Bedeutung als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft
Texttheoretische und semiotische Entwürfe zur Kritik der Semantik dargelegt anhand einer Analyse zu avkou,ein in Mk 4
0428
2010
978-3-7720-5331-3
978-3-7720-8331-0
A. Francke Verlag
Kristina Dronsch
Die vorliegende Arbeit bietet einen Beitrag zur Klärung der theoretischen Grundlagen neutestamentlicher Wissenschaft: Kristina Dronsch analysiert den Begriff der Bedeutung und zeigt auf, inwiefern die Ergebnisse der theoretischen Explikation des Bedeutungsbegriffs für die Exegese von Mk 4,1-34 und die dortige Verwendung des Wortes a'???'e?? Gewinn bringend angewendet werden können. Auf der Grundlage einer semiotischen Bedeutungsbestimmung, die im Gefolge der texttheoretischen Entwürfe von J. Petöfi, T. van Dijk und U. Eco methodisch in Bezug auf Mk 4,1-34 Gestalt gewinnt, werden für die Exegese Regelnder Bedeutungszuweisung erarbeitet, die diesen Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft zu erhellen vermögen.
<?page no="0"?> A . F R A N C K E V E R L A G T Ü B I N G E N U N D B A S E L Kristina Dronsch Bedeutung als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft Texttheoretische und semiotische Entwürfe zur Kritik der Semantik dargelegt anhand einer Analyse zu α’ κο υ ´ει ν in Mk 4 <?page no="1"?> Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Band 15 · 2010 Herausgegeben von Eve-Marie Becker, Jens Herzer, Friedrich W. Horn, Oda Wischmeyer und Hanna Zapp <?page no="3"?> Kristina Dronsch Bedeutung als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft Texttheoretische und semiotische Entwürfe zur Kritik der Semantik dargelegt anhand einer Analyse zu α’ κο υ ´ει ν in Mk 4 A. Francke Verlag Tübingen und Basel <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 1862-2666 ISBN 978-3-7720-8331-0 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort ........................................................................................................... XI Einleitung ....................................................................................................... 1 T EIL A: Zur Kritik des Begriffs der Bedeutung .......................................... 11 I. Der Begriff der Bedeutung in eindimensionalen Bedeutungstheorien 13 1. Bedeutungstheorien der syntagmatischen Dimension ............ 13 1.1. Merkmalssemantik oder Komponentialsemantik ............... 14 1.2. Die Transformationsgrammatik ............................................ 17 1.3. Die strukturale Semantik nach Greimas .............................. 19 1.4. Die Wortfeldtheorie ................................................................ 24 1.5. Fazit ........................................................................................... 26 2. Bedeutungstheorien der semantischen Dimension ................... 27 2.1. Bedeutung als Idee .................................................................. 29 2.2. Bedeutung als Vorstellung ..................................................... 32 2.3. Bedeutung als konzeptuelle Repräsentation ....................... 36 2.4. Fazit ........................................................................................... 40 3. Bedeutungstheorien der pragmatischen Dimension ................. 40 3.1. Die „ordinary language philosophy“ ................................... 41 3.2. Praktische Semantik ................................................................ 45 3.3. Fazit ........................................................................................... 47 4. Zusammenfassung ......................................................................... 47 II. Der Begriff der Bedeutung in methodischen Zugängen zum Markusevangelium ................................................................................. 50 1. Der Begriff der Bedeutung in einem geschichtsorientierten Paradigma ....................................................................................... 51 1.1. Bedeutung im Rahmen formgeschichtlicher Ansätze zum Markusevangelium ............................................................... 51 1.2. Bedeutung in redaktionsgeschichtlichen Ansätzen zum Markusevangelium ............................................................... 55 2. Der Begriff der Bedeutung in einem textorientierten Paradigma 64 2.1. Bedeutung in der strukturalen Exegese ............................... 65 2.2. Bedeutung im „Narrative Criticism“ .................................... 68 3. Der Begriff der Bedeutung im textorientierten Paradigma unter Berücksichtigung der Leserperspektive ...................................... 75 3.1. Bedeutung im „Reader-Response Criticism“ ...................... 76 <?page no="6"?> VI 3.2. Bedeutung in einer dekonstruktivistischen Theorie ........... 81 4. Zusammenfassung ......................................................................... 84 T EIL B: Texttheoretische und semiotische Entwürfe zur Etablierung eines mehrdimensionalen Bedeutungsbegriffs ...................................... 89 III. Die Bedeutung und das Diskursuniversum eines Textes .................. 91 IV. Die Bestimmung der Bedeutung im Modell von Janos S. Petöfi ....... 96 1. Die Kommunikationssituation ..................................................... 101 2. Das Zeichenmodell ........................................................................ 105 3. Der Textbegriff und das Textmodell ........................................... 109 3.1. Der Textbegriff ......................................................................... 109 3.2. Das Textmodell ........................................................................ 117 4. Interpretationstypen, Interpretationsobjekte, Interpretationszielsetzungen ........................................................ 122 5. Textkonstitution und Textbedeutung .......................................... 125 5.1. Die Analyse der Textkonstitution ......................................... 126 5.2. Die Analyse der Textbedeutung ........................................... 127 6. Konnexität, Kohäsion und Kohärenz .......................................... 130 6.1. K onnexität ................................................................................ 131 6.2. Kohäsion ................................................................................... 133 6.3. Kohärenz .................................................................................. 134 7. Zusammenfassung der Bedeutungstheorie Petöfis ................... 137 V. Die Bestimmung der Bedeutung im Modell von Teun A. van Dijk .. 139 1. Das Verständnis der Textwissenschaft van Dijks ...................... 140 2. Das Textverständnis und Textverstehen nach van Dijk ........... 143 3. Die Oberflächenstruktur und die Textbasis ............................... 149 3.1. Die Oberflächenstruktur ........................................................ 149 3.2. Die Textbasis ............................................................................ 149 4. Das Situationsmodell ..................................................................... 150 5. Das „Control System“ .................................................................... 152 6. Das „Prior Knowledge“ ................................................................. 153 7. Die mögliche Welten-Semantik .................................................... 154 8. Kohärenz ......................................................................................... 155 9. Die Textbeschreibungsebenen ...................................................... 157 <?page no="7"?> VII 9.1. Mikrostrukturen ...................................................................... 158 9.2. Makrostrukturen ..................................................................... 159 9.3. Superstrukturen ....................................................................... 169 9.4. Frames ....................................................................................... 173 10. Textverstehen als strategischer Prozess zur Generierung von Textbedeutungen ............................................................................ 175 11. Zusammenfassung der Bedeutungstheorie van Dijks .............. 176 VI. Die Bestimmung der Bedeutung im Modell von Umberto Eco ........ 179 1. Das Zeichenmodell von Umberto Eco und die darin eingebettete Bedeutungstheorie ................................................... 179 2. Kommunikation und Signifikation .............................................. 189 3. Zeichen und Interpretation ........................................................... 191 3.1. Der Prozess der Semiose ........................................................ 193 3.2. Die Abduktion ......................................................................... 195 4. Textinterpretation als Bedeutungskonstitution: Denotation und Konnotation ............................................................................ 199 5. Interpretation und Lektüre ........................................................... 203 5.1. Interpretation und Gebrauch ................................................. 205 5.2. Richtige und falsche Interpretationen .................................. 207 6. Die Rolle der LeserInnen ............................................................... 209 6.1. Der Modell-Leser ..................................................................... 210 6.2. Der empirische Leser/ die empirische Leserin .................... 212 7. Die Rolle der AutorInnen .............................................................. 213 8. Intensionen und Extensionen ....................................................... 214 9. Die Enzyklopädie ........................................................................... 217 10. Das Konzept der möglichen Welt ................................................ 226 11. Zusammenfassung der Bedeutungstheorie Ecos ....................... 231 Zusammenfassung von Kapitel III bis VI ................................................... 233 T EIL C: Die Bedeutung von avkou,ein in Mk 4,1-34 ...................................... 235 VII. Die syntagmatische Analyse von Mk 4,1-34 ....................................... 240 1. Die Kommunikationssituation und das Markusevangelium ... 240 2. Die Bedeutung von avkou,ein in Mk 4,1-34 im Rahmen der semiotischen Textologie ................................................................ 243 3. Das Textvehiculum ........................................................................ 245 4. Die Bestimmung der Formatio von Mk 4,1-34 ........................... 247 <?page no="8"?> VIII 5. Die prosodische Struktur von Mk 4,1-34 .................................... 262 6. Das Wort avkou,ein und seine Verwendungsweisen in Mk 4 und im Markusevangelium .......................................................... 266 7. Die Konnexität von Mk 4,1-34 unter Berücksichtigung von avkou,ein ..................................................................................... 272 8. Exkurs: Traditions- und redaktionsgeschichtliche Hypothesen zu Mk 4,1-34 .................................................................................... 278 9. Fazit .................................................................................................. 283 VIII. Die semantische Analyse von Mk 4,1-34 ........................................... 285 1. Die Bestimmung der Makrostruktur von Mk 4,1-34 ................. 286 2. Topic und Textthema in Mk 4,1-34 .............................................. 302 3. Die Einbeziehung kognitionswissenschaftlicher Elemente in den semantischen Bedeutungsaufbau hinsichtlich der Hörertypologien von Mk 4,14-20 ................................................. 311 4. Fazit .................................................................................................. 334 IX. Die pragmatische Analyse von Mk 4,1-34 ............................................ 337 1. Der Modell-Leser von Mk 4,1-34 .................................................. 337 1.1. Der Modell-Leser von Mk 4,1-34 vor dem Hintergrund der antiken Lesepraxis ........................................... 337 1.2. Der Modell-Leser von Mk 4,1-34 und das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ausgehend vom Diskursuniversum des Markusevangeliums .............................. 341 1.3. Die grundlegende Kompetenz des Modell-Lesers von Mk 4,1-34: Mit den Ohren lesen ............................................ 349 2. Abduktive Fähigkeiten und enzyklopädische Kompetenz des Modell-Lesers von Mk 4,1-34 ........................................................ 362 2.1. Das Textsegment Mk 4,1-2 ..................................................... 363 2.2. Das Textsegment Mk 4,3-9 ..................................................... 369 2.3. Das Textsegment Mk 4,10-13 ................................................. 375 2.4 Das Textsegment Mk 4,14-20 ................................................. 384 2.5. Das Textsegment Mk 4,21-25 ................................................ 396 2.6. Das Textsegment Mk 4,26-32 ................................................. 402 2.7. Das Textsegment Mk 4,33-34 ................................................. 404 3. Mk 4,1-34 und das Markusevangelium: Das Evangelium als mögliche Welt ................................................................................. 406 4. Fazit .................................................................................................. 419 Schlussüberlegungen .................................................................................... 422 <?page no="9"?> IX Literaturverzeichnis ...................................................................................... 427 1. Quellen und Übersetzungen .............................................................. 427 2. Hilfsmittel ............................................................................................. 429 3. Sekundärliteratur ................................................................................. 430 Autorenverzeichnis ....................................................................................... 459 <?page no="11"?> Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2006 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde die Arbeit geringfügig überarbeitet und durchgesehen. Ohne die Anregung und Ermutigung von Prof. Dr. Stefan Alkier wäre die vorliegende Arbeit nie entstanden. Als mein mir freundschaftlich verbundener Lehrer und „Chef“ hat er mir viel von den Kenntnissen und Fähigkeiten vermittelt, die zum Gelingen der vorliegenden Arbeit beigetragen haben. Während des gesamten Entstehensprozesses der Arbeit stand er mir als geduldiger und kritischer Gesprächspartner zur Seite, dafür sei ihm ganz herzlich gedankt. Mein herzlicher Dank geht ebenso an PD. Dr. Werner Kahl für die Bereitschaft zur Erstellung des Zweitgutachtens sowie für wichtige Hinweise für die Überarbeitung. Mein Dank gilt auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der „Ökumenischen neutestamentlichen Sozietät“ unter der Leitung von Prof. Dr. Stefan Alkier, Prof. Dr. Thomas Schmeller und Prof. Dr. Ute Eisen, mit denen ich Teile meiner Arbeit diskutieren konnte. Ihnen allen sei für ihre Anregungen, kritischen Rückfragen und ihre Geduld gedankt. Kritische Leser und Leserinnen meiner Arbeit bzw. von Teilen der Arbeit waren Prof. Dr. Annette Weissenrieder, die mir zudem ermöglichte, Thesen meiner Arbeit im Rahmen eines Kongresses am San Francisco Theological Seminary vorzustellen, Dr. Sylvia Usener, Dr. Miriam von Nordheim-Diehl und Dr. Johannes F. Diehl. Bei allen Genannten bedanke ich mich herzlich. Die beiden Letztgenannten haben mir nicht nur in zahlreichen Gesprächen wichtige Anregungen gegeben, sondern haben mich auch in jeder Hinsicht freundschaftlich unterstützt. Für die Aufnahme in die Reihe NET danke ich Prof. Dr. Eve-Marie Becker, Prof. Dr. Jens Herzer, Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Horn, Prof. Dr. Oda Wischmeyer und Dr. Hanna Zapp sehr herzlich. Dem Francke Verlag, namentlich Frau Susanne Fischer und Frau Karin Burger, danke für die - wie gewohnt - gute Zusammenarbeit. Nicht zuletzt gilt mein Dank meiner Familie, ohne deren Hilfe und Unterstützung die vorliegende Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Ihre Anteilnahme und große Geduld haben mich verlässlich begleitet. Ein herzliches Dankeschön dafür! Gewidmet sei die Arbeit Jette Helen Koop, die mich immer wieder daran erinnert, dass letztlich alles ganz einfach ist! Frankfurt am Main 2010 Kristina Dronsch <?page no="13"?> 1 Einleitung In seiner SNTS-Präsidentenrede betont Martin Hengel im Jahr 1993, dass nur auf der Basis der Autorenintention die Frage nach der Bedeutung im Zusammenhang mit neutestamentlichen Texten zu stellen ist. 1 Nur vier Jahre später - im Jahr 1997 - hebt Ulrich Luz in seiner SNTS- Präsidentenrede hervor, dass sich von Bedeutung nur im Modus von sprachlichen Konstruktionen der Wirklichkeit reden lässt. 2 Jens Schröter hält mit Blick auf die neutestamentlichen Texte fest, dass „Textverstehen [...] auf einer Bedeutungstheorie“ 3 basieren muss. Diese drei Beispiele stammen aus Texten, die alle zu den Aufgaben und Anliegen der gegenwärtigen neutestamentlichen Wissenschaft Stellung nehmen. Alle drei Neutestamentler stimmen darin überein, dass der Begriff der Bedeutung ein für die neutestamentliche Wissenschaft relevanter Begriff ist. Was sie jedoch unterscheidet, ist die jeweilige Bestimmung von Bedeutung. Während Hengel Bedeutung an die Intention des Autors binden möchte, so hebt Luz hervor, dass Bedeutung konstruktivistisch unter Einbeziehung der Bedeutung konstruierenden Subjekte zu verstehen sei. Schröter sieht die Bedeutung theoretisch realisiert in einer Semantiktheorie, die die Ebenen der Wort-, Satz- und Textbedeutung umfassen muss. Die grundlegende Relevanz sowie die grundlegende Differenz der Bestimmung des Begriffs der Bedeutung für die neutestamentliche Wissenschaft in den Voten von Hengel, Luz und Schröter bilden den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit, die den Begriff der Bedeutung als einen Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft erhellen möchte. Unter der Voraussetzung, dass „Bedeutung [...] einer der umstrittensten Begriffe“ 4 nicht nur der neutestamentlichen Wissenschaft, sondern auch der Philosophie, Sprach- und Literaturwissenschaft ist, erschwert eine unreflektierte Verwendung des Bedeutungsbegriffs die Diskussion der Bedeutungsproblematik, denn der Begriff der Bedeutung steht weniger für einen terminus technicus als vielmehr für einen umgreifenden Grundbegriff, der theologische, philosophische, literaturwissenschaftliche und linguistische Systeme verdichtet. Wenn der Begriff der Bedeutung als ein Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft fungieren soll, erweist sich die Bestimmung dieses Begriffs als unumgänglich. 1 Vgl. Hengel, Aufgaben, 351. 2 Vgl. Luz, Bibel, 317-339. 3 Schröter, Stand, 268. 4 Bauer, Bedeutung, 53. <?page no="14"?> 2 In dieser Arbeit wird die These vertreten, dass Bedeutung zu verorten ist als Grundbegriff in einer kulturwissenschaftlich 5 ausgerichteten Exegese. 6 Dabei wird ein weiter Kulturbegriff zugrunde gelegt, der ethnozentrische Anachronismen überwindet, da er an einen nicht statischen Bedeutungsbegriff gekoppelt ist. 7 Die Koppelung des Kulturbegriffs an einen nicht statischen Bedeutungsbegriff zeigt an, dass eine enge Definition von Kultur im Zusammenhang mit der Größe „Bedeutung“ nicht möglich ist: Denn Kultur definieren zu wollen, ist Ausdruck des Anspruchs trennen zu können zwischen dem, was Gegenstand von Kultur ist und was nicht. Dieses Kulturverständnis unterscheidet sich somit von den normativen Konnotationen, wie sie im Kulturverständnis der Aufklärung selbstverständlich waren, welches mit seiner Unterscheidung von hoher und niedriger Kultur zu ethnozentrischen Anachronismen führte. Stattdessen wird Kultur definiert als „sets of signifying practices - modes of generating meaning“, 8 denn wie Hannerz feststellt: „in the recent period, culture has been taken to be above all a matter of meaning”. 9 Im Rahmen einer kulturwissenschaftlich orientierten Exegese wird deshalb ein Kulturbegriff zugrunde gelegt, der sich durch den Bedeutungsbegriff geprägt versteht. 10 Wenn Bedeutung ihren Ort als Fundierungskategorie im Rahmen einer kulturwissenschaftlich orientierten Exegese erhält, dann heißt das zwar, dass Kultur als Kultur nicht denkbar ist ohne die Größe „Bedeutung“, so 5 Für eine kulturelle Exegese plädiert Blount, Introducing Cultural Exegesis, bes. 79-85. Allerdings ist Blount in seinen weitergehenden Ausführungen nicht zuzustimmen, wenn er darlegt, dass die kulturellen Prozesse der Bedeutungskonstitution als „MY meaning“ ihre Ausprägung finden. Denn die kulturelle Sichtweise ist geprägt durch ein dynamisches Kulturverständnis, welches bewusst verzichtet auf einen subjektivistisch übergeordneten Begründungszusammenhang. Für eine kulturwissenschaftliche Fundierung der Exegese plädiert im deutschsprachigen Raum Strecker, Herausforderung, 27ff. 6 Damit schließen wir uns Malina, Welt, 16, an, der darauf hinweist, dass Kulturen gemeinsame Bedeutungen „schaffen“, welche sich zur Gestaltung der sozialen Welt einer gegebenen Gruppe verbinden: „Wenn [...] die Bedeutung von Wörtern, Sätzen oder ganzen Texten sich aus einem sozialen System ergibt - denn das gesprochene oder geschriebene Wort enthält nun einmal seine Bedeutung durch ein soziales System -, dann verlangt jedes angemessene Verstehen der Bibel ein gewisses Vor- Verständnis jenes sozialen Systems, das in den Wörtern zum Ausdruck kommt, aus denen unsere Heilige Schrift besteht“. 7 Dieser Kulturbegriff stimmt mit dem Kulturbegriff der Cultural Studies weitgehend überein, der in den 60er Jahren an der Universität Birmingham im Rahmen eines transdisziplinären Forschungsprojektes entwickelt wurde. 8 Giddens u.a., The Polity Reader, 2. 9 Hannerz, Cultural Complexity, 3. 10 Vgl. Nünning/ Nünning, Kulturwissenschaften, 6, die ebenfalls hervorheben, dass eine fächerübergreifende Präferenz für einen bedeutungsorientierten Kulturbegriff erkennbar ist. <?page no="15"?> 3 dass gesagt werden kann, dass Bedeutung jeder kulturellen Ausprägung vorgegeben ist, aber nicht als eine statische und unveränderliche Größe. Die Frage nach der Bedeutung darf als markante und folgenreiche Innovation des 20. Jahrhunderts angesehen werden, die sich manifestiert in der Verlagerung des bis dahin vorherrschenden Interesses an erkenntnistheoretischen Fragen hin zu einem Interesse an Bedeutungsfragen. 11 In den Mittelpunkt gerückt sind damit die bedeutungsgenerierenden Funktionsweisen sprachlicher und nicht sprachlicher Zeichensysteme, 12 wobei gerade die Erforschung kultureller Voraussetzungen sich als äußerst gewinnbringend erwies. Die Darstellung der Kultur als Zeichensystem halten wir mit Posner für angemessen, da so die sozialen, materialen und mentalen Aspekte der Kultur in einem Modell bedacht werden können, die sonst in getrennte Gegenstandsbereiche der Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften und Normwissenschaften aufgeteilt werden. 13 Einer der Vorzüge dieser semiotischen Analyse der sozialen, materialen und mentalen Kultur ist, dass sie diese Gegenstandsbereiche in einen theoretisch fundierten, systematischen Zusammenhang stellt: „Wenn eine Gesellschaft als Menge von Zeichenbenutzern, eine Zivilisation als Menge von Texten und eine Mentalität als Menge von Kodes definiert werden kann, so sind diese drei Bereiche not- 11 Vgl. zu dieser These Arnarsons, Praxis, 204f. Vgl. auch Hacking, Bedeutung, 51f., der darauf hinweist, dass die Frage der Bedeutung keineswegs als ein rein philosophisches oder linguistisches Problem angesehen werden darf: „Wir vergessen leicht, daß zur Zeit Freges Bedeutungen das theoretische Denken beherrschten. Damals verfügt fast jede Disziplin über eine Untersuchung, die auf Bedeutungen basierte, oder sogar über eine Theorie der Bedeutungen. [...] Max Weber, der große Begründer der modernen Soziologie, beginnt seine Analyse mit einer Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Bedeutungen einer Handlung. Freuds Psychoanalyse ist nichts anderes als eine Theorie der Bedeutung. Und so fort ...“. 12 Der Begriff des „Zeichensystems“ soll an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der Akt der Bedeutungskonstitution sich nicht auf das Seiende bezieht. 13 Bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen „Kultur“ sieht Posner drei relativ unverbundene Wissenschaftstraditionen, die sich jeweils mit einem besonderen Aspekt von Kultur beschäftigen. So konzentrieren sich die Sozialwissenschaften vor allem auf die soziale Seite der Kultur, die durch ihre Institutionen, Formen und Rituale erkennbar ist. Die Geisteswissenschaften konzentrieren sich in erster Linie auf die materiale Seite der Kultur, beispielsweise ist die Kunstgeschichte mit Bildern beschäftigt, die Literaturwissenschaften mit literarischen Texten, die Architektur widmet sich Gebäuden. In jeden Fall stehen so genannte Artefakte mit ihren Herstellungs- und Verwendungsweisen im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Die dritte Wissenschaftstradition, die sich mit einem Aspekt von Kultur befasst, wird von Posner Normwissenschaft genannt. Sie untersucht die mentale Seite der Kultur, genannt Mentalität. Zur Mentalität gehören die in einer Kultur entwickelten Ideen und Werte sowie die Konventionen ihrer Darstellung und Verwendung. Als prototypische Normwissenschaft nennt Posner die Linguistik, daneben gelten auch die Logik, die Ästhetik, Mathematik und Informatik als Beispiele für Normwissenschaften (vgl. Posner, Kultur, 38). <?page no="16"?> 4 wendig miteinander verbunden, denn Zeichenbenutzer sind auf Kodes angewiesen, wenn sie Texte verstehen wollen. Die Semiotik kann somit die Einheit der kulturwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstände nachweisen“. 14 Da die bisherigen Disziplinen sich jeweils vornehmlich mit nur einem Aspekt der Kultur beschäftigten, bietet die Semiotik 15 demgegenüber ein Konzept, das alle drei Dimensionen - die sozialen, materialen und mentalen - in einem einzigen Theorierahmen zu berücksichtigen vermag, denn „Kulturen sind Zeichensysteme“. 16 Wenn Kulturen als Zeichensysteme zu verstehen sind und der Begriff der Bedeutung im Rahmen eines bedeutungsorientierten Kulturbegriffs zu verorten ist, dann bedarf es der Klärung der Frage, inwiefern die Semiotik auch den Bedeutungsbegriff zu explizieren vermag. Hierfür wird auf den Zeichenbegriff von Charles Sanders Peirce rekurriert, der gegenüber traditionellen dyadischen Zeichendefinitionen 17 einen wesentlich erweiterten, triadischen Zeichenbegriff generiert: „Ein Zeichen oder Repräsentamen ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, daß es fähig ist, ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selber steht. Dies bedeutet, daß der Interpretant selbst ein Zeichen ist, das ein Zeichen desselben Objekts bestimmt und so fort ohne Ende“. 18 Diese von Peirce herausgestellte triadische Zeichenrelation wird von Morris zur Basis der Semiotik gemacht. Nach seiner Definition besteht das Zeichen aus drei irreduziblen konstitutiven Elementen, nämlich aus dem 14 Posner, Kultur, 53. 15 Nach Nöth, Handbuch, 1, lautete der kleinste gemeinsame Nenner der möglichen Semiotik-Definitionen: „Die Semiotik ist die Wissenschaft von den Zeichen“. 16 Posner, Kultur, 39. Diese Formulierung weist eine große Ähnlichkeit zur Konzeption von Umberto Eco auf, der darauf hinweist, dass Kulturen sich als Zeichensysteme besser verstehen lassen. Vgl. Eco, Einführung, 36 u.ö. 17 In diesen traditionellen Zeichendefinitionen stellt das Zeichen eine Sache dar, indem etwas für etwas anderes steht (aliquid stat pro aliquo) und das Wesen seiner Darstellung somit in der Repräsentation liegt. 18 Peirce, Phänomen, 64. Peirce legt in der Genese seines Werkes eine Vielzahl von Zeichendefinitionen vor, die jeweils unterschiedliche Stationen seines Denkens widerspiegeln. Die hier zitierte ist eine Definition aus dem „Syllabus of Certain Topics of Logic“ aus dem Jahr 1903. Der Syllabus war von Peirce selbst als ein Standardwerk zur Einführung in seine Semiotik angesehen worden. Insofern kann diese Definition eine gewisse Repräsentativität für sich beanspruchen. Vgl. auch die Zeichendefinition in Peirce, Semiotische Schriften Bd. I, 375: „Zeichen: Alles, was etwas anderes (seine Interpretanten) bestimmt, sich auf ein Objekt zu beziehen, auf das es sich selbst (als sein Objekt) auf die gleiche Weise bezieht, wodurch der Interpretant seinerseits zu einem Zeichen wird und weiter ad infinitum“. Es ist bei Peirce somit die semiotische Grammatik, die die Aufgabe hat, jene Bedingungen zu untersuchen, die für Zeichen gegeben sein müssen, damit sie „Bedeutung verkörpern“ (vgl. CP 2.229) können. <?page no="17"?> 5 Zeichenträger, dem Designat-Denotat und dem Interpretanten. 19 Aus dieser triadischen Relation können wiederum nach Morris drei zweistellige Relationen abgeleitet werden: Die Relation der Zeichenträger zu anderen Zeichenträgern wird als die syntagmatische Dimension bezeichnet. Die Beziehung der Zeichenträger zu den Denotat-Designata wird als semantische Dimension bezeichnet und die Relation der Zeichenträger zu dem Interpretanten wird als die pragmatische Dimension bezeichnet. Unterteilt wird die Semiotik im Gefolge von Morris in die Teildisziplinen Syntagmatik, Semantik und Pragmatik. 20 Diese Unterscheidungen sind als heuristische zu verstehen, um das aufgegriffene Objekt nach mehreren Seiten hin zu untersuchen. Morris selbst hat mehrfach darauf hingewiesen, dass seine Unterscheidung als eine analytische Trennung von Aspekten zu verstehen ist, die eine tiefere Einsicht in das Phänomen des Zeichengebrauchs und der Zeichenkonstitution ermöglichen soll. „Das enge Verhältnis zwischen den semiotischen Teildisziplinen macht die Semiotik als Wissenschaft möglich, ändert aber nichts an der Tatsache, daß die drei Teildisziplinen drei nichtreduzierbare und gleichwertige Perspektiven darstellen [...]“. 21 Die Teilwissenschaften sind eng miteinander verknüpft, aber keine kann für sich in Anspruch nehmen, vollständig alle Aspekte des Zeichens zu behandeln. In der Folge hat sich diese analytische Trennung von Aspekten des Zeichengebrauchs zum Prinzip der Arbeitsverteilung und der Differenzierung von Wissenschaftsdisziplinen entwickelt. Mit der Ausdifferenzierung von Disziplinen wurde oft auch ein Anspruch der Unabhängigkeit erhoben, der sich vor allem in Form der Idee einer Arbeitsteilung unter den drei Disziplinen geäußert hat und eher dem Gedanken der Abgrenzung als dem der Integration näher stand. Gerade die Irreduzibilität dieser semiotischen Teildisziplinen ist für die Bestimmung der Frage der Bedeutung Gewinn bringend. Indem das Zeichen eine triadische Relation bildet, aus der wiederum nach Morris drei zweistellige Relationen abgeleitet werden, die die semiotischen Teildisziplinen kennzeichnen, kann das Verhältnis von Zeichen und Bedeutung definitorisch formuliert werden. Bedeutung ist für Morris primär ein Begriff aus dem Bereich der Objektsprache, die es mit Hilfe der metasprachlich zu konzipierenden Semiotik zu beschreiben gilt: „Manchmal bezieht sich ‚Bedeutung’ auf Designate, manchmal auf Denotate, bisweilen auf den Interpretanten, in einigen Fällen auf die Implikate des Zeichens, dann wieder 19 Vgl. Morris, Grundlagen, 17-88. 20 Der Rückgriff auf die Grundlegungen der semiotischen Terminologie von Morris drängt sich auf, weil seine terminologischen Bestimmungen auf die moderne Linguistik eine entscheidende Wirkung ausgeübt haben und die Aufteilung gewisser Teilwissenschaften (vor allem Syntax, Semantik und Pragmatik) mitgeprägt haben. Die Semiotik umfasst nach Morris das Gesamtgebiet der Sprachwissenschaft. 21 Morris, Grundlagen, 81. <?page no="18"?> 6 auf den Zeichenprozess als ganzen und oft gar auf Sinn oder Wert“. 22 Nach Morris beruhen die Missverständnismöglichkeiten darauf, dass die einzelnen Dimensionen jeweils nicht mit genügender Schärfe erkannt würden. Die Semiotik sei also nicht die Theorie der Bedeutung, sondern der Ausdruck „Bedeutung“ sei mit Hilfe der Semiotik zu erklären. Bedeutung ist also das Ergebnis des Zeichenprozesses. Unter der Voraussetzung, dass dieser Zeichenprozess in seiner Dreidimensionalität (bei Peirce und Morris) sich entfaltet unter Einbeziehung der sich einander bedingenden und beeinflussenden semiotischen Dimensionen (der syntagmatischen, der semantischen und pragmatischen), kann auch das Produkt dieses Prozesses, die Bedeutung, nur in dieser triadischen Grundlegung beschrieben werden. Aus diesem Grund ist mit Morris „Bedeutung“ als semiotische Größe zu definieren. Denn „nichts ist ein Zeichen oder Zeichenvehikel aus sich selbst heraus, sondern wird nur insofern dazu, als es etwas durch seine Vermittlung erlaubt, von etwas anderem Rechenschaft zu geben. Die Bedeutungen können an keiner Stelle des Prozesses der Semiose als Existenzen untergebracht werden, sondern sie müssen in den Kategorien dieses Prozesses als Ganzes definiert werden. ‚Bedeutung’ ist ein semiotischer Terminus [...]“. 23 Aus dieser Auffassung ergibt sich folgende wichtige Konsequenz: Wenn Bedeutung als eine semiotische Größe zu bestimmen ist, dann müssen die sie konstituierenden Regeln aus allen drei semiotischen Dimensionen stammen: Aus der syntagmatischen, der semantischen und der pragmatischen. Mit dieser Auffassung der Bedeutung erweist sich der traditionelle Bereich der Bedeutung - nämlich die Semantik - zwar als notwendig für die Explizierung des Begriffs der Bedeutung, aber nicht als hinreichend, um alleine diese zu bestimmen, da Bedeutung als semiotische Größe sich immer in einer triadischen Relation konstituiert. Da nun die drei semiotischen Dimensionen nicht unabhängig voneinander bestehen, sondern sich gegenseitig beeinflussen, können auch die den einzelnen Dimensionen zugeordneten Regeln nicht als autonom gelten, denn auch sie werden in Relation zueinander aufgestellt und verändern sich in Relation zueinander. Aus diesem Grund kann es keine für sich genommen „autonome Semantik“ 24 geben, da sich die Semantik nicht selbst ihre bedeutungskonstituierenden Regeln gibt, sondern diese immer in Relation zur Syntagmatik und Pragmatik gesehen werden müssen. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Veränderung der Regeln der einen Dimension die Veränderung der Regeln 22 Morris, Grundlagen, 69. 23 Morris, Grundlagen, 45. Morris selbst hat allerdings später den Gebrauch des Terminus „Bedeutung“ strikt abgelehnt, weil er ihm nicht präzise genug erschien. Der Verzicht auf diesen Begriff scheint m.E. nicht motivierbar zu sein bei gleichzeitiger Geltung, dass Bedeutung als Ergebnis und Produkt eines dreidimensionalen Zeichenprozesses anzusehen ist. 24 So z.B. Rastier, Meaning, XII. <?page no="19"?> 7 der anderen beiden Dimension nach sich zieht. Diese Bestimmungen, der den Prozess der Bedeutungskonstitution bestimmenden Regeln als konstitutive, können auf alle Prozesse der Bedeutungskonstitution übertragen werden. Auf der Grundlage dieser einleitenden Ausführungen wird als Arbeitshypothese festgehalten, dass Bedeutung eine Größe ist, die im Rahmen einer kulturwissenschaftlich arbeitenden Exegese ihre Berücksichtigung findet und die als semiotischer Terminus zu bestimmen ist. Auf der Grundlage dieser Arbeitshypothese, die festhält, dass der Bedeutungsbegriff mit Hilfe der Semiotik zu erklären ist, aber die Semiotik nicht auf eine Theorie der Bedeutung reduziert werden kann, werden im ersten Teil der Arbeit Bedeutungstheorien 25 vorgestellt und daraufhin evaluiert, ob sie dieser semiotischen Bestimmung der Bedeutung in ihrer Dreidimensionalität genügen und somit praktikable methodologische Modelle zur Explizierung des Bedeutungsbegriffs in einer kulturwissenschaftlich orientierten Exegese bieten. Einschränkend sei angemerkt, dass eine Aufarbeitung gängiger Modelle nicht in vollständiger Weise erfolgen kann, sondern die Ausarbeitung anhand exemplarischer einflussreicher Bedeutungstheorien dargelegt werden soll. Sodann wird der Frage der Bedeutung in den methodischen Zugangsweisen zum Markusevangelium nachgegangen und aufgezeigt werden, inwiefern Bedeutung und ihre Explikation von Relevanz innerhalb der methodischen Zugänge zum Markusevangelium ist. Es wird deutlich werden, dass die meisten methodischen Zugänge „Bedeutung“ implizit voraussetzen, aber der Begriff keine weitere theoretische Erörterung erfährt. Ebenso wird deutlich werden, dass in den methodischen Zugängen zum Markusevangelium überwiegend Bedeutungsbestimmungen vorliegen, die ebenfalls nicht der geforderten Dreidimensionalität von Bedeutung genügen. Deshalb wird sich als negatives Ergebnis von Teil I dieser Arbeit zeigen, dass weder die vorgestellten Theoriemodelle aus dem Bereich der Sprachwissenschaften und der Philosophie, noch die Methoden aus dem Bereich der Bibelwissenschaften als arbeitsfähige Modelle gelten können, um den in der Einleitung dargelegten dreidimensionalen Bedeutungsbegriff in seiner kulturwissenschaftlichen Fundierung zu berücksichtigen. Deshalb stellt Teil II dieser Arbeit drei Bedeutungstheorien vor, die die Explikation des Bedeutungsbegriffs auf der Grundlage der geforderten Dreidimensionalität vornehmen. Es handelt sich um die Bedeutungstheorien von Janos S. Petöfi, Teun van Dijk und Umberto Eco. Die Ansätze 25 Der Begriff „Bedeutungstheorie“ wird in dieser Untersuchung als ein allgemeiner Begriff verwendet, der dadurch bestimmt ist, dass im Rahmen einer „Bedeutungstheorie“ ein theoretischer Beitrag hinsichtlich des Ausdrucks „Bedeutung“ gegeben wird. Evaluiert werden die „Bedeutungstheorien“ daraufhin, ob sie der herausgestellten Dreidimensionalität von Bedeutung gerecht werden oder nicht. <?page no="20"?> 8 von Petöfi, van Dijk und Eco stellen Bedeutungstheorien dar, die in ihren Untersuchungsprämissen der kulturellen Verortung von Bedeutung zuarbeiten und dies an der kulturwissenschaftlich relevanten Größe „Text“ herauszuarbeiten vermögen. Während das Modell von Petöfi, das seinen Schwerpunkt auf die syntagmatische Dimension der Kategorie der Bedeutung legt, die materialen Aspekten bei den bedeutungsgenerierenden Prozessen innerhalb einer Kultur in den Vordergrund stellt, wird bei der Bedeutungstheorie von van Dijk besonders die semantische Dimension betont, und berücksichtigt werden besonders die mentalen Aspekte der kulturellen Bedeutungsprozesse. Bei der Bedeutungstheorie von Eco liegt der Schwerpunkt auf der pragmatischen Dimension der Bedeutung und im Vordergrund stehen soziale Aspekte der bedeutungsgenerierenden Prozesse in einer Kultur. Im Teil III der Arbeit wird die Bedeutung von avkou,ein in Mk 4,1-34 mittels dieser drei Bedeutungstheorien von Petöfi, van Dijk und Eco auf der Grundlage der herausgearbeiteten Dreidimensionalität der Bedeutung entfaltet. Unter der Voraussetzung, dass die Bedeutung von avkou,ein in Mk 4,1-34 nur dann theoretisch erfasst wird, wenn Bedeutung in einem dreidimensionalen Konzept Berücksichtigung findet, stellen die Modelle von Petöfi, van Dijk und Eco arbeitsfähige Bedeutungstheorien für die neutestamentliche Wissenschaft dar. Auf der Grundlage dieser drei Bedeutungstheorien ist die Möglichkeit gegeben, die Klärung der Bedeutung von avkou,ein in Mk 4,1-34 in theoretisch expliziter Weise vorzunehmen. Unter Einbeziehung der syntagmatischen, der semantischen und der pragmatischen Bedeutungsdimension von avkou,ein wird das geforderte dreidimensionale semiotische Konzept der Bedeutung eingelöst und der Bedeutungsbegriff erfährt im Rahmen einer kulturwissenschaftlich arbeitenden Exegese seine Berücksichtigung. 26 26 Aus diesem Grunde ist Wischmeyers’ Versuch, den Begriff der Bedeutung für die neutestamentliche Wissenschaft operabel zu machen, zurückzuweisen. Wischmeyer möchte zwischen Bedeutung und Sinn unterscheiden. „Eine konsequente Unterscheidung von ‚Bedeutung’ und ‚Sinn’ neutestamentlicher Texte stellt eine entscheidende Verstehenshilfe dar. Unter der Frage nach der ‚Bedeutung’ eines neutestamentlichen Textes kann die Exegese die historischen hermeneutischen Determinanten rekonstruieren und die Beziehung zwischen Autorenintention und Adressatenverständnis darstellen. Damit ist auch sogleich schon der Sinnkern gewonnen. Unter dem Stichwort ‚Sinn’ bzw. ‚Sinnpotential’ läßt sich dann die Rezeptionsgeschichte nachzeichnen und die gegenwärtige Interpretation entfalten“ (Wischmeyer, Hermeneutik, 136). Hier liegt eine semantische Bestimmung des Bedeutungsbegriffs vor, die auf einer referenztheoretischen Konzeption von Bedeutung beruht und sich wesentlich an die Konzeption von Frege, Sinn, 1, anlehnt. In dem in der Sekundärliteratur vielfach angeführten Zitat Freges’ heißt es: „Es liegt nun nahe, mit einem Zeichen (Namen, Wortverbindung, Schriftzeichen) außer dem Bezeichnetem, was die Bedeutung des Zeichens heißen möge, noch das verbunden zu denken, was ich den Sinn des Zeichens nennen möchte, worin die Art des Gegebenseins ent- <?page no="21"?> 9 Die „Schlussüberlegungen“ bündeln die Ergebnisse. Es wird festgehalten, dass die theoretische explizite Klärung der Bestimmung des Bedeutungsbegriffs im Rahmen neutestamentlicher Wissenschaft als Gewinn bringend anzusehen ist, da sie wissenschaftstheoretisch nicht einfach eine Ergänzung darstellt, sondern Bedeutung als einen Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft sichtbar werden lässt. Dargelegt anhand des Wortes avkou,ein in Mk 4,1-34 leistet eine dreidimensionale semiotische Bestimmung der Kategorie der Bedeutung einen Beitrag zu einem umfassenden Verständnis der Bedeutungsproblematik bei gleichzeitiger Anerkenntnis der Unmöglichkeit nach der Bedeutung zu fragen, denn „nach der Bedeutung [...] ganz allgemein und mit Anspruch auf Endgültigkeit zu fragen, ist bei der Vielschichtigkeit bedeutungstheoretischer Forschungsbereiche sinnlos“ 27 . Sinnvoll ist es mit Blick auf eine neutestamentliche Wissenschaft stattdessen, Bedeutung als semiotischen Terminus zu bestimmen, der seinen Ort in einer kulturwissenschaftlich arbeitenden Exegese erhält. halten ist [...] Es würde die Bedeutung von ‚Abendstern’ und ‚Morgenstern’ dieselbe sein, aber nicht der Sinn.“ Ähnlich wie bei Frege ist bei Wischmeyer Bedeutung eine invariable Größe, die durch die Referenz bestimmt wird. Von diesem Bedeutungsbegriff abgesetzt findet sich dann der Begriff des Sinns, der gegenüber dem referenztheoretischen Bedeutungsbegriff ein produktives Element aufweist und dem Verstehen sowie der Interpretation zugeordnet ist. In dieser Konzeption wird Bedeutung zu einem „Begrenzungsraum“, während Sinn zu einen „Entgrenzungsraum“ wird. Aber gerade im Umgang mit neutestamentlichen Texten erweist sich die Rekonstruktion der Autormeinung als Bedeutung immer als interpretatorisch Gewonnenes, ihr wohnt in der Terminologie von Wischmeyer immer schon Sinn inne. Aus diesem Grund führt die Trennung zwischen Sinn und Bedeutung nicht zu einer Klärung der Bedeutungsproblematik, sondern verschiebt das Problem nun auf den Sinnbegriff und lässt Bedeutung zu einem statischen Postulat werden, welches die Sinnpotentiale auf „Sinnvolles“ eingrenzen soll (vgl. zu einer grundsätzlichen Kritik einer solchen Bedeutungsauffassung: Abel, Interpretationswelten, bes. 145-201). Die vorliegende Arbeit schlägt einen anderen Weg vor: Sie arbeitet mit dem Begriff der Bedeutung, der auf einer nicht statischen Bedeutungskonzeption beruht und mittels der Semiotik zu explizieren ist. An dem Begriff der „Bedeutung“ wird festgehalten, da er gegenüber dem Begriff des „Sinns“ theoretisch explizit darstellbar ist. Ein Bedeutungsbegriff, der in seiner Grundlegung auf Transformationsprozessen beruht, wird hier synonym zu „Sinn“ verstanden werden können. Gegenüber diesem zeichnet den Bedeutungsbegriff aber seine theoretische Explizitheit aus, die als grundlegend erachtet wird, um mit diesem Begriff im Rahmen der neutestamentlichen Wissenschaft arbeiten zu können. 27 Schmidt, Bedeutung, 2. <?page no="23"?> T EIL A: Zur Kritik des Begriffs der Bedeutung <?page no="25"?> 13 I. Der Begriff der Bedeutung in eindimensionalen Bedeutungstheorien Der Begriff der Bedeutung ist eng mit philosophisch-erkenntnistheoretischen, psychologischen, aber auch sprachsoziologischen Auffassungen verbunden. So erklärt es sich, dass gerade der Bedeutungsbegriff in der Wissenschaftsgeschichte immer wieder Gegenstand heftiger Diskussionen war und noch immer ist. Die unterschiedlichen Auffassungen von Bedeutung hängen auf das Engste mit dem Verhältnis von Welt, Sprache und Denken zusammen und können sich auch aus divergierenden Annahmen vom Wesen der sprachlichen Kommunikation speisen. Im folgenden Kapitel werden einige repräsentative Theorien der Bedeutung dargestellt. Es wird sich zeigen, dass die im Folgenden dargelegten Bedeutungstheorien Wesentliches zur Bestimmung der Bedeutung beitragen, allerdings wird auch deutlich werden, dass die jeweiligen Bedeutungstheorien Bedeutung nicht als dreidimensionale Größe entfalten, wie im einleitenden Abschnitt dieser Arbeit als Grundlage für die Explizierung des Bedeutungsbegriffs einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Exegese vorgeschlagen. Vielmehr ist zu beobachten, dass überwiegend eine Dimension der Bedeutung im Vordergrund steht, so dass die vorgestellten Bedeutungstheorien aus dem philosophischen, psychologischen und sprachwissenschaftlichen Bereich zwar immer einen wesentlichen Aspekt der Erfassung der Bedeutung leisten, aber eben keiner dreidimensionalen Bedeutungsbestimmung genügen. 1. Bedeutungstheorien der syntagmatischen Dimension Die traditionelle Auffassung von der Syntagmatik konzentriert sich vor allem auf den Aspekt der Gliederung und Zusammenstellung. Der Bedeutungsbegriff (vor allem in der linguistischen Tradition) ist bis in die jüngste Zeit hinein meist allein auf das Wort bezogen worden, welches als die kleinste sprachliche Einheit aufgefasst wurde. Das Wort - oder das Sprachzeichen - wird bis heute in fast allen bedeutungstheoretischen Konzeptionen als die eigentliche Bezugseinheit angesehen. Die Positionen der Wortbedeutung lassen sich direkt oder indirekt auf die Arbeit von Ferdinand de Saussure zurückführen. Die meisten Konzeptionen der Wortsemantik sind der strukturalen Semantik 1 zuzuordnen, die größtenteils direkt auf de Saus- 1 Die strukturale Semantik darf als Produkt der strukturalen Sprachwissenschaft angesehen werden. Wobei anzumerken ist, dass es den Strukturalismus in der Sprachwissenschaft nie gegeben hat. Er existierte vielmehr von Anfang an in verschiedenen <?page no="26"?> 14 sures Ausführungen aufbaut. Aufgrund dieses strukturalen Aspektes werden diese Konzeptionen in der syntagmatischen Dimension verhandelt. Grundlegend innerhalb dieser strukturalen Konzeption wurde die Unterscheidung zwischen syntagmatischen und assoziativen Beziehungen, die heute meist als paradigmatische Beziehungen bezeichnet werden. 2 Während die syntagmatischen Beziehungen die Verkettung von Elementen in „raum-zeitliche[r] Kontinuität, d.h. dem Umstand, daß ein gewisses Element da ist, und dazu ein weiteres und dazu noch eins usf.“ 3 darstellen, ist die Zusammenordnung der paradigmatischen Beziehungen anderer Natur. Hier geht es um eine ganze Klasse von Elementen, von denen eine das andere ersetzen kann. Paradigmatische Beziehungen sind also diejenigen, „die jedes Element mit anderen Elementen verbindet, die an dessen Stelle stehen könnten und ihm in einem gewissen Sinne ähnlich sind“. 4 Unter der Voraussetzung, dass für jedes Lexem diese beiden Arten der Beziehung angenommen werden müssen, da ihr „Verhältnis als korrelativ“ 5 bestimmt wird, kann die Bedeutung eines bestimmten Lexems aus dem Schnittpunkt zwischen Syntagma und Paradigma bestimmt werden. Dies ist nach der von de Saussure getroffenen Unterscheidung zwischen langue und parole allerdings nur auf der Ebene der parole möglich. Soll die Bedeutung in der langue bestimmt werden, ergeben sich ausgehend von de Saussures Unterscheidung zwei Möglichkeiten: a.) die Bedeutung kann ermittelt werden aufgrund der Möglichkeit des Lexems, in Kombination mit anderen ein Syntagma zu bilden oder b.) die Bedeutung kann ermittelt werden durch die Stellung eines Lexems im Paradigma. Während die erste Möglichkeit von der Komponentialsemantik, der strukturalen Semantik von Greimas und der Transformationsgrammatik durch Chomsky und Katz/ Fodor realisiert wird, wird die zweite Möglichkeit von der Wortfeldforschung repräsentiert, die mit dem Namen Jost Trier verbunden ist. 1.1. Merkmalssemantik oder Komponentialsemantik Der Merkmalsbegriff kommt aus der klassischen Begriffslogik und deren Einteilung der Welt nach den Kriterien genus proximum und differentia speci- Schulen, zwischen denen erhebliche Unterschiede bestanden. Häufig wird von drei strukturalistischen Schulen ausgegangen: Von der Prager Schule (auch: phonologische oder funktionalistische Schule), von der Kopenhagener Schule und schließlich von der (nord-)amerikanischen Schule (bzw. Bloomfield-Schule, Yale-Schule, Distributionalismus oder Deskriptivismus). Der Zusammenhalt aller Tendenzen und Bestrebungen innerhalb des Strukturalismus wird, trotz einiger Einschränkungen, über den Bezug auf die Arbeit von de Saussure hergestellt. 2 Vgl. Volli, Semiotik, 49ff. 3 Volli, Semiotik, 50. 4 Volli, Semiotik, 50. 5 Lepschy, Sprachwissenschaft, 26. <?page no="27"?> 15 fica. Gesucht wird ein Kriterium, das dazu geeignet ist, die Bedeutungen von Sprachzeichen intern zu differenzieren und zu strukturieren. Es wird davon ausgegangen, dass „Bedeutungen keine ganzheitlichen, nicht weiter zu analysierenden Einheiten sind, sondern sich aus elementaren Inhaltselementen, den semantischen Merkmalen (auch: Seme oder Komponenten) zusammensetzen“. 6 Bedeutung ist nach dieser Auffassung „ein Komplex semantischer Merkmale“. 7 Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die Merkmalssemantik oder Komponentialsemantik am Schnittpunkt zwischen traditioneller, begriffsverhafteter und moderner, strukturalistischer Semantik steht. 8 In der vorstrukturalistischen Sprachwissenschaft wurde das Wort als der kleinste, relativ selbstständige Bedeutungsträger aufgefasst. 9 Auch bei de Saussure spiegelt sich diese Auffassung wieder: Für ihn ist das einzelne Zeichen die kleinste Einheit im sprachlichen System, welches in sich die Aspekte Ausdruck und Bedeutung trägt, die sich zueinander verhalten wie zwei Seiten eines Blattes Papier. 10 De Saussure’s entscheidende bedeutungstheoretische These lautet, dass die einzelnen Zeichen ihre Bedeutungen aus dem Wert, d.h. der Stellung beziehen, die sie innerhalb des Systems der Sprachzeichen einnehmen. Das strukturalistische Moment des de Saussureschen Zeichenbegriffs besteht darin, dass der isolierten Betrachtung von Einzelzeichen der Abschied gegeben wird und stattdessen die Bedeutung von Zeichen aus ihrer differentiellen Stellung in den strukturierten Gefügen von Zeichensystemen erklärt wird. 11 Für die eigentliche strukturalistische Semantik gilt deshalb, dass die Bedeutung des einzelnen Sprachzeichens bzw. Wortes selbst als in sich strukturiert aufgefasst wird. D.h. sowohl der Systemals auch der Strukturcharakter von de Saussure’s Theorie wurde in das Zeichen hineingelegt. Die kleinste semantische Größe ist nicht mehr das Wort, sondern das semantische Merkmal. Semantik wird jetzt zur Merkmalssemantik oder Komponentenanalyse. Die grundlegende Annahme dieser Bedeutungstheorie besteht darin, dass die Bedeutung eines Lexems auf der Grundlage einer Menge allgemeiner Bedeutungskomponenten, die „semantische Merkmale“ genannt werden, analysiert wird. Wie sich das phonologische Inventar einer Sprache auf der Grundlage einer begrenzten Menge von „Ausdrucksfiguren“ konstituieren soll, so soll auch die Bedeutung eine Zerlegung in eine 6 Schwarz/ Chur, Semantik, 37. 7 Schippan, Einführung, 29 (kursiv i.O.). 8 Aufgrund ihres methodischen Vorgehens und ihres Rekurses auf die Arbeit von de Saussure wird die Merkmalssemantik in der vorliegenden Arbeit der syntagmatischen Dimension zugeordnet. 9 Vgl. Schippan, Einführung, 28. 10 Sausssure, Grundfragen, 134. 11 Vgl. Saussure, Grundfragen, 132-136. <?page no="28"?> 16 begrenzte Anzahl von „Inhaltsfiguren“ (Seme oder semantische Merkmale) erfahren können. Dabei stellt sich aber die Frage, ob die zunächst intuitiv gewonnenen Merkmale - die ja selbst wieder sprachlich gewonnen werden müssen - lediglich als Hilfsmittel der Beschreibung (Metasprache) angesehen werden, oder ob vorausgesetzt wird, dass sich Bedeutungen wirklich erschöpfend beschreiben lassen. Die generative Semantik von Katz und Fodor (sowie Chomsky) wollte die Frage in der zweiten Weise beantwortet wissen und schlug vor, die semantischen Merkmale erstens als universale Eigenschaften des menschlichen Geistes und zweitens diesem von Geburt an mitgegeben zu verstehen. 12 Problematisch ist der damit behauptete Universalismus: So arbeitet diese Bedeutungstheorie gut im Zusammenhang mit Lexemen, die materielle Gegenstände bezeichnen, wie z.B. „Fluss“, aber im Zusammenhang mit abstrakten Wörter - wie z.B. „Trinität“ - stößt die Merkmalssemantik an ihre Grenzen. Es ist wohl zweifelhaft, dass eine abgeschlossene Bedeutungsdefinition von Trinität durch Merkmalsexplikation erreicht werden kann. Vor dem Hintergrund einer kognitiven Semantik schließen sich noch weitere Einwände an: 13 1.) Durch die schwache Ausarbeitung der Theorie der parole können in der strukturalen Semantik und in der Merkmalssemantik die Formen und Bedingungen der Innovation nicht theoretisch fundiert beschrieben werden. 2.) Das Problem der Polysemie wird unterschätzt, das eine Vielzahl von Sprachzeichen begleitet. 3.) Der theoretische Status der distinkten Merkmale ist ungeklärt. 4.) Doch der wichtigste Einwand bezieht sich auf die Fraglichkeit der Erreichbarkeit einer abgeschlossenen Bedeutungsdefinition durch Merkmalsexplikation. Da es keine vollständige und akzeptierte Liste von als Beschreibungskategorien eingesetzten Merkmalen gibt (im Gegensatz zur Phonologie, von der die Merkmalssemantik ihr strukturalistisches Ideal entlehnt hat), „wählt im Grunde jeder Linguist bei der semantischen Merkmalskonzeption Merkmale aus, die ihm für die zu berücksichtigenden Bereiche des Wortschatzes angemessen zu sein scheinen“. 14 Weil die Frage, wie mittels der Merkmalssemantik Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke ermittelt werden, offen bleibt, ist auch die Frage nach dem Status semantischer Merkmale ungeklärt. Hierüber kann auch nicht das von Greimas eingeführte „Metasprachenpostulat“ hinwegtäuschen, das die semantischen Merkmale zwar klar als „beschreibungsseitige“ Größen erkennt, aber das unhintergehbare Problem der Vorgängigkeit jedes (intuitiven) Sprachverstehens vor der semantischen Analyse, von dem gerade auch formale Beschreibungssprachen be- 12 Vgl. in diesem Zusammenhang Lyons, Semantik Bd. I, 341f. 13 Zur Kritik an der Merkmalssemantik besonders Lyons, Semantik Bd. II; Lutzeier, Linguistische Semantik. 14 Lutzeier, Linguistische Semantik, 94. <?page no="29"?> 17 troffen sind, unberücksichtigt lässt. Deshalb klafft bei den merkmalstheoretischen Konzeptionen zur Semantik eine Lücke, wenn es um die Frage der Bedeutungserschließung geht. Das theoretische Postulat einer autonomen Ebene von atomaren semantischen Entitäten beruht letztlich auf einem Reduktionsmodell, welchem Vorschub geleistet wurde durch die theoretische Vorentscheidung, nur die langue zu untersuchen. Gravierend ist in diesem Zusammenhang, dass die Merkmalssemantik implizit von homogenen Bedeutungen der Ausdrücke einer Sprache ausgeht. 15 Vor dem Hintergrund des in der Einleitung dieser Arbeit dargelegten kulturwissenschaftlichen Verständnisses von Bedeutung sind die vorausgesetzten homogenen Bedeutungen besonders zu hinterfragen. 1.2. Die Transformationsgrammatik Ein starker Innovationsschub für eine Bedeutungstheorie ging von der formalen Logik aus. In diesen Ansätzen - man spricht oft von formaler oder logischer Semantik - „steht im Mittelpunkt nicht mehr das einzelne Wort, sondern der Satz; es ist also im wesentlichen eine Satzsemantik“. 16 Der Ursprung dieser Richtung der Semantikforschung ist im Umkreis der Generativen Grammatik zu suchen, und sie ist bis heute mit der so genannten „Montague-Grammatik“ oder „Kategorialgrammatik“ verknüpft. Der Transformationsgrammatik liegt der Gedanke zugrunde, dass „die Grammatik (die die Kompetenz des Sprechers darstellen muß) ein System von Regeln ist, welche die unendliche Gesamtheit der Sätze einer Sprache spezifizieren“. 17 Die Transformationsgrammatik zielt darauf ab, mittels zuständiger Regeln die Sätze einer Sprache durch eine „Satzzerlegungsgrammatik“ zu erzeugen. Zentraler Gegenstand generativer Ansätze ist die Fähigkeit eines/ einer idealisierten Sprechers/ Sprecherin oder Hörers/ Hörerin beliebige wohlgeformte Äußerungen ihrer/ seiner Muttersprache hervorzubringen und die immer wieder neuen Ausdrücke, die er/ sie der Umgebung entnimmt, zu verstehen bzw. auf ihre Wohlgeformtheit hin zu bewerten. Diese Fähigkeit wird Sprachkompetenz genannt. Da der kompetente Hörer/ Sprecher bzw. die kompetente Hörerin/ Sprecherin auch Äußerungen hervorbringt, die er/ sie in dieser Form noch nicht hervorgebracht hat bzw. aufgenommen hat, ist davon auszugehen, dass das Sprachvermögen eines idealen Hörers/ Sprechers bzw. einer Hörerin/ Sprecherin primär in Form von Regeln gespeichert ist, auf deren Grundlage sich sprachlich Neues produzieren und verstehen lässt. „Die synchrone Beschreibung einer natürlichen Sprache versucht zu bestimmen, 15 Lyons, Sprache, 128. 16 Linke/ Nussbaumer/ Portmann, Studienbuch Linguistik, 132. 17 Lepschy, Sprachwissenschaft, 132. <?page no="30"?> 18 was ein kompetenter Sprecher über die Struktur seiner Sprache weiß, was ihn befähigt, ihre Sätze zu gebrauchen und zu verstehen. Da der kompetente Sprecher befähigt ist, jeden Satz aus der unbegrenzten Menge (set) von Sätzen einer Sprache zu gebrauchen und zu verstehen und er zu jedem Zeitpunkt nur eine begrenzte Menge Sätze kennengelernt hat, folgt daraus, daß die Kenntnis, die der Sprecher von seiner eigenen Sprache besitzt, die Form von Regeln annimmt, die die begrenzte Menge von Sätzen, die er zufällig kennengelernt hat, auf die unbegrenzte Menge von Sätzen seiner Sprache projiziert. Die Beschreibung der Sprache, die die linguistischen Kenntnisse des Sprechers in adäquater Weise darstellen will, muss entsprechend diese Regeln nennen. Das Problem, das in der Formulierung dieser Regeln liegt, wird Projektionsproblem genannt“. 18 Die so verstandene Grammatiktheorie versucht die „innere Grammatik“ zu erfassen und adäquat zu belegen; hier geht es um die durch das Syntagma bedingten Beziehungen. Ein wesentlicher Kritikpunkt an dieser Bedeutungstheorie betrifft die entworfene idealisierte Satzbedeutung, die sich allein aus der nach syntaktischen Regeln vollzogenen Kombination der Elemente ergeben sollte. 19 Vernachlässigt wird in dieser Bedeutungstheorie, dass „Sätze“ immer eingebettet sind in Situationen und kulturelle Kontexte. Einheiten werden aus ihren Vorkommenskontexten isoliert und es wird ihnen eine mehr oder weniger „Abstrakt-Bedeutung“ zugeschrieben, eine sich rein aus dem Sprachsystem manifestierende Bedeutung, die nicht mehr ist als eine Variable im System. Dass dieser Standpunkt für die Zwecke einer Satzsemantik nicht ausreichend ist, wird vor allem immer da deutlich, wo nicht von linguistischer Seite hypothetisch konstruierte Beispielsätze verwendet werden, sondern solche Sätze, wie sie in der sprachlichen Realität - also z.B. in einem Text - geäußert werden. 20 Entsprechend dieser idealisierten Satzbedeutung, die sich allein aus der nach Regeln vollzogenen Kombination der Elemente ergeben soll, wurde übersehen, dass „Sätze“ - ebenso wenig wie Wörter - „als isolierte Einheiten in der sprachlichen Realität vorkommen, sondern immer nur eingebettet in Verständigungssituationen 18 Katz/ Fodor, Struktur einer semantischen Theorie, 205. 19 Nach Chomskys sog. Selektionsrestriktionen ist bei dem Satz „Colourless green ideas sleep furiously“ eine Selektionsbeschränkung zwischen „sleep“ und „ideas“ einerseits und zwischen „sleep“ und „furiously“ andererseits verletzt, da z.B. „idea“ nicht an die Subjektstelle von „sleep“ treten kann, weil hier nur lexikalische Einheiten stehen dürfen, die das Merkmal (+belebt) erfüllen. Aber die Feststellung der Regel, dass „Ideen“ nicht mit „schlafen“ verbunden werden darf, kann ich nur aus der Wirklichkeit wissen, niemals aus dem Sprachsystem. 20 Gerade aus der Umgangssprache sind eine Reihe von Redensarten belegt (z.B. beredtes Schweigen; alter Knabe), die dafür sprechen, dass auch „Ideen“ „schlafen“ können, sofern sich Kontexte konstruieren ließen, in denen der von Chomsky als abweichend bezeichnete Satz nicht-abweichend sinnvoll wäre. <?page no="31"?> 19 und Wissenskontexte“. 21 Deutlich wurde in diesem Zusammenhang, dass „das Modell der Kompositionalität, also die Auffassung, die Satzbedeutung sei eine ‚Zusammensetzung’ der Bedeutung der einzelnen Einheiten (Wörter) plus einiger syntaktischer Regeln, der wahren Funktionsweise von sprachgebundenen Kommunikationsprozessen nicht (oder nur teilweise) gerecht wurde“. 22 Gerade im Zusammenhang mit „zweideutigen“ Sätzen wird offensichtlich, dass nicht Satzstrukturen vorliegen, die dann nachträglich eine semantische Interpretation erhalten, sondern zwei Bedeutungen vorliegen. Die Inhaltsseite der Sprache wird durch die Konstruktion eines Regelsystems hinausgedrängt. Der sprechende Mensch wird dabei nach dem Vorbild einer Maschine beschrieben: Sofern der Mensch nach den Selektionsmerkmalen die Einsetzbarkeit eines Lexems vornimmt, müsste im Rahmen des Satzes „Und es begab sich in jenen Tagen, dass Jesus aus Nazareth in Galiläa kam und sich von Johannes ... taufen ließ“ (Mk 1,9) die Ergänzung des durch die Punkte angezeigten fehlenden Lexems in folgender Struktur vor sich gehen: Für „im Jordan“ als das fehlende Lexem sind folgende syntaktischen Merkmale [männlich, belebtes Nomen im Dativ] auszumachen. 23 Dies führt zu dem Grundproblem der Transformationsgrammatik. Sprachkompetenz wird hier als Sonderfall eines formalen Mechanismus dargestellt. Was hier entdeckt wird, ist keineswegs die Bedeutung, sondern lediglich eine formalisierte Darstellungsweise der Paraphrase. Solche Selektionsrestriktionen, wie sie der Transformationsgrammatik zugrunde liegen, vollziehen sich ohne Berücksichtigung der pragmatischen Ebene. Denn die SprachbenutzerInnen sind nur insofern von Relevanz als sie das methodologisch zu untersuchende Feld abstecken, an denen sich bestimmte nach Regeln geleitete Operationen, die sich als Selektionsrestriktionen vollziehen, zeigen lassen. Die Begrenzung auf das System mag in gewissen Fällen methodisch legitimiert sein, aber die auf diese Weise entstehende Partialität muss ab einem gewissen Punkt wieder aufgehoben werden; dies leistet die Transformationsgrammatik jedoch nicht. 1.3. Die strukturale Semantik nach Greimas Eine eindimensionale Bedeutungstheorie, die ebenfalls am Syntagma orientiert ist, stellt die strukturale Semantik des französischen Strukturalisten 21 Busse, Textinterpretation, 63. 22 Busse, Textinterpretation, 63. 23 Mit Blick auf den griechischen Text würde abhängig von der Präposition eivj der Akkusativ folgen. Es würde also zu den zu wissenden Selektionsrestriktionen der SprachbenutzerInnen gehören, dass sie wissen, dass auf die Präposition eivj nur der Akkusativ folgen kann. <?page no="32"?> 20 A.J. Greimas 24 dar. Der Begriff „Struktur“ wird definiert als eine autonome Einheit interner, hierarchisch aufgebauter Relationen. Aus dieser Struktur ist also auch die Bedeutung zu bestimmen. Im Gegensatz zu den vorherigen syntagmatischen Theorien stellt die Theorie von Greimas ein Modell vor, das sich an der Größe Text orientiert und nicht nur auf einzelne Lexeme und Sätze beschränkt bleiben will. Obwohl Greimas als die Hauptdisziplin der Semiotik die Semantik sieht, die er als die Wissenschaft der Signifikate definiert, wird er hier unter den syntagmatischen Bedeutungstheorien rezipiert, da nach Meinung Greimas die Semantik sich mit den Kombinationsmöglichkeiten auf der Ebene der Seme und auf den entsprechend übergreifenden Strukturen, zu denen die Kombinationsmöglichkeiten zwischen den Positionen der aktantiellen Konfigurationen zählen, beschäftigt. Die syntagmatische Fragestellung ist insofern immer in die semantische Fragestellung integriert, da Syntax und Semantik als die beiden Komponenten einer semiotischen Grammatik betrachtet werden. Die Berücksichtigung der semantischen Fragestellung liegt nach Greimas darin begründet, dass die syntagmatischen Relationen immer schon semantische Gehalte implizieren. Ausgangspunkt ist deshalb die strukturale Semantik und das Beschreibungsziel ist der Text. Hauptanliegen von Greimas ist es, eine linguistische Transpositionssprache, eine Metasprache, zu entwerfen. Ausgehend von dem oben dargelegten Strukturbegriff, der das Vorhandensein zweier Terme (Lexeme) sowie das Vorhandensein einer Relation zwischen ihnen voraussetzt, hält Greimas fest, dass wir im Unterscheiden 25 wahrnehmen. So setzt auch die Bedeutung das Vorhandensein einer Relation voraus. 26 Die Bedeutung generiert sich nach Greimas über verschiedene logische und hierarchisch aufeinander bezogene Ebenen in der Beziehung ihrer logischen Voraussetzung. „Die wissenschaftliche Semantik und mit ihr die semantische Beschreibung (die nichts anderes ist als die Praxis, die die begriffliche hierarchische Struktur verwendet, die die Semantik darstellt) sind nur möglich, wenn sie angesichts der Analyse einer Objekt-Sprache gleichzeitig drei Sprachen in Rechnung stellen, die auf drei Ebenen von unterschiedlicher logischer Erfordernis situiert sind - die deskriptive, die methodologische und die epistemologische Sprache“. 27 Ausgehend von 24 Im Folgenden erfolgt wesentlich eine Beschränkung auf die „Strukturale Semantik“ von Greimas, die eine Zuordnung zu „Bedeutungstheorien der syntagmatischen Dimension“ rechtfertigt. Besonders im Spätwerk „Semiotique et sciences sociales“ bemüht sich Greimas, die Bedeutungsproblematik auch unter Einbeziehung der semantischen Dimension darzulegen. 25 Hier nimmt Greimas einen Gedanken von Levi-Strauss auf, der in der Analyse von Mythen aus verschiedenen Kulturen aufgezeigt hat, dass sie auf binären Oppositionen aufbauen. Vgl. dazu. Aichele, Postmodern Bible, 78. 26 Vgl. Greimas, Semantik, 13f. 27 Greimas, Semantik, 12. <?page no="33"?> 21 dem Grundsatz, dass wir nur im Unterscheiden wahrnehmen, beruhen die verschiedenen Ebenen der Bedeutung auf der Spannung zwischen den Bedeutungsträgern, die Greimas die semantischen Achsen nennt, die sich aus der gleichzeitigen Identität und Nicht-Identität zwischen zwei Termen ergibt. Bedeutung ist immer relational, verankert in einer dyadischen Zeichenkonzeption. Das Ziel der Semantik sieht Greimas darin, die „begrifflichen Mittel zu vereinen, die für die Beschreibung einer beliebigen, als Bedeutungsganzes angesehenen natürlichen Sprache [...] notwendig und hinreichend sind“. 28 Die Grundlage hierfür bildet die Kombinatorik von Semen, von denen aus das theoretische Gebilde von Greimas zu entfalten ist. „Unsere theoretischen Überlegungen lassen sich in der naiven Hypothese zusammenfassen, daß man, ausgehend von der kleinsten Bedeutungseinheit, dazu gelangen kann, das immer umfassendere Ganze der Bedeutung zu beschreiben und zu organisieren.“ 29 Das Sem ist demnach die kleinste distinktive Einheit der Bedeutung. 30 Jedoch ist das Sem nicht eine „autonome Einheit“, sondern stets Teil einer Sem-Struktur. Greimas versteht unter Struktur die zwischen zwei sprachlichen Termen bestehende Relation r mit dem semantischen Inhalt s. 31 „Die Beziehung zwischen zwei Termen A und B entspricht daher der Struktur: A / steht in der Relation (S) zu / B. Dabei entspricht S dem semantischen Inhalt“. 32 Die Gemeinsamkeiten dieser Relation wird als semantische Achse 33 bezeichnet, die Unterscheidung zwischen zwei Termen nennt Greimas Opposition. 34 Die Relation der Terme manifestiert sich also in einer doppelten Weise: Einerseits als Konjunktion - die semantische Achse -, andererseits als Disjunktion - die Opposition. Also ist die elementare Struktur geprägt durch die Anwesenheit eines gemeinsamen Merkmals (Konjunktion) und eines unterscheidenden Merkmals (Disjunktion). 35 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass als die Grundlage der strukturalen Semantik 28 Greimas, Semantik, 8. 29 Greimas, Semantik, 94. 30 Greimas weicht mit seiner Definition deutlich von den in der Linguistik gebräuchlichen Definitionen ab. Es kann daher keine einheitliche Definition gegeben werden, sondern diese Größe muss vielmehr als genuines Element der Greimasschen Theorie betrachtet werden. 31 Vgl. Greimas, Semantik, 14ff. 32 Greimas, Semantik, 15. 33 Vgl. Greimas, Semantik, 15. 34 Greimas, Semantik, 17. 35 So kann die Relation „groß“ versus „klein“ als elementare Struktur beschrieben werden (vgl. Greimas, Semantik, 15), weil sie das gemeinsame Merkmal „Größe“ und das unterscheidende Merkmal Quantität der Größe aufweist. Diese abstrakte, d.h. nicht in einem Kontext artikulierte Struktur nennt Greimas Sem-Kategorie. Die Seme und die Sem-Kategorien sind Elemente der langue, d.h. sie haben keine Entsprechung auf der Ebene der parole. <?page no="34"?> 22 von Greimas der Begriff der Sem-Artikulation als Opposition zweier distinktiver semantischer Merkmale zu verstehen ist, nämlich der Seme, die vor dem Hintergrund einer semantischen Achse unterschieden werden. Für die Bedeutung ergeben sich daraus zwei Konsequenzen: Erstens weist kein Term-Objekt für sich alleine Bedeutung auf und zweitens setzt die Bedeutung das Vorhandensein der Relation zwischen den Termen voraus. Die elementaren signifikativen Einheiten sind dementsprechend nicht auf der Ebene der Elemente zu suchen, sondern auf der Ebene der Struktur. Sprache ist deshalb nicht „ein System von Zeichen, sondern ein Verband [...] von Bedeutungsstrukturen, dessen Ökonomie [...] es genau zu erfassen gilt“. 36 Auf der Basis des Sems und seiner Untergliederung in Sem-Kern und Klassem 37 beschreibt Greimas die „Bedeutungsganzheit“ von Texten. 38 „Das Sem gehört also zu zwei Bedeutungsuniversen zugleich, die man operational als das Universum der Immanenz und das Universum der Manifestation bezeichnen kann, und die nichts als zwei verschiedene Existenzmodi der Bedeutung sind“. 39 Das Universum der Immanenz kann als die hierarchische Ordnung von Sem-Kategorien zu Sem-Systemen identifiziert werden. 40 Hier sind die nukleären Seme anzusiedeln, während im Universum der Manifestation die Sememe 41 anzusiedeln sind. 42 Das immanente Universum bildet also durch die Sem-Systeme das theoretische Modell der Bedeutung, wie etwa das der Raumvorstellung, während das Universum der Manifestation die Seme mit ihren Valenzen, d.h. mit ihrer Kombinationsfähigkeit zu Sememen und zur Bildung größerer Syntagmen, darstellt. Das Verhältnis der beiden Elemente ist das der gegenseitigen Voraussetzung: „Da die Bedeutung sich nur unter der Bedingung manifestieren kann, daß sie zuvor in disjunktiven Strukturen artikuliert wird, und da man andererseits nur in dem Maße etwas über die 36 Greimas, Semantik, 15. 37 Die Klasseme (Cs) konstituieren größere Textzusammenhänge und garantieren die Bedeutungszusammenhänge des Textes. Die Klasseme sind im Gegensatz zu den nukleären Semen, die an die Lexeme gebunden sind, gekennzeichnet durch ihre Iterativität in größeren Syntagmen. Vgl. Greimas, Semantik, 45. 38 Vgl. Greimas, Semantik, 45. 39 Greimas, Semantik, 94. 40 Vgl. Greimas, Semantik, 98. 41 Seme werden inhaltsseitig in Form von Sememen manifestiert. Sememe sind semantische Komponenten von Texten. Um den Bedeutungseffekt zu beschreiben, der durch ein Lexem in einem Text hervorgerufen wird, führt Greimas den Terminus Semem ein. 42 Wichtig ist, dass Greimas zwischen dem Universum der Manifestation und der parole unterscheidet. Letztere versteht er als deren konkrete, materielle Umsetzung, die in der strukturalen Semantik nicht zu berücksichtigen ist. Vgl. Greimas, Semantik, 98. <?page no="35"?> 23 Bedeutung sagen kann, wie sie sich manifestiert, besteht zwischen beiden Universen [...] die Relation der wechselseitigen Voraussetzung“. 43 Um die schon genannte „Bedeutungsganzheit“ von Texten erfassen zu können, führt Greimas den Begriff der Isotopie ein. „Unter Isotopie ist die Rekurrenz, also das wiederholte Auftreten gleicher Klasseme in unterschiedlichen Sememen oder Semem-Gruppen eines Textes zu verstehen“. 44 Leitend ist dabei für Greimas der Grundsatz, dass die Wiederholung ein und desselben Elements im Rahmen des Diskurses für Homogenität und Kohärenz sorgt. Die semantische Variabilität von Texten (gegenüber dem statischen System) beruht auf der variablen Rekurrenz von Klassemen in Texten, wodurch variable isotopische Textstrukturen gebildet werden können. Demgegenüber dienen die statischen, nicht kontextvariablen Kern- Seme (als Elemente des semiologischen Systems) zur Spezifikation der Sememe, an denen sie partizipieren. Folgerichtig stellen Isotopien keine System-, sondern Verlaufseinheiten dar, die zur Organisation der Inhaltsseite eines Textes dienen, deshalb zielt der Begriff der Isotopie auf „die strukturellen Bedingungen des Funktionierens der Rede“. 45 Das Greimassche Modell bietet eine Bedeutungstheorie auf Textebene und darf deshalb als eine gewinnbringende Erweiterung der Bedeutungstheorien der syntagmatischen Dimension mit Blick auf biblische Texte gesehen werden. Bei Greimas ist Bedeutung als eine durch die Struktur der Texte erzeugte zu verstehen. Dies wird besonders deutlich bei der Definition der Isotopie 46 auf der Basis der Rekurrenz von Semen. Dabei wird das Wissen um die Menge und die Art der Seme bei der Greimasschen Semantik immer schon vorausgesetzt. Die grundlegende Verfahrensweise der strukturalen Semantik besteht in der Anwendung von Distributionsanalysen unter der Voraussetzung der Analyse von Texten in Sem-Kerne sowie Klasseme. 47 Dies führt zu einer generellen methodischen Schwäche dieses Verfahrens, die Greimas selbst einräumt: „Die Beschreibung einer Sem- Artikulation ist der Distributionsanalyse vergleichbar, die die Sem-Terme in vergleichbaren Sem-Kontexten zu registrieren suchte. Wie im Falle der Distributionsanalyse setzt diese Untersuchung der Sem-Terme jedoch das voraus, was man sucht: Das Nichtvorhandensein des Sems (s) kann nur erkannt werden, wenn man zuvor das s als vorhanden angesetzt hat [...]. Das heißt soviel wie, daß die Sem-Kategorie ihrer Artikulation vorausgeht 43 Greimas, Semantik, 94. 44 Eicher/ Wiemann, Arbeitsbuch, 52. 45 Greimas, Semantik, 60. 46 Der von Greimas entwickelte Isotopieansatz wurde mehrfach zur Grundlage semantisch orientierter Textdefinitionen gemacht. Vgl. Kallmeyer u.a., Lektürekolleg zur Textlinguistik, 147: „Ein Text lässt sich semantisch als ein Gefüge von 1 bis n Isotopieebenen definieren, wobei sich deren Anzahl nach der Anzahl der im Text dominierenden Merkmale richtet“. 47 Vgl. Greimas, Semantik, 58. <?page no="36"?> 24 und daß die Beschreibung, wenn sie von der Analyse der Sem-Artikulation ausgeht, nichts anderes tut, als das Vorhandensein der a priori postulierten Sem-Kategorie zu bestätigen oder zu infirmieren“. 48 Eine weitere Engführung der Konzeption liegt in der ausschließlichen Fokussierung auf die textinterne Referenz. Der Verlust des kulturellen Kontextes darf als „Unkenntnis derjenigen pragmatischen Regeln, nach denen die Bedeutungskonstitution für die betreffenden Elemente zu vollziehen wäre“, 49 angesehen werden. Um dies mit einem Beispiel zu untermauern: Die Bedeutung des Wortes kuna,rion in Mk 7,27-30 ist nicht einfach nur aufgrund der textinternen Struktur dieser Erzählung zu erheben. Zwar kann diese aufzeigen, wie die dialogische Struktur zwischen Jesus und der syrophönizischen Frau in dieser Erzählung über das Wort kuna,rion eine entscheidende Wende zugusten der Frau erhält, jedoch erschließt sich die Bedeutung von kuna,rion in Mk 7,27 erst unter Einbeziehung des kulturellen Kontextes. Denn aus den Hunden, die in der Rede Jesu zu der Frau ganz jüdisch begriffen werden und mit Unreinheit konnotiert 50 und insofern mit dem (heidnischen) Kind der Frau vergleichbar sind (7,27: kuna,ria , vgl. 2Sam 16,9; 1Kön 21,23; 2Kön 9,36; Ps 22,17; äthHen 50,2; Prov 26,11; Ex 22,30; vgl. Mt 7,6; Lk 16,19-22; 2Petr 2,22; Phil 3,2; Offb 22,15), werden in der spitzfindigen Antwort der syrophönizischen Frau an Jesus die aus der hellenistisch-römischen Welt bekannten Haushunde, die unter dem Tisch ihren angestammten Platz bei Mahlzeiten finden können (7,28). 51 Ein nur textintern operierendes Bedeutungsverständnis kann nicht die für die Bedeutung wichtigen pragmatischen Regeln zur Anwendung bringen, die aber für die Bedeutungsbestimmung von Mk 7,24-30 notwendig sind. 1.4. Die Wortfeldtheorie Einen anderen Weg der Präzisierung des Bedeutungsbegriffs beschreitet 1931 Jost Trier (in seiner Habilitationsschrift „Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes. Die Geschichte eines sprachlichen Feldes. Band 1: Von den Anfängen bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts). Trier übernimmt von de Saussure dessen Auffassung von der Sprache als ein System und wendet dessen Ergebnisse konsequenter als zuvor auf die Untersuchung des Wortschatzes an. Triers Grundannahme ist, dass das Wort nicht isoliert betrachtet werden darf, sondern dass sich um jedes Wort sinnver- 48 Greimas, Semantik, 19. 49 Fischer-Lichte, Bedeutung, 152. 50 Vgl. France, Mark, 298: „The use of kuna,ria seems to add gratuitously to the offence, since dogs were regarded by the Jews […] as unclean animals. Biblical references to dogs (except in the story of Tobit) are always hostile. To refer to a human being as a ‚dog’ is deliberately offensive or dismissive […]”. 51 Vgl. dazu von Bendemann, Auditus, 65. <?page no="37"?> 25 wandte Ausdrücke gruppieren und so ein Wortfeld bilden. Unter einem Wortfeld ist Folgendes zu verstehen: „Und daß wir genau wissen, was mit ihm [dem ausgesprochenen Wort; K.D.] gemeint ist, das liegt gerade an dem Sichabheben von den Nachbarn und diesem Sicheinordnen in die Ganzheit der den Begriffsbezirk überlagernden Wortdecke, des lückenlosen Zeichenmantels. Die Worte im Feld stehen in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander. Vom Gefüge des Ganzen her empfängt das Einzelwort seine inhaltliche begriffliche Bestimmtheit“. 52 Mit Triers Wortfeldtheorie wurden Prinzipien der strukturalen Sprachforschung auch auf den Wortschatz angewendet: Die Unterscheidung von Synchronie und Diachronie, die Unterscheidung von langue und parole, und die Betonung des Systemcharakters der Sprache. Im Rahmen der Wortfeldforschung wird Bedeutung definiert als „reine Beziehung auf der Inhaltsebene, als Verhältnisse von Bezeichneten beziehungsweise Signifikaten zueinander“. 53 Die Annahme, dass die Bedeutungen verschiedener Wörter gegeneinander abgegrenzt sind und sich gegenseitig bedingen, führte Trier dazu, nicht mehr „Einzelwortschicksale“ zu untersuchen, sondern größere Wortgruppen als lexikalische Oppositionen, die als Wortfelder gekennzeichnet wurden: „Die Geltung eines Wortes wird erst erkannt, wenn man sie gegen die Geltung der benachbarten und opponierenden Worte abgrenzt. Nur als Teil des Ganzen hat es Sinn; denn nur im Feld gibt es Bedeutung“ 54 . Das Feld ist aber nicht eine festumrissene, immer gleichbleibende Einheit, sondern wie die Wörter sich wandeln, so ändert sich auch der Inhalt des Feldes. Ein Wortfeld stellt demnach eine Menge von Wörtern der gleichen Wortart dar, die sich semantisch ähnlich sind. Ein Wortfeld bildet nach Trier beispielsweise die Wörter wîsheit, kunst und list bei Autoren um 1200. Ein Bedeutungswandel besteht nun darin, dass sich die Struktur eines solchen Feldes ändert. Um 1300 gehört list nicht mehr dazu, stattdessen kommt wizzen dazu und wîsheit hat seine Rolle als übergeordnetes Wort verloren. Damit ist die Bedeutung eines Einzelwortes nach Trier „abhängig von der Bedeutung seiner begrifflichen Nachbarn. Alle schließen sich zu der Aufgabe zusammen, in den Block ungegliederter Bewußtseinsinhalte gliedernde Grenzen einzuziehen, ihn zu klären, ihn begrifflich faßbar zu machen“. 55 Bedeutung ist also keine „Identität“, sie ermöglicht aber eine Identifizierung, weil sie feldbestimmt ist. „Worte sind sinnlos, wenn ihre Kontrastworte aus dem gleichen Begriffsfeld dem Hörer fehlen, und sie sind unscharf und verschwommen, wenn ihre begrifflichen Nachbarn nicht mit auftauchen, ihren Anteil am Begriffsfeld beanspruchen und durch ihr Herausrücken die Grenzen des ausgesprochenen Wortes scharf hervortre- 52 Trier, Wortschatz, 1. 53 Geckeler, Strukturelle Semantik, 79f. 54 Trier, Wortschatz, 6. 55 Trier, Wortschatz, 3. <?page no="38"?> 26 ten lassen“. 56 Deshalb kann die Bedeutung eines Wortes nicht in einer diachronischen Semantik erforscht werden kann, sondern nur synchronisch. Die Wortfeldtheorie als Bedeutungstheorie ist der syntagmatischen Dimension zuzuordnen, denn es geht ihr ausschließlich um die Beziehungen, die die Zeichen eines Zeichensystems untereinander eingehen, und die Regeln, nach denen diese Relationen aufgebaut werden, sind ausschließlich solche, die dem Sprachsystem immanent sind. Triers Annahmen zur Geschlossenheit der Wortfelder und zu ihrer psychischen Realität bei der Sprachverarbeitung sind nur von wenigen akzeptiert worden. Auch der sprachsystemimmanente Ausgangspunkt von Triers Überlegungen ist problematisch. Die Kritik betrifft einerseits den von Trier festgehaltenen Gedanken der wechselseitigen Bestimmtheit, mit der Trier auch Bedeutungsveränderungen erklärt: „Jede diachronische Verschiebung eines Zeichens wird die ganze Gruppe in Unruhe und Bewegung versetzen solange, bis das Gleichgewicht der Zeichen untereinander in der Repräsentation des inhaltlichen Komplexes wiederhergestellt ist“. 57 Nach Trier bestehen demnach die Konflikte zwischen den Wörtern und nicht zwischen Gesellschaften bzw. Kulturen. Es wirkten sich demnach nicht die konkreten Auseinandersetzungen der damaligen Gesellschaft auf das Wort „List“ aus, sondern der Konflikt der Wörter entscheide über die Inhalte. Hier wird deutlich, dass ohne Rekurrenz auf eine außersprachliche Wirklichkeit, ohne Einbeziehung der pragmatischen Dimension die Darstellung der Bedeutung an Grenzen stößt. 1.5. Fazit Insgesamt haben alle vorgestellten Bedeutungstheorien der syntagmatischen Dimension gezeigt, dass sie entweder auf der Ebene des Wortes, des Satzes oder des Textes versuchen, Bedeutung zu bestimmen. Alle vorgestellten Bedeutungstheorien boten eine Bedeutungsbestimmung, die an eine systemimmanente Sichtweise gekoppelt ist. Alle dargestellten Theorien der syntagmatischen Dimension stellen Bedeutung als Beziehung der Signifikate untereinander dar bzw. unterteilen die Signifikate in semantische Merkmale. Dieser intrinsische Ansatz kann zwar sehr gut erklären, welche Bedeutung X innerhalb eines bestimmten Syntagmas zugeordnet werden kann. In der Darstellung der einzelnen Theoriemodelle zeigte sich jedoch, dass vor allem die pragmatische Dimension der Bedeutung unberücksichtigt bleibt, so dass von einer Hypostasierung des Systems bzw. der Struktur der Sprache bei der Bedeutungsbestimmung zu sprechen ist. Dies geschieht auf Kosten der Vernachlässigung der Kontext- und Situati- 56 Trier, Wortschatz, 8. 57 Trier, Wortschatz, 12. <?page no="39"?> 27 onsspezifik 58 von Bedeutung. Als eine im System immanente Bedeutung ist Bedeutung bei den hier vorgestellten Modellen nicht anders zu bestimmen als eine statische apriorische Größe, die mittels der jeweiligen syntagmatischen Analyse elaboriert wird. Die dargelegten Bedeutungskonzeptionen stellen so die „objektive Beschaffenheit“ der Bedeutung in den Mittelpunkt, ohne die Frage nach der realen Verwendung zu stellen. 2. Bedeutungstheorien der semantischen Dimension Um die Bedeutungstheorien der semantischen Dimension zu erfassen, ist es als erstes notwendig, den Begriff Semantik einzugrenzen, da es sich bei dem Begriff der Semantik „weder um einen eindeutigen noch um einen analogen Begriff“ 59 handelt. Unter der Voraussetzung, dass Bedeutung ein semiotischer Terminus ist, sollen im Vordergrund dieses Unterkapitels referenzsemantische Entwürfe stehen, die von folgender Fragestellung ausgehen: Wie bezieht sich ein Wort auf eine Sache? Die hier im Vordergrund stehende Frage ist die Frage nach der Referenz. 60 Es geht im Gegensatz zu den vorherigen Ansätzen nicht mehr um die Erfassung der immanenten Struktur, sondern um eine extrinsische Referenz. Die Bedeutung eines Zeichens liegt demnach in der Schaffung eines Bezuges, im Rekurrieren auf einen Referenten. Weil sprachliche Ausdrücke auf außersprachliche Entitäten referieren, verdanken sie diesem referentiellen Bezug ihre Bedeutung. Dabei sind zwei Varianten referentieller Bedeutungstheorien zu unterscheiden. In der einen Variante wird die Bedeutung eines Ausdrucks mit dessen Bezugsgegenstand gleichgesetzt, so dass die Bedeutung eines Ausdrucks sein Bezugsgegenstand ist. Hier wird die Auffassung vertreten, dass die Bedeutung des Sprachzeichens der Gegenstand selbst sei. 61 In einer zweiten Variante wird die Bedeutung mit der Relation zwischen dem Ausdruck und dem Bezugsgegenstand identifiziert, so dass die Bedeutung 58 Wenn in Offb 22,15 ku,wn eingeführt wird, muss aufgrund des Kontextes gewusst werden, dass nicht ein vierbeiniges Haustier gemeint ist, sondern „schlechte Menschen“. Dies ist gerade vor dem Hintergrund eines Ansatzes zur Erfassung der Bedeutung als Grundbegriff einer kulturwissenschaftlichen Exegese gravierend, denn situationelle und kontextuelle Selektionen sind die Grundvoraussetzungen, dass es zu Transformationen kultureller Prozesse kommen kann. 59 Dillmann/ Grilli/ Mora-Paz, Leser, 45. 60 Das Wort „referentiell“ meint - entsprechend dem lateinischen Wort refero - etwas auf außersprachliche Komponenten rückzuführen. Davon wäre der Begriff der Repräsentation zu unterscheiden, der üblicherweise das sinngemäße Für-etwas-anderes- Stehen meint. Bei referentiellen Bedeutungsmodellen sind repräsentative Aspekte nicht ausgeschlossen, wie es besonders für das aristotelische Bedeutungsmodell gilt. 61 Diese Haltung wird beispielsweise von Gottlob Frege vertreten, für den die Bedeutung des Sprachzeichens vor allem „ein sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand“ ist (Frege, Über Sinn und Bedeutung, 43). <?page no="40"?> 28 eines Ausdrucks mit der Referenzrelation zwischen diesem Ausdruck und dem von ihm bezeichneten Gegenstand identifiziert wird. In diesem Kapitel werden Vertreter dieser zweiten Version zur Sprache kommen, denn die erste Version, bei der der bezeichnete Gegenstand die Bedeutung ist, darf als Konsequenz aus den Aporien der zweiten Version angesehen werden. Zugrunde liegt den Bedeutungstheorien, die Referenz als die Relation zwischen sprachlichen Ausdrücken und Gegenständen begreifen, eine erkenntnistheoretische sowie eine sprachphilosophische Prämisse, die eng miteinander zusammenhängen: a.) Die erkenntnistheoretische Prämisse lautet, dass die Dinge der menschlichen Erkenntnis direkt zugänglich sind. Oder anders gesagt: Ohne auf die Sprache rekurrieren zu müssen, braucht der Mensch nur auf die Dinge selbst zu rekurrieren. b.) Die sprachphilosophische Prämisse lautet, dass die Sprache einen Werkzeugcharakter hat. Die Wörter kleben wie Etiketten an den Dingen. Außerhalb dieser Etikettierung sagen die Wörter nichts über die Dinge aus. Beide Prämissen sind heute so nicht mehr aufrecht zu erhalten. 62 Spätestens seit dem letzten Jahrhundert hat eine ausgedehnte linguistische und sprachphilosophische Diskussion um diese beiden Prämissen stattgefunden, die zu deren Widerlegung führte. Auf Seiten der linguistischen Forschung ist an die sog. „Relativitätshypothese“ von Lee Whorf zu erinnern, die besagt, dass „die Wirklichkeit, wie sie dem Menschen erscheint, immer relativ […] zur Muttersprache eines Menschen“ 63 ist. Auf philosophischer Ebene ist an das Werk „Wahrheit und Methode“ von Hans-Georg Gadamer zu erinnern, in dem von der Vermitteltheit jeglicher Erkenntnis durch die Sprache ausgegangen wird. Aus diesem Grunde definieren Schwarz und Chur in ihrem Semantiklehrbuch die Referenz folgendermaßen: „Referenz ist die Relation, die in einer bestimmten Situation zwischen sprachlichen Ausdrücken und Gegenständen besteht, bzw. etabliert wird“ . 64 Selbst wenn die oben genannten Prämissen in dieser Art ihre Gültigkeit verloren haben, so sind doch die aus diesen Theorien abzuleitenden Bedeu- 62 Seyla Benhabib, Kritik, 107, spricht in diesem Zusammenhang von der Verabschiedung der als klassisch zu bezeichnenden Epistemologie: „Die neuzeitliche Orientierung operierte mit einer dreifachen Unterscheidung: die Ordnung der Vorstellungen in unserem Bewusstsein (Ideen oder Wahrnehmungen), die Zeichen, durch die diese ‚private’ Ordnung öffentlich gemacht wurde (also Wörter), und das Referential, das, was die Vorstellungen zu repräsentieren hatten und worauf sie sich bezogen. In dieser Tradition wurde die Bedeutung als ‚Designation‘ definiert: die Bedeutung eines Wortes war identisch mit dem, was es bezeichnet; die primäre Funktion der Sprache war denotativ, hatte auf objektive existierende Verhältnisse zu verweisen. Die klassische Episteme der Repräsentation ging aus vom erkennenden Subjekt als Zuschauer, von einer designativen Vorstellung von Bedeutungen und von einer denotativen Sprachtheorie“. 63 Linke/ Nussbaumer/ Portmann, Studienbuch Linguistik, 156. 64 Schwarz/ Chur, Sematik, 83. Kursivierung durch K.D. <?page no="41"?> 29 tungskonzepte immer noch im Rahmen der Diskussion um die Bedeutung virulent. 2.1. Bedeutung als Idee Die sprachphilosophische Reflexion setzte über das Phänomen des Bedeutens und der Zeichenhaftigkeit von Worten ein. Hier ist als erstes Platons „Kratylos“ zu nennen. 65 Die Bedeutungstheorie von Platon ist im Zusammenhang „mit seiner Begriffs-, Wesens- und Ideenlehre zu sehen“ und ist „gerade mit dieser spezifischen Komplexion von Problembereichen richtungweisend und blickbestimmend für eine jahrtausende alte philosophische Tradition von Bedeutungstheorien geworden“. 66 Aus Platons Ausführungen im „Kratylos“ geht hervor, dass Platon der Sprache einen Werkzeugcharakter zuweist. Das Wort ist „seines Gegenstandes Kundmachung durch Silben und Buchstaben“ 67 und „belehrendes Werkzeug und ein das Wesen unterscheidendes und sonderndes“. 68 Es ist nach Platon ein Instrument zur Bezeichnung der Sache, wobei vorausgesetzt wird, dass das Wort und das Ding in zwei voneinander getrennten Bereichen existieren. Verbunden sind die Bereiche nur dadurch, dass das Wort als Instrument zur Bezeichnung der Sache dient. Aber für die Erkenntnis des Dinges trägt das Wort generell nichts bei: „Mithin ist es doch wohl möglich, mein Kratylos, die Dinge ohne Worte kennen zu lernen“. 69 Zur Erkenntnis der Sache trägt das Wort nur im speziellen Sinn etwas bei, nämlich wenn es „richtig“ ist: Demnach steht das Wort dann nicht der Erkenntnis der Sache entgegen, wenn „das Wesen der Sache, das in dem Namen sich kundgibt, seine Geltung behält“. 70 Die Geltung behält die Sache vermöge der Bedeutung, denn das Wort bezieht sich über die Bedeutung auf die Sache. Das platonische Bedeutungsverständnis wiederum wird zugänglich durch seine Ideenlehre, die von der Grundannahme ausgeht, dass nur da Erkenntnis möglich ist, wo es keine Veränderung gibt. Da aber die Dinge in ihrer intellegiblen Weise der Veränderung unterworfen sind, ist an ihnen direkt keine Erkenntnis möglich. Erkenntnis der Dinge kann es nur deshalb geben, weil die Dinge das Abbild ihres unveränderlichen Urbildes - ihrer Idee - sind. Die damit auftauchende Frage, wie der Mensch eine Kenntnis dieser Ideen haben kann, wird von Platon mittels der Hypothese der menschlichen vorgeburtlichen Teilhabe am Reich der Ideen gelöst. Auf 65 Kronasser, Handbuch, 25ff. 66 Schmidt, Bedeutung, 9. 67 Plat. Krat. 433b. 68 Plat. Krat. 388c. 69 Plat. Krat. 438c. 70 Plat. Krat. 393a. <?page no="42"?> 30 diese Weise habe der Mensch Anteil gehabt an den Urbildern der Dinge. Im Prozess der Anamnesis, der Wiedererinnerung, kann sich der Mensch dieser Ideen nun erneut vergewissern, so dass Erkenntnis möglich ist. Erkenntnis ist sozusagen die wiedererinnerte Teilhabe an einer Idee. Die einzelnen Dinge sind gleichsam mit den Ideen „infiziert“ und dadurch erhalten sie ihr benennbares Wesen, so dass das Wort sich auf das Ding bezieht über die Idee. Bedeutung ist bei Platon deshalb zu definieren als Idee. Konkreter: Sie ist eine ideale, konstante Wesenheit, die vom Wort zwar genannt werden kann, aber von ihm unabhängig existiert. Daraus folgt, dass Bedeutung als eine konstante, unveränderbare apriorische Größe zu bestimmen ist. Die Probleme einer derartigen Bedeutungsbestimmung liegen auf der Hand: Eine apriorische Auffassung der Bedeutung setzt voraus, dass ein ebensolches apriorisches Reich der Ideen existiert, in der die Bedeutungen vorliegen. Dies ist vom heutigen Standpunkt aus gesehen eine unhaltbare metaphysische Spekulation. Dennoch hat Platon ein Problem umrissen, das in der Folgezeit immer wieder Gegenstand von Erörterungen wurde: Mit einzelnen Wörtern können zwar Dinge bezeichnet werden, aber die Bedeutung dieses Wortes ist keineswegs mit der Bezeichnungsfunktion identisch. Im Folgenden soll an dem Phänomenologen 71 Edmund Husserl gezeigt werden, inwiefern die Lösung dieser Bedeutungsproblematik von Platon Modellcharakter für spätere Generationen angenommen hat. 72 Hier führt ein semantischer Bedeutungsbegriff zur Phänomenologie - und die Phänomenologie wiederum legt die Grundsteine dieser semantischen Bedeutungstheorie. Husserl geht von einer instrumentalistischen Sprachauffassung aus. Die Wörter sind Namen für Gegenstände, sie sind Werkzeuge, mit denen auf die Dinge rekurriert werden kann: „Den Namen entsprechen gewisse Bedeutungen, und mittels ihrer beziehen wir uns auf Gegenstände. [...] Es ist einmal ein individueller Gegenstand; das andere Mal ein sonstiger ideeller Gegenstand“. 73 Auch hier beziehen sich - wie bei Platon - die Bedeutungen auf den Gegenstand mittels des Ausdrucks. Daraus ergibt sich nach Husserl folgende Definition von Bedeutung: „Bedeutungen bilden [...] eine Klasse von ‚allgemeinen Gegenständen’ oder Spezies [...]. Die Bedeutungen, unbeschadet, daß sie als solche allgemeine Gegenstände sind, zerfallen hinsichtlich der Gegenstände, auf die sie sich beziehen, in individuelle und spezielle, oder ... generelle. Also sind z.B. die individuellen Vorstellungen als Bedeutungseinheiten Generalia, während ihre Gegenstände Individualia 71 Wenn im Folgenden von „Phänomenologie“ gesprochen wird, so wird damit in erster Linie eine Methode des Philosophierens bezeichnet. 72 Welton, Origins, 1, spricht davon, „that the problem of meaning is the key to Husserl’s phenomenology not only systematically but also historically”. 73 Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, 140. <?page no="43"?> 31 sind“. 74 Husserl definiert mit Platon Bedeutung als ideale apriorische Wesenheit. Daher gibt es Bedeutungen an sich, die nicht an die Ausdrücke gebunden sind, denn „es besteht kein notwendiger Zusammenhang zwischen den idealen Einheiten, die faktisch als Bedeutungen fungieren, und den Zeichen, an welche sie gebunden sind, d.h. mittels welcher sie sich im menschlichen Seelenleben realisieren“. 75 Vorausgesetzt wird von Husserl darüber hinaus die Existenz eines ideal geschlossenen Inbegriffs von „generellen Gegenständen, denen das Gedacht- und Ausgedrücktwerden zufällig ist. Es gibt also unzählige Bedeutungen, die im gewöhnlichen relativen Sinn des Wortes bloß mögliche Bedeutungen sind, während sie niemals zum Ausdruck kommen und, vermöge der Schranken menschlicher Erkenntniskräfte, niemals zum Ausdruck kommen können“. 76 Somit muss Husserl der Bedeutung eine ebenso große erkenntnistheoretische Funktion wie Platon zumessen, denn die Bedeutung beispielsweise eines Wortes lässt sich objektiv dadurch bestimmen, dass das, was ist, auch dadurch erkennbar ist, dass es sich in bestimmter Weise ausdrückt. Durch die Annahme der Unveränderlichkeit der Bedeutung wird die Bedeutung der Erkenntnis zugänglich gemacht. Sprache wird dabei zu einem Organon, um die unabhängig von ihr erkannten Bedeutungen auszudrücken. Gerade dies garantiert, dass Bedeutungen unabhängig von ihrer individuellen sprachlichen Realisation sind und in ihrem Wesen konstant bleiben. Somit sind Bedeutungen frei von den Ambiguitäten, die den sprachlichen Produkten anhaften. Letztlich fallen bei Husserl die sprachliche Bedeutung und die Wahrnehmungsbedeutung zusammen. Ein bestimmter Gegenstand wird in einer „Akteinheit“ als beispielsweise „rot“ erkannt und als „rot“ bezeichnet. Husserl muss schließlich, um zu den Bedeutungen zurückzukehren, sich von der Sprache verabschieden. Diese Rückkehr sah er realisiert durch die „eidetische Reduktion“, d.h. die Konzentration auf das Wesen des Gegenstandes und die dieses Wesen erfassenden mentalen Akte, die zu allererst in einer Ausklammerung der Außenwelt bestehen. Aber diese eidetische Reduktion führt nicht zu einer expliziten Bedeutungsinterpration, insofern als das Wissen um das Wesen der Phänomene keiner Interpretation ausgesetzt werden muss. Denn, was nach Husserl einer gegebenen Erfahrung Bedeutung gibt, ist nicht die Sprache, sondern der Akt der Wahrnehmung bestimmter Phänomene. „Für Husserl geht [...] die Bedeutung der Sprache voraus: Sprache ist nicht mehr als eine sekundäre Tätigkeit [...]. Wie es mir überhaupt möglich ist, über Bedeutungen zu verfügen, ohne auch schon eine Sprache zu haben, ist eine Frage die Husserls System nicht beantwor- 74 Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, 102f. 75 Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, 104. 76 Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, 105. <?page no="44"?> 32 ten kann“. 77 Denn wenn der Gegenstand selbst, so wie er sich in der Anschauung präsentiert, mit dem intensionalen Gegenstand identisch werden soll, bedarf es einer grundlegenden Reflexion über die Sprache. Unter Einbeziehung der Peirceschen triadischen Zeichenkonzeption ist zu dieser Bedeutungsbestimmung anzumerken, dass bei Husserl dem Interpretanten ein unmittelbarer Durchgriff auf das Objekt eingeräumt wird. „Die Schwierigkeit, die Husserl dann zu schaffen macht, ist die Perspektivität der Wahrnehmung; auch wenn zugegeben wird, daß die Wahrnehmung den Gegenstand selbst gibt, [...] folgt daraus nicht, daß sie ihn auch vollständig gibt, nämlich nicht perspektivisch verzerrt und abgeschattet“. 78 Weil also in der Konzeption von Husserl das Zeichen in seinem Mittelbezug ausgeklammert wird, kann Husserls Vorschlag nicht zufrieden stellend klären, wie sich das Wort auf die Sache beziehen kann. 2.2. Bedeutung als Vorstellung Die durch Aristoteles 79 begründete Tradition setzt in die Position, die zwischen Wort und Sache vermitteln soll, eine kognitive, psychische Größe, die als Vorstellung oder auch als Referenz bezeichnet wird. 80 Ebenso wie Platon geht auch Aristoteles davon aus, dass auf der einen Seite die Gegenstände der Welt existieren und auf der anderen Seite die Wörter. Beide Bereiche werden später dadurch aufeinander bezogen, dass den Gegenständen bestimmte Wörter zugeordnet werden. Im Rahmen dieser Zuordnung wird die Bezeichnungsfunktion der einzelnen Wörter festgelegt. Wörter als isolierte Zeichen beziehen sich nun auf die Vorstellungen, die der Mensch von den Dingen hat. Diese Vorstellungen werden erklärt durch die Begriffe, so dass seit Aristoteles eine Unterscheidung von (sprachlichem) Zeichen/ Wort und Begriff vorliegt. Da die Vorstellungen Abbildungen der Dinge sind, beziehen sich die Lautgebilde eines Wortes mittels der Vorstellung auf die Dinge. Die Bedeutung eines Lautgebildes ist im Rahmen dieser Theorie als Vorstellung zu bestimmen. Aristoteles geht soweit zu sagen, dass die „Wörter als Anzeichen (s meia) der Zustände der 77 Eagleton, Einführung, 25. 78 Schönrich, Semiotik, 39. 79 Es ist darauf hinzuweisen, dass Aristoteles im Folgenden nur als ein für die Belange einer referentiellen Bedeutungstheorie maßgeblicher Gewährsmann rezipiert werden wird. Mit dieser Einordnung kann keineswegs Aristoteles Werk in umfassender Weise gewürdigt werden, das seinen Einfluss auf sehr unterschiedliche Bereiche der Wissenschaft ausgeübt hat. So ist selbstverständlich daran zu erinnern, dass Aristoteles ebenso auf die Bedeutungstheorien innerhalb der syntagmatischen Dimension maßgeblichen Einfluss genommen. Die Theorie der Gegensätze, wie sie beispielsweise in Aristoteles Schrift der Kategorien (bes. cat. 6a36ff.) worden ist, wirkte sich beispielsweise auf die Arbeiten von Greimas aus. 80 Vgl. zum Folgenden Weidemann, Ansätze, 241-257. <?page no="45"?> 33 Seele aufzufassen [sind], allerdings in dem Sinn, daß jedes Aussprechen von Wörtern vor allem ein Symptom dafür sein kann, daß derjenige, der sie äußert, etwas im Geist hat. Die Zustände der Seele dagegen sind Abbildungen oder Ikone der Dinge“. 81 An die Position, an die bei Platon und Husserl die Idee gesetzt wurde, tritt nun eine psychische, kognitive Kategorie. Dadurch entsteht eine Schwierigkeit, die es in der platonischen Variante nicht gab: Sofern nämlich Bedeutung als Vorstellung definiert wird, müssen die Menschen, um kommunizieren zu können, dieselben Vorstellungen haben. Ohne dieselben Vorstellungen divergieren nämlich auch die Bedeutungen und es kann keine Verständigung zustande kommen. Indem Aristoteles die Gleichheit der Vorstellungen bei allen Menschen als Faktum voraussetzt, versucht er das Problem zu lösen, wie sich Menschen trotz verschiedener Lautgebilde auf dieselben Dinge beziehen: „Es sind also Laute, zu denen die Stimme gebildet wird, Zeichen der in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen, und die Schrift ist wieder ein Zeichen der Laute. Und wie nicht alle dieselbe Schrift haben, so sind auch die Laute nicht bei allen dieselben. Was aber durch beide an erster Stelle gezeigt wird, die einfachen seelischen Vorstellungen, sind bei allen Menschen dieselben, und ebenso sind es die Dinge, deren Abbildungen die Vorstellungen sind“. 82 Aristoteles behauptet damit also, dass die einzelnen Wörter nichts über die Dinge sagen, sondern lediglich eine Vorstellung bezeichnen. Die Konzeption von Aristoteles, die Bedeutung als psychische Größe versteht, wirkte sich in der Folgezeit überaus fruchtbar aus und ermöglichte einen Bedeutungsbegriff, der von Boethius über Abälard bis Ockham die Begriffe zu den natürlichen Zeichen der Dinge im Bewusstsein macht und bei John Locke in folgender berühmter Definition kulminiert: „Die Wörter vertreten also in ihrer ursprünglichen oder unmittelbaren Bedeutung nach nur die Ideen im Geiste dessen, der sie benutzt“. 83 Locke hat mit dieser Bedeutungsbestimmung die Frage der Aktivität des Intellekts beim Benennen der Dinge aufgeworfen, denn die Bedeutung eines Wortes kommt dadurch zustande, dass sich der Geist eine entsprechende Idee hervorruft. Der Vorteil dieser Bedeutungsbestimmung liegt darin, dass auch unter Abwesenheit der bezeichneten Dinge der Geist in der Lage ist, die Dinge zu repräsentieren. Allerdings stellt sich die Frage, wie Verständigung gelingen kann, wenn sie nicht intersubjektiv abgesichert ist. Locke versucht dieses Problem durch die Einführung der Annahme des „common use“ zu lösen, der dafür sorgen soll, dass denselben Vorstellungen dieselben Laute zugeordnet werden. „Der allgemeine Gebrauch ordnet aufgrund einer stillschweigenden Übereinkunft bestimmte Laute bestimmten Vorstellun- 81 Eco, Kant, 457. 82 Aristot. Peri Hermeias 16a. 83 Locke, Essay, III 2.2. <?page no="46"?> 34 gen in allen Sprachen zu, welcher die Bedeutung des betreffenden Lautes festlegt, so daß wer ihn nicht auf dieselbe Vorstellung bezieht, nicht richtig spricht“. 84 Die hier greifbare pragmatische Dimension der Bedeutung in der Konzeption Lockes lässt jedoch deutlich werden, dass die kognitive Bedeutungstheorie von Locke die Bedeutung zwar im „common use“ eingebunden sieht, aber Bedeutung nicht durch diesen „common use“ - verstanden als sozialer bzw. kultureller Kontext - erst ermöglicht sieht. So ist es nicht von ungefähr gerade Wittgenstein, der Kritik an dieser Konzeption übt, denn es bleibt ungeklärt, weshalb der Geist weiß, was er mit dem Haben einer Idee eigentlich anfangen soll. Genau genommen müsste der Geist auch noch Anwendungsvorschriften für die Idee erhalten, also auch noch über die Idee einer Anwendbarkeit dieser Idee verfügen. 85 Das damit angesprochene Dilemma - also wie Kommunikation bei unzugänglichen Innenwelten überhaupt möglich ist - wird auch in späterer Zeit von Vertretern einer psychologischen Bedeutungsauffassung nicht gelöst. Diese Bedeutungsauffassung setzt sich in der Sprachwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts fort, wo sie dann allmählich von strukturalistischen Konzeptionen überschattet wird. Noch im 19. Jahrhundert findet sich im Rahmen der Sprachgeschichtsforschung der oben vorgestellte Bedeutungsbegriff. C. Reisig aus Halle, Begründer der Sprachgeschichtsforschung, vertritt in seinen „Vorlesungen über lateinische Sprachwissenschaften“, die 1839 von F. Haase herausgegeben worden sind, folgendes Bedeutungskonzept: Wörter dienen der „Veräußerlichung“ von vorsprachlichen Gedanken und Empfindungen. Sie sind den Begriffen nachgeordnet. Die Bedeutung eines Wortes ist bei ihnen als Repräsentation einer sprachunabhängigen gedanklichen Größe durch einen materiellen Signifikanten bestimmt. 86 Sprache ist somit nur Nomenklatur für autonome Vorstellungen und Gedanken. 87 Erst das menschliche Erkenntnissystem erschließe die bewusstseinsunabhängige Welt, die als solche nicht erkennbar sei. Mit Blick auf neutestamentliche Wörterbücher kann festgehalten werden, dass besonders diese Bedeutungsbestimmung lange verhinderte, dass es zu einer Ausarbeitung einer Bedeutungstheorie im Rahmen einer neutestamentlichen Lexikographie kam. 88 Weil Bedeutung gleich Begriff bzw. Vor- 84 Locke, Essay, III 2.8 85 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen §§138-149. 86 Vgl. Schmitter, Zeichen, 117f. 87 Vgl. Schmitter, Zeichen, 119.151. 88 Der Versuch ein Wörterbuch zu entwerfen unter Einbeziehung einer Bedeutungstheorie wird erstmals von Louw/ Nida in „Greek-English Lexicon of the New Testament based on Semantic Domains“ im Jahr 1988 versucht. „The significance lies not in the adoption of a domain structure, important and useful though that is, but in the fact that this was the first New Testament lexicon in five hundred years to apply the definition method in a thoroughgoing way“ (Lee, History, 155). <?page no="47"?> 35 stellung war, musste im Rahmen von griechischen Wörterbüchern nur aufgrund des Begriffs nach dem entsprechenden nachgeordneten Wort in der Zielsprache gesucht werden, das für diesen Begriff steht. Verdeutlicht an einem Beispiel: Im Wörterbuch von Bauer steht für ki,crhmi das Wort „leihen“ 89 und auch danei,zw wird übersetzt mit „(Geld) leihen“. 90 Beide Wörter haben also die gleiche Bedeutung, weil beiden die gleiche Vorstellung zugrunde liegt: „Jemand leiht jemanden etwas“. Unter der Voraussetzung, dass die sprachunabhängigen Vorstellungen von der Zeit der Verfassung der neutestamentlichen Schriften bis heute unverändert sind, kann die Bedeutung der beiden Wörter problemlos erfasst werden und wird synonym bestimmt als „leihen“. Doch gibt es zwischen den beiden Wörtern einen Bedeutungsunterschied, wie Louw/ Nida in ihrer Bedeutungsbestimmung hervorheben: So wird ki,crhmi (57.214) bestimmt als „to give something to someone for use, with the expectation that the same or its equivalent will be returned“ und danei,zw (57.209) als „to lend money, normally with the expectation of receiving the same amount in return plus interest“. Während das deutsche Wort „leihen” beide Bedeutungen beinhaltet, sind die Bedeutungen der beiden griechischen Wörter unterschiedlich zu bestimmen, doch diese Unterschiedlichkeit wird bei der Bestimmung der Bedeutung als Vorstellung nicht berücksichtigt: „This approach tended to present the most popular translation equivalents with no specification as to how far they cover the same range of meaning as the original word”. 91 Weil Bedeutung an den Aspekt der Vorstellung gebunden wird, bedarf es keiner sprachlich orientierten Bedeutungstheorie. Auch die Bedeutungsbestimmungen aus dem „Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament“ (= ThWNT) gründen auf diesem referenztheoretischen Zugang zur Bedeutung. Es ist maßgeblich James Barr zu verdanken, auf die grundlegenden Probleme dieses Ansatzes des ThWNT hingewiesen zu haben, die in der Überzeugung gründen, dass Kittel „nie mit genügender Schärfe über linguistische Probleme nachgedacht“ 92 habe, sondern das Theologische Wörterbuch sich danach sehne, „daß die theologische Begriffsstruktur mit den Wörtern direkt verbunden sei“. 93 Weil hier Bedeutung mit dem Begriff gleichgesetzt wird, der die Konstante bietet, auch wenn die Worte sich wandeln, ist es möglich, der bedeutungstheoretischen Prämisse zu folgen, „derzufolge die Bedeutung des frühchristlichen Sprachgebrauchs über die LXX ins Hebräische zurückverfolgt werden könne“. 94 Dieser Ansatz verkennt die Prozessualität von Bedeutungsgene- 89 Bauer, Wörterbuch, 880. 90 Bauer, Wörterbuch, 340. 91 Louw, Semantics, 2. 92 Barr, Semantik, 208. 93 Barr, Semantik, 234. 94 Dies betont Schröter, Stand, 269, bei seiner Darstellung der dem Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament zugrunde liegenden Bedeutungstheorie. <?page no="48"?> 36 rierungen und weiß sich einem Modell der Linearität verpflichtet, welches nicht der Pluralität von kulturellen Manifestationen gerecht wird. Diese Linearität kann jedoch nur behauptet werden aufgrund des referenztheoretischen Zugangs zur Bedeutung, bei der Bedeutung als eine statische Größe aufzufassen ist, die bestimmt werden kann, weil die hinter den Wörtern liegenden Vorstellungen sich nicht ändern. Vor diesem Hintergrund ist das Wörterbuch „Greek-English Lexicon of the New Testament based on Semantic Domains“ von Louw/ Nida zu würdigen als das erste neutestamentliche Wörterbuch, das mit einer ausgearbeiteten Bedeutungstheorie arbeitet. Dieses neutestamentliche Wörterbuch stellt den Versuch dar, weder mit einem Konzept der „Grundbedeutung“ noch mit einem Konzept einer „ideenhaften“ gleich bleibenden Bedeutung zu agieren, sondern ein Wörterbuch zu entwerfen, dass sich der theoretischen Problematik der Bedeutungsbestimmung stellt und deshalb über die syntagmatische Eingebundenheit der Lexeme deren Bedeutung zu klären versucht. Abgelöst werden die auf die Vorstellung bzw. Disposition des Geistes sich gründenden semantischen Bedeutungsbestimmungen im 20. Jahrhundert von einer „Disposition des Gehirns“, bei der Bedeutung als eine konzeptuelle Repräsentation erfasst wird. 2.3. Bedeutung als konzeptuelle Repräsentation In den letzten Jahren sind, vor allem im angelsächsischen Bereich, zahlreiche Arbeiten zur sog. kognitiven Semantik erschienen. Die Einbindung und Validierung linguistischer Theorien unter spezieller Berücksichtigung physiologischer und psychologischer Evidenzen wurden als wesentliche Neuorientierung innerhalb der Linguistik ausgemacht: Die Sprache zählt nun zu den kognitiven Fähigkeiten, die bei der Bestimmung der Bedeutung maßgeblich sind. In Abgrenzung zu traditionellen Abbildungstheorien wird in der Kognitionslinguistik das Gehirn als ein Organ beschrieben, „das Welten festlegt, keine Welten spiegelt“. 95 Auf der Basis eines erweiterten Kompetenzbegriffs 96 verbanden sich in der Kognitionslinguistik divergierende Ansätze. 97 Ihnen gemein ist die 95 Varela, Kognitionswissenschaft, 109. 96 Vgl. Schwarz, Einführung, 39, hält fest, dass sprachliche Kompetenz immer eingebunden ist in Realisierungsmechanismen. 97 Ein wesentlicher Grund für diese divergierenden Ansätze innerhalb des kognitiven Meinungsstreites dürfte auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass es zwei verschiedene konzeptuelle Grundströmungen gibt: Modularismus und Holismus (vgl. hierzu den guten Überblick bei Schwarz, Einführung, 44ff.). Die Modularitätsthese geht davon aus, dass Sprache ein System des kognitiven Gesamtsystems neben anderen ist, mit ihm eigenen Regularitäten und Strukturen. Die Vorstellung von der Sprache als Modul - wohl der Computersprache entlehnt - knüpft an die Idee von der geschlossenen Funktionseinheit eines Programms oder auch eines isolierten Bausteins <?page no="49"?> 37 Ausrichtung auf Fragen nach Repräsentation. Für die Semantiktheorien innerhalb der kognitiven Linguistik gilt es festzuhalten, dass sie deutlich in ihrem Anspruch über die isolierte lexikalische Bedeutung hinausgehen. Zentral sind Fragen nach dem Verhältnis von Realität und Kategorisierung sowie die damit im Zusammenhang stehende Problematik von lexikalischer und aktueller Bedeutung. So rückt die Frage nach der Referenz in den Mittelpunkt dieser semantischen Analysen, so dass auch die Semantiktheorien in einem kognitiven Paradigma unter dem Begriff der Referenztheorien abzuhandeln sind. Die Konzeptionen der kognitiven Semantik können im Wesentlichen durch folgende für sie alle geltenden Annahmen gekennzeichnet werden: 1) Die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken ist eine kognitive Größe oder ist bestimmt durch kognitive Kategorien. 2) Kognitive Kategorien weisen eine bestimmte interne Struktur auf. Bei vielen Kategorien haben nicht alle Repräsentanten der Kategorie bestimmte Merkmale gemeinsam, sondern sie zeigen überlappende Merkmalsmengen. 3) Es gibt keine Unterscheidung zwischen lexikalischem und enzyklopädischem Wissen. 98 Diese programmatischen Annahmen werden im Folgenden an der Prototypensemantik bzw. Stereotypen-Semantik exemplifiziert. In ihrer Standardversion versteht sich die Prototypensemantik als ein holistischer Ansatz innerhalb der Kognitionswissenschaften. Ihre Entstehung geht dabei primär auf ethnologisch und psychologisch orientierte Studien zurück. Für die definitorische Klarheit beziehen wir uns zunächst auf den Ansatz von E. Rosch 99 (und werden den Stereotypenansatz von an. Gleichwohl stehen die einzelnen Bausteine und Funktionseinheiten des Systems nicht autark nebeneinander, sondern interagieren und bedingen sich. Auf die kognitive Linguistik übertragen bedeutet das, dass die Sprache zwar als eigenständiges Modul betrachtet wird, dass jedoch letztlich die sprachliche Aktivität ein Zusammenwirken verschiedener Subsysteme der Kognition voraussetzt. Im Gegensatz dazu zielen die holistischen Ansätze generell auf die Erforschung der universalen Prinzipien der Kognition, wie z.B. Kategorisierung, Konzeptbildung etc. Sprache wird in dieser Ausrichtung nicht als ein Subsystem verstanden, sondern als das Kernphänomen der Kognition schlechthin, dessen Funktionieren den gleichen universalen Regularitäten unterliegt, die für alle kognitiven Fähigkeiten Gültigkeit besitzen. 98 Diese Unterscheidung wurde bei VertreterInnen des Strukturalismus zu einer grundlegenden. Für den Strukturalismus gilt dabei folgender Standpunkt: Lexikalisches Wissen ist alles, was Bedeutungsunterschiede zwischen Wörtern konstituiert und was bedeutungsrelational zu ermitteln ist. Alles andere fällt aus der lexikalischen Bedeutung heraus. Dies führte zu der methodisch offenen Frage, woher diese vorgeblich rein innersprachliche strukturelle Analyse zu ihren Abgrenzungskriterien kommt. 99 Der Begriff des Prototyps wurde von Eleanor Rosch in die Diskussion eingeführt. <?page no="50"?> 38 Putnam 100 vernachlässigen), dabei beziehen sich die Ausführungen vor allem auf die von Kleiber 101 so bezeichnete Standardversion. Die Prototypentheorie geht davon aus, dass die begriffliche Organisation mit Hilfe der Vorstellung von einer prototypischen Struktur adäquat beschrieben werden kann, die dann für die semantischen Strukturen anzunehmen sind. „Jede Theorie der Kategorisierung mündet unausweichlich früher oder später in eine Theorie der lexikalischen Bedeutung. [...] Es war daher eine logische Entwicklung, daß die Prototypentheorie ebenfalls als eine semantische Theorie betrachtet wurde und daß die neue Definition der Kategorien auch eine neue, den klassischen referentiellen Definitionen auf der Basis von NHB (notwendige und hinreichende Bedingungen; K.D.) abgewandte Konzeption der Wortbedeutung lieferte“. 102 D.h., dass die Untersuchung und Darstellung des Problems der Kategorisierung auch immer als ein Beitrag zur Beschreibung von sprachlichen Bedeutungen verstanden wird, ohne dass dabei aber behauptet würde, dass Begriffe und sprachliche Bedeutungen zusammenfallen. E. Rosch definierte einen Prototyp als bestes Exemplar oder zentrales Element einer Kategorie. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass von einer Kategorie auszugehen ist, die sich nicht aus einzelnen aneinander gereihten Elementen konstituiert, sondern die sich um ein zentrales Element gruppiert. Der Prototyp ist allerdings keine Größe, die von einem Individuum definiert wird, sondern immer von einer Sprachgemeinschaft. „Ein Beispiel gilt nur dann als Prototyp oder als bestes Exemplar, wenn bei den Sprechern Einigkeit darüber besteht, daß dieses Beispiel als besser betrachtet wird als die anderen Vertreter einer Kategorie. Analog gilt, daß ein Beispiel ein weniger gutes bzw. weniger repräsentatives Exemplar oder ein marginales Element darstellt, wenn die Sprecher tatsächlich der Ansicht sind, daß dem so ist“. 103 Mit dieser Eingrenzung soll der Vorwurf der Beliebigkeit ausgeräumt werden; ein Einzelexemplar - wie „mein blauer Schreibtischstuhl“ - kann deshalb nicht als Prototyp akzeptiert werden. Aber hier schließt sich sogleich ein offenes Problem der Prototypentheorie an: Laut Lutzeier hängt die Vielseitigkeit und Abweichung individueller Stereotypen bzw. Prototypen damit zusammen, dass Stereotypen von Interessen und Gesichtspunkten abhängig sind: Für jeden Sprachteilnehmer mag an bestimmten Gegenständen, auf die er sich bezieht, etwas anderes wichtig sein. 104 Hier ist ebenfalls die Frage nach der intersubjektiven Übereinstimmung strittig: Die Prototypentheorie bestimmt das Verhältnis von 100 Der Begriff des Stereotyps wurde von Hilary Putnam in die Diskussion eingeführt. 101 Vgl. dazu: Kleiber, Prototypensemantik. 102 Kleiber, Prototypensemantik, 39. 103 Kleiber, Prototypensemantik, 32. 104 Lutzeier, Linguistische Semantik, 116, der daraus seine Ablehnung der Merkmalssemantik ableitet, da eine Merkmalsbeschreibung aufgrund ihrer Standpunktbezogenheit niemals eine Bestimmung der Extension für das jeweilige Wort liefern kann. <?page no="51"?> 39 Sprachgemeinschaft zu Interessenorientierung durch die Typikalität. Der Prototyp ist der typischste, der beste Repräsentant einer Klasse. Kritisch ist an dieser Stelle anzumerken, „dass in dieser Fassung der Theorie der Ähnlichkeit mit einem Urbild ein grosser Einfluss für das Ausmass der Typikalität eines Objektes zukommt“. 105 Problematisch dürfte eine Erklärung von Typikalität insofern sein, als z.B. Vogel und Pferd beide prototypische Vertreter des Begriffs „Tier“ sind, aber keine sensorisch wahrnehmbare Ähnlichkeit untereinander aufweisen. 106 Anders ausgedrückt: Die Prototypensemantik operiert mit Normalitätsvorstellungen. Aber „was ist schon bei der Anwendung von sprachlichen Ausdrücken auf Gegenstände ‚normal’, und wer entscheidet gegebenenfalls und mit welchen Kriterien darüber, wann etwas normal ist oder nicht? “ 107 Diese Normalitätsvorstellungen müssen als statisch angesehen werden, so dass daran anschließend auch hier wieder von einem statischen Bedeutungsbegriff gesprochen werden kann, denn die Prototypensemantik ist nicht in der Lage, die Beweglichkeit von Normalitätsvorstellungen, die abhängig von den Erfahrungen der jeweiligen Umgebung sind, methodisch einzufangen. So steht die Prototypensemantik beispielsweise bei der Bestimmung von kth/ noj vor dem Problem, ob damit ein Prototyp bezeichnet wird oder ein prototypischer Vertreter eines anderen Begriffs. Während in Apg 23,24; Offb 18,13 und Lk 10,34 mit kth/ noj ein jeweils spezielles Tier bezeichnet ist, scheint mit Blick auf 1Kor 15,39 kth/ noj auf einen Prototyp hinzudeuten, wenn es dort heißt: a; llh me.n $sa,rx% avnqrw,pwn( a; llh de. sa,rx kth,nwn . Der Ausgangsgedanke der Prototypentheorie, dass Bedeutungen nicht als private, psychische Entitäten missverstanden werden dürfen, führt zu der Annahme vorausgesetzter „kollektiver Bedeutungen“, die jedoch niemals etwas Einheitliches darstellen. Hier zeigt sich ein grundlegendes theoretisches Problem der Prototypensemantik: Sie ist nicht in der Lage, diesen dynamischen Prozess, den Bedeutungen unterliegen, theoretisch einzufangen. Zugleich gerät die Prototypensemantik in die Nähe von psychologischen Bedeutungskonzeptionen, insofern als sie von Interessen und Standpunkten bei der Bestimmung von Prototypen geleitet wird. Die Kenntnis eines Wortes sowie sein Verstehen sind letztlich stets schon vorgängig und werden bei der Prototypensemantik immer schon vorausgesetzt. Darin unterscheidet sich die Prototypensemantik übrigens wenig von der Merkmalssemantik, die sie überwinden wollte. Bei der Bedeutungsbeschreibung ist im Gegensatz zu der Merkmalssemantik nur ein kleiner Unterschied festzustellen, der darin liegt, dass die Merkmalssemantik mit der Annahme der Vollständigkeit sowie der eindeutigen Klassifizierbarkeit 105 Linke/ Nussbaumer/ Portmann, Studienbuch Linguistik, 347. 106 Vgl. Eco, Kant, 230, der den Wert des Begriffs Prototyp darin sieht, dass er klärt, „welche Ränder eine Grundkategorie hat.“ 107 Busse, Textinterpretation, 42. <?page no="52"?> 40 von Merkmalskomplexen operierte, während bei der Prototypensemantik die Suche nach „typischen“ Merkmalen im Vordergrund steht, die zu Proto- oder Stereotypen agglomorieren. 2.4. Fazit Alle Bedeutungstheorien der semantischen Dimension betonen gegenüber den Bedeutungskonzeptionen der syntagmatischen Dimension, dass Bedeutung nicht als eine innersprachliche Relation zu bestimmen ist, sondern dass eine außersprachliche bzw. kognitive Wirklichkeit berücksichtigt werden muss. Deshalb gehen alle Positionen innerhalb der semantischen Bedeutungsbestimmung davon aus, dass sprachliche Ausdrücke auf außersprachliche Objekte der Wirklichkeit verweisen. Anhand von drei grundlegenden Konzeptionen, die in diesem Abschnitt holzschnittartig skizziert wurden, wurde Bedeutung als referenzielle Größe erfasst, die sich näherhin als Idee, als Vorstellung oder als konzeptuelle Repräsentation erfassen ließ. Besonders die letztgenannte Variante stellt eine Erweiterung semantischer Bedeutungstheorien dar, da hier die Referenzialität soziokulturell determiniert ist. Allerdings wird diese Kontextualität methodisch nicht reflektiert, muss aber im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Exegese als grundlegend erkannt werden. Diese Kontextgebundenheit zeigt sich einmal im Rekurs auf die syntagmatische als auch im Rekurs auf die pragmatische Dimension: So kann die Bedeutung von Galilai,a im Markusevangelium nur wie folgt ermittelt werden 1.) durch die Stellung im betreffenden Wortfeld und im betreffenden Syntagma; 108 2.) in der Art der Verwendung, die von dem zugrunde gelegten Wertesystem abhängig ist. 109 Die Beachtung der Regeln der Referenz ist damit nicht hinfällig geworden, doch ist der Referenztheorie beim Akt der Bedeutungskonstitution keine Monopolstellung einzuräumen unter Absehung der syntagmatischen und pragmatischen Dimension. 3. Bedeutungstheorien der pragmatischen Dimension Aus dem letzten Abschnitt ist ersichtlich geworden, dass die Bedeutung einen referentiellen Aspekt hat, doch: „Auch wenn man zugesteht, daß Zeichen für etwas stehen, etwas repräsentieren, etwas bezeichnen und dergleichen, sei es ein Gegenstand, eine Vorstellung, ein Konzept, ein Wahrheitswert oder was auch immer, kommt man nicht umhin, sich die Frage zu stellen, welche Eigenschaften des Zeichens es ist, dank derer der Adres- 108 Vgl. dazu: van Iersel, Markus. 109 Vgl. dazu Malbon, Narrative Space, die die Erzählhandlung des Markusevangeliums von den „geopolitical relations“ her entfaltet. <?page no="53"?> 41 sat herausfindet, wofür das Zeichen steht.“ 110 Um eine Bedeutungsbestimmung vorzunehmen, bedarf es deshalb der Kenntnis der Gebrauchsregeln der verwendeten Wörter bzw. Zeichen. Bedeutung wird in der pragmatischen Dimension unter dem Aspekt des Gebrauchs dargelegt. 3.1. Die „ordinary language philosophy“ Die „ordinary language philosophy”, für deren Anfänge Wittgenstein, Ryle und Austin genannt werden können, fand später ihre Fortsetzung in den Arbeiten von Searle, Strawson und Grice. Bezogen auf die verschiedenen Modelle dieser Theorien soll eine Beschränkung auf den Entwurf von Wittgenstein erfolgen, da durch ihn wesentliche begrifflich-methodologische Anknüpfungspunkte für die Aufarbeitung der pragmatischen Dimension der Bedeutung in den Sprachwissenschaften entstanden sind. 111 Wittgenstein verweist auf das kontingente Verhältnis von Zeichen und Bedeutung, indem er die Bedeutung eines Ausdrucks an dessen Gebrauch in der Sprache bindet. Gerne wird deshalb in der Forschung von der Gebrauchshypothese im Rahmen einer Bedeutungstheorie gesprochen. Allerdings ist im Hinblick auf Wittgenstein darauf hinzuweisen, dass hier keineswegs eine schlichte Gebrauchstheorie vorliegt, die einzig und allein davon ausgeht, dass die Beachtung der konkreten Kommunikationssituation mit allen sprachlichen und nichtsprachlichen Facetten dem Subjekt die Bedeutung einer Äußerung eröffnet. 112 Dies impliziert einerseits eine Kritik an repräsentativen Bedeutungsmodellen sowie andererseits eine Kritik an verwendungsunabhängigen Bedeutungszuschreibungen. „Laß uns zuerst über den Punkt dieses Gedankengangs reden: daß das Wort keine Bedeutung hat, wenn ihm nichts entspricht. - Es ist wichtig, festzustellen, daß das Wort ‚Bedeutung’ sprachwidrig gebraucht wird, wenn man damit das Ding bezeichnet, das dem Wort ‚entspricht’. Dies heißt, die Bedeutung eines Namens verwechseln mit dem Träger des Namens. Wenn Herr N.N. stirbt, so sagt man, es sterbe der Träger des Namens, nicht, es sterbe die 110 Keller, Zeichentheorie, 61. 111 Die Ausführungen beschränken sich ausschließlich auf die „Philosophischen Untersuchungen“ Wittgensteins. Einerseits scheint die Begrenzung gerechtfertigt durch den Wandel zentraler Begriffe und Gedanken im Zuge der Entwicklung der Gebrauchstheorie der Sprache bei Wittgenstein, die sich in der Unterscheidung der frühen Philosophie und dem Spätwerk manifestiert, andererseits sind die „Philosophischen Untersuchungen“ als einziges Dokument der Spätphilosophie von Wittgenstein selbst zur Veröffentlichung vorbereitet worden. 112 Es ist für die Ausführungen von Wittgenstein zum Verhältnis von Gebrauch und Bedeutung von größter Relevanz, sie in dem Wittgensteinschen Gesamtkontext zu sehen. Erst dann kann der Zusammenhang erschlossen werden. Ein Herausreißen und Isolieren von Bedeutung und Gebrauch führt zu einer verkürzten Theorie von Wittgenstein. <?page no="54"?> 42 Bedeutung des Namens. Und es wäre unsinnig, so zu reden, denn hörte der Name auf, Bedeutung zu haben, so hätte es keinen Sinn, zu sagen ‚Herr N.N. ist gestorben“. 113 Bedeutung ist somit nichts, was dem Zeichen zugeordnet wäre, wie das bilaterale Zeichenmodell von de Saussure suggerierte. Bedeutung im Sinne Wittgensteins ist kein „reines Mittelwesen [...] zwischen den Satzzeichen und den Tatsachen“. 114 Mit der Verknüpfung von Bedeutung und Gebrauch muss die Klärung der Bedeutung einzelner Ausdrücke von der Anschauung spezifischer Äußerungssituationen ausgehen, d.h. Ausdrücke bedeuten im Rahmen der Äußerungssituation: In der Terminologie des linguistischen Strukturalismus könnte man sagen, Wittgenstein verschiebt die Frage der Bedeutung von der langue auf die parole. Die Korrelation von Bedeutung und Gebrauch illustriert Wittgenstein mit Hilfe des Spielmodells. „Das Wort ‚Sprachspiel’ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“. 115 Die Begriffe „Sprachspiel“ und „Lebensform“ sind in der Konzeption Wittgensteins der basale Ort der Verbindung von Sprache und Welt. Sprachliche Zeichen enthalten durch ihren Gebrauch im Zusammenhang von Sprachspielen ihre Bedeutung. Eine sprachspielübergreifende semantische „Grundbedeutung“, etwa als Substrat gemeinsamer Merkmale verschiedener sprachspielinterner Verwendungen eines Ausdrucks, ist nicht zulässig. Die einzig sinnvolle Form der Bedeutungserklärung besteht in Verwendungsbeispielen für Ausdrücke innerhalb der bedeutungskonstituierenden Sprachspiele. Durch die verschiedenen Gebrauchsweisen desselben Ausdrucks wird auch die Idee der Bedeutungsidentität problematisch. Zwar gibt es Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Verwendungsweisen, doch diese Überschneidungen sind untereinander selbst wieder verschieden. Wittgenstein führt im Zusammenhang mit der Spielanalogie den Begriff der „Familienähnlichkeit“ ein: „Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir ‚Spiele’ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? - Sag nicht: ‚Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‚Spiele’’ - sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. - Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze 113 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen §40. 114 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen §94. Burkhardt, Semiotik, 38, weist auf die Nähe dieses Gedankens von Wittgenstein zu Peirce und Eco hin: „Wie Peirce und Eco sieht Wittgenstein die Bedeutung eines Zeichens in seiner Substituierbarkeit durch andere Zeichen“. Allerdings mit dem - von Burkhardt nicht erwähnten - gravierenden Unterschied, dass dieser Prozess ad infinitum angelegt ist, während Wittgenstein in der Einheit von Sprachgebrauch, Lebensform und Weltanschauung den Garanten für ein begrenztes Modell der Zeichensubstitution sieht. 115 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen §23. <?page no="55"?> 43 Reihe. [...] Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‚Familienähnlichkeiten’, denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. - Und ich werde sagen: die ‚Spiele’ bilden eine Familie.“ 116 Das Bild der Familienähnlichkeit ersetzt das Modell der Bedeutungsfeststellung von Zeichen durch ein kompliziertes Geflecht von Übereinstimmungen und Differenzen. Die damit zutage tretende Vagheit ist Garant für das Funktionieren von Sprache: Denn die Verwendung des Ausdrucks „Sprache“ schließt nach Wittgenstein „die Willkür aus und den Begriff der Regel ein“. 117 Im Rekurs auf den Begriff der Regel kann Wittgenstein die Intersubjektivität von Bedeutungen erklären. Während bei dem im letzten Abschnitt dargestellten Repräsentationsmodell von Bedeutung die Gemeinsamkeit verfügbarer Bedeutungen auf die individuell erkennbare Korrespondenz sprachlicher Zeichen mit der durch sie repräsentierten Wirklichkeit zurückgeführt wird, fordert das Wittgensteinsche Bedeutungskonzept eine über den Korrespondenzgedanken hinausgehende Erklärung für das Funktionieren von Kommunikation. Diese Erklärung wird mit dem Begriff der Regel 118 gegeben. Zeichen erhalten Bedeutung nur aufgrund einer entsprechenden Regel, die ein Individuum allein nicht aufstellen kann. Was als Regel gilt, entscheidet die Sprechergemeinschaft. Die spezifische Bedeutung eines Ausdrucks im Rahmen eines Sprachspiels lässt sich deshalb als Anwendung intersubjektiv geteilter Regeln beschreiben. Dabei lässt sich die Anwendung einer Regel nicht anhand abstrakter Kriterien, sondern nur durch die Reaktion der TeilnehmerInnen des Sprachspiels feststellen 119 . Über den Gebrauch hinaus besitzen Regeln also keinerlei Existenz. Ob eine Regel richtig verstanden wurde, ist also nicht eine Frage der Interpretation der Regel, sondern besteht in der Fähigkeit, sie korrekt anzuwenden. Über die „Richtigkeit“ entscheidet nach Wittgenstein die Lebensform, die die Basis des in gemeinsamer Praxis implizit anerkannten Weltbildes darstellt, das sich in der Sprache ausdrückt und auf dem die Sprachspiele als Einheiten erst entstehen. Bedeutung entsteht so durch die je besondere Anwendung allgemeiner Regeln. Verstehen wird so zu einem entsprechenden Erfassen einer Äuße- 116 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen §§66-67. 117 Fischer-Lichte, Bedeutung, 60. 118 Der Regelbegriff Wittgensteins ist von dem in der Transformationsgrammatik verwendeten Regelbegriff zu unterscheiden. Anstelle dieses technizistischen Regelbegriffs hebt Wittgenstein hervor, dass das Befolgen von Regeln immer etwas zu tun hat mit der Übereinstimmung der Menschen in einer Handlungsweise. 119 Vgl. dazu Habermas, Theorie, Bd. II, 33: „Die Identität der Regel in der Mannigfaltigkeit ihrer Realisierungen beruht nicht auf beobachtbaren Invarianzen, sondern auf der Intersubjektivität ihrer Geltung“. <?page no="56"?> 44 rung als Realisierung einer Regel. Verstehen ist demnach kein seelischer Vorgang, 120 aber auch nicht im Sinne einer Interpretationsleistung zu verstehen, sondern beim Verstehen geht es um das Erkennen einer Regelanwendung: „Freilich, wenn die Bedeutung der Gebrauch ist, den wir vom Worte machen, dann hat es keinen Sinn, von so einem Passen [zum Sinn des Satzes; K.D.] zu reden. Nun verstehen wir aber die Bedeutung eines Wortes, wenn wir es hören oder aussprechen; wir erfassen sie mit einem Schlage“. 121 Das sich daraus ergebende Problem, dass man von einer Manifestation des Verstehens, nämlich einer richtigen Verhaltensweise, auf das Verstehen selber schließen muss, ist Wittgenstein zwar durchaus bewusst, er meint aber eine Lösung im Rekurs auf die „tägliche Praxis“ , 122 die Bestandteil der Lebensform ist, gefunden zu haben: Trotz Verwendungsabhängigkeit sprachlicher Bedeutung ist das Verstehen im Prinzip gewährleistet. Denn was die TeilnehmerInnen eines Sprachspiels beabsichtigen, ist durch die tägliche Praxis des Spielens vorgezeichnet. Allerdings berücksichtigt Wittgenstein nicht, dass die Regeln der Verwendung nicht nur im Hinblick auf wechselnde Kontexte hin offen sind, sondern auch im Hinblick auf interne Fortentwicklungen. So kritisiert Habermas: „Er [Wittgenstein; Anm. K.D.] sieht nur invariante Zusammenhänge von Symbolen und Tätigkeiten und verkennt, daß die Applikation der Regeln deren Fortbildung einschließt. Wittgenstein hat gewiß gegen das positivistische Vorurteil erst zu Bewußtsein gebracht, daß die Anwendung grammatischer Regeln nicht wiederum auf symbolischer Ebene nach allgemeinen Regeln definiert, sondern nur als ein Zusammenhang von Sprache und Praxis eingeübt und als Bestandteil einer Lebensform internalisiert werden kann. Er blieb aber positivistisch genug, um diesen Prozeß der Einübung als Reproduktion fester Muster zu denken: so als würden die sozialisierten Einzelnen dem Ganzen aus Sprache und Tätigkeiten subsumiert. [...] Die grammatischen Regeln implizieren mit ihrer möglichen Anwendung zugleich die Notwendigkeit einer Interpretation. Das hat Wittgenstein nicht gesehen“. 123 Das durch die Verknüpfung von Bedeutung und Gebrauch ins Blickfeld gerückte Interpretationsproblem ist in der Wittgensteinschen Version nicht zu einem befriedigenden Ergebnis geführt worden, sofern für die Bedeutungsbestimmung die Angewiesenheit der Zeichen auf Interpretation als konstitutiv anzusehen ist. Erst unter Einbeziehung der Kategorie der Interpretation kann deutlich gemacht werden, dass Regelfolgen nicht als „Konditionierungseffekt“, sondern als „temporaler Prozess“ aufzufassen sind, in die kulturelles Wissen einfließen und die 120 Vgl. dazu Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen §153. 121 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen §138. 122 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen §198. 123 Habermas, Logik, 278f. Zu dem Bedeutungsbegriff von Habermas vgl. Greve, Kommunikation und Bedeutung, 90ff. <?page no="57"?> 45 auf eine zukünftige Wahrheitsapproximation zustreben. Unbedacht bleibt bei Wittgenstein ebenso, dass „Regeln“ niemals „unschuldig“ sind. Insofern stellt die Bedeutungstheorie von Wittgenstein zwar die Dynamik der Bedeutung heraus, reflektiert aber nicht über die Konsequenzen dieses dynamischen Bedeutungsverständnisses. 3.2. Praktische Semantik In jüngerer Zeit spielen handlungstheoretische Bedeutungskonzepte eine große Rolle in der linguistischen Diskussion, die nicht nur auf die Wortbedeutung beschränkt sein müssen, sondern bis auf die Textebenen 124 ausgeweitet werden können. Diese handlungstheoretische Orientierung geht davon aus, dass Bedeutung nur in Handlungen entsteht und beobachtbar ist. Die meisten handlungstheoretischen Bedeutungskonzeptionen wissen sich Wittgensteins Ausführungen verpflichtet, der festhält: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“. 125 Sprache wird in den Zusammenhang sprachlichen Handelns gestellt. Deshalb sollen Wortbedeutungen als Handlungsvoraussetzungen beschrieben werden; denn Wörter haften nicht wie „Etiketten“ den Dingen an, sondern existieren nur in Abhängigkeit von Individuen und sozialen Gruppen, die sie verwenden und verstehen. Betont wird, dass es isoliert von sprachlicher Praxis keine Bedeutung gibt. Daraus resultiert, dass sich Bedeutungen aus den sozialen Voraussetzungen ergeben, respektive der Zugehörigkeit der SprachteilnehmerInnen zu einer Sprachgemeinschaft. Gegenüber den referenztheoretischen Bedeutungstheorien wird festgehalten, dass die Bedeutung der Ausdrücke in einer Gemeinschaft ohne Bezug auf die geistigen Zustände einzelner SprecherInnen durch implizit in der Gemeinschaft geltende Regeln der Verwendung sprachlicher Ausdrücke erklärt werden kann. Im Gegensatz zu den vorherigen Bedeutungstheorien geht diese Konzeption nicht davon aus, es gebe eine einheitliche Bedeutung eines Zeichens in einer 124 In der textlinguistischen Theoriebildung kristallisieren sich zwei Positionen heraus, die durch unterschiedliche Textauffassungen gekennzeichnet sind. Die sprachsystematisch ausgerichtete Textlinguistik sieht ihre Tradition in der strukturalistischen Linguistik sowie in der Generativen Transformationsgrammatik, die den Satz als die wichtigste linguistische Bezugseinheit betrachtet. SprachwissenschaftlerInnen dieser Richtung vertreten die Auffassung, dass nicht nur die Wort- und Satzbildung, sondern auch die Textbildung durch das Regelsystem der Sprache gelenkt wird und auf allgemeinen sprachsystematisch zu erklärenden Gesetzmäßigkeiten gründet. Die kommunikationsorientierte Richtung in der Textlinguistik fühlt sich der Pragmatik verbunden. Der Text wird in dieser Sichtweise immer als eine kommunikative Einheit betrachtet, die in eine ganz konkrete Kommunikationssituation eingebettet ist, die bestimmt ist durch Faktoren wie soziale und situative Voraussetzungen. Mit Blick auf eine bibelwissenschaftliche Konkretisierung darf Hardmeier, Textwelten, als Vertreter der zweiten Variante gelten. 125 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen §43. <?page no="58"?> 46 Sprache. Stattdessen wird festgehalten, dass die Bedeutungen auf expliziter und impliziter Regelkenntnis beruhen. Verständigungsprobleme - und zu solchen zählen auch alle Probleme, die bei Textinterpretationen entstehen - resultieren daraus, dass verschiedene Menschen in verschiedenen Situationen dieselben Wörter (im Sinne von phonetisch materialisierten Ausdrucksseiten sprachlicher Äußerungen) nach unterschiedlichen Regeln benutzen. Denn ein einzelnes Wort kann in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlichste Funktionen haben. Methodisches Postulat dieser Bedeutungskonzeptionen ist daher die Forderung, aus den Gebrauchsweisen die Regeln der Wortverwendung - und damit der Bedeutung - abzuleiten. „Bedeutungsfragen“ sind niemals nur eine Sache der (auf „das System“ reduzierten) Sprache, sondern Fragen der praktischen Zwecke und Handlungszusammenhänge, in denen eine kommunikative Handlung (eine Äußerung, ein Text) eingeordnet ist. Deutlich gemacht hat die praktische Semantik ebenso, dass gerade die Frage der Bedeutung abhängig ist von den jeweiligen Beschreibungszielen und Interessen. Über Bedeutung zu sprechen geschieht dementsprechend niemals in einem kontextlosen Raum. Darüber hinaus wurde von der praktischen Semantik die Einsicht vermittelt, dass sprachliche Zeichen niemals isoliert vorkommen, sondern immer eingebettet in Sätze bzw. Texte, so dass die Bedeutung von Wörtern als Teil eines übergreifenden sprachlichen und sozial-kulturellen Bezuges zu verstehen ist. Allerdings erweist sich die pragmatische Semantik als nicht ausreichend für die Analyse von Wortbedeutungen, da Wörter nur als „Material zu solchen sprachlichen Handlungen benutzt“ 126 werden. Der Wunsch, Wortbedeutungen nur mit handlungstheoretischen Begriffen beschreiben zu wollen, vernachlässigt besonders die syntagmatische Eingebundenheit von Wörtern in Texte. Außerdem verkennt die pragmatische Semantik im Zusammenhang mit den (Sprach-)Zeichen, dass ihr spezifischer Gehalt immer erst durch das Wissen und Verstehen geliefert wird, mit dem sich SprachteilnehmerInnen auf die intendierte Situation beziehen. Die Beziehung, die zwischen diesen verschiedenen Wissenszusammenhängen entsteht, wird nur ungenügend in ihrer Relevanz für die Generierung der Bedeutung berücksichtigt. Darum vermögen soziale Konstellationen und pragmatische Umstände einer Diskurssituation nicht aus sich heraus den in ihrem Kontext gebrauchten Zeichen Bedeutung zu verleihen. Situation, Gegenstände, Gebrauchskontext und Regelsystem sind nur insofern als bedeutungsstiftend anzusehen, als sie erkennbar und erkannt sind. D.h., dass Bedeutung immer einen aktiven Interpretationsprozess voraussetzt, der bei verschiedenen Subjekten - auch über identische Kontext- und Gebrauchsbedingungen hinweg - keineswegs gleich ausfallen muss. Die der pragmatischen Semantik zugrunde liegende Gebrauchshypothese macht deshalb nur Sinn, wenn sie sowohl 126 Busse, Textinterpretation, 59. <?page no="59"?> 47 die generierende Aktivität wie auch die kreative Instabilität des Interpretationsaktes mit einbezieht. Gerade dies lassen jedoch die Entwürfe zur praktischen Semantik vermissen. 3.3. Fazit Über den Begriff der Handlung bzw. des Gebrauchs wird in allen Ansätzen der pragmatischen Dimension versucht, die Bedeutung zu erfassen. Während durch den Rekurs auf sprachliche Handlungen zwar nun umfassend betont werden kann, dass Bedeutung mit generierender Aktivität zu tun hat, können diese Theorien die kreative Instabilität des jeweiligen aktiven Interpretationsaktes nicht erfassen. Diese Theorien können zwar durchaus die Pluralität von Bedeutungen konstatieren, aber sie nicht methodisch integrieren. Deutlich hervorgehoben haben alle pragmatischen Bedeutungskonzepte die Notwendigkeit, auch auf der Ebene der Texte die bedeutungskonstituierenden Faktoren eruieren zu können. Mit dieser Betonung des Textes für den Bedeutungsaufbau weisen diese Konzeptionen auf einen wichtigen Punkt für die Bedeutungsbestimmung im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Fundierung neutestamentlicher Wissenschaft hin: Wenn die materialen Aspekte einer Kultur Berücksichtigung finden sollen, zu denen besonders Texte zählen, dann müssen diese auch als Texte gewürdigt werden, die grundlegend für die Generierung von Bedeutung von Wichtigkeit sind. Allerdings zeigt sich hierin auch die Schwäche dieser pragmatischen Ansätze: Denn sie verdanken sich einem linguistischen Pragmatikbegriff, der dadurch akzentuiert ist, dass er auf die Rolle des situativen Kontextes bei der Sprachproduktion Bezug nimmt. Der Text interessiert hier nicht qua Text, sondern weil er in einen Kontext eingebunden ist, der für die Sprachproduktion von Relevanz ist. Dies bringt mit Blick auf neutestamentliche Texte einen wichtigen Aspekt zur Geltung, jedoch bleibt festzuhalten, dass die Situation der Sprachproduktion der biblischen Texte nur eine hypothetisch erschlossene sein kann. 4. Zusammenfassung Im vorliegenden Kapitel wurden überblicksartig und eklektisch Bedeutungstheorien des sprachwissenschaftlichen und philosophischen Bereiches vorgestellt. Es zeigte sich, dass sowohl im sprachwissenschaftlichen als auch im philosophischen Bereich keine lineare Weiterentwicklung einer Bedeutungstheorie vorliegt, sondern es grundsätzlich mehrere koexistierende und divergierende Forschungsrichtungen zur Bedeutungsfrage gibt. Entsprechend der in der Einleitung geleisteten Bestimmung der Bedeutung als semiotischer Terminus wurden die vorgestellten Bedeutungstheorien <?page no="60"?> 48 daraufhin untersucht, inwiefern die drei semiotischen Dimensionen bei den vorgestellten Theorien Berücksichtigung fanden. Grundsätzlich wurde bei allen vorgestellten Bedeutungstheorien deutlich, dass jede mindestens einen integrierenden Aspekt einer Bedeutungstheorie beinhaltete und immer ein Aspekt prominent im Mittelpunkt der jeweiligen Theorie stand. Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass keine der vorgestellten Bedeutungstheorien der im Eingangskapitel geforderten Dreidimensionalität der Bedeutung genügte, so dass die Bedeutungstheorien dieses Kapitels als überwiegend eindimensionale Bedeutungstheorien bezeichnet werden konnten. Die vorgelegten eindimensionalen Bedeutungsentwürfe lassen sich folgendermaßen näher erfassen. 127 Die Bedeutungstheorien der syntagmatischen Dimension lassen sich einem Differenzparadigma zuordnen. Diese Bedeutungsentwürfe lehnen es ab, über einen außersprachlichen Bezug zu ihrer Bedeutungsbestimmung zu kommen und bestimmen stattdessen die Bedeutung eines Zeichens über ähnliche oder gegensätzliche Differenzen zu anderen Zeichen, die über die bedeutungsgemäßen Werte eines Zeichens im Sprachsystem festgelegt sind. Historisch zurückgeführt wird das Differenzparadigma auf den de Saussureschen Vorschlag, Bedeutungen als Werte zu begreifen, die durch ihre Position relativ zu anderen Werten im Rahmen eines Syntagmas bestimmt sind. Die Bedeutungsentwürfe innerhalb der semantischen Dimension gehen alle davon aus, dass sich Bedeutung und Referenz nicht voneinander trennen lassen. Diese Bedeutungstheorien lassen sich einem Referenzparadigma zuordnen. Referenz wurde als eine Relation verstanden, die allerdings unterschiedlich bestimmt wurde: als Idee, als Vorstellung oder als Kognition. Innerhalb des referentiellen Paradigmas wurde besonders die Theorie, die Bedeutung als konzeptuelle Repräsentation und somit kognitionswissenschaftlich bestimmte, als eine Weiterführung des Referenzparadigmas gewürdigt, bei der herausgestellt wurde, dass spezielle Regularitäten den Aufbau konzeptueller Repräsentationen leiten - und zwar Regularitäten, die von der mentalen Eigenart dieser Repräsentation und der gegebenen sozio-kulturellen Situation geprägt sind. Die Bedeutungstheorien der pragmatischen Dimension lassen sich dem Gebrauchsparadigma zuordnen: Zeichen bedeuten etwas, wenn sie in einem Kommunikationsakt als Zeichen angesehen werden. Vorbereitet wird hier ein dynamischer Bedeutungsbegriff, denn die Bedeutung eines Zeichens kann sich demnach situationsspezifisch konstituieren und verändern. Da diese drei jeweils innerhalb der einzelnen Dimensionen der Bedeutungstheorie festgestellten Paradigmen zwar jeweils einen nicht zu ver- 127 Vgl. zu diesen drei Bestimmungen: Taylor, Bedeutungstheorien, 109ff., der allerdings die drei Aspekte nicht an eine semiotische Bestimmung der Explizierung der Bedeutung im Gefolge von Charles Morris und Charles Sanders Peirce koppelt. <?page no="61"?> 49 nachlässigenden Aspekt einer Bedeutungsbestimmung beinhalten, aber innerhalb der einzelnen vorgestellten Bedeutungstheorien selbst keine Vermittlung der drei Paradigmen unternommen wird, ist keine Theorie in der Lage, den Bedeutungsbegriff in seiner Dreidimensionalität zu erfassen. 128 128 Die Notwendigkeit der Einbeziehungen einer mehrdimensionalen Bedeutungstheorie wird auch von Dürr/ Lenk, Referenz, 191ff. gesehen. <?page no="62"?> 50 II. Der Begriff der Bedeutung in methodischen Zugängen zum Markusevangelium Im Bereich der neutestamentlichen Exegese wird die Frage nach der Bedeutung in methodischen Zugängen zum Markusevangelium virulent. Denn die Klärung der Frage, was die Bedeutung eines biblischen Textes ist, gehört zu der Voraussetzung jeder methodisch orientierten Arbeit mit biblischen Texten. In den vergangenen Jahren ist keine Schrift so eingehend untersucht worden wie das Markusevangelium, 129 was besonders mit einer methodischen Neuorientierung einherging. Dem Markusevangelium wurde erst größere Aufmerksamkeit mit dem Beginn der historisch-kritischen Erforschung des Neuen Testaments zuteil, wie sie sich im 19. Jahrhundert formierte. Der endgültige Durchbruch für die Markusexegese kam mit dem Aufkommen der redaktionsgeschichtlichen Forschung seit Willi Marxsens’ Buch „Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Markusevangeliums“ (1956). 130 Einher geht mit dem wachsenden Interesse am Markusevangelium die methodische Abkehr vom Paradigma „Geschichte“ hin zum Paradigma „Text“ . 131 Die redaktionsgeschichtliche Fragestellung erwies sich somit als Initialzündung für einen Zugriff auf das Markusevangelium mittels eines textorientierten Ansatzes. Allen neuen methodischen Ausrichtungen ist es gemein, dass sie auf die Größe Text fokussieren. Im Hintergrund dieser exegetischen Interessenverlagerung steht kein Methodenstreit, sondern vielmehr eine hermeneutische Verschiebung der bestimmenden Bedeutungsauffassung. 132 Dieser Paradigmenwechsel kann als ein gravierender Einschnitt in der Geschichte der neueren Exegese aufgefasst werden, der für die Bedeu- 129 Vgl. dazu Dormeyer, Markusevangelium, der eine Aufarbeitung der Linien der Forschung zum Markusevangelium bietet. 130 So lässt etwa Neirynck, Gospel of Mark, seine Bibliographie zum Evangelium mit dem Jahr 1950 beginnen, da mit dem Aufkommen der Redaktionsgeschichte das Interesse am Evangelium stetig zunahm, andererseits ab dato die exegetische Literatur im Allgemeinen zunahm. 131 Mit Dormeyer, Markusevangelium, liegt nun auch ein deutschsprachiger Forschungsüberblick zum Markusevangelium vor, der ein eigenes Kapitel zu neuen Methoden enthält. Vgl. ebenso Breytenbach, Nachfolge, 16-74; Pellegrini, Elija, 1-7. Für den englischsprachigen Raum sei auf Kealy, Mark`s Gospel, verwiesen. Kealy bringt in seinem Buch einen kurzen forschungsgeschichtlichen Überblick zum Markusevangelium von den ersten Jahrhunderten bis 1979. Instruktiv ist auch der Aufsatz von Anderson/ Moore, Lives of Mark, 1-22. 132 So auch Marguerat, lecteur, 240. Strecker, Turn, 28f., spricht von einem historischkritischen Forschungsparadigma versus einem literaturwissenschaftlichen Paradigma. <?page no="63"?> 51 tungsbestimmung Folgen hat. 133 Ausgehend von diesen zwei grundlegenden Paradigmen in den methodischen Ansätzen zum Markusevangelium scheint es sinnvoll, einerseits den Bedeutungsbegriff im Rahmen des Paradigmas „Geschichte“ zu untersuchen und daran anschließend den Bedeutungsbegriff, wie er sich in neueren exegetischen Methoden zeigt, die sich dem Paradigma „Text“ verpflichtet wissen. Für beide Paradigmen gilt das erklärte und vorrangige Ziel, die Bedeutungshaftigkeit des exegesierten Markusevangeliums aufzuweisen. Allerdings ist bei beiden Paradigmen ein vollkommen verschiedener Zugang zur Erfassung der Bedeutung vorausgesetzt. 1. Der Begriff der Bedeutung in einem geschichtsorientierten Paradigma 1.1. Bedeutung im Rahmen formgeschichtlicher Ansätze zum Markusevangelium Schmidt, Bultmann und Dibelius, die Begründer der klassischen Formgeschichte, 134 begriffen die Evangelien als Sammlungen von Traditionen, eingepasst in ein Rahmenwerk durch einen Sammler oder Tradenten, der das Schlussglied eines soziologischen Prozesses der Traditionsweitergabe bildete. Ihr Interesse galt den sog. kleinen Einheiten, aus denen der Text besteht. Am Anfang dieser Einheiten steht die ursprünglich mündliche Tradition, die zugleich für die Bestimmung der möglichst reinen Gattungsform benutzt wurde. Gerade das Versprechen der klassischen Formgeschichte, „den medialen Sprung von der sekundären, künstlichen Schriftlichkeit in die ursprüngliche, natürliche Mündlichkeit zu schaffen“, 135 machte die Anziehungskraft dieser Methode aus. Im Zusammenhang mit diesem medialen Sprung kommt auch eine bestimmte Bedeutungsauffassung zum Tragen, denn die ursprünglich mündliche Tradition ist für die Bestimmung der Bedeutung verantwortlich. 133 Leitend hierfür seien die Worte Pöttners, Literalsinn, 130, genannt: „Exegetische Methoden konstituieren jeweils den Sinn eines ausgelegten Textes insoweit, als sie Fragerichtungen entwerfen, die selektiv bestimmte Aspekte an vorgegebenen Texten hervorheben. Diesen Sachverhalt wird nur derjenige beklagen, der nicht mit der unauflöslichen Pluralität von Perspektiven und wissenschaftlichen Meinungen zu leben vermag.“ 134 Als Ziehvater dieser klassischen Formgeschichte ist Hermann Gunkel zu nennen, der die formgeschichtliche Methode im Rahmen einer israelitischen Literaturgeschichte maßgeblich entwickelt hat. Seine Fragestellungen haben die Formgeschichte des Neuen Testaments vielfältig befruchtet, auch wenn nicht vergessen werden darf, dass Gunkel von ‚Gattung’ spricht, während die neutestamentliche Formgeschichte von ‚Form’ spricht, wie Schmithals, Einleitung, 262, hervorhebt. 135 Alkier, Gedächtnis, 176. <?page no="64"?> 52 Im Rahmen der klassischen formgeschichtlichen Methode existiert eine bestimmte Auffassung von den VerfasserInnen der neutestamentlichen Schriften: Die „Verfasser sind nur zum geringsten Teil Schriftsteller, in der Hauptsache Sammler, Tradenten, Redaktoren. Im Überliefern, Gruppieren und Bearbeiten des ihnen zugekommenen Materials besteht ihre Tätigkeit vor allem“. 136 Die formgeschichtlichen Entwürfe betonen deshalb die Verhaftung des Markusevangeliums in einer anonymen Volksüberlieferung sowie die damit verbundene Klassifizierung der Evangelienschrift als „Kleinliteratur“. 137 Nach Bultmann sei die Geschichte der Jesusüberlieferung mit dem Markusevangelium zwar in eine neue Phase eingetreten, trotzdem interpretierte er das „Evangelium als literargeschichtliches Phänomen“ 138 wesentlich auf der Grundlage des bereits existierenden Kerygmas. Markus war somit „nur“ der Schöpfer der durch das Kerygma ins Leben gerufenen Gattung Evangelium. Mit der Konsequenz, dass Markus als Autor angesehen wird, der „noch nicht [...] Herr über den Stoff geworden ist, dass er eine Gliederung wagen könnte“. 139 Neutraler urteilt Dibelius über den Evangelisten, wenn ihm zugestanden wird, dass Mk drei Größen zusammengefügt hat: nämlich Paradigmen, Novellen und Sprüche Jesu. 140 Damit wird das Markusevangelium als Ergebnis eines Sammlungsprozesses gesehen, die Evangelien stellen somit das Ende der lebendigen Überlieferung dar. „So erstarrt der Fluss der Überlieferung immer mehr, und in das erste Stadium dieses Prozesses blicken wir hinein, wenn wir die Literalisierung der Worte Jesu betrachten“. 141 Die „ursprüngliche Bedeutung“ lässt sich somit nur ermitteln im Modus der primären Mündlichkeit. Schriftlichkeit ist in diesem Konzept immer etwas Sekundäres und kann nicht als Garant für die Bedeutung gelten. Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass die klassische Formgeschichte nicht der Faszination erlegen war, die in der Folgezeit zu der bestimmenden wurde: nämlich die Frage nach dem Autor. Für Bultmann ist der Autor jemand, der fest mit der Gemeindetradition verwurzelt ist und der nichts weiter macht, als „die ihm überkommene Tradition nach den Gesichtspunkten des Gemeindeglaubens“ 142 zu ordnen. Dibelius geht in seiner 136 Dibelius, Formgeschichte, 1f. 137 Vgl. Schmidt, Stellung, 76: „Das Evangelium ist von Haus aus nicht Hochliteratur, sondern Kleinliteratur, nicht individuelle Schriftstellerleistung, sondern Volksbuch, nicht Biographie, sondern Kultlegende ohne jegliche persönliche Färbung durch den Evangelisten.“ Ganz in diesem Sinne hält auch Dibelius, Formgeschichte, 2, fest: „Die Evangelien „gehören zweifellos zur Kleinliteratur; sie wollen und können sich nicht messen mit ‚literarischen’ Werken […].“ 138 Bultmann, Geschichte, 373. 139 Bultmann, Geschichte, 375. 140 Dibelius, Formgeschichte, 219. 141 Dibelius, Formgeschichte, 265. 142 Bultmann, Geschichte, 1. <?page no="65"?> 53 Aussage noch weiter, wenn er schreibt, dass „die persönliche Eigenart des Dichters oder Erzählers wenig“ 143 bedeutet, denn das Urchristentum ist für ihn ein Ort, wo viele Namenlose dazu drängen, das Überlieferte weiterzugeben. Die Marginalisierung des Autors - bei der klassischen Formgeschichte bestimmt durch die Suche nach dem ursprünglichen mündlichen „Text“ 144 - ist allerdings für das Verständnis der Bedeutung folgenreich: Denn jenes „Heer der Namenlosen“ ist die bedeutungsbestimmende Größe. Hier liegt eine referenztheoretische Auffassung von Bedeutung vor, die sich vor das grundlegende Problem gestellt sieht, dass das, was die Bedeutung verbürgt, nur als „Heer der Namenlosen“ postuliert werden kann. Deshalb fungiert der Begriff der Tradition bei den formgeschichtlichen Entwürfen als eine Metapher, die sich einerseits für die Außerkraftsetzung von Bedeutungstransformationen verantwortlich zeichnet und andererseits die Identitätskonkretheit der Bedeutung im Rahmen der formgeschichtlichen Methode sichert - bei gleichzeitiger Unkonkretheit der Traditionsübermittler. Die Gleichsetzung der Mündlichkeit mit den Gesetzen der Schriftlichkeit innerhalb der klassischen Formgeschichte radikalisiert die Frage nach der Konstituierung von Bedeutung um ein Weiteres. Erhardt Güttgemanns hat bereits 1970 in seinem Buch „Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums“ auf die grundsätzliche Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit hingewiesen. Güttgemanns zeigte die Schwierigkeiten des Versuchs, durch die Form- und Gattungsanalyse eines schriftlichen Evangelientextes zu einer ursprünglichen mündlichen Urgestalt zurückzugelangen, auf. Ohne die grundsätzliche Möglichkeit der Existenz einer mündlichen Traditionsstufe zu bestreiten, kritisiert er das formgeschichtliche Unterfangen, von schriftlichen Einzeltraditionen unmittelbar auf mündliche Vorstufen schließen zu können, da die Gesetze der Mündlichkeit gänzlich andere seien als die der Schriftlichkeit. 145 Mit dieser Auffassung von den neutestamentlichen Texten als Widerpart der der Entstehung des Textes vorausgehenden Gemeindetradition war es notwendig, nach Ansatzpunkten zu suchen, um diese Gemeindegeschichte aufdecken zu können. Aber Ansatzpunkte boten wiederum (nur) der Text. So wurde der Text als das Eingangstor für die von den Gemeindetraditionen verantwortete Bedeutung benutzt. Die dahinter stehende Bedeutungsauffassung besagt, dass die so versteckte ursprüngliche Bedeutung mittels der formgeschichtlichen Methodik nur herausgeschält werden müsse. Im Rahmen dieses Vorgehens wurde unberücksichtigt gelassen, dass das Postulat einer ursprünglichen Bedeutung als apriorische und 143 Dibelius, Formgeschichte, 1. 144 Vgl. Vorster, Markus, 22. 145 Vgl. Güttgemanns, Offene Fragen, 88f.136-140. Zur Problematik vgl. auch Kelber, Markus, 9-11; ders., Oral and Written Gospel, 90f.; Sellin, Gattung, 318. <?page no="66"?> 54 statische Größe eine geschichtstheoretische Fiktion bildet, für die das Medium Mündlichkeit und das der Schriftlichkeit mit ihren offenen Bedeutungspotentialen keinen Zugang bieten kann. Die Sichtweise der klassischen Formgeschichte wurde in der folgenden Zeit teils positiv in Arbeiten zum Markusevangelium aufgenommen, teils wurde Kritik an diesem Vorgehen laut. Zu den positien Aufnahmen der Ergebnisse der Formgeschichte zählt der groß angelegte Mk-Kommentar von Rudolf Pesch. Nach Peschs Auffassung ist Mk ein „konservativer Redaktor“, 146 dessen literarische Leistung in der redaktionsgeschichtlichen Forschung erheblich überschätzt worden sei. Mit seiner Meinung bestätigt er die Position der klassischen Formgeschichte, wenn er Mk als einen Evangelisten darstellt, dessen Eigenleistung sich auf die Zusammenstellung von Überlieferung beschränkt. Der markinische Text sei seiner Meinung nach nicht aus sich selbst heraus, sondern aus den zugrunde liegenden Traditionen zu erklären, die als bedeutungsbestimmend anzuerkennen seien. Diese Traditionen lassen sich literarkritisch aus dem Markusevangelium eruieren, wobei Mk die Traditionen sehr getreu wiedergibt. Auch Heikki Räisänen vertritt in neuerer Zeit die Meinung, dass Markus als Sammler und Tradent seiner Überlieferung zu begreifen sei. Markus setze zwar durchaus eigene Akzente, aber ein theologischer Gesamtentwurf lasse sich „ohne gewaltsame Kunstgriffe des Interpreten“ 147 nicht erkennen. Kuhn knüpft ebenfalls an die Fragestellung der klassischen Formgeschichte an, um die Vorgeschichte des Evangeliums zu erhellen. Seine Untersuchung zu den vormarkinischen Traditionen beschränkt sich auf vier Sammlungen: Mk 2,1-28; 4,1-34; 4,35-5,43; 6,32-52. Die Sammlungen können nach Kuhn nicht als Vorstufen des Evangeliums aufgefasst werden. Vielmehr müsse zum Verständnis des Markusevangeliums nicht von derartigen Sammlungen, sondern von denjenigen Hinweisen ausgegangen werden, die der Erzähler des Werkes selbst zur Strukturierung gebe. Hierzu zählt Kuhn zunächst die Summarien und die Leidensweissagungen, durch welche die genannten Sammlungen in einen Erzählzusammenhang integriert würden, dessen Betrachtung es erst ermöglicht, die theologische Eigenart dieses Werkes zu erfassen. 148 Gleichwohl sei für das Verständnis des Markusevangeliums von Bedeutung, das Verhältnis zwischen diesen Sammlungen, denen eigene Sitze im Leben zugrunde gelegt werden können, und der Art und Weise ihrer Aufnahme in die Gesamterzählung zu beachten. 149 Mit der Arbeit von Kuhn ist der Versuch, das Markusevangelium aus dem Text vorausliegenden bedeutungsbestimmenden Traditionskomplexen zu erklären, weitgehend an seine Grenzen gekommen. Dies 146 Pesch, Mk I, 2. 147 Räisänen, Messiasgeheimnis, 14f. 148 Kuhn, Sammlungen, 217-222. 149 Kuhn, Sammlungen, 222-234. <?page no="67"?> 55 zeigt die zu diesem Zeitpunkt stärker werdende Skepsis an der formgeschichtlichen Arbeitsweise. Diese Kritik an der formgeschichtlichen Arbeitsweise problematisiert zugleich auch die in der Formgeschichte zugrunde gelegte Konzeption von Bedeutung, die wie oben dargestellt, apriorisch und statisch auf eine nicht näher bestimmbare Tradition bezogen zu bezeichnen ist. Im Hintergrund steht eine referenztheoretische Auffassung der Kategorie der Bedeutung. Ein wenig überspitzt könnte man sagen, dass sich in den formgeschichtlichen Ansätzen eine Spielart einer im Gefolge Platons idealistischen Bedeutungstheorie verbirgt: Da Erkenntnis nur dort möglich ist, wo es keine Veränderung gibt, die Texte aber als intellegible Objekte der Veränderung unterworfen sind, muss auf den Urzustand rekurriert werden, wie ihn die Gemeindetradition darstellt. Der Text stellt somit das Abbild dieses Urzustandes in einer gebrochenen Weise dar. Um zu diesem Urzustand zu kommen, muss die bruchlose Kontinuität zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung postuliert werden. Der markinische Text ist gleichsam mit den ursprünglich mündlichen Traditionen infiziert, aber eben nur bruchstückhaft. Die in der Folgezeit aufkommenden redaktionsgeschichtlichen Entwürfe zum Markusevangelium führen kein methodisch neues Paradigma hinsichtlich der Bedeutungsbestimmung ein, aber versuchen durchaus eine Alternative zu dem soeben herausgearbeiteten „idealistischen“ Bedeutungskonzept zu schaffen, allerdings bei gleich bleibender Prämisse. 1.2. Bedeutung in redaktionsgeschichtlichen Ansätzen zum Markusevangelium Im Folgenden werden Ansätze vorgestellt, die sich der Redaktionsgeschichte verpflichtet wissen. Hiermit sind diejenigen Positionen gemeint, die das Markusevangelium aus seinen theologischen Motiven heraus erklären. Einigkeit besteht darin, dass der literarische Beitrag des Evangelisten nur erfasst werden kann, wenn nach seinen spezifischen theologischen Intentionen gefragt wird. 150 Allerdings klaffen die Urteile über den Anteil des Evangelisten stark auseinander. 151 150 So hebt beispielsweise Söding, Glaube, 59, in seinem forschungsgeschichtlichen Überblick zwei Fragen nach den theologischen Motiven im Markusevangelium im Rahmen der redaktionsgeschichtlichen Markus-Forschung als leitend hervor: Zum einen handele es sich s.E. nach um die Frage, „welche Grundlinien die markinische Theologie prägen“, zum anderen gehe es um die damit im Zusammenhang stehende Frage, „ob der Evangelist überhaupt ein profiliertes eigenes Konzept entwickelt hat“. 151 In der Forschung stehen sich drei Grundpositionen gegenüber. Während ein Teil der exegetischen Fachwelt annimmt, dass sich Mk von seinen Vorlagen leiten lässt, steht für einen anderen Teil der Evangelist gerade seiner Tradition kritisch gegenüber und ist bemüht, deren Aussagen zu korrigieren. Eine dritte Gruppe von Exegeten nimmt an, dass der Evangelist unterschiedliche Traditionen, denen er positiv gegenübersteht, in sein Evangelium mit aufnimmt und sie dabei teilweise umformt. <?page no="68"?> 56 Für die redaktionsgeschichtlichen Ansätze innerhalb des Paradigmas Geschichte ist darauf hinzuweisen, dass die Redaktionsgeschichte - vor ihrer eigentlichen Etablierung als Methode in der historisch-kritischen Exegese - wichtige Vorläufer hatte, zu denen Ferdinand C. Baur, Martin Kähler sowie William Wrede zu zählen sind. Baur 152 wies - entgegen dem Trend seiner Zeit - darauf hin, dass „unsere Evangelien als die Erzeugnisse mit Absicht und Reflexion schreibender Schriftsteller begriffen werden können“. 153 . Die Evangelisten besaßen - nach Baur - die Freiheit, in den überlieferten Bestand einschneidend einzugreifen, wenn die Tradition ihre Ziele behinderte. Deswegen sei die von Strauß angestrebte mythische Kritik zur Tendenzkritik fortzuschreiben, die danach fragt, „was ein Schriftsteller wollte und bezweckte, aus welchem Interesse seine geschichtliche Darstellung hervorgegangen, welche Tendenz er in ihr verfolgt“. 154 Baur gelingt es mittels der tendenzkritischen Fragestellung, die Negativität der Resultate von Strauß zu überwinden, in dem er nicht einfach bei der Unglaubwürdigkeit der Evangelien stehen bleibt, sondern sein Interesse darauf richtet, den positiven Ursprung der Evangelien aufzuzeigen. Freilich würdigt Baur in seinem Konzept der Tendenzkritik weniger die individuelle Schriftstellerleistung, sondern das Reagieren auf bestimmte theologische Anforderungen der Zeit und Situation des Autors. Auch Martin Kählers Interesse galt den Evangelientexten als Ganze. „Umgetrieben von dem theologischen Defizit der Leben-Jesu-Theologie“ 155 hält er 1892 auf der Wuppertaler Pastorenkonferenz einen Vortrag mit dem Titel „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus“. Für Kähler ist es nicht der historische Jesus hinter den biblischen Quellen, welcher der wirkliche Christus ist, sondern es ist „der Christus der apostolischen Predigt“. 156 Kählers These ist, dass die synoptische Tradition und insbesondere das Markusevangelium nicht die Lehre Jesu aufzeichnen, sondern Verkündigung von der Person Jesu sein wolle. Mit seinem berühmten Diktum bezeichnet er die Evangelien als „Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung“. 157 Kähler hebt dadurch den 152 In Auseinandersetzung mit dem Denken seiner Zeit, bemühte Baur sich, dass Urchristentum als Ganzes in seiner Genese historisch zu erfassen. Dafür bediente er sich idealistischer Deutungsmuster. Wie Hegel im Bereich der Profanhistorie ging Baur davon aus, dass sich geschichtliche Entwicklungen in dem Dreitakt von These - Antithese - Synthese realisieren. So kam Baur bei seiner Arbeit zur frühen Christentumsgeschichte zu dem Ergebnis, dass der Verlauf der Entwicklung vom petrinischenjudenchristlichen Christentum (These) über das paulinische-heidenchristliche (Antithese) zum frühkatholischen Christentum (Synthese) gegangen sei. Vgl. zum Gesamt der Baurschen Konzeption Alkier, Urchristentum, 200-254. 153 Baur, Evangelien, 67. 154 Baur, Evangelien, 73. 155 Schmithals, Einleitung, 240. 156 Kähler, Jesus, 41. 157 Kähler, Jesus, 60. <?page no="69"?> 57 grundsätzlich narrativen Charakter der Evangelien hervor und zeigt, dass die Evangelien-Erzählungen „das Resultat der dogmatischen Arbeit an der Ausgestaltung des Christusbildes“ 158 sind. Er hat mit seinen Ausführungen Momente aufgenommen, die erst mehrere Jahrzehnte später hinreichend aufgearbeitet wurden. In der neueren Markusforschung wird gegenwärtig von einem grundlegenden christologischen Interesse des Evangelisten gesprochen, 159 das narrativ ausgestaltet wird; auch sein wirkungsgeschichtlicher Ansatz findet erst gegenwärtig ausreichend Beachtung. Kähler hob bereits damals hervor, dass die Geschichtlichkeit Jesu in seiner Wirkungsgeschichte besteht. „Was aber ist die Wirkung, die durchschlagende, welche dieser Jesus hinterlassen hat? Laut Bibel und Kirche keine andere als der Glaube seiner Jünger“. 160 Nach Körtner habe Kähler in seinen Aussagen „ein rezeptionsästhetisches Modell von Christologie“ 161 zugrunde gelegt. Gerade die Hinwendung zur Rezeptionsästhetik mit der Betonung der Notwendigkeit des Rezeptionsbewusstseins der LeserInnen hat im Rahmen der neuesten Tendenzen innerhalb der Exegese der letzten 20 Jahre ihren Eingang in die neutestamentliche Wissenschaft gefunden, jedoch noch nicht in den eigentlichen redaktionsgeschichtlichen Ansätzen zum Markusevangelium. Anknüpfend an die Überlegungen Baurs und seiner Schüler erscheint 1901 das Buch „Das Messiasgeheimnis in den Evangelien“ von William Wrede. Ebenfalls in kritischer Haltung gegenüber der Leben-Jesu- Forschung 162 hält Wrede fest, dass der Versuch herauszufinden, was an den Evangelien historisch sei und was nicht, angesichts des „mangelhaften kritischen Verfahrens“ zum Scheitern verurteilt sei. „Man legt den Sinn so zurecht, dass er historisch brauchbar wird, d.h. man substituiert dem Berichte etwas, woran der Schriftsteller nicht gedacht hat und gibt dies für seinen geschichtlichen Inhalt aus. Die starke Unsicherheit, die diesem Verfahren gegeben ist, wird äusserst wenig empfunden, vor allem aber fragt man nicht danach, ob damit nicht das eigentümliche Leben des Berichtes selbst vernichtet wird“. 163 Mit diesem Votum grenzte sich Wrede dezidiert von den meisten seiner Vorgänger und Zeitgenossen ab, für die das Markusevangelium im Grossen und Ganzen die Wiedergabe des Lebens Jesu 158 Schmithals, Einleitung, 237. 159 Vgl. beispielsweise die Literaturangaben bei Scholtissek, Vollmacht, 9f. Scholtissek selber spricht beim Markusevangelium von einem „christologischen Schwerpunktinteresse“, wobei im Evangelium implizite, titulare und narrative Elemente zusammenwirken. 160 Kähler, Jesus, 38f. Kealy, Mark’s Gospel, 87, urteilt richtig über Kähler, wenn er schreibt, dass die Evangelien bei Kähler „exclusively religious documents of which every detail was preserved for the sake of its religious significance“ seien. 161 Körtner, Leser, 109. 162 Vgl. Strecker, Messiasgeheimnistheorie, 33. 163 Wrede, Messiasgeheimnis, 2 (im Text gesperrt). <?page no="70"?> 58 war. 164 Wrede verstand das Markusevangelium stattdessen als eine Erzählung von Jesus. 165 Erst, wenn das Markusevangelium als Geschichtserzählung wahrgenommen werde, „lassen wir den Bericht völlig, wie er ist, und haben in der supranaturalen Anschauung des Schriftstellers, die ja das geschichtlich Unmögliche ausmacht, unmittelbar das Verständnis für das Ganze“. 166 Allen drei Exegeten stimmen darin überein, dass ihre Aufmerksamkeit auf die Evangelien als Ganze gerichtet war. Mit dieser Wachsamkeit gegenüber dem vorliegenden Text waren sie ihrer Zeit voraus, denn die in der neutestamentlichen Wissenschaft eingeschlagene Marschrichtung lautete: ad fontes. Der Text als Ganzer betrachtet verschleiert die Quellen, die er benutzte. Wer zu den historischen Ursprüngen vordringen wollte, die die Bedeutung sicherten, musste sich den rekonstruierten, hinter dem Text liegenden Quellen zuwenden und nicht dem späteren Makrotext. Die Hinwendung, wenn auch mit unterschiedlichen Interessenschwerpunkten, geschah erst in der modernen Redaktionsgeschichte, die sich ab 1950 zu etablieren begann. Die Aufgabe der Redaktionsgeschichte bestand darin, „die Geschichte einer sprachlichen Einheit von ihrer ersten Verschriftung bis hin zu ihrer literarischen Endgestalt“ 167 nachzuzeichnen. Letztlich verließ diese Redaktionsgeschichte in ihrer Auffassung des Evangeliums nicht die formbzw. traditionsgeschichtliche Matrix, 168 was sich auch in der Bedeutungskonzeption widerspiegelt. Der Text spielt zwar als Makrotext eine Rolle, dient aber immer noch als die Folie, um zu dem Dahinterliegenden vorzustoßen. Programmatisch formuliert G. Bornkamm in seinem Aufsatz „Die Sturmstillung im Matthäusevangelium“ diesen Ansatz: „Daß die Evangelien als Kerygma verstanden und ausgelegt sein wollen und nicht als Biographie Jesu von Nazareth, daß sie sich literarisch in keine Gattung der antiken Literaturgeschichte einordnen lassen, sondern nach Inhalt und Form, im ganzen wie im einzelnen vom Glauben an Jesus Christus bestimmt und geprägt sind, ist zunehmend zum Allgemeingut neutestamentlicher Forschung und zum Grundsatz aller Synoptikerexegese geworden“. 169 Neu ist im Rahmen der Redaktionsgeschichte die Bewertung des Autors: „The consequence of recent developments … has been, then, the recognition that the evangelists are genuinly authors … they write for a definite purpose, they give their work a distinct and individual structure, 164 Vgl. Kümmel, Neue Testament, 186-191. Kümmel hält fest, dass nach der Etablierung der Zweiquellen-Hypothese das Markusevangelium durch Holtzmann als „Bericht“ des Lebens Jesu galt. 165 Vgl. Wrede, Messiasgeheimnis, 6. 166 Wrede, Messiasgeheimnis, 32. 167 Roloff, Neues Testament, 31. 168 Vgl. den engen Zusammenhang von Form- und Redaktionsgeschichte schon bei Marxsen, Evangelist, 11. Siehe außerdem Güttgemanns, Offene Fragen, 69-81. 169 Bornkamm, Sturmstillung, 112. <?page no="71"?> 59 they have thematic concerns which they pursue … If the evangelists are authors, they must be studied as authors and they must be studied as other authors are studied.” 170 Ziel der so verstandenen Redaktionsgeschichte ist die theologische Standortbestimmung des Verfassers des Markusevangeliums, die aus seiner Verarbeitung der Tradition erschlossen wurde. Der Redaktor wird entweder primär als ein individuell arbeitender Theologe verstanden oder als eine an der Verarbeitung überkommener Einzeltraditionen interessierte Persönlichkeit. Darüber hinaus lässt sich folgende weitere Ausdifferenzierung hinsichtlich der Traditionsverarbeitung durch den Redaktor beobachten: Entweder wird der Evangelist stärker in Differenz zu der von ihm verarbeiteten Tradition gesehen oder in Übereinstimmung. Schmithals 171 etwa erklärt in seinem Kommentar das Markusevangelium als kirchliche Redaktion einer durchlaufenden vormarkinischen Erzählung. 172 Seine Auslegung basiert auf der Annahme einer Grundschrift, 173 die dem jetzigen Markusevangelium als Vorlage gedient habe und durch den Evangelisten bearbeitet worden ist. Bei der Erzählüberlieferung des Markusevangeliums handele es sich um einen „ursprünglich und wesentlich literarischen Stoff“, 174 Erklärt wird das Markusevangelium unter Rückgriff auf ein theologisches Motiv, welches nicht aus dem Text selber gewonnen, sondern mit einer bestimmten Position innerhalb der frühchristlichen Theologiegeschichte verknüpft ist und die für den Verfasser des Evangeliums von Belang ist. Bei Schmithals ist dies in Bezug auf die Grundschrift das auf den Kreis der Jerusalemer Hellenisten und Paulus zurückgehende Glaubensbekenntnis. Für den Bearbeiter sei ein an der Zusammenführung unterschiedlicher frühchristlicher Gruppen interessiertes Integrationsanliegen grundlegend. 175 Ähnlich wie Schmithals versteht Rau das Markusevangelium als ein Missionshandbuch. Dieses „älteste Evangelium [ist] als die bewusste Darstellung des Anfangs der christlichen Mission zu verstehen“. 176 In diese Gruppe gehört außerdem Marxsens Position. Marxsen, der zu den Begründern der Redaktionsgeschichte zählt, 177 fasst das Verhältnis von Tradition 170 Perrin, Evangelist, 9f. 171 Die Ausführungen zu Schmithals sind besprochen bei Luz, Markusforschung, 652f. 172 Mit dieser Annahme eröffnet Schmithals die Diskussion um einen „Urmarkus“ wieder neu. Einen Überblick über diese Diskussion findet sich bei Pesch, Mk I, 29-31. 173 Der Verfasser dieser Grundschrift war nach Schmithals, Markus 1, 624, ein begnadeter Theologe, der kurz nach 70 n.Chr. seine Schrift als „Handbuch für die Mission vor allem unter den ‚Gottesfürchtigen’“ verfasst hat. 174 Schmithals, Einleitung, 311-315. Anders Schröter, Erinnerung, 26. 175 Schmithals, Mk I, 46. 176 Rau, Markus-Evangelium, 2033. 177 Vgl. Schmithals, Redaktionsgeschichte, 379ff. <?page no="72"?> 60 und Redaktion eher antithetisch 178 auf und stellt die Redaktion der Tradition entgegen. Die eigene Leistung des Mk sei nicht im Stoff zu greifen, sondern im Rahmen zu fassen. 179 Den Schlüssel zum Markusevangelium findet Marxsen in der Separierung der markinischen Bearbeitung der ihm vorausliegenden Tradition. Durch den Verfasser des Evangeliums sei ein individueller Zug in die anonyme Überlieferung gekommen. Zugleich bietet nach Marxsen das Markusevangelium „gleichsam einen Kommentar zum paulinischen Verständnis des Begriffs euvagge,lion “. 180 Ähnlich auch Gnilka, der festhält, dass der Evangelist nicht selektiert, sondern alles in den Rahmen seiner theologischen Geschichtsdarstellung entwirft, so dass Markus als ein „gemäßigter Redaktor“ 181 bezeichnet werden kann. Schließlich gehören auch diejenigen Vertreter dazu, die - mit unterschiedlichen Apostrophierungen - ein Konfliktmodell favorisieren. Der Evangelist wird in Differenz zu der von ihm verarbeiteten Tradition dargestellt. In diesem Modell greift Mk deshalb die ihm vorliegende Tradition in kritischer Weise auf, um auf diese Weise auf gegenwärtige Entwicklungen in seiner Gemeinde einzuwirken. So führt Theodore J. Weeden aus, 182 dass hinter dem negativen Jüngerbild im Markusevangelium einige sich auf die Jünger Jesu zurückführende Vertreter einer Christologie des göttlichen Menschen stehen. 183 Diese Gruppe existiert nach Weeden in der markinischen Gemeinde und ähnelt stark der Gruppe, mit der sich - nach Dieter Georgi - Paulus im 2Kor auseinander zu setzen hatte. 184 Gegen den von dieser Gruppe vertretenen Enthusiasmus habe der Evangelist seine Kreuzestheologie gesetzt, um der Gefahr vorzubeugen, dass durch das Ausbleiben der Parusie ein solcher Enthusiasmus zum Abfall von Jesus Christus führen könne. Im Gegensatz zu Kelber, 185 der meint, dass der Evangelist gegen eine falsche Eschatologie 178 Bei Marxsen ist die Entgegensetzung von Tradition und Redaktion deutlich hervorgetreten, wenn er danach fragt, „ob und wieweit eine möglicherweise planmäßige und von einer bestimmten Konzeption aus durchgeführte Redaktion die Tradition gestaltet oder gar umgestaltet hat“ (Marxsen, Evangelist, 10). 179 Marxsen, Evangelist, 12. Da für Marxsen der Anteil des Evangelien-Verfassers in erster Linie nicht im Stoff zu finden ist, sondern im Rahmen, hat das auch Folgen für die Gattungsbestimmung (vgl. Marxsen, Evangelist, 13.). 180 Marxsen, Evangelist, 98. In neuerer Zeit hat Schenk in einem Aufsatz die Abhängigkeit des Markusevangeliums von den Paulusbriefen vertreten. Auch er ist darum in die hier genannte Richtung einzuordnen. Vgl. Schenk, Sekundäre Jesuanisierungen. 181 Gnilka, Mk I, 24. 182 Das Modell von Weeden ist von Ralph P. Martin in seinem Buch „Mark, Evangelist and Theologian“ weiterentwickelt worden. 183 Stark beeinflusst von Weedens Modell ist Perrin, Christology. Vor Weeden hat bereits Trocmé, Formation, das Markusevangelium ähnlich gedeutet. 184 Vgl. Georgi, Gegner. 185 Vgl. Kelber, Kingdom. Kelber sieht in Mk 13 den Interpretationsschlüssel für das ganze Evangelium. Seiner Meinung nach habe der Evangelist als Sprecher galiläi- <?page no="73"?> 61 polemisiere, sieht Weeden den Evangelisten als Kämpfer gegen eine falsche Christologie (unter Berufung auf Mk 13,21f.). Während in Weedens Konzeption die Wunder Jesu negativ bewertet werden, hält Kelber demgegenüber fest, dass die Wunder positiv verstanden werden müssen: Als ein Weg, die Vollmacht Jesu und die Passion aneinander zu binden. Alle Versuche, das Markusevangelium aus seinen theologischen Motiven heraus zu verstehen, bemühen sich, den Evangeliumstext als einen Text in lebendiger Funktion zu erfassen. Dies hat Konsequenzen für das Verständnis von Bedeutung. Bedeutung eines Textes lässt sich nur bestimmen, indem auf Außertextliches referiert wird, so dass die Zuweisung einer Funktion der Ansatzpunkt für die Bedeutungbestimmung ist. Deshalb liegt auch hier ein referenztheoretischer Zugang zur Bedeutung vor, allerdings mit der Neuerung, dass der Text ein Vehikel der außertextlichen Referenz ist. Der Text ist nicht mehr Widerpart, sondern Anhaltspunkt für die hinter dem Text liegende bedeutungsbestimmende Größe. Im Text sind die Hinweise auf die außertextuellen, referenziellen Bezüge greifbar. Durch die Bestimmung der Funktion eines Textes wird im Zuge dessen die Autorintention deutlich, welche in allen redaktionsgeschichtlichen Untersuchungen zum Garanten der Bedeutung wird. Die Konzentration auf den Textproduzenten als Autorisierungsinstanz verbirgt die „richtige“ Bedeutung. Der Text als Ausdruck der Intention des Autors/ der Autorin bestimmt die Bedeutung eines Textes als die vom Autor/ von der Autorin intendierten Bedeutung. 186 „This intentional approach [...] may result in an ‚interested’ or biased interpretation, which ignores its own presuppositions and thus takes the path of circular argumentation“. 187 Daraus folgt, dass die Bedeutung eines Textes die vom Autor/ von der Autorin beigelegte Bedeutung ist. Somit ist das Verfahren in der Redaktionsgeschichte die Erklärung der Textbedeutung durch die Rekonstruktion der Intention des Autors/ der Autorin. 188 Der textuelle Charakter des Markusevangeliums wird als Vehischer Christen gegen die Jerusalemer Gemeinde gekämpft, die sich auf Verwandte Jesu und Petrus zurückführen lasse. Nach dem Fall Jerusalems habe diese Gruppe die Nachfolge des göttlichen Menschen Jesu antreten wollen, um enthusiastisch an der Parusie des Menschensohnes zu antizipieren. Nach Kelber sei das Markusevangelium deshalb als ein Versuch zu werten, nach dem Fall Jerusalems den von dort vertriebenen Christen den Grund der Katastrophe zu erklären. Zu diesem Zweck stellt der Evangelist den Jerusalemern Jesus als den leidenden Menschensohn vor Augen; vgl. auch Crossan, Mark, 244-266. 186 So auch noch in redaktionsgeschichtlichen Entwürfen, die durchaus auch mit einem Text und seinen LeserInnen rechnen. Exemplarisch sei hier Kampling, Israel, 6f.: „Autor, Text und Leser werden als in ein kommunikatives Geschehen eingebunden betrachtet. Der Text ist das Medium, durch das der Autor den Lesern seine Intention vermittelt und mit dem er auf deren Praxis einwirken will“. 187 Corrington, Redaction Criticism, 96. 188 Anderson/ Moore, Lives of Mark, 10, gehen in ihren Feststellungen sogar soweit zu sagen, dass im Rahmen der Redaktionsgeschichte die Evangelien als Allegorien ver- <?page no="74"?> 62 kel berücksichtigt, um zur Autorintention vorzudringen, gemäß dem Motto: „To see Mark's point of view, to see as he sees, we must look through his text“. 189 Im Vergleich mit den Vorläufern der modernen Redaktionsgeschichte kann von einer Verengung der Bedeutungsbestimmung gesprochen werden. Während bei Kähler durch seine rezeptionsästhetische Ausrichtung auch die pragmatische Dimension einbezogen worden ist, spielen LeserInnen bei der ab 1950 sich ausbreitenden redaktionsgeschichtlichen Methode keine Rolle. Rückblickend zum Begriff der Bedeutung im Rahmen der formgeschichtlichen und besonders der redaktionsgeschichtlichen Arbeiten zum Markusevangelium dürfte deutlich geworden sein, dass ein statischer Bedeutungsbegriff zugrunde gelegt wird, der Bedeutung als apriorisch gegeben voraussetzt. Sowohl die Formgeschichte als auch die Redaktionsgeschichte operieren mit einem statischen Bedeutungsbegriff, der zwar damit rechnet, dass ein Text in seiner Bedeutungszuweisung historischem Wandel unterworfen ist, aber nur im Akt seiner Vertextlichung, nicht als in die Methode integriert, die festhält, dass Bedeutung an sich konstant ist. Bedeutung ist eine in ihrem Inhalt konstante, die durch den Text hindurch rekonstruiert werden kann. Rekonstruiert werden kann die Bedeutung, weil sie konstant und durch ihre AutorInnen oder durch die Tradition „ursprünglich“ verantwortet wird. Diese Bedeutung kann sich dem gegenwärtigen Verstehen öffnen, da die Texte Kristallisationspunkte für den Einstieg in die Vergangenheit bieten. „Since human beings share a common world, the text can guide a reader to realities that transcend situations […] apart of the world of human experience. All of this is to suggest that the meaning of a text is actually its extra-textual reference”. 190 Auffällig ist für die am Paradigma „Geschichte“ orientierten Ansätze, dass zwar Bedeutung vorausgesetzt wird, aber dass eine explizite Reflexion über den Bedeutungsbegriff fehlt. Als bedeutungskonstitutiv wird im Rahmen dieses Paradigmas eine geschichtlich bestimmbare Größe anerkannt, die sich jenseits des Textes manifestiert. Deshalb erhält auch die Anwendung der historisch-kritischen Methoden eine dringliche Relevanz. Richtige Bedeutung setzt das Verstehen antiker Texte voraus. Verstehen antiker Texte ist möglich aufgrund der Rekonstruktion der von den Autoren/ Traditionen in sie hineingelegten Bedeutungen. 191 Die Bedeutung eines standen würden für die jeweilige Situation, deren Entstehung sie sich verdanken würden: „In retelling the story of Jesus, the evangelist had one foot in the past and the other one firmly in the present. Dimly mirrored in the details of each Gospel narrative, then, are circumstances contemporary with the evangelist that he means to address. The Gospel becomes an 'allegory' of the situation that occasioned it”. 189 Anderson/ Moore, Lives of Mark, 9. 190 Tate, Reading, 5. 191 Auf den Zusammenhang des Autors mit dem des „Kritikers“ in der Literaturkritik hat Barthes, Tod des Authors, 108f., hingewiesen: „Sobald der Text einen AUTOR <?page no="75"?> 63 Textes liegt somit immer genau an dem, was nicht zu haben ist: nämlich der Autormeinung bzw. der Gemeindetradition, die es mittels des historischen Methodenrepertoires zu rekonstruieren gilt. Diese Bedeutungsbestimmung ist nicht unwidersprochen geblieben: „Meaning is neither ‚in’ the text, implanted there by an author, nor is it ‚behind’ the text in an originating socio-cultural setting. The author and the socio-cultural settings are heuristic fictions created by the reader as hypotheses or further stories in order to account for the text’s existence and its meaning”. 192 Innerhalb des historischen Paradigmas wird demnach ein Denotatum im Sinne eines in der so genannten realen Welt existenten Objektes vorausgesetzt, auf welches sich zu beziehen ist, um die Bedeutung festzulegen. In Abwandlung eines Zitates von Strecker kann gesagt werden, dass in den Arbeiten im Rahmen historisch-kritischer Ansätze immer von einer in den Texten und ihrer Vorlagen präsenten historischen Bedeutung - die in der vorliegenden Arbeit als apriorisch und statisch bestimmt wurde - ausgegangen wird, die sodann in der wissenschaftlichen Textproduktion angemessen repräsentiert wird. 193 Damit ist der Lebensnerv der Bedeutungskonzeptionen in einem historischen Paradigma angesprochen: es ist die Idee der Repräsentation. Etwas, das unseren Sinnen zugänglich ist, wird interpretiert als raum-zeitliche Instantiierung von etwas, was nicht mehr unmittelbar gegeben ist, gleichwohl jedoch der singulären Erscheinung immer genealogisch vorausgeht. Das, was die Bedeutung ist, liegt hinter den wahrnehmbaren Phänomenen (in unserem Fall dem biblischen Text). Die Frage nach der Bedeutung ist in einem geschichtlichen Paradigma deshalb immer losgelöst von der textuellen Manifestation, da der Text als solcher nur den Zugang schafft zu der Geschichtlichkeit eines Textes, wobei die Suche nach der Originalität und Ursprünglichkeit das Ziel des Umgangs mit dem Text ist. Diese „Originalität“ und „Ursprünglichkeit“ ist die die Bedeutung sichernde Instanz bei der Festlegung eines Denotatums: „But can ‚originality’ itself settle the question of the historicity of these traditions? And what of the criteria used to decide primary and secondary zugewiesen bekommt, wird er eingedämmt, mit einer endgültigen Bedeutung versehen, wird die Schrift angehalten. Diese Auffassung kommt der Literaturkritik sehr entgegen, die es sich zur Aufgabe setzt, den AUTOR (oder seine Hypostasen: die Gesellschaft, die Geschichte, die Psyche, die Freiheit) hinter dem Werk zu entdecken. Ist erst der AUTOR gefunden, dann ist auch der Text ‚erklärt’, und der Kritiker hat gewonnen.“ 192 Aichele, Sign, 14. 193 Vgl. Strecker, Turn, 28: „Alles in allem geht die historisch-kritische Forschung solcherweise von einem in den Texten und ihren Vorlagen präsenten Sinn aus, den sie in der wissenschaftlichen Textproduktion angemessen zu re-präsentieren sucht“. Im Zitat wird allerdings der Begriff des Sinns verwendet, statt der der Bedeutung. Aber deutlich wird von Strecker, selbst ohne die von uns verwendete Terminologie, die statische Bedeutungskonzeption im Rahmen eines historisch-kritischen Ansatzes gesehen. <?page no="76"?> 64 elements of tradition? “ 194 So erwächst die Kritik an diesem Ansatz, speziell an der Redaktionsgeschichte, an dem vorausgesetzten referenziellen statischen Bedeutungsbegriff: „Mark’s gospel is not a replica of Mark’s community, it is a narrative about the life of Jesus within some or other historical setting. It is reality remade“. 195 Infolgedessen wurde das historische Verständnis des Markusevangeliums - sei es als Gemeindeprodukt im Rahmen der Formgeschichte oder als „forceful message to the community to which it was addressed“ 196 - zu Gunsten des Textes zurückgedrängt. Das Eigenleben des geschriebenen Evangeliums rückt nun in den Mittelpunkt. 2. Der Begriff der Bedeutung in einem textorientierten Paradigma Für die folgenden vorgestellten Ansätze, die auf die Größe Text von einem unterschiedlichen methodischen Blickwinkel aus rekurrieren, gilt die mittlerweile zum Allgemeingut und Konsens gewordene Einsicht: „Das Markusevangelium ist ein Erzähltext“ 197 ebenso wie die von Jean Zumstein gemachte Lektüreanweisung: „Ich lese den Text nicht als Dokument, das mir einen Zugang zu einer vergangenen Geschichte verschafft (der Text wird nicht als Quelle behandelt). Ich betrachte den Text auch nicht als Fundgrube, aus der ich verstreute Elemente herausgreife, um eine zusammenhängende Theologie zu rekonstruieren. Ich lese die Erzählung als Erzählung und setze mich der Welt des Textes aus“. 198 Die Suche nach der realen Welt hinter den Texten wird aufgegeben, um in den Texten die Erzählwelt zu entdecken. Damit vollzieht sich ein Wechsel in der Bedeutungsbestimmung: An die Stelle der referenziellen Konzeption der Bedeutung rückt eine auf den Text des Markusevangeliums fokussierende Bedeutungsbestimmung: „The author of the gospel has not simply collected traditions, organized them, made connections between them, and added summaries, but has also told a story ... . Thus, Mark’s narrative contains a closed and self-sufficient world with its integrity, its own imaginative past and future, its own set of values, and its own universe of meaning. When viewed as a literary achievement the statements in Mark’s narrative, rather than being a representation of historical events, refer to the people, places, and events in the story”. 199 Im Rahmen der postulierten Erzählwelt des Markusevangeliums wird die Bedeutungsbestimmung durch historische Rekonstruktion aufgegeben. Zwar referiere die 194 Di Vita, Tradition-Historical Criticism, 61. 195 Lategan/ Vorster, Text, 58. 196 Anderson/ Moore, Lives of Mark, 14. 197 Du Toit, Herr, 8. 198 Zumstein, Ostergeschichte, 11. 199 Rhoads/ Michie, Mark, 3f. <?page no="77"?> 65 Erzählung des Markusevangeliums auch auf „Ereignisse“, jedoch haben diese eine „referential function in a narrative […] to be located in the world created by the narrative, and the refential fallacy consists of thinking of this world as though it were a direct representation of the real world“. 200 Ein instruktives Beispiel für eine referential fallacy ist z.B. die sich im Markusevangelium an einigen Stellen findende negative Beschreibung der Schriftgelehrten (vgl. z.B. Mk 3,22; 12,38-40). Setzt man diese Beschreibung der Schriftgelehrten mit den historischen Schriftgelehrten in Palästina des 1. Jahrhunderts gleich, so erliege man eben einem solchen Trugschluss. Das Markusevangelium „as a narrative, […] is indifferent in its relationship to reality. It says precisely the same thing whether historically true or false”. 201 Das Lesen der Erzählung kann mit unterschiedlichen Modellen erfolgen. Für das Neue Testament sind hier neben dem Strukturalismus 202 der „Narrative Criticism“ 203 zu nennen. Hinsichtlich des strukturalistischen Modells wird die strukturale Semantik von Greimas aufgenommen, welche verstärkt in der Exegese rezipiert worden ist. Sowohl die strukturalistische als auch die narratologische Exegese sind in ihrer Vorgehensweise zwar unterschiedlich, aber fußen auf einem gemeinsamen Verständnis von Bedeutung, indem sie betonen, dass ein Text unabhängig von seinen historischen Gegebenheiten eine Bedeutung hat. Beiden Zugängen liegt die fundamentale Grundannahme voraus, dass über die Bedeutung nur im Kontext einer Theorie der Sprache bzw. des Textes gesprochen werden kann. 2.1. Bedeutung in der strukturalen Exegese Hinsichtlich der strukturalen Exegese ist das Bedeutungskonzept von Greimas grundlegend, 204 welches schon unter 1.1.3 dargelegt wurde. Die strukturale Exegese ist von einem zweifachen Interesse geleitet: „Interesse an den Evangelien und Interesse an der Art, wie die Texte Bedeutung hervorbringen“. 205 Die Frage nach der „Art”, wie Bedeutung entsteht, wird verstanden als Frage, wie diese (Text-)Zeichen zu einem lesbaren und bedeutungsvollen Diskurs organisiert sind. „Structural criticism (or exegesis) is self-consciously developed on the basis of semiotic theories - that is, the 200 Petersen, Literary Criticism, 40. 201 Davidsen, Narrative Jesus, 5. 202 Vgl. zum Strukturalismus grundlegend: Deleuze, Strukturalismus, 269ff. 203 Der Begriff „Narrative Criticism“ hat sich seit 1982 für eine erzählanalytische Auslegung neutestamentlicher Texte eingebürgert (vgl. dazu grundlegend Eisen, Poetik, 22ff.). 204 Egger, Methodenlehre, hat in seinem neutestamentlichen Methodenbuch diesen Ansatz aufgenommen. 205 Delorme, Zeichen, 13. <?page no="78"?> 66 theories that extend structural linguistic theories [...]. It is called ‚structural’ because, according to these theories, a text is meaningful for readers insofar as they recognize (1) different features in this text and (2) an interrelation - a structure - among these different features”. 206 Ein enger Kontakt zwischen Greimas und den (französischen) Exegeten 207 förderte die Rezeption strukturalistischer Lektüremodelle in der Exegese, die besonders in der Zeitschrift „Sémiotique et Bible“ ihren Niederschlag fand. Regelmäßige Treffen und Konstituierungen von Forschungszentren vertieften den Einfluss des Strukturalismus. 208 Auf deutscher Seite sind besonders die Arbeiten von Erhardt Güttgemanns 209 und die von ihm ab 1970 herausgegebene Zeitschrift „Linguistica Biblica“ zu nennen. Besonders während der 70iger florierten strukturalistische Lektüremodelle in der englischsprachigen Exegese, die in der damals gegründeten Zeitschrift „Semeia“ ihren Niederschlag fanden. 210 Im englischsprachigen Raum machte Daniel Patte die Greimassche Theorie in der Exegese bekannt; Elizabeth Struthers Malbon arbeitet mit einem an Claude Lévi-Strauss orientierten Modell, um die räumliche Struktur des Markusevangeliums zu erfassen. Sie untersucht die Gegensätze zwischen Jerusalem und Galiläa, wobei Jerusalem im Markusevangelium das reale und symbolische Zentrum „of traditional Judaism“ und Galiläa „the mediator between Jews and Gentiles“ 211 sei. Darüber hinaus hebt sie in ihrem topographischen Schema die zentrale Rolle des galiläischen Sees hervor, welcher neben der räumlichen auch als eine theologische Grenze zwischen „Jewish exclusiveness“ und „Gentile inclusiveness“ 212 fungiere. Zu nennen ist hier auch die Dissertation von Ole Davidsen, der davon ausgeht, dass Exegese sich immer aus deskriptiven und interpretativen Elementen zusammensetzt: „description refers to an exegesis based on a 206 Patte, Structural Criticism, 153. 207 Zu erwähnen ist vor allem J. Delorme und P. Geoltrain und L. Marin. 208 Vgl. Zumstein, Narrative Analyse, 18. Zumstein zählt folgende Forschungszentren auf: „In Paris ist das Seminar von Greimas an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales und dasjenige von Geoltrain an der Ecole Pratique des Hautes Etudes zu nennen. In Lyon wird unter der Ägide von Delorme das Centre pour l’analyse du discours religieux (CADIR) gegründet, das die Zeitschrift Sémiotique et Bible herausbringt. Während D. Patte, Professor an der Vanderbilt-Universität Nashville, die Greimassche Semiotik in den Vereinigten Staaten bekannt macht, wird in Kanada eine Forschungseinheit mit dem Namen Atelier de sémiotique du texte religieux (AS- TER) gegründet“. 209 Vor allem: Güttgemanns, studia linguistica neotestamentica. 210 Z.B. Heft 1, 2, 6, 18, 26 befassen sich explizit mit strukturalistischen Lektüremodellen in der Exegese. Besonders hervorzuheben ist hier das Heft Nummer 18, in dem der Versuch unternommen wird, einen einzigen Bibeltext - Gen 2-3 - mit differierenden strukturalistischen Modellen zu lesen. 211 Malbon, Narrative Space, 34.44. 212 Malbon, Narrative Space, 24.100. <?page no="79"?> 67 theory and method aimed at reading and identifying the primary, discursive phenomena that contribute to the formation of signification“, demgegenüber bezieht sich Interpretation „to an exegesis based on a theory and method directed towards explaining the discourse’s existence and characteristics as secondary phenomena”. 213 Als Methode zur Darstellung von Signifikationsprozessen wird die Güttgemannsche strukturale Erzähltheorie zugrunde gelegt, mittels dessen der „narrative Jesus“ als Wundertäter, als Verkündiger und als Retter erscheint. Ebenso in diese Gruppe gehört die Arbeit von Danove 214 zum Markusschluss, dem es darum geht, die textimmanente Kohärenz auf der Grundlage der tiefenstrukturalen Plot-Analyse von Todorov aufzuzeigen. Auch die textlinguistische Arbeit von Cook 215 ist der strukturalen Exegese zuzurechnen, der Erzählaufbau des Markusevangeliums wird anhand von „narrative marker“ und „frame“ in verschiedenen Stufen sich vollziehend nachgezeichnet. Palmer 216 bestimmt mittels eines strukturalistischen Lektüreverfahrens das Tage-Schema des Markusevangeliums, so dass die Zeit als der Hauptcode der Erzählung herausgestellt wird. Konstruiert werden vier Serien von sieben Tagen, die als bedeutungsgenerierend für die Erzählung angesehen werden (Mk 1,21-5,43; 6,1-8,26; 8,26-10,52; 11,1-16,8). Grundlegend für alle strukturalistischen Arbeiten ist das Verständnis von Sprache, wie es von de Saussure formuliert wurde. Da Literatur bzw. Texte Sprache sind, können die Strukturen und Elemente auch biblischer Texte analog zu denen der Sprache untersucht werden. Die Bedeutung eines biblischen Textes muss sich deshalb aus den bedeutungstragenden Strukturen und Elementen des Textes erheben lassen. Bedeutung ist niemals etwas Individuelles, wie dies besonders in den redaktionsgeschichtlichen Verfahren hervorgehoben wurde. Statt den Text als ein Ergebnis eines längeren geschichtlichen „Aggregations- und Transformationsprozesses“ 217 zu sehen, betont die strukturale Analyse, dass dem vorliegenden Text eine „Sinnwirkung“ innewohnt, „welche ganz unabhängig von der seiner Vorgeschichte analysiert werden kann“. 218 Dies bedeutet die Neutralisierung der permanenten Veränderbarkeit und Dynamik von Zeichenzusammenhängen. Die Leitfrage bei der strukturalen Interpretation heißt: „Auf welche Weise ergibt dieser Text Sinn? “ 219 Damit ist zweierlei postuliert: Einerseits wird die Frage nach dem 213 Davidsen, Narrative Jesus, 331. 214 Vgl. Danove, End. 215 Vgl. Cook, Structure. 216 Palmer, Matrix, 37.46. 217 Marguerat Textlektüren, 43. 218 Marguerat, Textlektüren, 43f. 219 Marguerat, Textlektüren, 46. Mit diesem Zitat steht Marguerat in Übereinstimmung mit der Konzeption Greimas, wie er sie in seinem Werk „Du sens“ entwickelt hat. Greimas nimmt als Fundierungskategorie für eine Kulturwissenschaft hier die Kate- <?page no="80"?> 68 Sinn auf das „Wie“ begrenzt, das „Warum“ spielt in dieser Konzeption keine Rolle. 220 Andererseits wird mit dieser textimmanent ansetzenden Bedeutungsbestimmung, welche außertextliche Faktoren der Bedeutungsbestimmung ausschließt, ein apriorischer und statischer Bedeutungsbegriff schon vorausgesetzt, der auf einer in Struktur und Zustandekommen schon vorausgesetzten Bedeutung beruht. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass auch die textorientierten Entwürfe - wie schon die methodischen Zugänge zum Markusevangelium innerhalb des Paradigmas Geschichte - auf der Idee der Repräsentation beruhen hinsichtlich der Bedeutungskonzeption. Die Interpretation der „Oberflächenstruktur“ des konkreten markinischen Textes hat die „Tiefenstruktur“, die die Bedeutung birgt, zutage zu fördern. 221 2.2. Bedeutung im „Narrative Criticism“ Der „Narrative Criticism“ 222 kann einerseits als Fortsetzung der strukturalen Exegese gesehen werden, andererseits auch im Kontrast zu jener stehend. Während sich die strukturale Analyse darum bemühte, das Narrative im Rahmen einer relationalen Theorie zu erfassen, bestimmte der „Narrative Criticism“ das Narrative als einen Organisationsmodus der Botschaft des Textes. Gegenüber der strukturalen Exegese, die auf der gorie des Sinnes, und nicht die der Bedeutung, an. Greimas geht dabei von der Annahme aus, dass Sinn jeglicher menschlichen Tätigkeit vorausliegt, und deshalb als anthropologische Grundkategorie begriffen und definiert werden muss. 220 Vgl. dazu z.B. das Zitat bei Delorme, Zeichen, 16: „Sie [=die Semiotik] erforscht das Wie des Sinns, nicht das Warum“. Vgl. Auch Pate, Structural Exegesis, 155: „Structural criticism, in agreement with other exegetical methods, takes as its starting point the general observation that biblical texts, like any text, were written in order to communicate something to a specific audience, and thus with the hope that they would make sense for that audience. They also make sense for readers in other times, including today, each time they are read.” Hier wird das „Wie” vorausgesetzt. 221 Vgl. Powell, Narrative Criticism, 13, der die Herausarbeitung der „deep structures“ als das Ziel der strukturalen Exegese versteht: „Thus, the meaning of a text is found within the deep structures of the text rather than in the intentions of the author or in the perceptions of the reader, who also may not fully understand the grammar of literature.” 222 Der Entstehungsort des „Narrative Criticism“ war das „Markan Seminar“ der Society of Biblical Literature in den 70er Jahren. Als Begründer dieses Verfahrens hinsichtlich neutestamentlicher Texte gelten David Rhoads und der Literaturwissenschaftler Donald Michie. Beide unternahmen das Experiment, das Markusevangelium wie eine short story zu lesen und zu interpretieren. Daraus entstand das Werk „Mark as Story: An Introduction to the Narrative of a Gospel“. Zu diesem Buch halten die Autoren fest: „The purpose of this book is to aid in recovering the experience of the Gospel of Mark as unified narrative, to better understand the story as a whole and to appreciate its impact. To do this we have drawn extensively on the work of contemporary literary criticism” (S. 2. vgl. auch S. 143, FN 2). Zur Methode allgemein: Powell, Literary Criticism. <?page no="81"?> 69 Grundlage von differenziellen Aspekten die Bedeutung eines Textes eruiert und nach den internen bedeutungstragenden Beziehungen fragt, bemüht sich der „Narrative Criticism“ stärker um eine ästhetische Bedeutungsbestimmung des Markusevangeliums. 223 Die Analyse zielt bei diesem Modell darauf, wie die Erzählung konstituiert ist und welche Strategie sie verfolgt. 224 Diese Methode arbeitet ebenfalls - wie strukturalistische Lektüremodelle - auf der Ebene der Texte und löst sich ebenso methodisch von der Aufgabe, die historische Referenz der Texte zu beurteilen. Im Gegensatz zu strukturalistischen Zugängen wird versucht, hochformalisierte Kunstsprachen zu vermeiden. Im Vordergrund steht die Entdeckung der Ästhetik der biblischen Texte. So gelingt es dem „Narrative Criticism“ unter Vermeidung einer komplexen Metasprache, sich mit einem Minimalvokabular über die neutestamentlichen Erzähltexte zu verständigen. Im Folgenden soll das methodische Handwerkszeug dieses Analyseverfahrens dargestellt werden. In methodischer Hinsicht wird in der Markusexegese 225 eklektisch verfahren, und es werden verschiedene Erzähltheoretiker herangezogen. 226 Die Grundannahme des „Narrative Criticism“ ist, dass sich jede Erzählung aus zwei Erzählebenen konstituiert, die beide von einander abhängig sind. Das leitende Interesse dieses Ansatzes ist deshalb einerseits die Frage nach der Art und Weise, wie die Erzählung vermittelt wird, andererseits nach dem ‚Was’ der Handlung. 227 Grundlegend ist deswegen die Unter- 223 Vgl. dazu Powell, Narrative Criticism, 14: „Narrative criticism is like structuralism in that it is also a textcentered […] approach to literature. The concepts employed, however, are somewhat different and the philosophical basis less intense. Narrative critics do not necessarily regard the laws of literature as following elaborate structural priciples. In general, they are more concerned with the linear progression of a narrative than with relationships that may be discerned on other levels.” 224 Vgl. dazu Vorster, Markus, 30, der auf die Verschiedenheiten der strukturalen Exegese und des „Narrative Criticism“ hinweist bei gleichzeitigen gemeinschaftlichen Prämissen. 225 Für eine Orientierung der bis zum Jahr 1991 erschienenen Arbeiten zum „Narrative Criticism“ vgl. Powell, Literary Criticism, 257-388. 226 Rekurriert wird häufig auf Seymour Chatman, Wayne Booth, Gérard Genette, Shlomith Rimmon-Kenan und Mieke Bal. Auch in der deutschsprachigen Exegese des „Narrative Criticism“ werden unterschiedlichste Erzähltheoretiker herangezogen. Als Beispiel sei auf Eisen, Markusevangelium, 135-153, verwiesen, die sich das narratologische Modell von Chatman zu eigen macht, und auf Klauck, Vorspiel, der sich den Erzähltheoretikern Génette und Rimmon-Kenan verpflichtet weiß. Für die Anwendung von Lotmans Raumsemantik im Rahmen der Apostelgeschichte sei auf Eisen, Poetik, verwiesen. 227 Wie Schunack, Interpretationsverfahren, 42, richtig festhält, ist grundlegend zu unterscheiden zwischen der erzählten Textwelt und den narrativen-rhetorischen Mitteln und Strategien, durch welche die Erzählung zu verstehen gegeben wird. <?page no="82"?> 70 scheidung von Story und Diskurs. 228 Dem Begriff Story korrespondiert die erzählte Textwelt, während dem Begriff Diskurs die rhetorischen und narrativen Strategien, durch welche die Erzählung dargestellt wird, korrespondieren. In den Bereich der Story gehören die Ereignisse und Charaktere, 229 von denen die Erzählung handelt, sowie das Setting. 230 Der Diskurs 228 Die Unterscheidung zwischen dem ‚Was’ und dem ‚Wie’ eines Erzähltextes wird häufig mit dem im Russischen Formalismus formulierten Gegensatz von fabula und sjuzet im Zusammenhang gebracht, die der Erzähltheoretiker Tzetan Todorov in Frankreich mit histoire und discours übersetzte. Anstelle der Opposition von fabula/ histoire vs. sjuzet/ discours hat der französische Erzähltheoretiker Gérard Genette eine Dreiteilung vorgeschlagen (vgl. hierzu Genette, Erzählung, 15ff.199ff.). Er hält an Todorovs Begriff der Geschichte (histoire) fest, die nach Genette für „das Signifikat oder den narrativen Inhalt“ (Genette, a.a.O., 16) steht. Jedoch wird der von ihm kritisierte dicours-Begriff durch die beiden Termini Erzählung (récit) und Narration (narration) ersetzt. Unter dem ersten Begriff versteht Genette „den Signifikanten, die Aussage [énoncé], den narrativen Text oder Diskurs“, während der Begriff der Narration dem „produzierenden narrativen Akt sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten sein soll, in der er erfolgt“ (Genette, Erzählung, 16). Das Modell von Genette wird zunehmend breiter rezipiert in der Exegese, weil es erlaubt, historische Rückfragen zu unternehmen, denn nach Genette setzt eine Erzählung immer die Existenz einer ihr vorausgehenden Geschichte voraus. „Deshalb eignet es sich besonders gut für Analysen ‚historischer Erzählungen’, das heißt für diejenigen Erzählungen, die an eine Geschichte erinnern, die sich ereignet hat.“ (Zumstein, Narrative Analysen, 14; vgl. auch Klauck, Vorspiel, 67; ausdrücklich in die Mk-Exegese aufgenommen wird Genette bei du Toit, Herr, 8ff.). 229 Hilfreich hat sich im Rahmen der Erzähltextanalyse die Unterscheidung von flat und round characters erwiesen. Unter round characters werden solche Charaktere subsumiert, die eine Entwicklungslinie durch das erzählte Evangelium hindurch erkennen lassen, hierzu zählen Jesus und auch seine Gegner. Die Pharisäer, Sadduzäer, Herodianer und Schriftgelehrten spielen im Verlauf der Erzählung eine wichtige Rolle. Flat characters werden demgegenüber solche in der Erzählung auftretenden Akteure genannt, die nicht eindeutig zuzuordnen sind bzw. die in ihrer Haltung Jesu gegenüber schwanken, wie z.B. die Jünger. Die Entwicklungslinie eines Charakters wird vom Erzähler offen gelegt durch „telling“ und „showing“. 230 Unter dem Setting versteht man die räumlichen Angaben einer Erzählung, die zur Gestaltung des Ablaufs der Erzählung beitragen (vgl. Rhoads/ Michie, Mark, 63-71). Diese räumlichen Angaben tragen wesentlich zur inneren Strukturierung des Aufbaus einer Erzählung bei. Sie sind also keineswegs entbehrliche Ausschmückung für den Leser oder bloßer Rahmen für die verarbeiteten Traditionsstücke. „If the setting in [...] stories were altered, the stories themselves would be changed significantly.“ (Rhoads/ Michie, Mark, 63). Neben dem räumlichen Schema ist auch das zeitliche wichtig. Die Ausgangsthese des „Narrative Criticism“ lautet: Zeit ist grundsätzlich perspektiviert durch die Konstruktionsarbeit des Erzählers. Besonders deutlich wird dies im Markusevangelium bei der Darstellung der Passion. Durch den Einsatz eines Stundenschemas, das im Kontrast zur zeitlichen Darstellung des übrigen Evangeliums steht, wird die Spannung gesteigert. <?page no="83"?> 71 der Erzählung widmet sich hingegen dem Erzählstil und der Erzählperspektive. 231 In den Bereich des Erzählmodus gehört auch der Begriff „Plot“. Der Plot einer Erzählung ist die Art und Weise, in welcher der Autor seine Ereignisse arrangiert. Der Begriff kennzeichnet in diesem Fall weniger die Erzählhandlung als vielmehr die bestimmenden Konstanten in der Erzählstruktur. Insofern kann man sagen, dass bei dieser Methode auch der Handlungsbegriff dem ‚Wie’ zugehörig ist: „plotting of this world is to be seen in the way its components have been selected and arranged in a sequence of narrated incidents“. 232 Der „Narrative Criticism“ fokussiert deshalb stärker auf den Modus der Darstellung und nicht so sehr auf den dargestellten Inhalt des Textes. „Bei einer literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweise wird die Tätigkeit des Autors durch die Textanalyse untersucht, indem gefragt wird, wie der Text gestaltet wurde, welchen Standpunkt (Point of View) der Autor einnimmt, wie er seine Figuren zur Übermittlung seiner Botschaft einsetzt u.s.w.“ 233 Die leitende Ausgangsfrage des Modells des „Narrative Criticism“ in der Evangelienexegese lautet: Wie wird das Geschehen dargestellt? Aus wessen Perspektive wird erzählt und beobachtet? Das üblicherweise vorausgesetzte Kommunikationsmodell (Sender - Botschaft - Empfänger bzw. Autor - Text - Leser) wird vom „Narrative Criticism“ als inadäquat angesehen und modifiziert: Das Interesse liegt nicht beim realen Autor/ bei der realen Autorin aus Fleisch und Blut, sondern bei der narrativen Instanz, dem Erzähler/ der Erzählerin. Durch sie/ ihn konstituiert sich die Erzählung als Erzählung. Das Grundprinzip der narratologischen Erzähltheorie, „das darin besteht, den Erzähltext vollständig aus sich selbst her- 231 Vom Point of View ausgehend, dem Erzählerstandort, ist alles, was in der Erzählung geschieht und vorkommt - wie etwa Ereignisse, Handlungen und Personen - bestimmt. Point of View wird verstanden als „eine rhetorische Aktivität des Autors, durch die er eine Position innerhalb eines sozial kommunizierten Systems von evaluativen Überzeugungen und Urteilen in die Welt der Geschichte einträgt“ (Schunack, Interpretationsverfahren, 43; vgl. dazu Moore, Literary Criticism, 181; Powell, Narrative Criticism, 24). Für die Christologie des Markusevangeliums hat besonders Kingsbury, Christology, 48, herausgearbeitet, dass der Erzähler des Markusevangeliums seinen „evaluative point of view“ mit dem von Jesus identifiziert und sich darüber hinaus auch in Übereinstimmung befindet „with the evaluative point of view of God“. Nach Kingsbury soll der Leser der markinischen Erzählung zum Bekenntnis des königlichen Sohnes Gottes geführt werden. Jesus von Nazareth als den Sohn Gottes wahrzunehmen, bedeutet, über Jesus zu „denken“, wie Gott über ihn denkt (vgl. Kingsbury, Christology, 174). Die Darstellung der Erzählperspektive ermöglicht es also dem Leser, sich mit bestimmten Charakteren innerhalb der Erzählung, deren Handlungen und Äußerungen zu identifizieren oder auch zu distanzieren (vgl. Rhoads/ Michie, Mark, 102). 232 Petersen, Literary Criticism, 37. 233 Vorster, Markus, 30. <?page no="84"?> 72 aus als autosemantische Größe zu verstehen“, 234 ist für den „Narrative Criticism“ leitend. Das Markusevangelium wird von einem allwissenden Erzähler erzählt, der in jeder Szene unsichtbar anwesend ist. Er kennt die Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen der Akteure und wendet sich indessen auch des Öfteren in kommentierenden Bemerkungen an die Leser, wodurch diese nicht zuletzt veranlasst werden, den Erzähler für kompetent und zuverlässig zu halten. 235 Um die Arbeit des Erzählers näher zu charakterisieren, arbeiten eine Reihe von TheoretikerInnen mit der narratologischen Instanz des impliziten Autors. 236 Unter implizitem Autor ist diejenige Instanz zu verstehen, wie sie sich im Text vorstellt und generiert. Er ist „the governing and organizing principle in, or implied by, the narrative text, the source of the judgments and values embodied in the text. It chooses what we read and how we read, and exerts power over our reading process. It is the implied author that chooses the detail and quality that is found in the work or implied by the work. Its function is to construct the implied reader how to read by the signs of its presence in the text”. 237 Nach Vorsters Beobachtungen ist der implizite Autor ein literarisches Konstrukt. 238 Seine Relevanz erhält der implizite Autor im Rahmen der narrativen Analyse, weil dieses Konstrukt es erlaubt, unter Absehung biographischer Informationen zum Autor des Textes Aussagen zu machen. Ebenso wie zwischen dem realen Autor und dem impliziten Autor unterschieden werden muss, ist auch methodisch zwischen einem ersten historischen Leser(kreis) und dem aus dem Text eruierbaren impliziten Leser(kreis) zu unterscheiden. Auch der reale Leser ist eine schwer fassbare Entität und mit den gleichen Problemen behaftet wie der reale Autor. Dem realen Leser gegenübergestellt findet sich der implizite Leser, 239 der auf der textuellen Ebene mit dem impliziten Autor korrespondiert: „The reader in the text is a literary construct, an image of a reader which is selected by the text. It is implied by the text by the way of linguistic, literary, cultural, and other codes. It is not identical to any flesh-and-blood reader. It is an image that is created by the author which has to be constructed by the real reader through the reading process in order to attribute meaning to the text, that is 234 Eisen, Markusevangelium, 138. 235 Vgl. Rhoads/ Michie, Mark, 36.39. 236 Das Konzept des impliziten Autors geht auf Wayne Booth zurück und wurde von vielen ErzähltheoretikerInnen aufgegriffen. 237 Vorster, Reader in the Text, 22f. 238 Im Anschluss an Culpepper, Anatomy, 7. Vgl. Malbon, Narrative Criticism, 27. 239 Das Konzept des impliziten Lesers geht ebenfalls auf Wayne Booth in seinem Buch „Rhetoric of Fiction“ zurück. Das Konzept des impliziten Lesers berührt nicht nur das Feld der Narratologie, sondern reicht bis in die Rezeptionsästhetik bzw. für die Exegese bis in den Bereich des „Reader-Response Criticism“ hinein. <?page no="85"?> 73 to actualise the text”. 240 Der implizite Leser ist ebenso wie der implizite Autor keine statistisch auswertbare oder empirisch analysierbare Person, wie sie in der soziologisch angelegten Rezeptionsforschung modelliert wird. Er ist als Empfänger vorgedacht und befindet sich am Schnittpunkt aller Textperspektiven. Das ‚Wie’ des Textes wird bei dieser Sichtweise zum bedeutungstragenden Element, unter Absehung sämtlicher außertextlichen Referenz und ebenso unter Absehung einer expliziten außertextuellen Leserperspektive bei diesem Modell. Getragen ist der „Narrative Criticism“ von der Überzeugung, dass die Evangelientexte autosemantische Einheiten sind, denen eine narrative Welt zugrunde liegt. Die narrative Welt des Markusevangeliums ist keine verschlossene Welt, sondern eine offene Welt: „[…] it is necessary to read his Gospel as narrative, not as a redaction. To read it as redaction is to focus on a redactor and his sources, and that has its critical place, but to do so is to block the possibility of entering into the narrative world to which the narrator invites our imaginative selfes”. 241 Die Betonung der Einheit des Markusevangeliums, die sich in seiner narrativen Welt zeigt, ist der Grund, um nach der Bedeutung zu fragen. Dabei wird die Einheit folgendermaßen bestimmt: „Narrative unity is not something that must be proved from an analysis of the material. Rather, it is something that can be assumed. It is the form of narrative itself that grants coherence to the material, not matter how disparate that material might be. […] The presence of inconsistencies in no way undermines the unity of a narrative but simply becomes one of the facets to be interpreted”. 242 Doch hier zeigt sich ein methodologisches Problem, denn die vorausgesetzte Einheit muss sich in der Analyse des Textmaterials zeigen, sprich: erst die Interpretation kann die Einheit zutage bringen, die aber gleichzeitig vorausgesetzt wird. 243 VertreterInnen, die den narrativen Charakter des Markusevangeliums hervorheben, 244 teilen somit die Auffassung, dass das Markusevangelium wesentlich mehr ist als ein Fenster in die Vergangenheit und mehr als eine Illustration eines wie auch immer beschaffenen theologischen Konstruktes. Die Fragen, die diese ExegetInnen an das Markusevangelium stellen, können ohne Bezug auf historische Daten und Ereignisse beantwortet werden, 240 Vorster, Reader in the Text, 27. 241 Petersen, Point of View, 118. 242 Powell, Narrative Criticism, 92. 243 Moore, Literary Criticism, 106, wendet deswegen zu Recht ein: „Hearing how the implied reader of the gospels forms expectations here only to revise them there ...., I am compelled to ask: Why do I experience none of these things when I read the text? ” 244 Vgl. z.B. Petersen, Literary Criticism; Kelber, Mark’s Story; Kermode, Genesis; Dewey, Markan Public Debate; Frye, Great Code; Best, Mark; Rhoads/ Michie, Mark; Magness, Sense and Absense; Malbon, Narrative Space; Kingsburry, Conflict; Moore, Literary Criticism; Powell, Narrative Criticism; Aichele, Jesus Framed; Smith, Lion. <?page no="86"?> 74 denn „the gospel [...] is a world in itself apart from the author and the original audience for whom the author wrote“. 245 Zusammenfassend kann für beide methodischen Zugänge zum Markusevangelium, der strukturalen Exegese sowie dem „Narrative Criticism“ festgehalten werden, dass bei beiden die Bedeutung nun nicht mehr in Korrespondenz zu externen Faktoren bestimmt wird, sondern sie ist „in der Kohärenz des Textes, in gewisser Weise in seiner Form oder Struktur zu finden, sofern jedes konstitutive Element seine Bedeutung aus seiner Stellung im ganzen erlangt“. 246 Unter Ausklammerung der historischen Referenz wird der Organisationsmodus der Botschaft des Textes in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Diesem Organisationsmodus liegt eine interne Kohärenz zugrunde, die keine Kopie einer physikalischen Realität ist. Diese interne Kohärenz des Markusevangeliums kann nur behauptet werden, sofern Bedeutung als eine statische und apriorische Größe bestimmt wird. Während in der strukturalen Exegese von der Existenz eines abstrakten Bedeutungskerns ausgegangen wird, der durch ein abstrakt formales Verfahren freigelegt wird, möchte der „Narrative Criticism“ die komplexe narrative Welt des Textes durch ein narratologisches Vokabular erfassen und die bedeutungskonstitutiven Elemente anhand des ‚Was’ und des ‚Wie’ einer Erzählung darstellbar machen. Dabei geht auch der Ansatz des „Narrative Criticism“ von der Vorgegebenheit der Bedeutung aus, die mittels der jeweiligen textzentrierten Methode zu explizieren sei. Unter der Annahme, dass ein Text eine Bedeutung hat, wird im Zusammenhang mit der Ausklammerung der Thematisierung der Prozesse der Rezeption, nicht die Generierung der bedeutungskonstitutiven Prozesse thematisiert, sondern die genuin gegebene ästhetische Bedeutungsqualität steht im Vordergrund. So wird zwar kühn mit der Theorie der Autorintention gebrochen und herausgearbeitet, dass Bedeutung „keine Sache irgendeines mutmaßlichen geisterhaften Impulses im Kopf eines längst verstorbenen Autors“ 247 war. Aber die Feststellung, dass das Werk bedeutet, was es bedeutet, ist nicht weiterführend. So wundert es denn auch nicht, wenn man die von den ExegetInnen herausgearbeiteten bedeutungstragenden Elemente der Erzählung des Markus näher betrachtet, dass die Antworten recht divergierend sind. Liegen sie - wie Klauck vermutet - im Prolog des Markusevangeliums oder in den Fragen „Wer ist dieser? “, die Müller im Duktus des Evangeliums untersucht, oder sind es die Jünger - wie Tannehill vermutet -, die die bedeutungstragenden Elemente der Erzählung seien? Gerade wenn Bedeutung eine Größe ist, die sich im literarischen Werk als Ganzem zeigen soll, wird die Frage nach den bedeutungskonstitutiven Elementen dieser genuin ästhetischen Bedeutungsqualität zu 245 Matera, What Are They Saying, 86. 246 Schunack, Interpretationsverfahren, 30. 247 Eagleton, Einführung, 61. <?page no="87"?> 75 einer dringlich zu klärenden. Dies unterbleibt aber aufgrund des vorausgesetzten Bedeutungsverständnisses, das einfach davon ausgeht, dass der Text eine Bedeutung hat. Zwar gehört es zu den Grundüberzeugungen dieses Ansatzes, dass die ursprünglichen LeserInnen des Markusevangeliums nicht in einer bevorzugten Position gegenüber den LeserInnen späterer Generationen sind, 248 aber diese Überzeugung ist eng verbunden mit einem statischen Bedeutungskonzept 249 und verdankt sich nicht einer reflektierten Beachtung der rezipierenden Instanz. Dennoch erweisen sich die Arbeiten des „Narrative Criticism“ als geeignet zur Anknüpfung für leserorientierte Ansätze. 250 Diese wird mit dem Aufkommen der rezeptionsästhetischen Forschung seit den 70er Jahren in Angriff genommen und erfährt erst gute Zeit später eine Berücksichtigung auch im Rahmen neutestamentlicher Exegese. So ist erst verstärkt seit den letzten zehn Jahren eine Hinwendung zu leserInnenorientierten Ansätzen in methodischen Zugängen zum Markusevangelium zu verzeichnen. Die grundlegende Frage lautet deswegen bei diesen leserInnenorientierten Ansätzen: Wie kommt es, dass ein Text überhaupt Bedeutung hat? Es geht im Wesentlichen um eine Bestimmung der Größe der LeserInnen im Zusammenhang mit der Größe Text, um diese Frage zu klären. Aus diesem Grund dürfen auch diese leserInnenorientierten Ansätze unter dem Paradigma „Text“ subsumiert werden. Allerdings mit der Neuerung, dass nun die Text-LeserInnenperspektive berücksichtigt wird. 3. Der Begriff der Bedeutung im textorientierten Paradigma unter Berücksichtigung der Leserperspektive In diesem Abschnitt sollen Ansätze vorgestellt werden, die die LeserInnenperspektive berücksichtigen, 251 freilich mit unterschiedlichen Schwer- 248 Vgl. Aichele, Postmodern Bible, 56. 249 Dies mag einer der Gründe sein, warum der „Narrative Criticism“ in den religiösen Kreisen besonders willkommen war. Gegen den historischen Skeptizismus des historisch-kritischen Ansatzes bot der „Narrative Criticism” eine willkommene Alternative: „by interpreting texts from point of view of their own implied readers, narrative criticism offers exegesis that is inevitably from a faith perspective“ (Powell, Narrative Criticism, 88f.). 250 Smith, Lion, 21, stellt in seinem „narrative critical approach” zum Markusevangelium heraus, dass es methodisch unnötig sei, zwischen „Narrative Criticism” und „Reader-Response Criticism” einen unversöhnlichen Gegensatz zu behaupten. 251 Einführend sei festgehalten, dass der Ansatz, die RezipientInnen in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses zu rücken, nicht neu ist, sondern sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt. So nennt beispielsweise Aristoteles (poet. 6, 1449 b 27) als Ziel der Tragödie die Reinigung von Affekten mittels „Furcht und Mitleid“. Vergrö- <?page no="88"?> 76 punkten. Während im „Reader-Response Criticism“ die LeserInnen, die den Evangelientext wahrnehmen, in den Mittelpunkt rücken „as a kind of mirror in which the reader sees himself reflected in the world of the story“, 252 postulieren dekonstruktivistische Ansätze eine Freiheit der LeserInnen dem Text gegenüber, indem die Rolle des Textes als autosemantische Einheit vor dem Hintergrund der aktiven Rolle der LeserInnen marginalisiert wird. 3.1. Bedeutung im „Reader-Response Criticism“ In der klassischen historisch-kritischen Exegese wurde die Existenz einer außertextuellen Rezeptionsgröße zwar vorausgesetzt, aber methodisch nicht berücksichtigt. Die Funktion der LeserInnen bestand einzig und allein darin, die Evangelien mit einer außertextlichen Bezugsgröße zu versehen, an die das Evangelium gerichtet war. Mit dem Aufkommen der Rezeptionsästhetik in der Exegese entwickelte sich dann mehr und mehr - fast ausschließlich im englischsprachigen Raum - ein methodenkritisches Bewusstsein für die LeserInnen. Die Perspektive des „Reader-Response Criticism“ erwuchs teilweise als Reaktion auf die Bedeutungstheorie des Strukturalismus und des „Narrative Criticism“. Kritisiert wurde die reine Textzentrierung unter Absehung auf jede Art von Kontext und Leserschaft. „Despite similarities, structuralism and narrative criticism differ from the reader-response approaches in that the former focus on ways in which the text determines the reader's response rather that on ways in which the reader determines meaning. They are therefore said to view the reader as being in the text, that is, encoded within it (structuralism) or presupposed by it (narrative criticism)”. 253 Das Hauptaugenmerk des „Reader-Response Criticism“ liegt auf der Fokussierung auf die lesende Instanz im Rahmen eines Textes, wobei das Verhältnis Text/ LeserIn völlig unterschiedlich bestimmt werden kann, je nach dem welche(r) Gewährsmann bzw. -frau für die theoretische Fundierung herbeizitiert wird. Der „Reader-Response Criticism“ ist deshalb als offene Methode zu verstehen, die sich durch eine bestimmte Perspektive auf den Text auszeichnet. Übereinstimmend wird festgehalten, dass Bedeutung als das Produkt der Interaktion zwischen Text und Leser/ in anzusehen ist, so dass es zu einer dynamischen Bedeutungskonzeption kommt: Wenn Bedeutung nicht mehr statisch konzipiert ist, wird die Frage nach dem angemessenen Spielraum von Bedeutungsaktualisierungen relevant. bernd kann gesagt werden, dass mit dem Aufkommen der Romantik, ihrem Geniekult und ihrer Betonung des Schöpferischen, die RezipientInnen gegenüber den ProduzentInnen bzw. AutorInnen in den Hintergrund gerieten. 252 Matera, What Are They Saying, 86. 253 Powell, Narrative Criticism, 18. <?page no="89"?> 77 Die Antwort des „Reader-Response Criticism“ lautet: Sowohl Text als auch LeserInnen generieren die Bedeutung in Interaktion: „The relationship of reader and text is dialectical, so meaning should not be viewed as something a reader creates out of a text but rather as the dynamic product of the reader’s interaction with the text.” 254 Ziel ist es deshalb, angemessen das Zusammenspiel zwischen Text und LeserInnen zu beschreiben. Anknüpfungspunkt aus dem „Narrative Criticism“ 255 bildet deshalb häufig das Konzept des impliziten Lesers. So konnte den LeserInnen ein Platz zugewiesen werden, von dem aus sie mit dem Text interagieren können. Und vor allem wurde über die Instanz des impliziten Lesers gesichert, dass nicht jede Zuschreibung von Bedeutung relevant ist, sondern nur diejenigen, die auf der Spur des impliziten Lesers geschehen. Wenn das Markusevangelium als ein narratives ästhetisches Kunstwerk verstanden wird, „shifts the center of [interpretive] authority from the text itself, where it resides in formalism, or the author, where it resides in traditional biographical and historical criticism, to the reader, not an historical first reader or any particular subsequent reader [...] but a contemporary reader“. 256 In dieser Aussage ist der implizite Vorwurf an methodische Zugänge im Paradigma Geschichte enthalten: Ihnen gelingt es nicht, den Graben zu schließen, der zwischen einem biblischen Text als Dokument und einem biblischen Text als Monument liegt. 257 Für die Markusexegese hat sich besonders Fowler mit der Berücksichtigung der LeserInnen beschäftigt: „In looking intentionally at the reader and the reading experience, I am trying to do consciously and carefully what critics of Mark’s Gospel have always done unknowingly and haphazardly“. 258 Zugleich wird der Akt des Lesens als ein Problem der Textverarbeitung erkannt. In seiner Dissertation mit dem Titel „Loaves and Fishes: The Function of the Feeding Stories in the Gospel of Mark“ legte Fowler die theoretische Grundlage seines Ansatzes fest, die in seinem Buch „Let the Reader Understand“ noch erweitert wurde. Der „Leser“ sei ohne Rückgriff auf eine historisch rekonstruierte Größe von ErstrezipientInnen zu erheben. „It is a most instructive and valuable exercise, as we shall see later, to attempt to read the gospel as one who knows nothing of Christian tradition and history would read it. In such a 254 Powell, Narrative Criticism, 17f. 255 Moore, Literary Criticism, 73, weist zu Recht auf die enge Verbindung des „Reader- Response Criticism” mit dem „Narrative Criticism” hin: „A preoccupation with the unfolding plot of a gospel marks a substantial overlap between reader-response and narrative criticism in the New Testament context. Narrative criticism frequently shades over into reader-response criticism. Indeed, reader-orientated gospel studies generally seem specialized extensions of narrative criticism”. 256 Porter, Reader-Response Criticism, 279. 257 Vgl. McKnight, Reader-Response Criticism, 205. 258 Fowler, Let the Reader, 15. <?page no="90"?> 78 reading one is utterly dependent upon the author to lead one every step of the way through the text”. 259 Der Text sei seiner Meinung nach als eine eigenständige und kohärente Größe zu betrachten. In seinem theoretischen Modell 260 weiß sich Fowler vor allem Booth und Fish verpflichtet und postuliert einen impliziten Leser, dem konsequent vom impliziten Autor eine Rolle zugewiesen wird, die die empirischen LeserInnen einnehmen müssen, um am Text und seinen Bedeutungselementen teilnehmen zu können. 261 Nicht die empirischen LeserInnen sind die bei der Interpretation des Textes bedeutungskonstitutive Größe, sondern sie müssen sich vom Text lenken lassen und den vom Text vorausgesetzten LeserInnen folgen. Die Einbeziehung der Instanz des impliziten Lesers als die für die angemessene Bedeutungsinterpretation verbürgende Instanz übernimmt eine normative Funktion für die Bedeutungszuschreibung: Bedeutung wird zwar zu einem dynamischen Ereignis, an dem die LeserInnen durch den Akt des Lesens teilhaben können, 262 aber nicht jede Zuschreibung von Bedeutung ist relevant, sondern nur diejenige, die „kompetente“, auf der Spur des impliziten Lesers folgende LeserInnen vornehmen. Auch John P. Heil und Bas van Iersel stellen in ihren Kommentaren zu Markus die LeserInnen in den Mittelpunkt ihres Interesses, 263 wobei Iersels Kommentar sich einer strukturalistischen Tradition verpflichtet weiß. Lesen wird auch bei diesen Werken zu einem aktiven Unterfangen, bei dem es um die Interaktion von Text und LeserIn geht, geleitet von dem Grundsatz: „apart from a reader and a reading, a text is simply ink on paper“. 264 Tate versucht mit den leserorientierten Ansätzen von Umberto Eco und Wolfgang Iser 265 zu zeigen, dass auch mittels verschiedener Theoriemodelle das Anliegen des „Reader-Response Criticism“ eingelöst werden kann. Auch hier wird die Bedeutung des Markusevangeliums zu einem Experiment der LeserInnen, die dieses Evangelium lesen. Tolbert versucht in ihrem Buch „Sowing the Gospel: Mark’s World in Literary-Historical Perspective“ das Markusevangelium anhand der „literary conventions of its own“ so auszulegen „as its author hoped the original audience would be able to do“. 266 Ihr Ziel ist es aufzuzeigen, dass sich Bedeutung in der Auseinandersetzung und Interaktion zwischen Text und 259 Fowler, Let the Reader, 42. 260 Fowler, Let the Reader, 149-179. 261 Fowler, Let the Reader, 152. 262 Fowler, Let the Reader, 3. Die Verschiebung „from meaning as content to meaning as event” führt dazu, dass die Sprache des Evangeliums nicht länger als primär referentiell oder informativ betrachtet werden kann: „it has become rhetorical, affective, and powerful” (Fowler, Let the Reader, 3). 263 Heil, Gospel; Iersel, Reading Mark; ders., Mark. 264 Brown, Reader Response, 232. 265 Tate, Reading, 31ff. 266 Tolbert, Sowing the Gospel, XII <?page no="91"?> 79 LeserIn einstelle. 267 Der Text des Evangeliums erscheint als das Ergebnis „of literary imagination, not of photographic recall“. 268 Dies gilt auch im Blick auf seine vermutete bzw. ideale Leserschaft. „Authorial audience“ oder „authorial reader“ ist, wie der Begriff „Autor“, eine literarische Konstruktion von heuristischem Wert. Denn die LeserInnen können nur die Rollen erfüllen, die der Text für sie bereithält. 269 Der „Reader-Response Criticism“ stellt somit eine Methode dar, die auf die Größe der RezipientInnen rekurriert. Mit dieser Herangehensweise gelingt es dem „Reader-Response Criticism“, ein wichtiges Element einer Bedeutungstheorie herauszuarbeiten: „text does not come to us wearing its meaning, like a campaign buttom, on its label. The reader-response critic argues that whatever meaning is and wherever it is found the reader is ultimately responsible for determining meaning.” 270 Bedeutung ist keineswegs etwas (Vor-)Gegebenes. Bedeutung ist nicht etwas schon Fertiges, das der Text transportiert, darauf wartend, dass die Bedeutung jeden Moment aufgedeckt werden müsste. „Rather it is something produced in the act of reading through the unique interaction of the text and the particular reader doing the reading at a particular moment from a particular slant”. 271 Folglich aktualisieren die LeserInnen einen Text durch ihre Lektüre, indem sie ihn aus ihrer eigenen Rezeptionssituation heraus mit Bedeutung versehen, so dass „response” beim „Reader-Response Criticism“ „always fluid, shifting“ 272 ist. Allerdings liegt diesem dynamischen Bedeutungsverständnis kein hermeneutisch auswertbares methodologisches Instrumentarium zugrunde, um den Akt des Lesens epistemologisch nachvollziehbar zu gestalten. 273 Das Bemühen, „objektiv“ das Zusammenspiel zwischen Text und LeserInnen beschreiben zu wollen, gelingt nicht, denn im Rahmen des „Reader-Response Criticism“ ist es nicht möglich, „the meaning on the basis of secure foundation“ 274 darzulegen. Aus diesem oben genannten Dilemma möchten methodische Entwürfe, die die historische Hörerschaft im Zusammenhang mit der Text-LeserIn- 267 Vgl. Tolbert, Sowing the Gospel, 52.55. Hierin zeigt sich ihre Nähe zu Fowler, Let the Reader, 3. 268 Tolbert, Sowing the Gospel, 25. 269 Vgl. Tolbert, Sowing the Gospel, 53. 270 Fowler, Reader-Response Criticism, 51. 271 Fowler, Reader-Response Criticism, 51f. 272 Fowler, Reader-Response Criticism, 56. 273 Vgl. zur Kritik an dieser Methode: Pellegrini, Elija, die ebenso wie in der vorliegenden Arbeit mit einem semiotisch orientierten Lesemodell arbeitet, das sie als eine dezidierte Alternative zum (theorielosen Konzept des) „Reader-Response Criticism“ versteht. Auch sie legt ein Zeichenmodell zugrunde, da es diesem gelingt, den „Textsinn als intentionale Signifikation“ (Pellegrini, Elija, 12) aufzufassen. Der rote Faden dieser semiotischen Leserkonstruktion ist der von Eco entwickelte Begriff des Modell-Lesers. 274 McKnight, Reader-Response Criticism, 214. <?page no="92"?> 80 Relation berücksichtigen, herausführen. Entdeckt wird unter Berücksichtigung der LeserInnen die temporale Dimension der Lesepraxis, die die Dynamik der bedeutungsgenerierenden Prozesse verbürgt. Deshalb wird einerseits auf eine letztgültige Bedeutung verzichtet, aber zugleich festgehalten, dass es durch Rekurs auf die Erstleserschaft möglich ist, die „ursprüngliche Bedeutung“ zu generieren, die für den heutigen Leser zugänglich ist: „Der heutige Leser kann einmal die Position des impliziten Lesers einnehmen und das entsprechende Rollenangebot für sich realisieren, so dass sich ihm das Wirkungspotential des Textes im Lesevorgang erschließt. Der heutige Leser kann aber auch die ursprüngliche kommunikative Situation erarbeiten und nun seinerseits mit dieser kommunikativen Situation die Kommunikation aufnehmen“. 275 Die Bedeutung eines Textes liegt also nicht nur in den immanenten Strukturen des Textes, sondern die Bedeutung eines Textes verdankt sich der sozialen (antiken) Rezeptionssituation. Die Grundthese, die diese methodischen Zugänge hinsichtlich der Größe der Bedeutung vertreten, ist folgende: Texte haben Bedeutung für die RezipientInnen in einer bestimmten Kommunikationssituation. Beavis möchte das Markusevangelium in ihrem Buch “Mark’s Audience: The Literary and Social Setting of Mark 4.11-12” auf dem Hintergrund der hellenistischen Literatur verstanden wissen und möchte zu den intendierten Lesern und Leserinnen vorstoßen, indem sie die griechischrömische Lesepraxis analysiert. Nach Robbins sollen die neutestamentlichen Schriften - respektive das Markusevangelium - stärker vor dem Hintergrund der jüdischen wie griechisch-römischen sozialen, religiösen oder literarischen Traditionen gelesen werden, 276 diese gäben Aufschluss über die vorausgesetzte Erstleserschaft. Im Vergleich mit anderer Literatur untersucht die „socio-rhetorical analysis“ die Techniken und Strategien der Überzeugung, mittels derer Kommunikation begründet wird. 277 Mit der Einbeziehung der antiken Leserschaft soll der fehlenden Explizitheit der dynamischen Lektüreprozesse beim „Reader-Response Criticism“ Einhalt geboten werden. Anstatt wie beim „Narrative Criticism“ sich auf die Suche zu machen, was der Text meint, oder sich auf die Suche zu begeben, wie Text und LeserInnen interagieren, wird hier der Weg eingeschlagen, wie eine antike Leserschaft diesen Text versteht. Damit fällt dieser Ansatz zurück in die Aporien der Konstitution der Bedeutung innerhalb des Paradigmas Geschichte. Zu Recht hebt Fowler deshalb die Schwierigkeiten dieses Ansatzes hervor: „In this direction lie all the usual pitfalls of historical research, chief among the temptation to assume that 275 Dillmann/ Grilli/ Mora-Paz, Leser, 71, die auf der Basis einer handlungsorientierten Bibelauslegung die ursprüngliche kommunikative Situation erarbeiten wollen. 276 Robbins, Teacher, XXIV. 277 Robbins, Teacher, 6. <?page no="93"?> 81 the ancients were just like us. [...] Therefore, we should be cautious in making claims about how first century readers read Mark’s Gospel. Admitting that ultimately the reader whose reading experience one is talking about is really one’s own self is probably wiser”. 278 Mit der Konzentration auf die antike Leserschaft ist dieser Ansatz mit den gleichen Problemen bei der Generierung der Bedeutung behaftet wie die anderen referenztheoretischen Zugänge: Die empirische Leserschaft generiert die Bedeutung des Textes, doch diese Leserschaft bleibt notwendig immer ein Postulat. Inwiefern mit einer homogenen Erstleserschaft zu rechnen ist, die den Text alle mit derselben Bedeutung versehen, scheint angesichts der aktiven Rolle der LeserInnen bei der Produktion der Textbedeutung äußerst fragwürdig. Zwar wird deutlich gesehen, dass sowohl LeserInnen und Text nur interagieren können, sofern Konventionen, Konzepte und kulturelle Situationen von beiden Instanzen geteilt werden. Aber der Weg über das Postulat einer historischen Erst-Hörerschaft als Ausgangspunkt ist aus den oben genannten Gründen im Zusammenhang mit einem statischen Bedeutungskonzept zurückzuweisen. 3.2. Bedeutung in einer dekonstruktivistischen Theorie Der Begriff und die Methode der Dekonstruktion spielen in der nordamerikanischen Exegese im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum eine erhebliche Rolle. Im Folgenden wird dieser Ansatz vorgestellt im Zusammenhang der Entwürfe, die am Paradigma „Text“ in der Interaktion von Text-LeserInnen orientiert sind, denn die dekonstruktivistischen Ansätze richten ihr Augenmerk auf die Lektüreprozesse. Im Vorwort des Buches „Dekonstruktion“ stellt Phil Dahlerup fest: „‚Dekonstruktion’ bezeichnet viele Dinge. Sie bedeutet ‚Niederreißen’, ‚Auflösung’ und ‚Ent-Strukturierung’. Im engeren Sinne verweist sie auf eine philosophische Richtung, die von dem französischen Philosophen Jacques Derrida inspiriert ist. Im weiteren Sinne umfaßt sie ganz unterschiedliche Denkweisen, die gemeinsam allein das Ziel haben, eine Reihe traditioneller Konzepte - etwa eines Textes, der Identität, der Wissenschaft - aufzulösen. In der engeren Bedeutung ist die literarische Dekonstruktion eine von der Derridaschen Philosophie beeinflußte Textlektüre. Im weiteren Sinne repräsentiert sie die Gesamtheit der Auflösungserscheinungen des herkömmlichen Literaturbegriffs. Ihre Verbindung zu Jacques Derrida ist nicht zwingend, selbst wenn ihre Ergebnisse dies mitunter nahe legen“. 279 Im Rahmen der Dekonstruktion erscheint der Text des Markusevangeliums als ein Text mit fließenden Grenzen. Aufgegeben wird beim De- 278 Fowler, Reader-Response Criticism, 55. 279 Dahlerup, Dekonstruktion, III. <?page no="94"?> 82 konstruktivismus die Überzeugung, dass ein Text eine Bedeutung in sich selber hat (wie in der strukturalen Exegese und im „Narrative Criticism“) oder eine Bedeutung, die ihm vorausgeht (wie in den formgeschichtlichen und redaktionsgeschichtlichen Ansätzen). Ein Text kann nicht auf eine authentische oder ursprüngliche Bedeutung hin entziffert werden. Besonders Derrida und der literaturwissenschaftliche Dekonstruktivismus wenden sich gegen die Auffassung, dass Texte eine sich durch die Zeit identische bzw. statische Bedeutung hätten. Während sich die Strukturalisten oder VertreterInnen des „Narrative Criticism“ auf die Suche nach den bedeutungstragenden Strukturen im Text machen, wird in dekonstruktivistischen Lektüren nach den Elementen eines Textes gesucht, die die Logik der Texte gerade zusammenbrechen lassen. Für eine dekonstruktivistische Lektüre gilt stattdessen, dass Texte ‚Lese-Zeichen’ seien. Im Sinne einer konsequent strukturalistischen Lesart der Linguistik de Saussures werden die als ‚Lese-Zeichen’ aufgefassten Texte verstanden als die Gegenwart eines Abwesenden, die einzig auf die Differenz zu anderen Zeichen eines Systems verweisen. Die Zeichen gehen der Bedeutung immer voraus, die erst durch die Lektüre hergestellt werden muss. Aber auch die Lektüre kann nicht die im System präsente Bedeutung erreichen, weil sie immer nachträglich ist. Somit ist jede Lektüre ein einmaliger Akt, der durch jede neue Lektüre revidiert wird. Für den Dekonstruktivismus gilt deshalb, dass der Text weder seinen Sinn in sich selbst hat noch seine Bedeutung, die ihm vorausgeht. Bedeutung wird als kontextuell-kulturell bestimmt erkannt, aber diese Kontexte ihrerseits sind unendlich. „Semantische Kohärenz und Konsistenz gibt es als solche nicht, sie entsteht allenfalls als Folge einer vom Interpreten mehr oder weniger willkürlich abgebrochenen unendlichen Kette von Bedeutungserweiterungen“. 280 Besonders Stephen Moore hat die Möglichkeiten einer dekonstruktivistischen Lektüre des Markusevangeliums aufgezeigt. 281 Auf der Suche nach den blinden Flecken im Text stellt er die Ausgangsfrage: „To what features of Mark, then, might deconstruction be as to a magnet? “ 282 Der Evangelist „simultaneously asserts and denies the authority of its own rhetorical mode“. 283 Der Evangelist - so wäre in der dekonstruktivistischen Lesart zu folgern - dekonstruiert sich selbst, indem er beispielsweise ein Ende in Mk 16 erzählt, von dem aus der Anfang des Buches nicht gut vorstellbar sei. Die dekonstruktivistische Lesart deckt beispielsweise auf, dass im Rahmen dieses erzählten Endes des Markusevangeliums die Frage offen bleibt, wie Markus wissen kann, dass Jesus auferstanden ist, wie es sein Evangeliumsanfang voraussetzt. „In contrast to Matthew and Luke, each of 280 Steinmetz, Sinnfestlegung, 477. 281 Dazu grundlegend Moore, Mark and Luke; sowie ders., Literary Criticism. 282 Moore, Deconstructive Criticism, 86. 283 De Man, Allegories of Reading, 17, zitiert bei Moore, Deconstructive Criticism, 87. <?page no="95"?> 83 which begins with a virginal conception (Matt 1: 18; Luke 1: 34-35), Mark ends with a virginal conception - its own. Its tomb becomes a miraculous womb”. 284 Im Zusammenhang mit dem Markusevangelium kommt Moore vor dem Hintergrund der sog. Parabeltheorie, die Jesus von Missverstehen zu Missverstehen seiner Zuhörer driften lässt, zu dem Ergebnis, dass „Mark’s Jesus can be said to be modeled on the written word. Not only does Jesus ‘write’ in Mark, he is himself a species of writing - literally, because we know him only through the written letter. Jesus is a man of letters”. 285 Zugleich hat sich der Evangelist mit diesem Modell selbst in den Text eingeschrieben, in seiner Art und Weise die Jesus-Geschichte zu erzählen. Die Taktik der dekonstruktivistischen Kritik besteht also darin, die Aporien oder Sackgassen der Bedeutungsbestimmung aufzuzeigen, an denen eine textzentrierte und referenzzentrierte Bedeutungstheorie an ihre Grenzen kommt. Das Lesen des Markustextes gleicht einem nicht einholbaren Bedeutungsprozess. Die Bedeutung ist nicht einfach greifbar, denn jeder Signifikant verweist auf den nächsten. Zu den früheren Bedeutungen kommen Modifikationen durch spätere Bedeutungen. Eine verbindliche Bedeutungsbestimmung von literarischen Texten, wie sie im Rahmen des Strukturalismus gegeben wurde, ist nach diesem Ansatz nicht mehr möglich. Im Rahmen einer dekonstruktivistischen Theorie wird Bedeutung im Akt der Lektüre generiert, jedoch jede Bedeutungsfeststellung ad absurdum geführt. Dekonstruktivistische Lektüren führen zu einem nicht statischen Bedeutungsbegriff unter der Voraussetzung der Nichteinholbarkeit der Bedeutung. Dadurch verliert die Bedeutung in einer dekonstruktivistischen Lektüre überhaupt ihre Relevanz; sie wird vielmehr zu einem Appendix im Rahmen endloser Verweisstrukturen. Die Position der Dekonstruktion wirft deshalb Fragen in Bezug auf die Bedeutungsbestimmung auf, die Sheriff folgender Maßen zusammenfasst: „We have not lost meaning, but meaning has lost its value. We do not value any particular meaning because we have become convinced that we are dealing in a system of pure symbol, pure form, pure law, pure abstraction, pure nothing. In such a system anything is possible. Where anything is possible, nothing is of particular value”. 286 Bedeutung wird nicht mehr darstellbar. „As so often, radical scepticism, about meanings as about almost everything else, is just a disappointed absolutism“. 287 Bedeutung als Begriff wird bedeutungslos, da sich dieser nicht mehr operabel erfassen lässt. 284 Moore, Dekonstructive Criticism, 86. 285 Moore, Dekonstructive Criticism, 90. 286 Sheriff, Fate, 45. 287 Merquior, Prague, 233. <?page no="96"?> 84 4. Zusammenfassung Im Rahmen dieses Kapitels wurden methodische Entwürfe zum Markusevangelium vorgestellt und darauf hin befragt, wie in diesen methodischen Entwürfen der Begriff der Bedeutung Beachtung findet. Dabei wurde hinsichtlich der methodischen Konzeptionen zwischen zwei Paradigmen unterschieden: Einerseits Entwürfe, die sich am Paradigma „Geschichte“ orientierten, andererseits Entwürfe, die sich am Paradigma „Text“ orientierten. Auf dem Hintergrund dieser beiden Paradigmen wurde eine Verschiebung des Bedeutungsverständnisses beobachtet. Obwohl innerhalb der beiden Paradigmen dem Bedeutungsbegriff der Status eines Grundbegriffs zukommt, wurde deutlich, dass besonders in den methodischen Zugängen innerhalb des Paradigmas „Geschichte“ eine explizite Bedeutungstheorie fehlt, so dass von einer latent impliziten Setzung der Bedeutung zu sprechen ist. Denn innerhalb dieser methodischen Zugänge ließ sich eine implizite Integration des referentiellen Paradigmas, welches im vorherigen Kapitel für die Bedeutungstheorien der semantischen Dimension herausgearbeitet wurde, ausmachen. Der latent implizite Bedeutungsbegriff bei den methodischen Zugängen zum Markusevangelium innerhalb des Paradigmas Geschichte ging davon aus, dass sich Bedeutung und Referenz nicht voneinander trennen lassen. Im Rahmen der am Paradigma „Geschichte“ orientierten methodischen Zugänge zum Markusevangelium wurden die Aspekte der Bedeutung entweder dem einheitsstiftenden Wesenskern der Autorintention (besonders in der Redaktionsgeschichte) oder der Gemeinde bzw. der Tradition zugeschrieben. Die Bedeutungsbestimmung wird in diesen Fällen zu einer vortextlichen: Sie ist etwas, was der Autor, die Gemeinde oder die Tradition verantwortet und die durch die Bezugnahme auf diese Größen bestimmt wird. Der Autor - als Evangelist - oder die Tradition bleiben Eigentümer der von ihnen hergestellten Bedeutung. Die Rekurrenz auf Größen, wie der Evangelist, die Gemeinde oder die Tradition, stellt daher den Versuch dar, die Eindeutigkeit der Textbedeutung quasi durch die das „Urheberrecht“ innehabende Instanz theoretisch verbürgen zu lassen. Da über die „Mitteilungsabsichten“ der oben genannten Größen aber prinzipiell kein anderer Zugang besteht als über die textlichen Zeugnisse, kommt es zu einer Hypostasierung dieser abstrakten Entitäten. Auch der Rekurs auf die Autorintention ist nicht weiterführend: Die Bedeutung wird nun ur-sprungshaft verantwortet in dem Geist bzw. in der Intention des Autors. Dieser individuelle mentale Zustand - eben die Intention - ist die bedeutungsbestimmende Größe, aber für diese gibt es keine Sicherungsinstanz jenseits des Textes. Alle methodischen Entwürfe innerhalb des Paradigmas Geschichte gehen von einem apriorischen und statischen Bedeutungsbegriff aus. <?page no="97"?> 85 Bei den methodischen Ansätzen, die von der Größe „Text“ ausgehen, wird betont, dass es keine Erfassung der Bedeutung gibt unter Absehung der materiellen Sprachgestalt - sprich des biblischen Textes. Die Berücksichtigung der Größe „Text“ bei der Bedeutungsbestimmung darf als der einigende Bestandteil aller hier vorgestellten methodischen Entwürfe zum Markusevangelium angesehen werden. Es geht im Rahmen dieses Paradigmas nicht mehr darum, den Text zu decodieren, um Zugang zu einer hinter dem Text liegenden Bedeutung zu erlangen. Beim „Narrative Criticism“ wird die Dynamik einer autarken, textuell manifestierten Bedeutung betont, die es nun zu entfalten gilt. Wenn aber festgehalten wird, dass „[d]ie Analyse der narrativen Ebene [...] nur dann Sinn [ergibt], wenn sie mit der sie legitimierenden Bedeutungstheorie verbunden ist [...]“, 288 zeigt sich auch die Grenze dieses Ansatzes zur Erfassung der Bedeutung. Denn sehr wohl liegt diesem Ansatz daran, Bedeutung mittels des narrativen Analyseverfahrens zu legitimieren, aber dieses Analyseverfahren ist selbst keine explizite Bedeutungstheorie, die klärt, wie Bedeutung generiert wird. Vielmehr dient das Analyseverfahren dazu, die im Text schon manifestierte und vorausgesetzte Bedeutung in ihrer Qualität sichtbar zu machen. Deshalb steht im Hintergrund eine Auffassung von Bedeutung als apriorische und statische Größe, die immer schon im Text ist. Dieser apriorische und statische Bedeutungsbegriff liegt auch bei der strukturalen Exegese vor, allerdings ist diese als derjenige methodische Zugang zum Markusevangelium zu würdigen, der über eine explizite Bedeutungstheorie verfügt. Erst im „Reader-Response Criticism“ und in der Dekonstruktion kommt es zu einem dynamischen Bedeutungsverständnis: Auf den Spuren der offenen Bedeutungskonzeptionen wird nun die Rolle der LeserInnen als bedeutungsstiftend betont. Im Rahmen des „Reader-Response Criticism“ appelliert der Text strukturell an die LeserInnen, aber der Text des Markusevangeliums gelangt erst durch ihre Konkretisierungsarbeit zu seiner Existenz. Im Zuge dessen wird die Suche nach der Bedeutung zu einem komplexen Unternehmen, das zwischen Text und LeserInnen stattfindet. „For this reading, the concrete materiality of the text is primary. As a physical object, the text does not ‚have’ a meaning ‚in’ it. The physical stuff of the text is always inert or empty of meaning. The text cannot interpret itself. [...]. All interpretations are made by men and women. […].“ 289 Dieses komplexe Unternehmen vermochte allerdings der „Reader- Response Criticism“ methodisch nicht einzufangen, sondern versuchte über den Begriff des impliziten Lesers sicherzustellen, dass nur die Bedeutung relevant ist, die die bestimmten Vorgaben des Textes realisiert. 288 Zumstein, Narrative Analyse, 26. 289 Aichele, Sign, 19f. <?page no="98"?> 86 Die dekonstruktivistische Methode ist nicht an der Komplexität der Bestimmung der Bedeutung interessiert und setzt sich deshalb über die Probleme der Metasprache hinweg. Vielmehr gilt ihr Interesse der Komplexität der Ränder, die dieses Unternehmen der bedeutungsgenrierenden Prozesse erschweren. Dieser Überblick hat deutlich gemacht, dass der Begriff der Bedeutung in den einzelnen methodischen Zugängen über sehr unterschiedliche Sachverhalte bestimmt wird. Die unterschiedlichen methodischen Ansätze erfassen mittels ihrer differierenden Bedeutungsbegriffe unterschiedliche Phänomene, die sich zueinander inkongruent verhalten. Vor dem Hintergrund der in der Einleitung geleisteten Bestimmung der Bedeutung als semiotischer Terminus lässt sich zudem als Ergebnis dieses Kapitels festhalten, dass keiner der dargestellten methodischen Zugänge zum Markusevangelium Bedeutung in seiner Dreidimensionalität zu berücksichtigen in der Lage ist. Keiner der methodischen Zugänge zum Markusevangelium setzt Bedeutung als eine dreidimesnionale Größe voraus, die gleichberechtigt syntagmatische, semantische und pragmatische Aspekte umfasst. Innerhalb des Paradigmas „Geschichte“ (Formgeschichte und Redaktionsgeschichte) sowie innerhalb des Paradigmas „Text“ („Narrative Criticism“ und strukturale Exegese) wurde außerdem deutlich, dass ein - wenn auch unterschiedlich begründeter - statischer und apriorischer Bedeutungsbegriff zugrunde gelegt wurde, der bei den genannten Methoden auf ein bestimmtes Kommunikationsmodell zurückgeführt werden kann: In diesen methodischen Zugriffen innerhalb der beiden Paradigmen wird ein statischer Bedeutungsbegriffs angenommen, der voraussetzt, dass die Botschaft, die von einem Sender in einen Text hineingelegt wird, dieselbe bleibt, wenn sie bei dem Empfänger ankommt. Dieses Kommunikationsmodell ist durchaus nicht unbeliebt, „because it allows us to think that the mental meaning can pass unaffected through the physical channel. In the case of any non-oral (written or electronically produced) message, you necessarily encounter the message in the sender’s absence, and the absence of the sender turns that party into a hypothetical entity. […]. In the case of the biblical texts, all that you have are the physical transmission of the message […] and your own understanding of its meaning […], neither of which can be corrected by the sender”. 290 Besonders für die strukturale Exegese hält Aichele fest, dass sie „draws upon the channel metaphor [...], and that uses that metaphor to distinguish between the mental or ideal contents of the message (the signified) and the physical stuff (the signifier) in which those contents are contained“. 291 Die dargelegten Überlegungen führen zu dem Schluss, dass aufgrund des vorausgesetzten statischen Bedeutungsverständnisses, welches nicht in 290 Aichele, Sign, 27f. 291 Aichele, Sign, 36. <?page no="99"?> 87 der Lage ist, die Dreidimensionalität der Bedeutung zu berücksichtigen, sich diese Entwürfe nicht für eine kulturwissenschaftlich orientierte Exegese eignen. Aber auch die Methoden, die eine nicht statische Bedeutungskonzeption voraussetzen - wie der „Reader-Response Criticism“ und die dekonstruktivistische Lektüre -, bieten trotz des dynamischen Bedeutungsverständnisses keine operablen Methoden für eine explizite Bedeutungsbestimmung. Mit diesen pragmatischen, an den LeserInnen orientierten Ansätzen wird allerdings die Überzeugung geteilt, dass nicht mehr von der Relation zwischen zwei scheinbar unabhängig voneinander existierenden Entitäten - dem Text „an sich“ und seiner „interpretativen Aneignung“ - zu sprechen ist, sondern dass davon ausgegangen werden muss, dass der Bedeutungsgehalt des Textes sich als ein Produkt spezifischer und letztlich kontingenter Rezeptionspraktiken erweist - diese müssen sich aber theoretisch explizit ausweisen lassen. Um Bedeutung als semiotischen Terminus in seiner Dreidimensionalität zu berücksichtigen und um gleichzeitig Bedeutung als eine nicht statische Größe in kulturellen Prozessen ausweisen zu können, bedarf es der diesen Voraussetzungen zuarbeitenden Bedeutungstheorien, denen es gelingt, Bedeutung mit der dynamischen Struktur der Zeichen in kulturellen Prozessen in theoretisch expliziter und für die bibelwissenschaftlichen Belange adaptierbarer Weise zusammenzubringen. <?page no="101"?> T EIL B: Texttheoretische und semiotische Entwürfe zur Etablierung eines mehrdimensionalen Bedeutungsbegriffs <?page no="103"?> 91 III. Die Bedeutung und das Diskursuniversum eines Textes Unter der Voraussetzung, dass Bedeutung eine dynamische und nicht statische Größe ist, stellt sich die Frage, wie sie näher bestimmt und eingegrenzt werden kann. In der Bestimmung der Bedeutung als ein kulturelles Phänomen wurde der Akt der Bedeutungskonstitution verstanden als die Transformation eines Zeichens in einen anderen Zeichenzusammenhang. In diesen entstandenen Zeichenzusammenhängen konstituiert sich Bedeutung nicht als zeittranszendente Vorgegebenheit, sondern als im Rahmen kultureller Aktivitäten konstituierte, die somit die Zeichensysteme als historisch bedingte ausweist. Es wurde festgehalten, dass diesen Zeichen erst dann eine Bedeutung attribuiert werden kann, wenn wiederum im Akt der Bedeutungskonstitution eine Transformation in andere Zeichenzusammenhänge stattfindet. Wenn Bedeutung demnach nicht mehr eine objektivierbare, eindeutig feststellbare Größe ist, stellt sich die Frage, wie ausgehend von der eben angeführten dynamischen Bedeutungsbestimmung Bedeutung darstellbar wird. Es bedarf eines Geltungsbereiches für die die Konstitution der Bedeutung betreffenden Akte, damit die bedeutungsgenerierenden Prozesse darstellbar werden. Hierfür soll der Begriff des Diskursuniversums 1 aufgenommen werden, wie ihn Charles Sanders Peirce verwendet. Während innerhalb der ethnologischen-kulturwissenschaftlichen Arbeiten bedeutungsgenerierende Prozesse häufig über Konzepte wie das der teilnehmenden Beobachtung erfasst werden, versuchen Kulturtheorien mit umfassendem Geltungsanspruch oftmals einen Beobachterstatus in Anspruch zu nehmen, von dem aus sich kulturelle Prozesse darstellen lassen. Beide Ansätze suggerieren, von der Diskursivität und Kontextualität des Untersuchungsgegenstandes selbst ausgenommen zu sein. Unter der Voraussetzung, dass die Rede von einer „Bedeutung-an-sich“ obsolet geworden ist, gilt es aufzuzeigen, wie dieses dreidimensionale Konzept der Bedeutungsbestimmung im Rahmen eines nicht statischen Bedeutungsbegriffs zu Aussagen über die Bedeutung kommt, denn die im Eingangskapitel dargelegte Konzeption der Bedeutung ist getragen von der Voraussetzung, dass es möglich ist, Bedeutung als eine zu analysierende Größe auszuweisen, die den Aussagegeltungsraum darstellt. D.h. erst ein definierter Geltungsbereich erlaubt es überhaupt, über Bedeutung zu reden. Diese Funktion übernimmt der Begriff des „Diskursuniversums“. 1 Implementiert wurde der Begriff des Diskursuniversums in den Bereich neutestamentlicher Wissenschaft von Alkier. Hierzu grundlegend seine Überlegungen in Alkier, Wunder, unter Kapitel III.5. <?page no="104"?> 92 Die Pluralisierung und Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Akte der Bedeutungskonstitution der Kultur, die je ihre eigene Bedeutung erzeugten, wurde zum philosophischen Thema bereits Mitte des 19. Jahrhunderts bei August De Morgan. 2 De Morgan geht von einer Grundopposition zwischen einem „universe of proposition“ und einem „universe of thought“ aus, welches als Kumulation aller denkbaren Aussagen ein lediglich approximativer Horizont realer Kommunikationsakte ist. Demgegenüber wird in der alltäglichen Kommunikation dieses „universum of thoughts“ auf ein begrenztes Aussagefeld reduziert. Nur indem eine Aussage auf ein bestimmtes Erfahrungsfeld eingegrenzt wird, kann sie Bedeutung erzeugen. „Der Begriff des Diskursuniversums wird gebraucht, um das semantische Problem eines geeignet eingeschränkten Gegenstandsbezugs zu lösen“. 3 Diese Grundopposition wird dann von George Boole in seiner Konzeption der Logik aufgenommen. Ihm geht es aber nun wesentlich stärker um das „Wie“ der Limitation bestimmter Aussagen innerhalb eines vorausgesetzten Universums. Boole hält fest, dass jede Aussage stets in Relation zu einem Feld gesehen werden muss, das Boole das „Universum des Diskurses bezeichnet“. So besteht die Aufgabe eines Begriffs oder Namens nicht darin, alle Objekte im Denken hervorzurufen, auf die diese Bezeichnung passen könnte, sondern nur diejenigen Objekte, die innerhalb des gegebenen Diskursuniversums existierten. In diesem Sinne ist das Diskursuniversum als „the ultimate subject of discourse“ zu bezeichnen. 4 Hier wird die Bedeutung von Aussagen nicht mehr zurückgeführt auf situationsunabhängige Universalien im Sinne eins „transzendentalen Signifikats“, sondern eine Aussage korreliert immer mit einem spezifischen kulturellen Kontext. Peirce schließt sich De Morgan und Boole zunächst hinsichtlich der Begrenzung von Aussagen an. So sei ein umfassendes Diskursuniversum zwar vorstellbar, allerdings limitieren wir in unserem Sprechen und Denken Aussagen meist im Hinblick auf ein begrenztes Universum. „An unlimited universe would comprise the whole realm of the logically possible. [...] Our discourse seldom relates to this universe: we are either thinking of the physically possible, or the historical existent, or of the world of some romance, or of some other limited universe […]. The universe of things is unlimited in which every combination of characters, short of the whole universe of characters, occurs in some object […]. In like manner, the universe of characters is unlimited in the case every aggregate of things short of the whole universe of things possesses in common one of the characters of the universe of characters. [...] In our ordinary discourse, on the 2 Vgl. zum Begriff des Diskursuniversums Pape, Einleitung, 46-55. 3 Pape, Einleitung, 49. 4 Vgl. Boole, The Laws of Thought von 1854, hier zitiert nach Pape, Einleitung, 49. <?page no="105"?> 93 other hand, not only are both universe limited, but, further than that, we have nothing to do with individual objects or simple marks; so that we have simply the two distinct universes of things and marks related to another, in general, in a perfectly indeterminate manner”. 5 Entscheidend modifiziert wird hier die Rede vom Diskursuniversum gegenüber De Morgan und Boole, indem neben dem Universum der Dinge auch noch ein „universe of characters” bzw. ein „universe of marks“ berücksichtigt werden. Diese Marker oder Charaktere bestimmen die Möglichkeit von Aussagen. Im Hintergrund steht Peirce’s Kritik an der traditionellen Auffassung der Logik, die nicht zwischen einem Universum der Dinge und einem Universum der Marker oder Charaktere unterscheide. Wenn gilt: „Alle Objekte der Klasse S gehören zur Klasse P“, dann lässt sich daraus nicht notwendig der Umkehrschluss folgern. Denn die Beziehung zwischen S und P wird durch ein Universum konventionalisierter Korrelation bestimmt, das die möglichen Aussagen und Attribuierungen reguliere. Dadurch entstehe nach Peirce eine „general regularity about the relations of marks and things“. 6 Diese „general regularity” mache den Möglichkeitsspielraum unseres Diskurses aus. Diese Modifizierung von Peirce bei der Rede vom Diskursuniversum erlaubt es, im Rahmen einer kulturwissenschaftlich orientierten Exegese unter Berücksichtigung des zugrunde gelegten weiten semiotischen Kulturbegriffs die bedeutungsgenerierenden Transformationsprozesse einer bestimmten Kultur zu isolieren und zu beschreiben. Im Zusammenhang mit der Rede vom Diskursuniversum verlagert sich so die Bedeutungsproblematik von einer immanent logischen zu einer kulturtheoretischen Fragestellung, die es ermöglicht, über die Bedeutung eines Zeichens in einem bestimmten Aussagebereich zu sprechen - bei gleichzeitiger Wahrung der kulturellen Differenz. Das heißt: Ein gegebenes Zeichen kann als Zeichen nur fungieren, wenn es einer Welt - eben dem Diskursuniversum des Zeichenzusammenhangs - zugeordnet wird, innerhalb deren Bedingungen es Bedeutung entfalten kann. Das Konzept des Peirceschen Diskursuniversums wird von Liszka folgendermaßen erläutert: „The universe of discourse is what an utterer and interpreter must share in order for communcation to result [...]“. 7 Bedeutung - verstanden als semiotischer Terminus - kann nur präzisiert werden als Frage nach der Bedeutung im jeweiligen Diskursuniversum, welches zu verstehen ist als ein konkreter Zeichenzusammenhang. 5 Peirce, Collected Papers 2.519-520. 6 Peirce, Collected Papers 2.520. 7 Liszka, General Introduction, 92. <?page no="106"?> 94 Im Rahmen einer kulturwissenschaftlich orientierten Exegese ist der Text als materielles Artefakt einer Kultur 8 der das Diskursuniversum bestimmende Faktor. D.h.: das Diskursuniversum bestimmt in vorliegender Arbeit auch den Geltungsbereich des untersuchten Feldes, denn es geht um die Bedeutung des Wortes avkou,ein im Diskursuniversum des Markusevangeliums, genauer im Diskursuniversum von Mk 4,1-34. D.h., eine Aussage - wie beispielsweise Mk 4,12 - kann Geltung nur im Rahmen des Diskursuniversums des Markusevangeliums beanspruchen, denn das „Diskursuniversum eines Textes ist dann die Welt, die ein gegebener Text setzt und voraussetzt, damit das vom Text Erzählte oder Behauptete plausibel funktionieren kann“. 9 In der Arbeit mit (antiken) Texten ist dies eine unumgängliche Voraussetzung, um in theoretisch expliziter Art und Weise Aussagen über die Bedeutung einer bestimmten textuell manifestierten Größe zu machen, denn durch die Rede vom Diskursuniversum wird der Geltungsraum von bedeutungsgenerierenden Aussagen einerseits auf eine bestimmte und notwendigerweise bestimmbare (textuelle) Größe beschränkt, andererseits wird durch die Rede vom Diskursuniversum auch unaufgebbar festgehalten, dass die Generierung von Bedeutung in diesen textuellen Manifestationen abweichen kann von den in anderen Diskursuniversen vorausgesetzten bedeutungsgenerierenden Prozessen. Oder anders gesagt: die kulturelle und historische Distanz antiker Texte, die einen materialen Aspekt von Kultur darstellen, wird berücksichtigt. Die Rede vom Diskursuniversum bewahrt davor, die kulturellen Unterschiede hinsichtlich der bedeutungsgenerierenden Prozesse zu nivellieren und stellt damit einen unaufgebbaren Aspekt einer Bedeutungstheorie dar, die Bedeutung als dynamische und nicht statische Größe versteht. Die Angabe eines Geltungsbereiches von Bedeutungszuschreibungen ist aus diesem Grunde die Grundvoraussetzung, um die bedeutungsgenerierenden Prozesse im Rahmen eines dynamischen Bedeutungsverständnisses darstellbar zu machen. An diesem Gedanken partizipieren die im Folgenden dargestellten Bedeutungstheorien von Petöfi, van Dijk und Eco. Sie alle rekurrieren auf die Größe Text, um anhand dieser Größe die Kategorie der Bedeutung zu entfalten. Damit stellt bei den nun folgenden Entwürfen die Größe Text das Diskursuniversum dar, um plausible und explizite Aussagen zur Bedeutung zu machen. Indem alle drei nun folgenden Bedeutungstheorien an der Überzeugung partizipieren, dass die Zu- 8 Zum Verhältnis von Artefakt und Text vgl. Posner, Kultursemiotik, 51: „Wenn etwas ein Artefakt ist und in einer Kultur nicht nur eine Funktion hat, sondern auch ein Zeichen ist, das eine codierte Botschaft trägt, so wird es in der Kultursemiotik als ‚Text dieser Kultur’ bezeichnet. Texte sind immer ein Ergebnis absichtlichen Verhaltens, auch wenn nicht alle ihre Eigenschaften beabsichtigt sein müssen [...]. Da sie Artefakte sind, können Texte nicht nur produziert, sondern auch reproduziert werden“. 9 Alkier/ Zangenberg, Zeichen, 47. <?page no="107"?> 95 ordnung von bedeutungsrelevanten Aussagen einer Festlegung auf eine Bezugsgröße bedarf, setzen sie den Gedanken von Peirce um, dass ein Zeichen immer einer Welt - dem Diskursuniversum - zugeordnet werden muss, damit die Prozesse der Bedeutungsgenerierung beschreibbar sind. Zugleich sind die Bedeutungstheorien von Petöfi, van Dijk und Eco mit einer dynamischen, dreidimensionalen Konzeption von Bedeutung, die partizipiert an der in dem Eingangskapitel dargelegten Bestimmung der Bedeutung als semiotischer Terminus, kompatibel. Die Bedeutungstheorien von Petöfi, van Dijk und Eco bieten somit Methodologien an, um den semiotischen Terminus Bedeutung explizieren zu können; diese stellen - so ist unser Anspruch - auch für die neutestamentliche Exegese adaptierfähige Methodologien dar, um die bedeutungsgenerierenden Prozesse biblischer Texte explizieren zu können. Aus diesem Grunde werden im Folgenden die Modelle von Petöfi, van Dijk und Eco ausführlich dargestellt als methodische Einlösung des im Eingangskapitel forcierten Terminus Bedeutung, der in seiner Dreidimensionalität sowohl syntagmatische, semantische wie auch pragmatische Aspekte zu berücksichtigen hat. Die drei Bedeutungstheorien können in einer kulturwissenschaftlichen Exegese als arbeitsfähige Modelle gelten, um - bei unterschiedlicher Schwerpunktsetzung innerhalb der einzelnen Entwürfe - die materialen, mentalen und sozialen Aspekte bei den bedeutungsgenerierenden Prozessen in einer Kultur zu erfassen. In der Bedeutungstheorie von Petöfi sehen wir besonders die materialen Aspekte der bedeutungsgenerierenden Prozesse von Textzeichen berücksichtigt. Mittels der Schwerpunktsetzung auf der syntagmatischen Dimension der Bedeutung stellt Petöfi die materialen Aspekte von Textzeichen in den Mittelpunkt seiner Bedeutungstheorie. Van Dijks’ Theorie stellt unseres Erachtens besonders die mentalen Aspekte, die bei den bedeutungsgenerierenden Prozessen eines Textzeichens eine Rolle spielen, in den Vordergrund. Sein kognitionswissenschaftliches Modell, mit einem Schwerpunkt auf der semantischen Dimension der Bedeutung, arbeitet die mentalen Aspekte, die im Zusammenhang von kulturellen Zeichenprozessen von Belang sind, heraus. Die Ecosche Theorie hat ihren Schwerpunkt in der pragmatischen Dimension der Bedeutungsbestimmung. Sie ist unseres Erachtens zu rezipieren als eine Theorie, die sich besonders um die Erfassung der sozialen Aspekte der bedeutungsgenerierenden Prozesse im Zusammenhang mit Textzeichen bemüht. <?page no="108"?> 96 IV. Die Bestimmung der Bedeutung im Modell von Janos S. Petöfi Petöfi geht den Weg von einer Textlinguistik zu einer Texttheorie, die sich bei ihm zu einer „semiotischen Textologie“ formiert. 10 Diese Texttheorie versteht sich als umfassende Wissenschaft, die sich mit allen Aspekten des Textes beschäftigt. Und da sie sich mit allen Aspekten des Textes beschäftigt, ist sie in der Lage, auch die Größe „Bedeutung“ zu erfassen. Während „die von de Saussure geprägte strukturale Linguistik und die anderen Formen der strukturalen Linguistik“ ebenso wenig wie die „Generative Grammatik, die Montague-Grammatik oder die Sprechakttheorie“ zu einem anhaltenden dominanten Paradigma für eine mit Texten sich beschäftigende Linguistik gelangen konnten, „weil diese Paradigmata einerseits jeweils andere, im allgemeinen jeweils nur auf bestimmte Phänomene beschränkte Aspekte der Sprache in den Mittelpunkt ihres Interesses rückt, andererseits ist ihre Methodologie entweder zu intuitiv, oder zu rigid, zu formal“, 11 sieht Petöfi in der von ihm forcierten „semiotischen Textologie“ eine umfassende Methodologie, die der Arbeit mit Texten gerecht wird und Bedeutung im Rahmen einer dreidimensionalen Bedeutungstheorie darlegt. Die Hauptaufgabe dieser zu etablierenden Methodologie sieht Petöfi „in der Klärung dessen, welche Aspekte der Texte unbedingt miteinander im Zusammenhang untersucht werden müssen, damit die wichtigsten Fragen der Textproduktion und der Textrezeption - der beiden grundlegenden Prozesse im Hinblick auf die natürlich-sprachliche Kommunikation - beantwortet werden können“. 12 Das Ziel dieser von Petöfi anvisierten Disziplin ist einerseits „die optimale Erkennung und Systematisierung der Erkenntnisse über den Aufbau und die Bedeutung der Kommunikate, 13 wodurch natürlich indirekt auch die praktische An- 10 Während van Dijk für diese Texttheorie den Terminus „Textwissenschaften“ wählt, worunter er diejenige (zu etablierende) Wissenschaft versteht, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die verschiedenen Aspekte von Texten in einem interdisziplinären Rahmen zu analysieren und zu beschreiben, gilt es für Petöfi darauf hinzuweisen, dass er den Terminus „Textwissenschaft“ in einem anderen Sinne verwendet und im Plural. Petöfi bezeichnet mit diesem Terminus diejenigen Wissenschaften, in denen der Text eine dominierende Rolle (oder zumindest eine Rolle von großer Relevanz) spielt. Zu diesen Wissenschaften sind - neben der Theologie - die Literaturwissenschaften, die Rechtswissenschaften, die Philosophie, die Kognitive Psychologie, die Religionswissenschaft etc. zu rechnen. 11 Petöfi, Weshalb Textologie, 208. 12 Petöfi, Weshalb Textologie, 209. 13 Unter Kommunikaten werden in der textologischen Disziplin die Forschungsobjekte - also was intuitiv als Text aufgefasst wird - verstanden. <?page no="109"?> 97 wendbarkeit dieser Disziplin zunimmt“. 14 Andererseits geht es im Rahmen dieser semiotischen Textologie überhaupt darum, die die Interpretation bestimmenden Faktoren und die zwischen ihnen bestehenden Relationen zu erschließen. Methodisch beruht diese Theorie nicht nur auf linguistischen Kenntnissen, sondern auch auf Kenntnissen anderer Theoriesysteme, wie auch allgemein die Kenntnisse über die Welt einbezogen werden. Das Instrumentarium der Linguistik reicht bei der Beschäftigung mit Texten nicht aus, sofern relevante Aspekte der Textinterpretation, „die mit der Textbedeutung zusammenhängen“, 15 behandelt werden sollen. Denn bei der Bedeutungskonstitution von Texten spielen sowohl (zu definierende) textinterne als auch textexterne Komponenten und ihre Vernetzung eine gravierende Rolle. Während textinterne Aspekte die Fragen der „Textkonstitution“ betreffen, wird die Relation textinterner und textexterner Eigenschaften der „Konstruktion“ zugeordnet. 16 Die zu berücksichtigende Aufgabe dieser semiotischen Textologie ist es, maximale Explizitheit in der Theorie zu erreichen, bei der es darum geht, wie man Texten Beschreibungen des Aufbaus und der Bedeutung zuordnen kann. Der Begriff „Textologie“ erweist sich für Petöfi als zutreffend, da durch diesen Begriff irreführenden Folgerungen vorgebeugt werden kann, die sich aus anderen Bezeichnungen der Disziplin von Texten ergeben. 17 Der Terminus „Textologie“ impliziert nach Petöfi gerade nicht, dass nur ein bestimmter Textaspekt im Mittelpunkt steht. Während also die Bezeichnung „Textologie“ helfen soll, Missverständnisse zu verhindern, dient die Komponente „semiotisch“ in der Bezeichnung „semiotische Textologie“ dazu, zutreffende Folgerungen nahe zu legen, wie die folgenden beiden: „diese Disziplin betrachtet den Text als einen ‚Zeichenkomplex’; diese Disziplin beabsichtigt den Text sowohl im Hinblick auf seinen syntaktischen (im allgemeinen Sin- 14 Petöfi, Die semiotische Textologie, 61. 15 Petöfi, Aspekte der Textinterpretation, 143. 16 Petöfi, Language, 210: „The organisation of the vehiculum (and of its mental image) is indicated by the term ‚constitutio’, while the organisation of the significanssignificatum relation is indicated by the term ‚constructio’. As to the organisation, it is necessary to distinguish between the inherent organisation of the text assumed by us and the representation of this organisation produced by us.” Wir sehen in dem Model von Petöfi durchaus eine Nähe zu der Konzeption von Maturana Varela, Der Baum der Erkenntnis, die ebenso den „constructio“-Charakter im Rahmen autopoietischer Systeme betonen. 17 Petöfi, Die semiotische Textologie, 62f., nennt als missverständlich den Terminus „Textlehre“, weil durch den Begriff der Eindruck entstehe, dass es sich um eine „Lehre“ handelt, „die sich an die Reihe Phonologie - Morphologie - Wortlehre - Syntagmatik - Satzlehre anschließt“; der Begriff „Textlinguistik“ wiederum ist irreführend, da er suggeriert, dass zur Analyse von Texten linguistische Kenntnis genüge, auch der Begriff „Texttheorie“ wird von Petöfi nicht verwendet, da der Eindruck entsteht, „daß es sich dabei um eine [...] ‚Theorie’ von Texten handelt und nicht um eine Disziplin, die Texte interpretieren soll“. <?page no="110"?> 98 ne formalen) Aufbau, wie auch im Hinblick auf seinen (linguistischen und nicht-linguistischen) semantischen, wie auch auf seinen pragmatischen Aufbau (seine Verwendung in einer gegebenen oder angenommenen Kommunikationssituation) zu analysieren“. 18 Petöfis semiotische Textologie berücksichtigt die im Eingangskapitel dieser Arbeit dargelegte Irreduzibilität der semiotischen Teildisziplinen bei der Behandlung der Frage nach der Bedeutung. Es wird sich noch zeigen, dass bei Petöfis Modell von einer innovativen Schwerpunktsetzung im Bereich der syntagmatischen Dimension zu sprechen ist, bei der materiale Aspekte eines Textzeichens in den Vordergrund rücken. Hinsichtlich der ersten Feststellung des angeführten Zitates wird deutlich werden, dass es für Petöfi eine primäre Aufgabe ist, eine Zeichentheorie zu erstellen, die dann auf Textebene angewandt werden kann. Zum zweiten Punkt wird darzustellen sein, welches Kommunikationsmodell Petöfi seiner semiotischen Texttheorie zugrunde legt, denn nur unter Beachtung dieses Kommunikationsmodells sind die Grundfaktoren von Textproduktion und -rezeption für die Texttheorie fruchtbar zu machen. Die bisher dargestellten Merkmale der semiotischen Textologie dürften hinreichend den interdisziplinären Ansatz dieser Konzeption deutlich gemacht haben; die semiotische Textologie wird zu einer „Interdisziplin“, „die die Ergebnisse mehrerer Einzeldisziplinen berücksichtigen und verwenden muß“. 19 Alle mit Texten befassten Disziplinen müssen nach Petöfi die Modelle liefern, „die bei der Herstellung eines allgemeinen semiotischtextologischen Rahmens als ‚Muster’ dienen können“. 20 Dieser interdisziplinäre Ansatz verspricht auch für die Arbeit mit biblischen Texten Gewinn bringend zu sein. Ab 1971 beginnt Petöfi mit der Entwicklung eines Textmodells, das in der Literatur häufig als „Textstruktur/ Weltstruktur-Theorie“ bezeichnet wird oder kurz: TeSWeST (so im Folgenden abgekürzt). 21 Diese Theorie speist sich aus der Kritik an satzbezogenen Auffassungen, wonach der Satz die größte Untersuchungseinheit in der Bedeutungsanalyse darstellt. 22 Stattdessen hält Petöfi fest, dass eine (linguistische) Untersuchung vom Text 18 Petöfi, Die semiotische Textologie, 63. Ausgehend von diesen zwei Folgerungen schließt sich noch eine dritte an, die die Anwendung nicht-verbaler (beispielsweise bildlicher oder musischer) Zeichensysteme nicht ausschließt. 19 Petöfi, Die semiotische Textologie, 80. 20 Petöfi, Die semiotische Textologie, 82. 21 Gelegentlich finden sich in den Aufsätzen von Petöfi auch Varianten zu dieser Bezeichnung: wie Text-Struktur Relatum-Struktur Theorie (TeSReST) oder Vehiculum- Struktur Relatum-Struktur Theorie (VeSReST). Aber immer steht im Zentrum dieser Theorie die semiotische Textologie, die einhergeht mit dem Zeichenkonzept von Petöfi. 22 Mit diesem Ansatz einer „Textologie“ trifft sich Petöfis mit dem von van Dijk, der hierfür nur den Terminus „Textwissenschaft“ wählt. <?page no="111"?> 99 als Beschreibungsrahmen 23 ausgehen müsse. Nach diesem Modell hat der Text selbst einen maßgeblichen Einfluss auf die Bedeutungskonstitution, welcher für den Textverarbeitungsprozess nicht zu vernachlässigen ist. Erst unter der Berücksichtigung der Größe Text kann die Bedeutungskonstitution von Texten adäquat erfasst werden. 24 Um die Größe Text zu erfassen, entwickelt Petöfi eine Zeichenkonzeption, welche im Rahmen der semiotischen Textologie zu untersuchen ist: „A text - in terms of a semiotic terminology - is a complex verbal sign (or a verbal sign-complex) meeting a given expectation concerning textuality“. 25 Die Konstruktion von „Textwelten“, d.h. von kognitiven Korrelaten zum vorgegebenen Text, erfolgt demnach über hochkomplexe Verarbeitungsprozeduren, deren Annäherung bisher nur approximativ erfolgen kann. Dieser Textverarbeitungsprozess ist einerseits abhängig von den spezifischen Vorgaben des Textes, andererseits von den spezifischen Dispositionen der LeserInnen (hierzu zählen ihr Wissen, Interpretationszielsetzungen, Rezeptionserwartungen etc.). Nach diesem Modell von Petöfi ist die Bedeutungskonstituierung somit nicht als eine 1: 1-Gleichung zwischen Textdaten und zugeordneter Textwelt zu verstehen, denn die Bedeutungskonstituierung erfolgt a.) selektiv in dem Maße, wie in Abhängigkeit von LeserInnen-Entscheidungen in vielen Fällen nur bestimmte Textdaten verarbeitet werden, 26 und b.) auch textexterne Informationen inferriert werden können. Die Referenz auf das außersprachliche Korrelat bzw. auf das Referenzobjekt kann also weder konventionalisiert noch ohne weiteres (re-)konstruiert werden. Deshalb versucht das Modell von Petöfi, den Prozess der Bedeutungskonstitution, d.h. der Konstruktion einer Textwelt, als ein Relationsgefüge, das von unterschiedlichen Komponenten geleitet wird, zu verstehen. Petöfi rechnet bei dem Aufbau einer Textwelt mit folgenden verwendeten Wissenstypen: Das significansbezogene Wissen, das in einer Grammatik kodifiziert/ systematisiert werden kann. Das allgemeine Sprach- und Weltwissen, das in Lexika und Enzyklopädien kodifiziert/ systematisiert werden kann. 23 Bei diesem Textbegriff wird festgehalten, dass „der Text dem Satz nicht mehr neben-, sondern übergeordnet ist: Der Text wird die oberste Organisationsform“, wie Linke/ Nussbaumer/ Portmann, Studienbuch Linguistik, 223, festhalten. 24 Mit diesen Überlegungen greift Petöfi den von Peirce formulierten Gedanken auf, dass ein Zeichen einem (textuellen) Diskursuniversum zugeordnet werden muss, um Bedeutung generieren zu können. 25 Petöfi/ Olivi, Understanding Literary Texts, 191. 26 Die semiotische Disposition eines Textes muss also von den LeserInnen aktualisiert werden und wie dies geschieht, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. <?page no="112"?> 100 Das nur Experten zugängliche Sprach- und Weltwissen, wobei die Grenzen zwischen 2.) und 3.) fließend sind. Idiosynkratische Wissensbestände, die aufgrund persönlicher Erfahrungen erworben worden sind. Auch die Grenzen zwischen 2.), 3.) und 4.) sind fließend. Dies mag ein Rekurs auf Augustins „Confessiones“ verdeutlichen. Hier liegt der Fall vor, dass persönliche Erfahrungen vertextet wurden und von anderen gelesen werden können, wodurch sie zum Expertenwissen avancieren und sogar zum allgemeinen Bildungsgut aufsteigen. Das bis zu einem bestimmten Rezeptionszeitpunkt konstruierte Textweltwissen, das durchaus von dem üblichen Sprach- und Weltwissen abweichen kann, beispielsweise wenn Jesus im Markusevangelium mit den Dämonen spricht oder wenn in Märchen Tiere sprechen können. Unter diesem Wissen ist das textspezifische Wissen, das der Text selbst herstellt, zu verstehen. In einem Interpretationsprozess greifen RezipientInnen auf eine Auswahl aus dem potentiell zur Verfügung stehendem Wissen zurück, welches von ihnen hinsichtlich des konkreten Textes als relevant eingestuft wird. Wie schon erwähnt, stellt die semiotische Textologie eine integrative semiotische Texttheorie dar, die die syntagmatischen, semantischen und pragmatischen Aspekte der Texte behandelt und zugleich auf alle Texttypen angewandt werden kann. Die von Petöfi vorgestellte semiotische Texttheorie stellt den methodologischen Rahmen dar, mittels dessen integrativer Perspektive Texte interpretiert werden können, denn „texts fulfil their functions as organic units in the given communication situation, thus they must be analysed and described as organic units, and this necessarily requires an integrated view of the various aspects“. 27 Seine TeSWeST- Theorie darf als Kritik und als Fortführung einer rein linguistischen Textanalyse gesehen werden, in der „die Analyse von linguistischen Aspekten im engeren Sinne und die Analyse von Aspekten, die im allgemeinen nicht zu den linguistischen Aspekten gezählt werden, miteinander kompatibel operationalisiert werden können”. 28 Durch die Formalisierung der Theorie in der TeSWeST soll die „eindeutige Repräsentation der Ergebnisse dieser Schritte gesichert werden“, 29 nicht jedoch die intuitiven Interpretationsschritte beseitigt werden. Obwohl dieses Grundkonzept von Petöfis Theorie dasselbe geblieben ist, hat die Theorie im Laufe der Entwicklung Veränderungen erfahren, die auch die Terminologie beeinflusst haben. Da es nicht das Ziel dieser Arbeit ist, die Genese dieser Theorie im Detail zu beschreiben, sondern die An- 27 Petöfi, Report, 557. 28 Petöfi, Text und Bedeutung, 213. 29 Petöfi, Text und Bedeutung, 195. <?page no="113"?> 101 wendbarkeit dieser Theorie im Rahmen einer semiotischen Bedeutungstheorie zu elaborieren, wird sich die vorliegende Arbeit im Wesentlichen auf die Darstellungen Petöfis aus den 80er und 90er Jahren beziehen, in denen seine Theorie hinsichtlich eines Textmodells am besten greifbar ist. Dabei werden im Mittelpunkt einerseits die Grundbausteine seiner semiotischen Textologie sowie die Grundbegriffe dieser semiotischen Texttheorie stehen und andererseits die in dieser Texttheorie eingebettete Frage nach der Bedeutungskonstitution. 1. Die Kommunikationssituation Petöfi vertritt einen funktionsorientierten Textbegriff, der Texte als Mittel zur Kommunikation auffasst. Im Unterschied zu einem strukturbezogenen Textbegriff, der den Text eng an die Größe Satz knüpft, ist der Begriff bei dieser funktionsbezogenen Auffassung an den Begriff „Kommunikation“ gekoppelt. Die Situation, in der Texte kommuniziert werden, wird zum Ausgangspunkt seiner semiotischen Textologie, denn der Rückgriff auf außertextliche Bedingungen ist notwendig, wenn für den Bereich schriftlicher Kommunikation die Text-LeserIn-Relation, aber auch die AutorIn- Text-Relation untersucht werden soll. Bei Petöfi werden durch die Stellung des Kommunikationsmodells Zeichen zu dem Ergebnis einer kommunikativen Annäherung. Gegenüber dem bekannten Modell von Jakobson, welches Kommunikation als die Interaktion zwischen folgenden sechs Elementen versteht: Sender, Adressat, Botschaft, Kanal, Kode, Kontext, entwickelt Petöfi ein wesentlich komplexeres Modell, das als Fortführung und Korrektur des Modells von Jakobson verstanden werden kann. Eines der gewichtigsten Probleme des Kommunikationsmodells von Jakobson ist, dass der in der Botschaft übermittelte Inhalt bei Jakobson notwendig als stabil mit sich selbst und deswegen als identische Entität konzipiert wird. Diese Identität, die aufgrund des Kommunikationsmodells angenommen wird, muss gerade in der Exegese als inadäquat zurückgewiesen werden. Nicht nur die oftmals ungeklärte Herkunft der einzelnen Schriften, auch die diffizile Entstehung des „Kanons“ 30 lassen an der Erklärungskraft des obigen Kommunikationsmodells für die Exegese zweifeln. Auch impliziert dieses Kommunikationsmodell eine „Identitätsannahme“ bezüglich der sprachlich vermittelten Bedeutung; also die Annahme, dass TextinterpretInnen nur das aus einem Text „herauszuholen“ haben, was vom Textautor oder der Textautorin hineingelegt wurde. Auch diese Annahme, die sich in den meisten Semantiktheorien finden lässt, muss von einer Exegese zurückge- 30 Vgl. dazu das Themenheft „Kanon“ der ZNT 12 (2003); sowie Alkier, Der christliche Kanon, 115-118. <?page no="114"?> 102 wiesen werden, die sich der Differenz zwischen „entstehungszeitlicher“ und „jetztzeitiger“ Interpretation bewusst sein will. Das Kommunikationsmodell von Petöfi versucht, auf diese Problemanzeige zu reagieren und erweitert deshalb das Kommunikationsmodell von Jakobson. Es berücksichtigt die Zeit und den Ort der Produktion [t P , l P ] eines Textes und die Zeit und den Ort der Rezeption eines Textes [t R , t R ]. Mit dieser Differenzierung kann verdeutlicht werden, dass Zeit und Ort der Produktion einer Kommunikationssituation eine andere/ ein anderer ist als die der Rezeption. Dies ist die Grundvoraussetzung für den Umgang mit antiken Texten; diese Voraussetzung stellt jedoch keinen Mangel dar, sondern diese Differenzierung macht antike Texte erst für heutige LeserInnen rezipierbar und ermöglicht, dass antiken Texten im Akt der Rezeption eine Bedeutung zugeordnet werden kann. Die Symbole Ci und Cj beziehen sich auf die Kommunikatoren, die Teilnehmer an der Kommunikation. Jeder der Kommunikatoren hat entweder eine Rolle als Produzent (P) oder als Rezipient (R) in einer Kommunikationssituation inne. Der Interpret kann als ein spezieller Rezipient angesehen werden. In einigen Fällen nimmt er seine Rolle als Rezipient wahr als der „natürlichen Kommunikationssituation“ entsprechend, in anderen Fällen - wie im Rahmen einer theoretischen Interpretation gefordert - ist der Rezipient ein Zweit-Rezipient. Der Typ der Kommunikationssituation (= CoSi) wird vor allem durch die Tatsache bestimmt, ob das darin zustande kommende Kommunikat ein Produkt einer einzigen kommunizierenden Person (= C) oder zweier bzw. mehrerer miteinander Dialog führender Personen (Kommunikatoren) ist. Je nach dem kann dann von mono-, dia- oder polilogischen Kommunikationssituationen gesprochen werden. Das Symbol I D steht für „Dominant Intention“, die jeder der an der Kommunikationssituation Beteiligten einbringt. Diese „Dominant Intention“ determiniert die Konfiguration der kommunikativen Funktion in einer realen oder hypothetischen Kommunikationssituation. 31 Die „Dominant Intention“ ist deshalb von großer Wichtigkeit, da sie verdeutlicht, dass jede Kommunikationssituation geprägt ist von der Art und Weise, die die Kommunikatoren einbringen. Unter B 0 ist das modulare Set von Wissen und Hypothesen (= Bases), die von den ProduzentInnen und von den RezipientInnen beim Akt der Produktion/ Rezeption eines Kommunikates gebraucht werden, zu verstehen. Zum Wissen zählen die zur Kommunikation dienenden Zeichensys- 31 Petöfi, Die semiotische Textologie, 88f., listet in Anlehnung an Jakobson folgende kommunikativen Funktionen auf, die jeweils Merkmale der dominanten Intention darstellen: Emotive, konative, referentielle, poetische, metasprachliche/ metadiskursive, phatische Funktion. <?page no="115"?> 103 teme und deren Verwendung. 32 Das System der Hypothesen beinhaltet die Verwendung von Kenntnissen oder auch Überzeugungen in verschiedenen Situationen. Es kann deshalb gesagt werden, dass der Typ einer Kommunikationssituation bestimmt wird von der Perspektive durch die Konfiguration der „Bases“ der Kommunikatoren. Das Symbol Ve (= Vehiculum) steht für das Kommunikat, welches von dem Produzenten erstellt wird. Hier ist es wichtig anzumerken, dass nur die physikalische Manifestation des Kommunikates als „das gleiche“ angesehen werden kann, obwohl einzuschränken ist, dass das Vehiculum des Produzenten von dem Vehiculum der RezipientInnen zu unterscheiden ist (wie wir noch weiter unten bei der Darstellung der Texttheorie von Petöfi sehen werden). Deshalb ist es sinnvoll, zwischen primären und sekundären Vehicula zu unterscheiden. Dabei werden die sekundären Vehicula meistens von einer Person hervorgebracht, die nicht mit dem ursprünglichen Produzenten identisch ist. Schon beim Lesen eines geschriebenen Bibeltextes wird immer ein sekundäres Vehiculum erstellt. In analoger Form zu diesen Überlegungen Petöfis hält auch Reinmuth mit Blick auf neutestamentliche Texte fest: „Genaugenommen ist sogar jedes Lesen eine Übertragung [...], auch dann, wenn ich nicht aus der Ursprache in die eigene übersetze. Denn ich verschaffe dem, was ich als Bedeutung des Textes erkenne, Zugang zu meiner eigenen Vorstellungswelt“. 33 Durch die Erstellung eines perzipierten Vehiculums als Sekundärvehiculum ist der erste Schritt der Generierung von Bedeutung „geglückt“, die auf der Grundlage der „Bases“ erfolgt. Die Symbole O P und O R beziehen sich auf die konstruierten Kommunikate - einerseits das konstruierte Kommunikat durch den Produzenten andererseits das des Rezipienten - die als semiotische Objekte zugänglich sind. Mit diesen konstruierten Kommunikaten wird jede These einer „gleich bleibenden Botschaft“ im Akt der Kommunikation zurückgewiesen. 32 Diese Wissensannahmen beinhalten nach Petöfi/ Olivi, Understanding Literary Texts, 201, folgende Komponenten: „(0) knowledge about the possible text type and communication-situation types; (1) experience/ knowledge concerning the construction of a TVe (=Textvehiculum; Anm. K.D.) percepts; (2) knowledge concerning the construction of the formatio component of verbal texts; (3) knowledge concerning the construction of the literal dictum sub-component of verbal texts; (4) knowledge concerning the process of non-literal interpretation; (5) knowledge-/ belief/ experience concerning state-of-affairs configurations, on the basis of which the receiver can construct text-specific models for the (re-)construction of the text-internal relatum subcomponent of verbal texts; (6) knowledge/ -belief/ experience concerning state-ofaffairs configurations, on the basis of which the receiver can construct text-/ author- / discourse-community-/ receiver-specific models for the construction of the mental image of text-external relata; (7) knowledge/ -experience for finding text-external relata on the basis of their mental image.” 33 Reinmuth, Hermeneutik, 43. <?page no="116"?> 104 Das Symbol [X] steht für die Sachverhaltkonfiguration, die einen der Kommunikatoren dahin bringt, das Vehiculum zu produzieren. [X] ist also dasjenige „Etwas“, das die Kommunikation startet und thematisch bestimmt. Es kann im Grunde alles Mögliche sein: „in den verschiedenen sozio-kulturellen Kontexten können jedoch ganz besondere (aus pragmatischer Sicht als institutionell auffaßbare) X-en, X-Klassen bzw. Situationen entstehen, die (auch) durch diese bestimmt sind“. 34 Unter Anwendung der X-Klassen und unter Berücksichtigung der „Bases“ kann durchaus eine Kommunikationssituation vorgestellt werden, in der z.B. der Prophet Ezechiel Kommunikate herstellt oder empfängt. Diese Konfiguration ist dementsprechend nur dem Produzenten Ezechiel zugänglich. Während des kommunikativen Prozesses werden die RezipientInnen nun ihrerseits versuchen, eine Sachverhaltskonfiguration zu entwickeln, die möglichst nahe an der Konfiguration sein wird, von der sie meinen, dass sie derjenigen des Produzenten entspricht oder eine Konfiguration, welche kompatibel ist zu der formalen Struktur, die die RezipientInnen dem wahrgenommenen Vehiculum zuordnen. Die Überlegungen von Petöfi nehmen dementsprechend ihren Ausgangspunkt in einer „wohlwollenden Kommunikationssituation“. (Biblische) Texte als Kommunikate werden von einem wohlwollenden Produzenten geschrieben mit der Absicht, verstanden zu werden. Die LeserInnen versuchen, „auf Grund der verbalen Konstitution des gehörten/ gelesenen verbalen Objektes die darin zum Ausdruck gebrachte Sachverhaltskonfiguration (das mentale Bild dieser Sachverhaltskonfiguration) sowie die zwischen dem Sprecher/ Textproduzent und dieser Sachverhaltskonfiguration bestehenden kommunikativen Zugänglichkeitsrelationen zu rekonstruieren“. 35 Als Letztes ist die zentrale Instanz des „Interpreter/ Mediator“ näher zu erläutern. Diese Instanz wird in einer kommunikativen Situation demjenigen zugeordnet, welcher eine zweite Manifestation des Vehiculums produziert. Der „Interpreter/ Mediator“ ist in der Konzeption Petöfis als das rezipierende Subjekt anzusehen, welches als RezipientIn in zweierlei Weise verstanden werden kann. Entweder im Rahmen einer „natürlichen“ Kommunikationssituation, in der die EmpfängerInnen zugleich die InterpretInnen sind, oder - wie es der Fall bei einem theoretischen Zugang zur Interpretation ist - als Zweit-RezipientInnen, mit der Aufgabe, die theoretischen Operationen zu explizieren, die aufgrund der Situation als Zweit- RezipientInnen vorgenommen werden müssen. Beispielsweise ist jemand, der einen griechischen Bibeltext ins Deutsche übersetzt, in der Situation eines Zweit-Rezipienten. Das Symbol R* bezieht sich auf diese zweite Möglichkeit. 34 Petöfi, Die semiotische Textologie, 89. 35 Petöfi, Weshalb Textologie? , 210. <?page no="117"?> 105 Das Modell von Petöfi nimmt eine hilfreiche Differenzierung zwischen der perzeptiven Evidenz und der theoretischen Kategorisierung vor. Während im Rahmen der perzeptiven Evidenz grundlegend festgehalten wird, dass das Vehiculum sich in einer gegebenen Kommunikationssituation manifestiert, wird durch die theoretische Kategorisierung deutlich gemacht, dass ein semiotisches Objekt konstruiert wird durch das Wissen (= Bases) des Produzenten oder des Rezipienten. Damit wird das Jakobsonsche Element der „Botschaft“ eines Textes überarbeitet und ist nach dem Modell von Petöfi in zweifacher Hinsicht zu entfalten: als manifestiertes Vehiculum und als (Text-)Zeichen, welches durch das Wissen der Kommunikatoren zu (re-)konstruieren ist. Weiterhin ist eine wichtige Erweiterung gegenüber dem Modell von Jakobson, dass zeitliche und örtliche Unterschiede zwischen der Produktion und der Rezeption berücksichtigt werden. Diese zeitliche und räumliche Distanz gehört zu den Grundvoraussetzungen, mit der Interpretationen von biblischen Texten verbunden sind. Gegenüber vielen gängigen Kommunikationsmodellen ist das Modell von Petöfi in der Lage, den zeitlichen Hiatus zwischen der Produktion und der Rezeption eines Kommunikates zu berücksichtigen, die bei dem Umgang mit biblischen Texten zu veranschlagen ist: In der Antike produzierte Texte, die in der Gegenwart rezipiert werden. Aber auch in einer weiteren Hinsicht ist das Modell von Petöfi für die neutestamentliche Exegese hilfreich: Indem festgehalten wird, dass für den Bedeutungsaufbau Vehicula notwendig sind, die u.U. nicht „Original“- Vehicula sind, sondern Zweit-Vehicula, kann ein wichtiger Aspekt neutestamentlicher Textkritik berücksichtigt werden. Da die neutestamentlichen Texte nicht in Originalen erhalten sind, sondern in Abschriften existieren, bedeutet dies für die InterpretInnen, dass auf sekundäre Vehicula zurückgegriffen werden muss. Die Herausgabe des Nestle-Aland kann als Versuch gesehen werden, diese Vehicula nicht nur zu präsentieren, sondern ebenso bei der Präsentation als Mediator zu fungieren. Dabei reorganisiert Nestle-Aland die Daten der vorhandenen Manuskripte dergestalt, dass in den im Apparat gebotenen Lesarten „Manifestationen des gleichen Textes“ geboten werden. 2. Das Zeichenmodell Nachdem der grundlegende Rahmen jeder Text-LeserIn-Relation im Zusammenhang mit Petöfis Kommunikationsmodell geklärt worden ist, kann in diesem Abschnitt das für die semiotische Textologie grundlegende Zeichenmodell dargestellt werden, welches ebenfalls eine wesentliche Erweiterung vieler gängiger Zeichenmodelle darstellt. Dieses Zeichenmodell fungiert in der Theorie von Petöfi als Ausgangsbasis für seinen Textbegriff. <?page no="118"?> 106 Denn Texte werden von ihm als Zeichen aufgefasst: „In order that the basic questions of text constitution can be treated adequately, it is first of all necessary to discuss the most important aspects of signification, sign and interpretation“. 36 In einer der meist rezipierten Versionen 37 eines Zeichens - häufig „semiotisches Dreieck“ genannt - wird das Zeichen als eine irreduzible Beziehung zwischen drei Konstituenten dargestellt: Conceptus Meaning (Concept) Word Form Referent Vox Res Bei diesem Modell gibt es nur eine direkte Beziehung bei den zwei jeweiligen Dyaden. So sind nur die Relation zwischen Form und Meaning (Concept) sowie die zwischen Meaning (Concept) und Referent real. Eine direkte Verbindung zwischen der Form und dem Referent wird bestritten, mit dem Hinweis, dass diese Beziehung erst mittels Bezugnahme durch das erkennende Subjekt oder einen Erkenntnisakt hergestellt werden muss. Diese Zeichenkonstruktion birgt in sich eine folgenreiche Reduktion, denn es sieht vor, dass ein Referent, z.B ein konkreter Tisch, ein für alle Ewigkeit mit sich selbst identischer Gegenstand ist. Die gleiche Beobachtung lässt sich auch für die andere Seite dieses Dreiecks, für die Form als materielles „Konkretum“ machen, welche ebenfalls als eine „starre“, gleich bleibende Form verstanden wird. Aber dieses „Konkretum“ - eben ein (sprachliches) Zeichen bzw. ein Zeichenzusammenhang - ist, wenn es ausgesprochen wird, nicht mehr das, was es noch vor kurzem, zum Zeitpunkt des Aussprechens, gewesen ist. Zugleich werden in diesem Modell mentale Entitäten ausgeklammert bzw. nur sinnlich wahrnehmbare Gegenstände erfasst. Petöfi setzt demgegenüber ein Zeichenmodell, dass über die Engführungen des obigen Modells hinauszugehen vermag. Während bei dem oben dargestellten Modell die Beziehung zwischen den einzelnen Konsti- 36 Petöfi/ Sözer, Static and Dynamic Aspects, 441. 37 Vgl. dazu Eco, Einführung, 69ff; Lyons, Semantik Bd. I, 96ff. Dieses Modell geht zurück auf Odgen und Richards und ihr 1923 entwickeltes Dreiecksmodell. <?page no="119"?> 107 tuenten vorgestellt wird als eine systemische Signifikation, die unabhängig von gegebenen „Kontexten“ funktioniert, führt Petöfi den „Interpreter“ bzw. „Interpreten” ein, der immer schon vorausgesetzt wird, denn „it is also obvious [...] that there is always a fifth element involved too, namely the user/ interpreter of the word, since this concept is to be understood as ‚concept associated with the form of the word in the minds of the speakers of the language’“. 38 Nur so ist erklärbar, wie einzelne Objekte überhaupt als einzelne Objekte in Betracht genommen werden und als Zeichen interpretiert werden. Deshalb erweitert Petöfi das semiotische Dreieck zu einer semiotischen Pyramide, bei der ein Significans, ein Significatum und ein Zeichen (Signum) als komplexe Objekte verstanden werden, die vom Interpreten abhängig sind. Ein Zeichen setzt also in diesem Modell immer einen Interpreten voraus. Während bei dem Modell von de Saussure Significans und Significatum ein Paar bildeten, wird in dem Zeichenkonzept von Petöfi festgehalten, dass das Vehiculum nur seine Rolle als Significans übernehmen kann mit dem Wissen (Formatio), welches von ihm durch die InterpretInnen besteht. D.h., dass auch die Form eines Zeichens nicht statisch ist, sondern abhängig vom Wissen der InterpretInnen. Ebenso ist die Bedeutung nur darstellbar (= Significatum), wenn sowohl der Referent, in Petöfis semiotischer Triangel das Relatum, als auch das Concept, in der semiotischen Triangel der Sensus, berücksichtigt werden. Anders gesprochen setzt die Significans-Significatum-Relation sich aus vier Elementen zusammen: Das Vehiculum und die Formatio auf Seiten des Significans, das Relatum und der Sensus auf Seiten des Significatum. Das Zeichen, das in der Terminologie von Petöfi als Signum bezeichnet wird - um Verwechslungen mit obiger Zeichenkonzeption zu vermeiden -, setzt sich also unter der Voraussetzung eines Interpreten aus einem Significans- und einem Significatum-Teil zusammen als unablässliche Konstituenten eines Zeichens. InterpretInnen müssen einerseits in der Lage sein, die Entität, die als Relatum gesehen wird, zu unterscheiden von der, die als Vehiculum fungiert. Andererseits muss ein bestimmtes Wissen über diese Relatum-Entität (Sensus) und über die Vehiculum-Entität (Formatio) vorhanden sein. Gegeben und intersubjektiv feststellbar ist also im Grunde genommen nur das Vehiculum als physikalisches Objekt in dieser Zeichenkonzeption. Alle übrigen Faktoren sind Eigenschaften, die dem Vehiculum zugeschrieben werden im Akt der Bedeutungskonstitution. Allein schon die Tatsache, welches Objekt als Vehiculum (in einer gegebenen Kommunikationssituation) angesehen wird, ist ein Resultat von Interpretation. Da es ebenso von dem aktivierten Vorwissen oder den Hypothesen der InterpretInnen abhängt, welcher formale Aufbau (Formatio) diesem Vehiculum zugeordnet wird, kann gesagt werden, dass auch schon die Herstellung des Significans 38 Petöfi/ Sözer, Static and Dynamic Aspects, 442. <?page no="120"?> 108 „im engsten Sinne des Wortes ein pragmatischer Vorgang“ 39 ist. Auch die Herstellung des Significatums und der Prozess der Signifikation kann in analoger Weise interpretiert werden, nur spricht Petöfi hierbei von einem „semantiko-pragmatischen Vorgang“. 40 Hier zeigt deutlich, dass Petöfi eine Bedeutungstheorie vertritt, die von einer dynamischen Konzeption ausgeht. Bedeutung ist keine statische Vor-Gegebenheit, sondern besitzt einen prozeduralen dynamischen Charakter, der sich in seiner Theorie grundlegend in der Zeichenkonzeption zeigt. Die Besonderheit der Bedeutungstheorie von Petöfi besteht vor allem darin, dass er schon auf der Ebene des Vehiculums, also auf der Ebene des perzipierten Objektes, diese dynamische Bedeutungskonzeption veranschlagt. So ist beispielsweise die Wahl einer bestimmten deutschsprachigen Bibelübersetzung nach der Theorie von Petöfi schon ein grundlegender Beitrag zur Konstitution der Bedeutung. Wie dann der jeweilige formale Aufbau - beispielsweise einer bestimmten Perikope - rezipiert wird, ist ein weiterer Schritt des dynamischen Bedeutungsaufbaus. Wie oben schon betont, ist auch die „Form“ nicht eindeutig: Die „Form“ eines Zeichens bezieht sich einerseits - unter Berücksichtigung von Petöfis Kommunikationsmodell - auf das perzipierte Zeichenvehiculum, andererseits auf das Wissen der InterpretInnen, welches relativ zum Vehiculum ist. Wir haben es also mit mehr Zeichenkonstituenten in diesem Modell zu tun: Mit dem Vehiculum, dem Wissen, welches relativ zum Vehiculum ist, dem Objekt eines Zeichens und dem Wissen, welches sich auf das Objekt bezieht. Bezüglich der Entitäten der Vehicula und Relata hält Petöfi eine Unterscheidung ihrer Manifestationen und ihrer im Interpreten entstehenden mentalen Bilder für notwendig. Bezüglich des Sensus muss nach Ansicht von Petöfi unterschieden werden zwischen der Dictum-Komponente, dem was unmittelbar durch das Zeichen ausgedrückt wird - wie z.B. der Wortlaut des Textes -, und der zeicheninternen Relatum-Komponente, dem Bezug auf den angenommenen Weltausschnitt, der sich im Dictum manifestiert. Dieses ist die von den InterpretInnen vermutete „zeicheninterne Welt“. Als letzte Zeichenkonstituente ist das Relatum (externum) oder mit einem anderen Terminus, das Interpretament, zu erwähnen. Es ist jene Sachverhaltskonfiguration, die die InterpretInnen mithilfe eines Modells einem Zeichen in einem gegebenen Interpretationskontext zuordnen können. Dieses Relatum (externum) ist in den meisten Fällen ein mentales Objekt. Es kann aber auch physisch sich manifestieren, wie beispielsweise im Rahmen einer Seminararbeit. Durch das Zeichenmodell von Petöfi dürfte deutlich geworden sein, dass hier ein hoch differenziertes Konzept vorliegt, um die bedeutungsbestimmenden Faktoren eines Textzeichens explizit darlegen zu können. 39 Petöfi, Die semiotische Textologie, 96. 40 Petöfi, Die semiotische Textologie, 96. <?page no="121"?> 109 Besonders durch die Ausdifferenzierungen auf der Signifikans-Seite sehen wir eine für die materialen Aspekte von Textzeichen bereicherndes Modell, welches erlaubt, die bedeutungsgenerierenden Faktoren hinsichtlich der materialen Aspekte von Textzeichen zu untersuchen. Die in dem Modell von Petöfi implizite Relativierung einer objektiven Annäherung an Texte ist vor dem Hintergrund seines Theoriemodells nicht als ein „anything goes“ zu verstehen, sondern ermöglicht ein dynamisches Bedeutungsverständnis bei größtmöglicher Explizitheit in der theoretischen Darlegung. Gegenüber dem Modell von Peirce hat die Rede vom „Interpreten“ in der Terminologie von Petöfi einen auf das interpretierende Subjekt orientierten Fokus, während der „Interpretant“ in der Terminologie von Peirce jenseits der Kategorie des Subjektes anzusetzen ist. Der Interpretant kann im weitesten Sinne verstanden werden als die Übersetzung eines Zeichens. Ein Zeichen fungiert nach diesem Modell von Petöfi dann als Zeichen, wenn es als solches betrachtet wird. Diese Festlegung erfolgt durch den Interpreten, dem damit eine fundamentale Rolle zukommt, nämlich das Zeichen als Zeichen wahrzunehmen. Ein Objekt - beispielsweise ein Text - ist in dem Moment ein Zeichen, wenn ein Interpret es als solches erkennt. Die InterpretInnen haben nicht nur die Aufgabe, eine gegebene physikalische Manifestation, eben das zu interpretierende Vehiculum, von seinem Kontext zu separieren, sondern sie weisen diesem Vehiculum ein mentales Bild zu (= Vehiculum imago). Diesem Vehiculum imago wird dann durch die InterpretInnen eine formale Organisation zugewiesen, die die materialen Aspekte von Textzeichen besonders herauszustellen vermag. 3. Der Textbegriff und das Textmodell 3.1. Der Textbegriff Nach diesen Ausführungen zu Petöfis Kommunikationsverständnis und seinem Zeichenverständnis, welches die Größe Text impliziert, soll im Anschluss daran sein Textbegriff erläutert werden. Das Ziel seiner semiotischen Textologie ist die Erfassung und Beschreibung aller Aspekte eines Textes als komplexes Zeichen: „We call the theoretical framework we have created as ‚semiotic text-theoretical framework’, whereby we want to express that (i) we want to treat all aspects of verbal objects which are treated in the literature under the headings of syntax, semantics, pragmatics (where these terms are understood in their most general sense), and (ii) we do not consider linguistics in itself to be an adequate theoretical framework for treating these aspects in an integrative way”. 41 In dem Werk „Encyclopedia of 41 Petöfi/ Olivi, Understanding Literary Texts, 190f. <?page no="122"?> 110 Language“ legt Petöfi in einem Artikel seine Text-definition vor: „i) Ein Text ist ein dominant verbales relationales semiotisches Objekt mit einer handgeschriebenen oder gedruckten physikalischen Manifestation; ii) die lexikalischen Elemente sind die dominanten bedeutungstragenden Elemente; auch wenn geschriebene physikalische Manifestationen die primären Objekte der Textverarbeitung sind, müssen auch potentielle akustische Manifestationen bedacht werden. iii) Texte sind Elemente der Sprachverwendung (parole, performance), nicht des Systems (langue, competence); iv.) es gibt einen Unterschied zwischen total autonomen und partiell autonomen Texten; v.) ein dominant verbales relationales semiotisches Objekt erfüllt die Kriterien der Textualität, falls die folgenden Erwartungen erfüllt werden: In einer gegebenen oder angenommenen Kommunikationssituation drückt dieses Objekt eine zusammenhängende (connected) und vollständige (complete) Sachverhaltskonfiguration aus und erfüllt eine gegebene oder angenommene kommunikative Funktion; es hat eine zusammenhängende und vollständige verbale Konstitution, wobei der Zusammenhang und die Vollständigkeit der Konstitution vom Typ des gegebenen Objektes abhängig sein kann“. 42 Diese kompakte Darstellung von Petöfis Textbegriff soll hinsichtlich der aufgelisteten Punkte kurz verdeutlicht werden, da diese Textdefinition von Petöfi eine grundlegende Erweiterung einseitiger gängiger linguistischer Textdefinitionen darstellt und zugleich ein für die Bibelwissenschaften adaptierfähiges Textverständnis bietet: Während es in i.) um die schriftliche Seite - im Rahmen der physikalischen Manifestation - des Textzeichens geht 43 und die als eine Art Begrenzung des Objektbereiches verstanden werden kann, 44 berücksichtigt ii) auch die akustische Manifestation. Dies 42 Petöfi, Language, 209. Übersetzung durch K.D. 43 Dass mit dieser rein materiellen Seite des Textes auch eine Veränderung des Textbegriffs verbunden sein kann, darauf hat Ivan Illich in seinem Buch „Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand“ (1991) hingewiesen. Illich zeichnet in diesem Buch plastisch die Herausbildung des modernen Textbegriffs in der Scholastik nach. Er zeigt, dass sich mit der revolutionären Änderung des Layouts auch der Textbegriff ändert. In Zeiten der scriptio continua wurden bis ins 7. Jahrhundert in der Regel Texte so geschrieben, wie man sie sprach oder laut vorlas - nämlich ohne Wortabstände oder Interpunktion. Dahinter stand - nach Illich - eine Äquivalenzvorstellung zwischen Rede und Schrift. Im Zeitalter der Scholastik aber wuchs das Bedürfnis nach Sichtbarmachung und Strukturierung der inneren Organisation der Texte. Die nun eingefügten Überschriften, Absätze und Markierungen hierarchisierten nicht nur den Text, sondern führten auch zu einer Emanzipation des Textes von „dem Buch“, d.h. von der Bibel: „Aus der Partitur für fromme Murmler wurde der optimistisch planmäßig gebaute Text für logisch Denkende. Nach dieser Umwandlung wurde die neue Form des buchgebundenen Lesens zur vorherrschenden Metapher für die höchste Form des sozialen Handelns“ (Illich, Weinberg, 8). 44 Mit dieser Begrenzung ist nicht gesagt, dass die Textforschung nur auf die Erforschung mono-medialer Texte beschränkt bleiben darf; um aber eine semiotische Tex- <?page no="123"?> 111 ist nicht nur im Rahmen von Wortspielen relevant, sondern darf als grundlegend angesehen werden unter der Voraussetzung, dass in der griechischrömischen Antike größtenteils laut gelesen wurde. 45 Für Punkt i.) und Punkt ii.) gilt, dass es sowohl akustische wie auch geschriebene Manifestationen von Textzeichen zu berücksichtigen sind, die Aspekte der Mündlichkeit (akustische Manifestationen) und Aspekte der Schriftlichkeit (geschriebene Manifestationen) bei der Bedeutungsinterpretation von Textzeichen gleichzeitig beachten. Deshalb deutet die Bezeichnung „dominant verbal“ an, dass die dominanten informationstragenden Elemente Lexeme bzw. Wörter sind, die auf der Ebene der Mündlichkeit, aber auch auf der Ebene der Schriftlichkeit zugänglich sein können. Zu iii.): Dass Texte nicht Elemente des Systems sind, scheint in neueren linguistischen Arbeiten allgemein akzeptiert zu sein. Texte werden in neuen linguistischen Arbeiten als dynamische Größen aufgefasst, die eine bestimmte kommunikative Funktion einnehmen. 46 Damit wird besonders ein strukturalistisches Textverständnis verabschiedet, bei dem der Systemcharakter des Textes einseitig erfasst wurde. Petöfi greift nicht auf Begriffe und Modelle zurück, die den Vorgang der Textrezeption und -produktion in gängiger Weise kommunikationstheoretisch 47 beschreiben. Produktions- und Rezeptionsvorgänge von Texten sind nicht durch Akte einer „gleich bleibenden Botschaft“ adäquat zu erfassen, sondern unterliegen einer dynamischen Konstitution der Bedeutung. Gerade an diesem Punkt zeigt sich die Kompatibilität der Theorie von Petöfi mit der in dieser Arbeit zugrunde gelegten kulturwissenschaftlichen Fundierung der neutestamentlichen Wissenschaft. ZeichenbenutzerInnen sind immer auf Kodes angewiesen, wenn sie Texte verstehen wollen. Texte sind somit immer eingebunden in Kommunikationssituationen im Rahmen von kulturellen Prozessen, die die Grundlage für Bedeutungsgenerierungen darstellen. Doch zugleich wird tologie handhabbar zu machen und nicht jedes multimediale semiotische Objekt als relevant einzustufen, ist diese Begrenzung sinnvoll. 45 Vgl. Achtemeier, Verbum, 3-27. 46 So orientieren sich Beaugrande/ Dressler, Einführung, 3, bei der Feststellung der Bedingungen für Textualität ebenfalls an der kommunikativen Funktion von Texten: „Wir definieren Text als eine kommunikative Okkurenz [...], die sieben Kriterien der Textualität erfüllt. Wenn irgendeines dieser Kriterien als nicht erfüllt betrachtet wird, so gilt der Text als nicht kommunikativ. Daher werden nicht-kommunikative Texte als Nicht-Texte behandelt [...].“ 47 Gängige Kommunikationsmodelle begreifen Kommunikation - wie wir in dem Abschnitt zum Kommunikationsmodell von Petöfi gesehen haben - als einen Vorgang, in dem eine „Information“ (ein Inhalt, eine Bedeutung), welche von einem Kommunikator (auch „Sender“ genannt) übermittelt werden soll. Dieser übersetzt dafür die „Information“ in einen „Code“, d.h. eine sprachliche Formulierung. Diese „Information“, verpackt durch ein „Signal“, wird durch einen „Kanal“ (z.B. ein Schrifttext) zum „Empfänger“ gesandt, um von diesem aus dem „Code“ rückübersetzt zu werden in die „Information“ (den Inhalt/ die Bedeutung). <?page no="124"?> 112 mit dieser Bestimmung einem Textverständnis Einhalt geboten, wie es maßgeblich von Julia Kristeva formuliert worden ist. Sie führt „Text als ‚Gesellschaft’ oder ‚historio-kulturelles’ Paradigma [ein], der sich weder als Aktualisierung des verbalen Zeichensystems noch als verbales Zeichensystem selbst definiert, sondern als ‚transsemiotisches Universum’ bzw. als Konglomerat aller Sinnsysteme und kulturellen Codes gedacht wird [...]“. 48 So unaufgebbar diese textextrinsische Perspektive von Kristeva ist, so wenig ist ihre Gleichsetzung von Kultur = Text zu teilen. Die, wie Tegtmeier festhält, „Textualität und Kultur koextensiv“ 49 jedoch nicht mehr ihre Unterscheidbarkeit explizit werden lässt: Wenn eine Kultur gleichzusetzen ist mit ihren Manifestationen, macht es keinen Sinn mehr, sie überhaupt beobachten zu wollen und mehr noch: Es ist nicht mehr möglich, die Objekte - also die Manifestationen der Kultur - zu unterscheiden. Demgegenüber hält das Textverständnis von Petöfi fest, dass Texte Elemente der Parole sind. So wahrt dieses Textverständnis die Unterscheidbarkeit von Text und Kultur, denn als Element der Parole hat ein Text eine bestimmte Funktion in einer Kultur, die es zu erfassen gilt. Auch dieser Punkt ist von grundlegender Relevanz für die Bedeutungsbestimmung von neutestamentlichen Texten: Denn unter den kulturellen Voraussetzungen der griechischrömischen Antike kann nur dann ein adäquates Textverständnis erreicht werden, wenn berücksichtigt wird, dass in dieser Kultur, die dem gesprochenen Wort einen derart hohen Stellenwert beimaß, das geschriebene Wort nur dann als Text bedeutungsbestimmend angesehen werden kann, wenn sein Zweck darin liegt, die Aspekte der Oralität fortzusetzen. 50 Zugleich wird in Punkt iii. festgestellt, dass die verbalen Kommunikate bzw. die verbalen Komponenten dominant verbaler Kommunikate aus den Elementen einer einzigen natürlichen Sprache aufgebaut sein müssen. Für Texte gilt demnach, dass sie auf intersubjektive Zugänge hin angelegt sein müssen. Hier wäre die Erstellung einer Zungenrede als Kommunikat deutlich zu unterscheiden von einer textuellen Manifestation. In diesem Sinne betont Paulus in 1Kor 14,19: „Doch vor der Gemeinde will ich lieber fünf Worte mit dem Verstand reden, um auch andere zu unterweisen, als unzählige Worte in Zungen“. Zu iv.): Dieser Punkt hat für die Exegese biblischer Schriften einen großen Stellenwert. So kann einerseits das Gleichniskapitel in Mk 4 als autonomer Text, andererseits als eingebunden in das Markusevangelium behandelt werden. Ebenso kann das Markusevangelium als autonomer Text behandelt werden oder es kann als partiell autonomer Text fungieren, wenn es im Zusammenhang mit dem neutestament- 48 Holthuis, Intertextualität., 14. 49 Tegtmeier, Intertextualität, 50. 50 Vgl. Svenbro, Stilles Lesen, 56ff. <?page no="125"?> 113 lichen Kanon gesehen wird. 51 Für die Prozesse der Konstitution der Bedeutung wird diese Unterscheidung zu unterschiedlichen Bedeutungsgenerierungen führen. Ebenso zeigt sich, dass es immer notwendig ist, sich im Rahmen einer Bedeutungsinterpretation darüber Aufschluss zu geben, wie der Text behandelt wird - autonom oder partiell autonom. Ein Unterscheidungskriterium, das in dem historisch-kritischen Methodenrepertoire aufgrund des fehlenden Textverständnisses keine explizite Berücksichtigung findet, obwohl alle Teilmethodenschritte von dieser Frage tangiert werden. So wird einerseits von der Autonomie des Textabschnitts ausgegangen, die in den formgeschichtlichen Methoden grundlegend ist, andererseits wird - besonders in den quellenkritischen sowie redaktionsgeschichtlichen Ansätzen - von der partiellen Autonomie ausgegangen; allerdings werden innerhalb dieser methodischen Zugänge die unterschiedlichen Autonomiekonzepte nicht reflektiert. Vor diesem Hintergrund können die Arbeiten von Thomas Hieke zur „biblischen Auslegung“ gelesen werden als eine die bedeutungskonstituierenden Faktoren von unterschiedlichen Autonomiekonzepten von biblischen Texten berücksichtigende Auslegungsmethode. 52 Unter Punkt v.) hält Petöfi fest, dass die Eigenschaft „ein Text zu sein“ keine dem verbalen Objekt inhärente Eigenschaft ist, sondern eine, die von den jeweiligen InterpretInnen und der gesamten Kommunikationssituation abhängig ist. „Die Zuordnung der Eigenschaft ‚Text’ zu einem gegebenen Ausdruck kann (von Seiten des Rezipienten) [...] dann erfolgen, wenn der Rezipient diejenigen Indizien, die in konventionellem Sinne Indizien eines Textes sind, als gegeben annimmt“. 53 Ein verbales Objekt ist erst dann ein Text, wenn die Überzeugung vorhanden ist, dass dieses verbale Objekt eine zusammenhängende und vollständige Ganzheit ist und einer gegebe- 51 Vgl. Aichele, Control, 24, der ohne Kenntnis der Arbeiten Petöfis auf eben diesen Sachverhalt hinweist: „However, the canon does have very powerful effects on how its component texts are read. We would read the gospel of Mark differently if it had never been included in the New Testament, and we would read the gospel of Thomas differently if it had been included! In effect the New Testament canon ‘quotes’ the entire story of Mark, making it part of a much larger story, and thus it reduces or even eliminates the referential ambiguity that characterizes the text”. 52 Vgl. Hieke, Horizonte, 65f.: Das Ziel der biblischen Auslegung sei es, biblische Texte in ihren jeweiligen Kontext zu verstehen. Unter „Text“ versteht Hieke „eine aus ihrer primären unmittelbaren Sprechsituation herausgelöste Sprechhandlung“, „die für eine zweite Sprechhandlung gespeichert wird“. „Texte haben eine sprechsituationsüberdauernde Stabilität. Das heißt aber zugleich, dass Texte durch den Vorgang der Speicherung (Verschriftung) von ihrer Entstehungssituation losgelöst und damit gegenüber ihrem Verfasser unabhängig werden. Die Sinnkonstituierung erfolgt stets neu in der ‚zweiten Sprechsituation’, d.h. im Lektürevorgang, bei dem der Autor nicht anwesend ist und der Leser mit seinem jeweiligen Vorwissen zusammen mit dem Text als fester Zeichenfolge und dem jeweiligen literarischen Kontext, in dem der Text überliefert ist, ein Verständnis des Textes aufbaut“. 53 Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer, Text, Konnexität, 6. <?page no="126"?> 114 nen, einer wirklichen, aber auch einer angenommenen Kommunikationssituation entspricht. Reformuliert aus der Sicht seines Zeichenmodells: Ein Text ist ein komplexes Zeichen, das einer gegebenen Textualitätserwartung entspricht. Damit betrachtet die semiotische Textologie „die Zeichenkomplexe als Resultate von Interaktionen zwischen gegebenen Vehicula und deren jeweiligen Empfängern/ Interpreten, wobei in der Interaktion auch das zum Resultat der Interpretation gehört, wer in welcher Kommunikationssituation welches Objekt als das Vehikulum eines angenommenen Zeichenkomplexes akzeptiert“. 54 Die Bestimmung der Textualität ist also keine dem Text inhärente Eigenschaft, sondern wird dem Text erst durch eine produzierende oder rezipierende Instanz zugesprochen. Das bedeutet jedoch auch, dass ein gegebener Ausdruck nicht gelesen bzw. verstanden werden muss, um ihm Textualität zuzusprechen. Ebenfalls ist im Hinblick auf die gegenwärtige linguistische Diskussion zur Bestimmung der Größe Text 55 mit dem Modell von Petöfi zu antworten, dass die Zuordnung der Eigenschaft „Text“ keineswegs von der Größenordnung dieses Ausdrucks abhängt. Dies impliziert jedoch nicht, dass die Zuschreibung und Bestimmung von Textualität der totalen Subjektivität anheim fällt, sondern sie ist soziokulturell vermittelt. Dies können auch rein formale Bedingungen sein. Zugleich beinhaltet die Definition, dass von einem Interpreten aufgrund seines relevanten Wissens einem verbalen Objekt die Eigenschaft „Textualität“ zugeschrieben werden kann, während andere InterpretInnen aufgrund ihres relevanten Wissens demselben Objekt keine Textualität zuschreiben. Außerdem schließt die Definition mit ein, dass derselbe Interpret zu zwei verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich über die Textualität urteilen kann. Grundsätzlich wird damit der „Text” zu einer von den InterpretInnen zu definierenden Zeichenmenge, die allerdings erst dann sinnvoll zugeschrieben werden kann, wenn mindestens zwei Interpreten in einer gegebenen Kommunikationssituation einem gegebenen Objekt Textualität zusprechen. 56 Im Rahmen der semiotischen Textologie kommt also den teilnehmenden Kommunikatoren (in den tatsächlichen oder in den angenommenen Kommunikationssituationen) bei der Entscheidung über Textualität eine wichtige (wenn auch nicht ausschließliche) Rolle zu. Welches verbale Objekt in welchem Kontext von InterpretInnen (bzw. in der obigen Titulierung KommunikatorInnen) als Text betrachtet wird, hängt von ihren Erwartungen im Hinblick auf den Kontext sowie 54 Petöfi, Semiotische Textologie, 65. 55 Linke/ Nussbaumer/ Portmann, Studienbuch Linguistik, 212, hält lapidar fest: „Eine abschließende linguistische Definition der Größe ‚Text’ gibt es (bis jetzt noch) nicht; wie auch bei der Einheit ‚Satz’ hängt die Definition weitgehend vom jeweiligen Untersuchungsinteresse und dem gewählten theoretischen Zugang ab“. 56 Vgl. Petöfi, Representation Languages, 74. <?page no="127"?> 115 von ihren Hypothesen bezüglich der im gegebenen Kontext geführten Kommunikation ab. Dies schließt natürlich keineswegs aus, dass es viele verbale Objekte gibt, über deren Textualität innerhalb einer gegebenen Kommunikationsgemeinschaft Einigkeit herrscht. Ebenso sind die Erwartungen im Allgemeinen darauf gerichtet, dass auf der Seite der Textproduktion ein Bemühen vorhanden ist, in einer gegebenen Kommunikationssituation ein der kommunikativen Intention genügendes, als vollständige Einheit auffassbares verbales Objekt zu produzieren. Demgegenüber richten sich die Hypothesen darauf, ob die Erwartungen im Falle des zu interpretierenden verbalen Objektes erfüllt wurden oder nicht. Textualität wird in Petöfis Ausführungen zu einer kontextsensitiven Eigenschaft, bei der ein verbales Objekt in verschiedenen Kommunikationssituationen in unterschiedlichem Maße als texthaft aufgefasst werden kann. Diese Texthaftigkeitsbedingungen erlauben daher keine eindeutige Separierung von Texten und Nicht-Texten, vielmehr wird bei Petöfi, wie auch bei van Dijk, der Begriff kategorialer Grammatikalität durch den pragmatischen Begriff graduierbarer Texthaftigkeit 57 ersetzt. So greift das Textverständnis von Petöfi einerseits das in der Exegese vorherrschende philologische Textverständnis 58 auf, andererseits führt es zugleich in grundlegender Weise über das philologische Textverständnis hinaus, nach dem eine sprachliche Äußerung in dem Moment zum Text wird, wo sie Objekt philologischer Arbeit wird: Nämlich im Rahmen der Textkritik, der Edition, der Übersetzung, der Kommentierung. Im Primärhorizont sprachlicher Kommunikation hat der Text zunächst einmal keinerlei natürliche Evidenz. Von Texten spricht man erst im Sekundärhorizont einer philologischen Auslegungskultur. Der Begriff „Text“ kommt nur demjenigen Schriftwerk zu, das im Überlieferungsprozess zum Gegenstand textpflegerischer Behandlung geworden ist. Aus der philologischen Texttradition greift das Textverständnis von Petöfi den Gedanken auf, dass nicht jedes gegebene dominant verbale Objekt ein Text ist, sondern nur dasjenige, das in einer Kommunikationssituation als solches bestimmt wird. Aber er koppelt den Textbegriff gerade an die Kommunikation. Während die Philologie mit ihrem Textverständnis dazu tendiert, „Wächter der Überlieferung“ 59 zu sein und durch ihre gezielte Textpflege auch als „Informationsfilter“ 60 zu fungieren, wirbt 57 Eine ganz ähnliche Sichtweise findet sich bei Beaugrande, Text, Discourse, and Process, 12: „But the distinction between a ‚text’ and ‚non-text’ is not decided by any such mechanical checking. Texts are acceptable or non-acceptable according to a complex gradiation, not a binary opposition, and contextual motivations are always relevant”. 58 Zu nennen ist hier Hengels SNTS-Präsidentenrede aus dem Jahr 1993: Hengel, Aufgaben, 321-357. Hengel plädiert für eine philologische Erneuerung der neutestamentlichen Wissenschaft vor dem Hintergrund des apokalyptischen Bildes von einem „weltweiten Zerfall der philologischen Bildung“ (339). 59 Assmann/ Assmann, Kanon, 11. 60 Posner, Kultur, 55. <?page no="128"?> 116 die offene Bestimmung der Kommunikationssituation dafür, Kultur als kollektives Gedächtnis nicht nur im Sinne eines Selektionsapparates zu verstehen, sondern dominant verbale Objekte auch dann als Texte anzusehen, wenn diese gerade den Institutionen entgegenstehen; oder anders gesagt: Da Textualität keine den verbalen Objekten inhärente Eigenschaft ist, ist der materiale Aspekt der Kultur, zu dem die Texte zählen, ein offener Raum. Mit diesem Textverständnis kann „Textualität“ keineswegs nur eine rein literarisch-ästhetische Funktion (wie besonders im „Narrative Criticism“ hervorgehoben) sein, sondern, wenn Textualität als ein Phänomen der Textverarbeitung zu verstehen ist, hat sich eine Textologie auch für die Organisationsformen und Institutionen zu interessieren, die kulturell die jeweilige Rezeption determinieren. Deshalb verlangt die Fähigkeit, ein solch natürlich-sprachliches Objekt als ein textuelles Objekt analysieren zu können, eine explizite Texttheorie, „die sowohl die ko-textuellen 61 wie auch die kon-textuellen 62 Relationen in einem einheitlichen Rahmen zu thematisieren vermag“. 63 Die Eigenschaften „textuelles Objekt“, „ko-textuelles Objekt“ und „kon-textuelles Objekt“ sind keine den Ausdrücken inhärenten Eigenschaften, sondern solche, die von den RezipientInnen zugeordnet werden. Ebenso wie die Zuordnung der Eigenschaft „Text“ handelt es sich um zugeschriebene Eigenschaften. Doch auch hinsichtlich eines weiteren Punktes scheint die „Textdefinition“ von Petöfi hilfreich zu sein. Denn das Wort Text - von dem lateinischen Wort textus abstammend -, scheint in anderen antiken Sprachen wie Griechisch, Hebräisch und Ägyptisch kein Äquivalent zu haben. Durch den Textbegriff von Petöfi können auch Texte aus Kulturen, die keinen Begriff für Text haben, klar als Texte bestimmt werden, bei gleichzeitiger Wahrung der kulturellen Differenz. 61 Dieser Begriff wird bei Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer, Text, Konnexität, 5, folgendermaßen bestimmt: „Wenn wir einen Ausdruck als ein ko-textuelles Objekt betrachten, bedeutet dies, daß wir uns bei der Analyse ausschließlich auf diejenigen Relationen der konstituierenden Elemente konzentrieren, die mit Hilfe einer explizit dargestellten Grammatik analysiert und beschrieben werden können“. Unter Grammatik versteht Petöfi dabei ein Instrumentarium, das aus verschiedenen Komponenten besteht (einer phonologischen, einer morpho-phonologischen, einer syntaktischen, einer prosodischen Komponente sowie einem Lexikon). 62 Unter „kon-textuell“ versteht Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer, Text, Konnexität, 5: „Wenn wir einen Ausdruck als kon-textuelles Objekt betrachten, bedeutet dies, daß wir bei seiner Analyse […] unser Augenmerk einerseits auf die Relationen zwischen seinen Elementen und deren möglichen Kontexten richten, andererseits auf die Relationen zwischen den in die möglichen Kontexte eingebetteten Elemente.“ Eine kontextuelle Analyse unterscheidet sich von einer textuellen darin, dass bei erstgenannter nicht ein in irgendeiner kommunikativen Situation irgendeine kommunikative Funktion erfüllendes Ganzes angenommen wird. 63 Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer, Text, Konnexität, 5f. <?page no="129"?> 117 Für die Konstitution der Bedeutung sind die unter Punkt v.) eingeführten Ausdrücke der Vollständigkeit und des Zusammenhangs wichtig, denn sie weisen auf die Sachverhaltskonfiguration hin, die in dem zu interpretierenden Objekt zum Ausdruck kommt. Somit bezieht die Bedeutungsinterpretation in dem Modell von Petöfi ausdrücklich die Bestimmung des Wesens der Sachverhaltskonfiguration als eine vollständige und zusammenhängende Einheit ein. Mit diesem Ansatz unterscheidet sich Petöfi grundlegend von den meisten textlinguistischen Entwürfen, die in der Bestimmung dieser Sachverhaltskonfiguration keine Aufgabe einer Textlinguistik mehr sehen. Sie richten ihr Augenmerk bei der Erfassung der Bedeutung im Wesentlichen auf die textimmanente Seite - oder wie Petöfi sagen würde: auf die Textur. 64 Aber im Zusammenhang einer Textur kann nicht über Sachverhaltskonfigurationen geredet werden, diese sind aber notwendig zur Bestimmung der Bedeutung eines Textes. Ein Text ist somit als ein komplexes Zeichen zu behandeln, das mindestens drei Dimensionen umfasst: Das Zeichen selbst bzw. der Zeichenkörper, der sich einerseits durch eine bestimmte physische Erscheinungsform 65 und andererseits durch seine sprachliche 66 Beschaffenheit darstellt. Das Objekt bzw. der Sachverhalt in der außersprachlichen Welt, worauf das Zeichen verweist. Die Bedeutung, die dem Zeichen durch einen Interpreten im Rahmen eines bestimmten Modells zugesprochen wird. D.h.: es ist nicht möglich, von Bedeutung zu sprechen, ohne eine materiale Manifestation vorliegen zu haben. Genauso wenig kann von Bedeutung gesprochen werden ohne die Darlegung des für die Bedeutung konstitutiven Modells zur Generierung von Bedeutung. In dem vorgestellten Textbegriff von Petöfi werden also die Rahmenbedingungen einer Textdefinition festgesetzt, die den Textbegriff operabel machen und die Voraussetzung für sein Textmodell bilden. 3.2. Das Textmodell Petöfi geht davon aus, dass Zeichen - und somit auch ein Text als komplexes Zeichen - immer einen Interpreten voraussetzt, der einerseits Entitäten 64 Zum Begriff der Textur vgl. Petöfi, Weshalb Textologie? , 216: „Der Terminus ‚Textur’ soll den Aspekt der Textkonstitution bezeichnen, der sich darin offenbart, daß sich im Text bestimmte Elemente (Wörter, Merkmale, Kategoriezugehörigkeit, etc.) wiederholen.“ 65 Zur physischen Erscheinungsform zählt Petöfi paralinguistische, kalligrammatische, technische, graphisch-diagrammatische und graphisch-ikonische Momente. 66 Zur sprachlichen Beschaffenheit rechnet Petöfi graphematische, phonische, lexikalische, syntaktische visuelle (Abschnitte und Absätze) sowie prosodische Aspekte. <?page no="130"?> 118 zu unterscheiden in der Lage ist und andererseits ein bestimmtes Wissen über diese besitzt. Als Entitäten werden bei Petöfi zunächst Vehiculum und Relatum unterschieden. Dabei ist das Vehiculum das Mittel, wodurch etwas ausgedrückt wird. Es ist der physikalische Träger des Textzeichens. Zugleich ist es der einzige Faktor im Rahmen seines Interpretationsmodells, der gegeben und intersubjektiv feststellbar ist. Alle übrigen Faktoren sind Eigenschaften, die dem Vehiculum vom Interpreten zugeschrieben werden. Mit Relatum bezeichnet Petöfi in der außersprachlichen Welt oder Realität existierende Objekte und/ oder Sachverhalte, auf die das Vehiculum zielt, die es mit Hilfe von (sprachlichen und nichtsprachlichen) Zeichen ausdrücken soll. Das bestimmte Wissen über das Vehiculum und das Relatum wird als Formatio und Sensus bezeichnet, auf das wir noch weiter unten zu sprechen kommen werden. Grundsätzlich zu unterscheiden sind von den so eben beschriebenen Entitäten Vehiculum und Relatum deren Abbilder, die im Bewusstsein der Kommunikanden anzusetzen sind. Diese werden Vehiculum imago bzw. Relatum imago genannt. Unter dem Vehiculum imago ist das mentale Bild von einem perzipierten Textvehiculum gemeint, das bei einer Interpretation anderen als den InterpretInnen durch eine Repräsentation zugänglich gemacht werden muss. Es ist dasjenige „Etwas“, das wir beispielsweise beim Lesen des Markusevangeliums als visuelles Bild in unserer Erinnerung behalten. „Die Bedeutung des Vehiculum-Imago ist deshalb so groß, weil in vielen Fällen nur das Imago-Vehiculum uns zur Verfügung steht, und in allen Fällen ist es das Vehiculum-Imago, das das Objekt unserer Interpretation darstellt“. 67 Mit dieser Unterscheidung differenziert Petöfi die Manifestationen der Entitäten („Vehicula“ und „Relata“) von ihren im Interpreten entstehenden mentalen Bildern. Unter Formatio wird der formale Aufbau eines Textzeichens verstanden, der dem Vehiculum zugeordnet werden kann. Nehmen wir folgendes Vehiculum als Beispiel: „Und sie gingen hinaus und flohen vom Grab, denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemanden etwas, denn sie fürchteten sich“ (Mk 16,8). Die Formatio dieses Vehiculums besteht aus zwei Textsätzen. Die syntaktische Struktur der einzelnen Textzeichen kann beispielsweise durch eine Satzgrammatik wiedergegeben werden. Dabei hängt die kategoriale Beschreibung dieser syntagmatischen Strukturen immer von der verwendeten Satzgrammatik ab. Deshalb ist es sinnvoll, bei der Formatio des Vehiculums bzw. des Vehiculums imago die physikalisch-semiotisches Gestalt (= Figura) von seiner sprachlichsemiotische bzw. seine notationelle Gestalt (= Notatio) zu unterscheiden. Die physikalisch-semiotische Gestalt von einem Vehiculum bzw. von seinem mentalen Bild ist nichts anderes als die gegebene kursiv gedruckte Wortkette, während der sprachlich-semiotische Aspekt darin besteht, dass 67 Petöfi, Die semiotische Textologie, 66. <?page no="131"?> 119 diese Wortkette eines beliebigen Satzes beispielsweise in deutschen Wörtern gebildet ist. Die Formatio bezeichnet also die Gestaltung bzw. die Beschaffenheit des Vehiculums und umfasst zwei Dimensionen: a.) die Notatio, die sprachliche Beschaffenheit des Textes, sowie b.) die Figura, die physikalische Beschaffenheit des Textes. Grundsätzlich geht es also bei der Formatio um das Wissen der formalen Organisation des mentalen Bildes des Vehiculums bzw. des Vehiculums imago. Die Notatio, also die sprachliche Beschaffenheit eines Textes, beinhaltet folgende sechs Dimensionen: graphematische, phonematische, lexikalische, syntaktische, visuelle (die optische Organisation des Textes) sowie die prosodische. Demgegenüber beinhaltet die Figura, die physikalische Erscheinungsform des Textes, folgende fünf Dimensionen: paralinguistische (bzw. „paragraphische“, z.B. handschriftliche Texte), kalligrammatische, technische (z.B. Symbolsprachen), graphisch-diagramatische sowie eine graphisch-ikonische Dimension. Besonders im Zusammenhang mit editionsbedingter Textarbeit - so wie sie das Novum Testamentum Graece darstellt - erhält die Figura eine große Relevanz, die sich in entscheidender Weise von den Textzeugen, deren ältesten in scriptio continua verfasst waren, unterscheidet. Der Sensus beinhaltet den dem Vehiculum bzw. Vehiculum imago zuzuordnenden semantischen Aufbau. Bezüglich des Sensus muss unterschieden werden zwischen einer Dictum-Komponente und einer Relatum internum-Komponente. Bei der Dictum-Komponente handelt es sich um eine konzeptuelle, vollständig verbalisierbare Komponente, also dem, was unmittelbar durch das Zeichen ausgedrückt wird. Das Textdictum vermittelt dementsprechend zwischen dem Textvehiculum imago und dem Textrelatum internum. Angewandt auf unser obiges Textbeispiel ist das Dictum die den einzelnen Wörtern zuordbare begriffliche und vollständig verbalisierte Sensus-Komponente, die beispielsweise in einem Bedeutungswörterbuch gefunden werden kann. Aus den Komponenten eines Bedeutungs- Wörterbuchs kann auf der Grundlage der syntaktischen Struktur des Satzes das Dictum der einzelnen Teilsätze erstellt werden. Unter dem textinternen Relatum wird das Hypothesensystem des Interpreten verstanden, das dem in der angegebenen Art und Weise interpretierten Vehiculum bzw. Vehiculum imago zugeordnet werden kann. Es stellt also dasjenige Hypothesensystem dar, das ein Interpret im Hinblick darauf konstruiert, welches Weltfragment in dem von ihm zu interpretierenden Text sich manifestiert. „Der determinierende Faktor bei der Konstruktion des TR (= Textrelatum internum; Anm. K.D.) ist, ob der Interpret TR aufgrund des (überwiegend) buchstäblichen Sinnes von TD (= Textdic- <?page no="132"?> 120 tum; Anm. K.D.) konstruiert, oder daß er überzeugt ist, daß das TD zuerst figurativ und/ oder symbolisch interpretiert werden muß“. 68 Ganz gleich aufgrund welcher Text-Dictum-Interpretation das Textrelatum internum konstruiert wird, es müssen folgende zwei Fragen vorrangig analysiert werden: „a.) welche Relation besteht zwischen der Organisation der Subwelt- Konfiguration (= Weltfragment-Konfiguration, Anm. K.D.) und deren Darstellung (kompositioneller Gliederung) im Text, und b.) wie steuert das vom Interpreten angenommene TR die Entstehung desjenigen Modells in ihm, worauf bezogen er schließlich die Interpretation eines Modells zu dem zu interpretierenden Text vollständig machen kann“. 69 Daraus lässt sich schließen, dass das textinterne Relatum zwischen dem Textdictum und dem extratextuellen Relatum vermittelt. Das konstruierte Interpretationsmodell, häufig / „M“/ genannt, 70 ist nach Petöfi schließlich das Weltmodell, von dem wir bei der Produktion und Rezeption von Texten ausgehen. Mittels dieses Modells erst kann eine vollständige Interpretation durchgeführt werden. Diese sehr formalen Umschreibungen halten bezüglich der Generierung von Bedeutung fest, dass alle soeben genannten Elemente an der Konstitution der Bedeutung eines Textes beteiligt sind. Es ist der Versuch, die dynamischen Prozesse der Bedeutungsgenerierung in ein theoretisch explizites Modell zu überführen, welches einerseits die grundlegenden sprachbezogenen Prozesse wie auch die grundlegenden außersprachlichen Prozesse, die bei der Generierung von Textbedeutungen zu veranschlagen sind, berücksichtigt. Dieser Bedeutungsprozess schlägt sich nieder in der Konstruktion eines Text-Relatum externum, das als TRe bezeichnet wird. Es ist „diejenige Sachverhaltskonfiguration, die einerseits für den Interpreten - auf Grund seiner Weltkenntnis - zugänglich ist, andererseits - auf Grund seiner Erwartungen und des von ihm konstruierten TR - als ein den zu interpretierenden Text zuordbares extra-linguistisches (extra-textuelles) Relatum akzeptabel ist“. 71 Dieses textexterne Relatum kann durch verschiedene Modelle konstruiert werden. Das TRe ist deshalb so wichtig, weil es die Frage zu beantworten vermag, welche Sachverhaltskonfigurationen in Bezug auf welche Erwartung als zusammenhängend angesehen werden können, d.h. zusammengehalten durch Relationen, die für den Interpreten relevant sind und vollständig betrachtet werden. „In order that an interpreter can accept a Re relatum-imago as a meaning constitutive component, it is necessary that he can consider the state-of-affairs configuration of which Re is the imago, as a configuration, which is (i) connected 68 Petöfi, Aspekte der Textinterpretation, 164f. 69 Petöfi, Aspekte der Textinterpretation, 165. 70 Vgl. Petöfi, Aspekte der Textinterpretation, 152. 71 Petöfi, Aspekte der Textinterpretation, 166. <?page no="133"?> 121 and complete, and (ii) the com-munication of which can fulfil a real or assumed function in the given situation”. 72 Gegenüber dem Relatum internum, welches als Sensus-Komponente direkt mit dem Textrelatum korrespondiert und ein Element einer verbalen Konstruktion ist, ist das Textrelatum eine strukturelle Analogie zu einem Weltausschnitt. Die Zuordnung dieses Relatum externum zu einem Text geschieht in zwei Phasen: a.) mittels Reaktivierung von bestimmten Weltkenntnissen der InterpretInnen durch die Rezeption des Textes; und b.) mittels Vergleich dieser Weltkenntnisse mit der konstruierten Textbedeutung. So ist es durchaus für das TRe sinnvoll, einen Zusammenhang zwischen der „Furcht“ und „dem niemanden etwas sagen“ herzustellen, denn es stellt sich die Frage, wie dieses erzählte Ende zu einer „frohen Botschaft“ (Mk 1,1) passt. 73 Auf Grund dieses TRe kann dann ein Interpretamentum konstruiert werden. Dieses Interpretamentum ist der letzte Schritt im Rahmen der Bedeutungsintepretation: „In the case of all descriptiveexplicative interpretation-types the last step of interpretation (meaning construction) is the analysis of whether the interpreter can accept the (re-)constructed Re as the mental image of a world fragment which is compatible with his knowledge about the world or not, and if he cannot, what is the relationship between the text (and/ or producer) specific Re and an Re acceptable to him”. 74 Das Interpretamentum stellt in der Theorie Petöfi dasjenige Moment dar, in dem aus den vielen möglichen textexternen Relata-Komplexen, ein bestimmtes textexternes Relatum der Bedeutungsinterpretation zugrunde gelegt wird. Bei dem Interpretamentum handelt es sich also um die begründet ausgewählte Bedeutungsinterpretation. Damit ist zugleich festgehalten, dass jeder Bedeutungsprozess ein Interpretationsakt ist, der maßgeblich auf Wahlentscheidungen beruht, die in eine begründete Bedeutungsinterpretation münden. Gegen die im Rahmen der eindimensionalen Bedeutungstheorien vorgestellten Entwürfe der pragmatischen Dimension wird auf den Begriff der Interpretation rekurriert; so dass das Generieren von Bedeutung mehr ist als Anwenden von Regeln. Somit sind drei Hauptfaktoren im Rahmen einer Bedeutungsinterpretation zu nennen: Der zu interpretierende Text, das der Interpretation zugrunde liegende Modell und das Interpretamentum als Ergebnis der 72 Petöfi, Explicative Interpretation, 514. Für die Darstellung von „Connectedness” und „Completeness” verwendet Petöfi die Begriffe „Konstringenz” und „Integrität”, auf die wir weiter unten noch zu sprechen kommen werden. 73 Unter der Voraussetzung, dass es sich mit Mk 16,8 um den „ursprünglichen Markusschluss“ handelt, ist diese Frage für das Verständnis des Evangeliums zentral. Auch Mk 16,9-20 können vor diesem Hintergrund verstanden werden als ein auf diese Frage antwortendes Interpretamentum: „these twelve verses were forged in order to give the Second Gospel a conclusion that builds upon and modifies the account of the fearful, silent women in Mark 16: 8“ (Kehlhoffer, Miracle, 474). 74 Petöfi, Explicative Interpretation, 507. Das „Re” dieses Zitats entspricht dem „TRe”. <?page no="134"?> 122 Interpretation. Die Arbeit der Interpretation erweist sich im Modell von Petöfi als die Konstruktion einer Bedeutung in einer gegebenen Kommunikationssituation. Dabei operiert das Modell von Petöfi mit einer ständigen Interaktion zwischen dem Text und den InterpretInnen (in einem bestimmten Kontext). 4. Interpretationstypen, Interpretationsobjekte, Interpretationszielsetzungen Die Interpretierbarkeit eines Textes ist zu unterscheiden von der Eigenschaft „Textualität“. Jemand kann demnach einem verbalen Objekt „Textualität“ zuschreiben - also eine komplette und zusammenhängende Sachverhaltskonfiguration ausgedrückt vorfinden - ohne es deshalb als interpretierbar anzusehen. Ebenso wie die Eigenschaft der „Textualität“ ist die Eigenschaft der „Interpretierbarkeit eines Textes“ eine intersubjektive Eigenschaft, die stark von den InterpretInnen abhängig ist. Damit widersetzt sich das Modell von Petöfi zugleich einer Gleichsetzung von Interpretieren und Lesen. Es kann neben dem Lesen, das ein Interpretieren beinhaltet, auch ein Lesen ohne Interpretieren geben. In diesem Fall würde es sich nur um eine graphemische Dekodierung handeln. Die Untersuchung der Bedingungen der Interpretierbarkeit ist nach Petöfi aus zwei Gründen eine der wichtigsten Aufgaben der texttheoretischen Forschung: „(1) einerseits, weil die Interpretierbarkeit eine Grundvoraussetzung der Kommunikation ist, (2) andererseits, weil die Analyse mehrerer Aspekte der verbalen Objekte verlangt, diese Objekte erst zu interpretieren“. 75 Um jedoch in expliziter Art und Weise eine Interpretation durchführen zu können, bedarf es einer ermöglichenden Theorie. Dies hat auch Konsequenzen für die Bedeutungsbestimmung: Einerseits ist damit Bedeutung an die sie ermöglichende Theorie gebunden, andererseits ist ohne Interpretierbarkeit auch nicht die Bedeutung zu erfassen. Da erst ein eigenständiger Interpretationsakt die Bedeutung erfasst, ist ein Bedeutungsverständnis deutlich abgewehrt, welches die Bedeutung eines Textzeichens als gleichsam dem jeweiligen Text ontologisch inhärent erscheinen lässt. Folgende Bedingungen der Interpretierbarkeit werden von Petöfi genannt: die Kontinuität, die die InterpretInnen von dem für sie akzeptierbaren außersprachlichen Korrelat erwarten, und die Abgeschlossenheit der Sachverhalts-Konfiguration, die dieses Korrelat bildet. 76 Die Kontinuitätserwartung führt die LeserInnen dazu, die im Text vorfindlichen Lücken zu ergänzen. Wir werden weiter unter feststellen, dass diese Vollständigkeits- 75 Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer, Text, Konnexität, 35. 76 Vgl. Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer, Text, Konnexität, 26. <?page no="135"?> 123 erwartungen auf der Ebene der Konnexität, der Kohäsion und der Kohärenz zu veranschlagen sind. Petöfi unterscheidet zwei Interpretationstypen: Die natürliche Interpretation und die theoretische Interpretation. Die Letztere unterscheidet sich von der natürlichen Interpretation insofern, als dabei die Schritte im Rahmen des Interpretationsprozesses auseinander gehalten und linear dargestellt werden müssen. Die theoretische Interpretation hat immer einen modeltheoretischen Charakter. „By theoretical interpretation, we mean the performance of the interpretative operations controlled by a given theory, i.e. where the interpreter has to meet specific criteria defined within the framework of a theory when he presents the result of the interpretation”. 77 Diese Unterscheidung referiert somit auf unterschiedliche methodische Vorgehensweisen bei der Rekonstruktion von Rezeptionsprozessen. Durch diese Unterscheidung wird keineswegs eine natürliche Interpretation gegenüber einer theoretischen abgewertet, sondern sie differenzieren sich methodisch. Diese bei Petöfi unterschiedenen Interpretationstypen sind gerade für den Umgang mit biblischen Texten hilfreich, die immer in einem Spannungsfeld zwischen natürlicher und theoretischer Interpretation rezipiert werden. Mit der Unterscheidung von Petöfi ist die natürliche Interpretation eine legitime und ausreichende Interpretation, aber auch sie muss auf ihr Zustandekommen hin befragt werden können. In einer natürlichen Interpretation vermischen sich oft viele theoretisch unterscheidbare Aspekte, die mehr oder weniger „unreflektiert“ ablaufen. Demgegenüber gehört es zu den grundlegenden Anforderungen an die theoretische Interpretation, die Schritte des Interpretationsprozesses reflektiert und linear darzulegen. Petöfi differenziert im Kontext der Interpretation von Texten die möglichen Interpretationsobjekte. Die Konstruktion als auch die funktionale Einbettung von Texten können untersucht werden. 78 Bei Erstgenannter wird textimmanent nach der sprachlichen Organisation bzw. den einzelnen Textkonstituenten und ihrer Interrelation gefragt. Bei der funktionalen Untersuchung werden Faktoren der Textproduktion und -rezeption im engeren und weiteren Sinn berücksichtigt. Hierzu zählt beispielsweise die kommunikative Funktion des Textes. Sowohl die Konstruktion als auch die funktionale Einbettung können als statische oder dynamische Objekte untersucht werden. Im Rahmen eines statischen Vorgehens spricht Petöfi von einer strukturalen Interpretation; im Rahmen eines dynamischen Objektes unterliegt ein Text der prozeduralen Interpretation. 79 Struktur ist nach Petöfi zu verstehen als die von den LeserInnen angenommene inhärente 77 Petöfi, Procedural Aspects, 179. 78 Vgl. Petöfi, Aspekte der Textinterpretation, 146. 79 Vgl. Petöfi/ Olivi, Understanding Literary Texts, 195. <?page no="136"?> 124 statische Organisation des Textes, Prozedur als Approximation an die inhärente dynamische Organisation des zu interpretierenden Textes. 80 Während eine strukturale Interpretation keine Informationen über den Konstruktionsprozess ihrer einzelnen Elemente enthält, nimmt die prozedurale Interpretation diese gerade auf. Hinsichtlich der textimmanenten Konstruktion wäre die Klärung der Frage vorrangig, auf welche Weise eine systemimmanente Wissensakkumulation im Zusammenhang eines theoretischen Regelsystems die Zuordnung eines möglichen Significans zu einem gegebenen verbalen Objekt steuert bzw. wie die Zuordnung eines möglichen Significatum zu einem (konstruierten) Significans gesteuert wird. D.h. im Rahmen einer systemimmanenten Konstruktion hat die strukturale Interpretation als ihr Produkt herauszuarbeiten, welches statische Netz von Elementen einem gegebenen verbalen Objekt zugrunde liegt. Hier spielen keinerlei historische Informationen eine Rolle. Die prozedurale Interpretation hat im Rahmen einer systemimmanenten Konstruktion das dynamische Netz der Elemente herauszuarbeiten, die bei der Organisation des interpretierten Objektes mitwirken. Hier spielen selbstverständlich historische Informationen eine Rolle. Es gilt allerdings festzuhalten, dass die Interpretation der systemimmanenten Konstruktion allein nicht eine vollständige Interpretation der Konstruktion darstellt, da sämtliche Aspekte des funktionalen Settings außer Acht gelassen werden. Das Modell von Petöfi verabschiedet gerade nicht die geschichtliche Gewordenheit biblischer Texte, sondern hebt hervor, dass die Interpretation der systemimmanenten Konstruktion zwar notwendig, aber nicht ausreichend ist. Erst unter Einbeziehung auch des funktionalen Settings ist von einer adäquaten Interpretation zu sprechen. Darüber hinaus unterscheidet Petöfi drei Arten der Interpretation. 81 Die deskriptive, die explikative sowie die evaluative. Diese drei Arten der Interpretation sind grundlegend bei der Rezeption verbaler Objekte. Wobei der deskriptiven Interpretation eine Vorrangstellung zukommt bei der Bedeutungsinterpretation, da sie immer der explikativen und evaluativen Interpretation vorausgeht. Der deskriptive Interpretationsprozess ist derjenige Vorgang, in dessen Zuge die InterpretInnen versuchen, einem gegebenen zu interpretierenden natürlich-sprachlichen Text eine Bedeutung zuzuordnen. Die evaluative Interpretation fragt, „[W]elcher Wert ist dem, was in der gegebenen Form im Text beinhaltet ist, aufgrund eines gegebenen Wertsystems zuzuschreiben? “ 82 Nach Petöfi sind diese drei Interpretationstypen während der natürlichen Interpretation, die ohne Zuhilfenahme einer expliziten Theorie arbei- 80 Vgl. Petöfi/ Olivi, Understanding Literary Texts, 195. 81 Vgl. dazu Petöfi, Text und Bedeutung; ders., Explikation und Evaluation. 82 Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer, Text, Konnexität, 10. <?page no="137"?> 125 tet, miteinander verflochten, während bei der theoretischen Interpretation sie voneinander getrennt zu handhaben sind. Bei der theoretischen Interpretation ist zwar keine Hierarchie in der Abfolge der einzelnen Interpretationstypen festgelegt, allerdings ist davon auszugehen, dass deskriptivexplikative Interpretationen als Basistypen dominieren. Besonders hervorzuheben ist, dass dieses Modell der Interpretation, mit seinem Schwerpunkt auf eine deskriptive Interpretation, keine Diastase zwischen Deskription und Interpretation evoziert. Häufig wird - besonders in den Literaturwissenschaften - die Deskription als Alternative zur Interpretation bestimmt, die keineswegs in einer funktionalen Zuordnung zur Interpretation zu sehen ist. Deshalb wird das Verhältnis von Beschreibung und Interpretation in der Regel charakterisiert als eines der Konkurrenz und nicht der Koexistenz. Unter Verweis auf den Untersuchungsgegenstand oder auf den Anspruch der Wissenschaftlichkeit wird gefordert, auf die Interpretation zugunsten der Deskription zu verzichten. 83 Im Zusammenhang mit narrativen Texten ist vor allem im Umfeld des Strukturalismus ein Verständnis von Beschreibung als Alternative zur Interpretation anzutreffen. Stattdessen vertritt Petöfi eine Position, die davon ausgeht, dass die Deskription der Interpretation zuarbeitet und zwar konstruktiv. Denn die Deskription wird als Möglichkeit der Plausibilisierung der Interpretation eines Textes gesehen. Die Angemessenheit einer Textdeutung hängt nach dem Modell von Petöfi von der Menge der deskriptiv erfassten Textmerkmale ab, die im Rahmen der interpretativen Hypothesenbildung Berücksichtigung finden. 5. Textkonstitution und Textbedeutung Die Theorie von Petöfi verfolgt das Ziel, möglichst explizit die an der Generierung der Textbedeutung beteiligten Prozesse darzulegen. Hierfür spielen die Begriffe „Textkonstitution“ sowie „Textbedeutung“ eine grundlegende Rolle. Vorweg ist zu betonen, dass der Terminus „Textkonstitution“ sowie der Terminus „Textbedeutung“ sich auf ein und dasselbe Objekt beziehen, aber von zwei verschiedenen Aspekten aus das verbale Objekt betrachten. Es geht also nicht um die Trennbarkeit von Textkonstitution und Textbedeutung, sondern um die aus analytischen Gründen notwendige Unterscheidung. 83 Vgl. etwa zu den Plädoyers für die Deskription: Sontag, Against Interpretation, 3-14 oder auch Schmidt, Interpretation, 239-258. <?page no="138"?> 126 5.1. Die Analyse der Textkonstitution Mit seiner „semiotischen Textologie“ will Petöfi ein Modell zur „Motivierbarkeit“ von Bedeutungsinterpretationen liefern, beansprucht jedoch nicht, die objektive Interpretation eines Textes zu liefern. In Verbindung mit einer Textinterpretation wird von der Konstruktion eines Textes gesprochen: „By the term ‚construction’ we mean the property of a text such that it expresses a set of states of affairs of a specific configuration (an extra-linguistic relatum), using verbal material of a specific constitution“. 84 Während die Textkonstruktion sich um die Erfassung der Significans-Significatum- Relation bemüht, befasst sich die Textkonstitution im Rahmen der Interpretation mit den (angenommenen) inhärenten Eigenschaften des verbalen Materials. Hier geht es um die Erfassung der Textformatio und des Textdictums. Um diese Motivierbarkeit darzustellen, wird von Petöfi die „Textkonstitution“ hinsichtlich des Aspektes der Komposition und hinsichtlich des Aspektes der Textur aufgeteilt. 85 Eine Textanalyse hat sich nach Petöfi mit der „Textur“ sowie mit der „Komposition“ des Textes zu beschäftigen. „Textur“ wird dabei verstanden als die lineare Organisation eines Textes, also die Gesamtmenge der Propositionen, die der Text enthält, wobei bestimmte „patterns“ eine wichtige Rolle spielen, wie z.B. Wiederholungen in poetischen Texten. Der Terminus „Textur“ soll den Aspekt der Textkonstitution bezeichnen, „der sich darin offenbart, daß sich im Text bestimmte Elemente (Wörter, Merkmale, Kategoriezugehörigkeit, etc.) wiederholen“. 86 Demgegenüber bedeutet „Komposition“ die vertikale, hierarchische Organisation des Textes in verschieden große Einheiten. „Der Termminus ‚Komposition’ soll den Aspekt der Textkonstitution bezeichnen, der sich darin offenbart, daß Texte sich im allgemeinen aus syntaktisch/ sinnsemantisch und/ oder poetisch als selbständig betrachtbaren Einheiten (...), über intermediäre Kompositionseinheiten, deren Zustandekommen ausschließlich im Hinblick auf die sprachliche Struktur nicht motiviert werden kann, zu einer linear angeordneten vollständigen, zusammenhängenden Einheit werden“. 87 Die nicht ausschließlich sprachliche Motivierbarkeit heißt, dass die kompositionale Struktur eines verbalen Objektes in Bezug auf die lineare Anordnung des Textes eine sinn-semantische sowie eine thematische Organisation der betreffenden Aspekte hat. Hier geht es also im Wesentlichen um die Herstellung des inneren Zusammenhangs von Texten, wobei sich die Herstellung der Textkonstitution aus kompositionellen sowie aus textuellen Aspekten zusammensetzt. Sowohl für die Komposition wie für Textur gilt deshalb, dass im Rahmen der Textkonstitution 84 Petöfi/ Olivi, Understanding Literary Texts, 203. 85 Petöfi, Weshalb Textologie? , 216. 86 Petöfi, Weshalb Textologie? , 216. 87 Petöfi, Weshalb Textologie? , 216. <?page no="139"?> 127 von „Kontinuität“ gesprochen werden muss: „By the term ‚continuousness’ we mean that specific property of text constitution that the text has no single micro or macro composition unit which is not connected to at least one other micro or macro composition unit in a textural and/ or compositional way. Continuousness does not require that adjacent micro or macro units be connected, it is, however, a requirement that there be no island in the constitution”. 88 Mit der Berücksichtigung kompositioneller sowie textueller Aspekte 89 geht die Forderung einher, dass die Aufdeckung der Textkonstitution weiter systematisiert werden muss, indem versucht werden soll, die Bereiche der syntagmatischen und der sinn-semantischen (mit der verbalen Bedeutungs-Explikation zusammenhängenden) Phänomene voneinander abzugrenzen. Petöfis Vorschlag ist es, für den Bereich des textuellen Zusammenhangs den Begriff der „Konnexität“ zu verwenden, der sich dem syntagmatischen Bereich widmet, und den Terminus „Kohäsion“ für den sinn-semantischen Bereich, wie noch erläutert werden wird. 5.2. Die Analyse der Textbedeutung Im Rahmen der semiotischen Textologie erweist sich die Erfassung der Bedeutung als ein komplexer Interpretationsprozess, der aus folgenden Hauptkomponenten besteht: Es muss ein Ausdruck gegeben sein, den die InterpretInnen als Text ansehen. Dieser Text muss als natürlich-sprachliches Objekt gegeben sein. Im Zuge der Perzeption dieses als Text angesehenen Objektes erstellen die InterpretInnen das perzeptive Bild des Textes, hierbei handelt es sich um ein verbales mentales Bild. Da dieses perzeptive Bild nur den InterpretInnen zugänglich ist, muss eine Repräsentation dieses Bildes erstellt werden. Diese Repräsentation stellt das unmittelbare Objekt der (theoretischen) deskriptiven Bedeutungsinterpretation dar. Im nächsten Schritt erfolgt dann die Zuordnung der kanonischen syntagmatischen Repräsentation zur Repräsentation dieses Bildes. Dabei muss eine der Interpretation zugrunde liegende Texttheorie ihre Anwendung finden. Diese aufgrund einer Texttheorie erstellte Textformatio wird je nach verwendeter Texttheorie anders ausfallen. Diese Textformatio stellt deshalb ein theoretisches Konstrukt dar, welches abhängig von dem Wissen der InterpretInnen ist. Daraufhin wird im Rahmen der Bedeutungsinterpretation die kanonische Repräsentation der Signifikation konstruiert, die dem 88 Petöfi/ Olivi, Understanding Literary Texts, 203 89 Die Untersuchung der Textkonstitution liegt auch den auf der Proppschen Theorie fußenden so genannten „narrativen Grammatiken“ zugrunde, die sowohl den Aspekten der Textur wie der Komposition Rechnung tragen (und auch die Analyse der Textbedeutung voraussetzen). Im Rahmen dieser Grammatiken steht die Frage im Mittelpunkt, aus welchen mehr oder weniger abgrenzbaren Teilen und auf welche Weise die narrativen Texte aufgebaut sind. Vgl. Propp, Morphologie. <?page no="140"?> 128 perzeptiven Bild durch die Vermittlung der Textformatio und dem Textrelatum zugeordnet werden kann: Hierbei handelt es sich um das Significatum bzw. die der Signifikation zugeordnete Sensus-Komponente. Auch die Sensus-Komponente ist - wie die Textformatio - ein theoretisches Konstrukt. Dieser Sensus besteht wiederum aus zwei Komponenten: Dem Dictum und dem Relatum internum. Im Rahmen dieses Schrittes geht es um die Konstruktion einer Textwelt des Textes. Damit ein Text interpretiert werden kann, müssen die InterpretInnen alle ihre Kenntnisse und Wissen einsetzen, von dem sie meinen, diese mit dem Text in Beziehung bringen zu können. Bei der Konstruktion der Textwelt haben die InterpretInnen sozusagen die Pflicht, den Text maximal ernst zu nehmen, d.h. die im Text dargestellten Sachverhalte so zu nehmen, wie diese im Text dargestellt sind. Dies gilt auch dann, wenn die für wahr gehaltenen Kenntnisse der InterpretInnen über einen Sachverhalt mit den Annahmen des Textes kollidieren. Dies hat gerade für den Umgang mit biblischen Texten eine große Relevanz. Es verbietet sich von dieser Theorie aus, immer nur das in den Texten wieder zu finden, was im Rahmen eigener kulturell kodierter Wissensannahmen und Plausibilitätsstrukturen als wahr angesehen wird. Deshalb unterstützt die Bedeutungstheorie von Petöfi die Interessen einer Ethik der Interpretation im Rahmen einer neutestamentlichen Wissenschaft, die entsprechend dem von Alkier formulierten Realitätskriterium als eine ihrer grundsätzlichen Aufgaben der Bedeutungsinterpretation festhält: „Eine Interpretation ist gut, wenn sie danach strebt, den Interpretationsgegenstand als real vorgegebenes Anderes, vom Ausleger Unterschiedenes in gewisser Hinsicht darzustellen, und diesem Anderes mit Respekt gegenübertritt“. 90 Die InterpretInnen wenden ihre eigenen Kenntnisse über den Inhalt des Textes erst im nächsten Schritt an, nämlich bei der Konstruktion des Modells. Da diese Modelle nur subjektiv den jeweiligen InterpretInnen zugänglich sind, muss in einem nun folgenden Schritt eine explizite Repräsentation des Modells stattfinden. Die InterpretInnen müssen also in diesem Schritt über die im Text dargestellten Sachverhalte einen eigenen Text in expliziter Weise darstellen. Das Resultat dieses Prozesses ist die Modellrepräsentation. Bei der Modellrepräsentation handelt es sich wiederum um ein verbales mentales Bild. Bei der Konstruktion operieren die InterpretInnen sowohl mit ihren allgemeinen Kenntnissen als auch mit ihren speziellen Kenntnissen, die ggf. Sachverhalte betreffen, die nur für die jeweiligen InterpretInnen zugänglich sind. Im Rahmen dieses Modells kommt es zu einem Vergleich zwischen der Textwelt und wie diese Textwelt von den Interpreten gesehen wird. Dieser Vergleich bildet für die InterpretInnen die Grundlage, ob ein Text für interpretierbar gehalten werden kann. Wenn die InterpretInnen nur mit den eigenen für wahr gehaltenen Kenntnissen operieren würden, würde keine Möglichkeit beste- 90 Alkier, Fremdes Verstehen, 52. <?page no="141"?> 129 hen, im Text eine von der eigenen Welt zwar abweichende, doch akzeptierbare „mögliche andere Welt“ zu sehen. In einem letzten Schritt der Bedeutungsinterpretation muss deshalb der zu interpretierende Text mit den konstruierten Modellen konfrontiert werden. Diese Konfrontation führt zur Erstellung des Interpretamentums; hierbei handelt es sich um dasjenige außersprachliche Korrelat, das dem Text als Interpretation zugeordnet werden kann. Auch das Interpretamentum ist ein theoretisches Konstrukt, das jedoch in der Form eines natürlich-sprachlichen Objektes dargestellt werden kann - wie dies in vorliegender Arbeit der Fall ist. Aus diesen Hauptkomponenten lässt sich im Zusammenhang mit Petöfis Zeichen- und Textmodell folgende Bedeutungsdefinition konstruieren - unter Wahrung des anzuwendenden Gesetzes, welches der Bedeutungsdefinition zugrunde gelegt wird: „Dieses Gesetz muß zum Ausdruck bringen, über welche Entität und unter welchen Umständen behauptet werden kann, daß diese Entität die Bedeutung des zu interpretierenden (verbalen) Objektes ist“. 91 Petöfi schlägt deshalb folgende Bedeutungsdefinition vor: „(0)Das vehiculum-Perzept / =TVe/ , das durch einen Interpreten I dem Text-vehiculum des Textes T / =TVe/ zugeordnet ist, genügt dem auf das vehiculum-Perzept bezogene Regelsystem / =RS Ve / ; 1.) die Text-formatio / =TFo/ , die dem vehiculum-Perzept zugeordnet ist, genügt dem auf die formatio bezogene[n] Regelsystem / =RS Fo / ; 2.) das Text-dictum / =TD/ , das dem Paar, bestehend aus dem vehiculum- Perzept / =TVE/ und der diesem zugeordneten formatio / =TFo/ (d.h. dem Text-significans / =TSs/ ), genügt dem auf das dictum bezogene Regelsystem / =RS D / ; 3.) das text-interne relatum / =TR/ , das dem Paar, bestehend aus dem significans / =TSs/ und dem diesen zugeordneten dictum / TD/ zugeordnet ist, genügt dem auf das text-interne relatum bezogene Regelsystem / =RS R / ; 4.) das Interpretationsmodell / =M/ , das dem Paar, bestehend aus dem dictum / =TD/ und dem diesen zugeordneten text-internen relatum / =TR/ (d.h. dem Text-sensus / =Tse/ ) zugeordnet ist, genügt dem auf die Interpretationsmodelle bezogene Regelsystem / =RS M / ; 5.) das Interpretamentum, das dem Paar, bestehend aus dem text-internen relatum / =TR/ und dem Interpretationsmodell / =M/ zugeordnet ist, genügt dem auf das Interpretament bezogene Regelsystem / =RS I / .“ 92 Wenn dies gegeben ist, dann gilt: „Das aus dem text-externen relatum / =TRe/ (das im Interpretamentum enthalten ist) und dem Text-sensus bestehende Paar (d.h. das Text-significatum / =TSm/ ) ist die auf den Inter- 91 Petöfi, Aspekte der Textinterpretation, 151. 92 Petöfi, Aspekte der Textinterpretation, 152. <?page no="142"?> 130 preten I und das von ihm angewandte Interpretations-Modell M bezogene Bedeutung des Textes T“. 93 Diese umfängliche Bedeutungsbestimmung erlaubt es, einerseits den Prozess der Bedeutungsgenerierung zu explizieren sowie andererseits eine nicht statische Bedeutungsdefinition in theoretisch expliziter Form operabel zu machen. Hierzu tragen besonders die im Rahmen der Bedeutungsdefinition erwähnten Regelsysteme bei. 94 Ihnen kommt bei der Generierung von Bedeutung eine explikative Funktion zu und sie gewährleisten die Nachvollziehbarkeit der konstruktiven Interpretationsleistung der InterpretInnen. Dabei ist hervorzuheben, dass die Regelsysteme keineswegs immer auf identische Art und Weise formuliert werden, sondern einige können mit hinreichender Explizitheit formuliert werden, andere nicht. Allerdings besteht für jede theoretische Interpretation die Notwendigkeit, dass sie in der Lage sein muss, ihre Ergebnisse hinreichend explizit darzustellen. 6. Konnexität, Kohäsion und Kohärenz Bei der Textkonstitution wie auch bei der Textkonstruktion spielen im Modell von Petöfi die Begriffe „Kontinuität“ und „Vollständigkeit“ eine wichtige Rolle. Es handelt sich hierbei um die Eruierung dessen, was es InterpretInnen gestattet, einen Text als ein zusammenhängendes Ganzes, welches getragen ist durch Kontinuität und Vollständigkeit, zu interpretieren. Hinsichtlich des Gebrauchs der beiden Begriffe in seiner Texttheorie trifft Petöfi eine terminologische Unterscheidung. 95 Die Kontinuität und Vollständigkeit, die sich im Significansteil eines Textes manifestiert, wird „Konnexität“ genannt, während die Kontinuität und Vollständigkeit, die 93 Petöfi, Aspekte der Textinterpretation, 152. 94 Auch in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft wird der Zusammenhang von Regeln und Bedeutung diskutiert. Vgl. bes. Jannidis/ Lauer/ Martínez/ Winko (Hgg.), Bedeutungsbegriff. In diesem 2003 herausgegebenen Sammelband heißt es im Vorwort: „Der Band ‚Regeln der Bedeutung’ beansprucht, Bedeutung als literaturwissenschaftlichen Grundbegriff sichtbar zu machen. Wenn jede interpretierede Aussage über einen literarischen Text bestimmte Annahmen darüber voraussetzt, auf welche Weise er Bedeutung erzeugt, vermittelt oder veranlasst, dann muss ein Fach, das Wissenschaft im Namen führt, die Arbeit im Begriff suchen. Die Erforschung der implizit mitlaufenden Annahmen, wie literarische Bedeutung funktioniert, gehören daher in der Systematik des Faches zu ihren zentralen Aufgaben, gerade weil meist unklar bleibt, was gemeint ist, wenn von der ‚Bedeutung’ eines literarischen Werkes die Rede ist“ (Jannidis/ Lauer/ Martínez/ Winko, Bedeutungsbegriff, 6). Die hier für die Literaturwissenschaft gemachte Aussage, lässt sich analog auf die neutestamentliche Wissenschaft übertragen und zeigt, dass nicht nur im Fach Neues Testament die Arbeit über die mitgeführten Grundbegriffe zu leisten hat. 95 Vgl. dazu Petöfi/ Sözer, Static and Dynamic Aspects. <?page no="143"?> 131 sich in der Sensus-Komponente manifestiert, als „Kohäsion“ 96 bezeichnet wird. Beide Begriffe - Konnexität und Kohäsion - werden als (mehr oder weniger) inhärente Eigenschaften des verbalen Materials aufgefasst. Beide Termini beziehen sich auf den sprachlichen (syntagmatischen und sinnsemantischen) Aufbau eines Ausdrucks. Der Terminus „Kohärenz“ wird demgegenüber auf die Repräsentation der Relation zwischen den im Text zum Ausdruck gebrachten Sachverhalten bezogen. Übereinstimmend halten AutorInnen, die zwischen Kohäsion und Kohärenz unterscheiden, fest, dass Kohäsion weder notwendig noch hinreichend für Kohärenz ist. 97 Allen drei dieser textspezifischen Eigenarten kommt in dem Bedeutungsmodell von Petöfi eine zentrale Rolle zu, aus diesem Grunde ist keiner der Termini verzichtbar oder ersetzbar. 98 Deutlich wird die RezipientInnenorientierung beim Kohärenzbegriff, während Kohäsion und Konnexität Eigenschaften sind, die zwar auch von den InterpretInnen abhängig sind, die aber aufgrund ihrer formalen und textinternen Eigenschaften entstehen und deshalb intersubjektiv feststellbar sind. 6.1. Konnexität Die inhärente Textkontinuität, d.h. Konnexität und Kohäsion, manifestiert sich sowohl in der „Textur“, die wir als eine horizontale Eigenschaft der Textkonstitution definiert haben, als auch in der „Komposition“, die wir als vertikale Eigenschaft der Konstitution definiert haben, wobei der Begriff „Konstitution“ für die inhärent angenommenen Eigenschaften des Textes verwendet wird. Die Textur ist das Muster, das durch Wiederholung/ Rekurrenz von Zeichen unterschiedlicher Größenordnungen oder durch ihnen zugeschriebene Kategorien zustande kommt. Die Komposition ist die hierarchische Architektur von Einheiten unterschiedlicher Größe. Übertragen auf Petöfis Textmodell bedeutet dies: Die Konnexität manifestiert sich in der Konstitution des Significansteils (TVe, [TVe], TFo). Sie 96 Die Beschäftigung mit dem Phänomen Kohäsion bildete den Schwerpunkt der frühen Textlinguistik. Im Begriff der Kohäsion und der Kohäsionsmittel ist der erste Versuch der Textlinguistik zu sehen, das Spezifische an Texten, die Textualität, zu explizieren. Folgende Grundannahme leitet die Kohäsionslinguistik: Texte enthalten mehrere sprachliche Ausdrücke, Sätze oder Teilsätze, zwischen denen spezifische Beziehungen bestehen, die man Kohäsion nennt. Petöfis Theorie unterscheidet sich von dieser Kohäsionslinguistik, indem er terminologisch bei der hier gemeinten Sache von „Konnexität“ spricht. Inhaltlich grenzt sich Petöfi von ihnen, ab, indem er ihnen vorwirft, auf die Phänomene der „Kohärenz“ nur unzureichend zu antworten, weil die Kohäsionslinguistik den textuellen Zusammenhalt eben nur in einem sprachlichen Mechanismus sucht und nicht in der Interpretationsleistung des Rezipienten/ der Rezipientin bzw. des Interpreten/ der Interpretin. 97 Vgl. etwa Charolles, Text Connexity; Giora, What is a Coherent Text? 98 Vgl. Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer, Text, Konnexität, 17. <?page no="144"?> 132 bezieht sich deshalb ausschließlich auf formale semiotische Eigenschaften, die intersubjektiv eindeutig feststellbar sind, wie z.B das Aufeinanderfolgen von Einheiten mit demselben Rhythmus, das Auftreten einer gewissen Konstituente oder einer Konfiguration syntagmatischer Kategorien. Deshalb kann ein geschriebener Text dann als konnex betrachtet werden, „(a) wenn er mindestens eine nicht triviale Eigenschaft aufweist, die als Eigenschaft aller selbständigen Einheiten von T (= Text; Anm. K.D.) betrachtet werden kann, oder (b) wenn er in kontinuierliche oder nicht-kontinuierliche Teilsequenzen zerlegt werden kann in der Weise, daß, analog zu der unter (a) definierten Konnnexität (b1) alle Teilsequenzen als konnex betrachtet werden können und (b2) auch die Konfiguration der Teilsequenzen als konnex betrachtet werden kann“. 99 Verdeutlicht an einem willkürlichen Beispiel: Text Trost testen. Es ist nicht notwendig, die Sprache zu beherrschen, um zu erkennen, dass das Zeichen „T“ in „Text“ und „Trost“ das gleiche ist, aber um einzusehen, dass „t“ in „testen“ dasselbe ist, muss das deutsche Alphabet bekannt sein. Mit anderen Worten, dies setzt nicht nur eine visuelle Perzeption voraus, sondern ein bestimmtes Wissen (das bei einer akustischen Perzeption noch einmal wesentlich variieren kann). Im Sinne obiger Definition ist der Text als konnex anzusehen, weil hier das „T“/ „t“ als Konnexitätsträger ein Kontinuum bildet, ohne dass die drei genannten Ausdrücke ein Makrothema haben. Entsprechend obiger Definition kann abschließend festgehalten werden, dass ein Ausdruck dann als konnex gilt, wenn „sämtliche selbständigen Einheiten das gleiche rhythmische Muster aufweisen, unabhängig vom Sinn dieser selbständigen Einheiten [...]“, wenn dessen „selbständigen Einheiten das gleiche syntaktische Muster aufweisen“, wenn in dessen sämtlichen „selbständigen Einheiten das gleiche Wort vorkommt“ oder „wenn der Ausdruck infolge irgendwelcher Konnexitätsträger ein Kontinuum bildet, sämtliche selbständigen Einheiten von ihm jedoch jeweils ein anderes Thema haben“. 100 Hervorgehoben sei nochmals, dass es sich bei der Erörterung der Konnexität um intersubjektiv erschließbare Eigenschaften des verbalen Materials handelt. Zwar hängt die Erschließung dieser Eigenschaften entscheidend von der verwendeten Theorie ab, doch sind diese Eigenschaften von den InterpretInnen unabhängig. Die Bestimmung der Konnexität stellt für die Bedeutungsinterpretation von biblischen Texten eine Bereicherung dar, denn sie fokussiert maßgeblich auf das verbale Material und widmet sich dementsprechend den materialen Aspekten, die innerhalb einer Kultur bei der Bedeutungsbestimmung beachtet werden müssen. D.h. eine Bedeutungsinterpretation biblischer Texte kann nur dann erfolgreich vollzogen werden, wenn in intersubjektiv nachvollziehbarere Weise die Ergebnisse ausgehend vom Textmaterial gewonnen werden. Eine Bedeutungsinterpretation 99 Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer, Text, Konnexität, 20. 100 Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer, Text, Konnexität, 24. <?page no="145"?> 133 nimmt deswegen in der Theorie von Petöfi ihren Ausgang im Einüben des langsamen Lesens. Mit Blick auf Mk 4,1-34 erhält somit die Bestimmung der Konnexität im Rahmen der syntagmatischen Analyse ihre vorrangige Rolle für die Bedeutungsbestimmung von avkou,ein . Anzumerken ist, dass es keine intersubjektive Regel gibt, die feststellt, wann ein konventioneller Text bezüglich syntagmatischer Eigenschaften als abgeschlossen bestimmt werden kann. Konnexität kann dementsprechend als eine schwache Eigenschaft von Texten bestimmt werden, für die das bloße Auftreten von Konstituenten genügt, ohne dass auf die sinnsemantische Struktur der Einheiten, in denen sie auftreten, irgendwelche Rücksicht genommen wird. Daraus folgt, dass Konnexität zwar den formalen semiotischen Textzusammenhang sichert, nicht aber den sinnsemantischen. Dieser wird durch die Kohäsion gesichert. Mit einem Beispielsatz soll noch einmal der wichtige und sinnvolle Unterschied zwischen Konnexität und Kohäsion verdeutlicht werden: „die Sonne verfinsterte sich“ (Lk 23,45). Heute landete die Sonde auf dem Mars. Unser Planet ist gefährdet.“ An diesen zusammengesuchten Sätzen zeigt sich, dass die Zuschreibung der semantischen Kategorie („Himmelskörper“) zu den einzelnen Sätzen noch keine Sinn-Einheit schafft. Konnexität ist dementsprechend als eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung der Kohäsion (und Kohärenz) eines Textes anzusehen. Konnexität sichert somit nur den formalen semiotischen Textzusammenhang; für den sinnsemantischen ist die Kohäsion verantwortlich. 6.2. Kohäsion Damit ein verbales Objekt als kohäsiv angesehen werden kann, müssen stärkere Bedingungen erfüllt sein als die für die Konnexität geltenden: Die Besonderheit dieser Bedingungen, „nach deren Erfüllung die Konnexität in Kohäsion übergeht, besteht darin, daß die Kohäsion nicht durch beliebige Konnexitäts-Träger und beliebige Konnexitäts-Relationen gewährleistet werden kann“. 101 Eine große Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Träger von kompositioneller Kohäsion. Bei den Trägern der kompositionellen Kohäsion hängt die kohäsive Eigenschaft eines konnexen Ausdrucks von der sinnsemantischen bzw. thematischen Struktur ab. Mit dem Terminus „sinnsemantisch“ wird im Zusammenhang mit der Kohäsion auf eine Relation verwiesen, die mit Hilfe von Explikationen repräsentiert werden kann. Diese Abhängigkeit von der sinnsemantischen bzw. thematischen Struktur wird von Petöfi folgendermaßen bestimmt: „(a) die Themen der (syntaktisch wohlgeformten) selbständigen Einheiten der Subsequenzen von Ausdrücken müssen durch sinn-semantische Relationen zu einem 101 Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer, Text, Konnexität, 25. <?page no="146"?> 134 Subsequenz-Thema vereinigt werden, und die Subsequenzen müssen in Hinblick auf die thematische und/ oder rhematische Progression wohlgeformt sein; (b) die Themen der einzelnen Subsequenzen müssen durch sinn-semantische Relationen zu einem einzigen gemeinsamen Ausdrucks- Thema (Themenkomplex) vereinigt werden“. 102 Ein Beispiel für einen kohäsiven Text ist 1Kor 15,41: „Einen anderen Glanz hat die Sonne, einen anderen Glanz hat der Mond, einen anderen Glanz haben die Sterne; denn ein Stern unterscheidet von dem anderen durch seinen Glanz“. Im Fall der Kohäsion muss auf jeden Fall eine Sinn-Einheit gebildet werden. So wird mit Blick auf Mk 4,1-34 im Rahmen eines historisch-kritischen Ansatzes gerne auf eine vormarkinische Gleichnissammlung rekurriert, die begründet wird aufgrund der kohäsiven thematischen Verknüpfung der agrarischen Erfahrungswelt, die jedoch gerade nicht, wie noch in der syntagmatischen Analyse zu zeigen sein wird, die Konnexität beachtet. Da Kohäsion bei Petöfi aber eine spezielle Bedingungen erfüllende Konnexität darstellt, kann über Kohäsion nur im Zusammenhang mit Konnexität gesprochen werden. 6.3. Kohärenz Um im Rahmen von Kohärenz die Kontinuität einer Sachverhaltskonfiguration, wie sie in einer Textwelt, den Modellen und dem Interpretamentum gegeben ist, auszudrücken, spricht Petöfi von „Konstringenz“. Um die Vollständigkeit einer Sachverhaltskonfiguration auszudrücken, spricht Petöfi von „Integrität“. Sowohl die Konstringenz wie auch die Integrität sind nicht als inhärente Eigenschaften des verbalen Materials anzusehen, sondern sie sind Eigenschaften, die im weitesten Sinne von den Wissenssystemen der InterpretInnen abhängen. Beide Begriffe beziehen sich auf die Akzeptabilität des Weltausschnitts als Interpretation. 103 Erst wenn diese beiden Grundaspekte erfüllt sind, darf ein Text als interpretierbar angesehen werden. Auf der Seite des verbalen Materials wurden die Begriffe Konnexität und Kohäsion als analoge Bezeichnungen für den Textzusammenhalt und die Vollständigkeit herausgestellt. Mit dem Terminus „Kohärenz“ wird die Kontinuität, die gleichermaßen stark von der Sachverhaltskonfiguration im Textrelatum (TR), dem Modell (M) und dem Interpretament oder Interpretanten bzw. (TRe) abhängig ist, bezeichnet. Anders ausgedrückt ist der Terminus „Kohärenz“ zu verwenden für die Bezeichnung der Beziehung zwischen dem Textrelatum externum und dem im Verlauf der Interpretation zu konstruierenden Textrelatum-Interpretanten bzw. dem zu konstruierenden Interpretamentum. Damit wird die Zuschreibung von Kohärenz zu einem Vorgang, der sich 102 Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer, Text, Konnexität, 25. 103 Vgl. Petöfi, Aspekte der Textinterpretation, 149. <?page no="147"?> 135 im Rahmen von subjektiv nachvollziehbaren Bedeutungsinterpretationen realisiert. „Da die Zusammengehörigkeit, die bei der Bedeutungsinterpretation eine Rolle spielt, von den Erwartungen des jeweiligen Interpreten abhängt, ist die Kohärenz keine inhärente Eigenschaft der Ausdrücke“. 104 Kohärenz ist also keine Eigenschaft der materialen Textgestalt. Dies heißt nicht, dass Kohärenz damit zu einem rein subjektiven Kriterium wird, sondern in einer „gegebenen Sprachgemeinschaft kann ggf. die Konvergenz der Erwartungen der verschiedenen Interpreten hinsichtlich der Texte, die einem gegebenen Texttyp angehören, so groß sein, daß man von einer für die Sprachgemeinschaft charakteristischen (intersubjektiven) Erwartung reden kann“. 105 Dieser Kohärenzbegriff, den Petöfi forciert, darf in ähnlicher Weise wie der Kohärenzbegriff von van Dijk und Eco als eine Abkehr von einem strukturalistischen Kohärenzbegriff verstanden werden. Kohärenz wird nunmehr zu einem „Bewertungsprädikat, durch das im Ergebnis der Textinterpretation einer Äußerungsfolge die Eigenschaft ‚kohärent’ bzw. ‚nicht kohärent’ zugeschrieben wird“. 106 Während also Kohäsion auf oberflächenstrukturellen Eigenschaften beruht, resultiert Kohärenz aus der Integration konzeptueller Textbedeutungsrepräsentationen zur so genannten Textwelt. Die Textwelt stellt somit eine kognitive Größe dar. Texte aktivieren nach dieser Vorstellung vielschichtiges (sprachliches, situatives, enzyklopädisches, soziales und kulturelles) Wissen, das in Form der Textwelt integriert ist. In dem Maße wie diese Integration gelingt, gilt der verarbeitete Text als kohärent, wobei RezipientInnen auch dann einen Text verstehen können, wenn sie nicht angeben können, worauf er referiert. Diese Bestimmung von Kohärenz stellt eine Bereicherung für die Interpretation biblischer Texte dar. Denn es wird herausgestellt, dass die Kohärenz eines Textes nicht ein objektives Phänomen ist, welches in der externen Welt der Texte entdeckt werden kann, sondern dass die Annahme, ob ein Text kohärent ist oder nicht, von kulturellen Faktoren abhängt. Kohärenz ist in diesem Sinne nicht etwas Vorgegebenes, sondern eine kulturelle Variable. Eine Bestimmung von Kohärenz, die auch mit der Untersuchung von Heath zum Konzept der Einheit im antiken Griechenland kompatibel ist: „what counts as coherence differs from one time or people to another“. 107 Deshalb kann mit Blick auf die Interpretation biblischer Texte nicht einfach von der Kohärenz des Textes gesprochen werden kann, ohne das dahinter liegende Konzept von Kohärenz offen zu legen. Die unreflektierte Rede von Kohärenz bzw. Einheitlichkeit eines biblischen Textes, wie die Beurteilung der literarischen Integrität eines Textes 104 Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer, Text, Konnexität, 26. 105 Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer, Text, Konnexität, 26. 106 Heinemann/ Viehweger, Textlinguistik, 120. 107 Heath, Unity, 150. <?page no="148"?> 136 auf der Grundlage von Wahrnehmungs- und Erfahrungswerten, 108 greift zu kurz. Kohärenz verstanden als ein prozessurales Geschehen des Interpretationsaktes verweist darauf, dass es nicht die Kohärenz gibt, denn „Kohärenz ist keine Sache (= sie ist nicht logisch-ontologisch definierbar), sie ist nicht im Text (= sie ist keine textimmanente Eigenschaft), sie ist ein Prozeß (= sie ist prozedural definiert)“. 109 Den Begriff „Kohärenz“ hat wesentlich Eve-Marie Becker für die neutestamentliche Wissenschaft aufgearbeitet. 110 Becker hält fest, dass die Frage nach „Kohärenz“ zum „Schlüsselbegriff für die Beurteilung der literarischen Einheitlichkeit neutestamentlicher Schriften geworden“ 111 ist, ohne dass dieser Begriff innerhalb der neutestamentlichen Exegese näher definiert worden sei. Auch sie votiert für eine prozedurale Deutung des Kohärenzbegriffes, dessen konstituierende Faktoren im außertextlichen Bereich liegen: „K(ohärenz) ist nicht nur als eine Eigenschaft von Texten zu betrachten, sondern auch als Ergebnis kognitiver (konstruktiver) Prozesse des Hörers/ Lesers“. 112 Im Gegensatz zu Becker wird in vorliegender Arbeit für eine Unterscheidung in Konnexität, Kohäsion und Kohärenz 113 votiert, um die unterschiedlichen Aspekte der Bedeutungsexplikation zu verdeutlichen. Für uns ist deshalb Konnexität ein Aspekt auf der Ebene der syntagmatischen Bedeutungsexplikation, Kohäsion ein Aspekt auf der semantischen Ebene der Bedeutungsexplikation und Kohärenz ein Aspekt auf der Ebene der pragmatischen Bedeutungsexplikation. 114 Kohärenz ist somit ein interpretatorischer Begriff, der sich mit der Kontinuität befasst, die sich in Abhängigkeit von einem zugrunde gelegten Modell, vom dem zugrunde gelegten Wissen sowie den Sachverhaltkonfigurationen zeigt. 108 Hier sei beispielhaft nur auf Steck, Exegese, 53, der - bei aller von ihm spürbar waltenden Vorsicht gegenüber literarkritischen Unternehmungen, zu dem auf der Wahrnehmungsebene verbleibenden Ratschlag kommt: „Grundsätzlich gilt: Lk (= Literarkritik, Anm. K.D.) ist nicht dort plausibel, wo man sie anwenden kann, sondern wo man sie vom Text gezwungen anwenden muß“ (S. 55). Doch auch Roloff, Neues Testament, 7, legt ein nicht hilfreiches Konzept zur Bestimmung von Einheitlichkeit eines Textes vor: „Uneinheitlich ist ein Text dann, wenn er sich als von einer späteren Hand als der des Verfassers gekürzt, ergänzt, glossiert und umgestellt erweist“. 109 Pellegrini, Elija,75. 110 Becker, Schreiben; dies., Kohärenz, 97-121. 111 Becker, Kohärenz, 97. 112 Becker, Kohärenz, 102. 113 Becker, Kohärenz, 100ff., möchte zwischen Kohäsion und Kohärenz unterscheiden. 114 Bei Becker, Kohäsion, 103ff., wird der Kohäsionsbegriff unspezifisch, wenn sie festhält, dass Kohäsion „die lexikalische, semantische und syntaktische Verknüpfung von Sätzen“ meint. Unter dieser Begriffsbestimmung ist m.E. eingeschlossen, dass es sich nicht nur um ein „textgrammatisches“ (S. 107) Phänomen handelt, sondern dass bei der Kohäsion immer auch Wissensstrukturen mitwirken. <?page no="149"?> 137 7. Zusammenfassung der Bedeutungstheorie Petöfis Zusammenfassend können für die semiotische Textologie folgende Merkmale festgehalten werden: Die semiotische Textologie erweist sich als eine Disziplin, die dazu dienen soll, dominant verbalen Kommunikate, die in verschiedenen Kommunikationssituationen produziert und rezipiert werden und die diese Theorie als Zeichenkomplexe behandelt, zu interpretieren. Sie ist deshalb eine Theorie des Interpretierens, bei der die Bedeutungsinterpretation den zentralen Schwerpunkt bildet. Das komplexe Regelsystem zur Bestimmung der Bedeutung stellt den umfassenden Versuch dar, der Explizitheit der bedeutungsgenerierenden Prozesse Genüge zu tun. Mit Blick auf die Bedeutungsinterpretation neutestamentlicher Texte hebt die Theorie von Petöfi nachdrücklich hervor, dass es für die biblischen Texte „kein Recht auf ein sprachliches Ghetto, mit dem diese Texte den kritischen Fragen der Welt, unserer Gegenwart, unseren eigenen Fragen entzogen werden dürfen“, 115 gibt. Deshalb muss gelten, dass die an die biblischen Texte gestellten Fragen, mit den gleichen bedeutungsbestimmenden Modellen aufgearbeitet werden können, die auch auf andere textuelle Manifestationen anwendbar sind. Im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Fundierung der Bedeutung hält das Modell von Petöfi fest, dass Bedeutung eine semiotische Größe ist, und es bestimmt Bedeutung als dynamische, nicht statische Größe, die durch die modelltheoretische Explizitheit darstellbar wird. Sein überaus abstraktes Bedeutungsmodell ist deshalb als der Versuch anzusehen, im Rahmen von theoretischen Interpretationen ein nachvollziehbares methodologisches Instrumentarium für die Bedeutungsbestimmung von Textzeichen bereit zu stellen. Petöfis Bedeutungstheorie wird im Rahmen seiner semiotischen Textologie entwickelt, welcher eine elaborierte und zugleich übergreifende Zeichentheorie zugrunde gelegt wird, die für eine Texttheorie fruchtbar gemacht wird. Ebenso ist die Bedeutungstheorie eingebettet in ein umfassendes Kommunikationsmodell, welches in der Lage ist, unterschiedliche Komponenten zu erfassen, die im Zusammenhang mit der Textproduktion sowie mit der Textrezeption zu beachten sind. Das Kommunikationsmodell von Petöfi erlaubt es, eine historische Komponente in seine Bedeutungstheorie einzufügen. Festgehalten wird aber zugleich mit dem Kommunikationsmodell von Petöfi, dass es antike Texte - wie die biblischen Texte - nur in Relation zu ihren modernen LeserInnen gibt. Dieser raum-zeitlichen Differenz muss die Arbeit zur Bestimmung der Bedeutung gerecht werden. 115 Reinmuth, Hermeneutik, 37. <?page no="150"?> 138 Die Bestimmung der Bedeutung eines Textes wird zu einer differenzierten Aufgabe, die mittels der semiotischen Textologie einen methodischen Rahmen hat. Das Modell von Petöfi eignet sich in besonderen Maße für die Bestimmung der syntagmatischen Dimension der Bedeutung, da es den Text als physikalisches Objekt in den Mittelpunkt seiner theoretischen Explikation rückt und größte Aufmerksamkeit der formalen Organisation des Textes zuwendet, die als grundlegend für den Bedeutungsaufbau erkannt wird. Bei dem Modell von Petöfi stellen schon die Erfassung des physikalischen Objektes wie auch die formale Organisation eines Textzeichens bedeutungsbestimmende Vorgänge dar, die nicht unabhängig vom „Interpreten“ beschrieben werden können. Es handelt sich um eine rezeptionsorientierte Konzeption der Bedeutung, die hinsichtlich der Bedeutungsinterpretation sowohl die physikalischen als auch die formalen Aspekte von Textzeichen berücksichtigt. Wir sehen hierin eine innovative Schwerpunktsetzung, die besonders fruchtbar für die syntagmatische Bedeutungsbestimmung ist. Sie erlaubt es, die materialen Aspekte von Textzeichen differenziert hinsichtlich der ihnen zuordbaren Bedeutung in kulturellen Prozessen unter Wahrung der Differenz einer „jetztzeitlichen Interpretation“ und einer „entstehungszeitlichen Interpretation“ herauszuarbeiten. Während der größte Teil der in der Linguistik verwendeten Zeichenmodelle ohne Rückgriff auf die Figur des Interpreten auskommt, stellt Petöfis Modell gerade in dieser Hinsicht eine Bereicherung dar, die es erlaubt, die Semiose als Prozess aufzufassen, der notwendigerweise die Teilhabe von ZeichenbenutzerInnen voraussetzt, so dass sowohl die perzeptive Erfassung eines Zeichens als auch die diesem Zeichen zugeordnete formale Struktur keiner statischen Bedeutungskonzeption verpflichtet sein können. <?page no="151"?> 139 V. Die Bestimmung der Bedeutung im Modell von Teun A. van Dijk Der Amsterdamer Linguist Teun A. van Dijk erarbeitet ebenso wie Petöfi eine Bedeutungstheorie, die auf die Größe von Texten rekurriert. Er geht dabei von einer semantischen Textbasis aus. Van Dijk entwickelte in den Jahren 1977-1983 ein semantisches Modell zur Beschreibung von Textbedeutungen. Sein Modell zielt darauf ab, Textstrukturen zu erfassen, die nicht nur auf die Größe von Sätzen festgelegt sind, wie dies in der bisherigen Semantikforschung überwiegend der Fall war. Van Dijk geht es in seinen Arbeiten um die deskriptive Erfassung satzübergreifender Textstrukturen, da diese maßgeblich die Textualität von Texten bestimmen. Mit diesen frühen Arbeiten beeinflusste van Dijk die textlinguistische Forschung der siebziger und achtziger Jahre; seine späteren Forschungen unter Einbeziehung kognitionswissenschaftlicher Fragestellungen beim Textverstehen dürfen auch heute noch als maßgeblich gelten. 116 Besonders die Zusammenarbeit von van Dijk mit Kintsch, die ihren Niederschlag in ihrem 1983 gemeinsam verfassten Buch „Strategies of Discourse Comprehension“ findet, in dem die Autoren versuchen, kognitive Lesestrategien bei der Rezeption von Texten zu erarbeiten und zu systematisieren, darf als Anstoß zu einer fruchtbaren Erweiterung des van Dijkschen Ansatzes gewertet werden. Zwar basieren die Ausführungen der beiden Autoren auf dem bereits in früheren Jahren entwickelten Textmodell van Dijks, allerdings wird dieses Basismodell van Dijks durch die Erkenntnisse der kognitiven Psychologie bereichert und erweitert. 117 Van Dijks Bedeutungstheorie bietet auf der Grundlage der Einbeziehung kognitionswissenschaftlicher Überlegungen ein Textverarbeitungsmodell an, das sich einem prozeduralen Ansatz verdankt, bei dem Textverstehen als ein Prozess der aktiven Konstruktion einer kohärenten Bedeutungsbestimmung angesehen wird, der ebenfalls nicht durch herkömmliche strukturelle, sondern nur durch komplexitätsorientierte Modelle beschrieben werden kann. So sind formale Textmodelle zwar durchaus wichtig, aber für eine Bedeutungsbestimmung keinesfalls ausreichend, da sie für sich genommen noch keinen Aufschluss über die hierbei eine Rolle 116 Vgl. dazu beispielsweise das Werk von Britton/ Graesser (Hgg.), Models of Understanding Texts, 1996, in dem zahlreiche Autoren auf van Dijks kognitionswissenschaftlichen Ansatz Bezug nehmen. In seinen weiteren Forschungen zeigt van Dijk zudem auf, wie das 1983 entwickelte Modell auch für die Beschreibung sozialer Interaktion verwendet werden kann, besonders bei der Kommunikation ethnischer Vorurteile oder Rassismus. 117 Vgl. van Dijk/ Kintsch, Strategies, IXf. <?page no="152"?> 140 spielenden kognitiven Faktoren liefern. Textverständlichkeit und Textverstehen sind nicht nur Eigenschaften von Texten, sondern Resultat einer komplexen differenten Prozedur 118 , bei der Text und LeserInnen in ein effektives Zusammenspiel involviert sein müssen. Der von van Dijk skizzierte Ansatz darf als holistisch angesehen werden, denn die Modellierung von Wissensstrukturen erfolgt durch ein ganzheitliches Modell. Van Dijk versucht, die dynamischen Prozesse der Bedeutungsgenerierung im Zusammenhang mit Texten zu erfassen und skizziert unter Einbeziehung kognitiver Aspekte die Möglichkeiten der Explizitmachung dieser bedeutungsgenerierenden Prozesse im Zusammenhang mit Texten. Dabei liegt der Schwerpunkt seines Interesses auf der semantischen Dimension. Betont wird in der Bedeutungstheorie von van Dijk, dass jede semantische Theorie immer eine pragmatische Perspektive 119 auf der Grundlage eines syntagmatischen Textzusammenhangs haben muss. Wir werden uns im Wesentlichen neben dem eben genannten Buch „Strategies auf Discourse Comprehension“ aus dem Jahr 1983 auf drei seiner Monographien beschränken, da in ihnen das semantische Modell von van Dijk in einer ausführlich ausgearbeiteten Form greifbar ist: „Text and Context“ (1977), „Textwissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung“ (1980) 120 und „Macrostructures. An Interdisciplinary Study of Global Structures in Discourse, Cognition and Interaction“ (1980). 1. Das Verständnis der Textwissenschaft van Dijks Um das Textmodell von van Dijk zu erfassen, ist es notwendig, sich einen Überblick zu verschaffen über sein Verständnis einer „Textwissenschaft“, die in der Linguistik einen eigenen Status gegenüber der Phonologie, Morphologie und Syntax fordert. Eine im Sinne von van Dijk verstandene Textwissenschaft geht über die Ebene des Satzes hinaus und untersucht 118 Im Bereich der linguistischen Textforschung sind durch die Einbeziehung kognitiver Modelle in den vergangenen Jahren zahlreiche Modelle entwickelt worden, die zunehmend Einfluss gewinnen. Neben dem von van Dijk entwickelten, gehen Heinemann/ Viehweger in ihrem Buch „Textlinguistik. Eine Einführung“ auf folgende ein: Die Theorie der story-grammar, vertreten von Rumelhart und Torndyke, die von der Annahme ausgeht, dass Geschichten mit Hilfe eines aktuellen Strukturschemas arbeiten. Die von Black entwickelte Theorie des Problemlösens als Variante der Geschichtengrammatik, die die Interpretation einer Geschichte als ein schrittweises Abarbeiten von Problemen durch die InterpretInnen begreift. Als letztes gehen Heinemann/ Viehweger auf das Modell von Johnson-Liard ein, dass Textverstehen zwar einerseits durch den im Text repräsentierten Sachverhalt, andererseits nur unter Mitwirkung des textunabhängigen Wissens zustande kommt. 119 Dies betont auch mit Blick auf die Bibelwissenschaften Mora Paz, Überlegungen zur Semantik, 46. 120 Das Buch erschien niederländisch unter dem Titel „Tekstwetenschap“ bereits 1978. <?page no="153"?> 141 semantische Verbindungen von mehreren Sätzen bzw. Äußerungen, um dadurch die Bedeutung eines Textes deutlich zu machen. 121 Van Dijk versteht die noch junge Wissenschaftsdisziplin der Textwissenschaft im Sinne einer „neuen interdisziplinären ‚Querverbindung’“, 122 die es sich zur Aufgabe gemacht hat, „die verschiedenen Aspekte der Sprachgebrauchs- und Kommunikationsformen, wie sie in den einzelnen Wissenschaften analysiert werden, in ihrem inneren und äußeren Zusammenhang zu beschreiben und zu erklären“. 123 Gegenüber der „Literaturwissenschaft“ stellt dies in erster Linie eine Verallgemeinerung und „Erweiterung des Untersuchungsterrains vom literarischen auf den allgemeinen Textbegriff“ 124 dar. Gegenüber einer Sprachwissenschaft, die ihr besonderes Augenmerk auf die sprachlichen Eigenschaften im Sprachsystem, auf die Grammatik sowie auf die allgemeinen Merkmale des Sprachgebrauchs richtet, fungiert auch hier die Textwissenschaft wiederum als eine Erweiterung, da sie sich dem „Studium der anderen Eigenschaften von Äußerungen und Kommunikationsformen“ 125 widmet. Ebenso wie Petöfi geht van Dijk davon aus, dass die syntagmatische Organisation eines Textes bei der Textinterpretation zwar leitend ist, dass aber eine rein syntagmatische Analyse nicht dem Interpretationsprozess der Bedeutung gerecht werden kann, da nicht alle bei einer Interpretation relevanten Aspekte nur Aspekte der Textoberfläche darstellen. Besonders ist bei der Bedeutungskonstruktion mit kognitiven Korrelaten zu rechnen, die in einem Theorierahmen zur Textinterpretation berücksichtigt werden müssen. So entwickelt sich bei van Dijk eine umfassende, transdisziplinäre „Textwissenschaft“, 126 die zu einem Integrationspunkt für alle mit Texten 121 Als sich die moderne Linguistik zu konstituieren begann, war es üblich, die Untersuchungen auf den Rahmen des Satzes als die größte Einheit mit inhärenter Struktur zu beschränken. Satzübergreifende Untersuchungen wurden nur in Rahmen der Stilistik virulent. Diese Trennung ist ein Reflex auf eine fundamentale Eigenschaft von Sprache: „Es ist viel einfacher, darüber zu entscheiden, was einen grammatischen oder akzeptablen Satz ausmacht, als darüber, was grammatische oder akzeptable Satzfolgen, Absätze, Texte oder Diskurse konstituiert. Wenn wir uns über die Satzgrenze hinausbegeben, betreten wir einen Bereich, der durch größere Freiheit der Selektion oder Variation und geringere Regelhaftigkeit charakterisiert ist“. (Beaugrande/ Dressler, Einführung, 18). 122 Van Dijk, Textwissenschaft, VII. 123 Van Dijk, Textwissenschaft, VII. 124 Van Dijk, Textwissenschaft, 4. 125 Van Dijk, Textwissenschaft, 6. 126 In seinen späteren Werken verzichtet van Dijk zunehmend auf einen Textbegriff zugunsten des Begriffs „Diskurs“, der nach van Dijk besser geeignet ist, den Reproduktionshintergrund eines Textes zu erfassen; Texte sind eben keine singulären Phänomene, sondern sie sind Repräsentanten einer seriell organisierten diskursiven Praxis: So schreibt van Dijk, Discourse as Interaction in Society, 3: „Language users actively engage in text and talk not only as speakers, writers, listeners or readers, but also as members of social categories, groups, professions, organizations, communities, <?page no="154"?> 142 befassten Disziplinen von der Philologie über die Geschichtswissenschaft zur Theologie und Jurisprudenz bis hin zur Publizistik wird. 127 Während in der Theologie die Auslegung von (religiösen) Texten im Vordergrund steht, geht es in der Jurisprudenz um die Deutung von (Gesetzes-)Texten und ihre Anwendung auf eine bestimmte Konfliktsituation. Die Relevanz des van Dijkschen Ansatzes einer Textwissenschaft für die Bibelwissenschaften liegt vor allem in der damit gegebenen transdisziplinären Verknüpfung, die alle mit Texten vereinten Wissenschaften zusammenschließt. Das skizzierte Verständnis einer Textwissenschaft führt zu einem notwendigerweise weiten Textbegriff und führt aus engen Textdefinitionen, wie sie klassisch in der Philologie und in der Linguistik vorherrschen, heraus, denn es betont den Text als eine kommunikative Größe, der eingebettet ist in Diskurse - und damit in kulturelle Kontexte. Innerhalb dieser Diskurse bzw. kulturellen Kontexte spielen nach der Theorie von van Dijk mentale Aspekte eine bedeutungsgenerierende Rolle, wobei wir in der Einleitung dieser Arbeit mit Posner die „Mentalität als Menge von Codes“ 128 aufgefasst haben, die auf bestimmten Konventionen beruhen. Die mentalen Aspekte einer Kultur sind demnach beschreibbar als ein System vom Zeichenkonventionen, das die Mitglieder einer Kultur teilen und das die Bedeutung ihrer textuellen Artefakte bestimmt. Durch die Einbeziehung kognitionswissenschaftlicher Überlegungen als Erklärungsmodell für das Textverstehen sehen wir in der Theorie von van Dijk ein für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Exegese bereicherndes Modell, um die bedeutungsgenerierenden Prozesse hinsichtlich der mentalen Aspekte der Kultur beschreibbar zu machen. Gerade der kognitionswissenschaftliche societies or cultures“. Einhergehend mit dieser Erkenntnis ist eine Textwissenschaft gefordert, die sich als „Critical Discourse Analysis“ (CDA) präsentiert, weil Texte immer in Diskursen verwendet werden und niemals in einem kontextfreien Raum. „Instead of merely focussing on their discipline and its theories and paradigms, such discourse analysts focus on relevant social problems. That is their work is more issueoriented than theory-oriented. Analysis, description and theory formation play a role especially in as far as they allow better understanding and critique of social inequality, based on gender, ethnicity, class, origin, religion, language, sexual orientation and other criteria that define differences between people” (van Dijk, The Study of Discourse, 22f.). Im Rahmen einer kulturwissenschaftlich orientierten Exegese ist der Diskurs-Begriff von van Dijk hoch anschlussfähig, denn auch hier wird deutlich, dass Diskursteilnehmer als Zeichenbenutzer auf Kodes (Religion, Klasse, Gender, etc) angewiesen sind, um Texte zu verstehen. Wenn wir im Folgenden auch den Begriff Diskurs gebrauchen, dann in diesem van Dijkschen Sinne, den er selbst beschreibt als „talk and text in context” (van Dijk, The Study of Discourse, 3). Mit Diskurs ist also eine texttranszendente Größe gemeint, die Texte einschließt, aber den Text gerade als eine kommunikative Größe gewichtet, die nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern im Hinblick auf ihre Teilhabe an Diskursen. 127 Van Dijk, Textwissenschaft, 14. Eine ähnliche transdisziplinäre „Textwissenschaft“ fordert auch S.J. Schmidt, Texttheorie. 128 Posner, Kultursemiotik, 53. <?page no="155"?> 143 Ansatz, für den sich die Bedeutungstheorie von van Dijk stark macht, ermöglicht es in grundlegender Weise folgende Frage zu stellen: Welche kognitiven Prozesse sind zu veranschlagen, wenn Transformationsprozesse der Bedeutung bei der Interpretation eines neutestamentlichen Textes ablaufen? Die Frage nach kognitiven Prozessen beim Verstehen biblischer Texte wird auch gegenwärtig in der neutestamentlichen Forschung gestellt. So zieht Massa beispielsweise ein kognitionswissenschaftliches Modell zum Verstehen der Gleichnisse heran. 129 Besonders innovativ werden kognitionswissenschaftliche Modelle innerhalb der Exegese des Johannesevangeliums eingesetzt. 130 Gegenüber den dort dargelegten Modellen, die sich für die biblische Bildersprache eignen, sehen wir in dem Modell von van Dijk die Möglichkeit, komplexe Texte wie die Evangelien mittels einer kognitiven Theorie interpretieren zu können. Im Vordergrund steht das Interesse, die im Gedächtnis ablaufenden Prozesse bei der Bedeutungsinterpretation biblischer Texte explizit machen zu können. Dies gilt umso mehr, als die Übung des Gedächtnisses durch Memorieren ein wichtiger Bestandteil der Erziehung und Ausbildung in der Antike war. 131 Unter Einbeziehung von Textzeichen kann davon ausgegangen werden, dass „with literacy comes a greater need for memory“. 132 Wobei „literacy“ hier nicht zu verstehen ist als die Fähigkeit zu schreiben und zu lesen, sondern sich vielmehr darauf bezieht, „wie“ gelesen wird. Die Bedeutungstheorie von van Dijk scheint uns geeignet, diese bei Rezeptionsleistungen ablaufenden kognitiven Prozesse zu verdeutlichen. 2. Das Textverständnis und Textverstehen nach van Dijk Das Textverständnis van Dijks beruht entsprechend seiner kognitionswissenschaftlichen Fundierung auf einem Modell der Textverarbeitung: „We are interested in the strategies peoples use when they read a text - a book chapter for an exam, or a story for their entertainment … [In the laboratory] the usual redundancies on which these strategies rely have been removed from the text. Hence, the subject falls back on general problem-solving strategies and devises on the spot of some procedure that works. The trouble is, that this procedure may be entirely task specific and of no general 129 Vgl. Massa, Verstehensbedingungen, 17, der in seiner Studie den Blickwinkel auf „die seitens eines Hörers oder Lesers sich vollziehenden kognitiven Prozesse des Verstehens und auf die Voraussetzungen, die durch das Wissen des Rezipierenden und die textuellen Faktoren abgesteckt sind“, richtet. 130 Vgl. Koester, Symbolism; Watt, Family; Zimmermann, Christologie, bes. 219-237; Nielsen, Lamb. 131 Vgl. Small, Wax Tablets, 136. 132 Small, Wax Tablets, 4. <?page no="156"?> 144 interest as far as normal discourse processing is concerned. […] We might be left with quite the wrong conclusions from such experiments (and give quite the wrong advice to educators, textbook writers, etc.). […] Studying sentences in isolation may tell us something, but it is also possible that it will mislead us”. 133 Diese Strategien sind immer kulturell determiniert mit Bezug auf die Textzeichen, so dass es um ein Zusammenwirken textgeleiteter und wissensgeleiteter Prozesse beim Verstehen geht: „Although grammar deals with meanings and interpretation in abstract terms, it should be emphasized that, empirically, meanings and interpretations of utterances or activities are to be accounted in cognitive terms. No serious account of discourse meaning, coherence, or other semantic properties is possible without notions such as concept, knowledge and beliefs, frames, scripts, or models, that is in terms of mental representations and cognitive processes of various kinds”. 134 Die textgeleiteten Prozesse wirken immer mit den mentalen Aspekten zusammen, zu denen Überzeugungen, Werte und im weitesten Sinne Konventionen zählen, um eine Bedeutungsbestimmung vorzunehmen. Zentraler Begriff des kognitiven Modells zur Bedeutungsbestimmung bildet die so genannte „Verstehensstrategie“ als Repräsentation prozeduralen Wissens des Textverstehens. Daher wird der Prozess des Textverstehens zu einem strategischen Prozess, in dem Verstehensstrategien die Aktivierung und Generierung von Wissen mit dem Ziel einer möglichst effizienten Textverarbeitung forcieren. Dabei bezieht sich der Begriff der Textverarbeitung auf all jene kognitiven Vorgänge, die an der Aufnahme, Transformation, Organisation, Speicherung, Reaktivierung und Reproduktion von Textinformationen beteiligt sind. Folgende Annahmen sind dabei für van Dijk leitend: Der Verstehensprozess erzeugt eine mentale Textrepräsentation, die relativ zum Erfahrungs- und Wissenshintergrund der RezipientInnen interpretiert wird. Mit dieser Feststellung ist zugleich impliziert, dass eine rein strukturale oder eine rein referenztheoretische Semantik nicht ausreicht, sondern „daß wir neben dieser linguistischen Semantik, der intensionalen wie der extensionalen, für die Beschreibung des Prozesses der Textinterpretation auch eine kognitive Semantik brauchen, bei der neben anderem die Weltkenntnis (das Welt-Wissen) der Sprachgebraucher eine wichtige Rolle spielt“. 135 Der Verarbeitungsprozess ist nicht regelbasiert, sondern beruht auf der Anwendung von Verstehensstrategien, die flexibel und fehlertolerant von unscharfen, unvollständigen oder widersprüchlichen Informationen Gebrauch machen mit dem Ziel, Texte und die in ihnen vor- 133 Van Dijk/ Kintsch, Strategies, 32. 134 Van Dijk, Communicating Racism, 37. 135 Van Dijk, Textwissenschaft, 21. <?page no="157"?> 145 liegenden Zeichen mit möglichst geringen kognitiven Aufwand als kohärente Einheiten zu integrieren. Die Aufgabe einer Textinterpretation ist es, durch die Anwendung unterschiedlicher Strategien Ordnung in die Informationen, die aus einem Text aufgenommen werden, zu bringen. Damit versucht der Ansatz von van Dijk, die Aspekte der Bedeutungszuweisung in einem dynamischen Prozess darzustellen, der den Begriff der Strategie eng an den Begriff der Bedeutung koppelt. Implizit verdankt sich der Ansatz von van Dijk der Überzeugung, dass die strategische Fähigkeit zur Mentalisierung die Grundlage für komplexe Kommunikationsprozesse bildet, so dass es ohne diese Fähigkeit unmöglich wäre, kulturelle Prozesse zu generieren. Während der Begriff des Verarbeitungsprozesses an die generelle Offenheit anknüpft, resultiert die Relevanz des Strategiebegriffs aus der Unmöglichkeit, die Dynamik von Textverstehensprozessen mit Hilfe von Regeln abzubilden. Der Strategiebegriff ist sozusagen die additive Komponente, um die Offenheit der Textverarbeitungsprozesse begrifflich zu fassen. Während regelbasierte Ansätze kontextfreie Textstrukturbeschreibungen generieren, deren Korrektheit an die Eindeutigkeit und Vollständigkeit ihrer Anwendungsbedingungen gebunden sind, machen van Dijk/ Kintsch geltend, dass Prozesse zur Generierung von Bedeutung durch Unvollständigkeit und Mehrdeutigkeiten ihrer informationellen Grundlagen gekennzeichnet sind. 136 Daher sind Verstehensstrategien zur Generierung von Bedeutung kontextsensitive 137 Prozeduren, die an unterschiedliche Anwendungsbedingungen flexibel angepasst werden können. 138 Um diese unterschiedlichen Strategien des Textverstehens näher zu fassen, baut die Strategietheorie von van Dijk und Kintsch auf folgenden Annahmen hinsichtlich der kognitiven Prozesse auf: 139 a.) eine „konstruktivistische“ Annahme, nach der menschliche Kommunikatoren eine mentale Repräsenta- 136 Vgl. van Dijk/ Kintsch, Strategies, 72. 137 Sofern bei van Dijk von „Kontext“ gesprochen wird, geht es um die „kommunikative Situation“. Es handelt sich bei dem Kontextbegriff um einen pragmatischen Begriff. „Nicht zum Kontext gehört etwa die Tatsache, daß der Sprecher erkältet ist, lispelt oder rotes Haar besitzt, auch wenn dies einen ad-hoc Sprachgebrauch charakterisiert. Es existieren aber keine systematischen Bezüge, die auf konventionellen Regeln der Art beruhen, daß ‚die Eigenschaft, rotes Haar zu haben, diese oder jene syntaktische Konstruktion oder semantische Interpretation nach sich zieht’ [...] Wohl aber gehören zum Kontext, neben der Äußerung selbst, Kategorien wie Sprachgebraucher, d.h.: Sprecher und Hörer [...], das Sprachsystem, das sie benutzen oder kennen [...], daneben weiterhin die ‚Positionen’ der Sprachgebraucher untereinander (vom Typ sozialer Beziehungen zwischen ‚Rollen’) und gegenüber Systemen sozialer Normen, Verpflichtungen und Gewohnheiten, insofern diese Elemente die Struktur und Interpretation der Äußerung systematisch und konventionell (im Sinne von Regeln) bestimmen“ (van Dijk, Textwissenschaft, 70f.). 138 Vgl. Zwaan, Aspects, 15. 139 Dargestellt in Anlehnung an Rickheit/ Strohner, Grundlagen, 75f. <?page no="158"?> 146 tion der Sachverhalte des Textes konstruieren; b.) eine interpretative Annahme, nach der menschliche Kommunikatoren die Sachverhalte als einen bestimmten Typus von Ereignis interpretieren; c.) die „on-line“-Annahme, nach der menschliche Kommunikatoren bei der Konstruktion und Interpretation der Textwelt nicht abwarten, sondern diese sofort aufbauen und im Verlauf der Rezeption ergänzen oder modifizieren; d.) die präsuppositive Annahme, nach der menschliche Kommunikatoren bei der Konstruktion der Textwelt grundsätzlich von ihren Meinungen, Einstellungen und Überzeugungen ausgehen; e.) die strategische Annahme, welche besagt, dass menschliche Kommunikatoren die für die Textwelt relevanten externen und internen Informationen flexibel und interaktiv verwenden, um das Ziel des Textverstehens zu erreichen. Im Rahmen des Kapitels „Psychologie der Textverarbeitung“ in seinem Buch „Textwissenschaft“ wird das Generieren von Bedeutungsprozessen mit Blick auf Texte als ein umfassender, nach verschiedenen Arten von Textstrukturen (Satzketten, globaler Textinhalt, stilistische, rhetorische Strukturen sowie textsortenspezifische Gesamtschemata) auf unterschiedlichen Ebenen simultan ablaufender Prozess beschrieben. Das Grundprinzip ist das einer zyklischen Verarbeitung. „Zyklische Verarbeitung bedeutet, daß eine zu verarbeitende Proposition nicht in den ganzen bereits verarbeiteten Text integriert wird, sondern daß es in jedem Zustand der Verarbeitung nur einige wenige Propositionen aus dem bereits verarbeiteten Textteil gibt, die für diese Kohärenzbildung zur Verfügung stehen“. 140 Besonders deutlich wird das zyklische Prinzip beim Verstehen von Satzsequenzen. Dazu Van Dijk: „eine Propositionsreihe wird aufgenommen, die Propositionen werden in einen Zusammenhang gebracht, dann wird wieder eine neue Propositionsreihe (z.B. von einem nächsten Satz) zugelassen, und diese wird wenn möglich mit der vorausgehenden Reihe verbunden“. 141 Da die Speicherung aller auf dieser Weise einlaufenden Informationen im Kurzzeitgedächtnis nicht möglich ist, müssen differenzierte Verarbeitungsoperationen angenommen werden, die die Fülle der Einzelinformationen reduzieren können. Um dieses zyklische Prinzip der „Informationen-aus-Texten- Verarbeitung“ 142 zu erfassen, arbeitet van Dijk mit den Kategorien „gegeben“ und „neu“: Das zyklische Prinzip läuft darauf hinaus, neue Informationen mit alten zu verbinden. Hierzu müssen - nach van Dijk - zwei Informationsstränge wirksam werden: zunächst einmal „ein Thema, d.h.: eine Makroproposition oder mehrere, in bezug auf welche die Konnexions- und Kohärenzrelationen erreicht werden können“, sodann bedarf es der 140 Rickheit/ Strohner, Grundlagen, 73. 141 Van Dijk, Textwissenschaft, 178. 142 Van Dijk, Textwissenschaft, 178. <?page no="159"?> 147 „nötigen Rahmeninformation“, 143 also dem zu Frames strukturierten Wissensbestand der SprachbenutzerInnen. Diese Faktoren ordnet van Dijk zu folgender Inhaltsstruktur eines Interpretationszyklus „a. notwendige Interpretationsbedingungen (Präsuppositionen) von ‚alten’ Informationen; b. alte Informationen, z.B. die Proposition eines letzten Satzes; c.) neue Information, z.B. die Proposition eines zu interpretierenden Satzes; d.) Makropropositionen, um b und c miteinander zu verbinden; e.) Rahmenpropositionen, um b und c miteinander zu verbinden; f.) plausible Implikationen von b und c (und Assoziationen); g.) schematische (Superstruktur-)Information in bezug auf die globale Funktion von b und c; h.) Konnexions- und Zusammenhangsstruktur von (b, c, d, e)“. 144 Van Dijk unternimmt den Versuch, das Zusammenspiel aller am Verstehen von Satzketten bzw. Textzeichen beteiligten Faktoren darzustellen. Grundlegend ist hierfür die Kategorie der „Proposition“. 145 Diese semantische Basiseinheit besteht „aus einem semantischen Prädikat und einer bestimmten Anzahl von Argumenten, da in Termen von Propositionen sowohl die Inhalte von Einzelsätzen als auch die Verknüpfung und Integration dieser Einzelsätzen zu komplexen Ganzheiten beschrieben werden können“. 146 Unter Berücksichtigung der Erweiterung des Propositionsbegriffs aus der Logik weist van Dijk darauf hin, dass Propositionen nicht mit „statements and assertions“ 147 zu identifizieren sind, die entweder wahr oder falsch sein können, sondern van Dijk geht davon aus, „daß eine Proposition ein bestimmtes Konzept ist, nämlich das Konzept für einen ‚möglichen Sachverhalt’; in einem Satz, der in einem bestimmten Kontext geäußert wird, kann daher eine Verbindung mit konkreten Sachverhal- 143 Van Dijk, Textwissenschaft, 178. 144 Van Dijk, Textwissenschaft, 178. 145 Der Terminus „Proposition” stammt aus der Logik und ist von semantischen Theorien ebenso wie von der Sprechakttheorie übernommen worden. In der Logik wird unter einer Proposition ein sprachlicher Ausdruck verstanden, der wahr oder falsch sein kann. Das wesentliche Merkmal des logischen Propositionsbegriffs besteht also darin, dass Propositionen als Träger von Wahrheitswerten fungieren können. In der Regel handelt es sich bei den sprachlichen Ausdrucksformen um Urteile in Gestalt von Aussagen (oder Behauptungssätzen), die in einer bestimmten Situation geäußert werden. In der Linguistik wird der Begriff der Proposition in einem weiteren Rahmen verstanden, der dazu verwendet wird, den Sinngehalt von Sätzen zu beschreiben unter Absehung von den logischen Kriterien der „Wahrheit“ und „Falschheit“, „da im Hinblick auf die Praxisrelevanz von Texten nicht mehr die Adäquatheit von Conclusionen von grundlegender Bedeutung sein konnte, sondern die Adäquatheit von Abbildern im Rahmen sprachlicher Kommunikationsprozesse“ (Heinemann/ Heinemann, Grundlagen, 76, unter Verweis auf van Dijks Propositionsbegriff). 146 Heinemann/ Heinemann, Grundlagen, 74. 147 Van Dijk, Text and Context, 41, Anm. 14. <?page no="160"?> 148 ten in bestimmten möglichen Welten zum Vorschein kommen“. 148 Propositionen stellen also die minimalen Bedeutungseinheiten der Textsemantik von van Dijk dar, die horizontal zu lokal kohärenten Sequenzen und vertikal zu global kohärenten (auf komplexe Sachverhalte referierende) Makropropositionen integriert werden. Aufgrund dieser vertikalen Verknüpfung eignen sich Propositionen nach van Dijk nicht nur für die Satzbeschreibung, sondern sind ebenso für die Erfassung komplexer Textbedeutungen von großer Relevanz. Die semantische Textstruktur lässt sich als ein vertikal verknüpftes Netz verstehen, bei dem die Verknüpfungsbeziehungen von einzelnen Argumenten, von Prädikat-Prädikatbeziehungen, insbesondere aber die Verknüpfungsbeziehungen verschiedener (komplexer) Propositionen zueinander im Rahmen des Gesamttextes erschlossen werden. Damit das Verknüpfen von Propositionen im Verstehensprozess der HörerInnen gelingt, müssen die Elemente der Propositionen aufeinander beziehbar sein: „Zwei Propositionen sind miteinander verbunden, wenn ihre Denotate, d.h. die Sachverhalte, die ihnen in einer Interpretation zugewiesen werden, miteinander verbunden sind.“ 149 Propositionen sollen aus der Anwendung von Interpretationsregeln resultieren, die Bedeutungen von Satzkonstituenten auf der Grundlage ihrer syntagmatischen Struktur zu Satzbedeutungen zusammensetzen. 150 Statt Propositionen in wahrheitskonditionaler Sicht zu behandeln, werden sie bei van Dijk als strukturierte kognitive Einheiten aufgefasst, deren Konstituenten selbst wieder Konzepte darstellen. Sie bilden sozusagen die erste Verstehensstufe auf dem Weg zur Konstruktion des mentalen Modells. Hier ist allerdings von einer im Peirceschen Sinne motivierten Semiotiktheorie her kritisch anzumerken, dass der Begriff der Proposition als rein logisch-semantische Informationsstruktur nicht geeignet ist, die pragmatische Seite dieses Konzeptes von van Dijk zu explizieren. So wirkt die Einbeziehung von Frames, die im weiteren Verlauf der Darstellung noch eine Rolle spielen werden, auch relative unmotiviert. Denn Frames sind als Informationskomplexe zu bestimmen, die auf der RezipientInnenseite mit konventionellen und kulturellen Wissensannahmen operieren, die sich zu dem pragmatikfreien Raum der Propositionsstrukturen inkompatibel verhalten. Van Dijk selbst hat auf diese Dissonanz zu seinem pragmatischen Ansatz reagiert und dem Begriff der Proposition in seinen späteren Werken keine große Rolle mehr zugewiesen. Wir werden ihn deshalb auch in der Arbeit mit dem Ansatz von van Dijk nicht aufgreifen, sondern uns wesent- 148 Van Dijk, Textwissenschaft, 27, Anm. 12. Deutlich wird in dieser Aussage die Verbundenheit zu einem durch Montague inspirierten „mögliche Welten-Begriff“, auf den wir weiter unter noch zu sprechen kommen werden und der besonders bei der Darstellung des Ansatzes von Eco eine Rolle spielen wird. 149 Van Dijk, Textwissenschaft, 27. 150 Vgl. van Dijk, Macrostructures, 30. <?page no="161"?> 149 lich auf den der Textbasis beschränken. Dieser Begriff impliziert zwar immer schon einen propositionalen Charakter, ist aber weiter gefasst. 3. Die Oberflächenstruktur und die Textbasis 3.1. Die Oberflächenstruktur Die Oberflächenstruktur ist die perzipierte Struktur eines Textes im Akt des Rezipiertwerdens. Sie entspricht in der Terminologie von Petöfi dem Textvehiculum und in der Terminologie von Eco der linearen Textmanifestation. Grundsätzlich ist zu betonen, dass erst ausgehend von einer Oberflächenstruktur sich eine Textbasis bilden kann. Dieser Aspekt betont die materiale Seite, die bei jeder Zuweisung einer Textbedeutung gegeben sein muss und die zugleich immer schon die Textbedeutung beeinflusst. Es handelt sich hier um die perzeptiv erschlossene materiale Gestalt eines textuellen Artefaktes, das notwendig ist, um den Prozess der Bedeutungsgenerierung in einen Raum zu überführen, der die Bedeutung darstellbar macht. 3.2. Die Textbasis Die Konstruktion einer kohärenten Textrepräsentation, auf die der Verstehensprozess zielt, wird als „Textbasis“ bezeichnet. 151 Die Textbasis stellt die im episodischen Gedächtnis gespeicherte konzeptuelle Bedeutung dar. Sie basiert auf propositionalen Satzbedeutungen, die zu lokal kohärenten Systemen integriert werden. Damit wird eine Reihe von Propositionen, „die eine textuelle Sequenz als Basis hat, die Textbasis“ 152 genannt. Anders ausgedrückt: Die Textbasis repräsentiert das, was in einem Text gesagt wird. Diese wiederum wird in dem Buch „Textwissenschaft“ unterteilt in eine implizite und eine explizite Textbasis, denn van Dijk geht davon aus, dass nur ein Teil der für das Verstehen eines Textes notwendigen Propositionen dem Text selbst entnommen werden. Deshalb werden neben den im Text ausgedrückten, d.h. expliziten Propositionen, aufgrund des allgemeinen (enzyklopädischen) Wissens der TextrezipientInnen noch zusätzlich „eine Anzahl besonderer impliziter Propositionen abgeleitet werden. Ohne solche impliziten Propositionen dürfte [eine] Sequenz nicht vollständig interpretierbar sein“. 153 Alle Propositionen zusammen, die expliziten und die impliziten, ergeben die schon erwähnte Textbasis. 154 Ein grundlegender 151 Van Dijk/ Kintsch, Strategies, 11. 152 Van Dijk, Textwissenschaft, 33. 153 Van Dijk, Textwissenschaft, 33. 154 Zwaan, Towards a Model of Literary Comprehension, 247-248, argumentiert, dass bei literarischen Texten die Textbasis nicht nur durch propositionale Satzbedeutungen, die zu lokal kohärenten Sequenzen integriert werden, generiert wird. „A detail may <?page no="162"?> 150 Schritt bei jeder Bedeutungsinterpretation ist die Rekonstruktion dieser Textbasis durch die RezipientInnen. Es wird im Verlauf der exegetischen Erarbeitung darum gehen, dass aufgrund der impliziten Textbasis von Mk 4,14-20 hierfür eine explizite Textbasis geltend gemacht werden kann, in der sich die dargestellten Hörertypologien in Mk 4,14-20 mit Charakteren im Verlauf des Markusevangeliums identifizieren lassen. „Um einen Text zu verstehen, müssen wir kognitiv [...] die vollständige explizite Textbasis rekonstruieren aufgrund der impliziten Textbasis, wie sie in der Satzsequenz erscheint“. 155 Die implizite Textbasis ist das, was sozusagen in dem Text steht, der für alle RezipientInnen gleich ist. Implizit wird sie genannt, weil in ihr vieles implizit ist. Die explizite Textbasis bildet das von den RezipientInnen hergestellte Konstrukt, 156 welches mit Blick auf Mk 4,14-20 als die Konstruktion von vier verschiedenen Hörertypologien bestimmt wird. Wichtig ist: Das Ergebnis der Bedeutungszuweisung eines Textes wird also nicht mit der impliziten Textbasis zusammenfallen, stattdessen ist für das Verstehen eines Textes die Ergänzung mit (kulturell verankertem) Wissen und Erfahrung der RezipientInnen notwendig. 4. Das Situationsmodell Um (enzyklopädisches) Wissen der RezipientInnen besser zu erfassen, erarbeiten van Dijk/ Kintsch den Begriff des „Situationsmodells“, welches, nicht notwendigerweise propositional organisiert, Informationen aus der Diskurssituation, dem verarbeiteten Text, integriert sowie Informationen aus der Wissensbasis der RezipientInnen bereithält. 157 Van Dijk/ Kintsch betonen, dass im Rahmen des Situationsmodells Informationen aus den textuellen und außertextuellen Wissenssystemen der RezipientInnen Berücksichtigung finden. In der Arbeit zu dem Bedeutungsmodell von van Dijk sollen besonders die textuellen Wissenssysteme Berücksichtigung be mentioned in a detective novel that does not seem to bear immediate relevance to information previously stated in the text. For example, the narrator may mention out of the blue that a particular character is left-handed. In non-literary prose comprehension, this information probably would be quickly deactivated because it would not receive activation from other nodes of the prepositional network. In literature, however, seemingly irrelevant information can be relevant in a later stage, for example, when it turns out that the murderer is left-handed. In the case of literary prose therefore, seemingly irrelevant information has to be kept active in memory for a relatively long period.” 155 Van Dijk, Textwissenschaft, 33. 156 In vielen Arbeiten zur Textlinguistik wird diese Unterscheidung mit anderer Terminologie aufgenommen. Vgl. z.B. Nussbaumer, Was Texte sind, 147, der zwischen Text I und Text II unterscheidet. Dort auch weitere Literatur. 157 Vgl.van Dijk/ Kintsch, Strategies, 11f.106.163.172.336-348. <?page no="163"?> 151 finden. Insgesamt stellt das Situationsmodell derzeit „die beste Möglichkeit dar, das Zusammenspiel mehrerer rezipientenseitiger Komponenten sowie textseitiger Komponenten des Verstehensprozesses unter Berücksichtigung der kognitiven Flexibilität der Rezipienten/ innen umfassend zu beschreiben und zu erklären.“ 158 Van Dijk/ Kintsch definieren das Situationsmodell wie folgt: „A situational model is the cognitive representation of the events, actions, persons, and in general the situation that a text is about“. 159 Eine wichtige Rolle spielen Inferenzen 160 beim Aufbau des Situationsmodells: „The situation model captures the referential dimension of a text. A situation model is an amalgamation of information obtained from the text and inferences constructed by the reader“. 161 Van Dijks Annahme zufolge enthält ein Text „Leerstellen”, diese entsprechen den noch offenen Fragen der LeserInnen an den Text. Finden sich Antworten auf diese Fragen, so werden die betreffenden Leerstellen ausgefüllt. Dies erfolgt entweder mit Hilfe von Informationen aus dem Textverlauf oder aber durch Inferenzen, bei denen unter Rückgriff auf das Wissen der LeserInnen selbst entsprechende Informationen generiert werden. Inferenzen sind somit Antworten der LeserInnen auf die von ihnen selbst gestellten Fragen. Sie haben die Funktion, die mentale Repräsentation anzureichern und zu differenzieren. 162 Z.B. müssen die gegenwärtige(n) LeserInnen des Markusevangeliums wissen, dass die „Beieinanderliegenden“ (= toi/ j sunanakeime,noij ) in Mk 6,22 der antiken Gepflogenheit (der gehobenen Gesellschaftsschicht) entsprach, im Liegen zu speisen. Während die (explizite) Textbasis aus Elementen und Strukturen gebildet ist, die direkt aus dem Text generiert werden, ist das Situationsmodell umfassender, weil es das (textuelle) Wissen und die Erfahrung der RezipientInnen zu berücksichtigen versucht. Anhand des Situationsmodells wird erklärbar, warum es individuelle Differenzen beim Textverstehen 158 Christmann/ Schreier, Kognitionspsychologie, 261. 159 Van Dijk/ Kintsch, Strategies, 11f. 160 Prozesse der Inferenzbildung gehören zu den wichtigsten Voraussetzungen für die konstruktiven Aktivitäten beim Textverstehen, aber auch zu den umstrittensten. Zwei Tendenzen der Theoriebildung haben sich nach Rickheit/ Strohner, Grundlagen, 229, herausgearbeitet: „Die Vertreter der minimalistischen Theorie meinen, daß Inferenzen nur dann gebildet werden, wenn sie zur Kohärenzherstellung benötigt werden. [...] Die Vertreter der maximalistischen Theorie sehen Inferenzen vor allem im Rahmen solcher übergreifender repräsentationaler Einheiten wie Skripts, Szenarios und mentaler Modelle.“ Entgegen der Feststellung von Rickheit/ Strohner ist van Dijk nur eindeutig in seinen frühen Schriften (bis 1978) diesen minimalistischen Theoretikern zuzuordnen, danach vertritt er eine als vermittelnd zu bezeichnende Position. 161 Zwaan, Towards a Model of Literary Comprehension, 244. 162 Damit verschiebt sich in dem Ansatz von van Dijk/ Kintsch die Funktion der Inferenzbildung von der linguistischen Ebene hin zur Ebene der mentalen Modellbildung. <?page no="164"?> 152 geben kann, die nicht nur auf der Ebene der textuellen Repräsentation anzusiedeln sind, sondern auf der situationellen Ebene. „Readers may not differ so much in their representation of what is expressed in the text, but of what they take that to mean (through an integration of textual information and goals and knowledge of the reader)“. 163 Im Rahmen des Situationsmodells kommt es bei van Dijk und Kintsch zu einer stärkeren Einbeziehung des (sozialen) Kontextes. Zugleich wird mit dem Situationsmodell erklärbar, warum LeserInnen entgegen ihren eigenen Plausibilitätsannahmen, entgegen ihrem eigenen enzyklopädischen Wissen in der Lage sind, zu verstehen oder nicht zu verstehen: „if comprehenders are unable to imagine a situation in which certain individuals have the properties or relations indicated in the text [they] fail to understand the text itself“. 164 Diese im Situationsmodell dargestellten Quellen des Wissens sind notwendig, um die textuellen Informationen zu vervollständigen und sie zu transformieren, damit sie integriert werden können in den schon vorhandenen Wissens- und Erfahrungspool der RezipientInnen. Im Rahmen der Arbeit mit dem Modell von van Dijk werden wir das Situationsmodell anwenden, um zu zeigen, wie sich durch das Situationsmodell unser Bild von dem im Markusevangelium agierenden Charakteren aufbaut ausgehend von den in Mk 4,14-20 dargelegten Hörertypologien. Der Aufbau des Charakterbildes wird im Situationsmodell maßgeblich durch die textuellen Verknüpfungen bestimmt, welche über das Situationsmodell explizierbar werden. Mittels des Situationsmodells gelingt es, den kognitiven Prozess der syntagmatischen Referenzialisierung der Hörertypologien im Markusevangelium vorzunehmen. 5. Das „Control System“ Das Kontrollsystem überblickt den sich vollziehenden Bedeutungsaufbau, indem es „supervise processing in short-term memory, activate and actualise needed episodic and more general semantic knowledge, provide the higher order information into which lower order information must fit, coordinate the various strategies, decide which information from shortterm memory should be moved to episodic memory, activate the relevant situation models in episodic memory, guide effective search of relevant information in long-term memory, and so on”. 165 Das Kontrollsystem reguliert somit die ablaufenden Verstehensprozesse und auch die Art der Kohärenzbildung in Abhängigkeit zu den Zielen der RezipientInnen. In dem Modell von van Dijk fungiert das Kontrollsystem als die Schaltstelle für 163 Zwaan, Aspects of Literary Comprehension, 29. 164 Van Dijk/ Kintsch, Strategies, 337. 165 Van Dijk/ Kintsch, Strategies, 12. <?page no="165"?> 153 den Bedeutungsaufbau. Es steuert in ordnungsgebender Weise den Bedeutungsprozess. Verdeutlicht werden kann die Funktion des Kontrollsystems mit der Arbeit einer web-Suchmaschiene: Die Flut der Informationen wird durch ein effektives Suchsystem vorsortiert, um den web-NutzerInnen die Zielfindung trotz Informationsflut zu ermöglichen. Dies gilt auch analog für die Texte. Jede Bedeutungsinterpretation stellt immer eine Bedeutungsinterpretation in einer gewissen Frageperspektive dar, eine umfassende Bedeutungsinterpretation ohne eine konkrete Frageperspektive kann es nicht geben. 6. Das „Prior Knowledge“ Beim Prior Knowledge handelt es sich um Wissenskomplexe, die aufgrund textuellen oder außertextuellen Wissens als schon vorhanden gelten und für den Bedeutungsprozess abgerufen werden können. „During comprehension, readers pull out from their general store of knowledge some particular packet of knowledge and use it to provide a framework for the text they are reading“. 166 Vorausgesetzt ist dabei, dass das „Prior Knowledge” stark variieren kann. Es kann sich einerseits auf Faktenwissen beziehen, aber auch andererseits Vergangenheitswissen beinhalten. Gerade dieses Vergangenheitswissen wird in den Prologen des Markusevangeliums und des Matthäusevangeliums zur jeweiligen Verstehensvoraussetzung des jeweiligen Evangeliums. Während im Matthäusevangelium an diesen Wissen über die in der Genealogie auftauchenden Namen angeknüpft wird (Mt 1,1-17), so ist zum Verstehen des Markusevangeliums das Vergangenheitswissen bezüglich der alttestamentlichen Prophetie aufzurufen (Mk 1,2f.). Wobei zu diesem Vergangenheitswissen gehört, dass das Zitat der Prophetie Jesajas zugeschrieben wird. 167 Das Markusevangelium beginnt mit der grundlegenden Aussage, dass sich die gute Botschaft, die aus der Prophetie Jesajas bekannt ist, fortsetzt in der nun beginnenden Erzählung. Unter Rekurs auf das Wissen der Prophetie Jesajas sollen die LeserInnen dieses Prior Knowledge mit der jetzt beginnenden Erzählung verbinden, um zu erkennen, dass das Handeln Gottes in bekannter Kontinuität fortgesetzt wird. Mit dem Aspekt des „Prior Knowledge“ beim Bedeutungsaufbau in Texten wird somit hervorgehoben, dass kein Text gelesen werden kann, ohne auf vorausliegendes Wissen zurückzugreifen. 166 Van Dijk/ Kintsch, Strategies, 46. 167 Hier wäre unter Einbeziehung von Faktenwissen darzulegen, dass es sich um ein Mischzitat handelt. <?page no="166"?> 154 7. Die mögliche Welten-Semantik Der Textbegriff von van Dijk und auch von van Dijk/ Kintsch orientiert sich an einer kognitiven Reinterpretation der möglichen Welten-Semantik Montagues, bei der, neben der so genannten aktuellen Wirklichkeit, auch alternative Wirklichkeiten angenommen werden. „Eine solche Welt muß man als ein Abstraktum ansehen, ein Konstrukt der Semantik. [...]. Eine Welt ist also eine Kollektion von Sachverhalten. Die Sachverhalte bestehen aus Dingen mit bestimmten Merkmalen und gegenseitigen Relationen“. 168 Nach van Dijk/ Kintsch bedeutet Textverstehen nicht nur die Konstruktion einer mentalen Textrepräsentation, sondern auch immer das Erfassen dessen, worauf der verarbeitete Diskurs zielt. 169 Diskursreferenten - als Referenten ganzer Texte - werden als „mögliche Welten“ bezeichnet, die als Mengen mental repräsentierter Fakten (Sachverhalte) beschrieben werden. Der Zusammenhang von Bedeutung und Referenz wird durch Rekurs auf die Parallelität von propositionaler und referentieller Struktur beschrieben: sprachliche Konstituenten von Diskursen bilden Sätze, deren Bedeutung mental repräsentierte Propositionen darstellen, die auf Sachverhalte in mental repräsentierten möglichen Welten referieren. „Die Bedeutung von Äußerungen ist gleich der konzeptionellen Interpretation dieser Äußerungen, während deren Referenz die Relation zu den Aktualisierungen dieser Konzepte in den verschiedenen möglichen Welten ist“. 170 Das heißt, dass sprachliche Konstituenten von Diskursen - respektive Texte - Sätze sind, deren Bedeutung mental repräsentierte Propositionen darstellen, die sich auf Sachverhalte in mental repräsentierten möglichen Welten beziehen. Deshalb fordert van Dijk die Behandlung des Problems der Fiktionalität im Zusammenhang mit einer Referenztheorie: „It is a traditional view that literature does not make statements with a true value, that is, there is no point in confirming or disconfirming them by empirical observations. The well known label to indicate this problem is fictionality”. 171 Fiktionalität ist bei diesem Ansatz im Rahmen einer literarisch konstruierten möglichen Welt zu verstehen. 172 Für die bisherigen dargestellten Semantiktheorien im Rahmen des eindimensionalen Bedeutungsbegriffs bedeutet dieser Ansatz eine Erweiterung, da ausgehend von der syntagmatischen Struktur hier über den Begriff der möglichen Welt die Referenz erfasst wird, die pragmatisch durch den Begriff der konzeptuellen Interpretation fundiert wird. Nach van Dijk ist es für den Verstehensprozess unerheblich, ob sich der im 168 Van Dijk, Textwissenschaft, 25. 169 Van Dijk/ Kintsch, Strategies, 88. 170 Van Dijk, Textwissenschaft, 27. 171 Van Dijk, Some Aspects, 336. 172 Das Problem der Fiktionalität wird bei Petöfi ebenfalls im Rahmen „fiktiver Welten oder Subwelten” behandelt, Eco spricht ebenfalls von „möglichen Welten“. <?page no="167"?> 155 Text dargestellte Sachverhalt auf ein Wirklichkeitsfragment bezieht oder nicht. So kann das Verstehen von Texten in dem Modell von van Dijk (und auch von Petöfi und Eco) zu einer Voraussetzung für ein weitergehendes Beschäftigen mit Wirklichkeitsaspekten angesehen werden. Während wir bei van Dijk eine Reinterpretation der möglichen Welten-Theorie von Montague finden, zeigt Umberto Ecos mögliche Welten-Thematik eine literaturtheoretische Konkretisierung, die für die vorliegende Arbeit einen stärkeren Nutzen hat. Aus diesem Grunde werden wir die mögliche Welten- Thematik intensiv in dem Kapitel zum Bedeutungsmodell von Umberto Eco besprechen. 8. Kohärenz Für die Bestimmung von Textualität setzt van Dijk einen weit gefassten Kohärenzbegriff 173 an, der Kohärenz als eine semantische Kohärenz versteht und grundsätzlich erst einmal von einer linearen bzw. lokalen Kohärenz ausgeht, d.h.: die Kohärenz „erläutert die Bezüge zwischen einzelnen Propositionen und anderen Propositionen (oder Propositionsgruppen) innerhalb einer Sequenz“. 174 Die lokale Kohärenz bezieht sich auf diejenige repräsentationale Struktur, die durch die Verbindung mehrerer in einem Text aufeinander folgender Propositionen entsteht. Es wurde festgehalten, dass Propositionen als Bedeutungen von Sätzen angesehen werden, die auf Sachverhalte in möglichen Welten referieren. Unter dieser Annahme ist es nur folgerichtig, wenn diese „semantics of coherence“ „essentially RELA- TIVE” ist „in the sense that sentences are not interpreted in ‚isolated’ models, but relative to the interpretation of related sentences in related models“. 175 Van Dijk/ Kintsch gehen davon aus, dass angrenzende Sätze auf der Basis ihrer propositionalen Bedeutungen zu lokal kohärenten Sequenzen integriert und auf diese Weise als semantisch zusammengehörig erfahren werden. 176 173 Ähnlich wie Petöfi vertritt van Dijk einen Kohärenzbegriff, der von einem „Connection“-Begriff abzusetzen ist. Konnektionen sind zwar notwendig aber nicht hinreichend. „Connection, however, is a specific phenomenon of a set of other COHER- ENCE phenomena in natural language. That is, sequences of propositions underlying a discourse are not only pair wise connected, but also satisfy other coherence conditions, in which the notion of topic of conversation also plays an important role, together which phenomena such as REFERENTIAL IDENTITY AND DIFFERENCE, the DISTRIBUTION OF SEMANTIC INFORMATION; TOPIC AND COMMENT; PRESUPPOSITION and ‘assertion’ (INTRODUCTION)” (van Dijk, Text and Context, 10). 174 Van Dijk, Textwissenschaft, 39. 175 Van Dijk, Text and Context, 95. 176 Vgl. van Dijk/ Kintsch, Strategies, 150. <?page no="168"?> 156 In seinem Buch „Textwissenschaft“ präzisiert van Dijk den für die Textlinguistik zentralen Begriff der Kohärenz auf folgende Weise: „Zwei Propositionen a und b sind zusammenhängend (konnex), wenn ihre Interpretationen verbunden sind - bezogen auf einen Sprecher S, ein Thema t, allgemeine Kenntnisse k und andere (vorausgehende) Propositionen D - impliziert durch Text oder Kontext - und die Welt w“. 177 Etwas weniger formal ausgedrückt lassen sich also folgende Determinanten, die den Textzusammenhang generieren, festhalten: (1) Textkohärenz ist eine Frage der Interpretation und damit auch abhängig von subjektiven Verstehensvoraussetzungen sowie den Interpretationsbeteiligten, die diesen Textzusammenhang erst herstellen; (2) der Textzusammenhang kann nicht ohne Bezug auf das Textthema hergestellt werden; (3) für die Herstellung des Textzusammenhangs sind verschiedene Formen von Wissen relevant, d.h. ebenso wie die Interpretation von zwei Propositionen in bezug auf einen Sprecher verknüpft werden, ist die Verknüpfung relativ zum Wissensstand der TextinterpretInnen. Der Gebrauch von Wissen ist abhängig „on the goals of the language user, the amount of available knowledge from text and context, the level of processing or the degree of coherence needed for comprehension“. 178 Hier wird eine globale Kohärenz forciert, die unter Einbeziehung des Situationsmodells in der Lage ist, Kohärenz relativ zu anderen möglichen Welten zu sehen. Wesentlich bestimmt wird die semantische Einheit durch das Thema des Textes. Dabei bezieht sich das Thema auf einen bestimmten Ausschnitt eines Gegenstandsbereiches und kann mehr oder weniger spezifisch sein. Für die Frage, inwiefern ein Text für die Strukturierung des ihm zugrunde liegenden Sachverhalts verantwortlich ist, spielen natürlich die vom Text gelieferten Informationen zur Rekonstruktion dieses Sachverhalts eine Rolle. Durch das Herantragen eines Themas (als vorhandenes Sachverhaltswissen) an einen Text können Lücken durch entsprechend motivierte Inferenzen geschlossen werden, um somit eine „Ereigniskontinuität“ herzustellen. Grundsätzlich ist Kohärenz damit keine Eigenschaft, die dem Text an sich zukommt. 179 Von diesem 177 Van Dijk, Textwissenschaft, 40. In ähnlicher Weise entwickeln de Beaugrande/ Dressler ein Textverstehensmodell, dessen Kerngedanke ist, dass Texterzeugung und Textverstehen keineswegs nur auf statischen Gegebenheiten, wie Wortbedeutungen, Wissen, Tatsachen und Gegenständen beruhen, sondern Operationen darstellen, um Wissen auch in eine für bestimmte kommunikative Zwecke passende Form zu bringen. Vgl. de Beaugrande/ Dressler, Einführung in die Textlinguistik, 92. 178 Van Dijk/ Kintsch, Strategies, 13. 179 Damit unterscheidet sich der Kohärenzbegriff von van Dijk/ Kintsch von den traditionellen Kohärenzbegriffen, die von einer sog. Objektkohärenz ausgehen, die besagt, dass ein Text dann als kohärent eingestuft wird, wenn ein Sinnzusammenhang aufgrund von Textelementen feststellbar ist. Die Prozesskohärenz, die von van Dijk/ Kintsch angenommen wird, ist demgegenüber keine Struktureigenschaft von Texten. <?page no="169"?> 157 Ansatz aus betrachtet, ist es irreführend, von der Struktur eines Textes zu sprechen, denn nach van Dijk gibt es immer nur eine Struktur im Hinblick auf bestimmte individuelle Verstehensvoraussetzungen. Das heißt, dass die LeserInnen aus den kontextuellen Voraussetzungen die Kohärenz inferiert. Kohärenz wird in dieser Sichtweise zur Fähigkeit zu einem rezipientenabhängigen Zuschreibungsprädikat. An dieser Stelle ist die enorme Bedeutung des Vorwissens der RezipientInnen nochmals zu unterstreichen. Kohärenz stellt den gegenseitigen Zugriff und die gegenseitige Relevanz von Konzepten und Relationen innerhalb einer Textbasis bzw. Textwelt 180 dar. Diese dem Text zugrunde liegende Konstellation müssen die LeserInnen erkennen. Von Kohärenz kann also nur gesprochen werden, wenn sowohl intensi nale wie auch extensionale Aspekte beachtet werden. Diese Bestimmung Kohärenz teilt van Dijk mit den Ansätzen von Petöfi und Eco, die eb den traditionellen Kohärenzbegriff ablehnen. Stattdessen betonen alle Ansätze, dass Kohärenz keine Struktureigenschaft von Texten ist, wie in der strukturalen Semantik von Greimas festgehalten wurde. Der Prozess der Kohärenzbildung besteht hier also in der Konstruktion einer von vornherein mehrere Repräsentationsebenen umfassenden (und insofern ganzheitlichen) propositionalen mentalen Repräsentation. Diese mentale Repräsentation ist verfügbar in mentalen Teilsequenzen: Wenn in einem Text ein Gegenstand (z.B. ein Objekt, eine Person, ein Sachverhalt, ein Vorgang, etc.) sukzessiv beschrieben wird, so werden bei erneuter Nennung dieses Gegenstandes die ihm zuvor zugeschriebenen Bedeutungen von den LeserInnen aufgerufen und mitgedacht. Dieses gedankliche Mittragen von Informationen darf als notwendig für die Bildung von Kohärenz angesehen werden. In der Umkehrung ist damit auch gesagt, dass LeserInnen, die keine textuellen oder kontextuellen Signale vorfinden, Schwierigkeiten haben werden, Kohärenz zu finden. Kohärenz beruht in dem eben vorgestellten weiten Sinn, nicht allein auf der Textbasis, 181 sondern ebenso auf dem Situationsmodell. 9. Die Textbeschreibungsebenen Ausgehend von der Beobachtung, dass „narrative structures are not characterized by a (linguistic) grammar of discourse“, sondern „by a separate system of rules“ 182 entwirft van Dijk ein Textverständnis, das er für besonders geeignet für narrative Texte hält, jedoch nicht nur auf diese be- 180 Bei Petöfi wurde ein ähnlicher Problemhorizont deutlich. Petöfi verwendete allerdings nicht den Begriff der Textbasis, sondern den der Textwelt. 181 Vertieft werden kann die Kenntnis der Testbasis durch mehrmaliges Lesen. Für das Markusevangelium betont dies vor allem Malbon, Hearing, 5. 182 Van Dijk, Story Comprehension, 11. enso <?page no="170"?> 158 schränkt. In seinen genannten Werken entwickelt van Dijk ein System von vier Beschreibungsebenen, die einen Text global organisieren: Mikrostrukturen, Makrostrukturen, Superstrukturen, Frames. Mittels dieser vier Ebenen kann - nach van Dijk - beschrieben werden, wie Texte global repräsentiert werden, und es kann gezeigt werden, was einen Text zu einem Text macht. 9.1. Mikrostrukturen Wir werden nur der Vollständigkeit halber knapp auf die Mikrostrukturen eingehen, die van Dijk zwar anführt, aber die keine gravierende Rolle beim semantischen Bedeutungsaufbau von Texten erhalten. Mikrostrukturen werden „die Satz- und Sequenzstrukturen von Texten“ 183 genannt im Gegenüber zu globalen Textstrukturen, die als Makrostrukturen bezeichnet werden. In seinem Buch „Textwissenschaft“ bemerkt van Dijk eingrenzend zur Verwendung des Begriffs „Mikrostruktur“, dass „nur die Satzsequenzen, die eine Makrostruktur besitzen“ 184 von ihm als Texte bezeichnet werden. Mit dieser Aussage stärkt van Dijk den Begriff der Makrostruktur, denn nur das kann als Text bezeichnet werden, was die Bedingung des globalen Zusammenhangs aufweist. Zugleich subsumiert er den Begriff der Mikrostruktur in dem Begriff der Makrostruktur, da dieser sich „formal nicht von einer Mikrostruktur unterscheidet“. 185 So taucht der Begriff der Mikrostruktur nur noch in seinem Buch „Text and Context“ auf. Er wird jedoch zugunsten des umfassenderen Begriffs „Makrostruktur“ in seinem späteren Werk „Textwissenschaft“ aufgegeben. Mikrostrukturen haben die Funktion, Satzsequenzen eines Textes lokal kohärent zu machen. Unter Mikrostrukturen sind deshalb satzverbindende Elemente zu verstehen, die entweder zwei oder mehrere Sätze miteinander verknüpfen. Innerhalb dieser Textpassage sorgen die Verknüpfungselemente der Sätze für eine semantische Kohärenz der Sätze des betreffenden Textteils. Folgende Arten mikrostruktureller Satzverknüpfungen werden aufgeführt: 186 Conjunction, Disjunction, Conditionals und Contrastives. Der Begriff der Mikrostruktur ist zwar für die lokale Kohärenz von Sätzen geeignet, aber nicht für die Produktion eines sinnvollen Textes ausreichend. Diese wird erst auf der Ebene der Makrostrukturen realisiert. So 183 Van Dijk, Textwissenschaft, 41. 184 Van Dijk, Textwissenschaft, 41. 185 Van Dijk, Textwissenschaft, 42. 186 Vgl. van Dijk, Text and Context, 58ff. <?page no="171"?> 159 kann aufgrund des Vorkommens von kai. im Markusevangelium nicht postuliert werden, dass es sich um einen kohärenten Text handelt. 9.2. Makrostrukturen Da Texte nicht nur eine lokale Struktur, sondern auch eine globale haben, arbeitet van Dijk mit dem Begriff der „Makrostruktur“. Nach Kintsch sind unter Makrostrukturen „a hierarchically ordered set of propositions representing the global structure of the text that is derived from the microstructure“ 187 zu verstehen. Und weiter: „It is sometimes directly signalled in a text, but often it must be inferred by the comprehender. An ideal summary is (or should be) a text expressing the macrostructure“. 188 Die Konstruktion eines Textes auf alleiniger Basis von Mikrostrukturen ist grammatisch gesehen zwar möglich, aber ohne Makrostrukturen 189 wirkt der Text inkohärent; erst die die Linearität transzendierende hierarchische Struktur von Makropropositionen, die als Makrostruktur bezeichnet wird, repräsentiert die Bedeutung des Diskursganzen. 190 Diese eher globalen Textstrukturen manifestieren die Kohärenz eines Diskurses auf Textebene und nicht bloß auf der Ebene aufeinander folgender Sätze. Diese speziellen Textstrukturen von globaler Art sind semantisch bestimmt. In der Makrostruktur wird die globale Bedeutungsstruktur eines Textes repräsentiert; sie repräsentiert also etwa das, was als das Thema eines Textes bzw. eines Gesprächs genannt werden könnte. 191 Betont wird von van Dijk, dass es sich bei den Makrostrukturen „um abstrakte und theoretische Strukturen handelt“, 192 auch wenn sie auf Kategorien und Regeln allgemeiner und konventioneller Art aufbauen, die die SprachbenutzerInnen kennen bzw. die bei ihnen vorausgesetzt werden können: „macrostructures embody semantic content at an abstract level but they are often directly expressed or implicitly signalled (cf. lexical signalling) by titles, headings, captions, topic sentences, advance organizers …”. 193 187 Kintsch, Comprehension, 50. 188 Kintsch, Comprehension, 50. 189 Für die Evidenz von Makrostrukturen beim Textverstehen führt Kintsch, Comprehension, 174, an: „The readers are able to recognize topic sentences that are expressed in a text has been shown many times with a variety of procedures, including reading times, think aloud protocols, and importance rating [...]. Similarly, it has been shown that readers can produce adequate summaries of simple texts of demand […]. However, there also exist good experimental data to support the stronger claim of the theory that macrostructure formation occurs as an integral part of comprehension.” 190 Vgl. van Dijk, Textwissenschaft, 41. 191 Vgl. van Dijk, Macrostructures, 41. Van Dijk nennt „topic of discourse“ bzw. „topic of conversation“. 192 Van Dijk, Textwissenschaft, 42. 193 Cortazzi, Narrative Analysis, 69. <?page no="172"?> 160 Nach van Dijk besteht die kognitive Funktion von Makrostrukturen in der Reduktion der Informationsverarbeitungskomplexität: Makrostrukturen verringern den kognitiven Speicheraufwand, in dem sie die Repräsentation eines Textes auf dessen thematischen Kern reduzieren. 194 Deshalb ist einer der Aufgaben, die Makrostrukturen erhellen müssen, „der Begriff Rhema eines Textes, bzw. Thema des Gesprächs“ zu erklären. 195 Wenn das Thema eines Textes fehlt oder von Satz zu Satz sich ändert, ist es schwierig für die LeserInnen, eine Makrostruktur abzuleiten. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass sich bei van Dijk eine m.E. weiterführende Unterscheidung angedeutet 196 findet, die es erlaubt, trotz thematischer Wechsel einen Text mit einer Makrostruktur zu versehen: nämlich die Unterscheidung von Textthema und Topic. Während das Textthema angibt, wovon ein Text handelt, will der Topic demgegenüber auf die Frage antworten, was will der Text damit sagen. Man fragt nach dem Textthema, wenn die Ausgangsfrage lautet, „wovon die Passage handelt“. 197 Beim Topic geht es darum, „aus einer größeren Menge bekannter Informationen ein bestimmtes Element auszuwählen (einen Sachverhalt, ein Individuum, ein Merkmal, eine Beziehung)“ 198 mit Blick auf den Text, um die Frage zu erhellen, was der Text damit sagen will. Um dies mit einem Beispiel aus dem Markusevangelium zu verdeutlichen: In Mk 3,7-12 lässt sich folgendes Textthema bilden: „Jesus heilt am See viele Kranke“. Allerdings ist damit keineswegs erfasst, dass Jesus den ihn als Sohn Gottes erkennenden Dämonen gebietet, ihn nicht offenbar zu machen. Dies ist eine Frage des Topics. In einen Zusammenhang von Thema und Topic lässt sich für Mk 3,7- 12 festhalten: Im Text wird erzählt, dass Jesus viele Kranke am See heilt, mit der Konsequenz, dass er den ihn als Sohn Gottes erkennenden Dämonen gebietet, ihn nicht offenbar zu machen. Der Text hat zum Thema die Heiltätigkeit und sein Topic ist das gebotene Schweigen der Dämonen bezüglich seiner Qualität als Sohn Gottes. In der Arbeit zu Mk 4,1-34 wird diese Unterscheidung wieder aufgegriffen werden und bezüglich der zu erarbeitenden Makrostruktur von Mk 4,1-34 fruchtbar gemacht. Zwar sind in einem bestimmten Sinne Themawechsel erlaubt, besonders umfangreichere Texte - wie z.B. Romane oder auch die Evangelien - beinhalten immer wieder die Veränderung des Textthemas. Diese Veränderung des Textthemas ergibt sich allein schon durch die erzählten Ereig- 194 Vgl. van Dijk, Macrostructures, 40ff. 195 Van Dijk, Textwissenschaft, 45. 196 Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass diese Unterscheidung sich bei van Dijk nicht in extenso ausgearbeitet findet, sondern sich in seinem Buch „Textwissenschaft“ nur angedeutet findet. Wir halten diese Unterscheidung jedoch für so hilfreich, dass wir sie aufnehmen werden. 197 Van Dijk, Textwissenschaft, 39. 198 Van Dijk, Textwissenschaft, 38. <?page no="173"?> 161 nisse oder wie Aristoteles festhält durch den Mythos. 199 Deshalb werden die RezipientInnen beim Lesen von komplexen Texten niemals die Masse aller semantischen Informationen aus dem Text herausfiltern können. Stattdessen werden sie versuchen, die für das Textverständnis relevanten Informationen von irrelevanten Informationen zu unterscheiden. „It will be suggested [...] that one of the cognitive functions of macrostructures is the ORGANIZATION, in processing and memory, of COMPLEX SEMANTIC INFORMATION. In particular, it will turn out that language users can not, and need not, store all the prepositional information of a given discourse in verbal processing”. 200 D.h. die RezipientInnen reduzieren die Masse aller Informationen auf das Maß der für sie relevanten Informationen, diese werden dann integriert und bilden die Makrostruktur über den rezipierten Text. Das Ergebnis bildet dann beispielsweise eine Zusammenfassung über das Gelesene. Vorausgesetzt wird, dass für jeden Text eine Makrostruktur im Rahmen der Generierung der Bedeutung gebildet werden muss. Mittels der Theorie der Makrostrukturen kann nun nachvollzogen werden, wie der Bedeutungsaufbau vonstatten geht. So arbeitet beispielsweise fast jeder exegetische Kommentar zum Markusevangelium mit Überschriften zu einzelnen Textabschnitten. Mittels der Makroregeln - die weiter unten noch dargestellt werden - kann dieser Prozess hinsichtlich seiner Evidenz für den Bedeutungsaufbau von Texten im Rahmen exegetischer Arbeiten berücksichtigt werden. Die Wichtigkeit der Makrostrukturen ergibt sich somit aus ihrer Aufgabe „to define the relative importance of different parts of a narrative in relation to its global coherence; to organize narrative information in memory [...]“. 201 Der Zusammenhang von Makropropositionen verschiedener Ebenen der Makrostruktur wird durch einen Inferenzprozess gestiftet, der sich rekursiv operierender Makroregeln bedient. Es ist van Dijks vorrangiges Interesse, diesen Prozess deskriptiv darzustellen. Dabei bedient er sich eines Modells von vier Regeln, den so genannten „Makroregeln“, die die Erarbeitung der Makrostruktur aus einem Text beim Prozess des Lesens deutlich machen. 202 Bei diesen Regeln geht es um eine Reihe von Operationen, mittels derer TextrezipientInnen die ihnen vom Text-Input angebotenen Propositionen unter Rückgriffen auf ihr Vorwissen zum Ganzen einer propositionalen Makrostruktur generieren: „in order to obtain macrostructures of any sequence we must apply a number of operations“. 203 Insgesamt handelt es sich um Verdichtungsprozesse des propositionalen Gehaltes von Texten. Hervorzuheben ist, dass bei diesem Modell des Textver- 199 Vgl. Aristot. poet. 1450a15. 200 Van Dijk, Text and Context, 143. 201 Cortazzi, Narrative Analysis, 70. 202 Vgl. zum Folgenden: van Dijk, Textwissenschaft 45ff. sowie Macrostructures, 46ff. 203 Van Dijk, Text and Context, 143. <?page no="174"?> 162 stehens die textuelle Linearität durchbrochen wird zugunsten eines Modells, das von einander überlagernden propositionalen Ober- und Unterthemen ausgeht. Ein Beispiel für das Bilden von Makrostrukturen aufgrund von Makroregeln sind die Überschriften in deutschsprachigen Bibelübersetzungen oder Kommentaren. Zu Mk 4,(1-2) 3-9 bildet die Einheitsübersetzung folgende Makroproposition: „Das Gleichnis vom Sämann“, während die revidierte Lutherübersetzung die Makroproposition „Vom Sämann“ bildet. Anders dagegen die Zürcher Bibelübersetzung, die aufgrund des Abschnitts Mk 4,1-25 eine Makroproposition bildet: „Das Gleichnis vom Sämann und seine Deutung“. Ein Blick in die Kommentare zeigt ebenso, dass hier auf ganz unterschiedliche Weise Makropropositionen zu diesem Abschnitt gebildet werden, während Schweizer Mk 4,1-9 „Das Gleichnis vom geplagten Bauern“ 204 nennt, postuliert Weder, dass es sich um das Gleichnis vom „vielerlei Acker“ 205 handelt. Pesch hingegen möchte folgende Makroproposition zu Mk 4,1-9 bilden: „Vom unterschiedlichen Geschick des Samens“. 206 Während beispielsweise Überschriften zu Mk 4,1-9 mit dem Titel „Das Gleichnis vom vielerlei Acker“ oder „Das Ackergleichnis“ in der von ihnen gebildeten Makrostruktur betonen, dass in Mk 4,1-9 makrostrukturell die Verschiedenheit des Bodens von höchster Relevanz ist, steht in den Überschriften, die auf den Sämann rekurrieren, der Sämann makrostrukturell bestimmend. Unter der Überschrift „Vom unterschiedlichen Geschick des Gesäten“ wird hingegen das „Gesäte“ als makrostrukturell bestimmend erkannt. Dieser kurze selektive Überblick zeigt schon, dass hier unterschiedliche Bildungen von Makropropositionen geleistet worden sind. Im Rahmen der Makroregeln muss sich nun erklären lassen, wie es zur Bildung dieser Makropropositionen gekommen ist und ob sie textuell gerechtfertigt sind. So kann z.B. festgestellt werden, dass Schweizer keine adäquate Makroproposition gebildet hat, da an keiner Stelle im Text etwas von der Gemütsverfassung des tätigen Bauern steht. Die Makroregeln haben - ebenso wie die Makrostrukturen - die semantische Funktion, die Bildung von Einheiten von Propositionsreihen zu generieren. Daraus folgert van Dijk mit Blick auf die Bestimmung der Bedeutung eines Textes: „Makroregeln sind eine Rekonstruktion des Teils unseres Sprachvermögens, mit dessen Hilfe wir Bedeutungen zu größeren Bedeutungsganzheiten zusammenfügen. D.h.: wir bringen eine Ordnung in das, was auf den ersten Blick nur eine lange und komplizierte Reihe von Bezügen ist, wie etwa zwischen Propositionen in einem Text“. 207 Makroregeln dienen als Substitute, die die durch sie ersetzten Propostionen aus 204 Schweizer, Markus, 43. 205 Weder, Gleichnisse, 101.108. Ähnlich auch Linnemann, Gleichnisse, 120ff.. 206 Pesch, Mk I, 228. 207 Van Dijk, Textwissenschaft, 44. <?page no="175"?> 163 übergeordneter thematischer, kohärenzstiftender Perspektive interpretieren. Nachdem wir nun erklärt haben, was Makroregeln sind, werden wir im Folgenden die von van Dijk besprochenen Makroregeln darstellen: I. Auslassen (weak deletion) II. Selektieren ( strong deletion) III. Generalisieren (generalization) IV. Konstruieren oder Integrieren (construction). Während die ersten beiden Regeln ihrer Form nach eher Tilgungsregeln sind, folgen die beiden letzten Regeln dem Prinzip der Ersetzung. Diese vier Makroregeln müssen zudem das so genannte Prinzip der semantischen Implikation (entailment) erfüllen. Dies besagt, „daß jede durch Makroregeln erhaltene Makrostruktur als ganze durch die Propositionenreihe semantisch impliziert sein muß, auf welche die Regel angewandt wird“. 208 Eine Makrostruktur muss also inhaltlich der Mikrostruktur folgen. Zu I Auslassen: Die erste Makroregel - Auslassen - besagt, dass jede irrelevante und nichtessentielle Information ausgelassen werden kann. „Alle Propositionen, von denen der Sprachgebraucher annimmt, daß sie für das Interpretieren der folgenden Proposition nicht länger, z.B. als Präsupposition, relevant sind, werden ausgelassen.“ 209 Die Auslassungsregel tilgt solche Propositionen, die aus den verbleibenden Propositionen deduzierbar und also logisch redundant sind. Beim Lesen eines Textes werden diese Informationen nicht gespeichert. Es handelt sich hierbei um eine Selektionsregel, da die LeserInnen vor die Aufgabe gestellt sind, im Prozess der Rezeption zwischen relevanter und nicht-relevanter bzw. zwischen nicht-essentieller Information zu unterscheiden und letztgenannten eben auszulassen. Dies erfolgt bei Regel I nach folgender Weise: . Das bedeutet, wenn eine Propositionenreihe ( vorliegt, dann können und einfach weggelassen werden, „wenn diese beiden Propositionen für den Text weiter keine ‚Funktion’ haben, etwa Präsuppositionen für die Interpretation der folgenden Propositionen“. 210 Allerdings ist die ausgelassene Information unwiederbringbar getilgt: „after semantic deletions of this kind we do not know which propositions have been deleted“. 211 Besonders in den narrativen Elementen der paulinischen Briefe lässt sich der Prozess des Auslassens durch Paulus Rezeption der „Jesus- 208 Van Dijk, Textwissenschaft, 46. 209 Van Dijk, Textwissenschaft, 183. 210 Van Dijk, Textwissenschaft, 46. 211 Van Dijk, Text and Context, 145. <?page no="176"?> 164 Christus-Geschichte“ 212 nachzeichnen. Wenn in 1Kor 15,3-8 festgehalten wird, dass Jesus für unsere Sünden starb, begraben wurden, am dritten Tage auferweckt und den Jüngern und zuletzt auch Paulus erschien, kommt darin „die mimetische Kompetenz des Erzählers Paulus“ 213 zum Ausdruck, die die Elemente aus der „Jesus-Christus-Geschichte“ auslässt, damit mit Blick auf den argumentativen Zusammenhang, in den die narrativen Elemente integriert sind, ein besseres Verstehen ermöglicht wird. 214 Zu II Selektieren: Auch bei der zweiten Makroregel - dem Selektieren - wird eine gewisse Menge an Informationen ausgelassen. Wiederum verläuft der Selektionsprozess in folgender Weise: ( ) , „aber hier ergibt sich die Beziehung zwischen den Propositionsreihen viel deutlicher“. 215 „Here the information which is deleted is not ‚accidential’ [...], but is CONSTITUTIONAL of a certain concept or frame“. 216 So können nach dieser Regel Propositionen ausgelassen werden, sofern sie „Bedingungen, Bestandteile, Präsuppositionen oder Folgen einer anderen nicht-ausgelassenen Proposition sind“. 217 In diesem Fall werden also lokal relevante Informationen eliminiert („locally relevant detail“ 218 ). Van Dijk nimmt folgende Propositionsreihe als Beispiel zur Verdeutlichung: (i) Peter lief zu seinem Auto. (ii) Er stieg ein. (iii) Er fuhr nach Frankfurt. Die Propositionen (i) und (ii) können weggelassen werden, da sie Bedingungen, Bestandteile oder Folgen einer anderen nicht ausgelassenen Proposition sind, in diesem Fall (iii). Die Proposition (iii) reicht aus, um auf Grund unseres allgemeinen Wissens über Transport und Autofahren, die beiden anderen Propositionen auslassen zu können. In ähnlicher Weise kann auch die Proposition „Er kam in Frankfurt an“ ausgelassen werden, weil wir als selbstverständlich voraussetzten, dass man ankommen muss, wenn man irgendwo hinreist. Wäre dies nicht der Fall, dürfte diese Infor- 212 Zu diesem Begriff vgl. Reinmuth, Narratio, 20ff. 213 Reinmuth, Narratio, 26. 214 Auch unter dem Blickwinkel der Makrostrukturen von van Dijk zeigt sich, dass die narrativen Elemente in den paulinischen Briefen eine Funktion haben, denn „Paulus expliziert nicht eine abstrakte Christologie, sondern er interpretiert die Jesus- Christus-Geschichte in argumentierender Anwendung auf konkrete Problemlagen“ (Reinmuth, Narratio, 26) - diese Interpretationsleistung des Paulus lässt sich unter Zuhilfenahme der Makroregeln differenziert darstellen. 215 Van Dijk, Textwissenschaft, 47. 216 Van Dijk, Text and Context, 145. 217 Van Dijk, Textwissenschaft, 47. 218 Van Dijk, Macrostructures, 47. <?page no="177"?> 165 mation auch nicht ausgelassen werden, sondern hätte „ganz sicher semantische Relevanz für den gesamten Text, z.B. in einem Bericht über ein Autounglück, das Peter auf dem Weg nach Frankfurt passiert ist“. 219 „That means that the deleted information is at least INDUCTIVELY RECOVER- ABLE - which will have its consequences in cognitive processing“. 220 So setzen die Sätze aus Mk 5,1-2 voraus, dass Jesus und seine Jünger vorher in ein Boot eingestiegen sein müssen und dass sie sich vorher am gegenüberliegenden Ufer befunden haben, denn es wird als selbstverständlich vorausgesetzt, dass, um am jenseitigen Ufer anzukommen und auszusteigen aus dem Boot, man vorher in ein Boot eingestiegen sein muss und sich am gegenüberliegenden Ufer befunden haben muss. Nicht weggelassen werden kann aber diesem Beispiel die Information, dass das Boot mit den Insassen ankommt ( h=lqon ). Denn nach Mk 4,35-41 und dem darin erzählten großen Sturm hat das Ankommen des Bootes am gegenüberliegenden Ufer eine semantische Relevanz erhalten und ist keinesfalls selbstverständlich. Zwar dürfte deutlich geworden sein, dass im Gegensatz zu Regel I die ausgelassene Information eingeschränkt wieder zu erhalten ist, aber bei beiden Regeln geht es um Auslassungen, so dass van Dijk in seinen anderen Werken diese beiden Makroregeln nicht mehr different betrachtet, sondern beide unter der Makroregel der Auslassung subsumiert, so dass sich insgesamt nur drei Makroregeln ergeben. 221 Zu III Generalisieren: Bei dieser Regel werden mehrere Propositionen substituiert durch eine neue Proposition. „Jede Propositionssequenz, in der Konzepte vorkommen, die von einer gemeinsamen Superstruktur erfasst werden, wird durch eine Proposition mit diesem Superkonzept ersetzt.“ 222 Die Verallgemeinerungsregel oder Generalisierungsregel wertet Hyperonymie-Beziehungen von Konzepten zur Ersetzung von Propositionen durch abstrahierte Makropropositionen aus. Dabei werden die zu substituierenden Propositionen so ersetzt, dass die neue Proposition als gemeinsames Superkonzept fungiert, welches van Dijk auch common dominator 223 bezeichnet. So kann „Kanarienvogel“, „Katze“, „Hund“ usw. durch den Begriff „Haustiere“ ersetzt werden. „Der Sinn dieser Operation liegt darin, daß auf der Makroebene die spezielleren kennzeichnenden Merkmale einer Reihe von Objekten relativ irrelevant werden“. 224 Im Gegensatz zu Regel I und Regel II, in denen die Mikro- und 219 Van Dijk, Textwissenschaft, 47. 220 Van Dijk, Text and Context, 145. 221 Vgl van Dijk, Macrostructures, 45ff. 222 Van Dijk, Textwissenschaft, 183. 223 Van Dijk, Macrostructures, 42. 224 Van Dijk, Textwissenschaft, 48. <?page no="178"?> 166 Makropropositionen auf Grund ihrer Irrelevanz oder lokalen Relevanz eliminiert werden, wird in Regel II die Substitution von Propositionen durch eine neue Proposition erlaubt. Auch die Makroregel des Generalisierens lässt sich wieder gut an narrativen Bezugnahmen auf die „Jesus-Christus-Geschichte“ in den argumentativen Zusammenhängen des ersten Korintherbriefes verdeutlichen. In 1Kor 5,7b heißt es: kai. ga.r to. pa,sca ~hmw/ n evtu,qh Cristo,j . Hier wird ein common dominator von Paulus gebildet, der es ihm ermöglicht, durch die Generalisierung des Todes Jesu als „unser Passalamm“ auf die konkrete Problemlage in der korinthischen Gemeinde einzugehen. Noch deutlicher tritt die Makroregel Generalisieren in den Vordergrund in 1Kor 1,18. Das „Wort vom Kreuz“ ist ebenfalls als ein common dominator zu verstehen, mit dem Paulus das Leiden, die Passion und das Sterben losgelöst von den dazugehörigen Erzählungen interpretiert. 225 Zu IV Konstruieren: „Jede Propositionssequenz, die normale Voraussetzungen, Komponenten, Folgen, Eigenschaften u.ä. eines globalen Sachverhalts bezeichnet, wird durch eine Proposition ersetzt, die diesen globaleren Sachverhalt bezeichnet.“ 226 Damit führt die Konstruktionsregel Makropropositionen ein, welche die Konzeptbasis der Makrostruktur erweitern, falls dies der Verstehensprozess erforderlich macht. Von der Regel des Konstruierens sagt van Dijk, dass sie eine wichtige Rolle spielt. 227 Bei dieser Regel wird aus impliziten und expliziten Propositionen des Textes eine rahmenbildende Proposition gebildet, „so daß Information durch neue Information ersetzt und nicht ausgelassen oder selektiert wird“. 228 Ein Beispiel von van Dijk soll zur Verdeutlichung herangezogen werden: a.) Ich ging zum Bahnhof, b.) Ich kaufte eine Fahrkarte, c.) Ich lief zum Bahnsteig, d.) Ich stieg in den Zug ein, e.) Der Zug fuhr ab. 225 Vgl. Reinmuth, Hermeneutik, 55: „Aus der Geschichte Jesu hat sich also ein Begriff gelöst, wurde zur Metapher für sein Leiden und Sterben, seine Passion, für die Bedeutung seines Todes, die sogar losgelöst von den ursprünglichen Erzählungen erörtert werden konnte.“ Im Gegensatz zu Reinmuth ist vor dem Hintergrund der Makroregeln allerdings festzuhalten, dass sich nicht einfach ein Begriff gelöst hat, sondern dass von aktiven Rezipientenleistungen auszusehen ist, die es gerade ermöglichen, Erzählungen kognitiv lebendig zu halten. 226 Van Dijk, Textwissenschaft, 184. 227 Vgl. van Dijk, Textwissenschaft, 48. 228 Van Dijk, Textwissenschaft, 48. In van Dijk, Text and Context, 146 wird festgehalten, dass die Information „is not deleted but COMBINED or INTEGRATED”. <?page no="179"?> 167 Diese Reihe (a.-e.) definiert als Ganze die folgende Proposition: „Ich nahm den Zug“. Durch Zusammenfassung der einzelnen Propositionen, die alle ein Element des Handlungsschemas „Zugreise“ beinhalten, wird in diesem Fall eine neue Proposition konstruiert. Die Zusammenfassung der einzelnen Begriffe innerhalb der Propositionen (hier: Bahnhof, Fahrkarte, Bahnsteig, Zug) bewirkt die Ableitung eines allgemeineren, globaleren Begriffs (hier: Zugreise) bei gleichzeitiger Produktion der Proposition „Ich nahm den Zug“, die die eben genannten Teilaktionen (a.-e.) integriert. Diese Ableitung eines globalen Begriffs aus Einzelkomponenten, wie es van Dijk in der Regel IV vorsieht, scheint darüber hinaus in einem engen Zusammenhang mit der Aktivierung von Frames zu stehen, auf die wir im nächsten Unterabschnitt zu sprechen kommen werden. Gerd Theißens Klassifikationen der Wundergeschichte gehen nach der Regel des Konstruierens vor. Dies soll anhand von Mk 1,30-31 verdeutlicht werden. Im Rahmen seiner Klassifikationen werden die einzelnen Propositionen aus Mk 1,30-31 folgendermaßen gebildet: a.) Die Schwiegermutter des Simon aber lag am Fieber danieder, und alsbald sagten sie ihm von ihr. b.) Und er trat hinzu, c.) ergriff ihre Hand d.) und sie richtete sich auf; e.) und das Fieber verließ sie, zu einem neuen globalen Begriff zusammengefasst. Die Zusammenfassung der einzelnen Begriffe der Propositionen (krank Daniederliegen, Hinzutreten von Jesus, Ergreifen der Hand, Aufrichten der Kranken, Verlassen des Fiebers) bewirkt die Bildung des globalen Begriffs „Heilungsgeschichte“ bei gleichzeitiger Produktion einer neuen Proposition (Jesus heilt die Schwiegermutter des Simon). Im Unterschied zu Regel III erlaubt die Regel IV die Ableitung und Konstruktion einer globalen Proposition aus Teilaktionen eines Handlungsschemas (hier ist der Begriff des „Motivs“ von Theißen zu verorten), während bei der Regel III die aus den gegebenen Propositionen abgeleitete Proposition lediglich durch ein Superkonzept (in unserem Fall: Haustier) verschiedene Unterbegriffe generalisiert. Der Vergleich dieser beiden Makroregeln macht deutlich, dass für Regel III Abstraktionen begrifflicher Art grundlegend sind, während in Regel IV mit Wissensständen operiert wird, die nicht so sehr sprachlicher Natur sind, sondern eher auf im Laufe einer Biographie innerhalb eines bestimmten Kulturkreises erworbenes „Alltagswissen“ zurückgeführt werden. Gerade an der Makroregel IV „Konstruieren“ wird ersichtlich, dass für dieses Konzept der Makroregeln nicht textualisierte Verstehensbedingungen von nicht unerheblicher Bedeutung sind. Van Dijk hält für die vierte Makroregel fest: „The essential informa- <?page no="180"?> 168 tion of the sequence is in that case recoverable, because it is part of the more general concept or frame”. 229 Die Repräsentation der Makrostruktur erfolgt auf der Grundlage der vier vorgestellten Makroregeln. Diese Makroregeln leiten die Transformation eines gegebenen Textes in einen Makrotext. Die so zu ermittelnde Transformationsstruktur muss nach van Dijk die geltenden Kohärenzbedingungen akzeptieren, die verstanden werden als die Prinzipien der Implikation (entailment) und der relativen Relevanz. 230 Unter der schon erwähnten Annahme, dass es sich bei der Ermittlung von Makrostrukturen um die Manifestation der globalen Bedeutung des Textes handelt, darf auch die Überführung eines Textes in sein thematisches Kondensat als Ergebnis eines Rezeptionsprozesses angesehen werden. Dementsprechend ist das Thema eines Textes - analytisch betrachtet - eine Textzusammenfassung, ein Resümee, das als direkte Verbalisierung der Makrostruktur aufgefasst wird. Das Thema gibt immer an, worüber in dem betreffenden Text(segment) etwas gesagt wird. Das Thema unseres vorherigen Beispiels ist nach Theißen also als „Heilungsgeschichte“ oder genauer als „Machen“ (Jesus, Heilung) bestimmbar. Van Dijk bestimmt das Thema als eine Makroproposition, wenn er schreibt: „Jetzt scheint ein Thema nun nichts anderes zu sein als eine Makroproposition auf einem bestimmten Abstraktionsniveau“. 231 Für van Dijk ist damit das Textthema ein Konzept oder eine konzeptuelle Struktur, nach der der Text organisiert ist. Von einem synthetischen Standpunkt aus darf das Textthema als die „Zelle“, von der der Text sich aufbaut, angesehen werden. Hervorzuheben ist nach van Dijk, dass in einem Text durchaus mehr als ein Thema gefunden werden kann. Die Organisation dieser Themen in einem Text hängt von der Art des Textes ab. In episodischen Texten lassen sich häufig Subthemen finden; diese Episoden können eine gewisse Autonomie gegenüber dem Gesamttext haben, so müssen die Themen einer Episode nicht notwendigerweise verbunden sein mit den Themen des nächsten Kapitels. Dies ist eine Schwierigkeit, mit der die klassische Formgeschichte zu kämpfen hat, da sie nicht adäquat auf die Verknüpfung unterschiedlicher Subthemen zu reagieren vermag. Mk 3,1-6 wird in der Klassifikation von Bultmann den Streitgesprächen zugeordnet, aber die Verse weisen Züge auf, die der Gattung der Streitgespräche nicht entsprechen. So fehlt die den Konflikt auslösende Frage der Gegner, und Jesu Stellungnahme hat nicht die Form einer abschließenden Lehrentscheidung, sondern ist an die Gegner gerichtet (V.4). Ebenso findet sich in der formgeschichtlichen Bestimmung als „Streitgespräch“ nach der Klassifikation von Bultmann keine Heilung (V.5), die hier jedoch als Subthema eingeführt ist. Ohne auf über- 229 Van Dijk, Text and Context, 146. 230 Vgl. van Dijk, Text and Context, 134f. 231 Van Dijk, Textwissenschaft, 50. <?page no="181"?> 169 lieferungsgeschichtliche Hypothesen zurückzugreifen, erlaubt das Konzept von van Dijk, Texte mit komplexen Themenanordnungen einheitlich zu interpretieren. Wir haben gesehen, dass nach van Dijk die Bedeutungskonstitution eines Textes fundamental mit dem Aufbau einer Makrostruktur zusammenhängt bzw. mit dem Finden eines Textthemas. Die Abhängigkeit des Verstehens eines Textes von einer zu findenden Makrostruktur erlaubt es, verständlich zu machen, warum bei thematischen Entwürfen zum Markusevangelium unterschiedliche Themen als zentral angesehen werde: Während für Weeden 232 das zentrale Thema des Markusevangeliums „The correction of a christological heresy“ ist, ist es für Müller 233 die Frage „Wer ist dieser? “ Abschließend ist zu den Makroregeln von van Dijk anzumerken, dass sie zwar einsichtig machen können, wie Kürzungsvorgänge beim Umgang mit Texten sich realisieren, insofern man beim Wiedererzählen irrelevante Informationen weglässt. „Andererseits können solche Makroregeln nicht erklären, warum bei der Rekonstruktion von Texten oft Informationen beigesteuert werden“. 234 9.3. Superstrukturen Als ein weiteres Beispiel der globalen Organisation von Texten führt van Dijk die Kategorie der Superstruktur an. 235 Während die Ableitung besonders der Makrostruktur bisher der Beschreibung semantischer Beziehungen einzelner Textelemente aus einem Gesamttext galt, wird mit der Kategorie der Superstruktur die globale Organisation von Texten auf der Ebene des Textgenres bzw. der Texttypologie mit einbezogen. Deshalb handelt es sich bei den Superstrukturen um Text-Globalstrukturen, „die den Typ eines Textes“ 236 kennzeichnen. Die Superstruktur versucht, Texte als Instanzen schematisch organisierter Textmuster zu erfassen. 237 Unter einer Superstruktur wird „eine Art abstraktes Schema, das die globale Ordnung eines Textes festlegt und das aus einer Reihe von Kategorien besteht, deren Kombinationsmöglichkeiten auf konventionellen Re- 232 Weeden, Mark. 233 Müller, Wer ist dieser? 234 Vater, Einführung, 93. 235 Vgl. dazu van Dijk, Macrostructures, 107-132; ders., Textwissenschaft, 128-159. 236 Van Dijk, Textwissenschaft, 128. 237 Eco, Lector, 104, verhandelt diese kanonisierten Textmuster in narrativen Texten unter dem Begriff der „Szenographie“. Während „allgemeine Szenographien“ abgeleitet werden von kognitiven Konzepten im Allgemeinen und deshalb in der Nähe zu van Dijks Frame-Begriff stehen, sind „intertextuelle Szenographien“ als „rhetorische und erzählerische Schemata, die Teil eines selektierten und bewusst eingeschränkten Wissensschatzes darstellen, ein Fundus über den nicht alle Mitglieder einer bestimmten Kultur verfügen“ und somit mit den Superstrukturen bei van Dijk vergleichbar. <?page no="182"?> 170 geln beruhen“, verstanden. 238 Superstrukturen sind nach dieser Definition abstrakte globale Organisationsmuster. Während also Makro- und Mikrostrukturen innerhalb des Textes angelegt sind, orientiert sich die Analyse der Superstrukturen auf der von den sprachlichen Textstrukturen unabhängigen Ebene. 239 Eine Superstruktur setzt sich aus bestimmten Kategorien oder Metakategorien zusammen, die aufgrund bestehender und in den meisten Fällen konventionalisierter und kulturell determinierter Kombinationsregeln zu bestimmten Konfigurationen kombiniert werden können: „In effect, a narrative superstructure is a spezial kind of schema, but a conventionalized - not personal - one“. 240 Superstrukturen kennzeichnen den Texttyp: „eine Superstruktur ist eine Art Textform, deren Gegenstand, Thema, d.h.: Makrostruktur, der Textinhalt ist. Man muß also in Abhängigkeit vom kommunikativen Kontext dasselbe Ereignis in verschiedenen ‚Textformen’ berichten“. 241 Dies impliziert, dass Superstrukturen unabhängig von der semantischen Makrostruktur des jeweiligen Textes sind. Aber sie besitzen mit diesen eine Eigenschaft gemeinsam: „sie werden beide nicht in bezug auf isolierte Sätze oder Sequenzen eines Textes definiert, sondern für den Text als ganzen oder für bestimmte Fragmente aus dem Text“. 242 Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Ein Verkehrsunfall kann auf verschiedene Art und Weise dargestellt werden - als ein Protokoll beim Unfallhergang, als ein Bericht in der Zeitung oder als Schilderung eines Zeugen. Protokoll, Bericht und Erzählung unterscheiden durch ihre spezifischen Aufbauprinzipien, durch typische globale Kennzeichen, dennoch rekurrieren sie alle auf die propositionale Basis „Verkehrsunfall“. Eine Superstruktur setzt sich also aus bestimmten Kategorien zusammen, „die aufgrund bestehender und in den meisten Fällen konventionalisierter Kombinations- und Transformationsregeln zu bestimmten Konfigurationen konstruiert werden“. 243 Diese Kategorien sind Bestandteile des typologischen Wissens, welches sozio-kulturell akzeptiert ist. Dennoch ist hervorzuheben, dass Superstrukturen kein wesentliches Merkmal von Texten sein müssen, sondern dass auch die Ordnung von Makrostrukturen für eine globale Einteilung des Textes sorgen kann. Aber in bezug auf die Superstruktur kann eine „solche semantische und pragmatische Ordnung mehr oder weniger konventionell werden [...] und sich als ein quasi-syntaktisches System fixieren“. 244 Und genau in diesem Fall entstehen Superstrukturen, deren zugrunde liegende Regeln für die Interpretation und für die Produktion von spezifischen Texten bestimmend sind. 238 Van Dijk, Textwissenschaft, 131. 239 Vgl. Duhme, Der Text, 31. 240 Cortazzi, Narrative Analysis, 70. 241 Van Dijk, Textwissenschaft, 128. 242 Van Dijk, Textwissenschaft, 129. 243 Holthuis, Intertextualität, 74. 244 Van Dijk, Textwissenschaft, 152. <?page no="183"?> 171 Somit sind Superstrukturen zu beschreiben als konventionalisierte Metaregeln, die als sozio-kulturell akzeptiert gelten können. Da sich diese traditionellen und formalen Schemata, auf denen die Superstrukturen beruhen, teils aus pragmatischen Anforderungen, teils aber auch aus poetologischen Traditionen heraus entwickelt haben, wird von den LeserInnen ein hohes Maß an Kompetenz beim Erkennen dieser Superstrukturen vorausgesetzt. 245 Angesichts des minimalen Standes der theoretischen und empirischen Durchdringung dieses Bereiches beschränkt sich van Dijk auf einige „Anmerkungen zu vorausgesetzten Merkmalen“ solcher Superstrukturen. 246 Van Dijk hält fest, dass es noch keine ausgearbeitete allgemeine Theorie über Superstrukturen gibt, „wohl aber eine über bestimmte Superstrukturen, vor allem über die Erzählung und über die Argumentation“. 247 Anhand dieser zwei Beispiele von konventionalisierten, stereotypischen Inhaltsstrukturen kann zu den Superstrukturen gesagt werden, dass sie eine Art Makrosyntax für Texte bilden. Superstrukturen können den Abruf von Informationen aus dem Gedächtnis - und damit den Verstehensprozess beschleunigen. Im Folgenden wird exemplarisch von van Dijk erfasste Superstruktur der Narration nachgezeichnet, da sie gerade bei der Behandlung der Evangelien, respektive des Markusevangeliums, als narrative Texte von evidenter Wichtigkeit ist, die durch ihren chronologisch-temporalen und kausalen Repräsentationsmodus bezogen auf eine Ereignissequenz den narrativen Textmustern zuzuordnen sind. Für die Superstruktur der Narration legt van Dijk ein Schema fest, 248 das sich an dem formalisierten Erzählschema von William Labovs Bestimmung einer Erzählung 249 orientiert. Die Superstrukturen werden - in Anlehnung an die Strukturbäume („phrasemarkers“) der Generativen Gram- 245 Diese Kompetenz wird beispielsweise im Schulunterricht oder in der Universität, aber auch in der Familie erworben, wo nicht nur die Fähigkeit erlernt wird, Superstrukturen zu erkennen, sondern auch Texte nach superstrukturell vorgegebenen formalen Rastern zu produzieren. 246 Van Dijk, Textwissenschaft, 129. 247 Van Dijk, Textwissenschaft, 129. 248 Vgl. van Dijk, Textwissenschaft, 142. 249 Labov, Transformation, 354-396. In diesem Aufsatz werden auf der Grundlage von der Auswertung faktualer Erzählungen von jugendlichen Slumbewohnern in mündlichen Kommunikationssituationen Ergebnisse für eine Erzähltheorie gezogen. Während Labovs Ergebnisse die Bedeutung narrativer Strukturen für die Menschen im Alltag unterstreicht, darf die Aufnahme des Modells von Labov bei van Dijk gerade verstanden werden als der Versuch, diesem Modell eine universelle Komponente zu verleihen. Van Dijk übernahm von Labov die sechs Konstituenten einer ‚Narration’ (bei Labov: ‚abstract’), ‚Rahmen’ (bei Labov: ‚orientation’), ‚Moral’ (bei Labov: ‚coda’), ‚Komplikation’ (bei Labov: ‚complicating action’), ‚Auflösung’ (bei Labov: ‚resolution’), und ‚Evaluation’ und fügt noch die Kategorien ‚Geschichte’, ‚Plot’, ‚Episode’ und ‚Ereignis’ hinzu. <?page no="184"?> 172 matik - als hierarchisch geordnete kategoriale Baumdiagramme dargestellt. 250 Der Strukturbaum zeigt mittels zehn verschiedener Elemente den formalen Aufbau der Erzählung (Narration), wobei die der Superstruktur (hier: Narration) untergeordneten Begriffe Teilbereiche der Erzählung repräsentieren. Als wesentliche Einheit konstituieren sich Erzählungen aus dem Ereignis, die ihrerseits wiederum aus den Einheiten Komplikation und Auflösung besteht. „Komplikation und Auflösung - zu denen natürlich auch der situative Rahmen gehört - dürfen daher als Kern von Erzähltexten angesehen werden.“ 251 Diese drei Kategorien (Rahmen, Komplikation, Auflösung) sind obligatorisch, fakultativ hingegen Evaluation und Moral. Es ist jedoch nicht erforderlich, dass alle Teilbereiche der Makro- Kategorien in der Reihenfolge auftauchen, Transformationen sind erlaubt. So kann eine Narration auch mit dem Bereich „Komplikation“ beginnen. In Mk 1,14 wird von der Gefangennahme des Täufers Johannes berichtet. Hier wird narrativ die erste grundlegende Komplikation eingeführt, denn die nun offene Frage ist, wie sich Mk 1,1 mit der Ankündigung des Anfangs des Evangeliums zu Mk 1,14 verhält, in der die Gefangennahme des Boten erzählt wird. Daran anschließend führt das zu einer zweiten Komplikation: Was geschieht mit demjenigen, den der Bote Johannes angekündigt hat? Diese Komplikation verschärft sich sodann mit Blick auf Mk 3,6. Die im Markusevangelium von Anfang an auftretende Komplikation der Gefährdung der guten Botschaft durch dysphorische Elemente darf als narrationsbestimmend erfasst werden. Es ist ersichtlich, dass auch im Bereich der Superstrukturen ein enges Verhältnis zur Pragmatik aufgebaut wird, weil eine gelungene Erzählung keineswegs nur aus einem Handlungsgerüst besteht, sondern „ebenso aus evaluativen und affektiven Elementen. Diese sorgen allererst dafür, daß eine Geschichte erzählenswert ist“. 252 Für das Markusevangelium hat beispielsweise Eisen hervorgehoben, dass als das grundlegende evaluative Element das „Denken der Dinge Gottes“, wie es von Jesus repräsentiert wird, und das „Denken der Dinge des Menschen“ gilt. 253 Undeutlich bleibt bei dem Modell von van Dijk der Ableitungszusammenhang zwischen Super- und Makrostrukturen. Während auf der einen Seite die Superstruktur „eine Art Textform“ bildet, „deren Gegenstand, Thema, d.h.: Makrostruktur, der Textinhalt“ sei, 254 werden die Superstruk- 250 Vgl. van Dijk, Textwissenschaft, 131. 251 Heinemann/ Viehweger, Textlinguistik, 243. 252 Martinez/ Scheffel, Einführung, 149. 253 Vgl. Eisen, Markusevangelium, 143. 254 Van Dijk, Textwissenschaft, 128. <?page no="185"?> 173 turen andererseits in kognitiver Hinsicht als Produktions- und Interpretationsschemata für Texte betrachtet. 255 9.4. Frames 256 Ein wichtiges Konzept, das insgesamt nicht textualisierte Verstehensvoraussetzungen betrifft, ist die sog. Frame-Theorie 257 . Der Begriff „Frame“ oder „Rahmen“ ist ein kognitiver Begriff. 258 Nach van Dijk stellen Frames „bestimmte Organisationsformen für das konventionell festgelegte Wissen, das wir von der Welt besitzen, dar“. 259 Dieses Weltwissen gehört zur Grundkonstitution der menschlichen Kognition: es ist das „Wissen um Allgemeines Wiederkehrendes, Regelmässiges, es ist das Wissen um Prototypen“. 260 Diese Theorie geht davon aus, dass Wissen über die Sprache und Wissen über die Welt gemeinsam zur Textanalyse verwendet werden müssen, wobei Frames zwar die sprachliche Organisation des Textes determinieren können, darüber hinaus aber nur vermittelt von dieser abzuleiten sind. Auf die Ebene der Texte angewandt versucht diese Theorie, „die Verknüpfung von Weltwissen bzw. Handlungswissen mit den in einem Text sprachlich vermittelten Informationen nachzuvollziehen“. 261 Dahinter verbirgt sich folgende Grundannahme: Beim Textverstehen wird jeweils eine mentale Repräsentation gebildet, die von vornherein ganzheitlichen Charakter hat und im Laufe des Verarbeitungsprozesses zunehmend differenziert und elaboriert wird. Im Zusammenhang mit der Frame-Theorie 255 Vgl. van Dijk, Textwissenschaft, 186f. 256 Mittlerweile ist der Frame-Begriff äußerst vieldeutig geworden. Eingeführt in die wissenschaftliche Diskussion wurde der Begriff von Minsky. Vgl. dazu Schmidt, Grundriss, 261f., der stattdessen den weiter gefassten Begriff des „Referenzrahmens“ vorschlägt. Allen unterschiedlichen Varianten zu diesem Problembereich ist aber der Grundgedanke gemeinsam, dass sich ein bestimmter Typ von Wissensstruktur im Unterschied zur vereinzelten, unzusammenhängenden Speicherung von Wissensdaten als interne Datenstruktur vorstellen lässt. Die Einbettung dieser kognitiven, nicht textualisierten Komponente in das Textverstehen basiert auf der Annahme, dass zur Textrezeption benötigtes Wissen in kognitiven Frames bei den RezipientInnen gespeichert ist und dass die Semantisierung sprachlicher Ausdrücke die Aktivierung solcher gespeicherten kognitiven Frames voraussetzt. 257 Beaugrande/ Dressler, Einführung, 90f., verstehen Frames als konventionalisierte Muster oder Modelle, die unter der Bezeichnung „global patterns“ wie folgt typologisiert werden: a.) frames als „global patterns that contain common sense knowledge about some central concept“; b.) schemas „as linked by time proximity and causality“; c.) plans als „events and states leading up to an intended goal“ und d.) scripts als „stabilized plans called up very frequently to specify the roles of participants and their expected actions“. 258 Van Dijk, Textwissenschaft, 169. 259 Van Dijk, Textwissenschaft, 169. 260 Nussbaumer, Was Texte sind, 160. 261 Linke/ Nussbaumer/ Portmann, Studienbuch Linguistik, 235. <?page no="186"?> 174 geschieht die Repräsentation durch ein mentales Modell und nicht durch eine propositionale Repräsentation. Während die meisten herkömmlichen Verstehensmodelle davon ausgehen, dass die LeserInnen zunächst Einzelelemente eines Textes (z.B. Wörter, Propositionen) rezipieren und von hier aus über den Prozess der sukzessiven Integration dieser einzelnen Einheiten allmählich über das Verständnis von Teiltext-Bedeutungen zur Erfassung der gesamten Textbedeutung gelangen, vertritt van Dijk durch die Berücksichtigung von Frames eine Auffassung, dass die RezipientInnen schon vor Beginn des eigentlichen Perzeptionsprozesses bestimmte Elemente seines interaktionalen Wissens aktivieren. 262 Diese kognitiven Repräsentationen haben ein textorganisierendes Potential. Unter der Annahme, dass Frames Wissen strukturieren in kognitiver Hinsicht, sind sie Teil unseres „semantischen allgemeinen Gedächtnisses“. 263 Frames oder Rahmen sind globale Muster, die Alltagswissen über irgendein zentrales Konzept, wie z.B. „Geburtstagsfeiern“ umfassen. Es ist ein Wissen über „typische (erwartbare) Objekte, Geschehnisse, Handlungen und Abläufe im Rahmen bestimmter Situationen oder Ereignisse“. 264 Ohne die Aktivierung dieser Wissensbestände kann ein Text nicht verstanden werden. Im Fall von „Geburtstagfeiern“ verlangt die Aktivierung des Frames „Geburtstagsfeier“ zu der beispielsweise Kerzen, Kuchen, Geschenke etc. zählen. Im Rahmen der Arbeit mit antiken Texten wird die Aktivierung dieser Wissensbestände zunächst dem Alltagswissen der LeserInnen folgen, allerdings wird dieses von den LeserInnen aktivierte Alltagswissen in den meisten Fällen nicht ausreichen und muss angereichert werden durch das zu erschließende Alltagswissen der Antike. So ist davon auszugehen, dass das Konzept der „Geburtstagsfeier“ in Mk 6,21 nicht dem gleichen Frame folgt wie eine Geburtstagsfeier im 21. Jh. n.Chr. in Deutschland. Um dieses Wissen über die antike Welt sich anzueignen, sind die LeserInnen auf über den Text hinausgehende Informationen angewiesen. Aufgrund dessen werden die LeserInnen dann erfahren, dass „Kuchen“ keine Rolle bei einem Geburtstag in der Antike spielen ebenso wenig wie Luftballons. Sowohl in der Antike wie in der heutigen Zeit gehört aber zu einer „Geburtstagsfeier“ ein geselliges Beisammensein im Rahmen einer Mahlzeit. Doch die Art und Weise dieser Mahlzeit unterscheidet sich wieder fundamental. 265 Frames organisieren somit einen Teil des Wissens über die Welt, welches durch Konvention und Erfahrung gewonnen wurde und erlauben so einerseits, Bezüge zwischen Sätzen auch dann herzustellen, wenn keinerlei grammatische oder semantische Verknüpfungen vorliegen, andererseits 262 Vgl. Heinemann/ Viehweger, Textlinguistik, 259f. 263 Van Dijk, Textwissenschaft, 169. 264 Linke/ Nussbaumer/ Portmann, Studienbuch Linguistik, 235. 265 Vgl. dazu Gerlach, Zu Tisch bei den Römern. <?page no="187"?> 175 bilden sie die Voraussetzung dafür, dass noch nicht eingeführte Textelemente erkannt und zugeordnet werden können. Von besonderer Relevanz der Frame-Theorie van Dijks ist der Aspekt, dass bei der Aktivierung von Frames durch die LeserInnen Bestandteile eines übergeordneten Konzeptes nicht explizit genannt werden müssen. Zur Aktivierung des „Geburtstags-Frames“ werden die Bestandteile eines Kuchenbackens beispielsweise nicht extra genannt. Das Wissen der Leser über die Welt, die Kenntnis konzeptioneller Bestandteile und Objekte ermöglicht ihnen die Aktivierung von Frames, die deshalb als textbzw. diskursunabhängig organisiert angesehen werden können. Stattdessen sind sie als kognitiv im Gedächtnis der LeserInnen vorhanden vorauszusetzen und können bei Bedarf aktiviert werden. Je nach aktiviertem Vorwissen können deshalb auch bei ein und demselben Text unterschiedliche Bedeutungsstrukturen aufgebaut werden. 10. Textverstehen als strategischer Prozess zur Generierung von Textbedeutungen Das Modell, das van Dijk und van Dijk/ Kintsch entwickeln, basiert auf einem komplexen, prozeduralen Modell, das auf der Annahme aufbaut, dass Textverstehen ein strategischer Prozess ist. Dieser Prozess des Textverstehens ist die Voraussetzung für die Generierung einer Textbedeutung, bei der die RezipientInnen ihre Kenntnisse strategisch einsetzen, was durch folgende Grundannahmen gestützt wird: 266 Durch Anwendung unterschiedlicher Strategien bringen die RezipientInnen Ordnung in die aus dem Text entnommenen Informationen und füllen diese mit bereits vorhandenem Wissen auf. Sachverhalte werden von den TextinterpretInnen immer als Sachverhalte eines bestimmten Typs verstanden, die abhängig von vorhandenen „Ordnungsklassen“, Kommunikationssituationen und Interaktionen sind. Bei der mentalen Repräsentation eines Textes warten die InterpretInnen nicht bis zum Textschluss, sondern im Prozess des Lesens/ Hörens wird die Äußerungsstruktur sich angeeignet und schrittweise modifiziert. Für die Konstruktion der mentalen Repräsentation eines Textes sind die Einstellungen, Wertungen, Überzeugungen, Meinungen der TextinterpretInnen immer einzubeziehen. 266 Die folgende Darstellung orientiert sich an Heinemann/ Viehweger, Textlinguistik, 117f. <?page no="188"?> 176 Bei der Konstruktion der mentalen Repräsentation des Textes ist die Funktionalität des Textes im sozialen Kontext zu berücksichtigen. Bei der Textinterpretation wird für die Bedeutungsgenerierung eines Textes auf (subjektive) Theorien und Hypothesen durch die InterpretInnen rekurriert. Der Ansatz von van Dijk ist deshalb besonders geeignet, die individuelle Bedeutungsinterpretation theoretisch explizit darzustellen, da es maßgeblich darum geht, wie ein Interpret oder eine Interpretin die Bedeutung eines Textes generiert. Das dargelegte kognitionswissenschaftliche Instrumentarium dient dazu, die an der Konstitution der Bedeutung beteiligten Faktoren benennbar zu machen. 11. Zusammenfassung der Bedeutungstheorie van Dijks Bei dem Modell von van Dijk haben wir ein komplexes Konzept vorgestellt, das die globale Organisation von Texten zu beschreiben in der Lage ist. Dieses komplexe System unterschiedlicher Faktoren erlaubt es, die Bedeutung eines Textes in größtmöglicher Weite zu erzeugen. Das Modell von van Dijk legt in seiner dreidimensionalen dynamischen Bedeutungskonzeption den Schwerpunkt auf die semantische Dimension der Bedeutung, die ihren Ausgang in einer kognitiven Bedeutungsauffassung nimmt. Die Konstitution der Bedeutung wird so zu einem dynamischen Prozess, der wesentlich zwischen Text und LeserIn stattfindet. Das Modell von van Dijk und van Dijk/ Kintsch versteht Bedeutung, die in einem Prozess des Textverstehens eingebunden wird, als einen kognitiven Prozess. Denn kein „serious account of discourse meaning, coherence, or other semantic properties is possible without the notions of such concepts, knowledge and beliefs, frames and scripts, or models, that is in terms of mental representations and cognitive processes of various kinds”. 267 Mit dem Interesse an Konzepten, Wissensannahmen, Überzeugungen, Frames und Scripts eignet sich die Bedeutungstheorie von van Dijk besonders, um die mentalen Aspekte der kulturellen Zeichenprozesse bei der Bedeutungsgenerierung herauszuarbeiten. Die traditionelle Auffassung, dass die beim Textverstehen gebildeten Wissensstrukturen aus semantischen Einheiten - den so genannten Propositionen - bestehen, wird in dem Ansatz von van Dijk erweitert. Das Generieren von Bedeutungen ist mehr als „nur“ das Verknüpfen von Propositionen. Textverstehen ist deshalb „nicht durch herkömmliche strukturelle ebenenorientierte Modelle, sondern nur durch komplexitätsorientierte Modelle“ 268 adäquat zu beschreiben und zu erklären. Deshalb erweitert van 267 Van Dijk, Communicating Racism, 37. 268 Heinemann/ Viehweger, Textlinguistik, 117. <?page no="189"?> 177 Dijk sein früheres Modell in Zusammenarbeit mit Kintsch. Sie nehmen an, dass die LeserInnen neben einer propositionalen Repräsentation - der Textbasis - auch ein so genanntes Situationsmodell bilden. Dabei handelt es sich um ein mentales Modell des im Text beschriebenen Sachverhalts, das durch Integration der Textinformation mit dem bereits vorhandenen „Wissen“ der LeserInnen gebildet wird. In Erweiterung des additiven Propositionsmodells arbeitet van Dijk mit Makrostrukturen, Frames und Superstrukturen. Ein integraler Part der semantischen Theorie des Textverstehens ist die Formation der Makrostruktur. Bei der Frage, wie Makrostrukturen generiert werden, haben wir gesehen, dass hierfür die Anwendung von Makroregeln relevant ist. Hier sind insbesondere drei zu nennen: deletion, generalization, construction. Eine Schwierigkeit dieser Theorie ist, dass Makroregeln zwar leicht beschrieben werden können, aber nicht automatisiert werden können. Im Rahmen eines gegebenen Textes - z.B. des Markusevangeliums - ist es nicht möglich zu sagen, was die Makrostruktur ist. Es ist nur möglich, anhand gegebener gebildeter Makrostrukturen den Weg zurück zu gehen und zu fragen, ob unter Anwendung der Makroregeln eine nachvollziehbare Makrostruktur gebildet worden ist. Die Besonderheit der Bedeutungstheorie von van Dijk mit ihrem Schwerpunkt auf der semantischen Dimension liegt in der Einbeziehung der aktiven Rolle, die die Rezipienten bei der semantischen Bedeutungsinterpretation von Texten spielen. Von der Bedeutung eines Textes kann nach van Dijk nur in einem Textverarbeitungsprozess gesprochen werden. Vermisst wird jedoch im Textmodell van Dijks, das die globale Organisation von Texten und die kohärenzstiftenden Elemente zu erfassen versucht, eine Ausarbeitung von Lesestrategien, die den Prozess der Textrezeption der LeserInnen beschreiben. Es wird letztendlich ein idealer Leser vorausgesetzt, der den Text nicht „missversteht“ und keine Fehler in der Repräsentation macht. Sicher ist nur: Je mehr Kenntnisse RezipientInnen zu einer bestimmten Thematik besitzen, desto besser werden sie den Text verstehen. Hier werden wir besonders bei dem Modell von Eco hilfreiche weitere Differenzierungen finden. Diese prozeduralen Bedeutungstheorie van Dijks fasst Bedeutung dementsprechend nicht als eine statische Größe auf, sondern als eine dynamische Größe. Der Ansatz von van Dijk mündet in einer Bedeutungstheorie auf der Grundlage einer kognitiv ablaufenden Textrezeption, deren Grundprinzip auf der Annahme eines zyklisch ablaufenden Kohärenzprozesses im menschlichen Gedächtnis basiert. 269 Die kognitive Theorie von 269 Damit befindet sich dieses Modell von van Dijk/ Kintsch in Nähe zu Arbeiten von de Beaugrande/ Dressler, Scherner, Heinemann/ Viehweger, Rickheit, Linke/ Nussbaumer/ Portmann, die alle ebenfalls bei der Beschreibung von Kohärenz von einem Prozess ausgehen und teilweise direkt auf van Dijk referieren. Zur Verdeutlichung sei <?page no="190"?> 178 van Dijk erlaubt es, die Frage nach den von den RezipientInnen gemachten Gedächtnisleistungen, die bei der Bedeutungsinterpretation von Textzeichen eine Rolle spielen, auch für die antiken biblischen Texten in theoriegeleiteter Form darzustellen. Im Gegensatz zu den mittlerweile zahlreicher werdenden Versuchen, Gedächtnistheorien für die Erklärung der Produktion von neutestamentlichen Texten zu nutzen, 270 wendet sich das Modell von van Dijk der Rezeptionsseite zu und nimmt die kognitiven Rezeptionsleistungen von LeserInnen bzw. HörerInnen in den Blick. Deshalb ist das von van Dijk und van Dijk/ Kintsch erarbeite Modell ein genuin funktionales, prozedurales Modell. Textbedeutung ist zu verstehen als ein Prozess der Textverarbeitung, der - wie wir gesehen haben - auf mehreren Ebenen abläuft, bei gleichzeitig angenommener paralleler Verarbeitung sowie Interaktivität. Dieses Modell berücksichtigt den entscheidenden Einfluss von Welt- und Textwissen, Motiven und Intentionen der RezipientInnen auf den Verstehensprozess. Das Generieren von Bedeutung ist immer ein Prozess von Verarbeitungsstrategien, die sich im Aufbau mentaler Textweltmodelle, d.h. kognitiver Korrelate zum Text, niederschlagen. Die methodologische Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, - nämlich dass mentale Modelle als kognitive Phänomene der direkten Beobachtung nicht zugänglich sind - entbindet dennoch keineswegs von den Überlegungen zu kognitiv ablaufenden Prozessen bei der Textverarbeitung. Vielmehr ist davon auszugehen, dass ohne Überlegungen zu kognitiven Prozessen, die zu Konstruktionen mentaler Modelle führen, dem Phänomen der Bedeutungskonstituierung nicht adäquat Raum beigemessen wird. Dabei ist ein wichtiger Aspekt bei den kognitiven Textweltmodellen, dass sie die Referenzproblematik nicht ausklammern. Diese Referenz bezieht sich in dem Modell von van Dijk immer auf Dispositionseigenschaften der Textoberfläche und muss von den LeserInnen vollzogen werden. ein Zitat von Linke/ Nussbaumer/ Portmann, Studienbuch Linguistik, 225, angefügt: „Wenn es also darum geht zu entscheiden, ob wir bei einer Reihe von Sätzen einen zusammenhängenden Text vor uns haben, sind nicht die semantischsyntagmatischen Verknüpfungen, die sich an der Textoberfläche feststellen lassen, ausschlaggebend, sondern es kommt darauf an, ob wir eine zusammenhängende - also eben kohärente - Texttiefenstruktur erschließen können. Dabei müssen wir uns natürlich zunächst an der konkreten gegebenen Textoberfläche orientieren, d.h. zum Beispiel die lineare Abfolge der Textbausteine [...] sowie die durch Textverknüpfungsmittel gegebenen Verknüpfungsanweisungen berücksichtigen. Daneben müssen wir aber wohl allgemeines außersprachliches Wissen einbeziehen.“ 270 Hier sei exemplarisch verwiesen auf den Sammelband von Kirk/ Thatcher (Hgg), Memory, verwiesen; vgl. auch Schröter, Erinnerung, 464, oder Derrenbacker, Practices, 93ff.234ff. <?page no="191"?> 179 VI. Die Bestimmung der Bedeutung im Modell von Umberto Eco Während Petöfi und van Dijk im Wesentlichen einen auf Texte zugeschnittenen Entwurf zur Erfassung der Kategorie der Bedeutung präsentieren, gelangt Eco im Rahmen seiner semiotischen Arbeiten über die Aufgabe der Interpretation zu einer pragmatischen Texttheorie. Ecos Semiotik und seine daraus resultierende Texttheorie ist dem Anliegen verpflichtet, angesichts der pluralistischen Aufsplitterung der Welt nicht in nihilistische Verzweiflung zu verfallen, sondern die Vielfalt und Relativität einzubinden in eine Theorie, in der „[...] Denken heißt, nach dem Weg tasten“. 271 Dieses „Nachdem-Weg-tasten“ ist im Rahmen seiner Textsemiotik als die Frage zu verstehen, wie der Prozess der Bedeutungszuschreibung unter der vorausgesetzten Pluralität der Bedeutungen funktioniert. Die Pluralität der Interpretationen, die das Bild der Bibelwissenschaften besonders der Gegenwart prägen, ist im Sinne dieser Theorie nicht als Manko zu erfassen, sondern forciert die Frage nach einer Theorie, die diese Diversität zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen macht. 1. Das Zeichenmodell von Umberto Eco und die darin eingebettete Bedeutungstheorie Eco entwickelt im Wesentlichen eine „interpretative Semiotik“ 272 im Anschluss an das Werk von Charles Sanders Peirce, die ihren Ausgang jedoch im Zeichenmodell von de Saussure nimmt. 273 Ecos Semiotik darf als ein Beispiel dafür gelten, wie eine Zeichentheorie hermeneutische Momente und Grundgedanken in sich aufzunehmen vermag und aus ihrer Perspektive zur Klärung hermeneutischer Fragestellungen - zu denen auch die 271 Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, 127. In ähnlicher Weise formuliert Karl Popper, obwohl aus einer vollkommen anderen Theoriediskussion stammend, in: Erkenntnistheorie, 125: „Wir Intellektuellen wissen ja nichts. Wir tasten.“ 272 Volli, Semiotik, 1, der diese „interpretative“ Semiotik der „strukturalen Semiotik“, wie sie von de Saussure, Hjelmslev, Lévi-Strauss und Greimas vertreten wird, gegenüberstellt. 273 Häufig wird als Hauptunterschied von dem Modell de Saussures und dem Modell von Peirce genannt, dass ersterer mit seiner Assoziation von Signifikat und Signifikant von einem zweistelligen Zeichenbegriff ausgehe, während Peirce mit einem triadischen Zeichenmodell arbeitet. Allerdings hat Liszka, Introduction, 139-153, aufzeigen können, dass de Saussures Begriff des Wertes des sprachlichen Zeichens als Äquivalent des Peirceschen Begriffs des Interpretanten gelesen werden kann, so dass auch für das Modell von de Saussure eine triadische Relation bedacht werden muss. <?page no="192"?> 180 Frage der Bedeutung gerechnet werden muss - beitragen kann. 274 Es wird zu zeigen sein, dass Ecos Semiotik durch die Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Charles Sanders Peirce in ihren praktischen Ergebnissen zu einer Beschreibung des Interpretationsprozesses gelangt und auf einer methodologisch-theoretischen Ebene die Bedingungen der Interpretation zu klären versucht, mit dem Ergebnis, dass die hermeneutischen Fragen und die semiotischen Fragen im Begriff der Interpretation kulminieren. Eco vertritt einen sehr weiten Semiotikbegriff, der davon ausgeht, dass die Semiotik sich mit allem befasst, „was man als Zeichen betrachten kann“. 275 Da alles als Zeichen betrachtet werden kann, 276 ist die Semiotik sozusagen für alle Objekte unserer Wirklichkeit zuständig, aber eben nur unter dem Verdikt, dass diese als Zeichen aufgefasst werden. Zugleich ist mit obiger Aussage von Eco festgehalten, dass es nicht Zeichen „an sich“ gibt. Sie sind keine in der Welt vorfindliche Entität. Der Begriff „Zeichen“ bildet eigentlich eine „Fiktion der Alltagssprache“ und ist durch den Begriff der „Zeichen-Funktion“ 277 zu ersetzen. 278 Die Zeichenfunktion stellt sich als die „Korrelation zweier Funktoren dar, die (außerhalb dieser Korrelation) keine semiotischen Phänomene sind“. 279 Eco arbeitet hier noch mit einem zweistelligen Zeichenmodell, das sich stark an de Saussure orientiert, später wird das triadische Modell von Peirce stärkeres Gewicht erhalten, 280 welches dann auch ausschlaggebend ist zur Bestimmung dessen, was Eco unter dem Terminus Bedeutung verstanden wissen will. Zugleich haben Zeichen für Eco eine Kommunikationsfunktion. „[...] Semiotik (ist) nicht nur die Wissenschaft von den Zeichensystemen [...], die als solche erkannt werden, sondern die Wissenschaft, welche alle Kulturphänomene so untersucht, als ob sie Zeichen wären, wobei sie von der Hypothese ausgeht, daß in Wirklichkeit alle Kulturphänomene Zeichensys- 274 Eine einseitig strukturalistisch ausgerichtete Semiotik und eine im Anschluss an Heideggers fundamentalontologisch orientierte, philosophische Hermeneutik verstellen nach Eco die Gemeinsamkeiten zwischen einer Theorie des Verstehens und einer Theorie der Zeichen. Vgl. Eco, Einführung, 114f. 275 Eco, Semiotik, 26. 276 Mersch, Umberto Eco, 76, spricht von einer Fundamentaltheorie, da sie alles unter dem Begriff des Zeichens stellt: „Der Fundamentalanspruch der Semiotik betrifft mithin die Universalität des ‚Semiosischen’“. 277 Eco, Semiotik, 76. 278 Vor dem Hintergrund der Geschichte der Zeichentheorie erweist sich Ecos Forderung nach der Zeichenfunktion als nicht so revolutionär. Sie ist einerseits zu finden in der glossematischen Semiotik Louis Hjelmslevs sowie in der semiotischen Tradition durch die Rede vom relationalen Charakter der Zeichen. Vgl. dazu Nöth, Umberto Ecos Beitrag, 52. 279 Eco, Semiotik, 44. 280 Ab seinem Buch „Lector in fabula“ wird der dreistellige Zeichenbegriff für Eco das tragende Fundament. Vgl. Eco, Lector, 31-60. <?page no="193"?> 181 teme sind, d.h. daß Kultur im wesentlichen Kommunikation ist“. 281 Der Untersuchungsgegenstand der Semiotik sind die kulturellen Prozesse. Die Semiotik - im Sinne von Eco - möchte die den kulturellen Prozessen zugrunde liegenden Systeme herausarbeiten. 282 Der Anspruch von Ecos Semiotik ist, dass die soziale und kulturelle Welt insgesamt Gegenstand der zeichentheoretischen Forschung ist. 283 Umgekehrt ist gleichermaßen festzuhalten, dass die Kommunikation alle Akte der Praxis umfasst, „in dem Sinne, daß die Praxis selbst globale Kommunikation, Begründung von Kultur und folglich von gesellschaftlichen Beziehungen ist“. 284 Er fordert eine „Semiotik der Botschaft“, 285 und damit eine Semiotik, die nicht mehr nur über die Konventionen nachdenkt, die das Funktionieren der Zeichen beherrschen. Kultur stellt bei Eco einen Gesamtrahmen für strukturelle Kopplungen dar, dessen Funktion darin besteht, ein Ordnungsprogramm für Bedeutung zu sein. Angewandt auf eine Textwissenschaft findet sich hier, wie bei Petöfi und van Dijk, die Forderung, die Linguistik nicht allein (! ) auf der Ebene der langue, sondern auch auf der Ebene der parole zu verhandeln. Oder anders ausgedrückt: Wenn den kulturellen Prozessen Systeme zugrunde liegen, ist das Verhältnis zwischen System und Prozess ein dialektisches. In der Bedeutungskonzeption von Eco ist die semantische Repräsentation eines Semems bzw. die Inhaltsseite einer lexikalischen Einheit die Summe aller Bedeutungen. Diese ist nicht nur im Rahmen eines bestimmten Feldes zu ermitteln, sondern muss auch ein Netzwerk möglicher Beziehungen innerhalb mehrerer Felder einbeziehen. Zugleich müssen kontext- und situationsbedingte Selektionen einbezogen werden können. Aus diesem Grund lehnt Eco die lexikographische Wörterbucheintragung ab und fordert stattdessen eine enzyklopädische (Wort-)Semantik. Mit diesem Spezifikum ist ein wichtiger Unterschied zwischen der Ecoschen Semiotik 281 Eco, Einführung, 295. Selbstverständlich können auch nicht-semiotische Aspekte untersucht werden. Während aber die nicht-semiotischen Aspekte der Dinge etwa durch physikalische oder ökonomische Aspekte bedingt sind, beruhen Zeichenfunktionen eben auf kulturellen Kodes. 282 Eco geht davon aus, dass der Kulturbegriff unter dem Primat von signifikativen und kommunikativen Prozessen steht, die jedoch unter semiotischen Gesichtspunkten besser zu verstehen sind. 283 Damit ist die Theorie von Eco ebenfalls kompatibel mit der hier vertretenen kulturwissenschaftlichen Fundierung der neutestamentlichen Wissenschaft. 284 Eco, Einführung, 442. Die semiotische Position von Eco, die alle kulturellen Prozesse als Kommunikationsprozesse und insofern als semiotisch zu beschreibende Prozesse untersucht, vermeidet die ontologische Implikation einer Identifikation von Kommunikation und Kultur. Deshalb ist für Eco die Frage nach der Identität von Kommunikation und Kultur eine Frage der Untersuchungstechnik. 285 Eco, Zeichen, 136. <?page no="194"?> 182 und der strukturalen Semantik 286 benannt. Ecos Zeichenmodell, das besonders pragmatische Aspekte der Zeichenverwendung in die Zeichentheorie integriert, erfasst Zeichen als Bezeichnungen für „kulturelle Einheiten“, die ihren Zeichencharakter erst durch eine gesellschaftlich konventionalisierte Funktionsbestimmung erlangen. 287 Zeichengebrauch muss sich auf kulturelle Übereinkünfte stützen. Deshalb sind nach Eco die Seme sprachlicher Zeichen konstituiert durch die Interpretanten, die selbst Signifikanten sind und semantisch zentrale (eher analytische) und periphere (eher enzyklopädische) Information integrieren. Diese Signifikanten besitzen natürlich ihrerseits wieder eine Inhaltsstruktur, die in einer Sem-Analyse wiederum nur durch weitere Signifikanten darstellbar ist. Damit forciert Eco die Idee des Signifikats im Prozess einer rekursiven Verweisstruktur. Mittels dieser Auffassung, in welcher sich das postulierte dialektische Verhältnis von System und Prozess ausdrückt, ist es möglich - im Gegensatz zu der strukturalen Semantik - den Prozess der Veränderung zu beschreiben, ohne auf die Abfolge zweier synchroner Systeme zurückzugreifen. Eco operationalisiert für seine Zwecke das Peircesche Zeichenmodell, 288 indem er es mit der de Saussureschen Terminologie koppelt. 289 So teilt Eco das Zeichen ein in Signifikant, Signifikat und Interpretant. 290 Der Signifi- 286 In Ecos Kritik an der Merkmalssemantik ist seine Kritik am europäischen Strukturalismus eingeflossen, der der „Struktur“ den Status einer objektiven Realität zuschreibt, so dass der Struktur ebenso wie den Merkmalen ein metatheoretischer Status zukommt. Eine solche Position könne nur zu einer „ontologischen Selbstzerstörung der Struktur“ führen (Eco, Einführung, 395). In dem Moment, wo eine Struktur von letztgültiger Art wäre, könne sie keine Struktur mehr sein, da es keine Metasprache mehr gäbe, die ihre Beschreibung ermöglichen würde: „Wenn man sie identifiziert, dann ist sie nicht die Letzte. Die Letzte ist diejenige, die - verborgen und ungreifbar und nicht-strukturiert - neue Erscheinungen erzeugt“ (Eco, Einführung, 411). Statt eines ontologischen fordert Eco deshalb einen methodologischen Strukturalismus, der Strukturen nur als jeweils vorläufige operationale Verfahren begreift, welche nur solange verwendet werden, bis sie durch brauchbarere Strukturen ersetzt werden können. 287 Ecos Begriff der kulturellen Einheit (der auch als semantische Einheit bezeichnet wird) steht in engem Zusammenhang mit dem Begriff des Interpretanten, da Interpretanten immer nur auf kulturelle Einheiten Bezug nehmen. Vgl. Eco, Zeichen, 176ff. 288 „Die Zeichenkonzeption von Charles Sanders Peirce [...] entstammt einem philosophischen Diskurs und wurde von Peirce’s Bemühen motiviert, die Kategorienlehre Kants konstruktiv zu kritisieren.“ (Alkier, Hinrichtungen und Befreiungen, 114). Vgl. auch Alkier/ Zangenberg, Zeichen, 34, mit der jeweils dort angegebenen Literatur. 289 Ein Problem dieses Vorgehens der Vermischung zweier Zeichenkonzeptionen ist, dass die Ausdifferenzierungen der Zeichenkonzeption von Peirce verloren gehen. Alkier schlägt in seinen Werken deshalb einen andern Weg vor: Ausgehend von der Peirceschen Terminologie, bei der gerade die Zeichenrelation zwischen Zeichen, Objekt und Interpretant als dreistellige Relation berücksichtigt wird, integriert er die Nomenklatur von Eco. 290 Eco, Zeichen, 28f. <?page no="195"?> 183 kant ist hierbei mit Peirces Repräsentamen (und mit de Saussures signifiant) identisch und bezeichnet den Zeichenträger. Unter Signifikat versteht Eco dagegen eine „kulturelle Einheit“, 291 d.h. eine von der jeweiligen Gemeinschaft der ZeichenbenutzerInnen anerkannte semantische Entität. Jeder erfolgreiche zwischenmenschliche Kommunikationsprozess muss sich auf kulturelle Übereinkünfte stützen. Da sich diese kulturellen Übereinkünfte von Kultur zu Kultur unterscheiden, müssen sie gleichzeitig auch zu zeitlichen Veränderungen in der Lage sein. 292 Der Begriff des Signifikats beinhaltet nach Eco keine fest umrissene Bedeutung eines Zeichens, vielmehr ist das Signifikat eine „abstrakte Größe“. 293 Die inhaltliche Füllung einer kulturellen Einheit, eines Signifikats ist - und da greift Eco nun auf Peirce zurück - ein weiterer Aspekt, nämlich der Interpretant, welcher von Eco wie folgt bestimmt wird: „Das Signifikat eines Zeichens lässt sich nur erklären durch den Verweis auf einen Interpretanten“. 294 Somit erweist sich der von Peirce übernommene Begriff des Interpretanten als der „semiotische Mechanismus, durch den von einem Signifikanten ein Signifikat prädiziert wird“. 295 Demzufolge handelt es sich auch beim Interpretanten um eine „kulturelle oder semantische Einheit“. 296 Erst durch den Zusammenhang zwischen Signifikat und Interpretant kann überhaupt von einem Signifikat gesprochen werden. Und erst die kulturelle Einheit ist eine „empirisch greifbare Einheit“, „wobei das, was man ‚ergreift’, allerdings stets einer ihrer Interpretanten ist“. 297 Um also festzulegen, was der Interpretant eines Zeichens ist, muss man ihn durch ein weiteres Zeichen benennen und so fort. „An diesem Punkt beginnt ein Prozess unbegrenzter Semiose, der, so paradox es auch sein mag, den einzigen Garanten für die Begründung eines semiotischen Systems darstellt, das fähig ist, sich allein durch eigene Mittel zu kontrollieren“. 298 Es ist ein Paradigma der kontrollierten Offenheit, welches auch Konsequenzen für die Auffassung von Bedeutung hat. Eine Bedeutungsfeststellung ist zu ersetzen durch den infiniten Prozess der kulturell bedingten Substitution durch andere Zeichen. Da der Interpretant funktional in einem engen Zusammenhang mit dem Begriff der kulturellen Einheit steht, wird die Frage nach der Bedeutung zu einem approximativen Prozess, bedingt durch kulturelles Wissen. Dabei ist die Vorstellung leitend, dass sich der semantische 291 Eco, Einführung, 75. 292 Damit wird von Eco die Behauptung zurückgewiesen, dass es eine universale Struktur des menschlichen Geistes gibt, auf deren Grundlage die Kommunikation ablaufen kann. 293 Eco, Einführung, 74. 294 Eco, Zeichen, 173. 295 Eco, Zeichen, 171. 296 Eco, Zeichen, 173. 297 Eco, Zeichen, 179. 298 Eco, Semiotik, 102. <?page no="196"?> 184 Raum durch die kulturellen Zeichenaktivitäten beständig ändert. Die Grenzen der klassischen Semantik werden in diesem Modell verlassen, denn die kulturellen Kodes 299 und Signifikationssysteme markieren zwar Bedingungen der Bedeutungskonstitution, „müssen jedoch in dialektischer Korrelation zu den Zeicheninterpretationen und also zu den (pragmatischen) Mechanismen der Zeichenerzeugung gesehen werden“. 300 Für SenderIn und EmpfängerIn einer Botschaft „werden Dinge nur gewusst mittels kultureller Einheiten, die das Universum der Kommunikation anstelle der Dinge in Umlauf gebracht hat“. 301 An die Stelle einer wahrheitskonditionalen Bedeutungstheorie tritt eine Theorie, die die Gültigkeit sprachlicher Ausdrücke und ihre Bedeutung dadurch erklärt, dass sie diese in Beziehung zu kulturellen Konventionen setzt. So ist gerade die Theorie des Interpretanten als eine anti-ontologisch-kanonische Größe zu verstehen, die sich im Zusammenhang mit einer Bedeutungsbestimmung gegen jede Art der Hypostasierung der Bedeutung zu einer feststellbaren Entität wehrt und den pragmatischen Aspekten der Zeichenverwendung Rechnung trägt. Mit Peirce versteht Eco den Interpretanten als das durch das Zeichen ausgelöste Folgezeichen, das ein gegebenes Zeichen interpretiert, in dem es dieses näher bestimmt: „Die am fruchtbarsten scheinende Hypothese ist jedoch die, das Interpretans [= den Interpretanten; Anm. K.D.] als eine weitere Repräsentation zu betrachten, die sich auf dasselbe Objekt bezieht“. 302 Interpretanten sind also als diejenigen Zeichen zu verstehen, die ein anderes Zeichen näher bestimmen bzw. seine Bedeutung erklären können. Unter der Annahme, dass Bedeutung als eine kulturelle Einheit begriffen wird, lässt sich im Rahmen der Rede vom Interpretanten auch ein Problem lösen, dass bis dahin nur die idealistische Bedeutungstheorie zu lösen vermochte - allerdings nur um den Preis der Einführung idealer Wesenheiten: Nämlich das Problem, weshalb eine Bedeutung nicht zwingend an ein Wort gebunden ist, weshalb also ein Signifikat verschiedene Signifikanten haben kann. 299 In der vorliegenden Arbeit wird der Ausdruck / Kode/ dem Ausdruck / Code/ vorgezogen, sofern nicht Texte zitiert werden. Obwohl / Code/ einerseits in den Übersetzungen der Ecoschen Werke Verwendung findet und auch als der internationalere Begriff gelten kann, ist doch dieser Begriff in der deutschen Sprache vorbelastet durch seine nachrichtentechnische und kommunikationstheoretische Verwendungsweise, die aber dezidiert von Ecos Verwendung abzugrenzen ist. Eco zufolge sind „Kodes“ dadurch gekennzeichnet, dass Elemente eines übermittelten Systems bestimmten Elementen eines übermittelten Systems regelhaft zugeordnet werden können. Aber neben diese Zuordnungsfunktion treten sofort konnotative Überlagerungen, die wiederum Regeln sind, so dass Eco davon Abstand nimmt, dass Kodes lediglich Zeichen organisieren, sondern er vertritt die Auffassung, dass Kodes „[...] Regeln bereit(stellen), die im kommunikativen Verkehr Zeichen als konkrete Gebilde generieren“ (Eco, Semiotik, 77). 300 Schalk, Umberto Eco, 116. 301 Eco, Semiotik, 59. 302 Eco, Einführung, 77. <?page no="197"?> 185 Werden Signifikate jedoch als kulturelle Einheiten betrachtet, die mittels anderer kultureller Einheiten identifiziert werden, dann ist es möglich, die Bedeutung eines Ausdrucks ohne Rekurs auf die Gegenstände zu erklären. Deshalb ist der Begriff des Interpretanten für eine Bedeutungstheorie von eminenter Wichtigkeit: Wenn ich z.B die Bedeutung des Wortes Bibel erkläre, in dem ich mit dem Finger auf die Bibel zeige, erkläre ich nicht die Bedeutung durch den Gegenstand, sondern mit Hilfe eines Interpretanten, in diesem Fall die hinweisende Geste, die auf ein einzelnes Objekt deutet. Die Gegenstände sind zur Explizierung des semiotischen Systems nicht mehr unabdingbar notwendig. Zugleich meint Eco mit diesem erweiterten Zeichenmodell das Problem der Referenz adäquat bedacht zu haben. Während sich Eco in seinem Buch „Semiotik“ von einer scheinbar „antireferentiellen“ Semiotik zu einer „nicht unmittelbar referentiellen Semiotik“ hinbewegte, ist spätestens ab „Lector in fabula“ eine explizite Hinwendung zu dem Problemkomplex der Referenz zu bemerken. 303 Die Akte der Bezugnahme können nur ablaufen unter Einbeziehung von kulturell determinierten Vereinbarungen. Einher geht mit seiner Semiotikkonzeption eine fundamentale Kritik an dem Modell, das auf Odgen und Richards zurückgeht, und von Lyons als „semiotisches Dreieck“ bezeichnet wird. 304 Eco macht für die Stagnation in der Erforschung der Bedeutung das „äußerst schädliche Schema“ Odgen und Richards’ verantwortlich. Wie Peirce fassen Odgen und Richards das Zeichen als eine triadische Struktur auf, jedoch mit einem grundlegenden Unterschied: Peirce hat die Position der „reference“ durch den Begriff des Interpretanten ersetzt mit weit reichenden Konsequenzen, die wir schon oben kurz dargelegt haben und die uns unter dem Abschnitt zur Semiose weiter unten noch beschäftigen werden. Odgen und Richards stellten 1923 ein von Peirce signifikant abweichendes Zeichenmodell vor. Da sie eine 303 In Eco, Kant, spielt das Zeichenmodell von de Saussure keine wesentliche Rolle mehr, sondern nur noch das von Peirce. Dies begründet Eco mit einer verschobenen Interessenlage seiner Semiotikkonzeption: „Ich muß gestehen, daß ich in früheren Büchern die falsche Vorstellung in die Welt gesetzt habe, daß einerseits die Semiotik sich nicht für die Bezugnahme-Prozesse interessiere und daß man andererseits das Problem der Identifizierung des Referenten auf dieselbe Weise behandeln könnte wie das der Bezugnahmeakte. Von der Einführung in die Semiotik bis zu Le forme del contenuto, von Zeichen bis Semiotik war ich bestrebt Titel und Formulierungen zu wählen, die keinen Raum für Zweifel ließen, etwa „Referenten-Fehler“. Der Grund für diese Polemik lag darin, daß ich in diesen Büchern herausarbeiten wollte, wie die Kultur ein System von Inhalten konstituiert und wie das Reden den Eindruck von Wahrheit erzeugt, weshalb es mir wichtiger erschien festzustellen, auf welches Individuum oder welchen Sachverhalt man sich bezieht, wenn man sagt, Dion laufe. Natürlich war niemand der Meinung, daß man die Sprache nicht zum Bezugnehmen auf etwas benutzt. Das Problem bestand darin, die Bezugnahme als Funktion des Signifikats zu sehen und nicht umgekehrt.“ (Eco, Kant, 543). 304 Lyons, Einführung, 414. <?page no="198"?> 186 direkte Verbindung vom Sprachzeichen zu seinem Referenten bezweifelten (darin stimmen sie mit Peirce überein), weisen sie darauf hin, dass die Beziehung zwischen einem Sprachzeichen (symbol) und seinem Referenten (referent) vermittels der Bezugnahme (reference) durch das erkennende Subjekt oder einen Erkenntnisakt, d.h. durch sein Denken bzw. über seinen Gedanken (thought) erst hergestellt werden müsse. Dies ist nach Eco als „referentieller Fehlschluss“ 305 zu bezeichnen, denn der Sinn einer Nachricht sei davon unabhängig, ob einem Satz Tatsachen oder einem Wort Gegenstände in der Wirklichkeit entsprächen. Nach Eco bilden Zeichen keine selbständigen Entitäten, denen von sich aus Sinn zukäme. Anders ausgedrückt: Zeichen bedeuten nichts kraft ihrer bloßen Existenz, erst in einem Funktionszusammenhang können sie etwas bedeuten, doch dieses „Etwas“ kann erst einmal alles Mögliche sein. Während bei Odgen und Richards der Referent die Position markiert, auf die von dem Sprachzeichen mittels der Bedeutung verwiesen wird, erläutert Eco die Berechtigung seiner eigenen Definition anhand der Wörter „Morgenstern“ und „Abendstern“, die sich bei Frege auf den gleichen Gegenstand beziehen. Eco hält demgegenüber fest, dass ein Sprecher, um sich auf diesen Gegenstand zu beziehen, die Erfahrung dieses Gegenstandes gemacht haben muss, was jedoch unmöglich ist. Nun ist es aber nach Ecos Ansicht so, dass der Sprecher sich gar nicht auf diesen Gegenstand beziehen muss, sondern auf eine bestimmte kulturelle Einheit, die er oder sie „in dieser Beschreibung von Kultur, in der er lebt, empfangen hat, ohne jemals die Erfahrung des wirklichen Referens gemacht zu haben. [...] Wer dieses Signifikans hervorbrachte oder empfing, dachte, daß es zwei verschiedene Dinge seien. Und er hatte recht in dem Sinne, daß die kulturellen Codes, auf die es Bezug nahm, hier zwei verschiedene kulturelle Einheiten vorsahen. Sein soziales Leben spielte sich nicht auf der Grundlage von Sachen ab, sondern auf der Grundlage von kulturellen Einheiten. Oder besser: für ihn wie für uns waren die Sachen nur durch die kulturellen Einheiten bekannt, die die Welt der Kommunikation statt der Sachen zirkulieren ließ“. 306 Der Referent kann also kein objektiver Gegenstand, der mir direkt zugänglich ist, sein, sondern ist nach Eco als eine abstrakte Größe zu verstehen, die nichts anderes als eine kulturelle Übereinkunft ist. Wenn die Verifizierung eines Signifikanten an den Gegenstand gebunden ist, auf den er sich bezieht, entstehen nach Eco zwei überflüssige Probleme: „a.) Man macht damit den semiotischen Wert des Signifikans von seinem Wahrheitswert abhängig. b.) Man ist gezwungen, 305 Eco, Semiotik, 88f. In der deutschen Übersetzung findet sich für den Terminus „referentieller Fehlschluss” das Wort „Referenten-Fehler“, eine etwas unglückliche Übersetzung von „fallacia referenziale“. 306 Eco, Einführung, 73. <?page no="199"?> 187 den Gegenstand zu identifizieren, auf den sich das Signifikans bezieht, und dieses Problem führt zu einer unauflösbaren Aporie“. 307 Ein Zeichen bezeichnet also nicht das, was es zeigt; vielmehr kann es grundsätzlich viele Möglichkeiten ausdrücken. Das Zeichen ist nicht mehr eine Frage der Erkenntnis, sondern des Verstehens. 308 Aus dem eben Gesagten folgt die Notwendigkeit der Interpretation der Zeichen, denn angesichts des „Lügenpotentials“ 309 eines Zeichens ist kein Verlass auf seine Referenz, sondern es muss auf die Differenz zwischen Bezeichnung und Bedeutung insistiert werden. 310 „Jeder Versuch, zu bestimmen, was der Referent eines Zeichens ist, zwingt uns, den Referenten als abstrakte Einheit zu definieren, die zudem nur eine kulturelle Konvention ist“. 311 Die Bedeutung eines Zeichens verifizieren zu wollen, hat in Ecos Zeichenkonzeption keinen Sinn, deshalb dreht sich damit auch das Verhältnis von Bezeichnung und Bedeutung um. Während die wahrheitskonditionale Semantik sich nur um die Bedeutung kümmerte, ist nach Eco statt dessen ein Verfahren anzuwenden, das die Aufmerksamkeit auf den Inhalt eines Ausdrucks in seinem je spezifischen (kulturellen) Kontext richtet. An die Stelle eines Signifikats im extensionalen Sinn tritt nunmehr das Signifikat als kulturelle Einheit (die allerdings nur in ihrer extensionalen Ausrichtung zu verstehen ist). Erst von hier aus lässt sich die Bedeutung eines Ausdrucks erfassen. Der Inhalt des Ausdrucks - das Signifikat, welches bestimmt wird als kulturelle Einheit - gibt Aufschluss über die Bedeutung. Indem Eco das Signifikat als „kulturelle Einheit“ fasst, wird der Terminus der Denotation „von seiner historischen Kompromittierung durch das Referens“ 312 befreit. Denn Zeichen, verstanden als kulturelle Einheiten, „existieren jeweils selber nur aufgrund semiotischer, zumeist sprachlicher Vermittlung, weil sie in der Kultur, zu der sie gehören und auf die sie Bezug nehmen, zu allererst definiert werden und nur mittels Zeichen erklärbar sind“. 313 Unter der Voraussetzung, dass in einer Kultur einfach alles, was kulturell als Einheit bestimmt und unterschieden wird, eine Einheit darstellt, ganz gleich, ob es sich um eine Person, ein Ding, eine Vorstellung, ein Gefühl, eine Idee etc. handelt, können derartige Einheiten entweder interkul- 307 Eco, Einführung, 71. 308 Hier ist auf den Gegensatz zu Peirce hinzuweisen, für den Zeichen immer auch eine Frage der Erkenntnis sind, denn es geht Peirce darum, „die semiotisch unentbehrlichen Komponenten von Erkenntnisprozessen zu finden“ (Pape, Einleitung, 27). 309 Eco, Semiotik, 26.89. 310 Die Unterscheidung von Bezeichnung und Bedeutung ist Kennzeichen moderner Zeichentheorien, die damit auf die Unzulänglichkeiten des Nominalismus reagieren. Es wird im Rahmen der modernen Zeichentheorien nicht länger nach dem Grund der Richtigkeit einer Repräsentation gefragt, sondern nach deren Sinn, und die Kriterien der Verifikation werden denen der Deutung unterstellt. 311 Eco, Semiotik, 99. 312 Eco, Semiotik, 75. 313 Burkhardt, Semiotik, 34. <?page no="200"?> 188 turelle Gültigkeit besitzen oder sie differieren interkulturell. Ein Beispiel für interkulturelle Gültigkeit ist die Verwendung der Koine als Schrift- Sprache. Unter der Annahme, dass die „griechische“ Sprache in der schöpferischen Phase „eine Ansammlung lokaler Mundarten“ 314 sei, kann die mit Alexander dem Großen beginnende Zeit als ein Wendepunkt in der Geschichte der griechischen Sprache gelten. Es entstand mit der Koine eine Gemeinsprache, die hinsichtlich der sie umfassenden differenten Kulturen mit ihrer weiterhin gepflegten Vielsprachigkeit zu einer kulturellen Einheit (im Sinne Ecos) mit interkultureller Gültigkeit geworden ist. 315 Ein Beispiel für interkulturell differierende Ausdrücke ist die unterschiedlich beantwortete Frage nach der Auferstehung in der Antike: Während nach Josephus in der sadduzäischen Lehre die Auferstehung geleugnet wird (Bell 2,165; Ant 18,16), hoffen die Pharisäer auf sie (Bell 2,163). Das Markusevangelium lässt den markinischen Jesus ebenfalls eine Aussage zur interkulturell differierenden Auferstehungsfrage machen (vgl. Mk 12,18ff.). In diese Bestimmung von Bedeutung als kulturelle Einheit sind Prämissen eingegangen, die kurz erläutert werden sollen. Zum einen eine erkenntnistheoretische: Zwar leugnet Eco nicht, dass es eine Welt der Gegenstände vor und jenseits der menschlichen Kultur gibt, aber wichtig werden diese Gegenstände nur als kulturelle Einheit. Denn die Erkenntnis von Objekten ist im Rahmen ihres Bezugs auf kulturelle Einheiten gebunden an Kommunikation über diese Objekte, deshalb muss sie auf kulturelle Einheiten bezogen werden, weil anders Kommunikation nicht möglich ist. Aus diesem Grund werden wir uns in unserem nächsten Abschnitt mit Ecos Kommunikationstheorie beschäftigen. Zugleich ist mit der Definition der Bedeutung als kulturelle Einheit eine weitere Prämisse mitgesetzt, nämlich die Anerkennung der Sprache bzw. sprachlicher Zeugnisse als ein soziales Phänomen. Somit setzt der Begriff der kulturellen Einheit in der Theorie Ecos dreierlei voraus: a.) ein System von kulturellen Einheiten, in dem jede Einheit in diesem System eine bestimmte Position innehat; b.) die Gegebenheit der kulturellen Übereinkünfte und c.) das Vorhandensein derjenigen, die diese kulturellen Übereinkünfte treffen bzw. wieder aufheben. Somit kann die Bestimmung des Begriffs „kulturelle Einheit“ nur erfolgen, wenn alle drei semiotischen Dimensionen, die syntagmatische, die semantische und die 314 Mazal, Geschichte, 255. Die Verbreitung dieser Mundarten hing zur klassischen Zeit vor allem an den politischen Gegebenheiten, wie Mazal festhält mit Bezug auf das Attische: „So wandelte sich das Attische aus Attika im Zeitalter des großen attischen Bundes zu einem ‚Reichsattisch’, in dem sich verschiedene Einflüsse mischten, die schon auf die hellenistische Koine vorauswiesen.“ 315 Für das Verstehen der Schriften des Neuen Testaments ist bisher noch zu wenig das interkulturelle Gültigkeit beanspruchende Koine-Griechisch berücksichtigt worden. Einen wichtigen Vorstoß in diese Richtung gibt Reiser, Sprache. <?page no="201"?> 189 pragmatische berücksichtigt werden. Für eine Bedeutungstheorie scheint die Rede von „kulturellen Einheiten“ deshalb gewinnbringend, da sie die starre Einteilung in Wort-, Satz-, und Textsemantik aufhebt und ermöglicht, über diesen Begriff Einheiten beliebiger Größe als ein Zeichen zu betrachten. Mit der Bestimmung von Bedeutung als kultureller Einheit sehen wir Ecos Theorie besonders mit sozialen Aspekten einer Kultur befasst. Unter der im Eingangskapitel dieser Arbeit gemachten Voraussetzung, dass Kulturen Zeichensysteme sind, interessiert sich Ecos Theorie besonders dafür, wie in gesellschaftlichen Zusammenhängen bedeutungsbestimmende Prozesse zu beschreiben sind. 2. Kommunikation und Signifikation Das Theoriemodell von Umberto Eco versucht auf die Unzulänglichkeiten eines „Kommunikationsmodells“ zu antworten, das von einem Sender, einer Botschaft und einem Empfänger ausgeht. 316 Nach Eco muss dieses Modell wesentlich erweitert werden, um die „Botschaft“, „gewöhnlich ein Text, d.h. ein Netzwerk unterschiedlicher Botschaften, die von unterschiedlichen Kodes abhängen und auf unterschiedlichen Signifikanzebenen wirksam sind“, 317 entfalten zu können. Aufgrund dieser Beobachtung stellt Eco eine Theorie vor, 318 welche auf einen semantisch-pragmatischen Informationsprozess abzielt, bei dem die unterschiedlichen Kodes von Sender und Empfänger, die Voraussetzungsbemühungen und abweichenden „Voraussetzungen“ berücksichtigt werden. Denn wie die Botschaft unter unterschiedlichen Voraussetzungen aufgefasst wird, ist in dem oben dargelegten Kommunikationsmodell nicht darstellbar. Mit anderen Worte ist an einem Kommunikationsmodell von Sender - Botschaft - Empfänger als unzureichend zu kritisieren, dass die Botschaft zu einer Formel mit fixierten Konnotationen wird - ein für Eco nicht gangbarer Weg. Stattdessen insistiert Eco auf die Unterscheidung von Kommunikation und Signifikation: 319 316 Vgl. hierzu das Schaubild bei Eco, Labyrinth, 194. Ecos Konzept der Kommunikation verdankt sich zu großen Teilen der Informationstheorie von Claude Shannon, in welcher folgende Probleme der Kommunikation genannt werden: „The fundamental problem of communication is that of reproducing at one point either exactly or approximately a message selected at another point. Frequently the messages have meaning; that is they refer to or are correlated according to some system with certain physical or conceptual entities. These semantic aspects of communication are irrelevant to the engineering problem” (Shannon/ Weaver, The Mathematical Theory, 31). 317 Eco, Labyrinth, 193. 318 Vgl. zum Schema dieses Modells: Eco, Labyrinth, 196. Verglichen mit dem Modell von Petöfi gelingt es Eco in seinem Modell nicht, die syntagmatische Ebene in der Differenziertheit zu berücksichtigen. 319 Diese Differenzierung entspricht der Unterscheidung der zwei Großbereiche der Semiotik: „Ein Plan für eine allgemeine Semiotik sollte zweierlei umfassen: (a) eine <?page no="202"?> 190 Aufgabe des Kommunikationsprozesses ist die Übermittlung einer Information. Aber sobald die Botschaft interpretiert wird, wird der Raum der Signifikation betreten, die der Kommunikation vorgeordnet ist, weil jeder „Akt der Kommunikation in Richtung auf oder zwischen Menschen [...] ein Signifikationssystem als seine semiotische Bedingung“ 320 voraussetzt. Deshalb bedarf es im Zusammenhang mit menschlicher Kommunikation einer gesonderten Berücksichtigung der Signifikation: „A process of communication is defined as the passage of a signal from a source (via a transmitter, along a channel) to a destination. In the case of communication between two machines, what is happening is the passage of information, but not of signification. When the destination is a human being, described as an ‘adressee’, regardless of whether the source or transmitter is human, and provided that the signal is not just a stimulus but arouses an interpretative response in the addressee, we have a process of signification. [...] The process is made possible by the existence of a code”. 321 Eine Semiotik der Signifikation betrifft immer eine Theorie der Kodes, denn Kodes sind für Eco Signifikationssysteme. Deshalb ist ein Signifikationssystem zu verstehen als „ein autonomes semiotisches Konstrukt mit einem abstrakten Existenzmodus, der unabhängig ist von jedem möglichen kommunikativen Akt, den es ermöglicht“. 322 Derartige (menschliche) Kommunikationsprozesse basieren deshalb auf Signifikationssystemen, die durch einen dynamischen Prozess der Interpretantenbildung erzeugt werden. 323 Dies schließt ein, dass die beiden Großbereiche, der Bereich der Kommunikation und der Bereich der Signifikation, lediglich in methodologischer Hinsicht getrennte Bereiche darstellen. In real ablaufenden Prozessen sind beide Bereiche immer miteinander verknüpft. Wofür sich Eco einsetzt, ist ein Kommunikationsmodell, welches besonders die Semantik und Pragmatik berücksichtigt. Dabei geht es zugleich um die Vermittlung zwischen den oft getrennten Begriffsoppositionen von „langue“ und „parole“. Übertragen auf ein Lektüremodell - respektive Textmodell - heißt das, dass ein adäquates Kommunikationsmodell in der Lage sein muss, der Existenz der unterschiedlichen Kodes in einem Text, der verstanden wird als „ein Netzwerk unterschiedlicher Botschaften“ 324 sowie der Vielzahl sozio-kultureller Unterschiede, unter welchen eine Botschaft gesendet wird, gerecht zu werden. Ebenso muss die Initiative des Theorie der Codes und (b) eine Theorie der Zeichenerzeugung“ (Eco, Semiotik, 21f.). „Grundsätzlich betrifft eine Semiotik der Signifikation die Theorie der Codes, während eine Semiotik der Kommunikation zu einer Theorie der Zeichenerzeugung führt“ (Eco, Semiotik, 23). 320 Eco, Semiotik, 29. 321 Caesar, Umberto Eco, 81. 322 Eco, Semiotik, 29. 323 Eco, Zeichen, 173. 324 Eco, Labyrinth, 193. <?page no="203"?> 191 Empfängers berücksichtigt werden, die dieser aufbringt, um Präsuppositionen und Abduktionen vorzunehmen. Denn „diese Operationen führen letztlich zur Produktion einer Botschaft (insofern als sie im Inhalt einer Äußerung 325 empfangen und umgeformt wird)“. 326 Die Produktion einer Botschaft auf der Empfängerseite setzt also in allen Fällen interpretative Arbeit voraus. Das von Eco präsentierte Kommunikationsmodell weist einige charakteristische Gemeinsamkeiten mit dem Kommunikationsmodell von Petöfi auf. Beide weisen auf die semantisch-pragmatische Komponente der Botschaft hin, was zur Folge hat, dass die Botschaft keineswegs als eine konstante Entität aufzufassen ist. Die differierenden Kenntnisse, Zeiten und Orte von „Sender“ und „Empfänger“ sind bei einem Kommunikationsmodell zu berücksichtigen. Abweichend von Eco fallen bei Petöfi Kommunikationsprozess und Signifikation zusammen in der Kommunikationssituation, die als bestimmend für die Signifikation angesehen werden kann. 327 Allerdings geht es beiden - ebenso wie auch van Dijk - um die Vermittlung der Begriffsopposition von ‚langue’ und ‚parole’. Die Besonderheit des Ecoschen Ansatzes ist die kulturtheoretische Zielsetzung mit ihren Auswirkungen auf die Bedeutungstheorie. Dies zeigt sich im Rahmen eines Kommunikationsmodells, welches im Zusammenhang mit menschlicher Kommunikation immer schon ein Signifikationssystem voraussetzt. Unter der Annahme, dass Bedeutung als kulturelle Einheit zu verstehen sei, zeigt sich im Zusammenhang mit seinem Kommunikationsmodell, dass Sprache als ein soziales Phänomen zu betrachten ist. Ausgehend von diesem sozialen Phänomen - und damit weitestgehend kulturell differierenden Sprachverstehen - versucht die Theorie von Eco eine Antwort auf das Problem zu finden, wie es überhaupt zur Verständigung kommen kann. 328 Dies wird im nächsten Abschnitt „Zeichen und Interpretation“ näher thematisiert werden. 3. Zeichen und Interpretation Der Interpretation kommt eine Brückenfunktion zwischen den Prozessen der Signifikation und den Prozessen der Kommunikation zu. 329 Dabei ist der Prozess der Interpretation und die „Genese bedeutungskonstituieren- 325 Unter Äußerung versteht Eco jede Art von Zeichenerzeugung. Vgl. Eco, Semiotik, 203. 326 Eco, Labyrinth, 193. 327 Vgl. Petöfi, Die semiotische Textologie, 84-91. 328 Dieses Problem fanden wir bei Locke in der Frage formuliert, wie es garantiert werden könne, dass die Vorstellungen, die mit bestimmten Lautfolgen verbunden sind, bei allen dieselben sind. 329 Vgl. Ray, Literary Meaning, 127. <?page no="204"?> 192 der, kulturelle Einheiten ausprägender Signifikationssysteme“ nur zirkulär, „im wechselseitigen Rekurs aufeinander zu erklären“. 330 Erst im Prozess der Interpretation wird damit die Bedeutung eines Zeichens festgelegt. Außerhalb konkreter Interpretationsprozesse kann die Semiotik das Zeichen nur als dynamische Größe, d.h. hinsichtlich seiner Funktion für Prozesse der Signifikation und Kommunikation bestimmen. Interpretation ist nach Eco der Prozess, in dem ein Zeichen ein weiteres Folgezeichen hervorruft, das den ursprünglichen Zeichenträger interpretiert, so dass dieses Folgezeichen selbst wieder Anlass neuer Interpretationen werden kann. Hier knüpft Eco an die Konzeption des Interpretanten an, wie sie von Peirce formuliert wurde: „Mit Interpretation (Kriterium der Interpretierbarkeit) meinen wir das Konzept, das Peirce ausgearbeitet hat, demzufolge jeder Interpretant (entweder ein Zeichen oder ein Ausdruck oder eine Sequenz von Ausdrücken, die einen vorangegangenen Ausdruck übersetzen), über das Übersetzen des unmittelbaren Objekts oder des Zeicheninhalts hinaus auch das Verständnis von ihm erweitert“. 331 Werden Zeichen mittels Interpretanten interpretiert, so geschieht dieser Prozess vor dem Hintergrund eines kulturellen Settings, welches Mechanismen zu deren Bildung bereitstellt. Jeder Interpretationsprozess beinhaltet immer schon eine pragmatische Komponente, die in der Relation von Zeichen und Interpretant zum Ausdruck gebracht wird, denn ein Zeichen hat immer einen funktionalen Aspekt, indem es in unterschiedlicher Weise aufgefasst werden kann. Keine Interpretation kann lediglich nur Dekodierung einer vorgefertigten Bedeutung sein. Eco überwindet - ebenso wie van Dijk und Petöfi - eine Bedeutungsauffassung, die sich in der Analyse von Inhaltselementen eines Ausdrucks erschöpft und gibt zu bedenken, dass die Inhaltsebene erst durch Interpretation zugänglich ist. Eco möchte deshalb die Probleme der Bedeutungstheorie im Rahmen eines Interpretationsmodells zu lösen versuchen, das den Peirceschen Gedanken des Interpretanten aufnimmt. Innerhalb der semiotischen Theorie der Interpretanten muss nicht auf eine mentalistische oder psychologische Erklärung von Interpretationsprozessen zurückgegriffen werden. Entscheidend ist nach Eco „die Rückbindung singulärer Akte der Zeicheninterpretation an ein kulturell determiniertes Prinzip der Bedeutungsbildung, das von einer Korrelation zwischen singulären Akten der Interpretation und einem abstrakten System kultureller Kompetenz ausgeht“; 332 bei gleichzeitiger Einschränkung, dass der vollständige Aufbau einer solchen Bedeutungsstruktur „eine bloße regulative Hypothese bleiben“ 333 muss. Dieser regulative Grenzwert muss notwendig offen bleiben, 330 Schalk, Umberto Eco, 101. 331 Eco, Semiotik und Philosophie, 73. 332 Schalk, Umberto Eco, 113. 333 Eco, Semiotik, 182. <?page no="205"?> 193 da die innere Logik der Kultur offen ist, da immer neue Interpretanten Veränderungen des semantischen Raumes herbeiführen und auf die Kodes zurückwirken: „Die Beweglichkeit des semantischen Raumes führt zu einer prozeßhaften Veränderung der Codes“. 334 Dies hat Konsequenzen für das methodologische Vorgehen einer Bedeutungstheorie, denn die „Beschreibung von semantischen Feldern und Achsen ist nur dadurch zu erreichen [...], daß man die Kommunikationsbedingungen für eine bestimmte Botschaft untersucht“. 335 3.1. Der Prozess der Semiose In seinen Büchern „Semiotik und Philosophie der Sprache“, „Lector in fabula“ und „Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen“ skizziert Eco die Idee der „unendlichen Semiose“. Sie beinhaltet die These, dass die Interpretation als Grundelement der Semiose potentiell unbegrenzt sei. Denn aus dem eben dargestellten semiotischen Basismodell, dessen Hauptkern die Bildung immer neuer Interpretanten im Rahmen des Zeichenprozesses ist, resultiert die Idee eines als unendliche Semiose aufgefassten Prozesses der Bedeutungsgenerierung. Mit dem Postulat der Kontingenz der Semiose schneidet Eco, der nicht müde wird zu betonen, hier Peircesche Terminologie zu benutzen, allerdings der Peirceschen Idee des finalen Interpretanten den Weg ab. Für Peirce liegt den Zeichenprozessen - der Semiose - eine Finalität zugrunde durch die Rede vom „finalen Interpretanten“, für den Eco keine Verwendung hat. „The final interpretant does not consist in the way in which any mind does act but in the way in which every mind would act”. 336 Diese mögliche wahre Interpretation ist eine pragmatische Idee bei Peirce, die allgemein vorausgesetzt werden darf. Eco hingegen geht es um die unendliche Prozessualität der Semiose, deshalb steht er dem Derridaschen Gedanken unbegrenzter Verweisstrukturen, die „das Spiel in seiner Radikalität“ 337 zu denken aufgeben, näher. Denn die Semiose ist bei Eco gekoppelt an die Idee einer rhizomartigen 338 Organisation von Bedeutung in einer labyrinthischen Enzyklopädie. Dabei bildet jedes Zeichen mit seiner Signifikatsseite einen je eigenen Einstieg in dieses Labyrinth. Somit besteht letztlich der Inhalt eines Zeichens in dem Prozess seiner unendlichen Auslegbarkeit. Unter der Annahme, dass Bedeutung als kulturelle Einheit zu verstehen ist, wird somit der Einsicht Rechnung getragen, dass Bedeutung nur im Prozess der Semiose entstehen kann, welche folgendermaßen vorzustellen ist: „Das Universum der Semi- 334 Eco, Semiotik, 183. 335 Eco, Semiotik, 183. 336 Peirce, CP 8.315. Vgl. auch Peirce, CP 8.184. 337 Derrida, Grammatologie, 87. 338 Wichtig ist bei Eco der Aspekt, dass Rhizome nicht der Ort der Verwirrung sind, sondern „Quelle eines Spiels“ (Eco, Semiotik und Philosophie. 275). <?page no="206"?> 194 ose, d.h. das Universum menschlicher Kultur, muß man sich wie ein Labyrinth der dritten Art strukturiert vorstellen: (a.) es ist gemäß einem Netz von Interpretanten strukturiert. (b.) Es ist virtuell unendlich, weil es multiple Interpretationen berücksichtigt, die von verschiedenen Kulturen realisiert werden [...]. Es ist unendlich, weil jeder Diskurs über die Enzyklopädie die vorherige Struktur der Enzyklopädie selbst in Zweifel zieht. (c.) Es registriert nicht nur ‚Wahrheiten’, sondern vielmehr das, was über die Wahrheit gesagt wurde oder was für wahr gehalten wurde [...]“. 339 Das Universum der Semiose ist zu beschreiben „als ein Universum der menschlichen Kultur“. 340 Die Semiose wird bei Eco zu einem durch kulturelle Kodierungen gelenkten Prozess. Durch die interpretative Auffüllung des Signifikanten in der jeweiligen Interpretation wird „ein Navigieren auf dem Meer der unendlichen Semiose“ 341 gewährleistet. Aufgrund semiosischer Interpretationsprozesse ist von einer grundsätzlichen Beweglichkeit des semantischen Raumes auszugehen, basierend auf den kulturellen Kodierungen. In Abgrenzung zu dekonstruktivistischen Modellen - wie dem von Derrida - weist Eco auf die gesellschaftstheoretische Relevanz des Modells der unabschließbaren Semiose hin, die sich in einer Gemeinschaft von InterpretInnen Geltung verschafft: „Die Anerkennung einer Gewohnheit als Gesetz erfordert etwas, das sehr einer transzendentalen Instanz ähnelt, nämlich eine Gemeinschaft als intersubjektiven Garanten eines nicht intuitiven, nicht naiv realistischen, sondern konjekturalen Wahrheitsbegriffes. [...] Die Idee einer Gemeinschaft wirkt wie ein transzendentales Prinzip jenseits der individuellen Intentionen einzelner Interpreten“. 342 Eco formiert den Gedanken einer sich innerhalb kultureller Kommunikationsprozesse ausbildenden Gewohnheit, die den Prozess der Semiose vorübergehend in einem intersubjektiven Prozess fixiert. Der Vorteil des Prinzips der unabschließbaren Semiose liegt bei der Anwendung auf Texte darin, dass erstens für die untersuchten Zeichen nicht nach Finalität der Bedeutung gesucht werden muss, sondern statt dessen gefragt werden kann, ob ein Text den Eindruck der Finalität vermitteln will oder nicht. Dies impliziert zweitens, dass das dynamische Bedeutungskonzept das Resultat der semiotischen Untersuchung nicht präjudiziert. Eine pauschale Aussage, dass das Spiel der Signifikanten in einem gegebenen Text Bedeutung unterminiere, kann auf ihre Berechtigung hin befragt werden und gegebenenfalls erheblich präzisiert werden. Drittens kann mit dem Konzept der Semiose festgehalten werden, dass keinem 339 Eco, Semiotik und Philosophie, 129. 340 Schalk, Umberto Eco, 119, weist auch für die Peircesche Semiotik darauf hin, dass sie zur Gesellschafts- und Kulturtheorie wird auf der Basis des Modells der Semiose. Schalk betont somit das kommunikationstheoretische Potential der Peirceschen Semiotik. 341 Heydrich, EcoLogie, 84. 342 Eco, Grenzen, 438f. <?page no="207"?> 195 Zeichen für sich Bedeutung zukommt, vielmehr sind innerhalb eines Systems alle Zeichen ausschließlich in Beziehung zueinander deutbar. Einzelne Zeichen sind also nur im Hinblick auf den vollständigen Text hin zu interpretieren. Gerade im Zusammenhang mit dem Konzept der unbegrenzten Semiose wird von Eco festgehalten, dass die Bedeutung eines Textes/ eines Wortes nicht das Produkt präziser Deduktionen sein kann, sondern immer aufgrund interpretatorischer Mitarbeit gewonnen wird. Ecos Zeichentheorie beinhaltet immer schon eine Texttheorie in nuce. „Die Texte sind das Resultat eines Spiels vorherbestimmter semantischer Einheiten im virtuellen Feld der unendlichen Semiose; der Prozeß der unendlichen Semiose kann nur dann auf seine partiellen Beschreibungen begrenzt werden, wenn wir es mit einem bestimmten Text oder Textgruppen zu tun haben“. 343 Noch deutlicher: „So sind Code-Semiotik und Text- Semiotik dialektisch interdependent“. 344 Die Frage nach einem Ende der Semiose, im Sinne semantischer Primitiva wie Katz und Fodor sie forderten, gibt es nach Eco nicht. Denn entweder können die Primitiva „nicht interpretiert werden und man kann die Bedeutung eines Begriffs nicht erklären, oder sie können und müssen interpretiert werden und man kann ihre Anzahl nicht begrenzen“. 345 Eco votiert für die zweite Variante, da bei semantischen Fragestellungen grundsätzlich vom Prinzip der Semiose ausgegangen werden muss. Bedeutung wird also nicht nur durch die Reihe von Interpretanten bestimmt, sondern auch durch ihre Stellung „in einem System von anderen kulturellen Einheiten, die ihr gegenüberstehen und sie umschreiben“. 346 Deshalb soll sich die Komponentenanalyse nicht einfach mit lexikographischen Wörterbucheintragungen zufrieden geben, sondern zu einer enzyklopädischen Semantik weiterentwickeln, in der kontext- und situationsbedingte Selektionen einbezogen werden. 3.2. Die Abduktion Im Zusammenhang mit den semiosischen Prozessen sowie dem Akt der Interpretation erhält ein weiterer Begriff aus der Peirceschen Theorie grundlegende Relevanz: Nämlich die Abduktion. Wenn für die Bestimmung der Bedeutung die Prozesse der Signifikation grundlegend sind, wird damit der Begriff der Interpretation aufgewertet. Im Zusammenhang mit Texten geht es darum, „den Terminus / Interpretation/ nicht im Sinn von «decodieren» aufzufassen. Er soll hier vielmehr bedeuten, daß große Diskursabschnitte aufgrund von partiellen Decodierungen in ihrem allge- 343 Eco, Lector, 27. 344 Eco, Lector, 27. 345 Eco, Semiotik und Philosophie, 92. 346 Eco, Einführung, 86. <?page no="208"?> 196 meinen Sinn verstanden werden. / Interpretation/ hat hier also den Sinn, den dieser Terminus in hermeneutischen Diskussionen oder in der Literatur- oder Kunstkritik annimmt. Logisch betrachtet ist diese Art von Interpretation ein Schluß. Sie ähnelt jenem Typ von Schlussfolgerung, den Peirce als Abduktion (und manchmal auch als Hypothese) bezeichnete“. 347 Weil keine Textinterpretation für Eco lediglich „Decodierung“ einer vorgefertigten Bedeutung ist, bedarf es von Seiten der InterpretInnen „kreativer“ Mitarbeit, die Eco durch den Begriff der Abduktion zu erfassen versucht. Die Abduktion stellt für die pragmatische Seite der Bedeutungsinterpretation eine Kategorie zur Verfügung, die es erlaubt, die kreative Leistung, die jede Bedeutungsinterpretation zu leisten hat, näher zu fassen. Die Abduktion ist neben der Deduktion und Induktion eine Möglichkeit, aus einem Zeichenkontext auf die Aussage eines Zeichens zu schließen. Während sich Deduktion und Induktion aber auf eindeutige Dekodierungen berufen können, erfolgt die Abduktion stets da, wo keine definitive Kodierung vorliegt und die Interpretation auf die Pragmatik der Kontexte angewiesen ist: Abduktion bildet für Peirce die unmittelbarste und unsicherste Form des Schließens, sie ist eine Hypothese auf der Grundlage ungewisser Prämissen, die durch sukzessive Induktionen und deduktive Kontrollen verifiziert werden muß; doch hat sie bereits Erkenntniswert und enthält keimhaft virtuell ihre Weiterentwicklung. Während die Deduktion von einer Prämisse, die auf einen speziellen, dieser Prämisse zugeordneten Fall angewendet wird, zu einem Ergebnis führt und sozusagen das Problem vom Standpunkt einer Komponentenanalyse aus zu klären versucht, geht die Induktion einen anderen Weg: Hier wird nach Symptomen analysiert. 348 Ganz anders verhält es sich bei der Abduktion: „Das Abduktionsverfahren besteht in der Annahme eines früheren physischen Zusammenhangs und einer Kausalbeziehung, die nicht bewiesen werden kann“. 349 Abduktionen sind also logisch korrekte Schlüsse, die allerdings eine höhere Unsicherheit als deduktive und induktive Schlüsse haben, denn die Gültigkeit der abduktiv eingeführten Prämissen ist hypothetisch. Der Abduktion liegt immer eine hypothetische Operation zugrunde. Nach Eco ist die Abduktion, neben der Deduktion und der Induktion, eine Möglichkeit, aus einem Zeichenkontext auf die Aussage eines Zeichens zu schließen. Aber auch wenn die Schwäche der Abduktion in ihrer Unsicherheit liegt, ist ihre Stärke die Möglichkeit der kreativen Einführung und Überprüfung neuer, bislang unbekannter Prämissen. Im Gegensatz zu Peirce, für den die Abduktion ein Prinzip allgemeiner Er- 347 Eco, Semiotik, 185f. 348 Induktive und abduktive Schlüsse haben gemeinsam, dass bei beiden, im Gegensatz zum deduktiven Schluss, von einem Folgerungsteil auf einen Bedingungsteil zurück geschlossen wird. Beide Schlussverfahren sind somit reduktive Schlüsse. 349 Eco, Zeichen, 134. <?page no="209"?> 197 kenntnis ist, benutzt Eco die Abduktion für ein semiotisch fundiertes Konzept einer schwachen, aber wirksamen Vernunft. Damit spricht sich Eco für ein Erkenntnismodell aus, das zu einer Texttheorie unter dem Postulat der unabschließbaren Semiose unter den Fittichen der Interpretation passt. Nach Eco beherrschen Abduktionen jeden Zeichenprozess, denn „die Abduktion ist [...] das versuchsweise und risikoreiche Aufspüren eines Systems von Signifikationsregeln, die dem Zeichen erlauben, seine Bedeutung zu erlangen“. 350 Innerhalb der Textinterpretation sollen die LeserInnen durch abduktives Schließen den Mehrwert eines Textes erkennen und die darin enthaltenen Leerstellen auffüllen. Durch die Einbeziehung der Abduktion in den Prozess der Interpretation wird die Sicht auf den Text wesentlich um eine pragmatische Perspektive erweitert. Anstatt einen Interpretationsbegriff zu forcieren, der für die InterpretInnen die Interpretation als eine einseitig reproduktive Aufgabe versteht, die auf eine syntagmatisch-semantische Rekonstruktionstätigkeit hinausläuft, wird die aktive Lesetätigkeit zu einer konstitutiven Funktion für die Generierung der Textmerkmale, die die Interpretation leiten. Darüber hinaus kommt den Abduktionen bei der Bedeutungskonstitution eine weitere wesentliche Aufgabe zu: Die Darstellung der Bedeutungskonstitution eines Textes als eine Abduktionsfolge zeigt, dass es sich bei der Erstellung von Bedeutungsprämissen nicht um das Ergebnis unkontrollierbarer und nicht nachvollziehbarer Intuition handelt, sondern um logisch korrekte Schlussfolgerungen. Eine abduktive Argumentation erweist sich in zwei Richtungen als transparent: Sie verlangt die Benennung der Prämissen und erlaubt die Überprüfung der logischen Folgerichtigkeit des Schlusses. Die Frage, die sich daran anschließt und die Eco aufnimmt, ist diese: Wie lassen sich Abduktionen nach dem Grad ihrer Sicherheit klassifizieren? Eco unterscheidet mehrere Abduktionstypen: 351 a.) Überkodierte Abduktionen: Bei dieser Abduktion liegt eine starke Kodierung innerhalb der Enzyklopädie vor, die eine hohe Sicherheit der Schlussfolgerung garantiert. 352 Überkodierte Abduktionen sind im Markusevangelium für die im Markusevangelium auftauchende Frage „Wer ist dieser? “ zu veranschlagen; die Antwort auf diese Frage können aufmerksame LeserInnen aufgrund der Kodierungen im Markusevangelium beantworten bei gleichzeitiger Zurückweisung der nicht adäquaten Antworten. b.) Unterkodierte Abduktionen: Hier muss ein Gesetz aus mehreren bereit gestellten Gesetzen ausgewählt werden. Verstreute, scheinbar unzusammenhängende Zeichen können so miteinander in Beziehung gesetzt werden, so dass ihre Strukturierung eine grobe vorläufige Entschlüsselung gestattet: „Untercodierung lässt sich also definieren als die Operation, mittels derer beim 350 Eco, Semiotik und Philosophie, 68. 351 Diese Unterscheidung scheint zurückzugehen auf Bonfantini/ Giampaolo, Raten, 201. 352 Vgl. Eco, Semiotik, 188ff. <?page no="210"?> 198 Fehlen präziserer Regeln makroskopische Teile bestimmter Texte als relevante Einheiten eines in Bildung begriffenen Codes aufgefasst werden, auch wenn die Kombinationsregeln, die die grundlegenderen Komponenten der Ausdrücke beherrschen, ebenso wie die ihnen korrespondierenden Inhalts-Einheiten unbekannt bleiben“. 353 Im Gleichniskapitel in Mk 4 werden erst verschiedene „Saatschicksale“ dargestellt (Mk 4,3-9), diese sodann auf vier verschiedene Hörertypologien hin ausgedeutet (Mk 4,14-20). Im Rahmen des Markusevangeliums lassen sich u.E. die ersten drei Hörertypologien anhand narrativer Akteure im Markusevangelium identifizieren. Es ist die Aufgabe der LeserInnen des Markusevangeliums im Rahmen einer unterkodierten Abduktion diese Hörertypologie im narrativen Verlauf zu identifizieren. Dies werden wir im Rahmen der semantischen Analyse mittels der Bedeutungstheorie von van Dijk darlegen, der nicht den Begriff der Abduktion verwendet, aber dem es ebenso wie Eco darum geht, die Prozessualität der Bedeutung zu erfassen. c.) Kreative Abduktionen: Sie erfinden schließlich ihr Gesetz von neuem. Dieser Abduktionstyp ist am unsichersten, aber er enthält auch die größte Chance zur Wissenserweiterung. Hierfür bedarf es einer Metaabduktion, um zu klären, ob sie unserer Welterfahrung entspricht und dementsprechend unsere Enzyklopädie verändert. Im Markusevangelium ist solch eine kreative Abduktion im Rahmen der Identifikation der LeserInnen mit denen, „die Frucht bringen“, (Mk 4,20) zu leisten und der Frage danach, was das „Fruchtbringen“ heißt. Dies erschließt sich im Zusammenhang mit dem so genannten ursprünglichen Markus-Schluss. In der Ankündigung an die Frauen vor dem leeren Grab, dass Jesus von Nazareth auferweckt worden ist und nun voran nach Galiläa geht, müssen die LeserInnen klären, ob dies ihrer Welterfahrung entspricht oder nicht. In diesem Zusammenhang darf das Schweigen und die Furcht der Frauen, wovon Mk berichtet, als eine narrative Finesse erscheinen, die es den LeserInnen gerade nicht einfach macht, sich auf diese kreative Abduktion einzulassen. Kreative Abduktionen „erfinden“ ihre Erklärungen oder Interpretationen „ex novo“. 354 Abduktionsschlüsse sind somit immer erforderlich, um die Bedeutung einer sprachlichen Botschaft hinsichtlich eines bestimmten Äußerungskontextes zu erfassen. Grundsätzlich ist also für narrative Texte davon auszugehen, dass die Erstellung von narrativen Strukturen eines Textes das Ergebnis einer kontinuierlichen Reihe von Abduktionen ist, die im Verlauf des Lesens angestellt werden. Die Mitarbeit der LeserInnen an einem Text und an dessen Generierung wird mittels der Theorie der Abduktion semiotisch reformuliert, wobei sich die abduzierenden LeserInnen stets in einem dialektischen Spannungsverhältnis von interpretatorischer Freiheit sowie den Kodierungen des Kontextes bewegen. 353 Eco, Semiotik und Philosophie, 192. 354 Eco, Semiotik und Philosophie, 71. Vgl. auch Eco, Grenzen, 326ff. <?page no="211"?> 199 Im Zusammenhang mit der Frage nach den Kriterien der kreativen Abduktion stellt sich das Problem, ob unsere Wirklichkeit wie ein Text zu lesen sei, so dass der Unterschied zwischen Text und Welt hinfällig wäre. Hierzu meint Eco: „Die Welt, wie wir sie uns vorstellen, ist ein Ergebnis der Interpretation“. 355 Allerdings ist damit nicht gesagt, dass die Welt sich in Interpretation auflöst. In gewisser Art erweist sich die Welt resistent gegenüber sprachlichen Auflösungen in Form von Interpretationen. Diese „Resistenzen des Seins“ 356 sind nach Eco eine Vorgegebenheit, deshalb fordert Eco eine schwache Ontologie. 357 Diese Vorgegebenheit hat auch Auswirkung auf die Texttheorie von Eco: Die Erfindung narrativer Welten wird immer begrenzt sein durch die reale Welt (vgl. dazu den Punkt 10). 4. Textinterpretation als Bedeutungskonstitution: Denotation und Konnotation In Ecos Hinwendung zu einer Texttheorie - besonders in seinem Werk „Lector in Fabula“ - wird der Versuch einer praktischen Anwendung und Erweiterung seines erarbeiteten semantischen Modells versucht. Vor allem die pragmatische Mitarbeit der LeserInnen im kommunikativen Prozess beim Verstehen von literarischen erzählenden Texten wird veranschaulicht. Erst im Prozess der Interpretation wird die Bedeutung eines Zeichens bzw. eines Textes festgelegt ohne zu einer Bedeutungsfeststellung fortzuschreiten. Außerhalb konkreter Interpretationsprozesse kann die Semiotik das Zeichen nur als dynamische Größe bestimmen. Handhabbar wird die Frage der Bedeutung also erst in konkreten (Interpretations-)Kontexten. 358 355 Eco, Kant, 63. 356 Eco, Kant, 65. 357 Aus diesem Grunde votiert Eco für eine schwache Ontologie bei dem Problem der Bezugnahme. Bezugnahme ist bei einer Gemeinschaft pragmatisch im Rahmen von Verhandlungen möglich, sofern in diesen Diskursen vereinbart wird, sich auf einen Gegenstand zu beziehen. Dieses Konzept der Bezugnahme impliziert eine Kritik an der Stereotypensemantik, die auf einer „starken Ontologie“ aufbaut. 358 Deshalb ist das Wissen um die Wahrheit der Bedeutung zu kontextualisieren, die Frage nach Wahrheit im Rahmen einer Enzyklopädie kann nur als ein kulturelles Konstrukt aufgenommen werden. Damit ist die Frage nach Wahrheit bei Eco niemals „voraussetzungslos“, sondern knüpft an eine Enzyklopädie an. Zweitens ist „Wahrheit“ bei Eco zu einem kontingenten inkommensurablen Begriff geworden. Etwas ist nur in dem Maße wahr, wie es in einer Enzyklopädie Gültigkeit besitzt. In einer anderen Enzyklopädie kann dies wieder anders aussehen. Diese Auffassung von Wahrheit setzt auf ein Kooperationsmodell in den Diskursen, gemäß dem Motto: „Wenn man Dir etwas sagt, versuche in irgendeiner Enzyklopädie eine Interpretation zu finden“ (Eco, Charles Sanders Pe(i)rsonal, 4-17). Was m.E. mit dem Modell der Wahrheit von Eco nicht garantiert werden kann, ist die Möglichkeit der Solidarität, weil Ecos Modell zwar auf die pluralistische Aufsplitterung der Wahrheit zu reagie- <?page no="212"?> 200 D.h., dass die Bedeutung selbst in den Prozess der Interpretation einbezogen ist. Weil jeder bestimmte Ausdruck in einem bestimmten Kontext hineingehört, müssen bei jeder Bedeutungsinterpretation die Interpretanten ausgewählt werden, die zu diesem Kontext passen. Das Problem der Kontextselektion im Zusammenhang mit dem Signifikat eines Ausdrucks beim Signifikationsprozess führt zu der im vorherigen Abschnitt gestellten Frage, wie Verständigung gelingen kann bzw. wie Bedeutung - verstanden als kulturelle Einheit - ermittelt werden kann. Eco versucht dieses Problem in einem ersten Schritt durch die Unterscheidung von denotativen und konnotativen Bestandteilen des Signifikationsprozesses zu lösen. Dabei müssen die beiden Begriffe semiotisch reformuliert werden: Während in der traditionellen Linguistik mit dem Begriff der Denotation die Grundbedeutung eines Wortes gemeint ist und unter Konnotationen emotional, oft pejorativ gefärbte Zusatzinformationen 359 gemeint sind, ist dies zwar ein Standpunkt, der der Form eines Wörterbuchs entspricht, jedoch entschieden zu undifferenziert für die Semiotik ist. Der Terminus „Denotation“ wird im Rahmen der traditionellen Linguistik also verwendet, um die von einem Wörterbuch-Begriff ausgedrückte Sinnbeziehung zu bezeichnen. Während also in einem linguistischen Parameter ein völlig intensionaler Gebrauch der Termini vorliegt, verhält sich dies im Bereich der analytischen Philosophie anders: Nach Übernahme der Fregeschen Unterscheidung von „Sinn“ und „Bedeutung“, 360 geht die Denotation vom Sinn zur ren vermag jenseits eines metaphysischen Einheitsstrebens, aber die Fähigkeit zur Solidarität den Zufälligkeiten von Kooperationen überlässt. 359 Die Definitionen stammen von Schwarz/ Chur, Semantik, 219.220. 360 Die Unterscheidung stammt von Gottlob Frege. Rudolf Carnap versuchte dieser Unterscheidung durch die Distinktion von „Intensionen“ und „Extensionen“ gerecht zu werden. Das Problem, das damit gemeint ist, ist folgendes: Der Begriff Bedeutung wird zwar ständig benutzt, aber seine Reichweite nicht erkannt. Freges Lösung des Problems hat dann Geschichte gemacht: „Es liegt nahe, mit einem Zeichen (Namen, Wortverbindung, Schriftzeichen) außer dem Bezeichneten, was die Bedeutung des Zeichens heißen möge, noch das verbunden ist, was ich den Sinn des Zeichens nennen möchte, worin die Art des Gegebenseins enthalten ist“ (Frege, Sinn, 26). Mit einem von Frege verwendeten Beispiel: „Morgenstern und Abendstern bedeuten das Gleiche.“ Gemeint ist, dass die zwei Ausdrücke sich auf das gleiche Referenzobjekt beziehen, in diesem Fall die Venus. Nach Frege macht dieses Beispiel deutlich, dass die Wörter „Morgenstern“ und „Abendstern“ dieselbe „Bedeutung“ bzw. dieselbe „Extension“ haben, aber in ihrem Inhalt (d.h. in ihrem „Sinn“ bzw. ihrer „Intension“) unterscheiden sie sich deutlich. Weitergeführt wurde dieser Weg vom Logischen Positivismus, der argumentierte, dass eine Aussage nur dann Bedeutung im strengeren Sinne haben könne, wenn sie sich auf Dinge, Verhältnisse oder Vorgänge in der realen, d.h. beobachtbaren Welt bezögen. Mit dieser Definition von Bedeutung war die Definition von Wahrheit eng verbunden. Eine Aussage sollte als wahr (oder falsch) nur dann angesehen werden, wenn man sie beweisen (oder widerlegen) könne. Die Bedeutung von Sätzen wird nach diesem Verständnis definiert als die grammatikali- <?page no="213"?> 201 Bezugnahme über, so dass die Denotation nun als extensionale Kategorie verstanden wird. „Wie man sehen wird, wollen wir den bei vielen Autoren anzutreffenden Unterschied zwischen ‚kognitiver Bedeutung’ und ‚emotionaler Bedeutung’ ignorieren, weil es uns scheint, daß das Funktionieren eines Signifikans [= Signifikant; Anm. K.D.] im Semioseprozeß diese beiden Bedeutungsformen gleich wichtig macht“. 361 Unter denotativen Bestandteilen sind die Bestandteile des Signifikationsprozesses gemeint, die allen Mitgliedern einer kulturell gegebenen Kommunikationsgemeinschaft gemeinsam sind. Da Eco die Denotation nicht im Sinne eines Referentenbezuges verstanden wissen will, muss sie ebenfalls kulturell determiniert sein: „Unter Denotation wollen wir [...] die unmittelbare Bezugnahme verstehen, die ein Ausdruck im Empfänger der Botschaft auslöst. Und da nicht auf mentalistische Lösungen zurückgegriffen werden soll, müßte Denotation die unmittelbare Bezugnahme sein, die der Code dem Ausdruck in einer bestimmten Kultur zuschreibt. Die einzige mögliche Lösung ist also folgende: Das isolierte Lexem denotiert eine Position im semantischen System“. 362 Dabei ist die unmittelbare Bezugnahme so zu spezifizieren, dass sie sich auf eine Position in einem bestimmten semantischen System bezieht, dieses semantische System ist kulturell determiniert. Denotation entspricht hier also nicht der Extension im Sinne der logischen Semantik, sondern ein denotatives Merkmal ist eine kulturelle Einheit oder anders ausgedrückt: eine semantische Eigenschaft eines gegebenen Semems, die gleichzeitig als eine Eigenschaft des möglichen Referenten in einer bestimmten Kultur anerkannt werden kann. Unter Denotation versteht Eco also diejenige Komponente des Signifikationssystems, die sich aus dem semantischen System ergibt, das allen Mitgliedern der Kommunikationsgemeinschaft gemeinsam ist. Das Denotatum eines bestimmten Lexems wäre dann seine semantische Valenz in einem bestimmten Feld. Festgelegt werden kann das Denotatum in einer aktuellen Kommunikationssituation allerdings nur, wenn auf den Kontext und auf den Kommunikationsumstand rekurriert wird. Damit garantiert der Vorgang der Denotation die Möglichkeit einer Verständigung zwischen den Mitgliedern einer Kommunikationsgemeinschaft. Dies impliziert zugleich die Faktoren, die eine Verständigung erschweren könnten: 1.) Die KommunikationsteilnehmerInnen beziehen sich nicht auf das allen gemeinsame semantische System; 2.) die TeilnehmerInnen versetzen das geäußerte Lexem in verschiedene Kontexte; 3) die TeilnehmerInnen rekurrieren auf unterschiedliche Aspekte des Kommunikationsgegenstandes. sche Verknüpfung von Gegenstands- und Begriffsbezeichnung, die in logischer Hinsicht als wahr oder falsch beurteilt werden kann. 361 Eco, Einführung, 108. 362 Eco, Einführung, 102f. <?page no="214"?> 202 Die Konnotation hat für Ecos Bedeutungstheorie besonderes Gewicht, da die Interpretanten, durch die der Prozess der Semiose einem Lexem Bedeutung verleiht, auf den Konnotationen beruhen. Unter Konnotation sollen „die Gesamtheit aller kulturellen Einheiten ..., die das Signifkans dem Empfänger institutionell ins Gedächtnis rufen kann“, 363 sofern es kulturell verfügbar ist. Im Gegensatz zu den Denotationen ist der Geltungsbereich der Konnotationen also wesentlich uneinheitlicher: Er kann sich auf soziale Schichten, politische, ideologische, weltanschauliche oder religiöse Gruppierungen, aber auch auf einzelne Individuen beziehen. Festzuhalten ist, dass das Verhältnis von Denotation und Konnotation zueinander nicht als konstant zu verstehen ist. Es ändert sich von Kultur zu Kultur. Deshalb wird Bedeutung immer ein Komplex aus Denotation und Konnotation sein. Wichtig bleibt festzuhalten, dass sich von Konnotationen nur reden lässt, wenn die entsprechenden Bedeutungsanteile kodifizierbar sind. Die Konnotation erweist sich damit als eine durch Konventionen bereitgestellte Kette von Interpretanten. Unkodierte willkürliche Assoziationen, die lediglich einmal auftreten, können nicht als Konnotationen bezeichnet werden. Bedeutung als kulturelle Einheit konstituiert sich immer durch die gleichzeitige Beteiligung von denotativen und konnotativen Prozessen. Während aber das Denotatum eine Position im semantischen System markiert, kann von den Konnotationen gesagt werden, dass sie die Garanten für das semantische „Leben“ sind, da die Bedeutung eines Signifikanten in seinen verschiedenen konnotativen Signifikaten liegt. D.h. ein Signifikant denotiert eine bestimmte Position 1 in einem gegebenen Feld F und konnotiert zugleich die Position 1 in einem semantischen Feld F usw. Bas van Iersel hat in seinem Mk-Kommentar die Topographie des Markusevangeliums auf der Grundlage von denotativen und konnotativen Prozessen erklärt. Das Lexem / Galiläa/ denotiert „Ortschaft“, sofern es sich auf ein geographisches Feld bezieht, aber es konnotiert „Erfolg“, sofern es sich auf die Achse Erfolg vs. Misserfolg der Botschaft Jesu im Markusevangelium bezieht. Wenn Zeichenbedeutungen also auf Interpretanten beruhende Konnotationen der vielfältigsten Art sind, dann bedarf es einer Weiterentwicklung der Theorie der Konnotationen zum Modell der Enzyklopädie, denn die an die Darstellung der Denotationen als kulturelle Übereinkünfte gebundenen Wörterbücher stellen „verarmte Enzyklopädien“ 364 dar. Um also die globale semantische Kompetenz einer Kultur darstellen zu können, muss „[d]as Wörterbuch [...] in eine potentiell ungeordnete und begrenzte Galaxis von Stücken von Weltwissen aufgelöst [werden]. Das Wörterbuch wird zu einer Enzyklopädie, weil es ohnehin eine verkleidete Enzyklopädie war“. 365 Die so genannten Universalia bzw. die metatheoretischen Kon- 363 Eco, Einführung, 108. 364 Eco, Semiotik und Philosophie, 78. 365 Eco, Semiotik und Philosophie, 107 (für beide Zitate). <?page no="215"?> 203 strukte, die als semantische Merkmale in wörterbuchartigen Eintragungen fungieren, sind nichts weiter als sprachliche Etiketten bzw. in der Ecoschen Terminologie: sie sind interpretierbare Interpretanten, so dass davon Abstand genommen werden muss, die globale semantische Kompetenz einer Kultur darstellen zu wollen. Stattdessen bedarf es einer enzyklopädischen Version, in der pragmatische Aspekte gerade eingeschlossen werden können. Zwar wird damit die Möglichkeit einer globalen semantischen Beschreibung aufgegeben, aber die Enzyklopädie realisiert sich in lokalen Ausschnitten. Dies ist gerade gewinnbringend für die Bedeutungskonstitution bei Texten: „Eine natürliche Sprache ist ein flexibles System der Signifikation, das zur Produktion von Texten erdacht wurde, und Texte sind Mittel, um Teile enzyklopädischer Information zu vergrößern oder zu narkotisieren“ 366 . Aufgrund der Konnotationen, die zwar nicht willkürlich oder chaotisch verlaufen, aber grundsätzlich nicht vorhersehbar sind, bedarf es einer hypothetisch angenommenen Gesamtenzyklopädie, die sich in lokalen Ausschnitten realisiert. In einem gegebenen Text wirken die Konnotationen gegenseitig aufeinander ein, so dass sie im Rahmen abduktiven Schließens eine bestimmte Richtung annehmen. 5. Interpretation und Lektüre Ecos Textdefinition nimmt von Morris’ Semiotik den Gedanken auf, dass sich syntagmatische, semantische und pragmatische Dimensionen am Text unterscheiden lassen müssen, er erweitert den Textbegriff aber um die Mitarbeit von Seiten der LeserInnen im Rahmen der Interpretation: „Ein Text ist ein syntaktisch-semantisch-pragmatisches Kunstwerk, an dessen generativer Planung die vorgesehene Interpretation bereits teilhat“. 367 Die grundlegenden Fragen in Ecos Texttheorie sind die Mitarbeit der LeserInnen und welche Grenzen Interpretationsprozesse haben können. Für die Bedeutungskonstitution ist zu klären, wie LeserInnnen und Text im Prozess der Interpretation kooperieren. „Ecos Methodologie der Textinterpretation zielt auf die Selbsterkenntnis des Lesers, der dem impliziten Interpretationsappell folgt, wenn er durch abduktives Schließen den Mehrwert an Sinn eines jeden Textes erkennt und die Leerstellen auffüllt“. 368 Aufgrund dieser Zielsetzung darf die Ecosche Textsemiotik als eine semiotische Texttheorie mit starker pragmatischer Ausrichtung angesehen werden. Ein Lektürevorgang ist ein hochkomplexes Verfahren, das nicht damit auskommt, was „da“ steht. Eco fordert deswegen eine Bedeutungstheorie, 366 Eco, Semiotik, und Philosophie, 124. 367 Eco, Lector, 83. 368 Schalk, Umberto Eco, 149. <?page no="216"?> 204 die von den Aktualisierungen im Text ausgeht, die durch die LeserInnen zustande kommen. Eng verbunden mit den von Petöfi dargestellten Arten der Interpretation - jedoch nicht direkt aus ihnen ableitbar - können nach Eco drei Arten der Interpretationszielsetzungen festgelegt werden: 369 eine textbezogene (intentio operis), eine leserbezogene (intentio lectoris) oder eine autorbezogene Intention (intentio auctoris). Die textbezogene Interpretation ist darauf ausgerichtet, eine ‚textnahe’ Textwelt zu konstruieren, indem sie sich ausschließlich der semiotischen Disposition des zu interpretierenden Textes zuwendet. Im Fall der autorbezogenen Interpretation geht es um die hypothetische Rekonstruktion des „mentalen Modells“ (Johnson Liard), das der Autor zum Zeitpunkt der Vertextung zugrunde legte. Wie auch bei der leserbezogenen Interpretationszielsetzung werden über die Textinformation hinausgehende idiosynkratische Faktoren mitberücksichtigt. Deshalb werden bei beiden Interpretationszielsetzungen in besonderem Maße kontextuelle Informationen in die Konstruktion der Textwelt mit einbezogen. Hervorzuheben ist, dass es sich bei allen drei Fällen um (Re)- Konstruktionen der LeserInnen handelt, die je nach getroffener Entscheidung für das Interpretationsobjekt, die Interpretationsart und die Interpretationszielsetzung unterschiedlich ausfallen. Ecos leserorientierter Interpretationsansatz lässt sich einerseits einordnen im Gefolge der Rezeptionstheorie und ihren vielfältigen Ausdifferenzierungen, die nach Eco wissenschaftsgeschichtlich als Reaktion auf „(i) die Starrheit bestimmter strukturalistischer Methodologien, die behaupten, das Kunstwerk oder den Text in seiner Objektivität eines sprachlichen Gegenstandes erforschen zu können; (ii) die Rigidität bestimmter angelsächsischer formaler Semantiken, die ganz von der Situation, den Umständen der Verwendung oder dem Kontext absehen wollten, in denen die Zeichen bzw. die Aussage emittiert werden [...]; (iii) den Empirismus mancher soziologischer Ansätze“ 370 zu verstehen sind. Doch neigen diese leserorientierten Ansätze zu einem „epistemologischen Fanatismus“, 371 der dazu führt, dass die „Rechte der Interpreten während der vergangenen Jahrzehnte zu stark betont wurden“. 372 Eco versucht hingegen einen moderateren Weg einzuschlagen, deshalb ist seine Interpretationstheorie auf der anderen Seite „den Rechten des Textes“ 373 verpflichtet, freilich ohne seinen rezeptionsorientierten Ansatz aufzugeben. 374 369 Vgl. Eco, Streit, 37ff. 370 Eco, Grenzen, 32. 371 Eco, Grenzen, 425. 372 Eco, Autor, 29. 373 Eco, Grenzen, 22. 374 Vgl. dazu das Zitat von Eco, Grenzen, 22: „Es könnte in der Tat der Eindruck entstehen, daß, während ich damals für eine ‚offene’ Interpretation der Kunstwerke eintrat, was zu dieser Zeit eine ‚revolutionäre’ Provokation darstellte, ich mich heute auf <?page no="217"?> 205 Eco liefert folgende Definition für den Begriff der Interpretation im Rahmen einer semiotischen Texttheorie: „Unter Interpretation versteht man (im Rahmen dieser Untersuchung) die semantische Aktualisierung dessen, was der Text (als Strategie) durch die Mitarbeit seines Modell- Lesers zum Ausdruck bringen will“. 375 Es ist sozusagen der Text, der nur darauf wartet, von LeserInnen weiterentwickelt zu werden: „Ein Text will, daß ihm jemand dazu verhilft zu funktionieren“. 376 Im Rahmen dieser Aussage gibt sich schon der Horizont dessen zu erkennen, was für Ecos LeserIn-Verständnis leitend sein wird. Die Prävalenz für einen Modell-Leser, der mit dem Text kooperiert und der über eine Textkompetenz verfügen muss, um eben die geforderten semantischen Aktualisierungen vornehmen zu können. Vor dem Hintergrund solcher textuellen Kommunikation ist der Begriff der Pragmatik bei Eco anders akzentuiert: „Von diesem Standpunkt aus scheint die Lehre der Interpretanten auch mit anderen Auffassungen der Pragmatik zusammenzuhängen - jener Pragmatik, in der gegenüber der semantischen Struktur der Äußerung deren Umfelder sowie die Beziehungen zum Ko-Text, die vom Interpreten ins Werk gesetzten Präsuppositionen und die inferentielle Tätigkeit der Textinterpretation bevorzugt werden“. 377 5.1. Interpretation und Gebrauch Eco trifft in seinen späteren Texten immer wieder die Unterscheidung zwischen Interpretieren und Gebrauch, die motiviert wird durch den Wunsch „das Recht der Interpretation gegen das des reinen Gebrauchs zu verteidigen“. 378 Diese Unterscheidung ist letztlich unverständlich. Nach Eco soll diese Differenzierung den Unterschied markieren, der zwischen einer Lektüre von Kafkas „Prozeß“ als Kriminalroman und einer solchen, die den Text als ästhetischen Zusammenhang versteht. 379 Dabei ist das „Benutzen“ eines Textes keineswegs eine unerlaubte Operation, jedoch gehört das Benutzen „einer der Textannäherung nachfolgenden Phase an, in der man im Anschluß an die semantische Analyse des Textes dazu übergeht, ihn zu beurteilen, ihn zu kritisieren [...]. Daher gehören solche - wichtigen und konservative Positionen zurückgezogen habe. [...] Zu sagen, daß ein Text potentiell unendlich sei, bedeutet nicht, daß jeder Interpretationsakt gerechtfertigt ist. Selbst der radikalste Dekonstruktivist akzeptiert die Vorstellung, daß es Interpretationen gibt, die völlig unannehmbar sind. Das bedeutet, daß der interpretierte Text seinen Interpreten Zwänge auferlegt. Die Grenzen der Interpretation fallen zusammen mit den Rechten des Textes (was nicht heißen soll, sie fielen zusammen mit den Rechten seines Autors).“ 375 Eco, Lector, 226. 376 Eco, Lector, 64. 377 Eco, Lector, 56f. 378 Eco, Streit, 48. 379 Vgl. Eco, Lector, 72-74. <?page no="218"?> 206 fruchtbarenpsychologischen, psychiatrischen oder psychoanalytischen Untersuchungen zur Verwendung des Textes für dokumentarische Zwecke, die erst nach dessen semantischer Aktualisierung durchgeführt werden können [...]“. 380 Während bei der semantischen Analyse der im Text angelegten Strategie gefolgt wird, 381 ohne bereits einer kritischen Reflexion und Bewertung zu folgen, versucht die kritische Interpretation die Art und Weise zu beschreiben, wie die Reaktion auf einen Text zustande kommt. 382 Während der Begriff der Interpretation in beiden soeben genannten Varianten grundsätzlich einen legitimen Umgang mit dem Text bezeichnet, ist der „Gebrauch“ eines Textes davon abzugrenzen. Unter Gebrauch subsumiert Eco Modelle, die den Text zum Gegenstand einer „symptomatologischen Lektüre“ 383 machen, worunter Lektüren gefasst werden, die den Text auf Außertextliches hin interpretieren. 384 Jeder Gebrauch eines Textes verletze die bedeutungsgenerierende Interpretation. Nach Eco kann erst in einer auf die textimmanente semantische Interpretation aufbauenden Phase dazu übergegangen werden, den Text zu kritisieren. Gegen Eco ist festzuhalten, dass beide - die Interpretation und der Gebrauch - Vorgänge im Rahmen der Pragmatik sind, die die Differenzierung nicht so klar zu motivieren scheint, sondern beides als Formen der Zeichenbestimmung versteht. 385 So scheint unseres Erachtens die vorgenommene Differenzierung nicht so klar zu verlaufen zwischen den Texten, 386 wie Eco selber in seiner Feststellung eingesteht, dass die beiden Klassen „theoretische Möglichkeiten“ seien, während jede „empirische Lektüre [...] immer eine unvorhersehbare Mixtur aus beidem“ 387 darstelle. Zudem weist diese von Eco vorgenommene Unterscheidung auf ein methodologisches Problem hin, dass 380 Eco, Lector, 226f. 381 Vgl. Eco, Streit, 41: „Semantische Interpretation ist das Resultat eines Vorgangs, bei dem der Adressat den linear manifestierten Text mit einer gegebenen Bedeutung auffüllt.” 382 Vgl. Eco, Streit, 41: „Im Gegensatz dazu ist die kritische Interpretation eine metalinguistische Aktivität - ein semiotischer Ansatz -, die darauf abzielt, die formalen Gründe zu beschreiben und zu erklären, aus denen ein gegebener Text eine gegebene Antwort produziert.“ 383 Eco, Lector, 228. 384 Hierzu zählt Eco auch die Frage der intentio auctoris. Vgl. Eco, Lector, 229; Eco, Streit, 44; Eco, Autor, 71. 385 Besonders der Pragmatist Rorty, Fortschritt des Pragmatisten, 104f., konnte mit dieser Begriffsdistinktion Ecos nichts anfangen, da für ihn alles Interpretieren zugleich ein Gebrauchen ist. 386 Gegen Pellegrini, Elija, 72f., die die Unterscheidung Ecos aufgenommen hat: „Interpretieren bedeutet für den Ausleger, sich vom Text führen zu lassen ... Der Text hat seine ‚Fragen’ in sich (d.h. ungeklärte Punkte), aber der Leser auch seine Fragen, die sein ‚Interesse’ darstellen. [...] Es ist die Entscheidung, sich auf den Text einzulassen, aufgrund der ein Leser eine Hypothese über die Weltstrukturen (‚congettura’) wagt.“ 387 Eco, Streit, 48. <?page no="219"?> 207 in Ecos Konzeption eines Modell-Lesers liegt, die nicht hinreichend differenziert wird von dem/ der „empirischen Leser/ in“. 388 5.2. Richtige und falsche Interpretationen Die von Eco vertretene leser-orientierte Interpretationstheorie besagt jedoch nicht, dass mit einem Text alles zu machen ist: „Zwischen der unerreichbaren Intention des Autors und der fragwürdigen Intention des Lesers steht die klare Intention des Textes, die unhaltbare Interpretationen widerlegt“. 389 Ohne auf die intentio auctoris zurückzufallen, wird gegenüber der Absicht der InterpretInnen an einer Textintention festgehalten. Deshalb versucht Eco die „dialektische Beziehung zwischen intentio operis und intentio lectoris zu wahren“. 390 Für die intentio lectoris hält Eco fest, dass diese nicht offen zutage tritt, sondern es ist von ihr nur „infolge einer Unterstellung seitens des Lesers“ 391 zu sprechen. Deshalb zielt der Text auf exemplarische LeserInnen, die bei Eco zu einem Modell-Leser werden. Mittels dieses neu definierten „hermeneutischen Zirkels“, der festhält, dass der Text nicht bloß ein Parameter für die Interpretation darstellt, sondern dass dieser selbst erst in der Interpretation als ein Objekt konstituiert wird, glaubt Eco, den Sackgassen einer reinen Leserorientierung zu entgehen. Die intentio operis ist mit semiotischen Strategien verbunden. Zu erhärten sind diese am Text als einem kohärenten Ganzen. „Eine partielle Textinterpretation gilt als haltbar, wenn andere Textpartien sie bestätigen, und sie ist fallen zu lassen, wenn der übrige Text ihr widerspricht. Insofern diszipliniert die interne Textkohärenz die ansonsten chaotischen Impulse des Lesers“. 392 Die Textkohärenz dient dazu, die Hypothesen der LeserInnen zu prüfen. Offen bleibt bei Eco allerdings die Frage, wie und ob die Textkohärenz bei konkurrierenden Lesevorschlägen hilft. Dies Problem hat seine Wurzel schon in der Unterscheidung von Konnotation und Denotation: Denn wie lässt sich ermitteln, auf welches konnotative System Bezug genommen wird, wenn Kontext und Kommunikationssituation mehrere Möglichkeiten offen lassen? Dies potenziert sich noch vor dem Hintergrund, dass der Text ja erst durch Interpretation geschaffen wird. 388 Müller, Eco, 140, sieht die Gründe für die Unterscheidung zwischen Interpretation und Gebrauch im Bereich der ästhetischen Theorie. Eco folge - nach Müller - dem Grundsatz der Autonomie-Ästhetik, nach der Kunstwerke als autonome Gebilde keinen heteronomen Zwecken untergeordnet werden dürfen. 389 Eco, Grenzen der Interpretation, 158. Ähnlich in Eco, Autor: 87: „Zwischen der unergründlichen Intention des Autors und der anfechtbaren Intention des Lesers liegt die transparente Textintention, an der unhaltbare Interpretationen scheitern.“ 390 Eco, Autor, 71. 391 Eco, Autor, 72. 392 Eco, Autor, 73. <?page no="220"?> 208 Im Spannungsfeld zwischen den Gefahren der Überinterpretation und den ungebührlichen Beschränkungen der Interpretationsfreiheit muss bei einem gegebenen Text zwischen dem Recht des Textes und dem Recht der InterpretInnen abgewogen werden, wobei Eco von der Vorgeordnetheit des Rechtes des Textes ausgeht, dem er aber per se schon Kohärenz zusprechen muss, um die intentio operis operabel zu machen. Hier ist ein gravierender Unterschied zu den Modellen von Petöfi und van Dijk zu sehen, die Kohärenz als eine nicht textsensitive Eigenschaft verstehen, sondern bei ihnen wird Kohärenz zu einem Bewertungsprädikat, von dem erst im Zuge der Textinterpretation zu sprechen ist. Allen drei Theoretikern ist allerdings die Zielsetzung im Rahmen der Interpretationstheorie gemein, indem sie eine Verknüpfung von subjektiven und objektiven Aspekten der Interpretation bieten. Ebenso vermeiden alle drei Ansätze, dass die Kriterien zur Bewertung unterschiedlicher Interpretationen in die Strukturen des (literarischen) Diskurses verlagert werden. 393 Die Frage nach richtiger und falscher Interpretation radikalisiert sich vor dem Hintergrund der Annahme einer unbegrenzten Semiose. Aus diesem Grund versucht Eco einen Mittelweg einzuschlagen, der Text und LeserInnen durch den Akt der Interpretation als zusammengehörig erweist: „Wenn es etwas zu interpretieren gibt, muß sich die Interpretation auf etwas beziehen, das irgendwo vorhanden ist und in gewissem Maße respektiert wird“. 394 Dieses „sich beziehen können auf“ ist bei Eco als das Movens für die Vorgeordnetheit der intentio operis anzusehen: „Zwischen der mysteriösen Entstehungsgeschichte eines Textes und dem unkontrollierbaren Driften künftiger Lesarten hat die bloße Präsenz des Textes etwas tröstlich Verlässliches als ein Anhaltspunkt, auf den wir stets zurückgreifen können“. 395 Die tröstliche Präsenz des Textes ist der Ausgangspunkt für eine dialektische Beziehung zwischen intentio operis und intentio lectoris, allerdings um den Preis, dass definitorisch nicht gesagt werden kann, was die Intention des Textes sei: „Von der Textintention kann man daher nur infolge einer Unterstellung seitens des Lesers sprechen. Die Initiative des Lesers liegt demnach vor allem darin, über die Textintention zu mutmaßen“. 396 Somit will Ecos Interpretationstheorie zweierlei Ziele verfolgen: einerseits das Offenhalten der Bedeutung der Werke für neue Interpretati- 393 Vertreter dieser Gegenposition ist beispielsweise Stanley Fish, der die interpretatorische Aktivität in den Kontext und die Situation verlegt ohne Berücksichtigung des Textes. Bei der Konzeption von Fish variiert dann die Bedeutung je nach Äußerungssituation. Demgegenüber wird von van Dijk, Petöfi und Eco festgehalten, dass die jeweilige Bedeutung von Texten nicht allein durch die Situation, in der interpretiert wird, entsteht, sondern immer auch im Rekurs auf die Textmanifestation zu erarbeiten ist. Vgl. Schmitz, Moderne Literaturtheorie, 145. 394 Eco, Autor, 50. 395 Eco, Autor, 97. 396 Eco, Autor, 72. <?page no="221"?> 209 onen, andererseits der Schutz der Werke vor Beliebigkeit. Um Kriterien für eine gute bzw. eine schlechte Interpretation aufzustellen, verfährt Eco nach dem Popperschen Prinzip: 397 „Wenn schon keine Regeln verbürgen, welche Interpretationen die besten sind, dann lässt sich doch zumindest entscheiden, was schlecht ist“. Trotz der möglichen Offenheit des Interpretationsprozesses und der Pluralität von Lesarten ist nach Eco dennoch ein Konsens in Reichweite, „[...] wenn schon nicht in bezug auf die unterschiedlichen Bedeutungen, die der Text ermutigt, so doch zumindest in bezug auf jene, die der Text ent-mutigt“. 398 Somit sollen Kriterien für die Falsifikation der Fehlinterpretation entwickelt werden, um die Interpretation also ex negativo zu legitimieren. Eco macht darauf aufmerksam, dass diese methodologische Begrenzung notwendig sei, um die „freie interpretierende Beteiligung“ der RezipientInnen überhaupt erfassen zu können. 399 Von diesem Prinzip aus erarbeitet Eco die Ebenen der textuellen Mitarbeit. Diese geht von der linearen Manifestation, der lexematischen Oberfläche, eines Textes und entfaltet sich von dort. Nach Eco applizieren LeserInnen „auf die gegebenen Ausdrücke ein System sprachlicher Regeln, um sie zu einer ersten Inhaltsebene (diskursive Strukturen) umzuformen“. 400 6. Die Rolle der LeserInnen Ebenso wie van Dijk und Petöfi rechnet Eco mit einer aktiven Rolle der LeserInnen bei der Aktualisierung des Textes. Alle drei Entwürfe teilen somit einen pragmatischen Ansatz für eine Theorie der Bedeutung, die die Rolle der LeserInnen zu berücksichtigen versucht. Jedoch bietet das Modell von Eco die am besten ausgearbeitete LeserIn-Theorie. Das im Folgenden dargestellte LeserInmodell von Eco verdankt sich seinen semiotischen Grundlegungen. Die LeserInnen sind nach diesen semiotischen Ausführungen nie einfach nur Adressaten bzw. Empfänger einer Botschaft, bei denen eine Botschaft abgeliefert werden kann, sondern LeserIn-Sein ist ein aktives Unterfangen, das durch viele von LeserInnen zu leistenden Operationen gekennzeichnet ist. Die Interpretation eines Textes ist als Mitarbeit und Aktualisierung zu verstehen. Dem Begriff der Interpretation wird durch die Bestimmung einer „Rolle der LeserInnen“ eine zentrale Erklärungsfunktion zugewiesen als Bezeichnung für die interpretative Kooperation der LeserInnen mit dem Text, deren Ziel in der Verwirklichung textueller Strategien gesehen wird. Ein Text, definiert als ein „network of different messages depending on different codes and working at different 397 Vgl. Popper, Kepler, 150f. 398 Eco, Streit, 37. 399 Eco, Lector, 5. 400 Eco, Lector, 88. <?page no="222"?> 210 levels of signification“, 401 muss von den LeserInnen aktualisiert werden. Dafür sind von Seiten der LeserInnen notwendige Operationen durchzuführen, um die lineare Manifestation des Textes aktualisieren zu können. 402 Das Standard-Kommunikationsmodell - bestehend aus Sender, Botschaft und Empfänger - kann in diesem Rahmen als nicht akzeptabel angesehen werden, da es das Maß an Initiative, das auf Empfängerseite aufgebracht werden muss, „um Präsuppositionen und Abduktionen vorzunehmen“, 403 nicht darstellen kann. Diese aber sind notwendig, da erst die durch die LeserInnen zu vollziehende operativen Maßnahmen zur Produktion einer Botschaft führen, „der unterschiedliche mögliche Bedeutungen zugesprochen werden können“. 404 Ausgehend von der Prämisse, dass Objektivität nur angestrebt werden kann, wenn die subjektiven Elemente in einem LeserInmodell miteinbezogen werden können, konzipiert Eco ein Modell der narrativen Kooperation, das versucht zwei Momente zu vereinen: Den empirischen Leser mit dem im Text vorgesehenen „idealen Leser“, der nach Eco ein „Modell-Leser“ ist. Grundlegend für die Notwendigkeit eines Modell-Lesers ist die Erkenntnis, dass die Kompetenz der RezipientInnen nicht notwendigerweise mit der des Senders übereinstimmt. Insofern können Ecos Darlegungen in dem Buch „Lector in Fabula“ als die Ausformulierung der Kritik an dem Kommunikationsmodell, welche er in dem Buch „Semiotik“ darlegte, angesehen werden. Diesem kritisierten Kommunikationsmodell wird durch die Theorie des Modell-Lesers bei Eco ein Korrektiv beigeordnet, welche für narrative Texte in Anspruch nimmt, auf die Engführungen des genannten Kommunikationsmodells zu reagieren. 6.1. Der Modell-Leser In seinem Buch „Lector in fabula“, das eine Reihe von Aufsätzen aus den Jahren 1975-1978 zusammenfasst, verbindet Eco seinen zeichentheoretischen Ansatz mit einem Modell der Rezeption von Zeichenprozessen und ihren Bedingungen. Dabei ist sein Interesse an Rezeptionsvorgängen durchaus nicht neu, aber hier zum ersten Mal theoretisch spezifisch auf die LeserInnen gerichtet. Das Phänomen der Interpretation wird „zwischen Willkürlichkeit und Bedingtheit des Lesens als kooperative Erfüllung einer 401 Eco, Role, 5. 402 Ecos Theorie der Mitarbeit der LeserInnen hat mit Wolfgang Isers Lesetheorie - neben den vorausgesetzten Unterschieden - wesentliche Übereinstimmungen hinsichtlich der Bestimmung der Rolle des Lesers. Beide Entwürfe betonen dessen kreative Mitarbeit. Vgl. Alkier, Hinrichtungen und Befreiungen, 119 sowie Alkier/ Zangenberg, Zeichen, 54 in Fußnote 80. 403 Eco, Labyrinth, 193. 404 Eco, Labyrinth, 193. <?page no="223"?> 211 Verstehensstrategie“ 405 angesehen, für die die Instanz der LeserInnen maßgeblich wird. Es ist bei Eco der Text selbst, der die Bedingungen seiner Interpretation festlegt, indem er einen Modell-Leser entwirft, der mit dem Text gleichsam einen „Lesepakt“ zu schließen hat. 406 Der von Eco postulierte Modell-Leser darf als Leserfiktion des Autors beschrieben werden im Sinne eines idealen Leser, der „in der Lage ist, an den Aktualisierungen des Textes so mitzuwirken, wie es sich der Autor gedacht hat, und sich in seiner Interpretation fortzubewegen, wie jener (= der Autor, Anm. K.D.) seine Züge bei der Hervorbringung des Werkes gesetzt hat“. 407 Dieser ideale Leser wird nun nicht nur vom Text als Mitarbeiter vorgesehen, sondern der Text versucht sich auch diesen jeweiligen Leser zu verschaffen. Deshalb weist Eco darauf hin, dass der Modell-Leser eine Textstrategie ist: „Der Modell-Leser [...] ist ein Zusammenspiel glücklicher Bedingungen, die im Text festgelegt worden sind und die zufriedenstellend sein müssen, damit ein Text vollkommen in seinem möglichen Inhalt aktualisiert werden kann“. 408 Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass der Text als vollständige Interpretationsanweisung fungiert. Erweitert wird diese textkonzentrierte Sichtweise - die im Wesentlichen auf eine syntagmatisch-semantische Rekonstruktionstätigkeit hinausliefe und den Interpretationsbegriff einseitig auf eine reproduktive Aufgabe festlegen würde - durch die pragmatische Perspektive, die in der Mitarbeit der LeserInnen als konstitutive Funktion der Generierung eines Textes begründet liegt. Es entsteht so ein dialektischer Interpretationsprozess zwischen Text und LeserIn, indem sich Textstruktur und LeserInnenperspektive wechselseitig voraussetzen. Interpretation wird so zu einer Lesetätigkeit, die im Bemühen um die Textstrategien mit einer notwendigen Sensibilität als Arbeit am Text verrichtet wird. Der Prozess der Interpretation vollzieht sich niemals unabhängig vom Text, wobei das verbindende Element dieser beiden Pole das „Diskursuniversum“ ist, welches die Beliebigkeit der Interpretationen begrenzt. Unter der Annahme, dass das vom Text gesetzte und vorausgesetzte Diskursuniversum nicht mit dem den LeserInnen zur Verfügung stehenden Diskursuniversum übereinstimmt, wird die Relevanz des Modell- Lesers von Eco deutlich. Denn die Differenz zwischen den verschiedenen Diskursuniversen kann abgemildert werden, indem nach textuellen Indizien für die Performanz einer auf die Textstrategien reagierenden Instanz gesucht wird, wie sie in der Theorie des Modell-Lesers von Eco bereitge- 405 Pellegrini, Elija, 37. 406 Vgl. Mersch, Umberto Eco, 19ff., der von der Komplizenschaft des Lesers/ der Leserin spricht, der/ die unwillkürlich zur Beute wird. 407 Eco, Lector, 67. 408 Eco, Lector, 76. Hier rekurriert Eco auf den von Austin, How to do Things with Words, geprägten Begriff der „glücklichen Bedingungen“. <?page no="224"?> 212 stellt wird. So kann der Modell-Leser zu einer Art Idealleser werden, der mit dem Text „mitarbeitet“, aber der auch durch den Text zu seiner Mitarbeit angeleitet wird, um eine Bedeutungsinterpretation vollziehen zu können. Weil der Text als wesentlichen Bestandteil für seine Aktualisierung die Mitarbeit der LeserInnen braucht, kann Eco festhalten, dass „ein Text ein Produkt ist, dessen Interpretation Bestandteil des eigentlichen Mechanismus seiner Erzeugung sein muß“. 409 6.2. Der empirische Leser/ die empirische Leserin Der empirische Leser ist nach Eco derjenige Leser, der sich im Modell- Leser verwirklicht, aber über diesen hinaus durchaus noch einige weitere Verpflichtungen hat: „Natürlich übernimmt der empirische Leser, um sich als Modell-Leser zu verwirklichen, ‚philologische Verpflichtungen’: so hat er etwa die Pflicht, sich dem Code des Senders so weit wie möglich anzunähern“. 410 Erst wenn die empirischen LeserInnen sich mit dem Modell- Leser identifizieren, kann eine erfolgreiche bzw. glückende Interpretation entstehen. Andernfalls liegt eine Überinterpretation vor, die bis zum Missbrauch der Texte führen kann. Der Prozess des Identifizierens der empirischen LeserInnen mit dem Modell-Leser „erfolgt mit Hilfe von Abduktionen und Inferenzen aus den Propositionen des Textes in einem Prozess der unbegrenzten, aber nicht unkontrollierten Semiose“. 411 Für das Gelingen der Interpretation wird den empirischen LeserInnen eine good-will-Aktion zugesprochen, bei der sie zwar den interpretativen Weg ausloten, aber gleichzeitig der Textintention Respekt schulden. Denn um die semantischen Lücken in Texten auffüllen zu können, müssen LeserInnen einerseits die pragmatischen Strukturen des Textes respektieren, andererseits jedoch ihren eigenen interpretativen Weg beschreiten. Mit der Unterscheidung, aber gleichzeitigen Angewiesenheit des empirischen Lesers und des Modell-Lesers, versucht Eco ein epistemologisches Problem zu lösen, welches im Rahmen einer Lesetheorie sich stellt: Wie ist das Verhältnis zwischen Text und LeserIn darzustellen? Dabei kommt es Eco darauf an, dass ein Lesemodell keineswegs die realen bzw. empirischen LeserInnen leugnet und stattdessen nur LeserInnen als texttheoretische Konzepte verstehen will. Aber die empirischen LeserInnen sind gleichzeitig keine soziologisch bestimmbare Größe, an der die Wirkung eines Textes „ablesbar“ wäre. Diese Unterscheidung hat für die Konzeption einer Bedeutungstheorie Konsequenzen: Nur ein Modell, welches das Verhältnis von empirischen LeserInnen und LeserInnen als texttheoretisches Konzept integrieren kann, ist in der Lage, das Problem der Extensionen zu bedenken. LeserInnen- 409 Eco, Lector, 65. 410 Eco, Lector, 78. 411 Nöth, Handbuch, 126. <?page no="225"?> 213 Konzeptionen, die nur von einem texttheoretischen Paradigma ausgehen, sind dazu nicht in der Lage. Gleichzeitig garantiert der/ die im Text und vom Text vorausgesetzte LeserIn, dass diese Extensionen nicht orientierungslos aufgebaut werden. Die Kooperation der LeserInnen bewegt sich demzufolge ununterbrochen zwischen den Intensionen als Summe der semantischen Marker, die den Inhalt eines Textes anzeigen, und seinen Extensionen: „Nun - jetzt wird jene zögernde Haltung durchbrochen, und der Leser, der immer ganz nahe, immer dem Text auf den Leib gerückt oder ihm auf den Fersen war, ist nunmehr im Text selbst untergebracht. Eine Art, dem Leser Glaubwürdigkeit zuzugestehen, aber ihn zugleich einzuschränken und zu kontrollieren“. 412 7. Die Rolle der AutorInnen In der Dialektik zwischen Leserintention und Textintention bleibt kein Raum für die empirischen AutorInnen als Interpretationsinstanz. „Zu respektieren ist nur der Text, nicht der Autor als eine Person Soundso“. 413 Verabschiedet wird bei Eco deshalb die Suche nach den Absichten der realen AutorInnen. 414 Zur Entmachtung der empirischen AutorInnen führen letztlich die LeserInnen, denn die AutorInnen haben keine Eingriffsmöglichkeiten, um die freien semantischen Assoziationen der LeserInnen auszuschließen, „wenn die von ihm verwendeten Wörter sie irgendwie zu rechtfertigen scheinen“. 415 Dies geschieht aber letztlich, um dem Text zu seinem Recht zu verhelfen: „Zwischen der unergründlichen Intention des Autors und der anfechtbaren Intention des Lesers liegt die transparente Textintention, an der unhaltbare Intentionen scheitern“. 416 Interessant ist deshalb nur der Modell-Autor, der ebenso im Text präsent und vorgesehen ist wie der Modell-Leser: „In these cases the author is textually manifested only (i) as a recognizable style or a textual idiolect - this idiolect frequently distinguishing not an individual but a genre, a social group, a historical period […]; (ii) as mere actantial roles (/ I/ = «the subject of the present sentence»; (iii) as an illocutionary signal (/ I swear that/ ) or as a perlocu- 412 Eco, Lector, 14. 413 Eco, Autor, 73. Vgl. auch Eco, Autor, 97: „Das Seelenleben des empirischen Autors ist gewiß unergründlicher als seine Texte.“ 414 Dies schließt nicht aus, dass es durchaus von Interesse sein kann, auf die Absichten der empirischen AutorInnen zurückzugreifen, wie dies Eco selbst in Stellungnahmen zu seinem Roman „Der Name der Rose“ getan hat. Allerdings hätte das Fragen des empirischen Autors des Romans „Der Name der Rose“ keine kritische Funktion für die Interpretation, sondern nur eine theoretische. Vgl. Eco, Autor, 81. 415 Eco, Autor, 89. 416 Eco, Autor, 87. <?page no="226"?> 214 tionary operator (/ suddenly something horrible happened …/ )”. 417 Wenn der Text als Text betrachtet wird, ist der „Sender” nicht „als Pole des Aussageaktes im Text präsent, sondern vielmehr in Aktantenrollen des Satzes”. 418 Damit reaktualisiert Eco den Autor als textuelle Strategie bzw. als interpretative Hypothese: Der Stil bzw. der Idiolekt unterscheidet nicht unbedingt ein Individuum, sondern ein Genre oder eine soziale Gruppe. „Die Intervention eines sprechenden Subjektes verhält sich komplementär zur Aktivierung eines Modell-Lesers, dessen intellektuelles Profil allein von der Art der Interpretationsoperationen bestimmt wird, die er zu leisten hat“. 419 Aus diesem Grund kann Eco auf den Begriff „Autor“ verzichten bzw. ihn als Metapher für „Textstrategie“ verwenden und stattdessen auf den oben erläuterten Modell-Leser zurückgreifen. Zusammenfassend ist zu den genannten Rollen der LeserInnen und AutorInnen zu sagen, dass Eco damit eine innovative Reformulierung einer Interpretationstheorie gelingt: „Die Definierung von Modellrollen rückt einerseits den Akt des Lesens als Interpretationsprozeß in den Untersuchungshorizont einer Textsemiotik und ermöglicht andererseits die Vermeidung einer relativistischen Perspektive auf diesen elementaren Akt des Textverstehens, weil Interpretation als beständiger Dialog mit Textmerkmalen und textuellen Strategien aufgefasst wird“. 420 8. Intensionen und Extensionen Um die Rolle des Modell-Lesers ausfüllen zu können, sind komplexe Leseoperationen nötig, die sich auf dem intensionalen und extensionalen Feld abspielen. Beim Lesen eines Textes werden LeserInnen mit der Textoberfläche bzw. mit der Ausdrucksebene des Textes konfrontiert. Erst wenn diese Ausdrucksebene aktualisiert wird, beginnt die eigentliche Interpretationsarbeit. Vermittelt wird die Transformation der Ausdrucksebene in die Inhaltsebene durch die Enzyklopädie, auf die wir weiter unten noch zu sprechen kommen werden, sowie die Umfelder der Aussage, die Wissen über den Sender, die Zeit und den sozialen Kontext des Werkes etc. enthalten. Eco unterteilt die einzelnen Strukturen des aktualisierten Inhaltes von Texten in zwei Bereiche: In den Bereich der Intensionen und in den Bereich der Extensionen. Diese Berücksichtigung der beiden Bereiche verdankt sich wesentlich der Kenntnis von Petöfis Werk, wie Eco explizit hervorhebt, aber auch der Kenntnis von van Dijk’s Arbeiten: „What seems interesting 417 Eco, Role, 10. 418 Eco, Labyrinth, 202. 419 Eco, Labyrinth, 203 420 Schalk, Umberto Eco, 159. <?page no="227"?> 215 in Petöfi’s model is the double consideration of both an intensional and an extensional approach“. 421 Zu dem Bereich der Intensionen zählt Eco ideologische, aktantielle, narrative und diskursive Strukturen. Zu dem Bereich der Extensionen zählt Eco Weltstrukturen, Voraussagen, inferenzielle Spaziergänge und Extensionen in Parenthese. Mit der Beachtung von intensionalen und extensionalen Problemen im Rahmen einer Textsemiotik weiß sich Eco nicht nur durch die Modelle von Petöfi und van Dijk inspiriert, 422 sondern hat sein anfängliches Modell einer rein intensional arbeitenden Semantik erweitert für die Texttheorie: „Eine Theorie der Codes befasst sich mit einer intensionalen Semantik, während die Probleme, die mit der Extension eines Ausdrucks zusammenhängen, in den Bereich einer Theorie der Hinweisakte gehören“. 423 Nach dieser Ansicht reicht eine intensionale Semantik aus, um die Bedingungen der Bedeutung zu benennen, während sich eine extensionale Semantik um die Wahrheitswerte kümmert. Diese Aufteilung kann nicht auf eine semiotische Texttheorie übertragen werden, da die Mitarbeit der LeserInnen auf ihre Textkompetenz hin ausgelegt ist, die sowohl intensionale wie auch extensionale Aspekte mit zu bedenken hat. Im Allgemeinen werden sowohl eine intensionale als auch eine extensionale Repräsentation gebildet. Die intensionale Repräsentation fungiert hierbei als Grundlage für die Bildung mentaler Modelle. In der Terminologie van Dijks formuliert: Die mentalen Modelle „ruhen“ auf der Textbasis, beinhalten selbst jedoch keine Elemente der linguistischen Struktur des Textes. Durch die Intensionen wird die Frage nach der Aktualisierung von Textebenen beantwortet. Es handelt sich hier um Ecos „Boxen“ mit den diskursiven Strukturen, den narrativen Strukturen, den Aktantenstrukturen sowie den elementaren ideologischen Strukturen. 424 Zu den Kodes und Subkodes der Intensionen zählen z.B. Geschichtengrammatiken sowie Makro- und Superstrukturen. Grob gesprochen handelt es sich bei den Intensionen um eher sprach- und textbezogene Wissensstrukturen. Die Annahme einer „zweite(n) interpretative(n) Bewegung“, 425 die mit der ersten in ein Verhältnis zu setzen ist, zielt im Wesentlichen auf den Tatbestand, dass die LeserInnen an der Herstellung einer Geschichte aktiv beteiligt sind, indem sie „Vorhersagen über den künftigen Zustand der Angelegenheiten“ 426 machen. Bei den Extensionen geht es um enzyklopädiebezogene Wissensstrukturen, die sich auf unser allgemeines Weltwissen beziehen. Der Mechanismus ist nach Eco wie folgt zu beschreiben: Auf der 421 Eco, Role, 14. 422 Vgl. Eco, Lector, 84. 423 Eco, Semiotik, 89. 424 Vgl. dazu die Graphiken zur textuellen Mitarbeit in Eco, Labyrinth, 207. 425 Eco, Labyrinth, 233. 426 Eco, Labyrinth, 233. <?page no="228"?> 216 Ebene der Weltstruktur des Textes, wird auf nicht näher bezeichnete Weise eine Vorhersage, wie die Geschichte weiter gehen könnte, aktiviert. Dazu in der Lage sind die RezipientInnen durch ihnen bereits bekannte „Situationen“. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass auch die „strukturellen Gemeinsamkeiten“ der beim Rezipienten aktivierten Szenographien prinzipiell keine strukturellen Gemeinsamkeiten von Repräsentationen mit den realen Sachverhalten an sich sind, sondern es handelt sich um eine per kulturelle Konvention herstellbare Analogiebeziehung zwischen Elementen von Kodes und Subkodes. 427 Eine Geschichte wird also nicht erst am Ende des Leseprozesses aufgebaut, sondern schon während des gesamten Leseprozesses. Bei jedem Schritt versuchen die LeserInnen extensionale Operationen zu unternehmen. Der Leser „considers the various macropropositions as statements about events taking place in still-bracketed possible worlds. Each of these statements concerns the way in which a given individual determines or undergoes a certain change of state, and the reader is induced to wonder what could happen at the next step of the story“. 428 Im Leseprozess ist nach dem Modell von Eco anzunehmen, dass die Interaktion zwischen den erzählerischen Strukturen (auf der Seite der Intensionen) und den Voraussagen und inferentiellen Spaziergängen (auf der Seite der Extensionen) sehr intensiv zu sein scheint. Der Prozess kommt zu einem provisorischen Schluss (genauso wie bei Petöfi und van Dijk), wenn auf extensionaler Ebene Weltstrukturen aufgebaut werden. Dies ist der Moment, in dem die Extensionen in Parenthese, in der erste, nicht bindende Bezugnahmen auf „Welt“ stattfinden, suspendiert werden durch Urteile zur Annehmbarkeit von „Welten“ sowie „Weltstrukturen“, sobald sie Entscheidungen über die Glaubwürdigkeit von berichteten Ereignissen, über die Überzeugungen der dargestellten Charaktere zu fällen haben. Gegenüber Petöfis Modell, das stärker für eine methodische Unterscheidung der extensionalen und der intensionalen Ebene votiert, hält Eco fest: „Since the theory of possible worlds has been proposed just in order to solve intensional problems by translating them into external terms, I suspect that the two horns of my dilemmatic diagram are in the last analysis reducible to one another”. 429 427 So bezeichnet Eco die Beziehung zwischen der sprachlichen Realisierung >Pferd< als Element eines Sprachkodes einerseits und dem visuellen Inhaltsmodell eines „wirklichen“ Pferdes als per kultureller Konvention relativ fest fixierte Vorstellung von einem Pferd, der eine kulturelle Entscheidung zugrunde liegt. Insofern handelt es sich nicht um strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen mentalen Modellen und Sachverhalten, sondern um strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen per Konvention festgeschriebenen kulturellen Einheiten. Vgl. dazu Eco, Zeichen, 286f. 428 Eco, Role, 31. 429 Eco, Role, 38. Der hier genannte Begriff der möglichen Welt, der aus der Modallogik stammt, wird weiter unten aufgegriffen. <?page no="229"?> 217 9. Die Enzyklopädie Neben der Ermittlung der Intensionen und Extensionen sind weitere kooperative Schritte im Prozess des Lesens nötig, um einem Text eine Bedeutung zuordnen zu können. Hierbei spielt der Enzyklopädiebegriff von Eco eine wichtige Rolle. Der von Eco in den 70er Jahren favorisierte Kode- Begriff wird in seinen späten Werken durch den Begriff der Enzyklopädie ersetzt, was besonders für seine Texttheorie zur Folge hat, dass Eco nunmehr seltener von Dekodierung sprechen wird, sondern viel stärker den schon oben vorgestellten Begriff der Interpretation bemüht. 430 An die Seite des Wörterbuchs und des Regelwerks der Sprache tritt nun die Enzyklopädie, denn um das Bedeutungsuniversum eines Textes zu konstruieren, bedarf es zwar einerseits der Auflösung der bestehenden korrelativen Regeln, andererseits aber ist die Struktur dieses semantischen Universums enzyklopädisch vorzustellen, also unendlich aufeinander verweisend. D.h., dass enzyklopädische Information zwar durch die Sprache hervorgerufen wird, aber gleichzeitig über sie hinaus ragt. Dies lässt sich anschaulich an den Strukturen im Text aufzeigen, die Eco „diskursive Strukturen“ nennt: Hierbei handelt es sich um geformte Erfahrungsmuster, die von der Kulturgeschichte geprägt sind, auf die die LeserInnen selektiv reagieren müssen. Anhand der diskursiven Strukturen wird die Doppelfunktion der Enzyklopädie deutlich. Einerseits reguliert sie die Texte in ihrem Zustandekommen, andererseits hält sie Referenzwissen bereit, dass den LeserInnen eine kompetente Lektüre ermöglicht. Hier wirkt die Enzyklopädie komplementär zum Regelwerk der Sprache. „Um die diskursiven Strukturen zu aktualisieren, stellt der Leser die lineare Manifestation dem Regelwerk gegenüber, wie es von der Sprache, in der der Text geschrieben ist, und von der enzyklopädischen Kompetenz, auf die die Sprache aufgrund der kulturellen Tradition verweist, vorgegeben ist“. 431 Deshalb sind die einzelnen bedeutungsgenerierenden Elemente als „Systeme textorientierter Instruktionen“ aufzufassen, die in konzentrische Sphären wachsend, immer weitere Dimensionen von Informationen umfassen. 432 Um diese äußerst vielschichtige Interpretationsarbeit am Text darstellen zu können, fordert er eine bedeutungsgenerierende Beschreibung, die auf die Aktualisierungen der Texte ausgerichtet ist. Diese Aktualisierung der Texte, also die Inhaltsebene, reicht durch die verschiedenen Interpretationsschritte des kooperierenden Lesers sowohl in die Tiefe (die Intensionen) des Textes als 430 Diese Entwicklung ist im Zusammenhang mit dem Einfluss Peircescher Philosophie auf Eco zu sehen. 431 Eco, Lector, 94. 432 Die in „Lector in fabula“ unterschiedenen Dimensionen lauten der Kapitelfolge des Buches entsprechend: Diskursive Strukturen, erzählerische Strukturen, Weltstrukturen, aktantielle und ideologische Strukturen. <?page no="230"?> 218 auch darüber hinaus (Extensionen). Die spezifische Ausrichtung seiner Argumentation besteht darin, dass die interpretative Arbeit nicht - wie wir gesehen hatten - etwa das völlig freie Abrufen der Enzyklopädie ist, sondern dass die Enzyklopädie in einem textorientierten Zusammenhang zu sehen ist. Weil der Text also der Ort ist, an dem sich das labyrinthische Netz der Semiose punktuell realisiert, kann an dieser Stelle eine Bedeutung zugeschrieben werden. Somit ist Ecos’ Enzyklopädiemodell eine Antwort auf bedeutungstheoretische Entwürfe, die sich an Wörterbuch-Modellen orientieren. Gegenüber diesen wird kritisiert, dass es keine reinen Wörterbuchdefinitionen von Ausdrücken gibt, denn kein aktuelles Wörterbuch kann vermeiden, enzyklopädische Informationen in ihre Definitionen zu integrieren. Deshalb insistiert Eco darauf, dass bedeutungstheoretische Repräsentationen abhängig von Kontexten sind. Und genau an diesem Punkt wird die Grundidee eines jeden Wörterbuches hintergangen. Die Idee der Enzyklopädie leugnet also keineswegs das Vorhandensein von Wissen, sondern leugnet, dass dieses Wissen auf eine definitive und dauerhafte Art organisiert werden kann, wie dies der Anspruch von Wörterbuch-Definitionen ist. Wissen, nach der Idee der Enzyklopädie, kann deswegen allenfalls lokal organisiert werden, niemals jedoch global. Die Enzyklopädie erweist sich damit im Rahmen von Eco’s Zeichentheorie als Versuch, die Theorie der Konnotationen in einer dynamischen Bedeutungskonzeption einzufangen. Da sich die Repräsentation von Zeicheninhalten, innerhalb des Prozesses der unendlichen Semiose, mit Hilfe von jeweils wieder interpretierbaren Interpretanten abspielt, kann es keine binären Baumdiagramme geben, die beanspruchen, „die globale semantische Kompetenz einer gegebenen Kultur“ 433 darstellen zu können. Jede Lektüre muss deshalb auf eine kulturell konventionalisiertes Wissen beinhaltende Enzyklopädie 434 zurückgreifen. Dieses Wissen umfasst sämtliche in einer Kultur „verbreiteten Kenntnisse, Ideologien, Glaubensinhalte, Illusionen, Dummheiten und Lügen“. 435 Die Annahme einer Enzyklopädie ist eine regulative Hypothese, die erklären soll, was wir tun, wenn wir lesen. 436 Sie ist nirgends vorfindlich, sondern „ideell“ konstruiert. 437 Die Grundidee der Enzyklopädie ist der Annahme verpflichtet, dass Menschen über bestimmtes Wissen, das einem bestimmten kulturellen setting verpflichtet ist, verfügen und dass die produzierten Texte/ Worte ebenfalls dieser Enzyklopädie verpflichtet sind. Das Problem, vor dem die Exegese bei ihrer Arbeit mit antiken Texten steht, ist der Hiatus der diffe- 433 Eco, Semiotik und Philosophie, 107. 434 Das Konzept der Enzyklopädie wird von Eco in seinen Werken Semiotik und Philosophie, 77-132, Semiotik, 143ff.162ff., sowie in Lector, 83-235, bes. 94-106, dargestellt. 435 Mersch, Umberto Eco, 111. 436 Vgl. Alkier, Hinrichtungen und Befreiungen, 119f. 437 In Eco, Semiotik, 164, hält er fest, dass das Konzept der Enzyklopädie dem mittelalterlichen speculum mundi näher stünde als den Encyklopaedia Britannica. <?page no="231"?> 219 rierenden Kodes von Sender und Empfänger. Dieser Hiatus durch je verschiedene Enzyklopädien kann nur durch die Arbeit der Interpretation (von Texten) dargestellt werden. Dabei bedarf es enzyklopädischer Kompetenz, die auch bereit sein muss, „die angenommene Enzyklopädie durch die semiotische Analyse von Texten zu korrigieren“. 438 Enzyklopädische Kompetenz realisiert sich bei der Lektüre als ein von enzyklopädischen Informationen strukturiertes Zusammenspiel, das sich zu einem Globalen Semantischen System formiert. 439 Es reicht also keineswegs aus, nur die lineare Manifestation des Textes zu kennen, sondern es sind komplexe Operationen nötig, die der linearen Manifestation kooperierend gegenüberstehen. Mit seinem Konzept entwickelt Eco eine Alternative zu einem Bedeutungsmodell, das von Lakoff „classical theory“ genannt wird, nämlich den „porphyrischen Baum“. 440 Während das Wörterbuch, das traditionelle Modell der (lexikalischen) Semantik, die Erfassung der Lexeme durch eine komponentiale und kategoriale Beschreibung leisten will, die ihre Exaktheit in einem pragmatikfreien Raum gewinnt und zu einer Bedeutungsfeststellung führt, versucht das Modell von Eco die Semantik mit der Pragmatik zu verbinden. 441 Dafür stellt Eco die gängige Unterscheidung zwischen Wörterbuch (als streng semantisch) und Enzyklopädie (verunreinigt mit pragmatischen Resistenzen) auf den Kopf: „[D]ie Enzyklopädie ist ein semantisches Konzept, und das Wörterbuch ist ein pragmatisches Mittel“. 442 Denn das Universum kultureller Bedeutungen lässt sich nicht in Wörterbüchern systematisieren oder in Nachschlagewerken auflisten, weil dies immer zu Standardisierungen und Festlegungen führt. Aber es ist dennoch äußerst nützlich im Rahmen einer semantischen Analyse: „Erst wenn man einmal erkannt hat, daß das Wörterbuch kein festes und eindeutiges Bild des semantischen Universums ist, besitzt man die Freiheit es zu benutzen, wann immer man es benötigt“. 443 Das Konzept der Enzyklopädie hat nicht nur lexikalisches Wissen zu enthalten, sondern verbindet dieses Wissen mit einem Kontext, der sich im weitesten Sinne kulturell bestimmen lässt. 438 Alkier, Hinrichtungen und Befreiungen, 120. 439 Vgl. Eco, Lector, 28. 440 Vgl. Eco, Semiotik und Philosophie, 77ff.; zur Kritik: 92-105. Es handelt sich beim „porphyrischen Baum“ um ein wörterbuch-gespeistes Kognitionsmodell, das auf der Grundlage kategorisch organisierter semantischer Merkmale aufgebaut ist. 441 In der klassischen oben dargestellten Semantik ist der Gegenstand der Semantik die wörtliche Bedeutung sprachlicher Ausdrücke. Die wörtliche Bedeutung ist das, was ein Ausdruck sozusagen von Haus aus bedeutet. Bedeutung eines Ausdrucks lässt sich bei dieser Semantikauffassung verstehen als eine sprachliche Gegebenheit. Sie hat nichts mit seiner Verwendung in einem bestimmten Kontext zu tun. 442 Eco, Labyrinth, 111. 443 Eco, Labyrinth, 112. <?page no="232"?> 220 Bei der Fragestellung, in welcher Weise Wörter und ihre Bedeutungen miteinander verknüpft sind, rekurriert Eco auf das hierarchische Netzwerkmodell von Quillian. Mittels dieses Modells 444 kann dargestellt werden, wie sich Bedeutungen in Netzwerken repräsentieren, die aus Knoten (zwei Arten: für Konzepte und Eigenschaften) und Kanten (ist- und hat- Kanten) bestehen. Das von Quillian entworfene Modell ist das erste, das die interne Organisation semantischen Wissens nachzuzeichnen versucht 445 . Später spricht Eco auch häufig von Rhizomen (den Begriff hat Eco von Deleuze/ Guattari 446 übernommen), die den gleichen Aufbau haben wie Netzwerkmodelle. Übertragen auf das Enzyklopädiemodell liegen die Bedeutungen von Lexemen nicht in Stichworten vor, sondern sind Teile diskursiver Systeme, die sich mit anderen überschneiden und vermischen: Beispielsweise kann das Zeichen „Wüste“ unser Wissen über Geographie, Botanik und Wüstenrallyes aktivieren oder eben auch Jesu Aufenthalt in der Wüste, das Auftreten von Johannes, der Aufenthalt Israels in der Wüste etc. „Die Enzyklopädie ermöglicht die Selektion differenter Texturen und damit die Wahl zwischen verschiedenen semantischen Universen. Sie gleicht auf diese Weise einem umfassenden Repertoire von Büchern ohne Katalog, die in keine festen Rubriken gehören und in beliebiger Reihenfolge gelesen oder benutzt werden können, die immer wieder neue Systematisierungen erlauben und nach völlig anderen Gesichtspunkten beurteilt oder in die verschiedensten Richtungen ausgelegt werden können“. 447 Es ist also nicht das (unerreichbare) Ziel, die ganze Enzyklopädie zu kennen bzw. eine vollständige Enzyklopädie zu haben, sondern die LeserInnen müssen den für die Interpretation notwendigen Teil der Enzyklopädie kennen: „Die regulative Idee der Enzyklopädie ist der einzige Weg, um das mögliche Format eines solchen Universums zu umreißen und Mittel auszuprobieren, die es teilweise beschreiben“. 448 Dennoch gibt es so etwas wie eine logische Grenze der Enzyklopädie: „ihre Grenze ist das Universum des 444 Von Eco, Semiotik, 174-178, wird dieses Modell einfach „Modell Q” genannt. 445 M. Ross Quillian hat in Anlehnung u.a. an Chomsky’s Generative Transformationsgrammatik zu erklären versucht, wie die Speicherung bedeutungstragender Elemente sprachlicher Zeichen dargestellt werden kann und dafür das Modell eines semantischen Gedächtnisses entwickelt. Vgl. dazu die Erläuterungen bei Burkhardt, Umberto Eco, 53-55. 446 Deleuze/ Guattari, On the Line, 47f.: „Unlike trees or their roots, the rhizome connects any point with any other point, and none of its features necessarily refer to features of the same kind. It puts into play very different regimes of signs and even states of nonsigns. […] It has neither beginning nor end, but always a middle through which it pushes and overflows. […] Unlike a structure defined by a set of points and positions […] the rhizome is made only of lines: lines of segmentation and stratification as dimensions, but also lines of flight. […] The rhizome proceeds by variation, expansion, conquest, capture, stitching.” 447 Mersch, Umberto Eco, 114. 448 Eco, Semiotik und Philosophie, 121. <?page no="233"?> 221 Diskurses“. 449 Das Diskursuniversum - der Begriff wird von Eco zugunsten des Begriffs der möglichen Welt vernachlässigt - vernetzt somit jede semantische Repräsentation mit einer kontextuellen Selektion. 450 Im Rahmen eines Diskursuniversums bzw. im Rahmen einer möglichen Welt wird die Enzyklopädie einsetzbar, da sie nun handhabbar ist. Das Diskursuniversum und die Enzyklopädie bedingen sich somit gegenseitig. Die enzyklopädische Darstellung setzt voraus, „daß die Repräsentationen des Inhalts nur mit Hilfe von Interpretanten stattfindet, in einem Prozeß der unbegrenzten Semiose“. 451 Die Existenz einer solchen Bedeutungsbestimmung bleibt für die Semiotik ein unerreichbarer Grenzwert, auf den immer nur hingestrebt werden kann: „Der Aufbau einer vollständigen semantischen Struktur muß deshalb eine bloße regulative Hypothese bleiben“. 452 Dieser virtuelle Grenzwert muss allein deshalb schon immer verfehlt werden, weil sich der semantische Raum durch die Prozesse der Signifikation beständig verändert. „Die Semiotik muß so vorgehen, als ob eine definitive umfassende Struktur existierte; doch muß man, um das tun zu können, annehmen, daß diese umfassende Struktur eine bloße regulative Hypothese ist und daß immer, wenn eine Struktur beschrieben wird, im Universum der Signifikation etwas geschieht, das sie nicht mehr völlig zuverlässig sein läßt“. 453 Weil in einer kulturellen Gemeinschaft die Wörter einem ständigen Wandel unterworfen sind und weil die semantische Darstellung sich ständig neuem Weltwissen anpasst, ist es sinnvoll, mit einer enzyklopädischen Auffassung zu arbeiten. Fünf Elemente lassen sich in der Enzyklopädie unterscheiden: Das „Grundlegendes Wörterbuch“: Beim Lesen wird auf ein Lexikon in der Art eines Wörterbuches rekurriert. Die LeserInnen erkennen sofort „die elementaren semantischen Eigenschaften, so daß [...] - wenigstens auf syntaktischer Ebene (Substantive, die ein Subjekt, Verben, die eine Handlung vorstellen und so weiter) - provisorische Amalgamierungen“ 454 vorgenommen werden können. Es besteht ein Zusammenspiel der globalen Gesamtenzyklopädie mit den ko- und kontextuell benötigten Wörterbüchern. So müssen die LeserInnen von Mk 4,1 Jesus als das Subjekt zu h; rxato dida,skein erkennen. 449 Eco, Lector, 46; vgl. auch Eco, Role, 189. Eco rekurriert hier auf Peirce, der den Gedanken des Diskursuniversums ausgearbeitet hat. Vgl. Alkier, Hinrichtungen und Befreiungen, 118. 450 Vgl. Eco, Lector, 57. 451 Eco, Semiotik und Philosophie, 109f. 452 Eco, Semiotik, 182. 453 Eco, Semiotik, 183. Gegenüber Peirce ist die regulative Fassung des Enzyklopädiebegriffs bei Eco nicht durch die normative Verbindlichkeit ausgezeichnet, wie sie bei Peirce für das dynamische Objekt als zu antizipierende globale Einheit aller lokalen Darstellungen charakteristisch ist. 454 Eco, Lector, 95. <?page no="234"?> 222 Die Wichtigkeit „elementarer Koreferenzregeln“ 455 schlägt sich in der grammatikalischen Struktur und Anordnung von Sätzen und Texten nieder. So müssen die LeserInnen in Mk 4,1 wissen, dass es sich bei pa,lin um eine Anknüpfung an die erzählte Situation in Mk 2,13 handelt. Im Rahmen der enzyklopädischen Darstellung unternehmen die ersten beiden Elemente (grundlegendes Wörterbuch und elementare Koreferenzregeln) die Aufgabe, eine Verbindung zwischen isoliertem Lexem und seiner Textfunktion herzustellen. Damit ein Text/ ein Wort aufgefasst werden kann, müssen darüber hinaus noch „kontextuelle und situationelle Selektionen“ vorgenommen werden. Zu ihnen gehört die Aktivierung und Narkotisierung kulturellen und intertextuellen Wissens. 456 Das Modell von Katz-Fodor lehnt die Untersuchung von Kontexten ab und erklärt nicht, warum ein Lexem in einem bestimmten linguistischen Kontext eine bestimmte Bedeutung haben kann. Die Beachtung der Kontexte stellt nach Eco allerdings gerade das verbindende Glied zwischen einer Theorie der Kodes und einer Theorie der Zeichenproduktion dar. Nur so kann ein gleichzeitiges Funktionieren zwischen System (langue) und Aktualisierungen (parole) gewährleistet werden. Kontextuelle Selektionen stellen kulturelle Einheiten dar. Eine Theorie der kontextuellen Selektionen muss nicht alle möglichen Okkurenzen einer lexikalischen Einheit aufzählen, sondern nur jene, die in einer bestimmten Kultur statistisch den höchsten Wahrscheinlichkeitswert haben. Während kontextuelle Selektionen sich auf Relationen der Lexeme durch die lineare Textmanifestation beziehen, „erfolgen situationelle [= Korrektur durch K.D. fälschlicherweise findet sich in der Übersetzung das Wort „kontextuelle“] Selektionen zu einem früheren Zeitpunkt durch eine semantische Repräsentation im Format einer Enzyklopädie [...] und sind nur faktisch im gegebenen Text vorhanden“. 457 An diesem Punkt wird spätestens deutlich, dass die interpretatorische Mitarbeit von Seiten der LeserInnen zu den Konstituierungseigenschaften der Texte gehört. Die von den LeserInnen vorgenommenen kontextuellen und situationellen Selektionen gehen weit über die rein textuelle Ebene hinaus. So gehören beispielsweise Elemente allgemeiner und intertextueller Szenographien zu ihnen, auf die wir weiter unten noch eingehen werden. So bedarf der Aspekt der Reinheit, der in Mk 1,40ff.; 7,14ff. thematisiert wird, der Narkotisierung des mikrobiologischen Konzeptes der Reinheit, der Aktivierung des kultischen Konzeptes der Reinheit 458 bei 455 Vgl. Eco, Lector, 96. 456 Vgl. Alkier, Hinrichtungen und Befreiungen, 119. 457 Eco, Labyrinth, 214. 458 Vgl. dazu Douglas, Reinheit und Gefährdung. <?page no="235"?> 223 der Interpretation, wobei dieses kultische Konzept dann weiterer kontextueller Selektionen bedarf. Die „rhetorische und stilistische Übercodierung“ 459 : Darunter fasst Eco die Fähigkeit, stilistisch konnotierte Syntagmen zu identifizieren sowie Gattungsregeln zu erkennen. Ein Fall rhetorischer Überkodierung liegt bei der das Markusevangelium durchziehenden Frage „Wer ist dieser? “ vor. 460 „Szenographien“ werden als Sammelkonzepte 461 definiert, zu denen Eco festhält, dass eine gewisse Unsicherheit bei dem Versuch einer Definition der Szenographie herrscht, die in der empirischen Natur dieses Vorschlags begründet liegt. Eco unterteilt die Szenographien in zwei Bereiche: Allgemeinen Szenographien liegen kognitive Konzepte zugrunde, die als „plans“, „schemata“ und „frames“ zu klassifizieren sind. Besonders an diesen allgemeinen Szenographien wird die Rückkoppelung der pragmatischen Dimension des Leseaktes an Wissen deutlich: „Die ‚allgemein’ genannten Szenographien entstammen [...] der enzyklopädischen Kompetenz des Lesers, die dieser mit dem größten Teil der Mitglieder seines Kulturbereiches teilt, und sie sind darum mehr Regeln für praktische Handlungen: [...] Daten einer operativen Kompetenz, die eine eindrucksvolle Reihe von Informationen einbeziehen“. 462 Beim Lesen eines Textes wird nicht nur der semantische Gehalt von Lexemen aktualisiert, sondern die LeserInnen suchen das „Szenarium“ auf, als die komplexe quasisinnliche Vorstellung, um einen Bezugspunkt herzustellen. Erst auf der Basis eines derartigen Szenariums, das nach dem schon bekannten Begriff des Frames funktioniert, 463 sind die einzelnen sprachlichen Einheiten bzw. Lexeme sinnvoll semantisch interpretierbar. Frames sind damit Instruktionen über die Art und Weise, wie unsere Ausdrücke zu verarbeiten sind. Mit diesem Begriff wird - wie schon bei van Dijk deutlich wurde - nicht nur einfach die Rezeptionsmöglichkeit eines Textes angesprochen, sondern mit diesem Begriff ist auch sogleich mitgesetzt, dass im Vollzug dessen die eingesetzten Wissensvoraussetzungen selbst permanent modifiziert werden. „In diesem Sinne ist eine Szenograhie ein virtueller Text oder eine kondensierte Geschichte“. 464 So werden die meisten Lektüren des Markusevangeliums aufgrund des Frames „Bootsfahrt in der Antike“ nicht ein Szenarium entwickeln, in dem Jesus und seiner Jünger 459 Vgl. dazu Eco, Lector, 97f. 460 Vgl. zu dieser Frage Müller, Wer ist dieser. 461 Vgl. Eco, Lector, 103. 462 Eco, Lector, 104. 463 Eco rekurriert hierbei direkt auf van Dijk, vgl. Eco, Lector, 99f. 464 Eco, Lector, 100. <?page no="236"?> 224 in Mk 4,35ff. in einem Motorboot auf dem See fahren. Das erscheint banal, wird aber dort besonders relevant, wo das vom Text gesetzte und vorausgesetzte Diskursuniversum den LeserInnen fremd ist. 465 Diese Fremdheit zeigt sich in den explizit und implizit vorausgesetzten Rationalitätsstrukturen, von der auch bei der hypothetisch zugrunde gelegten Enzyklopädie nicht abgesehen werden kann. 466 Zweitens sind intertextuelle Szenographien zu nennen, die ebenfalls in der Nähe zu dem Frame-Begriff stehen, aber spezieller rhetorisch oder narrativ gestaltet sind. „Um diese Szenographien zu identifizieren, musste der Leser sozusagen außerhalb des Textes ‚spazierengehen’, um intertextuelle Unterstützung zu erlangen (eine Suche nach analogen ‚Topoi’, Themen und Motiven). Ich nenne diese interpretativen Schritte inferentielle Spaziergänge: Sie sind keine bloßen absonderlichen Initiativen von Seiten des Lesers, sondern kommen durch diskursive Strukturen ans Licht und werden durch die gesamte Textstrategie als unerlässliche Komponenten der Konstruktion der fabula vorgesehen“. 467 Während also die allgemeinen Szenographien der enzyklopädischen Kompetenz der LeserInnen entstammen und die mit dem größten Teil der Mitglieder dieses Kulturkreises geteilt werden, sind die intertextuellen Szenographien „rhetorische und erzählerische Schemata, die Teil eines selektierten und bewusst eingeschränkten Wissensschatzes darstellen, ein Fundus, über den nicht alle Mitglieder einer bestimmten Kultur verfügen“. 468 Im Gegensatz zu den allgemeinen Szenographien, die auf alltagspraktisch organisiertes Wissen rekurrierten, liegt ein speziellerer Wissensschatz vor, der vom Bildungswissen der LeserInnen abhängt. So spielen intertextuelle Szenographien am Beginn des Markusevangeliums eine große Rolle, denn der intertextuelle Zusammenhang zwischen der Schrift des Markusevangeliums und den Schriften der alttestamentlichen Propheten ist grundlegend und bildet die Verstehensvoraussetzung, warum überhaupt vom euvagge,lion (V. 1) gesprochen werden kann. Die avrch. zielt keineswegs einfach auf den Beginn des Markusevangeliums, sondern auf den Beginn der „guten Botschaft“ an sich. Der Beginn des Evangeliums zielt auf die alttestamentliche Prophetie und erst in der intertex- 465 Wie das Boot fortbewegt wurde, ob mit Ruder oder Segel kann der aufmerksame Leser/ die aufmerksame Leserin aufgrund intratextueller Kompetenz erfahren. In Mk 6,48 wird von den gegen den Wind anrudernden Jüngern berichtet. Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer, Text, Konnexität, 19, sprechen hierbei von „inter-text-weltbezogenes Wissen, das sie als die Wissensmenge bestimmen, die der konkrete Text selbst konstituiert und die (noch) nicht im allgemeinen Sprach- Welt und Intertextwissen der Rezipienten/ Rezipientinnen gespeichert sein muss. 466 Dazu im nächsten Punkt unter „Ideologische Übercodierung”. 467 Eco, Labyrinth, 233f. 468 Eco, Lector, 104. <?page no="237"?> 225 tuellen Verknüpfung dieser Prophetie mit dem Markusevangelium erschließt sich das euvagge,lion . Im Rahmen des Markusevangeliums müssten bei diesen Szenographien auch die Gattungsbestimmung des Markusevangeliums behandelt werden. Diese intertextuellen Szenographien genügen unterschiedlichen Komplexitätsgraden und sind wie folgt zu hierarchisieren: a) „maximale Szenographien“ oder vorgefertigte Fabulae, die Eco auch als „standardisierte Schemata“ 469 versteht. Unter dem Begriff versucht Eco, kanonisierte Textmuster zu erfassen, die wir bei van Dijk unter dem Begriff der Superstruktur kennen gelernt haben. b.) „Motiv-Szenographien“ als flexible Schemata, die bestimmte Aktanten- und Handlungsstrukturen kondensieren. Diese lassen sich im Markusevangelium in den Wundergeschichten wieder finden, die grundsätzlich folgende Handlungsstruktur aufweisen: Lack - Lack liquidated; 470 c.) „situationsbezogene Szenographien“, die in unterschiedlichen Texttypen variieren können (Beispiel: Duell im Western, im Liebensroman oder im Krimi); d.) „rhetorische Topoi.“ Deutlich wurde, dass die Enzyklopädie keine totalisierende Darstellung ist, wir verfügen immer nur über gewisse Ausschnitte und partielle Regionen. Szenographien sind nach Eco als Ort, an dem die aktivierende Leistung der LeserInnen in Form von Ausfüllung von Leerstellen im Text und der Zuweisung eines textinduzierten Modells von Welt in den Blick gerät. Als erschwerend für die Handhabung von Szenographien erscheint er die recht unpräzise interne begriffliche Abgrenzung zwischen den verschiedenen Typen von Szenographien sowie das undeutliche Verhältnis von Szenographie und semantischer Basis des Textes. Übertragen auf Texte bedeutet dies, dass LeserInnen eine Textkompetenz haben müssen: „Nur durch das Zusammenspiel der Vorbedingungen solch eines allgemeinen Prozesses kann ein Text Erfolg haben, mehr oder weniger offen oder geschlossen sein. Irrtümliche Präsuppositionen und abweichende Umstände schaffen keine Offenheit, sondern produzieren bloß Zustände von Unbestimmtheit. Was ich offene Texte nenne, sind eher solche, die Unbestimmtheiten reduzieren, während geschlossene Texte, selbst wenn sie darauf abzielen, eine Art von ‚gehorsamer’ Kooperation auszulösen, in der letzten Analyse zufällig offen für jeden pragmatischen Unfall sind“. 471 469 Eco, Lector, 102. 470 Vgl. Kahl, Miracle Stories, 182. 471 Eco, Labyrinth, 195. ab <?page no="238"?> 226 10. Das Konzept der möglichen Welt Das Interesse Ecos an dem Konzept „möglicher Welten“ ist jüngeren Datums. Noch in seinem 1975 auf Italienisch erschienenen Buch „Trattato di semiotica generale“ heißt es in der deutschen Übersetzung von 1987: „Es ist im Rahmen einer Theorie des Codes nicht nötig, auf [...] mögliche Welten zurückzugreifen ...“ . 472 Erst in „Lector in fabula“ wird von Eco das schon kurz bei van Dijk und Petöfi vorgestellte Konzept der möglichen Welt eingeführt im Rahmen der Interpretation von Texten: „Wir bezeichnen als mögliche Welt einen Zustand von Dingen, der von einer Gesamtheit von Propositionen ausgedrückt wird, wobei für jede Proposition entweder p oder ~ p gilt“. 473 Während Eco im Kontext seiner früheren Arbeiten betont, dass Kommunikationsprozesse auf Signifikationsprozesse zurückgreifen, mittels derer Zeichen Bedeutungen zugeordnet werden, die zu verstehen sind als „kulturelle Einheiten“, werden im Rahmen der Textsemiotik Texte als Systeme möglicher Bedeutungen analysiert, die als ‚mögliche Welten’ im Kleinen die Struktur der Kultur widerspiegeln. Eco betont in diesem Zusammenhang den Unterschied des von ihm entworfenen Konzeptes der möglichen Welt zu dem aus der Modallogik stammenden, in dem er festhält, „daß [...] dieser Begriff, wie er in den folgenden Seiten dargelegt wird, als semiotisches Instrumentarium aufgefaßt und sich dann der Fehler verantworten wird, die sich eventuell daraus ergeben, nicht aber derjenigen Fehler wegen, die aus der Gleichnamigkeit mit anderen Begriffen hervorgehen“. 474 Dass sich Eco hierbei der gleichen Terminologie wie die Modallogik bedient, ist nach Eco ein Beitrag zur Sache, aus dem die logische Herkunftsdiskussion Nutzen ziehen könnte: „Abschließend werden wir daher sagen, [...], wenn es wahr ist, daß der Begriff der Modallogik entstammt und für die Literatur übernommen worden ist, sich die Frage stellt, warum man ihn jener nicht wiedergeben solle“. 475 Ruth Ronen weist jedoch auf die fundamentalen Interessendifferenzen beim Gebrauch der Theorie im Rahmen einer Texttheorie und im Rahmen der Modallogik hin: „Possible worlds [= in der Modallogik; K.D.] are based on a logic of ramification determining the range of possibilities that emerge from an actual state of affairs; fictional worlds are based on a logic of parallelism that guaranties their autonomy in relation to the actual world“. 476 Im Rahmen einer Texttheorie wird „Möglichkeit” und „Unmöglichkeit” interpretiert als alternative weltkonstruierende Konventionen, die angewendet werden auf konkrete Welten. In der Modallogik bezieht sich die Rede von der „Möglich- 472 Eco, Semiotik, 92. 473 Eco, Lector, 162. 474 Eco, Lector, 161. 475 Eco, Lector, 161f. 476 Ronen, Possible Worlds, 8. <?page no="239"?> 227 keit“ auf abstrakt logische Probabilitäten, wobei die Rede von der „Möglichkeit“ in diesem Fall die „Unmöglichkeit“ ausschließen soll. Eco ist sich dieser Differenz durchaus bewusst, wenn er festhält, dass die möglichen Welten der Modallogik nur leer vorzustellen sind, während in seinem textsemiotischen Zugang diese möbliert sind. Deshalb sind die aus der Modallogik stammenden Hinweise aufzunehmen, „allerdings zu dem Zweck, eine Kategorie von erfüllter möglicher Welt zu bilden, die eigens als Instrument einer Semiotik erzählerischer Texte dienen soll“, 477 jedoch mit dem Unterschied, dass das, „was für die Modallogik eine Metapher ist, in einer Textsemiotik als strukturelle Repräsentation von konkreten semantischen Aktualisierungen funktionieren muß“. 478 Für Eco ist die Rede von möglichen Welten deshalb so wichtig, weil mittels dieser inferenzielle Spaziergänge unterschieden werden kann zwischen den auf der intensionalen Ebene angesiedelten diskursiven Strukturen und den Prozeduren der Aktualisierungen der diskursiven Strukturen. 479 Beide Aktivitäten - die inferenziellen Spaziergänge und der Prozess der Aktualisierung der diskursiven Strukturen - sind abhängig von den enzyklopädischen Informationen, aber sie sind in ihren Modalitäten unterschieden: „Semantic disclosures [diskursive Strukturen, K.D.] (when, for instance, actualizing the virtual semantic property ‚human’ when a / man/ is named) concern individuals and properties within the world given by the text as the ‚actual’ one (and usually taken as basically similar to the world of the reader’s experience or, better, of the reader’s encyclopaedia). Inferential walks concern, on the other hand, individuals and properties belonging to different possible worlds imagined by the reader as possible outcomes of the fabula”. 480 Eine mögliche Textwelt darf also nicht mit den textuellen Strukturen gleichgesetzt werden, sondern entsteht erst durch die Interpretation: „Der Text, der diesen Sachverhalt oder diesen Ablauf von Ereignissen beschreibt, ist eine sprachliche Strategie, die beim Modell-Leser eine Interpretation auslösen soll. Diese Interpretation stellt (wenn sie ausgedrückt wird) die mögliche Welt dar, die im Verlauf der kooperierenden Interaktion zwischen Text und Modell-Leser entworfen wird“. 481 Nach Eco ist die mögliche Welt gekennzeichnet durch eine Relation zu einer Bezugswelt, wobei die Bezugswelt die reale Welt als auch eine intra- oder intertextuelle Bezugswelt sein kann. Dabei wird festgehalten, dass das Konzept der Bezugswelt im Wesentlichen einen heuristischen Charakter hat - ähnlich wie auch der Begriff der Szenographie: „Folglich ist die Be- 477 Eco, Lector, 157. 478 Eco, Lector, 158. 479 Eine solche mögliche Textwelt ist demnach immer nur ein „kulturelles Konstrukt”, das nicht mit den textuellen Strukturen gleichgesetzt werden darf, sondern erst durch die Interpretation des Lesers entsteht. 480 Eco, Role, 217f. 481 Eco, Grenzen, 259. <?page no="240"?> 228 zugswelt [...] ein enzyklopädisches Gebilde. [...] [Denn es gibt] kein Ding an sich, das außerhalb des Rahmens konzeptueller Strukturen beschreibbar oder identifizierbar wäre“. 482 Wenn also von alternativen Zuständen oder kulturellen Welten zu sprechen ist, dann ist nach Eco notwendigerweise der methodologische Mut aufzubringen, „die Bezugswelt auf die Ausmaße dieser Dinge zu reduzieren, jedenfalls insofern man es mit der Theorie möglicher (erzählerischer oder nicht-erzählerischer) Welten zu tun hat“. 483 In dem Moment, wo sich für eine Theorie der möglichen erzählerischen Welten entschieden wird, „entscheide ich mich dafür, (von der Welt, von der ich unmittelbar Kenntnis habe) zu einer Reduktion dieser Welt auf ein semiotisches Gebilde überzugehen, um es mit erzählerischen Welten zu vergleichen“. 484 Im Rahmen der Interpretation von Texten geht es Eco bei seinen Ausführungen zu möglichen Welten um eine spezifische Form der Mitarbeit der LeserInnen beim Interpretieren von Texten. Denn im Konzept der möglichen Welten sieht Eco ein Vehikel zur Herstellung von Kohärenz und Integrität. Durch die in den Text einbezogenen LeserInnen, die einerseits ihre LeserInnnen-Enzyklopädie aktivieren und eine bestimmte kulturelle Verortung aufweisen, andererseits ihr Wissen mit der Welt des Textes abgleichen, gelingt es, diese Welten dann im Prozess der Kohärenz und Integrität sichernden Interpretation zusammenbringen. Die Theorie der möglichen Welten fungiert bei Eco im Sinne einer Erhellung der Konstitution von Textualität in der Interpretation, bei der deutlich wird, wie es zu narrativer Kohärenz und Integrität kommt. Das Verstehen der möglichen Welten schafft eine Beschreibbarkeit narrativer Texte und ihrer Innenausstattung. Es ist davon auszugehen, dass ein Text als mögliche Welt sich die Eigenschaften der realen Welt entleiht. So wird die erzählerische Welt des Markusevangeliums mit Eigenschaften ausgestattet, die nach denselben Regeln funktionieren, wie die mir bekannte Welt. Beispielsweise gilt auch in meiner Welt, dass ein Licht nicht unter einen Scheffel oder unter ein Bett zu stellen ist, da es dort nicht seine Funktion des Leuchtens erfüllen kann (vgl. Mk 4,21). Auch der Acker im Markusevangelium ist dazu da, das auf ihm gesät und geerntet wird (vgl. Mk 4,3-8.26-28). Einige Zuschreibungen jedoch gelten nur für die Welt des Markusevangeliums: So gibt es beispielsweise Dämonen, die sprechen (vgl. z.B. Mk 5,7). „Keine erzählerische Welt könnte vollkommen autonom neben der realen Welt bestehen, weil sie keinen maximalen und konsistenten Zustand angeben könnte, indem sie ex nihilo eine ganze Ausstattung von Individuen und Eigenschaften hervorbrächte. Eine mögliche Welt überlagert in redundanter Weise die ‚reale’ Welt der Enzyklopädie des Lesers“. 485 Zugleich ist aber 482 Eco, Lector, 168. 483 Eco, Lector, 169. 484 Eco, Lector, 169. 485 Eco, Lector, 165. <?page no="241"?> 229 auch festzuhalten, dass eine erschöpfende und vollständige Beschreibung der alternativen Welt nicht zu erhalten ist, sie bleibt in gewisser Hinsicht unabgeschlossen. Wir erfahren im Markusevangelium beispielsweise nichts über Katzen, ob sie als in menschlicher Sprache redend vorgesehen sind oder nicht. So gilt es festzuhalten, dass die erzählerische Welt der „realen“ Welt die für die Geschichte notwendigen Konstruktionen entnimmt, kombiniert diese aber frei mit den narratologischen Erfordernissen, so dass die LeserInnen sie nicht nach einem wahr-falsch-Paradigma lesen, sondern vor dem Hintergrund ihrer narrativen Kohärenz verstehen, in der eben Dämonen mit Menschen kommunizieren. Die Rede von möglichen Welten legt also keine Wahrheitskriterien im Sinne von Realitätskriterien an den Text an, sondern weist darauf hin, dass die Welt des Textes und die Welt der InterpretInnen kulturelle Konstrukte sind bzw. kulturell determiniert sind. So wie es in der Welt des Markusevangeliums unwahrscheinlich ist, dass der Mensch fliegen kann, mag es für eine Westeuropäerin unwahrscheinlich sein, dass jemand mit dem Meer spricht und dieses entsprechend reagiert. Hier ist die Mitarbeit der LeserInnen gefragt, ihre Wirklichkeitsannahmen zurückzustellen und sich von den Wirklichkeitsannahmen der narrativen Welt leiten zu lassen, denn die Rede von der kulturellen Determiniertheit der Welten zielt „vielmehr auf ein präzises und arbeitsfähiges Ergebnis innerhalb einer Theorie der textuellen Mitarbeit“. 486 An diesem Punkt ist noch einmal deutlich hervorzuheben, warum es unabdingbar ist, die Textkompetenz in Form einer Enzyklopädie darzustellen und nicht in Form eines Wörterbuches. Erst über das Enzyklopädiekonzept können kulturelle Unterschiede eingetragen und verglichen werden, ohne sie einer Wertigkeit zu unterziehen. In dem Augenblick, „da ich eine Theorie der möglichen erzählerischen Welten entwickle, entscheide ich mich dafür, (von der Welt, von der ich unmittelbar Kenntnis habe) zu einer Reduktion dieser Welt auf ein semiotisches Gebilde überzugehen, um es mit erzählerischen Welten zu vergleichen“. 487 Eine mögliche Welt mit der mir bekannten Bezugswelt zu vergleichen, heißt, unter methodologischen Gesichtspunkten immer schon von etwaigen ideologischen und kulturellen Unterschieden abzusehen, da die Semiotik der „realen“ Welt - ebenso wie die Semiotik der möglichen Welt - als kulturelle Konstrukte betrachtet werden. „Wahr“ in einer möglichen Welt bedeutet also in einer Enzyklopädie gespeichert. Um allerdings zu sagen, dass eine Aussage xy wahr ist, wird gerne vereinfachend von der Gesamtmenge aller möglichen Welten gesprochen, in denen die Aussage gilt. Da wir aber kein Wissen über alle möglichen Welten besitzen, können wir sie uns sozusagen nur leer vorstellen, wohingegen eine durch eine Enzyklopädie beschriebene 486 Eco, Lector, 167. 487 Eco, Lector, 169. <?page no="242"?> 230 Welt eine möblierte Welt darstellt. „Offensichtlich sind die leeren Welten vollkommen, weil es unmöglich ist, ihre Unvollkommenheit aufzudecken. Die möblierten Welten hingegen sind chaotisch. Jede neue Information zwingt mich dazu, den Großteil meiner Welten neu zu definieren“. 488 Das Problem, das sich dabei stellt, ist die Beziehung zwischen diesen Welten, angesichts des nicht vorhandenen neutralen Standortes, von dem aus eine Welt betrachtet werden kann. Deshalb indiziert ein Ausdruck/ die aktuelle Bezugswelt/ immer irgendeine Welt, „von der aus ein Bewohner derselben die anderen (alternativen und eben nur möglichen) beurteilt und bewertet“. 489 So ist gewährleistet, dass nicht irgendeine Bezugswelt zum Maßstab gesetzt wird, sondern die Standortgebundenheit, von der aus betrachtet wird, Berücksichtigung findet. Offen geblieben ist allerdings noch die Frage, wie der jeweilige Bewohner aus einer aktuellen Welt es schafft, die Bezugswelt in seine Welt zu überführen. Eco versucht, das Problem mit Hilfe der semantischen Implikation zu lösen. Im Sinne der Ökonomie werden in der jeweiligen Enzyklopädie des Bewohners einer aktuellen Welt nicht diejenigen Eigenschaften eines Lexems aktualisiert, welche die Enzyklopädie bereits unter Stichwörtern von hyperonomischem Charakter [...] verzeichnet hat. So gehört zum Lexem „Jordan“ im Markusevangelium: Fließendes Gewässer, Lokalisierung des Flusses, Lebensraum für Fische, notwendig zur Wasserversorgung, mit einem entsprechenden Vehikel befahrbar, etc. Dies wird alles nicht aktualisiert, aktualisiert hingegen wird: Ort der Taufe „für das ganze jüdische Land“ und „alle Bewohner Jerusalems“ durch Johannes und Ort der Sündenbekenntnis (Mk 1,5) sowie Ort der Taufe Jesu von Nazareth durch Johannes (Mk 1,9). Deshalb kann Eco festhalten: „Wenn es eine unbegrenzte Semiose gibt und wenn jedes Zeichen von anderen Zeichen interpretierbar ist, wenn jeder Begriff eine rudimentäre Behauptung ist und jede Behauptung ein rudimentäres Argument, wird es reichen, in irgendeiner Weise von diesen Voraussetzungen auszugehen, und es werden sich ökonomische Regeln der Implikation ergeben“. 490 Die Aufgabe der Implikation liegt also folglich darin, eine im Sinne der Semiose letztlich unendliche Anzahl von Eigenschaften beispielsweise des Lexems „Jordan“ abzukürzen. Narkotisiert werden kann vor dem Hintergrund von Mk 1,5 und 1,9 die Eigenschaft „Lebensraum für Fische“, aber als Ort der Taufe ist mitgesetzt, dass der Fluss Jordan die essentielle Eigenschaft „beinhaltet Wasser“ aufweist (vgl. Mk 1,8 und Mk 1,9). Im Fall eines Flusses ist sinnvoller Weise von der Flüssigkeit „Wasser“ auszugehen, sofern in der vorgestellten Welt nichts anderes aktualisiert wird, wie z.B. Milch und Honig. 488 Burkhardt, Umberto Eco, 18. 489 Eco, Lector, 170. Sehr ähnliche Formulierungen finden sich bei van Dijk, Text and Context, 30. 490 Eco, Lector, 174. <?page no="243"?> 231 „Sagen wir also, daß wir bei der Beschreibung eines Individuums in einer textuellen Welt daran interessiert sind, jene zu privilegieren, die für die Zwecke des Topic essentiell sind“. 491 Das Topic bzw. die LeserInnen bestimmen, welche Eigenschaften in Betracht zu ziehen sind und welche narkotisiert werden können. „Es ist der kulturelle Topic, der festlegt, welches die minimale Struktur der zur Diskussion stehenden Welt sei. Diese Struktur kann niemals global oder vollständig sein, doch repräsentiert sie (von der fraglichen Welt) ein Profil oder eine Perspektive“. 492 Diese Perspektive ist es, die dann bei der Interpretation dienlich ist. Wenn vor dem Hintergrund eines Topics ein Individuum in einer aktuellen Bezugswelt und einer alternativen Welt, die gleichen essentiellen Eigenschaften, aber nur eine einzige potentielle Variante besitzt, so „fällt die potentielle Varianz mit dem zusammen, was Querweltein-Identität oder transworld identity genannt wird“. 493 11. Zusammenfassung der Bedeutungstheorie Ecos Umberto Eco entwirft ein Theoriemodell, bei dem die Bedeutung eine starke pragmatische Fundierung erhält. Die Bedeutungsproblematik wird bei ihm zu einer explizit kulturtheoretischen Fragestellung. Dabei erhalten der Prozess der Interpretation und die Genese der bedeutungskonstituierenden, kulturelle Einheiten ausprägenden Signifikationssysteme eine enorme Aufwertung. Denn erst im Prozess der Interpretation wird die Bedeutung eines Zeichens festgelegt. Wenn Bedeutung erst das Resultat eines Interpretationsprozesses ist, dann lässt sie sich nicht dadurch erfassen, dass die Differenz zu anderen Zeichen innerhalb eines (Sprach-)Systems geklärt wird. Im Rahmen des Ecoschen Kulturbegriffs wird die Bedeutung von Zeichen innerhalb eines Kultursystems mittels der Kodes bzw. der Enzyklopädien ermittelt. Jede Kultur enthält eine unendliche Anzahl von „kulturellen Einheiten“, d.h. Bedeutungen, die als Signifikate von Zeichen die Wirklichkeit in semantische Felder aufgliedern und somit kulturspezifisch strukturieren. Indem die Bedeutung von Zeichen als kulturelle Einheiten aufgefasst wird, verzichtet Eco ausdrücklich darauf, die Extension zur Grundlage der Bedeutungsbeschreibung zu machen. Aufgewertet wird bei Eco die Bedeutung als ein sich im Akt der Interpretation ereignender Prozess, bei dem immer soziale Aspekte der Bedeutungskonstitution mit zu berücksichtigen sind, so dass wir Ecos Bedeutungstheorie als besonders geeignet sehen, um 491 Eco, Lector, 177. 492 Eco, Lector, 177. 493 Eco, Lector, 180. <?page no="244"?> 232 die sozialen Aspekte von Zeichenprozessen in einer Kultur herauszuarbeiten. Einher geht mit der interpretationstheoretischen Fassung der Bestimmung der Bedeutung die Konzentration auf die Rolle der LeserInnen. Stärker als die Modelle von Petöfi und van Dijk bemüht sich Eco, die Instanz der LeserInnen bei der Bedeutungsgenerierung in expliziter Weise darzulegen. Grundlegend für das Lesermodell von Eco ist die Rückbindung des Lesers an den Text bzw. an die interdependente und unauflösliche Beziehung zwischen Text und Rezeptionsinstanz, die Eco durch den Begriff des Modell-Lesers zum Ausdruck gebracht hat. Kein Text kann von dem Modell-Leser absehen, da er es ist, der die kulturellen Kodes berücksichtigt und die Fähigkeit mitbringt, bestimmte Kenntnisse über die textuelle Welt zu berücksichtigen. Der Modell-Leser ist aufgefordert, seine enzyklopädische Kompetenz aufzubringen und unter den möglichen Bedeutungen der im Text vorkommenden Sprachelemente nur die auszuwählen, die ihm im Lichte einer bestimmten Bedeutungshypothese als wesentlich erscheinen. Im Rahmen dieser Bedeutungshypothesen spielten bei Eco Abduktionen eine wesentliche Rolle, bei denen sich die abduzierenden LeserInnen in einem dialektischen Spannungsverhältnis von interpretatorischer Freiheit und den Kodierungen des Kontextes bewegen. Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Bedeutungstheorie von Eco im Rahmen einer kulturwissenschaftlich orientierten Exegese sich mit den kulturellen Aspekten befasst, die die Zeichenbenutzer betreffen. Der Fokus auf die soziale Kultur soll in der pragmatischen Bedeutungsinterpretation zu Mk 4,1-34 mittels des Bedeutungsmodells von Eco berücksichtigt werden. <?page no="245"?> 233 Zusammenfassung von Kapitel III bis VI Ausgehend von den im Eingangskapitel dargelegten Prämissen, die einerseits im Gefolge von Peirce und Morris festhielten, dass Bedeutung ein semiotischer Terminus sei, und die andererseits die Frage nach der Bedeutung im Rahmen von kulturellen Prozessen verorteten, so dass für die angemessene Behandlung der Frage nach der Bedeutung eine kulturwissenschaftlich orientierte Exegese zu etablieren sei, hatten die Kapitel III bis VI die Funktion auf der Grundlage dieses so etablierten dynamischen Bedeutungsverständnisses, welches einen irreduziblen dreidimensionalen Bedeutungsbegriff voraussetzt, a.) einerseits den Geltungsraum von bedeutungsgenerierenden Prozessen anzugeben (Kap. III) sowie b.) für eine kulturwissenschaftlich orientierte Exegese adaptierfähige Modelle zu erarbeiten, die diesem dynamischen, dreidimensionalen Bedeutungsbegriff zu explizieren in der Lage sind (Kap. IV-VI). Vor dem Hintergrund, dass bei den vorgestellten Konzeptionen von Petöfi, van Dijk und Eco, die nach unserer Auffassung alle für eine kulturwissenschaftlich orientierte Exegese adaptierfähige Modelle bieten - indem in ihrer Beschreibung der kulturellen Welt mit Begriffen wie Kommunikationssituation (Petöfi), Diskurs und Frame (van Dijk) oder Kode (Eco) operiert wird - ist die Frage zu klären gewesen, wie einerseits die Eigenständigkeit der in den unterschiedlichen kulturellen Bereichen erzeugten Bedeutung gewahrt bleiben kann, andererseits aber auch mittels dieser Modelle der Anspruch erhoben werden kann, eine Beschreibungsposition für die kulturellen Bedeutungsprozesse zu bieten, von der aus diese in ihrer Vielfalt und Pluralität beschrieben werden können. In diesem Zusammenhang kommt dem Begriff des „Diskursuniversums“ eine grundlegende Funktion zu, denn mittels dieses Begriffs kann vor dem Hintergrund des dynamischen Bedeutungsverständnisses der Geltungsraum von Bedeutungsprozessen angegeben werden. Die Rede vom Diskursuniversum erlaubt somit, über die Bedeutung eines Zeichens in einem bestimmten Aussagebereich zu sprechen und stellt daher den Ermöglichungsgrund, Bedeutungsprozesse in einer Kultur überhaupt untersuchen zu können, dar. Die Modelle von Petöfi, van Dijk und Eco wurden ausgewählt, weil sie a.) komplexe methodische Entwürfe darstellen, die eine Lösung der Bedeutungsproblematik unter Einbeziehung aller drei semiotischen Dimensionen (der syntagmatischen, der semantischen und der pragmatischen) anstreben und b.) einen nicht statischen Bedeutungsbegriff voraussetzen. Außerdem konnte gezeigt werden, dass sie dem im Eingangskapitel formulierten kulturtheoretischen Konzept von Bedeutung gerecht werden. <?page no="246"?> 234 Dass hier drei Modelle zur Anwendung kommen und in extenso dargestellt wurden, macht deutlich, dass ein semiotischer Bedeutungsbegriff offen ist für verschiedene Modelle, um ein adaptierfähiges Instrumentarium für die Arbeit mit (neutestamentlichen) Texten zu ermöglichen. Zugleich zeigen diese drei Modelle, dass sie unter verschiedener Schwerpunktsetzung bestimmte Aspekte der kulturell determinierten Bedeutungsprozesse herauszuheben vermögen. Petöfis „semiotische Textologie“ - ausgehend von einer „Kommunikationssituation“ und der sie bestimmenden „dominant Intention“ - weiß sich besonders der Klärung der Frage verpflichtet, wie ein syntagmatisch organisierter textueller Zeichenbestand unter Einbeziehung der Vorgaben des Textes und den Dispositionen der LeserInnen auszuweisen ist. Deshalb erweist sich sein Modell als besonders geeignet, um die materialen Aspekte von Textzeichen in einer Kultur zu untersuchen. Van Dijk erarbeitet ein prozedurales kognitives Textverarbeitungsmodell, das auf der Grundlage der Interaktion von Text und LeserInnen in kulturell determinierten Diskursen, die mentalen Prozesse der Bedeutungsbestimmung in den Blick nimmt. Die in seinem Modell vorausgesetzte und dargelegte Fähigkeit zur Mentalisierung im Rahmen von Bedeutungsprozessen erweist sein Modell als besonders geeignet, sofern nach den mentalen Aspekten, die im Zusammenhang mit Bedeutungszuschreibungen von Textzeichen in einer Kultur stehen, gefragt wird. Für Ecos Textsemiotik, die ihren Schwerpunkt auf die pragmatische Dimension der Bedeutung legt, haben wir zeigen können, dass die singulären Akte der Bedeutungsinterpretation an ein kulturell determiniertes Prinzip der Bedeutungsbildung anknüpft, so dass Bedeutung als kulturelle Einheit zu verstehen ist. Hier kommt es zu einer Korrelation zwischen singulären Akten der Interpretation und einem abstrakten System kultureller Kompetenz, welches durch die Annahme einer kulturell konventionalisiertes Wissen beinhaltenden Enzyklopädie theoretisch aufgearbeitet wird. An die Stelle des Regelbegriffs tritt die Notwendigkeit der abduktiven Generierung von Bedeutung bei der Textinterpretation. Die interpretative Kooperation der LeserInnen mit dem Text expliziert Eco über den Begriff „Modell-Leser“, der einerseits die kulturellen Kodes, denen sich der Text verpflichtet zeigt, zu beachten und andererseits der textuellen Strategie des Textes zu folgen hat. Mit seinem Interesse an den Zeichenbenutzern, die immer eingebunden sind in einen kulturellen Rahmen, sehen wir in dem Modell von Eco besonders die sozialen Aspekte von kulturellen Bedeutungsprozessen herausgestellt. D.h. auf der Grundlage der im Eingangskapitel geleisteten Bestimmung von Kultur als Zeichensystem heben die Theorien von Petöfi, van Dijk und Eco hinsichtlich ihres Untersuchungsgegenstandes Unterschiedliches hervor, wissen sich jedoch alle einem dynamischen Bedeutungsverständnis verpflichtet wissen. <?page no="247"?> T EIL C: Die Bedeutung von avkou,ein in Mk 4,1-34 <?page no="249"?> 237 Die bisherigen Ausführungen waren von der Überzeugung getragen, dass die Klärung der Bedeutung im Rahmen einer neutestamentlichen Wissenschaft wissenschaftstheoretisch nicht einfach eine Ergänzung darstellt, sondern ihr Anspruch darin besteht, Bedeutung als einen Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft darzulegen. Da deutlich wurde, dass das Fach Neues Testament eine systematische Reflexion des Bedeutungsbegriffs bestenfalls in Ansätzen kennt, deshalb bedurfte es der ausführlichen Explikation des Begriffs der Bedeutung. Für die Darstellung der Bedeutung in einem neutestamentlichen Zusammenhang wurden zwei fundamentale Grundannahmen vorausgesetzt: Die erste Annahme war, dass nur dann Bedeutungen und das Schaffen von Bedeutungssystemen in theoriegeleiteter Weise interpretiert werden können, wenn Bedeutung als kulturelles Phänomen verstanden wird, so dass Bedeutung im Rahmen von kulturellen Prozessen, die sich in Zeichenzusammenhängen konkretisieren, zu verstehen ist. Angewendet auf die neutestamentliche Wissenschaft heißt das: Es ist notwendig, eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Exegese zu etablieren, die in der Lage ist, Bedeutung als Fundierungskategorie von Kultur in den Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses zu stellen. Die zweite Grundannahme war, dass Bedeutung ein semiotischer Terminus ist und sich triadisch bestimmt zeigt. Aus dieser Annahme ergab sich die Konsequenz, dass die die Bedeutung konstituierenden Regeln aus allen drei semiotischen Dimensionen stammen müssen - aus der syntagmatischen, der semantischen und der pragmatischen. Im Zusammenhang mit dem Thema dieser Arbeit, die Bedeutung des Wortes avkou,ein in Mk 4 zu untersuchen, muss das Markusevangelium als ein kulturelles Phänomen verstanden werden, genauer als ein Text, der einer bestimmten Kultur verpflichtet ist. Aufgrund der Annahme, dass die Bedeutung eine nicht statische Größe ist, ist davon auszugehen, dass die Bedeutung des Wortes av kou, ein keineswegs eine objektive immer schon vorgegebene Größe ist, sondern fundamental mit dem Akt des Rezipiertwerdens zusammenhängt. Um die triadische Bestimmung in für die exegetische Arbeit adaptierfähige Modelle zu überführen, werden im Folgenden mittels der Modelle von Petöfi, van Dijk und Eco die Möglichkeiten einer expliziten Bedeutungsinterpretation von avkou,ein in Mk 4,1-34 dargelegt, mit dem Ziel, den Gewinn dieser Modelle für die neutestamentliche Exegese, die Bedeutung als einen Grundbegriff versteht, aufzuzeigen. Unter der Voraussetzung, dass jede der drei Bedeutungstheorien einen Schwerpunkt auf jeweils eine der Dimensionen der Bedeutung legt, wird das Modell von Petöfi für die syntagmatische Arbeit zu Mk 4,1-34 herangezogen werden, das Modell von van Dijk für die semantische Arbeit und das Modell von Eco für die pragmatische Arbeit zu Mk 4,1-34. <?page no="250"?> 238 Während in Teil II dieser Arbeit die Theorien in extenso dargestellt wurden, um a.) deutlich zu machen, inwiefern diese Modelle ein dreidimensionales Bedeutungsverständnis voraussetzen, und um b.) deren Eignung als Modelle im Rahmen einer kulturwissenschaftlich orientierten Exegese plausibel zu machen, wird in diesem Kapitel insofern eklektisch das aus den jeweiligen Modellen von Petöfi, van Dijk und Eco ausgewählt, was bei Petöfi zu einer innovativen Schwerpunktsetzung im Bereich der syntagmatischen Dimension der Bedeutung, bei van Dijk zu einer innovativen Schwerpunktsetzung im Bereich der semantischen Dimension und bei Eco zu einer innovativen Schwerpunktsetzung im Bereich der pragmatischen Dimension der Bedeutungsbestimmung von avkou,ein führt. Petöfis grundlegende Frage ist folgende: Welche Aspekte der Organisation eines materialen Zeichenbestandes erlauben es, ein Zeichen als einen konnexen Text aufzufassen? Weil Petöfi in seinem Modell besonders die materialen Aspekte von Textzeichen bei der Bedeutungsgenerierung hervorhebt, wurden die methodischen Aspekte aus seiner Textologie für die syntagmatische Analyse berücksichtigt, die hier zu einer klärenden Bestimmung von avkou,ein in Mk 4,1-34 führen. Van Dijks grundlegende Frage ist: Wie kann es auf der Grundlage einer bestimmten Menge von rezipierten Informationen eines gegebenen Textzeichens bzw. Diskurses zu einer Ordnung im Geist der RezipientInnen kommen? Weil van Dijk im Rahmen seiner kognitiven Bedeutungstheorie besonders den mentalen Aspekten im Rahmen von kulturellen Zeichenprozessen seine Aufmerksamkeit widmet, sehen wir bei ihm eine innovative Schwerpunktsetzung für eine semantische Bedeutungsanalyse und werden sein Modell dazu benutzen, diese zu veranschlagenden mentalen Prozesse bei der Bedeutungsgenerierung von avkou,ein in Mk 4,1-34 zu berücksichtigen. In dem Modell von Eco, welches schwerpunktmäßig auf Zeichenbenutzer in kulturell differierenden Prozessen fokussiert, werden die sozialen Aspekte von Bedeutungszuschreibungen zu Textzeichen besonders berücksichtigt. In der Hinwendung zu den grundlegenden Praktiken der Rezeption ist eine innovative Schwerpunktsetzung für die pragmatische Dimension der Bedeutung zu sehen, so dass wir in der Analyse von avkou,ein in Mk 4,1-34 besonders diejenigen Aspekte seiner Theorie adaptieren, die einer pragmatischen Bedeutungsbestimmung mit Fokus auf die RezipientInnen zuarbeitet. Das Spektrum möglicher Bedeutungszuschreibungen ist in den Theorien von Petöfi, van Dijk und Eco nicht die nachgeordnete Anwendung einer zuvor statisch festgestellten Bedeutung, sondern ist der Versuch, das Verhältnis von Textbedeutung und Interpretation darstellbar zu machen. Hierfür arbeiten alle drei Entwürfe mit einer explikativen Bedeutungstheorie, die der dreidimensionalen semiotischen Bestimmung der Bedeutung entspricht. Deshalb stehen die einzelnen Theorien auch nicht im einem exklusiven Verhältnis zueinander, sondern auf der Grundlage des von <?page no="251"?> 239 ihnen geteilten dreidimensionalen Bedeutungsbegriffs muss in der praktischen Arbeit deutlich werden, dass die einzelnen Modelle einander ergänzend zu einer Bedeutungsbestimmung von avkou,ein führen, die sich der Dreidimensionalität der Bedeutung verpflichtet weiß. Wenn eine neutestamentliche Wissenschaft in ihr Zentrum die Arbeit mit Texten stellt, dann steht sie in der Pflicht, sich über die theoretischen Grundlagen der Prozesse der Textinterpretation zu verständigen. Wenn sie der „Einsicht in die Nichtobjektivierbarkeit des Textsinnes sowie die daraus folgende Erkenntnis, daß es in unseren exegetischen Diskussionen um die Textgemäßheit von Interpretationen, jedoch nicht um die Suche nach der einen richtigen Auslegung gehen sollte“, 1 folgt, dann ist sie ebenso in der Pflicht, diese „Textgemäßheit“ in ihrer theoretischen Disposition explizierbar zu machen. Nun wird abweichend von obigem Zitat in dieser Arbeit die These vertreten, dass gerade nicht der Begriff des „Sinns“ 2 geeignet ist, diese theoretische Explizitheit einzulösen, sondern der Begriff der Bedeutung. Erst der Begriff der Bedeutung in seiner semiotischen Bestimmung und kulturwissenschaftlichen Fundierung kann als geeignet angesehen werden, die Forderung nach Textgemäßheit auch theoretisch explizit einlösen. 1 Schröter, Stand, 267. 2 Vgl. hierzu schon die Ausführungen im Eingangskapitel dieser Arbeit. Die Rede von „Sinn“ bzw. „Textsinn“ kann allenfalls betonen, dass wir es im Rahmen von Interpretationen biblischer Texte nicht mit „der“ Bedeutung zu rechnen haben. Letztendlich kann nicht mehr über den Sinn gesagt werden, als dass mit ihm auf eine Eigenschaft von Texten rekurriert wird und diese Eigenschaft etwas mit der Art des allgemeinen Gegebenseins von Texten zu tun hat. <?page no="252"?> 240 VII. Die syntagmatische Analyse von Mk 4,1-34 1. Die Kommunikationssituation und das Markusevangelium Um die syntagmatische Dimension der Bedeutung untersuchen zu können, ist der Text des Markusevangeliums erst einmal in dem von Petöfi dargelegten Kommunikationsschema einzuordnen, welches als grundlegend für die nähere Bestimmung von Bedeutung anzusehen ist. Gegenüber den strukturalistischen Bedeutungsmodellen hebt Petöfi die kommunikativen Umstände hervor, in welchen ein Text produziert oder rezipiert wird. Im Gegensatz zu der strukturalen Semantik von Greimas wird deshalb betont, dass bei Produktions- und Rezeptionsprozessen der Aspekt der Temporalität zu berücksichtigen ist, der für jede Konstitution von Bedeutung grundlegend ist. Dementsprechend ist in diesem Modell der Aspekt der „Geschichte“ immer schon integriert. Für das Markusevangelium ist hinsichtlich der Frage der Produktion eine raum-zeitliche Distanz festzuhalten. D.h. das, was materialiter hinsichtlich der Bedeutung des Wortes avkou,ein in Mk 4 analysiert wird, ist als ein antiker Text anzusehen, der in raumzeitlicher Distanz rezipiert wird. Aber die Rede von einem antiken Text ist eine relationale Bestimmung. Relational deshalb, weil antike Texte als solche in Bezug auf moderne LeserInnen klassifiziert werden, die ihnen dieses Attribut zukommen lassen. Indem Petöfi seine Bedeutungstheorie mit der Kommunikationssituation maßgeblich beginnen lässt, überführt er die Frage nach der Generierung von Bedeutung in eine hermeneutische Frage, bei der die Bedingungen von Verstehen in den Vordergrund rücken. Im Rahmen der Kommunikationssituation spielt der „Interpreter Mediator“ eine grundlegende Rolle. Ein „Interpreter Mediator“ ist die Person, die eine zweite Manifestation eines Zeichenvehiculums produziert: Dies kann sowohl eine Person sein, die Mk 4,1-34 zitiert oder jemand, der Mk 4,1-34 aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt oder aber jemand, der Mk 4,1-34 interpretiert und diese Interpretation zugänglich macht. Im Umgang mit den biblischen Texten kann der „Interpreter Mediator“ also nicht einfach die Position der rückprojizierten antiken Leserschaft einnehmen. Mk 4,1-34 so zu lesen, ist ein verkürztes Verständnis dieser Instanz, denn es verkürzt den Hiatus zwischen der Zeit der Erstrezeption und der Zeit der Jetzt-Rezeption. Aber als „Interpreter Mediator“ können moderne LeserInnen sich fragen, ob es textuelle und nichttextuelle Wissensbestände gibt, die es erlauben, sinnvolle Hypothesen aufzustellen, wie eine antike Leserschaft Mk 4,1-34 verstanden haben könnte. D.h. im Rahmen einer Ma- <?page no="253"?> 241 nifestation eines Vehiculums können die RezipientInnen als „Interpreter Mediator“ diese Überlegungen einbeziehen und versuchen, im Rahmen ihrer Hypothesenbildung diese Überlegungen zu plausibilisieren. In den folgenden Ausführungen wird die Position des „Interpreter Mediator“ eingenommen und eine in schriftlicher Form zugängliche Interpretation von Mk 4 erstellt. Jede Kommunikation als Interpretationsbzw. Übersetzungsvorgang im Zusammenhang mit neutestamentlichen Texten hat zu berücksichtigen, dass für den Umgang mit antiken Texten immer ein Hiatus hinsichtlich entstehungszeitlicher und jetztzeitlicher Situation zu bewältigen ist. Dabei ist die jetztzeitliche Situation gerade einzubeziehen in den Interpretationsvorgang, denn kein Medium vermittelt Welt als etwas, was außerhalb seiner selbst liegt. Die Eignung der Theorie von Petöfi für die Bestimmung der syntagmatischen Dimension der Bedeutung zeigt sich gerade daran, dass diese Bedeutungsbestimmung gekoppelt ist an eine Kommunikationstheorie, die sich auf grundlegende Weise mit der Bedeutsamkeit der Schnittstellen von Wahrnehmung, Wissen und m.E. auch von Handeln beschäftigt. Aufgegeben wird die Suche nach Universalia und strukturellen oder physikalischen Stabilitäten, wie sie in den eindimensionalen Bedeutungstheorien zugrunde gelegt worden sind und sich ebenfalls in methodischen Zugängen zum Markusevangelium wieder finden lassen. Grundsätzlich ist nach Petöfi festzuhalten, dass erst in einer gegebenen Kommunikationssituation das Markusevangelium und damit das in Mk 4 vorkommende Wort avkou,ein überhaupt zu einem Objekt der Interpretation wird. Bei dieser Kommunikationssituation spielt das Rezipiertwerden des Markusevangeliums eine grundlegende Rolle. Dabei ist das entstehende Kommunikat - also diese vorliegende Arbeit - das Produkt einer einzelnen Person. Diese Darstellung der syntagmatischen Dimension ist determiniert durch eine ganz bestimmte „dominant intention“. D.h. die nun folgende Bestimmung der syntagmatischen Dimension der Bedeutung ist fokussiert auf diese „dominant intention“. Bedeutung realisiert sich nicht in jeder Hinsicht, sondern immer in spezieller Hinsicht. In unserem Fall ist die „dominant intention“ bestimmt durch die Ermittlung der Bedeutung des Wortes avkou,ein im Markusevangelium ausgehend von Mk 4,1-34 und kann somit nur für diesen Aussagezusammenhang zu Bedeutungszuschreibungen kommen. Die „dominant intention“ begrenzt somit das Objekt und den daran anschließenden Untersuchungsgegenstand. Deshalb gilt für die nun folgenden Ausführungen, dass sie nicht beanspruchen können, damit die Bedeutung des Markusevangeliums zu erfassen ebenso wenig wie die Bedeutung des Wortes avkou,ein . Mittels der „dominant intention“ muss eine Interpretation jedoch immer offen legen, von welchen Fragen sie ausgeht. Das Konzept der Frage, welches hier als grundlegend angesehen wird, verhilft dazu, eine maximale <?page no="254"?> 242 Explizitheit zu erreichen, die Gewähr für eine plural bestimmte Diskussionssituation bietet. Erst wenn die vorausgesetzten Fragen in einen Diskussionsraum gestellt werden, ist es auch möglich, über die gegebenen Antworten zu diskutieren: 3 Denn „nicht die Korrektheit der Antworten, sondern die Opportunität der Fragen muß einer strengen Kontrolle unterworfen werden, damit die Auslegung eine legitime und nachvollziehbare Lektüre wird“. 4 Bestimmt ist die Kommunikationssituation ebenso von den vorausgesetzten Wissensannahmen und Hypothesenbildungen. Die Sachverhaltskonfiguration, die einen der Kommunikatoren veranlasst, das Vehiculum zu produzieren, ist dasjenige „Etwas“, das die Kommunikation startet und thematisch bestimmt. Die Sachverhaltskonfiguration, die zur Produktion dieses vorliegenden Textvehiculums führt, ist die Klärung der Frage der Bedeutung des Wortes avkou,ein . Nach der Bestimmung der Bedeutung als eine semiotische Größe, geht es nun um die Darlegung dieser semiotischen dreidimensionalen Größe in ihrer syntagmatischen Bestimmung anhand des Wortes avkou,ein im Markusevangelium ausgehend von Mk 4,1-34. Im Rahmen einer syntagmatischen Analyse geht es in der Theorie von Petöfi maßgeblich um das Wissen bezüglich der Konstruktion des Textvehiculums sowie um das Wissen der Konstruktion der Formatio. 3 Der Vorrang der Fragen, von denen eine Wissenschaft ausgeht, wird besonders deutlich an dem Verständnis der Gleichnisse. Alle Gleichnistheorien gehen mit einer ganz bestimmten Fragestellung an die Gleichnisse in der neutestamentlichen Überlieferung heran. Während Jülicher, Gleichnisreden Bd. I, 118 die Gleichnisse als Mittel bestimmt, „um das Wort seines Gottes an und in die Herzen seiner Hörer zu bringen“ und nur die Allegorie, „die nicht verkündigt, sondern verhüllt, die nicht offenbart, sondern verschliesst, die nicht verbindet, sondern trennt, die nicht überredet, sondern zurückweist, diese Redeform konnte der klarste, der gewaltigste, der schlichteste aller Redner für seine Zwecke nicht gebrauchen“ - sein Interesse an den schlichten und genialen Rhetor Jesus ist motiviert von der Frage, was gegen eine allegorische Gleichnisauslegung in Feld geführt werden kann. Demgegenüber geht die metaphernorientierte Gleichnisauslegung von der Frage aus, ob und inwiefern die sprachphilosophische Voraussetzung, dass Wirklichkeit zuallererst durch Sprache konstituiert wird, auch für die religiöse Sprache Anwendung finden kann. Hier kommt es zu einer Rehabilitierung der Metapher, die bei Jülicher noch als uneigentliche Rede disqualifiziert wurde, die nun - in der dichterischen wie religiösen Sprache - nicht einfach die Wirklichkeit abbildet, sondern am Wirklichen bestimmte Wahrheiten zu verstehen gibt. Jesus ist nun nicht mehr ein genialer Rhetor, sondern seine Verkündigung hat nun eine hermeneutische Bedeutung, denn nachösterlich gibt sie die Verständigungsbedingung her für den Glauben an Jesus. Gerade an der Auffassung der Gleichnisse Jesu zeigt sich besonders deutlich, wie hermeneutische und auch methodische Vorentscheidungen das Ergebnis der Exegese präjudizieren können. Hier dient das von Petöfi geforderte Primat der Frage gerade der wissenschaftlichen Plausibilisierung und Luzidität der Ergebnisse. 4 So Pellegrini, Elija, 36. <?page no="255"?> 243 2. Die Bedeutung von avkou,ein in Mk 4,1-34 im Rahmen der semiotischen Textologie Die Frage, die zur Erfassung der Kategorie der Bedeutung im Rahmen der semiotischen Textologie von Petöfi für die syntagmatische Dimension zu stellen ist, lautet: Ist Mk 4,1-34 als verbales Objekt eine zusammenhängende und vollständige Größe, innerhalb dessen dem Wort avkou,ein eine Bedeutung im Rahmen der syntagmatischen Dimension zugeordnet werden kann? D.h. für die Erfassung der Bedeutung muss sich in der Analyse Mk 4,1-34 als ein Objekt erweisen, dem Textualität durch die ihm zuordbare Kontinuität und Vollständigkeit zugeschrieben werden kann. Um diese Kontinuität und die Vollständigkeit im Rahmen der syntagmatischen Dimension zu realisieren, muss Mk 4,1-34 Konnexität zugeschrieben werden. Es muss sich deshalb in der syntagmatischen Analyse zeigen, dass Mk 4,1- 34 ein konnexes verbales Objekt ist. Hinsichtlich der Konnexität muss das Lexem avkou,ein eine tragende Rolle spielen. Die Erfassung der Kategorie der Bedeutung des Wortes avkou,ein im Markusevangelium soll darüber hinaus in einer strukturalen funktionalen Interpretation stattfinden, die vor dem Hintergrund eines dynamischen, kulturell determinierten Verständnisses von Bedeutung als geeignet erscheint, die materialen Aspekte im Zusammenhang mit der Bedeutungsbestimmung von avkou,ein zu erfassen. Um nun die syntagmatische Dimension der Bedeutung von avkou,ein im Markusevangelium darstellen zu können, müssen die Faktoren benannt werden, die für diese syntagmatische Dimension nach Petöfis Theorie zuständig sind. Als erstes ist das Textvehiculum zu nennen, also der zu interpretierende „Text“ als physikalisches Objekt und als zweites die Textformatio, worunter das Wissen um die formale Organisation des mentalen Bildes des Vehiculums verstanden wird. Die physikalisch-semiotische Gestalt von einem Vehiculum bzw. von seinem mentalen Bild ist nichts anderes als die gegebene kursiv gedruckte Wortkette, während der sprachlich-semiotische Aspekt darin besteht, dass diese Wortkette eines beliebigen Satzes im vorliegenden Fall aus griechischen Wörtern gebildet ist. Die „Formatio“ bezeichnet die Gestaltung bzw. die Beschaffenheit des Vehiculums von Mk 4,1-34 bzw. die syntagmatische Struktur. Dabei hängt die kategoriale Beschreibung dieser syntagmatischen Strukturen immer von der verwendeten „Grammatik“ ab. Deshalb ist es sinnvoll, bei der Formatio des Vehiculums bzw. des Vehiculums imago von Mk 4,-34 seine physikalisch-semiotische Gestalt [Figura] von seiner sprachlichsemiotischen bzw. seiner notationellen Gestalt [Notatio] zu unterscheiden. Bei der Formatio geht es also um das Wissen der formalen sprachlichen Organisation des mentalen Bildes des Vehiculums bzw. des Vehiculums imago. <?page no="256"?> 244 Die folgende Bedeutungsanalyse erfolgt auf der Grundlage der Textausgabe des „Novum Testamentum Graece“, 27. Aufl. (= NT Graece). Hinsichtlich der Bestimmung der Figura ist darauf hinzuweisen, dass diese Textausgabe eine vereinheitlichende physikalische Erscheinungsform von Mk 4 bietet und sich signifikant unterscheidet von der Situation einer Bestimmung der Figura, wie sie für in der Antike produzierte Texte gilt. Während die nonverbalen Vertextungsmittel wie Qualität, Format, Farbe, Anordnung des Schreibmaterials, Layout sowie taktile und olfaktorische Elemente in der Textausgabe des NT Graece auf einer reproduzierbaren, drucktechnisch erstellten und einheitlichen Figura gründen, so ist dies für die in der Antike erstellten Handschriften gerade nicht zu veranschlagen. Da der Text handschriftlich erstellt wurde, bot jede einzelne Schrift eine eigene Figura. 5 Bezeichnende Unterschiede zwischen der neuzeitlichen Textausgabe des NT Graece und den ältesten Handschriftenüberlieferungen sind das unterschiedliche Material (Papyrus und Pergament 6 versus Papier), das für eine unterschiedliche taktile und olfaktorische Wahrnehmung sorgt, daneben die unterschiedliche Anordnung des Schreibmaterials. Während es sich bei dem NT Graece um ein gebundenes Buch handelt, sind für die Antike Papyrusrollen üblich oder der sich im Laufe der Zeit durchsetzende Kodex. Die antiken Handschriften variierten untereinander stark in der Qualität, während durch die Textausgabe des NT Graece eine einheitliche Textqualität geboten wird. Doch der größte Unterschied zeigt sich im Layout, dessen wesentliche Funktion es ist es, eine Lesehilfe zu sein. Während die Textausgabe des NT Graece ein mit Absatzmarken und Versen strukturierter Text ist, der Worttrennung, Akzente und Satzzeichen enthält, ist für die ältesten handschriftlichen Zeugnisse festzuhalten, dass sie in scriptio continua geschrieben worden sind. In den antiken Handschriften fehlt häufig eine gelayoutete Gestaltung des Textes. D.h., dass es für antike Texte, die in scriptio continua verfasst worden sind, eine Trennung zwischen visuellen und auralen Aspekten eines Textes nicht gab, welche es uns heutzutage ermöglicht, zwischen gedruckten und gesprochenen Erzeugnissen zu unterscheiden, da sich aufgrund des fehlenden Layouts diese nicht als gedruckte Erzeugnisse bestimmen lassen. Ken Morrison kommt deshalb für die Bestimmung der Texthaftigkeitsbedingungen in der griechisch-römischen Antike zu dem Schluss, dass Texte niemals mehr als „a variant of oral utterance ... due to the lack of procedures for transfor- 5 Henaut, Oral Tradition, 122, betont, dass das Lesen neutestamentlicher Texte auf der Grundlage einer einheitlichen Figura „in a printed critical edition provides a false sense of security“. 6 Für die jüdischen Schriften ist nicht mit einer Vorherrschaft des Papyrus zu rechnen. Die Handschriften aus Qumran beispielsweise sind überwiegend auf Pergament geschrieben. <?page no="257"?> 245 ming writing into text“ 7 sind. Sofern Punktationen bei antiken Handschriften anzutreffen sind, haben sie nicht die Funktion einer syntaktischen Erfassung der Oberflächenstruktur, sondern dienen der Prosodik. 8 Die Gestaltung eines Layouts ist deshalb immer auch schon eine Bedeutungsinterpretation, auf die die LeserInnen von antiken Handschriften nicht zurückgreifen konnten. D.h. mit Blick auf die nonverbalen Vertextungsmittel sind die antiken Texte uneinheitlicher, was Qualität, Format, Farbe und Anordnung des Textmaterials angeht, aber auch hinsichtlich des fehlenden Layouts „neutraler“. Es kommt beim Lesen der antiken Handschriften sehr viel stärker auf die Einbeziehung des Wissens der RezipientInnen an. Demgegenüber bietet die Ausgabe des NT Graece eine vereinheitlichende Form von Qualität, Format, Farbe und Anordnung des Textmaterials, die einen scheinbar neutralen Text evoziert, doch aufgrund der Gestaltung des Layouts immer schon eine Bedeutungsinterpretation vorlegt, die nur den gegenwärtigen InterpretInnen von Mk 4 zugänglich ist. Diese Unterschiede bei der physikalischen Erscheinungsform von Mk 4 sind zu berücksichtigen und werden in der pragmatischen Bedeutungsanalyse relevant werden, wo - ausgehend von Ecos Bedeutungstheorie - nach den Kompetenzen des Modell-Lesers von Mk 4 gefragt werden wird. Dieser Modell-Leser muss den Kodes der Antike folgen und kann nicht auf die Figura der Ausgabe des NT Graece zurückgreifen. Bei der Formatio hinsichtlich der Notatio geht es um die graphische und prosodische, syntaktische und formale poetische/ rhetorische Konstitution des Textvehiculums von Mk 4. Erfasst wird die Prosodik von Mk 4 sowie die syntaktische und rhetorische Konstitution, wobei die Rolle von avkou,ein besondere Aufmerksamkeit erfährt. Diese Faktoren sind nach dem Textzeichenmodell von Petöfi für die syntagmatische Organisation entscheidend verantwortlich und bestimmen den Bedeutungsaufbau von avkou,ein . 3. Das Textvehiculum Der Textbestand des Neuen Testaments wird durch die Standard- Quellenausgabe des NT Graece in der 27. Aufl. erschlossen. Zur Arbeit mit diesem Werk ist anzumerken, dass dort keine Primärvehicula aufgeführt sind, sondern Sekundärvehicula. Der Text des ursprünglichen Markusevangeliums liegt nicht vor, sondern ausschließlich Abschriften dieses Textes. Das heißt, dass wir es hier mit einer speziellen Kommunikationssituation 7 Morrison, Text, 244. bes. auch 258.263, wo Morrison den Einfluss des Layouts auf die Bestimmung, was als Text gelten kann, darlegt. 8 Vgl. Small, Wax Tablets, 20: „In antiquity prosody was emphasized, while the syntactical uses of punctation did not appear until the Middle Ages”. <?page no="258"?> 246 zu tun haben, in der Abschriften dieses Primärvehiculums vorhanden sind. Da das NT Graece einen Text bietet, der einen Mischtext auf der Grundlage textkritischer Entscheidungen darbietet, der der ursprünglichen Lesart möglichst nahe kommen möchte, kann gesagt werden, dass das NT Graece eine Manifestation auf der Grundlage von Sekundärvehicula in seinem Fließtext darstellt, die nach dem Maßstab textkritisch erschlossen werden, welche dem ursprünglich angenommenen Primärvehiculum am nächsten kommen. Dass der Apparat vom NT Graece eine so große Anzahl verschiedener Lesarten der linearen Manifestation des Neuen Testaments anführen kann, zeugt von der intensiven Rezeptionsgeschichte der verwendeten Sekundärvehicula. Wenn die moderne Textkritik des NT mit der Feststellung beginnt, dass die Variantenvielfalt der Textzeugen kein Manko sei, sondern im Gegenteil die Chance zu eigener textkritischer Erörterung bietet, dann erhält diese Feststellung in der semiotischen Textologie von Petöfi ihren theoretisch unhintergehbaren Ort. Die textologische Bedeutungstheorie von Petöfi verabschiedet sich gerade nicht von dem philologischen Erbe, 9 sondern schafft einen Rahmen, in dem das philologische Erbe mit dem textologischen Ansatz in Einklang gebracht wird. Im Gegensatz zu der modernen Textkritik deutscher Provenienz, die von der Überzeugung getragen ist, dass sich aufgrund der reichen Handschriftenüberlieferung, mit den vielen differierenden Lesarten, an eine ursprüngliche Version des Markusevangeliums angenähert werden kann, 10 motiviert Petöfis Theorie zu einer anderen Sichtweise: ExegetInnen nehmen die Rolle des „Interpreter Mediator“ ein, der eine zweite Manifestation eines bestimmten (Sekundär-)Vehiculums 9 Diese Tendenz scheint sich zumindest bei Fowler, Let the Reader, 2, auszudrücken, wenn er festhält: „For me the history of the reception of the canonical Gospels is far more interesting and important than philological-historical criticism’s professes interest in the history of the production of the Gospels [...] For me the more interesting and definitely more fruitful activity is reconsidering the relationship of the Gospels as a matter of reading experience“. Hier kann die semiotische Textologie von Petöfi geradezu als ein Gegenentwurf zu Fowlers Standpunkt gelesen werden, da das Problem der Textverarbeitung in theoretischer Explizitheit nicht durch ein persönliches Interesse gelöst werden kann, sondern es geht Petöfi maßgeblich darum, die Nachvollziehbarkeit dieses Leseprozesses aufzuzeigen. 10 Vgl. Reinmuth, Hermeneutik, 45, der die Aufgabe der neutestamentlichen Textkritik in klassischer Weise formuliert: „Die neutestamentliche Textkritik versucht, ausgehend von den vorhandenen Handschriften, und angesichts der Tatsache, dass der ursprüngliche Text des Neuen Testaments nicht mehr erhalten ist, eine diesem möglichst nahe kommende Textform zu rekonstruieren“. Dabei weist Reinmuth auf den für die neutestamentliche Textkritik wichtigen Umstand hin, dass in den kritischen Ausgaben zum Neuen Testament kein „Urtext“ enthalten ist, sondern dass es sich um einen „künstlichen, erschlossenen Text, dem keine der erhaltenen Handschriften gleicht“, handelt. <?page no="259"?> 247 erstellt, welches zwischen den angenommenen ProduzentInnen und den gegenwärtigen LeserInnen vermittelt. Als solche „Interpreter Mediator“ perzipieren ExegetInnen das Vehiculum überwiegend visuell, so dass sie das Vehiculum monomedial betrachten. Auf der Grundlage der Ausführungen von Petöfi ist jedoch zu beachten, dass eine multimediale Perzeption des Vehiculums nicht nur möglich ist, sondern für die antiken Handschriften vorausgesetzt werden darf. Diese ist für antike Texte grundlegend, denn in der Antike werden Texte nicht nur visuell perzipiert, sondern auch akustisch. 11 Dies ist vor allem dem schon erwähnten Umstand zu verdanken, dass die antiken Handschriften in scriptio continua geschrieben wurden. Das fehlende Layout sorgte dafür, dass die Operationen mit dem perzipierten Textvehiculum umfassender ausfallen mussten und über eine monomediale Perzeption hinausgingen. „Because all the letters were run together, the major problem every reader faced was figuring out what was a word”. 12 Hierbei spielten aurale Komponenten eine wesentliche Verstehenshilfe. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es sich bei dem manifestierten Text des NT Graece 27. Aufl. um die Manifestation auf der Grundlage von Sekundärvehicula handelt. Für die folgende Bestimmung der Formatio ist zu berücksichtigen, dass alle Aussagen über die Formatio nur auf der Grundlage der vorhandenen Manifestation des Vehiculums geschehen. Es kann also nicht die „ursprüngliche“ Formatio bestimmt werden. Entscheidend für den weiteren Aufbau der Bedeutung ist damit das jeweils perzipierte Sekundärvehiculum. Hinsichtlich der Perzeption des Vehiculums sind transkulturelle Unterschiede zu beachten. Die perzeptiven Operationen mit den Vehiculum-Typen (hier: Handschrift versus Druckzeugnis) sind soziokulturell unterschiedlich hinsichtlich eines in der Antike verorteten Vehiculums und eines in der heutigen Zeit perzipierten antiken Vehiculums. Während in der Gegenwart gelesene antike Texte überwiegend monomedial perzipiert werden, so ist für die Antike eine multimediale Perzeption vorauszusetzen. 4. Die Bestimmung der Formatio von Mk 4,1-34 Während es sich bei dem Vehiculum von Mk 4,1-34 um die physikalischsemiotische Manifestation handelt, wird bei der Bestimmung der Formatio von Mk 4,1-34 die „architektonische“ Organisation, die dem Vehiculum zugeordnet wird, bestimmt. Wie unter Punkt 3 erläutert, wird im Folgenden die Formatio hinsichtlich ihrer Notatio erfasst werden. Es geht also um die sprachliche Beschaffenheit der architektonischen Organisation von Mk 11 Vgl. Müller, Verstehen, 18ff. 12 Small, Wax Tablets, 24. <?page no="260"?> 248 4,1-34. Im Rahmen der Bestimmung der sprachlichen Beschaffenheit von Mk 4,1-34 geht es um die Darstellung der Textur und die Darstellung der Komposition. Das leitende Interesse bei der syntagmatischen Bestimmung der Bedeutung im Gefolge der Theorie von Petöfi ist die Darlegung einer theoretischen strukturalen Interpretation. Es sollen in theoriegeleiteter Form spezielle Aspekte der textuellen Signifikation dargelegt werden. Es wird nicht reflektiert über das Zustandekommen dieser Signifikation, sondern es geht einzig um die deskriptive Darlegung der Formatio. Hierbei handelt es sich um formale semiotische Eigenschaften, die intersubjektiv eindeutig feststellbar sind, aber immer abhängig sind von dem Wissen der InterpretInnen um diese formalen Eigenschaften. D.h. um die formalen Eigenschaften zu explizieren, müssen InterpretInnen auf Wissensmodelle zurückgreifen, wie z.B. grammatische Kategorien, so dass die Analyse je nach verwendetem Grammatikmodell unterschiedlich ausfallen kann. Petöfis Bedeutungstheorie hält fest, dass jede syntagmatische Erfassung der Bedeutung eines Zeichens auf ein deskriptives Analyseverfahren angewiesen ist, welches intersubjektiv verbindlich eingesetzt wird. Dabei gibt das Bedeutungsmodell von Petöfi kein Analyseverfahren vor, sondern fordert nur, dass für die Bestimmung der Formatio ein benennbares Analyseverfahren aufgewendet werden muss. Im Folgenden wird eine rhetorische und syntaktische Beschreibung als ein Analyseverfahren der Formatio von Mk 4,1-34 geboten. In einer rhetorischen Deskription wird ein Analyseverfahren für Texte gesehen, das selbstverständlich von der zugrunde gelegten „rhetorischen Grammatik“ abhängig ist. Als ein solches Analyseverfahren soll die rhetorische Deskription nach dem Entwurf von Lausberg 13 verwendet werden, 14 um die Formatio von Mk 4,1-34 näher zu bestimmen und die Frage zu klären, ob es sich um einen konnexen Text handelt. Die Lausbergsche Rhetorik ist nur als ein intersubjektiv zugängliches Analyseverfahren zu verstehen und dient einzig dazu, als ein verbindliches Regelsystem zu fungieren, mit dessen Hilfe deutlich gemacht werden kann, warum es möglich ist, dem Perzept des Textes Mk 4,1-34 diejenige Formatio zuzuordnen, die ihm von den jeweiligen InterpretInnen zugeordnet wird. 15 Dies gilt unter der Anerkenntnis, dass es sich bei Lausbergs Rhetorik um eine „weithin künstliche Nomenklatur“ handelt, die „den biblischen Autoren in der Regel nicht nur unbekannt, sondern völlig fremd war“. 16 Als ein Analyseverfahren kann 13 Vgl. Lausberg, Handbuch. 14 Hinsichtlich der rhetorischen Analyse geht darum, ein möglichst geschlossenes Beschreibungssystem für die Formatio von Mk 4,1-34 zu verwenden. Es werden keine Überlegungen angestellt, inwiefern für den Verfasser oder die Verfasserin des Markusevangeliums eine antike Rhetorikausbildung postuliert werden kann. 15 Die Formatio muss immer einem Regelsystem genügen. Vgl. Petöfi, Aspekte der Textinterpretation, 153. 16 Hengel, Aufgaben, 354. <?page no="261"?> 249 die Rhetorik von Lausberg im Rahmen der Formatio nur Verwendung finden, weil sie ein verbindliches Regelsystem für die Darstellung der Formatio enthält, die die durch die InterpretInnen geleistete Bedeutungszuschreibung im Akt der Rezeption deskriptiv darstellbar macht. Die Bewertbarkeit und Einsetzbarkeit der Lausbergschen Rhetorik liegt demnach auf der Ebene, ob Lausberg ein Analyseverfahren bietet, mit welchem die Formatio näher bestimmt werden kann. In Mk 4,1 und 4,2 wird das Diskursuniversum des Textes eröffnet. Diese Verse führen in die vom Text gesetzte Welt ein, welche sich bestimmt zeigt durch eine dida, skein -Situation, die mittels Polyptoton 17 und Paronymie ausgeführt wird ( dida, skein ... evdi,dasken ... didach/ ). Verbunden sind die einzelnen Satzteile durch eine Anapher (V. 1: kai. pa,lin ... kai. suna,getai ... kai. pa/ j ... V. 2: kai. evdi,dasken … kai. e; legen ). Zwei Subjekte bestimmen V. 1: Ein Subjekt, das lehrt, das im Boot sitzt und das spricht. Das andere Subjekt wird explizit genannt: pa/ j o` o; cloj , dieses Subjekt versammelt sich (in Richtung auf das Meer auf der Erde). Rhetorisch akzentuiert ist die Gegenüberstellung der beiden Akteure in V. 1 durch den Gebrauch des Präsens historicum, „das in lebhaft vergegenwärtigender Erzählung den Indik. Aor. ersetzen kann“. 18 In Mk 4,2 ist die Menge nicht als Subjekt aufgeführt, sondern es wird sich auf das lehrende und sprechende Subjekt, das jedoch nicht namentlich erwähnt wird, konzentriert. Unter Einbeziehung des mit pa,lin gegebenen Rückbezugs kann eine weitere Lehrsituation in Mk 2,13 erschlossen werden, die Jesus zuzuordnen ist. Hier sei noch einmal betont, dass die Frage nach dem Diskursuniversum, das der Text setzt und auch voraussetzt, nach einer Lesehaltung verlangt, die dem Text in seiner vorfindlichen (sprachlichen) Gestalt den Vorrang einräumt. Die Aussage, dass Jesus das Subjekt der Lehrsituation ist, kann nicht mehr aufgrund des Diskursuniversums von Mk 4,1-34 gewonnen werden. Hierzu muss das Diskursuniversum auf das Markusevangelium hin ausgeweitet werden. Wenn im Folgenden mit Jesus als dem agierenden Subjekt argumentiert wird, ist dieses sprachliche Wissen um das Subjekt der Lehrsituation aus dem konkreten gegebenen Zeichenzusammenhang des Markusevangeliums gewonnen. In Mk 4,3 folgt eine doppelte Aufforderung zur Aufmerksamkeit durch die Imperative avkou,ete und ivdou, . Beide Aufmerksamkeitsanzeiger weisen voraus auf das Polyptoton avkou,ein avkoue,tw in Mk 4,9. Diese Lexeme geben dem Text eine starke Anredestruktur und formen eine Inklusion. 19 17 Um die Formatio zu erfassen, wird hier mit dem rhetorischen Vokabular von Lausberg, Handbuch, gearbeitet, auf dessen Grundlage die rhetorischen Elemente des Textes erfasst werden sollen. Hier soll noch einmal betont werden, dass die Anwendung dieser Klassifikation von Lausberg es erlaubt, die Formatio deskriptiv in intersubjektiv nachvollziehbarer Weise zu explizieren. 18 Blass/ Debrunner, Grammatik, §321. 19 Vgl. Marcus, Mystery, 20. <?page no="262"?> 250 Auf die beiden Aufmerksamkeitssignale von Mk 4,3a folgt der narrative Auftakt einer Erzählung. Eingeleitet wird die Erzählung durch die Paronymie o` spei,rwn spei/ rai , aber ohne nähere Bestimmung, was gesät wird. Die Worte evxh/ lqen o` spei,rwn spei/ rai können als eine knappe Exposition zu dem daran anschließenden Hauptteil aufgefasst werden. In dieser Exposition wird die Handlung des Säens in Mk 4,4a herausgestellt. Der Hauptteil 4,4b-8 berichtet dann, wie die von einer durch o` spei,rwn ausgestreuten „Saat“, bedingt durch unterschiedliche Bodentypen, ein unterschiedliches Geschick ereilt. Dabei ist zu beachten, dass das Wort spe,rma 20 in dem gesamten Hauptteil niemals explizit genannt, aber syntaktisch vorausgesetzt wird, besonders betont durch das Polyptoton a; llo (V. 5a) ... a; llo (V. 7a) ... a; lla (V. 8a), wie die folgende Ausdifferenzierung gleich zeigt. Das Geschick ist vierfach differenziert dargestellt, doch alle vier unterschiedlichen Geschicke werden mit einer ähnlichen Formulierung eingeleitet: V. 4b: o] me,n V. 5a: kai. a; llo V. 7a: kai. a; llo V. 8a: kai. a; lla . Diese vierteilige Reihung „tells not one story but four, stopping after each seed has been described to go back to the beginning of the next seed”. 21 Dies zeigt sich in der inhaltlichen Ausdifferenzierung der Reihung. Auf die ersten drei Einleitungen folgen negative Szenen, wobei die Ausgestaltung dieser negativen Szenen zwar variiert, aber einen dreigliedrigen redundanten Kern hat, der eine einheitliche syntaktische Struktur aufweist: Auf die Mitteilung, dass o] me,n (V. 4b), kai. a; llo (V. 5a), kai. a; llo (V. 7a) auf eine bestimmte Ortslage ( para. th.n o`do,n [V. 4b], evpi. to. petrw/ dej [V. 5a], eivj ta.j avka,nqaj [V. 7a]) fiel, folgt immer das Auftreten der „Opponenten“, die das Geschick der Saat zum Negativen wenden: ta. peteina, (V. 4c); o` h[lioj (V. 6a), ai` a; kanqai (V. 7b). An dritter Stelle steht die Zerstörung der Saat durch: kate,fagen (V. 4d), evkaumati,sqh (V. 6a) sowie evxhra,nqh (V. 6b), sune,pnixan (V. 7c). Diesem in sich dreifach 22 ausgestalteten negativen Ergebnis (Ortslage - Auftreten der Opponenten - Zerstörung der Saat) des Geschicks der Saat steht das mit kai. a; lla (Mk 4, 8a) eingeleitete positive Geschick der Saat gegenüber. Die Struktur der Darstellung des positiven Resultats wird folgendermaßen dargeboten: Von dieser mit kai. a; lla eingeleiteten Gruppe wird ebenfalls berichtet, wo sie hinfällt ( eivj th.n gh/ n th.n kalh,n ), jedoch mit 20 Aufgrund der neutrischen Form kann es sich hierbei nur um spe,rma , nicht um spo,roj handeln, welches hier zu ergänzen ist. Dennoch gilt zu beachten, dass im Diskursuniversum des Markusevangeliums auch dem maskulinen spo,roj Plausibilität zugeschrieben werden kann. Vgl. z.B. Mk 4,26.27. 21 Marcus, Mystery, 21. 22 Zu den triadischen Wortwiederholungen im Markusevangelium vgl. Lüderitz, Rhetorik, 186-188. <?page no="263"?> 251 dem Unterschied innerhalb der Satzstruktur, dass die Stelle des Opponenten wegfällt. Stattdessen wird sofort das positive Resultat des Fruchtbringens thematisiert, welches in seinem positiven Ergebnis dreifach ausdifferenziert wird 23 und eine klimaktische Zahlenfolge aufweist. 24 Auch Mack betont die Dreizahl: „The rule of three pertains throughout. There are three main episodes. These are countered by the threefold yield in the contrastive episode. Each line also is triadically composed, the first unit describing the fall, the second the entrance of an agent, and the third reserved for the action”. 25 Eine klimaktische Steigerung findet sich zudem auch im progressiv entfalteten Misserfolg: „The parable achieves a dramatic effect, not by simply listening the three failures in contrast to the one great harvest but by depicting a progression in the growth of the seed.” 26 Mk 4,3b-8 lässt sich in der narrativen Grundstruktur folgendermaßen beschreiben: (a) jemand (b) sät (c) wohin. Wobei der Ort - also das Wohin - im narrativen Verlauf binär strukturiert 27 ist: Es gibt Orte, bei denen das Aussäen zu einem positiven Ergebnis führt, und Orte, bei denen die Aussaat zu einem negativen Resultat führt bzw. ergebnislos ist. 28 D.h. es gibt geeignete Orte ( eivj th.n gh/ n th.n kalh,n [V. 8a]) und ungeeignete Orte ( para. th.n o`do,n [V. 4b], evpi. to. petrw/ dej [V. 5a], eivj ta.j avka,nqaj [V. 7a]). Wobei die ungeeigneten Orte alle durch das Auftreten eines Opponenten gekennzeichnet sind. Unter Berücksichtigung der Stilregel des „Achtergewichts“ wird das Ende der Erzählung betont. 29 Diese Betonung unterstreicht in ihrer ausgestalteten Dreizahl die erhoffte Wirkung des Gesäten. 30 Dabei ist die Wirkung des Gesäten von der Eignung des Ortes abhängig. 23 Wenn Mell, Zeit, 47, festhält, dass „der Schlußteil in seinen mit Teil 1-3 (Teil 1= 4,4bd; Teil 2= 4,5f. und Teil 3= 7a-d; Anm. K.D.) übereinstimmenden Gliedern eine genaue positive Entsprechung“ bietet, übersieht er die in der Formatio herausgestellte Besonderheit, dass eben gerade kein „Helfer“ narrativ eingeführt wird, der das positive Pendant zu den „Opponenten“ wäre. 24 Vgl. Harnisch, Gleichniserzählungen, 38f. 25 Mack, Myth, 153. 26 Donahue, Gospel, 34. 27 Diese binäre Strukturierung wird bei Blomberg, Gleichnisse, 199, schön visualisiert. 28 Gegen Blomberg, Gleichnisse, 199, der zwar festhält, dass „die drei unfruchtbaren Bodensorten [...] einer fruchtbaren Bodensorte gegenübergestellt“ werden, aber in der Person des Sämanns die die binäre Struktur vereinigende Person sieht. Es ist nicht die Figur des Sämanns, sondern die Aktion des Säens, die hier zentral ist. 29 Vgl. dazu Olrik, Gesetze, 64f. Auch Mell, Zeit, 47, sieht den Akzent auf dem Schlussteil der Erzählung gelegt: „Formal will die Aufgliederung des Saaterfolges in einem dreifachen Ertrag [...] den dreifach geschilderten Mißerfolg des Mittelteiles abschließend überwinden“. 30 Hier geht es also um die Effektivität, die aufgrund der Qualität des Ortes gegeben wird. Dies verkennt Weder, Gleichnisse, 109, wenn er festhält, „wo immer Samen ausgesät werden, da ist gewiß, daß sie Frucht bringen. Denn der größte Teil fällt ja auf gute Erde und hat Erfolg“. Es geht gerade nicht um eine quantifizierende Be- <?page no="264"?> 252 Zu den verwendeten Zeiten ist zu bemerken, dass die Aussaat aoristisch abgeschlossen erzählt wird, einzig V. 8 beginnt zwar hinsichtlich der Aussaat mit einem Aorist, aber der Vollzug des Erfolges wird imperfektisch unabgeschlossen beschrieben. Aus dieser Bestimmung der Formatio darf geschlossen werden, dass im Mittelpunkt der Erzählung das Geschick der Saat steht, deren Ergehen von den unterschiedlichen Bodentypen abhängig ist. 31 Saat und Boden sind somit als die die Handlung vorantreibenden Akteure auszumachen. Es geht nicht um den Säenden, so dass gesagt werden kann, dass „the common designation of it as the parable of ‚the Sower’ is least apt, for the sower is simply mentioned and does not appear as a dramatic character; he neither rejoices in the bountiful yield nor orders it to be harvested“. 32 Die Verse 3a und 9b unterstreichen mit ihrer Betonung des Hörens die Wahrnehmungszentrierung, die es weitergehend zu beachten gilt. Ob diese Wahrnehmungszentrierung „diese Rede als besondere Aufmerksamkeit erheischend“ 33 klassifiziert oder ob die Wahrnehmungszentrierung nicht doch in einen engeren Zusammenhang mit der Rede, die sich nun in dem markinischen Text manifestiert hat, zu stellen ist, wird sich erst in der folgenden Bestimmung der Bedeutung von avkou,ein zeigen. Für die syntagmatische Bestimmung der Bedeutung von av kou, ein gilt es festzuhalten, dass es zu einer Wahrnehmungszentrierung innerhalb einer textuell sich manifestierenden direkten Rede Jesu kommt, die die erste größere Rede von Jesus im narrativen Verlauf des Markusevangeliums darstellt. Vor V. 9b steht eine wiederholte Redeeinführung kai. e; legen (4,9a), die auf der Ebene der Erzählzeit gemacht wird. Diese Anredestruktur unterstreicht nochmals eine wahrnehmungszentrierte Sichtweise dessen, was erzählt wird. Mk 4,10 schließt durch ein anaphorisches kai, an Mk 4,1-9 an, allerdings konstituiert sich narrativ eine neue Gruppe oi` peri. auvto.n su.n toi/ j dw,deka (V. 10b, vgl. Mk 4,1). Durch die Bestimmung peri. auvto,n erweist sich diese Gruppe eng mit dem Hauptakteur verbunden, der die Lehrsituation in V. 1f. eröffnet. Bestimmt ist das nun folgende Textsegment rhetorisch durch die vielen Polyptota, von denen die meisten an Worte aus Mk 4,1-9 anknüpfen: evge,neto ... gi,netai (Mk 4,10a.11c) knüpft an Mk 4,4a an. Das Polyptrachtung des Gesäten, sondern um eine qualifizierende im Zusammenhang mit dem Ort. 31 So auch Weder, Gleichnisse, 109; Eckey, Markusevangelium, 136. Gegen Pesch, Mk I, 234; Tolbert, Sowing the Gospel, 127ff. Dies zeigt sich einerseits besonders deutlich an der Wendung „und es geschah beim Säen“, die den Vorgang des Säens und nicht den Sämann betont. Zugleich ist vor dem Hintergrund der sog. Gleichnisdeutung festzuhalten, dass in Mk 4,14 genau diese Betonung auf das Geschick des Gesäten sich wieder findet. 32 Donahue, Gospel, 33. 33 Jülicher, Gleichnisreden II, 515. <?page no="265"?> 253 toton parabola,j ... parabolai/ j ... parabolh,n ... parabolai/ j (V. 10.b.11c.13b.13c) nimmt parabolai/ j aus Mk 4,2 wieder auf, das auvto,n (zwei Mal in V. 10b) ... auvtoi/ j (V. 11a) ... auvtoi/ j (V. 12f.) ... auvtoi/ j (V. 13a) weist zurück auf 4,2b. Ebenso ist das Polyptoton avkou,ontej avkou,wsin (Mk 4,12c) zu beachten, mit dem Mk 4,3a sowie 4,9b zu vergleichen ist; des Weiteren noch: e; legen und le,gei (Mk 4,11a.13a), welches mit Mk 4,9a zu vergleichen ist. Darüber hinaus finden sich auch noch folgende Polyptota ohne Anknüpfung an Mk 4,1-9 ble,pontej ble,pwsin (V. 12a) sowie pa,nta (V. 11c) und pa,saj (V. 13c). Im Gegensatz zu dem vorherigen Textsegment, in dem die wahrnehmungszentrierte Auffassung rahmend um das Textsegment 4,4-8 gespannt war, steht in Mk 4,10-13 die wahrnehmungszentrierte Perspektive im Mittelpunkt, in der wieder das Wort avkou,ein vorkommt. Jedoch wird diese Wahrnehmungsperspektive hier vertieft durch die syntagmatische Struktur mit mh. suniw/ sin , welche über die Wahrnehmung hinaus auf ein Verstehensphänomen verweist. Diese Erweiterung der Wahrnehmungsebene hin zu einer Verstehensebene wird auch in der Syntagmatik von V. 12a vollzogen durch ble,pontej ble,pwsin kai. mh. i; dwsin . Mk 4,13c mit parabola,j nimmt auf V. 11c Bezug. V. 13b nimmt eine vermittelnde Funktion ein. Einerseits weist parabolh.n tau,thn zurück auf das bisher Erzählte, andererseits weist es voraus auf das nun Folgende, nämlich Mk 4,14-20. Es lässt sich zudem eine chiastische Struktur dieses Segmentes erkennen: Zentral steht V. 12; ihn rahmen V. 10f. und V. 13 durch den wiederholten Gebrauch des Lexems parabolh, ein. Ausgehend von dieser chiastischen Struktur lässt sich auch für Mk 4,13 wiederum eine chiastische Struktur aufweisen. „Après une première résponse qui relait la parabole de la semence au ‚mystère du Règne de Dieu’ (v. 11-12), une deuxième résponse à la question du v. 10 commence au v. 13.” 34 Das Pronomen aus V. 13 bezieht sich auf die narrativ eingeführte Personengruppe aus V. 10. Für V. 13 lässt sich folgende syntagmatische Bedeutungsstruktur „d’une double interrogation construite en chiasme“ 35 aufzeigen: Die Teile A ouvk oi; date und A’ gnw,sesqe . Die Teile B th.n parabolh,n und B’ ta.j parabola,j . Die Teile tau,thn C und C’ kai. pw/ j pa,saj . Die drei Sätze in V. 12 zeigen dieselbe Struktur, obwohl V. 12a und V. 12b eine größere Übereinstimmung zeigen. Eingeleitet durch eine Konjunktion folgt ein Partizip Präsens (nom. pl. masc.), darauf dasselbe Verb im Konjunktiv (3 pl.), die Formulierung kai. mh, und ein damit verbundenes Verb im Konjunktiv Aorist (3 pl.). In Mk 4,12c findet sich kein Partizip und die negative Partikel mh, fehlt vor dem kai, , jedoch wird V. 12c eingeleitet durch mh,pote . Versuche, mh,pote aus V. 12c nicht final zu übersetzen, sind von der 34 Focant, Marc, 170. 35 Focant, Marc, 170. <?page no="266"?> 254 Formatio her nicht motivierbar. 36 Die Entscheidung, mh,pote an dieser Stelle abgeschwächt als Einführung einer Vermutung zu verwenden, also dubitativ im Sinne von „ob vielleicht“, greift auf außertextuelle Wissensbestände der InterpretInnen zurück, ist aber aufgrund der syntagmatischen Basis an dieser Stelle nicht nötig. Auffällig ist das in Mk 4,11 verwendete Perfekt ( de,dotai ). Das Perfekt ist eine Aktionsart, die betont, dass ein in der Vergangenheit geschehenes Ereignis bis in die Gegenwart hinein andauert und relevant ist. Die Aktionsart des Perfekts bezieht sich auf einen gegebenen faktischen Zustand. Der faktische Zustand des Gegebenseins bezieht sich auf musth,rion th/ j basilei,aj tou/ qeou/ . Einzig in Mk 4,13 wird das präsentische le, gei gegenüber dem sonst präterialen e; legen in Mk 4,1-34 verwendet. Das präsentische le,gei wird in dem Segment aufgeführt, das die einzige konkrete Weisung des Abschnitts Mk 4,1-34 enthält, nämlich die nach dem Verstehen der parabola,j . Insgesamt kann für Mk 4,10-13 festgehalten werden, dass auch hier Wahrnehmungsprozesse im Mittelpunkt stehen, die nun aber explizit erweitert werden um Wahrnehmungs- und Verstehensprozesse. Die sinnliche Wahrnehmung ist in V. 12 dementsprechend nicht als paradox zu verstehen; es geht nicht um eine Gleichsetzung von Sehen mit Nicht-Sehen und von Hören mit Nicht-Hören. Stattdessen weisen die Partizipien ble,pontej und avkou,ontej auf die Qualität der Wahrnehmung. Mk 4,14 setzt unmittelbar mit der wiederholten Nennung von spei,rwn ein (vgl. V. 3b). Auch der Vorgang des Säens wird - diesmal präsentisch - wieder eingeführt. Rhetorisch wird also die Paronymie aus Mk 4,4 aufgenommen. Im Gegensatz zu Mk 4,3, wo nur die Struktur, „jemand sät wohin“, realisiert wird ohne explizite Nennung dessen, was gesät wird, wird in V. 14 dieses „Etwas“ explizit genannt ( to.n lo,gon ). D.h., dass die Paronymie durch to.n lo,gon erweitert wird, welches sich als zentrales Lexem im gesamten Komplex von Mk 4,14-20 finden lässt (V. 14.15.16.17.18.19.20). Grundsätzlich ist festzuhalten, dass o` lo,goj unspezifiziert bleibt. Er wird narrativ eingeführt ohne weitere Erklärung. Die „Wichtigkeit“ des lo,goj ergibt sich aus der narrativen Struktur in Mk 4,14-20: Der lo,goj ist Etwas, das gesät wird, an dessen Gesätsein sich hinsichtlich der unterschiedlichen Arten des Hörens verschiedene Typen von Hörern des lo,goj ausmachen lassen, wobei nur eine Gruppe von Hörern positiv bewertet wird. In das Textsegment 4,14-20 ist ein das gesamte Textsegment durchziehendes Polyptoton aus der aus V. 4 aufgenommenen Paronymie rhetorisch aufgenommen ( spei,retai [V. 15b], evsparme,non [V. 15e], speiro,menoi [V. 16a], speiro,menoi [V. 18a], spare,ntej [V. 20a]). Das nun zu entfaltende Geschehen hat die szenische Struktur von Mk 4,4-8 und bietet, ebenso wie Mk 4,4-8, eine viergliedrige Darlegung des Geschicks des gesäten Wortes. Statt aber 36 Gegen Lührmann, Markusevangelium, 87; Eckey, Markusevangelium, 133. <?page no="267"?> 255 wieder eine Rahmung durch das Lexem avkou,ein zu bieten (Mk 4,3.9), wird das Lexem nun in signifikanter Weise in die Struktur von Mk 4,14-20 eingebaut. Ausgehend von einem Saatvorgang auf die bekannten vier unterschiedlichen Böden (4,15 = para. th.n o`do,n ; 4,16 = evpi. ta. petrw,dh ; 4,18 = eivj ta.j avka,nqaj ; 4,20 = evpi. th.n gh/ n th.n kalh.n ) werden nun diese vier differierenden Saatorte mit dem Hören in Beziehung gesetzt (Mk 4,15c.16b.18b.20b), was zu einem unterschiedlichen Ergehen des lo,goj hinsichtlich des Hörens führt. Jede Szene aus Mk 4,3-8 wird dahingehend interpretiert, wie - unter den jeweils variierenden Bedingungen - der lo,goj gehört werden kann (vgl. V. 3 mit V. 14; V. 5f. mit V. 16f; V. 7 mit V. 18f.; V. 8 mit V. 20). Jeder Hörertyp wird durch ein Pronomen (pl. masc.) eingeführt. Das den vierten Hörertyp einführende Demonstrativpronomen setzt sich gegenüber den anderen ab: evkei/ noi (V. 20). Allen Demonstrativpronomen folgt eivsin oi` , eine Präposition und daran anschließend die Nennung des Saatortes, darauf eine Form des Verbs spei,rein sowie eine Form des Verbs avkou,ein , an welches das Nomen lo,goj anschließt: „Chacun des quatre petits récits comporte toujours trois éléments: il ya d’abord le rappel du type de sol, puis la description de l’audition de la parole et enfin son résultat”. 37 Die Figur des Polyptoton wirkt hier prägend ( avkou,swsin … avkou,santej … avkou,ousin in V. 15c.16b.18b.20b), wobei jedoch zu beachten ist: „Not every aspect of the original story is assigned a meaning only those which relate to ‚hear’, ‚the seed’, and the conditions which permit or preclude fruitfulness”. 38 Es geht um die Relation von der Aktion des Hörens mit der Aktion des Säens, diese Relation wird relevant hinsichtlich des Ergehens des lo,goj . Dieses Ergehen ist unter der Aufnahme der aus Mk 4,3-8 bekannten vierfach differenzierten Saatorte ebenfalls vierfach differenziert dargestellt. Während aber in Mk 4,3-8 „the similarity among the soils end after the description of the seed falling and of the place where it fell, whereas in the interpretation it extends until the yield of each soil is described“. 39 Erzähltheoretisch kann also gesagt werden, dass Mk 4,3-8 die erzählte Welt und Mk 4,14-20 die besprochene Welt darstellt. 40 So wird Mk 4,3-8 präsentiert als eine Erzählung in einer Erzählung, wogegen Mk 4,14-20 eine erzählte Diskussion innerhalb einer Erzählung darstellt. In der besprochenen Welt werden die narrativen Elemente von Mk 4,3-8 in ihrer szenischen Struktur übernommen, aber ausdifferenziert auf verschiedene Hörertypen, die entsprechend den vier verschiedenen Saatorten auf der Grundlage einer binären Struktur vierfach differenziert sind (= Boden, der Frucht bringt, versus Boden, der keine Frucht bringt, wird nun überführt in eine binäre Struktur von Hörertypen). Entsprechend den unterschiedlichen 37 Focant, Marc, 171. Vgl. auch Tolbert, Sowing the Gospel, 153. 38 Vorster, Meaning, 180. 39 Marcus, Mystery, 28. 40 Vgl. Sellin, Erwägungen, 516. <?page no="268"?> 256 Saatorten kommt es entweder aufgrund von negativen Einflüssen (folgende negative Einflüsse werden genannt: satana/ j in V. 15; qli,yewj und diwgmo,j in V. 17; ai` me,rimnai tou/ aivw/ noj kai. h avpa,th tou/ plou,tou und ai` peri. ta. loipa. evpiqumi,ai in V. 19) zum erfolglosen Hören des lo,goj (folgende Gründe für die Erfolglosigkeit beim Hören des lo,goj entsprechend den Saatorten werden genannt: ai; rei to.n lo,gon in V. 15 durch den Satan; dia. to.n lo,gon euvqu.j skandali,zontai in V. 17 und sumpni,gousin to.n lo,gon kai. a; karpoj in V. 19) oder zum Erfolg des Hörens, welcher sich durch ein bestimmtes Ergebnis zeigt ( parade,contai kai. karpoforou/ sin in V. 20). Auch hier findet sich die in Mk 4,4-8 aufgezeigte binäre Struktur wieder, welche sich nun hinsichtlich des Hörens des lo,goj entfaltet: Es werden drei erfolglose Weisen des Hörens des lo,goj und eine Erfolg bringende berichtet. Weiterhin durchziehen dieses Textsegment zahlreiche Wortwiederholungen: eivsin (Mk. 4,15a.16a.17b.18a.20a), gefolgt von ou-toi (Mk 4,15a.16a.18b) und euvqu,j (Mk 4,15a.16b.17c). Außerdem o[tan (V. 15c.16b) sowie die schon aus Mk 4,8 bekannte dreimalige Wiederholung von e[ n in Mk 4,20. Ebenso wird der Text durch ständige Wiederholungen von bestimmten Artikeln geprägt. Auch für dieses Textsegment sind Wahrnehmungsphänomene wieder zentral, fokussiert wird auf avkou,ein . Im Gegensatz zu einem reinen Wahrnehmungsphänomen (vgl. Mk 4,3a.9b) und im Gegensatz zu einem Wahrnehmungsphänomen, welches gekoppelt ist an Verstehensphänomene (besonders V. 12), wird hier die Art und Weise der Wahrnehmung hinsichtlich des lo,goj entfaltet. Die Art und Weise erhält in der narrativen Entfaltung eine binäre Struktur. Es gibt erfolglose und es gibt Erfolg bringende Arten und Weisen des Hörens. Mit der Zentrierung auf die Art und Weise des Hörens wird auch hier wieder die Wahrnehmungsebene eingeführt, die jedoch als differenzierte Wahrnehmung zu verstehen ist. Die syntagmatische Struktur hält fest, dass Hören nicht gleich Hören ist. Neben dieser inhaltlichen Verknüpfung ist der Textabschnitt auch anderweitig vielfältig mit den vorherigen Abschnitten verknüpft: Auf die enge Verknüpfung mit der szenischen Struktur von Mk 4,4-8 wurde schon hingewiesen, daneben sind die verschiedenen wieder aufgenommenen rhetorischen Figuren zu beachten. Neu ist in diesem Textsegment die Implementierung des lo,goj und des Lexems avkou,ein , das sich narrativ zu „Hörertypen“ ausgestaltet, die den lo,goj auf unterschiedliche Weise hören. In diesem Zusammenhang ist wichtig festzuhalten, dass Mk 4,14-20 nicht völlig harmonisch aufgebaut ist: „Zuerst ist der Same das Wort, dann sind die gesäten Samenkörner die verschiedenen Hörer, deren Art durch den unterschiedlichen Ackerboden dargestellt sind“. 41 Das Gesätsein bezieht sich einerseits auf den lo,goj , andererseits auch auf die gesäten Hörer. Es ist zu beachten, dass der lo,goj sich einerseits durch sein Gesätsein auszeichnet, andererseits aber auch durch sein Gehörtwerden. Statt diesen Um- 41 Schenke, Markusevangelium, 130. <?page no="269"?> 257 stand als eine Widersprüchlichkeit von Mk 4,14-20 zu werten, die ihren Grund darin hat, dass die Parabel nicht für die Deutung geschaffen wurde, 42 ist zu beachten, dass das narrative Verwirrspiel mittels der Saatbzw. Pflanzenmetaphorik im ganzen Verlauf von Mk 4,14-20 erhalten bleibt: Es ist vom gesäten Wort die Rede, dann von Menschen, die keine Wurzel haben, vom Wort, das unfruchtbar wird, und von Menschen, die Frucht bringen. Durch diesen Doppelaspekt erhält Mk 4,14-20 eine starke Komplexität, die sich dennoch in einer kompositionell einheitlichen Struktur ausmachen lässt, die textstrategisch das Wort und die Akteure durch das geteilte Bild in ein Naheverhältnis bringt. Dieses wird noch weiter verstärkt, weil Wort und Mensch in der Deutung von Mk 4,14-20 durch das Hören ebenfalls in einem Bezug stehen. 43 Unter der Voraussetzung der gegebenen Qualifizierungen des Hörens durch die vier verschiedenen Hörertypen kann gesagt werden, dass in Mk 4,14-20 die potentielle Möglichkeit zu hören allen vier Hörertypen zugesprochen wird, aber die Fähigkeit nur einer Gruppe. Diese potentielle Möglichkeit des Hörens wird syntagmatisch gewährleistet durch das auf alle Bodentypen gesäte Wort. Die Fähigkeit, diese Möglichkeit zu realisieren, ist demgegenüber nur einem bestimmten Hörertyp vorbehalten. Das wird durch die verwendeten Zeiten der Verben unterstrichen. So ist V. 20 mit der fruchtbringenden Art und Weise des Hörens „auch dadurch unterschieden, daß nur die Aussaat der letzteren ein abgeschlossenes zu seinem Ziel gekommenes Faktum ist (Aorist: spare,ntej V 20), die der ersteren aber nur einem unabgeschlossenen Geschehen angehört (Präsens: speiro,menoi V 16.18). Umgekehrt hören die ersteren das Wort nur einmal ( avkou,santej V 18; vgl. o[tan avkou,swsin V 15.16), die letzteren immer wieder ( avkou,ousin V 20)“. 44 Dieser Tempuswechsel im Griechischen betont, dass nur bei den Letztgenannten in Mk 4,20 das gesäte Wort zu seinem Ziel kommt (Aorist), sie hören dementsprechend das Wort immer wieder (Präsens). Bei den anderen Hörertypen bleibt das ausgesäte Wort unabgeschlossen (Präsens) und das Hören damit nur punktuell (Aorist). 45 Nur beim Hörertyp in V. 20 ist die potentielle Möglichkeit faktisch geworden. Die in der Sekundärliteratur häufig festgestellte Inkonsistenz, nach der zuerst der Same das Wort ist (V. 14), sodann „die gesäten Samenkörner die verschiedenen Hörer, deren Art durch den unterschiedlichen Ackerboden 42 Vgl. z.B. Klauck, Allegorie, 202f. 43 Ähnlich hält auch van Iersel, Markus, 123, mit Blick auf diese gestörte Harmonie in der Textstruktur von Mk 4,14-20 fest: „Dennoch bleibt der Bezug deutlich. Ebenso wie in dem Gleichnis hängt die Wirksamkeit des Wortes sowohl vom Maß der Hörbereitschaft als auch von äußeren Faktoren ab.“ 44 Kuhn, Sammlungen, 117. 45 Vgl. Klauck, Allegorie, 200. <?page no="270"?> 258 dargestellt wird“, 46 ist durchaus erklärbar: Die geteilte Saatmetaphorik dient dazu, den lo,goj und die Hörenden in ein Naheverhältnis zu bringen 47 . Wenn in der Einleitung Mk 4,14 der lo,goj die Rolle des Gesäten einnimmt und in den jeweiligen Einleitungen zu den folgenden Abschnitten die durch die Demonstrativpronomen signifizierten Hörertypen die Gesäten bezeichnen, dann kommt es über den Vorgang des Säens zu einer engen Kopplung von lo,goj und Hörertyp. Diese Verbindung unterstreicht die allen Hörertypen gegebene potentielle Möglichkeit, das gesäte Wort zu hören. Ob das Wort aber im Rahmen des Ausgesätseins als Akt, der sich im Ausgesätsein in verschiedenen Hörern vollzieht, zu seiner Faktualität als aufgenommenes und fruchtbringendes Wort gelangt, hängt von der unterschiedlichen Beschaffenheit des Bodens ab. Mit Mk 4,21 kommt es durch kai. e; legen auvtoi/ j zu einem Wechsel der Erzählebene. Die Ebene der Erzählung wird verlassen, es folgt im Rahmen der Gesamterzählung des Markusevangeliums nun eine direkte Rede, die aufgrund ihres fragenden Modus in die Nähe zu dem ebenfalls interrogativen Modus von Mk 4,10-13 zu stellen ist. In Mk 4,21-25 ist in V. 21b-22 und V. 24c-25 eine chiastische Struktur durch die Zentrierung auf Wahrnehmungsphänomene erkennbar, die sich in V. 23-24b zuspitzen. Daraus ergibt sich folgende chiastische Struktur: 4,21b-22 (A) - 4,23 (B) - 4,24b (B’) - 4,24c-25 (A’). D.h. neben der Zentrierung auf das in 4,23-24b zentrale Wahrnehmungsphänomen soll auch 4,21b-22 zusammen mit 4,24c-25 rezipiert werden. Auch dieser Text ist rhetorisch geprägt durch Wortwiederholungen: e; cei in V. 23a.25a.c.d; kai. e; legen auvtoi/ j in V. 21.24; i[na V.21c.22b.d; teqh|/ in V. 21c.d. Außerdem arbeitet der Text rhetorisch mit einer Anapher: ouvc ... ouv ... ouv de, in V. 21d.22a.c, außerdem dem schon aus Mk 4,9 bekannten Polyptoton avkou,ein avkoue,tw in V. 23b sowie V. 24b und auvtoi/ j (V. 21a.24a) ... auvtw|/ (V. 25b)... auvtou/ (V. 25d), daneben lu,cnoj ... lucni,an in V. 21b.d. und einer Paronymie: fanerwqh| / ... fanero,n in V. 22b.d sowie me,trw| ... metrei/ te ... metrhqh,setai in V. 24. Die Anrede in Mk 4,21 wird durch eine Induktion 48 aufgenommen, die allerdings die causa in dem Segment unbestimmt lässt bzw. negativ be- 46 Schenke, Markusevangelium, 130. Vgl. zu weiterer Literatur für diese Identifizierung einer Inkonsistenz: Klauck, Allegorie, 202, Anm. 83. Allerdings ist seine Annahme, dass die Inkonzinnität von Mk 4,14-20 damit zusammenhängt, „daß die Parabel nicht für die Deutung geschaffen und daß die allegorischen Gleichungen deswegen nicht aufgehen“ (ebd.) vor dem Hintergrund des hier vorgelegten Textverständnisses nicht zu plausibilisieren. 47 Vgl. hierfür die Argumente von Payne, Inconsistency, 564-568, freilich ohne die weitergehende Differenzierung von Möglichkeit und Faktizität. 48 Lausberg, Rhetorik, 230: „Die Basis des Glaubwürdigkeitsbeweises durch Induktion bildet ein außerhalb der causa stehender unbezweifelter Sachverhalt. Von der Basis aus wird zur causa [...] hin eine Beziehung hergestellt, die in der Ähnlichkeit besteht.“ <?page no="271"?> 259 stimmt als „nichts“ in Mk 4,22. Auffällig ist in V. 21f. die Häufung der i[ na - Formulierungen, deren finaler Sinn für Eindeutigkeiten sorgt. Sowohl V. 21 als auch V. 22 bewegen sich in ihren sprachlichen Formulierungen von einer negativen zu einer positiven Aussage hin. In V. 21 liegt eine Satzstruktur vor, die durch mh,ti , das eine negative Antwort verlangt, und ouvc , das eine positive Antwort verlangt, akzentuiert ist, so dass die hier vorliegende Frageform als Verstärkung einer zustimmungspflichtigen Behauptung dient. 49 Auch V. 22 hat eine Satzstruktur, bei der, ausgehend von der Negation ouv ... ouvde, , im Anschluss eine positive Antwort erwartet wird ( ev a. n mh. ))) avlla, ). Nach der Aufforderung von V. 23, in der die nun handelnden Subjekte in der 2. Pers. pl. eingeführt werden, folgt Mk 4,24-25: „vv 24-25 comprise three simple conditions with the protasis in the present indicative and the apodosis consisting of a future passive indicative plus a personal pronoun“. 50 V. 25b beschreibt eine passivische Aktion ( avrqh,setai ), die der Aktion in V. 25a entgegengesetzt ist ( metrhqh,setai und prosteqh,setai ). „This detachment emphasizes the harsh v 25b, which is also emphasized by the repetition of sounds in its first two phrases (kai hos ouk echei … kai ho echei)”. 51 In V. 24 wird der Zusammenhang der Satzteile durch eine kausale Relation der Verben gesichert, in der den mit „ihr“ eingeführten Subjekten das demnächst angetan wird, was sie jetzt tun. Es wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen dem eigenen, gegenwärtigen Messen (im Aktiv) und dem zukünftigen Gemessenwerden (im Passiv), dieser wirkt auch in V. 25 hinsichtlich des eigenen Habens und dem Erhalten nach. Deutlich wird auch hier wieder die Zentrierung auf Wahrnehmungsphänomene, die hier sowohl auditiv als auch visuell sind. Durch diese strukturelle Gemeinsamkeit steht der Text in Nähe zu Mk 4,10-13, ist aber besonders durch das Lexem avkou,ein auch mit den anderen, bisher besprochenen Textsegmenten verbunden. Verbunden sind die V. 21-25 durch die antithetische Strukturierung, die für alle Verse außer V. 21 gilt, sowie die gehäuft vorkommenden passivischen Verbendungen. In V. 26 kommt es zu einem gewissen Wechsel. Während die Textsegmente in Mk 4,3-25 sich explizit mit dem Wahrnehmungs- und Verstehensaspekt beschäftigen, fokussieren Mk 4,26b-29 sowie 4,30b-32 auf die Darstellung der basilei,a tou/ qeou/ . Aber auch hier geht es um Wahrnehmungs- und Verstehensphänomene, nur zentriert auf die basilei,a tou/ qeou/ , wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird. Mit einer Redeeinführung kai. e; legen in 4,26a beginnt Mk 4,26ff. Auch Mk 4,26b-29 arbeitet wieder mit einer starken rhetorischen Struktur, hier sind besonders die Polyptota zu erwähnen: spo,ron ... spo,roj in Mk 4,26c.27c, gh/ j ... gh/ in Mk 4,26c.28a sowie sta,cun ... sta,cui? in Mk 4,28. Daneben eine 49 Vgl. Eckey, Markusevangelium, 144. 50 Marcus, Mystery, 128. 51 Marcus, Mystery, 128. <?page no="272"?> 260 stark anaphorische Durchdringung des Textsegments durch kai, (V. 26a.27a.b.c) und w` j (V. 26c.27d) sowie ei=ta (V. 28). Deutlich wird in dieser Erzählung gegenüber Mk 4,3-8, dass keine Einsträngigkeit vorliegt: Die Handlungen von V. 27a-b laufen parallel zu den Handlungen von V. 27c.28. Es gibt einen Handlungsstrang, der die Aktionen des Menschen beschreibt, und einen Handlungsstrang, der die Aktionen des spo, roj beschreibt, der durch die Betonung des „von selbst“ der Erde Frucht bringt. 52 Gegenüber Mk 4,3-8 wird nun auch der spo,roj erwähnt, der auf die Erde geworfen wird. Syntagmatisch erweist sich Mk 4,26ff. durch spo,roj aber dennoch mit Mk 4,3-8.14-20 durch die Anknüpfung an die Saat-Säen- Säender-Motivik verbunden. Während Mk 4,26c-27 den spo,roj betont, wird ab Mk 4,28 das Wachstum und das Fruchtbringen hervorgehoben. So wie der spo,roj durch drei Verben betont wird ( ba,lh| ))) blasta| / ))) mhku,netai ), so vollzieht sich auch das Wachstum und Fruchtbringen in drei Stufen (vgl. V. 28: Halm, Ähre, volle Korn in der Ähre). In Mk 4,28 findet sich durch das Wort ka,rpoj eine Anknüpfung an Mk 4,7-8.19-20. Ebenso findet sich eine Anknüpfung durch das Wort h` gh/ , die in Mk 4,8.20 als gute Erde signifiziert wird. Während in Mk 4,8.20 betont wird, dass nur die gute Erde Frucht bringt, es in diesem Fall um das „Das“ des Fruchtbringens geht, welches eben nur der guten Erde zugesprochen wird, widmet sich Mk 4,28 dem „Wie“ des Verhältnisses von Erde und Frucht: nämlich auvtoma,th . Mit der Fokussierung auf das „Wie“ wird die in Mk 4,3-8.14-20 offen gebliebene Frage, wie das Fruchtbringen möglich ist, aufgegriffen. Ein gravierender Unterschied besteht aber in der narrativen Entfaltung von Mk 4,26-29 gegenüber Mk 4,3-8.14-20. Während sich in Mk 4,3-8 und Mk 4,14-20 eine Komplikation einstellt, die das Geschehen des Säens erst einmal in Mk 4,4-7 und Mk 4,15-19 stört, bevor es im Schlussteil der Erzählung zu der Auflösung der Geschichte kommt, wo die Störung überwunden ist (vgl. Mk 4,8.20), findet sich im Mk 4,26-29 kein Element der Komplikation, sondern hier wird eine reine „Erfolgsgeschichte“ präsentiert. Die Erfolgsgeschichte wird in dem Textabschnitt Mk 4,30-32 fortgeführt. Es findet sich die Wiederholung der Redeeinleitung von Mk 4,26 ( kai. e; legen ), auch die basilei,a tou/ qeou/ wird wieder erwähnt, wodurch die Anbindung an das vorherige Textsegment betont wird. Gegenüber den übrigen Textsegmenten aus Mk 4,1-34 wechselt die Anredestruktur: Statt u`mi/ n findet sich nun eine Wir-Anrede. Auffällig ist die rhetorische Gestaltung des Textsegments durch Wortwiederholungen: o[tan in V. 31b.32a, evpi. th/ j gh/ j in V. 31b.c und pa,ntwn in V. 31c. Eine Metonymie liegt im Rahmen des Wechsels von ko,kkoj zu spe,rma vor. Auch in diesem Textsegment wird wieder eine reine Erfolgsgeschichte erzählt: die des ko,kkoj sina,pewj . Diese Geschichte wird in Mk 4,31f. erzählt, „whose predominant structural fea- 52 Hier liegt also gerade kein „Handlungssouverän“ in Bezug auf den Menschen vor. Gegen Zager, Gottesherrschaft, 144. <?page no="273"?> 261 ture is a relative clause, narrated in the present tense, describing how a grain of mustard seed grows up, becomes greater than all shrubs, and puts out great branches“. 53 Dieses Geschehen wird durch die oben genannten Wiederholungen unterstrichen und kontrastreich ausgeführt (kleinste von allen Samen versus größer als alle Gartengewächse). Beide Textsegmente (Mk 4,26-29 und Mk 4,30-32) weisen auf eine Wahrnehmungsbzw. Verstehensebene hin, die sich aufgrund der syntagmatischen Fügung ou[twj ... w` j (V. 26) bzw. pw/ j o`moiw,swmen (V. 30) plausibilisieren lässt. Dadurch werden zwei Bereiche aneinander geschlossen, um eine Verdeutlichung zu erreichen, die von den Rezipierenden zu erschließen ist. Die V. 33f. schließen die Redesituation ab. Der Text ist rhetorisch durch das Polyptoton parabolai/ j (V. 33) ... parabolh/ j (V. 34) und Wortwiederholungen gestaltet ( evla,lei auvtoi/ j in V. 33.34 und de, in V. 34a.b). Die Verben in V. 33f. sind im Imperfekt und ihnen sind zwei Objekte zugeordnet: to.n lo,gon (V. 33) und pa,nta (V. 34). Durch das ouvk evla,lei auvtoi/ j (V. 34) wird der Vers eng mit dem vorherigen V. 33 verknüpft ( evla,lei auvtoi/ j ). Ebenso findet durch to.n lo,gon eine syntagmatische Verknüpfung mit Mk 4,14-20 statt, durch kaqw.j hvdu,nato avkou,ein wird auch in den die Rede abschließenden Versen die Wahrnehmungs- und Verstehensperspektive einbezogen. Diese weist zugleich an den Anfang von Mk 4 zurück, wo der Auftakt der Lehrsituation imaginiert wurde und die Angewiesenheit der Lehre auf das Hören zentral war. Durch die abschließende nochmalige Einführung der Wahrnehmungs- und Verstehensperspektive erfährt der Text hinsichtlich dieses Phänomens eine eindeutige rhetorische Zielrichtung, die zugleich noch einmal mit ihrer Hörzentrierung festhält, dass Hören nicht gleich Hören ist. Es ist im Rahmen der Bestimmung der Formatio, also dem architektonischen Zusammenhang von Mk 4,1-34, erkennbar geworden, dass Mk 4,1-34 eine starke rhetorische Stilisierung hat. Mk 4,1-34 ist besonders durch Rekurrenz geprägt. Es ist deshalb eine Textur und Komposition feststellbar, die eine Kontinuität aufweist. Diese Kontinuität zeigt sich besonders stark in einzelnen Abschnitten: So in Mk 4,1-2, in Mk 4,3-9, in Mk 4,10-13, in Mk 4,14-20, in Mk 4,21-25, in Mk 4,26-29, Mk 4,30-32 und in Mk 4,33f. Aus diesem Grund kann Mk 4,1-34 in diese einzelnen Kompositionseinheiten zerlegt werden, die jeweils für sich mit verschiedenen Konnexitätsträgern durchzogen sind. Aber gleichzeitig sind die einzelnen Kompositionseinheiten auch untereinander sprachlich verbunden, besonders durch Wortwiederholungen. Dadurch sind nicht nur die einzelnen Kompositionseinheiten durch Kontinuität gekennzeichnet, sondern Mk 4,1-34 ist insgesamt Kontinuität zuzusprechen. Bei der Bestimmung der Formatio steht die sprachliche Gestalt eines gegebenen Textes im Vordergrund. Der textuelle Zusammenhang ergibt 53 Marcus, Mystery, 202. <?page no="274"?> 262 sich aus der textuell stilisierten Rede; es handelt sich nicht um eine Rede „an sich“. Nur als eine textuell manifestierte Rede kann Mk 4,1-34 untersucht werden. Alle Überlegungen, die daran interessiert sind, die Frage zu klären, ob diese Rede auf den historischen Jesus zurückzuführen ist, nehmen nicht den vorhandenen Zeichenbestand zum Ausgangspunkt, dem Kontinuität zugeschrieben werden kann, sondern sehen Kontinuität als eine an die Intention des Redenden gekoppelte Größe. Auf der Grundlage der Bestimmung dessen, was der historische Jesus gesagt habe, kommt es zu einer einseitigen Beachtung eines ausselektierten Zeichenbestandes, nach dem Maßstab, was dem historischen Jesus zuzuschreiben ist. Vernachlässigt wird die Kontinuität aller vorhandenen Textsegmente, die in Mk 4,1-34 als eine durchgängige Redesituation zu bestimmen ist. Versuche, das Gleichnis in Mk 4,3-8 von der Deutung des Gleichnisses in Mk 4,14-20 abzutrennen, wobei ersteres dem historischen Jesus zugesprochen wird, während letzteres ein sekundärer Zuwachs sei, nehmen die vorliegende Gestalt des Gesamttextes nicht wahr. Ausgehend von Petöfis Theorie ist festzuhalten, dass die Frage nach der Konstitution der Bedeutung eines Textes sich jenseits einer Bestimmung, ob Mk 4,3-8 ursprünglich von Jesus gesprochen wurde oder nicht, klären lassen muss. Soll die Bedeutung bestimmt werden, so ist der gegebene textuelle Zusammenhang zu berücksichtigen, der für den Bedeutungsaufbau grundlegend ist, denn nur der textuelle Zeichenzusammenhang kann als die Grundlage dieser Kommunikationssituation, die es mit antiken Texten zu tun hat, bestimmt werden. 54 5. Die prosodische Struktur von Mk 4,1-34 Bei der Bestimmung der prosodischen Struktur ist die lexikalischprosodische Form von Mk 4,1-34 zu berücksichtigen, die innerhalb der Formatio einen Aspekt der Notatio darstellt. Während im vorherigen Schritt die rhetorische und grammatische Bestimmung von Mk 4,1-34 im Vordergrund stand, geht es nun um den phonetischen Aspekt der sprachlichen Gestalt. Das Modell von Petöfi berücksichtigt auch die Prosodik eines Textes, der in den meisten exegetischen Ausführungen wenig Aufmerk- 54 Ausgebaut zu einer „Missverstehensthese“, wie sie Jülicher formulierte, kommt es zu einer grundlegenden Abwertung des textuellen Zusammenhangs. Jülicher, Gleichnisreden I, 194: „Dass Missverstehen Jesu durch die Evangelisten muss zugegeben, die Parabeln der Evangelien müssen von den Parabeln Jesu unterschieden werden, wenn beiden Teilen ihr Recht werden soll: der Bruch mit jedem Inspirationsdogma muss unverhüllt und uneingeschränkt vollzogen werden, ehe wir hoffen können, sowohl Jesu als auch die Evangelisten gerecht zu interpretieren.“ Hinter dem Anliegen Jülichers steht selbst nur eine kulturell determinierte Rezeptionspraktik, die sich der „Logik des Ursprungsdenkens“ (Alkier, Gleichnisreden, 49) verpflichtet weiß. <?page no="275"?> 263 samkeit geschenkt wird, 55 die jedoch relevant ist für die Bedeutungsstruktur auf der Grundlage, dass es sich um einen antiken Text handelt, so dass avkou,ein als ein in Verbindung mit Text-Klängen stehendes Wort bei der Rezeption von Mk 4,1-34 relevant ist. Der Prosodik kommt in der Antike eine zentrale Rolle zu, denn an ihrer Beachtung zeigt sich die Kunstfertigkeit des Lesers, wie schon der Aristarchschüler Dionysios Thrax (2. Jh. v.Chr.) festhält. 56 Der gesamte Text arbeitet mit einer komplexen prosodischen Struktur, die besonders durch Gleichklänge und Wortwiederholungen geprägt ist. Im Rahmen der Gleichklänge spielen häufig die Verben eine große Rolle. So evozieren in Mk 4,4-8 die Verben durch ihre vielen Gleichklänge eine dichte prosodische Struktur: e; pesen ... h= lqen ... kate,fagen ... e; pesen ... ei= cen ... evxane,teilen ... av ne, teilen ... e; pesen ... e; dwken ... e; pesen ... e; feren (Mk 4, 4a.b.5a.b.6a.7a.d.8a). V. 8 weist auch innerhalb des Verses eine starke Prägung durch Gleichklänge auf: avnabai,nonta ... auvxano,mena ... tria,konta ... e``xh,konta . Aus dieser prosodischen Struktur fällt förmlich das letzte Wort e`kato,n heraus, so dass das positive Ergebnis mit seinem hundertfach gesteigerten Ertrag auch durch die prosodische Struktur betont wird. Darüber hinaus fallen die vielen Wortwiederholungen auf: Auf e; pesen wurde eben schon hingewiesen, welches dreimal im Text vorkommt. Daneben auvto, (V. 4d.7c) und karpo,n (V. 7d.8b). Unter dem Gesichtspunkt der Wortwiederholungen bzw. eines Wortspiels ist V. 5 bemerkenswert: ouvk ei=cen gh/ n pollh,n ))) mh. e; cein ba,qoj gh/ j ))) mh. e; cein r`i,zan . In der prosodischen Struktur erweist sich außerdem V. 8 dicht verzahnt mit V. 7 durch e; pesen , eivj( karpo,n und e; dwken (V. 7), evdi,dou (V. 8). Auch das vierfach aufgeführte kai, in V. 7 stellt eine enge Verzahnung zu V. 8 her, wo sich sechsmal kai, findet. Diese Häufung eines Wortes, das zudem einsilbig ist, sorgt für ein starkes Klangbild dieser Verse. Auf die anaphorische Anknüpfung mit kai, in Mk 4,10 wurde eben schon hingewiesen. Darüber hinaus ist in Mk 4,10-13 die prosodische Struktur geprägt durch zahlreiche Gleichklänge: toi/ j ... auvtoi/ j ... ev kei, noij ... auvtoi/ j (V. 10b.11a.11c.13a), mh, ... mh,pote (V. 12b.12d.12e) sowie die Verbendungen auf wsin , die besonders gehäuft in V. 12 vorkommen. Diese Gleichklänge hinsichtlich der Verbendungen (wsin und osin ) setzen sich im folgenden Textsegment fort, bei dem ebenfalls die starke Häufung der oi -Laute zu einer dichten prosodischen Struktur führt, in die sich einzig V. 14 nicht einfügt. Die prosodische Struktur wird zudem unterstützt durch die oben schon aufgeführten Wortwiederholungen. Auch für den Textabschnitt Mk 4,14-20 ist eine eng verknüpfte prosodische Struktur zu ver- 55 Vgl. aber Klauck, Vorspiel, 29f., für Mk 1,1-3; Pöttner, Zeit, 136-167, der in seinen Ausführungen die phonetische Seite von Mk 4 mitberücksichtigt. 56 So in seinem Werk Te,cnh grammatikh, Kapitel 2. <?page no="276"?> 264 zeichnen, die über die aufgezeigten Verbendungen zudem mit dem vorherigen Textsegment prosodisch verzahnt ist. In dem Textsegment 4,21-25 sorgen die vielen h -Laute in V. 21-22 für eine einheitliche prosodische Struktur, die fast die prosodische Struktur aus V. 12 wiederholt. In Mk 4,24-25 schaffen die Verbindungen mit qhsetai ebenso einen Gleichklang. Daneben sind die verschiedenen Wortwiederholungen zu beachten, auf die schon im Rahmen der rhetorischen Analyse hingewiesen wurde. Die starke rhetorische Stilisierung in Mk 4,21-25 führt zu einem Reimcharakter des Textes. In Mk 4,26-29 wird ebenfalls mit Gleichklängen gearbeitet, besonders die h -Laute setzen sich fort: h` ... ba,lh| ... kaqeu,dh| ... auvtoma,th h` gh/ . Zum Ende hin werden sie jedoch weniger, stattdessen überwiegen die oj -Endungen und on -Endungen in der prosodischen Struktur. Von diesen Gleichklängen durch die h -Laute sowie die oj - und on -Endungen zeigt sich auch der daran anschließende Textabschnitt Mk 4,30-32 geprägt, so dass durch die prosodische Struktur die Verbindung von Mk 4,30-32 mit Mk 4,26-29 unterstrichen wird. Im Abschnitt Mk 4,33-34 fallen neben den schon erwähnten Wortwiederholungen auch wieder Gleichklänge auf, die besonders durch die aij - und oij -Laute gewährleistet werden. Auffällig sind auch die sich in Mk 4,1-34 mehrfach findenden „etymologisierenden Stammwiederholungen“, 57 zu denen spei,rwn spei/ rai (Mk 4,3); avkou,ein avkoue,tw (Mk 4,9); ble,pontej ble,pwsin ... avkou,ontej avkou,wsin (Mk 4,12); me,trw| metrei/ te metrhqh,setai (Mk 4,24) zählen. Die prosodische Struktur wird zudem noch unterstrichen durch die in Mk 4,1-34 vorkommenden Aufzählungen, die der „Steigerung von Aussagen und Stimmungen“ 58 dienen. Hierzu zählen in Mk 4,3-8 und in Mk 4,14- 20 die Aufzählungen der verschiedenen Böden bzw. Hörertypologien, außerdem ist das dreifach differenzierte positive Ergebnis in Mk 4,8 und in Mk 4,20 in Form einer Aufzählung geschildert. Aber auch in Mk 4,12 sowie in Mk 4,30 gibt es Aufzählungen. In Mk 4,12 hat die Aufzählung der beiden Sinnesvorgänge, dem Sehen und dem Hören, eine retardierende Funktion. Sie erhöht die Spannung und verleiht so dem durch mh, pote eingeleiteten Abschnitt ein größeres Gewicht. Die Doppelung in V. 30, die die Erzählung vom Senfkorn einleitet, „erhöht die Spannung und steigert das Paradox, das in dem folgenden Vergleich mit einem Senfkorn liegt“. 59 Auch die in Mk 4,1-34 vorkommenden Redeeinleitungen unterstützen die dichte Prosodik und geben Mk 4 eine einheitliche Struktur. Die zahlreichen Redeeinleitungen übernehmen innerhalb der prosodischen Struktur die Funktion einer Gliederung des Textes, die bei der Rezeption des Textes 57 Lüderitz, Rhetorik, 180. 58 Lüderitz, Rhetorik, 176. 59 Lüderitz, Rhetorik, 178. <?page no="277"?> 265 steuernd wirken und durch die leichte Wiedererkennung Tonations- Signale für die Rezipienten setzen. Hinsichtlich der prosodischen Struktur von Mk 4,1-34 kann gesagt werden, dass der Text durch die einzelnen Textsegmente eine wohlgeformte Prosodik aufweist. Diese prosodische Struktur ist einerseits für die einzelnen aufgeteilten Kompositionseinheiten von Mk 4,1-34 festzustellen, die den einzelnen Textsegmenten eine interne Prosodik verleiht. Andererseits ist durch die vielen Wortwiederholungen der gesamte Text mit einer internen Prosodik versehen. Aus der internen Prosodik der Kompositionseinheit Mk 4,14-20 fällt allerdings V. 14 heraus. Damit wird unterstrichen, dass mit V. 14 etwas Neues beginnt, das sich von dem Bisherigen absetzt. Unter Berücksichtigung der Bedeutungsbestimmung des Wortes avkou,ein kann festgehalten werden, dass Mk 4,1-34 aufgrund seiner dichten Prosodik als eine akroamatisch orientierte Prosodik zu bestimmen ist. Darunter ist eine auf das Hören hin orientierte Prosodik zu verstehen, die durch Gleichklänge und Wortwiederholungen die Rezeption dieses Textes zugänglich werden lässt. Die prosodische Struktur von Mk 4,1-34 unterstützt die Wahrnehmungszentrierung des Textes mit seiner leitmotivischen Wiederholung des Wortes avkou,ein . Unter der Voraussetzung, dass „speaking and writing in the Greco-Roman world was done for the ear, not the eye”, 60 erhält diese akroamatisch orientierte Prosodik eine rhetorische Plausibilisierung. Wenn einerseits das Lexem avkou,ein durch seine vielfache Nennung als ein dem Text Mk 4,1-34 Kontinuität verleihendes Lexem auftritt und sich gleichzeitig die Prosodik des Textes von Mk 4 insgesamt als eine dichte erweist, so findet andererseits eine akustische und inhaltliche Zentrierung auf das Hören statt. Die prosodische Struktur unterstützt deshalb den Vorgang einer akustischen Rezeption, gleichzeitig ist das Hören durch die zahlreichen Vorkommnisse in Mk 4,1-34 auch inhaltlich relevant. Es kann festgehalten werden, dass die prosodische Struktur Mk 4,1-34 eine Kontinuität verleiht, die die Rezeption des Textes erleichtert. Gleichklänge und Wortwiederholungen strukturieren besonders die einzelnen Kompositionseinheiten, sorgen aber auch für eine Vernetzung der einzelnen Kompositionseinheiten miteinander. Besonders bei den Gleichklängen ist darauf hinzuweisen, das diese hinsichtlich des Bedeutungsverständnisses eines antiken Textes eine zentrale Rolle gespielt haben dürften: Wortbzw. Textverstehen geschieht nämlich durch das Einprägen von Silben. Anstatt Lesen als einen visuellen Prozess aufzufassen, „that depends on the recognition of orthographic units, words”, geht es in der Antike darum, zu einem Textverständnis zu gelangen, „which is based on how the letters reflect the sounds of speech“. 61 60 Tolbert, Sowing the Gospel, 43. 61 Für beide Zitate: Small, Wax Tablets, 24. <?page no="278"?> 266 6. Das Wort avkou,ein und seine Verwendungsweisen in Mk 4 und im Markusevangelium Nachdem im ersten Schritt der Bestimmung der Formatio der textuelle rhetorische und prosodische Zusammenhang von Mk 4,1-34 berücksichtigt worden ist, soll in dem nun folgenden Abschnitt besonders die Formatio der Verwendung des Wortes avkou,ein im gesamten Verlauf des Markusevangeliums berücksichtigt werden. Ziel dieses Abschnitts ist es, die Verwendungsweisen von avkou,ein besonders in Mk 4,1-34 auf seine Einheitlichkeit hin zu untersuchen. Das Wort avkou,ein kommt im NT knapp 430 mal vor, davon im Markusevangelium 44 mal (mit Mk 16,11). Es gehört im Markusevangelium zu den am häufigsten vorkommenden Verben. Wenn man sich das Verb avkou,ein und sein Vorkommen im Markusevangelium näher anschaut, fällt auf, dass das Verb avkou,ein in zwei Weisen Verwendung findet: 62 Einerseits wird mittels dieses Wortes eine direkte Perzeption ausgedrückt, andererseits findet dieses Verb Verwendung, um eine indirekte Perzeption auszudrücken. 63 In der direkten Perzeption wird, vermittelt durch das hörende Subjekt, der direkte Inhalt des Hörens angegeben, in der indirekten Perzeption wird stattdessen ein Hören von etwas ausgedrückt. Hier wird das Gehörte zum Thema des Hörens. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen: Für eine direkte Perzeption soll Mk 4,16 als Beispiel herangezogen werden: Oi] o[tan avkou,swsin to.n lo,gon euvqu.j meta. cara/ j lamba,nousin auvto,n .... Als ein Beispiel für eine indirekte Perzeption sei Mk 13,7 angeführt: o[tan de. avkou,shte pole,mouj kai. avkoa.j pole,mwn( mh. qroei/ sqe … Während im ersten Beispiel ausgesagt wird, dass die auf steinigen Boden Gesäten den lo,goj direkt hören, wird bei dem zweiten Beispiel deutlich, dass das, was die angeredeten Jünger hören, nicht der direkte Lärm des Krieges, sondern die Rede über den Krieg ist. Wendet man diese zwei unterschiedlichen Verwendungsweisen des Wortes avkou,ein auf die Vorkommnisse im Markusevangelium an, so zeigt sich: Als direkte Perzeption findet sich das Wort in Mk 2,1; 4,3.9a.9b.12a.12b.15.16.18.20.23a.23b.24.33; 6,2.11.20a.20b.55; 7,14.37; 8,18; 9,7; 10,41.47; 11,14.18; 12,28.27.29; 14,11.58.64; 15,35; (16.11). Als indirekte Perzeption findet sich das Wort in Mk 2,17; 3,8.21; 5,27; 6,14.16.29; 7,25; 13,7. Im Ergebnis wird ersichtlich, dass das Verb avkou,ein im Markusevangelium wesentlich häufiger in der direkten Perzeption als in der indirekten vorkommt. Unter Zugrundelegung dieser zwei verschiedenen Verwendungsweisen von avkou,ein kann weiter festgestellt werden, dass es besonders in der indirekten Perzeption um einen perzeptiven Akt eines übermittelten hörbaren Zusammenhangs geht. In der indirekten Perzeption 62 Vgl. Danove, Linguistics, 95ff. 63 Dies wird bei Bauer, Wörterbuch, Sp. 61f. nicht berücksichtigt. <?page no="279"?> 267 wird immer etwas, was übermittelt worden ist, gehört und kommt somit durch das Gehörtwerden zu seinem Ziel. Im Mittelpunkt dieser Verwendungsweise von avkou,ein steht sozusagen die sensorische Fähigkeit, etwas Übermitteltes zu hören. In der direkten Perzeption kann demgegenüber gezeigt werden, dass sehr häufig das Lexem avkou,ein ein weiteres Bedeutungsspektrum aufweist. Sehr häufig impliziert die Verwendung von avkou,ein in der direkten Perzeption auch Aspekte des Verstehens. 64 So heben Louw/ Nida hervor: „The meaning of avkou,w is an excellent example of a meaning which overlaps two domains, but since the focal element is not hearing but comprehending, avkou,w is classified in this subdomain”. 65 Nur in der direkten Perzeption des Wortes avkou,ein ist der Aspekt des Verstehens betont. Dies wird unterstrichen durch die Verwendung des Wortes avkou,ein im Zusammenhang mit suni,hmi (vgl. Mk 4,12; 7,14; 8,17f.). „Synienai always has a very full meaning in Mark, indicating a profound grasp of the inner meaning of what Jesus has done (6: 52; 8: 17, 21) and said (7: 14)“. 66 Aber auch ohne die Verwendung eines zweiten verstehensrelevanten Verbs kann avkou,ein Aspekte des Verstehens mit einbeziehen. So in Mk 4,33: kaqw.j hvdu,nato avkou,ein . Auch Mk 11,14, wo die Jünger hören ( h; kouon ), was Jesus gesagt hat, impliziert den Aspekt des Verstehens: „these words do not mean merely that they heard Jesus curse the fig tree but imply as well that the words penetrated them“. 67 Der Aspekt des Verstehens wird besonders hervorgehoben bei der Verwendung des Wortes avkou,ein in direkter Rede, in der zum Hören aufgefordert wird. Der direkte Aufruf zum Hören ist im gesamten Evangelium gebunden an den Akteur Jesus (Mk 4,3.9.23.24; 7,14), einzig mit der Ausnahme Mk 9,7, in der eine Stimme aus der Wolke kommt, die sagt: „Dies ist mein geliebter Sohn, auf ihn sollt ihr hören“. In Mk 9,7 ist somit die Aufforderung zu Hören zwar auch an Jesus gebunden, aber die Aufforderung ergeht nicht durch den Akteur Jesus. Für den Abschnitt Mk 4,14-20 ist kennzeichnend, dass auch hier Verstehensprozesse einbezogen werden müssen. Die Verwendung von avkou,ein in Mk 4,14-20 geschieht immer im Zusammenhang mit der Nennung einer aus der Art und Weise des Hörens resultierenden Handlung. Mittels des Lexems avkou,ein werden vier verschiedene Arten des Hörens thematisiert, die ihre Bedeutung durch die binäre Struktur mittels der Unterteilung in 64 Das sieht Fowler, Let the Reader, 121, zwar auch, aber aufgrund seiner nicht weitergehenden Ausdifferenzierungen der Verwendungsweisen des Lexems avkou,ein bleiben seine Überlegungen zu pauschal. 65 Louw/ Nida, Lexicon, 380. Allerdings unterscheiden Louw/ Nida nicht hinsichtlich des hier gemachten Vorschlags zwischen direkter und indirekter Perzeption, die jedoch geholfen hätte, ihre „semantic domains“ weiter zu spezifizieren. 66 Marcus, Mystery, 104. 67 Fowler, Let the Reader, 121. <?page no="280"?> 268 eine erfolgreiche Art des Hörens versus die erfolglosen Arten des Hörens erhalten. Diese Bewertungshaltung gegenüber dem Hören in Mk 4,14-20 berücksichtigt auch den Verstehensaspekt. Die obige Auflistung der zwei verschiedenen Verwendungsweisen von avkou,ein zeigt, dass das Verb weit häufiger in der direkten Verwendung eingeführt wird. Ein Großteil der Stellen im Markusevangelium, die der Verwendungsweise der direkten Perzeption zuzuordnen sind, findet sich im Kap 4. Von den insgesamt 34 Vorkommnissen (ohne Mk 16,11), die eine direkte Perzeption ausdrücken, lassen sich 13 in diesem Kapitel finden. Dagegen ist in Kap. 4 keine Verwendung des Verbs in indirekter Perzeption zu finden. Vor diesen Hintergrund kann gesagt werden, dass der Befund nahe legt, dass das Markusevangelium seinen Schwerpunkt in Mk 4,1-34 bei der Verwendung von avkou,ein auf die direkte Perzeption legt und dass die Art der Verwendung von avkou,ein im Kap. 4 einheitlich ist. Außerdem kann bei der Verwendung von avkou,ein für den Verlauf des gesamten Markusevangeliums festgestellt werden, dass das Markusevangelium bei der Verwendung von avkou,ein den Schwerpunkt auf die Verwendungsweise in der direkten Perzeption setzt. Es geht im Rahmen des Markusevangeliums um den Vorgang des Hörens; und zwar weit stärker um ein Hören als direkte Wahrnehmung, dessen was gehört wird, als um ein Hören „über“. Mit Blick auf die Bedeutungsaspekte von avkou,ein in der direkten Perzeption ist zudem auffällig, dass sich in Kapitel 4 besonders häufig der verstehende Aspekt des Hörens erfassen lässt. In Rahmen dieser direkten Perzeption geht es immer um direkte Wahrnehmungs-, Verstehens- und Rezeptionsprozesse. Die sachlichen Objekte von avkou,ein innerhalb dieser direkten Perzeption werden entweder im Genitiv oder im Akkusativ angegeben. Der Genitiv findet sich in 6,11.20a.20b; 7,14; 9,7; 12,28.37; 14,58.64. Der Akkusativ findet sich in 4,14.18.20.24. Daneben gibt es eine große Gruppe von Vorkommnissen von avkou,ein , bei denen das Verb keine weitere Spezifizierung erhält. Hierzu zählen (in der direkten und indirekten Perzeption): 2,17; 4,3.9a.9b.12a.12b.15.23a.23b.33; 6,2; 7,37; 8,18; 10,41, 11,14.18; 12,29; 14,11; 15,35. Bezüglich Mk 4,1-34 fällt auf, dass ein Großteil der Verwendungen von avkou,ein aus der Gruppe stammt, bei der der Vorgang des Hörens nicht weiter spezifiziert wird (bei insgesamt 9 von den 13 erwähnten Stellen in Mk 4,1-34). Innerhalb dieser Gruppe ist auffällig, dass viele dieser Vorkommnisse von avkou,ein in direkter Rede zu finden sind: Mk 4,3.9a.9b.12a.12b.15.23a.23b; 7,37; 8,18; 12,29. In einer Redesituation, die dem markinischen Jesus zuzuschreiben ist, findet avkou,ein in einem textuellen Zusammenhang bevorzugt Verwendung. Die meisten genannten Stellen stammen aus dem vierten Kapitel des Markusevangeliums. Dieser Befund unterstützt nochmals die Annahme, dass es in Mk 4,1-34 um <?page no="281"?> 269 Wahrnehmungs- und Rezeptionsprozesse geht. Die Verwendung des Lexems avkou,ein in Mk 4,1-34 geht über die Auffassung eines rein sinnlichen Vorgangs des Hörens hinaus, sie hat Aspekte des Verstehens und der Kommunikation mit einzubeziehen. 68 Es geht bei avkou,ein demnach nicht um besondere Aufmerksamkeit in sinnengeschärfter Form, sondern die Aspekte von avkou,ein motivieren im Rahmen der syntagmatischen Dimension zu einer umfassenderen Bedeutungsinterpretation, um dem Phänomen des Hörens in Mk 4,1-34 gerecht zu werden. Auf der Ebene der Subjekte - also die Frage beantwortend, wer hört - sind für das Markusevangelium folgende Beobachtungen festzuhalten: Es ist sowohl der Einzelne, der hört (z.B. Mk 5,27; 6,14.16.20; 7,25; 10,47), als auch die Masse (Mk 2,1; 3,8; 6,2.55; 7,14; 12,37), die Jünger (z.B. Mk 3,21; 6,11; 9,7; 10,41; 11,14; 13,7) und die narrativ eingeführten „Opponenten“ (Mk 11,18; 12,28; 14,58.64), so dass für das Markusevangelium postuliert werden kann, dass der Mensch im Evangelium hörend dargestellt wird. Während im narrativen Verlauf die Frage, wer hört, problemlos zu klären ist, stößt die Klärung der Frage nach den Subjekten des Hörens in Mk 4,1-34 auf Schwierigkeiten. Mit Blick auf Mk 4,1-34 zeigt sich, dass die Frage, wer die Subjekte sind, an die in direkter Rede die Aufforderung ergeht zu hören, nicht eindeutig bestimmt werden kann bzw. Mk 4,1-34 hinsichtlich der angeredeten Personengruppe keine konnexe Struktur aufweist. Während in Mk 4,1 o; cloj plei/ stoj eingeführt wird, ändert sich ab V. 10 der angeredete Personenkreis. Unklar ist, wann dieser Personenkreis wieder aufgehoben ist bzw. ob er überhaupt wieder aufgehoben wird. Außerdem ist auf der Grundlage von Mk 4,1-34 nicht zu erschließen, wer mittels der in Mk 4,14-20 verwendeten Demonstrativpronomen bezeichnet ist. Unter Einbeziehung der einzelnen Kompositionseinheiten verstärkt sich dieser Eindruck noch. Innerhalb der einzelnen Textsegmente kann für alle verwendeten Formen von avkou,ein beobachtet werden, dass das Subjekt, welches hört, nicht explizit bezeichnet ist. Die Subjekte werden nur implizit durch das Verb ausgedrückt. In den meisten Fällen in Mk 4,1-34 ist das Verb avkou,ein nur an ein Subjekt gekoppelt, es ist also in der Sprache einer Kasusgrammatik monovalent, 69 da es immer nur einen Aktanten voraussetzt, nämlich die hörende Person. Die Ausnahme bildet hier das Textsegment Mk 4,14-20, in dem avkou,ein überwiegend bivalent ist, weil folgende syntagmatische Struktur zugrunde liegt: XY hört das Wort. Diese bivalente 68 Louw/ Nida, Lexicon, 282, ordnen avkou,ein neben der Domain 24 (Sensory Events and States) auch der Domain 32 (Understand) und der Domain 33 (Communication) zu. Louw und Nida erarbeiteten auf der Grundlage semantischer Domains (insgesamt 93) ein griechisch-englisches Lexikon, welches besonders für die syntagmatische Analyse der Bedeutung hilfreich ist. 69 In der Sprache der Kasusgrammatik können Verben durch verschieden viele Kasus „erweitert“ werden. Diese Erweiterung wird Valenz genannt. <?page no="282"?> 270 Struktur von Mk 4,14-20 hebt dieses Textsegment innerhalb von Mk 4,1-34 besonders hervor. In dem Abschnitt Mk 4,10-25 ist eine weitere syntagmatische Besonderheit hinsichtlich des Verbs avkou,ein auffällig: Nur in Mk 4,10-25 wird von einer „Antwort“ auf das Hören berichtet. In diesem Fall erscheint das (implizite) Subjekt des Hörens im unmittelbaren Kontext wieder als das (implizite) Subjekt eines anderen Verbs, das die „Antwort“ auf das Hören gibt. So in Mk 4,12 durch avkou,wsin ... mh. suniw/ sin , in Mk 4,16f. durch avkou,swsin ))) lamba,nousin , in Mk 4,20 durch avkou,ousin … parade,contai ))) karpoforou/ sin , in Mk 4,24 durch avkou,ete ))) metrei/ te . In 4,15 und 4,18f. gibt es auch eine Antwort auf das Hören, allerdings signifiziert durch einen Subjektwechsel o` satana/ j in V. 15 und ai` me,rimnai ))) h` avpa,th ))) ai` evpiqumi,ai in V. 19. Hören wird in Mk 4,1-25 besonders hinsichtlich der gegebenen „Antwort“ relevant. Dieser Befund macht deutlich, dass es sich nicht nur um den bloßen Akt des Hörens handelt, sondern die darauf folgende weitere Aktion ebenso von Interesse ist. 70 Dies wird im Rahmen der semantischen Analyse eine maßgebliche Motivation sein, nach Charakteren im narrativen Verlauf des Markusevangeliums zu suchen, die dem Typ von Hörern in den ihnen zugeordneten Aktionen entsprechen. Jesus als der Hauptprotagonist des Evangeliums ist selbst nicht primär als Hörender dargestellt (nur Mk 2,17 und 5,36), vielmehr gibt der markinische Jesus etwas zu hören. Dieser Befund steht in einem signifikanten Kontrast zu der Verwendung des Aorists ei=den im Markusevangelium, zu dem Palachuvattil bemerkt: „Our investigation has established that it is Jesus who is said to be exercising the faculty of ‘Seeing’ in the majority of cases. Although the fact of Jesus’ seeing is denoted by several verbs, Mark’s preference for the verb o`ra/ n / ivdei/ n is quite evident. The aorist third person singular ei=den stands out among all the occurrences of the verbs of seeing since it is used exclusively of Jesus”. 71 Ein Blick auf die in Mk 4,1-34 verwendeten Verben zeigt, dass die dort auftauchenden Verben sich im Wesentlichen drei Bedeutungsfeldern zuordnen lassen: Verben der räumlichen Bewegung und Ausdehnung, die 70 Unter Berücksichtigung des gesamten narrativen Verlaufs des Markusevangeliums und des Wortes avkou,ein lässt sich feststellen, dass auf der Erzählebene durch avkou,ein eine erste Annäherung eines Akteurs x stattfindet (z.B. Mk 2,1; 3,8; 6,55; 7,25; 10,47). Dieser „hörenden Annäherung“ folgt immer noch eine weitere Aktion des Akteurs x (2,1: versammeln; 3,8: kommen; 6,55: tragen/ bitten; 7,25: kommen; 10,47: schreien). Das Verb avkou,ein steht in diesem Fall immer am Anfang einer Erzählung und ist der Auftakt für weitere Handlungen, des jeweiligen hörenden Akteurs. 71 Palachuvattil, He Saw, 41. (Transliteration der griechischen Worte durch K.D.). Dieser Arbeit liegt eine gewisse Einseitigkeit zugrunde mit dem einerseits sehr schmalen Textkorpus und zum anderen, wenn betont wird, dass „vocation is grounded on Jesus’ seeing“ (S. 267), denn das Hören spielt in dieser Arbeit in seiner Beziehung zum Sehen keine Rolle. <?page no="283"?> 271 alle folgende syntagmatische Struktur aufweisen: x geht nach y; bzw. x dehnt sich aus auf y. Diese Verben der Bewegung und Ausdehnung finden sich in allen Textsegmenten außer in Mk 4,33f. Besonders gehäuft in Mk 4,3-8, Mk 14-20 und Mk 4,26-32. Daneben spielen Verben der Wahrnehmung, des Wissens und des Verstehens eine große Rolle. Diese finden sich in allen Textsegmenten von Mk 4,1-34. Zu einer Zentrierung von Verben der Wahrnehmung, des Wissens und des Verstehens kommt es in Mk 4,10- 13. Insgesamt sechs verschiedene Verben aus diesem Bedeutungsfeld sind genannt. Die dritte Gruppe bilden die verba dicendi. Diese Gruppe von Verben findet sich in allen Textsegmenten von Mk 4,1-34, außer in Mk 4,14- 20. Es besteht einerseits für das Textsegment Mk 4,1-34 eine Kontinuität, was die Verben der Wahrnehmung, des Wissens und des Verstehens anbetrifft, andererseits besteht eine Präferenz für Verben der Bewegung und Ausdehnung, die sich besonders gehäuft in Mk 4,4-8.14-20.21-32 finden lassen. Für das Textsegment V. 10-13 lässt sich feststellen, dass es zu einer Zentrierung auf Verben der Wahrnehmung, des Wissens und des Verstehens kommt. Dieser Befund zeigt ebenso, dass die Wahrnehmungsverben - und hier besonders avkou,ein - nicht isoliert für sich stehen, sondern mit anderen Bedeutungsfeldern von Verben auftreten, wobei die verba dicendi und die Verben der Bewegung/ Ausdehnung sich in Mk 4,1-34 überwiegend finden lassen. Neben dem Substantiv lo,goj ist das am häufigsten gebrauchte Substantiv parabolh, (vgl. V. 2.10.11.13 (2x).30.22.34). Während das Substantiv lo,goj in Mk 4,1-34 immer im Zusammenhang mit avkou,ein verwendet wird, so steht das Lexem parabolh, nur in V. 11f. und V. 33 im Zusammenhang mit avkou,ein . Aus diesem Befund kann geschlossen werden, dass es nicht primär um das (in direkter Perzeption sich vollziehende) Hören der parabolh, geht. Gleichzeitig ist aber festzustellen, dass das Substantiv überwiegend im Zusammenhang mit Verben des Verstehens, des Wissens und der Wahrnehmung steht, zu denen auch das Verb avkou,ein gehört. 72 D.h. im Zusammenhang mit den jeweiligen Verben verweist auch das Substantiv parabolh, auf das Problem von Verständigung und Wahrnehmung, bei der jedoch nicht das direkte Hören der parabolh, im Vordergrund steht. Deshalb weist die Übersetzung mit „Rätsel-Lehre“ in die anvisierte Richtung. 73 Von dieser syntagmatischen Struktur her, die das Substantiv parabolh, an Verben der Wahrnehmung, des Wissens und des Verstehens sowie an verba dicendi 72 Die Ausnahmen sind die Vorkommnisse von parabolh, in V. 2 und V. 10. 73 Vgl. Schenke, Markusevangelium, 124f.: „Wichtig ist dabei, dass Jesu Rede in Rätsel- Bildern als Lehre gekennzeichnet wird (vgl. 3,23). Die Rätsel-Lehre gilt nicht nur dem Volk, sondern auch den Jüngern (4,13; vgl. 7,17), und es geht in der ganzen Szene um die Frage, wem die Möglichkeit und Fähigkeit gegeben ist, sie zu verstehen“. Pöttner, Zeit, 103, wählt den Begriff „parabolische Rede“. <?page no="284"?> 272 koppelt, kann nicht geschlossen werden, dass der Begriff parabolh, als eine Verdunklungstaktik im Markusevangelium dient. Dies ist für das Markusevangelium unter Einbeziehung von Mk 7,14-18 noch einmal hervorzuheben. Die Aufforderung zu hören und zu verstehen ist an alle gerichtet ( pa,ntej in V. 14) und die parabolh, ebenfalls. Wenn die Jünger im Anschluss nach der parabolh, fragen (V. 17), dann zeigen sie ähnlich wie in Mk 4,10, dass sie diejenigen sind, die a.) die Möglichkeit haben, nach dem Gleichnis zu fragen und b.) es auch nötig haben zu fragen. Vor diesem Hintergrund erhält 4,34 folgende Bedeutung: Die interne Auslegungssituation Jesus- Jünger stellt einerseits sicher, dass für die Jesus-Jünger-Relation eine interne Auslegungssituation möglich ist. Andererseits wird die Notwendigkeit dieser internen Auslegungssituation unterstrichen. Anscheinend gelingt es dieser präferierten Gruppe nicht, das Hören und Verstehen der Gleichnisse zu leisten. Dies wird durch den durativen Imperfekt unterstrichen: evpe,luen verweist auf die zeitliche Dauer des Diskurses. Nach markinischer Auffassung handelt es sich bei Mk 4,3-8.21b-22.24c- 25.26b-29.31f. um parabolai, , nur bei Mk 4,14-20 handelt es sich gerade nicht um eine parabolh, . In diesem Sinn kann Mk 4,14-20 als hermeneutischer Schlüssel verstanden werden zum Verstehen der parabolai, . Und zwar nicht nur zum Verstehen von Mk 4,3-8, sondern vielmehr leistet Mk 4,14-20 einen Beitrag zum Verstehen der gesamten parabolai, im Markusevangelium (vgl. 4,13: pa,saj ta.j parabola,j ). Wenn es in Mk 4,14-20 zu einer konzentrierten Exponierung des Wortes avkou,ein kommt, welches hinsichtlich des lo,goj spezifiziert wird, so steht zu vermuten, dass das (erfolgreiche) Hören des Logos der Erschließungsgrund zum Verstehen der Gleichnisse ist. Dies wird in der pragmatischen Analyse von Mk 4,1-34 aufzugreifen sein. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in Mk 4,1-34 eine einheitliche Verwendung des Wortes av kou, ein in der direkten Perzeption vorliegt. Die Verwendung des Verbs bezieht sich auf Verstehens- und Rezeptionsprozesse. Die Vorkommnisse von avkou,ein und speziell von avkou,ein in Mk 4,10- 25 weisen zudem darauf hin, dass es um ein „aktives“ Hören geht. Besonderes Augenmerk hat das Textsegment Mk 4,14-20 erhalten. Hier steht das Verb avkou,ein in direkter Perzeption in einem Zusammenhang mit dem Substantiv lo,goj , und es wird das aktive Hören durch die avkou,ein zugeordneten Verben unterstrichen. Die einheitliche Verwendungsweise des Lexem avkou,ein sorgt zudem für Kontinuität innerhalb von Mk 4,1-34. 7. Die Konnexität von Mk 4,1-34 unter Berücksichtigung von avkou,ein In den Ausführungen zu Petöfis Bedeutungsmodell wurde herausgearbeitet, dass sich die Konnexität in der Konstitution des Textvehiculums und der Textformatio manifestiert. Konnexität bezieht sich dabei auf ausschließ- <?page no="285"?> 273 lich intersubjektiv feststellbare formale Eigenschaften des sprachlichen Objektes. Hierzu zählen Elemente wie das Aufeinanderfolgen von Einheiten mit demselben Rhythmus, das Auftreten einer gewissen Konstituente oder eine Konfiguration syntaktischer Kategorien. Hinsichtlich des Gebrauchs des Wortes avkou,ein wurde deutlich, dass der Abschnitt Mk 4,1-34 leitmotivisch 74 durch das Stichwort avkou,ein geprägt ist. Damit erweist sich avkou,ein als ein Konnexitätsträger für Mk 4,1-34. Außerdem wird die konnexe Struktur von Mk 4,1-34 auch hinsichtlich der Einheitlichkeit der Verwendungsweisen von avkou,ein unterstrichen. Die rhetorische Stilisierung des gesamten Textabschnitts sorgt ebenfalls für Konnexität, die besonders durch anaphorische Anbindungen und Polyptoton aufgebaut wird. Auf der prosodischen Ebene geben die zahlreichen Gleichklänge der Silben sowie die Wortwiederholungen dem Text eine konnexe Struktur. Einerseits ist diese konnexe Struktur den einzelnen Textsegmenten, andererseits aber auch Mk 4,1-34 insgesamt zuzuschreiben. Die konnexe Struktur von Mk 4 wird nicht nur durch das Stichwort avkou,ein gesichert, sondern ist auch durch die Fokussierung auf Wahrnehmungs- und Verstehensphänomene inhaltlich gegeben. Die einzelnen Kompositionseinheiten weisen je für sich eine konnexe Struktur auf, wie in der Analyse der Formatio aufgezeigt worden ist. Dabei handelt es sich um folgende Kompositionseinheiten: Mk 4,1-2.3-9.10-13.14- 20.21-25.26-32.33-34. Diese jeweiligen Textsegmente zeichnen sich durch eine einheitliche rhetorische und prosodische Struktur aus, wobei auch deutlich wird, dass die einzelnen Textsegmente auf spezifische Weise immer mit den anderen Textsegmenten durch ihre syntagmatische Struktur verknüpft sind: Mk 4,1-2 durch die Redeeinleitung ( kai. e; legen ) mit Mk 4,3- 9. Die Redeeinleitungsformel findet sich darüber hinaus in allen anderen Textsegmenten außer in Mk 4,14-20. Die in Mk 4,1-2 erwähnte „Erde“ wird auch in Mk 4,3-9.14-20.26-29.30-32 aufgegriffen und die Erwähnung der parabolai/ j in Mk 4,2 wird in Mk 4,10-13.30-32.33-34 wiederholt. Das in dem Textsegment Mk 4,3-9 genannte Wort avkou,ein (V. 3 und 9) findet sich ebenso in dem Textsegment 4,10-13.14-20.21-25.33-34. Auf die insgesamt enge Verknüpfung von Mk 4,3-9 mit Mk 4,14-20 soll nun nicht nochmals eingegangen werden. Für eine konnexe Struktur sorgten außerdem die Wortgruppe Saat, Säen und Säender. Diese Wortgruppe findet sich neben Mk 4,3-9 auch in V. 14-20, V. 26-29.30-32; ka,rpoj findet sich in Mk 4,19 ( a; karpoj ), in Mk 4,20 ( karpoforou/ sin ) und in Mk 4,26-29. Dies lässt den Schluss zu, dass das Textsegment 4,3-9 mit allen anderen Textsegmenten verbunden ist. Das Textsegment 4,10-13 erweist sich durch das Stichwort parabola,j mit Mk 4,1-2.30-32.33-34 konnex, außerdem ist dieses Textsegment durch das Stichwort basilei,a tou/ qeou/ mit Mk 4,26-29.30-32 verknüpft. Auf die Ver- 74 Lührmann, Mk, 81. <?page no="286"?> 274 wendung der Redeeinleitung und avkou,ein wurde schon in den Ausführungen zu dem Textsegment Mk 4,1-2 hingewiesen. Die enge Verknüpfung von Mk 4,10-13 mit Mk 4,21-25 wurde schon bei der Darstellung der Formatio herausgestellt. So zeigt sich auch Mk 4,10-13 durch verschiedene Konnektivrelationen als mit allen übrigen Textsegmenten verbunden (zu diesen Konnektivrelationen zählen die Verben der Wahrnehmung und des Verstehens sowie die Nennung der basilei,a tou/ qeou/ und der parabolh, ). Das Textsegment Mk 4,14-20 ist durch die bereits erwähnten Lexeme gh/ ( avkou,ein und spei/ rein mit allen übrigen Textsegmenten verwoben. Nur die in Mk 4,14-20 stattfindende Zentrierung auf den lo,goj im Zusammenhang mit avkou,ein findet sich einzig noch in Mk 4,33-34. Aber über die erwähnten Konnexitätsträger (neben avkou,ein ) weiß sich diese Einheit mit den übrigen Textsegmenten vernetzt. Unter Berücksichtigung von avkou,ein hinsichtlich der Frage der Konnexität von Mk 4,1-34 ist es bemerkenswert, dass das Verb in Mk 4,14-20 am häufigsten erscheint. In dieser Kompositionseinheit erfährt das leitmotivisch den Text von Mk 4,1-34 durchziehende Lexem avkou,ein seine größte Konzentration. Bei den Ausführungen zur Notatio von Mk 4,14-20 wurde zudem deutlich, dass die Konnexität unter Berücksichtigung des Lexems avkou,ein auch für dieses separate Textsegment zutrifft. Die rhetorische Stilisierung des Wortes avkou,ein erfolgt in Mk 4,14-20 immer nach demselben Muster. Jede Szene aus Mk 4,3-8 wird dahingehend interpretiert, wie unter den jeweils variierenden Bedingungen der lo,goj gehört werden kann. Aus diesem Grund kann für den Textabschnitt Mk 4,14-20 festgehalten werden, dass er sich in zweifacher Weise bezüglich des Wortes av kou, ein konnex zeigt: Einerseits hinsichtlich der leitmotivischen Verwendung von avkou,ein , die hier ihre größte quantitative Konzentration erfährt, andererseits ist hinsichtlich des Einzeltextsegments Mk 4,14-20 zu beobachten, dass dem Wort eine interne konnexe Struktur zugesprochen werden kann. Als ein starker Konnexitätsträger sind zudem die Mk 4,1-34 durchziehenden Redeeinleitungen anzusehen, die sich in jedem Textsegment, außer in Mk 4,14-20, finden lassen. Die Redeeinleitungen kai. e; legen ( auvtoi/ j ) (V. 2.9.10.21.24.26.30) und kai. le,gei auvtoi/ j (V. 13) fungieren als Konnexitätsträger. Zu beachten ist, dass das Subjekt der Rede namentlich nicht in Mk 4,1- 34 genannt wird. Allerdings wird die konnexe Struktur des Textes auch an verschiedenen Stellen im narrativen Verlauf der Rede gestört. In der syntagmatischen Analyse sind diese Störungen nur aufzuzeigen und zu benennen. Sofern der Text als Text der Ausgangspunkt der Analyse ist, kann es nicht darum gehen, die Texthaftigkeit dieses Textes zu bestreiten, sondern sie mittels einer Theorie zu etablieren. Dazu gehört unabdingbar die Beantwortung der Frage, ob es sich hierbei um einen konnexen Text handelt und vor allem, worin sich diese Konnexität formal zeigt. Wenn die Konnexität an <?page no="287"?> 275 verschiedenen Stellen gestört wird, motiviert dies nicht zu der Frage nach Traditionsstufen, sondern es motiviert zu der Frage, ob diesen Störungen eine Funktion zugewiesen werden kann, die erklären kann, warum an dieser Stelle die Konnexität des Textes eine Unterbrechung erfährt. Diese Frage nach dem „Warum“ kann allerdings nicht mehr im Rahmen einer syntagmatischen Analyse beantwortet werden, sondern hier bedarf es der Einbeziehung semantischer und pragmatischer Aspekte des Bedeutungsaufbaus. Störung erfährt die Konnexität von Mk 4,1-34 jedoch durch die verschiedenen Transformationsprozesse der Referenzidentitätsrelationen. Während evkei,noij sich in Mk 4,11 auf die toi/ j e; xw bezieht, ist mit evkei/ noi in Mk 4,20 die Gruppe derer gemeint, die Frucht bringen. Während evkei,noij in Mk 4,11 also negativ besetzt ist, wird diese negative Besetzung in Mk 4,20 subtil unterlaufen und referiert nun positiv auf diejenigen, die Frucht bringen. In Mk 4,14-20 sind die verwendeten Demonstrativpronomina indexikalisch nicht weiter spezifiziert. Weder ou-toj noch a; lloj , noch evkei/ noj werden näher bestimmt. Es wird zwar narrativ in Mk 4,14-20 deutlich, was die einzelnen durch die eingeführten Demonstrativpronomina differenzierten Hörertypen auszeichnet, aber wer zu den jeweiligen Typen gehört, bleibt offen. Unbestimmt bleibt auch o` spei,rwn (V. 3.14). Im Verlauf von Mk 4,1-34 wird zwar deutlich, dass es sich um eine Redesituation handelt, in der eine Person spricht, allerdings wird diese aktiv sprechende Person nicht namentlich eingeführt. Durch den narrativen Verlauf wird nur gesichert, dass es sich um einen Akteur handelt. Die durch die Redeeinleitungen bestimmte Gruppe auvtoi/ j ist nicht konnex. Während auvtoi/ j in V. 2 sich auf o; cloj plei/ stoj aus V. 1 bezieht, bezieht sich auvtoi/ j in V. 11 auf die sich in V. 10 konstituierende Gruppe. Für die Verwendung von auvtoi/ j in V. 13 ist die mit V. 10 beginnende interne Kommunikationssituation noch vorauszusetzen. Das in V. 21 und V. 24 im Rahmen der Redeeinleitung aufgeführte auvtoi/ j lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Die interne Kommunikationssituation aus Mk 4,10, die oi` peri. auvto.n su.n toi/ j dw,deka betrifft, widerspricht der in Mk 4,33f. vorausgesetzten Kommunikationssituation, die ein größeres Publikum vorsieht. D.h. die narrativ dargestellte Kommunikationssituation wird vierfach differenziert: Während in Mk 4,1f. o; cloj plei/ stoj und in Mk 4,10 oi` peri. auvto.n su.n toi/ j dw,deka hervorgehoben werden, wird in Mk 4,33 eine Situation für auvtoi/ j und in V. 34 eine Situation für toi/ j ivdi,oij maqhtai/ j imaginiert. Während die Gruppe der auvtoi/ j in V. 33 die Gleichnisse ohne Deutung erhalten, erhält die Gruppe der toi/ j ivdi,oij maqhtai/ j die Gleichnisse mit Deutung. Vor diesem Hintergrund ist noch einmal Mk 4,14-20 zu beachten. Denn dieses Textsegment <?page no="288"?> 276 ist die einzige erzählte Deutung, die nicht nur toi/ j ivdi,oij maqhtai/ j zugänglich ist, sondern den Kreis der oi` peri. auvto.n su.n toi/ j dw,deka voraussetzt. Insgesamt ist festzuhalten, dass Mk 4,1-34 ein Text ist, der ohne stabile Konturen auf der Ebene der Subjekte sich präsentiert. Im Rahmen einer Rede des markinischen Jesus bleibt für den gesamten Abschnitt Mk 4,1-34 der Adressatenkreis flexibel. Spätestens ab 4,21 können keine klaren Konturen mehr ausgemacht werden. Durch diese Offenheit widersetzt sich der Text klaren Grenzziehungen. Wer o; cloj und wer oi` peri. auvto.n ist, ist textuell nicht eindeutig bestimmt. Versuche, o; cloj mit denen zu identifizieren, die draußen sind, 75 sind in der Syntagmatik des Markusevangeliums nicht motivierbar. Es ist stattdessen bezeichnend, dass im narrativen Verlauf des Markusevangeliums o; cloj verschiedene und konträre Rollen übernimmt, was zeigt, „that the crowed possesses no unitary role in the gospel“. 76 Es ist festzuhalten, dass o; cloj in der Syntagmatik des Markusevangeliums eine im weitesten Sinn unspezifizierte Gruppe indiziert. Wenn in Mk 4,10 die Zwölf und die oi` peri. auvto.n abgesetzt werden von der Gruppe toi/ j e; xw , stellt dies keinen Anhaltspunkt dar, um eine Referenzidentitätsrelation zwischen toi/ j e; xw und o; cloj herzustellen. Genauso wenig sind die Zwölf und die oi` peri. auvto,n mit denen, die drinnen sind, gleichzusetzen. 77 Textuell ist nur festgehalten, dass dieser Gruppe das Geheimnis der Gottesherrschaft gegeben ist. Doch dass dieses Gegebensein der Gottesherrschaft auch das Drinnensein impliziert, wird gerade nicht gesagt. Syntagmatisch wird vielmehr durch die Frage nach den Gleichnissen (V. 10) angezeigt, dass die Frage der oi` peri. auvto.n su.n toi/ j dw,deka sie als zu der Gruppe gehörig qualifiziert, denen alles in Gleichnissen geschieht und die dieses Gleichnis nicht verstehen (V. 13). Mit Blick auf die Konnexität von Mk 4,1-34 kann zusammenfassend gesagt werden, dass zwar die aktiv redenden Personen im narrativen Verlauf konnex sind, aber der Text keine konnexe Struktur hinsichtlich der Angeredeten aufweist. Dieser syntagmatische Befund sollte nun nicht zu der klassischen Aussage Bultmanns führen, nach der „Mk [...] eben noch nicht in dem Maße Herr über den Stoff geworden [ist], daß er eine Gliederung wagen könnte“, 78 sondern sollte differenzierter beachtet werden. Mit Blick auf die Konnexitität ist hervorzuheben, dass bestimmte Schwerpunkte hinsichtlich der Konnexitätsträger aufzuweisen sind, aber der Text nicht in jeder Hinsicht als konnex anzusehen ist. Die Frage nach 75 So Räisänen, Parabeltheorie, 7. 76 Best, Role, 392; dort auch weitere Belege. 77 Vgl. Tolbert, Sowing the Gospel, 160, die ebenfalls festhält, dass die Polarität von Menge und Jünger nicht gleichzusetzen ist mit einer Außenseiter/ Insider- Zuordnung. 78 Bultmann, Geschichte, 375. <?page no="289"?> 277 den nicht konnexen Teilen ist dementsprechend nicht aus den Augen zu verlieren, sondern für die weitere Ausarbeitung der Konstitution der Kategorie der Bedeutung zu berücksichtigen. So wird zu zeigen sein, dass die Offenheit der angeredeten Gruppen durchaus eine pragmatische 79 Bedeutung hat. Auch die Demonstrativpronomen in Mk 4,14-20 operierten mit einer Offenheit, die eine Identitätsbestimmung der Hörertypen in Mk 4,14- 20 nicht zuließ. Kontinuität erhält Mk 4,1-34 hingegen durch die durchgängige Ausarbeitung in einer direkten Rede, die im rahmenden Eingangs- und Schlussteil jeweils situiert wird und die im narrativen Verlauf von Mk 4,1-34 durch die mehrmalige Wiederholung von kai. e; legen betont wird. Außerdem verleiht die Wiederholung einer großen Anzahl von Lexemen diesem Text eine konnexe Struktur. Unterstützt wird die Konnexität durch die dichte prosodische Struktur, die durch verschiedene Wiederholungen und Gleichklänge von Silben erreicht wird. Als ein Konnexitätsträger wurde darüber hinaus auch avkou,ein bestimmt. Alle Vorkommnisse dieses Lexems weisen eine Einheitlichkeit auf, die durch die direkte Verwendung von avkou,ein erreicht wurde. Die Ausführungen zur Konnexität von Mk 4,1-34 haben gezeigt, warum dieser Text als ein zusammenhängender und vollständiger Text betrachtet werden kann. Die im weiteren Verlauf zu klärende Frage ist, ob, ausgehend von dieser Vollständigkeit und Kontinuität, Mk 4,1-34 auch eine semantische und pragmatische Bedeutung zugeordnet werden kann. Hierbei müssen auch die die konnexe Struktur unterbrechenden Elemente in den kommenden Bedeutungsaufbau mit einfließen. Die Bedeutungstheorie von Petöfi macht darauf aufmerksam, dass die Rede von Einheitlichkeit, Zusammenhang und Kontinuität nur im Zusammenhang mit einer verbindlichen Texttheorie möglich ist. Wenn die Rede von der Einheitlichkeit in der exegetischen Argumentation im Umgang mit den biblischen Texten eine prominente Rolle spielen soll, so bedarf es der Etablierung einer expliziten Theorie, die dies zu leisten vermag. Genau diese Explizitheit leistet die Bedeutungstheorie von Petöfi. Petöfis Bedeutungstheorie zeigt auf, dass die Rede von der „Einheitlichkeit“ eines Textes immer auf eine doppelte Kontingenz hinweist: Einerseits die meiner eigenen Annahmen, andererseits sind auch die Annahmen als kontingent anzusehen, die behaupten, dass die gewählte Beschreibungssprache die originale ist. Es bleibt zu betonen, dass die Einbeziehung der Rhetorikelemente für die Erfassung der Formatio nichts darüber auszusagen vermag, ob die Rhetoriklehre dem Verfasser/ der Verfasserin des Markusevangeliums bekannt war und ob die herausgearbeitete Einheit- 79 Unter „pragmatisch“ wird hier eine Verwendung entsprechend der Terminologie Ecos verstanden. Sie ist nicht gleichzusetzen mit dem von Dibelius, Formgeschichte, 225 diagnostizierten „Pragmatismus“ des Evangelisten Markus. <?page no="290"?> 278 lichkeit mit der Intention des Autors übereinstimmt. Wenn hier eine rhetorische und sprachliche Beschreibung gewählt worden ist, dann geschieht das nicht, um präskriptive Denk- und Ausdrucksweisen nachzuweisen. Vielmehr wurde die rhetorische Beschreibung verwendet, um den Text Mk 4,1-34 einer deskriptiven Analyse zugänglich zu machen, die intersubjektiv nachvollziehbar darlegt, wie sie zu ihrer Bestimmung von Einheitlichkeit und Kontinuität gekommen ist. Das, was die rhetorische Analyse ausmacht, ist nicht der der Rhetorik zugrunde gelegte Systemcharakter, sondern die Funktion der Rhetorik: Nämlich ihre Anwendung auf Texte/ Reden. In genau dieser spezifischen Funktion kann m.E. einzig ein mit den antiken Rhetoriken verbindendes Element gesehen werden. 8. Exkurs: Traditions- und redaktionsgeschichtliche Hypothesen zu Mk 4,1-34 Bevor die Bedeutungsbestimmung zu Mk 4,1-34 fortgesetzt wird, soll ein Exkurs über die zu Mk 4,1-34 vorfindlichen traditions- und redaktionsgeschichtlichen Hypothesen verdeutlichen, was das spezifische Proprium einer Bedeutungstheorie auf der Grundlage von Texten ist, die für sich in Anspruch nimmt, Aussagen zur Einheitlichkeit von Texten zu treffen. Während die Bestimmung der Formatio zeigen konnte, dass es sich bei Mk 4,1-34 um einen konnexen Text handelt, wird beim Ansatz der historisch-kritischen Exegese im Zuge der traditionsgeschichtlichen Arbeit zu diesem Komplex mit den unterschiedlichsten Traditionsstufen gerechnet. Festgehalten wird bei den traditionsgeschichtlichen Hypothesen, dass es sich um eine Redesituation handelt. Zwar bilde die Rede mit ihrer neu einsetzenden, szenischen Einleitung (4,1-2) und den die ganze Rede abrundenden Abschlussversen (4,33-34) eine Einheit, doch sei diese Rede ein aus ehemaligen Einzelperikopen und -logien zusammengesetztes Werk. 80 Einig sind sich die auf der Grundlage des historisch-kritischen Ansatzes arbeitenden ExegetInnen, dass diese Rede eine längere Traditionsgeschichte aufweist und in ihrer Endfassung, wie sie in Mk 4,1-34 vorliegt, auf das Konto des Evangelisten gehe. Der Anlass, nach Traditionsschichten zu fragen, liegt dabei in der Redesituation begründet, die zur Klärung der Frage motiviert, wem die Redeanteile zugeschrieben werden können. Umstritten hingegen ist, inwieweit dem Evangelisten schon eine fest geformte Quelle vorgelegen hat. Innerhalb der exegetischen Diskussion zu Mk 4 plädiert ein Teil dafür, dass Markus hier eine längere Quelle aufgenommen habe, zu der das so genannte Sämannsgleichnis (Mk 4,3-8.9) sowie seine Deutung (Mk 4,13.14-20), das so genannte Gleichnis von der 80 Vgl. zu diesem Konsens im Rahmen der historisch-kritisch arbeitenden Kommentare z.B. Pesch, Mk I, 226; Schweizer, Mk, 47; Gnilka, Mk I, 161. <?page no="291"?> 279 selbst wachsenden Saat (Mk 4, 26-29) und das so genannte Gleichnis vom Senfkorn (Mk 4,30-32) zähle. 81 Den drei eben genannten Gleichnissen - ohne die Gleichnisdeutung - wird häufig ein sehr frühes Traditionsstadium zugeschrieben, teilweise werden sie als ipsissima vox Jesu bestimmt. 82 Demgegenüber werden Mk 4,14-20 von den meisten ExegetInnen im Rahmen des historisch-kritischen Ansatzes als nicht zur Jesusstufe zugehörig angesehen. 83 Allerdings werden Gleichnis und Gleichnisdeutung auf einer sehr frühen Traditionsstufe in Relation zueinander stehend gesehen. Hinsichtlich der Bestimmung der Traditionsstufe von V. 11f. gehen die Meinungen der ExegetInnen auseinander. Mehrheitlich wird angenommen, dass die Worte ursprünglich nicht in diesem Zusammenhang gestanden hätten. Konträr wird allerdings die Traditionsstufe von V. 11f. bestimmt. Entweder wird das Logion auf Jesus selbst zurückgeführt, als vormarkinische Gemeindebildung oder als markinische Einfügung bestimmt. Die Zuordnung von Mk 4,11f. zu einer Jesusstufe 84 wird mit der Annahme begründet, dass die Verse nicht zum sonstigen Bild passen würden, das der Evangelist von den Jüngern und dem Volk sowie ihrer Beziehung zu Jesus zeichnet. Ergänzend wird auf die auffällig vielen Semitismen 85 und das frei abgekürzte Zitat von Jes 6,9f., das dem Targum 86 sehr nahe stehe, hingewiesen. Für eine vormarkinische Gemeindebildung hingegen werden folgende Gründe angeführt: Aus der Targumparaphrasierung von Jes 6,9f. könne nicht belegt werden, dass diese auf Jesus zurückzuführen sei, sondern nur, dass das Logion von einem „Synagogen-Gottesdienst vertrauten Juden“ 87 stammen müsse, der zeitlich irgendwo zwischen Jesus und Markus zu verorten sei. Andere argumentieren, dass in V. 11f. ein vormarkinisch redaktioneller Einschub vorliege, in der sich die negativen Erfahrungen der vormarkinischen Gemeinde durch ablehnende Haltung der Juden gegenüber dem Evangelium spiegeln würden. 88 Ein anderer Teil wiederum sieht in V. 11f. markinische Redaktion am Werk oder bestimmt diese Verse als sekundäre Einfügung, die aber keine 81 Vgl. Pesch, Mk I, 228; Kuhn, Sammlungen, 99ff.; Schweizer, Mk, 48ff.; Gnilka, Mk I, 156ff. 82 Vgl. Weder, Gleichnisse, 105; Kuhn, Sammlungen, 99ff. 83 Grundlegend: Jeremias, Gleichnisse, 75-77. Vgl. auch Bultmann, Geschichte, 202f.; Kuhn, Sammlungen, 116f. 84 Für diese Annahmen vgl. z.B. Jeremias, Gleichnisse, 9ff. 85 Vgl. Jeremias, Gleichnisse, 11 bes. Anm. 1, der auf die vielen Semitismen eingeht. 86 Vgl. Pesch, Mk, 239, der auf die ungewöhnliche Verbindung zum Targum hinweist. 87 Suhl, Funktion, 147. 88 Vgl. Kertelge, Markusevangelium, 48. Ähnlich auch Ernst, Markus, 131.135, der in diesem Logion die negativen Missionserfahrungen der vormarkinischen Gemeinde in Bezug auf Israel verdichtet sieht. <?page no="292"?> 280 Interpretation des Evangelisten darstelle. 89 Bei den VertreterInnen dieser zweiten Variante wird angenommen, dass Markus die ihm überlieferte Tradition aufgegriffen und sie seiner Theologie entsprechend akzentuiert habe, indem er in V. 13b das Unverständnis aller hervorhebt und im Gesamtzusammenhang des Gleichniskapitels in Mk 4,21-25 einige traditionelle Logien einfügt, mit denen er die scharfe Trennung der Verstehenden gegenüber den nicht verstehenden Außenstehenden von V. 11f. aufhebt. 90 Im Rahmen der Argumentation zu den traditionsgeschichtlichen Hypothesen bzw. zur Argumentation um eine vormarkinische Gleichnissammlung werden häufig postulierte Konnexitätsträger für die Argumentation in Anspruch genommen. Dabei wird verkannt, dass Konnexitätsträger zwar den formalen semiotischen Zusammenhang, aber nicht den sinnsemantischen (= Kohäsion) und kohärenten Textzusammenhang sichern. Gerade der sinnsemantische Textzusammenhang ist aber grundlegend für die Bildung von traditionsgeschichtlichen Hypothesen. Dies führt zu einer Vorgeordnetheit von sinnsemantischen Fragen, die dann auf den Textzusammenhang appliziert werden, meistens mit dem Ergebnis, dass nur die Konnexitätsträger herangezogen werden, die den sinnsemantischen Aufbau stützen. Im Rahmen der Argumentation der Theorie von Petöfi führt dies zu dem Vorwurf, dass für die traditionsgeschichtlichen Ansätze die Vorgeordnetheit außertextueller Hypothesen zur die Grundlage gemacht wird, mittels derer Texte interpretiert werden. So wird bei Annahme einer vormarkinischen Gleichnissammlung gerne darauf hingewiesen, dass Mk 4,3.(14ff.).26f.31f. sich aufgrund des gemeinsamen Stichwortes „säen“ bzw. „Saat“ 91 als Anhaltspunkt für eine Gleichnissammlung anbiete. Allerdings werden dabei die Konnexitätsträger „Saat/ säen“ in einer nicht einer Texttheorie verpflichteten Art und Weise für außertextuelle Hypothesenbildung „benutzt“, nämlich die Annahme einer vormarkinischen Gleichnissammlung - freilich ohne Mk 4,14-20 zu berücksichtigen. Stattdessen ist mit der Theorie von Petöfi darauf zu insistieren, dass im Rahmen der Bestimmung der Konnexität ausschließlich der formale semiotische Textzusammenhang maßgeblich ist. Erst wenn ein Text als nicht konnex anzusehen ist, wäre es im Rahmen der Theorie von Petöfi geboten, aufgrund weitergehender Wissensannahmen Hypothesen darüber aufzustellen, warum ein Text als nicht konnex betrachtet werden 89 So Schweizer, Markus, 48ff; Weder, Gleichnisse, 103; anders Jeremias, Gleichnisse, 9ff., der das Logion auf Jesus selbst zurückführen möchte; Pesch, Mk I, 237-239, und Gnilka, Mk, 162-164, gehen davon aus, dass es sich bei dem vorliegenden Logion um Tradition handelt, die vom Evangelisten kompositionell an diese Stelle eingefügt worden ist. 90 Vgl. Weder, Gleichnisse, 107, und die dort genannte Literatur. 91 Explizit Pesch, Mk I, 258 u.ö. <?page no="293"?> 281 muss. 92 Erst dann ist die Einbeziehung außertextueller Wissensbestände gefragt, die in die Hypothesenbildung einfließen und die Rückwirkung darauf haben, was als zusammengehörig angesehen wird und was nicht. Für traditionsgeschichtliche Hypothesenbildung zu Mk 4,1-34 ist darauf hinzuweisen, dass die Klärung der Zusammengehörigkeit keiner Texttheorie verpflichtet ist, sondern orientiert ist am Paradigma „Geschichte“, das aufgrund außertextueller Faktoren bestimmte Traditionsschichten in einem Text voneinander abzugrenzen bemüht ist. Die Hypothese einer vormarkinischen Gleichnissammlung kann mit der Argumentation einer angeblich konnexen Struktur also nicht aufrechterhalten werden. Vielmehr zeigt sich mit Blick auf die Argumentationsstrukturen in der Sekundärliteratur, dass der dort verwendete Konnexitätsbzw. Einheitlichkeitsbegriff sich von außertextuellen Wissensannahmen leiten lässt, die für Mk 4,1-34 wesentlich mit dem dahinter liegenden Jesusbild in Verbindung stehen. Es geht hinsichtlich der Einheitlichkeit um die Frage, ob dem historischen Jesus Mk 4,10f.14-20 zugesprochen werden könne. Hier werden präskriptive Annahmen, die sich aus der claritas der vox Jesu und der Annahme speisen, dass der historische Jesus weniger Gericht gepredigt, sondern vielmehr Heil zugesagt habe, nun in einen textuellen Zusammenhang hinein transportiert werden, um diese präskriptiven Annahmen nun deskriptiv zu beweisen. Festgehalten wird bei den traditionsgeschichtlichen Hypothesen, dass es sich um eine Rede handelt, die einen längeren Traditionsprozess durchlaufen habe. Diese Redesituation wird nach unserer Auffassung durchgängig belegt durch die Konnexitätsträger kai. e; legen ( auvtoi/ j ) (V. 2.9.10.21.24.26.30) und kai. le,gei auvtoi/ j (V. 13). Die Konnexitätsträger werden mit Blick auf die Literatur jedoch vollkommen uneinheitlich verwendet. Während Pesch die „einfache[n] Reihungsformeln“ 93 in ihrer Form ohne auvtoi/ j dem vormarkinischen Sammler 94 zurechnet, stehe die Redeeinleitungsformel mit auvtoi/ j „gerade vor den sekundären Einschüben in die Sammlung“, 95 obwohl auch angenommen wird, dass die Formel auch vormarkinisch Verwendung finde. 96 Wenn einerseits der Konnexitätsträger „Saat“ bzw. „säen“ herangezogen wird, um eine vormarkinische Gleichnissammlung zu postulieren, aber der Konnexitätsträger kai. e; legen , der dem vormarkinischen Sammler zuzurechnen ist, sich nur in Mk 4,26.30 findet 92 Die Entkräftigung der These einer vormarkinischen Gleichnissammlung findet sich bei Sellin, Erwägungen, 519, der zu Recht festhält, dass einerseits eine reine Erfolgstory (Mk 4,26-32), andererseits eine Komplikationsstory erzählt wird (Mk 4,3-9), so dass der das Saatmotiv bestimmende Gedanke, dass alles Frucht bringt, gerade in Mk 4,3-9 sich nicht finden lässt. 93 Pesch, Mk I, 248. 94 Vgl. Kuhn, Sammlungen, 130. 95 Pesch, Mk I, 248. 96 So will Pesch einen vormarkinischen Gebrauch der Formel in Mk 2,27 finden. <?page no="294"?> 282 und gerade nicht in Mk 4,3, wo kai. e; legen auvtoi/ j verwendet wird, führt dies zu dem verwirrenden Ergebnis, dass die herangezogenen Erklärungsmuster, die eigentlich die gleiche Aussage stützen sollen, zu einem exklusorischen Ergebnis führen. Hier zeigt sich, mit welchen Schwierigkeiten eine postulierte „Einheitlichkeit“ zu kämpfen hat, die nicht auf einer verpflichtenden Texttheorie gründet. 97 Während in dieser Arbeit als die inhaltliche Gemeinsamkeit von Mk 4,1-34 die durchgängige Fokussierung auf Wahrnehmungs- und Verstehensphänomene herausgestellt wurde, spielt diese Fokussierung in traditionsgeschichtlichen Hypothesenbildungen eine marginale Rolle und wird vollkommen uneinheitlich behandelt. Während einerseits das Motiv des Hörens in V. 3a.9.23.24 für markinisch gehalten wird, 98 möchten andererseits andere V. 3.9 als vormarkinisch 99 und die übrigen Vorkommnisse als markinisch ansehen. Wenn Mk 4,3-9 zusammen mit 4,26-29.30-32 einer vormarkinischen Gleichnisquelle zugeordnet wird, kann einzig auf die Ähnlichkeiten der inhaltlichen Thematik von „Aussaat und Wachstum“ verwiesen werden. Ansonsten überwiegen die strukturellen Unterschiede. So ist Mk 4,3-9 nicht als Basileiagleichnis gekennzeichnet. Auch der formale Erzählaufbau von Mk 4,3-9 unterscheidet sich signifikant von dem formalen Erzählaufbau von Mk 4,26-29.30-32: Mk 4,1-9 bietet einen formalen Erzählaufbau mit den Elementen: Orientierung, Komplikation (die drei negativen Aussaaten) und Auflösung (Mk 4,8). Bei den beiden Basileiagleichnissen hingegen gibt es keine wirkliche Komplikation, sondern es sind Erzählungen, die von einer nicht realisierten Komplikation zugunsten einer breit geschilderten Auflösung ausgehen. In Mk 4,26-29 ist es das „von selbst“ Fruchtbringen der ausgesäten Saat, und in Mk 4,30-32 ist es die Erzählung von dem kleinen ausgesäten Senfkorn, das nach der Aussaat ein großer Baum wird. Nicht beachtet wird bei der traditionsgeschichtlichen Auslegung von Mk 4,1-34, dass sich das Stichwort avkou,ein leitmotivisch in dem gesamten Textkomplex 4,1-34 finden lässt. In den traditionsgeschichtlichen Arbeiten verkümmert avkou,ein zu einem in den einzelnen Traditionsschichten auftauchenden Aufmerksamkeitspartikel, 100 einer „Weckformel“ 101 oder „Appell“ 102 und mit Blick auf Mk 4,14-20 wird unspezifisch von „Erfahrungen, 97 Auf die Schwierigkeit, über solchermaßen gewonnenen Konnexitätsträger Aussagen über im Text manifestierte Traditionsschichten zu machen, hat Räisänen, Parabeltheorie, 89ff., ebenso hingewiesen wie Sellin, Erwägungen, 517. 98 Vgl. z.B. Sellin, Erwägungen, 517. 99 Vgl. z.B. Weder, Gleichnisse, 101f. 100 Vgl. Pesch, Mk I, 230. 101 Klostermann, Markusevangelium, 41. Schweizer, Markus, 49, sieht ähnlich einen „Weckruf zu einem beteiligten Hören“. 102 Eckey, Markusevangelium, 136. <?page no="295"?> 283 die urchristliche Gemeinden mit diversen Hörergruppen machten“, 103 gesprochen. Deshalb lässt sich zusammenfassend auf der Grundlage der syntagmatischen Dimension der Bestimmung der Bedeutung von avkou,ein in Mk 4,1- 34 festhalten, dass es traditionsgeschichtlichen Hypothesen nicht gelingt, ein theoretisches Instrumentarium anzubieten, dass die postulierte Uneinheitlichkeit von Mk 4,1-34 in theoretisch expliziter Form zu erfassen vermag. Dies gelingt notwendigerweise nicht, da traditionsgeschichtliche Hypothesen nicht mit einer Texttheorie arbeiten, sondern eine „hinterdem-Text-Hermeneutik“ zugrunde legen, die als Matrix an die Texte des Markusevangeliums für die Herausarbeitung der verschiedenen Traditionsschichten angelegt wird. Gegenüber den traditionsgeschichtlich ausgerichteten Arbeiten zu Mk 4,1-34 nimmt die Theorie von Petöfi ihren Ausgangspunkt in der Vorgegebenheit der Zeichen und spricht sich für eine lese- und schreibfähige Instanz aus, die in der Lage ist, die textuellen Manifestationen zu erschließen. 104 9. Fazit Im Rahmen der Bestimmung der syntagmatischen Bedeutung von Mk 4,1- 34 wurde systemimmanent die Textkonstitution von Mk 4,1-34 hinsichtlich ihrer Textur und ihrer Komposition untersucht. Um die Textkonstitution zu erfassen, bedurfte es als Erstes für die Bedeutungsbestimmung eines perzipierten Vehiculums. Hier zeigte sich, dass auf der Grundlage des NT Graece auf perzipierte Sekundärvehicula zurückgegriffen wird und dass die Perzeption im Rahmen einer wissenschaftlichen Behandlung des in der Gegenwart gelesenen Textes des Markusevangeliums im Wesentlichen monomedial abläuft, während in der Antike gelesene Texte multimedial perzipiert wurden. Darüber hinaus wurde auf die Differenzen hinsichtlich der nonverbalen Vertextungsmittel hingewiesen, die in der Bedeutungstheorie von Petöfi Aspekte der Figura darstellen. Während die Ausgabe des NT Graece einen gelayouteten Text aufweist, bei der Absätze, Kapitel, Verse, Worttrennungen und Interpunktionen eingefügt sind, ist dies für die ältesten antiken Handschriften zum Markusevangelium nicht vorauszusetzen. Diese in scriptio continua verfassten Texte boten kaum ein Layout. Die- 103 Eckey, Markusevangelium, 142. 104 Henaut, Oral Tradition, 191, weist ebenfalls für Mk 4 auf, dass „Mark’s oral syntax upon closer inspection turns out to be his habitual mode of textual expression […]. One has Mark’s text, and can discern his redactional shaping of the material, but there is very little to go on to indicate the prior redactional tendencies of his immediate sources, oral or written“. <?page no="296"?> 284 se Unterschiede werden in der pragmatischen Analyse weiter zu beachten sein. Es wurde in der Analyse sichtbar, dass es sich um einen Text handelt, dem Einheitlichkeit und Kontinuität zugeschrieben werden kann. Unterteilt in einzelne Kompositionseinheiten zeigte sich, dass Mk 4,1-34 für die einzelnen Segmente eine starke rhetorische Stilisierung aufweist. Bei der Bestimmung der prosodischen Struktur ließ sich Mk 4,1-34 als ein Text darstellen, dem eine dichte akroamatische Prosodik zugeschrieben werden konnte. Hinsichtlich des Wortes avkou,ein konnte gezeigt werde, dass das Lexem in Mk 4,1-34 als ein Konnexitätsträger fungiert und eine einheitliche Verwendungsweise in Mk 4 hat. Herausgestellt worden ist, dass es bei der Verwendungsweise von avkou,ein in der direkten Perzeption auch immer um Verstehensaspekte geht. Besondere Beachtung hat das Textsegment Mk 4,14-20 erhalten. In dieser Kompositionseinheit kam es zu einer Zentrierung des Lexems avkou,ein , das sich hinsichtlich vier verschiedener Hörtypen ausgestaltet, die das Hören inhaltlich differenzierten. Gehört wird in Mk 4, 14-20 der lo,goj , wobei diese Größe unspezifiziert geblieben ist. Die für Mk 4,1-34 zu veranschlagende konnexe Struktur erfuhr jedoch auch Störungen. Dies gilt besonders auf der Ebene der Subjekte, die angeredet sind. Auch blieben die verwendeten Demonstrativpronomen - besonders in Mk 4,14-20 - unspezifiziert. <?page no="297"?> 285 VIII. Die semantische Analyse von Mk 4,1-34 Die Theorie von van Dijk wendet sich maßgeblich der Frage zu, wie im Rahmen von Interpretationen kognitive Strategien von InterpretInnen gebildet werden, um einen individuellen Bedeutungsaufbau von Texten zu generieren. Um einen Text zu verstehen, muss einerseits auf eine große Menge von (kulturell) determinierten Wissensbeständen zurückgegriffen werden, andererseits müssen die InterpretInnen in der Lage sein, zu einem gegebenen Text ein mentales Modell zu konstruieren. Erst dann kann der Text eine Bedeutung erlangen. Der Ansatz von van Dijk setzt somit seinen Schwerpunkt auf die semantische Dimension von Bedeutung. Im Mittelpunkt seiner Theorie steht die Frage nach einer mental gesteuerten Bedeutungsbestimmung im Rahmen von Textinterpretationen. Der Anspruch seiner Bedeutungstheorie ist es deshalb, diese mentalen Bedeutungsgenerierungen im Rahmen einer Theorie explizit zu machen. Van Dijk versucht, in seiner Bedeutungskonzeption der Referenzialität der Kategorie der Bedeutung gerecht zu werden, jedoch - im Gegensatz zu den in Kapitel I zur Sprache gebrachten Theorien - im Rahmen eines dreidimensionalen Bedeutungsmodells. Hierbei geht er von der Grundüberlegung aus, dass referentielles Wissen sich bildet aufgrund von eigenem kulturell determinierten Wissen, welches sich im Zusammenhang mit Texten als Textwissen erschließt, so dass mentale Bedeutungszuschreibungen immer an die syntagmatische Struktur gekoppelt zu verstehen sind, sollen sie in expliziter Weise darstellbar sein. 105 Im folgenden Abschnitt wird das Modell von van Dijk die Grundlage für die semantische Bedeutungsanalyse von Mk 4,1-34 bilden. Zum einen soll die Makrostruktur von Mk 4,1-34 herausgearbeitet werden, die in grundlegender Weise den sinnsemantischen Bedeutungsaufbau bestimmt. Die Makrostruktur wird von van Dijk als die Vorstellung des globalen Zusammenhangs eines Textes bestimmt und bildet die semantische Textbedeutung ab. Hier wird sich zeigen, welche Rolle avkou,ein bei der Bestimmung der semantischen Textbedeutung zukommt. Dafür werden die in der syntagmatischen Analyse gemachten Überlegungen Berücksichtigung finden. Um dann die semantische Bedeutung von Mk 4,1-34 näher zu er- 105 In ähnlicher Weise votiert auch Vorster, Meaning, 195, für eine syntagmatisch motivierte Referenz in den Bibelwissenschaften, allerdings ohne Einbeziehung kognitionswissenschaftlicher Aspekte, außerdem zeigen sich seine Ausführungen einem statischen Bedeutungskonzept verpflichtet: „Reference is bound to the expression in which it occurs. To put it differently, the nature of reference depends upon the type of content, be it single words, sentences, or discourse”. <?page no="298"?> 286 fassen, wird zudem noch die Bestimmung von Topic und Thema berücksichtigt. Zum anderen wird unter Einbeziehung der kognitiven Elemente beim Bedeutungsaufbau ein mentales Bedeutungsmodell, ausgehend von Mk 4,14-20, dargelegt, um die syntagmatisch motivierte Referenzialität hinsichtlich der verschiedenen Hörertypologien aufzuzeigen. In der syntagmatischen Bedeutungsanalyse im Gefolge der Theorie von Petöfi haben wir schon hervorgehoben, dass dieses Textsegment eine exponierte Stellung in Mk 4,1-34 einnimmt. Im Nachvollzug der bedeutungsgenerierenden Semantisierungen der verschiedenen Hörertypen aus Mk 4,14-20 wird mit der Theorie von van Dijk ein Modell deutlich, das nachvollziehbar macht, wie der kognitive Bedeutungsaufbau unter Einbeziehung von syntagmatisch motivierter Referenzialität vor sich geht. Die Nützlichkeit der Theorie von van Dijk zeigt sich darin, dass diese Theorie in der Arbeit mit biblischen Texten die kognitiven Voraussetzungen zu klären versucht, welche den Bedeutungsaufbau neutestamentlicher Texte beeinflussen. Die Klärung dieser beim Lesen zu veranschlagenden kognitiven Prozesse ist eine mit Blick auf das Verstehen antiker griechischer Texte, die in scriptio continua geschrieben wurden, eine dringliche: „Reading words that are all run together dramatically affects the way a reader processes thoses words. [...] A reader who has to divide letters mentally into words, into phrases, into sentences, and into paragraphs works much harder“. 106 Kognitive Prozesse stellen deshalb einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für den Bedeutungsaufbau antiker Texte dar. Da davon auszugehen ist, dass „orality and writing technology are joint means for accomplishing a common goal: accurate recall of the treasured tradition”, 107 wird die Frage nach der Möglichkeit von kognitiven Bedeutungszuschreibungen zu einer dringlich zu klärenden. 1. Die Bestimmung der Makrostruktur von Mk 4,1-34 In einem ersten Schritt der semantischen Dimension der Bedeutung wird der globale Textzusammenhang von Mk 4,1-34 erfasst werden, der für die Bestimmung der Bedeutung des Wortes avkou,ein relevant ist. Unter der Voraussetzung, dass die globale Bedeutungsstruktur eines Textes in der Makrostruktur abstrakt repräsentiert wird, werden verschiedene Gliederungsversuche zu Mk 4,1-34 zur Sprache kommen, die als Versuche bezeichnet werden können, die Makrostruktur von Mk 4,1-34 zu erfassen. Bei den Gliederungen von Textsequenzen von Bibeltexten handelt es sich um die Zuordnung einer Bedeutungsstruktur zu einem Text, die immer eine inter- 106 Small, Wax Tablets, 19. 107 Carr, Writing, 7. <?page no="299"?> 287 pretativ gewonnene Struktur ist. Mittels der Makroregeln von van Dijk kann die interpretativ gewonnene Struktur daraufhin befragt werden, ob sie eine theoretisch nachvollziehbare Struktur ist. Im Rahmen der Beschäftigung mit einer Zuordnung einer Makrostruktur zu Mk 4,1-34 sind verschiedene Versuche unternommen worden, für Mk 4,1-34 den Textaufbau darzulegen und so den Text in eine Makrostruktur zu überführen. Was demnach in den Gliederungen zu Mk 4,1-34 vorliegt, ist nicht „die“ Bedeutung, sondern immer eine Bedeutungsinterpretation. Deshalb stellt jeder Gliederungsversuch zu einem biblischen Text immer schon eine Interpretation dar, die gerade nicht nur mit dem auskommt, was „da“ steht. Um aber diese Bedeutungsinterpretation nachvollziehbar zu machen, arbeitet das Modell von van Dijk mit dem Begriff der Makrostruktur, die nach bestimmten Makroregeln gebildet wird. Im Folgenden sollen vier verschiedene Entwürfe zum Aufbau von Mk 4,1-34 dargestellt und anschließend kommentiert werden. Dies geschieht mit dem van Dijkschen Theorierepertoire. a.) So schlägt Bas van Iersel folgende Gliederung zu Mk 4,1-34 vor: 108 Der Erzähler berichtet, dass Jesus in Gleichnissen redet (V. 1-2) Jesus erzählt ein Gleichnis (V. 3-9) Jesus belehrt einen kleineren Kreis (V. 10-25) Jesus erzählt weitere Gleichnisse (V. 26-32) Der Erzähler schließt die Erzählung (V. 33-34). 109 Der Schwerpunkt des Aufbaus nach van Iersel ist die Betonung der Verben, die alle aus einem Wortfeld stammen. Es handelt sich um Verben aus dem Wortfeld der verba dicendi. Diesen verba dicendi werden zwei narrativen Ebenen zugeschrieben: Zum einen einer „Jesus-Ebene“, in der Jesus erzählt und belehrt, und zum anderen einer Erzähler-Ebene, in der der Erzähler berichtet und die Erzählung schließt. Grundlegend für diese Gliederung innerhalb der „Jesus-Ebene“ ist außerdem der Begriff des Gleichnisses: „Obwohl man verschiedener Meinung darüber sein kann, was ein Gleichnis und was eine Gleichniserzählung ist, gehe ich davon aus, daß das Gleichnis vom Sämann, dessen Saat zumindest teilweise großen Ertrag bringt, sowohl ein Gleichnis als auch eine Gleichniserzählung ist, während die Gleichnisse von der selbstwachsenden Saat und vom Senfkorn zwar Gleichnisse, aber keine Gleichnisserzählungen sind“. 110 Auf dieser Klassifizierung baut seine Gliederung auf. Der zentrale Abschnitt Mk 4,10-25 wird hingegen unter dem Aspekt des Belehrens von Jesus subsumiert. Nun lässt sich jedoch kritisch anmerken, dass gerade in diesem Segment von einer 108 Van Iersel, Markus, 118. 109 Diese Gliederung wird übernommen von Lehnert, Provokation, 130f. 110 Van Iersel, Markus, 118f. <?page no="300"?> 288 Belehrung nicht gesprochen wird, sehr wohl aber von Gleichnissen. Darüber hinaus ist anzumerken, dass der vorausgesetzte „kleine Kreis“ sich nicht eindeutig textuell abgrenzen lässt. Bei der Bestimmung der Formatio wurde im letzten Kapitel herausgearbeitet, dass Mk 4,1-34 nicht mit klar bestimmbaren Adressaten arbeitet. Der Text entzieht sich der eindeutigen Bestimmbarkeit des bei van Iersel vorausgesetzten kleinen Kreises. Textuell indiziert ist nur die Einführung einer Redesituation, die sich gegenüber dem Erzählerkommentar von Mk 4,1f. auszeichnet und einen kleineren Kreis ab Mk 4,10 voraussetzt. Wann dieser kleine Kreis wieder aufgehoben wird, ist narrativ nicht entfaltet, sondern wird mit Bezug auf den Erzählerkommentar von Mk 4,34 erschlossen. Aufgrund der Feststellung, dass Jesus nicht ohne „Gleichnis“ zu ihnen redete, aber alleine mit seinen Jüngern seiend ihnen alles auslegte, lässt van Iersel seine von ihm gebildete Makrostruktur aufgrund von gattungsgeschichtlichen Wissensannahmen bestimmt sein. Mk 4,3-9.26-32 werden von ihm als Gleichnisse erfasst, die an einen großen Kreis von Zuhörern gesprochen werden. Demgegenüber bestimmt van Iersel Mk 4,10-13.14-20.21-25 als Texte, die zu einem kleinen Kreis gesprochen werden und die nicht als „Gleichnisse“ zu bestimmen sind. Doch womit ist gesagt, dass Mk 4,14-20 oder 4,21-26 nicht auch als „Gleichnis“ zu verstehen sind, wenn auch nicht in dem von van Iersel vorausgesetzten gattungsgemäßen Sinn? Diese fünfgliedrige Komposition arbeitet zudem - entgegen unserer Darstellung der Formatio von Mk 4,1-34 - nicht die herausgehobene Stellung von avkou,ein heraus. In dem Komplex 4,10-25 fehlt darüber hinaus der Begriff „belehren/ Belehrung“, der jedoch für die von van Iersel gebildete Makrostruktur von Mk 4,10-25 maßgeblich ist. Unberücksichtigt bleibt bei dieser Gliederung, dass es sich bei Mk 4,14-20 um den einzigen Abschnitt in Mk 4,1-34 handelt, der eine Deutung bietet. Es kann als Ergebnis zu der von van Iersel erarbeiteten Makrostruktur festgehalten werden, dass sie nur unzureichend die in der syntagmatischen Analyse aufgezeigte Formatio berücksichtigt. Der syntagmatische Befund kommt in der Komposition von Mk 4,1-34, wie van Iersel sie vorschlägt, nicht zur Geltung. Ebenso ist textuell nicht motiviert, dass ab V. 26 die Belehrung eines kleineren Kreises aufhört. Sofern ein kleinerer Kreis vorausgesetzt ist, kann er aufgrund der narrativen Struktur nur bis V. 20 als gesichert gelten. <?page no="301"?> 289 b.) In seinem deutlich umfangreicheren englischsprachigen Reader- Response-Kommentar zu Mk schlägt van Iersel deshalb auch eine deutlich erweiterte Gliederung zu Kap. 4 vor: 111 (A) Teach in images V. 2 (B) The seed V. 3-9 (C) Reaction to the question for an explanation V. 10-13 (D) The image of the seed explained V. 14-20 (E) The lamp and the measure V. 21 (F) Conceal-reveal V. 22-23 (E’) The measure’s measure V. 24-25 (D’) The seed growing by itself V. 26-29 (C’) What is an apt image for God’s kingdom V. 30 (B’) The large shrub grown from small seed V. 31-32 (A’) Speak in images, explain to the disciples V. 33-34. Auch bei dieser Gliederung liegt wieder eine ringförmige Struktur vor, bei der nun allerdings die V. 22-23 im Mittelpunkt stehen. Geblieben sind die äußeren Rahmen (V. 2 und V. 33-34). Plausibel scheint es, auf den Begriff „Gleichnisse“ bei der Gliederung zu verzichten. Denn in der Bestimmung der Formatio konnte hervorgehoben werden, dass es sich bei der Verwendung des Begriffs parabolh, nicht im strengen Sinn um eine Gattungsbezeichnung handelt, sondern die Verwendung des Begriffs parabolh, weist im Rahmen des Markusevangeliums auf Wahrnehmungs- und Resonanzphänomene hin. Im Gegensatz zu seinem vorherigen Gliederungsversuch ist die gebildete Makrostruktur wesentlich differenzierter und versucht, die textuelle Manifestation zu berücksichtigen. Denn die gebildete Makrostruktur ist daran orientiert, aus der textuellen Manifestation wesentliche Elemente zu selektieren und solche Elemente auszulassen, die aufgrund der Selektion als nicht wichtig empfunden werden. Schwierigkeiten bereiten die Abschnitte D und D’. Diese Makrostruktur suggeriert, dass es bei D um den Samen geht. Aber der „Same“ wird ja gerade nicht erwähnt, sondern das, was gesät wird, ist der lo,goj . Zentral geht es in Mk 4,14-20 um das Ergehen dieses lo,goj hinsichtlich der verschiedenen Hörertypen. Unberücksichtigt lässt van Iersel vor allem die Hörzentrierung in Mk 4,14-20. Eine konzentrische Struktur zwischen Mk 4,14-20 und 4,26-29 anzunehmen, wirkt deshalb vor dem Hintergrund der textuellen Manifestation gezwungen. Nicht Plausibilisieren lässt sich außerdem die gesonderte Stellung von V. 30. Der V. 31 bezieht sich eng auf V. 30, so dass eine Trennung der beiden Verse von der syntagmatischen Struktur nicht herzuleiten ist. Auch bei 111 Van Iersel, Mark, 178. <?page no="302"?> 290 der Gliederung von van Iersel bleiben die metakommunikativen Signale unberücksichtigt. Auch der Autor selbst muss hinsichtlich der von ihm gebildeten Makrostruktur festhalten, dass sie sich nicht ohne weiteres aus dem Text Mk 4,2-34 herleiten lässt: „The concentric structure is not perfect, however, for in the last part of the passage (26-32) there is nothing that corresponds to the question for an explanation, and that weakens the evidence for a concentric structure here“. 112 c.) Dewey bietet einen weiteren Gliederungsvorschlag für Mk 4,1-34. Sie legt eine fünfgliedrige konzentrische Struktur zugrunde, in der die V. 21-25 den Mittelteil bilden. 113 A. V. 1-2a Introduction B. V. 2b-20 Parable material C. V. 21-25 Sayings material B’. V. 26-32 Parable material A’ V. 33-34 Conclusion 114 Schon auf den ersten Blick fällt die proportionale Unstimmigkeit zwischen B und B’ auf. Darüber hinaus gibt die Makrostruktur nicht das Thema von Mk 4,1-34 wieder, welches Dewey als Leitthema von Mk 4 bestimmt: „parables are incomprehensible riddles to outsiders“. 115 Die Überlegungen zur syntagmatischen Dimension haben demgegenüber gezeigt, dass der Abschnitt Mk 4,14-20 kein „incomprehensible riddle“ ist und deshalb nicht unter dem „parable“-Begriff subsumiert werden kann. Denn in diesem Abschnitt geht es ja gerade um die Deutung des Unverständlichen. Deweys’ sehr formale Einteilung orientiert sich wie auch van Iersels’ erster Vorschlag zum Aufbau von Mk 4,1-34 an formgeschichtlichen Attributen, die durch die Klassifikationen von „parable material“ und „saying material“ unterstrichen werden. Auch für die Ausführungen von Dewey gilt - wie für die von van Iersel -, dass sie verkürzte Makrostrukturen bilden, die Wesentliches des Textes eliminieren. Die Bezeichnung der Gleichnisse als unverständliche Rätsel lässt sich zudem nicht aus den Gleichnistexten von Mk 4,1-34 erschließen, sondern wird begründet mit Mk 4,10-13. Dies ist aber gerade kein Gleichnistext, sondern müsste nach der von Dewey zugrunde gelegten Klassifikation dem „saying material“ zugeordnet werden. Somit lässt sich der hermeneutische Schlüssel, die Gleichnisse als unverständliche Rätsel zu verstehen, nicht aus den Gleichnissen - nach der Qualifikation von Dewey - erschließen. Er ergibt sich erst vor dem Hinter- 112 Van Iersel, Mark, 177. 113 Besonders vertreten von Dewey, Markan Public Debate, 152.167. Dort auch weitere Literatur. 114 Dewey, Markan Public Debate, 150. 115 Dewey, Markan Public Debate, 150. <?page no="303"?> 291 grund von Mk 4,10-13 und Mk 4,14-20, die aber keine „incomprehensible riddles“ sein wollen, sondern einerseits eine Zuschreibung darstellen, die an die AdressatInnen gerichtet ist, sowie andererseits eine Deutung (Mk 4,14-20), die zum Verstehen führen soll. Auch aus diesem makrostrukturellen Aufbau fällt die Wahrnehmungszentrierung vollkommen heraus, die in der syntagmatischen Analyse bei der Bestimmung der Formatio erarbeitet worden ist. d.) Der letzte Vorschlag zum Aufbau von Mk 4,1-34 stammt von Ludger Schenke aus seinem Kommentar zum Markusevangelium. 116 Auch Schenke veranschlagt einen konzentrischen Aufbau von Mk 4,1-34 mit folgender Makrostruktur: A: 4,1-2: Szenische und thematische Einleitung B: 4,3-9: Öffentliche Rätsel-Lehre Jesu vor Volk und Jüngern mit Aufforderung zum richtigen Hören C: 4,10-25: Interne Unterweisung der Jünger Gründe für die Rätsel-Lehre (4,10-12) - Lösung für das erste Rätsel (4,13-14) - Eschatologischer Ausblick: Alles Verborgene wird offenbar (4,21-22) - Aufforderung zum richtigen Hören (4,23) - Eschatologischer Ausblick: Verheißung für den Hörenden (4,24f.) B’: 4,26-32: Fortsetzung der öffentlichen Rätsel-Lehre Jesu vor Volk und Jüngern A’: 4,33f: Generalisierende Abschlussbemerkung Diese ebenfalls fünfgliedrige konzentrische Makrostruktur weist die gleiche Einteilung in die jeweiligen konzentrischen Abschnitte auf wie van Iersels Gliederungsvorschlag in seinem deutschsprachigen Kommentar. Allerdings werden die Inhalte makrostrukturell anders dargestellt. Leitend ist für Schenke nicht der Begriff „Gleichnis“, sondern der Begriff „Rätsel- Lehre“. Für Schenke ist somit makrostrukturell bestimmend, dass Jesus „lehrte“ und dass die Lehre evn parabolai/ j geschieht, was Auswirkung auf die Art und Weise der Lehre hat. Damit entspricht die von Schenke gebildete Makrostruktur dem syntagmatischen Befund, der festhielt, dass die ganze Szenerie von Mk 4,1-34 eine Lehrsituation darstellt und dass der Begriff evn parabolai/ j mit dem Gleichnisbegriff nicht adäquat zu erfassen ist. Leitend ist für Schenke die Polarität zwischen der öffentlichen Rätsel- Lehre Jesu vor Volk und Jüngern und der dieser entgegen gesetzten, internen Unterweisung der Jünger. Die interne Unterweisung, die Schenke für 116 Vgl. Schenke, Markusevangelium, bes. 123-127. <?page no="304"?> 292 Mk 4,10-25 veranschlagt, möchte er als eine „Prolepse“ 117 verstanden wissen. Doch hier setzt vor dem Hintergrund der syntagmatischen Überlegungen ein wesentlicher Kritikpunkt an: Im Rahmen der Bestimmung der Konnexität wurde herausgestellt, dass sich dem Text gerade im Hinblick auf die jeweils Angeredeten keine klare Konturierung entnehmen lässt. Wann genau nach der internen Unterweisung die Fortsetzung der Rede vor einer Gruppe von Volk und Jüngern wieder einsetzt, wird in V. 26 nicht textuell explizit festgehalten. Nicht konsistent in der makrostrukturellen Anordnung von Schenke ist das Verhältnis von Mk 4,3-9.26-29.30-32 zu Mk 4,21-22.24-25. Während erstere in der makrostrukturellen Anordnung Schenkes als „Rätsel-Lehre“ bestimmt werden, gelten Mk 4,21-22.24-25 als interne Unterweisung. In seinen exegetischen Ausführungen zu der vom ihm formulierten Gliederung hält Schenke jedoch fest, dass es sich bei Mk 4,21-22.24-25 ebenfalls um „Rätsel-Sprüche[...]“ 118 handelt. Somit ist ein Grundpfeiler der makrostrukturellen Anordnung von Schenke - nämlich die öffentliche Rätsel- Lehre versus interne Unterweisung - nicht konsistent. Dennoch ist bei Schenkes makrostruktureller Anordnung hervorzuheben, dass sein Gliederungsvorschlag zu Mk 4,1-34 die Wahrnehmungsperspektive - speziell die des Hörens - berücksichtigt. Doch lässt sich aus seinem Vorschlag noch nicht die leitmotivische Thematik der Betonung des Hörens in Mk 4,1-34 nachvollziehen. So berücksichtigt er zum Beispiel nicht avkou,ein in Mk 4,14-20, sondern bildet für diese Verse die Makrostruktur „Lösung für das erste Rätsel“. Gewürdigt werden muss der Gliederungsvorschlag von Schenke allerdings dahingehend, dass hier erstmalig unter den genannten Gliederungen der Versuch unternommen wird, avkou,ein mit in die makrostrukturellen Überlegungen einzubeziehen. Als Ergebnis zu den besprochenen Gliederungsentwürfen kann festgehalten werden, dass die gebildete Makrostruktur der jeweiligen Entwürfe mit je unterschiedlicher Akzentsetzung versucht, den Text durch einen ihm zugeordneten Aufbau wiederzugeben. Alle Entwürfe sind Versuche, die globale Bedeutungsstruktur von Mk 4,1-34 zu erfassen. Statt nur den linearen und grammatischen Zusammenhang darzulegen, wie in der syntagmatischen Analyse, wird in den Vorschlägen zum Aufbau von Mk 4,1- 34 versucht, den globalen Zusammenhang aufzuzeigen. In der Bedeutungstheorie von van Dijk stellen diese Vorschläge zur Vorstellung des globalen Textzusammenhangs die Bildung einer Makrostruktur dar. Weil die gebildeten Makrostrukturen immer Bedeutungsinterpretationen darstellen, werden die unterschiedlichen Gliederungen zu Mk 4,1-34 verstehbar. Dabei greifen die einzelnen Entwürfe der Gliederungen auf unterschiedliche Regelanwendungen, die so genannten Makroregeln, zurück. 117 Schenke, Markusevangelium, 125. 118 Schenke, Markusevangelium, 125. <?page no="305"?> 293 Van Iersels Gliederungsvorschlag aus seinem deutschsprachigen Mk- Kommentar arbeitet besonders mittels der vierten Makroregel (Konstruieren oder Integrieren), um die gebildete Makrostruktur in Verbindung mit Jesus zu setzen, der allerdings, wie in der Bestimmung der Formatio aufgezeigt, im gesamten Text von Mk 4,1-34 nicht genannt wird. Die Gliederungen von van Iersel (in seinem englischsprachigen Mk-Kommentar) und Dewey verzichten auf die Nennung von Jesus. Einzig die Gliederung von Schenke erwähnt noch Jesus, denn die öffentliche Rätsel-Lehre wird an die Person Jesu gebunden. Der Schwerpunkt von Bas van Iersels Gliederung in seinem deutschsprachigen Kommentar liegt auf der Aktivität des Erzählers bzw. auf der erzählerischen Aktivität von Jesus. Durch diese Schwerpunktsetzung erreicht die Makroregel „Auslassen“ ein starkes Gewicht, denn in der von van Iersel gebildeten Makrostruktur fallen die Inhalte, was erzählt wird, was berichtet und was gelehrt wird, vollkommen weg. Nur die Aktivität des jeweiligen narrativen Akteurs 119 (Erzähler bzw. Jesus) wird berücksichtigt. Diese Aktivität wird bei der gebildeten Makrostruktur überwiegend konstruiert, denn die von van Iersel in die Makrostruktur implementierten Verben finden sich nicht textuell manifestiert in Mk 4,1-34. Hierin zeigt sich die größte Differenz zu dem in seinem englischsprachigen Kommentar gegebenen Gliederungsvorschlag, denn dieser setzt nun seinen Schwerpunkt auf die Themawörter von Mk 4,1-34 und versucht diese zu erfassen. Dies ist auch das Vorgehen von Dewey, allerdings versucht der Gliederungsvorschlag von Dewey im Gegensatz zu dem Gliederungsvorschlag van Iersels in seinem englischsprachigen Kommentar die Makrostruktur im Wesentlichen durch die Makroregeln „Generalisieren“ und „Konstruieren/ Integrieren“ herzuleiten, während die Makrostruktur von van Iersel sich besonders auf die Makroregeln „Auslassen“ und „Selektieren“ stützt. Die Inhalte von Mk 4,1-34 werden generalisiert, indem die konzentrische Struktur durch eine Zusammenstellung anhand formaler Ähnlichkeiten vorgenommen wird. Schenkes Gliederungsversuch orientiert sich, ausgehend von der Lehrsituation, an der Makroregel „Konstruieren“. Die Lehrsituation wird, ausgehend von V. 2, als grundlegend für die gesamte Situation in Mk 4,1-34 erkannt, so dass sie für die einzelnen Teilsequenzen von Mk 4,3-32 den makrostrukturellen Verknüpfungspunkt darstellt. Auch die Makroregel „Auslassen“ kommt ebenso häufig zur Anwendung, denn die Inhalte der öffentlichen Rätsel-Lehre werden in der von Schenke gebildeten Makrostruktur nicht aufgenommen. Dies zeigt sich aber vor dem Hintergrund des Parabelbegriffs 120 im Verlauf des Markus- 119 Nicht erfasst ist allerdings die Frage derjenigen, die um ihn sind samt den Zwölf. Ihre Aktivität spielt keine Rolle. 120 Der Parabelbegriff findet sich 13-mal bei Mk. Vgl. Donahue, Gospel, 28. <?page no="306"?> 294 evangeliums durchaus als geboten an, denn er wird im narrativen Verlauf des Markusevangeliums mit unterschiedlichen Erzählinhalten eingeführt (vgl. Mk 3,23; 7,17; 12,1.12). Da also der Parabelbegriff nicht im Sinne einheitlicher inhaltlicher Ausführungen im Markusevangelium verwendet wird, sollte es bei der gebildeten Makrostruktur zur Einbeziehung dessen kommen, was inhaltlich als parabolh, erzählt wird. Deweys leitendes Interesse lässt sich bestimmen als der Versuch, die Makrostruktur mittels formgeschichtlicher Überlegungen abzubilden, so dass über die Form auch der Inhalt erschlossen werden kann. Hierfür generalisiert Dewey Mk 4,2b-20 sowie 4,26-32 als „parable material“ und Mk 4,21-25 als „sayings material“. Die so gebildete Makrostruktur orientiert sich an dem Wissen um die Form, welche gleichzeitig auch für gewisse Inhalte steht. Sie gibt im Gegensatz zu van Iersels Gliederungsversuch aus seinem englischsprachigen Kommentar keine Themawörter aus dem Text wieder, sondern lässt essentielle thematische Wörter des Textes ausfallen. Dies geschieht zu Gunsten einer Erfassung der Form, die von den vorliegenden Themawörtern abstrahiert und aus dieser Rekurrenz auf die Form Informationen für den Aufbau von globaleren Konzepten ableitet, die dann formgeschichtlich erfasst werden. Mit der Kennzeichnung von V. 1-2a als „introduction“ und V. 33-34 als „conclusion“ wird ihre formgeschichtliche Orientierung nochmals unterstrichen. Denn im Zuge der redaktionsgeschichtlichen Prämisse, dass besonders die Rahmenelemente den Anteil und die Leistung des Evangelisten erkennen lassen, bieten „introduction“ und „conclusion“ die vom Evangelisten eingefügten Verse, die das Gleichnismaterial und Redematerial in den Aufriss des Markusevangeliums einbetten. Auf diese Weise wird Mk 4,1-34 mittels der dritten Makroregel, dem Generalisieren, wiedergegeben. So fasst das Superkonzept „Gleichnismaterial“ die Abschnitte 4,3-9.14-20 sowie 26-29 und 30-32 zusammen, aber gerade vor dem Hintergrund der Makroregel „Generalisieren“ fällt noch einmal auf, dass damit nicht V. 10-13 erfasst ist. Diese Verse hätten besser zum Superkonzept „sayings material“ gepasst, das Dewey für die zentral stehenden Verse 21-25 bildet. Demgegenüber versucht die von van Iersel gebildete Makrostruktur in seinem englischsprachigen Kommentar eine Gliederung anhand der thematischen Leitwörter zu entwickeln, die die Grundlage seiner Makrostruktur bilden. Hierzu werden besonders die Makroregeln „Auslassen“ und „Selektieren“ herangezogen. Ausgelassen wurde nicht nur der Parabelbegriff, sondern auch die Wahrnehmungszentrierung von Mk 4,1-34, für die besonders das Wort avkou,ein sorgt. Dies zeigte sich deutlich in der gebildeten Makrostruktur zu Mk 4,14-20, wo in verkürzender Weise die Makrostruktur „Image of the seed explained“ gebildet wird. Alle Gliederungsentwürfe - bis auf den Entwurf von Schenke - operieren zu Mk 4,1-34 mit der Makroregel „Auslassen“ hinsichtlich der als <?page no="307"?> 295 grundlegend anerkannten Wahrnehmungszentrierung von Mk 4,1-34, bei der avkou,ein eine herausragende Rolle spielt. So kommt es bei den gebildeten Makrostrukturen zu Mk 4,1-34 zum Wegfall der Beachtung der Wahrnehmungszentrierung in Mk 4,1-34. Es wird dieser Wahrnehmungszentrierung keine „Funktion“ zugestanden. Die im Text gegebenen Informationen zur Wahrnehmungs- und Verstehensebene werden als nicht-essentiell und irrelevant angesehen. Dies widerspricht dem syntagmatischen Befund unter besonderer Berücksichtigung des Wortes avkou,ein . Diese Nichtberücksichtigung der Wahrnehmungszentrierung bei van Iersels beiden Gliederungsvorschlägen und Deweys Gliederungsvorschlag zu Mk 4,1-34 geschieht entweder zu Gunsten einer formgeschichtlichen Orientierung (Dewey) oder zu Gunsten einer Selektion inhaltlich einseitig ausgewählten Themawörter (van Iersel in seinem englischsprachigen Kommentar) oder zu Gunsten der Aktionen der narrativ extrahierten Akteure - Jesus bzw. Erzähler - in Mk 4,1-34 (so van Iersel in seinem deutschsprachigen Kommentar). Der Entwurf von Schenke ist insofern eine Ausnahme, da hier versucht wird, ausgehend von der Grundmakrostruktur „Rätsel-Lehre“ und „interne Unterweisung der Jünger“ zu einer Einbeziehung der Wahrnehmungsperspektive zu kommen, aber in der einseitigen Betonung als „Aufforderung zum richtigen Hören“. Dies bildet allerdings nur einen Aspekt der Wahrnehmungszentrierung des Textes. Nicht nachvollziehbar ist vor dem Hintergrund der „Aufforderung zum richtigen Hören“, dass Mk 4,14-20 keine Berücksichtigung unter dem Aspekt der Wahrnehmungszentrierung erfährt. Gerade in diesem Abschnitt geht es um die Art und Weise des Hörens, die ihren Abschluss in der Hervorhebung der Hörenden, die Frucht bringen, findet. Wenn Schenke für Mk 4,14- 20 die Makrostruktur „Lösung für das erste Rätsel“ bietet, übergeht er bei der Bildung seiner Makrostruktur die zentrale Stelle, in der das Hören thematisch gerade relevant ist. Dies ist umso unverständlicher, beachtet man seine Auslegung zu der Textsequenz Mk 4,14-20. Dort wird betont, dass Mk 4,14-20 als die Deutung von Mk 4,3-9 deutlich macht, dass die „erzählte Geschichte [...] ein Rätsel über das richtige Hören des Wortes Jesu [ist], über ein Hören also, das wirklich zur Aufnahme des Gehörten und zum Fruchtbringen führt (vgl. 4,20)“. 121 Mit der Nichtbeachtung der Wahrnehmungszentrierung in Mk 4,14-20 reiht sich der Entwurf von Schenke in die anderen makrostrukturellen Anordnungen für Mk 4,1-34 ein. Entweder werden die Verse dem Gleichnismaterial zugerechnet (so Dewey), als Interpretation/ Lösung von Mk 4,3-8 verstanden (so Schenke und van Iersel in seinem englischsprachigen Kommentar) oder undifferenziert als „Lehre“ (so van Iersel in seinem deutschsprachigen Kommentar) angesehen. Eine eingehende Berücksichtigung von Mk 4,14-20 findet in keinem der makrostrukturellen Entwürfe zu 121 Schenke, Markusevangelium, 130. <?page no="308"?> 296 Mk 4,1-34 statt. Dies widerspricht dem Befund aus der syntagmatischen Analyse, bei der Mk 4,14-20 eine exponierte Stellung einnimmt. e.) Es soll im Folgenden eine alternative makrostrukturelle Organisation von Mk 4,1-34 aufgezeigt werden, bei der - entsprechend den Beobachtungen in der syntagmatischen Analyse - die Verse 14-20 eine zentrale Stellung einnehmen und die Wahrnehmungszentrierung von Mk 4,1-34 berücksichtigt wird. Vor dem Hintergrund der Einbeziehung des syntagmatischen Befundes ist zu beachten, dass avkou,ein leitmotivisch den gesamten Abschnitt Mk 4,1-34 durchzieht und zentral in V. 14-20 zur Geltung kommt. Deshalb kann bei der Darstellung der Makrostruktur die Wahrnehmungszentrierung nicht vernachlässigt werden. A V. 1-2: Erzählerkommentar: Jesus lehrt vor viel Volk Vieles in „Parabeln“ B V. 3-9: Eine „Parabel“ mit metakommunikativem Signal C V. 10-13: Parabolische Methode als Wahrnehmungsphänomen D V. 14-20: Interpretation der „Parabeln“ hinsichtlich verschiedener Hörertypologien des lo,goj C’ V. 21-25: Wahrnehmungsphänomene in der parabolischen Methode B’ V. 26-32: Zwei weitere „Parabeln“ A’ V. 33-34: Erzählerkommentar: Jesus spricht in „Parabeln“, die eine Wahrnehmungsperspektive erfordern In dieser konzentrischen Gliederung steht der Abschnitt D (Mk 4,14-20) zentral. Die zentrale Stellung erklärt sich aus der besonderen Thematik dieses Abschnitts. Er bietet unter Aufnahme der Struktur von Mk 4,3-9 eine Interpretation der „Parabeln“. Innerhalb von Mk 4,1-34 bietet Mk 4,14-20 die einzige Interpretation. Inhaltlich geht es bei dieser Interpretation um das Hören. Im Zentrum der Abschnitte C und C’ stehen Wahrnehmungsphänomene. Dies macht deren konzentrische Anordnung möglich. Die Abschnitte B und B’ sind thematisch als markinische „Parabeln“ zu klassifizieren, die ihre Zusammenstellung erlaubt. Die Abschnitte A und A’ sind beide als Erzählerkommentare gekennzeichnet. Motiviert wird diese makrostrukturelle Anordnung zudem durch den Aspekt der Wohlgeformtheit der einzelnen makrostrukturellen Abschnitte: Mk 4,1-2 (A) umfasst insgesamt 46 Worte, der Abschnitt A’ umfasst 26 Worte; Mk 4,3-9 (B) umfasst 105 Worte und der Abschnitt B’ mit Mk 4,26-32 umfasst 117 Worte; Mk 4,10-12 (C) umfasst 52 Worte, während der Abschnitt C’ 74 Worte umfasst; Abschnitt D mit Mk 4,14-20 umfasst 146 Worte. Auch wenn man der Versaufteilung des NT Graece 27. Aufl. folgt, fällt dieser quantitative Parallelismus auf: Während die Abschnitte A (Mk 4,1-2) <?page no="309"?> 297 und B (Mk 4,3-9) insgesamt 9 Verse lang sind und sich über 17½ Zeilen erstrecken (mit insgesamt 151 Wörtern), kann für die Abschnitte A’ und B’ ebenfalls gesagt werden, dass sie neun Verse lang sind und sich über 17½ Zeilen des Textvehiculums erstrecken (mit insgesamt 143 Wörtern). Auch die Abschnitte C und C’ beanspruchen den gleichen Raum: acht Zeilen bzw. 8 ½ Zeilen. Das längste Textsegment ist der Abschnitt D, welcher über 18 ½ Zeilen geht. Die zentrale Stellung, die Mk 4,14-20 nach dieser makrostrukturellen Gliederung erhält, wird durch den quantitativen Befund aus dem Textvehiculum bestätigt. Folgende inhaltliche Gründe können für diese Makrostruktur angeführt werden: Zwischen Mk 4,10-13 und Mk 4,21-25 bestehen thematische Ähnlichkeiten. 122 Einerseits weisen die Worte krupto,n und avpo,krufon in Mk 4,22 konzeptuell in die Nähe von musth,rion in Mk 4,11, 123 andererseits formt o[j ga.r e; cei( doqh,setai auvtw|/ (Mk 4,25) eine Inklusion mit u`mi/ n to. musth,rion de,dotai (Mk 4,11). Das Syntagma evge,neto avpo,krufon (Mk 4,22) erinnert an evn parabolai/ j ta. pa,nta gi,netai (Mk 4,11). Die Aufforderung in Mk 4,24 ruft 4,12 in Erinnerung, wo ebenfalls ble, pein und avkou,ein zusammen verwendet werden. 124 Sehr deutlich wird der Zusammenhang von V. 10-13 mit V. 21-25, wenn der zentral stehende Teil Mk 4,14-20 entfernt wird: „If one were to remove vv 14-20, the subject of Jesus’ parabolic method would continue coherently in answer to the disciples’ question in v. 10“. 125 Beide Textsegmente haben eine starke Zentrierung auf Wahrnehmungsphänomene, die ihre makrostrukturelle Zusammenordnung unterstützt. Während die Wahrnehmungszentrierung in Mk 4,10-13 hinsichtlich der ihr zukommenden prinzipiellen Relevanz thematisiert wird, dient die Wahrnehmungszentrierung in Mk 4,21-25 dazu, ihre spezielle Relevanz aufzuzeigen. Die prinzipielle Relevanz ist in Mk 4,10-13 ausschlaggebend, weil die Art und Weise der Wahrnehmung zu einem prinzipiellen Unterscheidungskriterium zwischen einer Außengruppe und einer Innengruppe wird. Demgegenüber wird in Mk 4,24 betont, dass es um eine bestimmte Größe geht, die als ti, bestimmt wird und die Wahrnehmung auf diese bestimmte Größe lenkt. Es geht in Mk 4,21-25 nicht um die prinzipielle Relevanz der Wahrnehmung, sondern um die Relevanz der Wahrnehmung, die einer bestimmten Größe entgegenzubringen ist und die durch 122 Vgl. Fay, Structure, 68. 123 Vgl. France, Mark, 209: „Here in Mark the wording of v. 22 does not in itself make explicit whether the uncovering of secrets is the role of God or of disciples (or of both! ), nor to whom they are to be disclosed, but the fact that the issue of revelation and concealment has already been raised in vv. 11-12 provides a background against which it may be interpreted, and the hidden thing there was the secret of God`s kingship.” 124 Vgl. Marcus, Mystery, 127. 125 Fay, Structure, 69. <?page no="310"?> 298 die Bildworte versucht wird zu beschreiben. Insofern ist etwas Richtiges gesehen, wenn festgehalten wird, dass die Bildworte als eine Art Auslegung der Parabeltheorie gelesen werden können. 126 Der Begriff „parabolische Methode“ soll den schon in der syntagmatischen Analyse betonten Befund hervorheben, dass es um die Art und Weise einer verstehensrelevanten Rezeption geht, bei der die Art und Weise der Rezeption ausschlaggebend ist. Es kann deshalb mit einer gewissen Plausibilität gesagt werden, dass der Begriff in den Mittelpunkt der gebildeten Makrostruktur zu V. 10-13 und V. 21-25 gehört, in der die V. 11-12 und V. 23-24a eine herausragende Rolle zur Bildung der Makrostruktur spielen. Mit Blick auf den Gesamtkomplex von Mk 4,1-34 kann außerdem festgehalten werden, dass beide Sequenzen aufgrund der Näherbestimmung der Art und Weise des Verstehens und der Resonanz eine Besonderheit bilden, so dass sie zu einer makrostrukturellen Zusammenordnung motivieren. Der Begriff „parabolische Methode“ soll deswegen die in der Formatio herausgearbeitete Zentrierung auf Wahrnehmungs- und Verstehensphänomene wiedergeben und auf ihre Resonanzebene hin thematisiert werden. Diese Resonanz bezieht sich in V. 10-13 explizit auf das Gegebensein des Geheimnisses der basilei,a tou/ qeou/ (V. 11). In Mk 4,21-25 hingegen ist die basilei,a tou/ qeou/ nicht genannt, aber es besteht eine Verknüpfung von musth,rion de,dotai (Mk 4,11) mit krupto,n und avpo,krufon in Mk 4,22. Es kann indiziert werden, dass es thematisch in Mk 4,21-23 in erster Linie um das „Entbergen“ des Verborgenen geht - also um das Entbergen des Geheimnisses. Über die Thematik des Entbergens kann sodann ein Bezug zur basilei,a tou/ qeou/ hergestellt werden. 127 Der Bezug wird dadurch motiviert, dass Mk 4,10-13 vor dem Hintergrund des Gegebenseins des Geheimnisses 126 So schon Wrede, Messiasgeheimnis, 70f. Gegen Weder, Gleichnisse, 104, der ausführt, „daß der Skopus dieser Worte sich nicht mit V. 11ff. verträgt“ und will Mk 4,21-25 als eine markinische Abschwächung der V. 11ff. verstehen, die s.E. eine scharfe und endgültige Trennung von Verstehenden und Unverstehenden anzeigt. Vor dem Hintergrund obiger Überlegungen ist allerdings festzuhalten, dass diese endgültige Trennung gerade nicht explizit ausgesagt wird, da jede Zuschreibung der Außengruppe unterbleibt und für alle Gruppen gilt, dass sie die gleichen Voraussetzungen zum Verstehen mitbringen, nämlich ihre Wahrnehmungsfähigkeit. Erst aufgrund dieser gemeinsamen Ebene kommt es zu der Unterscheidung von Verstehen und Nicht-Verstehen. 127 Gegen Jülicher, Gleichnisreden II, 86, der den Bezug von V. 21f. auf V. 11f. für „de[n] gröbste[n] Widerspruch“ hält. Seiner Meinung nach hängen die Verse einzig an dem karpoforei/ n von Mk 4,20. Beide Verse wollen „die Forderung, dass der Glaube mit Früchten hervortrete, begründen“ (S. 92). Diese syntagmatisch nicht zu erhärtende Deutung ist wesentlich von Jülichers Anliegen motiviert, Jesus als einen genialen Rhetor darzustellen, der der Geheimniskonzeption von V. 11f. durch den Evangelisten diametral entgegengesetzt ist. Aus diesem Grund kann auch die in Mk 4,21f. vorliegende Abschwächung dieses Geheimniskonzeptes nicht in Jülichers Gleichnistheorie integriert werden. Ähnlich auch Räisänen, Parabeltheorie, 80-82. <?page no="311"?> 299 der basilei,a tou/ qeou/ zwei Gruppen konstituiert, wobei nur für die negativ besetzte Außengruppe gesagt wird, dass sie die geforderte Wahrnehmungs- und Verstehensfähigkeit nicht hat. In Mk 4,21ff. wird Mk 4,10ff. dahingehend weitergeführt, dass das Gegebensein des Geheimnisses in seiner positiven Konsequenz thematisiert wird. Es ist gerade etwas Naheliegendes - so wenig wie ein angezündetes Licht unter einen Scheffel oder unter ein Bett gestellt werden soll -, so soll das gegebene Geheimnis nicht geheim bleiben, sondern offenbar werden. 128 Darauf deuten in V. 21 die Progression von mh,ti , welches eine negative Antwort erwartet, hin zu ouvc( welches eine positive Antwort erwartet. Auch in V. 22 ist eine Entwicklung von negativ zu positiv zu bemerken: „v 22 moves twice from negation (ou ... oude) to affirmation (ean m ... alla)“. 129 Die Frage, wie das nun geschehen könne, wird beantwortet mittels der speziellen Relevanz der Wahrnehmungsfähigkeit hinsichtlich dessen, was offenbar werden soll. Die Textsegmente Mk 4,10-13 (C) und Mk 4,21-25 (C’) arbeiten auf ihre Art und Weise mit Erschließungs- und Wissensfragen, zu denen der Text motiviert, diese aber nicht textuell manifestiert. Während der Abschnitt C zu der Frage führt, was die Wahrnehmungszentrierung im Zusammenhang mit der Rede vom Gegebensein des Geheimnisses des Reiches Gottes bedeutet, so leitet der Abschnitt C’ zu der Frage hin, was das ist, was offenbar und damit wahrnehmbar ist, und welche Rolle die Wahrnehmung im Zusammenhang mit dem spielt, was offenbar ist. Es geht in beiden Textsequenzen um „epistemological questions“. 130 Beide Textsegmente haben durch ihre offen gelassenen Fragen eine metakommunikative Funktion, die für eine makrostrukturelle Zusammenordnung spricht. Beide Textsegmente fordern so zu einer kognitiven Aktivität von Seiten der LeserInnen/ HörerInnen auf, denn beide Textsegmente führen Dinge aus, aber lassen deren Bestimmbarkeit offen. So wird zwar festgestellt, dass das Geheimnis der Gottesherrschaft gegeben ist, aber was das Geheimnis ausmacht, wird nicht narrativ entfaltet. Hier führt auch der Abschnitt 4,21ff. nur scheinbar ein Stück weiter. Er hält fest, dass das Geheimnis offenbar werden soll. Dafür bedarf es der speziellen Wahrnehmungsfähigkeit, die mit dem zusammenhängt, was man selbst zuzumessen bereit ist. Durch die offen gelassene Frage, worin das Gegebensein des Geheimnisses der basilei,a tou/ qeou/ besteht, werden die LeserInnen zu Inferenzprozessen angeregt. Allerdings ist die Klärung dieser Frage keine, die 128 Vgl. Tolbert, Sowing the Gospel, 161; Lührmann, Markusevangelium, 89, der ebenfalls betont, dass es in V. 22 nicht um das Verborgensein des Geheimnisses geht, sondern um ein Offenbarwerden, das Lührmann auf die Verkündigung beziehen möchte. 129 Marcus, Mystery, 127. 130 Marcus, Mystery, 153. <?page no="312"?> 300 bei der Bestimmung der Makrostruktur erfolgt, sondern sie wird in der pragmatischen Analyse wieder aufgenommen werden. Die Bildung der Makrostruktur hängt zudem mit der angenommenen internen Struktur von C und C’ zusammen, denn für beide lässt sich eine chiastische Gliederung aufweisen, wie in der Formatio herausgearbeitet worden ist: Nach Mk 4,10 handelt es sich inhaltlich um eine Frage an Jesus durch oi` peri. auvto.n su.n toi/ j dw,deka zu seinem Verstehen der parabola,j , während es sich in Mk 4,13 um eine Frage von Jesus an eben diese Gruppe handelt bezüglich ihres Verstehens der parabola,j . Wenn die jeweiligen Fragekomplexe als die rahmenden Elemente angesehen werden, dann steht im Mittelteil V. 11f. Der chiastische Aufbau von Mk 4,10-13 wird durch die in V. 10 gestellte Frage der oi` peri. auvto.n su.n toi/ j dw,deka an Jesus sowie Jesu Frage an eben diese Gruppe in V. 13 deutlich. Mit V. 13a wird durch th.n parabolh.n tau,thn ein Rückbezug auf Mk 4,3-9 hergestellt. Vor dem Hintergrund, dass die Zwölf und die mit ihm Seienden in V. 10 nach ta.j parabola,j fragen, womit nur das Textsegment Mk 4,3-9 gemeint sein kann, greift Jesus mit seiner Frage die Frage der oi` peri. auvto.n su.n toi/ j dw,deka wieder auf. Mk 4,11f. rückt aufgrund der beiden Fragen, die einen Rahmen innerhalb des Textsegments Mk 4,10-13 bilden, ins Zentrum dieser chiastischen Anordnung. In dem Textsegment Mk 4,21-25 steht durch die strukturell ähnlich organisierten V. 21-22 und V. 24-25 der Vers 23 im Mittelpunkt. 131 Sowohl V. 21 als auch V. 24 beginnen mit dem einleitenden kai. e; legen auvtoi/ j . Das in V. 22 und 25 befindliche ga, r , das jeweils den vorangehenden Vers erläutert, unterstützt den strukturellen Zusammenhang, so dass in diesem Textsegment der V. 23 zentral steht, gerahmt von Mk 4,21-22 und Mk 4,24-25. Die Teile B (Mk 4,3-9) und B’ (Mk 4,26-32) beinhalten Jesu Lehre, welche in parabolai/ j geschieht, indiziert für Teil B durch Mk 4,2 und für den Teil B’ indiziert durch Mk 4,33. D.h. die Bestimmung, dass es sich in Mk 4,3-9 sowie Mk 4,26-32 um Jesu Lehre in parabolai/ j handelt, erfolgt jeweils aus der vorgeordneten bzw. der nachgeordneten Sequenz. Für Konnexität sorgten außerdem die Wiederholungen von kai. e; legen in Mk 4,9.26.30 sowie die Verwendung des Saatmotivs, die eine makrostrukturelle Zusammenstellung von B und B’ plausibilisieren. Während Mk 4,3-9 von dem Samen handelt, dessen Ergehen von der Qualität des Bodens abhängt, 132 ist in Mk 4,26-32 die Thematik der selbstdurchsetzenden Saat leitend. Die Abschnitte A und A’ zeichnen sich durch ihre explizite Stilisierung als Erzählerkommentare aus, die beide Abschnitte makrostrukturell zu verknüpfen erlaubt. Darüber hinaus thematisieren beide Abschnitte das Reden in „Parabeln“, das in V.2 als Lehrsituation des Sprechenden imagi- 131 Vgl. Dewey, Public Debate, 151; Fay, Structure, 70. 132 Vgl. Weder, Gleichnisse, 109; France, Mark, 190; gegen Tolbert, Sowing the Gospel, 127ff.; Iersel, Reader, 105, die den Säenden herausstellen wollen. <?page no="313"?> 301 niert wird, während in V. 33 die Lehrsituation hinsichtlich der Angesprochenen/ der RezipientInnen entfaltet wird. Während die Eingangsverse von Mk 4 die Lehrsituation, die im Rahmen des Markusevangeliums als eine von Jesus initiierte Aktivität 133 zu verstehen ist (vgl. Mk 1,21f.; 2,13; 6,2.34; 8,31; 9,31; 10,1; 11,17; 12,14.35; 14,49), von Seiten des Lehrenden darstellen, stellt V. 33f. diese Lehrsituation von Seiten der Rezipierenden dar. Für die gebildete Makrostruktur zu V. 1f. ist wichtig, dass der Vorgang des Lehrens aufgenommen wird, denn im narrativen Verlauf des Markusevangeliums ist in Mk 4,1-34 die erste imaginierte Lehrsituation, die auch darlegt, was Jesus lehrt. 134 Dieser in Mk 4,3-32 dargelegte Inhalt dessen, was gelehrt wird, ist dementsprechend auch für Mk 4,33f. wichtig. Denn von dem Inhalt der Lehre her erschließt sich die Haltung gegenüber dieser Lehrsituation. Die HörerInnen verhalten sich zu diesem Inhalt rezeptiv, d.h. wie sie hören können. Für die Jünger wird festgehalten, dass ihnen der Inhalt der Lehre ausgelegt wird (V. 34). Auch der rahmende Charakter dieser als Erzählerkommentar stilisierten Textsequenzen unterstützt eine makrostrukturelle Zusammenordnung von Mk 4,1f. sowie von Mk 4,33f. Das im Rahmen der vorgeschlagenen Gliederung zentral als Mittelteil stehende Segment Mk 4,14-20 zeichnet sich durch eine Zentrierung des Hörens in Bezug auf den lo,goj aus. Diese Verknüpfung zwischen lo,goj und avkou,ein durchzieht den gesamten Abschnitt Mk 4,14-20. In Mk 4,15-20 werden vier unterschiedliche Arten des Hörens aufgeführt, die in ihrer unterschiedlichen Qualität zu einem jeweils unterschiedlichen Ergehen des Logos führen. Dieses zentral stehende Textsegment ist eine konzentrierte Erzählung über Wahrnehmungs- und Rezeptionsprozesse, die hinsichtlich des lo,goj entfaltet werden. Der Konnexitätsträger avkou,ein des Textsegments Mk 4,1-34 wird in Mk 4,14-20 selbst thematisiert und hinsichtlich der verschiedenen Arten des Hörens differenziert. Mit dieser Ausdifferenzierung der verschiedenen Arten des Hörens des lo,goj zeigt sich das Textsegment Mk 4,14-20 einerseits gekoppelt an Mk 4,3-9, andererseits aber auch durch die Implementierung der Hörertypologien und des lo,goj losgelöst von Mk 4,3-9. Hinsichtlich der syntagmatischen Struktur wurde zwar eine enge Verknüpfung beider Textsegmente deutlich, die zeigte, dass Mk 4,14-20 die syntagmatische Struktur von Mk 4,3-8 aufnimmt, doch im Rahmen der Bestimmung der Makrostruktur ist zu beachten, dass die Thematik in Mk 4,14-20 eine andere ist. Nicht mehr die unterschiedlichen Saatböden bestimmen das 133 Es ist plausibel, die gebildete Makrostruktur mit Jesus in Verbindung zu bringen, obwohl er nicht genannt wird. Aber das Lehren ist im Markusevangelium eine Aktion, die Jesus zugeschrieben wird. 134 Vgl. Hooker, Mark, 119: „Although Mark has several times referred to the fact that Jesus taught, he has so far told us nothing about the content of that teaching, apart from the summery in Mk 1,15 and the sayings in the various conflict stories“. <?page no="314"?> 302 Thema, sondern die das Textsegment Mk 4,14-20 thematisch bestimmenden Elemente bilden nun av kou, ein und lo,goj . Es geht um das Hören auf den lo,goj , das unter der Aufnahme der vierfach ausdifferenzierten Saatorte in Mk 4,3-8 nun übertragen wird auf vierfach differenzierte Hörertypologien. Während in Mk 4,14-20 das Hören inhaltlich hinsichtlich der vierfach unterschiedenen Hörertypen ausdifferenziert ist, wird der lo,goj nicht näher entfaltet. Der lo,goj setzt nur voraus, dass er gesät (V. 14.15) und dass er hörbar (V. 15.16.18.20) ist. Unter Berücksichtigung des rezipierten Textvehiculums ergibt sich eine makrostrukturelle Organisation, die der komplexen Wahrnehmungszentrierung von Mk 4,1-34 gerecht zu werden versucht. In dieser Gliederung wurde eine konzentrische Struktur veranschlagt, bei der Mk 4,14-20 als Mittelteil besondere Aufmerksamkeit erfahren hat. Für diese makrostrukturelle Gliederung spricht die Wohlgeformtheit der einzelnen Textsequenzen. Makrostrukturell bietet die Bestimmung der Abschnitte B und B’ die größte Schwierigkeit. So fügt sich das Textsegment B’ (Mk 4,26-32) thematisch nicht so nahtlos in die erwähnte Wahrnehmensfokussierung von Mk 4,1-34 ein. Vielmehr liegt in V. 26 ein Situationsumbruch vor. 135 Hier wird die Ebene der Verstehens- und Rezeptionsproblematik, die explizit ab V. 10 angeführt war und als Thema in den Rahmungen von Mk 4,3.9 mitschwang, verlassen, um eine neue Thematik einzuführen, nämlich die der basilei,a tou/ qeou/ . Zwar ist durch die Saatthematik eine makrostrukturelle Verknüpfung mit Mk 4,3-9 plausibel zu machen, dennoch bedarf es der Erfassung der Fokussierung auf die basilei,a tou/ qeou/ .Während die basilei,a tou/ qeou/ in Mk 4,11 zwar schon genannt worden ist, dort aber hinsichtlich ihres Gegebenseins und der Rezeptionsfähigkeit des Gegebenseins des Geheimnisses der basilei,a tou/ qeou/ eingeführt worden ist, geht es nun ab V. 26 um die inhaltliche Thematisierung der basilei,a tou/ qeou/ . Um das Verhältnis zwischen der basilei,a tou/ qeou/ und der Wahrnehmungszentrierung näher zu erfassen, arbeitet die Theorie von van Dijk mit einer hilfreichen Unterteilung, die im Folgenden aufgegriffen werden soll. 2. Topic und Textthema in Mk 4,1-34 Das Thema eines Textes, in dem von van Dijk dargelegten Sinn, ist bestimmt als das, was in den Begriffen der Makrostrukturen von Texten erfasst werden kann. Das Textthema fragt nach dem, wovon eine Passage als Ganze handelt. Von der Bestimmung der Formatio her wurde deutlich, dass das Textthema in Mk 4,1-34 nicht einheitlich ist. Während es in Mk 4,3-9 und 26-32 um Saatgeschehnisse im Zusammenhang mit parabolai/ j 135 Van Iersel, Markus, 117. <?page no="315"?> 303 geht, wechselt das Thema in Mk 4,10-13 sowie in Mk 4,21-25. In beiden Textsegmenten spielen Rezeptions- und Wahrnehmungsphänomene eine grundlegende Rolle, die auch in Mk 4,14-20 virulent sind, wo es um das Hören des lo,goj geht. Zugleich ist darauf hinzuweisen, dass in Mk 4,14-20 die Thematik des Säens eine Rolle spielt. Denn einerseits wird ausgesagt, dass der lo,goj gesät ist, andererseits dass die auf unterschiedliche Weise Hörenden die auf unterschiedliche Böden gesäten Hörer sind. In der gebildeten Makrostruktur wurde versucht, die bei der Bestimmung der syntagmatischen Bedeutungsstruktur zentral stehenden Wahrnehmungs- und Verstehensbezüge in die zu den einzelnen Textsequenzen gebildeten Makrostrukturen einfließen zu lassen. Die Wahrnehmungs- und Verstehensebene stellte eine leitmotivische Durchdringung des gesamten Textsegmentes von Mk 4,1-34 dar. Die Wahrnehmungs- und Verstehensebene, die den gesamten Textabschnitt Mk 4,1-34 durchzieht und eingebettet ist in die thematischen Ausführungen dieses gesamten Abschnitts, lässt sich mit der Theorie von van Dijk weiter differenzieren. Die Differenzierung zwischen Textthema und leitmotivischer Inszenierung kann mittels der Unterscheidung von Textthema und Topic dargestellt werden. Mit der Unterscheidung von Textthema und Topic ist ein texttheoretisches Instrumentarium zur Hand, das die Engführungen der vorgestellten Gliederungsentwürfe zu Mk 4,1-34 zu vermeiden in der Lage ist: Wegen der Suche nach einem dominanten Thema verschwand die in Mk 4,1-34 zu findende Wahrnehmungszentrierung in den jeweiligen Entwürfen bei van Iersel und Dewey. Einzig der Entwurf von Schenke berücksichtigte die Wahrnehmungszentrierung in Mk 4,1-34. Um zu verhindern, dass diese Wahrnehmungszentrierung durch ein dominantes Textthema zum Verschwinden gebracht wird, ist es hilfreich eben diese Unterscheidung zwischen Textthema und Topic zu machen. Im Gegensatz zum Textthema will das Topic auf die Frage antworten, „was will der Text damit sagen? “. Nachdem in der syntagmatischen Analyse herausgearbeitet wurde, dass avkou,ein leitmotivisch den gesamten Abschnitt 4,1-34 durchzieht, ist mittels des Topics zu erklären, wie sich die Leitmotivik zu den Themen in Mk 4,3-9.10-13.14-20.21-25 verhält. Einerseits spielt die Wahrnehmungszentrierung in Mk 4,2-9.14-20 in Verbindung mit dem Thema „Aussaat“ eine Rolle, andererseits ist die Wahrnehmungszentrierung in Verbindung mit dem Thema der parabolischen Methode relevant (vgl. Mk 4,10-13 und Mk 4,21-25). Die Konzentration auf Wahrnehmungs- und Verstehensphänomene in Mk 4 gibt somit das Topic vor: „Such a concentration of attention on the verb avkou,w throughout the discourse not only draws the hearer’s attention but tells us that this is a discourse about ‚hearing’“. 136 Das Topic hält fest, dass die Wahrnehmungszentrierung grundlegend ist für das Verständnis des Textthemas. Mit Be- 136 France, Mark, 184f. <?page no="316"?> 304 zug auf das Textthema wählt das Topic sozusagen immer ein bestimmtes Element aus. Mit Blick auf Mk 4,3-9 macht das metakommunikative Signal in V. 3 und 9 als Topic deutlich, dass für das Saatgeschehnis in V. 3b-8 eine Wahrnehmungshaltung gefordert ist, die das Hören betont. Mk 4,3-9 will hinsichtlich der ersten parabolh, betonen, dass für das Verstehen des Textthemas ebenfalls das Hören gefordert wird. Hinsichtlich des Abschnittes Mk 4,10-13 wird deutlich, dass die parabolische Methode gekoppelt ist an Wahrnehmungsphänomene, die sich nicht nur auf das Hören beziehen, sondern auch auf das Sehen. Die Bestimmung des Topics als Wahrnehmungszentrierung umfasst nun beides: Hören und Sehen. In Mk 4,10-13 nimmt die Wahrnehmungszentrierung hinsichtlich des Themas - nämlich der parabolischen Methode - eine zentrale Position ein. Auch in Mk 4,21-25 rückt die Wahrnehmungszentrierung nun innerhalb der parabolischen Methode durch das metakommunikative Signal in V. 23.24 ins Zentrum. Hier wird durch das Topic der Wahrnehmungszentrierung signalisiert, dass das Textthema der parabolischen Methode hinsichtlich der Wahrnehmungsphänomene Sehen und Hören in einem Resonanzzusammenhang steht. In dem Abschnitt Mk 4,33f. wird sodann das Topic der Wahrnehmungszentrierung auf die Gesamtheit der erzählten parabolai/ j reflektiert. Die Ausdifferenzierung von Topic und Textthema sorgt innerhalb des semantischen Bedeutungsaufbaus nach der Theorie von van Dijk dafür, dass keine einseitige Rekurrenz auf ein dominantes Textthema bei den gebildeten Makrostrukturen erfolgt. Stattdessen wird durch Topics das Textthema in bestimmter Weise aktualisiert. Dies soll noch hinsichtlich eines weiteren im Text auszumachenden Topics verdeutlicht werden: nämlich die basilei,a tou/ qeou/ . Die Rede von der basilei,a tou/ qeou/ stellt nicht das Textthema in Mk 4,1-34 dar, sondern ist - ebenso wie die Wahrnehmungszentrierung - der Ebene des Topics zuzuordnen. Mit Blick auf Mk 4,11.26.30, wo sich die basilei,a tou/ qeou/ textuell manifestiert, ist festzuhalten, dass nicht die basilei,a tou/ qeou/ das Thema ist, sondern die basilei,a tou/ qeou/ immer dem Topic und damit der Frage, was der Text damit sagen will, zugeschrieben wird. Thematisch geht es in den Abschnitten Mk 4,10-13.26- 29.30-32 einerseits um die parabolische Methode als Wahrnehmungsphänomen, andererseits um eine „Parabel“, die von einer von selbst wachsenden Saat erzählt, und um eine „Parabel“, die vom Wachstum des kleinen Senfkornsamens zu einem großen Gewächs erzählt. Erst durch die Verbindung von Topic und Thema erhalten die Textsegmente ihr Spezifikum. Und von diesen Überlegungen her ist Mk 4,3-9 zwar auch als parabolh, zu kennzeichnen, aber sie hat nicht das gleiche Topic. Weil das Topic in Mk 4,3-9 die Wahrnehmungszentrierung ist, kann die Funktion von Mk 4,3-9 auch nicht identisch sein mit der Funktion von Mk 4,26-29.30-32. Das Textthema in Mk 4,3-9 ist das Geschick der Saat auf den unterschiedlichen Bö- <?page no="317"?> 305 den, deshalb ist das Textthema von Mk 4,3-9 durch den Vorgang von Saat und Wachstum mit Mk 4,26-29 und Mk 4,30-32 verbunden. Aber die Frage nach dem, was der Text damit sagen will, differiert in Mk 4,3-9. In Mk 4,3-9 steht als Topic die Wahrnehmungszentrierung. Im Zusammenhang mit dem Textthema soll das „Hören selbst […] ‚meditiert’ werden“. 137 Insofern ist die Zusammenstellung von Textthema und Topic in Mk 4,3-9 die Vorbereitung für die Verschmelzung von Textthema und Topic, wie sie in Mk 4,14-20 geschieht. Mit Blick auf V. 14-20 kann gesagt werden, dass nun das Topic aus Mk 4,3-9 selbst zum Thema geworden ist oder genauer: Es aktualisiert das Topic in themenrelevanter Dimension. Aus diesem Grund sind Überlegungen, nach denen es sich bei Mk 4,3-9 auch um ein Basileiagleichnis (wie Mk 4,26-29 und Mk 4,29-32) handele und nur die Einleitung des ursprünglichen Gleichnisses mit der Einleitungsformel basilei,a tou/ qeou/ durch den Evangelisten Markus im Zuge seiner redaktionellen Tätigkeit weggefallen sei, nicht plausibel. 138 Vielmehr wird durch Mk 4,3-9 in eindringlicher Weise Mk 4,14-20 vorbereitet. Denn die in Mk 4,3-9 vollzogene Verknüpfung von Topic und Thema wird in Mk 4,14-20 zur Grundlage der Transformation des bisherigen Topics, welches nun zum Thema wird. Mit Blick auf das gesamte Textsegment Mk 4,1-34 wird bei der Bestimmung des Topics der Wahrnehmungszentrierung, welches den gesamten Text durchzieht, deutlich, dass dieses Topic eine grundlegende pragmatische Funktion erhält. Unterstützt durch die konnexe Struktur und die akroamatische Prosodik erhält das Topic der Wahrnehmungszentrierung mit Bezug auf die HörerInnen die Funktion, die HörerInnen bzw. LeserInnen in die akroamatische Dimension des Textsegments, die sich in seiner Prosodik und Leitmotivik zeigt, hineinzuholen. Das Mk 4,1-34 bestimmende Topic der Wahrnehmungszentrierung wendet sich gegen einen „homo absconditus“. Insofern greift die Überlegung von Eckey zu kurz, dass die „Lehre in Gleichnissen [...] für Markus eine Form der distanzierten, zum aufmerksamen Hören und Nachdenken herausfordernde Mitteilung“ 139 ist. Im Gegenteil: Um Distanz im Umgang mit den Wahrnehmungsphänomenen geht gerade nicht. Die Wahrnehmungszentrierung dient im gesamten Textsegment dazu, Distanz zu überwinden. Dies gilt für die Aufrufe zum Hören genauso wie für Mk 4,14-20 (es geht immer um die Relation von Hören und einer Handlung); aber auch Mk 4,33f. lässt auf eine aneignende Form des Hörens schließen. So dient die Wahrnehmungszentrierung in Mk 4,1-34 vielmehr dazu, die Reziprozität der Wahrnehmungsphänomene mit dem zweiten in Mk 4,1-34 grundlegenden Topic in ein Naheverhältnis zu stellen, nämlich der 137 Pesch, Mk I, 231. 138 So beispielsweise Lührmann, Markusevangelium, 80. 139 Eckey, Markusevangelium, 135. <?page no="318"?> 306 Rede von der basilei,a tou/ qeou/ . Diese Koppelung der beiden Topics ist zentral für Mk 4,1-34. Hinsichtlich des Verhältnisses von „Basileia“ und „Hören“ geht es um eine gewisse Paradoxie der unmöglichen Gegenwart mit Blick auf Nähe und Ferne; oder anders ausgedrückt: Es geht um die Bestimmung einer Relation, die eigentlich von sich aus fern liegt: nämlich um die Bestimmung der Relation der Wahrnehmung - konkret des Hörens - im Verhältnis zur Bestimmung der basilei,a tou/ qeou/ . Weder verweist die basilei,a tou/ qeou/ direkt auf das Hören, noch ist durch das Hören umstandslos die basilei,a tou/ qeou/ hervorzurufen. Für beide Topics ist es in Mk 4,3-9.14-20.26-29.30-32 nun relevant, dass sie durch das Thema „Vorgang von Saat und Wachstum“ miteinander in Verbindung gestellt werden. Sowohl die Wahrnehmungszentrierung, besonders des Hörens, wird mit dem Thema „Vorgang von Saat und Wachstum“ (vgl. Mk 4,3-9.14-20) verknüpft als auch das Topic der Gottesherrschaft (vgl. Mk 4,26-29.30-32). Über die thematische Verknüpfung eines am Erfolg orientierten Vorgangs gewinnen auch die beiden Topics im Lichte eines positiven Ausgangs Gestalt. So ist Pöttner zuzustimmen, wenn er für diese doppelte Verknüpfung in Mk 4,3-9.14-20 festhält, dass mittels der Saat- und Wachstumsthematik „die Kontingenz von kommunikativem Erfolg“ 140 ausgeführt wird. In Mk 4,3-9.14-20 dient die Saat- und Wachstumsthematik der Selbstthematisierung der Wahrnehmungsprozesse, während die Saat- und - stärker noch - die Wachstumsthematik für die Spontanität der basilei,a tou/ qeou/ fruchtbar gemacht wird. So kann Pöttner davon sprechen, dass die „Spontanität des Wachstumsprozesses [...] ihr [= basilei,a tou/ qeou/ ; Anm. K.D. ] Emergenzmodus ist“. 141 Die beiden Koppelungen des Themas mit den unterschiedlichen Topics sind allerdings durch die Art und Weise ihrer thematischen Entfaltung unterschieden. Während in Mk 4,3-9.14-20 durch die binäre Strukturierung der Wachstumsgeschehnisse in erfolgreiche und nicht erfolgreiche die nicht glückenden Wachstumsprozesse im Blick bleiben, werden diese in Mk 4,26-29.30-32 nicht berücksichtigt. 142 Als Ergebnis kann somit festgehalten werden, dass durch das Thema „Vorgang von Saat und Wachstum“ die beiden grundlegenden Topics von Mk 4,3-9.14-20.26-29.30-32 miteinander verbunden sind. Die Funktion der Koppelung der beiden Topics über ein einheitliches Thema liegt darin, ein 140 Pöttner, Zeit, 147. 141 Pöttner, Zeit, 156. 142 Dies bemerkt auch Sellin, Erwägungen, 519, der aus diesem Grund auch dafür votiert, Mk 4,3-9 nicht als Reich-Gottes-Gleichnis zu bezeichnen. Wenn das Gleichnis Mk 4,3-9 ebenfalls als Reich-Gottes-Gleichnis zu titulieren wäre, bei dem nur der Anfang im Rahmen des Überlieferungsprozesses verloren gegangen ist, so ist zu berücksichtigen, dass „der bestimmende Gedanke ‚nicht alles bringt Frucht’ [...] in diesen Zusammenhang überhaupt nicht hinein“ passt. <?page no="319"?> 307 Naheverhältnis von zwei Topics auszudrücken, die von sich aus nicht notwendig in einem Naheverhältnis miteinander stehen. Wie schon angedeutet, ist hinsichtlich des Topics „Wahrnehmungs- und Resonanzphänomen“ die Stellung von Mk 4,14-20 zentral, denn in diesem Textsegment verknüpft sich das Thema mit dem Topic aus dem Segment Mk 4,3-9. Es geht um Saatgeschehnisse, die mit dem Topic „Wahrnehmung bzw. Resonanzphänomen“ in einen Zusammenhang gestellt werden. Das Topic wird nun narrativ thematisch entfaltet, indem es zu einer Verknüpfung des Vorgangs des Säens mit lo,goj und mit avkou,ein kommt: In Vers 15: spei,retai ))) lo,goj ))) avkou,swsin ; in Vers 16: speiro,menoi ))) avkou,swsin ))) lo,gon ; in Vers 18: speiro,menoi ))) lo,gon avkou,santej ; in Vers 20: spare,ntej ))) avkou,ousin ))) lo,gon . Das Saatgeschehen wird auf das Wort bezogen, welches auf unterschiedliche Arten gehört wird, wobei die Abhängigkeit der Art des Hörens bestimmt wird von den schon in Mk 4,3-9 dargelegten vier verschiedenen Bodenarten. Auf der Grundlage des Topics „Wahrnehmungs- und Resonanzphänomene“ werden Hörertypologien entwickelt, die sich differenzieren hinsichtlich des Umgangs mit dem gesäten Wort entsprechend den unterschiedlichen Bodenarten. Es geht in dem genannten Textsegment Mk 4,14-20 um das „Wie des Hörens“. Anhand dieses „Wie’s“ lassen sich verschiedene Typen von Hörern bilden, die sich alle dadurch kennzeichnen lassen, dass sie das Wort hören und aufgrund der folgenden Aktion(en) eine Haltung gegenüber dem lo,goj aufzeigen. Diese Haltung gegenüber dem lo,goj dient dann ganz im Sinne der in der syntagmatischen Analyse aufgezeigten binären Strukturierung als positiv oder negativ gewertete Haltung. 143 Unter Hörer„typologie“ wird eine ganz bestimmte Verwendung des Begriffs „Typologie“ 144 anvisiert: Nämlich als narrativer Hinweis. In diesem Sinn wird die Typologie zu einem heuristischen Werkzeug „for discerning and describing an interpretative device whereby texts [...] are shaped or read, consciously or unconsciously, so that they are invested with meaning by correspondence with other texts of a ‚mimetic’ or representational key”. 145 In diesem Sinn wird Typos zu einem narrativen Funktionsbegriff, so kann auch für die narrative Ebene entsprechend formuliert werden: „Kein Mensch (oder Gegenstand) ist an sich Typos, sondern er wird situationsbezogen dann als Typos bezeichnet, wenn durch ihn oder in ihm etwas unmittelbar sichtbar wird. Weil tu,poj die Relation zwischen Typisie- 143 Wenn Weder, Gleichnisse, 113, mit Blick auf das „Fruchtbringen“ in V. 20 festhält, dass hier zwar die Werke impliziert sind, aber diese seien „noch klar als creatura verbi verstanden“, steht im Hintergrund eine nicht der Enzyklopädie der frühen ChristInnen verpflichtete Aussage einer diastatischen Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium. Ihm ist allerdings zuzustimmen, dass es auffällig ist, dass das Fruchtbringen in V. 20 narrativ eingespielt, aber nicht weiter ausgeführt wird. 144 Vgl. dazu: Ostmeyer, Typologie, 112-131. 145 Young, Typology, 35. <?page no="320"?> 308 rendem und Typisiertem benennt, bedarf es keines Gegenbegriffs“. 146 Für eine narrative Funktion des Begriffs muss die Situationsbezogenheit entsprechend auf den textuellen Kontext bezogen sein, in dem sich die Situationsbezogenheit manifestiert. Dabei ist davon auszugehen, dass ein tu,poj gerade nicht einen Unterschied zwischen den in Beziehung gesetzten Größen bezeichnet, sondern für die Identität der Vergleichsaspekte steht. „Was jeweils tu,poj und was Abbild ist, ist eine Frage des Aspektes und der Intention“. 147 Entsprechend der Bestimmung des Typos als narrativer Funktionsbegriff geht es also um die im Ecoschen Sinne intentio operis, die den Typos bestimmt. Im vorliegenden Fall von Mk 4,14-20 fungieren deshalb die unterschiedlichen personifizierten Saatorte als Typoi, weil es ihre Funktion ist, das jeweils Typische der sich im narrativen Kontext entfaltenden Charaktere sichtbar werden zu lassen. 148 Daher involvieren die sich in Mk 4,14-20 formierenden Hörertypologien als literarisches Phänomen einerseits Mk 4,3-9 hinsichtlich der Anknüpfung an das Ergehen des Gesäten auf den unterschiedlichen Böden. Andererseits stellt sich ausgehend von Mk 4,14-20 die Frage nach weiteren intratextuellen Verknüpfungen hinsichtlich der narrativ ausgeführten unterschiedlichen Hörer und ihres Umgangs mit dem gesäten Wort. 149 Deshalb darf das hier anvisierte Verständnis der Typologie als ein intratextuelles Phänomen angesehen werden. Es geht um die intratextuelle Verknüpfung des Gesäten mit dem Wort (hier geschieht eine intratextuelle Verknüpfung von Mk 4,3-9 und Mk 4,14-20) sowie darüber hinaus um eine intratextuelle Verknüpfung derjenigen, die das Wort hören, mit möglichen narrativen Charakteren des Markusevangeliums. Unter Charakteren sollen - ganz im aristotelischen Sinne - die sich in der Nachahmung von Handlungen zeigenden Handelnden hinsichtlich „Neigungen und deren Beschaffenheit“ 150 verstanden werden. Das heißt, ein Charakter offenbart sich durch die gewählten Handlungen, entspre- 146 Ostmeyer, Typologie, 129. 147 Ostmeyer, Typologie, 129. 148 Malbon, Narrative Criticism, 30, betont, dass die Charakterisierung durch „Typen“ in der antiken Literatur nicht ungewöhnlich war. 149 Diese Auffassung hat Berechtigung für einen Text, der im Kontext eines anderen Textes - in diesem Fall das Markusevangelium - vorliegt. Selbstverständlich kann die Typologie auch als ein intertextuelles Phänomen aufgefasst werden. Von einer intertextuellen Bestimmung her müsste die Frage nach einer Typologie als Methode im Rahmen christlicher Hermeneutik selbstverständlich vollkommen neu gestellt werden und hat nichts mehr mit dem gängigen Typologieverständnis gemein, wie es beispielsweise von Goppelt, Typos, 18, formuliert wurde: „Gegenstand typologischer Deutung können nur geschichtliche Fakta, d.h. Personen, Handlungen, Ereignisse und Einrichtungen sein [...]. Eine typologische Deutung dieser Objekte liegt vor, wenn sie als von Gott gesetzte, vorbildliche Darstellungen, d.h. ‚Typen’ kommender und zwar vollkommenerer und größerer Fakta aufgefaßt werden“. 150 Aristot. poet. 1450b. <?page no="321"?> 309 chend dem, was jemand tut oder nicht tut. 151 Ausgehend von dem, was getan oder nicht getan wird, ist das Resultat der Handlung nicht aufgrund einer „Schlechtigkeit und Gemeinheit“ entstanden, „sondern wegen einer Verfehlung“. 152 Hinsichtlich ihres Tuns oder Nichttuns lassen sich die narrativen Charaktere in Form eines Typos erfassen. „With regard to most literature even remotely related to the time of the Gospels, it is argued generally that characters were types rather than individuals in any sense, and that they seldom diverged from traits that were initially given to them in the narrative”. 153 Die Zuordnung der narrativen Charaktere zu Typen geschieht intratextuell im Markusevangelium ausgehend von Mk 4,14-20. Als Text hat Mk 4,14-20 seine Texthaftigkeit und Vollständigkeit auch ohne Mk 4,3-9; wie auch Mk 4,3-9 eine Texthaftigkeit und Vollständigkeit auch ohne Mk 4,14-20 zugesprochen werden kann. Aber durch den Makrotext des Markusevangeliums werden diese beiden Texte in einen narrativen Kontext gestellt, der ihre intratextuelle Perspektive aufzeigt. Intratextualität ist jedoch keine zeitliche Größe im Sinne eines Zuerst und Danach, sondern als ein Textphänomen zu verstehen und muss als solches mittels einer zugrunde gelegten Texttheorie untersucht werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung trifft die Klassifizierung von Mk 4,14-20 als Allegorese nicht den Punkt, sofern es sich bei der Allegorese um eine exegetische Technik handelt, mit der die zeitliche und sachliche Distanz zwischen einem vorgegebenen bildhaften Stoff und der Situation seiner Anwendung durch das Herantragen eines metaphorischen Sinns überbrückt werden soll. Zwar sind die von Klauck 154 gemachten Differenzierungen allegorischer Texte hilfreich und weiterführend, dennoch werden sie nicht der Feststellung gerecht, dass es sich bei den von Klauck aufgelisteten Allegoresen um ein intratextuelles Phänomen handelt, bei dem gerade die narrative „Gleichzeitigkeit“ entscheidend ist, die die zwischen den Texten herrschende narrative Autonomie absichert. Die Hörertypologien in Mk 4,14-20 sind deshalb als intratextueller Hinweis zu verstehen, diese Hörertypologien als narrativ entfaltete Repräsentation der Typologien in Charakteren des Markusevangeliums zu identifizieren. Die Zuordnung von narrativen Charakteren zu den vierfach ausdifferenzierten Hörertypologien aus Mk 4,14-20 gelingt gerade deshalb, weil die RezipientInnen die Charaktere des Markusevangeliums nicht in 151 Diesen aristotelischen Ansatz greift auch Vorster, Meaning, 171, auf: „In the Gospel of Mark characterization takes place mainly through the narration of action”. 152 Aristot. poet. 1453a. 153 Burnett, Characterization. 154 Klauck, Allegorie, bes. 45-91. <?page no="322"?> 310 einem ontologischen Sinn des Wortes kennen. 155 Die RezipientInnen haben nicht mehr Wissen bezüglich dieser Typologien als ihnen durch den Text zur Verfügung gestellt wird. D.h. ausgehend von Mk 4,14-20 können nur dann die Typologien im Markusevangelium „kontextualisiert werden“, wenn den RezipientInnen intratextuelles und typologisches Wissen bereit gestellt wird und dieses kognitiv verarbeitet werden kann. Deshalb regt die Orientierung an der Analyse des Prädikats avkou,ein in Mk 4,14-20 durch die narrative Entfaltung von Hörertypologien zu intratextuellen Inferenzprozessen innerhalb der markinischen Erzählung an, die nur dann glücken können, wenn intratextuelles und typologisches Wissen narrativ entfaltet wird. Um das Topic der Wahrnehmungs- und Resonanzphänomene hinsichtlich Mk 4,14-20 weiter entfalten zu können, bedarf es auf der semantischen Ebene der Einbeziehung kognitiver Elemente, die verdeutlichen, wie der Bedeutungsaufbau gesteuert wird. Die zentrale These, die für die nun folgende kognitionswissenschaftliche Einbeziehung zum semantischen Bedeutungsaufbau gilt, ist, dass Mk 4,14-20 ein innovatives hermeneutisches akroamatisches Kompendium darstellt, welches den gesamten Rezeptionsprozess der markinischen Erzählung leitet. Der Bezug auf den intratextuellen Kontext der markinischen Erzählung ermöglicht den RezipientInnen, die Bedeutung von Mk 4,14-20 auf die eigene Situation hin auszulegen. Jedoch kann Mk 4,14-20 erst dann als akroamatisches hermeneutisches Kompendium realisiert werden, wenn es den RezipientInnen gelingt, einen kognitiven Bedeutungsaufbau zu leisten, in der Mk 4,14-20 intratextuell innerhalb der markinischen Erzählung verstanden wird. Als die einzige erzählte Deutung innerhalb von Mk 4,1-34, erhält Mk 4,14-20 eine in Mk 4,1-34 herausragende Stellung, so dass es als „metakommunikativ-deutend“ 156 bezeichnet werden kann. Die metakommunikativ-deutende Funktion des Textsegments wird nachhaltig durch die anaphorischen Demonstrativpronomina unterstrichen. „Dreimal begegnet ou-toi, eivsin , das je einmal durch evkei/ noi eivsin und a; lloi eivsi,n variiert wird“. 157 Dabei sind die verwendeten Demonstrativpronomen gerade in der Hinsicht deutend, weil sie auf Hörertypen hinweisen. Dies macht die hermeneutische Qualität von Mk 4,14- 20 aus, die zudem noch durch die Offenheit der angeredeten Gruppe unterstrichen wird. Es wird in Mk 4,14-20 gerade nicht geklärt, wer zu diesen Gruppen gehört, sondern geklärt wird, was diesen Typos inhaltlich ausmacht bzw. woran er zu erkennen ist. Es stellt somit eine deutende Erzählung der markinischen Gesamterzählung dar. Die RezipientInnen werden 155 Das impliziert, dass eine Abbildtheorie, wie sie für Historisierungsprozesse von Personen (Jesus, Sadduzäer, Petrus etc.) im historischen Paradigma in Anspruch genommen wird, hier gerade nicht greift. 156 Pöttner, Zeit, 145. 157 Klauck, Allegorie, 201. <?page no="323"?> 311 durch diese deutend-metakommunikativen Elemente aufgefordert, an dem Bedeutungsaufbau mitzuwirken. 3. Die Einbeziehung kognitionswissenschaftlicher Elemente in den semantischen Bedeutungsaufbau hinsichtlich der Hörertypologien von Mk 4,14-20 Während im Rahmen der syntagmatischen Bestimmung der Kategorie der Bedeutung eine Beschränkung auf eine deskriptiv verfahrende Textinterpretation mit strukturaler Ausrichtung erfolgen konnte, reicht eine strukturale Bedeutungsinterpretation in der semantischen Analyse nicht aus. Unter Berücksichtigung kognitiver Elemente - ausgehend von dem Modell von van Dijk - müssen besonders auch prozedurale Aspekte mit einbezogen werden. Hier geht es darum, wie der Rezipient/ die Rezipientin Schritt für Schritt einen bedeutungsgenerierenden Zusammenhang aufbaut. Mit dem Modell von van Dijk sehen wir die Möglichkeit, kognitionswissenschaftliche Aspekte des semantischen Bedeutungsaufbaus darzustellen. 158 Die damit erschlossenen semantischen Bedeutungsaspekte berücksichtigen, dass für die Konstitution der Bedeutung der Akt des Rezipiertwerdens eines Textes im Rahmen einer umfänglichen kognitiven Leistung geschieht. Gegenüber dem im „Narrative Criticism“ vertretenen Bedeutungskonzept wird hierbei berücksichtigt, dass für die Erschließung der textuellen Welt differenzierte kognitive Aktionen zu vollziehen sind. Das „Was“ und „Wie“ einer Erzählung ist mittels der Berücksichtigung von kognitiven Vorgängen zu erschließen. Mit diesem semantischen Ansatz von van Dijk wird ein statisches Bedeutungsverständnis verabschiedet und die dynamischen Prozesse der Generierung von Bedeutung werden mit einbezogen und darstellbar gemacht. Die Einbeziehung der kognitiven Elemente beim Bedeutungsaufbau erfordert nun eine prozedurale Interpretation, in der dem Wort avkou,ein eine semantische Bedeutung zugeordnet wird. Es muss bei dieser Bedeutungsinterpretation deutlich werden, inwiefern kognitive Elemente den semantischen Bedeutungsaufbau von avkou,ein in Mk 4,14-20 steuern. Im Rahmen der syntagmatischen Analyse der Bedeutung von avkou,ein in Mk 4,1-34 wurden mögliche Träger der textuellen und kompositionellen Konnexität sowie die Konstitution und Funktion der figuralen Organisation und die möglichen Träger ihrer textuellen sowie kompositionellen Konnexität herausgearbeitet. Es zeigte sich im Ergebnis, dass dem Text Mk 4,1- 34 eine Konnexität zuzuschreiben ist, die durch die leitmotivische Verwen- 158 Gegen Pellegrini, Elija, 35, Anm. 109, die festhält: „Für experimentelle, bibelexegetisch relevante Versuche ist der kognitionswissenschaftliche Bereich, wie es scheint, noch zu jung“. <?page no="324"?> 312 dung von avkou,ein in einheitlicher Art und Weise unterstützt und ebenso durch eine akroamatische Prosodik unterstrichen wird. Besonders in Mk 4,14-20 kam es zur Konzentration des Konnexitätsträgers avkou,ein , mittels dessen vier verschiedene Hörertypen hinsichtlich ihres Hörens des lo,goj genannt wurden. Während Mk 4,14-20 einerseits eine starke rhetorische Stilisierung zugeschrieben werden konnte, wurde andererseits deutlich, dass besonders die Demonstrativpronomen, die für die Darstellung der einzelnen Hörertypen eingeführt werden, unbestimmt bleiben. In der nun folgenden semantischen Analyse der Bedeutung des Wortes avkou,ein geht es - ausgehend von Mk 4,14-20 - darum, nach der Bedeutung dieses Textsegments hinsichtlich des dort zentriert vorkommenden Wortes avkou,ein im Rahmen des Markusevangeliums unter Berücksichtigung kognitiver Aspekte zu fragen. Es gilt die Frage zu klären, wieweit die durch die Verwendung von avkou,ein dargelegten verschiedenen Hörertypologien in Mk 4,14-20 zu einem semantischen Bedeutungsaufbau auf der Grundlage kognitionswissenschaftlicher Überlegungen motivieren, die auch Folgerungen im Zusammenhang der Darstellung der Charaktere in der Gesamtkomposition des Markusevangeliums zulassen. Ausgehend von Aristoteles’ Bestimmung, dass die Handlung immer das Erste ist und die Charaktere immer als Folge daraus als abhängig von der Handlung zu sehen sind, soll in dieser semantischen Bestimmung evaluiert werden, inwieweit sich in den in Mk 4,14-20 dargestellten Aktionen, die sich zu Hörertypologien formieren, Charaktere im Verlauf des Markusevangeliums zuordnen lassen. Dies impliziert die Abhängigkeit der Kategorie des Charakters von der syntagmatischen Bestimmung. Folglich kann vorausgesetzt werden, dass Charaktere von den LeserInnen durch Wörter, Sätze und textuelle Komposition inferiert werden. Wenn in Mk 4,14-20 vier verschiedene Hörertypologien genannt werden, dann präfigurieren die verschiedenen Hörertypologien in ihrem Ergehen und ihrem Umgang mit dem lo,goj , die für den weiteren Verlauf des Markusevangeliums syntagmatisch motivierte Rezeptionshaltung gegenüber den auftretenden Charakteren. Die Frage, wie - ausgehend von der Bestimmung der Formatio - ein sinn-semantischer Bedeutungsaufbau vonstatten geht, ist der große Gewinn der Arbeit mit dem Modell von van Dijk hinsichtlich des Bedeutungsaufbaus. Die Stärke des van Dijkschen Ansatzes liegt besonders in seinem Vermögen zu verdeutlichen, wie kognitive Strukturen und inferentielle Mechanismen in den Akt der Bedeutungskonstitution involviert sind. Die Konstitution der Bedeutung wird zu einer koextensiven Aktivität der sich durch kognitive Aspekte realisierenden Rezeption. Nachdem in der syntagmatischen Analyse mittels der Bedeutungstheorie von Petöfi die textuelle Struktur und Komposition von Mk 4,14-20 untersucht wurde, geht es in diesem Teil um die Frage, wie sich aufgrund dieser Beobachtun- <?page no="325"?> 313 gen ein mentaler Bedeutungsaufbau des Wortes avkou,ein im Gesamtkomplex des Markusevangeliums vollziehen kann. Diese Frage geschieht vor dem Hintergrund, dass die ou-toi (V. 15.16.18) bzw. evkei/ noi (V. 20) als nicht näher identifizierte Akteure, die das Wort hören, auftreten. Die durch die Demonstrativpronomen eingeführten Hörertypen signifizieren zwar einerseits ganz bestimmte Hörertypen, andererseits werden diese in Mk 4,14-20 nicht weiter referenzialisiert. Deshalb motiviert die offene Bestimmung, wer zu der jeweiligen Gruppe von Hörern gehört, dazu, die Hörertypologien mit Charakteren des Markusevangeliums zu verbinden. Mit der Formulierung von Petöfi fragen wir nun nach den kohäsiven Verbindungen des Lexems avkou,ein im Gesamtaufriss des Markusevangeliums. Die grundlegenden Fragen, die hier zu klären sind, lauten: Werden die in Mk 4,14-20 entworfenen Hörertypologien im Verlauf des Markusevangeliums realisiert? Wenn ja, wie werden sie realisiert? Die LeserInnen haben deshalb zu entscheiden, wie ein Satz oder ein Wort mit dem ihn umgebenden (textuellen) Kontext vernetzt ist. Diese kontextuellen Informationen sind für den Bedeutungsaufbau grundlegend. Die Bedeutung des Wortes avkou,ein ergibt sich demnach nicht allein aus dem Satz, indem es vorkommt, sondern es ist auch der textuelle Kontext zu beachten, in dem es vorkommt. Unter der Voraussetzung, dass sich das Bedeutungsmodell von van Dijk an einer syntagmatisch motivierten Referenz orientiert, werden im Folgenden kontextuelle Informationen als im Text des Markusevangeliums gegebene Informationen verstanden. Für jede Art von Lektüre gilt, dass die LeserInnen ein mentales Modell für den Bedeutungsaufbau entwickeln müssen. Für jeden Satz eines Textes trägt das (textuelle) Wissen der LeserInnen zur Bedeutungskonstitution eben dieses Satzes bei, aber auch umgekehrt gilt, dass jeder Satz eines Textes die LeserInnen zwingt, ihre mentale Repräsentation zu überprüfen. 159 Die folgenden Ausführungen auf der Grundlage des kognitiven Ansatzes von van Dijk sollen die beim Bedeutungsaufbau aufgetretene Frage nach den Hörertypologien und ihren Realisierungen in Charakteren des Markusevangeliums beantworten helfen. Dabei ist davon auszugehen, dass die Charakterisierung abhängig ist von der Fähigkeit der RezipientInnen, textuelle Relationen zwischen den Hörertypologien in Mk 4,14-20 und den im Text des Markusevangeliums vorkommenden Charakteren herzustellen. Im Rahmen dieser kognitiven Modellierung der Charaktere werden diese daraufhin befragt, ob sie in die „Frames“ der vierfach differenzierten Hörertypologien „passen“. Dafür entwickelt van Dijk ein Modell, um den 159 Beispielsweise müssen die LeserInnen die Verhaltensnormen bezüglich der reinunrein-Distinktion zur Zeit der markinischen Erzählung kennen, um Mk 7,14-23 eine Bedeutung zuordnen zu können. Für einen erfolgreichen Bedeutungsaufbau zu Mk 3,31-35 müssen die LeserInnen die sozialen Relationen, wie z.B. Familienrelationen, beachten. <?page no="326"?> 314 Zusammenhang einer textuellen Manifestation mit einer Repräsentation eines Charakters für die Rolle beim kognitiv motivierten Bedeutungsaufbau herzustellen. Für die nun folgenden Überlegungen zu avkou,ein in Mk 4,14-20 wird das kognitive Bedeutungsmodell in Form einer Skizze 160 dargestellt. Sie zeigt die beteiligten Elemente auf und verdeutlicht durch die eingetragenen Pfeilrichtungen die jeweiligen top-down-Prozesse und bottom-up-Prozesse, die den Bedeutungsaufbau steuern. 161 Diese Skizze soll zeigen, wie der Vorgang der Charakterisierung in einem gegebenen intratextuellen Zusammenhang kognitiv zu erfassen ist. Grundlegend ist bei diesem kognitiven Ansatz, dass der Bedeutungsaufbau immer abhängig ist vom „Control System“, welches den sich entwickelnden kognitiven Bedeutungsprozess steuert. Auf der Basis der Typologie, die als ein intratextuelles Phänomen verstanden wurde, sollen nun - ausgehend von Mk 4,14-20 - die Hörertypologien anhand von den im Markusevangelium vorkommenden Charakteren festgelegt werden. Hierbei bestimmt das Control System die zu bearbeitende Fragestellung, die den mit dieser Fragestellung verbundenen Bedeutungsaufbau vorgibt. Das Control System garantiert, dass der Bedeutungsprozess zur Bestimmung 160 In Anlehnung an Meutsch, Mental Model, 324. 161 Für die verwendeten Begriffe sei auf die Ausführungen zu van Dijks Bedeutungsbestimmung in Kapitel V verwiesen. <?page no="327"?> 315 des Wortes av kou, ein in Mk 4,14-20 in Gang gesetzt wird und dass der Bedeutungsaufbau mit einer bestimmten Vorgabe beginnt. Über den Begriff des Control Systems wird subtil unterlaufen, dass Bedeutung in jeder Hinsicht darzustellen wäre, aber es wird auch darauf hingewiesen, dass der Bedeutungsaufbau erst sinnvoll eingeleitet werden kann, wenn eine bestimmte Fragestellung gegeben ist. Es gibt also keine Bedeutung an sich, sondern es lässt sich der Bedeutung von avkou,ein nur in einer speziellen Fragestellung nachgehen. Die Oberflächenstruktur bezieht sich auf das gesamte Markusevangelium. Vor dem Hintergrund der Hörertypologien wird die Oberflächenstruktur daraufhin untersucht, ob hier syntagmatische Elemente vorliegen, die die Zuschreibung einer durch avkou,ein signifizierten Hörertypologie aus Mk 4,14-20 mit den textuell entfalteten Charakteren im Markusevangelium erlauben. Die Oberflächenstruktur stellt somit den vorgegebenen Zeichenbestand dar, auf den für die Bedeutungsinterpretation hinsichtlich der Bestimmung der Hörertypologien zurückgegriffen werden kann. Im Rahmen der Textbasis wird angenommen, dass sich die vier unterschiedlichen Arten des Hörens in Mk 4,14-20 als Hörertypologien erfassen lassen, die sich über die Oberflächenstruktur narrativ manifestierten Charakteren im Verlauf des Markusevangeliums zuordnen lassen. Der Verstehensprozess zielt auf die narrative Identifizierung der Hörertypologien aus Mk 4,14-20 ab, die die Bedeutung von avkou,ein bestimmt. Denn erst, wenn beim Lektüreprozess im Rahmen des Markusevangeliums geklärt wurde, welche Charaktere den Hörertypologien zugeordnet werden können, kann die Bedeutung des Wortes avkou,ein in Mk 4,14-20 in seiner semantischen Dimension bestimmt werden. Im Rahmen der expliziten Textbasis werden die LeserInnen im narrativen Verlauf des Markusevangeliums angehalten, sich privilegiertes Wissen anzueignen. Der Erzähler des Evangeliums lässt seinen LeserInnen Informationen zur Bestimmung der Hörertypologien zukommen, die nur sie erhalten. Dadurch geraten die RezipientInnen in eine gewisse „Abhängigkeit“ von der Perspektive des Erzählers. Diese Abhängigkeit kann sich in mannigfachen Facetten zeigen, vermittelt durch die impliziten und expliziten Erzählerkommentare, durch den Erzählstandpunkt etc. Die narrative Konzeption des Markusevangeliums ist keine „neutrale Erzählung”: „this narrative tells us exactly and unquestionably what to see, hear, understand, think, and believe“. 162 162 Fowler, Let the Reader, 30. Fowler spricht hier von einer “rhetoric of direction”, allerdings möchte er diese abheben von einer “rhetoric of indirection“ (251). Bezüglich der „rhetoric of indirection“ gilt es zu bedenken, dass es im narrativen Verlauf des Markusevangeliums äußerst fraglich ist anzunehmen, dass „our narrator avoids leading us into any kind of clarity whatsoever“ (251), sondern vielmehr scheint die im Markusevangelium vorkommende Ambiguität gerade im Dienste einer „rhetoric of direction“ zu stehen, vgl. Mk 4,22. <?page no="328"?> 316 Um der Textbasis eine Bedeutung zu verleihen, ist das Situationsmodell grundlegend. Ausgehend von Mk 4,14-20 muss die Oberflächenstruktur des gesamten Markusevangeliums nach „Situationen“ abgesucht werden, die den im Rahmen der Textbasis eruierten Hörertypologien entsprechen. Anders gesagt: Wenn nicht Situationen vorgestellt werden können, in denen die Charaktere des Markusevangeliums Eigenschaften haben, die den dargestellten Hörertypologien entsprechen oder in denen die Charaktere des Markusevangeliums in Relation zu den Hörertypologien gesetzt werden können, dann kann der Text hinsichtlich der Etablierung von Hörertypologien in den Charakteren des Markusevangeliums nicht verstanden werden. Somit kann auch nicht die Bedeutung von av kou, ein in Mk 4,14-20 bestimmt werden. Im Zusammenhang mit dem Situationsmodell sind syntagmatische Referenzialisierungen notwendig, bei denen die vier Hörertypologien Charakteren aus dem Markusevangelium zugeordnet werden. Diese Zuordnung der in Mk 4,14-20 entworfenen Hörertypologien aufgrund des narrativen Kontextes - also der Oberflächenstruktur des Markusevangeliums - ist die durch die LeserInnen zu leistende Referenzialisierung. Hierfür können die RezipientInnen u.U. auf „Prior Knowledge“ zurückgreifen. Hierbei handelt es sich um Informationen, die im Rahmen einer syntagmatisch motivierten Referenz als textuelle Informationen zu bestimmen sind, auf die die RezipientInnen schon vor Mk 4 zurückgreifen können. Hierzu zählen alle Wissenbestände aus den ersten drei Kapiteln des Markusevangeliums, die die RezipientInnen für die Bedeutungsinterpretation von Mk 4,14-20 nutzen können. Die Charaktere im Markusevangelium sind immer nur mit wenigen spärlichen Informationen ausgestattet, was den RezipientInnen erlaubt, im Lektüreprozess aktiv an den Charakterisierungen mitzuarbeiten. Es ist davon auszugehen, dass in der Antike Charaktere einen Typos repräsentierten, dieser Typos jedoch durchaus mit einer gewissen Flexibilität ausgestattet war: „it does seem plausible that ancient reading conventions that demanded that the reader infers character indirectly from words, deeds, and relationships could allow even for the typical character to fluctuate between type and individuality. If so, then it would seem wise to understand characterization, for any biblical text at least, on a continuum. This would imply for narratives like the gospels that the focus should be on the degree of characterization rather than on characterization as primarily typical”. 163 Charakterisierung und Typos bilden keinen statischen Zusammenhang, sondern geben sich relativ flexibel. Wenn in Mk 4,14-20 vier verschiedene Hörertypen gebildet werden, muss es zwar möglich sein, 163 Burnett, Characterization, 15. <?page no="329"?> 317 diese mit Charakteren des Markusevangeliums in Relation zu setzen, 164 aber die zugeordneten Charaktere sind nicht als statische Gruppen zu verstehen. Folgende vier Typologien von Hörern werden in Mk 4,14-20 vorgestellt: 1.) V. 15 ou-toi de, eivsin oi` para. thn. o`do,n o[pou spei,retai o` lo,goj kai. o[tan avkou,swsin ))) 2.) V. 16 kai. ou-toi eivsin oi` evpi. ta. petrw,dh speiro,menoi( oi] o[ tan avkou,swsin to.n lo,gon ))) 3.) V. 18 kai. a; lloi eivsi.n oi` eivj ta.j avka,nqaj speiro,menoi ou-toi eivsin oi` to.n lo,gon avkou,santej ... 4.) V. 20 kai. evkei/ noi eivsin oi` evpi. th.n gh/ n th.n kalh.n spare,ntej( oi[tinej avkou,ousin to.n lo,gon ... Der Fokus der semantischen Interpretation, gelenkt durch das viermal genannte Hören des Wortes, liegt auf der Rezeptionshaltung des Hörens durch die unterschiedlichen Bodentypen. Dabei lassen sich die unterschiedlich dargestellten Bodentypen als Gruppen von Hörenden identifizieren. Die ersten beiden Gruppen sind die ou-toi , die dritte Gruppe von RezipientInnen wird erst als a; lloi und dann als ou-toi eingeführt und die vierte Gruppe sind die evkei/ noi , die jeweils einem Bodentyp zugeordnet werden. Durch diese Bezeichnung wird narrativ deutlich gemacht, dass es sich um Typologien von Charakteren handelt, die sich in der Art und Weise ihres Hörens des lo,goj unterscheiden. Diese Demonstrativpronomen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die durch die Demonstrativpronomen eingeführten Hörertypen inhaltlich sehr genau kennzeichnen, aber nicht klären, wer dieser Hörertypologie zuzurechnen ist. Der Hauptakzent der über die Demonstrativpronomen eingeführten Hörertypen liegt auf den verschiedenen Graden ihrer Hörbereitschaft. Dies wird unterstrichen durch die sich im Text deutlich abzeichnende Steigerung innerhalb der dargelegten Hörertypologien. Die Steigerung lässt sich folgendermaßen nachzeichnen: Während die erste Gruppe hört, im Sinne eines Nichthörens, wird das Gehörte von der zweiten Gruppe angenommen. Aber in Anbetracht von Verfolgung und Bedrängnis lässt dieser Typos vom gehörten Wort wieder ab. Die dritte Gruppe hört und nimmt das gehörte Wort auch zu Herzen. 164 Auch Tolbert, Sowing the Gospel, 153-160, unternimmt den Versuch die aus Mk 4,14- 20 bekannten Hörertypologien mit Charakteren aus dem narrativen Verlauf des Markusevangeliums in Verbindung zu bringen. Allerdings bemüht sie keine explizite Bedeutungstheorie, die die von ihr vorgenommenen syntagmatischen Referenzialisierungen theoretisch nachvollziehbar darstellen. Auch Heil, Gospel, 279-280, sowie Keenan, Gospel, 507-513, greifen auf die Überlegungen von Tolbert, Sowing the Gospel, zurück. Beide Autoren arbeiten ohne eine explizite Bedeutungstheorie, die erklärt, warum es möglich ist, die Hörertypologien aus Mk 4,14-20 mit narrativen Charakteren aus dem Verlauf des Markusevangeliums in Verbindung zu setzen und so einen Beitrag zur semantischen Dimension des Wortes avkou,ein zu leisten. Es fehlt bei allen drei Arbeiten eine explizite Bedeutungstheorie, die diese Bedeutungsinterpretation theoretisch nachvollziehbar und plausibel macht. <?page no="330"?> 318 Aber das Wort hat keinen Bestand, weil es mit Vorstellungen von Ehre und Ansehen konkurriert. Bei der vierten Gruppe wird das Wort gehört und bringt nun endlich Frucht. Die Hörbereitschaft steigert sich innerhalb des narrativen Verlaufs von Mk 4,14-20, also von Hörertypos zu Hörertypos. Die bisherige Analyse von Mk 4,14-20 hat gezeigt, dass die entworfenen Hörertypologien in hohem Maße unbestimmt bleiben hinsichtlich der Frage, wer zu diesen Typos zu zählen ist. Es wird nur berichtet, was die unterschiedlichen Hörertypologien hinsichtlich ihres Hörens des lo,goj auszeichnet. Gerade die Unbestimmtheit der dargelegten Hörertypologien motiviert die LeserInnen zur Klärung der Frage, wer zu den jeweiligen Typologien gehört. Die Klärung dieser Frage geschieht unter Einbeziehung des textuellen Kontextes. Genau von dieser grundlegenden Ausgangsfrage geht das Kontrollsystem aus, das den gesamten Interpretationsprozess bei dem Versuch der syntagmatischen Referenzialisierungen der Hörertypologien steuert und auch eingrenzt. 1. Die erste Gruppe, ou-toi de, eivsin oi` para. thn. o`do,n o[pou spei,retai o` lo,goj kai. o[tan avkou,swsin ))) Ausgehend von dem die Bedeutungsinterpretation steuernden Kontrollsystem muss für den kognitiven Bedeutungsaufbau das Markusevangelium daraufhin untersucht werden, ob sich im narrativen Verlauf des Markusevangeliums „Situationen“ finden lassen, die dieser in V.15 dargestellten Hörertypologie entsprechen. In Vers 15 hat das gesäte Wort keine Möglichkeit, überhaupt im Boden aufzugehen, weil euv qu. j ein Opponent auftritt, der dies durch sein Kommen und seine Tat an dem gesäten Wort verhindert ( ai; rei to.n lo,gon ). Der Opponent ist o` satana/ j , der in dem narrativen Kontext - entsprechend dem Prior Knowledge - des Markusevangeliums schon eingeführt worden ist (vgl. Mk 1,13; 3,23.26). Die LeserInnen haben bezüglich der Größe o` satana/ j in Mk 1,13; 3,23.26 folgende Informationen erhalten: o` satana/ j steht in Opposition zu Jesus. In Mk 1,13 erfahren die LeserInnen, dass o` satana/ j Jesus versucht hat und dass Jesus „in dieser Bewährung seine Gottessohnschaft erweist“. 165 In Mk 3,23.26 bestätigt sich für die LeserInnen diese Information. Jesus kann nicht mit Satan in einem Zusammenhang stehen, denn Jesus widerlegt den Vorwurf, er handelt im Auftrag Satans. Aufgrund dieser schon für die LeserInnen verfügbaren Informationen zu o` satana/ j aus den bisherigen Kapiteln des Markusevangeliums kann geschlossen werden, dass es sich bei o` satana/ j um eine mit Jesus disjunkte Größe handelt. Während des gesamten Verlaufs des Markusevangeliums sind es die Schriftgelehrten, Pharisäer, Sadduzäer, Herodianer und die Jerusalemer Führungsschicht, die als disjunkt zu Jesus und seinem Wort auftreten. Sie 165 Lührmann, Markusevangelium, 39. <?page no="331"?> 319 bilden die Opponenten 166 Jesu und sind im narrativen Verlauf des Markusevangeliums mehrmals genannt (für die Schriftgelehrten vgl. Mk 1,22; 2,6.16; 3,22; 9,11.14; 12,[28.32 167 ].35.38; auch im Zusammenhang mit anderen: Mk 7,1.5; 8,31; 10,33; 11,18.27; 14,1.43.53; 15,1.31; für die Pharisäer vgl. Mk 2,18.24; 8,11-12; 10,2; auch im Zusammenhang mit anderen: Mk 3,6; 7,1- 7; 12,13; für die Sadduzäer vgl. Mk 12,18-27; für die Herodianer vgl. Mk 3,6; 12,13 und für die Jerusalemer Führungsschicht vgl. Mk 7,1-5; 8,31; 10,11.33; 11,18.27; 14,1f.10.43.53; 15,1.3.31). Diese einzelnen Opponenten bilden unter dem Gesichtspunkt der Charakterisierung eine homogene Gruppe, die in ihrem Verhalten gegenüber Jesu Wort und Tat negativ eingestellt ist. So wird in Mk 2,7 durch den Erzähler mitgeteilt, dass die Schriftgelehrten in ihren Gedanken denken, dass Jesus lästert, während in Mk 14,64 der Hohepriester als Angehöriger der Jerusalemer Führungsschicht vor dem Synhedrium ausspricht, dass die Zuhörer in den Worten Jesu Lästerung gehört hätten. In Mk 3,6 wird von den Pharisäern und den Anhängern des Herodes berichtet, dass sie Jesus ins Verderben bringen wollen (= avpole,swsin ); in Mk 11,18 wird von den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten berichtet, wie sie ihn ins Verderben bringen wollen (= avpole,swsin ). Als Charaktere zeichnen sie sich durch ihre negative Einstellung gegenüber Jesus und seinem Wort aus, die sich über das gesamte Markusevangelium erstreckt. Dieses disjunkte Verhältnis wird schon in Mk 1,22 festgeschrieben, da Jesus mit ev xousi, a lehrt. Diese evxousi,a wird Jesus zugeschrieben, während für die grammatei/ j festgehalten wird, dass sie über keine ev xousi, a verfügen. Ohne die ev xousi, a näher zu thematisieren, wird narrativ unterstrichen, dass sich die ev xousi, a sowohl auf seine Worte als auch auf seine Taten bezieht. Damit werden in diesem narrativen Introitus zur Markierung des Hauptakteurs seine Worte und seine Taten als wirkmächtig eingeführt. Von Mk 1,21-28 her ist der Konflikt mit den Charakteren, die diese evxousi,a seiner Worte und Taten nicht anerkennen, narrativ begründet und führt zu einer disjunkten Verhältnisbestimmung gegenüber Jesus. 166 Das Bild der tatsächlichen Opponenten Jesu bleibt sehr vage. Vgl. dazu die Ausführungen zu den „historischen“ Pharisäern und Schriftgelehrten bei Lührmann, Markusevangelium, 50f.60f.; sowie die Ausführungen zu den „historischen“ Pharisäern bei Theißen/ Merz, Jesus, 208-212. Davon unbesehen lässt sich aber die narrative Funktion der Opponenten im Markusevangelium sehr gut bestimmen; wobei immer zu bedenken ist, dass diese narrative Funktion nichts mit einer empirisch nachweisbaren Gruppe von Opponenten zu tun hat. Sonst erliegt man einem „referential fallacy“. Dass die Erzählung narrativ dennoch gut funktioniert hinsichtlich der Akteure, zeigt die Gruppe der sog. „Herodianer“, über die historisch nichts bekannt ist, die aber dennoch eine narrative Funktion erhalten: Sie sind disjunkt zu Jesus und schüren insofern den Konflikt um die Frage, ob es sich um eine euphorische oder dysphorische Erzählung handele. 167 Zu diesen Stellen vgl. die Ausführungen am Ende des Abschnitts. <?page no="332"?> 320 Erst ab 2,6.16 tritt der Konflikt mit diesen Charakteren im Prozess des lalei/ n to.n lo,gon (Mk 2,2) offen zu Tage, 168 um in 3,6 den nun die Erzählung bestimmenden ersten Konflikt-Höhepunkt zu erreichen. Während in Kap. 2 des Markusevangeliums nur hervorgehoben ist, dass diese Gruppe Jesus nicht die ev xousi, a zuerkennt, die seit Mk 1,22 Jesus zugestanden werden muss, wird ab Mk 3,2.4-6 auf der narrativen Ebene für die RezipientInnen deutlich, dass diese Gruppe in keiner Weise ein positives Verhältnis zu Jesus und seiner Lehre und seinen Taten aufbauen wird. Aufgrund der eingeführten Verben ist ihr disjunktes Verhältnis zu Jesus signifiziert (Mk 3,2: kathgorh,swsin ; Mk 3,6: avpole,swsin ). Hervorzuheben ist, dass sie euv qu, j (V. 6) gegen Jesus agieren, damit stehen sie mit dem euvqu,j aus Mk 4,15 in einem Zusammenhang. Wie die in Mk 4,15 dargelegte Hörertypologie handeln sie sofort disjunkt zu Jesus und seinem Wort. Während in Mk 3,1-6 die RezipientInnen von den geplanten Aktionen der Pharisäer und der Herodianer nur durch einen Erzählerkommentar erfahren, kommt es in Mk 3,22ff. zu einer ersten direkten Konfrontation zwischen Jesus und seinen Opponenten (in Mk 3,22 als grammatei/ j signifiziert, die aus Jerusalem kommen 169 ). Sie evaluieren nun in direkter Rede Jesu Worte und Taten, indem sie sagen, dass er den Beelzebul habe (V. 22). Jesus reagiert darauf mit einer Anrede an sie evn parabolai/ j , in der er einerseits Beelzebul mit dem Satan identifiziert, und andererseits davon ausgehend festhält, dass der Bestand eines Hauses, eines Reiches und des Satans davon abhänge, dass es bzw. er nicht mit sich entzweit sei. Da der Satan Bestand hat, kann er also folglich nicht mit Jesus im Bunde sein. In Mk 3,23 wird somit das disjunkte Verhältnis zu Jesus entsprechend der in Mk 4,15 klassifizierten Typologie festgeschrieben. Dieses disjunkte Verhältnis der Opponenten zu Jesus wird in Mk 7,6 weiter untermauert, indem der markinische Jesus sie als u`pokrith,j bezeichnet. Bis zum Ende der Erzählung des Markusevangeliums weiter sich dieses Verhältnis weiter zu und gelangt zu einem Höhepunkt, als die Opponenten danach trachten, ihn festzunehmen und zu töten (Mk 14,1-2.55; vgl. Mk 3,6). Es ist die in Mk 4,15 manifestierte Hörertypologie, die sich auch in Mk 12,13 wieder finden lässt, wo die Pharisäer und die Herodianer zu Jesus kommen, „damit sie ihn durch ein Wort fingen“ (= i[na auvto.n avgreu,swsin 168 Gegen van Iersel, Mark, 186, der gegen eine intratextuelle Referenzialisierung dieses Hörertypos, dass diese nicht zu den Hörern von Jesu Botschaft zu zählen seien. Jedoch verdeutlicht lalei/ n to.n lo,gon (Mk 2,2) gerade, dass es sich bei dem Hören des lo,goj um ein sich auch auf die Gruppe der Opponenten erstreckendes Kommunikationsphänomen handelt, welches auf einer bestimmten Wahrnehmungshaltung beruht. 169 Es ist von Mk 3,22 narrativ plausibilisiert, dass von Jerusalem aus nichts Gutes kommt. Vgl. Eckey, Markus-Evangelium, 128: „Jerusalem ist die Jesus gegenüber feindliche Stadt. Dort wird er unter Beteiligung der Schriftgelehrten zum Tode verurteilt (10,33; 14,64)“. <?page no="333"?> 321 lo,gw| ). Narrativ wird noch einmal unterstrichen, dass die Gruppe der Opponenten sich disjunkt zu Jesus und seinem Wort verhält. In Mk 14,64 wird Jesus aufgrund des Vorwurfs der Lästerung durch den Hohenpriester verurteilt. In direkter Rede wird nun Jesus mit den Gründen angeklagt, die die LeserInnen des Evangeliums schon von Mk 2,7 durch die dort mitgeteilten Gedanken der Opponenten wissen. Aufgrund von Jesu Worten in Mk 14,62 verurteilen ihn die Opponenten, weil sie Lästerung gehört haben. Das Ende der Erzählung von Jesu Verurteilung „zeigt, daß und wie zustande kommt, was sie am Anfang planen“. 170 Aufgrund dieser Beobachtungen gelingt es den RezipientInnen des Markusevangeliums, im narrativen Verlauf Situationen zu erschließen, die der in Mk 4,15 indizierten Hörertypologie entsprechen. Dieser Hörertypos wird durch die Opponenten Jesu in der Erzählung des Markusevangeliums dargestellt. Zu den Charakteren der Opponenten gehören die Schriftgelehrten, die Pharisäer und die Herodianer, die teilweise als „aus Jerusalem stammend“ gekennzeichnet sind (vgl. Mk 3,22 sowie 7,1) sowie die Jerusalemer Führungsschicht. Sie zeichnen sich entsprechend der typisierenden Vorgabe von Mk 4,15 dadurch aus, dass sie Jesu Wort nicht aufnehmen. Das Wort, das nicht gehört wird in Mk 4,15, ist im narrativen Verlauf des Markusevangeliums als das Wort Jesu zu identifizieren, das eingeführt wird als ein Wort mit Vollmacht und sich dadurch qualitativ von dem Wort der Opponenten unterscheidet (vgl. 1,22). Dieses Wort Jesu ist schon gleich zu Beginn des Markusevangeliums der Anlass des grundlegenden Konfliktes zwischen Jesus und seinen Opponenten. Sie nehmen seine Worte - die immer wirkmächtige Worte sind und deshalb auch in einem Zusammenhang mit seinen Taten zu sehen sind - zum Anlass, den Logotheten Jesus und sein Wort ins Verderben bringen zu wollen. Dieses disjunkte Verhältnis zu Jesus und seinem Wort darf ab Mk 3,6 bis zu Jesu Festnahme als narrativ bestimmend gelten. Mittels der in Mk 4,15 dargelegten Hörertypologie gelingt es, im Rahmen einer syntagmatisch motivierten Referenzialisierung diesen Typos mit den im narrativen Verlauf auftretenden Opponenten in Verbindung zu bringen, so dass für diese Typologie erfolgreich ein Situationsmodell gebildet werden kann. Die aufmerksamen LeserInnen entdecken jedoch auch, dass die Typologie in Mk 4,15 zwar unumkehrbar negativ gezeichnet ist, aber dass die Typisierten als charakterisierte Gruppe nicht statisch zu verstehen sind, sondern dass es in dieser als Opponenten zusammengefassten Gruppe auch Charaktere gibt, die sich nicht disjunkt zu Jesus verhalten. Es handelt sich bei den Schriftgelehrten gerade nicht um eine stereotypisch negativ gezeichnete Gruppe im narrativen Verlauf des Evangeliums. Denn in Mk 12,28-34 kommt einer von den Schriftgelehrten zu Jesus (V. 28: proselqw.n ei-j tw/ n 170 Van Iersel, Markus, 216. <?page no="334"?> 322 grammate,wn ...), nachdem er gehört hat, wie Jesus mit den Sadduzäern stritt (Mk 12,18-27). Diesem einzelnen Schriftgelehrten wird durch Jesus nach dem Gespräch zuerkannt, dass er nicht mehr fern vom Reich Gottes sei (V. 34: ouv makra.n eiavpo. th/ j balisei,aj tou/ qeou/ ). Während im gesamten Verlauf des Evangeliums die Schriftgelehrten immer im Plural auftreten und somit scheinbar eine homogene Größe bilden, wird der in Mk 12,28-34 erwähnte Schriftgelehrte als einer von den Schriftgelehrten erwähnt. Er setzt sich signifikant von der sonst homogenen pluralisch auftretenden Gruppe der Schriftgelehrten ab. Nur in Mk 12,28-34 wird im Zusammenhang mit der Erwähnung der Schriftgelehrten das Wort proselqw,n verwendet. Im narrativen Verlauf des Markusevangeliums sind es ansonsten nie die Schriftgelehrten, die auf Jesus hinbewegend dargestellt werden. 171 Ebenso verdient Beachtung, dass es sich um die einzige Stelle im Markusevangelium handelt, in der jemandem mitgeteilt wird, dass er nicht weit von der balisei,a tou/ qeou/ entfernt ist. 172 Aufgrund dieser Beobachtungen ist zwar festzuhalten, dass die in Mk 4,14-20 entworfenen Hörertypologien auf Charaktere des Markusevangeliums zutreffen, aber dass den einzelnen solchermaßen typologisierten Charakteren u.U. eine gewisse Individualität nicht abzusprechen ist. Diese Individualität stützt sich auf die Beobachtung, dass im Rahmen der Gruppen von Charakteren durchaus Eigenschaften vorhanden sind, die das „typische“ dieser Charaktergruppe gerade sprengen. Insofern ist der Charakter nicht statisch zu verstehen, sondern es ist zu vermuten, dass im Markusevangelium Charaktere durchaus individuelle Züge tragen können. 173 171 Aber die Kranken bewegen sich auf Jesus zu. Z.B. geht Bartimäus auf Jesus zu (Mk 10,50). 172 Vgl. van Iersel, Mark, 380. 173 Die klassische These zu den Charakteren in der antiken Literatur lautet, dass diese statisch und unbeweglich sind, wie Burnett, Characterization, 6, festhält: „With regard to most literature even remotely related to the time of the Gospels, it is argued generally that characters were types rather than individuals in any sense, and that they seldom diverged from traits that were initially given to them in the narrative”. Doch in der neueren Zeit mehren sich Stimmen, die dieses statische Charakterkonzept bezweifeln und Belege anführen, dass sich sowohl im griechischen wie im römischen Bereich ab einem bestimmten Zeitpunkt Interesse am Individuellen zeigt. So hält Hanfmann (zitiert nach Burnett, Characterization, 12) für den römischen Bereich fest: „interest in individual personality clearly becomes a paramount concern in the time of the late Republic (100-30 B.C)”. Aus diesem Grund schließen wir uns der Meinung Burnetts, Characterization, 14, an, „that it would seem wise to understand characterization, for any biblical text as least, on a continuum. This would imply for narratives like the Gospels that the focus, should be on the degree of characterization rather that on characterization as primarily typical.” <?page no="335"?> 323 2. Die zweite Gruppe sind: kai. ou-toi eivsin oi` evpi. ta. petrw,dh speiro,menoi( oi] o[tan avkou,swsin to.n lo,gon ))) Dieser Hörertypos zeichnet sich dadurch aus, dass er aufgrund der nicht vorhandenen Erde keine Wurzeln hat. Auffallend ist der breite Raum, der dieser Typologie im Gegensatz zu den anderen drei Hörertypologien zugestanden wird. Die ou-toi werden narrativ bestimmt als diejenigen, die euv qu,j das Wort mit Freuden aufnehmen. Durch die Annahme des Wortes erweisen sie sich disjunkt zu der in Mk 4,15 dargelegten Hörertypologie. Sie nehmen das Wort sofort an, aber das Wort erhält nicht die Möglichkeit der Beständigkeit, weil verschiedene Umstände dies verhindern. Im Rahmen des Markusevangeliums ist es die Gruppe der Jünger, die dieser Typologie entspricht. 174 Sie reagieren sofort auf Jesu Ruf in die Nachfolge (bei der Berufung der vier Jünger in Mk 1,16-20 betont durch das mehrmalige euvqu, j [V.18.20]). In Mk 1,16-20 wird die sofortige Resonanz von Simon, Andreas, Jakobus und Johannes auf Jesu Wort betont. Sie nehmen sofort Jesu Wort an. Unterstrichen wird die sofortige Hinwendung zu Jesus und seinem Wort durch das narrativ herausgestellte Verlassen von Familie, Arbeitsplatz und Arbeitsgerät ( av fe, ntej in V.18.20). Simon und Andreas lassen ihre Netze fallen, um Jesus zu folgen, Jakobus und Johannes verlassen nicht nur ihren Arbeitsort, sondern auch ihren Vater Zebedäus. „The alacrity of the disciples’ response to Jesus’ calls is emphasized both by the description of their actions and by repetitions of euv qu, j ”. 175 Der Jüngergruppe zugeordnet ist der Begriff dw, deka . 176 .. Im Markusevangelium signifiziert die Verwendung von dw,deka in den meisten Fällen den Auftakt für eine an die dw,deka adressierte Rede. Narrativ eingeführt wird diese Gruppe in Mk 3,13-15. Die dw, deka sind eine von Jesus formierte Gruppe, die durch Jesus gesagt bekommt, was zu ihren Aufgaben gehört, nämlich mit ihm zusammen zu sein. Neben dieser expliziten Zuordnung zu Jesus sollen sie zudem verkündigen, heilen und Dämonen austreiben. Es geht im Zusammenhang mit der Verwendung des Wortes dw,deka häufig um eine Unterweisungssituation (vgl. 4,10; 6,7; 9,35; 10,32; 14,17), in der das Wort Jesu gehört wird. Im hinteren Teil des Markusevangelium - ab dem Einzug in Jerusalem - wird das Lexem dw,deka überwiegend zur Signifizierung von Judas, als einem von den Zwölfen, verwendet (14,10.43). Mit dieser Kennzeichnung von Judas als einem von den Zwölf wird narrativ unterstrichen, dass er zu der Gruppe gehört, der Jesus sein Wort mitteilt und somit an einer speziellen Unterweisungsfunktion partizipiert hat. Wenn in Mk 14,10ff. von diesem Judas erzählt wird, dass er Jesus auslie- 174 Es geht bei der nun folgenden Charakterisierung der Jünger aufgrund dieser Typologie nicht darum, dieser Jüngergruppe extratextuell zu referenzialisieren, wie dies bei Weeden, Mark, der Fall ist. 175 Tolbert, Sowing the Gospel, 196. 176 Es fällt auf, dass die Bezeichnung „Jünger” und „die Zwölf” miteinander konkurrieren. <?page no="336"?> 324 fert, so ist er ein Prototyp der Hörenden, die keine Wurzeln in sich haben (vgl. Mk 4,17). Die Verwendung von dw,deka in einem Unterweisungszusammenhang, in der der markinische Jesus spricht, gilt auch für Mk 4,10. Allerdings ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass einzig in Mk 4,10 eine Situation imaginiert wird, in der es um oi` peri. auvto.n su.n toi/ j dw,deka geht, die eine Frage an Jesus stellen. Einerseits findet hier eine signifikante Erweiterung des Kreises statt, an die die Rede Jesu gerichtet ist, andererseits wird unterstrichen, dass die Gruppe oi` peri. auvto.n su.n toi/ j dw,deka eine Frage an Jesus stellt. Beides ist eine Besonderheit im narrativen Verlauf des Evangeliums. Somit ist die Gruppe der oi` peri. auvto.n su.n toi/ j dw,deka nicht gleichzusetzen mit den Jüngern. Ausgesagt ist nur, dass in Mk 4,10 eine Gruppe sich situiert, die die Zwölf zwar einschließt, aber größer als diese Gruppe zu bestimmen ist, wobei unausgeführt gelassen wird, wer noch zu dieser Gruppe gehört. 177 Während die Verwendung des Lexems dw, deka also häufig auf eine spezielle Unterweisungssituation schließen lässt, ist die Verwendung von oi` maqhtai, wesentlich umfassender und auch häufiger im Markusevangelium anzutreffen. D.h. der Begriff oi` maqhtai, ist gegenüber dw,deka der im Markusevangelium flexiblere und umfassendere Terminus. 178 Sowohl dw,deka als auch oi` maqhtai, lassen sich im narrativen Verlauf als ein Charakter verstehen, der sich auszeichnet durch bestimmte Eigenschaften und Handlungsweisen, die ihnen als ein Charakter zukommen. Aufgrund der kognitiven Bedeutungstheorie ist es nun die Aufgabe, ein Situationsmodell zu entwickeln, in dem sich die in Mk 4,16f. skizzierte Hörertypologie mit der narrativen Gruppe der Jünger verbinden lässt. Die in Mk 4,16f. skizzierte Hörertypologie zeichnet sich durch ihre Bereitschaft aus, sofort den lo,goj anzunehmen. Genau dies trifft auf die Jünger im Markusevangelium zu. Ebenso erhalten sie besondere Unterweisung durch Jesus und werden von ihm ausgesucht, um zu verkündigen, zu heilen und Dämonen auszutreiben (vgl. Mk 3,14f.; 6,7.12.30). Besonders in den ersten drei Kapiteln des Markusevangeliums wird die besondere Stellung der Jünger unterstrichen. „Since the reader views all characters by their response to Jesus, the powerful central hero of the story, the remarkable re- 177 Die Offenheit der angeredeten Personen in Mk 4,10 hat eine pragmatische Funktion, wie noch in der folgenden pragmatischen Analyse zu zeigen sein. 178 Die Überlegungen von Best, dass der Kreis der „Zwölf“ einen größeren Kreis als die Jünger umfasst, überzeugt nicht. Best hält fest: Markus „is not concerned to identify the Twelve and the disciples in such a way that when the disciples are mentioned we are to understand him to mean the Twelve and only the Twelve. It is, rather, the other way around: the Twelve is normally to be understood as signifying the wider group, the ‘disciples’” (Best, Role, 380). <?page no="337"?> 325 ceptiveness and obedience of the disciples ensure their favourable regard at the outset of the narrative“. 179 Schon zu Beginn des Evangeliums tritt eine weitere Charaktereigenschaft dieser Gruppe hervor, die deutlich macht, dass die Jünger eben nicht nur diejenigen sind, die das Wort sofort mit Freuden annehmen, sondern dass sie auch diejenigen sind, die wegen des lo,goj abfallen werden (vgl. skandali,zontai in Mk 4,17). So sind die RezipientInnen des Markusevangeliums schon ab Mk 3 im Rahmen der Berufung der Jünger darüber informiert, dass einer von den Zwölf Jesus ausliefern wird (vgl. Mk 3,19: o]j kai. pare,dwken auvto,n ). Es wird ab 3,19 narrativ eingeführt, dass die Jünger nicht nur in positiver, sondern auch in negativer Resonanz zu Jesus stehen. Diese negative Resonanz verstärkt sich massiv nach Mk 4,1-34. Schon in Mk 4,35- 41 ist die Gruppe der Jünger zwar immer noch diejenige, die mit Jesus ist, aber sie wissen nicht, wer Jesus ist (vgl. 4,41: ti,j a; ra ou-to,j evstin ...). In Mk 6,52 erfahren die RezipientInnen im Anschluss an die Seewandelerzählung (Mk 6,45-52), dass die Jünger ouv ga.r sunh/ kan evpi. toi/ j a; rtoij . Als Begründung wird durch den Erzähler erklärt, dass ihr Herz verstockt war ( h` kardi,a pepwrwme,nh in V. 52). Die Härte dieser Begründung verstärkt sich noch vor dem Hintergrund, dass dieselben Worte in der Erzählung des Markusevangeliums verwendet werden, um zu erklären, weshalb die Pharisäer und die Herodianer disjunkt zu Jesus anzusehen sind ( evpi. th|/ pwrw,sei th/ j kardi,aj auvtw/ n in Mk 3,5). 180 Die Annahme der Worte Jesu führte bei den Jüngern nicht zum Verstehen, sondern zum Unverständnis. Im Ergebnis unterscheiden sie sich nicht von der Gruppe der Opponenten. Während in den ersten drei Kapiteln des Markusevangeliums die Jünger also als Charaktere hinsichtlich ihres konjunkten Verhältnisses zu Jesus herausgestellt worden sind, wird ab Mk 4,35ff. immer deutlicher, dass sie sich auch disjunkt zu Jesus verhalten. Ab Mk 6,52 ist vollkommen klar, dass die Jünger nicht nur zu denen gehören, die das Wort mit Freude aufnehmen, sondern auch die sind, die es nicht verstehen. Und spätestens ab Mk 6,52 wird deutlich, dass die Jünger nicht zu der Gruppe gehören, die selbstverständlich - mit Blick auf Mk 4,10-13 - zu den „Insidern“ gehören. Die Gruppe derer, die nicht verstehen ( suni,hmi ), ist in Mk 4,12 in Verbindung mit toi/ j e; xw gebracht worden, in Mk 6,52 wird eine negative Konnotation von suni,hmi nun erstmalig in Verbindung mit den Jüngern verwendet (vgl. darüber hinaus Mk 8,17.21). Was über toi/ j e; xw in Mk 4,10-13 gesagt wird, dass sie nämlich verstockt sind, wird in Mk 6,52 - und noch einmal in Mk 8,17 - zu den Jüngern gesagt. „Jesus thus charges his disci- 179 Tolbert, Sowing the Gospel, 196. 180 Vgl. Schweizer, Markus, 80. Auch Eisen, Markusevangelium, 151, hält fest: „Die Charakterisierung der Jüngerinnen ähnelt in manchem der der religiösen Autoritäten, die ebenfalls nicht verstehen, wer Jesus ist und was seine Botschaft bedeutet“. <?page no="338"?> 326 ples with being no better off than the ‚outsiders’ [...]“. 181 Im gesamten narrativen Verlauf erweisen sich die Jünger als diejenigen, die nicht verstehen. In signifikanter Weise ist im Verlauf des Markusevangeliums das Vorkommen von suni,hmi gekoppelt an eine negative Darstellung der Jünger. Sie sind es, die nicht zur Einsicht gekommen waren ( sunh/ kan in Mk 6,52) und als verständnislos beschrieben ( avsu,netoi in Mk 7,18) werden und keine Einsicht gewonnen haben angesichts der Brote ( suni,hmi in Mk 8,17.21). Deshalb geht die narrative Gruppe der Jünger mit der Skizzierung aus Mk 4 kongruent, die nach Mk 4,12 avkou,ontej avkou,wsin kai. mh. suniw/ sin beschrieben werden. Die Jünger erweisen sich im Markusevangelium als die, die nicht verstehen. Die Verwendung des Lexems suni,hmi steht deshalb in einem inneren Zusammenhang mit einer „negative valuation on the disciples“. 182 Auch durch die Perspektive des Erzählers bei der Darstellung der Jünger im narrativen Verlauf des Markusevangeliums wird deutlich, dass die Jünger keine geeigneten Identifikationsfiguren für die LeserInnen sind. Dies soll noch einmal verdeutlicht werden anhand der eben schon eingeführten Erzählung von Jesu Seewandel. 183 Die Erzählung beginnt mit einer Überblicksdarstellung von Seiten des Erzählers: Die Jünger sind auf dem See in einem Boot und Jesus befindet sich alleine an Land (Mk 6,47). Der Erzähler lässt die LeserInnen im folgenden Teil der Erzählung aus der Perspektive von Jesus sehen. „Und als er sah, wie sie sich beim Rudern abquälten - der Wind war ihnen nämlich entgegen -, kommt er um die vierte Nachtwache zu ihnen auf dem See gehend ...“ (Mk 6,48). Der Erzähler teilt sogar die Intention von Jesus mit: „und wollte an ihnen vorübergehen“ (Mk 6,48). Nachdem die LeserInnen wissen, was geschieht, wird ihnen erzählt, was die Jünger meinen, was passiert: „Als sie ihn aber auf dem See einhergehen sahen, meinten sie: Ein Gespenst! , und schrien auf“ (Mk 6,49). Was Jesus dann in direkter Rede zu den Jüngern sagt, wissen die LeserInnen schon längst: „Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht! “ (Mk 6,50). Den LeserInnen wird durch die eingenommene Erzählperspektive die Möglichkeit genommen, sich mit den Jüngern zu identifizieren. Im narrativen Duktus des Evangeliums sind die RezipientInnen also nicht angehalten, sich die Sichtweise der narrativen Figur der Jünger anzueignen. Am Ende der Erzählung von Mk 6,45-52 trifft die Jünger dann auch das schon erwähnte harsche Urteil durch den Erzähler: „denn sie waren über den Broten nicht verständig geworden, sondern ihr Herz war verstockt“ (Mk 6,52). Tannehill hat diese leserInorientierte Darstellung im Rahmen der Funktion der Negation zu erfassen versucht, wie sie Wolfgang Iser herausgear- 181 France, Mark, 316. 182 Danove, Rhetoric, 30. 183 Vgl. Fowler, Let the Reader, 217. <?page no="339"?> 327 beitet hat. Nach Tannehill dient die negative Darstellung der Jünger dazu, dass sich die LeserInnen nicht mit diesen Charakteren identifizieren. Der negative Aspekt der Jünger „fordert den Leser auf, darüber nachzudenken, warum die von Jesus Berufenen so weit irregehen konnten, und was er selbst tun muß, um nicht wie sie zu scheitern“. 184 Wie gezeigt wurde, treten die Jünger im narrativen Verlauf des Evangeliums immer stärker in Opposition zu Jesu Wort auf. Während Jesus sagt, dass man die Kinder aufnehmen soll (Mk 9,37), und er die Kinder zu sich kommen lässt (Mk 10,14-16), nehmen die Jünger die Kinder nicht auf (Mk 10,13). Während Jesus fordert, dass man wachen soll (Mk 13,32-37), wird in Mk 14,37-41 berichtet, dass die Jünger schlafen statt zu wachen. Während Jesus sagt, dass der, der ihm nachfolge auf dem Weg, sein Kreuz auf sich nehmen und sterben müsse (Mk 8,31-35), verraten ihn seine Jünger, verleugnen ihn und fliehen schließlich. „The use of contrasting examples to prove an argument or enhance the distinctive characteristics of a favoured position was a recommended procedure in ancient rhetoric. As constant foils to Jesus’ words and actions, the disciples allow the author to emphasize the special nature of Jesus’ outlook and his faithfulness in following its consequences through to the end”. 185 Dass es sich dabei gerade um die Charaktere der Jünger handelt, darf durchaus als narrative Dramatisierung verstanden werden, denn die Jünger verfehlen damit die an Jünger gerichteten Erwartungen. 186 Wenn von diesem Hörertypos in Mk 4,17 ausgesagt wird, dass sie proskairoi, sind, so ist die Haltung in der Erzählung des Markusevangeliums bei den Jüngern zu finden. Sie beschäftigen sich untereinander mit der Frage, wer größer sei (Mk 9,34: diele,cqhsan ))) ti,j mei,zwn ). Sie möchten Ruhm für sich beanspruchen (Mk 10,37) und möchten ihre Worte und Taten mit Jesus kongruent ausrichten, und doch scheitern sie gerade darin, weil sie sich eben wie proskairoi, verhalten (Mk 8,31-33; 14,29-31). In dem Moment, wo Bedrängnis und Verfolgung sie trifft, nicht zu dem stehen, was sie tun wollten, sondern alle fliehen (Mk 14,50 = Kai. avfe,ntej auvto.n e; fugon pa,ntej ). Diese Haltung wird exemplarisch an Petrus verdeutlicht, der aus der Gruppe der Jünger dadurch hervorsticht, dass er für sie das Wort ergreift (vgl. z.B. Mk 8,29; 9,5; 10,28). Er gehört auch zu denjenigen, die Jesus sofort folgen. Petrus betont in seinen eigenen Worten in Mk 10,28, dass er wie die anderen Jünger alles verlassen habe, um Jesus nachzufolgen ( ivdou. h`mei/ j avfh,kamen pa,nta kai. hvkolouqh,kame,n soi ). Als Jesus zu den Jüngern sagt, dass 184 Tannehill, Jünger, 53. 185 Tolbert, Sowing the Gospel, 222, unter Verweis auf Aristoteles’ Rhetorik und Rhetorica ad Herennium. 186 Für den Hintergrund des antiken Lehrer-Schülerverhältnisses vgl. Robbins, Teacher, 125-196. <?page no="340"?> 328 sie zu Fall kommen werden (= skandalisqh,sesqe in Mk 14,27), antwortet ihm Petrus: „Wenn auch alle zu Fall kommen werden, ich aber nicht! “ (Mk 14,29 = eiv kai. pa,ntej skandalisqh,sontai( avll ’ ouvk evgw, ). Wenn der in Mk 4,17 dargelegte Hörertypos beschrieben wird als derjenige, der Anstoß nimmt an dem Wort (= skandali,zontai ), sobald Bedrückung und Verfolgung auftritt, trifft diese Typologisierung exemplarisch auf die Person Petrus als dem prototypischen Vertreter der Jünger zu. Angesichts der vorausgesagten und narrativ angekündigten diwgmou/ (Mk 10,30; vgl. auch 8,34.38; 9,40.42) und qli,yewj (vgl. Mk 13,18.24) ist es gerade Petrus, an dem deutlich wird, dass er Anstoß nimmt. Während von den übrigen Jüngern berichtet wird, dass sie bei der Gefangennahme Jesu alle fliehen (vgl. Mk 14,50), wird von Petrus berichtet, dass er angesichts der ihm widerfahrenen Bedrängnis nach Jesu Gefangennahme Jesus dreimal verleugnet. Auf die Feststellung, dass er mit dem Nazarener Jesus war (= meta. tou/ Nazarhnou/ h=sqa tou/ VIhsou/ in Mk 14,67) bzw. auf die Feststellung, dass er einer „von ihnen“ (= ev x auv tw/ n in Mk 14,68.69) ist, verleugnet (= avparnh,sh| in Mk 14,72) er dies. Auch der Name „Petrus“ zeigt an, dass er ein Vertreter der in Mk 4,16f. genannten Hörertypologie ist. Er, dessen Name ursprünglich Simon war, wird mit dem Beinamen Pe,troj belegt. Der Beiname Pe,troj ruft die Hörertypologie aus Mk 4,16 in Erinnerung: die evpi. ta. petrw,dh speiro,menoi : „This striking change of name is then followed in close proximity by the description of the ‚rocky ground’ in Mk 4,15, and the resulting rhetorical paranomasia, or wordplay, establishes the bond between Pe,troj and petrw,dhj , the ‘Rock’ and ‘rocky ground’”. 187 Auch für die zweite Hörertypologie in Mk 4,16f. gelingt es, ein Situationsmodell zu entwerfen. Dieser Hörertypos kann syntagmatisch mit den Jüngern referenzialisiert werden. Sie, die anfangs sofort Jesu Wort annehmen, sind im narrativen Verlauf diejenigen, die vom Wort abfallen. Damit verfehlt die im narrativen Verlauf prädestinierte Gruppe um Jesus ihre Aufgabe als Adjuvanten des Wortes zu wirken. Indem der in Mk 4,16f. signifizierte Hörertypos mit den narrativen Charakteren der Jünger zu referenzialisieren ist, werden die Erwartungen der LeserInnen enttäuscht; zugleich werden sie zu einer aktiven Rezeptionshaltung herausgefordert. Die LeserInnen sind aufgefordert, einerseits nach dem Grund für das nicht erwartete Verhalten zu suchen und andererseits sich Alternativen zu den Handlungen dieser Charaktere zu überlegen, die jenseits von den Handlungsvollzügen dieser Charaktere angesiedelt sind. 188 3. Die dritte Hörertypologie ist folgendermaßen gekennzeichnet: kai. a; lloi eivsi.n oi` eivj ta.j avka,nqaj speiro,menoi ou-toi eivsin oi` to.n lo,gon avkou,santej ... 187 Tolbert, Sowing the Gospel, 146; vgl. auch Mell, Zeit, 62, der vom „Felsenjünger Petrus“ spricht. 188 Vgl. Eisen, Markusevangelium, 151, mit Hinweisen auf weitere Literatur. <?page no="341"?> 329 Durch die szenische Einleitung dieser Hörertypologie als kai. a; lloi wird hervorgehoben, dass diese Typologie im narrativen Verlauf des Markusevangeliums bis Kapitel vier noch nicht aufgetreten ist. Im Gegensatz zu den bisherigen beiden Bodentypen ist die Art dieses Bodens an sich fruchtbar. Das Problem, mit dem sich diese Hörertypologie konfrontiert sieht, sind die avka,nqaj . Diese unter die Dornen Gesäten werden als Hörertypos folgendermaßen gekennzeichnet: Es sind die, welche das Wort gehört haben, „und die Sorgen der Lebenszeit und die Täuschung des Reichtums und die eingetretenen Begierden um das Übrige ersticken das Wort und es bleibt unfruchtbar“ (V. 19). Im Verlauf des Markusevangeliums lässt sich ein Situationsmodell entwerfen, bei dem dieser Hörertypos der narrativen Darstellung des reichen Mannes und des Herodes entspricht. Die Charakterisierung des reichen Mannes bei seiner Begegnung mit Jesus in Mk 10,17-22 entspricht dem in Mk 4,18f. dargelegten Hörertypos. Sich vor Jesus auf die Knie werfend fragt ihn der reiche Mann: „Guter Lehrer, was muss ich tun, damit ich ewiges Leben erbe? “ Jesus Antwort macht deutlich, dass er ihn ehrlich um den Weg zum ewigen Leben bemüht sieht. Das von Jesus geforderte Halten der Gebote ist dem reichen Mann seit seiner Jugend (vgl. evk neo,thto,j mou in Mk 10,20) vertraut. „The man obviously represents fertile ground: he recognizes Jesus`authority; he wants to learn; and he has already established his religious zeal by his obedience to the law”. 189 Hervorgehoben ist, dass er der Voraussetzung, guter Boden zu sein, entspricht. In Anbetracht von Jesu Feststellung, dass dem Mann etwas fehle, wird deutlich, was ihn daran hindert, Frucht zu bringen. Die Aufforderung Jesu an den Jüngling, seine Besitztümer zu verkaufen, den Erlös den Armen zu geben und Jesus nachzufolgen, macht den Mann traurig ( stugna,saj ) und betrübt ( lupou,menoj ), denn er hat viele Besitztümer ( kth,mata polla, in V. 22). Sein Reichtum hindert ihn daran, dem Wort Jesu Folge zu leisten und Frucht zu bringen, deswegen geht er über das Wort Jesu (= ev pi. tw|/ lo,gw| in V. 22) traurig und betrübt weg. Er hört deshalb nicht auf das Wort und nimmt es nicht an, weil ihn die „Täuschung des Reichtums“ (Mk 4, 19) davon abhält. Seine Sorge um die materiellen Angelegenheiten hindert ihn, den Schatz im Himmel ( qhsauro.n evn ouvranw| / in V. 21), der ihm in der Antwort Jesu verheißen wird, anzunehmen: „In the absence of his willingness to sell his possessions and give to the poor, neither the rich man’s knowledge and observance of the law nor Jesus’ love for him enables the rich man to follow” 190 (vgl. Mk 10,21 = avkolou,qei ). Die vorhandenen materiellen Güter hindern den reichen Mann Jesu Wort anzunehmen und ihm nachzufolgen. Er ist mit dem in Mk 4,18f. skizzierten Hörertypos in Relati- 189 Tolbert, Sowing the Gospel, 157. 190 Malbon, Disciples, 77. <?page no="342"?> 330 on zu setzen, der an sich guter Boden ist, aber keine Frucht bringt, da die Dornen - in diesem Fall die Besitztümer - dies verhindern. Im narrativen Verlauf des Markusevangeliums ist noch eine weitere narrative Figur diesem Hörertypos aus Mk 4,18f. zuzurechnen. In der Interaktion zwischen Johannes und Herodes in Mk 6,14-29 erweist sich Herodes ebenfalls als zu dem Hörertypos gehörig, der den unter die Dornen Gesäten Hörern entspricht. Mit V. 14, wo das Verb avkou,ein in der indirekten Perzeption verwendet wird, ohne dass das Objekt explizit genannt wird, sondern über den nächsten Satzteil über den „Kausalnexus“ 191 ga, r zu erschließen ist, wird eine hörzentrierte Einleitung geboten, die betont, dass Jesu Ruf nun auch bis zum König 192 Herodes vorgedrungen ist. Mit dem die Perikope abschließenden V. 29, die von der Grablegung Johannes durch seine Jünger berichtet, erhalten die Mk 6,14-29 rahmenden Verse eine analeptische und eine proleptische Funktion hinsichtlich des Wirkens Jesu. Mk 6,14 weist auf Jesu bisheriges Wirken zurück. Jesu Ruf hat sich weiter verbreitet, wie schon in Mk 1,28; 3,8; 5,27; 6,2, so nun auch zum König. Mk 6,29 übernimmt demgegenüber eine proleptische Funktion; dieser Vers ist ein Vorausverweis auf die Zeit des Todes Jesu. Inhaltlich geht es in Mk 6,14-29 zentral um das Ergehen von Johannes dem Täufer, aber sein Ergehen erweist sich als in mehrfacher Hinsicht mit dem Geschick Jesu verknüpft. 193 So kann gesagt werden, dass die „Bedeutung und Funktion von Jesu Leben und Tod [...] sich anhand der oder durch die Bedeutung des Schicksals des Johannes“ 194 verstehen lässt. In Form einer „Wiederaufnahme“ 195 wird Johannes der Täufer, der den RezipientInnen schon aus Mk 1,4-8.9 bekannt ist, narrativ wieder eingeführt. Nachdem schon in Mk 1,14 erwähnt wird, dass Johannes ausgeliefert worden ist (= to. paradoqh/ nai to.n VIwa,nnhn ), wird nun narrativ entfaltet, warum und was man nach seiner Auslieferung mit ihm gemacht hat. Johannes negative Bewertung der Heirat des Herodes mit Herodias wird als Grund für die Festnahme des Johannes durch Herodes angeführt. Deshalb wollte Herodias Johannes töten, „doch sie vermochte es nicht“ (= kai. ouvk 191 Pellegrini, Elija, 240. 192 In der narrativen Welt der Erzählung wird Herodes als König eingeführt. Auch ohne extratextuelles Wissen bezüglich des Tetrarchen Herodes funktioniert die Erzählung. 193 Die offensichtlichste Parallele ist der Tod von beiden, außerdem gehört zu beiden ein Jüngerkreis. Daneben ist zu erwähnen, dass die Sympathie, die Herodes dem Johannes entgegen bringt, mit der Sympathie, die Pontius Pilatus Jesus entgegen bringt, zu vergleichen ist. Während Pilatus Jesus schützen will, will Herodes Johannes schützen. So wie Herodias danach trachtet, wie sie Johannes umbringen kann, versuchen die Opponenten, Jesus zu töten. Sowohl Herodias als auch die Opponenten Jesu warten auf eine günstige Gelegenheit, wie sie ihren Plan realisieren können. 194 Pellegrini, Elija, 282; vgl. auch Klauck, Vorspiel, 25f. 195 Schenke, Markusevangelium, 159. <?page no="343"?> 331 hvdu,nato in V. 19). Während Herodias disjunkt zu Johannes charakterisiert wird, steht Herodes zunächst nicht in einem disjunkten Verhältnis zu Johannes. Er fürchtete Johannes ( evfobei/ to to.n VIwa,nnhn in V. 20), weil er ein gerechter und heiliger Mann war, er schützte ihn (= suneth,rei auvto,n in V. 20) und er hörte ihm gern zu (= h`de,wj auvtou/ h; kouen in V. 20). In der Erzählung werden die beiden zentralen Akteure, Johannes und Herodes, in ihrer Relation zueinander durch eine kurze Inklusion charakterisiert, die durch das Verb avkou,ein hergestellt wird (V. 20). Herodes steht keineswegs in einem disjunkten Verhältnis zu Johannes. Die Verwendung von avkou,ein unterstreicht dies. Vor dem Hintergrund eines zu entwerfenden Situationsmodells, in dem die Geschichte eine Funktion hinsichtlich der zu entwickelnden Hörertypologie erhält, dürfte auch Dibelius’ Ratlosigkeit hinsichtlich dieser Erzählung aufgehoben sein. Auf seine Frage: „Wo liegt das Interesse der Erzählung? Die Pointe ist offenbar die, daß ein König sich in seinem Schwur fängt und etwas tun muß, was ihm selbst leid tut. Frauenlist spinnt die Intrige ...“ 196 kann vor dem Hintergrund der Hörertypologie in Mk 4,18f. geantwortet werden, dass die Pointe darin liegt, dass der Charakter des Herodes gerade diesen Hörertypos in seinem Verhalten realisiert. Dies zeigt sich ab V. 22. Die Wende in der Relation von Herodes und Johannes wird eingeleitet durch eine Tanzdarbietung der Tochter der Herodias, die der König mit „Wonne“ (= h; resen in V. 22) ansah. Diese „Wonne“ führt zur „Auslösung einer kompromittierenden Kettenreaktion“, 197 in der das Ehrgefühl von Herodes wegen des geleisteten Eides (vgl. dia. tou.j o[rkouj in V. 26) gegenüber Herodes tiefer Traurigkeit (vgl. das Wort peri,lupoj in V. 26) überwiegt, weshalb Herodes den von der Tänzerin geäußerten Wunsch nicht abzuschlagen vermag. Um seine gesellschaftliche Reputation nicht zu gefährden, entscheidet Herodes sich für den Tod Johannes des Täufers. „Herod values his position, his reputation, and his oath more highly than what he has been hearing gladly“. 198 Auch für die dritte Hörertypologie aus Mk 4,18f. gelingt es, im Rahmen des Situationsmodells eine syntagmatische Referenzialisierung mit narrativen Charakteren des Markusevangeliums vorzunehmen. Sowohl Herodes als auch der reiche Mann sind dem dritten Hörertypos zuzuordnen. Sie beide scheitern daran, das gehörte Wort aufzunehmen. Der eine aus Angst um seinen Reichtum, der andere aus Angst um seine gesellschaftliche Stellung. 4. Die vierte Hörertypologie ist auf folgende Weise charakterisiert: kai. evkei/ noi eivsin oi` evpi. th.n gh/ n th.n kalh.n spare,ntej( oi[tinej avkou,ousin to.n lo,gon ... 196 Dibelius, Johannes, 79f. 197 Pellegrini, Elija, 272. 198 Tolbert, Sowing the Gospel, 158. <?page no="344"?> 332 Dieser in V. 20 signifizierte Hörertypos unterscheidet sich grundlegend von den anderen dreien. Hier wird der gehörte lo,goj angenommen und bringt Frucht in dreifach ausdifferenzierter Weise. Innerhalb der binären Struktur von Mk 4,14-20 realisiert sich in V. 20 die positive und fruchtbringende Art des Hörens. Tolbert möchte diesen in V. 20 indizierten Hörertypos im Markusevangelium mit den durch ihren Glauben Geheilten in einen Zusammenhang bringen. Exemplarisch seien nach Tolbert hierfür die drei Heilungserzählungen in Mk 5, die in Kontrast zu Mk 4,35-41 stehen würden. Während die Seesturmgeschichte eine weitere Erzählung des „rocky ground“ sei, seien die drei Heilungsgeschichten aus Mk 5 die Realisierung der in V. 20 genannten fruchtbringenden Art und Weise des Hörens. „The abundant triple yield of the good earth in the parable of the Sower is now matched by a series of three healings, more difficult than any Jesus has attempted before and thus more remarkable in their thorough success: the healing of a man with many demons, the healing of a woman without even his conscious assent, and the raising of a child from death”. 199 Die durch ihren Glauben Geheilten seien der gute Boden, was sie durch ihren Glauben zeigen würden. „These three healings, like thirtyfold, sixtyfold, and hundredfold harvest of the parable of the Sower, depict miraculous results when the word is accepted in faith rather than fear”. 200 Doch diese Referenzialisierung stößt auf Schwierigkeiten, wie Tolbert selbst eingestehen muss. 201 So fehlt die Glaubensthematik in 5,1-20 völlig und in Mk 5,34 und 5,36 spricht Jesus den Geheilten Glauben zu bzw. fordert zum Glauben auf - d.h. erst durch Jesus Wort wendet sich Furcht in Glauben. Außerdem wird in Mk 5,25 festgehalten, dass die blutflüssige Frau von Jesus hörte (indirekte Perzeption von av kou, ein ) und nicht, dass sie Jesus direkt hörte. Grundlegend spricht jedoch gegen die syntagmatische Referenzialisierung der Geheilten mit dem in Mk 4,20 anvisierten Hörertypos die fehlende Thematisierung des Fruchtbringens bei den Charakterisierungen der Geheilten. 202 Von ihrem „Fruchtbringen“ ist so gut wie gar nicht die Rede. Außerdem ist auf die marginale Rolle der Geheilten für den Erzählfortgang hinzuweisen. Für den Fortgang der Geschichte des Evangeliums spielen sie keine entscheidende Rolle. Ihr Fruchtbringen wird gerade nicht narrativ eingespielt; mit Blick auf das erzählte Ende des Markusevangeliums ist auch das „Nachfolgen“ von Bartimäus (vgl. Mk 10,52) erschreckend fruchtlos. Zudem ist zu beachten, dass die in Mk 4,20 signifizierte Hörertypologie durch das Demonstrativpronomen evkei/ noi eingeführt wird. Dieses De- 199 Tolbert, Sowing the Gospel, 166. 200 Tolbert, Sowing the Gospel, 170. 201 Tolbert, Sowing the Gospel, 168. 202 Die Ausnahmen bilden die Heilung des Aussätzigen (Mk 1,40-45) und der Gerasener (Mk 5,1-20), beide verkündigen, was Jesus ihnen getan hatte. <?page no="345"?> 333 monstrativpronomen unterscheidet diesen Hörertypos von den anderen drei Hörertypologien, die mittels des Demonstrativpronomens ou-toi bzw. a; lloi eingeführt worden sind. Das Demonstrativpronomen evkei/ noi bestimmt in der dritten Person einen Abwesenden, es signifiziert eine „nichthier“ im Text zu referenzialisierende Größe, sondern eine, die „dort“ ist, also nicht im Text anwesend. 203 Aus diesem Grund ist anzunehmen, dass es sich bei der in V. 20 dargelegten Hörertypologie nicht um eine im narrativen Verlauf zu besetzende Gruppe handelt. Vielmehr steht zu vermuten, dass die Gruppe derer, die guter Boden sind, eine Fokussierung auf die RezipientInnen des Markusevangeliums vornimmt. Mk 4,20 richtet sich an die RezipientInnen des Markusevangeliums, damit sie es sind, die sich als guter Boden erweisen sollen. Die dreifach differenzierte Art des Fruchtbringens dient dazu, in überbietender Weise gegenüber dem Misserfolg zum positiven Erfolg zu motivieren: „les inévitables échecs ne doivent pas faire douter d’un succès final inespéré“. 204 Aus diesem Grunde bleibt der vierte Typos ein nicht durch Charaktere im narrativen Verlauf des Markusevangeliums zu besetzender Typos. Es gelingt nicht, ein Situationsmodell für diesen Typos herzustellen, bei dem dieser Typos durch Charaktere im narrativen Verlauf des Markusevangeliums expliziert wird. Wenn es nicht gelingt, ein Situationsmodell für den Hörertypos aus Mk 4,20 zu entwerfen, scheitert für V. 20 der Versuch, den dort befindlichen Typos der auf guten Boden Gesäten mit narrativen Charakteren zu identifizieren. Die RezipientInnen sind somit aufgefordert zu prüfen, ob es möglich ist, auch außerhalb der Textwelt eine Hörergruppe zu identifizieren, die dem „guten Boden“ entspricht. Es ist die in dieser Arbeit vertretene These, dass die LeserInnen des Evangeliums sich mit denen identifizieren sollen, die der in V. 20 charakterisierte Typos sind. Sie sollen guter Boden sein und Frucht bringen. Auf der Grundlage der bisher entworfenen Situationsmodelle zu den ersten drei Hörertypologien sollten die LeserInnen sich gerade nicht mit den den Hörertypologien zugehörigen Charakteren im narrativen Verlauf des Markusevangeliums identifizieren. 205 Diese Verknüpfung der Gruppe derer, die Frucht bringen, mit den LeserInnen des Evangeliums scheint besonders mit Blick auf das erzählte Ende des Markusevangeliums plausibel zu sein. Denn durch das abrupte Ende der Erzählung in Mk 16,8 sollen die RezipientInnen aktiviert werden. „Emotional aufgestachelt, sollen sie das Handlungsloch füllen, das durch 203 Vgl. Blass/ Debrunner, Grammatik, §291, zu evkei/ noj : „Es bezeichnet 1. die Abwesenden als solche“. 204 Focant, Marc, 173. 205 Vgl. Juel, Mark, 39: „Readers are cast in the role of insiders from the beginning of the Gospel. ‚Identifying’ with any characters in the story is made difficult when we hear what no one else can and receive explanations unavailable to those in the story.” <?page no="346"?> 334 den Ausfall der dafür vorgesehenen Hauptrollen entstanden ist“. 206 Angesichts des eingetretenen Schweigens in 16,8, nachdem die RezipientInnen über sechzehn Kapitel lang den lo,goj gehört haben, ist es nun ihre Aufgabe, guter Boden zu sein und Frucht zu bringen „In addition, at the close of the Markan Gospel the narrator’s story and that of his characters comes to an end - it reaches the point of silence, but the hearer/ reader’s story is at a new beginning - it is the hearer/ reader’s turn to speak now”. 207 Die Frage, wie die RezipientInnen in einen Zusammenhang mit dem Text treten und wie sich der Text seine LeserInnen schafft, ist allerdings keine Frage mehr, die im Rahmen einer semantischen Analyse gelöst werden kann. Dies kann nur im Rahmen einer pragmatischen Bedeutungsanalyse geschehen. 4. Fazit Van Dijks Modell einer kognitiven Bedeutungsanalyse stellt eine explizite Theorie zur Erfassung der semantischen Dimension der Bedeutung dar. Unter Einbeziehung der syntagmatischen Dimension der Bedeutung von avkou,ein in Mk 4,1-34 wurde in einem ersten Schritt eine Makrostruktur zu Mk 4,1-34 gebildet. Die Makrostruktur beachtete die Wahrnehmungszentrierung von Mk 4,1-34, die in den meisten Gliederungsentwürfen zu Mk 4,1-34 nicht berücksichtigt wird. Mittels der Unterscheidung von Thema und Topic konnte die Relevanz der Wahrnehmungszentrierung - besonders für avkou,ein - aufgezeigt werden. Herausgearbeitet wurde die besondere Stellung von Mk 4,14-20. Dieser Abschnitt wurde im Rahmen der konzentrisch angeordneten Makrostruktur als zentral stehend bestimmt und zeigte durch die Verknüpfung von Topic und Thema seine für Mk 4,1-34 besondere Relevanz hinsichtlich des Wortes avkou,ein . Auf der Grundlage dieser Überlegungen wurden die Verse als zentral angesehen, um für den weiteren semantischen Bedeutungsaufbau von avkou,ein zu fungieren. Indem Mk 4,14-20 als narrative Typologie begriffen wurde, die vier verschiedene Typen von Hörern des lo,goj vorstellt, wurden mittels der kognitiven Bedeutungstheorie von van Dijk die in Mk 4,14- 20 dargestellten Hörertypologien im Rahmen des Markusevangeliums mit narrativen Charakteren des Evangeliums in Verbindung gebracht. Das Entwerfen eines Situationsmodells, in dem die Oberflächenstruktur des Markusevangeliums darauf hin abgesucht wird, ob die in Mk 4,14-20 dargelegten Hörertypologien sich Charakteren im narrativen Verlauf des Markusevangeliums zuordnen lassen, wurde wesentlich von dem syntag- 206 Ebner, Schatten, 65. 207 Malbon, Followers, 65. <?page no="347"?> 335 matischen Befund angestoßen, dass hier vierfach differenzierte Hörertypen dargestellt werden, diese aber nicht weiter identifiziert werden. 208 Aus diesem Grunde sind Überlegungen, wie die von Weder, dass es sich bei Mk 4,14-20 „um eine Transformation des ursprünglichen Jesusgleichnisses in den Erfahrungsbereich der nachösterlichen Gemeinde handelt“, 209 in dieser Pauschalität nicht aufrechtzuerhalten, sondern lassen sich im Sinne einer mentalen Prozesse beachtenden Bedeutungstheorie wesentlich differenzierter darstellen. Es ist vor dem Hintergrund des zugrunde gelegten dynamischen Bedeutungskonzeptes nicht die Frage gewesen, ob der Evangelist Markus die Typologisierung intendiert hat oder nicht. Die Plausibilität dieses semantischen Bedeutungskonzeptes ist keineswegs an die intentio auctoris zu koppeln, sondern wird erlangt durch das Aufzeigen der Transformationsprozesse der Bedeutung, die es erlauben, die in Mk 4,14-20 dargelegten Hörertypologien mit Charakteren im narrativen Verlauf des Markusevangeliums in Verbindung zu setzen. Ausgehend von den in Mk 4,14-20 dargelegten Hörertypologien im Verlauf des Markusevangeliums kam es zu einer Bildung einer globalen Kohärenz hinsichtlich der ersten drei Hörertypologien. Im Rahmen der globalen Kohärenz konnten die ersten drei in Mk 4,15-19 entworfenen Typologien von Hörern bestimmten Charakteren im Verlauf des Markusevangeliums zugeordnet werden. Die in Mk 4,15-19 dargelegten Hörertypologien entwarfen dementsprechend eine „Bewertungshaltung“, aufgrund derer die Aktionen der Charaktere des Markusevangeliums durch die LeserInnen wahrgenommen wurden. Vor dem Hintergrund von Mk 4,14-20 und den dort dargelegten Hörertypologien ist es auch erklärbar, warum die Akteure im Markusevangelium kaum weiter charakterisiert werden oder eine weiterführende Rolle für den Erzählfortgang erhalten. Der reiche Mann fungiert ebenso wie Herodes als Handlungsträger ohne nähere Ausformulierung seines Charakters, da der Typos schon in Mk 4,14-20 skizziert worden ist. In den Darlegungen der vierfach differenzierten Hörertypologien wurde für das Markusevangelium die grundlegende Charakterisierung der narrativen Akteure geleistet. So werden die narrativen Charaktere im Markusevangelium bewertet und bestimmten Typen zugeordnet hinsichtlich der Art und Weise, wie sie den lo,goj hören. In diesem Sinn kann festgehalten werden: „all the characters, their words, and their actions have been molded as they are to communicate to or have an effect upon an audience. They are not copies of the world; they are, instead, a world of their own, created especially to persuade”. 210 208 France, Mark, 203, mit Bezug auf Mk 4,14-20: „It describes the types of people portrayed in the story, but does not identify them with any specific groups or individual in the church or outside it”. 209 Weder, Gleichnisse, 113. 210 Tolbert, Sowing the Gospel, 223. <?page no="348"?> 336 Nur für den in Mk 4,20 dargelegten Hörertypos konnte kein Situationsmodell entworfen werden, bei dem diesem Typos narrative Charaktere aus dem Markusevangelium zugeordnet wurden. Es wurde die Vermutung geäußert, dass dieser Typos nicht intratextuell zu besetzen ist, sondern die LeserInnen sollen sich als zu dem vierten Hörertypos zugehörig verstehen. Diese Vermutung muss in der pragmatischen Analyse zu Mk 4,1-34 wieder aufgegriffen werden. <?page no="349"?> 337 IX. Die pragmatische Analyse von Mk 4,1-34 In der pragmatischen Analyse geht es - ausgehend von Mk 4,1-34 und der Zuspitzung auf das Wort avkou,ein - um die initiierte Interaktion zwischen dem Text und den LeserInnen. Die Interaktion zwischen Text und LeserIn soll in diesem Kapitel mittels der Bedeutungstheorie von Umberto Eco 211 dargelegt werden, die durch die Theorie des Modell-Lesers, die Theorie der Abduktion, die Theorie der Enzyklopädie sowie die Theorie der möglichen Welt wesentliche Elemente für den pragmatischen Bedeutungsaufbau bereithält. 1. Der Modell-Leser von Mk 4,1-34 1.1. Der Modell-Leser von Mk 4,1-34 vor dem Hintergrund der antiken Lesepraxis Es ist für die Klärung der Frage nach dem Modell-Leser noch einmal wichtig, sich die Ausführungen zu Ecos Bedeutungstheorie zu vergegenwärtigen, in der betont wurde, dass es nicht um die Rekonstruktion des realen Lesers geht, sondern um dessen Kompetenzen, die es anzuwenden gilt. 212 Diese Kompetenzen sind in zwei Richtungen hin zu verstehen: Einerseits hat der Modell-Leser die kulturellen Kodes, denen sich der Text verpflichtet zeigt, zu beachten und andererseits ist der textuellen Strategie des Textes zu folgen. Der Modell-Leser muss dementsprechend mit den sozialen Aspekten seiner Kultur vertraut sein, um den kulturellen Kodes Folge leisten zu können. Mit Blick auf die Fokussierung auf die Kompetenzen der LeserInnen rückt das Lesen als die Aktion, die grundlegend für die Etablierung des Modell-Lesers ist, unter der Perspektive kultureller Kompetenzen in den Mittelpunkt des Interesses. In einem ersten Schritt ist grundsätzlich die Technik des Lesens zu vergegenwärtigen, die unter den kulturellen Kodes der griechisch-römischen Antike in Anschlag gebracht werden kann. Wenn also in der pragmatischen Analyse der Bedeutung das Verhältnis von Text und LeserIn relevant ist, dann müssen bei der Bestimmung dieser Relation die kulturellen Kodes der Antike, die für den Lektüreprozess biblischer 211 Wir sehen in der Theorie von Eco ein ausgearbeitetes methodisches Instrumentarium für die Belange der Pragmatik und teilen somit nicht die Auffassung von Dillmann/ Grilli/ Mora-Paz, Leser, 57, dass „eine pragmatische Theorie, die sowohl die hermeneutischen Implikationen aufzeigt, wie auch ein entsprechendes methodisches Instrumentarium für die biblische Exegese bereitstellt, nicht in Sicht“ sei. 212 Vgl. die Ausführungen in Kapitel VI dieser Arbeit. <?page no="350"?> 338 Texte zu veranschlagen sind, berücksichtigt werden. D.h., dass die Kompetenz des Modell-Lesers von Mk 4,1-34 auf der Grundlage der Praktiken des Lesens in der griechisch-römischen Antike zu bestimmen ist. Mit dem Fokus auf die Technik des Lesens in der griechisch-römischen Antike ist als erstes festzustellen, 213 „daß in der Antike der Text laut oder halblaut gelesen wurde“. 214 So lässt Platon Sokrates im Phaidon 215 sagen: „[...] als ich einmal einen (lesen) hörte aus einem Buch“ (= avkou,saj me,n pote evk bibli,ou ). Das Verb lesen ( avnagignw,skw ) wird gar nicht verwendet, vielmehr hört man aus dem Buch. Hören erlangt also im Zusammenhang mit dem Lesen eine Bedeutung. Eine zweite Stelle mag diesen Eindruck noch vertiefen. So heißt es in Platons Theaitetos 216 in einem Gespräch zwischen Eukleides und Terpsion: „So laß uns dann gehen, und indes wir Ruhe pflegen, mag uns der Knabe vorlesen“ (= o` pai/ j avnagnw,setai ), wenig später wird der Knabe aufgefordert zu lesen (= avlla, pai/ labe. to. bibli,on kai. le,ge ). Aufschlussreich bei dem zweiten Zitat: Das Verb „lesen“ fehlt, stattdessen 213 Für weitere Belege zur Tradition des lauten Lesens sei auf Balogh, Voces, 84-109.202- 240, verwiesen. 214 Mazal, Antike, 113. Vgl. auch zum lauten Lesen: Müller, Verstehen; Achtemeier, Verbum, 3-27. Diese Ansicht vom lauten Lesen vertrat bereits Eduard Norden (1898) in seiner Einleitung zur „Antiken Kunstprosa“. Prominent wurden die Untersuchungen zum lauten Lesen in der 1927 erschienenen Abhandlung des ungarischen Gelehrten Josef Balogh, der diese Praxis mit vielen Belegen aus der spätantiken Zeit dokumentiert. Baloghs Arbeit hat maßgeblich dazu beigetragen, die Communio opinio vom grundsätzlich lauten Lesen in der Altertumswissenschaft zu verankern. Gleichwohl gibt es auch Gegenstimmen, die von einem leisen Lesen ausgehen. Für die Belege, die für das leise Lesen herangezogen werden, vgl. Knox, Reading, 421-435. Die Belege weisen m.E. einerseits auf eine Leseelite hin, als ein Kreis, der einen Umgang mit größeren Textmengen pflegt, andererseits auf eine Situation, in der das laute Lesen unpassend gewesen ist. Das von Knox angeführte Beispiel aus Aristophanes’ Rittern (Aristoph. Equ. 117-128) aus dem Jahr 424, bei der es sich um die leise Lektüre eines niedergeschriebenen Orakels handelt, das Nikias dem Paphlagonier gestohlen hat, ist hierfür aufschlussreich. Demosthenes erhält von Nikias das Orakel und liest offenbar leise, denn Nikias muss ungeduldig nachfragen, was da drin steht. Daraufhin sagt Demosthenes, ganz in seine Lektüre vertieft: „Fülle mir eine weitere Schale“. Worauf Nikias nachfragt: „Steht im Orakel was vom zweiten Becher“. Dieser Scherz funktioniert jedoch nur, sofern die Praxis des leisen Lesens gerade nicht bekannt ist. Grundsätzlich ist deshalb wohl festzuhalten, dass das laute Lesen die in der Antike am stärksten verbreitete Art zu lesen war. Dies schließt nicht aus, dass nicht auch das leise Lesen bekannt war. Jedoch ist nicht mit einer Allgegenwart des leisen Lesens zu rechnen, wie neuerdings Aleksandr K. Gavrilov (unter Einbeziehung der Erkenntnisse der modernen Leseforschung, die festhält, dass geübte Leser lautlos lesend schneller lesen können als mit Stimme) postuliert. Gavrilov kommt er zu einem kulturelle Unterschiede nivellierenden Leseverständnis, wenn er festhält: „the phenomenon of reading itself is fundamentally the same in modern and in ancient culture“ (Gavrilov, Techniques, 69), denn er stülpt den antiken Zeugnissen moderne Ansichten über. 215 Plat. Phaid. 97b. 216 Plat. Tht 143b.c. <?page no="351"?> 339 wird einfach le,ge verwendet. Die beiden Stellen aus Platons Werken machen mit Blick auf das Lesen unter den kulturellen Kodes der Antike deutlich, dass das Lesen ein lautes Lesen 217 ist und dass für die Technik des Lesens nicht ausschließlich das griechische Verb avnagignw,skw relevant ist, sondern darüber hinaus auch avkou,ein und le,gein in den Zusammenhang mit einer Lektürepraxis zu stellen sind. Auch für den Bereich der römischen Antike ist das laute Lesen vorauszusetzen. 218 Als Beispiele sollen die Briefe von Plinius dem Jüngeren herangezogen werden, die „für die Fragen des Lesens in der Antike eine Fundgrube sind“. 219 So weist Plinius darauf hin, dass bei Tisch vorgelesen wird. „Bei Tisch lasse ich, wenn meine Frau zugegen ist oder ein paar Freunde, aus einem Buch vorlesen“ 220 (= Cenanti mihi, si cum uxore vel paucis, liber legitur). Für das Vorlesen ist ein Lektor zuständig, der laut vorliest. Als dieser an einer Halsentzündung erkrankte, klagt Plinius: „Wer wird alsdann meine Arbeiten so vortragen, so lieben? Wen würden meine Ohren so gern hören? “ (= [...] quis deinde libellos meos sic leget, sic amabit? Quem aures meae sic sequentur? ) Auch in der römischen Antike wird das Hören in Zusammenhang mit dem Lesen gebracht. Außerdem erhält avkou,ein unter den kulturellen Kodes der Antike eine Funktion im Rahmen schriftlicher Kommunikation. Als letztes soll die Geschichte von Akontios und Kydippe, die Kallimachos 221 in dem 3. Buch der Aitia und die danach noch im 5. Jh. n.Chr. Aristainetos im ersten Brief seiner „Erotischen Briefe“ als Brief einer Eratokleia überliefert hat, 222 angeführt werden. Diese Erzählung gibt neben den äußeren Rahmenbedingungen der Lesepraxis auch Aufschluss über die Rolle der LeserInnen beim Lesen. Die Erzählung von Akontios und Kydippe, die über einen Zeitraum von über 800 Jahren hinweg tradiert wurde, konnte nur unter der Bedingung der Kontinuität der Lesepraxis ihren erzählerischen Reiz behalten haben. Anders gesagt: Die Erzählung kann nur deswegen als erzählenswert angesehen worden sein, weil die für diese Erzählung vorausgesetzten Kompetenzen hinsichtlich der Technik des Lesens nicht gravierend verändert worden sind. Nach dieser Erzählung verliebte sich der schöne Jüngling Akontios in das Mädchen Kydippe. Um sich ihrer Liebe zu versichern, nahm er einen Apfel und ritzte darauf die Worte ein: „Bei der Artemis, ich will den Akontios heiraten.“ Als nun das Mädchen einst im Artemision saß, rollte der Jüngling den Apfel vor die Füße des Mädchens, das ihn daraufhin neugie- 217 Zu dieser These grundlegend Balogh, Voces, 84ff., sowie Svenbro, Phrasikleia. 218 Für weitere Belege vgl. Müller, Glaube, 413ff. 219 Müller, Verstehen, 19. 220 Plin. epist. IX,36. 221 Der Text von Kallimachos, Aitia 3, fr. 67-75, ist nicht vollständig überliefert. 222 Die Version von Aristainetos ist in Pfeifer, Callimachus I, 71, zu finden. <?page no="352"?> 340 rig ergriff. Als es die Aufschrift darauf erblickte, las es mit lauter Stimme den Text. Durch das laute Lesen des Eides war Kydippe nun an den Eid gebunden, ohne es zu wollen. Sie warf errötend den Apfel weg, aber Artemis hatte den Schwur bereits gehört. Im weiteren Verlauf der Erzählung erfahren die LeserInnen, dass Kydippes Vermählung mit einem anderen Mann dreimal fehlschlägt, weil das Mädchen jedes Mal vor der Hochzeit schwer erkrankt. Daraufhin wendet sich der verzweifelte Vater an das Orakel des Apollon, und der Gott offenbart dem Vater die Zusammenhänge. Am Ende heiratet Akontios doch noch die Kydippe, und es wird eine prachtvolle Hochzeit gefeiert. Auch Kydippe liest den in den Apfel hineingeritzten Satz mit lauter Stimme vor. Doch gegenüber den vorherigen Beispielen aus der griechischrömischen Antike lässt sich nun auch etwas zum Verhältnis von LeserIn und Geschriebenem sagen. So ist festzustellen, dass der eingeritzte Satz, bevor er laut gelesen wird, keine Bedeutung hat. Die Buchstaben sind vor dem lauten Lesen stumm und bedeutungslos, der Schwur wird erst wirksam in dem Moment als Kydippe die Worte laut liest. Die Leserin Kydippe wird zu einem Werkzeug, dessen der in den Apfel geritzte Satz bedarf. In dem Moment, wo Kydippe den Text hörbar macht, hat sie sich ihm unterworfen und wird zum Sprachrohr des Geschriebenen, das Kydippe gleichsam ihres eigenen ev gw, beraubt. Es lässt sich auch etwas über den Schreiber in Erfahrung bringen. Akontios als Schreiber des Satzes hat die Begegnung zwischen sich und Kydippe sehr wohl vorausgeplant. Er zählt auf die Leserin und ihr lautes Lesen. Er weiß, dass der in den Apfel geritzte Satz so lange defizitär bleibt, solange er nicht von Kydippe laut vorgelesen wird. Diese Überlegungen zu der Erzählung von Kydippe und Akontios lassen den Schluss zu, dass sich das Geschriebene (durch den Schreiber) der Leserin als eines Instrumentes bedient und dass das Geschriebene ohne die Leserin defizitär bleibt. In dem Fall benutzt Akontios die Kydippe, um sie an sich zu binden. Nach diesem ersten Einstieg in den „technischen“ Akt des Lesens kann festgehalten werden, dass es zu der grundlegenden Kompetenz eines Modell-Lesers gehört, mit den Kodes der griechisch-römischen Antike vertraut zu sein: Er oder sie muss laut lesen können. Diese Kompetenz des lauten Lesens ist auch für das Lesen der neutestamentlichen Schriften zu veranschlagen, auch hier ist das Hören im Zusammenhang mit der Technik des Lesens von Relevanz. So ist in Apg 8,26-40 vorausgesetzt, dass der Äthiopier mit lauter Stimme liest. Dass er laut liest, erschließt sich aus Apg 8,30: prosdramw.n de. o` Fi,lippoj h; kousen auvtou/ avnaginw,skontoj VHsai/ an to.n profh,thn kai. ei=pen . Philippus hört den Äthiopier lesen. Dies geht nur, sofern er laut liest. Der Äthiopier ist somit „ein Leser innerhalb der Erzählung, einer der lesend im Text selbst vorkommt“, 223 und der zugleich einen ers- 223 Müller, Verstehen, 10. <?page no="353"?> 341 ten Aufschluss über die in den neutestamentlichen Texten vorausgesetzte Art des Lesens gibt: Hier wird laut gelesen. 224 Auch in Offb 1,3 ist das laute Lesen vorausgesetzt, wenn es dort heißt: Maka,rioj o` avnaginw,skwn kai. oi` avkou,ontej tou.j lo,gouj th/ j profhtei,aj [...]. Es zeigt sich, dass in beiden Beispielen avkou,ein im Zusammenhang mit schriftlichen Kommunikationsvorgängen steht. 225 „Lesen und Hören kennzeichnen hier als Komplementärbegriffe das Lesen als lautes Lesen“. 226 Fragt man nach den Kompetenzen, die der Modell-Leser von Mk 4,1-34 mitbringen muss, dann kann gesagt werden: Er muss laut lesen können. Diese Kompetenz des lauten Lesens eröffnet mit Blick auf das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit weit reichende Konsequenzen. 227 Ein Text muss hörbar gemacht werden, wenn er gelesen wird. „What the vast majority of us are today toward the musical score, that were the readers of an earlier time toward the written word: it conveyed meaning only as it was sounded and heard”. 228 Deshalb muss der Modell-Leser das Lexem avkou,ein in Zusammenhang mit der Technik des Lesens bringen können. Damit erhält das Lexem avkou,ein eine Bedeutung im Rahmen schriftlicher Kommunikation. 1.2. Der Modell-Leser von Mk 4,1-34 und das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ausgehend vom Diskursuniversum des Markusevangeliums Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass das Lexem avkou,ein für den Modell-Leser eine Bedeutung im Zusammenhang mit einer schriftlichen Kommunikationssituation hat. Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass avkou,ein unter dem Gesichtspunkt der Verhältnisbestimmung von Mündlichkeit und Schrift ein auf beide Aspekte miteinander verbindendes Moment weist. Um die Kompetenzen des Modell- Lesers mit Blick auf Mk 4,1-34 weiter zu konkretisieren, soll deshalb in einem ersten Schritt das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Zusammenhang des Diskursuniversums des Markusevangeliums untersucht werden. Es geht um die Klärung der Frage, welcher Textstrategie 224 Ob damit ein Selber-Leser oder Sich-Vorlesen-Lassen gemeint ist, ist für die hier gewählte Fragestellung nicht von Interesse. Grundsätzlich ist beides möglich, und beide Arten des Lesens unterstreichen den Zusammenhang von Lesen und Hören als mit Schriftlichkeit und Mündlichkeit befasste Aspekte. 225 Vgl. auch Offb 22,18. 226 Müller, Verstehen, 55. Vgl. auch Balogh, Voces, 207 (mit verschiedenen Beispielen); Achtemeier, Verbum, 16. 227 Vgl. Balogh, Voces, 220: „Das laute Lesen gehört [...] zu jenen anscheinend geringfügigen Problemen der Wissenschaft, die überraschend weite Sichten eröffnen [...]“. 228 Hendrickson, Reading, 184. <?page no="354"?> 342 der Modell-Leser von Mk 4,1-34 mit Blick auf die Verhältnisbestimmung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu folgen hat. Für das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit ist im Zusammenhang mit dem Markusevangelium festzuhalten, dass im Evangelium keine wertende Unterscheidung zwischen geschriebenen und mündlichen Medien gemacht wird. Auffällig ist, dass gerade die mündlich inszenierte Hauptperson - nämlich Jesus - in seiner Rede des Öfteren auf das Medium Schrift verweist: 229 Am Ende des Weinberggleichnisses sagt Jesus: ouv de. th. n grafh.n tau,thn avne,gnwte (Mk 12,10). Jesus verweist innerhalb einer Redesituation auf das Medium Schrift, die gelesen werden soll. Ebenso in Mk 14,21, wo der markinische Jesus den Verrat an seiner Person ankündigt, indem er mit Bezug auf seine eigene Person und sein Geschick einen Verweis auf die Schrift macht („wie über den Sohn des Menschen geschrieben steht“ = kaqw.j ge,graptai peri. auvtou/ ; vgl. auch Mk 7,6; 9,12). Auch hier bezieht sich der redende Jesus ganz selbstverständlich auf die Schrift, die über ihn etwas schreibt. In Mk 11,17 lehrt Jesus und spricht: „Steht nicht geschrieben [...]“ (= ouv ge,graptai o[ti ). Auch Mk 10,4f. ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. In der Antwort der Pharisäer an Jesus im Zusammenhang mit der Frage nach der Ehescheidung wird wie selbstverständlich auf das Medium der Schrift rekurriert. Der ausgestellte Scheidebrief ist ein Schriftstück, genauer ein bibli,on avpostasi,ou , das geschrieben wird ( gra,yai ). Und auch die Antwort von Jesus an die Pharisäer rekurriert auf das Medium Schrift, denn hier ist ein schreibender Mose vorgestellt. Das „Gebot“ der Ehescheidung ist von Mose mit Rücksicht auf die Herzensverhärtung geschrieben worden ( e; grayen in V. 5). Die Antwort an die Pharisäer zeigt deutlich, dass eine Rechtspraxis vorausgesetzt wird, in der die Medialität der Schrift und der Bezug zur Schriftlichkeit fraglos in Anspruch genommen werden. Auffällig ist zu einem, wie selbstverständlich das Medium der Schriftlichkeit immer wieder über das ganze Evangelium verteilt thematisiert wird und zum anderen, dass es immer im Rahmen einer imaginierten Mündlichkeit auftritt. In diesem Sinne ist die Verwendung des Lexems ge,graptai in Mk 1,2 eine Ausnahme, da hier jenseits einer imaginierten Situation der Mündlichkeit auf das Medium Schrift rekurriert wird. Aber das Medium der Schrift spricht in der 1. Person: ivdou. avposte,llw (V. 2). Die Schrift spricht als ein „Ich“. Hier ist der einzige Bezug innerhalb des Diskursuniversums des Markusevangeliums, wo in dem Medium Schrift (= das Markusevangelium) auf Geschriebenes verwiesen wird, ohne dass eine direkt kenntlich gemachte Situation der Rede vorliegt. Ein Blick auf die Verwendung des Lexems avnaginw,skw im Markusevangelium macht ebenfalls deutlich, dass der Verweis auf das Lesen, das an das Medium der Schriftlichkeit gebunden ist, wie selbstverständlich im 229 Dies bemerkt auch Robbins, Cultures, 76. <?page no="355"?> 343 Rahmen der Worte Jesu geschieht. In Mk 2,25; 12,10.26 wird in einer imaginierten Redesituation durch Jesus Bezug auf die Tätigkeit des Lesens genommen, wobei sich die Stellen auf das Lesen von alttestamentlichen Texten beziehen. Mk 13,14 ist ebenfalls aufschlussreich. In einer imaginierten Redesituation, in der der markinische Jesus spricht, werden die LeserInnen direkt angesprochen. Hier wird auf eine mit der Materialität der Schrift vertraute Instanz rekurriert. Die Aussage, „Der Lesende begreife! “ (= o` avnaginw,skwn noei,tw ), stellt ja gerade fest, dass eine Leseinstanz für das Markusevangelium vorauszusetzen ist, die hier direkt über das Medium der Schrift angesprochen wird. Hinsichtlich der Frage, ob o` avnaginw,skwn die Bedeutung von „vorlesen“ oder „für sich selbst lesen“ habe, ist mit Blick auf die übrigen Textstellen, in denen avnaginw,skw vorkommt (vgl. Mk 2,25; 12,10.26), festzuhalten, dass bei den übrigen Textstellen im Markusevangelium eindeutig eine Lesesituation vorgesehen ist. So ist es auch plausibel, für Mk 13,14 eine Lesesituation anzunehmen. Die LeserInnen sind durch die Worte Jesu direkt angesprochen. Das schließt - vor dem Hintergrund des lauten Lesens - nicht aus, dass die angeredete lesende Instanz als VorleserIn den Text für ZuhörerInnen liest; wichtig ist nur, dass eine direkte Anrede an die lesende Instanz gerichtet ist, die durch ihr Lesen auch die eventuelle Zuhörerschaft zu direkter Aufmerksamkeit auffordert. Der Text des Markusevangeliums ist als nicht für eine kleine Gruppe abgefasst zu verstehen, sondern die Schrift des Evangeliums ist von sich aus an eine größere Gruppe von Hörern gerichtet (vgl. z.B. Mk 13,37: o] de. u`mi/ n le,gw pa/ sin le,gw ). Dass eine Leseinstanz in Mk 13,14 direkt angesprochen wird, zeigt vor allem, dass im Rahmen der Schrift des Evangeliums eine solche Instanz vorgesehen ist. Die unspezifische Anrede an die lesende Instanz könnte darauf hinweisen, dass sich das Markusevangelium als Schrift nicht an eine kleine spezifische Gruppe wendet. Es ist in Mk 13,14 zwar direkt der Leser/ die Leserin angesprochen, aber die Adressaten des Geschriebenen können vor dem Hintergrund der Praxis des lauten Lesens als weiter gefasst bestimmt werden. 230 Denn wenn die Stimme des Lesenden, der in Mk 13,14 angesprochen wird, notwendigerweise das Instrument ist, dessen der Text bedarf, um sich zu verwirklichen, dann bedeutet dies, dass die Adressaten des Geschriebenen nicht der Leser oder die Leserin im strengen Wortsinn sind, sondern eben auch „Zuhörer“ des markinischen Textes. 230 Wenn Beavis, Mark’s Audience, 30, vor dem Hintergrund der rhetorischen Tradition aus dem griechisch-römischen Bereich annehmen möchte, „that the Gospel was written not for private study, but in order to be read aloud to an audience, probably by the evangelist himself, with all the rhetorical flourishes at his command“, so bleibt sie zumindest die Erklärung schuldig, wie dann Mk 13,14 zu verstehen ist. <?page no="356"?> 344 Auffällig ist, dass die Anrede an eine lesende Instanz im Rahmen einer imaginierten Redesituation eingeführt wird, und es ist der markinische Jesus, der spricht. 231 Es wird somit eine Situation geschaffen, in der der markinische Jesus sich in seiner Rede an die LeserInnen des Markusevangeliums wendet. Indem sich der Text im Rahmen einer imaginierten Situation der Rede Jesu an die LeserInnen wendet und an deren verstehendes Lesen appelliert, werden sie zu privilegierten Mitwissern. Die einzigartige Aufforderung zur Beteiligung der LeserInnen schafft eine enge Verbindung der LeserInnen mit den Worten Jesu, die sich im skripturalen Kontext des Evangeliums finden. Das Lesen der Worte Jesu setzt somit explizit einen Schriftkontext voraus, in dem der „Leser mit dem Text konfrontiert wird“ 232 über die imaginierte Redesituation. Auch unter der Einbeziehung des Begriffs „Evangelium“ kann festgehalten werden, dass im Diskursuniversum des Markusevangeliums der Begriff „Evangelium“ keine Dichotomie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit aufstellt. In Mk 1,1 ist avrch. tou/ euvaggeli,ou sowohl auf einen Schriftkontext beziehbar, in diesem Sinne nimmt es Bezug auf den Anfang des Buches des Markusevangeliums, 233 als auch auf das „wie geschrieben steht“ in V. 2 beziehbar sein, wenn für einen Moment die Diskussion um die Punktation zu V. 1 und V. 2 außer Acht gelassen wird. 234 Dann ist der Anfang des Evangeliums, den das Markusevangelium erzählt, in der Schrift des Propheten Jesaja zu finden. 235 In diesem Fall inszeniert „sich das Markusevangelium als Fortschreibung der Prophetie Jesajas“. 236 Es ist aber durchaus auch möglich, avrch. tou/ euvaggeli,ou auf die im skripturalen Kontext des Markusevangeliums sich findenden Worte und Taten Jesu zu beziehen, die nun in diesem Buch niedergeschrieben worden sind. In Mk 1,1 ist Jesus Christus dementsprechend sowohl Verkünder als auch Inhalt des Evangeliums. 237 Der Begriff euvagge,lion in Mk 1,1 bezieht sich im Rahmen einer schriftlichen Kommunikationssituation (die des Markusevangeliums) entweder auf eine schriftliche Kommunikationssituation oder auf eine imaginierte mündliche Situation, die nun in einen schriftlichen Kontext eingebettet ist. Die übrigen Vorkommnisse des euv agge, lion -Begriffs (vgl. Mk 1,14f.; 8,35; 231 Vgl. van Iersel, Markus, 204, der zu Mk 13,14 bemerkt, dass die „Leser des Buches sich durch diese Rede unmittelbarer als durch Worte Jesu an anderen Stellen des Buches angesprochen fühlen“. 232 Van Iersel, Markus, 203. 233 Für Hinweise von avrch, als Buchanfang vgl. Bauer, Wörterbuch, 224. 234 Vgl. zu den verschiedenen Möglichkeiten Pellegrini, Elija, 182ff. 235 Im Rahmen des Diskursuniversums des Markusevangeliums wird das Mischzitat aus Ex 23,20, Mal 3,1 und Jes 40,3 dem Propheten Jesaja zugeschrieben. 236 Alkier, Bibel, 14. 237 Aus diesem Grund bezeichnet der Genitiv „Jesus Christus“ in Mk 1,1 sowohl das Subjekt als auch das Objekt des Evangeliums. Vgl. Gnilka, Mk I, 43. <?page no="357"?> 345 10,29; 13,10; 14,9) unterscheiden sich von Mk 1,1 dahingehend, dass der Begriff euvagge,lion immer an eine imaginierte Redesituation angebunden wird, in der der markinische Jesus spricht. Dabei wird euvagge,lion innerhalb dieser imaginierten Redesituationen verstanden als eine von Jesus unterschiedene Größe. Besonders in Mk 8,35 und Mk 10,29, wo beide Male evmou/ und tou/ euvaggeli,ou sich gegenüberstehen. Wenn vor dem Hintergrund von Mk 1,1 gesagt wurde, dass sich der euvagge,lion -Begriff auf die Worte und Taten Jesu oder auf einen Schriftkontext beziehen kann, ergibt sich daraus unter Berücksichtigung des Diskursuniversums des Markusevangeliums für Mk 8,35 und 10,29 folgende Verständnismöglichkeit: Da der markinische Jesus in seinen Worten zwischen sich und dem Evangelium unterscheidet, ist dieser Unterschied vor dem Hintergrund von Mk 1,1 nur dann sinnvoll, wenn mit tou/ euvaggeli,ou auf das Medium Schrift Bezug genommen wird. Ansonsten müsste der markinische Jesus im Rahmen des Diskursuniversums des Markusevangeliums auf sich selbst Bezug nehmen. Da aber Jesus und das Evangelium als zwei unterschiedliche Größen verstanden werden, ist es plausibel, dass vor dem Hintergrund von Mk 1,1 für das Diskursuniversum des Markusevangeliums sich der in Mk 8,35 und 10,29 findende Begriff tou/ euvaggeli,ou auf das Buch des Markusevangeliums bezieht. In Mk 8,35 und 10,29 wird eine Situation der Mündlichkeit imaginiert, in der der markinische Jesus spricht und auf das Medium Schrift - also das Markusevangelium - verweist. Hier wäre dementsprechend eine Situation vorgesehen, die den oben erwähnten Textstellen entspräche, in denen der markinische Jesus Bezug auf die Schrift nimmt, allerdings erweitert sich der Bereich des Schriftbezugs nun aus: Nicht mehr allein die alttestamentlichen Schriften sind die Bezugsgröße, sondern der markinische Jesus nimmt Bezug auf die Schrift des Markusevangeliums. Diese Überlegungen zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Text des Markusevangeliums lassen den Schluss zu, dass es hinsichtlich der Bestimmung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Markusevangelium keine dichotomische Verhältnisbestimmung beider Größen gibt. Hier setzt die imaginierte Mündlichkeit der Rede Jesu die Schriftlichkeit der alttestamentlichen Überlieferung und des Markusevangeliums voraus, und die Schriftlichkeit des markinischen Textes integriert die Mündlichkeit der Rede Jesu. Diese Wechselbeziehung geschieht vor dem Hintergrund einer schriftlichen Kommunikation, die in Mk 13,14 explizit gemacht wird. Auch hierbei handelt es sich um eine stilisierte mündliche Kommunikationssituation, doch in ihr wird der Leser/ die Leserin angesprochen. Dementsprechend bezieht sich die Schriftlichkeit auf eine Redesituation, die der Lesende begreifen soll. Die Verhältnisbestimmung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bildet somit nicht einen eigenen Problemhorizont in der Konzeption des Markusevangeliums. <?page no="358"?> 346 Für die Konkretisierung des Modell-Lesers von Mk 4,1-34 lassen sich zwei Punkte festhalten. Zunächst das auf den ersten Blick schlicht wirkende Resultat: Lesen ist für das Markusevangelium zentral. Dann: Mündlichkeit und Schriftlichkeit sollen als zwei im Diskursuniversum des Markusevangeliums unterschiedliche, aber nicht wertend unterschiedene Medien verstanden werden. Beide Medien finden sich in zwangloser Verknüpfung im Text des Evangeliums. Ferner kann mit Blick auf Mk 13,14 festgehalten werden, dass das Lesen gerade zum Markusevangelium dazugehört. Für das Diskursuniversum des Markusevangeliums kann deshalb keine dichotomische Beziehung von Mündlichkeit versus Schriftlichkeit festgemacht werden, in der Schrift als ein abgeleitetes Kommunikations- und Tradierungsverfahren im Sinne einer Zweitkodierung mit sekundärem, der Sprache untergeordnetem Charakter, 238 zu verstehen ist. 239 Im Zusammenhang dieser dichotomischen Verhältnisbestimmung von Schriftlichkeit versus Mündlichkeit ist das „gesprochene Wort [...] das lebendige Wort, welches eine gewisse Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit ausstrahlt, wie sie im selben Maße das geschriebene Wort nicht vermitteln kann. [...] Das Wort, d.h. das gesprochene Wort ist ein Ereignis“. 240 In der Ersetzung der als ursprünglich angesehenen oralen Situation durch die zirkulierenden Schriftmedien wird der Verlust des wirksamen Wortes beklagt. Anstelle der Aktivität der oralen lebendigen Ursprungssituation bleibt der stumme Leseakt. 241 238 Vgl. Ong, Oralität, 84f. 239 Diese findet eine prägnante Ausformung mit Blick auf das Markusevangelium in Kelbers Buch „The Oral and the Written Gospel. The Hermeneutics of Speaking and Writing in the Synoptic Tradition, Mark, Paul and Q“. In diesem Buch unternimmt Kelber den Versuch, zwischen einer Textschicht und einer oralen Schicht zu unterscheiden. Dieser oralen Darstellungsschicht werden die Gleichnisse, Wundergeschichten und Sprüche zugeschrieben, die ganz aus den Akten ständiger Vergegenwärtigung zu erfassen ist. Demgegenüber liege in Mk 11-16 ein von Anfang an schriftlich verfasstes Werk des Evangelisten Markus vor. Während die Mündlichkeit ganz auf Seiten des Lebendigen stünde, ist die Schriftlichkeit mit dem Tod - theologisch gesprochen: mit einer theologia crucis - in Zusammenhang zu setzen. Von daher sei es die Absicht des Evangelisten gewesen, mit dem Verfassen des Markusevangeliums die originäre Situation der Mündlichkeit zu beenden und durch eine schriftliche Theologie des Kreuzes zu ersetzen. Hier dient die Schrift als Zweitkodierung dazu, die Mündlichkeit bewusst auszuschalten. 240 Kelber, Markus, 24. 241 Theologiegeschichtlich wurde im Zusammenhang mit der sog. Wort-Gottes- Theologie versucht, diese „Verfallsgeschichte“ durch eine Neubestimmung aufzuhalten. Der biblische Text erhält eine qualitative Aufwertung, indem er als direkte mündliche Kommunikation gefasst wird. In der sog. Wort-Gottes-Theologie wird das Wort als ein Ereignis aufgefasst, „das wesentlich in der Anrede, im Zusprechen und im Anspruch [...] erscheint“ (Sellin, Wort, 14). Auf dieses Wortgeschehen wird der Text zurückgeführt, der Text kann nur als Wort wirken, indem er Anrede ist. <?page no="359"?> 347 Im Zusammenhang mit einer von Jesus ausgehenden oral aufrechterhaltenen Verständigung wird über den Begriff des Sprachereignisses 242 die Möglichkeit zur Rückkehr zur oralen Ursprungssituation gesehen. 243 Diese orale Ursprungssituation bestimmt auch die Bedeutung von avkou,ein . Das Hören-Können ist das dem Sprachereignis zuzuordnende „Vorverständnis“ von Seiten des Menschen. „Wenn es also um das Vorverständnis geht, muß auf die menschliche Grunderfahrung des Hörens verwiesen werden, auf die Sprachbegabung des Menschen. Die Sprachbegabung des Menschen bedeutet ja zunächst gerade nicht seine Fähigkeit zu sprechen, sondern vielmehr die Fähigkeit zu hören“. 244 Wenn Jesus deshalb in Mk 4,3 und 4,9 im Rahmen des Gleichnisses zum Hören aufruft, dann ist das Hören-Können die Voraussetzung seitens der HörerInnen. Gleichzeitig können die Gleichnisse Jesu als Sprachereignisse nur wirksam werden, wenn sie gehört werden. Aber nicht nur die Gleichnisse als Sprachereignisse sind auf die HörerInnen angewiesen, sondern auch die HörerInnen auf die Gleichnisse: Das Gleichnis stellt nämlich den Ermöglichungsgrund des Hörens dar. Im Gleichnis weist Jesus den Hörenden einen Weg, „auf dem er den Hörer mitnehmen will“. 245 Durch das von Jesus erzählte Gleichnis werden die HörerInnen gleichsam zum Hören ermutigt. Es stellt die „der Ermutigung zum Hören angemessene Sprachform“ 246 dar. Das Medium der Mündlichkeit garantiert hier die Bedeutung des Hörens. Die akustische mündliche Kommunikation wird an das Hören gebunden und begreift Ohr und Mund - und nur diese beiden Organe - als maßgeblich. In diesem Duktus ist Hören auch in dem von Kittel verfassten ThWNT-Artikel zu verstehen. Das „Hören des Menschen stellt die Entsprechung zu der Offenbarung des Wortes“ dar und ist „darum die der 242 So hat der Begriff des „Sprachereignisses“ im Anschluss an Ernst Fuchs in der Gleichnisauslegung eine große bis heute wirksame Rolle gespielt. Vgl. dazu Erlemann, Gleichnisauslegung, 31ff. Für einen Überblick vgl. Weder, Gleichnisse, 58ff. Unter der Überschrift „Bemerkungen zur Theorie der Gleichnisauslegung“ findet sich eine immer noch sehr konzise Einführung in das Anliegen einer Theorie der Gleichnisauslegung, die ihren Ausgang vom Begriff des Sprachereignisses nimmt. 243 Diese orale Ursprungssituation geht von einer Gegenwärtigkeit der Stimme aus, die Derrida, Grammatologie, 28, so beschreibt: „absolute Nähe der Stimme zum Sein, der Stimme zum Sinn des Seins, der Stimme zur Idealität des Sinns“. Gegen Vertreter der Annahme einer oralen Ursprungssituation, aber auch gegen Derrida, der in seiner Grammatologie ein Konzept von Schrift entwirft, das er als „Spur“ und „différance“ verstanden wissen will, welches der Stimme als Signum der Anwesenheit immer vorausgeht, geht es in den folgenden Ausführungen um die Entdeckung der Stimme als Signum von Differenz. Die Stimme, die hörbar wird im Akt des Lesens, ist die Spur, die die LeserInnen des Markusevangeliums verbunden sein lässt mit dem abwesenden Jesus. Die Stimme wird somit zu einem Signum von Differenz in Zeit und Ort. 244 Weder, Hermeneutik, 147. 245 Schweizer, Markus, 49. 246 Weder, Gleichnisse, 110. <?page no="360"?> 348 biblischen Religion wesentliche Aneignungsform dieser göttlichen Offenbarung“. 247 Hören erlangt seine Bedeutung im Sinne eines von Außen an den Hörer gerichteten Wortes, was gehört wird. Auch hier wird das Hören im Rahmen einer dichotomischen Verhältnisbestimmung von Schriftlichkeit versus Mündlichkeit relevant: „die nt.liche Offenbarung ist ‚Wort’, das gehört wird, ‚Botschaft’; ‚Verkündigung’“. 248 „Verkündigung“ wird mit dem „Wort“ als gesprochenem Wort gleichgesetzt und an den Aspekt der Mündlichkeit gekoppelt. 249 Der schriftliche Kontext findet keine Beachtung. Anders als in den vorangegangenen Ausführungen wird in dieser Arbeit der Ansatz vertreten, dass das Hören vor dem Hintergrund der Lesepraxis der griechisch-römischen Antike ein mündliche und schriftliche Aspekte miteinander in Beziehung setzender Vorgang ist. Deshalb schlägt die hier dargelegte pragmatische Analyse zu Mk 4,1-34 gegenüber den obigen Ansätzen den umgekehrten Weg ein. Diese Ansätze beginnen mit einem Rekurs auf ein Sprachereignis und greifen damit ein Phänomen auf, welches innerhalb der neutestamentlichen Exegese - besonders der Gleichnisexegese - als ein Grundcharakteristikum einer von Jesus ausgehenden oral aufrechterhaltenen Verständigung begriffen wurde. In diesem Ansatz wird ausgehend vom Schriftmedium argumentiert - und zwar vor allem deshalb, weil der markinische Text selbst kein Interesse an einer Auseinandersetzung mit den oralen Kulturbedingungen im Medium der Schrift hat. Das Markusevangelium zeichnet sich besonders dadurch aus, dass der markinische Jesus in direkter Rede innerhalb eines rahmengebenden äußeren Textes spricht. Die Betonung der wörtlichen Rede Jesu im Text des Markusevangeliums (besonders in den zwei großen Redekapiteln Mk 4 und Mk 13), aber auch die Feststellung, dass David (Mk 12,36) oder Mose sprechen (Mk 7,10; anders in Mk 12,19, dort hat Mose geschrieben), lässt vielmehr den Schluss zu, dass Wissensvermittlung in schriftlicher Form nur in Analogie zu mündlicher Kommunikation vorstellbar ist. Für das Markusevangelium als Schrift zeigt sich die Schriftlichkeit gerade darin, dass es sich Elemente der Mündlichkeit zu Eigen macht. Deshalb stellt der redende Jesus eine gekonnte rhetorische Vereinnahmung der LeserInnen dar. Die in Mk 4 imaginierte Redesituation dient vielmehr dazu, mit stringenter Argumentation eine Beziehung zu den LeserInnen herzustellen, die nach den Regeln menschlicher Kommunikation gebildet ist. Es handelt sich um eine bewusst inszenierte Mündlichkeit durch den Text des Markusevangeliums. Diese inszenierte Mündlichkeit hat eine textstrategische Funktion, die der Mo- 247 Kittel, avkou,w , 217. 248 Kittel, avkou,w , 220. 249 Die gleiche Beobachtung lässt sich bei den Erklärungen zum Hören im Theologischen Begriffslexikon machen. Auch dort ist das Hören an die Situation der Mündlichkeit gekoppelt, wenn es da heißt: „Das NT macht keinen Unterschied zwischen dem Wort Jesu und dem der Apostel [...]; das Hören der Botschaft ist das Hören Christi und das Hören des Wortes der Wahrheit [...] oder das Hören des Wortes Gottes [...]. <?page no="361"?> 349 dell-Leser zu beachten hat. Die Funktion der Offenheit der jeweils angeredeten Personen in Mk 4,1-34 250 ist ebenfalls als eine pragmatische zu beschreiben, die dazu dient, eine enge Relation zwischen Text und LeserIn herzustellen. Die imaginierte Rede Jesu gibt sich als eine Rede im schriftlichen Kontext zu erkennen, die an die LeserInnen adressiert ist. Unter dem Aspekt der für den Modell-Leser relevanten Schriftlichkeit des Textes des Markusevangeliums ist das „Lesen“ in die Überlegungen zur Bedeutung von avkou,ein mit einzubeziehen, da mit lauter Stimme gelesen wurde. Vor dem Hintergrund der gewählten Beispiele zur Praxis des Lesens in der griechisch-römischen Antike unter Einbeziehung neutestamentlicher Texte wurde zudem deutlich, dass das geschriebene Wort genauso mündlich ist wie der geschriebene Text. 251 Mit Blick auf die Bedeutungsbestimmung von avkou,ein ist es deshalb nötig, das Medium der Schrift mit einzubeziehen. Durch das laute Lesen erscheint der Text des Markusevangeliums als „belebt“. Gerade durch die imaginierte Mündlichkeit bringt die Schrift des Markusevangeliums seine ihm eigene „Persönlichkeit“ in das Spiel mit seinen LeserInnen ein, die sich ihr zuwenden und eine Stimme leihen. 252 Aus diesem Grunde sei nochmals unterstrichen, dass unter der Bedingung des lauten Lesens immer eine lesende Instanz vorauszusetzen ist, die das Geschriebene verwirklicht. Das schließt ein, dass die AdressatInnen des Geschriebenen nicht nur LeserInnen im strengen Wortsinn sind, sondern auch solche, die einem Lesenden zuhören. 1.3. Die grundlegende Kompetenz des Modell-Lesers von Mk 4,1-34: Mit den Ohren lesen Wenn das Medium der Schrift somit den Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen bildet, ist davon auszugehen, dass ein textuelles Artefakt ein Objekt darstellt, das „für sich selber“ 253 - ohne Bezug auf eine mündliche Kommunikationssituation 254 - sprechen kann. Und weil das Markusevan- 250 In Mk 4,1 ist von einer „großen Menge“ die Rede; in Mk 4,10 von einer Situation, in der der sprechende Jesus mit einer Gruppe, „die um ihn mit den Zwölfen“ umgeben ist. Offen bleibt, wann diese Redesituation wieder aufgehoben wird. Alle Redeeinleitungen sind offen formuliert: „jemand spricht zu ihnen“ oder schlicht „jemand spricht“. 251 Vgl. Achtemeier, Verbum, 17: „Reading was therefore oral performance whenever it occured and in whatever circumstances”. 252 Vgl. Cavallo/ Chartier, Einleitung, 25, die hervorheben, dass das Motiv des belebten Buches auch bei den lateinischen Autoren der Kaiserzeit großen Erfolg hatte (dort auch weitere Literatur). 253 Havelock, Muse, 140. 254 Gegen Kelber, The Oral and the Written Gospel, xv, der mit Blick auf das Markusevangelium festhält, dass das „written medium [...] visible but silent letters“ enthält. <?page no="362"?> 350 gelium ein Objekt darstellt, das für sich selber sprechen kann, kann es als Schriftobjekt somit auch gehört werden. 255 Es ist also nicht das Wort Jesu, das in Mk 4,1-34 spricht, sondern die Schrift spricht und zwar dadurch, dass jemand ihr eine Stimme leiht. 256 Diese Angewiesenheit der Schrift auf eine Stimme lässt sich mit Blick auf Lk 1,63 eingängig verdeutlichen: Der verstummte Zacharias schreibt auf eine Schreibtafel, dass der Name seines Sohnes Johannes sein soll. Im lukanischen Text findet sich e; grafen le, gwn . Die Schrift bedarf dementsprechend der Stimme, damit sie wirksam wird bzw. damit die Namensgebung wirksam wird. Das Geschriebene ist auf den Akt des Sprechens - auf die Stimme - angewiesen, und diese Stimme ist nicht die Stimme des Schreibers, da im Fall von Zacharias ja gerade betont wird, dass er stumm ist (vgl. Lk 1,22). Sofern die „ursprüngliche“ mündliche Form der Gleichnisse die maßgeblich bedeutungsgebende Größe ist, 257 kommt es zu einer Vernachlässigung des schriftlichen Textes und damit zu einer Nichtbeachtung der Frage, inwiefern avkou,ein eine Funktion in schriftlicher Kommunikation zuzuweisen ist. 258 Wenn das Wort avkou,ein unter dem Aspekt der schriftlichen Kommunikation gewürdigt werden soll, ist der zentrale Ausgangspunkt der nun folgenden pragmatischen Analyse die Tatsache, dass sich der geschriebene Text der LeserInnen als eines Instruments und damit als eines Objekts bedient: Das Geschriebene bedarf notwendigerweise der Stimme. Die LeserInnen werden zum Instrument des Nachlebens des geschriebenen Textes. Deshalb kann der Text als das Geschriebene nicht auf die Stimme der LeserInnen verzichten. Die stummen Buchstaben, die für unseren Kulturkreis Voraussetzung sind, sind gerade nicht für die griechisch-römische Antike zu veranschlagen. 255 In diesem Zusammenhang sind auch Havelocks Ausführungen interessant, der unter Einbeziehung evolutionstheoretischer Überlegungen festhält: „Es hieße jeder evolutionstheoretischen Erkenntnis spotten, wollte man annehmen, daß das biologisch programmierte Verhalten, das auf akustische Botschaften reagiert, plötzlich nach einer Million Jahren durch die visuelle Wahrnehmung eines stofflichen Artefakts - eines Schriftstücks - ersetzt werden, daß also das Lesen automatisch und problemlos, ohne tiefgreifende und künstliche Anpassungen des menschlichen Organismus an die Stelle des Hörens treten könnte“ (Havelock, Muse, 159). 256 Vgl. Achtemeier, Verbum, 15: „The important point […] is the fact that the oral environment was so pervasive that no writing occurred that was not vocalized”. 257 Vgl. Vorster, Meaning, 161: „There are many advantages, but since we are so taken up with the idea of reconstructing artefacts we do not always realize what the disadvantages of such an approach seem to be. One such disadvantage is the fact that very often the written form of the parables is neglected because it is interpreted with a view of its original form and not within its latter written context.” 258 Immerhin möchte Klauck, Allegorie, 204, für Mk 4,14-20 annehmen, dass diese Verse „das Medium der Schriftlichkeit” voraussetzen. <?page no="363"?> 351 Wenn davon auszugehen ist (wie wir bereits in der syntagmatischen Analyse zu Mk 4,1-34 verdeutlicht haben), dass die textkritisch ältesten Zeugen des Markusevangeliums in scriptio continua geschrieben worden sind, also ohne Zwischenräume zwischen den Wörtern, wird die Notwendigkeit der Angewiesenheit des Geschriebenen auf eine laute Stimme, 259 die den manifestierten Buchstaben erst zu einer Bedeutung verhilft, greifbar. Vor dem Hintergrund der Lesebedingungen der scriptio continua „führte das Lesen zur besseren Erfassung des Geschriebenen, Sinnabschnitte konnten auf diese Weise leichter verstanden werden, die Verlautlichung diente als Lesehilfe“. 260 Die Verbindung des Lesens mit dem Sprechen erleichterte das Verständnis des Textes: 261 „[V]isual format of the ancient manuscript [...] conveyed virtually no information about the organization and development of the content it intended to convey“. 262 Da der Text somit auf das laute Lesen angewiesen ist, um seine Bedeutung zu entfalten, ist es - unter der Voraussetzung der scriptio continua - wichtig, dass der Text Hilfestellungen enthält, um das oralisierte Lesen zu erleichtern. Für den von Mk 4,1-34 vorausgesetzten Modell-Leser erlaubt die einheitliche Klangdichte innerhalb der einzelnen Textsequenzen von Mk 4,1-34, Zwischenräume zwischen den Wörtern zu finden. So unterstützt beispielsweise mit Blick auf Mk 4,3-9 der Gleichklang der dort vorkommenden Verben unter den Bedingungen des lauten Lesens das Auffinden einer Satzstruktur. 263 Die im Rahmen der syntagmatischen Analyse herausgestellte akroamatische Prosodik hat dementsprechend eine den Leseprozess unterstützende Funktion. Die wohlgeformte Wortfolge, mit ihrer Dominanz zur Wiederholung, stellt eine Lesehilfe dar, damit sich die Buchstaben des Textes zu einem verständlichen Text fügen. 264 Aber auch die das Textsegment Mk 4,1-34 durchziehenden Satz-Wiederholungen dienen als „Lesehilfe“. „The alternative to visual structuring of a manuscript to indicate organization of meaning is to include oral indications of structure within the material. Individual points, for example, can be stressed by repetition, and formal parallelism of the repetition will make its 259 Vgl. Mazal, Geschichte, 113, der ausführt, dass mit dem Fehlen der Worttrennungen, die uns heute so geläufig sind, Schwierigkeiten auftauchten beim Lesen, die durch das laute Lesen verringert worden sind: „Wir dürfen indes nicht vergessen, daß in der Antike laut oder halblaut gelesen wurde; die Verbindung des Lesens mit dem Sprechen erleichterte bereits das Verständnis des Textes“. 260 Müller, Verstehen, 22. 261 Vgl. Mazal, Geschichte, 113. 262 Achtemeier, Verbum, 17. 263 Vgl. die Aufrührungen zur Prosodik in der syntagmatischen Analyse zu Mk 4,1-34. 264 Es ist gewiss kein Zufall, dass gerade in hellenistischer Zeit vor allem durch Dionysios Thrax eine regelrechte Theorie des Lesens ausgearbeitet wird. Denn: „Ohne die Kunst des Lesens ist das Geschriebene dazu verurteilt, eine Reihe unverständlicher Spuren auf dem Papyrus zu bleiben“ (Cavallo/ Chartier, Einleitung, 25). <?page no="364"?> 352 importance even more evident”. 265 Mit Blick auf Mk 4,1-34 erfüllen besonders die Redeeinleitungen diese Funktion. Die anaphorischen Redeeinleitungen kai. e; legen $auvtoi/ j% dienen in Mk 4,1-34 dazu, den LeserInnen zu verdeutlichen, dass die auf die Redeeinleitung folgende Textsequenz eine zusammenhängende narrative Szenerie entfaltet. Sie bieten eine Strukturierung dieser Rede in textualisierter Form und eignen sich nicht für Rückschlüsse auf vormarkinische Traditionsstufen. 266 Es ist einzig ihre Aufgabe, eine längere Redesequenz zu strukturieren. Deshalb hat der in der syntagmatischen Analyse herausgestellte Konnexitätsträger kai. e; legen $auvtoi/ j% eine den Leseprozess erleichternde Funktion. Sie stellen unter pragmatischen Gesichtspunkten für den Modell-Leser von Mk 4,1-34 eine Hilfe dar, um die Wörter hörbar zu machen. Das Hörbarmachen des Textes führt erst über das Lautwerden zu einem Bedeutungsaufbau. „Erst das Hören der Lautsequenz, die der Leser ausgehend von der graphischen Sequenz erzeugt, gestattet dem Leser, die Bedeutung der schriftlich fixierten Wörter wiederzuerkennen“. 267 Der Text ist somit auf das Lesen angewiesen, und jedes Lesen ist aufgrund der scriptio continua nur als ein oralisiertes Lesen zu verstehen. 268 Unterstützt wird diese Annahme, wenn der terminus technicus für das Lesen im neutestamentlichen Sprachgebrauch vergegenwärtigt wird: Das Lexem avnaginw,skw meint ein „Wiedererkennen“. 269 D.h. negativ gesprochen, dass die Buchstaben allein keine Stimme präsentieren oder abbilden, sondern die Buchstaben bilden die Grundlage dafür, dass die Stimme der LeserInnen aktiviert wird. Damit die Buchstaben eine Bedeutung erhalten, war es notwendig, „that they be reanimated by the voice of someone [...]“. 270 Oder anders gesagt: die Buchstabenfolge, deren sprachliche Natur die LeserInnen wiedererkennen, bildet die Grundlage des Wiedererkennens beim Vorlesen. Hierfür ist ein Blick auf 2Kor 1,13 aufschlussreich: ouv 265 Achtemeier, Verbum, 17f. 266 Achtemeier, Verbum, 26, bezieht sich ausdrücklich auf das oralisierte Lesen: „It may well be the case that the inconsistencies one can find, say, in the Gospel of Mark are more likely to be due to the orality of that document, and hence the need to provide oral clues for its understanding, than to its author’s combination of various written sources. 267 Svenbro, Phrasikleia, 12. 268 Vgl. Achtemeier, Verbum, 19, der mit Blick auf das Lesen des Textes unter den kulturellen Voraussetzungen der Antike ausführt: „The ancient ‚reader’ will have been more attuned to what one may call ‚acoustic echo’ than visual repetition in the form of sentences and paragraphs. In short, organization of written materials will depend on sound rather than sight for its effectiveness”. 269 So hält Müller, Verstehen, 163, Anm. 10, fest: „ avnaginw,skw ist eine Verstärkung von ginw,skw mit der Grundbedeutung ‚genau erkennen’. Von hier aus kommt es zu der Bedeutung ‚wieder-erkennen’. Dies wird mit Blick auf Geschriebenes als ‚Lesen’ spezifiziert“. 270 Hendrickson, Reading, 184. <?page no="365"?> 353 ga.r a; lla gra,fomen u`mi/ n avll v h] a[ avnaginw,skete h] kai. evpiginw,skete . Das Geschriebene will wiedererkannt werden. Der Schreiber bedient sich dementsprechend der LeserInnen als eines Instrumentes, damit das von ihm Geschriebene Gestalt annehmen kann. Paulus als Schreiber hat nichts weiter als die materiale Buchstabengestalt zu liefern, die nun auf die Stimme der LeserInnen wartet. Das ouv ga.r a; lla verdeutlicht die völlige Angewiesenheit des Paulus auf die Stimme der LeserInnen. Sie sollen das Geschriebene im Akt der Lektüre hörbar und somit erkennbar machen. Mit der Verwendung von avnaginw,skete und evpiginw,skete unterstreicht Paulus, dass er die Leser des Briefes in sein Kalkül mit einbezieht. Dabei scheint sich das Wiedererkennen nicht auf die einzelnen Buchstaben zu beziehen, sondern auf das Erkennen der graphischen Sequenz. Wenn das Hörbarmachen der Buchstaben notwendig ist, um einen Text zu verstehen, erhalten die Aufrufe zum Hören in Mk 4,1-34 ihre Relevanz im Rahmen schriftlicher Kommunikation. Mittels des Wortes avkou,ein , das in Mk 4,3.9.23.24 in direkter Perzeption ohne weitere Bestimmung steht, wird der Modell-Leser im Akt seiner Lektüre aufgefordert, auf seine Stimme zu hören. Deshalb sind gerade die leiblichen Ohren gemeint und nicht „die innere Bereitschaft und Fähigkeit zur Annahme der Lehre Jesu“, 271 denn innerhalb der schriftlichen Kommunikation - unter den Voraussetzungen der Lesetechnik der griechisch-römischen Antike - hat das Ohr der LeserInnen eine gänzlich leibliche Funktion zu erfüllen, weil durch das Lautbarmachen der Buchstaben der Text erst lesbar und damit verstehbar wird. 272 Trifft der Text nicht auf leibliche Ohren, bleibt er stumm und damit bedeutungslos. Es geht in Mk 4,1-34 nicht um das Hören der Worte Jesu, 273 sondern um das Hören der Schrift des Markusevangeliums, in dem sich die Lehre Jesu inskribiert hat. 274 Mit Blick auf die Vorkommnisse von avkou,ein im Rahmen antiker Lektürepraxis geht es um die Fähigkeit, mit den Ohren lesen zu können, die der Modell-Leser von Mk 4,1-34 einbringen muss. Dass avkou,ein im Rahmen schriftlicher Kommunikation von Relevanz ist, erschließt sich dem Modell-Leser von Mk 4,1-34 mittels seiner enzyklopä- 271 Schenke, Markusevangelium, 127. Vgl. Mell, Zeit, 44. Auch Eckey, Markusevangelium, 137, weist mit Blick auf Mk 4,9 darauf hin, dass hier nicht die allgemeine Hörfähigkeit angesprochen ist, „sondern es geht um das Problem, ob jemandem das Hören auf Jesus und seine Lehre gegeben ist“. 272 Dass Ohren eine Funktion im Zusammenhang mit dem Lesen erlangen, lässt sich auch mit Blick auf das Alte Testament bestätigen. Hier ist besonders Jer 36 aufschlussreich, denn in V. 6 befiehlt Jeremia dem Baruch: „So sollst du denn hineingehen und aus der Rolle, die du von meinem Mund geschrieben hast, in die Ohren des Volkes rufen“ (im Hebräischen steht arq ). Vgl. auch Jer 36, 10.15. 273 Gegen Lehnert, Provokation, 143. 274 Die Zentrierung auf die Lehre Jesu wurde in der syntagmatischen Analyse deutlich herausgestellt. Unter Berücksichtigung von V. 1f. kann der gesamte Abschnitt Mk 4,1-34 als eine Inszenierung einer Lehrsituation gelesen werden. <?page no="366"?> 354 dischen Kompetenz, wie schon bei der Platon, bei Plinius und bei Apg 8 und Offb 1 deutlich geworden ist. Auch aufgrund weiterer enzyklopädischer Einträge wird die Relevanz der schriftlichen Kommunikation zur Bedeutungserfassung von av kou, ein deutlich. Bei Gregor von Nyssa 275 in seiner Schrift Oratio consol. in Pulcheriam 276 findet sich folgender Satz: „[...] avlla. th.n av vnagnwsqei/ san h`mi/ n evk tou/ Euvaggelistou/ r`h/ sin paraqhso,meqa) hvkou,sate ga.r le,gontoj tou/ Kuri,ou ·’ : Afete ta. paidi,a ktl .’“. Das hier verwendete Lexem hvkou,sate bezieht sich auf einen Schriftkontext und benutzt ebenso wie das Markusevangelium die Situation imaginierter Mündlichkeit der Rede des Kyrios ( tou/ Kuri,ou ), um ein Schriftzitat von Mt 19,14 einzuführen. Als weiteres Beispiel soll ein Text von Galen 277 dienen: In einer Dialogsituation, gerichtet an Thrasybulus, findet sich folgender Satz: h; kousaj dh,pou avrti,wj Pla,twnoj le,gontoj w`j ouvde,n evstin i; dion o; noma . Da vorher ausdrücklich Thrasybulus’ Lesen der platonischen Schriften erwähnt wird, bezieht sich auch diese Stelle auf ein Hören im Sinn eines Lesens. Da der Modell-Leser zudem aufgrund seiner enzyklopädischen Kompetenz wissen kann, dass Platon im Jahr 349/ 348 v.Chr gestorben ist, Galen aber ein Zeitgenosse aus dem 2. Jahrhundert n.Chr. ist, kann hier keine Situation durch den Modell-Leser imaginiert werden, in der besagter Thrasybulus die von Platon selbst gesprochenen Worte hört. Stattdessen ist das Hören im Sinne von mit den Ohren Lesen zu verstehen. 278 Schließlich kann noch die matthäische Bergpredigt herangezogen werden: VHkou,sate o]ti evrre,qh $toi/ j avrcai,oij% (vgl. auch Mt 5,21.27.[31.]33.38.43) weist ebenso auf eine Situation des mit den Ohren Lesens hin. Diese matthäischen Textstellen eignen sich nicht, um Aussagen über mögliche Alphabetisierungen 279 zur Zeit Jesu zu treffen, sondern sie sagen etwas über das Verhältnis von Schrift und LeserInnen aus, wie es vom Schreiber des Matthäusevangeliums vorgesehen ist. Das Hören bezieht sich auch hier auf schriftliche Kommunikation und entspricht dem mit den Ohren Lesen. Das, was gehört wird, ist das Geschriebene. Dass zu den Alten gesprochen wurde, 280 erfahren die LeserInnen aus den Schriften. 275 Dieses Beispiel entnehme ich Schenkeveld, Usages, 129. In diesem Aufsatz stellt Schenkeveld Verwendungsweisen von avkou,ein zusammen, die „Lesen“ konnotieren. 276 Gregor von Nyssa, Oratio IX.465.1ff. 277 Galen, Thrasyb. V.879.12. 278 Auch bei Aristoteles in der Nikomachischen Ethik I,2 1095 b, findet sich diese Funktion von avkou,ein . 279 Gegen Millard, Pergament, 158, der hier nur einen Hörkontext voraussetzen möchte, den er dezidiert von einem Lesekontext absetzen möchte, wie er beispielsweise in Mk 2,25 vorliegt. 280 Dieses Geschriebene bezieht sich nicht nur auf die alttestamentliche Überlieferung, sondern rekurriert in der vierten Antithese (Mt 5,33) auf Schriftkontexte des hellenistischen Judentums. Vgl. Luz, Matthäus I, 281. <?page no="367"?> 355 Auch hier erhält avkou,ein eine Funktion im Rahmen schriftlicher Kommunikation. Alle drei Beispiele (Gregor von Nyssa, Galen und das Matthäusevangelium) verdeutlichen den Zusammenhang des Wortes avkou,ein mit einer schriftlichen Kommunikation. Alle drei Belege weisen auf eine Lesesituation hin, in der avkou,ein verwendet wird, und beziehen sich auf eine Situation des lauten Lesens. Interessant ist, dass bei dem Beispiel von Gregor von Nyssa wie auch bei dem von Galen eine Situation imaginiert wird, bei der avkou,ein im Zusammenhang mit der Nennung einer Person erfolgt, die zu dem Zeitpunkt, als sie gehört wird, abwesend ist. 281 Hier ist eine für die Leser der Worte Jesu von Mk 4 vergleichbare Situation vorzustellen, denn zu dem Zeitpunkt der hörbar gemachten Worte Jesu durch den Akt des Lesens gilt Jesus als abwesend. Aus diesem Grund darf davon ausgegangen werden, dass Hören keineswegs die reale Anwesenheit der Person(en) voraussetzt, deren Worte gehört werden. Anhand von Mk 4,1-34 sollen diese Überlegungen zu av kou, ein nun weiter ausgeführt werden. In einem ersten Schritt werden Mk 4,9 und Mk 4,23 näher betrachtet. In beiden Versen kommt die Formulierung „wer Ohren hat zu hören“ vor. Dieser Aufruf lässt sich im Neuen Testament in Mt 11,15; 13,9.43; Mk 4,9.23; Lk 8,8; 14,35; Offb 2,7.11.17.29; 3,13.22; 13,9 finden; als varia lectio zudem noch in Mt 25,29; Lk 12,21; 21,4; Mk 7,16. Eine Sichtung der Belege macht deutlich, dass sich diese Formel zum einen in der Offb findet und zum anderen in den Evangelien. In der Offb erscheint die Formel im Zusammenhang mit dem „Geist der Gemeinden“ immer gleichlautend, die Ausnahme bildet Offb 13,9. Formgeschichtlich wird sie klassifiziert als sog. Weckruf. 282 Während Hahn die These vertritt, dass die sog. Weckformel aus apokalyptischer Tradition stammt, „die die Mitteilung eschatologischer Geheimnisse mit einem Hinweis auf das rechte Hören und Verstehen verbindet“ 283 und eine retrospektive Ausrichtung hat, möchte Popkes 284 aufzeigen, dass die Weckformel aus dem apokalyptischweisheitlichen Bereich stamme und dass sie im Wesentlichen eine vorausweisende Funktion habe. 285 Nach Popkes stellt der „Weckruf ein traditionsgeschichtliches Bindeglied zwischen den Sendschreiben und der synoptischen Gleichnistradition“ 286 dar. Nach Hahn ist die sog. Weckformel auf eine apokalyptische Tradition zurückzuführen, in der die Visions- und 281 Vgl. zu diesen Überlegungen Schenkeveld, Usages, 129-141, der für die Verwendung von avkou,ein und le,gontoj die These entwickelt, „that these statements cannot be used as proof that X was alive at the moment the ‚hearer’ was reading his words […]” (Schenkeveld, Usages, 130). Dort auch zahlreiche weitere Belege. 282 Dieser Begriff stammt von Dibelius, Formgeschichte, 248. 283 Hahn, Sendschreiben, 380. 284 Popkes, Funktion, 90-107. 285 Popkes, Funktion, 94. 286 Popkes, Funktion, 93. <?page no="368"?> 356 Offenbarungsmitteilung mit dem Ruf zum Aufmerken und Verstehen verbunden ist. 287 Grundsätzlich ist zu bedenken, dass für die Frage nach der „Vorgeschichte“ der sog. Weckformel nur eine sehr schmale Textbasis zur Verfügung steht und in der hier vorliegenden Gestalt vorchristlich nicht nachzuweisen ist. Interessant ist nun aber, wie die Formel in der Offb verwendet wird. In der Offb, die der synoptischen Tradition gegenübergestellte zweite Linie für die Verwendung der Formel, tritt der skripturale Kontext, in dem diese Formel Verwendung findet, deutlich hervor. So in Offb 2,7.11.17.29; 3,13.22, in der die Formel im Rahmen der sieben Sendschreiben Verwendung findet. Die Sendschreiben sind nach einem festen Formschema gestaltet: „1) Schreibbefehl; 2) Botenformel; 3) Situationsschilderung; 4) Weckruf; 5) ‚Überwinderspruch’“. 288 In Offb 2,1.8.12.18.29; 3,1 ergeht der Auftrag, dem Engel der jeweiligen Gemeinde zu schreiben (jedes Mal eingeleitet durch gra,yon ). Am Ende des jeweiligen Briefes, vor dem Überwinderspruch, findet sich dann der so genannte Weckruf ( ~O e; cwn ou=j avkousa,tw ti, to. pneu/ ma le,gei tai/ j evkklhsi,aij in V. 7.11.17.29; 3,13). Die sog. Weckformel weist jedes Mal darauf hin, dass das Geschriebene durch die LeserInnen hörbar gemacht werden soll. Diese sog. Weckformel will somit den LeserInnen das Ohr wecken, um ihren Lesevorgang zu intensivieren. Deshalb stützt sie die oben gemachten Beobachtungen: Man kann mit den Ohren lesen. Auch Offb 13,9 ist für diese Belange aufschlussreich, denn hier ist wiederum die sog. Weckformel im Zusammenhang mit einem skripturalen Kontext verwendet. Offb 13,9 gehört zum Abschnitt 12,1-13,18, in dem es um die Bedrohung der Gemeinde geht. Diese Bedrohungssituation wird in 12,18-13,10 durch das „Tier“ herbeigeführt. Während auf der einen Seite das Tier als Widersacher genannt wird, vor dessen Erfolgen sich alle Bewohner der Erde verneigen (Offb 13,8: kai. proskunh,sousin auvton pa,ntej oi` katoikou/ ntej evpi. th/ j gh/ j ), stehen auf der anderen Seite diejenigen, deren Name seit Gründung der Welt im Buch des Lebens des geschlachteten Lammes geschrieben stehen (13,8: ge,graptai to. o; noma auvtou/ evn tw|/ bibli,w| th/ j zwh/ j tou/ avrni,ou tou/ evsfagme,nou avpo. katabolh/ j ko,smou ). Für diese Gruppe gilt: Wer Ohren hat zu hören, soll hören ( Ei; tij ou=j e; cei avkousa,tw ); diese Gruppe soll das Buch hörbar machen durch ihr Lesen des Buches des Lebens. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass über das Tier in Offb 13,7 gesagt wird, dass es ev xousi,a über die glw/ ssan hat. Das Tier hat Herrschaft über die Zunge bzw. die Sprache. Aber es hat keine Herrschaft über das Buch des Lebens, in dem die Namen seit Grundlegung der Welt geschrieben stehen. Über das Buch hat das Tier deswegen keine Herrschaft, weil es 287 Hahn, Sendschreiben, 380, nennt Dan 8,17; 9,23; 10,11; syrBar 43,1; vgl. auch 4Esr 5,32 (6,13-15); TestLev 4,1. 288 Schnelle, Einleitung, 534. <?page no="369"?> 357 seit Grundlegung der Welt geschrieben ist. Aber das Buch des Lebens ist auf LeserInnen angewiesen, die sich nicht der Herrschaft über die glw/ ssan beugen, sondern dem Buch ihre Stimme geben, damit es hörbar wird. Diese Überlegungen haben deutlich gemacht, dass der Modell-Leser von Mk 4,1-34 mit dem sog. Weckruf keinesfalls eine Situation der Mündlichkeit voraussetzt, sondern an eine Lesebzw. Vorlesesituation anknüpfen soll. Auf einen Unterschied zwischen dem Weckruf in Mk 4,9.23 und in Offb 2,7.11.17.29; 3,13.22 soll jedoch hingewiesen werden. Bei den Belegen in der Offb, außer Offb 13,9, findet sich immer der Zusatz ti, to. pneu/ ma le,gei tai/ j evkklhsi,aij , während in Mk 4,9.23 (sowie bei den übrigen Vorkommnissen in der synoptischen Überlieferung) dieser Zusatz fehlt. Aufgrund dieses Befundes kann die These aufgestellt werden, dass für die Offb eine Schreibsituation vorauszusetzen ist, die die „Schwachheit“ der durch den Schreiber hinterlassenen Buchstaben durch Inkorporation des Geistes minimieren will. Wenn das laute Lesen als ein Teil des Textes anzusehen ist, der andernfalls defizitär bliebe, ist der Schreiber, der nur im Schreibakt anwesend ist, als Abwesender auf die Stimme der LeserInnen angewiesen. Die Schrift ist an sich ohne Stimme, sie kann aber eine Lektüre anstoßen, und genau diese Funktion übernimmt ti, to. pneu/ ma le,gei tai/ j evkklhsi,aij . In dem Moment, wo die LeserInnen ihre Stimme dem Text überlassen, gehört die Stimme nicht mehr den LeserInnen, sondern dem Geschriebenen. Die Strategie der Schrift der Offenbarung ist es, an die Stimme der LeserInnen zu appellieren mit dem Hinweis, dass es der Geist ist, der spricht. Anders gesagt: Da der Schreiber um die Abwesenheit seiner Stimme zu wissen scheint, rekurriert er auf to. pneu/ ma , um über die Stimme der LeserInnen Macht auszuüben. Wenn sich die LeserInnen unter diesen Bedingungen dem Lesen verweigern würden, würden sie sich tw|/ pneu,mati verweigern. Hier wird eine Funktion der LeserInnen greifbar, die auch schon bei der Erzählung von Kydippe und Akontios anklang: Das Geschriebene bedient sich der LeserInnen als eines Instrumentes. „Der Leser ist das Werkzeug, dessen der Text bedarf, um sich zu verwirklichen. Seine Stimme ist instrumentell. Entweder er weigert sich zu lesen, was ihm ohne weiteres möglich ist, oder er willigt ein - doch wenn er einwilligt, hat er sich auch schon als Sprachrohr des Geschriebenen definiert“. 289 Auch für Mk 4,1-34 liegt ein Konzept der Relation zwischen SchreiberIn und LeserIn vor, in welcher die (Vor-)LeserInnen eine instrumentelle Funktion erhalten. Der Zweck des Textes des Markusevangeliums im Ganzen und Mk 4,1-34 im Speziellen besteht darin, ein für das Ohr bestimmtes Sprechen auszulösen. Darum helfen einerseits die dichte „akroamatische Prosodik“ und starke rhetorische Stilisierung, den Text hörbar zu machen. Damit die LeserInnen zudem Anreiz haben, dem Text ihre Stimme zu leihen, setzt Mk 4,1-34 andererseits noch ein weiteres Mittel ein - das sich 289 Svenbro, Phrasikleia, 49. <?page no="370"?> 358 signifikant von dem Konzept der Offb unterscheidet. Der geschriebene Text rekurriert auf eine imaginierte Redesituation, in der der markinische Jesus spricht. Da der Schreiber des Markusevangeliums seine eigene Stimme nicht benutzen kann, setzt er die Stimme Jesu als ein strategisches Mittel ein, um Einfluss auf seine LeserInnen zu nehmen. Er lädt die LeserInnen nachdrücklich ein, die Stimme Jesu durch ihre eigene Stimme zum Erklingen zu bringen. Deshalb finden sich die Aufrufe zum Hören in Mk 4,1-34, aber auch an den übrigen Stellen im Markusevangelium, immer innerhalb von Redesequenzen, in denen der markinische Jesus spricht. Die imaginierte Redesituation in Mk 4,1-34 dient dazu, den skripturalen Kontext des Markusevangeliums als machtvolles Schriftwort zu ermächtigen - in eben dieser Zusammensetzung von Schrift und Wort. Wenn also in Mk 4,1-34 das Element der Rede betont wird, ist nicht das Gesprochenwerden in den Mittelpunkt einer mündlichen Kommunikationssituation zu stellen. Sondern es muss dem „Formprinzip Rede“, 290 welches narrativ genutzt wird, im Rahmen eines skripturalen Kontextes nachgegangen werden. Es geht um einen Prozess der „Evangeliumskommunikation“, 291 in der die imaginierte Redesituation eine die Schrift unterstützende Funktion erhält. Die Macht, die der Text von Mk 4,1-34 einsetzt, indem er durch die imaginierte Redesituation die Worte Jesu erklingen lässt, ermächtigt sozusagen das Markusevangelium selbst. Sich der Worte Jesu zu bedienen, ist die Selbstrechtfertigung der Schrift, für sich Macht beanspruchen zu können. Dies ist der Grund, warum Mk 4,1-34 beanspruchen kann, Macht über die LeserInnen ausüben zu dürfen. Die Plausibilität, warum das Markusevangelium Worte Jesu in einen Schriftkontext gestellt hat, liegt deswegen nicht darin, die Theologie der Mündlichkeit zu beenden, sondern darin, die imaginierte Mündlichkeit zur Macht der Schriftlichkeit zu benutzen: Die Schrift wäre nur eine Ansammlung stummer Buchstaben, darauf wartend, dass LeserInnen ihr ihren Geist einhauchen. Aber indem sie eine imaginierte Situation der Worte Jesu vorstellt, verleiht die Schrift - schon in sich selbst inkorporiert - eine Stimme, die, an die Macht der Worte Jesu anknüpfend, nun Macht auf die LeserInnen von Mk 4,1-34 ausübt. Wenn die LeserInnen sich sozusagen dem Hörbarmachen der Buchstaben verweigern, verweigern sie sich nicht nur dem Lesen, sondern den zu lesenden Worten Jesu. 290 Cancik, Gattung, 100. 291 So die treffende Überschrift in Pöttner, Zeit, 102, in seinem Kapitel zu Mk 4. Da Pöttner aber ausschließlich am textgrammatischen Organisationsprinzip interessiert ist, also nur an der Strategie des Textes, verkürzt er seine Ausführungen um die Einbeziehung einer Reflexion über die Verhältnisbestimmung der Kommunikationsebene, die für die markinische Erzählung zu veranschlagen ist. Weiter ist gegen Pöttner anzuführen, dass der vom ihm bestimmte textgrammatische Leitbegriff des „Selbstverständnisses“ eine nicht unproblematische Kategorie für den Umgang mit antiken Texten darstellt. <?page no="371"?> 359 Deshalb ist einerseits Deweys Urteil, dass das Markusevangelium ein „oral-aural event“ 292 sei, zuzustimmen, weil das Markusevangelium auf das laute Lesen angewiesen ist, bei dem der markinische Jesus in Mk 4,1-34 auf die Stimme der LeserInnen wartet, um durch ein oralisiertes Lesen den Text hörbar zu machen. Andererseits ist aber ihr Urteil, dass dieses „oralaural event“ auf einer „oral performance for a live audience rather than as a written text“ 293 beruht, abzulehnen. Da es Deweys wesentliches Anliegen ist, die Differenzen zwischen der Identifikation von mündlichen und schriftlichen Medien zu erhellen, ist es ihr erklärtes Ziel, die Mündlichkeit gegenüber der Schriftlichkeit zu betonen: „When we recognize how oral and aural the media world of early Christianity was, we also have to recognize the destabilization of the text itself. In oral-aural cultures, before there is any written text, or when a written text is recycled back into oral circulation, there is no fixed text that is used in oral performance“. 294 Im Gegensatz zu Dewey ist festzuhalten, dass das Medium der Schrift sich der Aspekte der Mündlichkeit bedient, aber die Materialität der Schrift die grundlegende Bezugsgröße ist, von der auszugehen ist. Gegen Deweys Überlegungen spricht, dass sich der Text des Markusevangeliums an keiner Stelle als nicht textualisiert zu verstehen gibt. Vielmehr weisen die mit Blick auf Mk 4,1-34 herausgestellte interne Prosodik und die Konnexitätst