kritisches Geschäftes. Damit ist das Schreiben an Garve bestätigt und die Kränklichkeit (an Hufeland; 6. 2. 1798) verdeutlicht als eine Unpässlichkeit, die keine Unfähigkeit zu geistiger Arbeit bedeutete. Der Rechnungsabschluss ist ein Anspruch der Vernunft, eine Pflicht, bei der Kant die wesentlichen Stationen und Positionen seines Philosophierens und eines Inbegriffs der reinen Philosophie nicht übergehen konnte, angefangen von den Themen und Problemen seiner naturwissenschaftlichen Arbeiten bis zu denen eines Übergangs, von der Kosmogonie bis zur theoretischen Biologie und höchsten Stufe der Philosophie - die Erfahrungs-Einheit war zu entwickeln aus der Beachtung des Größten wie des Kleinsten, aus dem Bedenken der Kräfte der Materie wie der Seele - in den Ideen Einheit und Erfahrung war das unmittelbar oder mittelbar zu er- und umfassen - das Ganze der Philosophie, Zweck und Mittel betreffend, war ein hohes Ziel, mit dem zugleich aufgegeben war, Rechenschaft abzulegen über Zweck und Ziel einer solchen Arbeit in einer Zeit, in der Throne barsten und Reiche zitterten, <?page no="104"?> 96 und sich somit noch einmal zu bekennen: zur Frage nach Wahrheit und Würde, nach dem Wesen des seinen Rechten bedrohten Homo sapiens, eines winzigen Staubkorns im All - die mit dem Faktum Freiheit verflochtene Hauptfrage: Nur so war im Jahrhundert der Kritik ein Ganzes zu erreichen - folgerichtig und sachgerecht im Blick auf Weisheit und den allein weisen Gott, der allein einen letzten Grund für Moral geben kann: Gott, Welt, Mensch waren die für Kant selbstverständlichen, wechselseitig auf einander verweisenden Leitbegriffe seines geplanten Hauptwerkes, gleich welchen Titels. Kants wahre Begeisterung ist gut zu verstehen; er konnte die Bearbeitung des Feldes der reinen Philosophie ganz anders gestalten, als er es, nach dem fast auffälligen Bericht Borowskis, mit dem Sarcinas colligere beschrieben hatte, als er noch im Universitätsbetrieb stand und einige größere Aufgaben seines Plans nicht erfüllt hatte, so seine Theorie der Politik, seine Staats- und Rechtsphilosophie sowie den Übergang. Zur Begeisterung gehörte zugleich das mehr oder minder erfolgreiche Einsammeln der Knochen, die er bis dahin so zahlreich ausgegraben und bearbeitet hatte und endlich zu einem idealen Ganzen meinte zusammenfügen zu können. Im Übrigen kann bereits das Knochen-Einsammeln zu einer Synthese und Summe, zu einem Ganzen führen - die Teile können nicht nur einen Archäologen auffordern, sich um ein Ganzes zu bemühen, der Schwerkraft der Dinge und des Denkens entsprechend. Zudem folgt, unabhängig von den zitierten Briefen und Kants vorangehenden und zum Teil ebenfalls zitierten Plänen und Ankündigungen, bereits aus den Kritiken als Vernunft-Anspruch, die Wurzel dieser Trilogie zu suchen: Das System ist eine folgerichtige Ankündigung und Bezeichnung einer abschließenden Antwort darauf, nicht nur die Kritiken zusammenzudenken, sondern darüber hinaus das Ganze der Philosophie in seiner übergreifenden, zusammenfassenden Einheit auszuarbeiten sowie im Blick auf die bipolare Struktur alles Gegebenen zu begründen - eine Herausforderung für Kant, der einerseits die verschiedensten Dualismen ausgearbeitet, andererseits aber den Einheitsgedanken betont hatte, sich damit in die philosophische Tradition einfügend und dem Alltag des Homo naturalis entsprechend, in dem Einheit als naturgegeben erfahren wird; ihrer Begründung geht eine grundlegende Zweiheit des Gegebenen voraus, deren Grenzen philosophisch und wissenschaftlich zu verdeutlichen sind, was den Lückenschluss voraussetzte: Erst dann war das spannungsreiche Ganze zu behandeln, zugleich eine transzendentalphilosophische Antwort auf die Frage nach dem Menschen als eines Bürgers zweier Welten ermöglichend und so Kants Philosophie vollendend - seine Begeisterung ist verständlich. Offenbar in diesem Sinne hatte er zu Hasse von einem sein System vollendenden Ganzen gesprochen - eine Aufgabe, der vorangehend und zugrunde liegend die Einheit der Welt, in die der Mensch hineingeboren wird, eine primäre, zunächst unreflektierte Ansicht ist, die es angesichts der sich vertiefenden, spannungsvollen, zwiespältigen Erkenntnis der bipolaren Struktur des <?page no="105"?> 97 Universums zu verstehen und begründen gilt. Kants Ziel eines Ganzen ist als konkretes Anliegen zu begreifen, das auszuarbeiten war, sobald Zeit und Gelegenheit dafür gegeben waren: Die von seinem Philosophieren überlieferten, direkten und indirekten Zeugnisse und folgerichtige Überlegungen sprachen für Hasses Bericht und gegen die Antithese, die Kants tatsächliche Hauptbeschäftigung, deren Gegenstände dem Diakon kaum entgangen sein konnten, übergingen. Kant hat sich bewundernswert streng um sein ideales, problemreiches Ziel bemüht; eine gewisse Unschärfe des Argumentierens ist bei hochkomplexen Zusammenhängen gleichsam a priori gegeben mit der, vereinfacht gesagt, Unerkennbarkeit der Dinge an sich und dem Übergang in ein anderes Gebiet; jede Darstellung eines größeren Ganzen kann nur unvollständig, näherungs-weise möglich sein. Diese Besonderheiten, die immanenten Spannungen und Schwierigkeiten eines allumfassenden Systems können manches Befremdliche im Op als Ergebnis einer Konsequenz oder Inkonsequenz mehr oder minder erklären. 5. 2. Hauptwerk und Nachlasswerk Kants Selbstzeugnissen sowie den Berichten über ihn ist zu entnehmen, woran er arbeitete: Gegen Ende des Jahres 1798 sah er den Abschluss seiner Rechnung zwar vor sich liegen, war aber jetzt damit beschäftigt, die Lücke zu schließen. Im Jahre 1802 arbeitete er am System der reinen Philosophie; diese Angaben werden im Op bestätigt. Das Hauptwerk zu veröffentlichen wäre so schwierig nicht gewesen, wenn es, wie von Kant gewünscht, Gensichen übergeben worden wäre. Stattdessen hat sich das von Hasse durchgeblätterte, im Op skizzierte Werk ungewöhnlich schnell, auf unbekannte Weise und unbekannten Wegen, verwandelt in ein Blätterchaos 233 mit einem naturwissenschaftlichen Titel und Inhalt - das Hauptwerk, nur noch zu redigieren, löste sich auf in ein Durcheinander verschiedenster, mühsam zu lesender Zettel, Oktav- und Folio-Bogen. Wie sieht die Handschrift aus, die so, wie sie auf die Nachwelt gekommen ist, diplomatisch getreu in der Ak. abgedruckt ist? Entspricht sie Hasses Bericht? Was ergibt das Vorhandene? Angesichts des oft beschworenen Chaos wird ein dem gemäßes Ergebnis zu erwarten sein - Hasse sah anderes, sodass zu fragen ist, ob hier ein Geheimnis sein soll, wo keines ist, entsprechend der beliebten Mystifizierung unbeliebter Fakten, korrespondierend einer angeblichen rationalen Entschleierung des rational nicht fassbaren Teiles der Wirklichkeit. Der als Op bezeichnete Teil des handschriftlichen Nachlasses Kants galt bald nach Kants Tod bis zum Jahre 1858 als verschollen sowie, nach seiner 233 Kowalewski S. 158. <?page no="106"?> 98 Auffindung, erneut seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges; seit dem Jahre 1999 befindet er sich wieder in einer öffentlichen Bibliothek; seine Beschreibung in dieser Arbeit beruht auf einzelnen Faksimiles sowie auf den Angaben der Personen, die ihn in ihren Händen hatten vor bzw. nach seinem, zuerst wohl gesellschaftlich-politisch, dann auch familiär und schließlich weltpolitisch bedingten Untertauchen. Kompromisse und Unzulänglichkeiten sind in der Wiedergabe von Handschriften kaum zu vermeiden, doch sollten Kants Auszeichnungen, Zuordnungen und Hervorhebungen bei einem diplomatisch getreuen Abdruck zu erkennen sein 234 - das Op entsprach bei seinem Erscheinen nicht dem Standard, der für die Bibel, in der Altphilologie, für Shakespeare, Balzac und Wieland erreicht worden war - es war keine Musterausgabe, wie z. B. für Hölderlin die Große Stuttgarter Ausgabe zeigt. 235 Der Abdruck in der Ak. vermittelt vom tatsächlichen Aussehen von Kants Sätzen und Stichwörtern, von seinen Zuordnungen, Korrekturen, Streichungen, Einschüben, Hervorhebungen u. ä. ein recht unvollkommenes Bild, wie sich aus einem Vergleich mit den Faksimiles ergibt, die dem Büchlein Der alte Kant und der Ak. beigegeben sind. Die Herausgeber und Bearbeiter des Op, Buchenau und Lehmann, berichten, dass sie „sich nicht entschließen konnten“, den „Text in dem Zusammenhange“ zu veröffentlichen, in dem „er wahrscheinlich entstanden ist“; sie hielten „statt dessen einen diplomatisch getreuen Abdruck der Handschrift in der nun einmal vorliegenden Gestalt für richtiger [...]. In Konsequenz dieses konservativen Prinzips mussten dann auch solche Stücke, bei denen an sich keinerlei Zweifel über den äußerlichen Zusammenhang besteht, in ihrer nun einmal gegebenen, zum Teil historisch-zufälligen Anordnung gelassen werden.“ (21; VI; umgestellt; Rh.) Es bestand also ursprünglich eine, z. T. noch immer erkennbare Ordnung, die zu rekonstruieren wäre. Durch die eigentümliche Art des diplomatisch getreuen Abdrucks werden die Leser jedoch mit durcheinander geratenen Blättern konfrontiert, die fast kurioserweise mit den 234 Einen Zugang zu einigen „Fragen der Kantedition“ gibt Lehmanns Rezeption des Op: Im Jahre 1937, wohl mitten in der Arbeit an der Ak., schrieb er, die „Lücke“, die zu schließen sich Kant vorgenommen hatte, „ist auch nicht eigentlich eine Lücke“ - ein sonderbarer Satz; denn spätestens seit den MAdN wusste Kant von einer Lücke zwischen Metaphysik und Physik, die er als besonderen Überschritt von der Metaphysik der Natur zur Physik in der MS namhaft machte (6; 468) und die im Jahre 1798 auf keine Weise geschlossen war. Lehmann S. 275. 235 Diese Benachteiligung Kants hat sich fortgesetzt und gesteigert bis zu dem von Julius Ebbinghaus beklagten Kuriosum, dass statt der angemessenen Klagelieder über eine „an den Sorgen um die Kantischen Texte innerlich“ nicht „beteiligte Ausgabe [...] Hymnen [...] in der Fachpresse gesungen worden sind.“ Ebbinghaus S. 224. - Auch dieses doppelte Kuriosum ist übertroffen worden - durch „wertloseste Konjekturen“ und eine „grobe Unterschlagung“ in einer anderen Kant-Edition (G. Lehmann Kants Tugenden. Berlin; New York 1980. S. 269), die zeigt, wie weit und sumpfig das selten ernst genommene Feld des Kuriosen in einer verkehrten Welt sein kann... <?page no="107"?> 99 allerletzten Notizen beginnen, die schon auf den ersten Blick Zeichen der Schwäche und Konfusion erkennen lassen, sowohl in der Schrift als auch inhaltlich. Die folgenden Texte bieten das angekündigte, abschreckende Chaos einer historisch-zufälligen Anordnung, wie sie sich aus der Odyssee einer Handschrift durch die Hände verschiedener Besitzer und Bearbeiter ergeben hat. Dabei sind einige Ausarbeitungen Kants, vor allem für den Übergang, in der ursprünglichen Reihenfolge erhalten geblieben, anderes ist zwar ersichtlich fehl an seinem derzeitigen Platze, aber nicht ohne weiteres in das Material und das System einzuordnen. Über die Ansicht der Herausgeber, wie die einzelnen Texte, Losen Blätter, Bogen und Konv. zu datieren seien, gibt eine unpaginierte Tafel Auskunft: Das Nachlasswerk in chronologischer Anordnung (22; [827]) gibt die Mutmaßliche Entstehungszeit der Losen Blätter, Entwürfe und Konv. an. Das Op lässt sich so ordnen, wie es mutmaßlich entstanden ist; dem liegen Adickes‘ Angaben zugrunde, der sich bezog auf die von Kant selbst herrührenden „Signaturen der Entwürfe. Sie bildeten die Indizien für die genetisch richtige Anordnung des Manuskripts“ (22; 774), reichten aber nicht aus, alle vorliegenden Aufzeichnungen zu datieren bzw. zu ordnen; unsicher waren auch die übrigen Kriterien für eine Datierung wie Handschrift, Tinte, Namen, Daten, Ereignisse u. ä. Lehmanns Bilanz erscheint trotz der Einschränkungen als euphemistisch; er konstatierte „eine (fast vollständige) Kongruenz zwischen der von Kant bezeichneten und der tatsächlich vorliegenden Anordnung der Blätter“ für „die Konvolute I, VI, VII, VIII, X, XI, - also immerhin die Hälfte aller Konvolute.“ „Die restlichen Konvolute weisen eine völlige Inkongruenz von überkommener und Kantischer Anordnung auf“ (22; 776): Das Durcheinander von Gedanken, längeren Aufzeichnungen und kurzen Notizen, wie es aus anderen Nachlässen bekannt ist, ist nur teilweise ursprünglich - eine gewöhnliche Ordnungsaufgabe. In der Ak. ist eine Vorarbeit zum Streit der Fakultäten abgedruckt (s. 22; 776); zum eigentlichen Op gehören zwölf Konv., die den von Hasse genannten, rund 100 Folio-Bogen entsprechen dürften. Damit ist Hasse quantitativ ungefähr bestätigt, nicht aber qualitativ, da rund drei Viertel des überlieferten Materials den Übergang betreffen, Hasse aber nur das völlig bearbeitete Hauptwerk meinte. Diese in die Augen springende, qualitative Differenz, die quantitativ nicht auffällt und wohl nicht auffallen soll, lässt sich nicht einfach übergehen, sie zeigt, dass das Hauptwerk, die Hasse-Handschrift, im Op nicht vorliegt. Dieses Dutzend Konv. ist sehr wahrscheinlich nicht ganz unbeabsichtigt, nicht ganz ohne äußere Zwänge - Zeitdruck und fehlendes Material - zustande gekommen; es enthält „Folioblätter, Quartblätter und eine Anzahl Loser Blätter kleineren Formats“ (22; 773) mit geordneten wie ungeordneten, längeren und kürzeren Entwürfen sowie mit den verschiedensten naturwissenschaftlichen, philosophischen und privaten Notizen und Stichwörtern, mit Durchstreichungen, Verbesserungen, Zitaten geklär- <?page no="108"?> 100 ter und ungeklärter Herkunft, mit gleichzeitigen und späteren „Rand- und häufig auch Textzusätzen“ 236 - Kants Manuskript bietet keinen anderen Anblick als zahllose andere Handschriften, es ist, wie kaum anders zu erwarten, uneinheitlich in Stil und Form, stellenweise unausgearbeitet, ein mixtum compositum aus „mitunter seitenlangen Sätzen“ 237 , Satzfragmenten, mehr oder minder zusammenhängenden oder auch isolierten Gedankenfolgen oder -splittern und einzelnen Begriffen; einiges ist zunächst rätselhaft. Aber Enigmatisches ist in Philosophie, Literatur und Kunst nicht selten, von Heraklit bis Hamann, Hegel und Wittgenstein, von Hieronymus Bosch, vom Bauern- und Höllenbruegel bis zu Böcklin und Barlach, von Sappho bis zu Kafka und Botho Strauß, es findet sich in vielen Spätwerken, etwa bei Michelangelo und im Simplicissimus; die späten Streichquartette Beethovens umgibt seit Anbeginn eine Aura des Rätselhaften, ähnliches gilt vom zweiten Teil des Faust, den letzten Werken von Franz Liszt, Dickens und Dostojewski; in vielen Fällen lässt sich das Rätselhafte aufklären oder doch als sinnvoll erkennen, so auch bei Kant: Er nennt mehrfach Zoroaster, die Doppelung kann die Wichtigkeit dieses Repräsentanten eines Gut-Böse-Dualismus meinen, Kants Zoroastrisches Prinzip ist, alle Dinge in Gott anzuschauen (21; 96). Da Anziehung und Abstoßung Grundkräfte sind, hat der Entdecker der elektrischen Spannung Bedeutung auch für die Polarität der Chemie (21; 88; 133; 136ff.; 154). Auch wenn Kants Stichwort-Folgen, Satz- und Gedanken-Zusammenstellungen mitunter ungewöhnlich erscheinen, dürfen persönliche Aufzeichnungen, deren Adressat ihr Autor ist, aussehen und in ihrem Sinn so privat sein, wie es dem Schreiber einfällt oder gefällt; es gibt genügend Beispiele. Im Übrigen ist der Wust 238 von Materialien, als der sich das Op und stärker als z. B. die Logik (vgl. 9; 4) darbietet, vielleicht nicht gerade typisch für Kant, doch keineswegs ungewöhnlich: Im Großen und Ganzen ist das Op „gearbeitet wie andere Werke [Kants] auch“ 239 ; es ist das Manuskript eines alten Menschen, die Notizen sind aufgelockert durch Erinnerungen - teilweise an die Kindheit und Studentenzeit -, Küchenpläne, Einladungsvermerke und Ähnliches aus dem und für den Alltag - in der Literatur als Allotria und Senilia klassifiziert 240 ; das hat es erleichtert, die Lücke in der den Erben Kants zu überliefernden Handschrift mit den Bogen des VII. und I. Konv. zu stopfen, um die von Hasse genannte Bogen-Zahl ungefähr zu erreichen. Diese beiden letzten Konv. sind offenbar neben oder nach der Ausarbeitung des Hauptwerkes entstanden, sie enthalten, abgesehen von Titelentwürfen, wohl nur in wenigen Fällen direkte Vorarbeiten und Noti- 236 Lehmann S. 38. 237 A. a. O. S. 39. 238 A. a. O. S. 70. 239 A. a. O. S. 38. 240 Hasse S. 24 Anm. <?page no="109"?> 101 zen für das Alterswerk, sondern überwiegend Einfälle und Stichwörter sowie Neu- oder Umformulierungen zu bereits vorliegenden Entwürfen, deren Einarbeitung in das Chef d’oeuvre Kant vermutlich nur gelegentlich vorgenommen hat oder hätte - damit ist ihr Wert nicht eingeschränkt, zumal das Hasse-Manuskript nicht vorliegt. Es ist früh erkannt worden, dass sich diese Notizen zu zwei Komplexen ordnen lassen, dem Übergang sowie dem (transzendental)philosophischen System - Kants geistiger Kosmos. Das erste Werk ist wahrscheinlich in den Jahren zwischen 1795/ 96 und 1799 entstanden und in den Konv. II-VI und VIII-XII so gut, teilweise detailliert ausgearbeitet und reinschriftlich überliefert, dass diese moderneren Aufzeichnungen ohne besondere textkritische Bemühungen eingehender erforscht werden konnten; schließlich ist es Vittorio Mathieu gelungen, Kants Hauptanliegen, den sog. Ätherbeweis, zu rekonstruieren und zu zeigen, dass Kant überzeugt war, die Lücke geschlossen zu haben; er konnte sich wohl Ende des Jahres 1799 oder Anfang des Jahres 1800 dem Abschluss zuwenden. Diese Arbeit ist gleichsam repräsentiert in den Konv. VII und I; seine letzten transzendentalphilosophischen Notizen im I. Konv. sind wahrscheinlich zwischen dem Dezember 1800 und dem Februar 1803 geschrieben; die philosophischen Teile umfassen nicht ganz ein Viertel des Op, in der Ak. knapp 300 von 1250 Seiten - die ausgearbeiteten und von Hasse durchgeblätterten, ungefähr 1200 Seiten des Hauptwerkes müssen als verloren gelten. Es bleibt erstaunlich - um nicht erneut zu sagen kurios -, dass diese leicht zu erkennenden und von einigen Gelehrten auch längst erkannten zwei Werke des Op, wie sie Vaihinger vorgestellt und Krause dargestellt haben, nicht recht beachtet werden, unabhängig davon, wie weit sie bzw. die von ihnen erhaltenen Reste in das Kantbild zu integrieren, welche Folgerungen aus dem zweiten Teil zu ziehen wären und ob dessen klar erkennbares Konzept, das neue Licht dieser höchsten Stufe der Transzendentalphilosophie wahr- und angenommen würde. Kants Konzeption zweier Werke ist sachlich-philosophisch vorgezeichnet und aus seiner Philosophie, ihren Problemen und ihrer Lücke abzuleiten. Beide Werke können unabhängig von einander bestehen; das Überwinden der Kluft zwischen den Territorien der Metaphysik und Physik (21; 475f.) ermöglichte es Kant, sein System zu vollenden: Die zweite Arbeit ergab sich aus dem Brückenschlag, der ein lückenloses Elementar- und Weltsystem zu entwerfen erlaubte (22; 485). Diese Verflechtung ist nicht nur theoretisch und rückblickend zu erkennen, sie deutet sich bereits in den frühesten Notizen zum Übergang an; zudem ist eine Tendenz zur Philosophie zu bemerken, die während des problemorientierten Fortschreibens so stark wurde, dass die Entwicklung von einer metaphysischphysikalischen Untersuchung zum transzendentalphilosophischen System des Weltganzen (22; 308) deutlich wird. <?page no="110"?> 102 Der Brückenschlag von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik könnte, philosophie- und wissenschaftsgeschichtlich und von Aristoteles aus, als Rückwendung oder gar als Rückschritt erscheinen: Doch Kants Projekt war sinnvoll und notwendig durch die Entwicklung der Naturwissenschaften, ihre Entfernung und Entfremdung von der Philosophie, ihre Verselbständigung; so drohte die unreflektiert erlebte Erfahrungs-Einheit ins Unverstandene und Unerklärliche abzugleiten und um die metaphysische, noumenale Dimension verkürzt zu werden. Damit sei angedeutet, wie eng die entstandenen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Fragen verflochten und dass sie zwar einzeln zu behandeln, aber philosophisch nur interdisziplinär zu bedenken waren. Schon im frühesten Entwurf zum Übergang, dem sog. Oktaventwurf aus dem Jahre 1796 (21; 373-412), ist erkennbar, dass, ebenso wie in Kants vorangegangenen naturwissenschaftlich-philosophischen Werken, sein Interesse an den Naturwissenschaften und auch am Übergang letztlich ein systematisches und philosophisches war, über das Reizvolle eines Brückenschlages hinaus. Das zeigt sich daran, wie Kant sein Vorhaben beschreibt: Die Tendenz der MAdN zur Physik ist auf das Ziel gerichtet, die Erfahrungslehre der „materiellen Natur in einem System vorzutragen.“ Diese „Tendenz im Übergange […] kann nicht […] durch einen Sprung geschehen, denn die Begriffe, welche von dem System einer gewissen Art zu einem anderen herüber führen, müssen einerseits Prinzipien a priori, anderenteils aber auch empirische bei sich führen, welche, weil sie komparative Allgemeinheit enthalten, auch gleich den allgemeinen zum System der Physik benutzt werden können.“ (21; 481f.) Kants Ziel ist nur näherungsweise zu erreichen; mit dem Übergang setzte er sich gleichsam zwischen die in der Tradition etablierten und als legitim angesehenen Stühle Metaphysik und Physik, die seit dem Spätmittelalter auseinander gerückt worden waren und deren Solidität sich entgegengesetzt entwickelt hatte: Die Gefahr der Metaphysik, zu einem Kampfplatz endloser Streitigkeiten zu werden oder als inexistent zu gelten, war ebenso deutlich wie das Fortschreiten der Physik von einem privaten Experimentier- und Beobachtungsfeld zu einer Wissenschaft: Der Übergang verweist programmatisch, paradigmatisch auf zwei Gebiete, deren Verbindung ein nicht ohne Rest zu klärender Grenzfall bleiben muss; offen ist auch die Konkretisierung dieses Vorhabens, das in dieser Weise wohl ohne Vorläufer ist, obwohl nicht ohne Vorbilder, z. B. in den Versuchen, dem Prinzip, die Natur mache keine Sprünge, gerecht zu werden, ohne qualitative Unterschiede zu verwischen; dieses Problem war seinerzeit vielfältig gegeben, sei es als Frage des Übergangs vom Unbelebten zum Belebten, vom Flüssigen zum Festen, das etwa im Anschluss an Niels Stensen zu behandeln gewesen wäre, sei es als Reiz-Reaktions-Frage, wie sie der von Kant mehrfach genannte John Brown untersucht hat: Von Anfang an gab es Schwierigkeiten, denen sich zu stellen eine avantgardistische Leistung Kants ist, der, in einer <?page no="111"?> 103 oft ausgesprochenen Auseinandersetzung mit Newton und einer meist unausgesprochenen mit dem Metaphysiker Leibniz, seine Aufgabe und sein Ziel kritisch sah, da die organische Natur nur als durch Zwecke möglich gedacht, aber nicht physikalisch erklärt werden kann (21; 388). Kants Sicht der Probleme der Kontinuität (lex continui; 21; 460f.) und des Lebendigen (21; 376) sowie seine angedeutete Argumentation sind philosophisch; die Frage nach dem Menschen - und damit nach der Wirklichkeit und Begründbarkeit der Metaphysik - drängte ihn immer wieder über seine physikalische Aufgabe hinaus bzw. in sein eigentliches Thema hinein, so, wenn er bei einer Erörterung der „Modalität Bewegung in einem Moment“ notierte, dass es mit der Existenz der Seele die Bewandnis eines allmählichen Erlöschens haben könne, oder wenn er sich, vielleicht, um an Gedanken aus der KU anzuknüpfen, vermerkte: Von der Natur als einer Kunst (21; 404). Beides hat er weder ausgeführt noch ist erkennbar, ob und in welcher Weise er an Voraussetzungen und Folgerungen gedacht hat. Derart weitreichende, aphoristische Notizen sind im Op zunächst seltener, sie werden häufiger, je mehr sich die Fragen im Fortgang der Arbeit ausweiteten; so wurde einerseits der Boden bereitet für eine Gesamtdarstellung, andererseits forderten ihre Probleme eine reduzierte, exemplarische Lösung - auch auf wissenschaftlichem Wege gilt es, weise zu werden... Die anspornende Spannung, in die Kant versetzt sein musste durch die Einsicht in die Grenzen der Vernunft, die sie zur Lösung der großen Fragen schlechterdings unvermögend machen (Theod. 8; 263), sowie durch den Ehrgeiz, die Welt, das Universum im Ganzen zu begreifen und geordnet in einem System zu erfassen, diese Spannung kommt zum Ausdruck, als er für den Anhang seines geplanten Werkes unter der Überschrift Vom Ganzen der Natur im Raume und der Zeit vermerkte: Der Vernunft genügt es nicht, in der „Naturforschung von der Metaphysik zur Physik über zuschreiten; es liegt noch ein […] nicht unrühmlicher Instinkt in ihr, […] sich ein Ganzes der Natur im noch größeren Umfange, nämlich in einer Ideenwelt nach Entwürfen, welche auf moralische Zwecke angelegt sind, selbst zu schaffen, so dass Gott und Seelenunsterblichkeit […] nur allein den Kreis unserer Wissbegierde in Ansehung der Natur überhaupt vollständig umschließen könnten.“ (21; 404f.) 5. 3. Der Kreis unserer Wissbegierde Das Erreichte genügte nicht - faustisch, kritisch suchte Kant ein Ganzes der Natur zu schaffen - die fachspezifisch begrenzten Wissenschaften konnten auch in der Summe den Kreis seiner Wissbegierde nicht umschließen, sein abschließendes Werk konnte nur ein über die (Natur)Wissenschaften hinausweisendes, (transzendental)philosophisches, die Fragen nach Gott und der Seelenunsterblichkeit einschließendes sein - der Weg zur Summe war weit: Es konnte als unmöglich erscheinen, ihre Voraussetzungen zu erfüllen - so <?page no="112"?> 104 lässt sich begreifen, dass der im Allgemeinen nüchterne Kant mit einer wahren Begeisterung von seinem Hauptwerk sprach, das nicht auf den Übergang begrenzt sein konnte, ungeachtet dessen, Kant bewusster Bedeutung. Das Fortschreiten von den metaphysischen Anfangsgründen zur Physik war also von Anfang an mehr oder minder deutlich begleitet und geleitet von dem Bewusstsein des philosophischen Zweckes und Zieles seiner naturwissenschaftlich-physikalischen Bemühungen, die Tendenz zur Physik war durch Thema und Systemgedanken eingeordnet und begrenzt: Es ist hier nicht die „Absicht, wirklich zur Physik überzuschreiten, sondern nur die Möglichkeit des Überschritts und die Bedingungen derselben a priori darzulegen“ (21; 512). Das war letztlich eine transzendentalphilosophische Aufgabe. Der Tendenz zur Physik stand eine philosophische gegenüber: Er arbeitete an Fragen, mit denen er sich, weniger umfassend und noch nicht unmittelbar in philosophischer Absicht, in der Schätzung der lebendigen Kräfte, rund 50 Jahre früher, beschäftigt und die er nicht vergessen hatte (vgl. 21; 105): „Physik ist der Inbegriff der Gesetze der bewegenden Kräfte in einem System, dessen Form a priori vorausgehen muss und die nicht fragmentarisch aggregierte, sondern in einem Ganzen der Idee vereinigte, bewegende Kräfte enthalten muss.“ (21; 528.) So war weiteres vorgezeichnet: Mit Kräften waren Materie bzw. Körper verbunden, unterschieden in unorganische und organische, zu denen natürlich der Mensch gehört; damit war ein weites Feld der Betrachtung gegeben, aus dem sich, konsequent entfaltet und Kants Philosophie vorausgesetzt, nicht nur der Übergang entwickeln ließ, sondern auch das System der reinen Philosophie, ein Werk mit den Gegenständen Gott, Welt, Mensch. Die Entwicklung vom metaphysisch-naturwissenschaftlichen Thema zum philosophischen des Hauptwerkes ergab sich also aus dem Bestreben, dem Systemanspruch der Physik sowie darüber hinaus der Philosophie grundsätzlich und, soweit möglich, uneingeschränkt gerecht zu werden; bevor dies kurz gezeigt wird sei angemerkt, dass sich der Übergang als Hauptwerk und Abschluss auch aus den vorhandenen, umfangreichen und teilweise ausgearbeiteten Aufzeichnungen begreifen lassen müsste; es sollte erkennbar sein, dass, warum und wie Kant begeistert an einer Aufgabe gearbeitet hat, die ihm so zu entsprechen hätte, wie das etwa beim Beschluss der KpV und anderen, hymnisch-begeisterten Sätzen deutlich ist. Davon ist im Übergang nichts zu finden, und so wichtig dieses Problem war und seither geworden ist, so konnte ein Brückenbau Kants Hauptanliegen nur mittelbar betreffen, nicht erfüllen und nur für sich selbst, als Beispiel sowie als Mittel zum Zweck eines Gesamtsystems sinnvoll sein; zudem war Kants Denkart, wie nicht zuletzt das Op zeigt und ungeachtet seiner naturwissenschaftlichen Leistungen, im Wesentlichen philosophisch und nicht naturwissenschaftlichmathematisch im engeren Sinne. Unabhängig davon und darüber hinaus <?page no="113"?> 105 zeigen auch seine naturwissenschaftlichen Arbeiten: Die Naturwissenschaften und, in einem geringeren Maße, die Mathematik haben, folgerichtig betrieben, eine Tendenz zur Philosophie, die sich vor allem dann ergibt, wenn ihre Grenzen und Konsequenzen bedacht werden - die moralischen Zwecke, Kants dringlicher gewordenes Anliegen, wie sich vielfach, auch historisch, verdeutlichen lässt, von Leonardo bis Planck, Bohr, Einstein und Heisenberg. Ein grenzüberschreitendes Fragen von den Naturwissenschaften und der Mathematik aus ist an andere Bedingungen gebunden als die umgekehrte, von Kant, seinem Thema entsprechend, zuvor genannte Tendenz zur Physik, die eine Tendenz zum Konkreten, zur Erfahrung, zur Empirie einschließt; dem ist letztlich nicht ohne Ordnung gerecht zu werden - das ist natürlich nichts Neues und als Kosmos- oder Ordo-Gedanke unverzichtbar und konstitutiv für jede Philo-sophie und Wissenschaft, wie die Chaosforschung bestätigt. So ist die Vernunft ihrer Natur nach architektonisch, sie „betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System“ (A 474). „Die Einheit aller möglichen empirischen Verstandeshandlungen systematisch zu machen, ist ein Geschäft der Vernunft“ (A 664). „Unter der Regierung der Vernunft“ müssen „unsere Erkenntnisse“ „ein System ausmachen“ (A 832). Absicht und Ziel Kants ist, ein Ganzes architektonisch zu entwerfen, eine Architektonik alles menschlichen Wissens (A 835): Die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft erfolgt zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System. (A 840.) Im Schlussabsatz der KrV hat er noch einmal die Verbindlichkeit, systematisch zu verfahren, betont (A 856). Das mögliche System, das wenigstens im Umriss erkennbar und also auch darstellbar sein musste, harrte der Ausführung, die, ohnehin anspruchsvoll, von der Lücke behindert, seit deren Ausfüllung von Kant begeistert betrieben wurde… Die im Op von Anfang an deutliche Tendenz, von naturwissenschaftlichen Überlegungen aus zur Philosophie überzugehen, zeigt sich in den, wohl im Jahre 1799 entstandenen X. und XI. Konv. Die im Oktaventwurf genannten Hauptprobleme sind folgerichtig zur Philosophie übergehend dargestellt: „Physik begnügt sich nicht mit einem Aggregat von Wahrnehmungen, welche fragmentarisch zusammengehäuft [...] werden möchten, sondern will ein System des Empirischen, ohne dessen formale und gesetzliche Verknüpfung des Mannigfaltigen der Erscheinungen im Raume im Ganzen derselben das Bewusstsein der Wahrheit derselben, welche Erfahrung heißt, nicht hervorgehen würde.“ Ausgangs- und Hauptpunkt ist in diesem Einleitungsentwurf (22; 279) der Systemgedanke: Das Mannigfaltige der Erscheinungen ist derart zu verknüpfen, dass Erfahrung hervorgehen kann; sie ist als Bewusstsein der Wahrheit auf das bewusst seiende, systemabhängige und -konstruierende Subjekt bezogen, das damit, von der KrV aus verständlich, in den Blick gekommen war; denn der Übergang zur Physik ist subjektiv auf die Prinzipien der „Naturforschung eingeschränkt und zweckt nicht dahin ab, um Naturobjekte vollständig aufzustellen; denn keine Erfahrung reicht zu einem solchen empiri- <?page no="114"?> 106 schen Ganzen zu. Dagegen aber kann und soll das Formale der Verbindung der Naturmomente vollständig aufgezählt werden. Aber nicht was wir gewahr werden und was uns empirisch gegeben ist, sondern was wir in die Sinnenvorstellung von Objekten hineinlegen ist es, was den Übergang zur Physik gesetzlich möglich macht und ihn bestimmt; denn so allein kann ein Prinzip der Naturforschung für die Physik als ein System derselben statt finden.“ (22; 281.) Ein Ergebnis der KrV zusammenfassend, hatte er erneut die Bedeutung des Subjekts für die Naturforschung sowie die Konstruktion eines Systems betont und vereinfachend zum Ausweg aus den Schwierigkeiten erklärt: „Der Übergang zur Physik ist also die Vorherbestimmung der inneren aktiven Verhältnisse des die Wahrnehmungen [...] zur Einheit der Erfahrung zusammenstellenden Subjekts, wobei die empirische Vorstellung dieses Verhältnisses der Sinnenobjekte nicht empirisch ist, sondern ein Prinzip a priori der Zusammensetzung der bewegenden Kräfte zu einem System derselben in dem Begriffe einer Physik a priori bei sich führt“. (22; 337.) Dem Subjekt ist zwar das empirische Ganze unvermeidlich entzogen, aber Kant wollte - und der Mensch will - eben dieses Ganze, idealiter repräsentiert in der Erfahrungs-Einheit, philosophisch-systematisch, prinzipiell erfassen: Dieses Dilemma, die letztlich irrationale - mikrophysikalisch nur statistisch, meso- und makrophysikalisch nur näherungsweise deutbare - Wirklichkeit dennoch rational-gesetzlich (22; 281) zu erkennen oder wenigstens Regel geleitet, wahrscheinlichkeitstheoretisch zu begreifen, löste Kant, indem er die Kluft exemplarisch bearbeitete, das Ganze betreffend, nicht auf ein Fachgebiet begrenzt. Die Physik selbst hat eine Tendenz zu einem Natursystem, „insofern man sich denkt, dass dieses Ganze durch die Natur, nach der Analogie eines das Mannigfaltige ordnenden Verstandes, untereinander in einem System verbunden sei, insofern vorausgesetzt werden kann, dass es als ein solches ein Objekt möglicher Erfahrung ist; denn diese enthält das formale Prinzip der Verknüpfung des Empirischen in der Anschauung in einem System der Wahrnehmungen, ohne welches keine Erfahrungseinheit statt hat“ (22; 306f.). Das nach einem formalen Prinzip verknüpfte empirische Ganze ist das die Erfahrungseinheit ermöglichende und erklärende System der Natur, das in ein „Elementarsystem und das Weltsystem eingeteilt werden kann, welches letztere, wenn es ein absolutes Ganze vorstellen soll, eine bloße Idee ist, der kein Gegenstand adäquat gegeben werden kann, darum […] ein Gedankending (ens rationis)“ ist (22; 485). Wie mit dem Kräftethema konnte Kant mit dem Weltsystem hoffen, alte Arbeiten repräsentativ abzuschließen; sein erstes großes, über vierzig Jahre zurückliegendes Werk hatte dem Versuch gegolten, die Verfassung des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abzuhandeln; es war, schon durch Lambert, Herschel und Gensichens Auszug, in Kants Gesichtskreis geblieben. Die thematische Ausweitung lässt sich auch erkennen an der, allgemein und in Titeln ausgedrückt, Verbindung der MAdN mit der KU: <?page no="115"?> 107 Der Übergang zur Physik betrifft den „von der Materie zur Bildung der Körper. Ein physischer Körper ist ein durch vereinigte Anziehung der Teile einer Quantität der Materie sich selbst begrenzendes Ganze.“ „Die erste Einteilung physischer Körper ist also die in organische und unorganische. Ein […] organischer Körper […] ist ein solcher, dessen jeder Teil von Natur um des andern Willen in ihm selbst da ist, wo also auch umgekehrt der Begriff des Ganzen die Form der Teile äußerlich sowohl als innerlich (in Figur und Textur) bestimmt. - Eine solche Bildung weist auf eine nach Zwecken wirkende Naturursache.“ (22; 282.) In einem Abschnitt mit der Überschrift Prinzip des Überganges von den Met. A. G. zur Physik (22; 298) lässt sich erkennen, wie in physikalischer Absicht philosophisch-anthropologische Gesichtspunkte hervortraten: Die „bewegenden Kräften der Natur“ „gehören insgesamt in das Feld der Physik, wo es keine Freiheitsgesetze gibt“ (22; 299.) Mit der paradoxen Zweiheit Freiheitsgesetz ist Größe und Grenze des Philosophierens - und, je nach Standpunkt, des Menschseins, - auf den Begriff gebracht. Kant verdeutlicht verkürzend das Wesentliche (22; 307): „Die Willenskraft, d. i. die mit Bewusstsein bewegenden Kräfte des Menschen.“ Das entspricht zwar der psychosomatischen und autosuggestiven Erfahrung, gehört aber nicht zur Physik, sondern zur Frage nach dem Menschen: „Die mechanisch/ / dynamisch/ / organisch und durch die Willenskraft eines Sinnenobjekts (Subjekts) des Menschen bewegenden Kräfte der Materie enthalten alle aktiven Verhältnisse der bewegenden Kräfte, welche die Physik auf das Objekt ausübt u. worauf das Subjekt derselben reagiert.“ (22; 308.) Gegen die starre, die Konstanz der Arten behauptende Auffassung etwa Linnés betonte Kant, das Weltganze sei dynamisch (21; 89), wobei er die sich in der Willenskraft äußernde, durch sie ermöglichte und aufgegebene Freiheit auch als physikalisches und nicht nur als medizinisches, psychosomatisches und metaphysisches Problem verstand, um das absolute Ganze der Gegenstände der Erfahrung (22; 281) zu erreichen, zugleich eine Folge der sich im Homo phaenomenon und noumenon zeigenden und bewusst zu erfahrenden Einheit von Mundus sensibilis und intelligibilis. Kants Erweiterung der Physik um die Willenskraft mag verständlich, weil im Hinblick auf seine Systemabsicht notwendig sein, physikalisch und methodologisch ist sie problematisch. Die sich immer in einem raum-zeitlichen Nach- oder Nebeneinander darbietenden Gegenstände, Ereignisse und Erlebnisse können nur künstlich- (re)konstruktiv, reduktiv und abstrahierend, idealiter zu einem Ganzen verflochten werden - die bekannten Probleme eines jeden Erkenntnis- und Wissenschaftsprozesses, bei dem die stets gegebenen und mitzudenkenden Einschränkungen mehr oder minder vernachlässigt werden (müssen). Darum wäre hier gelegentlich ein kantisches Als ob zu erwarten - es findet sich nicht: Ein indirektes, deutliches Zeichen, dass Kant seine fiktionalistische Tendenz überwunden hatte. <?page no="116"?> 108 Es konnte nicht möglich sein, die Probleme, die sich bei dieser grundsätzlichen, vor keiner Frage Halt machenden naturwissenschaftlichen Arbeit ergaben, allein innerhalb der Grenzen eines Übergangs zur Physik zu behandeln, Kant musste zur (Transzendental)Philosophie übergehen bzw. zurückkehren (21; 17): Das absolute Ganze der Gegenstände der Erfahrung kann nicht gegeben sein oder wissenschaftlich bearbeitet werden, es ist der Philosophie aufgegeben; in einem Gesamtsystem des Kosmos muss die noumenale Fähigkeit des Menschen, eine Kausalkette beginnen zu lassen, ihren Ort finden. Kant notierte sich, avantgardistisch akzentuierend: Kosmologisches u. psychologisches System zusammen (Pockennot; 22; 297): Ein Übergang ist damit vorausgesetzt, der faktisch ohnehin angenommen wird und darum, ob hypothetisch oder nicht, in Kants programmatischer Notiz durchaus akzeptiert werden kann. Wie vom Systemgedanken aus, war er auch innerhalb seiner Untersuchung der Kräfte auf die einzigartige Stellung des Homo noumenon gestoßen; zunächst schien sich das Erkenntnissubjekt und -objekt problemlos oder gar problemlösend in den Übergang einzufügen: Physik ist „Naturkunde, insofern sie subjektiv alle bewegenden Kräfte der Materie als zu einem Lehr-System der Erfahrung gehörend vorstellig macht, in welchem das Materiale ein Inbegriff dieser Kräfte, die Form aber die Verbindung dieses Mannigfaltigen zu einem absoluten Ganzen der Gegenstände der Erfahrung ausmacht.“ (22; 281.) Mit der Subjektivität eines alle bewegenden Kräfte der Materie einschließenden Lehr-Systems der Erfahrung ist eine erkenntnistheoretisch-physiologischpsychologische Problematik gegeben, die Kant kritisch beschrieb: „Die Erkenntnis der bewegenden Kraft in der Erscheinung im Raum gegen die bewegende Kraft an sich selbst. - Erscheinung von der Erscheinung, da das Subjekt vom Objekt affiziert wird und sich selbst affiziert und ihr [der Erscheinung? Rh.] selbst eine Bewegung in der Erscheinung ist. Die indirekte bewegende Kraft des äußeren Sinnes in der Naturforschung, da das Subjekt diejenige Bewegung selbst macht und verursacht, durch welche sie affiziert wird und a priori in das Subjekt hineinlegt, was es von außen empfängt und sich selbst/ / bewegend ist“ (22; 321). Aus diesen wissenschafts- und systemtheoretischen Gedanken folgt: „Die Erscheinung der Erscheinungen, wie […] das Subjekt mittelbar affiziert wird, ist metaphysisch, wie das Subjekt sich selbst zum Objekt macht (sich seiner selbst als bestimmbar in der Anschauung bewusst ist), und enthält das Prinzip der Verbindung der bewegenden Kräfte im Raume, den Raum durch empirische Vorstellung zu realisieren (der Form nach), nicht durch Erfahrung, sondern zum Behuf der Möglichkeit der Erfahrung als System empirischer Vorstellungen des Subjekts.“ (22; 326.) Die Erscheinung der Erscheinungen ist metaphysisch - das ist ein Übergang von der Physik zur Metaphysik: Das sich selbst zum Objekt machende Subjekt ist, als bewusste, freie Entscheidung, eine intelligibele Tat (Rel. 6; 31) des Homo noumenon. Kant ging bei der angedeuteten Analyse der Kräfte wie auch des <?page no="117"?> 109 Erkenntnisvorganges vom Subjekt-Objekt-Dualismus aus: Die Synthesis des Mannigfaltigen im Subjekt ist die Basis der Anschauung des Objekts, welches dadurch doch nur Erscheinung, noch nicht Erfahrung, sondern nur Erscheinung ist, durch Konstruktion der Begriffe (22; 323f.). Im absoluten Ganzen der Gegenstände der Erfahrung waren Außen und Innen, Körper und Geist usw. in hegelscher Weise aufgehoben: Das äußere Sinnenobjekt „ist der Inbegriff (complexus) der Materie als bewegender Kräfte im Raum und innerlich/ / affizierender [Korrektur R. Reicke] in der Zeit, mithin das Ganze der Wahrnehmungen, als empirischer Vorstellungen (sparsim) gegeben, in der Einheit der Erfahrung (coniunctim) zusammengefasst und unter einem Prinzip zu einem Weltganzen verbunden, das All der äußeren Sinnenobjekte dem Stoffe (der Materie) nach, deren Vorstellung empirisch ist und das absolute Ganze derselben in Einem System der Form nach, welche letztere nach Prinzipien a priori, in einem Begriffe verbunden, das Weltganze ausmachen.“ (22; 308.) Im alle Dualismen übergreifenden Ziel eines Ganzen der Gegenstände, in der Erfahrungs-Einheit und im Weltganzen liegen ein Erkenntnisanspruch, der zu einem letzten Grenzbegriff führen musste und in einem Postulat der Vernunft endete: Die Bewegungskräfte werden als bewegend vorgestellt, „wobei der Begriff eines ersten Bewegers (primus motor) für die Physik transzendent, d. i. eine bloße Idee und Grenzbegriff ist, der die Relation des vollen zu dem leeren Raum, welcher kein Erfahrungsgegenstand sein kann, in sich enthält und mit einem Postulat der Vernunft endigt.“ (22; 281.) Mit einem letzten Stichwort, in einer aristotelisch-klassischen Umschreibung: Gott als erster Beweger, hatte Kant in einem physikalischen Zusammenhang das Hauptproblem der abendländischen Metaphysik genannt, es in einer fast paradoxen Formulierung integrierend: Für die Physik transzendent, ist der erste Beweger ein Grenzbegriff, der die Relation des vollen zum leeren Raum in sich enthält - ein kühner Gedanke nicht nur für die theoretische Physik, sondern auch für die Theologie: Die Grenze alles Wissens ist erreicht, an Kants Äther-Überlegungen erinnernd; ein Ansatz zu einer allgemeinen Feldtheorie ist nicht zu belegen, aber möglich, da Kant Hypothesen für unentbehrlich hielt, da Gedankenexperimente und Versuche des Verstandes aufmuntern (R 2675) - er wäre „ohne Zweifel der Entdecker der speziellen wie der allgemeinen Relativitätstheorie gewesen“, hätte er seine Gedanken über Raum, Zeit und Bewegung „in allen Details logisch-mathematisch“ analysieren können. 241 Diesem, in der Kantforschung offenbar übergangenen Satz, dem skizzierten Reflexionsniveau sowie den angedeuteten Problemen konnte Kant nur transzendentalphilosophisch entsprechen, nur so konnte er seine Arbeit weiterführen und hoffen, sie zu vollenden. Damit ist dieser, bisher nicht beach- 241 W. K. Essler Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft in: Kindlers Neues Lit. Lex. 9. Bd. München 1988. S. 138. <?page no="118"?> 110 tete Übergang von einer metaphysisch-physikalischen Untersuchung zu einer transzendentalphilosophischen ein besonderes Beispiel für die den Wissenschaften und vor allem den Naturwissenschaften innewohnende Tendenz zur Philosophie und zugleich ein eindrucksvolles Zeugnis für Kants Denken, für seine Art des Fragens und Forschens, vom Größten zum Kleinsten und vom Konkreten bis zur Grenze alles Wissens. Mit dem Übergang hatte Kant die Bedingung, seine Philosophie abzuschließen, erfüllt - die sachlich und philosophisch zu fordernde, kaum zu übergehende Synthese und Summe seiner Erkenntnisse musste zugleich mit dem menschlich-natürlichen Wunsch in den Blick kommen, den Kreis der Wissbegierde vollständig zu umschließen und, seine eigenen Bemühungen soweit möglich vollendend, darzustellen: Transzendentalphilosophie vollendet sich in einem System (21; 3.): Das System der reinen Philosophie in ihrem ganzen Inbegriffe spricht für sich, es ist Kants Lebensarbeit, unabhängig von allen sonstigen Zeugnissen, angemessen und so oder anders von ihm angekündigt, wie schon Vaihinger bemerkte; es entspräche dem Vernunft-Anspruch auf ein die große Ordnung der Natur spiegelndes Gesamtsystem, das Kant im Hauptwerk ausführen wollte. Im Kanon der reinen Vernunft ist zusammengefasst: Die Vernunft führte uns in ihrem „spekulativen Gebrauche durch das Feld der Erfahrungen und […] von da zu spekulativen Ideen, die uns aber am Ende wiederum auf Erfahrung zurückführten, und also ihre Absicht auf eine […] nützliche […] Art erfüllten.“ (A 804.) Aufstieg und Abstieg der Vernunft, oft missverstanden, ihre Absicht und Rückführung gelten auch für die Stufenleiter der Philosophie: Logik, Metaphysik und Transzendentalphilosophie (21; 69f.), die als das Ganze der Erkenntnis endlich zur Erfahrung überschreitet: Die höchste Stufe der Transzendentalphilosophie wird folglich Erfahrung betreffen und sich dem Primat der praktischen Vernunft gemäß auf eine nützliche Art erfüllen: Programm und Ziel des Hauptwerkes lagen vor als Ausführung und Verdeutlichung, Konsequenz und Erfüllung alter Absichten, das absolute Ganze der Erfahrung betreffend, die für das Subjekt nur Eine (21; 45) sein kann. Von Kant im Op oft hervorgehoben, hat er die Eine Erfahrung verdeutlichend als Einheit der Erfahrung oder als absolute Einheit bezeichnet 242 (s. Index; 22; 657). Die Problematik des Begriffes absolut beiseite gelassen, ist die Erfahrungs-Einheit als Ganze und in ihren Teilen bedenkenswert, zumal Kant seine im Allgemeinen sinnvollen Dualismen manchmal so scharf gegeneinander gestellt hat, dass von Einheit, weder der Erfahrung noch der Natur, nicht viel zu erkennen ist, worauf Schiller in seinem vielzitierten Doppel-Xenion Gerne dien’ ich den Freunden hingewiesen hat. So könnte die Betonung der Erfahrungs-Einheit im Op überraschen und irritieren; denn nicht nur der „oft berufene schwankende 242 Im Folgenden wird die Eine Erfahrung der Einheit der Erfahrung subsumiert. <?page no="119"?> 111 Wortgebrauch Kants“ 243 lässt Verständnisschwierigkeiten erwarten und wird Ansatzpunkte bieten für eine Kritik an dem, was Kant gemeint hat; schon die Begriffe Einheit und Erfahrung sind, jeder für sich, mehr oder minder unscharf. Es dürfte hier ausreichen, von Kants im weitesten Sinn auf die konkrete Lebenswirklichkeit bezogenem Verständnis von Erfahrung auszugehen, so unbefriedigend dies wissenschaftlich sein mag: Man hat keine Erfahrung, außer der, die man selbst gemacht hat (21; 53). Der Begriff Einheit ist, außer in besonderen Zusammensetzungen und einzelnen Wissenschaften, umgangssprachlich und philosophisch wohl problematischer als der wirklichkeitsnähere Erfahrungsbegriff. Kant hat, ungeachtet seiner kritisch-analytischen Absichten und seiner dualistischen Unterscheidungen, den Einheitsgedanken oft betont; je nach Kontext, Fragestellung und Sachverhalt waren verschiedene Gesichtspunkte und Akzentuierungen mit verschiedenen Ausdrucksweisen vorgegeben oder naheliegend, sodass, vom Op aus gesehen, die Erfahrungs-Einheit auf mehreren, unabhängig von einander zu verfolgenden, verflochtenen Gedankengängen beruht. Kants Sinn- und Systemvorstellungen entwickelten sich in der Auseinandersetzung mit der Tradition und den widerspruchsvollen geistigen Strömungen seiner Zeit, deren Unsicherheit gegenüber der inneren Vernünftigkeit der Welt sowie, damit verbunden, dem Sinn des Lebens zu Fragen und Zweifeln führen mussten, in denen ein Grund des Nihilismus, seiner Spielarten und dessen, was Kierkegaard Verzweiflung nannte, zu erkennen ist und die auch den Privatdozenten beunruhigten, der mit vierundvierzig Jahren an Herder geschrieben hatte, dass er an nichts hänge und mit einer tiefen Gleichgültigkeit gegen meine oder anderer Meinungen das ganze Gebäude öfters umkehre und aus allerlei Gesichtspunkten betrachte (9. 5. 1768). Gleichwohl, wie er im Einzig möglichen Beweisgrund optimistisch schrieb, da ein forschender Verstand, wenn er auf die Spur der Untersuchung geraten ist, nicht eher befriedigt wird, als bis alles um ihn licht ist (2; 161), so hatte er sich, folgerichtig forschend, endlich überzeugt, mit seinem System der reinen Philosophie eine grundsätzliche Antwort auf die angedeuteten Zweifel und Unsicherheiten geben zu können. Auf dem Wege zu einem die Erfahrungs- Einheit spiegelnden Gesamtsystem zeigt sich die dualistische Deutung der Wirklichkeit als eine nicht immer adäquate Beschreibung der Realität. Da auch Dualismen und Dichotomien traditionsreich, oft naheliegend und sinnvoll sind, konnte sich Kant ihrer Wirkung mitunter kaum entziehen, sodass er, wie der Brief an Herder zeigt, gelegentlich unsicher war, ob Ordnung und Einheit (R 1865) rational fassbar und als allumfassendes System 243 Die übliche Ungenauigkeit bei ihrer Verwendung hat Holzhey charakterisiert: „Das Dunkel, in das der kantische Erfahrungsbegriff trotz zahlloser Untersuchungen zur kantischen Philosophie gehüllt ist, bildet überdies nur ein, wenngleich besonders groteskes Paradigma für die allgemeine Unaufgeklärtheit dessen, was mit Erfahrung gesagt und gemeint wird.“ Holzhey S. 15; 13. <?page no="120"?> 112 konstruierbar seien; seine Dualismen werden erst in der Erfahrungs-Einheit aufgehoben; das gilt insofern nicht uneingeschränkt, als der Systemgedanke auf der schon in der Theorie des Himmels betonten Überzeugung einer alle Dualismen und Subsysteme übergreifenden großen Ordnung der Natur beruhte; er hat häufig und eindrucksvoll das Streben nach einem Ganzen der Erkenntnis ausgedrückt, von dem die Wissenschaften einen Abriss geben (ebd.): Der Zusammenhang der Erkenntnisse in einem Prinzip, d. i. der Idee des Ganzen, worin alle Teile Glieder sind, macht das philosophische System aus, das zum Denken gehört (R 2232; 2234): Kant legte zweifellos „größten Wert auf die Systemeinheit“ 244 , die Spannung, die besteht zwischen der Idee des absoluten Ganzen der Gegenstände der Erfahrung und der Voraussetzung, dem in seinem Sinne gerecht zu werden, sowie die bis zur Gegensätzlichkeit gesteigerte Spannung zwischen einer sich selbst vollendenden Transzendentalphilosophie und einem System ist damit nicht gelöst: Wissenschaft (scientia) und Weisheit (sapientia) sind zwei von einander unterschiedene Erkenntnisvermögen (21; 138), sodass sich für die Erfahrungs-Einheit noch einmal die Frage eines Übergangs von Wissenschaft zur Weisheit stellt. Kant meinte selbstverständlich, mit seinem Lückenschluss grundsätzlich erreicht zu haben, was sich zur Verbindung zweier Welten 245 , zur Idee des Ganzen philosophisch erreichen lässt: Metaphysik ist ihrem Wesen und ihrer Endabsicht nach ein vollendetes Ganze; entweder Nichts, oder Alles. Die erste und notwendigste Frage ist wohl: Was die Vernunft eigentlich mit der Metaphysik will? Metaphysik ist die Wissenschaft, von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten. (Preis. 20; 259f.) Die Verschiedenheiten bleiben bestehen und bedürfen einer Brücke, die verdeutlicht, in welchem Sinne von Einheit gesprochen werden kann: Gott und Welt sind im höchsten Grade heterogen (21; 38), die Einteilung sollte nur Dichotomie sein (Gott u. die Welt) (21; 43); Himmel und Hölle, das Gute und Böse sind philosophisch richtig durch eine unermessliche Kluft voneinander getrennt (Rel. 6; 60), Sinnliches und Übersinnliches, Wissenschaft und Weisheit sind von einander verschieden: Der folgerichtige Gang der Vernunft ist ein transzendentalphilosophisches Fortschreiten, in dem deutlich wird, dass der Mensch zu sich selbst kommen kann, indem er sich bemüht, Gott und Welt zu verbinden, irdischen Ehrgeiz verabschiedend - die höchste Stufe besteht im Streben, sich in der Liebe zur Weisheit Gott anzunähern. 244 Brandt Philosophie in Bildern S. 333. 245 Vgl. Wohlers: „Das Thema der [platonischen] Zweiweltentheorie bezeichnet den Ort eines Scheingefechtes“. S. 13. W. berücksichtigt weder das Op, auch nicht als Fortsetzung der KU, noch z. B. die Preisschrift, was als symptomatisch erscheint für ein verkürztes Kant- und z. B. auch Platonverständnis. <?page no="121"?> 113 5. 4. Titel und Thema: System, Gott, Welt, Mensch Bei der Sichtung der Notizen und der Aufgabe, die Ordnung des Ganzen zu erkennen, kann der Titel helfen, mit dem eine Seite beginnt: „System der reinen Philosophie in ihrem ganzen Inbegriffe.“ ======= (21; 146.) Dank einer besonderen Fügung hat der Hauptherausgeber des Op, Gerhard Lehmann, diese Seite faksimiliert dem Bande 21 beigegeben: Es ist sofort zu sehen, dass die drei Titel-Zeilen größer geschrieben sind als der übrige Text, was in der Ak. weder als Fettdruck noch durch Sperrung oder anders berücksichtigt worden ist - weder im Apparat noch in den Anmerkungen wird darauf hingewiesen, dass diese drei Zeilen als Titel gestaltet sind. Wenn der Bogen ursprünglich anders gefaltet gewesen sein sollte, müsste aus dem zugehörigen Text hervorgehen, dass es sich um den Anfang dieses Werkes handelt. Das ist nicht der Fall. Es finden sich auf den in Frage kommenden Seiten weder einleitende Bemerkungen noch ein Vorwort oder Ausführungen, die auf den Beginn dieser Arbeit hindeuteten, sondern weitere, zu Titel und Thema passende Notizen, die einer frühen Stufe der Arbeit zuzuordnen sind. Hasse las also eine spätere Fassung, wohl die Endfassung, jedenfalls ein Manuskript, dessen erster Bogen bzw. Anfang nicht mit einem Text in der Ak. identisch sein kann. Es ist zudem unwahrscheinlich, dass Kant seinem Kollegen eine derart unfertige Handschrift, wie sie in der Ak. abgedruckt ist, als völlig bearbeitet und nur noch zu redigieren mehrfach vorgelegt habe, ohne dass dieser das angedeutet hätte. Kant hat auch Titel für das Hauptwerk variiert. Schon beim Durchblättern des ersten Konv. fallen Entwürfe auf und zwar umso leichter, je mehr die unauffällige Wiedergabe des Hasse-Titels beachtet wird. Doch Kant war gelegentlich auch gestalterisch so eindeutig, dass es im Druckbild der Ak. ebenfalls zum Ausdruck kommen musste. Daneben gibt es Entwürfe, die in der Ak. keineswegs ins Auge fallen, sondern allenfalls vom Wortlaut her zu erkennen sind; einige sind nur durch Erläuterungen im Apparat zu entdecken, durch Bemerkungen wie „rechts“ oder „links neben der Überschrift“ (21; 35 App.; 42 App.) oder „1. Fassung der Überschrift“ (ebd.): Der zugehörige Text ist als Überschrift, als Titelentwurf zu verstehen - mitunter ist das ohne die Angaben des Apparates nicht auszumachen (21; 42), eine inkonsequente, fast kuriose Art des Edierens, mit der Grenzen dieses diplomatisch getreuen Abdrucks angedeutet seien. Andere Entwürfe sind dadurch zu verifizieren, dass Kant sie beendete mit vorgestellt (21; 17; 20; 38; 42; 46; 52 2x; 58; 59 2x), dargestellt (21; 38; 95) oder aufgestellt (21; 9; 39 2x; 42; 53); gelegentlich folgen von (21; 38; 53; 59) oder von etc. (21; 39); selbstverständlich ist gemeint, dies jeweils um die, bei Entwürfen entbehrliche Verfasserangabe zu ergän- <?page no="122"?> 114 zen, die in einem Falle mit den Initialen IK angedeutet ist (21; 95). Die Varianten belegen, dass es sich um Titelentwürfe handelt - trotz ihrer Fülle und Deutlichkeit sind sie kurioserweise kaum beachtet worden, so der Titel: „Gott und die Welt“. Jeweils in einer neuen Zeile folgen Einleitung sowie „I.“; Kant hat die Ausführung dieses gegenüber dem Übergang eigenständigen, davon unabhängigen Titels skizziert (21; 16-19), gefolgt von einem charakteristisch veränderten und erweiterten Titel (21; 19): „ K o s m o t h e o l o g i e Gott und die Welt. Ein System der Transzendentalphilosophie von technisch theoretischer und moralisch/ / praktischer Vernunft“. Vielleicht hat Kant den Begriff Kosmotheologie als einen Ein-Wort-Obertitel für Gott und die Welt erwogen, aber wegen der Problematik dieses, damals in gelehrten Kreisen noch halbwegs geläufigen Begriffes wieder aufgegeben; die Bestimmung der theoretischen Vernunft als einer technischen zeigt, was Kant möglicherweise im Hauptwerk berücksichtigt und ausgeführt hat. Es folgt ein ausführlicherer Entwurf (21; 24): „Gott, die Welt und das Bewusstsein meiner Existenz in der Welt im Raume u. der Zeit. Das erste ist Noumenon, das zweite Phänomenon, das dritte Kausalität der Selbstbestimmung des Subjekts zum Bewusstsein seiner Persönlichkeit d. i. der Freiheit in Verhältnisse[n; Rh.] des All[s; Rh.] der Wesen überhaupt.“ Bemüht, die Hauptpunkte seiner Philosophie im Titel zu nennen, kürzte Kant diese weitläufige, stichwortartige, nicht mehr dem Stil der Zeit entsprechende Inhaltsangabe (21; 27): „System der Transzendental/ / Philosophie in drei Abschnitten Gott, die Welt, Universum und ich Selbst der Mensch als moralisches Wesen“ Die Breite des früheren Titels ist gebändigt, Wesentliches zusammengefasst; wichtig sind System, das erst Erfahrung ermöglicht, sowie Gott, Welt, Mensch als repräsentative Konkretisierungen des absoluten Ganzen (21; 32). Ein neuer Gedanke ist das Gott und Welt verknüpfende oder zu einem System vereinigende Subjekt, das denkende Wesen (21; 34). Der Dualismus von Mundus sensibilis und intelligibilis, Homo noumenon und phänomenon ist im Fortschreiben und -schreiten aufgehoben; auf nur zwei Bogen zeigt sich eine Ent- <?page no="123"?> 115 wicklung, die in der Qualifizierung des denkenden Menschen als Gott und Welt verbindend dem Vernunft-Anspruch auf Einheit und das Ganze antwortet. Als „Haupttext der Seite“ (21; 38; App.) ist mit einem Superlativ eine Endstufe und -fassung erprobt, in der Ak. mit fett gedruckter erster Zeile: „Der Transzendentalphilosophie höchster Gegenstand Gott, die Welt, und dieser ihr Inhaber, der Mensch in der Welt in Einem das All der Wesen vereinigenden System der reinen Vernunft vorgestellt von“. Mit dieser, eher romantisch - oder wolffianisch-barock - als kritisch anmutenden Fassung hatte Kant einen ähnlichen Entwurf ersetzt (ebd.), er variierte also nicht einfach die Wortstellung, sondern erprobte Akzentuierungen, die Eigenart und Schwerpunkt seines Programms hervorheben sollten - wohl auch gegenüber Fichte und Schelling. Die teils nur geringfügig abgewandelten Titel-Varianten deuten als Gedächtnisstützen und Gedankenexperimente zugleich an, warum Kant so viele Titel entwarf; er bemühte sich, seine beiden Hauptanliegen in einem nicht allzu langen Titel angemessen zur Geltung zu bringen, den Systemanspruch und die Frage nach dem Menschen; beides lässt sich nicht ohne weiteres in einem kantischen, nicht allzu wortreichen Titel ausdrücken. Kant hat für seinen Systemgedanken verschiedene Möglichkeiten erwogen: Ein System der reinen Vernunft (38; 39; 41), Ein Lehrsystem der Transz. Phil. (39); System der Ideen der Transz. Phil. (39; 41.) Die Vielfalt der Entwürfe betrifft nicht nur das System, sondern auch die Transzendentalphilosophie - mitunter fehlt jedoch einer von beiden Begriffen. Der Mensch wird in den Angaben der differentia specifica charakterisiert als (aller) seiner Pflicht angemessen oder adäquat (38; 41); Gott und Welt verbindend (37), durch den Geist oder den freien Willen in mir (39; 41). Diese zwar vereinfachenden, zusammenfassenden, aber idealtypischen, positiven Kürzest-Charakterisierungen scheinen für Kant unproblematisch gewesen zu sein; es gibt keine Hinweise auf Bedenken, die er - zumindest hinsichtlich seiner Hauptfrage und vielleicht auch eines Titels - bei seinen anthropologischen Bestimmungen gehabt haben hätte, obwohl der Inhaber der Welt (38) nur selten sein Dasein a priori synthetisch bestimmt oder sich selbst erkennt und nur recht unvollständig empirisch bestimmt war (und ist) (39); Kant nannte Anlagen und Möglichkeiten, Anfragen und Aufforderungen, von denen er wusste, wie wenig davon normalerweise aufgegriffen oder verwirklicht wird. Ähnlich optimistisch hat er der Transzendentalphilosophie höchsten Standpunkt im System der Ideen von Gott und Welt im realen Verhältnis zueinander aufstellen wollen (21; 53) eine allenfalls ansatzweise zu erfüllende Aufgabe, den Menschen als Sinnenobjekt zur Welt gehörend einschließend (21; 48): Die Einteilung sollte nur Dichotomie sein (Gott u. die Welt); denn der Mensch ist selbst ein Weltwesen (21; 43). Spätere Entwürfe <?page no="124"?> 116 zeigen wieder die Dreiteilung Gott, Welt, Mensch; sie können hier übergangen werden, da sie keine wesentlichen Änderungen bringen und schließlich de facto vom Hasse-Titel abgelöst werden. Es ist kaum sinnvoll, alle Entwürfe vorzustellen oder zu diskutieren; dass sie ernst gemeint waren und ernst zu nehmen sind, dürften die Beispiele zeigen. Kant spielte nicht mit Begriffen, er bemühte sich, seine philosophische Summe, den geistigen Kosmos seines Philosophierens genauer zu beschreiben, sich des Wesentlichen vergewissernd. Die Spiegelung des Ganzen in seiner Philosophie lässt sich verschieden ausdrücken, den freien Willen vorausgesetzt, waren wichtig die höchste Stufe und das System der Ideen Gott, Welt, Mensch, wobei Kant erwog, nur den seiner Pflicht angemessenen Menschen zu betrachten, nicht die tierisch Verkrüppelten (21; 38f.; 41). Kant wollte seine Arbeit mit einem System abschließen, wie die häufig gemeinsam genannten Begriffe Transzendentalphilosophie und System zeigen. Das scheint unvereinbar damit, dass in der Fichte-Erklärung etwas sibyllinisch und anspruchsvoll behauptet ist, das vollendete Ganze der reinen Philosophie in der Kritik der reinen Vernunft für das beste Merkmal der Wahrheit derselben gepriesen - nicht: vorgelegt, gegeben o. ä. - zu haben. Dem stehen die Bezeichnung der KrV als Propädeutik entgegen sowie die Erklärung, erst mit dem Hauptwerk das System der reinen Philosophie vorzustellen. Da davon auszugehen ist, dass Kant bei der Arbeit am Chef d’oeuvre die noch nicht lange zurückliegende Fichte-Erklärung keineswegs vergessen - oder unterdrückt - hatte, können einige Entwürfe insofern als eine indirekte Antwort darauf gesehen werden, als er mehrfach, vor allem durch Superlative, aber auch durch ein mit ihnen verbundenes Fortschreiten, versuchte, auf eine Erweiterung und höchste Stufe seiner Philosophie hinzuweisen; es sei erreicht der Transzendentalphilosophie höchstes Prinzip (21; 18), höchste Stufe (21; 20), höchster Standpunkt (21; 32; 34f.; 39 2x; 42; 54; 59), höchster Gegenstand (21; 38). Prinzip, Stufe, Standpunkt und Gegenstand sind keine deckungsgleichen Begriffe, doch ist dazu keine Differenzierung Kants überliefert. Ein Superlativ ist als Endergebnis hervorgehoben und verstärkt: „Des Fortschritts im System der reinen Vernunft höchste Stufe Gott und die Welt“ (21; 20). Die höchste Stufe und ähnliche Maxima beziehen sich wohl auf eine nicht nur komparative, sondern maximale Steigerung im System der reinen Vernunft, wie sie, verglichen mit den Kritiken, durch die Aufnahme der Begriffe Gott und Welt angedeutet ist. Damit hatte Kant das Hauptwerk einerseits eindeutig vom System der Kritik abgehoben, das er in der Fichte-Erklärung beschworen hatte und die er demnach nicht zurückzunehmen oder abzuschwächen brauchte, andererseits waren Fichtes Anspruch und seine Argumente noch nicht widerlegt, was Kant einfach überging; zugleich hatte er seinen Anspruch bekräftigt, das Höchste, philosophisch Erreichbare von der völlig gesicherten Grundlage (Fichte-Erklärung) der KrV aus erfassen und <?page no="125"?> 117 auch darstellen zu können. Sachlich ist richtig, dass in Kants früheren Werken weder Gott und die Welt noch der beide verbindende Mensch ausführlicher oder gar systematisch behandelt waren, Kant kündigte so gesehen zurecht keine Korrektur seiner Philosophie an, sondern deren Fortschreiten und höchste Stufe; dass damit Veränderungen seiner Interpretation der Welt verbunden waren, musste nicht eigens gesagt und konnte und sollte vielleicht ohne weiteres als Fortschritt verstanden werden, und Kant verstand seine (Teil)Revisionen wohl im Wesentlichen selbst so: Das Op enthält seine Vision, trotz allem tatsächlich den systematischen Abschluss seiner Lebensarbeit erreicht zu haben. Dieses Selbstverständnis, wie es sich in des Fortschritts höchster Stufe und anderen Entwürfen zeigt, bleibt bestehen, auch wenn die Superlative als eine traditionelle Ausdrucksweise angesehen werden können, die in Kants Werken vielfach belegt ist und darum vielleicht nicht besonders zu gewichten wäre; auch im Op fällt seine Vorliebe für extreme Ausdrücke und Formulierungen in seiner Argumentation und seinen Entwürfen auf, negativ in Wörtern wie unmöglich, niemals, nichts, und positiv - außer in den Superlativen selbst - in Wörtern wie absolut, total, unbedingt, alles sowie in Kompositionen und Maxima wie das Universum als Absolutes All (21; 33) und in apodiktischen Sätzen wie Metaphysik ist ihrem Wesen und ihrer Endabsicht nach ein vollendetes Ganze; entweder Nichts, oder Alles. Diese fast selbstwidersprüchliche Behauptung ist sowohl rationalistisch als auch idealistisch, zugleich recht optimistisch und kann allenfalls idealiter gelten für die Metaphysik als Kants überrationaler Liebe, für die er mit dem Hauptwerk Grundlegendes leisten wollte. Sein Rigorismus zeigt sich abgeschwächt auch im Op und in der Systemvorstellung. In der Alles-oder-Nichts-Behauptung kommen zwei, zueinander in Spannung stehende Anliegen zum Ausdruck, Kants Liebe und die leitende, begrenzende Vernunft - offenbar liegt dem die Einsicht zugrunde, dass alles miteinander verflochten ist und dass darum, ungeachtet des Bruchstückhaften des Erkennens, kein wesentliches Element der Metaphysik unbeachtet oder unberücksichtigt bleiben dürfe, trotz aller Lücken im Einzelnen und Ganzen. Es ist auf Grund dieser Denk- und Arbeitsweise nicht erstaunlich, sogar thematisch - cum grano salis - frühe und, vor allem in den Abweichungen von späteren Formulierungen, aufschlussreiche Vorstufen einiger Superlativ-Entwürfe zu finden; so ist in den Prolegomena der höchste Punkt, den transzendentale Philosophie nur „immer berühren mag, und zu welchem sie auch als ihrer Grenze und Vollendung geführt werden muss“, in der Frage: „Wie ist Natur selbst möglich? “ (4; 318.) Diese extreme Frage hat Kant nicht wieder aufgenommen; in der Preisschrift hat er anders resümiert, realistischer, auf das erkennende, erfahrende Subjekt bezogen: Die höchste Aufgabe der Transzendentalphilosophie ist also: Wie ist Erfahrung möglich? (20; 275.) <?page no="126"?> 118 Während er im Jahre 1783 noch kühn, fast ein wenig kurios meinte, eine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der Natur sowohl in materieller als auch formeller Bedeutung sei in dem Buche selbst sowie in den Prolegomenen gegeben (Pro. a. a. O.) und nur, sich widersprechend, einräumte, die eigentümliche Eigenschaft unsrer Sinnlichkeit selbst oder die unseres Verstandes und der ihm und allem Denken zum Grunde liegenden notwendigen Apperzeption ließe sich nicht weiter auflösen und beantworten (ebd.), wusste er spätestens seit den MAdN, der KrV (B) sowie den beiden Einleitungen in die KU, dass er seine Ansprüche herabsetzen musste und dass zum Erreichen seiner Ziele größere Schwierigkeiten zu überwinden seien, als ihm für sein System lieb sein konnte - wenn er nicht überhaupt bedachte, was innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft liegen kann und was nicht, von Dingen an sich bis zu einer begrifflich klaren Lösung der Äther-Frage… Kants Fortschreiten im Bemühen, einige seiner Fragen zu bewältigen, zeigt sich - eher verdeckt als verdeutlicht - in deren Entwicklung; sie werden lebensnäher, sind nicht mehr so theoretisch-abstrakt wie etwa in der KrV (A). Im VII. Konv. fragt Kant: Wie ist Erfahrung als Einheit möglich? (22; 73.) Das verdeutlicht Richtung und Ausmaß seiner Arbeit, die folgerichtig zum Hauptwerk führte, zu dessen Bedingungen die Erfahrungs-Einheit gehört, die - wie jede Wissenschaft - systematisch geordnete Ideen voraussetzt, was auch im Titel zum Ausdruck kommen sollte; so umrahmte Kant ein Titelblatt, das dadurch von allen übrigen Entwürfen abgehoben ist und den Charakter des Endgültigen gehörigen hat: „Titelblatt Der Transzendentalphilosophie höchster Standpunkt im System der Ideen: Gott, die Welt und der durch Pflichtgesetze sich selbst beschränkende Mensch in der Welt vorgestellt von“ (21; 59). Die erste Seite dieses Bogens hatte mit einem ähnlich lautenden und gestalteten Entwurf begonnen, ohne die Kennzeichnung Titelblatt (21; 54). Beide barocken Titel enthalten gegenüber den bereits zitierten nichts Neues und kennzeichnen wie diese als Thema des geplanten Werkes eine Summe der Philosophie Kants, deren Hauptbegriffe im obigen Entwurf aufgeführt bzw. umschrieben sind, der Mensch positiv einschränkend als moralisches Wesen, womit die tierisch Verkrüppelten zu problematisieren wären. Von dieser Ausklammerung des Bösen abgesehen, ist am potentiellen Titelblatt nichts Auffälliges - es passt uneingeschränkt zu Kant und seiner Philosophie -, abgesehen davon, dass es wie der von Hasse überlieferte und im Op bestätigte Titel im Allgemeinen unbekannt geblieben ist oder nicht ernst <?page no="127"?> 119 genommen wird. Dieses Kuriosum ist unabhängig davon, dass die Entwürfe teilweise völlig verschieden formuliert sind, nichts miteinander gemein zu haben scheinen und unabhängig voneinander bestehen können. Es ist nicht einmal ohne weiteres erkennbar, dass sie, für sich betrachtet, alle für ein und dasselbe Werk gedacht gewesen sein sollten, obwohl sie thematisch konvergieren; da die Entwürfe selten durchgestrichen sind, ist eine Auflösung der Titel-Konkurrenz nur gegeben, wenn der im Op bestätigte Hasse-Titel als endgültig angesehen wird. Ein dies bezeugender oder auch davon abweichender, eindeutig als solcher formulierter letzter Wille des Philosophen ist nirgends zu bemerken und ließe sich wohl nur durch neue Zeugnisse feststellen - die zwar jederzeit, in St. Petersburg oder anderswo, aufgefunden werden können, doch kaum zu erwarten sind. Entscheidend ist nicht, ob der Hasse-Titel oder das Titelblatt als endgültig anzusehen sei, entscheidend ist die durch die Titel bekräftigte Tatsache, dass Kant nach dem Übergang an einem Hauptwerk arbeitete, über dessen Thema keine Zweifel möglich sind. Während zum Titelblatt in seiner Ausführlichkeit und Deutlichkeit nichts zu bemerken ist, sei für den wohl zu bevorzugenden System-Titel gezeigt, wie eine Entscheidung Kants zugunsten dieses kürzeren, allgemeineren, aber auch etwas blassen Titels zu verstehen sein kann. Dieser Titel hat in seiner Knappheit und Stilistik einige Vorläufer, so in den doppelt notierten. Verglichen mit anderen, meist wortreichen Entwürfen, erscheint die Konzeption dieses neuen Titels anders, etwas fremd; begreiflich und am deutlichsten wird das Besondere des System-Titels vielleicht durch einen Vergleich mit dem Titel KrV, an den der System-Titel von fern erinnert und möglicherweise auch erinnern und anknüpfen soll; es heißt nun - wieder ohne den bestimmten Artikel - System statt Kritik: Der neue Titel beginnt mit einem konstruktiven, zusammenfassenden, einem Synthese-Begriff anstelle eines Begriffes des Untersuchens, Unterscheidens und Analysierens. Philosophie kann Gegenstand und Ergebnis der Tätigkeit der Vernunft sein; da sich Kant auf die reine Philosophie beschränken, also Empirisches beiseite lassen wollte, meinte er, vermutlich zugleich im Blick auf das durch die Fichte-Erklärung herausgeforderte, ohnehin zu seinem Plan gehörende Allumfassende, sie in ihrem ganzen Inbegriffe darstellen zu können. Das Wort Inbegriff ist bei Kant häufiger, findet sich in einem Titelentwurf (21; 39), der ganze Inbegriff drückt vermutlich den Anspruch auf das absolute Ganze aus, in dem das Fortschreiten und die höchste Stufe mitgemeint sind, zugleich als Rechtfertigung gegenüber der Fichte- Kritik und -Erklärung. Der System-Titel bedeutet wohl zugleich eine gewisse Befreiung von einem direkten Bezug auf diese leidige Erklärung, wie auch sonst erkennbar ist: Kants bemühte sich, recht zu behalten und seine Ansprüche nicht einschränken zu müssen. Aus Kants Philosophie und dem System-Titel lässt sich die Thematik entwickeln, die in den mehr oder minder wortreichen Entwürfen klar und, <?page no="128"?> 120 ihre Begriffe programmatisch verstanden, hinreichend ausführlich umschrieben ist, sodass der Umriss des Chef d’oeuvres erkennbar wird: Die Entwürfe sind nicht überflüssig oder zu vernachlässigen, sie dokumentieren Kants Absichten und deuten an, wie er sie im Wesentlichen auszuführen gedachte. Die gleichsam barocken Entwürfe und mit ihnen das Titelblatt hätten Kant durch die Fülle und Genauigkeit ihrer Angaben in gewisser Weise festgelegt, ihn verpflichtend und im Publikum Erwartungen weckend, die durch einen summarischen, allgemein gehaltenen Titel abgeschwächt wurden. Der damals modernere System-Titel hätte es gestattet, mehr oder minder ausführlich und frei zu behandeln, was ihm wichtig und zeitlich und gesundheitlich noch möglich gewesen wäre. Immerhin hatte er sich das System des transzendentalen Idealismus (Tübingen 1800) des von ihm bereits notierten, 25jährigen, außerordentlichen Jenaer Philosophieprofessors Schelling vermerkt (21; 97; 87), der damit vielleicht den Königsberger Kollegen beeinflusst hat, sei es bei der Wahl des Begriffes System, sei es bei der Vermeidung des Begriffes transzendental oder bei beidem. Holbach, Linné und Leibniz zeigen die Bedeutung des System-Gedankens, der etwa bei Hegel kulminierte und sogleich von Kierkegaard verabschiedet wurde - Kants Titel war um 1800 zeitgemäß, aber nicht avantgardistisch; der Königsberger Fragmentist 246 hat seine Ansätze zur Kritik des System-Denkens nicht weiterentwickelt, Kierkegaards Denkweise lag ihm, trotz Hamann, einigermaßen fern. Kant hat seinen System-Titel so allgemein formuliert, dass er als Rückschritt, verglichen mit dem die Transzendentalphilosophie an erster Stelle nennenden Titelblatt, erscheinen könnte oder zumindest als Abschwächung dieses genaueren und anspruchsvolleren Titels - doch hat Kant die Verflechtung von reiner Philosophie und Transzendentalphilosophie ausdrücklich erläutert in einer Weise, die geradezu als Begründung des System-Titels verstanden werden kann: „Transz. Philos. ist die reine Philosophie [...] in einem System der Ideen der spekulativen und moralisch/ praktischen Vernunft, in so fern dieses ein unbedingtes Ganze ausmacht“. (21; 77.) „Transz. Phil. ist die reine (nicht mit dem Empirismus oder Mathematik vermengte) Philos., welche das absolute Ganze synthetischer Grundsätze a priori in Einem System der Ideen, also dem Formalen des Erkenntnisses zusammengefasst darstellt und unabhängig von der Erfahrung a priori die Möglichkeit der Erfahrung in sich enthält.“ (21; 99.) [Schlussklammer versetzt; Rh.; die Möglichkeit statt der: Korr. G. Lehmann.] System der reinen Philosophie meint Transzendentalphilosophie - systemtheoretisch sind sie ohnehin verflochten, und der System-Titel umfasst auch deren Programm und höchste Stufe: Gott, Welt, Mensch. Die Wahl des System-Titels als des wahrscheinlich endgültigen, nach so vielen Entwürfen und dem umständlich erschriebenen Titelblatt, ist verständlich, da er weniger an- 246 Paul Menzer in einer Vorlesung, Halle 1946; für diesen Hinweis danke ich Herrn Walther Gose, Igel. <?page no="129"?> 121 spruchsvoll, kürzer und zeitgerecht ebenso das Ganze der Philosophie als ein wohlgeordnetes zum Ausdruck brachte wie die Entwürfe, in denen Hauptbegriffe seiner Philosophie aufgeführt werden. 5. 5. Die Philosophie - Eine wissenschaftliche Lehre Vom Hauptwerk sind nur Hasses Bericht erhalten sowie die ergänzenden und vertiefenden Notizen des Op. Mit Kants letzten Aufzeichnungen zu, neben oder nach dem Hauptwerk und zur Philosophie überhaupt sei angedeutet, wieweit er seiner Forderung, sich um Weisheit zu bemühen, hat folgen können. Seine Lebensarbeit und das Blätterchaos enden mit Notizen, die trotz ihres Werkstattcharakters und der Zufälligkeit ihrer Überlieferung als angemessener Ausklang seines Philosophierens angesehen werden können - zugleich als angemessener Auftakt der Wiedergabe des Op; dieser stimmige Anfang und Abschluss ist von den Herausgebern nicht beabsichtigt, sondern als Ironie der Geschichte anzusehen, zu der auch gehört, dass der seit längerem wohlhabende, weiterhin preußisch sparsame Kant seine Gedanken notierte auf der Einladung zur akademischen Totenfeier für den Königl. Preuß. Staatsminister und Oberburggrafen, Jacob Friedrich von Rohd aus dem Jahre 1801; dieses schöne, einen Staatsakt ankündigende, solide Papier diente Kant zugleich als Umschlag für sein Konvolut. Er hat auf den freien Raum dieses Blattes, zwischen den Einladungstext und sogar um das Akademie-Siegel herum geschrieben (21; 3 App.); seine erste Eintragung, vermutlich aus dem Anfang des Jahres 1803, lautet: Transzendentalphilosophie ist der Inbegriff der Vernunftprinzipien, die sich a priori in einem System vollendet (21; 3; Faksimile: Der alte Kant; Beilage). Mit diesem Gedanken fasste er einen großen Teil seiner philosophischen Arbeit repräsentativ zusammen - ein würdiger Auftakt für Aufzeichnungen zu einem Hauptwerk. Als Kant den obigen Satz mit einer, wie das Faksimile zeigt, noch immer verhältnismäßig sicheren Hand niederschrieb, konnte er kaum hoffen, mit der verbleibenden Schaffenskraft zu dieser Konklusion und Kadenz mehr als kurze Passagen und stichwortartige Notizen zu Papier bringen zu können; an eine Ausarbeitung auch nur des vorliegenden Materials konnte er nicht mehr ernsthaft denken - er bedurfte des Memento mori dieses Bogens nicht, um das zu wissen, doch lag immerhin ein nur noch zu redigierendes Manuskript mit rund 100 Folio-Bogen bereits vor... Kant resümierte mit diesem Generalsatz, mit Transzendentalphilosophie, Vernunftprinzipien, a priori, System stichwortartig einen wesentlichen Teil seiner Philosophie, theoretisch-abstrakt, esoterisch zusammendrängend, was ebenso eine rückblickende Bestandsaufnahme oder Wiederholung sein kann wie eine im Einzelnen oder Ganzen noch auszuführende, programmatische Deklaration, für die mit Inbegriff und vollendet Anhaltspunkte gegeben sind. Ungeachtet oder auch wegen seiner Unbestimmtheit kann die- <?page no="130"?> 122 ser Auftakt dazu einladen, im Op nach weiteren philosophischen Notizen zu forschen, um den Hintergrund und Kontext dieser Eröffnung kennen zu lernen. Kant hat jedoch diesen verheißungsvollen Beginn, nach einer erläuternden Anweisung in Klammern, wie das System auszuführen sei 247 , nicht fortgesetzt, sondern sich ganz Verschiedenes - und wohl auch zu verschiedenen Zeiten und Zwecken - auf den freien Räumen der Einladung notiert: „Der transzendentalen ist die empirische [Philosophie; Rh.] entgegengesetzt, welche sich nur mit dem Einzelnen der Anschauung beschäftigt. Olbers Planet Das höchste Wesen ist: das Alles weiß. Was alles Gute will […] Im 80zigsten Jahr meines Alters“ (21; 3). Offenbar nicht lange nach seinem 79. und letzten Geburtstage, dem 22. April 1803, vergewisserte sich Kant in einer Art Selbstbesinnungs-Pause in einer auf dem Faksimile deutlich erkennbaren, unsicheren Handschrift, mit einer gelegentlich gestörten Wortbildung, des erreichten Punktes auf seiner Lebensbahn: Es konnte ihm nicht mehr vergönnt sein, genauer auszuführen, woran er vielleicht noch arbeitete und was er sich aufschrieb - sofern das nicht schon im Großen und Ganzen geschehen war; was er allenfalls noch leisten konnte, ist wohl in den Reflexionen, Notizen, Rück- und Ausblicken repräsentiert, die auf den 47 Seiten der elf Bogen und zwei Halbbogen stehen, die das erste Konv. bilden (zwei Seiten des Konv. sind leer). Die wenigen, den zitierten Notizen folgenden, Kants Lebensausklang begleitenden Aufzeichnungen tragen unübersehbar und unumgänglich das Vorzeichen des Non finito, sie handeln stichwortartig, andeutungsweise, aphoristisch Von Gott, der Welt, der Seele des Menschen und allen Dingen überhaupt (21; 5), in der Tendenz zu einem Ganzen konvergierend. Der letzte Bogen des ersten Konv. beginnt mit einem Titelentwurf: „Philosophie als Wissenschaftslehre in einem vollständigen System aufgestellt von“ (21; 155). Dazu sollte der Apparat konsultiert werden, in dem angemerkt ist: „Der ganze übrige Teil der Seite, bis auf den von oben bis unten beschriebenen Rand, frei.“ (21; 155 App.) Obwohl davon auszugehen ist, dass Kant zu diesem Titel einiges notieren wollte, wird der System-Titel nicht einfach als aufgehoben zu betrachten sein. Bemerkenswert ist, was am Rande zu lesen ist; nach einer fast wörtlichen Wiederholung von Versen, die auch an anderer Stelle notiert sind (21; 101) und an die Schilderung der Entstehung des Kosmos aus dem Chaos im ersten Buche der Metamorphosen des von Kant des Öfteren zitierten Ovid erinnern, folgen im Wesentlichen: 247 „(in Einem Schema als [das; Rh.] Formale der Erkenntnis aufstellen, indessen das Materiale der Erkenntnis bloß die Formen den Prinzipien nach vollständig darstellt.)“ <?page no="131"?> 123 „Die Liebe der Weisheit ist das Wenigste, was man besitzen kann; die Weisheit (für den Menschen) das höchste; und daher überschwänglich. - Die Transz. Philos. [ist; Rh.] das Fortschreiten von dieser zu jener - Der Endzweck alles Wissens ist, sich selbst in der höchsten praktischen Vernunft zu erkennen. Zoroaster: oder die Philosophie im Ganzen ihres Inbegriffs unter einem Prinzip zusammengefasst. Philosophie geht auf die Zwecke des Wissens und auch auf den Endzweck der Dinge überhaupt. Proömium. Das Erkenntnis der Wissenschaft (historisch), die zur Weisheit führte […] Erhebung der Ideen der reinen Vernunft zu dem sich selbst konstituierenden System einer Wissenschaft Philosophie benannt. Natur und Freiheit sind die beiden (Prinzipien) Türangeln der Philosophie, sie zu begründen […] Zwei Teile: Physik und Transz. Philosophie […] Die Welt und Gott. Transz. Philos.: Erkenntnis des Menschen von sich selbst, der Welt und Gott. der Weise aber ist niemand anders als Gott. - Dieser aber ist nur ein Einiger Sophus (der Weise) ist bloß ein Ideal und nur einzig. Philosophus Homo est. Es ist ein Gott. Denn es ist eine Macht, die aber auch eine Verbindlichkeit für das Ganze vernünftiger Wesen bei sich führt. […]“(21; 155ff.) Das sind am Rande eine Fülle von Gedanken und Stichworten, ohne das irritierende Wenn und Aber, ohne das kritische Ja und Nein; die Spannung zwischen Natur und Freiheit, Physik und Transzendentalphilosophie, Gott und Welt ist nicht angedeutet, sondern in den angeführten Begriffen da: Die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis ist analytisch eingeschlossen in den Hauptbegriffen: Gott, Welt, Mensch - Freiheit und Unsterblichkeit sind so selbstverständlich mitgemeint wie das Einverständnis mit dem Unvermögen der Vernunft, ihren Ansprüchen more geometrico, rational gerecht zu werden: Als erstes wird ein Hauptwort der Philosophia perennis genannt: Weisheit, die Liebe zu diesem für den Menschen Höchsten, das Ziel seiner unaufhörlichen Bestrebung (KpV 5; 109) betonend, deren Anfang an Selbsterkenntnis gebunden ist, die Endzweck ist. Der Einheitsgedanke fordert die Zusammenfassung unter einem Prinzip, wobei Zoroaster wohl zu verstehen ist als Repräsentant der Bipolarität, der Dualismen der Welt, des Kampfes zwischen Gut und Böse; die Tendenz zur Philosophie wird historisch als Weg der Wissenschaft zur Weisheit gesehen, etwas einseitig und optimistisch, einen bereits in der KrV geäußerten Gedanken aufgreifend. Das sind gewiss im Wesentlichen Wiederholungen, so aber zugleich Bekräftigungen von Philosophemen, die damals wie heute oft übergangen oder bestritten werden - nicht zuletzt für Kant selbst. Der XII. und letzte Bogen des ersten Konv. endet auf der dritten Seite - die vierte ist leer - mit einem Titelentwurf (21; 158): „Philosophie in ihrer vollständigen Darstellung als Wissenschaft von“ <?page no="132"?> 124 Es folgt, als letzter Haupttext dieser Seite, von Kant durch eine größere Schrift - in der Ak. fett gedruckt - hervorgehoben und ebenfalls zentriert: Einleitung; nach Auskunft des Apparates ist die Seite, wie schon die erste dieses Bogens, nach dem Titelentwurf bis auf einige Notizen am unteren und am rechten Rande leer. Außer persönlichen Marginalien finden sich charakteristischerweise zwei, die Wissenschaft betreffende Sätze: „Der Raum, in welchem die Sterne scintillieren, ist nicht ein existierendes Ding außer mir, sondern eine Vorstellung, die für sich wirksam ist“ (21; 158). Diese persönliche Notiz ist für Andere, über das archetypische, himmlische Urerlebnis des Menschen hinaus, missverständlich, aber wohl zu verstehen als Betonung der Wirksamkeit einer Gedankenvorstellung, der Kraft der Vernunft, der Bedeutung der intelligiblen Tat, deren Voraussetzungen Kant zwar vielfach betont hat, die jedoch als unbequem oft übergangen werden und die erfüllt sein müssen, damit die Schwelle der praktischen Folgerungen aus theoretischen Vorstellungen überschritten werden kann: Die Pflichten, die der Ordnung des bestirnten Himmels entsprechen, erkennen, anerkennen und befolgen nur die Menschen guten Willens, die bereit und bestrebt sind, sich zu beschränken… Der zweite Satz, eine Zeile am Rande, Kants letzte Eintragung überhaupt, das erste Konv. und damit das Op als Ganzes beschließend, lautet: „Die Philosophie Eine wissenschaftliche Lehre.“ (21; 158.) Kants philosophisch-wissenschaftliche Randbemerkung, sein zufälliger Abschied ist von antik-klassischer Kürze, sei es als epigrammatisch ausgedrücktes Ergebnis seines Philosophierens, sei es als (Selbst)Erinnerung oder (Selbst)- Ermahnung. Dieser Satz könnte, unabhängig von einem möglichen Einfluss Fichtes und Schellings, als Motto über Kants Werk stehen als kürzeste Zusammenfassung des Ganzen, seiner Arbeiten und Absichten, seiner Größe und Grenzen, seines Strebens nach Weisheit innerhalb und außerhalb der Schranken eines Lehrauftrags. Die Frage, was Kant zu der wissenschaftlichen Lehre, als die er die Stufenleiter der Philosophie ansah oder bedenken wollte, über das von ihm dazu bereits Geschriebene hinaus ausgeführt hat, führt an den Rand des Wissenschaftlichen; darum sei nur skizziert, was sich dazu auf Grund seines Werkes sagen lässt - die Probe aufs Exempel sei seine Hauptfrage. <?page no="133"?> 125 6. Selbsterkenntnis und Weisheit Der Mensch als Bürger zweier Welten Selbsterkenntnis ist ein Gebot der Vernunft, welches Alles enthält (21; 134). Der Endzweck alles Wissens ist, sich selbst in der höchsten praktischen Vernunft zu erkennen (21; 156). Es könnte als kurios erscheinen, dass Kants, in der Zentralidee der Aufklärung vorgegebene Hauptfrage in der Kantforschung und -literatur erst neuerdings stärker beachtet wird 248 - er hat jedoch, von Ansätzen und Vorarbeiten abgesehen, nicht versucht, etwa innerhalb der Grenzen der Vernunft eine Naturgeschichte und Theorie des Menschen zu entwerfen; die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist, als Teil der gewünschten ausführlichen Anthropologie (A 849), auf Ergänzung angelegt; davon ist in Kants Werken wenig zu erkennen und im Nachlass erhalten, sodass übersehen werden konnte, was schon in der KrV als Abriss, als knappe Grundlegung einer Antwort auf die große Frage der Philosophie und des Menschen vorliegt, wenn auch verstreut oder versteckt im jeweiligen Kontext und lückenhaft 249 - gleichwohl „hat die gesamte Kritik […] den Rang einer fundamentalen Anthropologie von existentiellem Gewicht.“ 250 Die Aktualität dieser Bausteine zu einem philosophischen Menschenbild hat Höffe, in kritischer „Auseinandersetzung mit neueren Debatten“ und der wichtigsten Literatur, herausgearbeitet. 251 Die „Urfrage“ des Menschen „definitiv“ oder „abschließend“ zu beantworten 252 , hätte Kant angesichts der Grenzen der Vernunft nicht versucht, zumal das Wissen bis zu den Grenzen demütig macht und er keine bloß theoretischwissenschaftliche Antwort im Blick hatte, sondern eine praktische, die nur konkret, individuell abgeleitet, angenommen und gelebt werden kann. Vorbereitend hatte Kant das krumme Holz, woraus der Mensch gemacht ist, oft und deutlich - für viele allzu oft und allzu deutlich - beschrieben, sich damit wohl ein wenig von den erlittenen Demütigungen entlastend, nicht ganz ohne Groll: Dem liegt zugrunde, dass es nur Wenige gibt, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung des Geistes sich aus der Unmündigkeit herauszuwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun (Aufkl. 8; 36). Der Mensch kann nicht so leicht die Idee einer praktischen Vernunft in seinem Lebenswandel konkret wirksam machen (G 4; 389), wie sich aus der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten in der menschlichen Natur (Rel. 6; 19) ergibt, 248 Es finden sich, wie auch sonst, Titel, die mehr versprechen, als die Bücher halten; damit diese Arbeit nicht als eine weitere pseudoaktuelle, blinde Herausforderung der Gegenwart missverstanden wird, sei nur auf Schwartländer und Schmitz verwiesen. 249 Vgl. Simmermacher, lange unbeachtet. 250 Höffe Kritik S. 31f. 251 A. a. O. S. 12. 252 Wenzel S. 3f. <?page no="134"?> 126 ein oft übergangenes, bestrittenes oder pluralistisch relativiertes Faktum, seinerzeit zu sehen vor allem im Kontext der Theodizee, die durch das Lissabonner Erdbeben eine breit diskutierte, philosophisch vornehmlich gegen einen meist missverstandenen Leibniz gerichtete Aktualität erhalten hatte. 253 Kant war in seinen Erdbeben-Artikeln weder auf weltanschauliche noch philosophische Streitfragen eingegangen, im Optimismus-Aufsatz hatte er sich konventionell-unkritisch geäußert, obwohl er selbst das Böse vielfach, als Schikane, Schlingen, als ständigen Stachel in Königsberg erleben und erleiden musste, wenn auch vergleichsweise harmlos, nicht als leiblich Betroffener eines Krieges oder einer Revolution, sondern von und unter wohlgesitteten Bürgern, die, in ihrer Eitelkeit, ihrem Neid, Hochmut und Hass jeder voreiligen Antwort auf die Frage nach dem Animal rationale spottend, das Bewusstsein des Anspruchs und der Grenzen der Vernunft wach hielten und damit auf die Grenzen des Menschen, seiner Fähigkeiten und seines Willens, also auf Anspruch und Grenzen der Hauptfrage hinwiesen. Die Verarbeitung des so vielfältig - und nicht zuletzt im eigenen Busen (Theod. 8; 271) - zu erlebenden Bösen muss schwer fallen; das zugehörige Problem der Freiheit war damals angesichts der Naturkausalität eine besondere Klippe für eine das Böse bedenkende Philosophie und Anthropologie und bedurfte darum einer erkenntnistheoretischen Sicherung. So ist verständlich, dass, abgesehen von den erwähnten Teilen, Kant nur Hinweise hinterlassen hat, wie eine transzendentale Anthropologie zu denken sei: Er hat sich wohl auch vor dieser Aufgabe, wie vor dem Übergang, lange gescheut - vielleicht ahnte er, dass er die Voraussetzungen nicht ganz erfüllt habe, den Homo sapiens gleichsam als Ding an sich zu betrachten und das Geheimnis der Freiheit und Würde so zu bedenken, als ob es aufzuklären sei - zu lange hatte er sich von gestörten Persönlichkeiten sowie seinen eigenen Problemen den Blick auf den folgerichtigen Weg der Wahrheit, des Lebens und des damit aufgerufenen Zieles verdunkeln lassen. Mit den grundsätzlichen und persönlichen Grenzen seiner Annäherung an die eindringlich beschriebene, spannungsreiche Wirklichkeit des Menschen ist verflochten, dass er, einem vielfach geförderten Trend gemäß, zu spät und nicht streng bedachte, was er sich in seinen Reflexionen zur Moralphilosophie notiert hatte: Es gehört ein gut’ Herz dazu, die Wahrheit zu finden. 254 Dieses Andere ist eine alte, unwissenschaftliche, unpopuläre, qualitative Voraussetzung einer ganzheitlichen Erkenntnis. Kant hat das Herz weder erkenntnistheoretisch noch psycho- oder anthropologisch stärker berücksichtigt, doch ist es in seiner Spätphilosophie, in seinem Verständnis der Verflechtung des Guten mit dem Wahren und Schönen wirksam geworden, während er die Religion, wohl 253 Vgl. A. Görres/ K. Rahner Das Böse. Freiburg/ Br. 1989. 254 Vgl. z. B. F. L. Stolberg Über die Fülle des Herzens in: Deutsches Museum 2(1777)1-14. - Es sei an Pascal erinnert, den Kant zweimal zitiert (7; 132; 161), ohne dass eine Auseinandersetzung mit dessen Philosophie und Menschenbild erkennbar wäre. <?page no="135"?> 127 etwas ironisch, nur innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft behandelte - seine Pädagogik und Politiktheorie, das Schöne als Symbol des Sittlich-Guten, die Pflicht zur Selbsterkenntnis und zur Sorge für die Anderen zeigen, dass er sich auch mit dem Herzen um Wahrheit bemühte: Groll und Gegenwind waren unausbleiblich. Das Herz hatte im schmerzlichen Lernprozess dazu beigetragen, seine Ansprüche einzuschränken - das Wissen bis zu den Grenzen macht demütig... Mit dem Herzen und der Demut (humilitas moralis) (MS 6; 435) 255 hatte Kant eine höchste Stufe des Philosophierens im Blick, einer untergründigen Tradition der abendländischen Philosophie entsprechend, über die etwas einseitig behandelte theoretische und praktische Vernunft hinaus, die Grenzen der bloßen Vernunft, seines kritischen Philosophierens erweiternd und überschreitend, die kaum erforschten Gebiete des Gemüts (7; 97-116) und des Gewissens (6; 400f.) 256 einschließend, zugleich eine Voraussetzung dafür, Gott und Welt zu verbinden. Damit hatte er sich auch, wohl unbewusst, den Defiziten der gestörten Personen erkenntnistheoretisch genähert; er ist den Ursachen der Eigenliebe, Eitelkeit, Heuchelei, Lüge, des Neides und Hasses, der Gewalt nicht nachgegangen - doch hat er auf ein analytisches, psychologisches und philosophisches Programm hingewiesen; so lässt sich besser verstehen, wovon er ausgegangen war, wohin er hatte gelangen wollen und was in vielfältigen Überlegungen seine Aufgabe geblieben war: Der Mensch im Kosmos - ein unerforschtes Problem. 6. 1. Das Ich als Subjekt, und das Ich als Objekt Angesichts der verschiedensten, widersprüchlichen Theorien und Behauptungen über den Menschen erschien Kant die Analyse dieses unerforschten Problems zunächst als erkenntnistheoretische Aufgabe, um das entscheidende, sehr merkwürdige Faktum der Realität der Freiheit (KU 5; 468), den schönen Schein, Schauspielerei und Schikanen begreiflich zu machen, einschließlich der unbequemen, unbeliebten Zumutung der Selbstbesserung und der Pflicht zur Selbsterkenntnis, -gestaltung, -bindung und -begrenzung, die allein ein angemessenes Echo der Empfindung des unsterblichen Geistes sind, obwohl das Gegenteil eines rechten Gebrauchs der Vernunft und der Freiheit alltäglich ist in Gewalt, Lüge und Hass, in Selbsttäuschungen und -schädigungen. Das Problem Mensch, die Nichtberechenbarkeit des schlechthin Anderen, seine Erkenntnislücken mussten Kant begleiten und gelegentlich zu Tage treten, 255 Hier hätte Kants Hang zum Etymologisieren doppelt hilfreich sein können: Mut zu Dienen ist philosophisch und anthropologisch ebenso aufschlussreich wie die sprachliche Verwandtschaft von Humus, Humanitas, Homo und Humilitas - zu den Voraussetzungen, die höchste Stufe der Philosophie zu erreichen, gehören die Demut des Dienens, die Erkenntnis der Kleinheit und Niedrigkeit des Menschen und seine Würde. 256 Vgl. Heubült, kaum beachtet. <?page no="136"?> 128 wie aufmerksame Leser früh bemerkt haben. So hat schon Hamann, wahrscheinlich der erste Leser und in jeder Hinsicht der erste Rezensent der KrV, das zirkelhafte Verfahren kritisiert, mit dem Kant die Selbsterkenntnis der Vernunft (A XI; - vgl. Lo. 9; 14) mit einem Prozess an einem Gerichtshof verglich, an dem ein bestallter Richter Zeugen befragt (B XIII), wobei Richter, Angeklagter und Zeuge ein und dieselbe Person sind. 257 Da Kant hier meinte, das Unerforschte unbedenklich und forsch als unerheblich ansehen und übergehen zu können, musste sich irgendwann die Frage nach dem Selbst in der Selbsterkenntnis der Vernunft stellen, von der sich so unauffällig, theoretischallgemein schreiben ließ, dass Kant glaubte, damit gemäßigte Ansprüche zu stellen, da er es lediglich mit der Vernunft selbst und ihrem reinen Denken zu tun habe, nach deren ausführlicher Kenntnis ich nicht weit suchen darf, weil ich sie in mir selbst antreffe (A XIV). Dieser unkritische Ansatz musste die Spannungen und Differenzen in Kants Konstruktionen steigern - seine Denkweise führte, ungeachtet aller Erträge, in eine Sackgasse, seine Analysen endeten in einer Aporie: „Ich bin mir meiner selbst bewusst, ist ein Gedanke, der schon ein zweifaches Ich enthält, das Ich als Subjekt, und das Ich als Objekt. Wie es möglich sei, dass ich, der ich denke, mir selber ein Gegenstand (der Anschauung) sein, und so mich von mir selbst unterscheiden könne, ist schlechterdings unmöglich zu erklären, obwohl es ein unbezweifelbares Faktum ist“ (Preis. 20; 270). Dieses viel erörterte Ergebnis seiner, auf das sich seiner selbst bewusste Ich konzentrierten Überlegungen konnte kein richtiges sein: Contra factum non valent argumenta - das unerforschte Problem war zu einem unerklärlichen geworden. Die scheinbare Unmöglichkeit forderte, unabhängig von den Unsicherheiten und Schwierigkeiten der Selbstanschauung, eine Korrektur oder Aufhebung, nicht nur als Einzelergebnis, sondern grundsätzlich; denn über die Unerforschlichkeit des Menschen und den klassischen Subjekt- Objekt-Dualismus hinaus sind theoretische Unmöglichkeit und unbezweifelbare Wirklichkeit als Zuspitzung und Grenzfall des Dualismus von Denken und Sein anzusehen und betrafen darum die für Kant charakteristischen dualistischen Setzungen und Konstruktionen überhaupt: Er war auf der Entdeckungsreise zur Erforschung seiner selbst (Anthr. 7; 134) an einen Punkt gelangt, der eine Revision, einen neuen An- und Einsatz notwendig machte und dessen Folgen in der MS sowie grundsätzlich in der Einheit der Erfahrung sichtbar werden. Das für Kant zunächst unmöglich zu erklärende, unbezweifelbare Faktum ist ein wichtiger Schritt auf eine höchste Stufe zu; zugleich charakterisiert Kants Beschreibung dieses Faktums seinen Sprachgebrauch und seine Wortwahl, 258 die unter den Gesichtspunkten des Extremen, Superlativischen, Paradoxen, Aporetischen und Apodiktischen im Großen und Ganzen wenig erforscht zu sein scheinen und weitere Aufschlüsse 257 Vgl. E. Metzke in: Johann Georg Hamann. Hg. v. R. Wild. Darmstadt 1978. S. 239ff. 258 Vgl. z. B. Markis. - Vgl. Kainz Klassik. <?page no="137"?> 129 über seine Sprachauffassung und Denkweise geben können; denn er erprobte und erreichte nicht nur theoretisch, sondern auch sprachlich gelegentlich die Grenzen des Möglichen bzw. Unmöglichen, eines scharf formulierten Widerspruchs sowie des nicht nur scheinbar, sondern für den kritischen Philosophen und Erkenntnistheoretiker schlechterdings unmöglich zu Erklärenden. Der weitere Weg zu einer höchsten Stufe war nicht neu, sondern, als Ergebnis strengen Nachdenkens, so alt wie die Philosophie, Kant lange bekannt und darum mit einem Rückgriff auf das im 18. Jahrhundert noch traditionelle, humanistische Bildungsgut seinen Hörern nahe zu bringen und ans Herz zu legen. 6. 2. Erkenne dich selbst Den Satiren (I,7) des jung verstorbenen Aulus Persius, eines Zeitgenossen Neros, entstammt ein Vers, den Kant erstmals in den Bemerkungen notiert (20; 6) und dann insgesamt neun Mal, als zweithäufigste Eintragung, seinen Studenten ins Stammbuch geschrieben hat: „Quod petis in te est - Ne te quaesiveris extra.“ (12; 416.) Dieses, leicht abgewandelte Zitat (vgl. 13; 583) hat er bereits im Jahre 1777, während der Arbeit an der KrV, und noch 1795, dem letzten Jahre seiner Vorlesungstätigkeit, Studenten mit auf den Lebensweg gegeben, also fast über die ganze Zeitspanne als Ordinarius hinweg - frühere und spätere Eintragungen sind natürlich möglich; er hatte damit in einer an seine Studenten gewendeten Selbstanrede de facto den Schlüssel zum Verständnis des Menschen und zur Orientierung in der Welt ins Innere gelegt, das Außen ausdrücklich, tautologisch ausschließend. Junge Menschen als bewusst oder unbewusst Suchende ansprechend, hatte er ihnen einen anspruchsvollen, unbürgerlichen, Außen und Innen, Theorie und Praxis verbindenden Gedanken zur Bearbeitung und Aneignung ein- und aufgetragen, nicht als ein damals noch geflügeltes Wort und Bildungsgut oder als Quintessenz einer schönen Theorie aus einer fernen Vergangenheit, sondern auf Grund seiner Lebenserfahrung. Der Philosophieprofessor zitierte keinen Philosophen, er wählte eine zwar klassische, auf den ersten Blick zumindest für junge Menschen aber ein wenig befremdliche Formulierung - nicht aus der Bibel oder von einem Christen, sei es aus der Spätantike oder dem Mittelalter, dem Humanismus oder Barock; denn von Augustinus über Montaigne bis zu Pascal und den Pietisten gibt es zahlreiche, zitierfähige und -würdige Sätze, die auf das innere Reich weisen. Kant wählte auch keine ursprungsnahe griechische Sentenz, von Heraklit bis Mark Aurel, sondern die eines römischen Dichters - einer zeitlosen Unterströmung gemäß, geeignet für ein Stammbuch, ernst gemeint, wie die häufigen Eintragungen zeigen, doch unbequem: Jeder Mensch kann außen nur das sehen, wozu er auch in sich eine <?page no="138"?> 130 Entsprechung sucht. Poetisch prägnant ist ein Weg bezeichnet, der der von Hinz und Kunz gewählten Heerestrasse entgegengesetzt ist. Für den angehenden Kritiker der Vernunft war dies eine erstaunliche, zum Universitäts- Alltag und der KrV gleichsam gegenläufige Empfehlung, die, als Aufforderung, sich des inneren Reiches bewusst zu werden und dies als lebensentscheidend zu begreifen, in ihrer Konkretheit schon im Jahre 1777 dem damals noch nicht zu ahnenden, synthetischen Hauptwerk näher war als der seinerzeit bereits überfälligen KrV in ihrer ebenso anspruchsvollen, grundsätzlichen, aber analytischen Allgemeinheit; so war dieser poetische Rat ein vorausweisendes, praktisches Ergebnis der theoretischen, methodischen Suche nach dem, was, allgemeingültig traktiert, endlosen metaphysischen Streitigkeiten zu einem erkenntnistheoretisch überzeugenden Ende verhelfen sollte… Kants Stammbuch-Eintragung ist Zeichen einer inneren Emigration, Antwort auf die Gesellschaft, in der er lebte und an der er litt, und zugleich eine, sich während der erkenntnistheoretisch-analytischen Versenkung in die Natur der Vernunft, ihre Leistungen, deren Voraussetzungen und Grenzen, anbahnende Wende nach Innen, ins eigene Ich, konzentriert auf das Persönlichste, das ein sich Suchendes ist: Auch innerhalb einer theoretischabstrakten Untersuchung kann sich das schreibenden Subjekt nicht ganz ausweichen - von sich selbst kann der Mensch nur in besonderen Zusammenhängen oder gewaltsam längere Zeit schweigen; mit dem Persius-Zitat war die irrtümliche, „selten kommentierte“ 259 Absichtserklärung De nobis ipsis silemus aus der Widmung der KrV (B II), für die der zitierte Wissenschaftspolitiker Francis Bacon ganz andere, sehr private Gründe hatte als Kant, sachlich als unzureichend und ergänzungsbedürftig im Voraus verabschiedet - ungewollt und indirekt; diese subtile, unauffällige Inkonsequenz scheint noch nicht bemerkt worden zu sein. Für Kants antithetisches Denken ist bezeichnend, dass er bei einer theoretisch-allgemeinen Arbeit zugleich die praktisch-konkrete Frage nach sich selbst bedachte. In Kants Philosophie ist von diesem Blick in das eigene Innere lange nur wenig zu bemerken; ein summarisches Ich bzw. Ich bin ist als Überschrift im Op dokumentiert (22; 115; vgl. 89-98), aber es ist nur angedeutet, wie Kant sich eine Ausführung vorgestellt haben mag über seine theoretisch-abstrakten Überlegungen zwischen Descartes und Fichte sowie über die praktisch-konkreten der MS hinaus. Der verschlungene, steinige Weg zu diesem Ich, diesem sich ändernden, geistig-seelisch-körperlichen Endpunkt des Philosophierens ist vielfältig in Kants Werken und Aufzeichnungen zu verfolgen im Ringen um hinreichende Klarheit über das vielfarbige Ich sowie das Bewusstsein (überhaupt). Es sei hier nur ein Beispiel im Blick auf das Op herausgegriffen, das unpersönliche, allgemeine, logische Ich denke, das „alle meine Vorstellungen begleiten können“ muss (B 131). Gewiss ist Kants transzendentales Subjekt eine an Inhalt gänzlich leere Vorstel- 259 Höffe Kritik S. 28. <?page no="139"?> 131 lung (A 345f.), 260 doch wird - über die KrV hinaus - strenges, kritisches Denken bei dieser Konstruktion einer vorletzten Stufe der Transzendentalphilosophie nicht halt machen; eine aporetische Zuspitzung wie im zweifachen Ich der Preisschrift war zu erwarten, Kants Tendenzen zum Theoretisch- Abstrakten wie zum Praktisch-Konkreten gemäß. Trotz der Einschränkungen, die sich aus der Abfolge der Werke Kants sowie aus der faktischen Unterordnung des praktischen Weges ins eigene Innere unter den theoretischen Weg ins abstrakte, fremde Allgemeine ergeben, hatte er mit dem Persius-Zitat im Lichte der Grundlegung einer transzendentalen Anthropologie in der KrV die sachlich folgerichtige Ergänzung des Allgemeinen durch das Besondere bereits im Blick und damit auf die Mehrdimensionalität seiner Hauptfrage hingewiesen - Lücken eingeschlossen. Es war eine Frage der Zeit und Gelegenheit, wann er die innere, persönliche Dimension des Menschseins aufgreifen würde, wann die Ergebnisse des Meditierens, das alles Lesen und Lernen begleiten muss, auch die Entdeckungen im eigenen Busen betreffen würden; dabei musste sich zeigen, wie stark dieser klassische, programmatische Weg von Außen nach Innen durch die abgründige Tiefe des Herzens sowie individuell verschiedene Dunkelheiten erschwert wird, die jedoch anzunehmen und zu bearbeiten sind, wenn dieser Selbstfindungs- und Menschwerdungsprozess nicht abgebrochen werden soll. Im Rückblick von der Einheit der Erfahrung aus steht das Quod petis zeichenhaft für den Weg zu dieser Einheit - der Weg der KrV kennzeichnet theoretische Voraussetzungen dieses inneren Prozesses und die Vergewisserung einer näherungsweisen Erreichbarkeit des Zieles: Beide Wege, von Kant zunächst getrennt verfolgt, führten innerhalb seines Denkens zum Zusammenstoß des zweifachen, des logischen mit dem psychologischen Ich in der Preisschrift - die Synthese, die Einheit beider musste er sich philosophischsystematisch erarbeiten, eine zugleich konkrete Aufgabe, deren Ausmaß und Ergebnis umrisshaft im Pflichtgebot der Selbsterkenntnis deutlich wird; denn es ergab sich natürlich die Frage, wie es zu der Unerklärbarkeit eines unbezweifelbaren Faktums kommen konnte, welches die Gründe für Folgerungen sind, die so, wie sie Kant gezogen hatte, nicht richtig sein konnten, und wie die Dunkelheit, die in diese Aporie geführt hatte, aufzuhellen sei; es war eine Frage der Zeit und der Strenge, ob, wieweit und wie gründlich Kant das Persius-Zitat ernst nehmen und befolgen würde. Begleitet und allmählich klarer geleitet von seiner, selten im Vordergrund stehenden Hauptfrage, hat sie bewirkt, wie das Persius-Zitat zeigt, dass er, sich auf diesem abseitigen, folgerichtigen Weg irgendwann selbst als Frage entdeckend, mit dem Mut des Selbstdenkens in sich suchen musste, wonach er forschte, zumal er, älter und schwächer werdend, einerseits von der Natur nachdrücklich aufgefordert, andererseits, über Persius hinaus, 260 Vgl. Höffe a. a. O. S. 143. <?page no="140"?> 132 durch Hamann dazu fast gedrängt wurde. Es war also nicht überraschend, dass Kant von Höllenfahrt schrieb und zugleich von Vergötterung - wie lange, wie weit und erfolgreich oder weise er diesen Weg gehen würde, war offen, wesentliches ist aus seiner Spätphilosophie sowie aus den Bruchstücken und Berichten, das Hauptwerk betreffend, zu erschließen. Auf die Frage nach dem Menschen hatte Kant mit dem Persius-Zitat einen Antwort-Hinweis gegeben, der zwar als philosophischer gelten kann, aber kaum als wissenschaftlicher - Selbsterforschung wird nicht ganz ernst genommen, ihre Methode und Prüfung sind problematisch: Ein Pfad wird gefordert, der überwachsen ist, in Abgründe führt und schließlich zu einer herkulischen Arbeit und Höllenfahrt wird. Diese Richtungs- und Forschungsaufgabe zeigt, vor der Aufklärungs-Schrift, Kants Abstand nicht nur zum Positivismus, sondern auch zum Wissenschafts-Optimismus; Kant hatte damit die Universitäts-Philosophie thematisch bereichert, die Kritik konstruktiv umsetzend, dass Philosophie eine bloße Idee einer möglichen Wissenschaft sei, die nirgends gegeben ist; die höchste Stufe kündigte sich an... Quod petis ist eine Umformulierung des Erkenne dich selbst, das, einem der sieben Weisen zugeschrieben 261 , als Inschrift des Apollontempels in Delphi seit alters berühmt ist und zu einem kritischen Blick in das eigene Ich auffordert, der in einer herkulischen Arbeit zu einer Herzensänderung und Revolution in der Gesinnung führen soll. Kant konnte die im 17. und 18. Jahrhundert oft berufene Tempelinschrift angesichts seiner Hauptfrage und der damit verbundenen Entdeckungsreise zur Erforschung seiner selbst kaum umgehen, 262 offen war, wann und wie er die Selbstanalyse aufgreifen und sie argumentativ umsetzen würde - ob außerhalb oder innerhalb der Grenzen seines werdenden und wachsenden Systems: Die Einheit der Erfahrung schließt den Weg ins Innere, das Andere der Vernunft und Abgründe unumgänglich ein. Die Schritte und Spuren dieser Entdeckungsreise können hier nicht nachgezeichnet werden, zitiert sind die Dosis Torheit, die jeder Mensch - auch Kant - besitzt, und die Eigen- oder Selbstliebe, die, als Prinzip aller unserer Maximen angenommen, die Quelle alles Bösen ist, wie Kant im Anschluss an den ersten Johannes-Brief (2,16) Superbia - Hochmut umschreibt. Diese als „natürlicher Hang des Menschen zum Bösen“ (Rel. 6; 29) charakterisierte, Eitelkeit, Geld- und Machtgier, Neid und Hass zusammenfassende, überaus aktive Gegenkraft in Geschichte und Gesellschaft wirkt in der unglücklichen Fähigkeit‚ sündigen zu können - fast tabuisiert, lebensfeindlich, aber entscheidend für Kants Menschen- und Weltbild sowie für die sich ergebenden Folgerungen; das Böse im eigenen Busen ist kein bloßes Bekenntnis wie bei 261 Thales von Milet oder Chilon von Lakedämon; - vgl. Lesebuch zur Ethik S. 68. 262 Für das 17. Jahrhundert vgl. V. Weigel Erkenne dich selbst. - Es gab viele Werke mit ähnlichen Titeln; vgl. Haas Sermo mysticus. - Für Kant sei an die von Karl Philipp Moritz hg. Zeitschrift mit der griechischen Tempelinschrift als Titel erinnert. <?page no="141"?> 133 Rousseau: Während der Hang zum Bösen allgemein gilt und unterdrückt oder verschwiegen wird - von Kant mit der Zumutung der Selbstbesserung beantwortet -, hatte er mit seinem Bekenntnis den Willen bekundet, mit seinem Leben seiner Lehre, seinem Philosophieverständnis zu entsprechen. Er stellte die Ergebnisse dieses Ganges ins Innere, die Aufgaben des Menschen und der Philosophie vor in einem Werk mit dem jetzt altmodischen, abschreckenden Titel (G 4; 391) Die Metaphysik der Sitten. Im zweiten Teil Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre findet sich Kants strengste Konkretion seiner Überzeugung - kaum beachtet oder ernst genommen, allenfalls als Theorie erwähnt, obwohl, typographisch hervorgehoben, eindeutig und klar formuliert: „Das erste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst: Erkenne dich selbst“. Nachdem der Begriff von einem Zweck, der zugleich Pflicht ist (6; 382), ethische Pflichten (390ff.), die Tugend überhaupt (405) und die Pflichten gegen sich selbst (415ff.) kurz dargestellt sind, lautet eine Überschrift in der Ethischen Elementarlehre: Von dem ersten Gebot aller Pflichten gegen sich selbst. „Dieses ist: Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst“ (441). Die als zeitlos gültige Wahrheit für den Menschen bzw. für die Menschwerdung des Homo humanus betonte, grundsätzliche Bedeutung eines altbekannten Imperativs hat indes - von Ausnahmen, vor allem in der Kunst, abgesehen - weder in der historischen oder systematischen philosophischen Forschung noch in der Kantforschung 263 und auch nicht anderweitig eine größere Wirkung gehabt oder mehr als beiläufige Beachtung gefunden - trotz ihrer erstrangigen Tradition 264 , für die an Ödipus, Heraklit, Sokrates-Platon, Plotin, Augustinus, Bernhard von Clairvaux, Calvin und Pascal erinnert sei. Kant erläutert: „Erkenne dich selbst nach deiner moralischen [Vollkommenheit; Rh.] in Beziehung auf deine Pflicht - dein Herz, - ob es gut oder böse sei, ob die Quelle deiner Handlungen lauter oder unlauter, und was entweder als ursprünglich zur Substanz des Menschen gehörend, oder als abgeleitet (erworben oder zugezogen) ihm selbst zugerechnet werden kann und zum moralischen Zustande gehören mag. Das moralische Selbsterkenntnis, das in die schwerer zu ergründenden Tiefen (Abgrund) des Herzen zu dringen verlangt, ist aller menschlichen Weisheit Anfang. Denn die letztere, welche in der Zusammenstimmung des Willens eines Wesens zum Endzweck besteht, bedarf beim Menschen zu allererst die Wegräumung der inneren Hindernisse (eines bösen in ihm genistelten Willens) und dann die Entwicklung der nie verlierbaren ursprünglichen Anlage eines guten Willens in ihm […] (nur die Höllenfahrt des Selbsterkenntnisses bahnt den Weg zur Vergötterung).“ (MS 6; 441.) 263 Rischmüller beachtet in der Einleitung zur Neuausgabe der Bem. zu den Beob. z. B. die MS nicht, sie kritisiert einen „voyeuristischen Blick“, Kant eine „tiefverwurzelte Aversion gegen seelensezierende Introspektion“ unterstellend, obwohl sie selbst von den „Verästelungen der Kantischen Assoziationen“, von der „Vielfalt der Verbindungslinien“ in Kants Werk schreibt sowie davon, dass es Kant „mit Rousseau zur Erforschung und Beobachtung der Natur des Menschen“ treibt. S. XII-XV. 264 Vgl. A. M. Haas Nim din selbes war. Freiburg/ Schweiz 1971. <?page no="142"?> 134 Diese Pflicht ist eine spezifisch menschliche, persönliche, sie kann als solche nicht in den Grenzen des Wissenschaftlichen liegen 265 - ihre in der Psychologie gleichsam festgeschriebene Unwissenschaftlichkeit kann ihre Unverzichtbarkeit nicht aufheben, so wenig wie Liebe und Treue durch ihre Unbeweisbarkeit unsinnig werden - im Gegenteil: Ihre existenzielle Bedeutung hat Kleist verdeutlicht. Kant konkretisiert Selbsterkenntnis und -aufklärung auf Grund seiner Erfahrung, offenbar die Kenntnis seiner Religionsschrift voraussetzend: Zuerst sei das eigene Böse, der Balken im eigenen Auge wahrzunehmen und zu bearbeiten mit dem Willen, die „Verderbtheit (corruptio) des menschlichen Herzens“ (6; 30) in sich zu überwinden, um die nie verlierbare ursprüngliche Anlage eines guten Willens zu entwickeln, sich in einer Höllenfahrt ermöglichend, ein neuer Mensch zu werden (6; 163) in einem durch Selbsterkenntnis bewirkten Gesinnungswandel als Voraussetzung einer Vergötterung. Die dem vorausgehende Umkehr ist, anders als die prozesshafte Höllenfahrt, analog zur Revolution der Denkart, ereignishaft, ähnlich dem Erlebnis Hamanns in London und dem des Paulus in Damaskus. Erst so ist eine Annäherung an das Ziel, weise zu werden, möglich, wie Kant mit seiner Lehre vom sittlichen Verhalten des Menschen als Endzweck der Schöpfung erläutert (vgl. Vr. 7; 418). Von Fremdaufklärung, vom Splitter im Auge des Anderen fällt kein Wort. Kants Forderung der Existenzerhellung ist nicht theoretisch-allgemein wie ihre modernen Rudimente, sondern für alle Menschen guten Willens verständlich und nachvollziehbar: Der Homo colens wird erneut zum Mut, sich seines Verstandes zu bedienen, aufgefordert, diesmal zum strengen Nachdenken über sich selbst, über die eigenen Schwächen und Fehler und damit zur Selbstbesserung, zur Arbeit im eigenen Fleische, nicht in einem Appell, sondern in einem Vernunft-Gebot, dem ersten aller Pflichten gegen sich selbst - es wird, soweit zu überblicken, in keiner Kant-Darstellung deutlich, geschweige denn in seiner Bedeutung dargestellt. Das kann nicht daran liegen, dass sich Kant, wie so oft, auch hier recht knapp ausdrückt - er deutet Verflechtungen an, die nicht greifbar werden. Ohne auf weitere, nicht unwichtige Einzelheiten eingehen zu können - so die „Substanz des Menschen“, die Unterscheidung zwischen erworbenen oder zugezogenen Eigenschaften -, sei auf Kants Abwandlung des damals allgemein bekannten Initium sapientiae timor Domini (Ps 111, 10) hingewiesen, die ein Licht werfen kann auf das Wort, mit dem der zitierte Absatz schließt: Vergötterung; es klingt unkantisch, ist aber auch, mit einer Nennung Hamanns, im Streit der Fakultäten zu finden, im Kontext eines kritischen Sekten-Vergleichs, und als Vorschrift der Vernunft, sich um einen 265 „Ist die Selbsterkenntnis nicht […] das Feld der größten Täuschungen, weil wir hier am befangensten sind? Wir sind so sehr an unserem eigenen Sein engagiert, dass wir [...] unser Bild von uns beeinflussen, es liebenswert beschönigend und idealisierend oder destruktiv verunglimpfend.“ W. Keller Dasein und Freiheit. Bern; München 1974. S. 122. - K. konkretisiert die herkulische Arbeit und Höllenfahrt. <?page no="143"?> 135 moralisch-guten Lebenswandel zu bemühen (7; 55), der kantschen Philosophie anverwandelt; so ist die für Kant unwahrscheinliche Übernahme einer plotinisch-neuplatonischen Vergottung des Menschen im engeren Sinn auszuschließen. Gegenüber Hamanns Verständnis des Offenbarungsglaubens hatte Kant weiter Vorbehalte, obwohl nach dem Tode des Magus des Nordens ihre Glaubensunterschiede, die ohnehin nicht überbewertet werden sollten, geringer geworden sind; so hat sich Kant in der MS den Sinn des von ihm hier nicht, wie im Streit der Fakultäten, als von Hamann stammend gekennzeichneten Satzes zu eigen gemacht, während er ihn im Streit als Vernunft-Vorschrift angeführt hat. Diskussionslos und in einem positiven, seine eigenen Ausführungen verdeutlichenden und abschließenden Sinn übernimmt Kant den ungewöhnlichen Begriff Vergötterung, dessen für ihn annehmbare Bedeutung sich aus der Gedankenwelt Hamanns erschließen lassen kann, der mit Selbsterkenntnis, Höllenfahrt und Vergottung Vorstellungen der deutschen Mystik aufgegriffen hatte 266 ; eine Verbindung dieser drei Begriffe findet sich in einem klassischen Traktat aus dem 14. Jahrhundert, auf den sich der Zöllner wahrscheinlich stützte, in der von Luther zweimal herausgegebenen Theologia Deutsch eines anonymen Franckforters, die eine „große Verbreitung gefunden“ hatte 267 und in der ausdrücklich von einer „möglichen Vergottung des Menschen aufgrund eines radikal christologischen Prinzips“, „aus reiner Gnade“ 268 gehandelt wird. Als Annäherung an Gott im Sinne des Strebens nach Weisheit verstanden, ist auch die Abwandlung des Psalms als Anverwandlung, als eine dem Kontext gemäße Umformulierung zu lesen; denn in der moralischen Selbsterkenntnis als Höllenfahrt, die damals ebenfalls aus den Psalmen bekannt war, ist negativ, mit einem Blick in den Abgrund und die Tiefen des Herzens beschrieben, was Timor Domini mit einem Aufblick, als Anfang einer Annäherung, positiv-dynamisch meint. Es ist unklar, ob Kant, der sich auch mit der Mystik, mit Swedenborg und dem Pietismus auseinandergesetzt hat 269 , diesen Traktat aus eigener Lektüre kannte oder etwa durch den lesehungrigen Zöllner. Schon im Neuerdings erhobenen vornehmen Ton hatte Kant Selbsterkenntnis als herkulische Arbeit bezeichnet (8; 390) und mit der Summe der Moralität in mir, die, obgleich übersinnlich, mithin nicht empirisch, dennoch mit unverkennbarer Wahrheit und Autorität gegeben sei (8; 397 Anm.), auch hier auf Folgerungen aus seinem Verständnis des Menschen und der Moral hingewiesen; dafür erschien ihm offenbar der Weg zur Vergötterung als angemessener Ausdruck, zumal in der Verbindung mit Höllenfahrt, die so ein Gegengewicht und po- 266 Vgl. A. M. Haas Nim din selbes war. S. 94. 267 Haas in: Theologia Deutsch. Hg. v. A. M. Haas. Einsiedeln 1980. S. 14; vgl. S. 51; 55ff. 268 A. a. O. S. 17; S. 15. 269 Eine strenge „Dissoziation zwischen Philosophie und Mystik“ dürfte ohnehin nur gewaltsam möglich sein; vgl. Haas in: Sermo mysticus S. 13 Anm. 5. <?page no="144"?> 136 sitives Ziel erhält, wie auch umgekehrt der Weg der Vergötterung mit dieser Voraussetzung nicht prometheisch misszuverstehen war, sondern mit der Selbsterkenntnis als dem Anfang der Weisheit die Aufgabe nennt, Gott und Welt zu verknüpfen. Kant verbindet dabei erläuternd Griechisches und Christliches. Kants Annäherung an seinen, im katholisch-ökumenischen Kreis der preußischen Generalstochter und Konvertitin, der Gräfin Gallitzin verstorbenen Freund und damit an gelebtes Christentum ist Zeichen und Ergebnis strengen Philosophierens. Kant verstand das Christentum im Wesentlichen nicht als konfessionell gebundenes, in den Kirchen institutionell gefasstes Dogmen-Gerüst, sondern überkonfessionell als Glauben und Vernunft verbindend, dessen elementare Positionen er längst kämpferisch, teilweise radikal verkürzt, anders als Hamann und dessen große Freundin, vertreten hatte. Kants Fortschreiten zeigt sich auch darin, dass er sein eigenwilliges, uneigentliches Verständnis der Selbsterkenntnis aufgab; er hatte in den Träumen eines Geistersehers das Nosce te ipsum umgedeutet und traditionswidrig auf eine erkenntniskritische Funktion beschränkt, ihre „stiptische Kraft“ darin sehend, die Schmetterlingsflügel der Metaphysik zusammenzuziehen (2; 368), wie er sich in einem unschönen, unpassenden Bild ausdrückte, auf die Schmetterlingssymbolik anspielend, deren Spuren in Mythologie und Poesie ihm offenbar fremd geblieben waren. In der KrV war diese metaphysikkritische Aufgabe zu einem Teil der Selbsterkenntnis der Vernunft (A XI; vgl. Lo. 9; 14) geworden in Formulierungen, die sich in der zweiten Auflage nicht mehr finden, obwohl das Problematische geblieben war: Die „Vernunft legt sich immanent selbst aus“ 270 - ein Vorgang, den Kant bereits grundsätzlich, jede Erkenntnis begrenzend, kritisiert hatte, was er hier überging: Alles Wissen ist Stückwerk… Kant hat die besondere Bedeutung der Selbsterkenntnis klar umrissen und mit dem Begriff Vergötterung einen metaphysischen Zusammenhang angedeutet, den er in der knapp gehaltenen Tugendlehre nicht ausgeführt hat - vielleicht schon im Blick auf das Hauptwerk; wie aus dem Op zu erkennen ist, wäre darin wohl einiges zu diesem, auf die Anthropologia transzendentalis verweisenden Begriff zu lesen gewesen. Die Abkehr von der äußeren Welt und die Einkehr bei sich selbst führen folgerichtig nicht nur zur Erkenntnis eigener Schwächen und Fehler, sondern vor Abgründe, in die zu sehen und deren Dasein anzunehmen eine Voraussetzung der Umkehr, eines Aufstiegs ist; denn der Unmäßige kehrt zur „Mäßigkeit um der Gesundheit,“ „der Ungerechte zur bürgerlichen Ehrlichkeit um der Ruhe“ willen zurück. „Dass aber jemand nicht bloß ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch“ werde, „muss durch eine Revolution in der Gesinnung“ bewirkt werden; er kann „ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt“ „(Ev. Joh. III, 5; verglichen mit 1. Mose I, 2) und Änderung des Herzens werden.“ (Rel. 6; 47.) 270 A. Pieper Sprachanalytische Ethik und praktische Freiheit. Stuttgart u. a. 1973. S. 111. <?page no="145"?> 137 Damit hat sich Kant der christlichen Tradition angeschlossen, in der die Umkehr, die Metanoia ein Zentralbegriff ist 271 , und sie philosophisch begründet; der Erkenntnistheoretiker fordert nicht mehr zuerst Aufklärung oder Gerechtigkeit, sondern die Erforschung seiner selbst. Die Erkenntnis der eigenen Schwächen, Fehler, Irrtümer und Abgründe - in deren Tiefe als besondere, exemplarische Aufgabe oft die Eltern warten, wie z. B. bei Ödipus, J. Chr. Günther, K. Ph. Moritz, Th. Bernhard, G. Wohmann, I. Bergman und E. Jelinek - ist das entscheidende Gebot, zugleich Anfang aller menschlichen Weisheit, auf die er bereits in der KrV verweist: „echte[n] [...] Philosophie [...] bezieht alles auf Weisheit“ (A 850). Kants kritische Arbeit ist also von Anfang an auf Weisheit zu beziehen, die zwar im 18. Jahrhundert theoretisch noch ein unbezweifeltes, konventionelles Ideal 272 war, doch hat er mit diesem Ziel als höchstem Wert seines Philosophierens die Grenzen der akademischen Philosophie überschritten im Blick auf die nirgends konkret existierende, echte Philosophie. Es ist darum etwas erstaunlich, dass er offenbar voraussetzte, es sei ohne Erläuterung klar, was er mit Weisheit meine. Unmittelbar vor dem zitierten Satz hatte er jedoch geschrieben, über das übliche Verständnis der angefochtenen Philosophie und damit der Weisheit hinausgehend, dass Metaphysik, sowohl der Natur, als der Sitten, eigentlich allein dasjenige ausmache, was wir im echten Verstande Philosophie nennen können. Kant folgerte, sich in einer auch metaphysikfeindlichen, materialistischen Zeit zu seiner Liebe bekennend: „Metaphysik [ist] die Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft, die unentbehrlich ist“ (A 850f.). Das kann nur heißen, dass die Vollendung aller Kultur schließlich auf Weisheit zu beziehen sei und zur Weisheit führen werde - in einem Narrenspital ein so utopisches Ziel, dass der Hinweis auf dessen Idealität, den er in der transzendentalen Dialektik gegeben hat, ausreichend schien: „Tugend und, mit ihr, menschliche Weisheit in ihrer ganzen Reinigkeit, sind Ideen. [...] wir haben kein anderes Richtmaß unserer Handlungen, als das Verhalten dieses göttlichen Menschen in uns, womit wir uns vergleichen, beurteilen, und dadurch uns bessern, obgleich es niemals erreichen können.“ (A 569.) Dieses ideale Richtmaß, zu dem es kein anderes gibt, ist anwendbar, wie Stoiker und Christen gezeigt haben, obwohl der Unterschied beider sehr sicht-bar (KpV 5; 127) ist: Daran sind Aufgaben und Taten sowohl im Ganzen als auch im Einzelnen zu messen; folglich sind Hindernisse zu beseitigen, ist das Moralisch-Gesetzwidrige auszurotten; die Vernunft, die das lehrt und ins Werk richtet, verdient allein den Namen Weisheit (Rel. 6; 58). Da Philosophie die Idee 271 H. Pohlmann Die METANOIA als Zentralbegriff… Leipzig 1938. - R. Oberforcher Umkehr. Innsbruck; Wien 1982. 272 W. Schneiders in: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung S. 61. <?page no="146"?> 138 einer vollkommenen Weisheit ist, die uns die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft zeigt, ist sie eine Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs „unserer Vernunft [zu] nennen […]. [Sie] ist ja die Wissenschaft der Beziehung alles Erkenntnisses und Vernunftgebrauchs auf den Endzweck der menschlichen Vernunft, dem, als dem obersten, alle andern Zwecke subordiniert sind und [die; Rh.] sich in ihm zur Einheit vereinigen müssen.“ (Lo. 9; 24.) Wenig später hat Kant lapidar eine Konsequenz dieses heute befremdlich anmutenden Ergebnisses seiner Lebensarbeit genannt: Wissenschaft hat „einen innern, wahren Wert nur als Organ der Weisheit.“ (Lo. 9; 26) Der instrumentelle Charakter der Wissenschaft ist nicht wissenschaftsfeindlich zu verstehen (vgl. A 850; Pro. 4; 258 Anm.) 273 , sondern menschenfreundlich, human nicht pluralistisch, sondern verpflichtend: Der Mensch ist nicht Mittel, sondern Endzweck - Kant als Rufer in der Wüste... In der Logikvorlesung hat Kant seine philologisch etwas großzügig interpretierende, gegenüber dem antiken Verständnis ein wenig einschränkende Auffassung der Philosophie bekräftigt; er formulierte, zunächst an die KpV anschließend sowie dann die besondere Verflechtung von Philosophie, die auf alles geht (Lo. 9; 23), und Weisheit betonend (ebd.), Philosophie „ist die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft. Dieser hohe Begriff gibt der Philosophie Würde, d. i. einen absoluten Wert.“ Damit hatte Kant implizit auf den Vorrang des Tuns verwiesen, die Grenzen der akademischen Philosophie überschreitend, gegen seine und unsere Zeit; er nannte als Beispiel eines Menschen, dessen Verhalten der Idee eines Weisen am nächsten gekommen sei, die Leitgestalt des philosophischen Jahrhunderts und Fleisch gewordene Frage, Sokrates, der dem philosophischen Geist und allen spekulativen Köpfen eine ganz neue praktische Richtung gab (Lo. 9; 29), so zum Ahnherren des Primats der praktischen Vernunft werdend; auch Kants Philosophieverständnis entspricht im Wesentlichen dem des „Genies Platon“ 274 , dessen „intellektuellen Grundintentionen“ aus „Unkenntnis oder Desinteresse“ kaum Gerechtigkeit geschieht 275 . Kant griff mit seinem Weisheits- und Philosophiebegriff eine erstrangige, damals noch bekannte Tradition auf und bekannte sich als Schuldner der Griechen, die nach Weisheit fragten; diese Aufnahme und Wiederbelebung sollte ernst genommen werden - auch auf Grund der bleibenden, besonderen Bedeutung der Frage, was man sein muss, um ein Mensch zu sein (Bem. 20; 41) - vor allem angesichts der modernen Bedrohungen. So lässt sich die Auffassung nicht 273 Vgl. Wittgenstein: Wir „fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ Tractatus logico-philosophicus Satz 6. 52. 274 Vgl. J. Pieper Über den Philosophie-Begriff Platons S. 22f. 275 So Kann mit Whitehead; Kann S. 58. <?page no="147"?> 139 halten, Kants Weisheitsbegriff sei letztlich „inhaltlich unbestimmt“ 276 ; denn das ist einerseits kaum anders möglich, wie ein Blick auf vergleichbare Richtmaße zeigt - die goldene Regel ist inhaltlich ebenso unbestimmt wie das Liebesgebot des Neuen Testaments und der kategorische Imperativ, ohne dass sie unverbindlich oder ungeeignet für den Alltag wären; andererseits hat Kant hinreichend Anhaltspunkte für die Praxis gegeben mit dem Gebot der Selbsterkenntnis als dem Anfang der Weisheit und der Weisheit als Prinzip des Willens der Befolgung moralischer Gesetze. Damit, mit seinem Hinweis auf Sokrates sowie mit seinem eigenen Verhalten hat er verdeutlicht, dass sich sein Weisheitsbegriff keineswegs „als Zielbegriff sowohl dem theoretischen Zugriff als auch den Möglichkeiten der Praxis notwendigerweise entziehen muss.“ 277 Auch Wolfgang Welschs „Konzeption von Weisheit als Denken der Pluralität“ 278 ist problematisch; denn ungeachtet aller kulturellen, historischen und individuellen Pluralität konvergieren ernst zunehmende Weisheitsvorstellungen. In der unantastbaren Würde des Menschen hat Kant ein gut nachvollziehbares, brauchbares Richtmaß unserer Handlungen gegeben - im Sinn eines „Endpunkt[es] philosophischer Denkbemühung“ 279 , zugleich als stets zu erneuerndes Beginnen, immer zum Kampfe gerüstet, im Blick auf ein offenes und gleichwohl konkretes Ziel. Kant hat eine mögliche Philosophie in aller Kürze und Strenge programmatisch verdeutlicht: Philosophie ist, „was schon ihr Name anzeigt: Weisheitsforschung.“ (Vr. 8; 417.) Diese Forschungsaufgabe hat er von der akademischen Philosophie abgegrenzt: Man muss den „Philosophen nicht als Gelehrten, sondern […] als Weisheitsforscher betrachten“. „Es [Er? Rh.] ist die bloße Idee von einer Person, die den Endzweck alles Wissens sich praktisch und (zum Behuf desselben) auch theoretisch zum Gegenstande macht“ (Anthr. 7; 280 Anm.). Mit dem inzwischen fast anachronistischen Begriff Weisheitsforschung ist erneut der Primat der praktischen Vernunft konkretisiert und eine kaum beachtete, nur individuell umsetzbare Methodenlehre verbunden im Sinne der Erforschung der vielen und langen Mühe, die es macht, ein besserer Mensch zu werden (vgl. St. 7; 60 Anm.) auf dem guten (obwohl schmalen) Weg eines beständigen Fortschreitens vom Schlechten zum Bessern (Rel. 6; 48). Der Weg zu diesem, Vernunft und Liebe, Denken und Glauben, Kopf und Herz, Theorie und Praxis, Wissenschaft und Weisheit, Forschung und Menschlichkeit, Griechisches und Christliches verflechtenden Philosophiebegriff ist in Kants Leben und Werk nachzuvollziehen; er konvergiert mit Auffassungen, wie sie, ungeachtet aller kulturellen und individuellen Unterschiede, in Geschichte und Gegenwart zu finden sind. Mit Philosophie als Weisheitsforschung, mit der Zumutung der Selbsterkenntnis und -besserung konnte und kann dieser ganze 276 Wolff-Metternich S. 180. 277 A. a. O. S. 181. 278 Welsch zit. nach: Wolff-Metternich S. 181 Anm. 71. 279 Wolff-Metternich S. 181 Anm. 72. <?page no="148"?> 140 und ganz andere Kant keine Chance haben, die Grenzen dessen, was als altmodisch, unwissenschaftlich, kurz, als irgendwie kurios abgetan wird, zu überschreiten. Herkulische Arbeit 280 auf sich zu nehmen und umzukehren, ein neuer Mensch zu werden, nach Weisheit zu streben, das haben nur Einzelne auf sich genommen - die akademische Philosophie entwickelte sich, auch auf Grund der Erfolge der Natur- und Geschichtswissenschaften, entgegengesetzt: Philosophie als strenge Wissenschaft hieß ihr erklärtes Ziel und so ist Wittgenstein zu verstehen: „Wenn Philosophie mit Weisheit irgend etwas zu tun hat, ist sicherlich nie ein Körnchen davon in Mind“. 281 Das ist im Sinne Platons und Kants - aber allgemeinen gilt: Nach Weisheit fragt niemand (R 1651). Als Kant das notierte, entsprach es einem kritischen Blick in die Zeit sowie die sich abzeichnende Zukunft - die Theorie sah im 18. Jahrhundert noch anders aus. Kant zog aus seiner Analyse philosophische Folgerungen, keine resignierten, an der schlechten Realität orientierten: Er durchdachte den Weg der Vernunft unbeirrt bis zur höchsten Stufe, gegen die Zeit, als kritischer „Theoretiker der Moderne“ 282 ; die von ihm herausgearbeitete Bedeutung dessen, was er im Wort Weisheit zusammenführte, wird im Allgemeinen gar nicht beachtet. Kant beharrte auf der Wahrheit dessen, was dem Menschen und der Philosophie Würde gibt und was gilt, um zu wissen, was man sein muss, um ein Mensch zu sein, obwohl niemand danach fragt und auch dann nicht fragen wird, wie Geschichte und Gegenwart lehren, wenn die Folgerichtigkeit und Notwendigkeit dieses Weges gezeigt und die wichtigsten Schritte genannt werden. Was alle angeht, werden sich immer nur wenige zu eigen machen - so ist wohl Kants Niemand zu verstehen. Kant verwies auf bittere Wahrheit - to the happy few: Selbsterkenntnis umfasst, da sie Alles enthält, nicht nur, dass niemand nach Weisheit fragt, sondern auch, dass nichts Menschliches dem Menschen fremd sein sollte - jeweils cum grano salis; denn Kant vertraute darauf, dass nicht alle der nicht nur bitteren, sondern letztlich befreienden Wahrheit ausweichen werden, befreiend im Sinne der Motti der Universität Freiburg im Breisgau und des alten California Institute of Technology 283 : Die Wahrheit wird euch frei machen (Joh 8, 32), frei von Selbsttäuschungen, vom Schleier des schönen Scheins, mit dem Lügen, Neid und Hass verhüllt werden, frei von Angst und Verzweiflung: Zu allem Wissen, dessen sich der vernünftelnde Mensch „zu seinem Wohlsein bedienen kann, ist das Selbsterkenntnis (nosce te ipsum) ein Gebot der Vernunft, welches Alles enthält: sapere aude sei weise“ (21; 134). Kants Lebensarbeit lässt sich auch so zusammenfassen und als Summe aus seinen Werken, aus der Tradition, aber auch unabhängig davon vernunft- 280 Wolff-Metternich S. 184 bezieht dies auf die hier nicht gemeinte Arbeit am Begriff. 281 An Norman Malcolm, zit. nach: Wuchterl u. Hübner Wittgenstein S. 127. 282 W. Oelmüller Die unbefriedigte Aufklärung. Frankfurt/ M. 1979. S. 106. 283 Am Caltech ist das Motto jetzt beseitigt; s. P. Fischer Licht und Leben. Konstanz 1985. S. 238; S. 23. <?page no="149"?> 141 gemäß erschließen - in einem Bemühen, das dem Kants ähneln wird: Die Wege der Vernunft sind, trotz der nach Hegel zu ihnen gehörenden Umwege, keine beliebigen, obwohl es zahlreiche, oft begangene, beliebte Ab- und Fluchtwege gibt, wovon natürlich auch Kant wusste; er war zu dem Ergebnis gelangt, dass im Vernunftgebot der Selbsterkenntnis Alles enthalten sei, wobei Mut eine Bedingung ist, dies zu verstehen und zu erreichen; er summierte dieses Alles in der altbekannten, von ihm jedoch neu übersetzten Forderung sapere aude sei weise; diese Konklusion hat er vielfach vorbereitet und kurz und kontextabhängig verschieden begründet, weshalb ohne weitere Erläuterungen einsichtig ist, dass er notierte: „Weisheit ist die Eigenschaft der Vollkommensten Vernunft. Weisheit ist der Inbegriff der Zwecke der vollkommensten Vernunft. Der Begriff von ihr stellt ein absolutes Ganzes derselben vor, nicht als Aggregat, sondern als geeignet zu einem System. Transzendentalphilosophie ist diejenige, welche […] auch das höchste physische Wohl der vernünftigen Wesen (durch Weisheit), das größte Heil der Weltwesen […] darstellt“ (21; 131). Daraus folgt als praktische Konsequenz: „Der höchste Standpunkt der Transzendentalphilosophie ist die Weisheitslehre, welche ganz auf das Praktische des Subjekts abzweckt.“ (21; 95.) Das Praktische des Subjekts, sein Seele, Geist und Leib umfassendes Wohl, das Heil des Menschen ist Zweck und Ziel dieser Philosophie, weshalb gilt, was Kant in der Logik und zuvor in der MS geschrieben hat (6; 392): „Der praktische Philosoph, der Lehrer der Weisheit durch Lehre und Beispiel, ist der eigentliche Philosoph.“ (Lo. 9; 24.) Das ist zugleich abgrenzend zu verstehen: „Ein der praktischen Philosophie Kundiger ist […] nicht ein praktischer Philosoph. Der letztere ist“ der, der „sich den Vernunftendzweck zum Grundsatz seiner Handlungen macht, indem er damit zugleich das dazu nötige Wissen verbindet; welches, da es aufs Tun abgezweckt ist, nicht eben bis zu den subtilsten Fäden der Metaphysik ausgesponnen werden muss […]. Denn da kommt es nicht bloß darauf an zu wissen, was zu tun Pflicht ist: sondern […] auf das innere Prinzip des Willens, nämlich dass das Bewusstsein dieser Pflicht zugleich Triebfeder der Handlungen sei, um von dem, der mit seinem Wissen dieses Weisheitsprinzip verknüpft, zu sagen: dass er ein praktischer Philosoph sei.“ Kant hat, die Trennung von Forschung und Lehre begründend, die Praxis zum Kriterium gemacht, wie es in der Musik und im Sport üblich ist. Der praktische Philosoph lebt und lehrt demütig, eingedenk der Grenzen der Vernunft und der Unvollkommenheit des Menschen, dass bei der wahren Weisheit das Herz dem Verstande die Vorschrift gibt (Tr. 2; 372): „Weisheit ist nicht ein Attribut des Menschen[.] Der Weise ist nur ein Einziger. Aber Liebe zur Weisheit, Streben nach ihr“ [bricht ab] (21; 130). „Die Liebe der Weisheit ist das Wenigste, was man besitzen kann; die Weisheit (für den Menschen) das höchste; und daher überschwänglich. […] Die Transzendentalphilosophie [ist; Rh.] das Fortschreiten von dieser zu jener“ (21; 155). „Weisheit aber setzt eine Einige Substanz voraus Gott“ (21; 136). <?page no="150"?> 142 Das entspricht der Philosophia perennis: „Weisheit aber ist das Wissen um das Göttliche […]; denn ohne Glauben gibt es keine Weisheit, kein wissendes Umfassen und Ergreifen des Letzten und Tiefsten, des Ganzen.“ 284 Daraus folgt, dass Kants echte Philosophie, als Liebe zur Weisheit, Streben nach ihr nirgends, d. h. nur ausnahmsweise, konkret existiert - er knüpfte letztlich, ob bewusst oder nicht, an die wahre Philosophie an, die in der Spätantike, einer in manchem dem 18. Jahrhundert vergleichbaren Zeit, in einer ähnlichen Auseinandersetzung mit einer verwirrten Welt, entwickelt worden und für die ebenfalls die zur Tat drängende Liebe entscheidend war, wie immer sie sich zeigen würde, ob in der Liebe zum Nächsten oder im Sterben, im Martyrium; so ist Kants Trennung von Forschung und Lehre realistisch, auch wenn sie im Widerspruch zur Welt steht - eine höchste Stufe im Sinne Kants wird nur wenige interessieren, nur wenige werden sie ersteigen und praktisch, mit ihrem Leben lehren wollen. Die zitierten Sätze und ihre Folgerungen, die als bloße Behauptungen erscheinen können, sind nicht zuletzt aus der, nicht auf das Abendland beschränkten Tradition des Mens sana in corpore sano auch ohne psychosomatische Nachweise zu verstehen; Kants Hinweise, etwa Über die Macht des Gemüts, reichen aus, um die Verflechtung von seelischer, geistiger und leiblicher Gesundheit zu begreifen und zu sehen, dass er sich selbst mehr oder minder erfolgreich bemüht hat, seiner Vorstellung von Weisheit näher zu kommen sowie sein Leben fröhlich zu guten Zwecken zu gebrauchen (an M. v. Herbert; Entwurf; Frühjahr 1792; 11; 334) - das ist das jederzeit fröhliche Herz in der Idee des tugendhaften Epikur (MS 6; 485), das stets fröhliche Herz des Weisen (Anthr. 7; 239). Alles ist von Kant in Stichworten durchaus praxisnah ein wenig aufgefächert, sodass sich aus der Zusammenschau seiner Sätze seine Summe wie seine Strenge begreifen lassen. Der Weg zur Weisheit (KpV 5; 163) ist ein Weg der Wissenschaft - der einzige, der niemals verwächst (A 850). Kant ergänzt: „Wissenschaft (kritisch gesucht und methodisch eingeleitet) ist die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt“ (KpV 5; 163) - das im Op aufgegriffene Lehrziel. Kants Weg - und der von Wissenschaftlern und Philosophen - ist angedeutet, so hat er seine Zweifel und Umkippungen überwunden; diesen Weg als den wichtigsten für den modernen Menschen ansehend, hat er der wachsenden Wissenschaftsgläubigkeit der Neuzeit Rechnung getragen, jedoch Weisheit esoterisch-elitär belastet, über das übliche Verständnis hinaus: Weisheit ohne Wissenschaft sei ein Schattenriss von einer Vollkommenheit, zu der wir nie gelangen werden (Lo. 9; 26) 285 , von der wir aber als Bürger zweier Welten wissen können und sollen: Es ist für den Menschen „Pflicht, sich aus der Rohigkeit seiner Natur […] immer mehr zur Menschheit, durch die er allein fähig ist, sich Zwecke zu setzen, emporzuarbeiten: seine Un- 284 E. Preime in: Solon Dichtungen. München 1940. S. 64. 285 Wolff-Metternich S. 183 erkennt nicht - von ihrem Thema her verständlich -, dass Kant hier Wissenschaft als Voraussetzung des Strebens nach Weisheit meint. <?page no="151"?> 143 wissenheit durch Belehrung zu ergänzen und seine Irrtümer zu verbessern […], um der Menschheit, die in ihm wohnt, würdig zu sein.“ (MS 6; 386.) Wir müssen an der „Entwicklung der moralischen Anlage in uns selbst arbeiten, ob sie zwar selber eine Göttlichkeit eines Ursprungs beweist, der höher ist als alle Vernunft, und daher sie besitzen nicht Verdienst, sondern Gnade ist.“ (St. 7; 43.) Gnade ist selbstverständlich weder an Wissenschaft noch an Weisheit gebunden, sie kann edlen Seelen zuteil werden, deren tätige Liebe (KpV 5; 82), mit oder ohne Abitur oder Studium, die Welt belebt. Kants Weg zur Weisheit gibt damit insgesamt zwar auch theoretisch wichtige Antworten auf die Frage nach dem Menschen, praktisch entscheidend jedoch sind die Folgerungen, die sich für den Alltag ergeben: Wer sich als Bürger zweier Welten begreifen kann, wird in tätiger Liebe demütig hoffen, fröhlich zu guten Zwecken leben zu können - auch der von Kant angesprochene Homo scientificus geht diesen Weg nur selten, da er an besondere Bedingungen und Bindungen gebunden ist: an die Bereitschaft, sich einverständig mit allem, was sich daraus ergibt und dazugehört, dem allein weisen Gott zu nähern... 6. 3. Der Mensch - Gott und Welt verbindend Kant war mit seiner Weisheitslehre weitgehend erfolglos, wie die Wende ins Innere, die Abkehr von einer verkehrten Welt, erwarten lässt; es ist im Op nicht zu sehen, ob er die enge Pforte der Wissenschaft als Voraussetzung für den Weg zur Weisheit unverändert beibehalten hat - sein Hauptwerk wäre davon im Wesentlichen nicht stärker berührt worden: „Transzendentalphilosophie: Erkenntnis des Menschen von sich selbst, der Welt und Gott.“ (21; 157.) Dieses programmatische Ideal einer Summe, in aphoristischer Kürze Alles beschwörend, kann keinen Zweifel lassen an Kants Plan; sein kritischanalytisches Anliegen war folgerichtig zur Selbstkritik, -analyse, -findung und -heilung, zur Weisheitslehre geworden - die Ausführung ist nicht erhalten, die Hauptgedanken sind deutlich: Forschung und Lehre sind auf das konkrete Subjekt gerichtet, das in seiner Individualität Mitte und Ziel, dessen Selbsterkenntnis als Vernunftgebot wichtigstes Thema der Philosophie geworden ist, da damit Alles verflochten ist, Welt und Gott - Fremdaufklärung ist als nachgeordnet mitzudenken und folgerichtig abzuleiten aus der Liebe zur Weisheit, die, der Möglichkeiten und Grenzen des Tuns eingedenk, dem Menschen zu seinem Wohlsein dienen, zu seiner Würde verhelfen soll - in der Zumutung der Selbstbesserung, der Umkehr, ohne die weder die Liebe zum Menschen noch zur Weisheit sinnvoll zu denken ist. Kants Bemühungen lassen sich in zwei traditionsreichen Begriffen aus der beginnenden Bewusstwerdung des Homo sapiens zusammenfassen: Selbsterkenntnis und <?page no="152"?> 144 Weisheit; beide gehören, einander bedingend, zu einer sich selbst erkennenden Vernunft, die sie beide, aus der Geist-Natur folgend, gebietet. Diese moralische, ursprüngliche Anlage (in uns) muss, in ihrer Unbegreiflichkeit eine göttliche Abkunft verkündigend, auf das Gemüt bis zur Begeisterung wirken und es zu den Aufopferungen stärken, die einer Umwandlung der Denkungsart (Rel. 6; 48f.; umgestellt; Rh.) folgen: Mit der göttlichen Abkunft der ursprünglichen sittlichen Anlage hatte Kant die Grenzen der bloßen Vernunft überschritten, seiner Tendenz zur Philosophie, die auf alles geht, gemäß; wie sein Hinweis auf die, zur Pflicht, wohlzutun (MS 6; 402), gehörenden Aufopferungen zeigt, kann der Primat der praktischen Vernunft nicht das private, bürgerliche Glück zum Ziel haben. Auch wenn Weisheit Alles enthält, kann sie, wie ihre Herleitung und Begründung zeigt, nicht Quell der Glückseligkeit sein (Metaph. Mrong. 27; 1521), weil angesichts der Zufälligkeiten des Lebens (Rel. 6; 121) „Glückseligkeit […] nie erreicht werden“ kann (KU 5; 430). Der die Weisheit Liebende hat dieses Ziel demütig hinter sich gelassen, unbeschadet der ihn vernünftigerweise (Rel. 6; 68) zuversichtlich erfüllenden Hoffnung auf ein gutes Ende seines Strebens; denn das Vernunftgebot der Selbsterkenntnis enthält, streng befolgt, mit dem Anfang der Weisheit Alles: eine „positiv gefüllte Qualität des Daseins“ 286 , in der weltliche Glückseligkeit aufgehoben ist, da sich aus dem Streben nach Weisheit ein höheres Ziel ergibt: „Weisheit ist das höchste Vernunftprinzip. Man kann nicht noch weiser werden. Nur das höchste Wesen ist weise“ (21; 38). „Weise zu sein ist mehr, als ein Mensch von sich rühmen kann […] Weisheit ist nur bei Gott“ (21; 120). Da das Streben nach Weisheit höchstes Vernunftprinzip ist und aus dem Vernunftgebot der Selbsterkenntnis folgt, ist damit zugleich eine Annäherung an das höchste Wesen, das allein weise ist, aufgegeben; darum kann die letzte Bestimmung des Menschen nur das Reich Gottes auf Erden sein - Kant zitiert Lukas 17, 21f. (Rel. 6; 136): „>Das Reich Gottes kommt nicht in sichtbarer Gestalt. Man wird auch nicht sagen: siehe, hier oder da ist es. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch! <“ Kant versteht diese letzte Bestimmung nicht mehr nur innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, sondern als Ausfaltung und Umformulierung dessen, wie der Mensch Weisheit und sich selbst zu verstehen hat; als weitere Folge der göttlichen Abkunft der sittlichen Anlage sieht er den Menschen als Gott und Welt verbindend (21; 37) - Gabe und Aufgabe, Würde und weltliche Bürde: Eine theoretische und praktische Aufgabe, bei der die praktische Vernunft den Primat haben muss; denn erst das gelebte Leben, die Praxis eines Menschen, seine Wahrheit, nicht seine Theorien, seine Schauspielerei, Selbsttäuschungen und gute Meinung von sich selbst zeigen, ob er die Gabe und Aufgabe seiner sittlichen Anlage in der Tiefe be- und ergriffen hat - Kant hat diese sokratisch-platonische Erkenntnis wiedergewonnen und, den Zeichen 286 Himmelmann S. 176. <?page no="153"?> 145 der Zeit gemäß, mit seinem Leben und seiner Lehre weitergegeben. Es war zu erwarten, dass eine derartige Philosophie mit ihren Ansprüchen, Geboten und Zumutungen keinen besonderen Widerhall finden würde. Sein Chef d’oeuvre hätte, zumal im Schatten Napoleons, kaum eine größere, praktische Wirkung gehabt als seine oft zitieren Sätze - der bestirnte Himmel und der kategorische Imperativ - ohnehin hatten. Die Aussagen des Hauptwerkes werden wohl toleriert oder nach allen Regeln der Kunst medien- und marktgerecht ausgeschlachtet, ansonsten werden sie einfach übergangen; ihre in der abendländischen Tradition liegenden Ideen werden weiter wirken, da sie so oder anders zu erschließen und erfahren waren und noch immer sind. Weisheit braucht und hat Zeit… 6. 4. Also ist ein Gott Hasse schreibt, dass Kant am 15. Juni 1802 berichtete, dass er den Morgen „viel über den Begriff Gott gedacht und geschrieben hätte; es sei ihm aber sehr schwer geworden. Das leitete er aber nicht von einer Schwäche seiner Denkkraft, sondern von der Schwierigkeit des Gegenstandes selbst her.“ (26f.) Wie immer es an diesem Tage mit der Denkkraft des 78jährigen beschaffen gewesen sein mag - an der Schwierigkeit des Gegenstandes ist nicht zu zweifeln; wenn jedes Ding an sich und jedes Individuum unerforschlich sind, kann es Gott nicht weniger sein; bei keinem anderen Begriff konnte und musste Kants antithetische Denkweise, seine Zweifelsucht (R 2660), seine Gefahr, in einem Gedränge von Gründen und Gegengründen (A 464) auch einmal den Überblick zu verlieren, so deutlich werden wie bei der Frage nach Gott. In den vielen Bedenken, (Selbst)Einwänden und Zweifeln, Gott, den Glauben, das Christentum, Bibel und Theologie betreffend, die auch Zeichen eines angefochtenen, Schwankungen ausgesetzten Glaubens sind und sich noch in den spätesten Notizen finden, haben natürlich viele Missverständnisse und Missdeutungen seiner Religiosität ihren Grund, abgesehen davon, dass mancher von Kant nicht widerlegt, sondern bestätigt sein will. Ungeachtet aller Fragen und Zweifel gilt jedoch grundsätzlich Kants geradezu klassische Einsicht, mit der er seine Betrachtungen über den Einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes - die Folge eines langen Nachdenkens (Bew. 2; 66) - beendet hatte, die theoretische Unbeweisbarkeit Gottes fast schon ankündigend und im Voraus erläuternd: „Es ist durchaus nötig, dass man sich vom Dasein Gottes überzeuge; es ist aber nicht eben so nötig, dass man es demonstriere.“ (2; 163.) Kant hat seine Überzeugung vom Dasein Gottes nicht weniger deutlich ausgesprochen als seine Fragen, Bedenken und Zweifel, dessen objektive Realität scharf betonend: Die Idee von einem Wesen, das alles weiß, <?page no="154"?> 146 „was alles vermag, alles moralisch Gute will […], ist die Idee von Gott. […] Dass diese Idee objektive Realität habe, d. i. der Vernunft jedes nicht ganz tierisch verkrüppelten Menschen dem moralischen Gesetze gemäße Kraft habe, und der Mensch zu sich selbst unausweichlich gestehen müsse: es Ist ein und zwar nur Ein Gott, bedarf keines Beweises seiner Existenz“ (21; 91f.). Für einen Wissenschaftsgläubigen sind diese Sätze keine stichhaltigen Begründungen des Daseins des unerforschlichen, unsichtbaren Gottes; ob sich Kant darum im Hauptwerk bemüht hat, ist müßig zu fragen: Es bedarf keines Beweises der Existenz Gottes. Kants moralischer Gottesbeweis (KpV 5; 124-132; KU 5; 447-453) und der Gesamtzusammenhang seiner Werke geben klare Auskünfte über die Realität der Idee von Gott sowie über Kants Glauben und dessen Verbindung mit dem kategorischen Imperativ. Kant bezog sich idealtypisch auf einen unverkrüppelten Menschen, einen bewussten Bürger zweier Welten guten Willens - trotz des Bösen -, der jedoch zu allen Zeiten nicht allzu häufig ist. Ein Menschenbild, das maßlose Manipulationen erlaubt, ist in eben der Weise problematisch, in der es von Kant grundsätzlich widerlegt worden ist in seiner Kritik des Materialismus, in seiner Teleologie sowie in seiner Begründung der Würde und Freiheit des Menschen; zu Kants Kritik und Argumentation gehören nicht zuletzt die Folgerungen, die er im Op gezogen hat - womit im Thema fort zu fahren ist... Gott ist der Hauptbegriff vieler Titelentwürfe. Es wäre unkritisch und unkantisch, so viele Gott, Welt, Mensch-Titel zu entwerfen, wenn sie nicht ernst gemeint gewesen wären: Kant hat Gott nicht als Spielmaterial aufgeführt, als ob er zeigen wollte, dass Gott nicht existiere - was überdies nicht nur seinem moralischen Gottesbeweis widersprochen hätte, sondern auch dem grundsätzlichen Gedanken, den er bereits in der KrV eindringlich, obwohl allzu optimistisch, formuliert hatte, dass es gewiss kein vernünftiger Mensch übernehmen kann, die Unmöglichkeit Gottes und eines künftigen Lebens darzutun (A 830; umgestellt; Rh.). Kant war im Gegensatz zu allen Bestreitungen der Existenz Gottes überzeugt, dass alle Behauptungen, „sie mögen nun atheistisch oder deistisch oder anthropomorphistisch sein, aus dem Wege zu räumen [...] in einer [...] kritischen Behandlung sehr leicht ist, indem dieselben Gründe, durch welche das Unvermögen der menschlichen Vernunft, in Ansehung der Behauptung des Daseins eines [höchsten] Wesens, vor Augen gelegt wird, notwendig auch zureichen, um die Untauglichkeit einer jeden Gegenbehauptung zu beweisen. Denn, wo will jemand durch reine Spekulation der Vernunft die Einsicht hernehmen, dass es kein höchstes Wesen [...] gebe [...]. Das höchste Wesen bleibt [...] ein [...] fehlerfreies Ideal“ (A 640f.). Das hat Kant nie widerrufen, was widerspruchsfrei unmöglich ist, sondern wiederholt bekräftigt und als die zwei Kardinalsätze unserer reinen Vernunft genannt es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben: Es ist auch apodiktisch gewiss, dass niemals irgendein Mensch das Gegenteil einstens beweisen werde (A 742f.). Diesen für die Frage nach dem Menschen entscheidenden, oft übergangenen Ertrag der KrV hat er, Unvermögen und fehlerfreies Ideal zusammenfas- <?page no="155"?> 147 send, verdeutlicht, weil er offenbar den Eindruck hatte, dass weder sein kritisches noch sein metaphysisches und religiöses Anliegen verstanden worden waren: Ich musste also das [vermeintliche; Rh.] Wissen [der Materialisten u. a.; Rh.] aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen (B XXX); er habe dem Materialismus, Fatalismus, Atheismus, dem freigeisterischen Unglauben, der Schwärmerei [...] die Wurzel abgeschnitten (B XXXIV) und nicht nur, wie Christian Wolff, dagegen protestiert 287 . Damit hatte Kant zugleich seine Ausführungen über das Dasein eines höchsten Wesens (A 583) in der praktischen Philosophie vorbereitet. Das Vertrauen auf den Erfolg der wahren Aufklärung, auf die Überzeugungskraft seiner Argumente, auf die Möglichkeiten und Macht der Vernunft war allzu optimistisch, er musste erfahren, dass nur mit Vernunftgründen, argumentativ kaum ein Diskurs in existenziellen Kontroversen zu einem Konsens geführt werden kann, sondern allenfalls zu Kompromissen und Lippenbekenntnissen, da der der Moralität widerstreitende Unglauben jederzeit sehr dogmatisch ist und nicht durch Appelle an die Einsichtswilligkeit der jeweils anders Denkenden aus der Welt zu schaffen oder auch nur zu beschwichtigen sein kann - aus so krummem Holze, woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Daraus folgt, dass es unsinnig wäre, die höchste Stufe, die Vollendung der Transzendentalphilosophie sowie den Gegenstand der Theologie als Fiktionen anzusehen: Kant setzte in manchen Kontexten das von ihm so gründlich und kritisch bedachte und hartnäckig hinterfragte Dasein Gottes einfach voraus. Dem gemäß findet sich im Op wiederholt, in verschiedenen Zusammenhängen, der unmissverständlich als solcher bezeichnete Existenzialsatz: Es ist ein Gott (21; 149; 64; 22; 122; 126); als Konsequenz und Konklusion ausgedrückt: Also ist ein Gott (21; 127) sowie: Es ist also ein Einigerlebendiger Gott (21; 47; 46). Kants Voraussetzung und Statuierung der Existenz Gottes im Op ist also folgerichtig und nicht erstaunlich, wie man angesichts seiner ablehnenden Haltung zum Kirchenchristentum sowie seiner zahlreichen theologischen Fragen, Zweifel und Bedenken und auf Grund vieler Kantdarstellungen meinen könnte. Kants Selbstaussagen bezeugen, dass sein „ehrliches Bemühen um eine unangreifbare Fundierung des Gottesglaubens“ eine Konstante seines Philosophierens ist: „Jeder, der die Reflexionen zur Metaphysik Baumgartens [...] durcharbeitet, wird sich davon überzeugen.“ 288 Das kann und soll nicht heißen, dass Kants Kritik, Fragen und Zweifel, Religion und Christentum betreffend, nicht ernst zu nehmen oder zu vernachlässigen wären; doch ist bei allen Einwänden zu bedenken: Kants Überzeugung von der Existenz Gottes ist nicht nur in seiner Philosophie begründet, sie entspricht auch grundsätzlich der kosmischen Religiosität, der stärksten und edelsten Triebfeder wissenschaftlicher Forschung, an der nach Einsteins Überzeugung alle schöpferischen Naturen teilhaben und zu der 287 P. Hazard Die Herrschaft der Vernunft. Hamburg 1949. S. 79. 288 J. Schmucker Das Problem der Kontingenz der Welt. Freiburg u. a. 1969. S. 10 Anm. 3. <?page no="156"?> 148 sich auch Wittgenstein bekannte, der im Vorwort zu den Philosophischen Bemerkungen darauf hinwies, er habe dieses Buch zur Ehre Gottes geschrieben, wobei er anfügte, das würde nicht richtig verstanden werden - er war, wie Kant, Planck und Portmann, bei einer kosmischen Religiosität nicht stehen geblieben, seine Befürchtung, nicht richtig verstanden zu werden, hängt mit den Schwierigkeiten des Gottesbegriffes zusammen, die ja unzählige Male bedacht und auch von Kant oft genug formuliert worden sind. Eine Aufgabe der höchsten Stufe der Transzendentalphilosophie hatte Kant darum gesehen in der Frage: Was ist Gott? (21; 63.) Diese Frage stellt sich natürlich jedem Jahrhundert und jedem Menschen, direkt oder indirekt, in einer Weise, die mitbestimmt ist von den Zeichen der Zeit und ebenso zeitlos wie zeitbedingt zu verstehen ist; Kant stand ihr gegenüber als Einwohner einer Hafenstadt, als Gelehrter des vielfach verwirrten, verwirrenden 18. Jahrhunderts, einer Zeit, in der „im Sinne der alten Kunst […] Gott […] unsichtbar geworden“ war, „da die Sichtbarkeit Gottes im Raum an die Sichtbarkeit von Raumgrenzen gebunden ist, die nur […] im Naturraum“ gegeben sind, dessen „Grenzen […] gefallen“ waren - im „unbegrenzten kosmischen Raum“ ist Gott undarstellbar, unsichtbar geworden. 289 Dieser Befund der Kunstgeschichte ergänzt und korrigiert anschaulich die philosophischen Bemühungen, sich Gottes begrifflich zu vergewissern, als ein eigentümlicher Ausdruck eines gewandelten Welt-, Menschen- und Gottesbildes. Es ist bei der Bedeutung der Frage nach Gott trotz aller Forschungserträge zu erwarten, dass Kants Gottesauffassung umstritten ist und unklar oder falsch dargestellt wird; Missverständnisse und Fehlurteile sind mitbedingt sowohl durch den jederzeit gar sehr dogmatischen Unglauben als auch durch die Komplexität des Gottesbegriffes sowie die häufigen Umkippungen Kants, durch seine Eigenart, die ihm wichtigen Fragen mit manchmal verwirrend vielen Argumenten dafür und dawider zu behandeln gemäß der Redlichkeit, seine Zweifel unverhohlen zu gestehen sowie aus der Abscheu, Überzeugung zu heucheln, vornehmlich nicht vor Gott (wo diese List ohnedies ungereimt ist), welche Eigenschaften Kant an Hiob rühmte (Theod. 8; 267). 290 In einem Brief an Lavater hatte Kant, einundfünfzig Jahre alt und in der Sicherheit der Existenz als Ordinarius, seine religiöse Grundeinstellung angesichts der herrschenden Kämpfe klar umrissen, auf Anfechtungen antwortend und sowohl die reinste Aufrichtigkeit in Ansehung der verborgensten Gesinnungen des Herzens als auch das unüberwindliche Böse, sein demütiges Vertrauen auf Gott und die Gewissenhaftigkeit eines guten Lebenswandels genannt (28. 4. 1775). In der KpV hat er ergänzt, dass sich natürlicherweise der aus echten moralischen Bewegungsgründen Handelnde die tröstende Hoffnung 289 W. Schöne Über das Licht in der Malerei. 4. Aufl. Berlin 1977. S. 215f. 290 Cortina Die Auflösung des religiösen Gottesbegriffs im Opus postumum Kants ist ein Beispiel für eine der Behauptungen, die das fehlerfreie Ideal bestreiten, den von Kant an Wolff gerühmten Geist der Gründlichkeit (B XXXVI) vermissen lassend. <?page no="157"?> 149 machen darf, im Fortschritte zum Besseren eine Aussicht in ein von allen zufälligen Ursachen der Welt unabhängiges, vollständiges Wohl zu haben (5; 123; umgestellt; Rh.). Wegen der Defizite in der Literatur und vor allem für das Verständnis des Op ist es sinnvoll, an weitere Kernaussagen Kants zu erinnern. In der KrV vermerkte er, die Metaphysik habe „zum eigentlichen Zweck ihrer Nachforschung nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit [...]. [...] Theologie, Moral [...] [seien; Rh.] die höchsten Zwecke unseres Daseins“; er schloss, dass „wir von demjenigen, was uns Erfahrung unmittelbar an die Hand gibt, [...] bis zur Erkenntnis Gottes fortgehen, unseren großen Entwurf zu vollziehen.“ (B 395 Anm.) Im zweiten Hauptstück der Methodenlehre stehen die berühmten, oft übergangenen Sätze, dass er „unausbleiblich ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben“ glaube und sicher sei, „dass diesen Glauben nichts wankend machen könnte, weil dadurch meine sittlichen Grundsätze selbst umgestürzt werden würden, denen ich nicht entsagen kann, ohne in meinen eigenen Augen verabscheuungswürdig zu sein. [...] Das heißt: der Glaube an einen Gott und eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, dass, so wenig ich Gefahr laufe, die erstere [Mellin: letztere] einzubüßen, ebenso wenig besorge ich, dass mir der zweite [Mellin: erste] jemals entrissen werden könne.“ (A 828f.) Konsequent heißt es in der KU, dass also die Teleologie keine Vollendung des Aufschlusses für ihre Nachforschungen, als in einer Theologie findet. (5; 399.) Darum ist die transzendentale Gotteserkenntnis (A 334f.) höchster Standpunkt (22; 63), Vollendung der Transzendentalphilosophie: „In der Ordnung des Systems der synthetischen Erkenntnis aus Begriffen a priori, d. i. in der Transzendentalphilosophie, ist das Prinzip, was den Übergang zur Vollendung desselben macht, das der transzendentalen Theologie“ (21; 9). Damit sowie auf Grund der Denkweise Kants, seines oft verwirrenden Sic et non stellt sich hier noch einmal die Frage nach dem Begriff und Gegenstand dieser Wissenschaft: Kants erkenntnistheoretische, psychisch (mit)bedingte Glaubensschwierigkeiten und Zweifel haben zwar zu zahlreichen kritischen und verneinenden Formulierungen geführt, aber gleichsam in den Grenzen seiner antithetischen Denkweise, die in der Erfahrungs-Einheit aufgehoben ist - seine bejahenden Aussagen und ihre Begründungszusammenhänge beschränken jedes Kontra Kants auf die negative Theologie: Der Begriff oder vielmehr die Idee von Gott ist der Gedanke von einem Wesen, vor dem alle Menschenpflichten zugleich als seine Gebote geltend sind; er kann erkannt werden im Geschehen, als Grund der tröstenden Hoffnung und des demütigen Vertrauens auf Beistand angesichts des Bösen. Die Einheit der Erfahrung verweist auf der höchsten Stufe auf Gott - ob bewusst erlebt oder nicht. Dieser im Geschehen erfahrbare Gott ist kein neuer Gedanke, sondern entspricht der Gottesvorstellung der Griechen und anderer Völker, was Kant kaum bekannt gewesen sein dürfte, sodass er dieses Wissen wiedergewonnen hat für eine Zeit, die daran kaum interessiert ist. <?page no="158"?> 150 Es war nach der kopernikanischen Wende eine einfache, sich aufdrängende Folge der Grenzen der Vernunft und der Unerkennbarkeit der Dinge an sich, dass Gott jeglichem Zugriff des Menschen entzogen sein muss: „Was Gott an sich für ein Wesen sei, erreicht die menschliche Vernunft nicht: [...] sodass seine Natur für uns unerforschlich [...] ist“ (21; 57f.). Damit steht Kant in einer langen Tradition: „Diese negative Theologie“ ist „das Herzstück der christlichen und der philosophischen Theologie des Abendlandes“ 291 : „Den frei zugänglichen Gott gibt es nicht. Gegenüber dem Anspruch des autonomen Gott-Suchens und Erlebens und Denkens ist Er der Unbekannte, der in unzugänglichem Lichte wohnt (1 Tim 6, 16)“, wie Guardini diese dem 18. Jahrhundert vertraute Aussage des Apostels Paulus umschrieben hat 292 , die sich auf eine Hauptaussage des Alten Testaments bezieht: So verweist das Buch Hiob (Theod. 8; 265-267), dieses berühmteste Buch des Alten Testaments darauf, dass der Mensch Gott Gott sein lassen muss als den letztlich Unfassbaren und Unverfügbaren - gleichwohl, dabei „kann man es nicht bewenden lassen, es ist eine elementare Pflicht des Menschen, über den Begriff Gott und das, was er in sich enthält, nicht vorsätzlich unwissend sein zu wollen.“ (21; 32.) Das zeigt, bewusste Blindheit beiseite gelassen, dass die Unerforschlichkeit Gottes nicht als Frageverbot oder Denkhindernis zu verstehen ist, sondern als eine grundsätzliche, stets zu bedenkende und respektierende Grenze, entsprechend der Unerkennbarkeit der Dinge an sich, die auf Forschungsgrenzen weist, die wissenschaftliche Untersuchungen unumgänglich umgeben und die in den Erkenntnis-Einschränkungen deutlich werden, die Heisenbergs Unschärferelation und Gödels Unvollständigkeits-Theo-em angeben, ohne dass damit der Forschung willkürlich Schranken gesetzt wären - im Gegenteil, Grenzen können als Aufforderungen und Anreiz gesehen werden, das Erforschliche zu erforschen und das Unerforschliche zu verehren, wie der Naturforscher Goethe zeitlos, wenn auch nicht modern, resümierte. Was der Begriff Gott, über den der Mensch nicht vorsätzlich unwissend sein darf, ungeachtet der negativen Theologie, in sich enthält, hat Kant im Op mehrfach skizziert, so anschließend an einen Titelentwurf: „Der höchste Standpunkt der Transzendentalphilosophie im System der Ideen Gott, die Welt und der seiner Pflicht angemessene Mensch […] Gott […] wird gedacht als eine Person, die lauter Rechte und keine Pflichten hat“ (21; 54). Die Gewissheit der KrV hat Kant ebenfalls ausdrücklich präzisiert: „Der Begriff (Gedanke) von einem solchen Wesen [Gott] ist nicht ein Ideal (gedichtet), sondern eine notwendig aus der Vernunft im höchsten Standpunkt der 291 H. Barth Philosophie des Abendlandes in: Das Erbe der Antike. Zürich; Stuttgart 1963. S. 233. 292 R. Guardini Die Kirche des Herrn. Würzburg 1965. S. 62. <?page no="159"?> 151 Transzendentalphilosophie hervorgehend[e] [Idee].“ (21; 63) [Ergänzungen u. Hervorhebung von Rh.]. Damit hatte Kant die praktischen, notwendigen Folgerungen seiner Philosophie und Gottesvorstellung vorbereitet: Der Autor (der mit Autorität spricht) des Pflichtgesetzes ist Gott. (21; 118.) Dieser Satz scheint unglaublich, revolutionär für einen Philosophen, der auch durch eine „Ethik der Autonomie“ 293 berühmt geworden ist, also dadurch, dass er nicht, wie Philosophen vor ihm, den „Ursprung der Sittlichkeit [...] im Willen Gottes [...] gesucht“ habe 294 . Wenn dieser Satz ein Hapax legomenon bei Kant wäre, käme es einer Sisyphos-Arbeit gleich zu versuchen, diesem nach der herrschenden Meinung vorkantischen, vorkritischen Gedanken gegen die allgemeine Auffassung in der Philosophiegeschichtsschreibung und Kantforschung zur Anerkennung zu verhelfen, trotz aller Verflechtungen, die Kants Ethik und seine transzendentale Theologie verbinden und die es plausibel machen, eine in der Geschichte der Philosophie so konventionelle Aussage wie die zitierte nun wieder im Op des scheinbar alleszermalmenden Kritikers der Metaphysik und der Gottesbeweise zu lesen - noch dazu apodiktisch formuliert. Kants Eigenart, mit der Feder zu denken und einen Gedanken in seiner Tragfähigkeit, Fruchtbarkeit und Reichweite in verschiedenen Formulierungen zu erproben ermöglicht es, bestätigend und bestärkend weitere Aussagen beizubringen: „Gott ist das Subjekt des kategorischen Imperativs der Pflichten u. darum heißen diese göttliche Gebote.“ (21; 22; vgl. 55.) „Der moralische Imperativ kann also als die Stimme Gottes angesehen werden“ (22; 64). „Die Vernunft verfährt nach dem kategor. Imperativ, und der Gesetzgeber ist Gott.“ (21; 106). Kant hat es bekanntlich als einen Skandal bezeichnet, das Dasein der Dinge bloß auf Glauben annehmen zu müssen (B XXXIX), sein Beweis der Realität der Außenwelt (ebd.) zeigt die Schwierigkeiten, die grundsätzlich und nicht nur philosophisch oder persönlich bei bestimmten Beweisaufgaben bestehen, zu denen auch die Existenz Gottes gehört. Für Kant war das Dasein Gottes in sich selbst einsichtig, Gott als Idee verweist in seinem Sprachgebrauch, ebenso wie die Ideen des Menschen (21; 48), der Freiheit und der Erfahrung, auf die objektive Realität des auf diese Weise begrifflich in seiner Bedeutung und Besonderheit Betonten. Kant erläuterte: „Der kategor. Imper. u. das darauf gegründete Erkenntnis aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote ist der praktische Beweis vom Dasein Gottes.“ (21; 74.) Damit ist erneut der Primat der praktischen Vernunft hervorgehoben; Kant griff ein aus der Bibel und der Tradition bekanntes Bild aus der Baukunst auf, das Goethe ebenfalls verwendete: Den Schlusstein des Gebäudes der Philosophie als Weisheitslehre, als Wissenschaft von dem Endzwecke der menschlichen Vernunft mache das Moralisch/ Praktische aus (22; 489), dessen Ge- 293 Höffe Kant S. 173. 294 A. a. O. S. 170. <?page no="160"?> 152 setzgeber, als höchstes Wesen begrifflich gefasst, die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönt (A 641). Von der praktischen Philosophie ausgehend und sich dabei, wie es nicht ganz zu vermeiden war, traditioneller Charakterisierungen bedienend, umschrieb Kant das Subjekt des kategorischen Imperativs (21; 22): „Ein Wesen, welches nach Pflichtgesetzen (dem kategorischen Imperativ) der moralisch/ / praktischen Vernunft über alle vernünftigen Wesen zu gebieten vermögend und berechtigt ist, ist Gott […]. - [...] Ein Wesen, was über Natur und Freiheit unter Vernunft/ / Gesetzen unbeschränkte Macht hat, ist Gott. Gott ist also seinem Begriffe nach nicht bloß Naturwesen, sondern auch ein moralisches Wesen. In der ersteren Qualität allein betrachtet ist es der Weltschöpfer (demiurgus) und allgewaltig: In der zweiten heilig (adorabilis) und alle Menschenpflichten sind zugleich seine Gebote.“ (21; 117f.) Einen seiner Denkwege andeutend, vermerkte Kant lapidar: „Die Idee der Freiheit führt durch den kategor. Imperativ auf Gott“ (21; 44). Freiheit und Selbstbeschränkung, Selbstverpflichtung führen, nur gewaltsam zu trennen, folgerichtig zu Gott - dieses, in der Kantforschung, soweit zu überblicken, nicht nachvollzogene Ergebnis zeigt den ganzen Kant, keinen anderen, weshalb das Verneinen eines philosophischen Teiles des Op unerheblich ist, da Kants Gottesvorstellung, sein Glaube bereits in der KrV (A) deutlich formuliert sind; das anzuerkennen wird den Gegnern Kants nun leichter fallen, weil er nun lange genug tot ist, um jedenfalls in dieser Hinsicht als nicht ganz ernst zu nehmend deklariert werden zu können… Von den zahlreichen, im Op verstreuten Varianten dieser Gedanken seien einige herausgegriffen als Hinweis auf Stichwörter Kants: „Ein allgemein moralisch gesetzgebendes Wesen, welches mithin alle Gewalt hat, ist Gott. […] Es existiert ein Gott, d. i. Ein Prinzip, welches als Substanz moralisch/ / gesetzgebend ist.“ […] „Der kategorische Imperativ ist der Ausspruch eines moralischen und heiligen, schlechthin gebietenden Willens, der zugleich allvermögend ist und, ohne Triebfedern zu bedürfen oder auch nur Statt finden zu lassen, selbständig ist, Freiheit und Gesetz in sich vereinigt. - Die Idee desselben ist die von einer Substanz, die einzig in ihrem Begriffe ist“. (21; 122f.) An die KpV anknüpfend, war das Grundproblem Freiheit genannt und auf die große Frage geantwortet, mit der er so emphatisch seinen Pflicht-Hymnus beendet hatte: Pflicht! welches ist der „deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, [...] von welcher Wurzel abzustammen, die unnachlassliche Bedingung desjenigen Werts ist, den sich Menschen allein selbst geben können? “ (5; 86.) Diese Sicht des Wertes und Wesens, der Würde des Menschen zeigt die Bedeutung, die Kants lebenslanges Erstaunen vor der Ordnung und Größe des bestirnten Himmels und der eigenen, inneren Anlage hatte und die er später, fast zehn Jahre nach der KpV, noch einmal beschrieben hat: <?page no="161"?> 153 „Was ist das in mir, welches macht, dass ich die innigsten Anlockungen [...] einem Gesetze aufopfern kann, [...] das ich nur um desto inniglicher verehre, je strenger es gebietet [...]? Diese Frage regt durch das Erstaunen über die Größe und Erhabenheit der inneren Anlage in der Menschheit, und zugleich die Undurchdringlichkeit des Geheimnisses, welches sie verhüllt (denn die Antwort: es ist die Freiheit, wäre tautologisch [...]), die ganze Seele auf.“ (Ton 8; 402f.) Kant antwortet: „Es ist ein Gott in der Seele des Menschen.“ (21; 120.) Das ist, so konventionell es klingt, keine Übernahme einer überlieferten Ansicht, sondern eine Folgerung aus dem Geheimnis der geistigen Kraft (21; 91) des Menschen, die keiner Macht der Natur weicht (Ton 8; 403), die sich sinnvoll nur auf Gott zurückführen lässt, dessen Stimme zu hören, ihr zu gehorchen keine Fremdbestimmung sein kann, sondern identisch ist mit der Stimme der Vernunft, die zu jedermann deutlich spricht und einer wissenschaftlichen Erkenntnis fähig ist (Ton 8; 402). Kants Optimismus im Hinblick auf Jedermann und deutlich beiseite gelassen, ist Autonomie, recht verstanden, Theonomie, und Theonomie ist der Weg, auf dem der Mensch zu sich selbst finden und das höchste Gut erstreben kann: „Kant zeigt, dass die Alternative Autonomie oder Gottesglaube falsch ist.“ 295 Aus der undurchdringlich verhüllten Größe und Erhabenheit der inneren Anlage folgt, dass sich Gott in der Seele des Menschen, im Gewissen, im kategorischen Imperativ konkretisiert. Mit diesem Ergebnis, das nicht in das herrschende Kant-, Welt- und Menschenbild passt, ergänzte und erweiterte Kant seinen moralischen Gottesbeweis, gegen das pluralistisch proklamierte, irdische Pseudoglück (R 8106): „Es ist unmöglich, dass ein Mensch ohne Religion seines Lebens froh werde.“ Kant hatte einen unverkrüppelten Menschen im Blick, der in der Tat nicht ohne Religion seines Lebens froh werden kann, aber der Mensch muss und will oft gar nicht in diesem Sinne froh werden, sondern meist möglichst modern und modisch, nicht im Widerspruch zum Zeitgeist und gegen den Mainstream - alle sind mündig gesprochen und frei, doch lässt sich Kants Hauptwerk nicht ohne sein Menschenbild verstehen; sein Lebensweg, seine Erlebnisse, seine Erfahrung, sein Nachdenken über Gott und Welt, seine Frage nach dem Menschen hatten ihn dazu geführt, die Bedingungen dafür zu suchen, eine philosophische Antwort auf die Frage nach sich selbst geben zu können, und die entscheidende Voraussetzung hat auch er darin gesehen, sich zu bemühen, sich selbst möglichst vernünftig und wahrhaftig zu erforschen, mit den eigenen Stärken und Schwächen, Fehlern und Torheiten, sich also rückhaltlos rückbesinnend, rückbindend: religiös zu verstehen in Gesellschaft, Geschichte und Kultur, in der Natur, im Kosmos - in einer großen Ordnung, die zu erkennen und anzuerkennen Zweck ist, telos. Das wäre für das Op auch dann vorauszusetzen, wenn in ihm nichts davon zu finden wäre. Da jedoch sogar die Hauptbegriffe Gott, Welt, Mensch darin repräsen- 295 Höffe Kant S. 248. <?page no="162"?> 154 tativ skizziert sind, ist es möglich, sich ein Bild von dieser höchsten Stufe, vom Ganzen der Philosophie zu machen, an dem Kant arbeitete. Die Philosophiegeschichtsschreibung und Kantforschung haben aber schon von den bereits in Kants erster Arbeit zu findenden Ankündigungen und Vorstufen dieses Ganzen nur ausnahmsweise Kenntnis genommen, das allgemeine Kantbild dürfte dem gegenüber fast als kurios zu bezeichnen sein - es kann kaum anders sein, als dass der allmählich ans Licht kommende zweite, dem Zeitgeist widersprechende Teil des Op nur gelegentlich ernst genommen und in seinem Anspruch gewürdigt werden wird. Das Vernunftgebot der Selbsterkenntnis, die zugleich Anfang der Weisheit ist, enthält in nuce das Entscheidende, das Endergebnis der Antwort Kants auf die Frage nach dem Menschen, der Gott und Welt in der Liebe zur Weisheit verbinden soll, womit sich Kant, diskussionslos und implizit, gegen die endlosen Missdeutungen und Entstellungen der Autorität Gottes wandte. Kant beschloss sein Lebenswerk folgerichtig damit, eine, seine kritische Philosophie vollendende transzendentale Anthropologie und Theologie zu skizzieren, die einer den Zeichen der Zeit entsprechenden Ausführung wert wären, aber derart dem Zeitgeist widersprechen, dass beispielsweise auch Volker Gerhardt in seinem Kant-Buch bei der Besprechung des Op zwar „in der von Kant gelegten Spur“ bleibt, aber übersieht, dass das Ganze im Fragment zu erkennen sein kann und hier zu erkennen ist - Kant gibt eine klare, strenge Antwort auf die „Suche nach einer neuen Verbindlichkeit für den Menschen“ - sie heißt nicht einfach nur „Religion, […], Mythos oder Kunst“ 296 , sondern der Eine, lebendige Gott, eine Eindeutigkeit, die ebensowenig dem Zeitgeist entspricht wie Wahrhaftigkeit und Weisheit. 296 Gerhardt S. 348. <?page no="163"?> 155 7. Kants Opus postumum als Alterswerk Die künftige Zeit - Sinn und Form Das „Ausfüllen der Zeit durch planmäßig fortschreitende Beschäftigungen, die einen großen beabsichtigten Zweck zur Folge haben, ist das einzige sichere Mittel, seines Lebens froh und dabei doch auch lebenssatt zu werden.“ (Anthr. 7; 234.) Kant war mit seinem Lebenswerk, mit den Begründungen der Menschenwürde, der Verflechtung von Freiheit und Gesetz, Fremd- und Selbstaufklärung, des Schönen, Guten und Wahren, dem damit umrissenen Zweck und Ziel seines Hauptwerkes nur teilweise erfolgreich, wie zu erwarten: Eine hier und jetzt ernst gemeinte Zumutung der Selbstbesserung wird im Allgemeinen zurückgewiesen, wie sich auch zeigen lässt an Werken, die ebenfalls vielfach Kurioses veranlasst haben und, von der Biografie ihrer Schöpfer aus gesehen, endzeitlich, in deren letzter Lebenszeit entstanden sind. Das Op ist das Manuskript eines Menschen, der längst ein Testament geschrieben hatte (1791; 12; 382-390), der seine Kräfte schwinden fühlte und in Ungewissheit und Wagnis, Zweifel und Zuversicht es ein letztes Mal unternahm, seine Gedanken auf eine lange konzipierte Arbeit zu konzentrieren, bemüht, sich der Wirklichkeit der Welt und der Wahrheit des Menschen möglichst illusionslos, vorurteilsfrei und folgerichtig zu nähern. Unter diesem Gesichtspunkt des Endens des Lebens und Schaffens eines schöpferischen Menschen ergibt sich eine gegenüber seinen früheren Arbeiten veränderte Perspektive, die eines Alterswerkes, das durch Eigentümlichkeiten charakterisiert ist, durch deren Kenntnis sich manches Missverständnis aufklären oder vermeiden lässt, wie es bei einer isolierenden Betrachtung, ohne Berücksichtigung des besonderen biografischen Zeitraumes sowie der sich daraus ergebenden Bedingungen, leicht möglich und mitunter auch nahe liegend ist; denn für sich betrachtet können manche Sätze und Thesen des Op wie Fremdkörper in Kants Werk erscheinen. Ein zusammenraffender Blick auf einige Alterswerke mag das zeigen. Kant hatte die Zeit der Weisheit, zum Ärger Goethes 297 , erst dem sechzigsten Lebensjahr zugedacht (Anthr. 7; 200), was wohl bedeutet, dass er sich selbst ungefähr in diesem Alter, nach den Prolegomena und dem Aufklärungs-Aufsatz, seiner Liebe nähern konnte und nach der Grundlegung und den MAdN eine neue Stufe erreicht zu haben meinte - als er die Arbeit an seinem Hauptwerk aufnahm, hatte er wahrscheinlich das 75. Lebensjahr bereits erreicht oder überschritten - eine Weisheitslehre und höchste Stufe fordern Zeit. Kant begann seine Weisheitsforschung recht früh, wann, ist 297 An Schiller, 19. 12. 1798; der alte Goethe hätte Kant zugestimmt. <?page no="164"?> 156 keine Frage der Wortstatistik, sondern seines nachzuzeichnenden, sich vertiefenden Verständnisses von Philosophie, (Vernunft)Erkenntnis, Aufklärung und ihren alles betreffenden Folgerungen. Dabei sind ein frühreifer Kant zu bedenken, dem Drama seiner Kindheit und Jugend entsprechend, das sich fortsetzte, endend in einem Alterswerk, in dem positive wie negative Spuren dieses Dramas sichtbar sind: Titel und Thema des Hauptwerkes sind ehrgeizig, nicht demütig-weise. Gleichwohl bleibt Kants höchste Stufe eine bewundernswerte Leistung in Leben und Lehre. Die Bruchstücke des Hauptwerkes passen in besonderer Weise zur Ergänzungsbedürftigkeit des Mängelwesens Mensch: Das Ganze im Fragment zu erkennen bedarf der aktiven Teilnahme einer Person, die nur als Ganze, mit ihrem Herzen, ihrer Vernunft und ihrem Leben, praktisch, vernehmend, hörend und antwortend, ihrer Würde gerecht zu werden hoffen kann. Naturgemäß haben Werke dieser Altersstufe, ebenso wie Jugendwerke - etwa Dissertationen als zweckgebundene, akademische Sondergattung -, ihre Eigenheiten, obwohl es Mischformen gibt 298 ; so ist zu fragen, ob das Verständnis des Op auch unabhängig davon, wie es geplant gewesen sein mag, so, wie es vorliegt, durch einen Blick auf andere Alterswerke erleichtert werden kann: „Es ist, als ob in großen Persönlichkeiten das Alter ähnliche Züge ausreife. Selbst entfernteste Geister, wie Goethe und Platon, scheinen mit dem Alter in einen gemeinsamen Bereich einzutreten. Goethe hat die künstlerische Ausdrucksweise seines Alters öfters mit der Manier des alten Tizian verglichen.“ 299 Kant hatte kein Tizian und Goethe vergleichbares Alters-Selbstbewusstsein, doch auch er blickte altersweise, wie das Motto dieses Kapitels zeigt, zurück. Seine Ausdrucksweise in den letzten Notizen, die ihren Wert in sich haben, unabhängig von ihrem Entwurfs-Charakter und allem Persönlichen, ist zutreffend mit den Worten zu umschreiben, die Goethes Altersstil charakterisieren sollen und darüber hinaus den „typischen Altersstil [...], der über Jahrhunderte hinweg“ die Alterswerke „von Meistern verbindet“: „Die Aussageweise wird [...] abgerissen, andeutend, chiffrehaft.“ 300 „Der Charakter des Alterswerkes mit seiner oft rücksichtslosen Diskontinuität […], seinen Unstimmigkeiten und Widersprüchen ist unverkennbar.“ 301 Die Bereitschaft, sich auf die naturgemäß nur relative Aussagekraft solcher Vergleiche einzulassen, kann es erleichtern, manche Dunkelheit des Stils bzw. der Sätze im Op aufzuhellen durch das Wissen, dass Andere im Alter ähnlich gedacht und gearbeitet haben; so lässt sich einiges, vom alten Goethe Gesagte hilfreich auf Kant übertragen; aus dem Abstand zweier 298 u.a.; da „Dissertanten heute oft in reifen Jahren sind“. W. Jens Mythen der Dichter. München 1993. S. 102. 299 P. Stöcklein Wege zum späten Goethe. 2. Aufl. Hamburg 1960. S. 331. 300 Stöcklein S. 332; umgestellt; Rh. 301 V. Lange Goethe. Stuttgart 1992. S. 68. <?page no="165"?> 157 Jahrhunderte und von Kants Spätwerk sowie vom Op aus gesehen sind die Gemeinsamkeiten zwischen dem kleinbürgerlichen, ostpreußischen, unverheirateten Universalgelehrten und dem fünfundzwanzig Jahre jüngeren, Frankfurter Patriziersohn und Juristen, geadelten Geheimrat, Minister, Italienreisenden, Naturforscher, Theaterdirektor, Kunsttheoretiker, Sammler und oft verliebten, lange verwitweten Dichter aufschlussreich: Bereits die zum „Hauptanliegen“ des alten Goethe werdende „Tendenz zu einem Ganzen“, dazu, „dieses Ganze sichtbar zu machen, eine umfassende Lebensdeutung und Weltansicht, ein bleibendes Zeugnis seines Glaubens zu geben“ 302 , darf als Bekräftigung der gleichen Tendenz des so ganz anders lebenden und arbeitenden Professors angesehen werden; auch an Platons Timaios ist zu erinnern, sodass Kants Übergang schon unter diesen biografischen und tendenziellen Gesichtspunkten nicht sein abschließendes Hauptwerk gewesen sein kann - was ohnehin dem „Unternehmen[s] der Philosophie, das Ganze zu denken“ 303 , widersprochen hätte; das Chef d’oeuvre wird vielmehr, wie es sich bei einem Alterswerk nahelegt und von Kant als Aufgabe beschrieben worden ist, im Blick auf das Ganze geplant gewesen sein: Form, Gehalt und Sinn eines Alterswerkes bzw. die Absicht seines Urhebers können vergleichend deutlicher werden. Alterswerke entstehen in einer Zeit, in der es für ihre Schöpfer in der Regel zwar eine größere Vergangenheit gibt, jedoch naturgemäß nur eine mehr oder minder begrenzte Zukunft. Die dadurch in irgendeiner Weise qualitativ anders, als letzte Zeit, als Endzeit erlebte Gegenwart stellt demnach neue Aufgaben: Denn alles unser Interesse liegt in der künftigen Zeit (R 1507), die es zu bedenken gilt, um die Kräfte planmäßig fortschreitend einsetzen zu können. So ist der geringer werdenden Lebenserwartung, den möglichen Beschwerlichkeiten des Alters und Alltags sowie dem einzig Gewissen, das die kommende Zeit birgt - dem Tod -, froh und doch auch lebenssatt entgegenzusehen, wie Kant, auf Hiob anspielend, schrieb. Aber der Mensch ist frei; die Rezeption seiner selbst, der Wirklichkeit, des Lebens und Todes ist ihm, in gewissen Grenzen, anheim gestellt, er kann, Wünschen, Ängsten, Illusionen oder Sophistereien folgend, vor der Zukunft, vor dem sich immer Ankündigenden und stets Gegenwärtigen, vor der Vergänglichkeit und dem Tod seine Augen und Ohren verschließen oder sich dem stellen - schöpferisch in Beschäftigungen, die einen großen Zweck zur Folge haben, wie Kant sein Verständnis der Selbstverwirklichung und Sinngebung zusammenfasste, auf sein abschließendes Alterswerk weisend; ein derartiges oder ähnliches, schöpferisches Verständnis des Lebens und der Arbeit ist auch anders auszudrücken und in einem früheren Lebensalter möglich, liegt jedoch außerhalb der Grenzen dieser Arbeit. 302 W. Flitner Goethe im Spätwerk. Bremen 1957. S. 16. 303 C. F. v. Weizsäcker Eine Notiz zu Platons Philosophie des Abstiegs. In: Platon Miniaturen für Georg Picht. Hg. v. I. Tödt. Heidelberg 1987. S.85. <?page no="166"?> 158 Die Tendenz zum Ganzen führte bei Kant wie bei Goethe zu dem Hauptanliegen, eine umfassende Lebensdeutung und Weltansicht zu geben. Das bedingt eine „verstärkte Aufmerksamkeit auf das Besondere und Wirkliche“, in der Goethe „eine der entscheidenden Erfahrungen“ 304 seines Alters gesehen hat und die auch Kant im Spätwerk zeigt. Diese Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten sind bemerkenswert, da sie, ungeachtet aller, ebenfalls bemerkenswerten Unterschiede zwischen dem Preußen und dem aus einer anderen Welt stammenden Juristen, eine Annäherung oder Konvergenz in der Weltsicht und Lebenseinstellung erweisen. Eine Voraussetzung, seines Lebens froh zu werden, ist das Einverständnis mit der Welt, dem eigenen Leben und dem Tod, das aufgehoben ist in der Einheit der Erfahrung, die wissenschaftlich und existenziell, persönlich und prinzipiell zu verstehen und nur so einem Hauptwerk angemessen ist; denn das individuell zu verarbeitende Fragliche, Bedenkliche, Belastende und Böse, das noch zu lebende Leben oder, bei einer Krankheit oder im Kriege, auch das mögliche Leid, kann als Hinweis auf den Tod empfunden werden. Daraus ergeben sich eine eigene Ernsthaftigkeit, Freiheit und Würde der jeweiligen Arbeit sowie einige elementare Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten der Alterswerke untereinander, ungeachtet aller zeitlichen, kulturellen und künstlerischen Verschiedenheiten und der Individualität eines jeden Werkes, das sich durch die biografische Grenzsituation seines Urhebers im Allgemeinen von dessen früheren Arbeiten ebenso unterscheiden wird wie von jenen Werken, die zwar Schöpfungen des höchsten Alters sein mögen, in denen aber der Tod bzw. seine Bedeutung entweder gleichsam ausgeklammert, verharmlost oder verneint anwesend ist - das Subjektive ist wichtiger als das Ganze des Lebens, zu dem der Tod gehört, der einverständig an- und in die eigene Existenz aufzunehmen ist. Eine derartige, bewusste oder unbewusste, einverständige An- oder Aufnahme des Todes bedeutet keineswegs eine Abwendung vom Menschen und seiner Welt, sondern kann im Gegenteil zu einer besonderen Aufmerksamkeit und neuen Sicht der Dinge führen, zu einer anderen, ungewöhnlichen Art der Zuwendung zur Welt, zum Menschen, zum Diesseitigen und Irdischen, bei der Zeitgebundenes, Konventionen, Formen, Förmlichkeiten, Moden und Trends mehr oder weniger belanglos werden: „Alterskunst [...] befreit sich von Zwängen“ 305 . Tolstoi hat im Tod des Iwan Iljitsch beispielhaft dargestellt, wie der schöne Schein, Sophistereien, Illusionen, Irrtümer, Ehrgeiz und Eitelkeiten der alles sichtenden Zeit nicht standhalten, wie sich angesichts und eingedenk des Todes zeigt, sodass das Wesentliche in den Vordergrund tritt, sei es als universale oder existenzielle Summe, wie in Shakespeares Sturm, Kants Gott, Welt, Mensch, Goethes Faust, Verdis Falstaff, Fontanes Stechlin, Raabes Altershausen, Altmans Short cuts, sei es als exemp- 304 H. J. Schrimpf Goethe. Spätzeit, Altersstil, Zeitkritik. Pfullingen 1966. S. 9. 305 A. Kamphausen Vom Sehen zum Schauen. Heide i. Holstein 1981. S. 63. <?page no="167"?> 159 larischer Abschied - Goethes Marienbader Elegie, Beethovens letzte Sonaten und Quartette -, sei es als eine mehr oder minder bewusste, bilanzierende, vorbereitende Auseinandersetzung mit dem Tod als dem Ziel des Lebens, wie in Michelangelos Pietà Rondanini, Bachs Vor Deinen Thron; Melvilles Billy Budd, van Goghs Weizenfeld mit Raben, Rilkes Sonette an Orpheus, Bernanos’ Begnadeter Angst und Tarkowskis Nostalghia. 7. 1. In allen Grenzen ist auch etwas Positives Angesichts der Grenze des Todes legt sich eine Konzentration nahe auf einen großen, beabsichtigten Zweck, auf das Wesentliche - ein mögliches Positivum des im Alter deutlicher hervortretenden Stückwerk-Charakters des Menschlichen: Denn in allen Grenzen ist auch etwas Positives (Pro. 4; 354): Als Fragment bilden Leben und Werk - jeweils für sich und zugleich gemeinsam - ein eigentümliches, mitunter harmonierendes, zuweilen spannungsreiches oder auseinanderstrebendes Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile auch oder gerade, weil es Stückwerk ist und so nur in einem besonderen, über sich hinausweisenden Sinn als Ganzes verstanden werden kann, derart, dass die Ergänzung des Nichtausgeführten, des Nichtausführbaren bzw. die Erkenntnis oder Vorstellung des Fehlenden den Rezipierenden überlassen bleibt und überlassen bleiben muss. Eine in diesem Sinne schöpferische Teilnahme der Rezipierenden am Alters- oder Stückwerk als einem zeitlosen, lebendigen Geschehen setzt etwa bei einem Fragment voraus, dass der Sinn des Werkes bzw. die Intention seines Schöpfers im Großen und Ganzen erkannt und anerkannt wird und damit zugleich das Fragmentarische, das Nichtausgedrückte - über die Faszination des Bruchstückhaften hinaus - als sinnvoll: Die „Konzentration auf den Sinn führt zur Vernachlässigung der Form [...] die Vollkommenheit der Form lenkt die Aufmerksamkeit auf die Form selber und nicht auf die innere Wahrheit.“ 306 Das gilt auch für Kants Werke, deren innere Wahrheit manchmal nur zu erschließen ist, doch ist der beabsichtigte Zweck ein Leitfaden: Kant selbst war wenig bekümmert um die äußere Erscheinung seiner Werke, seine Konzentration auf den Sinn ließ ihn oft um einen angemessenen Ausdruck ringen, er feilte aber selten so hartnäckig am Ausdruck wie ein Künstler, der unermüdlich die Vollkommenheit des Einen erstrebt, auch oder gerade durch die Vernachlässigung oder den Verzicht des Anderen. Dennoch kann die Berücksichtigung solcher Besonderheiten das Verständnis des Nachlässigen im Op erleichtern, obwohl die Crux der Kantforschung davon kaum berührt ist, dass Kant den Sinn des von ihm Gemeinten manchmal weder im Einzelnen 306 D. T. Suzuki Zen und die Kultur Japans. Reinbek 1958. S. 12. <?page no="168"?> 160 noch im Kontext klar ausgedrückt hat. Diese sprachliche, gedankliche Großzügigkeit oder Nachlässigkeit Kants bei der Ausarbeitung und Drucklegung seiner Werke sollte bei einem Alterswerk mit seinen gleichsam naturbedingten Eigenheiten berücksichtigt werden, zumal sie sich umfassend ausgewirkt hat, nicht nur die Theorie betreffend, sondern auch die Praxis, den Alltag: Kants mangelnde Vorsorge für sein Hauptwerk hat die Geschichte des Op mitbestimmt. Zu den sinnvollen, formlosen Entwürfen für dieses, seine Philosophie zusammenfassende ideale Ganze gehören die Grenzen, die alles Menschliche charakterisieren, deren genauere Erfahrung gewöhnlich dem Alter zugehörig ist und zu deren grundsätzlicher Erfassung und Bewusstwerdung beigetragen sowie sie mit seinem transzendentalen Idealismus, mit der Aufforderung, sich der Grenzen bewusst, weise zu werden, beantwortet zu haben zu Kants Größe gehört: Stückwerk ist unser Erkennen und Tun - der frühreife Kant hat es im Aufstieg erleben müssen, recht bedacht hat aber auch er es erst im Abstieg; denn ein vollendetes Ganzes ist zwar als Idee denkbar, doch dem Menschen grundsätzlich entzogen - jedes mögliche Ganze ist, als in einem bestimmten Zeitraum und an einem bestimmten Ort entstanden, Teil seines Ursprungs, dessen Signatur es kennzeichnet; es ist Glied in einer Kette eines im Größten wie im Kleinsten dem Menschen unzugänglichen Universums. In der Verdeutlichung sowohl der Unverzichtbarkeit des Ideellen als auch der grundsätzlichen wie subjektiv bedingten Grenzen unserer Welt, unseres Tuns und unserer Möglichkeiten liegt ein Sinn des Fragmentes als eines Unfertigen; auf diese an- und hindeutende Weise kann das bloß Denkbare und Unerreichbare eines idealen Ganzen repräsentiert werden, gleichnishaft über sich hinaus weisend; denn in allen Grenzen ist auch etwas Positives und das Wissen bis zu den Grenzen macht demütig. Dieses demütige, sich der Grenzen bewusste Wissen wird folgerichtig die Einstellung zu Leben, Gesellschaft und Welt umwandeln und es erleichtern, die Idee der Weisheit, das Eigentliche und Wesentliche des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zu verstehen (vgl. B XXX). So erscheint Kants letztes Werk, unabhängig von seiner Überlieferung, in seinen Bruchstücken, Aussagen und Absichten als folgerichtige, repräsentative Arbeit eines angenommenen und nicht nur erlittenen, einsamen Alters; Kants Lebenseinstellung war insgesamt, trotz vieler Enttäuschungen und Entbehrungen, keine zwiespältige, zweifelhaft-fragliche, sondern eine einverständige; alle anscheinenden Widersprüche lösten sich, indem er Gott, Welt und Mensch als verbunden erkennen konnte: Diese gleichsam visionär erfasste Einheit der Erfahrung ist naturgemäß offen und grenzenlos, in ihrem Reichtum wie in ihrer Größe nicht annähernd zu erfassen oder zu erfahren, über jedes Vorstellungsvermögen hinaus und stets nur ausschnitthaft, raum-zeitlich begrenzt, zu erkennen, zu verstehen und darzustellen - zudem künstlerisch-philosophisch gültiger und bleibender als wis- <?page no="169"?> 161 senschaftlich; darum ist Kants System-Titel - ungeachtet seiner Problematik - vielleicht auch für eine philosophische Summe angemessener, zumindest als Hinweis auf die Bedeutung des so repräsentierten Ordnungs-Gedankens, als einer der ausführlicheren Gott, Welt, Mensch-Titel, deren detaillierteren Angaben allenfalls aphoristisch-essayistisch gerecht zu werden sein kann. Die Grenzen alles Menschlichen und Irdischen werden jedem bewusst, der sich größeren Aufgaben oder Themen stellt; das kann niederdrückend wirken oder anspornen, Grenzen zu erfahren, zu gestalten oder zu erweitern. Auch so ist das Paradoxe zu erkennen und erleben, zugleich Teil und Ganzes, gebunden und frei, ein vergängliches, sich unbewusst oder bewusst veränderndes, vernunftbegabtes Individuum und abhängiges Sinnenwesen in einem unbegreiflichen kosmischen Ganzen zu sein, ohne anderes als Bruchstücke bruchstückhaft bewältigen zu können; angesichts dessen konnten und können - im Kontext einer gleichzeitigen Verweltlichung - resignative oder nihilistische Folgerungen erwogen oder gezogen werden, und derartiges lag, seit Nikolaus von Kues und Kopernikus in die kosmische Unermesslichkeit geblickt hatten, im Denkhorizont des Menschen, wie Leonardo da Vinci, Giordano Bruno und Shakespeare zeigen; auch Kant selbst ist - wie Leibniz - einem Bedenken des Nichts keineswegs ausgewichen (vgl. KU 5; 452). Erst vom Hauptwerk aus ist seine Leistung angemessen zu würdigen, sich in dieser, in der Neuzeit verschärfenden Lage und Orientierungskrise um ein folgerichtiges Verständnis des Menschen im Kosmos bemüht zu haben, nicht nur philosophisch, sondern ausdrücklich die Ergebnisse der Naturwissenschaften einschließend, die positivistischen, bürgerlichen Weltbilder seiner und unserer Zeit zu Ende denkend und überwindend: Kants Weg der Vernunft endete altersangemessen und fachgerecht in der Forderung Sei weise. Es entspricht der Liebe zur Weisheit, sich streng um Sinn zu bemühen auch bei einer Vernachlässigung der Form oder einer verborgenen Ordnung; das lässt sich mitunter leichter in der Kunst als in einem philosophischen Werk erkennen, wie etwa bei Michelangelo, Rodin und in der Malerei; aber auch Nikolaus von Kues gelang es, das ihm Wesentliche auf einigen Seiten zusammenzudrängen, als er, vier Monate vor seinem Tode, Die höchste Stufe der Betrachtung darstellte (De apice theoriae; 1464). Kant hat für sein Hauptwerk Titel entworfen, die mehrfach das Thematisierte als höchsten Standpunkt oder höchste Stufe (21; 32; 54; 59; 63) kennzeichnen, auf die er bereits in der Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden hingewiesen hatte (8; 413) und die verschieden gestaltet und entgegengesetzt ausgedrückt werden kann: komprimiert, in nuce, wie von Kusanus, oder durch eine umfassende, unausdeutbare Repräsentation des Ganzen und seiner verborgenen Ordnung, wie in der Göttlichen und menschlichen Komödie, im Faust, im Peer Gynt - der allerdings wie die beiden Komödien kein Alterswerk ist, - oder als ganzer Inbegriff der reinen Philosophie, wie Kant sein Hauptwerk wohl nennen wollte. Es kann nicht anders sein, als dass eine <?page no="170"?> 162 vielfältig vorzubereitende, entsagungsvoll zu erarbeitende höchste Stufe am schwierigsten zu ersteigen ist und am seltensten erstiegen wird, weil - wie im Gebirge - nur wenige die Mühen eines Aufstiegs - mit Kant: die praktischen, täglichen Folgerungen einer Umkehr - auf sich zu nehmen bereit sind; die damit auch für die Rezipierenden verbundene, zunächst unbequeme Folgerung und Forderung ist indes so alt wie die Weisheitsliteratur und folglich fast jedem, auch einem jungen Menschen, zugänglich; so hat sie schon der junge Rilke ausgesprochen im Archaischen Torso Apollos: denn da ist keine Stelle,/ die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern. Rilkes, zugleich gegen einen unverbindlichen Kunstkonsum gerichtete Forderung, gemäß dem Gedanken der Kalokagathie, des Schönen und Guten, hat auch Kant ausgesprochen in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft im berühmten, abschließenden Paragrafen Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit (5; 351ff.), dessen letzter Satz lautet, dass die Versinnlichung sittlicher Ideen im Kunst-Schönen für die Menschheit überhaupt gültig und dass die wahre Propädeutik zur Gründung des Geschmacks die Entwicklung sittlicher Ideen und die Kultur des moralischen Gefühls sei (356). Das wurde und wird kaum ernsthaft - also nicht bloß wissenschaftlich-theoretisch - beachtet und nur selten in seinem existenziellen Anspruch ernst genommen, obwohl es in Kants Werken vorbereitet und für den Einheitsgedanken und die höchste Stufe unverzichtbar ist. Rilkes klassische Aufforderung, das eigene Leben zu ändern, ist ein Appell an die Bereitschaft der Rezipierenden zu einer Herzensänderung, an ihren guten Willen und ihr ernsthaftes Bemühen, ein neuer Mensch zu werden, um es im Blick auf Kants Hauptwerk zu sagen. Diese Bedingung der Wirksamkeit, der angemessenen Rezeption von Kunst- und Alterswerken oder philosophischen Einsichten ist nur selten erfüllt; denn schon vom Kunstwerk als Ganzem gilt, dass es „nur wenigen am Herzen liegt“ 307 , dass nur Einzelne bereit und bemüht sind, Geistiges, getrennt von Geld und Gut als den Göttern dieser Welt, ernst zu nehmen - die Geschichte des Op spricht für sich. Kants, dieses prinzipielle Problem aller Kunst, aller Aufklärungs- und Reformbestrebungen nicht berücksichtigende, aufklärerische, rigorose Behauptung ist berühmt geworden: Er hatte vereinfachend, aber unpolitisch und einseitig Faulheit und Feigheit als zeitlose, allgemeine Ursachen, den Schritt zur Mündigkeit nicht zu tun, genannt (Aufkl. 8; 35). Energie und Mut sind natürlich wichtig; denn allgemein ist von einer Widerspenstigkeit der Dinge zu sprechen, die gegebenenfalls durch eine, mitunter Mut erfordernde Anstrengung zu überwinden ist - wie sich gesellschaftlich-politisch durchaus extrem gezeigt hat und weiterhin zeigen wird. Kant hat seinen oft zitierten Aufklärungs-Appell, wohl auch unter dem Eindruck der Französischen Revolution, schließlich erweitert, modifiziert und korrigiert, indem er das Sapere aude neu übersetzte: Sei weise... 307 W. H. Friedrich S. 209 Anm. 45; s. Anm. 78. <?page no="171"?> 163 Damit hatte er sich erneut Platon genähert, der aus diesem komplexen Problem seine esoterischen Folgerungen gezogen hatte, während sich Goethe, durchaus im Sinne Kants - die Zeit sichtet alles, und nur das erhält sich, was einen inneren Wert hat -, über Platon hinaus zuversichtlich geäußert hat: „Niemand mag [Anderes; Rh.] lesen als das, woran er schon einigermaßen gewöhnt ist; das Bekannte, das Gewohnte verlangt er unter veränderter Form. Doch hat das Geschriebene den Vorteil, dass es dauert und die Zeit abwarten kann, wo ihm zu wirken vergönnt ist.“ 308 Das trifft durchaus auf Kants Alterswerk zu und lässt sich allenfalls zur Entlastung ihres ersten Gutachters, des Kommentators der KrV Schultz anführen: Das Op ist so unkonventionell, dass er zur Herausgabe nicht raten konnte: „Die konventionelle Thematik ist die Feindin der unkonventionellen und lässt kein Interesse an der besonderen Absicht des Verfassers aufkommen.“ 309 Wie auch immer sich Alterswerke darbieten mögen, sie können allenfalls gerühmt, aber auf Grund ihrer Natur, ihres existenziellen Anspruchs und ihrer besonderen Nähe und Distanz zu Leben und Tod kaum so volkstümlich werden wie andere Arbeiten desselben Urhebers. Das gilt unabhängig davon, ob ein Werk vollendet ist - wie etwa die letzten Arbeiten Platons, Shakespeares, Goethes, Verdis, Melvilles, Fontanes, Ibsens und Rilkes - oder nicht, wie bei Michelangelo, Bach, Kant, Ranke, Dostojewski, Dickens, Bruckner, Balzac und Raabe; denn die Distanziertheit des Publikums beruht im Wesentlichen nicht auf dem Non finito, sondern auf der gültigen, geheimen oder unübersehbaren Gegenwart und dem An-Spruch des Todes sowie der damit scheinbar verbundenen Lebensferne, auf dem prima vista fremden, zum Mut und zur Mühe des Selbstdenkens und der Bereitschaft zur Umkehr auffordernden Charakter und Sinn des jeweiligen Werkes. Alterswerke haben demnach ihre eigenen Verständnisbedingungen, sie wirken im Allgemeinen anfangs oder dauernd eher abweisend als anziehend, nicht nur verglichen mit anderen oder den bekannten oder bekannteren früheren Arbeiten ihrer Urheber, in deren Schatten Alterswerke meist auch dann bleiben, wenn sie von Dilettanten - wie dem Pastor Krause - oder Wissenschaftlern entdeckt, in ihrer Eigenart angenommen sowie in ihrem Eigenwert erkannt und erforscht worden sind. Das ist nicht selten erst lange nach ihrer Entstehung der Fall; denn zunächst wurden und werden sie oft genug wenig oder gar nicht beachtet. Sobald sie erschlossen sind, fällt im Allgemeinen ein neues Licht auch auf die ihnen vorangegangenen Arbeiten, sodass sich vom Ende her manchmal ein eigentümlicher Gesamtzusammenhang vom Leben eines Menschen, seinen Arbeiten und Erlebnissen, seiner Erfahrung zeigt. Dem entspricht es, im Op, nicht zuletzt auf Grund der Eigentümlichkeiten und relativen Eigengesetzlichkeit von Alterswerken, 308 Maximen u. Reflexionen Nr. 891. 309 W. H. Friedrich S. 188. <?page no="172"?> 164 mehr Licht zu suchen, als darin bisher im Allgemeinen wahrgenommen worden ist und zum Teil, wegen seines Zustandes und seiner Überlieferung, wahrgenommen werden konnte - auch der Gesichtspunkt eines Alterswerkes rechtfertigt es, das Hauptwerk, seine Bruchstücke ernst zu nehmen: Kants Pfad endet mit der altersangemessenen, fachgerechten Weisheitsforderung, er hatte damit begonnen, einen, den Zeichen der Zeit gemäßen wissenschaftlichen Zugang zur Weisheit zu suchen - mit allen Vor- und Nachteilen dieses Weges, strenger als seine Weggefährten Hamann und Herder. Kant hatte sich bemüht, zunächst das Problem der Kraft, dann das Ganze zu verstehen: Seine Kosmologie zeigt den Menschen zwar gleichsam verloren im All, doch als Teil einer Ordnung im Kleinsten wie im Größten, eingeordnet in ein Universum, das in seinem Plan, in seinen Gesetzmäßigkeiten und Regeln genauer zu begreifen zu einer vielgestaltigen Lebensaufgabe Kants wurde, die er als Homo religiosus bewunderns- und auch heute noch bedenkenswert bearbeitet hat. 7. 2. Die verborgene Ordnung: Alles geschieht nach Regeln „Alles in der Natur geschieht nach Regeln, und es gibt überall keine Regellosigkeit“ (Lo. 9; 11.) - das gilt für den ganzen Menschen, seine Seele, seine Vernunft, seinen Körper, weil und insofern er ein Teil der Natur ist: Kants System-Denken ist als Konsequenz und Ausdruck dieser Regelhaftigkeit zu verstehen. Regeln werden durch Ausnahmen bestätigt und verweisen, damit verflochten, auf Übergänge, Wahrscheinlichkeiten, Tendenzen, Hierarchien und Grenzen, die wiederum auf Unerkennbares deuten; damit sind Prioritäten geben, die nicht ohne weiteres übergangen werden können, wie sich früher oder später zeigen wird, etwa in Gesundheit und Umwelt; das Bemühen um Regelhaftigkeit muss darum für eine angemessene Welt- und Lebensbewältigung möglichst vorurteilslos, selbstkritisch, offen und auf das Wesentliche gerichtet sein: Bei allem Tun und Lassen sind das Ende, das Ganze, Zweck und Ziel, Gaben und Aufgaben mit ihren Regeln zu bedenken und berücksichtigen; eine regelrechte Auswertung oder gar Anwendung seiner Erkenntnisse der Ordnung der Wirklichkeit konnte Kant bei seinen so verschiedenen Arbeiten und Interessengebieten, von der Astronomie, Pädagogik, Politologie bis zur Wissenschaftstheorie, allenfalls ansatzweise möglich sein; zudem blieben sein Welt- und Selbstverständnis naturgemäß innerhalb der Grenzen, die ihm seine unerkannten psychischen Probleme, den Regeln, der Ordnung des Seelenlebens gemäß, setzten, ihn damit unumgänglich in seiner Theorie und Praxis, in seiner Selbsterkenntnis und seinem Weisheitsstreben beschränkend, den Grenzen eines jeden Lebens entsprechend - sapere aude… Im Blick vom Op auf Kants, sich über einen Zeitraum von fast zwei Generationen erstreckende Werke ist zu sehen, wie streng und regelrecht er <?page no="173"?> 165 sich, trotz aller Schwankungen, Um- und Abwege, darum bemühte, das Ganze seines Daseins in Gesellschaft und Welt zu verstehen, indem er, um die Grundlagen seines Vorhabens zu erschließen, zunächst von den Naturwissenschaften zur Philosophie, von der Physik zur Metaphysik und endlich von deren Anfangsgründen in der Naturwissenschaft wieder zur Physik überging, dabei erkennend, dass er sich, wie die großen Naturwissenschaftler, Künstler und Philosophen, auch mit dem Herzen um Wirklichkeit und Wahrheit bemühen müsse, um dem Menschen als Bürger zweier Welten, als Gott und Welt verbindend näher zu kommen. Die damit verflochtenen Entwicklungen und Einsichten, Übergänge und Wandlungen, Revolutionen und Revisionen ermöglichten die Vision eines zwar spannungsreichen, aber widerspruchsfreien, absoluten Ganzen der Philosophie; diese Annäherung des Denkens an die Eine, gegensätzliche, geheimnisvolle Wirklichkeit ist zu erkennen und verdeutlichen am Fortschreiten von der Erkenntniszur Selbstkritik, von der Fremdzur Selbstaufklärung sowie von der Philosophie im üblichen, inflationären Verständnis zur Philo-sophia im ursprünglichen, platonischen Sinn als Liebe zur Weisheit, als Weisheitsforschung und Theologie, eine Auffassung, seiner und unserer Zeit zuwider, sodass zwar wer will von Weisheit eso- oder exoterisch spricht, aber nicht vernünftig-konsequent im Sinne Platons und Kants als eines praktisch anzustrebenden, Selbsterkenntnis und -besserung voraussetzenden und dazu verpflichtenden Zieles, das auch wissenschaftlich zu begreifen ist und folgerichtig zur Einheit dieses Ganzen von Gott, Welt und Mensch führt, in der erst die Würde des Animal rationale erkannt und begründet werden kann. Angesichts der uns verborgenen Ordnung der Dinge hat Kant Grenzen betont: Die erkenntniskritische Grenz-Frage des Geowissenschaftlers, wie viel Ordnung und Wartung die Erde braucht, um dem menschlichen Geschlechte den Unterhalt darzureichen (Erde 1; 197), wird jetzt ernst genommen, da Kants Befürchtung, die Menschheit könne sich selbst vernichten, Wirklichkeit zu werden droht: Die praktischen Folgerungen der meist nur theoretisch traktierten Ordnung der Dinge sowie der praktischen Vernunft werden oft nicht einmal vermerkt, obwohl Kant sie verdeutlicht hat, unabhängig davon, dass er sie selbst nicht immer beachtet hat, im Großen wie im Kleinen, hinsichtlich des schönen Scheins, des Optimismus und Pessimismus, der Unbeständigkeit der Welt und des Fortschritts, des Irrtums, der Menschlichkeit und der Todesstrafe, der Frau und des Christentums, in seiner Lebensweise und Ernährung, vor allem im Alter. 310 Gleichwohl wird vermutlich niemand Kant absprechen, dass er sich trotz auffälliger Schwächen zeitlebens um Ordnung bemüht hat im Denken, Fragen und Leben, sei es mit seiner pedantischen Tageseinteilung, sei es mit den analytischen Subtilitäten seines nie zur Ruhe kommenden Philosophierens, sei es mit seinem Kampf 310 Die These, es sei Kant gelungen, „in höchstem Maße konsequent“ zu sein (Stangneth S. LVIII), dürfte nur in wenigen Fällen zu bestätigen sein. <?page no="174"?> 166 für Würde und Rechte des Menschen: Der geistigen Lebendigkeit Kants stehen Erstarrungsansätze gegenüber, die sich schon bei der Ausbildung seiner Philosophie zeigen und sich später zu einer teilweise alttestamentlichen Strenge verhärteten, die zu dem verbreiteten Bilde Kants als eines der tiefsten Propheten des deutschen Humanismus nicht ganz passt: Gefühlsausbrüchen wie bei Beccaria, denen unbewältigte Empfindlichkeiten, Verletzungen und Defizite zu Grunde liegen, stehen ebenso seltene, berühmte Ausrufe gegenüber: „Pflicht! du erhabener, großer Name“ (KpV 5; 86), „O Aufrichtigkeit! du Asträa, die du von der Erde zum Himmel entflohen bist“ (Rel. 6; 190 Anm.). Wie bei der Achtung fürs Gesetz und dem Enthusiasmus, wie durch einige Briefe und Berichte sowie durch seine Einstellung zur Musik und sein passives Verhalten der Kunst gegenüber sind Gefühlsprobleme zu erkennen, die sich manchmal hart äußerten. Damit ist ein Zwiespalt von Vernunft und Gefühl angedeutet, der sich nicht nur in Anspruch und Einspruch, in Enthusiasmus und rationalistischer Analyse und Kritik äußerte, sondern auch in der dadurch herausgeforderten Überwindung und Aufhebung des Zwiespältigen in den programmatischen Ideen der Einheit und des Ganzen, die also nicht nur philosophisch-sachlich begründet und motiviert waren, sondern auch persönlich-unbewusst. Kants Weg vom Krieg zum Frieden war ein grundsätzlicher, auch ihn selbst betreffender, endend in der (Selbst)Aufforderung sei weise... Der emeritierte Kant war fast noch immer mit jugendlicher Lebhaftigkeit wirksam, ähnlich dem allerdings neun Jahre jüngeren Wieland, den er mit diesen Worten gegenüber dessem Schwiegersohn pries (an Reinhold; 7. 3. 1788) und den er unkritisch als den größten deutschen Dichter zu rühmen pflegte 311 . Wie auch sein apodiktisches Eintreten für die Todesstrafe erkennen lässt, konnte ihn beides, der Lauf, den er in seiner Jugend angetreten hatte und an dessen Fortsetzung ihn nichts hindern sollte, ebenso wie eine gewisse Strenge hindern, anderen gerecht zu werden oder sie zu verstehen und die Meinungsverschiedenheit, den Ein- oder Widerspruch sachlich und kritisch, vernünftig aufzuklären. Es war folgerichtig, dass Kant am Rechnungsabschluss arbeitete, oft noch, wenn Hasse zum Essen kam - es war unklug, sich diesem Anspruch angesichts der verborgenen Ordnung der Dinge und der Grenzen des Menschen so spät zuzuwenden - zu spät für eine Veröffentlichung; auch wären ein Abriss, eine Kurzfassung, Prolegomena des Hauptwerkes, vorab gedruckt, sinnvoll gewesen - die Schriften, für die sich Kant bei schwankender Gesundheit, trotz der unaufhörlichen Hindernisse (A 798), der im Alltag eines berühmten Gelehrten unvermeidlichen Störungen sowie in seinem Alter Zeit genommen hatte, waren teuer zu bezahlen: Strenge kann stören, nicht nur theoretisch-philosophisch, sondern im Kleinen, im Alltag. Strenge und Schwächen summierten sich angesichts der Grenzen des Menschen, der Hindernisse zu einem Komplex der Kärrner- 311 Jachmann S. 165. <?page no="175"?> 167 Arbeit, des Kuriosen, der Lücken, Lügen und Langeweile, zu dem Kant beigetragen hat, weil er die negative Weisheit, die Einsicht der notwendigen Beschränkung (Theod. 8; 263), außer Acht ließ, was sich auch auf das Hauptwerk ausgewirkte. Naheliegend und normal wäre gewesen, wenn er, als ihm das Leben zur Last geworden war, wie Hasse aus dem Jahre 1803 berichtet (S. 19), testamentarisch verfügt hätte, was nach seinem Tode mit diesem Werk zu geschehen hätte; das hat er versäumt, obwohl er in dem berühmten Depositum-Beispiel 312 , fast ironischerweise und ein wenig prophetisch, einen Fall beschrieben hat, in dem der Eigentümer eines Depositums verstorben ist und keine Handschrift darüber zurückgelassen hat; Kant fragt, ob jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen könne (KpV 5; 27 Anm.), zog aber keine praktischen Folgerungen aus diesem theoretischen Fall - bereit sein ist alles: Kant hat in der Religionsschrift zwar Shakespeare zitiert (6; 174), kannte selbstverständlich die dem entsprechenden biblischen Mahnungen und hatte ein Testament deponiert, für ein potentielles Chef d’oeuvre bedachte er jedoch weder den Unbestand der Welt noch die fragliche Freundschaft von Menschen, zu deren Natur das Böse gehört - weshalb um jeden Einzelnen Betrug, Gewalttätigkeit und Neid immer im Schwange gehen, ob er gleich selbst redlich, friedfertig und wohlwollend ist: Diese condition humaine verdrängte Kant mitunter, dem Hass der Hinze’s stand eine kindliche Gutgläubigkeit gegenüber 313 : Dem Stückwerk-Charakter des Erkennens und Tuns ist ein Torso, ein System ohne Kopf und Glieder angemessen - um wie viel mehr sind es die wenigen, zufälligen Reste des Hauptwerkes, zumal angesichts der unbewältigten Spannung zwischen Kants Ansprüchen und seinem Weisheits-Ideal; auch Unklugheiten und Inkonsequenzen sind meist unweise; doch ein freier Blick auf das radikal Böse ist kaum möglich und erträglich, die Bosheit des Herzens kann so abgründig sein, dass man sich, zumal als Opfer böser Willkür (Rel. 6; 23 Anm.), angesichts der Größe dieser Gegenkraft scheuen kann, ihr im Alltag Rechnung zu tragen; statt dessen wird man nicht in solche Abgründe blicken und einen leichteren Weg suchen und gehen, mehr oder minder kompensatorisch, kindlich-gutgläubig, optimistisch oder auch resignierend: Diese verbreiteten Verhaltensweisen können verdeutlichen, wie schwer es dem einsamen Kant gefallen sein muss, Neid, Schlingen, Verleumdungen zu erkennen, zu ertragen und anzunehmen als ihm zugedacht - den Hass der tierisch Verkrüppelten konnte er, trotz seiner Klagen, offenbar nicht ganz begreifen. Dagegen schien die übliche Schauspielerei, der er ausgesetzt blieb, harmlos, vielleicht hat er auch deshalb elementare Vorkehrungen für das Hauptwerk außer Acht gelassen: Er blieb eingebunden in eine verkehrte Welt, die unentwegt als richtige propagiert wird und deren Schein ihn weiterhin, 312 Vgl. Cramer in: Akt. IX. Kant-Kongr. 1. Bd. S. 116-130. 313 „Kindlichkeit drückt den ganzen Kant aus“; Johann Georg Scheffner, langjähriger Freund Kants, bei Borowski S. 72. <?page no="176"?> 168 allenfalls abgeschwächt, herausforderte: Die normativen Kräfte des Faktischen und des Fortschritts erreichen jeden - im Leben, im Sterben und neuerdings viele lange vor der Geburt… So ist zu verstehen, dass die Falschheit von Hinz und Kunz zwar gelegentlich gesehen wird, aber kaum Konsequenzen hat - nicht einmal aus den Persönlichkeitsstörungen der Hinze’s ergeben sich, angesichts des Ozeans der Gleichgültigkeit, besondere Folgen, sondern allenfalls kleinere Niederlagen, die ihre Schauspielerei und ihren Hass anstacheln. Kant hatte Borowski aus seinem Freundeskreis verabschiedet, aber nicht ganz folgerichtig; er hatte sich Gensichen als Herausgeber gewünscht, aber ebenso wenig folgerichtig; auch dem Charakter, den Schatten Wasianskis hat er sich nicht gestellt; der Diakon ist weder seiner Verantwortung als Nachlassverwalter noch dem verpflichtenden Vertrauensvorschuss, mit dem Kant ihn gewürdigt hatte, im Geringsten gerecht geworden - sein Verhalten sprengt den Rahmen jedes Kuriosums, was wohl nicht vorauszusehen war, aber zu verhindern gewesen wäre. Es war also auch ein wenig Theorie, wenn Kant von der tief im Verborgenen liegenden Unlauterkeit, da der Mensch sogar die innern Aussagen vor seinem Gewissen zu verfälschen weiß (Theod. 8; 270), geschrieben hat; der bittere Erfahrungshintergrund dieser und seiner sonstigen Schilderungen des Bösen hatte nicht ganz ausgereicht, seine Praxis zu bestimmen. Wahrheit und Vernunft-Ansprüche sind konkret: Der lange vor ihm verstorbene Dichter, Kritiker, Aufklärer und Wolfenbütteler Bibliothekar hatte mit seiner Kritik, Kants erste Arbeit betreffend, auch für dessen letzte nicht ganz unrecht, entsprechendes gilt von Hamanns Raisonneur hinter dem Ofen und in der Schlafmütze… 7. 3. Fürs Weltbeste arbeiten Das Ganze ist im Fragment zu erkennen als Frucht einer geistigen Liebe, eines lebenslangen, im Wortsinne philo-sophischen Prozesses, der unabschließbar ist und bruchstückhaft bleiben musste. Kants Fortschreiten von der Unruhe der Umkippungen, des Zweifelns und Suchens zur altersweisen Gelassenheit, sein Leben zu guten Zwecken zu gebrauchen, ist gleichsam, wie Hans Saner erkannte, ein Weg vom Krieg zum Frieden in Widerstreit und Einheit - eine Vision, die Revisionen erforderte; die Selbstaufklärung von Illusionen, Irrtümern und Zweifeln ist begrenzt, nur einiges ist klären - manches ist entwicklungsgeschichtlich oder als Rezeptionsproblem zu verstehen, anderes war kenntnis- und zeitbedingt; viele Gedanken hat Kant kaum oder gar nicht, geschweige denn folgerichtig, verfolgen können - die Kärrner haben zu tun, es bedurfte einiger Forschergenerationen, eines extremen Wissenszuwachses und größeren Problem- und Methodenbewusstseins, um zu erkennen, wie weit und in wie vielem Kant nicht nur seiner Zeit voraus war - vielleicht hat er in den verlorenen Teilen des Op ausgearbeitet, dass <?page no="177"?> 169 innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft der Kern einer Religion nicht zu erfassen sein kann - in seiner Gottesvorstellung hat er es bejaht und sich in seiner Religionsschrift nicht streng an den Titel gehalten; vielleicht hat er auch seine Scheu, Glauben und Gebet als Geheimnis anzuerkennen, überwunden als Folgerung aus der transzendentalen Theologie als höchster Stufe des Philosophierens: Glauben und Gebet können gar nichts anderes sein als Mysterium. Die angedeuteten Schwächen und - im Hinblick auf das Christentum - Verständnisschwierigkeiten sind verbreitet und werden, trotz aller Korrekturen, weiter verbreitet; sie lassen sich auch bei Kant erklären als mitbedingt durch seine Kindheit und Jugend, durch die Schrecken der Schulzeit und das frömmlerische Milieu Königsbergs; wieder können Herder und vor allem Hamann, die ihm zeitweise nahe standen, zeigen, dass eine, von Pharisäern, Lauen, Egoisten und folglich von Lieblosig- und Ungerechtigkeiten, Machtmissbräuchen, Verdrehungen und Verbrechen aller Art mitbestimmte Umwelt ein strenges Denken auch auf religiösem Gebiet zwar be-, aber nicht verhindern kann, obwohl der Erfolg des Bemühens um eine Annäherung an die Wirklichkeit in jedem Falle nicht nur in der Macht des Menschen liegt - Kant hat damit das Recht, aus Menschenliebe zu lügen, bestritten, ein weiteres Beispiel für eine psychisch mitbedingte Inkonsequenz: Der Mensch ist so vielfarbig, dass er auf das Einfache nicht gefasst ist - vielleicht waren die Kraft des Geistes und des Herzens in Gebet und Glauben allzu einfache Überlegungen auch für Kant; er hat diesen Pfad, der auch eine Folgerung und Forderung des Einheitsgedankens ist, zu spät beschritten, um sein System vereinfachen zu können: Die Folgerichtigkeit des Simplex veri sigillum lag nur in wenigen Fällen auf seiner letzten Wegstrecke: Die Übersetzung des Sapere aude mit der (Selbst)Aufforderung Sei weise zeigt noch einmal, nach der Einordnung seiner dualistischen und anthropozentrischen Tendenzen in ein ganzheitliches, theozentrisches Weltbild, seinen Mut zur Wahrheit, zum strengen Denken, zur Revolution, zur Revision... In diesem Mut, selbst zu denken auch hinsichtlich des eigenen Ich, im Willen, sich selbst zu kritisieren und korrigieren, die eigenen Grenzen zu erkennen und anzuerkennen sowie daraus Folgerungen zu ziehen, besteht nicht zuletzt Kants Größe: Seine letzten Aufzeichnungen zeigen einen gegenüber den Kritiken fortgeschrittenen, seinen Glauben vertiefenden und so verwandelten, nach Weisheit strebenden Kant, der sich bemühte, ein sein Werk folgerichtig weiterentwickelndes und abschließendes Weltsystem zu entwerfen; er war nicht nur quantitativ erfahrener geworden, er hatte mit der höchsten Stufe der Einheit der Erfahrung von Gott, Welt, Mensch einen qualitativen Schritt getan in der Liebe zur Weisheit als Antwort auf die edle Abkunft der Vernunft als dem göttlichen Ziel des Menschen: Kants Philosophie erscheint in ihrer Größe und ihren Grenzen in einem neuen Licht. Indem sich Kant bis zum Schwinden der Kräfte bemühte, philoso- phisch zu leben, war er, wie er es von einem Professor als Lehrendem gefor- <?page no="178"?> 170 dert hatte, ein Vorbild, ein Bekennender - so bezeugen es seine Schüler und Zeitgenossen: Als wahrer Lehrer der Humanität - dessen, was im Sinne Herders das Beste am Menschen, sein sittliches Sein, die Liebe des Herzens, die Religiosität, das Denken, das Kunstschaffen ausmacht 314 -, wurde er nicht nur von seinen Studenten und in Königsberg geliebt und verehrt, sondern, ungeachtet seiner Schwächen und aller Schwierigkeiten seines Werkes, trotz aller Missverständnisse und Anfeindungen, weit darüber hinaus - räumlich und zeitlich, nicht zuletzt praktisch-streng, wie ihn viele begriffen, die seine Theorie kaum oder gar nicht kannten - auch das war das alte Preußentum, Zucht, Ordnung und wenig Worte, wie es der ‚Münchner’ Heisenberg immer bewundert hatte: Pflichterfüllung als Kraft eines alten Leitbildes 315 , das Kant philosophisch befestigt und gelebt hat und das für jeden Menschen, wenn er der-gleichen denken will (A 807), im bestirnten Himmel und moralischen Gesetz zusammengefasst ist: Die ganze Zurüstung der Vernunft ist darauf gerichtet zu wissen, was zu tun sei. Da dieses unser Verhalten in Beziehung auf den höchsten Zweck betrifft, so ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellt. (A 800f.) Folgerichtig bildet, der kritischen Philosophie und dem Weisheits-Ideal gemäß, den „Schlusstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft“ (KpV 5; 3f.) das Moralisch-Praktische (22; 489), das es, angesichts ständig neuer, verwirrender Anfechtungen und Lehren, den Zeichen der Zeit gemäß so gut wie möglich zu begründen gilt, woraus sich Aufgabe und Ziel einer Synthese, einer Summe des Philosophierens und der Erfahrung ergeben. In diesem, dem Moralisch-Praktischen dienenden, einzig zu diesem Zweck zu errichtenden Bau war die mehr oder minder folgerichtig verarbeitete, positive und negative Erfahrung des Lebens und Denkens des Menschen Immanuel Kant verpflichtend aufgehoben - verpflichtend zu dem Versuch, antwortend und ansprechend zu zeigen, was der Mensch im Ganzen sein muss, um ein Mensch zu sein. In dieser Pflicht wurde der greise Kant bestärkt durch die verlockende Vision eines Hauptwerkes, eines geistigen Kosmos, von dem so viel vorliegt, dass es möglich ist, das Ganze im Fragment zu erkennen und zu würdigen. 314 Vgl. E. Trunz Weltbild und Dichtung im deutschen Barock. München 1992. S. 176. 315 W. Heisenberg Der Teil und das Ganze. München 1969. S. 246f. <?page no="179"?> 171 Literaturverzeichnis 1. Quellen Biographie Hippels. Gotha 1801; zit. nach: H. Noack Die Religionsphilosophie. Borowski, L. E.: Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants. Königsberg 1804; zit. nach: Immanuel Kant. 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