Das Künstlerdrama als Spiegel ästhetischer und gesellschaftlicher Tendenzen
1028
2009
978-3-7720-5345-0
978-3-7720-8345-7
A. Francke Verlag
Frank Göbler
Der Band untersucht italienische, deutsche, franzö -
sische, russische, kroatische, polnische sowie eng lische/
amerikanische Theaterstücke, welche eine oder
mehrere reale oder fiktive Künstlerpersönlichkeiten
zum zentralen Personal zählen und auf je eigene
Weise ästhetische bzw. gesellschaftliche Tendenzen
reflektieren. Die Beiträge, die sich auch mit Vorgeschichte
und Weiterentwicklungen, Kontinuitäten,
Brüchen und Wechselbeziehungen befassen, sind als
Materialien zu einer Geschichte des Künstlerdramas
angeordnet.
<?page no="0"?> Frank Göbler (Hrsg.) Das Künstlerdrama als Spiegel ästhetischer und gesellschaftlicher Tendenzen <?page no="1"?> Das Künstlerdrama als Spiegel ästhetischer und gesellschaftlicher Tendenzen <?page no="2"?> Mainzer Forschungen zu Drama und Theater herausgegeben von Wilfried Floeck, Winfried Herget und Friedemann Kreuder im Auftrag des »Interdisziplinären Arbeitskreises für Drama und Theater« der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Band 41 <?page no="3"?> Frank Göbler (Hrsg.) Das Künstlerdrama als Spiegel ästhetischer und gesellschaftlicher Tendenzen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 0940-4767 ISBN 978-3-7720-8345-7 <?page no="5"?> Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 K LAUS L EY Goldonis und Goethes Torquato Tasso. Das Dichterdrama in Venedig und Weimar, seine Voraussetzungen und Folgen . . . 15 W OLFGANG D ÜSING Künstlerproblematik und Kunstreligion in Grillparzers Sappho . 87 C HARLOTTE K RAUSS Künstlerfiguren im französischen Drama der Romantik: Vigny, Dumas, Musset, Hugo . . . . . . . . . . . . . . . 107 F RANK G ÖBLER Künstlerfiguren im Drama der russischen Moderne . . . . . 131 A LFRED G ALL Das Künstlerdrama als Gesellschaftsdrama: Die Glembays (Gospoda Glembajevi) von Miroslav Krleža . . . . . . . . . 153 E WA M AKARCZYK -S CHUSTER UND D R . K ARLHEINZ S CHUSTER Am Ende die Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . 181 B RIGITTE S CHULTZE Künstlertum als Bindung: Jaros aw Iwaszkiewiczs Kammerspiele Die Hochzeit des Herrn Balzac (Wesele Pana Balzaca) und Sommer in Nohant (Lato w Nohant) . . . . . . . . . . . 205 N ASSIM W. B ALESTRINI Emily Dickinson im amerikanischen Drama . . . . . . . . 225 B ERNHARD R EITZ „What is an Artist? “ - Konstruktion und Dekonstruktion des Künstlers in den Dramen Tom Stoppards . . . . . . . . . 249 C HRISTINE M UNDT -E SPÍN Valère Novarina: Pour Louis de Funès (1985) : L’Acteur Nul et Parfait . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 <?page no="6"?> Inhalt 6 G UNTHER N ICKEL Das Künstlerdrama in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Wolfgang Bauers Change, Albert Ostermaiers The Making Of. B.-Movie, Rainald Goetz’ Jeff Koons und Falk Richters Gott ist ein DJ . . . . . . . . . 283 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 <?page no="7"?> Einleitung Es mag mit der deutschen Neigung zur Bildung von Komposita, vielleicht auch mit der zum Katalogisieren zusammenhängen, dass wir mit dem „Künstlerdrama“ einen Begriff besitzen, der in anderen Sprachen kein Äquivalent hat. Man muss das nicht allzu kritisch sehen, denn die Bildung von Begriffen fördert oft auch die Reflexion über die Gegenstände, die sie bezeichnen sollen. So ist - ungeachtet der zahlreichen Dramen über Künstler, die man in anderen Literaturen finden kann - gerade von deutschen Autoren konstatiert worden, Künstlertum und Künstlerleben seien besser in Gattungen wie dem lyrischen Gedicht, der Erzählung oder dem Roman aufgehoben: „Hier scheint sich ein Stoff dramatisch gestaltendem Zugriff zu entziehen“ 1 , bemerkt Bodo Zelinsky und kann für seine These prominente Kronzeugen wie Ludwig Tieck und Gustav Freytag 2 anführen. Es liegt offensichtlich nicht nur ein begriffliches Problem vor, sondern ein dem Gegenstand selbst immanentes. Dass weder das eine noch das andere im Zentrum des Interesses dieses Bandes stehen, erklärt sich aus dessen Entstehungsweise. Die hier versammelten Beiträge wurden zunächst im Wintersemester 2007/ 08 im Rahmen einer Ringvorlesung des Interdisziplinären Arbeitskreises für Drama und Theater an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz präsentiert. Ziel war es, die Entwicklung des Künstlerdramas sowie die Bandbreite seiner strukturellen und thematischen Ausprägungen in den verschiedenen Literaturen anhand repräsentativer Ausschnitte zu beleuchten. Auf eine genauere Eingrenzung des Begriffs wurde also bewusst verzichtet. Als Künstlerdramen wurden Theaterstücke untersucht, die eine oder mehrere reale oder fiktive Künstlerpersönlichkeiten zum zentralen Personal zählen. Die einzige Prämisse dabei war, dass solche Texte kaum umhin können, in irgendeiner Weise ästhetische und/ oder gesellschaftliche Tendenzen zu reflektieren. 3 Selbst wenn Künstlerleben allein zum Zwecke nationaler Kanon- und Mythenbildung oder schlicht spannender Unterhaltung dramatisiert werden, manifestiert sich darin noch eine zumindest immanente 1 B. Zelinsky: Russische Romantik. Köln/ Wien 1975 (Slavistische Forschungen, Bd. 15), S. 397. 2 Ebd. und S. 398 f. 3 Eine signifikante Ausnahme sieht Brigitte Schultze in den Künstlerdramen des polnischen Schriftstellers Jaros aw Iwaszkiewicz (vgl. ihren betreffenden Beitrag in diesem Band, S. 205-224). <?page no="8"?> F RANK G ÖBLER 8 Stellungnahme zu bestimmten künstlerischen, politischen etc. Positionen - möglicherweise im Widerspruch zu denen des dargestellten Künstlers. Die Beiträge erbrachten neben den unvermeidlich punktuellen Einblicken in die jeweilige Literatur mancherlei zu Vorgeschichte und Weiterentwicklungen, Kontinuitäten, Brüchen und Wechselbeziehungen. So bot es sich an, die Texte als Materialien zu einer Geschichte des Künstlerdramas anzuordnen, d. h. chronologisch nach der Entstehung der behandelten Dramentexte. Gleichzeitiges wurde nach Kulturräumen geordnet. Dem Beitrag von Klaus Ley wurde deutlich mehr Raum zugebilligt als den übrigen, da er die gesamte Entstehungsgeschichte des Künstlerdramas im 18. Jahrhundert bis hin zur Ausformung durch Goethes Torquato Tasso detailliert nachzeichnet und noch einen Blick in die italienischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts wirft. Ley rekonstruiert somit die Grundlagen dessen, was im 19. und 20. Jahrhundert als Künstlerdrama verstanden wurde. Er identifiziert Edme Boursaults dramatischen Molière-Kommentar Le portrait du peintre (1663) als „so etwas wie de[n] Anfang des Dichterdramas als eigenständiges Genre überhaupt“ 4 . Ausführlich analysiert er Carlo Goldonis hieran anschließende Dichterkomödien Il Molière (1751), Terenzio (1754) und Torquato Tasso (1755) - mit Seitenblick auf die Werke seines Zeitgenossen und Plagiators, des Abate Pietro Chiari. Im Zentrum aber stehen die Bezüge zwischen Goethes Torquato Tasso und den Dichterkomödien Goldonis, wobei es nicht um den Nachweis einer Abhängigkeit Goethes von Goldoni geht, sondern darum zu zeigen, welche Aspekte der Dichterpersönlichkeit, wie wir sie bei Goethe vorfinden, schon bei Goldoni präformiert waren und welche Neuakzentuierungen sie erfahren haben. Als italienische Fortführungen des Tasso- Themas nach Goethe werden schließlich Alberto Notas Komödie (1834), Gaetano Donizettis Oper (1833) sowie Paolo Giacomettis Tragödie (1855) vorgestellt. Wolfgang Düsing zeigt anhand von Franz Grillparzers Tragödie Sappho (1818), dass Dramen über Künstler nicht notwendig als Künstlerdramen gelesen werden, dass dies in der Rezeptionsgeschichte der Sappho nur eine - wenngleich die dominante - Interpretationslinie darstellt. Sein Ansatz besteht darin, das Stück als „moderne Künstlertragödie in antikisierendem Gewand“ 5 und zugleich als Liebestragödie zu interpretieren. Dabei geht er auf die Textgenese ein, auf den Umgang mit dem antiken Stoff, die Orientierung an der Dramenform der Weimarer Klassik sowie auf die Abwendung von ihr in der realistischen Gestaltung der Titelfigur. Vor dem Hintergrund der Kunstauffassungen Schillers und einiger jüngerer Zeitgenossen Grillparzers wird im Kernstück des Beitrags dessen Wendung zur Kunst als Religion erläutert, die das Auseinandertreten, ja 4 S. 29. 5 S. 88. <?page no="9"?> Einleitung 9 die Unvereinbarkeit von Kunst und Leben nach sich zieht. Die Aufgabe der Kunst um des Lebens (der Liebe zu einem jüngeren Mann) willen ist in Grillparzers moderner Deutung, so Düsing, die Ursache für die Tragödie Sapphos, die - mehr noch als im Verlust der Liebe - im Verrat an der Kunst besteht. Der Beitrag von Charlotte Krauß ist dem französischen Drame romantique gewidmet und bezieht neben den „reinen“ Künstlerdramen Chatterton (1835) von Alfred de Vigny sowie Kean ou désordre et génie (1836) von Alexandre Dumas père zwei Texte in die Betrachtung ein, in denen die Künstlerproblematik ein Nebenthema darstellt: Alfred de Mussets Lesestück Lorenzaccio (1834) und Victor Hugos Versdrama Ruy Blas (1838). Krauß zeigt, dass der englische Dichter Thomas Chatterton (1752-1770) bei Alfred de Vigny als Modellfall des verkannten Genies gestaltet wird, dessen Tragik durch die Geringschätzung der Gesellschaft und die eigene Empfindsamkeit bedingt ist. Den Schauspieler Edmund Kean (1782-1833) bei Dumas hingegen kennzeichnet sie als moralische Instanz, als einen Künstler, der trotz seiner Erfolge beim Publikum von einer Gesellschaft ausgestoßen wird, deren Verkommenheit er erkennt und kritisiert. Bei der Analyse von de Mussets Lorenzaccio liegt der Akzent auf der Interpretation Lorenzo de Médicis als Künstlerfigur in einem übertragenen Sinne, da dieser seinen Mord am Herzog Alexandre de Médicis als theatrale Inszenierung vorbereitet - auch wenn deren reale Ausführung zumindest als Kunstwerk misslingt. Die Nebenfigur Don César in Hugos im Spanien des späten 17. Jahrhunderts angesiedeltem Drama ist die einzige nicht historische Figur in dieser Auswahl. Krauß charakterisiert die Rolle dieses Dichters als die des hellsichtigen, bisweilen humorvollen Kommentators der höfischen Intrigen, der den tragischen Verlauf der Handlung freilich nicht abwenden kann. Während klassische und romantische Künstlerdramen ihre Bühnenpräsenz durch das gesamte 19. Jahrhundert wahren konnten, tritt das Thema in der Dramenproduktion der Realisten deutlich in den Hintergrund. Auf Ausnahmen (z. B. Aleksandr Ostrovskij) verweist u. a. der russistische Beitrag, der sich ansonsten mit der Moderne befasst. Vor dem Hintergrund dramatischer Umbrüche in der Gesellschaft entwickelten Literatur und andere Künste in Russland seit den 1890er Jahren eine bis dahin unerreichte Vielfalt innovativer Ansätze. Diese Vielfalt spiegelt sich auch in den vorgestellten Versuchen theatraler Positionsbestimmungen des Künstlers. Anton echov richtet in Die Möwe ( ajka, 1895) seinen distanzierten Blick auf die an verfehlten Ansprüchen Scheiternden. Der Symbolist Aleksandr Blok spaltet in Die Schaubude (Balagan ik, 1906) die Irrwege seines eigenen Künstlertums in verschiedene Figuren auf und schafft en passant ein Theater der Desillusionierung. Der Futurist Vladimir Majakovskij versucht in einer „Tragödie“, die seinen eigenen Namen als Titel trägt (Vladimir Majakowskij. Tragedija, 1913), die Einheit von Kunst <?page no="10"?> F RANK G ÖBLER 10 und Leben in der Form egomaner Selbstinszenierung zu retten: In der Uraufführung fungiert er als Autor, Titelheld, Regisseur und Darsteller der Titelrolle. Michail Bulgakov schließlich, für den unter Stalin das Theater als einzige künstlerische Überlebensform verblieben war, transponiert in Die letzten Tage (Poslednie dni, 1934/ 35) das eigene prekäre Verhältnis zum totalitären Staat in sein dramatisches Porträt Aleksandr Puškins, bei dem der Künstler zugleich das Zentrum der Konstellation bildet und als Figur abwesend ist. Als Außenseiter und Kritiker der Gesellschaft begegnet uns die Künstlerfigur in Miroslav Krležas Die Glembays (Gospoda Glembajevi, 1928). Im ersten Teil der Trilogie über Aufstieg und Niedergang einer Zagreber Bankiersfamilie fungiert, wie Alfred Gall zeigt, der Maler Leone, nach längerer Abwesenheit heimgekehrter Sohn des Familienpatriarchen Ignjat Glembay, als Katalysator, welcher die familieninternen Spannungen zur Entladung bringt, indem er schonungslos in die Abgründe von kriminellen Machenschaften sowie moralischer und geistiger Zerrüttung hineinleuchtet, vor denen er sich ins Ausland geflüchtet hatte. Indem er die Konflikte ungewollt, doch unvermeidlich auf die Katastrophe hintreibt, betreibt er zugleich die Zerstörung der Grundlagen seines eigenen Künstlertums. Dies kommt ihm schließlich in „einer Art negativen Epiphanie“ zu Bewusstsein, die ihm „die absolute Grundlosigkeit des Daseins, in der alles, Religion, Moral, Gesellschaft sowie Kunst versinkt“ 6 , eröffnet. Als Neuansatz Krležas arbeitet Gall heraus, dass nicht mehr der Künstler im Konflikt mit einer bestehenden Gesellschaft gezeigt wird, sondern dass er selbst in diese in sich problematische Gesellschaft und ihr Verhängnis verstrickt ist. Das Künstlerthema kennzeichnet Gall als einen Teilaspekt eines Dramas über die durch die Glembays repräsentierte kroatische Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Vor dem Hintergrund der Gestaltung des Problemkomplexes in der kroatischen Literatur Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts (Ksaver Šandor Gjalski, Janko Poli Kamov) werden darüber hinaus die bei Krleža hervortretenden kroatischen Spezifika jener Gesellschaft - als Gebilde an der Peripherie der untergehenden Habsburger Monarchie - skizziert. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick in das spätere Werk Krležas, in dem sich der Akzent von der Künstlerproblematik hin zur Problematik des Intellektuellen in der Gesellschaft verschiebt. Anhand des polnischen Autors, Malers, Fotografen, Kunst- und Theatertheoretikers Stanis aw Ignacy Witkiewicz (Witkacy) zeigen Ewa Makarczyk-Schuster und Karlheinz Schuster, dass einem Dramatiker der radikalen Innovation die Kunst noch als letztes Refugium des Menschlichen in einer auf die Katastrophe zusteuernden Wirklichkeit gelten kann. Seine Stücke werden nicht als Künstlerdramen im engeren Sinne verstan- 6 S. 169. <?page no="11"?> Einleitung 11 den - trotz der darin vorkommenden Künstlergestalten, deren Scheitern eher als Teilaspekt des allgemeinen Niedergangs erscheint. Dennoch ist das Thema Kunst in Stücken wie Gjubal Zauderzar (Gyubal Wahazar, 1921) oder Sie (Oni, 1920) omnipräsent. Die Aspekte der sich abzeichnenden Katastrophe sind politisch-gesellschaftlicher (Vermassung, heraufziehender Totalitarismus), philosophischer (Verlust des sicheren Denkens durch die Revolutionen in Mathematik und Physik) und privat-zwischenmenschlicher (Dominanz des geschlechtlich Triebhaften) Art. Die Kunst erscheint, so die Autoren, als letzte Option der Wahrung eigener Individualität. Als zweiten polnischen Dramatiker stellt Brigitte Schultze Jaros aw Iwaszkiewicz mit seinen Stücken über Frédéric Chopin und George Sand (Sommer in Nohant, Lato w Nohant, 1936) sowie Honoré de Balzac (Die Hochzeit des Herrn Balzac, Wesele Pana Balzaca, 1958) vor. Sie charakterisiert den Autor, der trotz seiner politisch-gesellschaftlichen Abstinenz vom Regime geschätzt wurde und lange Zeit (1959-1980) hoher Kulturfunktionär (Präsident des polnischen Schriftstellerverbands) war, hinsichtlich unseres Themas als Sonderfall, dessen Künstlerdramen „auf bemerkenswerte Art unberührt von den jeweiligen ästhetischen und gesellschaftlichen Tendenzen“ 7 scheinen. Im Vordergrund von Sommer in Nohant steht das musikalische Genie Chopin, dessen Musik effektvoll in die Motivstruktur des Stückes eingebunden ist. Schultze zeigt, dass es hier - wie auch in Die Hochzeit des Herrn Balzac - nirgends um eine ästhetische Positionierung geht, noch um eine Diskussion darüber, welche Rolle dem Künstler in der Gesellschaft zukommt. Allerdings werden in Sommer in Nohant Musik, Literatur und bildende Kunst, die durch verschiedene Figuren repräsentiert sind, in ihrem Verhältnis zueinander beleuchtet. Chopin ist aber aus diesem Kreis nicht durch sein Medium, die Musik, herausgehoben, sondern durch sein künstlerisches Genie, welches zusammen mit seiner Kehrseite, der Unfähigkeit zu normalen zwischenmenschlichen Bindungen, die „fundamentale Andersheit des Künstlers gegenüber seiner menschlichen und gesellschaftlichen Umwelt“ 8 begründet. So allgemein gefasst, hat Chopin dieses Merkmal mit Balzac in dem gut zwanzig Jahre jüngeren Stück gemeinsam. Schultze arbeitet heraus, dass beide Charaktere trotz ihrer Gegensätzlichkeit (Chopin als der introvertierte, Balzac als der extrovertierte Typ) aufgrund ihres Künstlertums zur Integration in die Gesellschaft nicht disponiert sind und dass dies auch Iwaszkiewicz’ Selbstverständnis als Künstler entspricht. Das Künstlerdrama wird im Beitrag von Nassim Balestrini einmal unter anderem Blickwinkel betrachtet. Nicht Autoren, Epochen oder paradigmatische Texte stehen im Vordergrund, sondern die dargestellte 7 S. 206. 8 S. 215. <?page no="12"?> F RANK G ÖBLER 12 Künstlerpersönlichkeit. Leben und Schaffen der Lyrikerin Emily Dickinson interessierten amerikanische Dramatiker bereits seit den 1930er Jahren. Balestrini vermag eine bemerkenswerte Bandbreite dramatischer Bearbeitungen dieses in manchen Aspekten rätselhaften Stoffes aufzuzeigen. Susan Glaspells Drama Alison’s House (1930) ist der Biographie Dikkinsons sowie Bedeutung und Wirkungspotential ihrer Lyrik gewidmet. Worauf der Schwerpunkt des Kostümdramas Eastward in Eden: The Love Story of Emily Dickinson (1945) von Dorothy Gardner liegt, zeigt schon der Untertitel an. Neben der privat-zwischenmenschlichen Problematik geht es jedoch auch um die Affirmation eines nationalen Literaturkanons. The Belle of Amherst: A Play Based on the Life of Emily Dickinson (1976) von William Luce ist das erste und bekannteste einer Reihe von Emily Dickinson- Monodramen. Es tritt mit dem Anspruch auf, eine auf gründlichen Quellenstudien basierende, Legenden und Fehldeutungen korrigierende Version ihrer Biographie zu bieten. Mit Norman Rostens Come Slowly, Eden: A Portrait of Emily Dickinson (1966), K. D. Halpins und Kate Nugents Emily Unplugged (1995) und David Starkey How Red the Fire (2007) werden Stükke vorgestellt, die mit verschiedenen Zeitebenen operieren und Fragen der - auch wissenschaftlichen - Rezeption der Lyrikerin berühren, während Edie Campbell und Jack Lynch in Emily Dickinson & I: The Journey of a Portrayal: A One Woman Play about Writing, Acting and Getting into Emily Dickinson’s Dress (2005) die Darstellbarkeit einer historischen Person überhaupt problematisieren. Bernhard Reitz beginnt seinen Beitrag zum britischen Künstlerdrama mit einem historischen Exkurs und einem eigentümlichen Befund: dass nämlich das Künstlerdrama bis Mitte des 20. Jahrhunderts nicht existent ist. Als Ursache hierfür macht er nicht etwa die zu Beginn dieser Einführung skizzierte Sperrigkeit derartiger Stoffe für eine dramatische Bearbeitung aus, sondern die spezifische Rolle des Dramatikers im britischen Kulturbetrieb: Als „script writer“, der in erster Linie die Unterhaltungsbedürfnisse des Publikums zu befriedigen hatte. Was Künstler über sich selbst und ihresgleichen zu sagen hatten, lag offensichtlich nicht in dessen Interesse und kam folglich nicht auf die Bühnen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch die Einführung des Subventionssystems ein gesellschaftlich und ästhetisch ambitioniertes Theater möglich, in dem nun auch die Selbstreflexion des Künstlers auf der Bühne ihren Platz fand. Sie artikuliert sich anhand realer Künstlerpersönlichkeiten der Vergangenheit (Reitz geht kursorisch auf Texte von Edward Bond, Howard Brenton, Christopher Hampton, Pam Gems und Howard Barker ein) wie auch vielfach anhand fiktiver Gestalten. Als in dem Genre besonders produktiver Autor wird Tom Stoppard herausgehoben, der seit den 1960er Jahren regelmäßig Künstlerdramen vorgelegt hat. Seine Komödie Travesties (1974) verwickelt drei historische Gestalten, die zur gleichen Zeit (1917/ 18) in Zürich weilten (V. I. Lenin, James Joyce und der Dadaist <?page no="13"?> Einleitung 13 Tristan Tzara), in eine fiktive Handlung, in deren Verlauf das jeweilige Kunstverständnis demontiert wird. Als dem Stück immanentes positives Postulat schält Reitz die Freiheit heraus, ohne die Kunst, gleich welcher Art, nicht bestehen kann, und für deren Unterdrückung im Totalitarismus die Figur Lenins steht. Französisches Gegenwartstheater und einen auf den ersten Blick eher fragwürdigen Helden für ein Künstlerdrama nimmt Christine Mundt- Espín ins Visier. Das Stück Pour Louis de Funès (1986) des aus Genf stammenden Dramatikers Valère Novarina deutet sie als Gegenentwurf zur Tradition des französischen Künstlerdramas sowohl hinsichtlich der Modelle von Künstlertum wie auch der Theaterkonzeption. In einem konzisen Abriss des französischen Künstlerdramas des 19. und 20. Jahrhunderts steckt sie das Feld ab, von dem aus Novarina sein eigenes Konzept profiliert (und liefert zugleich eine Fortführung zum Beitrag von Charlotte Krauß). Novarinas Interesse an Louis de Funès erläutert Mundt-Espín aus dessen Vorstellung, das „befreiende, entfesselnde Moment der Komik bzw. des Lachens im Theater“ liege „in seiner Bindung an das Physische begründet“ 9 . De Funès repräsentiert mit seinen gestikulierenden und grimassierenden Ausbrüchen die Verselbständigung des entfesselten kreativen Spiels, die Novarina für sein Theater in Anspruch nimmt. Die Abkehr vom mimetischen Anspruch bedeutet aber nicht den Verzicht auf eine Positionierung des Theaters in der Gesellschaft. Vielmehr zeigt Mundt-Espín, dass Novarina mit seinem Theater den „Widerstand gegen die Scheinkommunikation von Sprache, wie sie in unserer von der Sprache der Massenmedien durchsetzten Welt stattfindet“ 10 artikuliert. Im deutschsprachigen Theater des 20. Jahrhunderts beginnt die Abkehr vom traditionellen idealistischen Künstlerbild, wie Gunther Nickel in seinem Beitrag erläutert, mit den 1960er Jahren. Er zeigt, dass die Infragestellung dieses Konzepts in der Gegenwartsdramatik nicht einfach vor dem Hintergrund einer veränderten gesellschaftlichen Situation fortgeschrieben wird, sondern „dass eine Voraussetzung des Künstlerdramas abhanden gekommen ist: die der Möglichkeit von Authentizität“ 11 . Wolfgang Bauers Magic Afternoon (1968) und Change (1969) markieren die Vorstufe, indem sie - in scheinbar naturalistischer Manier - eine ziellose künstlerische Subkultur porträtieren. An Albert Ostermaiers The Making Of. B.-Movie (1998) arbeitet Nickel heraus, wie Kritik am überkommenen Künstlerbild sowie an Kulturbetrieb und Medienwelt unter anderem mittels intertextueller (Rückbezüge auf Brechts Baal etc.) und szenischer Verschachtelungen (Inszenierung der Inszenierung der Inszenierung) bewerkstelligt wird. Das Stück Jeff Koons (1999) von Rainald Goetz, das 9 S. 276. 10 S. 274. 11 S. 287. <?page no="14"?> F RANK G ÖBLER 14 anonyme Äußerungen anlässlich einer Vernissage gleichsam protokolliert, liest Nickel als Teilprojekt des unmöglichen Versuchs, Gegenwart festzuhalten. Das darin liegende Dilemma kennzeichnet er als Radikalisierung der in Künstlerdramen vielfach thematisierten Opposition von Kunst (hier: Literatur) und Leben. Ganz zentral wird das Problem von Authentizität in Falk Richters Gott ist ein DJ (1999), wo ein Künstlerpaar sich selbst über Videokameras zum laufenden Internet-Kunstwerk macht und an die eigenen Inszenierungen verliert. Problematisch sind die Ansätze Richters und Ostermaiers für Nickel insofern, als sie letztlich die Medialisierung, auf die ihre Kritik zielt, selbst reproduzieren. Zugleich machen sie aber bewusst, dass die traditionellen Formen des Künstlerdramas, die bis weit ins 20. Jahrhundert gepflegt wurden, auf die Frage, was Kunst und Künstler in der Gegenwart sind, keine erschöpfenden Antworten mehr liefern können. Allen Autoren und Mitwirkenden der Ringvorlesung sei noch einmal für ihre Beiträge gedankt, ebenso Frau Sabine Fetzer vom Studium Generale für ihre organisatorische Unterstützung. Die redaktionelle Bearbeitung der Beiträge und die Vorbereitung des Registers lagen in den Händen von Frau Ramona Leitenmayer. Ihr gilt mein herzlicher Dank für die Sorgfalt und Einsatzbereitschaft bei der Ausführung dieser Arbeiten. Mainz, August 2009 Frank Göbler <?page no="15"?> Klaus Ley Goldonis und Goethes Torquato Tasso: Das Dichterdrama in Venedig und in Weimar, seine Voraussetzungen und Folgen Als Theaterstück ist diese Komödie weit über den Goetheschen Tasso zu setzen; die Intrigue ist höchst glücklich eingeleitet und der Schluß, der bei Goethe so sehr fehlt, höchst befriedigend. A. v. Platens Urteil über Goldonis „Torquato Tasso“ (Florenz, 14.10.1826) 1 „T ORQUATO T ASSO “ UM 1750: ZUR H ERAUSBILDUNG EINER T HEATERFIGUR Goethes Torquato Tasso. Ein Schauspiel hat früh, schon wenige Jahre nach der Fertigstellung 2 , den Typ des Künstlerdramas in Deutschland bestimmt - ähnlich wie Die Leiden des jungen Werthers eineinhalb Jahrzehnte zuvor den Roman. Das neue Genre gewann zunehmend an Bedeutung. Die Entstehung von Künstlerdramen im übrigen Europa verlief dann aber eher über die auf französische Elemente zurückgehende Werther-Schiene. 3 Der Künstler wird dort gezeichnet als genialisch zerrissener Mensch, als „poète malheureux“. 4 Was seinen Torquato Tasso davon unterscheidet, hat Goethe selbst später unter Bezug auf Ampères Besprechung des Schauspiels präzise gefasst, als er den Tasso als „einen gesteigerten Werther“ bezeichnete. Seine andere, ebenso bekannte Kernaussage lautet, der „eigentliche Sinn“ des Stückes werde ausgemacht von der „Disproportion des Talents mit dem Leben“. 5 Der „Wertherismus“ - auch er bereits Ausdruck einer solchen Disproportionalität - als epochales Phänomen steht in Verbindung mit den Streitigkeiten jenseits des Rheins, welche die von den Aufklärern dominierte 1 Platen (1969), S. 813. 2 Abgeschlossen wurde das Werk im Jahre 1790, die Uraufführung fand statt in Weimar, am 16.2.1807. 3 Vgl. auch Scherpe (1970). 4 Während des 19. Jahrhunderts in Frankreich entwickelt er sich zum „poète maudit“ weiter. Vgl. dazu Mundt-Espín (1990). 5 Vgl. Schanze (1989), S. 107. <?page no="16"?> K LAUS L EY 16 Académie Française nach 1770 mit dem Satiriker Nicolas-Joseph Gilbert 6 ausfocht und die für lange Zeit - auch in Hinsicht auf das neue Tasso-Bild - in dem Satz „Sois grand et malheureux“ gültigen Ausdruck fand. Gerichtet war dieser gegen die von der Aufklärung lancierte Verklärung des dichterischen Genies. Hier, in dem offenbar von Mademoiselle de Lespinasse erstmals schriftlich festgehaltenen, jedenfalls bei ihr nachgewiesenen Dictum, das auf Diderot zurückgeht, findet sich die Formulierung eines neuen Menschenbildes, eine Vorstellung auch vom Dichter oder Künstler, die aus den alten Ordnungsregistern, der fest gegliederten Welt des Ancien Regime, herausfällt. 7 Die entscheidende Verschiebung, in der die alte Korrelation zwischen Melancholie und Genie zunehmend durch das deutlicher fassbare Axiom „Genie gleich Unglück“ ersetzt wurde, wie es dann das romantische Dichterbild bestimmen sollte, lässt sich aber bereits bei Rousseau beobachten, der redet vom „malheur [. . .] qu’on voit si souvent être l’apanage des grands talens“ 8 . In welchem weiteren Zusammenhang diese Linie außerdem noch mit Rousseaus Denken steht, soll später umrissen werden. Bereits zu dieser, vor Goethes Aufbruch liegenden Zeit erscheint Tasso, der Dichter der Gerusalemme liberata, als das künstlerische Genie, das beinahe notwendigerweise an der Welt zerbricht. Innerhalb von Goethes Schaffen zeigen sich dann durchaus direkte Linien einer Entwicklung der Genie-Thematik von Werther zu Torquato Tasso. Die dabei erfolgende Überhöhung der Dichterfigur allerdings, gewissermaßen zu einem Priester der neuen Kunstreligion, ereignet sich erst im Zuge der Weimarer Klassik, nach der Werther-Zeit. Sie bietet mit den Vorstellungen von idealer Humanität, durch die das Konzept des unglücklichen oder scheiternden Dichters überwunden wird, so etwas wie einen deutschen Sonderweg. Erst durch diesen Schritt wird der bis dahin gültige Horizont der Thematik von Goethe aufgegeben. Da er aber den Plan zum Torquato Tasso lange zuvor gefasst hatte, stellt sich nicht nur die Frage, wann er die Besetzung der Tasso-Figur mit dem Ideengehalt des seit Gilbert sprichwörtlichen „poète malheureux“ überwand. Offen ist vielmehr vor allem, wie und unter welchen Voraussetzungen Goethe überhaupt an seine Fassung von Torquato Tasso als 6 Der außerordentliche Folgenreichtum von Gilberts Selbstdefinition als Satiriker ist bis heute in der Forschung weitgehend verkannt. Das gilt auch für den Versuch K. W. Hempfers, dessen Werk als Grundform eines satirischen Diskurses zu reklamieren, dem dezidiert „amimetischer“ Charakter und Realitätsferne zugesprochen wird: Tendenz und Ästhetik. Studien zur französischen Verssatire des 18. Jahrhunderts (siehe Hempfer (1972)). 7 Vgl. Lespinasse (1811), S. 282. Vgl. dazu auch Mauzi (1960) [das Zitat : S. 486]. 8 Rousseau (1959), S. 214. Zum Problemzusammenhang vgl. Ley (1996) und Purper (1988). <?page no="17"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 17 Drama, als „Schauspiel“ gegangen ist. Es erscheint zudem fällig, nicht nur die Überlegung weiterzudenken, ob er so voraussetzungslos, wie immer behauptet wird, das Werk begonnen hat, sondern mehr noch, ob nicht die hier zum gewählten Thema bereitstehende Theaterform, eine Komödie, die Durchführung präformierte, ja präformieren sollte. Jedenfalls begegnet Tassos Schicksal ansonsten in anderen Formen literarischer Darbietung, besonders in Biographien. 9 Eine solche Fragestellung ist bislang alles andere als intensiv verfolgt worden. Gegenüber dem Gewicht und auch der Exklusivität, mit der über lange Zeit das Stück Goethes behandelt worden ist, schien das anspruchslos wirkende Werk des venezianischen Vielschreibers Carlo Goldoni, der ja sein Schauspiel gleichen Titels als Komödie und immer noch im Kontext der „commedia dell’arte“ verfasste, reichlich unerheblich zu sein. 10 Wenn eine Verbindung gesucht wurde, dann im begrenzten Rahmen eines kleinräumigen Vergleichs, mit entsprechend bescheidenen und unsicheren Ergebnissen. So drängt sich fast die Vermutung auf, es sei vielleicht wenig sinnvoll, von einem direkten Verhältnis der Komödie des Venezianers mit Goethes Stück auszugehen 11 , obwohl doch beide den Titel gemeinsam haben und Goldoni zudem - als damals überaus bekannter Theaterdichter - auch einen gewissen Anspruch erheben konnte, als erster überhaupt diesen Schauspieltyp geschaffen zu haben. Nach wie vor neigt man in der germanistischen Forschung zu der These, Goethe habe keine Kenntnis von Goldonis Komödie gehabt; solche Unkenntnis wird auch gern auf das Wissen über das Leben Tassos ausgeweitet, des Dichters eben der Gerusalemme liberata, die damals als ein Kunstwerk erster Ordnung galt und europaweit bis in die Musik und die bildenden Künste ihre Wirkung behauptete. Man erliegt sicher einem Trugschluss, wenn man sich immer wieder mit dem Verweis auf die Vermittlung durch Jacobi, Heinse etc., einige wenige Zeitgenossen Goethes also, begnügt. Bei der Erkundung dieser Zusammenhänge eröffnet sich der Weg zur Klärung einer weiteren, als „blinder Fleck“ ausgeblendeten Problematik, wie sich nämlich das Dichterdrama als relativ junges literarisches Genre 9 Goethes Interesse an solchen Werken wird auch belegt durch seine Übersetzung von Benvenuto Cellinis Vita. Die immer wieder genannten Viten stammen von Tomassini, Lorenzo Crasso, Manso, auch J. A. de Charnes (La Vie du Tasse, prince des poètes Italiens, Paris 1690). Genannt werden zudem - im Umfeld Goldonis - Ménage und Teissier. 10 Beispiele für eine schlechte Presse von Goldonis Fassung des Tasso bietet der Kommentar der Ausgabe, nach der die Komödien Goldonis im Folgenden zitiert werden: Goldoni (1955), Bd. 5, S. 1379. Der Tasso-Text findet sich auf S. 763-848. 11 Den bislang letzten größeren Vergleich der beiden Schauspiele bietet die Dissertation von Schulz (1986). <?page no="18"?> K LAUS L EY 18 konstituieren und so überhaupt erst in Goethes Schauspiel einen ersten Höhepunkt erreichen konnte. Festzuhalten ist hier zunächst, dass nicht nur die nicht erhaltene frühe Prosa-Fassung von Goethes Werk dem seit Gilbert neu entwickelten Deutungsmuster der Tasso-Gestalt bereits folgte, sondern sich in diesem - durchaus wesentlichen - Punkt auch erst einmal von Goldonis etwa zwei Jahrzehnte früher entstandener Komödie unterschied. Gegenüber dem „Ur-Tasso“, den man gern und pauschal allein von der Liebesbeziehung des Dichters zu den beiden Frauen gleichen Namens, der Prinzessin Eleonore und der Eleonore Sanvitale, bestimmt sieht, dürften aber dennoch die nachfolgenden Abweichungen nicht so grundsätzlich gewesen sein, wie sie unter Berufung auf Goethes Lektüre der 1785 erschienenen Tasso-Biographie von Pierantonio Serassi vermutet und anhaltend erfolgreich behauptet werden. Dieses Werk kam Goethe überdies erst 1787 unter die Augen, als er bereits seit längerem wieder an der Redaktion, jetzt der neuen Fassung, arbeitete. Das entscheidende Argument für eine solche Interferenz mit Serassi war lange die hier erstmals greifbare Einführung des praktisch-politischen Denkens in der Gestalt des Antonio Montecatini, als Antipoden, als personifizierten Gegenpols des für Kunst und Dichtung stehenden Torquato Tasso. Dieser Gegensatz ist allerdings als problematischer Kern des Typs Dichterdrama auch längst in der früheren Diskussion aufbereitet gewesen. Tatsächlich liegt der Unterschied zur Komödie Goldonis allein in der stärkeren Pointierung; dort finden sich nur erste Anklänge solcher Polarität von „poeta“ und „homo politicus“, zudem in einem noch anders definierten Rahmen. Goethe verbleibt somit bei seinem eigenen Unternehmen durchaus auf der Ebene des Theaters und seiner tradierten Formen, indem er den Prätext, den Goldoni anbietet, in eine zeitgemäße Fassung überleitet, wie er es bereits auf dem Gebiet des Romans im Werther mit Rousseaus La nouvelle Héloise gehalten hatte und wie es nach ihm etwa auch Foscolo tun sollte, der seine Ultime lettere di Jacopo Ortis unübersehbar nach der Vorlage Goethes anlegte, ohne allerdings dessen begeisterte Zustimmung erregen zu können. Über eine nur auf Goldoni beschränkte Auseinandersetzung hinausreichend zielt Goethe mit dem Tasso zugleich auch auf die Neuausrichtung des Gesamttyps dieser Theaterform, wie er ihn bei dem Venezianer gegeben sah. Dessen Dichterdrama verweist selbst schon auf die französische Bühne, auf Molière und die Komödie des Grand Siècle, zurück. Was dann bis hin zu Goethe hinsichtlich der Deutung Tassos bei diesem Prozess herauskommt, lässt sich vorab in vager Analogie zur Auslegungsgeschichte des Misanthrope so umschreiben: Wie der Menschenfeind Alceste seit Rousseau zur eigentlich tragischen Gestalt uminterpretiert und Molières späte Charakterkomödie letztlich einem Gattungswechsel unterzogen werden soll, so erscheint die Lebens- und Liebesqual des Dichters Tasso spätestens in Goethes „Schauspiel“ aus dem Treiben der Dichter- <?page no="19"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 19 komödie herausgelöst. Tasso als literarische Figur wird nobilitiert zum abgründigen, von existentiellen Konflikten geprägten Charakter. Hier allerdings sollte nicht übersehen werden, dass - gattungsgeschichtlich betrachtet - allein die Formung von Elementen der Tasso-Biographie zur Komödie bereits eine durchaus aufschlussreiche Leistung darstellte, die zu einem ersten Ende gebracht zu haben Goldoni für sich allemal beanspruchen konnte. Goldonis Theater war, wie auch die von Diderot geführte Auseinandersetzung um den Plagiat-Vorwurf belegt 12 , als ein für die damalige Zeit anregendes Unternehmen europaweit gut bekannt, zumal es seinen Ort hatte in Venedig, das vor dem Fall der Republik immer noch als ein kulturelles Zentrum ersten Ranges galt. Das Stück über den von seinem familiären Hintergrund her eigentlich aus Bergamo stammenden Renaissance- Dichter Torquato Tasso hatte Goldoni 1755 herausgebracht, ganz in der Nachfolge seiner Reformkomödien, mit denen er ab 1750 ausgehend von der „commedia dell’arte“ die italienische Bühne auf eine neue Grundlage stellte. Die Reflexion über die tief greifenden und bald auch erfolgreich durchgesetzten Veränderungen hatte er da schon eigens zum Thema eines Schauspiels - Il Teatro Comico (1750) - gemacht. Dieses Sprechen über den Gegenstand des Theaters selbst führte er wenig später in anderer Form fort. Auch dazu griff er, was uns noch beschäftigen wird, wieder auf eben die Autorität zurück, die er insgesamt zum Vorbild seines dichterischen Selbstverständnisses gewählt hatte: 1751 wurde erstmals Il Molière gegeben, ein Stück, dessen Gegenstand eine kurze Folge von Episoden aus dem Leben des großen französischen Komödienautors und - darstellers bildet. Die Form der Darbietung des Stoffes ist die Komödie, wie auch die des wenig später - 1754 - nachfolgenden Werks Terenzio und dann eben die des Torquato Tasso, des letzten Beitrags dieser Reihe. Nicht nur der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass Goldoni außerdem einen weiteren Text über die Problematik von Dichtung und Dichtertum schrieb; das Stück ist anfangs unter dem Titel I poeti gespielt und auch gedruckt worden, dann aber als Il poeta fanatico (1750) bekannt geblieben. Darin geht es um die Kollision von kollektivem Akademiewesen und individueller Genialität, was zu eigentümlichen Verwirrungen führt. 13 12 Vgl. dazu Ley (1999), S. 121-151. 13 Goldoni distanzierte sich in den Mémoires in gewisser Weise von dem Stück, dessen zwei Kernargumente nicht zu einer Synthese gekommen seien: „c’est une de mes plus foibles comédies [sans intérêt, sans intrigues et sans suspension (. . .)]. Collalto jouoit un jeune improvisateur, et plaisoit par les graces de son chant en débitant ses vers. Le Brighella, domestique, étoit Poète aussi, et ses compositions et ses impromptus burlesques étoient fort amusans.“ (Goldoni (1996), S. 9 f.; Das Werk liegt in neuer Ausgabe, in der Edizione Nazionale von Goldonis Theater, vor). Für die folgenden Überlegungen ist es nicht von zentraler Bedeutung, da es weniger um <?page no="20"?> K LAUS L EY 20 Damit ist das ganze Paket eines Dramentyps beieinander, zu dessen Durchsetzung der bewegliche Goldoni den entscheidenden Anstoß gegeben hatte und den Goethe dann zu mustergültig anhaltendem Ansehen brachte. Hier liegt der Ansatz für die weiteren Überlegungen. Die von Goldoni verfolgte Strategie der Etablierung des Genres leitet unmittelbar über in die Diskussion um die Erneuerung von Kunst und Dichtung, wie sie - in Venedig - epochal verfolgt wurde. Für Goethes Fassung von Torquato Tasso ist es zunächst einmal selbstverständlich, zu bestätigen, dass sie - wegrückend von der Komödie - den Abschluss einer starken Pathetisierung dieses Schauspieltyps darstellt. Dem korrespondiert die bereits erwähnte Heroisierung der Titelgestalt. Offenbar ist das samt den psychologischen, ja anthropologischen Implikationen für Goethe eines der entscheidenden Motive, seine Wahl so zu treffen. Er transformiert ein Sujet des Komödientheaters in der Absicht, die fundamentalen Veränderungen vom Bild des Menschen zu seiner Zeit auch in diesem Medium selbst zu verankern. Gerade deshalb aber ist es wichtig, der Frage nachzugehen, wie der, der dann Goethe inspirierte, selbst zu seinen Ideen gelangt war. Nicht nur die Ausformung, die Goldoni etabliert hatte, musste dem Verfasser des Werther wenigstens in Umrissen bereits früh, als er das Werk anging, bekannt sein, sondern darüber hinaus auch die ältere Entwicklungslinie, über die Goldoni ausgehend von Molière seine Lösung gefunden bzw. geschaffen hatte. Als Zwischeninformation scheint hier folgender Hinweis fällig: Goethe kannte bereits aus seinen Jugendjahren von Tassos Werken das Schäferspiel Aminta mit dem überaus bedeutsamen Chor über das Goldene Zeitalter, den er in seinem Tasso dann ebenso zitiert wie das Pendant aus Guarinis Il pastor fido. Er kannte aber, wie bereits erwähnt, auch die 1781 erschienene Übersetzung des Epos La Gerusalemme liberata durch Wilhelm Heinse. Dieser hatte seine Arbeit kurze Zeit zuvor in Venedig erledigt 14 , wo er fast zwangsläufig auch Goldonis Theater kennen lernen konnte. Allgemeiner ist aber auch festzuhalten, dass im kollektiven Gedächtnis des gebildeten Europas Vorstellungen von Liebe und Ritterlichkeit verankert waren, die sich anhaltend über die in unterschiedlichster Form gefasste Lektüre von Ariost und Tasso vermittelten. Als ein beinahe beliebiges und austauschbares Beispiel kann der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Jean Moyreau gefertigte Stich, auf dem mit der Aufforderung zur Nachahmung das Liebesidyll von Angelica und Medoro aus dichterisches Selbstverständnis als allgemein um Formen mentalen Fehlverhaltens geht, die mit konkretem Wirklichkeitsbezug eher wenig zu tun haben. Eine Parallele in Frankreich bietet Alexis Pirons La métromanie ou le Poète; entsprechend hinsichtlich der Reflexion künstlerischer Selbstdarstellung und Wirkung vgl. Simone (1988). 14 Vgl. Schanze (1989). S. 100. <?page no="21"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 21 dem Orlando Furioso dargestellt ist, angesehen werden. Die von J. Verduc stammenden Verse der Subscriptio zu Moyreaus Stich heben den Bezug zur Vorstellung vom Goldenen Zeitalter, damit also gerade zu Tassos Aminta, als kollektive Bewusstseinsgröße nachdrücklich hervor: Heureux tems! heureus siècle! où la seule tendresse Pour les Noeuds les plus chers, n’offroit que ses Liens, Où l’Amour sans peser ni le Rang, ni les Biens Au prix des plus beaux feux, livroit une Maitresse: Amans! tendres Amans! ce tems peut être encor; On trouve une Angélique, il est plus d’un Medor. Angélique et Medor, Stich von Jean Moyreau (1690-1762) <?page no="22"?> K LAUS L EY 22 Ebenso können, hinsichtlich der idealisierenden Liebeskonzeption, das Paar Sofronia und Olindo aus der Gerusalemme liberata gesehen werden. 15 Ch.-N. Cochin hat in einer seiner berühmten Illustrationen zur französischen Ausgabe des Textes die Schlüsselszene der Rettung beider durch die Amazone Clorinda dargestellt: Sofronia et Olindo, Illustration von Charles-Nicolas Cochin (1715-1790) 15 Als ideales Liebespaar - so werden sie noch zitiert in Donizettis Torquato Tasso - sind sie bereits Gegenstand von Lessings Kritik in der Hamburgischen Dramaturgie (Bd. 1, 1. Stück, 1. Mai 1767). <?page no="23"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 23 Bevor der theatertypologische Zusammenhang genauer betrachtet wird, in dem Torquato Tasso als literarische Gestalt erst am vorläufigen Ende der Entwicklung bei Goldoni die tragende Rolle spielt, ist noch festzuhalten, warum er als Dichter und Mensch ab etwa 1750, also zur Zeit der Abfassung der venezianischen Komödie, ein so attraktives Thema wurde. Die neue Ausrichtung des Interesses für sein Werk, aber auch sein Leben, lässt sich insofern ganz plakativ verbinden mit dem Namen Jean- Jacques Rousseau, als dieser mit seinen beiden von der Académie Dijon preisgekrönten Discours das alte Bild vom Menschen und der Kultur und Zivilisation erschüttert hatte. 16 Allem Anschein nach hat Goldoni aber von dem, was seit Rousseaus Besetzung der Figur des Renaissance- Dichters für die Zukunft markiert war, noch kaum etwas gewusst bzw. er hat es nur sehr bedingt und ganz anders akzentuiert in seiner Komödie berücksichtigt. Damit stellt sich die Frage, warum gerade die Kombinatorik der verschiedenen Elemente, wie sie Goldoni ausgeführt hatte, von Goethe aufgegriffen wurde, zumal es inzwischen - auch in Deutschland - andere Ansätze zu einer Tasso-Dramatik gab; so wie es - in Frankreich - zunehmend zu Dramatisierungen von Episoden aus Molières Leben kam. 17 Wenn sich als Besonderheit festhalten lässt, dass Goethe offenbar auf die venezianische Komödie als Folie in der Absicht Bezug nimmt, darüber gängige Vorstellungen zu diskutieren, zu kritisieren und nach neuen Denkmustern zu transformieren, lassen sich die Übertragungsmotive, in solcherart begriffener Konstellation, auch soziokulturell klarer fassen: Goldonis Torquato Tasso erscheint als eine Komödie, die sich mit ihrem Wirkungsanspruch - gerade weil sie neuartig und modern sein wollte - ganz in den Zusammenhang der Serenissima, und so doch des Ancien Régime, einpasste. Wie auch die Oper, als ein seit dem 17. Jahrhundert wichtiger Teil der venezianischen Bühne, pflegte die Komödie gegenüber dem vor allem in Rom gesuchten Theater kirchlich-monumentaler Prägung dort den eher gesellschaftsbetonten, intimistischeren Ton. 18 16 Darüber hinaus hatte Rousseau früh schon in seinem Ballett Les Muses Galantes eine Szene konzipiert, in der der italienische Dichter auftrat; allerdings durfte diese nicht aufgeführt werden und wurde dann offenbar vernichtet. Lange später, im zweiten Teil der postum erschienenen Confessions (1782 ff.), geht Rousseau noch einmal auf den Gegenstand ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Thema allerdings ein Eigenleben entwickelt, in dessen Verlauf Goethe bereits mit dem Werther involviert war. Vgl. auch Jacobs (2001). Auffallend ist, dass auch in dieser Arbeit mit keinem Wort das unmittelbare Vorgänger-Drama, Goldonis gleichnamiges Werk, erwähnt wird. 17 So dann die 1787 aufgeführte Prosakomödie La maison de Molière von Mercier. 18 Vgl. dazu Angelici (1975), S. 117: „Come ,città‘, secondo le linee cioè di una politica culturale [. . .] tendente a valorizzare gli aspetti pubblici e collettivi dello spettacolo, Venezia considerò il teatro come luogo di incontro delle diverse classi sociali e gli <?page no="24"?> K LAUS L EY 24 Entsprechend hatte Goldoni schon in Il Molière zu seinen Vorstellungen über das Publikum, das er - bzw. Molière als sein Sprachrohr - ansprechen will, Stellung bezogen: Vario è il mio stile, è vero, ma a caso non lo faccio. Io parlo agli artigiani, io parlo ai cavalieri; A ognun nel suo linguaggio parlar fa di mestieri. Onde in un’opera istessa usando il vario stile, Piace una scena al grande, piace una scena al vile. Se per la gloria sola l’opere mie formassi, E di piacer a tutti per l’util non curassi, Con tempo e con fatica anch’io forse potrei D’alto sonoro stile ornare i versi miei. . 19 Goldoni bestätigt diese Sicht venezianischer Lebensart und Bühnenerfahrung ausdrücklich, wenn er in der späteren Komödie seinen Tasso auf das Angebot, Wohnsitz in der Serenissima zu nehmen, um dem Hofleben entgehen zu können, sagen lässt: Venezia è un bel soggiorno, amabile, felice Ma accogliere l’invito per ora a me non lice. 20 Die Hofkritik allerdings, die sich auch bezogen auf einen aufgeklärten Fürsten ergibt, folgt umgehend; über Ferrara heißt es entsprechend: Parea che la fortuna fosse per me ridente; Invitommi alla Corte almo signor clemente; Venni a servir, compito il quarto lustro appena; Tenero al piè mi posi dura servil catena. 21 Mit seinem Schauspiel verlässt Goethe diesen formalen Rahmen. Für seinen Tasso gibt es keinen Ort der Verlockung, wie ihn bei Goldoni Venedig darstellt, nur die anderen wollen ihn dorthin „wegschicken“. Er drängt - aus der eher begrenzten Welt des Duodez-Fürstentums Weimar kommend, sie allerdings als Lebensform eines modernen und fortschrittlichen Intellektuellen auch reflektierend - weit über sie hinaus, ohne allerdings ein Ziel, eine Projektionsfläche für seine Träume als Ideal in der attribuì quella funzione di comunicazione delle comuni tendenze ideologiche che a Roma era svolta dalle funzioni religiose“. 19 (II, 10), Bd. 3, S. 1102. Das Werk liegt jetzt auch in neuer Ausgabe vor: Goldoni (2004). 20 (III, 8), Bd. 5, S. 811. Den Nachdruck des Textes aus den Opere complete di C. G. mit Maddalenas „Nota storica“ bietet De’ Georgi mit Goldoni (1989). 21 (III, 8), Bd. 5, S. 813. <?page no="25"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 25 Wirklichkeit, finden zu können. 22 Goethes Tasso steht mit den die konkrete Welt übergreifenden Spannungen seines Talents und seiner Ansprüche zwar zunächst noch in der Gesellschaft; zugleich weiß er sich aber bald als radikal isoliert und erfährt sich zunehmend als so gefährdet, dass er zu seiner Rettung am Schluss doch wieder des Antagonisten, eben Antonios, bedarf, der ihm das Überleben garantiert. In beiden Fällen, bei Goethe dramatisch zugespitzter als bei Goldoni, erscheint so die künstlerische Existenz ungesichert, ja gefährdet. Gehalten wird der Dichter hier wie dort nicht von der idealen Vorstellung einer Einheit oder Übereinstimmung von Leben und Werk. Bei Goldoni gilt zwar noch die Überzeugung von der Gültigkeit der alten Weltordnung, bei Goethe bleibt dann nur die Vorstellung vom Reich der Kunst und der Kunstreligion. In solcher Verschränkung der Verhältnisse kann - entgegen allen existentialistischen und unvermittelt soziologisch-sozialkritischen Deutungen von Goethes Werk in den vergangenen Jahrzehnten - heute Interesse an den beiden Stücken und ihrem Verhältnis zueinander gefunden werden. Gegenüber dem um 1750, also zur Zeit Goldonis, überhaupt erst konzipierten „neuen“ Tasso-Bild, dessen Wesensart zunächst in der Formulierung „Sois grand et malheureux“ auf den Begriff kam und bei Goethe zur Überhöhung des Dichtertums in dem Bekenntnis „und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide“ ihren radikalisierten Ausdruck fand, ist das Stück des Venezianers nicht allein eine Komödie, sondern sie endet auch mit der - angesichts der nachfolgenden ekstatisch-dramatischen Lösung bei Goethe - eher bieder anmutenden Sentenz: „ragion fa[. . .] guida all’opre e costumi“ 23 . Diese schon wenig später schlagartig unzeitgemäß gewordene Lösung aristotelisierender Provenienz hat früh und bis heute gültig zu einer Abwertung der Leistung Goldonis beigetragen, die aber in dieser Form eher unangemessen und ungerechtfertigt erscheint. Denn der Venezianer bringt ethisch-zivilisatorisch, also für seine Ansprüche weltanschaulich-ideologisch korrekt, doch nur noch einmal auf den Punkt, was im Ancien Régime als verbindliche Norm für die Konfliktlösung solcher Konstellationen im Leben begriffen wurde und somit auf breiter gesellschaftlicher Basis, auf der Goldonis Theater stand, tolerabel war. Die anthropologische Fundierung der Gesellschaftslehre in Italien war hier immer noch das, was Castiglione im Cortegiano oder Della Casa mit seiner „scienza civile“ in der Zeit der Reorganisation der Gesellschaft während der Epo- 22 Als positiv gezeichnete große Stadt erscheint allerdings auch bei Goethe zwar nicht mehr Venedig, aber Florenz. Darauf ist später noch einzugehen. 23 (V, 15), Bd. 5, S. 842. <?page no="26"?> K LAUS L EY 26 che der katholischen Reform gesetzt hatten. 24 Gerade von Tasso selbst war dieses Thema, wie noch genauer zu zeigen ist, diskutiert worden. Im Zentrum der Pathographie Tassos vor und auch nach Rousseau steht eindeutig die Melancholie; und deren Therapie verläuft hier noch weiterhin und zeitgemäß nach rationalistischen Kategorien, wiederum der aristotelischen Psychologie und Ethik. Goldonis Ausgestaltung des schwierigen Dichters ist somit in diesem Kontext vor allem deshalb interessant, weil er dabei Symptome epochenspezifischer Veränderungen dennoch ins Bild fasst. Einschränkend für unseren Zusammenhang ist aber festzuhalten, dass darin nicht allein die Bedeutung liegt, die Goldoni bei der Entwicklung der Dichtungsthematik zukommt. Goldoni und die Herausbildung der Dichterkomödie bis zu Goethe D ER R AHMEN DER T HEMATIK SEIT M OLIÈRE Seinen Ort in der Literatur- und Kulturgeschichte und seinen Rang findet Goldoni vor allem darin, das Dichterdrama überhaupt erst auf die Höhe der Theaterkunst gebracht und so wichtige Voraussetzungen für die Fortführung bis in die Moderne geschaffen zu haben. Wie seine Widmungsbriefe zu den betreffenden Stücken zeigen, war er sich seiner entsprechenden Leistung durchaus bewusst. Deshalb sind diese Werke zunächst einmal an passender Stelle in die zugehörige Filiation einzuordnen. Erst bei deren Nachzeichnung wird deutlich, dass und wie von Goldoni - in Venedig - die Fäden weitergesponnen wurden, deren anfängliche Verknüpfung in Frankreich, zur Zeit seines großen Vorbilds Molière, geschaffen worden war. Hier schon ging es, wie auch später jeweils erneut, bei den Texten des Theaters über das Theater immer auch um eine ganz aktuelle Krise des Kunstverständnisses, um das konkrete Verhältnis von Wirklichkeit und Kunst, von Leben und Bühne. Als auffallend ist erneut zu betonen, dass bis hin zu Goldoni dazu immer wieder die Lösung in der Form der Komödie vorgeschlagen wurde. 25 Insgesamt fünfmal hat sich Goldoni mit der Thematik Dichter und Dichtung in der Gesellschaft befasst, wobei er dreimal berühmte Dichter in Szene setzt. In den Stücken ist das zentrale 24 Vgl. dazu Ley (1990) und (1984). 25 Wenn Goldoni die entscheidende Stellungnahme zu den für ihn selbst gültigen künstlerisch-dramaturgischen Beweggründen zeitgleich in dem bereits erwähnten Metastück Il teatro comico (1750) formuliert, so verkündet er darin das Gesamtprogramm der Theaterreform, letztlich also die neu gefasste Annäherung der Kunst an die Wirklichkeit, die als Modernisierung begriffen werden wollte. <?page no="27"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 27 Wirkungsmoment immer die Spannung, in der der Dichter und die von seiner Sprachkunst begeisterte, affizierte Mitwelt zur Wirklichkeit stehen. Zum Typ des Dichters ist zudem anzumerken, dass bis auf den eigentlich nur von äußeren Zwängen gebeutelten Terenz, der aber unerschüttert in seiner Liebe und immer ganz bei sich bleibt, die beiden anderen - Molière und Tasso - von besonderer Art sind, bereits erfasst von Melancholie, die auf die bekannte Kombination von Genie und Aberwitz hindeutet, wie sie die Künstler der Moderne auszeichnet. Die dem Erstling Il Molière (1751) wenig später folgende Dichterkomödie Terenzio (1754) ist ein wichtiger, wenngleich für eine theatralische Wirkung eher missratener, auch wenig erfolgreicher Text, der frei erfundene Episoden aus dem Leben des lateinischen Klassikers zum Gegenstand hat. Torquato Tasso (1755) zeigt dann das Ausgreifen auf einen Dichter, der sich in vielen literarischen Genera, v. a. als Epiker, betätigte, der aber außerdem unter den sich ändernden Vorstellungen von Kunst und Künstlertum durch seine schwierige Vita als Identifikationsfigur ganz aktuelles Interesse für die Selbstbestimmung auch des zeitgenössischen Intellektuellen finden sollte. Bei dem so skizzierten Gesamtkomplex, wie er sich in Goldonis Schaffen präsentiert, muss angesetzt werden, um dem Goetheschen Schauspiel den zugehörigen Rahmen zu geben. Auch der Gattungswechsel, den Goethe von der Komödie zu der mit offenerer Bezeichnung als „Schauspiel“ benannten Form vollzieht, kündigt sich bei Goldoni bereits als Tendenz an. Bei Diderot findet sich etwa zeitgleich deren tiefere theoretische Rechtfertigung; mit dem „drame sérieux“ des Franzosen korrespondiert durchaus die ernste Komik dieser Stücke Goldonis. 26 Ergänzend ist noch hinzuweisen auf den Umstand, dass von Beginn an der Goldoni plagiierende Konkurrent, der Abate Pietro Chiari, nach dem vorgegebenen Muster gleichfalls immer rascher eigene Dichterkomödien nachschob: Il teatro comico (1750) findet seine Entsprechung in Il poeta comico (1754), Il Molière (1751) in Molière marito geloso (1753) und Terenzio (1754) schließlich in Marco Accio Plauto (1755). 27 Warum Goldoni in seinen Meta-Stücken zur Dichtung zunächst die Auseinandersetzung mit den ganz großen Vertretern der Komödie in der alten und der neuen Zeit sucht, lässt sich für den Fall Terenz, was allein 26 Nicht unwichtig für die rasche Bekanntheit seines Vorstoßes ist dabei, dass die Dichterkomödien bereits in den frühen Ausgaben des Teatro completo di Goldoni erschienen, so - bis auf Terenzio - in der Turiner Ausgabe von 1756. Die ,Gesammelten Werke‘ liefern das Gesamtprogramm dieses Gattungsbereichs; und nicht nur Heinse wird sie wenigstens in solchem Zusammenhang gekannt haben. 27 Zu diesem immer noch wenig aufgearbeiteten Gebiet vgl. im Sammelband von C. Alberti (1986a): Marchi (1986) und Alberti (1986b). Zudem vgl. Turchi (1985), S. 167- 189. <?page no="28"?> K LAUS L EY 28 die gattungstheoretische Dimension betrifft, die in der Folge der Stücke steckt, einfach beantworten: Den anspruchsvollen Anlass für Terenzio bildet der Prologus, die Form des Prologs, die der antike Komödiendichter vor seine neuen Werke setzte. Terenz nahm als einziger der antiken Autoren jeweils in diesem Vorspann auf dem Theater Stellung gegenüber aller Kritik. 28 Dass dieser Aspekt früher dichterischer Selbstreflexion für Goldoni von entscheidender Bedeutung war, belegt das Widmungsschreiben an den damals überaus berühmten Theaterdichter Pietro Metastasio. Hier bezieht er ausführlich Stellung gegenüber dem Vorsatz, die Komödie - und das am Beispiel einer Dichterkomödie als des eigentlichen Kerns seines Anliegens - weiter zu reformieren bzw. sie überhaupt erst in eine für die Bedürfnisse der eigenen Zeit angemessenere Form zu bringen. Damit ist der Bezugsrahmen benannt, der in noch höherem Maße für den frühen, eher experimentierenden Text Il Molière von Relevanz ist, zumal er sich hier in seiner Genese genauer erkennen lässt. Hatte sich in der Antike der Dichter Terenz mit relativ einfachen Mitteln gegen seine Kritiker zur Wehr gesetzt, so zeigt sich bei Molière dasselbe Phänomen - die Kritik auf dem Theater - in allerdings sehr viel höherer Komplexität. Der konkrete Anlass im Falle des Dichters und Schauspielers aus dem „Grand siècle“ ist der Streit um L’école des femmes, die Komödie, die - anlässlich der Thematik von Frauen und Frauenerziehung - vielleicht mehr noch als die eher weltanschaulichen bzw. politischen Streitereien und Konflikte, zu denen Dom Juan und Le Tartuffe führten, gerade auf den Bereich abzielten, der nach traditionellem Vorverständnis den Kern der Gattung Komödie bildete: die „vita civile“. Also Probleme von „ethos“ und „mores“ in der Öffentlichkeit, hier auch und besonders die Ausgestaltung der Beziehung der Geschlechter zueinander. 29 Verblüffend ist es nun zu sehen, wie Goldoni die Vorstufe der Gattung Dichterkomödie, auf der sein großes Vorbild Molière angesiedelt ist, in das eigene Konzept der Erneuerung des Theaters hineinholt. Zunächst einmal greift er ja bereits auf Molière zurück bei der programmatischen Vorstellung seiner Reformpläne in dem Meta-Stück Il teatro comico. Es ist bekanntlich die Wiederaufnahme von Molières Impromptu de Versailles, und so ist der Zusammenhang zu der umstrittenen Komödie L’école des femmes gegeben, die von Molière eigens auf der Bühne gegen alle Kritik verteidigt wird. 28 Vgl. dazu Suerbaum (1968), S. 7, S. 28. 29 In Il Molière beschreibt Goldoni die Wirkung von L’école des femmes aus der Sicht des „critico ignorante“ folgendermaßen: „La scuola delle donne è affatto senza sale“. Dagegen hält der Freund Molières: „La scuola delle donne si sa perché non piacque; / Sentirsi criticare al bel sesso dispiacque / Contro l’autor pungente le donne han mosso guerra, / Gettata dagli amanti fu la commedia a terra.“ ((III, 3), Bd. 3, S. 1105 f.). <?page no="29"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 29 B OURSAULT ALS W EGBEREITER DER D ICHTERKOMÖDIE Man wusste bis in Goldonis Zeit, dass das Impromptu nur das Ende einer längeren Abfolge von Disputen, Intrigen und Auseinandersetzungen gewesen war. Das Zwischenspiel der mehr oder weniger aggressiven Angriffe der Gegner bietet die gesamte Auffächerung dessen, was Molière schließlich für sein Impromptu einsetzte und was deshalb auch für unseren Zusammenhang wieder in die Erinnerung zurückzuholen verlohnend ist. Bedeutsam und zukunftsweisend war die „Querelle de l’école des femmes“ mit der engagierten Beteiligung verschiedener Akteure deshalb, weil hier erstmals eine auf dem Theater vorgetragene Meinung mehrfach mit dem Theater in großer Schärfe angefochten, bestritten, ja bekämpft wird. 30 Literarische Öffentlichkeit wurde so mit den Mitteln der Literatur, hier dem Theater, hergestellt und aktive Meinungsbildung betrieben. Im Zentrum des literarischen Geplänkels stand ein damals noch junger Dichter, der auch während des 18. Jahrhunderts weiterhin in ganz Europa bekannte und viel gespielte Edme Boursault (1638-1701). Er verfasste 1663 in der „Querelle“ - unter Anspielung auf das horazische Dictum „ut pictura poesis“ das Schauspiel Le portrait du peintre, in dem er Figuren auftreten lässt, die den Gesellschaftsschilderer Molière und seine Thesen aufs Korn nehmen. 31 Das Werk, dessen Untertitel La contre-critique de l’école des femmes. Comédie lautet, ist nicht nur wie die vorangehende Critique de l’école des femmes ein Metastück, sondern so etwas wie der Anfang des Dichterdramas als eigenständiges Genre überhaupt. Denn am Ende beschließen die Theaterfiguren auf der Bühne, dass die Auseinandersetzung, so wie sie von ihnen vorgeführt wurde, nun eigens zum Schauspiel ausgearbeitet und fixiert werden solle - und als dessen Verfasser wird der Autor selbst, eben Boursault, bestimmt. Molière greift für das Impromptu umgehend dieses Muster auf; im Teatro comico verfährt Goldoni entsprechend. 32 30 Vgl. Vogler (1973). 31 Das Stück ist eine Umkehrung des Konversationsablaufs von La critique de l’école des femmes. „In addition to versifying Molière’s prose sketch“ beruht das Vorgehen darauf, „to make the ridiculous characters supporters of Molière and the sympathetic, intelligent characters his critics.“ (Vogler (1973), S. 60). Wenn dabei die „courtisans ridicules“ und Preziösen gegen diejenigen gesetzt werden, die die praktische Vernunft vertreten, ist auch hier „La cour et la ville“ eine der Bezugsgrößen. Zu den über die Tradition der „commedia dell’arte“ laufenden Verbindungen zwischen Goldoni sowie Molière und Boursault, die beide nach einer italienischen Vorlage ihre jeweils Le médecin volant betitelten Komödien verfassten, vgl. Hoffmann (1902), S. 49 ff. 32 Bevor Boursault noch weiter reichende Schlüsse aus seinem so zukunftsträchtigen Einfall zieht, wiederholt er das in Le portrait du peintre erfolgreich erprobte Vorgehen. Als er nämlich von Boileau in dessen Satiren attackiert wird, verfasst er als Ge- <?page no="30"?> K LAUS L EY 30 Neu ist, dass hier nicht nur die Komödie in ihrem Anspruch als „peinture des mœurs“ kritisiert wird, vielmehr wird zugleich damit auch der Dichter, der Verfasser des „speculum vitae“, zum Thema gemacht. So kommt es erstmals - im Verlauf eines konkreten Literaturstreits, einer der zahlreichen „querelles“ mit zeitgeschichtlicher Aktualität, - zur Problematisierung des Künstlers in dieser Form, die ihre eigentliche Gewichtung dann mit Goldoni für die Neuzeit finden sollte. Der Venezianer setzt den Akzent auf die allgemeinere Frage nach der Verfassung und Verantwortung des Dichters in der Moderne, wobei schließlich Tasso als Inbegriff des schwierigen Individuums in der noch immer klar geformten Gesellschaftsverfassung des „Ancien Régime“ erscheint, die erst in der nachfolgenden Generation endgültig ins Wanken gerät. 33 Die für den Ausbau von Goldonis Dichterkomödien folgenreichste Neuerung Boursaults sollten aber die beiden Werke aus dessen letzten Lebensjahren sein. Im Jahre 1690 brachte er das komische Schauspiel Les fables d’Ésope auf die Bühne; dem Stück folgte, noch im Todesjahr 1701 fertig gestellt, Ésope à la cour. 34 Als Ergebnis der anhaltend erfolgreichen Aufführungen beider Stücke wurde der erste Titel bald dem zweiten angeglichen: Ésope à la ville. So ergab sich in der Form der Komödie nach dem damals gültigen kulturellen und kulturpolitischen Vorverständnis ein Gesamtprogramm für den öffentlichen Raum, eben das zivile Leben: „La Cour et la Ville“. 35 Die Titelfigur dieser späten Texte Boursaults ist mit dem quasimythischen Urheber der Fabeldichtung die Poetengestalt, die seit alters her immer wieder in „prä-theatralischen“ Zusammenhängen dargestellt worden war. Denn über ihn - Aesop - ist, bis in die Textausgaben der Humanisten hinein, immer wieder in zu kleinen Szenen ausgebauten genangriff erneut ein seine Kritik vortragendes Stück. Dessen Aufführung wird im letzten Moment durch staatliche Autoritäten zwar verhindert, der Druck bleibt aber zugelassen. Der Text erscheint mit seinem deutlich als metapoetisch charakterisierten Anspruch unter dem Titel La satire des satires (1669). 33 Dass bereits Boursault mit theatertheoretischem Scharfsinn für die Erneuerung, ja Aktualisierung des Theaters operierte, zeigt ein weiterer Versuch, die zeitgenössische Bühne zu beleben. Er beschloss, ein damals sehr bekanntes und als neuartig begriffenes Erzählwerk als modernen Tragödienstoff auf die Bühne zu bringen: Madame de La Fayettes La Princesse de Clèves (vgl. dazu Hoffmann (1902), S. 34 ff., S. 94 f.; 106/ 8). Die innovatorische Tendenz fand aber für den gegebenen Zusammenhang doch klareren Ausdruck im Bereich des komischen Theaters, das ja mehr als die Tragödie auf Gegenwärtigkeit und Zeitgeschmack angewiesen war. 34 In Boursault (1725/ 1970), S. 254 ff. 35 Den so für Aesop vorgegebenen Rahmen umschreibt Boursault: „Quel homme a jamais été plus habile dans la science des moeurs; & qui jamais a imprimé une plus grande haine pour le vice, & un plus grand amour pour la vertu? “ (Widmungsbrief von Les Fables d’Esope in Boursault (1725/ 1970), S. 255). <?page no="31"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 31 Erzählungen geredet worden. Es gab Anekdotensammlungen, die im Ansatz theatralisierte Episoden aus dem Leben Aesops erzählten. 36 Auf diese Entwicklungslinie griff Boursault zurück, und die Wirkungsintention dieser Grundkonstellation bleibt auch bis zu Goldoni erhalten. 37 Einleitungsholzschnitt von Johann Zainers Aesop-Ausgabe (Ulm, ca. 1476) Damit war der Typ des um einen Dichter gebauten Schauspiels erstmals voll etabliert. Boursaults Komödien zeigten allerdings - und auf diesen Aspekt zielt Goldoni in der Widmungsepistel des Terenzio an 36 Vgl. Boursault (1988), S. X ff. 37 Im Zusammenhang mit der „Querelle d’Ésope“ um die Lettre d’un théologien (1694) formuliert Boursault seine Absicht: „Aux Petits comme aux Grands j’aime à rendre justice; / Et je défigure le Vice / Comme j’embellis la Vertu.“ (Boursault (1988), S. XXVI). <?page no="32"?> K LAUS L EY 32 Metastasio - noch ein weitgehend einfaches, ja schlichtes Konstruktionsprinzip: Um eine Anzahl Fabeln, deren Lehren so auch über das Theater als moralische Anstalt in der Öffentlichkeit verbreitet werden sollten, war eine eher dürftige Handlung herumgebaut. Kernelement war hier also bereits eine Folge von dichterischen Texten, deren Wirkung für sich stand. Die Machart der schlichten, aber einen breiten Erfolg sichernden Stücke ist bekannt geblieben unter der Bezeichnung „pièces à tiroirs“, Schubladenstücke. Die literarkritische Dimension, die Boursault ja seit seinem frühen Schauspiel über Molière im Blick hatte und dann weiter verfolgte, ist aber auch hier handlungsstiftend geblieben. Die Titelfigur, Aesop, dessen Fabeln Boursault in eigener Übersetzung neu präsentiert, steht in gewissem Umfang auch für La Fontaine. Dessen Engagement und dessen zwar kaschierte, aber doch konstante Gesellschaftskritik waren ja, nicht zuletzt in der Affäre um den Finanzminister Foucquet, notorisch. 38 So bekommen auch diese Stücke Anschluss an die Wirklichkeit des zeitgenössischen Lebens und das zugehörige Selbstverständnis von Kunst, die Aktualität sucht. G OLDONIS D ICHTERKOMÖDIEN -T RILOGIE Dopo essermi io applicato per qualche anno a correggere, a misura de’ scarsi miei talenti, il comico teatro italiano ed avere in un sì grave impegno procurato immitare il celebre Molière francese, ho finalmente posto lui medesimo in scena, ed ho de’ suoi casi formata una commedia, intitolata ‚Moliere’. Aus Goldonis Widmungsschreiben an den sächsischen Kurfürsten (4.12.1751) 39 Wie Goldoni aus solchen Anfängen, die auch eine Reihe anderer Fortführungen gefunden haben, sein sehr viel stringenteres Konzept von einem Dichterdrama entwickelt, lässt sich nun in doppelter Weise an seinen betreffenden Werken ablesen - in Il Molière zunächst im eher „praktischen“, auf die Schauspieler und die Versfassung ausgerichteten Versuch; in Terenzio dagegen mit einer klaren theatertheoretischen Begründung und allgemein gattungsumfassenden Zielsetzung. In Torquato Tasso kommt es bereits zu einer Art Aufhebung oder Überholung dieses Modells im Sinne der Moderne. Das ganze Unternehmen zielt darauf ab, 38 Das Widmungsgedicht zu seinen Fables beginnt: „Je chante les héros dont Ésope est le père [. . .] Tout parle en mon ouvrage, et même les poissons.“ In der Vie d’Ésope nimmt La Fontaine zur Bedeutung seines Vorbilds ausführlich Stellung (vgl. dazu La Fontaine (1963), Bd. 1, S. 29, S. 13 ff.). 39 Goldoni (2004), S. 169. <?page no="33"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 33 differenziert Formen dichterischen Selbstverständnisses zu präsentieren und so dem neuen Komödientyp eine klare Ordnung zu geben. Mit anderen Worten: Il Molière verfolgt erklärtermaßen vor allem das Ziel, die Rolle der Schauspieler, auf die es bei der Komödienreform ja wesentlich ankam, und ihre Spiel- und auch Sprechkunst ins rechte Licht zu rücken. Gerade dazu eignet sich das Beispiel des französischen „autore / attore“ aus dem 17. Jahrhundert besonders gut. Als wichtige formale Neuerung führt Goldoni in diesem Stück analog zum französischen Alexandriner, dem Vers Molières, die „versi martelliani“ - nach dem Vorbild des Tragödiendichters Martelli - ein. 40 Boursault hatte seine Dichterkomödien, auch bereits Le portrait du peintre, gleichfalls in Versen abgefasst. Schon wenige Jahre später beklagt Goldoni zwar die Mode, sich dieser Form zu bedienen, die so sehr den Geschmack des Publikums getroffen habe, dass sie zur Sucht geworden sei, er hält aber bei den nachfolgenden Komödien dieses Typs doch daran fest. Der Rivale Chiari, für Goldoni eine Art Boursault, der mit seinen schnell nachgelieferten „versi martelliani“ eigene Erfolge verbucht, nennt seinerseits als tragende Absicht der so von ihm genutzten Machart die Erzeugung von „incantesimo che la rason rischiara“ 41 . Das Thema Kunst verlangt auch formal nach ansprechender künstlerischer Umsetzung. In Terenzio geht es Goldoni dann darum, ein kompakt gebautes Stück vorzustellen, das als Grundlage zeitgenössischen, d. h. modernen Komödienschaffens dienen soll. Gerade den Typ Dichter- oder Metakomödie sieht er hier offensichtlich als paradigmatisch, als modellbildend für die Zukunft an. Welche Bedeutung er dieser Reflexion beimaß, zeigt der - dann nicht zur Ausführung gekommene - Plan, außerdem einen Aristofane auf die Bühne zu bringen. 42 So betrachtet werden die beiden frühen Werke noch übertroffen durch Torquato Tasso, da hier das Beispiel einer „commedia di carattere“ gezeigt wird, wie Goldoni sie im Wettstreit mit Molière als Inbegriff zeitgenössischen Theaters vor Augen hatte. Neu ist die Problematisierung des Dichters selbst, der gezeigt wird, wie er mit seinem Werk in ein eigentümliches Spannungsverhältnis zu seiner Lebenswelt tritt. Nur leicht versteckt wird in diesem Werk offenbar auch das Konkurrenzverhältnis zu anderen Theaterautoren, so Chiari und dann Gozzi, thematisiert, deren Erfolge ja für Goldoni selbst bald zum Ausweichen nach Paris führten. 40 Im Widmungsschreiben an den deutschen Fürsten stellt Goldoni diesen Gedanken der „imitatio“ deutlich heraus: „Ho voluto in questa [commedia], a diferenza dell’altre mie, seguire anco lo stile del lodato autore, scrivendola in verso rimato, ad immitazione delli Francesi.“ (Ebd.). 41 Alberti (1986), S. 16. 42 Vgl. Sciugliaga (1755), S. 36 und Spinelli (1885), S. 192. <?page no="34"?> K LAUS L EY 34 Der tiefere Anlass für die Entstehung und den Ausbau der Gattung erklärt sich, wie die Entwicklung um Molière und das noch um vieles gesteigerte Interesse Goldonis zeigen, somit aus der Aufmerksamkeit für den Dichter und seine Kunst, aber auch aus beider Verantwortung für das Leben und die Gesellschaft in der je und je eigenen Zeit. Sie zeigen beispielhaft, wie nach grundsätzlichen Vorgaben schwierige Phasen der Existenz durchlebt bzw. überwunden werden können. Im Falle Molières, wie er dann die Titelfigur der ersten von Goldonis Dichterkomödien wird, verbindet sich ein eigenwilliges künstlerisches Temperament von großer Vitalität und Beweglichkeit mit einer ebenso eigenwilligen und damit anfechtbaren Lebensform. Allein die etwas unkonventionellen erotischen Verhältnisse im Hause Molières, mit den beiden Schauspielerinnen Béjart als Ehefrau, Tochter und Geliebter, boten für die auf die Aufklärung zustrebende Zeit hinreichend Stoff zu moralisch-ethischer Auseinandersetzung, wie sie ja immer zentraler Gegenstand der Gattung Komödie war. Goldoni flicht um seine - nur bedingt nach dem Leben geformte - Kunstfigur Molière eine Intrige, in der Probleme des Liebes-Lebens mit solchen der Kunst, hier durchaus treffend der Auseinandersetzung um Le Tartuffe, verknüpft sind; es könnte letztlich aber ebenso eine der anderen „Querelles“ - um L’école des femmes oder um Dom Juan - sein, wenn ihm nicht die Thematik der scheinheiligen Verstellung für die eigene Gegenwart als die wichtigere erschienen wäre. Das für den Betrachter von heute eher harmlos wirkende Tändeln, auf das Goldoni das unkonventionelle Erleben Molières zurückschraubt, erklärt sich aus den Vorgaben der gewählten Theaterform. Die Lösung, die gefunden wird, ist durchaus für ihre Epoche gattungstypisch und im Rahmen des Vertretbaren radikal. Il Molière wurde 1751, im Anschluss an das Reformjahr, erstmals in Turin aufgeführt, wo das Stück großen Erfolg hatte, der sich dann auch in ganz Italien wiederholte. In der Handlungsbildung zeigt diese Komödie gegenüber Boursaults „pièces à tiroirs“ eine viel ausgebautere Strukturierung. 43 In diese Geschichten sind Aktionen um die skandalisierte Aufführung des Tartuffe eingewoben, der in Italien über lange Zeit weitgehend verboten gewesen war und damit in gewisser Weise Reaktualisierung findet. Die Figur Don Pirlone ist Goldonis Pendant zu Tartuffe als „impostore“ und „ipocrito“. Skandalträchtige Verhaltensmuster, Molières linzenziöse Liebe und Tartuffes Heuchelei, stehen so gegeneinander, wobei die eine durch die andere in ihrem Gewicht abgegrenzt, nicht relativiert wird. 43 Zur Herkunft der Episoden vgl. Truchet (1974). Zum Genre der herabsetzenden Vita vgl. Anonymus (1688/ 1870). <?page no="35"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 35 „I L M OLIÈRE “: EINE NACHGESCHOBENE A USEINANDERSETZUNG UM „T ARTUFFE “ Die überaus große Bedeutung, die Goldoni bereits hier dem Ausbau dieses Komödientyps nach französischem Muster zumaß, zeigt wiederum die Widmungsepistel. Angesprochen wird Scipione Maffei, der als Erneuerer der italienischen Tragödie galt und dessen Merope von Voltaire als Muster für die eigene Tragödie gleichen Titels gewählt worden war. Im Vorwort an die Leser heißt es über das Ziel von Il Molière: Io mi sono ingegnato di imitare il valoroso Autore francese, e far gustare il carattere dell’ impostore agli Italiani, con quella moderazione che è tollerabile sulle nostre scene, onde s’abbia una qualche idea della più bell’opera del decantato Molière. 44 Zur Thematisierung des Dichters als Mensch und Künstler wird im Stück von der Titelfigur Molière gesagt, er lebe nicht allein für sich, sondern er fühle eine Verpflichtung der Allgemeinheit gegenüber: Un uom che ha il peso grave di dar piacere altrui, Non può sì lietamente passare i giorni sui Voi altro non pensate, che a divertir voi stesso; Viver senza pensieri a voi solo è permesso. 45 Leandro, hier der Gegenpart, bezieht stattdessen mit Entschiedenheit die Position des Menschen im Alltag. Er lebt für sich in den Tag: „Viver, viver vogl’io. Filosofo non sono.“ Demgegenüber unterstreicht Molière erneut seine vom Aristotelismus getränkte Weltsicht als Künstler, der nicht nur unterhält, sondern auch belehrt: „E ben chi viver brama, dee usar moderazione.“ 46 Der Bezugsrahmen im Leben ist für Leandro vorgegeben durch das Thema Wein, durch „amore“ für Molière. 47 Goldonis Molière umreißt schließlich auch die eigenen Leistungen als Dichter von Komödien, wobei der Autor Goldoni sich hier zugleich des Vorgängers als Sprachrohr eigener Vorstellungen bedient. Das französische Theater zeigte sich - so seine Sicht im Rückblick - bis ins 17. Jahrhundert als wenig kultiviert: Di Francia era, il sapete, il comico teatro In balia di persone nate sol per l’aratro, Farse vedeansi solo, burlette all’improvviso, Atte a muover soltanto di sciocca gente il riso, 44 Prologo, Bd. 3, S. 1078. 45 (I, 1), Bd. 3. S. 1084. 46 Ebd. 47 Der Schluss von Torquato Tasso (Bd. 3, S. 848) bietet eine komplexere Variation dieses Arguments. <?page no="36"?> K LAUS L EY 36 E i cittadin più colti e il popolo gentile L’ore perdean preziose in un piacer sì vile. 48 Erst als Molière in der Ära des Sonnenkönigs zur Feder griff, änderten sich die Verhältnisse: Al comico teatro died’io la mano e il cuore, A riformar m’accinsi il pessimo costume, E fur Plauto e Terenzio la mia guida, il mio lume. 49 In diesem Rahmen lässt Goldoni den Ablauf von Il Molière sich entwickeln: Der schon alternde Dichter liebt die junge Béjart, die ihn heiraten will - ständig überwacht von der misstrauischen Mutter, mit der er bislang in festen Verhältnissen lebte. Liebe und Eifersucht stoßen so aufeinander und können nur durch großes Geschick und rasche Wendigkeit, durch ein artistisches Spiel mit Schein und Wirklichkeit, unter Kontrolle gehalten, aber auch einer - so unerwarteten - Lösung zugeführt werden. Zur Ablenkung der Mutter und „Hauptfrau“ und, damit die jungen Liebenden zusammen sein können, wird wiederholt eine Theaterprobe fingiert bzw. extemporiert. 50 Deren Gegenstand, das riskante Schauspiel Tartuffe, liefert zugleich Aufklärung über eine andere Form der Hypokrisie, die - gegenüber aufkeimender individueller Liebe - als tatsächlich die Gemeinschaft schädigend erscheint. Das Publikum rechnet - jedenfalls ist das so intendiert - beide Spielebenen gegeneinander auf. Der Dichter, der die öffentlichen Missstände geißelt, grenzt sein eigenes problematisches Verhalten von solcher Kritik ab, ja er setzt es als Spielelement zur Verschleierung seines Handelns ein. Denn Don Pirlone, hier der „Tartuffe“, bringt zusätzlich die Affekte durcheinander. Er gefährdet durch seine Verlockungen, Lügen und Intrigen die Aufführung von „Molières“ gefährlich kritischem Stück und drängt so den Dichter an den Rand der wirtschaftlichen Katastrophe. Am Schluss aber gelingt diesem und seiner „Stieftochter“ und neuen jungen Frau ein Überwinden aller Schwierigkeiten. Die Krise der Erotik ist - so scheint es durch weltkluges und geistreiches Verhalten gelöst. Die schlechten Folgen der Hypokrisie für die Gesellschaft dagegen werden gebrandmarkt. Der Künstler ist seiner Aufgabe gerecht geworden, die Kunst kann ihren Zweck erfüllen. 48 (I, 6), Bd. 3, S. 1090. 49 (I, 6), Bd. 3, S 1091. 50 Wenn auch noch nicht konkrete Stellen aus Tartuffe angeführt werden, deutet sich doch hier bereits die Werkbetonung und der Zitatcharakter an, der dann in Torquato Tasso handlungsauslösend und die weitere Entwicklung des Künstlerdramas charakterisieren wird. <?page no="37"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 37 Wie bereits gesagt, stehen die Schauspieler und die Schauspielkunst in dieser Komödie im Zentrum. Es wird gezeigt, was Rhetorik und Psychologie, geschicktes Erkennen und Eingehen auf Situationen, vermögen. Die zentrale Aufgabe ist denn auch, unter den Vorgaben der „scienza civile“ zugleich zu zeigen, wie ausgefallene Lebenssituationen, so in der Liebe, nicht nur entstehen, sondern ausgelebt werden, ohne dass es zu größerem Schaden, wenigstens für die Allgemeinheit, kommt. Es deutet sich an, wie Goethe im Tasso gegen solche zwischenzeitlich als nur an der Oberfläche verharrend erkannte und kritisierte Verhaltensmuster samt deren lebensweltlicher Verankerung wird Einspruch erheben können. „T ERENZIO “: S TANDESGRENZEN UND IHR A USGLEICH BEI EINEM ANTIKEN K OMÖDIENDICHTER Auch das nächste Beispiel, Terenzio, zeigt aus - hier in der Sache begründeter - historischer Distanz die involvierte Dichterpersönlichkeit im Konflikt mit der Kunst und mit dem Leben. Der von Karthago in Nordafrika als Sklave nach Rom gekommene Terenz hat sich als Komödiendichter einen solchen Namen gemacht, dass sein Herr, der Patrizier Lucano, bereit ist, ihn als libertus freizulassen. Ein Nebenmotiv dabei ist, dass er glaubt, Terenz sei verliebt in seine Adoptivtochter Livia, die den Dichter als angesehenen Bürger gern heiraten würde. Terenz liebt aber die griechische Sklavin Creusa, die ihn wiederliebt. Mit dieser hat jedoch Lucano, der auch ihr Herr ist, eigene Pläne. Das Ende der komplex gebauten Intrige des Stücks ist, dass Terenz, der Dichter, mit Witz seinen Willen durchsetzt. Er bekommt nicht nur die Freiheit, sondern auch Creusa als Frau. Durch den Einsatz des Geldes, das er für seine Dichtkunst gewonnen hat, kann er sie freikaufen. Damit macht er sich aber zugleich zu einem mittellosen Mann, der einer Patrizierin wie Livia nicht ebenbürtig wäre. Hier wird ein Handlungselement verarbeitet, das ähnlich in Lessings Minna von Barnhelm wiederkehrt. Die allgemeine „générosité“, wie sie für die Welt der klassischen Antike behauptet wird, führt dazu, dass das Manöver des zur Beförderung des Richtigen eingesetzten „inganno“ erfolgreich ist und in Harmonie enden kann. Den Blick in das alte Rom 51 bietet Goldoni mit Terenzio, um deutlich zu machen, auf welcher Grundlage sein Komödienmodell beruht und wie es sich aus diesen Quellen weiterentwickeln lässt. Sie liegen, was ja bekannt ist, aber - wegen der mehrfachen Erwähnung - offenbar neu ausge- 51 In Terenzio rekonstruiert Goldoni, wie er im Vorwort mitteilt, antike Sitten nach der gelehrten Studie von Pittisco (Bd. 5, S. 691). Bei seinem Bestreben, entgegen der einfachen „pièce à tiroirs“ einen klar strukturierten Handlungsablauf zu erstellen, grenzt sich Goldoni auch in dieser Hinsicht etwa von den Aesop-Komödien Boursaults ab, die anachronistisch bzw. ahistorisch sein wollen. <?page no="38"?> K LAUS L EY 38 lotet werden soll, in Griechenland, der Heimat Creusas. Die Anfänge, für die hier Aristophanes steht, der auch die Titelgestalt der dann nicht mehr geschriebenen Komödie sein sollte, sind von Rom, von Plautus, assimiliert und dort schließlich von einem Nordafrikaner, Terenzio, zu allgemeiner Geltung in der damals zivilisierten Welt gebracht worden. Was so in der Antike vorgelebt wurde, könnte auch in der Moderne als gültig angesehen werden. Schon in Il Molière hatte Goldoni entsprechend argumentiert. Nun führt also er vor, wie er sich das Funktionieren einer auf der uralten Tradition neu aufbauenden modernen Komödie vorstellt. Er begreift diese Ausformung als deshalb auf der Höhe ihrer Zeit stehend, weil sie die wahre, wie er als Aufklärer meint, unveränderliche Natur des Menschen in treffender Weise nicht nur zu prägen, sondern dann auch immer wieder zu korrigieren weiß, nur unter Wahrung der jeweils verschiedenen historischen Ausprägungen. Entsprechend agieren die Personen in Terenzio. Alle Betroffenen zeigen hohe moralische Qualitäten; allein der Dichter steht an Weitsicht noch über ihnen. Wenngleich sie immer wieder, erwartbar, von ihren Affekten zu Egoismus, Neid, Eifersucht gebracht werden, sind sie doch durchaus fähig und bereit, diese zurückzudrängen, wenn sie nur durch Vernunft zu guter Einsicht gebracht werden und die allgemeine Kontrolle der Gemeinschaft aufrechterhalten bleibt - letztlich immer noch nach dem klassischen Programm des alteuropäischen Humanismus. Als psychologisch-anthropologische Grundlage für die zugehörige Komödientheorie erscheint denn auch wieder das bekannte Muster der Kontrolle der Affekte durch Rationalität: Sorte non cambia in seno degli uomini il costume; Ciascun de’propri affetti segue a talento il lume. Due schiavi a un laccio stesso ridotti in servitute, Uno l’invidia segue, e l’altro la virtute. 52 Der hohe Anspruch des Stücks erklärt die distanzierte Form des Zugriffs und das Durchhalten der wenig zeitgemäßen Psychologie der Protagonisten. Terenzio will auf dem Niveau der Gegenwart im Blick zurück die Komödienerfahrung der Moderne mit der der Antike synthetisieren. Insofern wiederholt sich nach Goldonis Sicht die Geschichte durchaus. Er stellt die dabei doch behauptete Neuheit seiner Komödie so dar, dass sie aus dem Alten lebt, und verweist zum Beleg seiner „translatio“-These auf die bereits in der Antike praktizierte Aufeinanderfolge der Komödienformen, die in der Typologie von palliata und togata gefasst ist. Das Argument von der Gleichheit aller Menschen wird entsprechend vorexerziert: 52 (I, 2), Bd. 5, S. 698. <?page no="39"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 39 Che un Comico i viventi può criticar coi morti Di Plauto e di Terenzio, pregiati dai Romani Erano gli argomenti delle Commedie estrani, Prendendo dalla Grecia i Comici soggetti Per criticar di Roma i vizi ed i difetti. Fur le passioni umane le stesse in ogni etate; Son tutte le nazioni da un sol principio nate: Sol variano col tempo i riti e i costumi. De’ quai a chi succede son necessari i lumi. 53 Das Stück versteht sich darüber hinaus aber zugleich als Überwindung der gängigen Schemata des komischen Theaters, wobei Goldoni erklärtermaßen auf die antiken Texte zurückgreift. 54 Im Vorwort, „L’autore a chi legge“, teilt er unter explizitem Hinweis auf die kritischen Stellungnahmen des antiken Vorbilds mit: Ho cercato bene far precedere un Prologo alla Commedia, non tanto per uniformarmi in questo all’uso di Terenzio medesimo, quanto per ispiegare al popolo la mia intenzione intorno ad una commedia estraordinaria al sistema nostro presente [. . .]. 55 Die Strategie der Erneuerung, die er dann formuliert, greift wesentlich Ideen der in Frankreich geführten Diskussion auf und nimmt im Kern Diderots „drame bourgeois“ vorweg. Sein Vorgehen in Terenzio begründet Goldoni ausführlich im bereits mehrfach erwähnten Widmungsschreiben an Pietro Metastasio, den er als Erneuerer einer anderen Gattung, als „celeberrimo restauratore del Melodramma“ 56 , feiert. Die Verbindung von Tragödie und Komödie, wie er sie in seinen Libretti praktiziert habe, sei, so hält Goldoni als wichtigsten Aspekt fest, im gängigen Formenkanon unbekannt. Durch ungewöhnliches Kombinieren habe er erreicht, das eigentliche Ziel des Theaters, die hohe Intensität der Gefühlsregungen und ihre abschließende Ordnung und Besänftigung, in einzigartiger und überzeugender Weise neu zu gestalten: „Da chi mai le passioni furono meglio trattate, con più verità e con più forza? “ 57 53 Prologo, Bd. 5, S. 695. 54 Explizit Bezug genommen wird in der Exposition auf zwei Komödien (Eunuch und Phormio); zur Vorgabe der Handlung heißt es: „L’invenzione [. . .] è tratta dalle Scene Comiche di Terenzio medesimo“. (Vorwort, Bd. 5, S. 691). 55 Vorwort, Bd. 5, S. 691. 56 (Bd. 5, S. 686). Zum Kontext und zu einem sich allerdings nur auf Komplimente beschränkenden Antwortbrief Metastasios an Goldoni vgl. Goldoni (1911), Bd. 11, S. 397 f. 57 Bd. 5, S 687. <?page no="40"?> K LAUS L EY 40 Dem von Metastasio gesetzten neuen Maßstab habe er, Goldoni, auf der wenngleich niedriger angesetzten Stufe nacheifern wollen und so einen eigenen Weg gefunden: ritrovando un calle aperto per la via più umile della Commedia, per quella ho cercato inoltrarmi, non perdendo per ciò di vista la vostra guida. 58 Das zentrale Anliegen seiner Imitatio Metastasios hebt er selbst so hervor: Vi troverete in esso un non so che di Drammatico, tratto dalla vostra scuola, in me sofferto dal Popolo, in grazia dell’umile titolo di Commedia. 59 . Die durch dramatische Steigerung und Intensivierung gesuchte hohe Spannung soll durch ein ausgeprägtes Gefälle im Handlungsablauf entstehen, worin sich die neuartige Mischung der Gattungen, das Ineinander von Tragischem und Komischen, begründet. Psychologisch bedeutet das aber zugleich, dass extreme Charaktere samt ihrer Existenzbedingungen - und damit Tasso als prominentes Beispiel der Moderne - zu Protagonisten des neuen Theaters gemacht werden: Se troppo per Commedia eroiche le passioni, Per me vuole il Poeta addur le sue ragioni. L’esige l’argomento; lo vuol l’inusitata Opra, che il titulo porta di Commedia togata, Mista di personaggi bassissimi e d’eroi, Che fra moderni e antichi ha pur gli esempi suoi: Al che poi facilmente, volendo, si rimedia, Lasciandola l’Autore chiamar Tragicommedia. 60 In dem klassisch-antiken Rahmen findet er die Mischung der Stände dadurch, dass er Sklaven und Patrizier zusammenbringt. Als Gegengewicht zu den gesellschaftlichen Unterschieden steht, dass der Untergebene ein Dichter ist und mit seinem Talent bzw. seinem Genie alle anderen übertrifft. Wenn Goldoni das Spannungsmoment, die Aufladung der Komödie zum Drama, als das vorrangige Motiv der Gattungsveränderung bezeichnet, erklärt sich allein daraus das nachfolgende Projekt. Die mit Metastasio geteilte „predilezione per il Tasso“ 61 kündigt denn auch das Stück an, das eben im Schwanken zwischen Unglück und höchster Wertschätzung, wie es die Vita des Dichters in exemplarischer Form bereithält, 58 Bd. 5, S. 688. 59 Ebd. 60 Prologo, Bd. 5, S. 696. 61 Bd. 5, S. 1376. <?page no="41"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 41 den gesuchten Wirkungskern dramatischer Intensität bietet, wobei darüber hinaus musikalische Aspekte Berücksichtigung finden. Terenzio als Zeuge der Antike ist - im Unterschied zu Tasso, der für das Denken und die Lebensform der Moderne in all ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit stehen wird, - noch mit sich eins, ungebrochen in seiner Zeit. 62 Die einfache Formel, nach der hier gehandelt und die erst für Torquato Tasso kompliziert wird, lautet: Amo la libertade, amo la donna bella Ma questa delle due mi piace più di quella. 63 Unter Berufung auf die Komödie Phormio wird über die Liebe geredet, die die Freiheit des Menschen und die Bereitschaft, für sie zu kämpfen, voraussetzt: La virtù dell’eroe credo consista in questo: Nel tollerar costante il suo destin funesto. Morir per l’onor suo, morir pel suo paese, È nobile virtute che le grand’alme accese; Ma sprezzan l’alme forti della fortuna il gioco: Vile è colui che morte si dà per così poco. 64 Den Rahmen der wie immer ausgehenden Lösung gibt der antikische Glaube an die Festigkeit des eigenen Charakters: „Ma l’alma d’un uom dotto comanda, e non è serva.“ 65 Terenzio, der Fremde aus Afrika, bleibt - anders noch als Tasso - Sieger im Wettstreit um Ruhm und Ehre, als er sich bei der Liebeswahl nicht für die Patrizierin Livia, sondern für die - wie er versklavte - Griechin Creusa entscheidet und so auch für sie die Freiheit erreicht. Welchen Weg er, wie andere „anime franche“, dabei einzuschlagen gedenkt, teilt er zu Beginn mit: Spero troncar il laccio, [. . .] Con arte, con ingegno, non colle stragi e il sangue. 66 62 Zu seiner charakterlichen Anlage bemerkt Goldoni im Vorwort: „non si dipinge per un Eroe, ma per un valente Poeta comico, che sapeva convertire a suo pro le belle invenzioni, colle quali si guadagnò la stima di tutta Roma.“ (Bd. 5, S. 692). 63 (I, 3), Bd. 5, S. 700. 64 (I, 3), Bd. 5, S. 701. Dabei gilt: „Insite per natura son le passioni al cuore, / Non vagliono ragioni per vincere l’amore.“ ((I, 3), Bd. 5, S. 700). 65 (I, 6), Bd. 5, S. 704. 66 (I, 3), Bd. 5, S. 700. Ein kontroverses Element, wie es für Goldonis Komödienkonzeption wesentlich ist, zeigt sich bei der Abgrenzung des Sklaven Terenz, dessen Vernunftorientierung sich von der der Römer unterscheidet, wie am Beispiel des Freitods deutlich wird: „serbar vo’ la vita, finché la serba il cielo. [. . .]. Folle è colui <?page no="42"?> K LAUS L EY 42 Der antike Dichter, der sich so den Gefährdungen des Schicksals widersetzt, hat noch die Illusion, für die Ewigkeit zu sprechen: Scrivo all’età presente, scrivo all’età future; Dell’opere si parli; e non delle avventure. 67 Klar erkennt Terenzio allerdings auch die Zwänge, unter denen er lebt - neben der Versklavung die unzulässig eingeforderte Liebe der gesellschaftlich hoch stehenden Livia, was ja eine andere Form der Nötigung, ja der Gefangenschaft darstellt, die dann leicht verändert in der Moderne zum eigentlichen Ort der Auseinandersetzung wird. Entsprechend reflektiert die Patrizierin Livia noch, ob sie sich für die Freiheit des Terenzio einsetzen soll: „Ma libero, che certa mi fa ch’ei sia mio sposo? “ 68 Ihre Bereitschaft, der Liebe selbstlos nachzugeben, kennt Grenzen: Ma donna che parteggia coi servi, ha poca stima. Nemmen dirgli a me lice: ardo per te d’amore; Troppo si avvilirebbe d’una Romana il cuore. 69 In der Zuneigung und Treue Terenzios zu Creusa findet diese machtbetonte Haltung ihr Gegenbild. Nur seine Geistesgegenwart, seine Ingeniosität als Künstler, bewahrt ihn davor, Opfer Livias zu werden, die für sich entschieden hat: „Ti voglio mio, ma voglioti in catene.“ 70 Wenn das Stück dennoch mit freundlicher Ausgeglichenheit endet, ist in noch positiver Fassung hier bereits das Kernthema angeschlagen, das Goldoni in Torquato Tasso behandelt und das Goethe in seinem Schauspiel radikalisiert: die Problematik von Poesia, Amore / Onore und Libertà, von Künstlertum und Bewunderung, von Liebe und Ehre sowie von Freiheit und Zwang und Unterwerfung. „T ORQUATO T ASSO “ ODER DIE V ERWIRRUNG VON K UNST UND L EBEN In Torquato Tasso führt Goldoni, zunächst nur vordergründig wirkend, vor, wie der Dichter sich schuldlos in einer nicht von ihm zu verantwortenden Intrige verfängt. Den seiner Sonderstellung entspringenden che affretta suo fin colla sua mano: / In altro mi conformo; in ciò non son Romano.“ (Ebd). 67 (I, 3), Bd. 5, S. 701. 68 (I, 7), Bd. 5, S. 706. 69 (I, 7), Bd. 5, S. 707. 70 Ebd. Das Motiv, das sich hier als Anspielung auf die Aristoteles-Phyllis-Legende lesen lässt, kehrt in Torquato Tasso als konkreter Hinweis auf Unfreiheit und Gefangenschaft wieder. <?page no="43"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 43 Gefährdungen des Lebens und der eigenen Natur kann er unter den Bedingungen der Moderne nicht ausweichen. 71 Die so betriebene Weiterentwicklung der Dichterthematik bleibt eingelassen in den von zeittypischer Liebesauffassung vorgegebenen Rahmen. Die - in ganz unterschiedlich ausgestalteter Intensität ausformbare - Konzeption von Erotik definiert sich, wie ausgeführt, immer auf der Grundlage der Vorstellung vom Goldenen Zeitalter. Das bereits mehrfach erwähnte Chorlied aus Tassos favola boschereccia, dem Schäferspiel Aminta, formuliert diesen Idealentwurf. Im Wechselspiel mit dem von ihm provozierten Gegentext aus Guarinis Il pastor fido gibt es den Rahmen des Argumentierens vor. Noch in der Zeit Goldonis 72 bietet dieser Kontext den Schlüssel für das Funktionieren solcher Liebeskomödien. 73 Auf solchen Zusammenhang bezieht sich nun das Bild von Tasso als „poeta grande e infelice“, der als von hoher künstlerischer Potenz bei melancholischem Temperament gezeichnet ist, was wiederum das Problem der Stellung von Dichtung und Dichter in der Gesellschaft neu aufwirft. Dabei offenbart sich der Aspekt der Erzeugung von Illusionen, zu der der Künstler fähig ist, als ein Bereich, der mit der Wirklichkeit in einem eigentümlich gespannten Verhältnis steht, der aber für sich zunehmend größere Aufmerksamkeit beansprucht. Nach dem skizzierten, in der frühen Neuzeit noch weitgehend als verbindlich angesehenen, wenngleich mehr und mehr als brüchig erlebten Grundmuster ist das Sinnangebot von Goldonis letzter Dichterkomödie, wie auch das von Goethes Schauspiel, angelegt. Wahre Liebe wird danach in vager Allgemeinheit gedacht als ewiges Glück, das stattfindet unter der Voraussetzung von Gleichheit und umfassender Einheit. Wenn also das - spielerisch auch als Utopie wahrnehmbare - Traumreich erotischer Erfüllung im Goldenen Zeitalter bzw. in Arkadien angesiedelt ist, so geht es bereits in Goldonis Tasso zugespitzt doch wieder um die auch schon für die beiden früheren Dichterkomödien konstitutive Polarität von „Amore“ und „Onore“, die hier vollends in Kollision zueinander gebracht werden. Vornehmlich aus Gründen der Spannungserzeugung, wie es in der Terenzio-Widmung an Metastasio hieß, wird dann auch das „lieto fine“ verweigert. Angesichts solcher Absicht sind wie von selbst die Intrigen 71 Hier wird greifbar, was die mit Metastasio geteilte „predilezione“ Goldonis für den unglücklichen Tasso im Kern ausmacht. In ihm haben sie ein wichtiges Modell für die Reform der zeitgenössischen Bühne gefunden. 72 Verwiesen sei erneut auf den Stich Moyreaus, der die Möglichkeiten des Spielens mit Illusionen zwischen Ideal und Wirklichkeit zeigt. 73 Zugleich macht das die schwindende, ja ausbleibende Attraktivität des Werks für die spätere Zeit verständlich. Die anfangs sehr beliebte Komödie ist seit dem späten 19. Jahrhundert nur noch selten aufgeführt worden. <?page no="44"?> K LAUS L EY 44 ausgespart, die konkrete, etwa durch „inganno“ vorgeschlagene ad hoc- Lösungen möglich machen könnten. Bis hin zu Il Molière und unter etwas anderen Voraussetzungen auch in Terenzio wurde immer nur eine kurzfristig plausibel scheinende Ausräumung von Konflikten vorgeführt; das Endgültige wurde in den Traum der fernen Zeit des Ideals verschoben. Der von Guarini als Pendant, mehr denn als Entgegnung zu Tassos Chorlied konstruierte Gegensatz, dass immer das, was erlaubt ist, auch gefällt, erscheint so als nur scheinbar. Beide Meinungen laufen - da sie ja auf ein und dasselbe Wunschbild zu beziehen sind - auch eben darauf hinaus. Sie sind nichts als verschiedene Wege oder Sehweisen zu demselben - unerreichbaren - Traumziel. Der erotische Gegensatz als unaufhebbarer Konflikt, der allerdings bislang durch eine traditionskonforme Projektion auf das Goldene Zeitalter immer wieder scheinbar gelöst werden konnte, bleibt - und das ist neu in Torquato Tasso - hier offen. So werden im Gegenzug die Kräftepotentiale und Machtstrukturen aufgedeckt, die einem freien Ausleben erotischer Wünsche und Begehrlichkeiten im Wege stehen. Die auf Seiten aller Beteiligten geweckten Emotionen und Illusionen finden ihre Grenzen durch die Gegebenheiten und Zwänge in der Wirklichkeit und ihre konkreten Gewalt- und Bewusstseinspotentiale. Mit der Verweigerung eines vordergründigen Konfliktausgleichs verzichtet Goldoni deshalb in Torquato Tasso auch auf den Einsatz entsprechender Instrumentarien, wie er sie zuvor benutzte. Es gibt jetzt keinen kleinräumigen Inganno, auch das Geld spielt keine Rolle. Gleichwohl sind alle an der Intrige Beteiligten von Affekten und Eigensüchten bewegt, mit denen das Liebesideal konfrontiert wird. Dieser Tasso, der in lockerer Annäherung an die historische Dichterpersönlichkeit in Szene gesetzt wird, scheint mit seiner Dichtung zu spielen, jedenfalls geht es ihm bei seinen sprachkünstlerischen Hervorbringungen eigentlich ebenso sehr oder gar mehr um das Wesen der Liebe und die dichterische Rede darüber als um das Liebesobjekt, die konkrete Adressatin. 74 Nur durch die Gleichheit der Namen - die drei Frauen heißen alle Eleonore - kommt es zu der vom Dichter selbst geplanten Verwirrung. Dabei erzeugt er ungewollt insofern doch einen das Drama seines Scheiterns auslösenden „inganno“, als mehrere Personen sich direkt oder indirekt von seiner Liebesrede affiziert fühlen. 74 Hier zeigt sich - wie eigentlich auch schon bei Molière, auf dessen bekannt schwierige amouröse Verhältnisse in der Komödie Bezug genommen wird - das Bemühen Goldonis um Authentizität bei der Darstellung von Tasso als künstlerischer Persönlichkeit. Sein Bild war vor allem bestimmt von der Bewunderung für die großen Dichtungen, aber auch für die gelehrten Abhandlungen, so den in Bezug auf die vorliegende Thematik einschlägigen Dialog Il Molza, overo dell’Amore. Alle diese Texte waren anhaltend bekannt. <?page no="45"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 45 Konkreter Anlass in diesem Stück, in dem die Dichtung Tassos von Beginn an eine entscheidende Rolle zugemessen bekommt, ist ein vom Dichter selbst verfasstes Madrigal, das - in bukolischer Fiktion - die Liebe zu einer Dame besingt. 75 Eher zufällig gelangt es in die Hand des Ehemannes der zweiten von den drei Frauen namens Eleonore, wodurch dessen Verdacht und heftige Eifersucht erregt werden. Am Schluss aber hat allein der Dichter den durch sein Talent ausgelösten Schaden auszuhalten, die Eifersucht des Herzogs nämlich, der der ersten Eleonore erotisch verbunden ist. Davor rettet ihn zuletzt nicht das bürgerliche Leben, das ihm in Venedig angeboten wird, sondern allenfalls der ehrenvolle Ruf nach Rom, wo er zum Dichter gekrönt werden soll. Allerdings wird es dazu, wie das gebildetere Publikum weiß, wegen seines frühen Todes nicht mehr kommen. Das neben der allgemeinen Thematik künstlerischer Wirkungsprozesse damit verbundene konkretere dichtungstheoretische Moment, das dann bei Goethe auf den Kampf des Dichters um die wahre Form seines Epos und auf die Abgrenzung zu Ariost hinausläuft, ist bei Goldoni in den Szenen des komischen Crusca-Anhängers ausgestaltet. In Goethes Schauspiel liegt die Problematik dagegen ganz im Rahmen der großen Dichter, ihrer Kunst und der Weltliteratur. In der Zusammenschau der drei Stücke über die berühmten Dichter zeichnet sich für den von Goldoni etablierten neuen Komödientyp eine klare Konstruktionsabsicht ab, die sich zunehmend deutlicher werdend aus den Werken herauspräparieren lässt. Einer Liebesintrige, in die der Dichter jeweils verwoben ist, angeschlossen erscheint sein gesellschaftlich-lebensweltliches Problem, das beinahe mehr noch in den je und je aktuellen künstlerisch-ästhetischen Bereich hineingehört. Über die Unberechenbarkeit der Affekte, die alle trifft, kommt dann noch die Konfrontation mit der Macht und damit verstärkt der Politik hinzu. Was schließlich in Goethes Tasso als neue Dimension zu der Antithetik Torquato - Antonio führt, ist so bei Goldoni zumindest angelegt. 76 Es bleibt aber hier noch 75 Das Madrigal Cantava in riva al fiume . . . ist abgedruckt in Tasso (1952), S. 778. Noch hier vermerkt der Herausgeber: „In Tirsi si adombra ancora il poeta, che canta Eleonora d’Este.“ Goldoni verweist mit zahlreichen Zitaten auf Tassos Gerusalemme Liberata, so schon in der Introduzione von 1754 (Bd. 5, S. 605); im 1. Akt werden nacheinander u. a. folgende Oktaven zitiert: Bd. 5, S. 3; Bd. 12, S. 1; Bd. 16, S. 25; Bd. 13, S. 67; im 2. Akt: Bd. 16, S. 1; im 3. Akt: Bd. 7, S. 13; Bd. 2, S. 67; Bd. 16, S. 34; Bd. 2, S. 81; Bd. 16, S. 34; Bd. 6, S. 32; im 4. Akt: Bd. 16, S. 65; Bd. 2, S. 89; Bd. 20, S. 125f; Bd. 2, S. 23; im 5. Akt: Bd. 4, S. 25. Das Verfahren, das Goethe in seinem deutschsprachigen Kontext nur sehr vermittelt praktizieren konnte, bleibt in der italienischen Dichtung bis ins spätere 19. Jahrhundert konstitutiv. 76 Als scheinbar traditionelle Hofkritik wird dieser Aspekt von dem Venezianer Tomio in einem Lob für seine Heimatstadt als Republik angeführt: „S’ha dito che a <?page no="46"?> K LAUS L EY 46 ebenso in der Waage wie die Frage, ob die Liebe Tassos tatsächlich und ausschließlich auf die vornehmste der drei Eleonoren gerichtet ist. Das Streben nach künstlerischer Erneuerung des Theaters erscheint bei dem Venezianer, so lässt sich bereits bilanzieren, in hohem Maße verbunden mit der Komödienform, gerade weil sie - unter Berufung auf den Gewährsmann Metastasio - durchaus auch als tragicommedia gefasst sein kann. Und von hier aus ergibt sich für Goethe und seine Zeit, ganz unter den in der Nachfolge Rousseaus erfolgten Veränderungen, der Anreiz zum Widerspruch bzw. zu einer weiteren Transformation des neu etablierten Modells. War es bei Goldoni - mit einer ersten Abweichung und Neuorientierung im Tasso - immer wieder der soziale Kosmos gerade der Gebildeten, der dann auch die gefährdete Künstlerfigur hält und ihr, wenn sie nicht selbst - wie Terenzio - den Zusammenhalt garantiert, Integration ermöglicht, so kann das einige Jahrzehnte später bei Goethe in dieser Unmittelbarkeit nicht mehr gelingen. Allerdings ist das Scheitern seines Tasso am Leben ja gleichfalls nicht radikal: er rettet sich - anders als Werther - in der Hingabe an die Kunst und die Kunstreligion, wird so aber auch von der Gesellschaft gehalten, die sich damit selbst einen Freiraum wahrt. Goldoni jedenfalls markiert mit der dritten und letzten seiner Dichterkomödien eine Grenzsituation. Bereits dieser Torquato Tasso ist anders als Terenzio nicht nur das moderne Universaltalent, weniger dem Terenz oder Plautus als dem Vergil nahe, sondern dazu auch noch als Person eine Figur von hoher Komplexität, die hier allerdings noch wenig aus den Lebensbedingungen heraus entwickelt wird. Der schwebende Charakter dieser Darstellung von Kunst, Liebe und Leben - fast bis zum Ende - entspringt letztlich dem suggestiv-offenen Spiel, und damit einem von Goldoni anhaltend geschätzten Wesenszug der „commedia dell’arte“. 77 Ferrara no voggiè restar più; / Che in Corte no stè ben, che gh’è delle contese, / E che gh’avè intenzion de scambiar de paese. (III, 8), Bd. 5, S. 811). 77 In der 1. Szene wird die Grundlage für die Uneindeutigkeit dadurch gelegt, dass Tasso mit literarischen Topoi sich selbst gegenüber seine versteckte Liebe gesteht: „Conforto tu mi rechi, bellissima Eleonora. / A te finor non dissi, ch’io t’amo e ch’io sospiro [. . .] / De’ miei deliri il mondo s’accorge, e mi deride, / Ma ignota è la cagione che me da me divide.“ ((I, 1), Bd. 5, S. 777). Dazu zählt auch die Einbeziehung der verschiedenen Dialekte, die noch dem Grafen Platen Vergnügen bereiteten: „Höchst possierlich war besonders der Akademiker della Crusca, der Tassos Freund und Kritiker spielt und beständig in ‚versi sdruccioli’ spricht. Ebenso erfreulich war es, einen Neapolitaner und Venetianer in ihren vaterländischen Mundarten und Nationaltrachten [. . .] zu sehen. Dasselbe war bei dem auftretenden Römer der Fall, der uns die schöne römische Aussprache zu hören gab.“ (Platen (1969), S. 32. Eintrag vom 14.10.1862). Verkannt werden diese Zusammenhänge in späterer Zeit, so von A. Nota: „la commedia dell’autore italiano [Goldoni] non ha mai appagato il voto degl’intelligenti, i quali trovano che un così nobile soggetto in- <?page no="47"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 47 Eine der Kernideen des Torquato Tasso ist auf dieser Grundlage entwickelt: Das Stück ist mit seiner Fülle an Zitaten aus Tassos großem Epos beinah nach einer Collage-Technik entwickelt, in gewisser Weise ein Cento. Das Gegeneinanderstellen und Vergleichen der beiden Fassungen der Gerusalemme liberata und conquistata zeigt ein extemporierendes und experimentierendes Spiel mit Differenz und Identität. Eine Weiterführung dieses Vorgehens stellt unter diesen rhetorischen Voraussetzungen, die sich dem Verständnis der „imitatio“ subsumieren lassen, das Verfahren von Goldonis Konkurrenten Chiari dar, der seine Dichterkomödien als Parodien anlegte, um in den Varianten die eigene Position zu markieren. Z UM W ANDEL DES B ILDES VON T ASSO ALS D ICHTER Im Vorwort zu seiner Komödie nennt Goldoni den „biographischen“ Bezugstext, aus dem er die Kernaspekte seiner Tasso-Psychologie gewonnen hat: das große Lexikon von Louis Moreri, das, 1674 erstmals erstellt, hier in der Basler Ausgabe von 1722 zitiert wird. 78 Der Anlass, dieses Lexikon als Quelle zu nennen, sind für Goldoni „les trois Eléonores“, d. h. die seit Manso überlieferte Behauptung, am Hofe von Ferrara seien - aus den drei Schichten der Gesellschaft - drei Frauen gleichen Namens mit dem Dichter zusammen gewesen, und er, von Liebe erfasst, habe sie in seinen Dichtungen besungen, ohne dass ganz klar gewesen wäre, welche er konkret meinte. 79 Mit der Anlehnung an Moreri ist Goldoni hinsichtlich der psychologischen Ausdeutung des Dichters der Gerusalemme liberata gewissermaßen noch in der Vormoderne. Denn Tasso wird dort zunächst nach der althergebrachten Vorstellung vom Dichter als gut ausgebildetem Gelehrten begriffen als „Rhétoricien & Dialecticien“. Für unseren Zusammenhang wichtiger erscheint die Ergänzung: „il avoit fait une étude particuliere de la science des moeurs“ - das kann als ausdrückliche Bestätigung der bereits erwähnten These gelesen werden. In Weiterführung der großen Autoren des Cinquecento, etwa eines Giovanni della Casa, über den er selbst torno a cui il patetico dee esser compagno alla figura principale, fu trattato invece troppo trivialmente, che l’elocuzione è bassa e non qual si conviene al cantore della Gerusalemme“. Nicht zuletzt wird die mangelnde Eindeutigkeit der Liebe zu der Prinzessin von Seiten Tassos - „cui preme il petto focosissimo vietato amore“ - kritisiert (Nota (2001), S. 232). 78 Moreri (1722): Der Artikel „Tasso“ in Bd. 6, S. 624 f. 79 Vgl. Schanze (1989), S. 98. <?page no="48"?> K LAUS L EY 48 einen wichtigen Beitrag geschrieben hatte, gilt er noch als hochangesehener Experte für die „scienza civile“. 80 Seine psychische Instabilität wird daneben als nachrangig behandelt. Die von Moreri transportierte Argumentation ist in ihrer Wertigkeit vergleichbar etwa mit dem Fall des römischen Dichters Lukrez, der ja auch - trotz der Ausfälle durch Geisteskrankheit - sein großes Lehrgedicht De rerum natura zu einem mustergültigen Ende brachte. 81 Das einzige Indiz für eine soziale Beeinträchtigung, das in dem Lexikonartikel angeführt wird, lautet: „Il crut quelque tems qu’on l’avoit ensorcelé; mais bien des gens assûroient que la pauvreté avoit été cause de sa folie.“ Die Ausnahmesituationen, die Tasso in Gefangenschaft brachten und die auch von Goethe dargestellt werden, sind wertungsfrei berichtet - einmal als Strafe für den Verstoß gegen das Gebot sich zu duellieren, zum anderen als therapeutisches Unternehmen des Ferrareser Herzogs „qui le fit enfermer dans un Hôpital, pour le guérir d’un accès de folie dont il etoit travaillé.“ 82 Diese später als Symptome politischer Unterdrückung gewerteten Aspekte spielen bei Goldoni jedenfalls explizit noch keine Rolle; auch ein Interesse an Psychopathologie bleibt ausgeklammert. Beides klingt allenfalls in dem hier auf Eifersucht gegründeten Zorn des Herzogs gegen das Genie des Dichters an, der mit seiner Kunst bei den Frauen am Hofe auf so positive Resonanz stößt. Goldoni interessieren aus Moreris Artikel viel mehr die bekannten Auseinandersetzungen Tassos mit der Accademia della Crusca um das richtige Sprach- und Kunstverständnis, das in ähnlicher Form wie bei den beiden früheren Dichterkomödien nicht nur Anlass für Wortkomik bietet, sondern auch belegt, welchen artistischen und sprachtechnischen Anforderungen der Dichter, der auf der Höhe seiner Zeit sein will, genügen muss. 83 80 Hervorgehoben wird der Gedanke, er falle auf als „bel esprit solidement dévot“ und als „homme commode à la société civile“ (Moreri (1722), Bd. 6, S. 625). Zu Tassos Lezione über das Sonett Della Casas vgl. Ley (1984), S. 303 ff. 81 Es heißt entsprechend: „Il [scil. Le Tasse, Anm. d. Verf.] étoit d’un tempérament melancholique, ses accès [de fureur ou de folie] le mettoient pendant quelque temps hors de lui même. Il revenoit ensuite à soi, à peu près comme font les Epileptiques. Il raisonnoit sur son infirmité, & se souvenoit fort bien de toutes les images bizarres, que ses vapeurs avoient représentées à son imagination.“ (Moreri (1722), Bd. 6, S. 626). 82 Dort habe er lange Zeit verbracht, sei aber schließlich auf Bitten der Herrscherfamilie von Mantua befreit worden. Intensivere Kritik, wie sie bald erfolgen sollte, fand hier noch keinen Platz. Die Stellungnahmen zum Goldenen Zeitalter in Aminta werden als feste Topoi zwar erwähnt, aber nicht weiter kommentiert. 83 So kommen auch die literarischen Streitereien, denen sich Goldoni seit der Theaterreform ausgesetzt sah, ins Spiel. Hier ist, wie später auch bei Goethe, eine gewisse biographische Verankerung plausibel. <?page no="49"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 49 Vor allem aber - und das ist ja überhaupt der Grund für die Erwähnung seiner französischen Quelle - akzentuiert Goldoni die auch von Moreri transportierte Nachricht von den drei Eleonoren, da sie allein das Quiproquo erlaubt, mit dem er das Problem von Dichtung und Leben nach seinen Vorstellungen in Szene zu bringen vermag. 84 Denn das dadurch erzeugte „imbroglio“ erlaubt, verbunden mit der das Madrigal bestimmenden Sprecherrolle des Hirten Tirsi, überhaupt erst die Verrätselung der amourösen Ausrichtung des Dichters. Zwar liegt die Vermutung nahe, die vornehmste der drei Frauen stelle das allein angemessene Liebesobjekt dar, aber die Lösungsverweigerung hält den gesamten Handlungsverlauf offen, die Spannung bleibt so bis zum Schluss erhalten. 85 Erst in Goethes Schauspiel erscheint die Wahl des Liebesobjekts von Anfang kaum mehr kaschiert. Allerdings bleibt das fiktiv-künstlerische Moment äußerlich zunächst gewahrt, 86 bevor es durch den Übergriff Tassos auf die Prinzessin zum entscheidenden Bruch kommt. In den späteren Fassungen des Stoffes, nach 1800, wird allein der äußere Schein aufrechterhalten. Schon Goldoni ergänzt den spielerischen Umgang mit dem Rätsel um die Geliebte durch die Einbeziehung der gesamten Kunstproblematik, wie sie sich nach seinem Vorverständnis in der Entstehungsgeschichte von Tassos Werk findet. Im Fortgang der ersten Szene wird der Gedanke auf den Punkt gebracht, dass Leben und Kunst einander wechselseitig formen. Das Ringen um die treffende Fassung eines Kunstwerks erscheint beispielhaft in der Gestaltung der Gerusalemme, des großen Epos. Wie hier 84 Im Falle der ersteren, die in der Komödie zur Geliebten des Herzogs wird, nimmt er eine Veränderung an dem Bericht vor: „Il y avoit alors à la Cour de Ferrare trois Eléonores, également belles & sages; quoique de différente qualité. La première étoit soeur du Duc; la seconde étoit la comtesse de S. Vital, femme du Marquis de Scandiane; la troisième étoit une Demoiselle qui étoit au service de la Princesse du même nom. Comme le Tasse faisoit des vers pour les trois Eléonores, on ne sçavoit laquelle lui avoit gagné le coeur.“ (Moreri (1722), Bd. VI6, S. 625). 85 Gerade diese Beweglichkeit zeigt die Herkunft der Motivführung aus der commedia dell’arte. Entsprechend programmatisch liest sich der Musenanruf in der Exposition des Stücks als komisches Pastiche, als Parodie auf die Exordialtopik des Epos: „Muse, canore Muse, Amor, soave foco, / Umile a voi mi volgo, voi nel grand’uopo invoco.“ ((I, 1), V. 1 f., Bd. 5, S. 777). 86 Die Anlage als „Dichterliebe“, als literarisch stark formalisierte Konvention, wird - allerdings einseitig - nicht nur beibehalten, sondern sogar noch betont. So heißt es im Monolog der Prinzessin Eleonore: „Ist Laura denn allein der Name, der / Von allen zarten Lippen klingen soll? / Und hatte nur Petrarch allein das Recht, / Die unbekannte Schöne zu vergöttern? “ ((III, 3), V. 1937 ff., S. 164); zitiert nach der zweisprachigen Ausgabe von Goethes Torquato Tasso: Goethe (1988). <?page no="50"?> K LAUS L EY 50 im Unterschiedlichen das Gleiche zum Ausdruck kommt, wird mit einem Zitat, das sich in dessen beiden Fassungen 87 wieder findet, vorgestellt: Stanza del canto quinto, ch’ora del sesto è terza, Negli ultimi due versi dai critici si sferza: „Che nel mondo mutabile e leggiero, Costanza è spesso il variar pensiero.“ Dicasi: che nel secol mutabile e leggiero. 88 Das künstlerische Vermögen des Dichters erweist sich somit als fähig zu einer gründlichen Umgestaltung, wobei das Eine im Anderen substantiell erhalten bleibt. Das scheinbare Paradox der beiden Fassungen des Chors von Aminta und Il Pastor Fido lässt sich so auflösen: Sì, questa il mondo vegga sperienza d’intelletto Formar nuovo poema sullo stesso soggetto. 89 Das Rätselhafte, Geheimnisvolle der Liebe, wie es die Kunst darzustellen vermag, bleibt auch im Wechsel der poetischen Verfahrensformen anschaulich. Das Ergebnis zeigt so oder so eine gewisse Vollkommenheit. Jedoch hat allein der Dichter auch die Mühsal auszuhalten, die nicht nur er selbst sich durch die künstlerische Anstrengung abverlangt. Sie wird ihm gerade auch von außen aufgezwungen: I critici indiscreti che diran? che faranno? Coi lirici miei carmi seguiranno il sistema Con l’epico tenuto mio sudato poema? 90 Die Dichtung als Leistung der Imaginationskraft des Künstlers prägt mit ihrer schillernden Beweglichkeit das darin vorgestellte Erleben. Sobald sie öffentlich bekannt wird, fällt sie in die Hände der Kritiker, die nicht nur sie, sondern auch ihren Schöpfer verunglimpfen. Die Grundidee von Goldonis Tasso lässt sich hier verorten: E i critici sien paghi d’aver coi lor clamori, Turbati i miei riposi, spremuti i miei sudori. 91 87 Den Beschluss zur Reform, zur Erneuerung seines Epos nach den von außen kommenden Auflagen stellt Tasso so vor: „Cara Gerusalemme, cara mia Liberata, / Epiteto novello avrai di Conquistata? “ ((I, 1), Bd. 5, S. 777 f.). 88 (I, 1), Bd. 5, S. 778. 89 Ebd. Was mit der Gerusalemme geschehen ist, das wird, so befürchtet bzw. ahnt der Dichter, auch für die Auslegung der Lyrik, des soeben entstehenden Madrigals, kommen: „Coi lirici miei carmi seguiranno il sistema / Con l’epico tenuto mio sudato poema? “ ((I, 1), Bd. 5, S. 777). 90 Ebd. 91 (I, 1), Bd. 5, S. 778. <?page no="51"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 51 Der Schwerpunkt der Gestaltung von Liebeserfahrung, die bei dem Venezianer am Anfang steht und Auslöser des Geschehens ist, verschiebt sich in Goethes Schauspiel auf den Schluss. Erst durch das persönliche Erfahren der erotischen Irrwege, wie es sich auf der Bühne darstellt, kommt Tasso zu sich selbst. Die Eleonoren sind, wie es sich bei Goldoni ankündigte, endgültig Mittel, nicht Zweck der Liebeserfahrung und Selbstfindung des Dichters geworden. Allein er ist nun auch in der Lage, dem Drama seines Lebens im Werk Gestalt zu geben. 92 Dabei wird von dem hier auf größere Eindeutigkeit zielenden Goethe das eher altständische Modell der drei Liebesobjekte, auf das Goldoni anspielt, ersetzt durch die Polarität der nur noch zwei - hochgestellten - Eleonoren. Außerdem wird die Kunstthematik, für die bei Goldoni der eher alberne „Crusca“-Anhänger steht, verlagert ins Innere des Dichters, der im Wettstreit mit Vergil und Ariost um die einzig wahre Form seines Epos - Gerusalemme Liberata oder Conquistata - kämpft und auch hier zu scheitern droht, wobei die Erwartungshaltung des Publikums an seine Wirkungs-, ja Evokationskraft gleichfalls ständig mit im Spiel ist. Der Mensch wie der Künstler Tasso erlebt sich in einer tiefen Krise. Darin liegt aber zugleich für Goethe der tiefere Anlass, den Faden weiterzuspinnen. Sein Tasso wird, indem er mit sich uneins ist, auch gegen die Mitwelt problematisch und umgekehrt. Die Erwartungen und die Verhaltensweisen aller gegen alle fallen zunehmend weiter auseinander. Das ist das wesentlich Neue und Einzigartige an Goethes Fassung. Die Analogien zwischen beiden Stücken lassen sich nun klarer fassen. Der konkrete Ausgangspunkt der Intrige von Goldonis Tasso-Komödie ist, wie erwähnt, das Madrigal des Dichters. Die Kunst, also Literatur und durch sie geweckte oder verstärkte Phantasie, wird zum auslösenden Faktor des Geschehens. Dabei hat Tasso von Beginn an keinen Einfluss auf die „Entwendung“ und damit Zweckentfremdung seines Gedichttextes, dessen Wirkung sich unter den gegebenen Verhältnissen verselbständigt. In dem Madrigal spricht Tirsi, der Hirte, seine Geliebte Eleonora an, und er besingt sie. Wieder zeigt sich, wie in den Anfängen zur Zeit Molières, hier die Zitattechnik als wesentliches Element für das Dichterdrama, was - den anderen Bedingungen entsprechend, aber auch tiefergehend - von Goethe aufgegriffen wird. Die bukolische Fiktion steht hier wie da in der Spannung von reiner Literarizität, verweisend auf die Chöre von Aminta und Pastor fido, und vitaler persönlicher Betroffenheit, die die 92 Eben das akzeptiert Platen nicht, wenn er Goldoni den Vorrang vor Goethe gibt. Anlässlich seiner Theaterbesuche in Italien schreibt er: „Genuß verschafften mir einige Lustspiele von Goldoni, besonders sein ,Torquato Tasso‘, den ich zweimal mit großem Vergnügen gesehen und seitdem vielfach gelesen habe. So hoch hat sich Goldoni wohl nicht wieder erhoben.“ (Platen (1969), S. 813, Eintrag vom 14.10. 1826). <?page no="52"?> K LAUS L EY 52 Hofgesellschaft erkennen und miterleben will, indem sie sich selbst darin verortet und eigenständig ihre Schlüsse daraus zieht. Das verknüpft sich bei Goldoni im Quiproquo der Komödie mit dem Verwirrspiel um die drei Eleonoren, von denen die eine, am höchsten Gestellte, erst bei Goethe als Schwester und nicht wie hier als Liebesobjekt des verwitweten Herzogs erscheint. Um die Dichtkunst Tassos also, die Anlass zu Eifersucht und Streit in verschiedenen Bereichen bei beiden Geschlechtern bietet, ist das ganze Werk Goldonis aufgebaut. Die Problematik von Kunst und Leben ergibt sich daraus, dass Tirsi eine Fiktion ist oder sein könnte; dieser Tasso lässt im Gegensatz zu Goethes verliebtem Dichter, der dabei schließlich die Konventionen verletzt und das nur noch scheinbar intakte Band zwischen Illusion der Kunst und Wirklichkeit des Lebens zerreißt, keine klare Entscheidung erkennbar werden. Es bleibt lange offen, ob und wen er liebt. Aus diesem Ineinander von Kunst und Leben resultieren dann die Widersprüche und Gegensätze. Die Dichtung und die von ihr vertretenen Ideale können - so die Botschaft - durchaus eine eigene Brisanz für das Schicksal des Dichters entwickeln. Begleitumstand, ja Voraussetzung der großen künstlerischen Sensibilität ist allerdings hier wieder und immer noch die hohe psychische Gefährdung des Dichters. Er greift rasch zur Waffe, auch neigt er sonst zu schnellen Reaktionen. Der latente Wahnsinn wird aber nach den Vorstellungen der alten Psychologie begriffen und bewertet. Goldonis Denkmodell der stets neu zu leistenden Selbstkorrektur ist die Psychomachie, bei der der Intellekt bestrebt sein muss, die Kontrolle über die sich abspaltenden Affekte zu behalten. So sagt Tasso in einer kurzen Selbstanalyse: No, fuor di me non sono; no, non è questa mia, Che m’agita e m’accende, dichiarata follia. Ma giugnere all’eccesso potrebbe a poco a poco, Se a spegner io tardassi nel sen dell’ira il foco. Amor, tu mi soccorri; porgimi, Amore, aita. 93 Dynamik gewinnt Goldonis Werk insgesamt - auch wenn es heute so kaum mehr nacherlebbar ist aus dem Spiel von Sein und Schein, von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunst, aus Nähe und Ferne. Als passend zur inneren Begründung der Dichterkomödie kann hier noch einmal in der konkreten Lebenssituation Goldonis hingewiesen werden auf seine eigenen Pläne, angesichts der Auseinandersetzung um das Reformprogramm, auf das ja auch Tassos Auseinandersetzung mit der Crusca verweist, von Venedig wegzugehen - schließlich nach Paris. Auch so ergibt sich wie zuvor im Falle Molière anlässlich von L’école des femmes, aber auch anlässlich der Thematisierung von Tartuffe in Il Molière 93 (II, 2), Bd. 5, S. 790. <?page no="53"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 53 die Anbindung an die literarischen Debatten in Goldonis eigener Zeit; der Streit zwischen „Goldonisti“ und „Chiaristi“ gelangte in diesen Jahren auf den Gipfelpunkt. 94 Wenn so die in ihren Folgen unübersehbare Liebe - in der Kunst wie im Leben - bei Goldoni als wichtiges Element der Komödienausführung thematisiert wird, gibt es dazu in dem Stück selbst auch einen Alternativentwurf. Während Tasso sich aus unübersehbaren Motiven und undurchschaubaren erotischen Empfindungen an Ferrara gebunden fühlt 95 , spielt Tomio, der Venezianer, eine nüchterne und vernunftbetonte Liebeskonzeption durch. Er verwirft die Vorstellungen träumerischer Liebe als Gaukelei und Selbsttäuschung und artikuliert stattdessen den Gedanken, dass Liebe immer der notwendigen Kontrolle des Geistes und der Vernunft zu gehorchen habe: Amor fa de ste cosse, amor xe un baroncello, Che ai omeni più grandi fa perder el cervello; Ma mi no gh’ho paura de dar in frenesia, Tre zorni innamorà non son stà in vita mia. 96 Doch es kommt in Tasso, anders als in Terenzio, zu einer nicht mehr glückhaften Lösung. Dem Dichter gelingt es aus inneren und äußeren Gründen heraus nicht, seine wie immer phantasieerfüllten Vorstellungen ungehindert zu leben. Er erscheint von den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen als schwierig ausgegrenzt, an den Rand gedrückt. Die - ja vorrangig nur in seiner Phantasie lebenden - Liebesobjekte kommen ihm in rascher Folge abhanden. Dadurch, dass der Fürst am Schluss seinen Entschluss kundtut, die Markgräfin Eleonora zu heiraten, wird diese den Dichter und sein Genie ja selbst verehrende Frau abrupt aus dem Kreis der möglicherweise von ihm geliebten Personen herausgezogen. Die verheiratete zweite Eleonore, die durchaus bereit scheint, aus der Gewohnheit ihrer Ehe mit Gherardo auszubrechen, wird von diesem festgehalten; und auf das gesellschaftlich niedrig angesiedelte junge Mädchen Eleonore allein kann der Dichter, dem nun die Wahlfreiheit fehlt, sich auch nicht beschränken. Ihm bleibt so nur die Dichtkunst, mit der er den schönen Zauber entfacht hatte, der nun ohne einen Reflex im Leben ist. Dennoch verdankt er seiner Kunst und seiner lebendigen 94 Goldoni spielt in Torquato Tasso (III, 8) auch selbst darauf an, wenn er die historische Diskussion um Ariost und Tasso, den Streit über das Heldengedicht in Erinnerung ruft, der wenige Jahre zuvor schon Gegenstand einer Komödie von Giulio Cesare Becelli aus Verona gewesen war: L’Ariostista ed il Tassista (Rovereto 1748). 95 Über das wesentliche Motiv seines Leidens teilt er mit: „Amo, non amo a un tempo, smanio, peno, sospiro / Chi non c’entra, non parli. Oimè! quasi deliro“. ((III, 8), Bd. 5, S. 813). 96 (III, 9), Bd. 5, S. 790. <?page no="54"?> K LAUS L EY 54 Phantasie dadurch die Rettung, dass er in der Nachfolge Petrarcas zur öffentlichen Bestätigung seiner Kunst, zur Dichterkrönung, nach Rom gerufen wird. Der Künstler findet somit allein durch die Kunst und in ihr seine Belohnung, die sich trotz und neben der existentiellen Beeinträchtigung einstellt. Das Leben in der zivilen Gemeinschaft - ob in Ferrara oder in Venedig, wohin man ihn holen will, - kann ihm mit seiner Vorstellungswelt nicht gerecht werden. Die Hofgesellschaft in Ferrara gibt sich dabei als eine Elite, die dem Dichter anfangs dem von seiner Kunst gestellten Anspruch mehr als die Stadt zu genügen vorspielt. Auch das ist für Goethe ein wichtiges Motiv, das Hofambiente in seinem Schauspiel beizubehalten. Zwar verweigert Goldoni hier das seinen anderen Dichterkomödien eigene „lieto fine“ und durch den anfangs unabsichtlich eingetretenen „inganno“ wendet sich die eigene Dichtung gegen den Dichter Tasso, dennoch aber verbleibt die Auseinandersetzung auf einer ersten Ebene der Analyse weitgehend im altgewohnten Rahmen. Trotzdem finden sich bei genauerem Hinsehen Ansätze zu grundsätzlicher Kritik. Das unterstreicht nicht zuletzt die Anwesenheit des Venezianers Tomio. Wenn dieser auf die Verfassung seiner Heimatstadt als auf eine anscheinend intakte Gesellschaftsalternative verweist, so hat das allerdings - wie Goldoni für sich persönlich bald erkennen musste - durchaus Grenzen. Als er nach Paris geht, erlebt er dort nicht nur das Ende der venezianischen Republik, sondern auch des gesamten Ancien Régime. V ON G OLDONI BIS G OETHE : DIE S PRENGUNG DES ALTEN D ICHTERIDEALS DURCH DIE ZEITGESCHICHTLICHE E RFAHRUNG Das Thema Tasso erfuhr zwischenzeitlich, wie die hier als Kürzel zitierte Abfolge Rousseau - Gilbert - Werther zeigt, eine Wendung, die die neue Rolle des Künstlers und Intellektuellen für die weitere Zukunft umreißt. Wenn Goethes Tasso, als „gesteigerter Werther“, in dieser Entwicklung eine Sonderrolle darstellt, die vornehmlich im Umfeld und in der Nachfolge der deutschen Klassik ihre Gültigkeit behält, so bleibt er mit der Ausgestaltung des Schauspiels doch auch auf der Linie der allgemeineren Entwicklung, ja er befördert sie sogar. Der sich mit sich und der Welt uneins wissende Dichter der Moderne findet hier seinen Ort in der Kunst. Allerdings entdeckt er sich so spontan als Dichter und Sprachzauberer erst in der Liebe zu der Prinzessin Eleonora: O hätt’ ein tausendfaches Werkzeug mir Ein Gott gegönnt, kaum drückt’ ich dann genug Die unaussprechliche Verehrung aus. Des Malers Pinsel und des Dichters Lippe, <?page no="55"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 55 Die süßeste, die je von frühem Honig Genährt war, wünscht’ ich mir. 97 Aus der Begründung der Kunst und des künstlerischen Selbstbewusstseins durch die pointiert individuelle Liebeserfahrung erwächst das Drama von Goethes Tasso und, mit dem Zerbrechen des alten Lebenskonzepts, die Sprengung des vertrauten Existenzrahmens. Unter den neuen Bedingungen transzendiert er die Ebene des Erdhaft-Gemeinen, an der aber - nicht anders als Antonio, sein Gegenspieler - auch er teilhat. Diese Einsicht ist es schließlich, die ihm zu einem Ausweg aus der Erfahrung des Unglücks und der tragischen Existenz verhilft. In so gestufter Dramatisierung und Distanzierung von dem Komödien-Modell, welches noch Goldoni vertreten hatte, findet sich die Trennlinie zu dessen Werk, das ideell wie strukturell dennoch den Ausgangspunkt auch für Goethe bildet. Dabei bleibt nicht nur das von den Biographien bereitgestellte Skelett, sondern die gesamte Verknüpfung von Themen und Problemkreisen hergeleitet aus der epochalen, von Tasso und Guarini ausgegangenen Gegensätzlichkeit des Verhältnisses von „Amore“ und „Onore“, für die es jetzt kein Goldenes Zeitalter mehr als Projektionsfläche - und damit auch keine traditionellen Lösungen für das öffentliche Leben im Rahmen der Komödie - gibt, auf die sich Goethe wie immer hätte einlassen können oder wollen. Er zerstört denn auch die obsolet gewordene Vorstellungswelt definitiv. In der Auseinandersetzung mit dem Grunddilemma findet er die eigene, neue Antwort, die in der Form der Durchführung und im Ergebnis kaum mehr die nun plötzlich antiquiert wirkenden Anfänge bei Goldoni erkennen lässt. V ERÄNDERUNGEN DES B ILDES VOM K ÜNSTLER : P IETRO C HIARIS D ICHTERKOMÖDIEN ALS K RISENSYMPTOM Ein weiterer Umstand ist zur Erhellung der kunst- oder dichtungstheoretischen Situation dieser Zeit zu erwähnen. Wie dargelegt, sind Goldonis Dichterkomödien begleitet von den konkurrierenden Repliken oder Kontrafakturen Pietro Chiaris. Über den nur vordergründigen Erfolg eines Trittbrettfahrers hinausreichend ist dessen Anliegen durchaus auch das Bemühen, wie Goldoni die Rolle des künstlerisch Gebildeten und Intellektuellen für seine Zeit neu zu diskutieren. Mehr noch als diesem kam es ihm auf „medietà“ an, auf ein „bürgerliches“ Mittelmaß, das sich wegbewegte von der letztlich aristokratisch-patrizischen Grundhaltung, wie sie - aus dem Seicento stammend - nicht nur Venedig, sondern fast mehr noch den übrigen italienischen Raum bestimmt hatte. So legte er sei- 97 (II, 2), V. 1161 ff., S. 118 (Goethe (1988)). <?page no="56"?> K LAUS L EY 56 ne Schauspiele - etwa Diogene nella botte und Plauto - an als Skizzen der ausweglos scheinenden Situation des zeitgenössischen Intellektuellen zwischen Integration und Weltverneinung. Zur Darstellung der sich bescheidenden, wenngleich auf hoher Bildung beruhenden „mediocrità“ setzte er, der sich als „negoziante di cultura“ begriff, 98 auf das „immaginario collettivo“, das Angebot von bereits bzw. noch verfügbarem Erinnerungsmaterial, das er nach aktuell-modischen Bedürfnissen des Publikums umschrieb und neu fasste. Beinahe mehr noch als für Goldoni ist Venedig, „La Ville“, für ihn der kulturelle Raum, in dem sich diese Option realisieren soll und - wie auch das Ausweichen Goldonis nach Paris zeigt - vorübergehend erfolgreich vollzog. Immer noch als Instrument der „scienza civile“ begriffen, wollen auch Chiaris Komödien zeigen, wie die die Gesellschaft bestimmenden emotionalen Impulse durch Vernunftlenkung kontrolliert werden können. So ist ein Endpunkt erreicht, als schon in Frankreich, vorbereitet durch Rousseau, mit der Debatte um Gilbert die Problematik ganz neu aufgeworfen wird in einem öffentlichen Raum, der nur noch unbestimmt als „La Ville“ gefasst werden kann. D’Alembert wird durch die Unterscheidung von integrierten und nicht integrierten Genies versuchen, eine Erklärung des Auseinanderdriftens der Geisteselite zu liefern, wobei die Aufklärer sich ganz der ersten Klasse zugehörig begreifen. Den anderen - Unangepassten - bleibt dann allenfalls die unbequeme und undankbare Rolle der als exzentrisch oder gar halbverrückt denunzierten Geistesaristokraten. Davon ausgehend und in der von Goldonis Tasso vorgegebenen Entscheidung für „La Cour“ gegenüber „La Ville“ - jetzt Florenz statt Venedig - hat Goethe, auch aus seinem Lebenskreis als „Hofdichter“ in einem eher kleinen deutschen Fürstentum und aus dessen Blickwinkel, ein anderes Modell entwickelt, das angemessen zu begreifen die Berücksichtigung der Vorstufe - also Goldonis Komödie samt ihrer reichhaltigen Ausgangsproblematik - impliziert. Wie in dieser italienischen Filiation steht auch bei Goethe wieder die Sprachkunst - im „Lande der Dichter“, wo die beiden Frauen in der Exposition des Stücks weilen wollen, - als Bildungshintergrund bereit: von Vergil über Petrarca und Ariost bis hin zu Guarini, Speroni und anderen Zeitgenossen Tassos, die gesamte klassische Literatur. Was Goethe in diesem Ambiente demonstriert, zeigt zunächst einmal die Radikalisierung dessen, was Goldoni in der Spannung von Terenzio und Torquato Tasso noch erst tastend auslotet. Dessen Terenz ist als Dichter der Antike von klassischer Einfachheit: Werk und Leben sind eins. Tasso dagegen, das Genie der Moderne, wie bereits Goldoni ihn vorsichtig anlegt, steht vielmehr im Zwiespalt. Er erlebt sich bei Goethe als zer- 98 Vgl. Alberti (1986a), S. 82. <?page no="57"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 57 rissen zwischen seinem Begehren, das ihn in der Wirklichkeit erfasst, und der Fähigkeit, mit seiner Kunst Illusionen hervorzuzaubern, aus denen die ihn umgebende Gesellschaft lebt, auch indem sie, in ständiger Reflexion und auf hohem Niveau, die so geweckten Bilder und Emotionen auf ihn zurückwirft. Davon allerdings hat er im konkreten Lebensvollzug dann den Nachteil. Weder entspricht er so, wie er ist, dem Bild, das er von sich und seiner Kunst entwirft; noch auch gelingt es den Angesprochenen, ihrerseits dem von ihm geschaffenen Kunstwerk tatsächlich gerecht zu werden. Die schillernde Diskrepanz zwischen Kunst und Leben bleibt auf allen Seiten vorherrschend. Der Dichter muss, wenn er in seiner Erfahrungswirklichkeit nicht doch noch einen Halt findet, in dieser Spannung untergehen. Kunstreligion und Weltklugheit, die sich durchaus auch schon an dem historischen Tasso festmachen lassen, dessen zur Idylle stilisierte Ferrareser Welt bei Goethe auflebt, treiben zwar auseinander, der Rest von Zusammenhalt soll aber gerettet werden. Darin liegt - den zeitgegebenen Veränderungen entspringend - die weitgefasste Überbietung des Prätextes von Goldoni und die Aufhebung der von ihm auf den Punkt gebrachten Vorstufen durch Goethe. G OETHES S CHAUSPIEL UND SEINE I NTERFERENZEN ZU DEN W ERKEN T ASSOS UND G OLDONIS Nicht anders als Goldoni entwickelt auch Goethe die Argumentation in seinem Schauspiel aus dem ihnen beiden gemeinsamen Grundkonflikt, also aus der Hervorbringung des künstlerischen Werks und den Bedingungen und Folgen von dessen Wirkung, die in ständiger Relation zum Bild des Künstlers gesehen werden. Die ihm eigenen Formen zu agieren und zu reagieren treten somit verstärkt in Erscheinung. In Goldonis Komödie steht dafür zunächst allein das bereits vollendete Madrigal, das durch die Art des Auffindens mittels eines eifersüchtigen Ehemanns ganz ungelenkt und unkontrolliert Reaktionen provoziert, die der Imagination der je und je Betroffenen entspringen. Hinzu kommen dann, über die gesamte Komödie verstreut, Zitate aus der Gerusalemme Liberata, die spielerisch auch in der Fassung der Conquistata verortet werden. 99 Nicht zuletzt der größeren Fremdheit des Gegenstands im Deutschen entsprechend verschiebt Goethe die konkreten literarischen Verweise auf die anhaltende Evokation der inneren Kämpfe, die Tasso bei der Vollendung seines großen epischen Gedichts durchlebt; sie waren aus den zeitgenössischen Berichten hinreichend bekannt. Er ergänzt diese Einlassung in die Spontaneität dichterischen Schaffens aber auch durch das Zitieren 99 So in (I, 1) Zitate aus: GL 5,3/ GC 6,3; in (I, 5): GL 12,1/ GC 15,1, etc. Das Buch wird als Objekt entsprechend in Szene gesetzt: „avendo nelle mani il poema del Tasso in quarto“ ((I, 6), Regieanweisung). <?page no="58"?> K LAUS L EY 58 berühmter Lesefrüchte. Die Topoi aus den Dichtungen Tassos bilden im Ablauf des Schauspiels so etwas wie ein transponiertes Florilegium. 100 Die Ausrichtung auf das Goldene Zeitalter, also das Chorlied aus Aminta 101 , ist schon in der Exposition des Stücks gegeben, verbunden mit dem „romanzo“-Streit sowie dem Ringen um die Fertigstellung der Gerusalemme Liberata. 102 Daneben finden sich die Thematisierung des Gegensatzes von Stadt und Hof und die Diskussion der Rolle der platonisierenden Liebeskonzeption, über die noch zu reden sein wird. Auch die Bezüge von Goethes Werk zu dem venezianischen Vorgänger sind bereits genannt worden. 103 Wenn Antonio Montecatini in Goldonis Fürst angelegt ist und er auch als Gegenentwurf zu Tomio verstanden werden kann, so fällt bei Goethe doch stärker als bei Goldoni die Isolation, die Einsamkeit des Dichters aus, die als Rückzug aus der von ihm als wenig vollkommen erkannten Öffentlichkeit des Hofs thematisiert ist. 104 Der innere Freiraum erlaubt das sich Verlieren in eine andere Welt. Tasso diskutiert in seinem langen Gespräch mit der Prinzessin 105 , ganz im Anschluss an den Chor aus Aminta, diese Problematik. Sie weiß, dass es unmöglich ist, das erträumte Ideal zu erreichen, und sagt, von Skepsis und doch auch vom Willen zur Illusion geprägt: Mein Freund, die goldne Zeit ist wohl vorbei; Allein die Guten bringen sie zurück. 106 Für sie gilt weiter ungebrochen und nicht hinterfragt der hohe ethische Anspruch und ein Empfinden von Verantwortung, die beide dem humanistischen Bildungskonzept entspringen. Deshalb verbietet sich die unbe- 100 Einiges findet sich in der Einleitung und im Kommentar der zweisprachigen Ausgabe von Goethes Torquato Tasso: Goethe (1988). 101 Auch die Honigmetapher, die neben vielen anderen Bezügen auch an die Bienenstich-Episode in Aminta erinnert, wäre hier zu nennen. 102 Unmittelbar zu beziehen auf das Epos sind die Worte Tassos gegenüber der Prinzessin: „Tancredens Heldenliebe zu Chlorinden, / Erminiens stille, nicht bemerkte Treue, / Sophroniens Großheit und Olindens Not, / Es sind nicht Schatten, die der Wahn erzeugte, / Ich weiß es, sie sind ewig, denn sie sind.“ ((II, 1), V. 1100 ff., S. 114, Goethe (1988)). 103 Dazu gehört nicht zuletzt das Thema der Reise, der Entfernung von Ferrara: Vgl. ebd., S. 152, 192, 218 (nach Florenz, Rom) und S. 234 (nach Neapel - Tassos eigener Wunsch). 104 Ausdrücklich wird vom Fürsten Alfonso, als Voraussetzung der weiteren Zuspitzung, die Distanz zur Lebenswelt des Hofs gleich zu Beginn kritisiert: „Es ist ein alter Fehler, daß er mehr / Die Einsamkeit als die Gesellschaft sucht.“ ((I, 2), V. 243 f., S. 66, ebd.). 105 Vgl. (I, 1), ebd. 106 (II, 1), V. 995 f., S. 110 (ebd.). <?page no="59"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 59 kümmerte Verliebtheit, die noch die drei Eleonoren gegenüber Goldonis Tasso zeigen. Die nunmehr zwei Eleonoren erweisen sich stattdessen als in Maßen mitfühlend, wenngleich streng dem Dichter gegenüber, was er bald als Ablehnung deutet. Immer geht es, wie im Falle des Madrigals bei Goldoni und den weiteren Zitaten aus Tassos Werk, auch in Goethes Tasso um das sonderbare Schillern von Leben und Werk, Liebe und Dichtung, das auch im Doppelsinn der Namen und Worte verborgen ist. 107 Als Persönlichkeit erscheint Tasso zerrissen zwischen dem aus seiner künstlerischen Verantwortung hergeleiteten Anspruch sowie den Normvorstellungen seiner vorgegebenen gesellschaftlichen Rolle. Beiden steht - und hier findet sich der Bezug zu Werther die ungezügelte, auf Freiheit drängende Gemütsverfassung entgegen. Die Frage nach den so das Geschehen auslösenden Motiven führt zurück zu den Grundlagen alteuropäischer Bildungsvorstellungen, deren Aporie in der Person Tassos und in seinem Schaffen sinn- und augenfällig wird. Torquato Tasso als Kritik des Höflingsideals: zur Korrektur des Libro del Cortegiano bei Goldoni und zu seiner Aufhebung bei Goethe - Io non posso se non lodare vostro figliuolo che abbia piuttosto voluto per suo famigliare il formatore delle corti, che lo scrittore delle commedie. - Egli ha letto il Cortigiano del Castiglione, e l’ha quasi a mente, e forse meglio del[. . .]le commedie di Terenzio. Torquato Tasso: „Il Malpiglio overo della corte” 108 T ASSO UND DIE „ LETTERATURA DI COMPORTAMENTO ” Wenn durch das in Goldonis Komödie zitierte Madrigal Emotionen aller Art in den Adressaten geweckt werden, so geht es bei den auslösenden Faktoren doch um stark konventionalisierte Bildmuster. Der dem Hirten Tirsi in den Mund gelegte Text zählt zu den auf Effekt angelegten Echo- 107 Auch bei Goethe wird die Betonung des Spiels mit Worten am Beispiel der Namensgleichheit der Liebesobjekte illustriert; (Prinzessin: ) Und wenn er seinen Gegenstand benennt, / So gibt der ihm den Namen Leonore. (Leonore Sanvitale: ) Es ist dein Name, wie es meiner ist. ((I, 1), V. 197 ff., S. 64, Goethe (1988)). 108 Tasso (1825), S. 448/ 447 [Hervorhebung durch den Verf.]. Die Referenzlektüren werden von dem „Forestiero Napoletano“, als der Tasso in den Dialogen auftritt, genannt. <?page no="60"?> K LAUS L EY 60 Gedichten. 109 Inszeniert wird das Thema der „belle matineuse“; als eine zweite Aurora erscheint die Geliebte dem staunenden Tirsi am Ufer des schimmernden Flusses. Die bukolische Kulisse verweist auf das Goldene Zeitalter. Der Dichter Tasso, der die in ihrer Perfektion beeindruckenden Verse schreibt, gelangt aber dadurch im weiteren Verlauf des Stücks hinsichtlich seiner Selbsteinschätzung in ausweglose Enttäuschung, erfährt also ganz gegenteilige Auswirkungen. In Goethes Schauspiel wird nur die von den Dichtungen Tassos jeweils ausgelöste Betroffenheit, nicht die phantasieanregende, für die Komödienform handlungsstiftende konkret-persönliche Verliebtheit nachdrücklich vertieft. Die Damen bei Hofe zeigen Kunstverstand und -begeisterung mit den dazu gehörigen Projektionen in das Goldene Zeitalter. Stück um Stück entlarven sich diese aber nun als Flucht und werden folgerichtig bald als Täuschungen, wenn nicht als Lüge entdeckt. Sie offenbaren sich als der kurzweiligen Unterhaltung und der Verschleierung anderer Impulse dienend. Der Fürst etwa sieht in der Reputation der Kunst zugleich den Wert für die eigene Selbstverherrlichung. Unter diesen Bedingungen erweist sich Tasso, der Dichter, als gequälte, von Selbstzweifeln geschüttelte, dennoch aber seiner eigenen Qualitäten letztlich durchaus bewusste Person. Der zu seinem Antipoden geformte Antonio ist das alles nicht. Goethe forciert hier einen Konflikt, der sich bei Goldoni bereits präfiguriert findet. Dabei ist das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, von Literatur und Leben, von dem Venezianer durch den Rückgriff auf literarhistorische Gegebenheiten ausformuliert. Von Goethe wird es als Problem radikaler Dissoziation weitergeführt. Schon bei Goldoni zeigt sich Tasso nicht mehr wie ein antiker Dichter als „poeta doctus“, sondern auch er ist letztlich ein Mensch der Neuzeit, und deren Empfindungswelt wurde, gerade in Italien während des Cinquecento, von langfristig wirkenden Bildungsvorstellungen geformt, deren Kanon eine breite Verhaltensliteratur regelte. Das Werk, das solche Normsetzung repräsentierte, war Castigliones Libro del Cortegiano. Auch die idealisierende Liebeskonzeption gehorchte dem darin konstitutiven christlich-platonisierenden Grundmuster; den Kerntext bildet diesbezüglich die Rede des Pietro Bembo im 4. Buch. 110 109 Tasso beschreibt in der 1. Szene das Madrigal: „Sotto il nome di Tirsi canto d’Eleonora; / Fingo che in varie parti l’Eco risponda: onora“ ((I, 1), Bd. 5, S. 777). Goethe nimmt dieses Motiv in Tassos Bericht über die Wirkung von Antonios Auftreten wieder auf: „Begierig horcht’ ich auf, vernahm mit Lust / Die sichern Worte des erfahrnen Mannes; / Doch ach! je mehr ich horchte, mehr und mehr / Versank ich vor mir selbst, ich fürchtete, / Wie Echo an den Felsen zu verschwinden, / Ein Widerhall, ein Nichts, mich zu verlieren.“ ((II, 1) , V. 795 ff., S. 98, Goethe (1988)). 110 Zu den Grundlagen des Wandels vgl. Ley (1985). Zu der noch heute weitgehend unterschätzten Wirkung des Cortegiano nördlich der Alpen vgl. ders. (1990). Die Be- <?page no="61"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 61 Das hier umrissene Liebesideals, das langfristig von der gesellschaftlichen Elite vertreten wird, steht allerdings spätestens seit der Aufklärung und so auch bei Goldoni definitiv unter dem Verdacht der Verformung von wahren Erfordernissen der menschlichen Natur. Im Vergleich zu den älteren Vorstufen, auch in der Antike, zeigt sich diese Liebeskonzeption zugleich aber als die tiefere und anspruchsvollere, die durchaus der eigenen Zeit angemessen und damit anhaltend attraktiv erscheint. Auf solche Komplexität und die darin steckende Aporie - in der Diskrepanz mit dem Leben - hinzuweisen, ist bereits das Anliegen von Goldonis Komödie. Für die von seinem Tasso geliebten Frauen bleibt die in der Dichtung vorgetragene Verehrung nur Episode zur Hebung des Lebensgefühls, während der Dichter selbst mit seinem ganzen Wesen darin befangen erscheint. Eben diesen Konflikt intensiviert Goethe. Erst als Tasso bei ihm schließlich die Fassung und mit ihr die Kontrolle über sein altes Selbstverständnis verliert, kommt er gewissermaßen zu seiner menschlichen Natur zurück; er kann sich sogar durch die Unterstützung Antonios wieder der Gemeinschaft eingliedern. In der Erfahrung des Scheiterns konstituiert sich seine Identität neu. Was ihm bleibt, ist die Kunst - die Fähigkeit zu dichten, die Welt in Sprache zu fassen. Das Schauspiel erscheint so als eine andere Form von Entwicklungsroman. 111 Für Goethe definiert sich in Torquato Tasso das Selbstverständnis des Künstlers insofern neu, als er, ohne in die Evasion zu flüchten, doch für sich und seine Kunst ein abgeschlossenes eigenes Reich etabliert. Der Dichter macht sich und die Dichtung selbst zum Gegenstand. Entsprechend gewinnt eben der Aspekt des Künstlerischen, der bereits bei Goldoni anklingt, größeres Gewicht. Die Reflexion über die Wirkung der Wahrnehmung von Dichtkunst und so auch die Wechselwirkung von Subjekt und Objekt der Dichtung oder allgemeiner von Autor und Leser, gewinnt zugleich an Tiefe. Damit tritt, wie es Eleonora Sanvitale feststellt, in dieser besonderen Stellung das Existenzproblem des Künstlers wie auch die Eigenständigkeit seiner Kunst deutlicher zutage. Bei Hofe ist eine Elite versammelt, die eigenen Gesetzen und Ansprüchen gehorcht und sich von der Stadt unterscheidet: Groß ist Florenz und herrlich, doch der Wert Von allen seinen aufgehäuften Schätzen Reicht an Ferraras Edelsteine nicht. kanntheit der italienischen Verhaltensliteratur in Deutschland belegen dagegen auch die über eine lange Zeit zu verfolgenden Nachdrucke der Galateo-Übersetzung des Nathan Chytraeus; vgl. dazu Della Casa (1984). 111 In langfristiger Betrachtung kündigt sich auch hier der Übergang vom „Cortegiano“ zum „poète maudit“ an; zur Ablösung des alten Selbstverständnisses vgl. auch Ley (2003). <?page no="62"?> K LAUS L EY 62 Das Volk hat jene Stadt zur Stadt gemacht, Ferrara ward durch seine Fürsten groß. 112 Wenn Tasso von Goethe in dem gesellschaftlichen Sonderraum des Cinquecento als exemplarische Dichtergestalt gesehen wird, erweist sich der Widerspruch zwischen Leben und Dichten als Vorgriff auf die Problematik der eigenen Zeit. Bewunderung und Kritik werden hier zusammengebracht. T ASSOS „I L M ALPIGLIO OVERO DELLA CORTE “ UND DIE K OMÖDIE - PLATONISIERENDE I DEALITÄT IM S PIEGEL DER W IRKLICHKEIT Bereits für Goldoni lassen sich die skizzierten Aspekte bündeln und zurückführen auf die gesellschaftskritisch fundierte Absicht, überkommene Verhaltensmuster auf die Probe zu stellen. Sein Vorsatz, das Schicksal Tassos in Hinsicht auf den Entwurf des Cortegiano zu thematisieren, bietet sich gewissermaßen von der Sache her an. Dazu bezieht er sich auf Il Malpiglio overo della corte, den Dialog, den Tasso 1582 im Ospedale di S. Anna verfasste. Es geht darin um eben die Begründung von Castigliones Idealentwurf als dem verbindlichen Gesellschaftsmodell der Zeit. Der Dialog spielt in Venedig, der Stadt also, die - wie Goldoni nicht zuletzt mit der Figur des Venezianers Tomio unterstreicht - immer ohne einen Hof existierte, da sie nach einer bewährten patrizisch-bürgerlichen Verfassung regiert wurde. 113 Tasso, als „forestiero napoletano“ selbst eine der Dialogfiguren von Il Malpiglio, setzt sich in diesem Werk entschieden für das von Castiglione entworfene Ideal ein. Da dieses nach seiner Absicht keiner Korrektur bedarf, geht es nur darum, die ideale Form grundsätzlich zu erörtern und ihren Anspruch zu festigen. 114 Allein deshalb ist der platonische Dialog und nicht, wie ausdrücklich gesagt wird, die das Leben im Wandel zeigende Komödie als Darstellungsform gewählt. 115 112 (I, 1), V. 51 ff., S. 56 (Goethe (1988)). An diesem Hofe, so betont Goethe, war es, wo immer wieder große Geister lebten: „Ferrara ward mit Rom und mit Florenz / Von meinem Vater viel gepriesen! Oft / Hab ich mich hingesehnt; nun bin ich da. / Hier ward Petrarch bewirtet, hier gepflegt, / Und Ariost fand seine Muster hier.“ (I, 1), V. 70 ff., S. 56 (ebd.). 113 Zum entsprechend begründeten Mythos Venedig seit dem 16. Jahrhundert vgl. Ley (1984), S. 64 ff. 114 Entsprechend soll allein das Unveränderliche, nicht das Werdende oder Vergehende Gestalt finden: „Chi forma l’idea non figura alcuna immagine che si muti colla mutazione fatta degli anni.“ (Tasso (1825), S. 447). 115 Nicht unbedeutend ist dabei, dass vor Tasso bereits Della Casas Galateo im Kern die Vorstellung bestätigt, dass das öffentliche Leben von den Gesetzmäßigkeiten der Komödie geformt werden soll, vgl. Ley (1984), S. 153 ff. <?page no="63"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 63 Stabilität bekommt Tassos Entwurf nicht durch die Menschen, sondern durch die besondere Konstruktion der Hofgesellschaft, wobei das auch noch von Goldoni vertretene Grundmuster menschlichen Verhaltens darin bereits formuliert ist. Diese Welt ist von Bedingungen geprägt, die sie als außerordentlich erscheinen lassen. Auch am Hof sind zwar die Menschen von Affekten aller Art bewegt, sie werden aber durch die besonderen Verhältnisse dazu gebracht, immer wieder über sich hinauszuwachsen und so zum höheren Zweck des Dienens für sich Ausgleich und Vollkommenheit zu finden. Das erklärt nach Tasso, in der Nachfolge Castigliones, zugleich das Funktionieren des monarchischen Prinzips. Denn die Sonderstellung des Principe, des Fürsten, der beinahe gottgleich über den Niederungen des Lebens steht, ergibt sich daraus, dass auf ihm als Schlussstein die Konstruktion des gesamten Gesellschaftsgebäudes ruht. Eben diese Prämisse allerdings, die in Venedig nie geteilt worden war, wird in der Zeit der Aufklärung vollends in Frage gestellt und für nicht mehr vertretbar gehalten. 116 Um grundsätzlich zu zeigen, wo die Probleme des Cortegiano-Ideals liegen, nutzt Goldoni die triste persönliche Lebenserfahrung Tassos als konkretes und wohlbekanntes Beispiel. Das Wissen um seine Schwierigkeiten bei Hofe setzt er gegen dessen eigenes, in den Dialogen dargelegtes Credo - gerade in der Form der Komödie, die Tasso für eine angemessene Behandlung dieser Thematik ausgeschlossen hatte. Wenn Tasso selbst in Il Malpiglio ganz seiner Zeit konform die Auffassung vertritt, der Cortegiano erstrebe - im Gegensatz zum Bürger, etwa des republikanischen Venedig, der sich zwar gleichfalls für die Erringung von Ansehen und Ehre („Onore“), allerdings doch letztlich zum Zwecke der eigenen Machtmehrung, einsetzt - allein die Anerkennung durch den Fürsten, so erklärt er zugleich damit diese Form von Ehre, die dem Dienen entspringt, als das höhere Ziel. 117 Die Argumentation wird nun bei Goldoni, konfrontiert mit den Umständen von Tassos Lebenswirklichkeit, als brüchig gezeigt, bevor sie dann von Goethe als gescheitert vorgeführt wird. Auf der Erfahrungsebene des weltläufigen Antonio lässt Goethe es dann zu dem neuen Ausgleich im Alltag der Lebenspraxis kommen. Die Existenz des Künstlers wird auf eine Grundlage des sozialen Miteinanders gestellt, die mit dem Hof nur noch mittelbar zu tun hat. Was sich 116 In Tassos Vorwurf, der Fürst sei ein Tyrann, gipfeln bei Goethe die Bedenken. Zugleich zeigt sich der Fürst als engstirniger Potentat, wenn als Argument gegen Tassos Romreise geäußert wird: „Er will verreisen; gut, ich halt ihn nicht. / Er will hinweg, er will nach Rom; es sei! / Nur daß mir Scipio Gonzaga nicht, / Der kluge Medicis ihn nicht entwende! “ ((V, 1), V. 2839 ff., S. 218, Goethe (1988)) . 117 Der Leitgedanke wird in Il Malpiglio so gefasst: „nella grazia del principe e nella benevolenza de’ cortigiani tutte l’altre cose paiono essere contenute“. (Tasso (1825), S. 450). <?page no="64"?> K LAUS L EY 64 hier sozusagen an der exponiertesten Stelle einer gesellschaftlichen Elite ereignet, kann auch anderswo verortet werden, zumal sich die realen Machtverhältnisse eher wenig unterscheiden. 118 In diesem Kontext liegen für Goethe die wesentlichen Voraussetzungen und Gründe für die Beibehaltung bzw. Weiterführung der vorgegebenen Theaterform. Daneben gibt es aber eine weitere, in der Vorstufe der Gattung selbst liegende Begründung, wobei es wiederum um die Funktion der Komödie als „speculum vitae“ geht, die nicht als Entwurffläche von weltfremden Theoremen missverstanden werden will. B OURSAULT UND DIE MORALISTISCHE F UNKTION DER „ COMÉDIE HÉROIQUE “ T ASSO : Du hast mich ganz auf ewig dir gewonnen, So nimm denn auch mein ganzes Wesen hin! (Er fällt ihr in die Arme und drückt sie fest an sich.) P RINZESSIN : (ihn von sich stoßend und hinwegeilend): Hinweg! 119 Als bedeutsam für den Erkenntnisanspruch der Dichterkomödie erscheint es, dass sowohl Goldoni mit seiner Vorentscheidung für eine tragikomische Ausgestaltung des Werks als auch Goethe mit seinem „Schauspiel“ Fortsetzungen des mit Boursaults Esope à la cour geschaffenen Typs der „comédie héroique“ schreiben. Im Avis au lecteur der 1724 postum erschienenen Textausgabe war auf eine gattungstypische Eigentümlichkeit hingewiesen worden, die für den Wirkungsanspruch dieser Form weiterhin Geltung hatte. Im Zusammenhang geht es um eine Szene (III, 3), die auf dem Theater nicht gespielt werden durfte, weil sie als Thema die Bekehrung eines Freigeistes behandelt: [ce qui] n’y étant pas tout-à-fait convenable. Il faut pourtant avouer que cette Scene est tres-bonne en soi: & que le motif sur lequel Esope presse son Athée de croire, s’il n’est pas bien convainquant, est du moins très-raisonnable. Il ne s’agissoit pas ici de convaincre un Philosophe sur l’existence des Dieux; mais de combattre dans un Courtisan un deffaut commun à la Cour, de n’y pas croire grand’chose. 120 Worauf es also in der Komödie ankommt, ist nicht die Erörterung von abstrakt philosophischen Vorstellungen und Ideen, sondern die Sichtbarmachung von Fehlern und Missständen im öffentlichen Leben, die Beschreibung von persönlich-subjektivem Betroffensein und implizit der Vortrag von Kritik, die in ihrer Summe durchaus auf die Grundsätze des 118 Für Goethe spricht der Fürst das Problem bereits zu Beginn an: „Die Menschen fürchtet nur, wer sie nicht kennt, / Und wer sie meidet, wird sie bald verkennen.“ ((I, 2), V. 310 f., S. 70, Goethe (1988)). 119 (V, 4), V. 3282 ff., S. 24 (ebd.). 120 Boursault (1725/ 1970), S. 285 f. [Hervorhebung durch den Verf.]. <?page no="65"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 65 Lebensentwurfs zurückschließen lassen. Ebendas ist auch noch das Anliegen von Torquato Tasso in den beiden Fassungen. Die Kritik, so wie sie der Bezug zu Il Malpiglio für das Selbstverständnis und die Ideologie des Dichters als Cortegiano darstellt, wird - von Goldoni wie von Goethe entsprechend auf dem Gebiet der Liebe und der Liebesdichtung geliefert durch den direkten Bezug zu einem weiteren bekannten Dialog Tassos, Il Molza overo dell’amore. 121 Von daher erklärt sich ja bereits die Funktion des Madrigals bei Goldoni; deutlicher spricht Goethe das Thema an. Im Gespräch der beiden Leonoren über die durch die Dichtung vermittelte Liebe und Liebeserfahrung heißt es: P RINZESSIN : Du hast dich sehr in diese Wissenschaft Vertieft, Eleonore, sagst mir Dinge Die mir beinahe nur das Ohr berühren Und in der Seele kaum noch übergehn. E LEONORA S ANVITALE : Du, Schülerin des Plato! Nicht begreifen, Was dir ein Neuling vorzuschwatzen wagt? 122 Die Liebe bildet die eigentliche Triebfeder auch von Goethes Stück. Hier geht es stärker noch als bei dem Prätext um die Kritik an der platonisierenden Eros-Konzeption. Wenn Tasso, kurz bevor es zu dem Übergriff, dem Aus-der-Rolle-Fallen gegenüber der Prinzessin kommt, sein im Einklang von Sinnen, Emotionen und Geist begründetes Hochgefühl bekennt, entspricht das Erleben formal durchaus dem Kairos, den Pietro Bembo im vierten Buch des Cortegiano beschwört. Denn er sei, so ruft Tasso voller Glück der Prinzessin zu: „Frei wie ein Gott, und alles dank ich dir! “ 123 Die hochgestauten Emotionen zielen aber dann nicht nur auf das Erreichen von geistiger, sondern ganz präsentisch auch von körperlicher Einheit: Es trübt mein Auge sich in Glück und Licht, Es schwankt mein Sinn. Mich hält der Fuß nicht mehr. Unwiderstehlich ziehst du mich zu dir, Und unaufhaltsam dringt mein Herz dir zu. 124 Wie die Reaktionen der Hofgesellschaft umgehend zeigen, wird damit die zugehörige soziale Ordnung empfindlich gestört. Tassos Verhalten erscheint jetzt völlig unangemessen und muss geahndet werden. Der Konflikt, zu dem es infolge des Aufeinanderprallens von Antonio und Tasso kommt, bricht rasch und mit voller Schärfe aus. Auch der Fürst wird unerwartet mit dieser Situation konfrontiert, die für ihn neu ist, wie 121 Zur zeitgenössischen Liebesphilosophie vgl. auch Ley (1975), S. 34 ff., 144 ff. 122 (I, 1), V. 218 ff., S. 64 (Goethe (1988)). 123 (V, 4), V. 3272 f., S. 242 (ebd.). 124 (V, 4), V. 3278 ff., S. 242 (ebd.). <?page no="66"?> K LAUS L EY 66 ihm Tasso bestätigt: „Du kennst uns beide nicht, ich glaub’ es wohl.“ 125 Wenn dann das Ergebnis seiner Entscheidung ist, dass er rohe Macht zeigt, verbleibt er einem gewohnten Denken verhaftet: „Indessen dein Vergehen macht, o Tasso, / Dich zum Gefangnen.“ 126 Auch am Hof gibt es somit in der Sache kein Vermeiden durch die Sonderstellung des Principe, ebendas zeigt auch Goethes Fürst. 127 Bedeutsam im Vorgriff auf die Schlusswendung der Neubestimmung der Dichters und Künstlers erscheint, dass Tasso als Phantast abgetan wird. Wenn aber Antonio ausruft: „Wo schwärmt der Knabe hin? “ 128 , beginnt er bereits, mehr als der Fürst ihm gegenüber Nachsicht zu empfinden. 129 Dabei verbleibt er dennoch im Ehrencodex des Cortegiano 130 , der ihm formal auch den Respekt gegenüber dem Dichter abverlangt: Als Menschen hab’ ich ihn vielleicht gekränkt. . Als Edelmann hab’ ich ihn nicht beleidigt, Und seinen Lippen ist im größten Zorne Kein sittenloses Wort entflohn. 131 Als Grundproblem steckt auch in diesem Casus letztlich die Frage, wie sich der Künstler als Intellektueller in der Moderne begreift. In der Folge des „poète malheureux“ Gilberts geht es hier um den Konflikt Werthers. Tasso verstößt schon allein deshalb gegen die Konventionen, weil er sich unstandesgemäß verliebt. Aus der damit sich entwickelnden neuen Selbstbegründung ergibt sich die Aufwertung gegenüber dem „vertueux“, dem Tatmenschen Antonio, was Tasso bald in den Konflikt treibt. 132 Die hier aufgeworfene Antithetik von Lebensformen findet sich präformiert in dem traditionellen Gegensatz, der in unterschiedlicher Be- 125 (II, 4), V. 1418, S. 134 (ebd.). 126 (II, 4), V. 1528 f., S. 144 (ebd.). 127 Tasso selbst hatte in Il Malpiglio noch eine Gradatio vertreten: Seine Dialogfigur Giovanlorenzo argumentiert, er könne gerade deshalb Cortegiano an einem Fürstenhof sein, weil er aus Venedig stamme: „perché sono allevato in questa città, nella quale il valore degli uomini risplende più chiaramente nella corte, che in altro luogo.“ (Tasso (1825), S. 450). 128 (II, 5), V. 1599, S. 144 (Goethe (1988)). 129 Den Unterschied bildet nun nur noch das Alter und die Erfahrung ((II, 3), V. 1362 ff., S. 130, ebd.). 130 Antonio führt den Gedanken so aus: „Gar leicht gehorcht man einem edlen Herrn, / Der überzeugt, indem er uns gebietet.“ ((II, 5), V. 1647 f., S. 146, ebd.). 131 (II, 5), V. 1613 ff., S 144 (ebd.). 132 Über die Einschätzung seiner eigenen Person bemerkt Tasso gegenüber Antonio: „An frohem Mut und Willen weich ich keinem.“ ((II, 3), V. 1295, S. 126, ebd.) und vorher: „Es ist nicht klug, es ist nicht wohlgetan, / Vorsätzlich einen Menschen zu verkennen. ((II, 3), V. 1248 f., S.124, ebd.). <?page no="67"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 67 nennung die Verhaltensliteratur immer schon beschäftigt hat. Es ist die Neuauflage des alten Spannungsverhältnisses von „arma et litterae“, das im Cortegiano-Ideal vorübergehend und notdürftig zum Ausgleich gefunden hatte. Allerdings wird es von Goldoni noch nicht direkt thematisiert; das geschieht erst durch Goethes Einführung des Antonio Montecatini. Bei der Herausbildung von Goldonis Dichterkomödien ging es zunächst eher allgemein um das Bemühen, die Frage nach der Ablösung des Alten aufzuwerfen, Leitlinien zu einer Erneuerung vorzustellen. Schon Molière hatte sich ja von den Gegenspielern seines als Komödie gefassten Projekts der Geschlechtererziehung abgegrenzt, in dem er die Bühne zur moralischen Anstalt gemacht hatte. Den Rahmen bildete jetzt die venezianische Gesellschaft, im Zentrum einer Republik, die es immer noch in Italien mit den anderen großen Metropolen nicht nur aufnehmen konnte, sondern gerade, was das Theater betrifft, durchaus eine ganz eigene Position einnahm. Die Bühne war, auf der Grundlage der „commedia dell’arte“, durchaus auch Ort von Kritik und Polemik, der aktuellen Auseinandersetzung um den richtigen Weg. Die von Goldoni durchgeführte Theaterreform wurde dadurch ergänzt, dass er Stoffe suchte, die das neue Publikum interessierten, auch seine Bedürfnisse befriedigten. Dazu zählte in dieser Zeit wieder die Frage, wie und nach welchen Orientierungsgrößen der Mensch in der sich verändernden Gesellschaft sein Leben einrichten soll. Von Goldoni werden die noch weitgehend als gültig angesehenen Normen des Ancien Régime, nach denen Tasso das Verharren in seinem Unglück am Hofe von Ferrara begründet, so erstmals in Frage gestellt. In der Komödie erscheint die Titelfigur, der Dichter Tasso, dabei noch ganz dem von ihm als historischer Person verteidigten Gesellschaftsmodell verhaftet, wenn er sagt: Amico, non son del tutto insano, È ver che la ragione talor cede all’amore ma in me spente non sono le massime d’onore. 133 Der Eindruck von Verrücktheit ergibt sich somit aus den falschen Rahmenbedingungen, denen er sich willig fügt. Denn da nach diesem Denkmuster, wie es Goldoni darstellt, „onore“ nicht nur das Korrelat, sondern zugleich auch das Korrektiv von „amore“ ist, muss er am Hofe von Ferrara bleiben: Vuol l’onor mio ch’io resti [. . .] In me sospetta il mondo fiamme che non son vere, 133 (IV, 9), Bd. 5, S. 824. <?page no="68"?> K LAUS L EY 68 Ma quando m’allontani per così ria cagione Pon perdere due donne la lor riputazione. 134 Die Erkenntnis der als richtig akzeptierten Grundsätze, nicht das Gefühl soll sein Handeln bestimmen. Das aber führt ihn, wie das Ende zeigt, in die Enttäuschung, macht ihn unglücklich, bevor er dann - völlig unerwartet - durch das Versprechen der Dichterkrönung eine ganz andere Genugtuung findet. No, fuor di me non sono; d’errar non ho timore: Il cuor non mi consiglia; parla ragione al cuore. 135 Vordergründig abgefangen werden die Angriffe auf die überkommene Weltordnung, die am Beispiel Tasso lanciert werden, durch den betonten Hinweis auf die Grenzen der Hofkritik. Der Fürst wird, so ist sich Tasso sicher, schon das Richtige tun: Del Duca le minaccie per questo i’ non pavento. [. . .] Può gelosia nel Prence svegliar la diffidenza, Ma la passione istessa dà luogo alla clemenza. 136 Als das Interesse des Publikums in Venedig sich erst noch auf solche vorsichtige Äußerung von Kritik an diesen Regelungen der Lebensbasis einstellte, wurden deren Voraussetzungen in Frankreich bereits sehr viel stärker in Frage gestellt. 134 Ebd. 135 Ebd. 136 Ebd. <?page no="69"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 69 R OUSSEAUS D ISCOURS ÜBER DIE P REISFRAGE DER A CADÉMIE DE C ORSE VON 1751 UND DAS S ELBSTVERSTÄNDNIS DES K ÜNSTLERS UND I NTELLEKTUELLEN IM Ü BERGANG ZUR M ODERNE Tasso über Alfonso - II, 1: Er ist mein Fürst! - Doch glaube nicht, daß mir Der Freiheit wilder Trieb den Busen blähe, Der Mensch ist nicht geboren, frei zu sein, Und für den Edlen ist kein schöner Glück Als einem Fürsten, den er ehrt, zu dienen. ((II, 1), V. 928 ff., S. 106) 137 Über Alfonso zu Antonio - V, 5: Du bist ein teures Werkzeug des Tyrannen; Sei Kerkermeister, sei der Marterknecht [. . .] Ja, gehe nur, Tyrann! Du konntest dich Nicht bis zuletzt verstellen, triumphiere! Du hast den Sklaven wohl gekettet, hast Ihn wohl gespart zu ausgedachten Qualen. ((V, 5), V. 3302 ff., S. 244) 138 Zur Zeit, als Goldoni seine Komödie verfasste, hatte Rousseau das Thema der Selbstsicht der Intellektuellen und der Dichter in einer Schrift behandelt, die weniger bekannt geblieben ist als die beiden Discours, die den Preis der Académie von Dijon erhielten. Den Text hatte er im Jahre 1751 zu der von der Académie de Corse gestellten Preisfrage „Quelle est la vertu la plus nécessaire aux Héros; & quels sont les Héros à qui cette Vertu a manqué? “ eingereicht. Im gegebenen Zusammenhang erweist dieser Discours sich als aufschlussreich, weil er das in ein Ungleichgewicht geratene Verhältnis von „vertueux“ und „sage“ reflektiert. Rousseau treibt so, ohne sie doch ganz auf den Punkt bringen zu können, die Problematik voran. 139 Über die Qualität seiner Stellungnahme bemerkt er selbst im Avertissement: „il n’y a jamais de bonne réponse à faire à des questions frivoles. C’est toujours une leçon utile à tirer d’un mauvais écrit.“ 140 Den- 137 Goethe (1988). 138 Ebd. 139 Noch bei Voltaire funktioniert die alte Idealvorstellung als Leitbild. Der Duc de Rohan entspricht diesem Bild: Der „héros“ als „honnête homme“ wahrt Haltung, selbst wenn er - so während der konfessionellen Auseinandersetzungen in Frankreich - in Konflikt mit der Staatsmacht gerät: „Avec tous les talents le ciel l’avait fait naître. / Il agit en héros, en sage il écrivit. / Il fut grand même, en combattant son maître, / Et plus grand lorsqu’il le servit.“ (Voltaires Subscriptio zum Portrait Rohans, zit. nach May (1788), S. 25). 140 Rousseau (1782), S. 4. Hier lassen sich, ins Allgemeine gehoben, durchaus auch die persönlichen Demütigungen erkennen, die etwa Voltaire zeitgleich durch Fried- <?page no="70"?> K LAUS L EY 70 noch glaubt er, damit etwas Treffendes, das sich noch nicht genauer artikulieren lässt, festzuhalten. Zur Lösung empfiehlt er abschließend den Versuch einer wechselseitigen Durchdringung des Wertekanons der gegensätzlichen Charaktertypen: tant que la puissance sera seule d’un côté, les lumieres & la sagesse seules d’un autre, les savans penseront rarement de grandes choses, les Princes en feront plus rarement de belles, & les Peuples, continueront d’être vils, corrompus & malheureux. 141 Dies macht ein Seitenblick zurück auf die zur selben Zeit entstehende Komödie Goldonis verständlich. Er zeigt nicht nur die Ironisierung der sozialpsychologischen Grundlagen des Ancien Régime, sondern auch - soweit überhaupt vertretbar - die Benennung der gesellschaftlich nur oberflächlich kaschierten Gegensätze. Auf der Linie des von Rousseau vorgeschlagenen Lösungsversuchs ergibt sich dann für Goethe das Experimentieren mit neuen Modellen des Verhaltens und des Daseins in der Gesellschaft: zunächst - lebensweltlich eher unfixiert - im Werther, dann präziser eingegrenzt unter den Lebensformen in Weimar in einem den Gegebenheiten entsprechend fast fortschrittlich-offenen Adelsstaat. 142 Wenn Goethe für diesen Entwurf mit Goldonis Schauspiel einen Bezugstext aus dem zwar traditionsgebundeneren Venedig, aber mit seiner unter den damaligen Bedingungen doch auch kosmopolitischen Gesellschaft wählt, so greift er vor allem die hier erstmals geäußerte Kritik auf, dem er den polarisierenden Schematismus Rousseaus überstülpt. 143 Das bereits von Goldoni formulierte, die Affekte betonende Menschenbild, das ja einer unangemessenen Formung schon entgegensteht, rich II. erlebte, aber auch ähnliche Bedrängnisse, wie sie sich in Rousseaus Leben finden. Am konkreten Beispiel wird so die Brisanz der Fragestellung deutlicher. 141 Die weitere Schlussfolgerung zeigt die Richtung auf, in der sich die Problematik weiterentwickeln wird: „O vertu! Science sublime des ames simples, faut-il donc tant de peines & d’appareil pour te connoître? Tes principes ne sont-ils pas gravés dans tous les coeurs, & ne suffit-il pas pour apprendre tes Loix de rentrer en soimême & d’écouter la voix de sa conscience dans le silence des passions? “ (Rousseau (1782), S. 86 f.). 142 Im Rückblick auch auf Goethe fasst Alberto Nota später in seinem eigenen Torquato Tasso die Ideologie des höfischen Systems zusammen, wenn über den unangepassten Dichter von einem Höfling gesagt wird: „Nel proteggere gli uomini letterati ed i dotti il duca adopera come principe savio ed illuminato.“ (Nota (1842-45), S. 181). 143 Deshalb auch erscheint Antonio als Mann des Kriegs, wie die Sanvitale zu ihm sagt: „Du bringst uns Krieg statt Frieden: scheint es doch, / Du kommst aus einem Lager, einer Schlacht, / Wo die Gewalt regiert, die Faust entscheidet.“ ((III, 4), V.1967 ff., S. 166, Goethe (1988)). <?page no="71"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 71 erscheint bei Goethe noch pointierter, weil dezidiert alle betreffend; von seinem Tasso wird es so formuliert: Der Mensch bedarf in seinem engen Wesen Der doppelten Empfindung, Lieb’ und Haß. Bedarf er nicht der Nacht als wie des Tags? Des Schlafens wie des Wachens? 144 Entsprechend bringt die Prinzessin, gegen ihre eigene Weltvorstellung, mit Erstaunen ihren Eindruck, dass der Geistesmensch dem Tatmenschen doch nicht ebenbürtig ist, auf den Begriff: Und schienst noch kurz vorher so rein zu fühlen, Wie Held und Dichter für einander leben, Wie Held und Dichter sich einander suchen [. . .]. 145 Den Gedanken des Spannungsverhältnisses von „arma et litterae“ entwickelt Goethes Tasso aus der Erfahrung bei Hofe. Als er auf den Tatmenschen Antonio gestoßen sei, so sagt er zu der Prinzessin Eleonora: Da dacht’ ich manchmal an mich selbst und wünschte, Dir etwas sein zu können. Wenig nur, Doch etwas, nicht mit Worten, mit der Tat Wünscht’ ich’s zu sein, im Leben dir zu zeigen, Wie sich mein Herz im stillen dir geweiht. 146 Dass der Dichter - als sich aus solcher Liebeserfahrung neu begreifendes Genie - den Part sowohl des „vertueux“ als auch des „sage“ vertreten will, also im Sinne von Rousseaus Ideen ganzheitlich und modern zu sein beansprucht, sagt Tasso noch einmal explizit zu der Prinzessin: Wenn, dich zu preisen, dir zu danken, sich Mein Herz entfaltet, dann empfind’ ich erst Das reinste Glück, das Menschen fühlen können; Das Göttlichste erfuhr ich nur in dir So unterscheiden sich die Erdengötter Vor andern Menschen [. . .]. 147 Dadurch, dass er sich „im Sturm, der uns umsaust und niederwirft“ 148 erlebt, kommt er zu sich selbst und zu seiner neu geahnten Würde. Die Gleichheit, zwischen Tatmensch und Dichter, zwischen „vertueux“ und 144 (IV, 2), V. 2346 ff., S. 188 (ebd.). 145 (II, 1), V. 801 ff., S.98 (ebd.). 146 (II, 1), V. 907 ff., S. 104 (ebd.). 147 (III, 2), V. 1067 ff., S. 114 (ebd.). 148 (II, 1), V. 1078, S. 114 (ebd.). <?page no="72"?> K LAUS L EY 72 “sage“, aber ist, wie er erkennen muss, in seinem Leben bei Hofe nur Schein. Das stellt auch Leonore Sanvitale nach dem Zusammenstoß Tassos mit Antonio fest: Antonio geht frei umher und spricht Mit seinem Fürsten; Tasso bleibt dagegen Verbannt in seinem Zimmer und allein. 149 Gegen seine Ansprüche steht zunächst das tonangebende Selbstverständnis der Gegenseite. Das spricht Tasso in der Krise des Konflikts mit Antonio und dem Fürsten aus, wobei er sich auf das Symbol des „vertueux“ bezieht: Hier nimm den Degen erst, den du mir gabst, Als ich dem Kardinal nach Frankreich folgte, Ich führt’ ihn nicht mit Ruhm, doch nicht mit Schande Auch heute nicht. 150 Wenn Tasso sich, nachdem er auch in der Erfüllung seiner Liebe gescheitert ist, am Schluss an Antonio festhält, so zeigt sich darin, dass Goethe das als Gegensatz konstruiert erscheinende Verhältnis der beiden Typen oder Charaktere im Sinne von Rousseaus Discours neu austariert - entsprechend der Sentenz, mit der zuvor schon Leonore Sanvitale dem Antonio zum Ausgleich geraten hatte: Der Baum ist breit, mein Freund, der Schatten gibt, Und keiner braucht den anderen zu verdrängen. 151 Als weiterer Grund für die Ansiedlung der Problematik am Fürstenhof lässt sich nun noch anführen, dass der Dichter Tasso dadurch, dass er dort in seiner Isolation existiert, zwar eine zunehmende Entfremdung erlebt, dass er aber auch zugleich unangepasst den Blick auf Widersprüche lenken kann und aus solcher Erfahrung zu seiner neuen Selbstbegründung gelangt. 149 (III, 2), V. 1663 ff., S. 148 (ebd.). 150 (II, 4), V. 1562 ff., S. 142 (ebd.). 151 (III, 4), V. 2009 f. S. 168 (ebd.). Tasso begreift sich in seiner Besonderheit als Dichter und erlebt, dass die Kunst als „trotzdem“, als „als ob“ funktioniert. Hier ist daran zu erinnern, dass Goethe seiner Marienbader Elegie als Motto die Verse aus dem Schluss von Torquato Tasso voransetzte. <?page no="73"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 73 K ONSEQUENZEN DER N EUORIENTIERUNG FÜR DAS V ERSTÄNDNIS VON L IEBE UND L IEBESDICHTUNG : Z UR A MBIVALENZ DES D ICHTERS ALS S PRACHKÜNSTLER Das Stück ist schön versifiziert, und die martellianischen Maße nehmen sich auf dem Theater weit besser aus, als ich glaubte. August Graf von Platen über die Aufführung von Goldonis „Torquato Tasso“ 152 Nachdem Goldonis Tasso dem durch seine Dichtung ausgelösten Erlebenswirrwarr fast wehrlos ausgesetzt schien, veranschaulicht der sich ganz neu als Genie erfahrende Dichter in Goethes Schauspiel einen wichtigen Schritt bei der radikalen Veränderung der gesellschaftlichen Einordnung als des Künstlers und Intellektuellen und des entsprechenden Selbstverständnisses, wie es sich seit Rousseau weiter ausprägte. Bei aller Enttäuschung akzeptiert Tasso als Dichter hier schließlich seine soziale Rolle und seine eigene Bedeutung in einem sich verändernden gesellschaftlichen Kontext so, dass er in ein angemessenes Verhältnis zur neuen Wirklichkeit treten kann. Die verstärkte Freisetzung als Individuum, zu der es bei der Entbindung aus dem Netz traditioneller Verantwortlichkeiten kommt, füllt er auch mit dem Anspruch auf größere Eigenständigkeit und dem Pochen auf eine gesteigerte Identität auf, indem er die Leiderfahrung ganz für sich vereinnahmt. Die Subjektivierung zeitigt auf allen Ebenen des künstlerischen Geltungsanspruchs Folgen. Das Auseinanderfallen von Subjekt und Objekt ereignet sich sowohl hinsichtlich der Ausgrenzung aus dem alten Kosmos der Hofgesellschaft, der sich nun als Fiktion entlarvt. Denn er erweist sich als genauso interessengeleitet wie der Lebensraum der nur scheinbar anders funktionierenden, weniger angesehenen Stadt, die allerdings die größere Freiheit bietet. Der Prestigeverlust, den das „onore“-Konzept, wenn man es dem Praxisschock aussetzt, erleidet, hat ganz selbstverständlich Auswirkungen auf die damit verbundene Liebeskonzeption. „Diletto“ und „piacere“, als Doppelziel der Liebeserfahrung, spalten sich von der Ganzheit des Erlebens ab. Sie werden in unterschiedlichem Maße jeweils nur partiell wahrgenommen. Der Liebende, wenn er denn als Dichter, als Urheber der poetischen Botschaft, emotional betroffen ist, erreicht so nicht mehr das Objekt seines Begehrens, wobei sich zugleich zeigt, dass dieses Objekt als der Mensch in einer konkreten Lebenssituation über das Liebesbekenntnis in einer ganz eigenen, dem Dichter nicht mehr kontrollierbaren Weise verfügt. Dichter, Dichtung und das vielgestaltige Publikum als Adressat nehmen unabhängig voneinander ihre eigenen Wege und machen aus dem poetischen Gegenstand das, was 152 Platen (1969), S. 813. <?page no="74"?> K LAUS L EY 74 ihnen jeweils gefällt. Der Dichter weiß am Schluss aber wenigstens um seine Fähigkeit, „zu sagen, was ich leide“, und das begreift er nun als Kern seines Künstlertums. Er weiß aber zugleich auch um die Wirkung seiner besonderen Virtuosität als Künstler, durch die sein Werk in der Öffentlichkeit Anerkennung und Bewunderung findet. Damit gerät ein Element der Subjektivierung auch in die Ästhetik, das sich korrespondierend wieder findet in der Aufnahme seines Schaffens beim Publikum. Goldonis zentrale Idee bei der Vorstellung der Dichterproblematik in seinem Torquato Tasso zeigt noch die Rohform der weiteren Entwicklung. Er deckt auf, dass, wenn es um die Sprachkunst - das Madrigal - geht, als mehr oder weniger zufällige Adressaten alle, in welcher Form auch immer, affiziert sind. Die Frauen fühlen sich geliebt, geehrt oder auch nur geschmeichelt, sind eitel und eifersüchtig aufeinander. Aber auch der Fürst ist betroffen; wie der Ehemann der Sanvitale steckt er voller Eifersucht. Das Versprechen zur Ehe, das er - auf diese Weise motiviert - der ersten Eleonore gibt, bildet schließlich die entscheidende Barriere und bedeutet nicht nur den Abbruch für die erotischen Wünsche Tassos, sondern auch am Ende das Bekenntnis zu der Ausrichtung auf das Liebesobjekt 153 . Die im Spiel mit dem sich nun als leerer Wahn entpuppenden Ideal ausgelöste Illusion, die damit zerstört wird, lässt aber das zur Wirkung eingesetzte Madrigal, das poetische Meisterwerk, in seiner Vollkommenheit unberührt. 154 So wird verständlich, dass und wie auch auf diesem Gebiet in das Wirkungskalkül schon bei Goldoni erneut der Theoretiker Tasso einbezogen ist. Denn er hatte ja nicht nur in seinen Dialoghi zu Fragen des Verhaltens und der Affektenlehre, sondern in weiteren Schriften ganz speziell zur Dichtung und zur Dichtungstheorie Stellung genommen. 155 Auch diese hatte er dem gemeinsamen Zweck der Beförderung des zivilisatorischen Programms der Gegenreformation mit ihrem platonisierenden Idealismus zugeordnet. Der metareflexive Aspekt findet eine Ergänzung in den Auseinandersetzungen, die Tasso mit der Accademia della Crusca hatte und die Goldoni - neben der Fülle der Zitate - mit der Figur des Cavaliere del Fiocco explizit in sein Stück hineinholt. Wie die anderen Elemente aus dem Kontext Goldonis wird auch dieser Impuls dann von Goethe als tragende Vorgabe für sein Schauspiel 153 (IV, 12), Bd. 5, S. 827. 154 Das gilt exemplarisch für die Gültigkeit des gesamten künstlerischen Schaffens, das ja wie nach einem „bric à brac“-Verfahren in den Textablauf eingeflochten ist. 155 Wie in Goldonis Komödie, ihrerseits ähnlich Molières Le Misanthrope, geht Tasso selbst in dem Dialog La Cavaletta ovvero della poesia toscana von einem Sonett als Gesprächsgegenstand aus, im weiteren Fortgang wird ein zweites Gedicht, dieses Mal von Giovanni della Casa, hinzugenommen. Tassos Reflexionen zur Dichtkunst finden sich auch in anderen Discorsi und Lezioni. <?page no="75"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 75 aufgenommen, allerdings erneut verschoben und radikalisiert. 156 Die Dichtung wird nun - so die Funktion im Publikum - zunächst als ein Vorstellungsraum erlebt, der Entlastung im Alltag bringt. Die beiden Eleonoren drücken das entsprechend aus: Wir können unser sein und stundenlang Uns in die goldne Zeit der Dichter träumen. 157 Wenn dann das alte Liebesideal zerstört ist durch Tassos emotionales, als Unkontrolliertheit eingeordnetes Drängen und, angesichts der unaufhebbar scheinenden gesellschaftlichen Normen und Schranken, keine in sich kohärente Lösung in einem geschlossenen Rahmen gefunden werden kann, tritt als Ersatz das ein, was sich als Kunstreligion fassen lässt. Damit konstituieren sich Wirkungszusammenhänge, auf die sich alle Seiten einigen können oder verpflichten lassen. 158 Voraussetzung bleibt, wie bei der Wirkung des Madrigals und der „Gioielli“, der Tasso-Fragmente, in Goldonis Werk die Konstruktion einer Welt des Scheins in der Dichtung. Am Beispiel der Liebe wird die Problematik bei Goethe aus den verschiedenen Perspektiven von Dichter und Publikum durchgespielt. So sagt Leonore Sanvitale: Uns liebt er nicht - verzeih, daß ich es sage! -, Aus allen Sphären trägt er, was er liebt, Auf einen Namen nieder, den wir führen, Und sein Gefühl teilt er uns mit; wir scheinen Den Mann zu lieben, und wir lieben nur Mit ihm das Höchste, was wir lieben können. 159 Der Bezug zu Tassos dichtungstheoretischen Positionsbestimmungen wird, so transformiert, nach den neuen Deutungsmustern überhöht zur ästhetischen Weltanschauung. Damit zugleich verwandelt sich das Ende 156 So betrachtet ist auch Goethes Schauspiel insgesamt von metapoetischer Qualität, wenngleich - mangels wörtlicher Zitate, die ja im deutschen Sprachraum nicht hinreichend bekannt wären, - diese Dimension nur indirekt, etwa über die Inszenierung von Tassos Skrupel bei der Abfassung des Epos vermittelt werden kann. 157 (I, 1), V. 22 f., S. 54 (Goethe (1988)). Die Vorrede der Leonore Sanvitale akzentuiert den Gedanken noch: „Ich halte mich am liebsten auf der Insel / Der Poesie in Lorbeerhainen auf.“ ((I, 1), V. 140 f., S. 60, ebd.). 158 Die Kunst und die von ihr verkündete Form von Liebe haben ihren ganz eigenen Bereich. Die Sanvitale verläßt denn auch das Arkadien Ferraras, um im wahren Leben anderen Beschäftigungen nachzugehen und ihren Aufgaben zu genügen: „Es ruft die Pflicht, es ruft die Liebe mich / Zu dem Gemahl, der mich so lang entbehrt.“ ((I, 1), V. 46 f., S. 54, ebd.). 159 (I, 1), V. 212 ff., S. 64 (ebd.). <?page no="76"?> K LAUS L EY 76 Arkadiens, das hier verkündet wird, in die neue Kunstauffassung, die zum „l’art pour l’art“ weiterführt. 160 Tasso-Bilder aus Italien nach Goethe: der Dichter und seine Kunst als problematisches Liebesobjekt Si rimprovera a Goethe che troppo lunghe sono le scene, troppo lento l’andamento, troppo radi i punti scenici che ferman la mente; che le lunghe e varie descrizioni sono estranee al genere drammatico, che Tasso non è il sommo epico, né il gentil cavaliere nato sotto al ridente clima della nostra penisola, ma sibbene un freddo pensatore del freddo settentrione; finalmente si occupa il poeta alemanno di avere, contro la verità storica, rappresentato Tasso siccome un uomo insolente, poco leale, sospettoso e diffidente senza ragione, e sognatore perpetuo di tradimenti che non esistono fuorché nell’ammalata sua immaginazione. 161 In der Folgezeit als Gefahr erkannt wird, dass das Abbrechen der Vorstellung von einer letztlich doch als klar umrissen vorgestellten Kommunikation zwischen Dichter und Publikum zu einer unüberschaubar werdenden Partikularisierung der Ausdeutbarkeit von poetischen Mitteilungen führt. Vor allem in den italienischen Tasso-Dichtungen erscheint dieses Ausufern abgefangen durch die Neuausrichtung des Liebesverhältnisses im Geiste der aufkommenden Romantik. Hier erwidert, anders als bei Goethe, die Prinzessin Eleonore als edle Frau die Liebe des Dichters. Damit sind die Konventionen der Hofgesellschaft aufgehoben, und es kann sich ein neuer Kontext, auch für die Erotik, etablieren. 162 Dabei liegen die Akzente verstärkt gerade auf der politischen Ebene: Tasso wird als Opfer der feudalistischen Zustände gezeigt. 160 Ein Argument der Genieästhetik leitet sich her aus der hier zwar anklingenden, aber nicht weiter ausgeführten Problematik des Zwangs, der - wie schon die beiden Fassungen der Gerusalemme zeigen - die Kreativität nicht nur freisetzt, sondern sogar steigert. 161 Nota (2001), S. 232: Ragionamento sul presente dramma [Torquato Tasso]. In dieser vergleichenden Stellungnahme kommt die Komödie Goldonis noch schlechter weg als das deutsche Schauspiel, denn der Venezianer habe schlichtweg seine Aufgabe verfehlt: „conveniva porre i vari caratteri in tali posizioni che ne risultassero equivoci. Sali e risate, il che tutto a la condizione d’un uomo sommo che soffra da tante tali ingiuste persecuzioni, e cui preme il petto focosissimo vietato amore.“ (ebd.). Der Kritiker übersieht, dass es gerade Goldoni um solche Eindeutigkeit nicht ging. 162 Diese italienischen Fortführungen sind, ohne dass es später noch gesehen worden wäre, auch in der deutschen Kunstszene bekannt, so bei Richard Wagner, der seinen Tristan in einem Konkurrenzverhältnis zu Goethes Tasso sah; vgl. dazu Borchmeyer (1982), S. 253 f., 386. <?page no="77"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 77 So wird der Dichter, der sich bei Goethe in seinem Solipsismus nicht nur befangen, sondern schließlich auch respektiert sah 163 , in die Gesellschaft zurückgeführt. Während Tasso in der vornehmlich an Goethe angelehnten Tradition, die sich auch in der Malerei, etwa in C. F. Sohns bekanntem Gemälde findet, als introvertierter Träumer erscheint, tritt er in Italien gesellschaftszugewandt beim öffentlichen Rezitieren seiner Dichtung auf. 164 Tasso und die beiden Eleonoren , Gemälde von C. F. Sohn (1839) Was die Wirkung der Poesie betrifft, steht hier vage das ästhetische Moment im Vordergrund; Dichtung vermittelt sich in vollkommener Form als imaginationsstiftende Kraft. 165 Idealtypisch erscheint die Prinzessin Eleonore als wahre Verkörperung des Publikums, über sie wird die Aufnahme von Tassos Kunst gelenkt. Die beiden bedeutendsten Zeugnisse der Auseinandersetzung mit dem Dichter der Gerusalemme auf der 163 Voller Verständnis sagt der Herzog zu Beginn: „Stört ihn, wenn er denkt und dichtet / In seinen Träumen nicht und laßt ihn wandeln.“ Darauf Leonore: „Nein; er hat uns gesehn, er kommt hierher.“ ((I, 2), S. 378 ff., S. 74, Goethe (1988)). 164 Im Jahre 1839 gestaltete Carl Ferdinand Sohn das Thema des in Anwesenheit der Damen dichtenden Tasso und die beiden Eleonoren, der sich - wie bei Goethe - ganz von seiner Begleitung abgewandt in das Werk vertieft; vgl. Katalog von Aurnhammer (1995), Abb. 4 (im Goethe-Museum Düsseldorf, 22.2.- 30.4.1995). 165 Die der Poesie Tassos zugesprochene Qualität lässt sich im Sinne C. Segres als die eines „edonismo linguistico“ begreifen. <?page no="78"?> K LAUS L EY 78 italienischen Bühne stammen von Alberto Nota und Gaetano Donizetti; beider Werke sind nach längerem Vorlauf in den Jahren 1833/ 34 auf die Bühne gekommen. 166 Zu einem gewissen Schlusspunkt findet die Thematik in der Tragödie von Paolo Giacometti (1855). A LBERTO N OTAS „T ORQUATO T ASSO “ (1816/ 34) ODER DER S IEG VON K UNST UND L IEBE ÜBER DIE P OLITIK Bereits bei Notas als Komödie konzipiertem Stück, an dem er seit 1816 arbeitete, spielt die Musik eine nicht unwichtige Rolle. 167 Auch das Moment der ästhetischen Einordnung von Tassos Dichtung wird erwähnt. 168 Dem Dramatiker kommt es aber dann doch mehr auf die politische Ausrichtung des Stoffes an: Tasso erscheint als Opfer von Hofintrigen 169 , wobei der Fürst trotz aller Kritik weniger negativ dargestellt ist als Antonio Montecatino. In Abgrenzung zur deutschen Vorlage bemerkt Nota, bei Goethe sei „[il] principe troppo affettuoso e benigno verso il poeta“, dessen Bild des Antonio als eines „savio, filosofo“ entspreche gar nicht der Wirklichkeit. 170 Die zutreffenderen Grundlagen dagegen habe er, so wird festgehalten, in den historischen Forschungen gefunden, „che molta 166 Verwendete Ausgabe von Nota (1842-45) [Torquato Tasso: S. 179-253]. 167 Nota verlangt in einem Brief vom 7.9.1834 zur bevorstehenden Aufführung: „La suonata in tono lugubre [. . .] potrebbe pigliarsi dalla celebre opera il ‚Don Giovanni’ di Mozart, e appunto quel bel minuetto delle maschere sarebbe adatto.“ (Nota (2001), S. 229 et pass.); auch in der Druckfassung ist dieser Hinweis festgehalten: V, 1; in: Nota (1842-1845), Bd. VIII, S. 238). Außerdem wird dort als konkurrierend ein Schauspiel gleichen Titels von dem Franzosen Alexandre Duval genannt. Dazu heißt es: „nulla vi ha di vero, fuorchè l’ingegno dell’autore.“ (Nota (1842-1845), Bd. VIII, S. 267). Ein Vergleich beider Stücke findet sich in der Einleitung J.-F. Bayards zu der von Th. Bettinger vorgelegten französischen Übersetzung der Komödien von Nota und Giraud (vgl. Bettinger (1839), S. 256). 168 Deren Bewertung hängt von der Voreinstellung der Urteilenden ab; aus der Sicht der Höflinge heißt es: „Ma ditemi: è ella poi gran cosa di meraviglioso questa lunga, interminabile filastrocca della ‚Gerusalemme’, per cui si è levato tanto rumore? [. . .] Il poema sarebbe pochissima cosa, massimo in confronto dell’’Orlando’“. ((I,1), S. 183, Nota (1842-45)). 169 Eingeführt wird er - zu dieser Zeit schon erwartbar - als schwieriger Charakter: „Un poeta arrogante e d’impetuosa natura mette sossopra la corte con le sue stravaganze, con le sue pretensioni“. (I, 1), S. 181, ebd.). 170 „la storia dice [. . .] che, succeduto al Pigna, [. . .] gli fu pur successore nell’odio e nelle persecuzioni contro Torquato“. Dagegen bemerkt Nota über den Fürsten: „per quanto io volgessi e rivolgessi nelle memorie di que’ tempi, non mi sarebbe stato possibile, senza tradire la verità, il ritrarre quel principe con tinte risentite e sinistre.“ (Premessa dell’ autore a’ tre drammi storici in Nota (2001), S. 233). Zum zeitgenössischen Vergleich beider Stücke vgl. Vico (1838). <?page no="79"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 79 luce diffondono sulla corte del Duca Alfonso e sulle persone che ebbero tanta parte nell’apprestar la disgrazia all’infelice epico.“ 171 Ziel von Notas Komödie ist eine „pièce bien faite“. 172 Der Motivkomplex der Wirkung von Kunst und Dichtung findet dabei breite Berücksichtigung, so wenn Leonora Sanvitale fragt: „non si potrà pregiare una persona ne’ termini d’una affezione pura ed onesta? “ und der Höfling antwortet: „Non credo nulla: il Tasso è letterato, poeta; e gli omaggi di un poeta e di un letterato lusingano il vostro amor proprio . . .“. 173 In Notas Stück verliebt sich, wie die Höflinge bald vermuten, die Prinzessin Leonore in den sie wiederliebenden Tasso: „E non mi sono ingannato: tra la contessa e Torquato regna un’amorosa corrispondenza.“ 174 Die erotischen Verwirrungen entstehen so, dass die Prinzessin aus Edelmut ihre Liebe verheimlicht, damit die Hoffnungen der anderen Leonore nicht enttäuscht werden. 175 Der Dichter wird, trotz aller Drangsale, die er durchleiden muss, als großes, wenngleich unglückliches Genie gefeiert - wie im religiös überhöhten Dialog am Ende des 3. Akts: (T ASSO : ) [. . .] ahi me infelice! (L EONORA : ) Deh Tasso, abbiate pietà di voi stesso, di noi che vi preghiamo . . . (T ASSO : ) [. . .] io m’abbandono a voi: le anime compassionevoli sono figlie elette del cielo [. . .]. (E RCOLE : ) Dono fatale dell’ingegno, sei premio o pena a chi ti possiede? 176 171 Nota (2001), S. 233: Ragionamento sul presente dramma. 172 „ho procurato che gradatamente progredisca l’azione, [. . .], infine che dal principio alla fine il principal personaggio sia messo opportunamente a confronto co’ diversi caratteri.“ (Ebd.). 173 (III, 1), S. 208, Nota (1842-45). 174 (III, 3), S. 209, ebd. Hier bekränzt die Prinzessin aus eigenem Antrieb und nicht, wie bei Goethe, auf den Rat des Fürsten den bewunderten Dichter. Nota führt als Vorbild eine Episode an: in Frankreich habe Caterina de’ Medici den Dichter so voller Bewunderung geehrt. Vgl. (II, 6), S. 201 (ebd.). 175 Ganz entgegengesetzt der Bekenntnisszene bei Goethe, in der die Prinzessin den Dichter zurückstößt, entdeckt sich die verschleierte Leonora im Anagnorisis-Finale von Notas Schauspiel: „Eccomi, Torquato; non avrete più dubbi: questo istante tutta vi svela l’anima mia.“ ((? , ? ), S. 253, ebd.). 176 (III, 10), S. 220, ebd. Die Faszination des von der Politik verfolgten Dichters beschäftigte auch den Gelehrten Francesco de Sanctis, der während seiner Inhaftierung in Neapel ein Tasso-Drama verfasste, das um 1852 von einem bald bekannt werdenden Maler, Domenico Morelli, abgeschrieben wurde. Dieser Maler, der sich bereits - wie in Italien andere vor ihm - mit dem Thema befasst hatte, kam später mit vielbeachteten neuen Werken auf den Gegenstand zurück. Vgl. Martorelli ( 2005), S. 94 ff. und Poppi (2001), S. 229. <?page no="80"?> K LAUS L EY 80 D ONIZETTIS T ASSO -B ILD (1833) ALS I NBEGRIFF ROMANTISCHEN K UNSTVERSTÄNDNISSES Gaetano Donizettis in ihrer Eigenständigkeit bislang wenig gewürdigte Oper Torquato Tasso, die 1833 erstmals gespielt wurde, hatte gleichfalls eine längere Vorgeschichte. 177 Im Textbuch wurden - auch auf Betreiben des Komponisten - sowohl Elemente aus Goldoni wie aus Goethe zusammengebracht. 178 Nicht allein die aufwendigen Vorbereitungen deuten darauf hin, dass Donizetti in der Sache überaus engagiert war. Das Werk, das immerhin so bekannt war, dass A. Diabelli um 1840 Vier Potpourris nach Motiven der Oper „Torquato Tasso“ für Pianoforte allein in Umlauf brachte, fand offenbar keinen voll durchschlagenden Erfolg. Wenige Jahre später wurde es unter den Titeln Sordello il trovatore bzw. Sordello aufgeführt, also in der historischen Zuordnung verändert und auf den italienischen Minnesänger aus dem späten Mittelalter zentriert. Die Oper blieb zwar so immer noch dem Dichtermilieu verhaftet, die direkte Fortführung der aus den berühmten Vorlagen entnommenen Problematik allerdings wurde verwischt. Das Libretto zeigt in seiner komplexen Anlage eine Auseinandersetzung mit den Kernaspekten aus den Werken Goldonis und Goethes, die als schlüssig und durchaus treffend erscheint. Anders als dort wird allerdings die Geschichte Tassos weitergeführt in die Phase der psychischen Erkrankung, die den Schlussakt der Oper ausmacht. Als pathetische Lösung ist die Befreiung aus dem Kerker für die bevorstehende Dichterkrönung gewählt. Im Gegensatz zu den übrigen zeitgenössischen Fassungen verbleibt die Handlungsführung des hier interessierenden Hauptteils zunächst bei der Uneindeutigkeit der Liebesbeziehung nach außen. Welche der beiden Eleonoren der Dichter liebt, der mit seiner Kunst in der eigenen Betroffenheit die Gefühle des Publikums zu wecken weiß, ist lange offen. Eine 177 Torquato Tasso, opera seria in tre atti (UA 19.9.1833, Teatro Valle, Rom). Libretto: Iacopo Ferretti, mit starker Beteiligung des Komponisten (eine Textfassung unter „Gaetano Donizetti“, 8.6.2009). Nach längerer Vorlaufphase wurde das Werk im Sommer 1833 in Rom abgeschlossen. Zwei Aufnahmen liegen vor: Camden Festival (OPR 9 (2, m.), 1974 und London (MRF 135 (3, s/ l.), 1974. Der Librettist war, bereits durch seine Zusammenarbeit mit Rossini, ein bewährter Textdichter; u. a. hatte er das Libretto für La Cenerentola (1817) verfasst. 178 Neben Compagnoni ist hier außerdem Giovani Rosinis romantische Umdeutung prägend. Zum Beitrag Rosinis, dem Saggio sugli amori di Torquato Tasso e sulle cause della sua prigionia (Rosini (1832)), und den Einschränkungen Donizettis dazu bei der Komposition der Oper vgl. dessen Brief an Mayr vom 27.5.1833. Lange später kommt es zu erneuter Stellungnahme in der Risposta di G. Rosini alle antiche accuse sugli amori di T. Tasso rinnovate dopo XX anni dal Sign. Leopaoldo Guasti (Rosini (1855)). <?page no="81"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 81 Entscheidung stellt sich erst im weiteren Verlauf ein. Zur Wahl stehen zunächst wieder die Prinzessin, die Schwester des Fürsten also, und - wie bei Goethe, hier allerdings unverheiratet - die zweite Eleonore. Auf dieser Beziehungsebene spielt sich das eigentliche Geschehen um Liebe und Dichtkunst ab, an das die politische Intrige nach dem leicht veränderten Muster Goldonis angebunden ist. Auch hier kommt das Drama der Zerstörung von Tassos Leben von außen. Voller Eifersucht auf den vermeintlichen Nebenbuhler, eben den wegen seines künstlerischen Talents von den Frauen verehrten Tasso, versucht Don Gherardo, ein wenig kunstsinniger Höfling, der in die zweite Eleonore verliebt ist, diesen zu Fall zu bringen. Dazu bietet sich Roberto, der Sekretär des Fürsten an, der als von großer Dichtung begeisterter Dilettant seinerseits voller Neid auf Tasso als Person ist. So wiederholen sich affektische Konfigurationen, wie sie von Goldoni eingeführt worden waren. Auf Robertos Treiben wird Tassos verborgene Liebe zu der Prinzessin Eleonore, die durch die Uneindeutigkeit der Namenszuordnung verschleiert ist, verraten. Während sich dieser Handlungsstrang entfaltet, erlebt Tasso in kosmischer Entgrenzung, dass sich seine Gefühle für die Prinzessin voll entzünden. Die so geliebte Frau sieht sich, nicht zuletzt durch die Verse, die er ihr vorträgt, geschmeichelt und erwidert, ohne allerdings in entsprechender Tiefe bewegt zu sein, sein Empfinden. Ein im Vergleich dazu sehr viel stärkeres Missverhältnis erotischen Gestimmtseins zeigt sich dagegen bei dem Paar Don Gherardo - Eleonora Scandiano. Der Versuch Don Gherardos, diese gleichfalls von Tassos Kunst affizierte Frau für sich einzunehmen, scheitert; er wird von ihr zurückgestoßen. Die von Goldoni und Goethe aufgebaute Thematik der Brüchigkeit und Undurchschaubarkeit von Liebeserfahrung sowie deren Verbindung zur Entstehung und Wirkungsweise von Dichtung werden in der Oper unter den Bedingungen der Zeit neu perspektiviert. Dazu trägt auch die Gestalt des Sekretärs Roberto bei, der als zweiter direkter Gegenspieler Tassos zwar dessen künstlerisches Vermögen bewundert, der aber zugleich voller Neid ein Konkurrenzverhältnis zu ihm als Mann aufbaut. So kommt es schließlich zum Zusammenstoß Tassos mit der Staatsgewalt, da dessen unstandesgemäße Liebe zu der Prinzessin aufgedeckt wird. Der Fürst muss handeln, weil der Dichter gegen die gesellschaftlichen Regeln und Konventionen verstößt. Die Prinzessin stimmt einer Standesehe zu. Angesichts dieser Konfrontation mit den Zwängen der Realität verfällt der gefangen gesetzte Dichter dem Wahnsinn. Als er anlässlich der Einladung nach Rom zur Dichterkrönung vom inzwischen eingetretenen Tod der Prinzessin erfährt, kehrt der Dichter zu seiner Kunst zurück. Die nach Mustern romantischer Dramaturgie gebaute Oper Donizettis erscheint nicht nur als die vielleicht anspruchsvollste, sondern auch als die für ihre Zeit modernste Weiterführung der Thematik. Dabei ist das <?page no="82"?> K LAUS L EY 82 Liebesmotiv nach Vorstellungen romantischer Polarität neu aufgespalten. Tasso findet auch hier die Gegenliebe der Schwester des Herzogs, dagegen ist die andere Eleonore (Scandiano), die den Dichter - wegen seiner Dichtung - liebt, von diesem nicht wiedergeliebt. Die Antithetik wird noch weitergeführt: Don Gherardo, der Verehrer der ihn nicht wiederliebenden Gräfin Scandiano, die aber den Dichter als den unerreichten Anderen liebt, erscheint als Narr, insofern zugleich als ein abgespaltenes Gegenbild zu Tasso, der ja eigentlich die Außenseiterrolle innehat. 179 Als weitere neidische und eifersüchtige Figur, die den Verrat betreibt, agiert der gleichfalls von Narrheit erfasste Roberto. 180 Die Geschlechterproblematik reflektiert ein Verständnis von charakterlicher Veranlagung, wonach die Männer, bis hin zu Aberwitz oder Narrheit reichender Entschlusskraft, von aggressiven Affekten beherrscht sind, während die Frauen eher eine launische Exzentrik pflegen. Die Anklänge an Tassos Dichtungen, die an entscheidenden Wendepunkten als wichtige Inzitationsfaktoren im musikdramatischen Ablauf erscheinen, zeigen die Ökonomie und Stimmigkeit der kompositorischen Gesamtanlage. T ASSOS E NDE BEI P AOLO G IACOMETTI (1855): EINE EIGENTÜMLICHE V ARIANTE DES L IEBESTODES Nach den Beispielen Nota und Ferretti/ Donizetti zeigt sich in der dramatischen Ausführung das als Tragödie eingeordnete Werk P. Giacomettis noch weiter zugespitzt. In dessen 1857 in Mantua erschienenem Torquato Tasso ist als Rahmen, wie bei der Oper, vorgegeben, dass das Schicksal des unglücklichen Tasso in seiner Gesamtheit zur Darstellung kommt. 181 Auch hier bringt das Liebesobjekt Eleonore, die Schwester des Fürsten, dem Dichter ihre Gegenliebe dadurch entgegen, dass die Dichtung Tassos, die seine Liebe mitteilt, sie in der Tiefe ihrer Seele bewegt. 182 Wie 179 Ein weiteres der hier verfolgten Motive aus der Liebesthematik klang auch bereits bei Goldoni an: Dadurch, dass sie wie die beiden anderen Eleonoren die Dichterliebe Tassos genießt, kommt für die verheiratete Eleonore die Gefahr der Auflösung des festen Eheverhältnisses auf. Hier wird das Motiv insofern neu gefasst, als die zweite Eleonore sich von ihrem eifersüchtigen Verehrer Gherardo scharf abgrenzt wegen ihrer Verehrung für den Dichter. 180 Das „staatstragende“ Motiv, das bei Goethe auf Antonio zentriert ist, der - hier in Don Gherardo und Roberto aufgespalten - verändert wiederkehrt, spielt bei Donizetti keine Rolle mehr. Das Element des „ridicolo“, das sie beide auszeichnet, führt einen Hauptaspekt des Crusca-hörigen Cavaliere weiter. 181 So heißt es in der Einleitung: „Io non dovevo arrestarmi agli episodii, od al solo amore infelice del Tasso, ma delinearne il carattere vario, mesto, cavalleresco, iracondo, religioso: drammatizzando tutta una vita.“ (Giacometti (1857), S. 1). 182 So wird das bei Goldoni angelegte Motiv romantisiert, nachdem es in der Weiterführung bei Goethe ganz anders problematisiert worden war. Mit den Worten der <?page no="83"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 83 bei Goldoni und Donizetti werden auch in diesem Schauspiel immer wieder berühmte Beispiele aus seinen Dichtungen vorgestellt. Der erste, von Musik begleitete Auftritt des Dichters ist bestimmt von seiner Rezitation: „Tasso in piedi, col manoscritto della Gerusalemme.“ 183 Als er mit dem Vortrag der Episode von Folterung und Rettung des Paars Sofronia und Olindo („Composto è lor d’intorno il rogo omai [. . .]“) fortfährt, wird die Prinzessin von Liebe zum Dichter erfasst. Die so entzückte Eleonora fragt den Fürsten Vincenzo nach seinem Eindruck; dieser teilt die Begeisterung: „Io son rapito a tanto / Magistero di carmi“. Auch Tasso selbst ist ergriffen: „si arresta esaltato dall’amore“. Distanz zeigt allein Antonio, der den Wirkungsablauf kommentiert: „Sempre ne’ carmi suoi geme il Poeta / Parla forse in Olindo il cor del Tasso.“ Der Dichter entgegnet darauf: „Parla sempre il mio cor, ma tace il vostro.“ Damit ist das eine Thema dieser Zeit, die Vermischung von Kunst und Erleben, angeschlagen, aber auch das des Nichtbetroffenseins, für das - wie bei Nota und deutlicher noch als bei Goethe - Antonio Montecatini steht. Die Kunst wird für den wahren Menschen zum Ersatz des Lebens. Auf dieser Grundlage ist die ungewöhnliche Integration in die Gesellschaft trotz allem gewährleistet. Denn der Dichter steht nicht nur der Prinzessin bei, die nach der Gefangennahme Tassos tödlich erkrankt 184 , sondern im eigenen Tod erscheint ihm ihr Bild. Nun erst erfährt er die so ins Jenseits verlagerte Vollendung und Erfüllung. 185 Prinzessin heißt es dort: „Du warst der erste, der im neuen Leben / Mir neu und unbekannt entgegentrat. Da hofft ich viel für dich und mich; [. . .]“ ((II, 1), V. 864 ff., S. 102, Goethe (1988)). 183 Zum weiteren Fortgang heißt es: „Appena terminata la sinfonia non si alza la tela, come è costume, ma si ascolta TORQUATO a leggere ad alta voce i seguenti versi: ‚Così si combatteva: e’n dubbia lance [. . .] Tanto i campi mutata avean sembianza.’ (qui si ferma piegando il manoscritto)“ (Giacometti (1857), S. ? ? ). 184 Entsprechend wird eine Legende eingesetzt, die besagt, Tasso habe die Fürstin im Augenblick ihres Sterbens begleitet. Wie die Maler Podesti (zwischen 1830 und 1840) und später Mancinelli, Mussini und Sabatelli behandelte D. Morelli den Vortrag des Werks und seine poetische Wirkung als zentralen Kern des Interesses an dieser Thematik: „Tasso che legge il suo poema alla corte di Ferrara“. Das thematisch zugespitzte Gemälde Morellis von 1865 trägt den Titel Tasso recita versi alla presenza di Donna Eleonora d’Este. Die Verbindung zu Goldoni, so auch das Beibehalten der drei Eleonoren, bleibt in diesem Kontext meistens gewahrt. Auf Morellis bekanntestem Tasso-Gemälde liest der Dichter der kranken Prinzessin, die in Träume verzückt lauschend in einem Sessel ruht, seine Verse vor. Ganz zerbrechlich ist sie, die femme fragile, bereits dem Tode geweiht. Über die Kunst des Dichters, der ihr so die Transzendierung der Wirklichkeit bieten kann, kommt sie zu dessen liebender Verehrung. 185 Die Lösung des Dramas findet sich in dem sonderbar konstruierten Liebestod. Gegen Ende (V,1) erscheint zunächst der Geist der verstorbenen Eleonora dem auf <?page no="84"?> K LAUS L EY 84 Tasso liest der todkranken Prinzessin Eleonora aus seinen Dichtungen vor , Skizzen von D. Morelli (ca.1865) Literaturverzeichnis Alberti, C.: „Un’ idea di teatro contro la riforma goldoniana”. In: Ders., Pietro Chiari e il teatro europeo del Settecento. Vicenza 1986b, S. 151-167. Alberti, C. 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Die Deutung erfolgt in der abschließenden Adresse an das Publikum: „volgendosi agli ascoltanti senza abbandonare il letto, [lo spirito di Eleonora] dice: ‚Consumato del genio è l’olocausto: / E qui la paventata opra si compie / Del Ligure poeta - Or voi, cortesi, / Perdonate, se troppo errò la mente / Vinta dal raggio d’una grande idea! “ (VII, 4). Auch D. Morelli hat das Thema in dem um 1869 gemalten Bild Incoronazione del Tasso morto behandelt. <?page no="85"?> Goldonis und Goethes „Torquato Tasso“ 85 „Gaetano Donizetti“: <http: / / www.karadar.com/ Librettos/ donizetti_tasso.html>, 6.8. 2009. Giacometti, P.: Torquato Tasso. Mantova 1857. Goldoni, C.: Il Molière. Hg. B. Guthmüller. Venezia 2004. Goldoni, C.: Il poeta fanatico. Hg. M. Amato. Venezia 1996. Goldoni, C.: Opere complete di C. Goldoni. Venezia 1911. Goldoni, C.: Torquato Tasso. Hg. E. De’ Georgi. Ferrara 1989. Goldoni, C.: Tutte le opere di Carlo Goldoni. Hg. G. Ortolani. Verona 1955. Goethe, J. W.: Torquato Tasso. 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Francfort 1688 (repr. Paris 1870). <?page no="87"?> Wolfgang Düsing Künstlerproblematik und Kunstreligion in Grillparzers Sappho Einleitung Byron schrieb am 12. Januar 1821 in sein Tagebuch: Grillparzer - a devil of a name, to be sure, for posterity; but they must learn to pronounce it [. . .] the tragedy of Sappho is superb and sublime! There is no denying it. The man has done a great thing in writing that play. [. . .] Grillparzer is grand - antique - not so simple as the ancients, but very simple for a modern. Der englische Romantiker, der in Childe Harold’s Pilgrimage selbst an Sapphos Tragödie erinnerte, ist tief beeindruckt von Grillparzers Drama. Die Nähe zur Antike, die Simplizität der Handlung - Grillparzer wäre mit dieser Charakterisierung einverstanden gewesen, auch mit dem „a devil of a name“. Er hat Zeit seines Lebens unter seinem Namen gelitten und ihn selbstquälerisch parodiert. Byrons Notiz zur Sappho endet mit einer kritischen Wendung: „too Madame de Staëlish, now and then“ 1 . Das ist wahrscheinlich eine Anspielung auf A. L. Germaine de Staëls Drama Sapho (1811), ein weniger bekanntes Werk, während Grillparzer, berühmt geworden durch die Ahnfrau, eine romantische Schicksalstragödie, auch mit seinem zweiten Stück, das am 21. April 1818 im Burgtheater uraufgeführt wurde, großen Erfolg hatte. Byrons Eindruck stimmt mit der begeisterten Aufnahme durch das Wiener Theaterpublikum überein. Das Drama behandelt das Schicksal der griechischen Dichterin Sappho (um 600 v. Chr.), die - so erzählen die Quellen - sich als unglücklich Liebende das Leben nahm. Sie soll sich von einem Felsen auf der Insel Lesbos ins Meer gestürzt haben. Grillparzer, der heute vor allem als Schöpfer des Habsburgischen Mythos gilt 2 - seine Königsdramen sind Höhepunkte des Geschichtsdramas des 19. Jahrhunderts -, hat mit der Sappho, der Trilogie Das goldene Vlies und Des Meeres und der Liebe Wellen mehrfach antike Stoffe bearbeitet. Damit tritt er die Nachfolge der Klassiker und ihrer Antike-Rezeption an. Aber die Sappho ist auch ein Künstler- 1 Grillparzer (1911), III, S. 120. 2 Vgl. Magris (1988). <?page no="88"?> W OLFGANG D ÜSING 88 drama mit einer der Antike fremden, durchaus modernen Problematik, die mit Grillparzers Selbstverständnis als Künstler zusammenhängt. Das Drama wäre damit eine Verbindung von klassizistischer Tragödie und modernem Künstlerdrama. Allerdings zeigt ein Blick auf die Forschung, dass die Kennzeichnung als Künstlerdrama immer wieder in Zweifel gezogen wurde, am kompromisslosesten wohl von Müller, der fordert, Sappho einmal „gegen den idealischen Strich“ zu lesen. Aus dieser Perspektive erscheint Sappho „als eine von Sinnesbegehren übermächtigte, nicht mehr ganz junge Frau“. Müllers textnahe Interpretation konnte sich jedoch nicht durchsetzen, vielleicht auch deshalb nicht, weil seine Diagnose mit „präklimakterialer Torschlusspanik“ sehr medizinisch ausfiel. 3 Auch wenn für Škreb die Sappho „weder eine Künstlertragödie, [. . .] noch eine Liebestragödie“ ist, 4 die Interpretation der Sappho als Künstlerdrama bleibt, wie sich jetzt bei Japp zeigt, 5 die dominierende Richtung. Auf die hier skizzierte Problemlage antwortet der vorliegende Versuch mit der These, dass sich die Liebestragödie einer alternden Frau und das Künstlerdrama nicht auszuschließen brauchen. Wenn es sich aber bei der Sappho um eine moderne Künstlertragödie in antikisierendem Gewand handelt, dann stellt sich die Frage, in welchem Licht hier zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Kunst erscheint, bis zum Zerreißen gespannt zwischen ihrem göttlichen Ursprung und einem nach eigenen Gesetzen sich entfaltendem Leben und welche Konsequenzen dieser Dualismus für das Selbstverständnis des Künstlers hat. Moderne Künstlerproblematik in klassizistischem Gewand Der Rückgriff auf die Antike ergibt sich zunächst schon aus der Stoffwahl. Er ermöglicht eine von der Ahnfrau und der romantischen Schicksalstragödie unabhängige Gestaltung des Tragischen, der tragischen Schuld und der Katharsis. Sappho wird ihrer Sendung als Dichterin untreu, sie verrät die hohe Kunst an das Leben und sühnt ihr Vergehen durch den Freitod. Wenn man Sapphos Schuld im Sinne der aristotelischen Hamartia interpretiert, dann wäre es weniger eine moralische Schuld, als ein Irrtum der Erkenntnis. Aber wie erklärt sich der „Mangel an Einsicht“, die „eigenartige Verblendung“ 6 , von der die Forschung spricht, bei Sappho, die allen in ihrer Umgebung an Geist und Talent überlegen ist? Sappho ist keine 3 Müller (1971), S. 7 f. 4 Škreb (1976), S. 122. 5 Vgl. Japp (2004). 6 Japp (2004), S. 90. <?page no="89"?> Künstlerproblematik und Kunstreligion in Grillparzers „Sappho“ 89 weibliche Variante des „mittleren Mannes“ der aristotelischen Poetik. 7 Grillparzer schreibt an Adolf Müllner: Sappho ist Dichterin! Daß das hervorgehoben werde, ist durchaus nötig, die Wahrscheinlichkeit der Katastrophe hängt, wie ich glaube, wesentlich davon ab. 8 Dazu kommt ein weiteres Moment, das zum Verständnis des tragischen Vorgangs beiträgt. Sappho gehört zu den Protagonistinnen in Grillparzers Dramen, die an ihrer Liebe scheitern. Zugleich sind diese Frauen aber auch Trägerinnen eines höheren Wissens, das den Männern nur bedingt zugänglich ist. Das gilt für die Dichterin Sappho und die Priesterin Medea. Die Rahel der Jüdin von Toledo lebt in ihrer eigenen Welt und erweckt in Alfonso Wünsche und Sehnsüchte, die ihm bisher unbekannt waren. Lange Verdrängtes tritt ihm in der schönen Jüdin entgegen und zieht ihn geradezu magisch an. Auch Libussa, die Seherin, vertritt die magischmythische Welt der Frauen, denen das rationale, auf Beherrschung der Realität ausgerichtete, pragmatische Denken der Männer gegenübersteht. Versuche der Frauen, um ihrer Liebe willen ihre magisch-mythische Welt zu verlassen und sich der Welt des Mannes anzupassen, führen immer wieder zum Scheitern. In der Sappho erscheint dieser Grundgegensatz als „Kontrast zwischen Kunst und Leben“, als „malheur d’etre poète“ 9 . Das Stück beginnt mit Sapphos triumphaler Rückkehr von einem olympischen Dichterwettkampf. Sie erscheint laut Bühnenanweisung (Sappho I, 2): Auf einem mit weißen Pferden bespannten Wagen, eine goldene Leier in der Hand, auf dem Haupte den Siegeskranz. Ihr zur Seite steht Phaon in einfacher Kleidung. 10 Mit lautem Jubel begrüßen sie ihre Getreuen und das Volk. Zugleich gibt es immer wieder leise Signale, die den Zuschauer oder Leser darauf aufmerksam machen, dass die Harmonie nur scheinbar ist und dass da etwas ist, das verhindert, dass sich die Beziehung zwischen Sappho und Phaon ungestört entfalten kann. Sappho antwortet auf die Huldigung im 2. Auftritt des 1. Aufzugs im Stil von Goethes Tasso: Dank Freunde, Landsgenossen Dank. Um euretwillen freut mich dieser Kranz, Der nur den Bürger ziert, den Dichter drückt. (V. 44-46) 7 Vgl. Fuhrmann (1992), S. 42 ff. 8 An Adolf Müllner, Ende Februar oder März 1818; Grillparzer (1911), XVI, S. 35. 9 Ebd., S. 34. 10 Grillparzer (1960-1965), Bd. 1, S. 718. Weitere Dramenzitate nach dieser Ausgabe. <?page no="90"?> W OLFGANG D ÜSING 90 Sie nennt den Kranz später noch schärfer sogar ein „Verbrechen“ (V. 57), eine „frevle Zier“ (V. 58) und distanziert sich von den Zeichen ihres literarischen Triumphs, weil sie durch ihre Liebe zu Phaon verwandelt ist. Sie bekennt: Ich liebe ihn, auf ihn fiel meine Wahl Er war bestimmt, in seiner Gaben Fülle, Mich von der Dichtkunst wolkennahen Gipfeln In dieses Lebens heitre Blütentäler Mit sanft bezwingender Gewalt herabzuziehn. (V. 88-92) Sappho träumt nun von einem „einfach stillen Hirtenleben“ (V. 94) an Phaons Seite. Auch Medea bricht durch ihre Liebe zu Jason mit ihrer Familie und ihrer Vergangenheit. Ähnliches ließe sich auch von anderen Frauengestalten in Grillparzers Dramen sagen. Der abrupte Identitätswechsel der Hauptfiguren ist ein tragisches Signal in Grillparzers Liebesdramen. Er kann auch die Männer treffen, allerdings selten mit der gleichen Unbedingtheit wie die Frauen. Jason ließe sich anführen, aber auch Phaon. In der Empfangszene, in der Sappho sich darstellt, sind Phaons Redeanteile gering. Er weist das überschwängliche Lob Sapphos zurück, ist verunsichert, fast fühlt er sich verspottet (V. 80). Sie wendet sich im 3. Auftritt mit Worten, die an die Prinzessin in Goethes Tasso erinnern, direkt an ihn: Der Freundschaft und der - Liebe Täuschungen Hab ich in diesem Busen schon empfunden, Ich hab gelernt verlieren und entbehren! (V. 120 ff.) Phaon reagiert verwirrt mit der Anrede „Erhabene Frau“ (V. 131). Als sie um einen „süßeren Namen“ (V. 133) bittet, bekennt er: Weiß ich doch kaum, was ich beginne, was ich sage. Aus meines Lebens stiller Niedrigkeit Hervorgezogen an den Strahl des Lichts. (V. 132-134) Die „Wälder“ und „Ufer“ seiner Heimat, die vertrauten „niedern Hütten“ (V. 139 f.), alles das hat er um ihretwillen verlassen. Dann aber folgt ein großer Monolog; auch wenn Sappho gelegentlich angeredet wird, bleibt es doch eine Art Selbstgespräch. Die Forschung spricht von „Prunkreden“, 11 aber damit ist nicht eine Anknüpfung an das „genus sublime“ der Barockrhetorik gemeint. Es handelt sich auch nicht um dramatische Ent- 11 Seidler versteht darunter arienähnliche Partien, die an alte Wiener Theatertraditionen anknüpfen, an Volksstücke, Dramen mit Musik und die Bravour-Arien der Opern. Bei Grillparzer „vollzieht sich ein Übergang vom Drama mit Musik zum reinen Sprechdrama.“ (Seidler (1964), S. 8). <?page no="91"?> Künstlerproblematik und Kunstreligion in Grillparzers „Sappho“ 91 scheidungsmonologe, in denen mit dem Schicksal des Protagonisten zugleich die „Weltgeschichte“ 12 auf dem Spiele steht, wie bei Schiller, sondern es sind lyrische Monologe, die die jeweilige Situation transzendieren und den seelischen Reichtum, die Gedankenwelt des Protagonisten offenbaren. Phaon erinnert sich des tiefen Eindrucks, den Sapphos Dichtung auf ihn machte. Rollenlyrik dieser Art gehört zu den Höhepunkten der Dramen Grillparzers. Phaon beschwört die geradezu magische Gewalt, die Sapphos Dichtung auf ihn ausübte, wenn sie im Familienkreise vorgetragen wurde. Er wird in dieser Arie auf die Macht der Poesie selbst zum Dichter: O, seit ich denke, seit die schwache Hand Der Leier Seiten selber schwankend prüfte Stand auch dein hohes Götterbild vor mir! Wenn ich in der Geschwister frohem Kreise An meiner Eltern niederm Herde saß, Und nun Theano, meine gute Schwester, Die Rolle von dem schwarzen Simse holte, Ein Lied von dir, von Sappho uns zu sagen, Wie schwiegen da die lauten Jünglinge, Wie rückten da die Mädchen knapp zusammen, Um ja kein Korn des Goldes zu verlieren; Und wenn sie nun begann, vom schönen Jüngling, Der Liebesgöttin liebeglühnden Sang, Die Klage einsam hingewachter Nacht, Von Andromedens und von Attis Spielen, Wie lauschte jedes [. . .]. (V. 162-177) Und wenn er dann hinausging, so erinnert sich Phaon, erschien ihm am nächtlichen Sternenhimmel Sappho in verklärter Gestalt. Als er später in Olympia den Auftritt Sapphos erlebt, ganz in Weiß gekleidet, im Arm eine goldene Leier, da ist das für ihn wie für alle anderen eine Art Epiphanie. Im Rückgriff auf die Antike führt die Kunst zu einer Ästhetisierung des Religiösen und einer Sakralisierung des Ästhetischen. Aus der Verbindung von Kunst und Religion, die Auswirkungen auf das Selbstverständnis des Künstlers und die Rolle der Kunst in der Gesellschaft hat, ergibt sich so etwas wie eine „Kunstreligion“. Das ist ein Begriff, der in der Forschung nicht immer einheitlich definiert wird und erst in den letzten Jahren die gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat. 13 Auerochs behandelt die „Entstehung der Kunstreligion“ und verfolgt ihre Entfaltung zu einer bedeutenden Bewegung um 1800. Müller dagegen analysiert den Gebrauch des Begriffs in der Philosophie der Aufklärung 12 Don Carlos, III, 10, V. 3148. 13 Hier sind vor allem die grundlegenden Untersuchungen von Müller (2004) und Auerochs (2006) zu nennen. Zum weiteren Umkreis dieser Überlegungen gehört auch das kürzlich erschienene Buch von Ensberg (2007). <?page no="92"?> W OLFGANG D ÜSING 92 und des Idealismus. Es gibt dabei gewisse Überschneidungen bei Autoren wie Schiller, Schleiermacher, Wackenroder, Friedrich Schlegel u. a., aber auch Unterschiede in der Betrachtungsweise, die dokumentieren, wie reichhaltig und komplex das behandelte Phänomen ist. Das hängt damit zusammen, dass die Kunstreligion fundamentalen historischen Wandlungen unterworfen ist und für jede Epoche neu bestimmt werden muss. Dabei ist zu unterscheiden, ob Dichtung mit dieser Thematik auf biblische Stoffe und Themen oder auf antike Mythen zurückgreift. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Rolle die Kunstreligion in Grillparzers Sappho spielt. Wie genau Grillparzer in der Sappho die Kunstauffassung seiner Epoche trifft, dokumentiert ein Vergleich mit seinem Zeitgenossen Hebbel. In einem lyrischen Prolog feiert der Dichter den Auftritt seiner Frau, der Burgschauspielerin Christine Enghaus, als Kriemhild, die ihm den entscheidenden Anstoß zur Konzeption seiner Nibelungen-Trilogie gab: Ein Flüstern ging durchs Haus, und heilges Schweigen Entstand sogleich, wie sich der Vorhang hob, Denn Du erschienst [. . .]. (V. 30-33 ) 14 Das Theater wird zum Tempel, das Publikum zur Gemeinde und die Schauspieler zelebrieren Kunstwerke von höchstem Anspruch. Man orientiert sich dabei häufig an der antiken Klassik. Seit Winckelmann galt die griechische Plastik als Darstellung eines idealen Menschenbildes, das in den Götterstatuen der klassischen Periode seine Vollendung erreicht. Bei Grillparzer vollzieht sich in der Sappho eine doppelte Rezeption, denn die Annäherung an die antike Tragödie ist zugleich auch eine an die deutsche Klassik und deren Antike-Rezeption, wobei aber gravierende Unterschiede nicht zu übersehen sind. Was die Stoffwahl angeht, berichtet Grillparzer, dass er um einen Operntext gebeten worden war und dabei auch das Stichwort ‚Sappho’ fiel: Der Name Sappho hatte mich frappiert. Da wäre ja der einfache Stoff, den ich suchte. Ich ging weiter und weiter [. . .] und als ich spätabends nach Hause kam, war der Plan zur Sappho fertig. 15 Der „einfache Stoff“ ist Grillparzer so wichtig, weil er die „Simplizität“ der Handlung ermöglicht, die schon von Schiller während der Arbeit an der Braut von Messina als Charakteristikum antiker Dramen erkannt und 14 Hebbel (1963-1967), Bd. 2, S. 113. 15 Grillparzer (1960-1965), Bd. 1, S. 1307 („Selbstbiographie“. Niederschrift vom 1.7- 25.7.1817). <?page no="93"?> Künstlerproblematik und Kunstreligion in Grillparzers „Sappho“ 93 zum Maßstab jeder Annäherung an die Antike gemacht wurde. 16 Auch Byron hatte in der Simplizität das entscheidende Kriterium der Sappho für ihre Antikennähe gesehen. 17 Grillparzer erreicht die Einfachheit und Geschlossenheit der Handlung durch die Konzentration auf wenige Figuren. Das Geschehen spielt sich zwischen Sappho, Phaon und Melitta ab, die typische Dreiecksgeschichte eines Mannes zwischen zwei Frauen. Die Aufspaltung des Geschehens in mehrere Handlungsstränge und Handlungsebenen wird vermieden. Dazu gehört auch, dass kein Ortswechsel stattfindet. Das klassizistische Bühnenbild der ersten Szene mit dem Meer als Hintergrund, in dem Sappho den Tod finden wird, einem Aphroditealtar am Ufer, im Vordergrund Stufen, die zu Sapphos Wohnung führen und vorn auf der anderen Seite eine von Rosenbüschen umrankte Rasenbank - diese Szenerie bleibt während des gesamten Dramas unverändert. Grillparzers klassizistische Wendung zur antiken Tragödie ist zugleich auch ein Zeugnis seiner Rezeption der deutschen Klassik. Neben gelegentlichen Anklängen an Goethes Tasso in den Monologen Sapphos bildet vor allem Goethes Iphigenie den Hintergrund der Sappho. Dazu kommen noch Anspielungen auf Schillers Braut von Messina. Goethe hat die engen Beziehungen der Sappho zur Iphigenie mit Wohlgefallen registriert. Grillparzer berichtet in seiner Autobiographie von einem Besuch bei Goethe, der im Gespräch die Sappho erwähnte, „die er zu billigen schien, worin er freilich gewissermaßen sich selbst lobte, denn ich hatte so ziemlich mit seinem Kalbe gepflügt“ 18 . Das geht über die Verwendung des klassischen Dramenverses und die klassizistische Figurendarstellung hinaus. Um seine Verehrung für Goethe zum Ausdruck zu bringen, scheut Grillparzer sich nicht, Verse aus dem Eingangsmonolog der Iphigenie leicht verfremdet Melitta in den Mund zu legen. Melitta wurde früh von ihrer Familie getrennt und von Sappho aufgenommen, aber sie hat den Verlust der Angehörigen und der Heimat nicht verschmerzt. Der erste Akt schloss mit der auf der Rasenbank sitzenden Sappho und einer von Grillparzer meisterhaft übersetzten Ode Sapphos, in der sie die „Golden thronende Aphrodite“(V. 428) anruft, ihr das Herz des Geliebten zuzuwenden. 19 16 Schiller schreibt am 13. 05. 1801, während der Arbeit an der Braut von Messina, an Körner: „Ich habe große Lust, mich nunmehr in der einfachen Tragödie, nach der strengsten griechischen Form zu versuchen.“ (Schiller (2004), Bd. 2, S. 1277). Unter „Simplizität“ versteht Schiller nicht nur eine literarische Form, sondern auch eine geistige Haltung, die für die Antike charakteristisch war und der Moderne verloren gegangen ist. „Die Griechen beschämen uns“, heißt es im sechsten der Briefe Über die ästhetische Erziehung „durch eine Simplizität, die unserem Zeitalter fremd ist“ (Schiller (2004), Bd. 5, S. 582). 17 Vgl. Anm. 1. 18 Grillparzer (1911), XIV, S. 237 („ Selbstbiographie“). 19 Blänsdorf macht darauf aufmerksam, dass Grillparzer diesem Gedicht Sapphos „die Handlung seines Dramas so genau angepasst hat, dass die Ode mit nur einer <?page no="94"?> W OLFGANG D ÜSING 94 Auf der gleichen Rasenbank sitzt in der 3. Szene des 2. Aufzugs auch Melitta, nicht als Künstlerin mit der Leier, sondern damit beschäftigt, einen Kranz zu flechten. Sie klagt, dass es ihr nicht gelinge, „der Kopf will mir zerspringen“ (V. 552). Die elegischen Monologe Iphigenies und Melittas umkreisen die gleichen Themen und Motive. Die Klage über ihr Leben in einem fremden Land, in dem sie sich wie Gefangene fühlen, die Sehnsucht nach Befreiung, nach Heimkehr, Erinnerungen an das Vaterhaus, den Vater und die Geschwister bewegen Iphigenie wie Melitta. Im 2. Teil trennen sich die Monologe. Mit dem Vers: „Der Frauen Zustand ist beklagenswert“ 20 schließt sich Goethes Iphigenie an einen Monolog der Euripideischen Medea an, während Melitta ihr Dasein ungeachtet mancher Annehmlichlichkeit als das Leben einer Sklavin empfindet. Dass Melittas Monolog an Sprachgewalt und Sinntiefe hinter dem Eingangsmonolog der Goetheschen Iphigenie zurückbleibt, sollte man nicht als Unvermögen des jungen Grillparzer interpretieren. Das ist gewollt, denn Melitta ist ein naives junges Mädchen, in allem ein Gegenbild der älteren, berühmten Dichterin Sappho, hinter deren tragischen Monologen Melittas Klagen ebenfalls zurückbleiben. So wie Goethe mit dem zweiten Teil des Eingangsmonologs der Iphigenie einen Monolog der Euripidesschen Medea aufnimmt, 21 so spielt Grillparzer hier und an anderen Stellen wörtlich auf die deutschen Klassiker, vor allem auf Goethe an. Er reiht sich damit ganz bewusst in die Klassiknachfolge ein. In der deutschen Literatur herrschte nach Grillparzers Auffassung damals eine katastrophale, chaotische Situation, die von Talenten dritten Ranges beherrscht wurde: Die eine Hälfte der Nation feindete Schillern an, die andere Goethen [. . .]. Hat man nun einen Riesen erschlagen, so muß sich der Überwinder notwendig selbst als ein Riese fühlen, und das tut denn auch die rüstige Schar. 22 Grillparzers Bekenntnis zur Klassik sollte jedoch nicht dazu verleiten, moderne, über die Klassik hinausführende Aspekte der Sappho zu übersehen. Die Titelfigur ist keine Nachfolgerin von Goethes Iphigenie. Die Unterschiede sind so gravierend, dass man eher von einer Anti-Iphigenie sprechen kann. Sappho ist keine aus der Perspektive der Weimarer Klassik gestaltete antike Figur, sondern eine realistisch konzipierte Frauengestalt, leidenschaftlich und voller Widersprüche. Grillparzers Drama kann bei allem Ringen um Simplizität und Formstrenge seinen modernen psywinzigen Änderung unmittelbar aus der Handlung und der Stimmung der Szene hervorzugehen scheint“ (Blänsdorf (2006), S. 48). 20 Goethe (1962), S. 8 (Iphigenie, V. 23 ff.). 21 Ebd.; Euripides (1949), S. 71 (Medea). 22 Grillparzer (1960-1965), Bd.3, S. 810 („Worin unterscheiden sich die österreichischen Dichter von den Deutschen“). <?page no="95"?> Künstlerproblematik und Kunstreligion in Grillparzers „Sappho“ 95 chologischen Tiefblick und seine realistische Charaktergestaltung nicht verleugnen. Sappho ist auch keine Prinzessin aus dem Tasso oder eine „schöne Seele“ im Sinne Schillers. Dazu fehlt ihr die vollendete Harmonie von Geist und Natur. Sie tritt Phaon gegenüber durchaus besitzergreifend auf, eine Frau, die weiß, was sie kann und was sie will. Diese selbstbewusste Einstellung prägt auch ihren Umgang mit dem Geliebten. Das Alter spielt bei Goethes Iphigenie keine Rolle. Die idealisierende Figurengestaltung der klassischen Dramen meidet Krankheit oder sonstige Gebrechen. Schiller wusste aus den Quellen, dass der historische Wallenstein ein früh gealterter, todkranker Mann war. Seine Schlaflosigkeit, seine Gichtanfälle, alles, was an die Hinfälligkeit des Menschen erinnert, wird im Gestaltungsprozess eliminiert. Das gilt nicht mehr für Grillparzer. Es ist für die Entwicklung des Konflikts von entscheidender Bedeutung, dass die Probleme einer alternden Frau, die sich in einen jüngeren Mann verliebt, nicht übergangen werden. Grillparzer bemerkt dazu in dem schon zitierten Brief an Müllner: „Sappho ist in der Katastrophe ein verliebtes, eifersüchtiges, in der Leidenschaft sich vergessendes Weib.“ Er empfindet es geradezu als Skandal, dass sie einen jüngeren Mann liebt. „In der gewöhnlichen Welt ist ein solches Weib ein ekelhafter Gegenstand.“ Aber Sappho gehört als Dichterin für Grillparzer nicht zur „gewöhnlichen Welt“. Zwischen den beiden Welten, zwischen Kunst und Leben besteht eine „natürliche Scheidewand“, die weder durch das Leben noch durch die Kunst überwunden werden kann. Wer sie missachtet, scheitert. Grillparzer ist davon überzeugt, dass zwischen der Welt der Kunst und des Geistes auf der einen Seite und dem Leben auf der anderen Seite eine tiefe Kluft besteht. Er spricht von der „Missgunst“, vom „Ankämpfen des Lebens gegen die Kunst“. Sappho missachtet die Unvereinbarkeit der beiden Welten: „Sie wagt einen Wunsch an das Leben, und ist verloren.“ 23 Der innere Zwiespalt Sapphos verleiht dem Stück seine Spannung und verhindert, dass sie als blasse Iphigenie-Nachahmung erscheint. Die Distanz Grillparzers gegenüber seinem klassischen Vorbild wird hier unübersehbar. Die von Sappho beinahe gewaltsam, in kürzester Zeit durchgesetzte Verbindung mit Phaon, der immer wieder klagt, dass er nicht weiß, wie ihm geschehen sei, wird von Grillparzer mit der zarten, aber immer mächtiger werdenden Neigung zwischen Phaon und Melitta kontrastiert. Sappho, die ihre Schülerin zunächst nicht ernst nimmt, ist empört über die ihr eigenes Glück bedrohende Liebe und scheut sich nicht, Gewalt anzuwenden. Sie setzt Phaon psychisch unter Druck, bedroht Melitta mit einem Dolch und lässt sie entführen. In ihrer Eifersucht schreckt sie vor nichts zurück, um diese Liebe zu zerstören. 23 Vgl. Anm. 8. <?page no="96"?> W OLFGANG D ÜSING 96 Sappho unterscheidet sich, wie Grillparzers antike Figuren insgesamt, von den idealisierten Griechen in Goethes Iphigenie durch eine realistischere, lebensnähere Charakterzeichnung. 24 Iphigenie vermag durch ihre Menschlichkeit das Trauma zu heilen, von dem Orest heimgesucht wird. Das Gedicht, das Goethe dem Orest-Darsteller Krüger 1827 widmete, endet mit den Versen: „Alle menschliche Gebrechen / Sühnet reine Menschlichkeit.“ 25 Iphigenie besiegt den Fluch der Götter, der ihre Familie zu vernichten drohte. Es gelingt ihr auch, den Zorn des Thoas zu besänftigen. Ihr bedingungsloses Vertrauen ihm gegenüber „zwingt“ ihn, Vertrauen mit Vertrauen zu beantworten und die Griechen in Frieden ziehen zu lassen. Iphigenie stiftet zwischen Feinden eine Versöhnung und rettet so Orest, Pylades und sich selbst. Aus moderner Perspektive ist das getadelt worden. Iphigenies Vertrauen auf Thoas Menschlichkeit nennt Martin Walser nicht ganz zu Unrecht „Leichtsinn“. Aber im Grunde ist das Risiko, dass Thoas den Appell an seine Humanität missachtet und sich an den Griechen, die ihn hintergangen haben, rächt, nicht allzu groß. Walser meint: In Goethes klassischen Stücken treten nur noch Weimaraner auf. Iphigenies Salto ins pure Wahrhaftige, mit dem sie immerhin auch das Leben von zwei weiteren [. . .] Menschen riskiert, dieser Salto wäre in jedem anderen Raum schlimmster leutnantshafter Leichtsinn. Aber Thoas ist Weimaraner. Darauf kann Iphigenie zählen. 26 Walsers ironische Interpretation übersieht, dass Iphigenie sich in ihrem Vertrauen auf Thoas’ Menschlichkeit auf die Beziehung stützen kann, die zwischen ihnen in den Jahren ihres Exils entstanden ist, eine Beziehung, die Thoas ermutigt, um ihre Hand zu bitten. Frage und Antwort, Aktion und Reaktion sind in der nur angedeuteten tiefen Beziehung zwischen Thoas und Iphigenie von Goethe mit nachtwandlerischer Sicherheit ausbalanciert. Aber dieser Sieg des Humanen bleibt ein Ideal. Goethe selbst hat die spätere Kritik antizipiert, was Grillparzer dann mit Zustimmung zitiert. Im Jahre 1840 schreibt er: Die beste Kritik über seine, übrigens wohl vortreffliche Iphigenie hat Goethe selbst ausgesprochen, wenn er in einem Brief an Schiller sagt: Er habe sie nach langer Zeit einmal wieder durchgesehen und finde sie verteufelt human. 27 24 Blänsdorf (2006), S. 51: „Auch in seinen anderen Griechen-Stücken holt er die Griechen von ihrem zeitgenössischen Postament edler Einfalt und stiller Größe herab [. . .].“ 25 Goethe (1962), S. 406. 26 Walser (1969), S. 77. 27 Grillparzer (1911), XIII, S. 358. Grillparzer spielt auf Goethes Brief an Schiller v. 19. Januar 1802 an. Vgl. dazu Dyck (1965), S. 75. <?page no="97"?> Künstlerproblematik und Kunstreligion in Grillparzers „Sappho“ 97 Eine „verteufelt humane“ Lösung verbietet sich in der Sappho schon durch die Motivation des Konflikts und die Gestaltung der Charaktere. Sappho muss einsehen, dass durch die zwischen Melitta und Phaon entstehende Beziehung alle ihre Hoffnungen gegenstandslos geworden sind. Ihr Versuch, Kunst und Leben zu verbinden, ist gescheitert. Ohne zu ahnen, worauf sie sich einlässt, hatte sie Phaon und sich selbst zu dem Wagnis überredet: Das Leben aus der Künste Taumelkelch, Die Kunst zu schlürfen aus der Hand des Lebens. (V. 280-283) Im Scheitern dieses Versuchs dokumentiert sich ein Verhältnis von Kunst und Leben, das nicht mehr klassisch oder romantisch, sondern modern ist. Ein kurzer Vergleich mit einem weiteren klassizistischen Drama von geradezu modellhafter Bedeutung, mit Schillers Braut von Messina, soll dazu dienen, das spezifisch Moderne in Grillparzers Tragödie genauer zu bestimmen. In intensiver Auseinandersetzung mit Goethes Iphigenie ist es Schillers Ziel, in der Annäherung an die antike Tragödie Goethe noch zu übertreffen. Schillers Einführung des Chores ist ein Versuch, sich unmittelbar mit den antiken Tragikern in einem Wettstreit zu messen. Die Figuren der Braut von Messina sind weniger idealisiert als die der Iphigenie. An Simplizität der Handlung und der Raumregie übertrifft Grillparzer mit dem alle fünf Akte beibehaltenen „Platz am Meer“ seine Vorgänger. Mit seiner Neigung, bei der Charaktergestaltung auch Unbewusstes und Verdrängtes ins Spiel zu bringen und die Tiefenschichten der Seele zu enthüllen, geht er über Goethe, aber auch über Schiller hinaus, der jede Tendenz zur Psychologisierung in seiner Iphigenien-Rezension als zu modern ablehnte. Schillers Braut von Messina endet mit den Versen: Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die Schuld. (V. 2838 f.) 28 Dagegen formuliert Grillparzers Sappho: Und leben ist ja doch des Lebens höchstes Ziel! (V. 270) Vielleicht spielt Grillparzer hier mit der Verteidigung des Lebens auch den Standpunkt einer Frau gegen Schillers Dramenhelden aus, die von den ersten Szenen an auf den Tod zugehen. Auf jeden Fall ist das eine bewusste Distanzierung von Schillers Konzept des Tragischen. Das zeigt auch der Vergleich der beiden Dramenschlüsse. Während Iphigenie bei 28 Schiller (2004), Bd. 2, S. 912. Weitere Dramenzitate nach dieser Ausgabe. <?page no="98"?> W OLFGANG D ÜSING 98 Goethe den Fluch der Götter durch „reine Menschlichkeit“ überwindet und damit das Tragische bannt, ist es bei Schiller der bewusst auf sich genommene „freie Tod“ Don Cesars, der die Versöhnung ermöglicht: Den alten Fluch des Hauses lös ich sterbend auf, Der freie Tod nur bricht die Kette des Geschicks. (V. 2640 f.) Don Cesar kann nach dem Tod des Bruders, den er tötete, weil er ihn irrtümlich für den Entführer seiner Braut hielt, nicht weiterleben, auch wenn Mutter und Schwester ihn zurückhalten wollen. Der „allgerechte Lenker unsrer Tage“ (V. 2831) lässt das nicht zu. Der Gerechtigkeit wird mit seinem Freitod Genüge getan, so wie schon in den Räubern die Gerechtigkeit dadurch wiederhergestellt wird, dass Karl Moor sich stellt. Don Cesar tötet sich mit den Worten: Die Tränen sah ich, die auch mir geflossen, Befriedigt ist mein Herz, ich folge dir. (V. 2833 f.) Das ist Schillers tragische Versöhnung im Zeichen des Erhabenen. Der schuldbeladene tragische Held gewinnt angesichts des von ihm in Freiheit gewählten Todes seine Würde zurück. Er zahlt mit seinem Leben und befreit dadurch den göttlichen Teil in sich. Der freiwillige Tod erlöst den Helden von seiner Schuld. Schon der Entschluss zum Verzicht auf das Leben verleiht dem tragischen Helden ein Charisma, das ihn unüberwindlich macht. Sapphos Sturz vom Felsen ähnelt diesem Geschehen nur äußerlich. Der innere Vorgang ist diametral entgegengesetzt. Als alle Versuche, Melitta fortzuschaffen und Phaon zurückzugewinnen, scheitern, da reift bei Sappho der Entschluss zum Selbstmord. Aber der Eindruck bleibt widersprüchlich. Ein Vertrauter (Eucharis) berichtet von Sapphos letzten Augenblicken. Er vernimmt „Worte, schauerlichen Klangs“ (V. 1922). Dann wieder sieht er in ihr eine „Lichtgestalt“, „Verklärungsschimmer über sie gegossen“ (V. 1941), um bald darauf alles erneut zurückzunehmen, ihr „lebend toter Blick“ (V. 1946) entsetzt ihn. In ihren letzten Versen wiederholt sie Phaons Worte: „Den Menschen Liebe und den Göttern Ehrfurcht! “ (V. 2025) und erkennt damit seine Beziehung zu Melitta an und ihr Unrecht, das sie durch ihren Freitod sühnt. Es ist ein Selbstmord aus Reue über ihren Verrat an der Kunst, aber auch aus Verzweiflung, weil sich alle ihre Hoffnungen zerschlagen haben. Ihr Versuch, die Kluft zwischen Kunst und Leben in der Liebe zu überbrücken, gleichzeitig der Kunst zu dienen und das Leben zu genießen, ist gescheitert. Sapphos Versöhnung mit Phaon und Melitta, aber auch mit sich selbst wirkt stilisiert. Schillers Sieg der Freiheit im Zeichen des Erhabenen ist Grillparzers Figuren verwehrt. <?page no="99"?> Künstlerproblematik und Kunstreligion in Grillparzers „Sappho“ 99 Sappho ist sich ihrer Schwäche zu sehr bewusst und fleht die Götter an: „Gebt mir den Sieg, erlasset mir den Kampf! “ (V. 2015). Der Abschied von den beiden Menschen, die ihr am nächsten stehen, ist etwas gekünstelt. Für Phaon ist sie nur noch ein „Freund aus fernen Welten“(V. 2019) und Melitta umarmt sie mit den Worten: „Die tote Mutter schickt dir diesen Kuß.“ (V. 2020). Die Vollendung Sapphos wird vor allem als Bild gestaltet, als äußere Erscheinung, wenn Rhamnes ruft: „Glanz der Unsterblichen umleuchtet sie.“(V. 2024). Die Kluft zwischen Kunst und Leben wird immer mehr zu einer Kluft zwischen den Menschen und den Göttern. Kunstreligion zwischen Klassik und Moderne Ein Vergleich mit der Autonomie-Ästhetik der Klassik, die hier bei aller Nähe zur Antike eine Wendung ins Christliche nimmt, macht das Spezifische der Position Grillparzers deutlicher. Die Autonomie der Kunst bedeutet für den klassischen Schiller die Garantie für die völlige Unabhängigkeit der Kunst von politischen, moralischen oder religiösen Forderungen. Im 9. Brief der Ästhetischen Erziehung schreibt er: „Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit“, aber nicht „ihr Günstling“. „Eine wohltätige Gottheit [. . .] lasse ihn unter fernem griechischen Himmel zur Mündigkeit reifen.“ Später, als Mann „kehre er, eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück; aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar wie Agamemnons Sohn, um es zu reinigen.“ Schiller spielt damit auf Orest an, der den Vater rächte und das durch Verbrechen entweihte väterliche Haus reinigte, indem er die Mutter und ihren Geliebten tötete. Der Künstler verfügt über diese Macht, denn die „Quelle der Schönheit“ entspringt seiner „dämonischen Natur“ - dämonisch hier im Sinne des Sokratischen Daimonion - „unangesteckt von der Verderbnis der Geschlechter und Zeiten.“ 29 Eine mit dem Bewusstsein einer geradezu sakralen Sendung der Kunst verbundene zeitkritische Einstellung liegt auch der Braut von Messina zugrunde. Die Uraufführung vermittelte dem Publikum, wie Schiller am 28. März 1803 an Körner schreibt, „den Eindruck einer wahren Tragödie“. Er fährt fort: [. . .] ein hoher furchtbarer Ernst waltete durch die ganze Handlung. Goethen ist es auch so ergangen, er meint, der theatralische Boden wäre durch diese Erscheinung zu etwas höherem eingeweiht worden. 30 29 Schiller (2004), Bd. 5, S. 593. 30 NA (= Nationalausgabe) Bd. 32, S. 25. <?page no="100"?> W OLFGANG D ÜSING 100 Die Sakralisierung des Tragischen ergibt sich aus den Ansprüchen der klassischen Ästhetik, die auch die Dimension des Religiösen umfasst. Sie bereitet spätere „Bühnenweihfestspiele“ vor. In einem Brief an die Gräfin Schimmelmann skizziert Schiller die philosophischen Voraussetzungen der klassischen Kunstreligion: Die höchste Filosophie endigt in einer poetischen Idee, so die höchste Moralität, die höchste Politik. Der dichterische Geist ist es, der allen Dreien das Ideal vorzeichnet, welchem sich anzunähern ihre höchste Vollkommenheit ist. 31 Im Prioritätenstreit zwischen Kunst, Religion und Philosophie tritt Schiller damit für den Vorrang der Kunst ein. Wenn Schiller in einem Brief an Herder zur Zeit der Ausarbeitung von Über naive und sentimentalische Dichtung die Kluft zwischen der gesellschaftlichen Realität und der Poesie betont, so entspricht das auch Grillparzers Überzeugung. Schiller ist der Auffassung, daß unser Denken und Treiben, unser bürgerliches, politisches, religiöses, wissenschaftliches Leben und Wirken wie die Prosa der Poesie entgegengesetzt ist. [. . .]. Daher weiß ich für den poetischen Genius kein Heil, als daß er sich aus dem Gebiet der wirklichen Welt zurückzieht [. . .], daß er seine eigne Welt formiret und durch die Griechischen Mythen der Verwandte eines fernen, fremden und idealischen Zeitalters bleibt, da ihn die Wirklichkeit nur beschmutzen würde. 32 Allerdings folgt auf diesen Rückzug der Kunst in eine durch die Antike vermittelte ideale Welt bei Schiller eine Gegenbewegung. Die Autonomie der Kunst strahlt eine Kraft aus, die den Menschen verwandeln kann und durch ihn auch die Realität. Schiller schreibt in der Vorrede zur Braut von Messina, dass „wahre Kunst“ die Fähigkeit habe, den Menschen wirklich und in der Tat frei zu machen, und dieses dadurch, dass sie eine Kraft in ihm erweckt, übt und ausbildet, die sinnliche Welt, die sonst nur als ein roher Stoff auf uns lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive Ferne zu rücken, in ein freies Werk unsers Geistes zu verwandeln. Kunst macht es möglich, „das Materielle durch Ideen zu beherrschen.“ 33 Als Schiller später erkennen muss, dass die Braut von Messina keinen ungeteilten Beifall findet, bemerkt er einschränkend, er beließe es bei diesem Versuch, man könne nicht allein gegen die „ganze Welt“ kämpfen. 34 Aber damit gibt Schiller seinen Glauben an den mit der Autonomie der Kunst 31 NA Bd. 28, S. 99. An die Gräfin Schimmelmann, 4. November 1795. 32 NA Bd. 28, S. 98. An Herder, 4. November 1795. 33 Schiller (2004), Bd. 5, S. 816 f. 34 NA Bd. 32, S. 32. An Iffland, 22. April 1803. <?page no="101"?> Künstlerproblematik und Kunstreligion in Grillparzers „Sappho“ 101 verbundenen, Welt und Menschen verwandelnden ästhetischen Imperativ nicht auf. Der kleine Schiller-Exkurs erleichtert den uns verbleibenden letzten Schritt, Grillparzers Auffassung von der Kunst und der Problematik des Künstlers durch Abgrenzung von der Klassik genauer zu bestimmen. Es ergeben sich zu Schillers Forderung nach einem Rückzug aus der „beschmutzenden“ Alltagswirklichkeit um der Reinheit der Kunst willen überraschende Parallelen. Wie Schiller trennt auch Grillparzer scharf zwischen Poesie und Prosa, wobei das für ihn ebenfalls eine Metapher für die Trennung von schöner Kunst und banaler Realität ist. In Grillparzers Tagebüchern gibt es zahlreiche Bemerkungen, in denen die Autonomie der Kunst durch Abgrenzung von Wissenschaft, Moral und Religion betont wird. Die Radikalität der Abgrenzung ist bemerkenswert. Grillparzer geht darin noch über Schiller hinaus. Der einzige Philosoph, den er uneingeschränkt gelten lässt, ist Kant. Dessen Ausführungen über Schönheit als Symbol der Sittlichkeit in der Kritik der Urteilskraft hätten die Möglichkeit einer Verbindung von Ethik und Ästhetik geboten. 35 So besteht zwischen Ethik und Ästhetik für Schiller eine Brücke, über die Grillparzer jedoch nicht bereit ist, zu gehen. Im Übrigen denkt er in diesen Dingen im Vergleich zu Schiller auch weniger systematisch. In der Kunst sollte nicht die Moral, sondern der Geschmack die letzte Entscheidung haben: Die so genannte moralische Ansicht [ist] der größte Feind der wahren Kunst, da einer der Hauptvorzüge dieser letztern gerade darin besteht, dass man durch ihr Medium auch jene Seiten der menschlichen Natur genießen kann, welche das Moralgesetz mit Recht aus dem wirklichen Leben entfernt hält. Immer wieder betont er, dass Moral mit Dichtung nichts zu tun habe. Dichtung hat im Gegenteil die Aufgabe, „[. . .] die Lebensgeister von den ewigen Nergeleien dieser lästigen Hofmeisterin etwas zu erfrischen, dem inneren Menschen neue Spannkraft zu geben.“ 36 Grillparzer ist damit weit von den Hoffnungen entfernt, die vor allem Schiller mit der Literatur verbindet. Seine Antwort auf die französische Revolution ist durch das Programm einer „ästhetischen Erziehung“ literarisch und politisch zugleich. Grillparzer dagegen hält jeden Versuch, durch Literatur die gesellschaftliche Situation beeinflussen zu wollen, für illusionär. Sein Zeitgenosse Hebbel verbindet dagegen große Hoffnungen mit den Einflussmöglichkeiten der Literatur in politisch bewegter Zeit. Er vertritt in dem 1844 verfassten „Vorwort zur Maria Magdalene“ die Auffassung, „die dramatische Kunst soll den welthistorischen Prozeß, der in 35 Kritik der Urteilskraft, § 59. 36 Grillparzer (1960-1965), Bd. 3, S. 226. Tgb. 1775 (1830). Ebd., Bd. 3, S. 288. Tgb. 2065 (1832). Vgl. Düsing (1975), S. 113. <?page no="102"?> W OLFGANG D ÜSING 102 unseren Tagen vor sich geht [. . .], beendigen helfen“ 37 . Eine neue Gesellschaftsform wird auch zu einer „um eine neue Form ringenden Menschheit“ führen, und das Drama wird seinen Teil dazu beitragen. Hebbel weiß auch, dass diese Auffassung der Kunst im Augenblick noch weit von jeder Realität entfernt ist, dass die meisten vom Theater nur verlangen, es solle „amüsieren“. 38 Er betont dennoch immer wieder die geradezu weltgeschichtliche Aufgabe der Literatur und das heißt für ihn des Dramas. Das ist die Gegenposition zu Hegels Diktum, dass gegenwärtig nicht mehr die Kunst, sondern „die so weit fortgeschrittene Philosophie die große Aufgabe der Zeit“ löse und „der Standpunkt der Kunst als ein überwundener oder doch zu überwindender zu betrachten“ sei. 39 Grillparzer sucht ebenfalls eine Antwort auf die Frage, welche Aufgabe die Kunst in einer Epoche hat, in der der Mensch durch den Prozess der Zivilisation der Natur, auch seiner eigenen, immer mehr entfremdet wird. Die Kunst hat deshalb in der Moderne die Aufgabe, in erhabener Einseitigkeit jene Eigenschaften herauszuheben und lebendig zu erhalten, die das menschliche Beisammenleben [. . .] notwendig und nützlich beschränkt und zurückdrängt, die eben darum, köstliche Besitztümer der menschlichen Natur, [. . .] ganz verlöschen würden, wenn ihnen nicht von Zeit zu Zeit ein, wenn auch nur imaginärer Spielraum gegeben würde. 40 Der „imaginäre Spielraum“ befreit die gefesselten Phantasien der Zuschauer. Gesellschaftlich erzwungene Verdrängungen, die Seele und Geist fesseln, werden in der Kunst für einen begrenzten Zeitraum aufgehoben. Es sind bei Grillparzer immer wieder Frauengestalten, die als Künstlerin wie Sappho, als Priesterin wie Medea, als rätselhafte Fremde wie Rahel oder mythische Gestalten wie Hero oder Libussa eine unterdrückte Dimension verkörpern, etwas Ursprüngliches, das in der Moderne verloren zu gehen droht und für Grillparzer zur Natur des Menschen gehört. Die Frauen sind in dieser Dimension beheimatet, die Männer scheinen sie fast vergessen zu haben. Nur Kaiser Rudolf in Ein Bruderzwist in Habsburg macht da eine Ausnahme. Er weiß, dass es neben der von Gewalt und Egoismus beherrschten Welt der Politik noch eine andere Dimension menschlichen Handelns gibt, scheitert jedoch an seinen Gegnern wie an seinen Anhängern, weil sie alle nur die Logik der Gewalt kennen und ihr blindlings vertrauen. Versuche weiblicher Figuren, die andere Dimension stärker zur Geltung zu bringen, scheitern ebenfalls. Im Goldenen Vlies sind beide, Jason wie Medea, zugleich Täter und Opfer. In der Sappho opfert sich die Titel- 37 Hebbel (1963-1967), Bd. 1, S. 314. 38 Ebd., S. 309, 320. 39 Hegel (1955), Bd. 1, S. 320. 40 Grillparzer (1960-1965). Bd. 3, S. 282. Tgb. 3250 (1837). <?page no="103"?> Künstlerproblematik und Kunstreligion in Grillparzers „Sappho“ 103 heldin, wie auch in der Libussa. Der krasseste Fall wird in der Jüdin von Toledo gestaltet. Die Jüdin wird ermordet, um die angeblich durch sie gefährdete Ordnung des Staates wiederherzustellen. Sapphos Scheitern bei dem Versuch, Kunst und Leben zu verbinden, ist im Horizont der späteren Dramen nur der erste Fall eines tragischen Schicksals, das in Variationen immer wieder durchgespielt wird. „Die Welt mit den Gesetzen der Empfindung in Übereinstimmung zu bringen, das ist die Aufgabe der Poesie, oder vielmehr der Kunst im allgemeinen“ 41 , notiert Grillparzer. Die Aufgabe der Tragödie, so könnte man fortfahren, besteht darin, das Scheitern dieser Versuche zu gestalten. Mit einer wachsenden Distanzierung von Schillers Projekt einer Verwandlung des Menschen durch die Kunst, durch „ästhetische Erziehung“ betont Grillparzer stärker moderne, psychologische und psychoanalytische Aspekte der Literatur. Der durch die Säkularisation ausbrechende, um 1800 intensiv geführte Prioritätenstreit zwischen Religion, Philosophie und Kunst, der zu unterschiedlichen literarischen Ausprägungen und philosophischen Begriffsbestimmungen der Kunstreligion von Klopstock bis Novalis, von Hegel bis Schelling und Schleiermacher geführt hat, manifestiert sich bei Grillparzer in der Sappho in einer religiös überhöhten Einstellung zur Kunst. Das Schwinden einer konventionellen Religiosität in Verbindung mit einer Bedeutungssteigerung der Kunst lässt sich auch in Grillparzers Tagebuchaufzeichnungen verfolgen. Die nach geradezu wissenschaftlicher Genauigkeit strebende Einstellung des Psychologen Grillparzer bildet das kritische Regulativ seiner Kunstreligion. Der menschliche Geist ist ein Rätsel, das auch die Psychologie, seiner Meinung nach, nicht zu lösen vermag: In der Psychologie sind wir aber so vollkommen unwissend, dass unter 1000 Erfahrungen die ein schlichter Mensch an sich in einem Tag macht, gewiß: 900 unerklärt bleiben. 42 Überlegungen dieser Art haben nahezu hundert Jahre später zur Entwicklung der Bewusstseinsstromtechnik geführt. Schon Grillparzer nennt die Phänomene des seelischen Lebens „wunderbar und unerklärlich wegen ihrer Zusammensetzung ins Unendliche“ oder „wegen des Zusammenwirkens unberechenbarer und unzählbarer Faktoren“. 43 Grillparzer versteht den Künstler nicht mehr primär als Genie, dem Offenbarungen zuteil werden, die sich der Fassungskraft der gewöhnlichen Sterblichen entziehen, sondern als Psychologen, als wissenschaftlichen Beobachter. Er wird, wenn man an den Erzähler der Novelle Der arme Spielmann, der viel mit Grillparzer gemeinsam hat, denkt, von „anthropologischem Heiß- 41 Ebd., S. 289. Tgb. 2146 (1834). 42 Grillparzer (1960-1965), Bd. 3, S. 1145. Tgb. 79 (1809/ 10). 43 Ebd., Bd. 3, S. 1157. Tgb. 4269 (1860). <?page no="104"?> W OLFGANG D ÜSING 104 hunger“ und „psychologischer Neugierde“ getrieben. 44 Für Grillparzer besteht die Aufgabe der Kunst nicht mehr in der Darstellung des Unendlichen im Endlichen, 45 in der Erfassung des Weltganzen, wie in der idealistischen Ästhetik, sondern die Metaphern der Dichtung enthüllen primär die „unerklärten Wunder des menschlichen Innern“ 46 . So spiegelt Sapphos Götterhimmel die antike Mythologie, er ist aber auch Ausdruck ihres Innern, Symbol ihres Künstlertums und ihrer Kunstreligion. Die Verabsolutierung der Kunst verleiht ihr eine religiöse Weihe und rettet die Transzendenz ins Ästhetische. Das führt aber auch zu einer Trennung von Kunst und Leben. Sappho wird ihrer Sendung untreu, als sie die „Scheidewand“ zwischen Kunst und Leben missachtet. Dasselbe Verhältnis von Kunst und Religion beseelt den armen Spielmann in Grillparzers gleichnamiger Erzählung. Äußere und innere Welt fallen hier völlig auseinander. Sein falsches, disharmonisches Musizieren ist für den Spielmann Ausdruck höchster Harmonie, für den gewöhnlichen Zuhörer jedoch eine Qual. Er nennt seine Kunst „ein Gebet“. Den professionellen Musikern wirft er vor, sie „spielen den Wolfgang Amadeus Mozart und den Sebastian Bach, aber den lieben Gott spielt keiner“ 47 . Während der arme Spielmann allen Anfeindungen zum Trotz bei seiner Kunst bleibt und so schon auf Erden zu den Seligen gehört, weil sie ihn mit dem Himmelreich verbindet, gibt Sappho ihre Kunst aus plötzlich erwachter Leidenschaft auf. Ihre Liebe erweist sich jedoch als Selbsttäuschung. Der Geliebte verehrt in ihr die Künstlerin, die sie nicht mehr sein will. Mit ihrem Freitod büßt Sappho für den Verrat an ihren Göttern und der Kunst, die sie zugleich durch das Opfer ihres Lebens verherrlicht. Im Andenken der Überlebenden rettet sie damit das Bild ihres besseren Ichs. Es bleibt die Tragödie des Künstlers, dass für ihn die Kluft zwischen der heiligen Kunst und dem natürlichen Leben unüberwindlich ist. Man verweist zu Recht in diesem Zusammenhang auf Thomas Manns Tonio Kröger und das Leiden des Künstlers an seiner Ausgeschlossenheit vom Leben der anderen, der Gesunden, im bürgerlichen Leben Erfolgreichen. 48 Es dokumentiert die Modernität des in der Sappho gestalteten Konflikts, dass seine Ausläufer bis zur L’art pour l’art-Bewegung, zu Thomas Mann und Gottfried Benn reichen, die alle an der „Artisten-Metaphysik“ Nietzsches partizipieren. 49 Für Grillparzer war dieser Konflikt jedoch keine literarische Bewegung oder ein literaturgeschichtlicher Trend, sondern ein Trauma, das niemals heilte. Es wurde nur erträglich, wenn er die 44 Vgl. ebd., Bd. 3, S. 150, 186. 45 Vgl. dazu die Ausführungen von D. Henrich (1968). 46 Grillparzer (1960-1965), Bd. 3, S. 1157. 47 Ebd., Bd. 3, S. 152, 162 f. 48 Zum Beispiel Škreb (1972), S. 121. 49 Nietzsche (1966), Bd. 1, S. 11, 14. <?page no="105"?> Künstlerproblematik und Kunstreligion in Grillparzers „Sappho“ 105 Kunst zu seiner „Göttin“ 50 erhob und die künstlerische Tätigkeit zum Gottesdienst. „Für mich gab es nie eine andere Wahrheit als die Dichtkunst“, notiert er in seinem Tagebuch und fährt fort: „Sie war meine Philosophie, meine Physik, Geschichte und Rechtslehre, Liebe und Neigung, Denken und Fühlen.“ Die Dichtung war sein Leben, seine einzige Wahrheit und Wirklichkeit: Dagegen hatten die Dinge des wirklichen Lebens, ja seine Wahrheit und Ideen für mich ein Zufälliges, Unzusammenhängendes, Schattenähnliches, das mir nur unter der Hand der Poesie zu einer Notwendigkeit ward. Ein „Mensch“, fährt er fort, konnte er nur durch die Poesie werden. „Ich schaudere über meinen Zustand als Mensch“, schreibt er, wenn ihn die Poesie einmal verlassen sollte. 51 Nicht weil Sappho in der Leidenschaft jedes Maß verliert und Melitta mit einem Dolch bedroht, verspielt sie ihre Humanität und damit auch ihr Künstlertum, sondern umgekehrt, weil sie ihre künstlerische Sendung an eine Illusion von Leben und Liebe verraten hat, verliert sie auch als Mensch jeden Halt. Das ist Sapphos Schuld, um einer Leidenschaft willen die „Göttin Kunst“ verlassen und damit sich selbst zerstört zu haben. Sapphos Freitod führt weniger zu einer Verklärung der Protagonistin, das wäre eine Rückkehr zu Schillers Verbindung von „Vergötterung und Tod“ 52 , sondern zu einer Apotheose der Kunst. Literaturverzeichnis Auerochs, B.: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006. Blänsdorf, J.: „Grillparzer und die Griechen.“ In: Mennemeier (Hg.), Amüsement und Schrecken. Studien zum Drama und Theater des 19. Jahrhunderts. Bd. 34. Tübingen 2006, S. 44-66. Düsing, W.: „Die Verinnerlichung des Schönen in Grillparzers Entwürfen zur Ästhetik.“ In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Bd. X (1975), S. 98- 122. Dyck, J. W.: „Goethes Humanitätsideal und Grillparzers Sappho“. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft. 3. Folge, 4. Bd. (1965), S. 65-79. Ensberg, P.: Der schöne Gott. Strukturen ästhetischen und theologischen Denkens. Würzburg 2007. Euripides: „Medea“. In: L. Wolde (Hg. u. Übers.), Euripides Tragödien und Fragmente. Wiesbaden 1949, S. 59-116. Fuhrmann, M.: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles, Horaz, ‚Longin’. Darmstadt 2 1992. Goethe, J. W.: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Teil 5, Bd. 3: Dramatische Dichtungen. Hg. J. Kunz. Hamburg 5 1962. 50 Die innere Entwicklung Grillparzers, die zu einer „Göttin Kunst“ und zur Kunstreligion führte, behandelt Mühlher (1956). 51 Grillparzer (1911), XIII, S. 137 f. Tgb. 145 (1827). 52 Kaiser (1967). <?page no="106"?> W OLFGANG D ÜSING 106 Grillparzer, F.: Grillparzers Werke in sechzehn Teilen. Hg. S. Hock. Berlin/ Leipzig/ Wien/ Stuttgart [1911]. --: Sämtliche Werke in vier Bänden. Hg. P. Frank / K. Pörnbacher. München 1960-1965. Hebbel, F.: Werke. Fünf Bände. Hg. G. Fricke / W. Keller / K. Pörnbacher. Darmstadt 1963-1967. Hegel, G. W. F.: Ästhetik. Zwei Bände. Hg. F. Bassenge. Berlin/ Weimar 1955. Heine, H.: „Die romantische Schule“. In: H. Schanze (Hg.), Werke. Bd. 4: Schriften über Deutschland. Frankfurt a. M. 1968, S. 166-298. Henrich, D.: „Kunst und Natur in der idealistischen Ästhetik“. In: H. R. Jauß (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste. München 1968, S. 128-134. Japp, U.: „Der Sprung vom Felsen. Grillparzer: Sappho“. In: Ders., Das deutsche Künstlerdrama. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin 2004, S. 87-104. Kaiser, G.: Vergötterung und Tod. Die thematische Einheit von Schillers Werk. Stuttgart 1967. Kant, I.: Kritik der Urteilskraft. Hg. K. Vorländer. Hamburg 1959. Magris, C.: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 2 1988 (Originaltitel: Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna, 1963). Mühlher, R.: „Göttin Kunst? “. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft. 3. Folge, 2. Bd. (1956), S. 15-49. Müller, E.: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus. Berlin 2004. Müller, J.: „Figur und Aktion in Grillparzers Sappho-Drama“. In: Grillparzer-Forum Forchtenstein (1971), S. 7-43. Nietzsche, F.: Werke in drei Bänden. Bd. 1. Hg. K. Schlechta. München 1966. Politzer, H.: Franz Grillparzer oder das abgründige Biedermeier. Wien/ München/ Zürich 1972. Schiller, F.: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hg. P.-A. Alt / A. Meier / W. Riedel. München/ Wien 2004. --: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 28: Briefwechsel. Hg. N. Oellers. Weimar 1969. Bd. 32: Briefwechsel. Hg. A. Gellhaus. Weimar 1984 (= NA). Seidler, H.: Prunkreden in Grillparzers Dramen. Wien 1964 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Kl. Sitzungsberichte. Bd. 244,4). Škreb, Z.: Grillparzer. Eine Einführung in das dramatische Werk. Kronberg/ Ts. 1976. Walser, M.: „Imitation oder Realismus“. In: Ders., Erfahrungen und Leseerfahrungen. Frankfurt a. M. 3 1969, S. 66-93. <?page no="107"?> Charlotte Krauß Künstlerfiguren im französischen Drama der Romantik: Vigny, Dumas, Musset, Hugo In der Forschung zur französischen Theatergeschichte ist das Künstlerdrama ein - zumindest in den einschlägigen Werken - nahezu unbekanntes Konzept. Diese Tatsache lässt sich möglicherweise auf das Fehlen eines „nationalen“ französischen Künstlerdramas zurückführen, das mit der Bedeutung von Goethes Torquato Tasso im deutschsprachigen Raum vergleichbar wäre. Natürlich sind auch auf den französischen Bühnen immer wieder Künstlerfiguren aufgetreten, so schon bei Molière, der zum einen im Impromptu de Versailles das Leben und die Entscheidungsprozesse seiner Schauspieltruppe thematisiert, zum anderen dem Zuschauer etwa in der Balletkomödie Le Bourgeois gentilhomme anhand zweier Lehrerfiguren - „Maître de musique“ und „Maître à danser“ - die Problematik der Abhängigkeit des Künstlers von einem unverständigen, aber reichen Mäzen vor Augen führt. Das Künstlerdrama im eigentlichen Sinne entsteht jedoch allgemein erst im späten 18. Jahrhundert in der Folge der Aufklärung, die das Individuum entdeckt und auch für den Künstler Freiheit und Unabhängigkeit einfordert. Grundvoraussetzung ist die Wahrnehmung des Künstlers als schöpferisches „Genie“, das eine Konflikte provozierende Sonderstellung in der Gesellschaft einnimmt. 1 Diese Vorstellung, die vor allem im deutschen Sturm und Drang eine rasche Verbreitung erfahren hat, gelangt spätestens 1814 mit Mme de Staëls Deutschlandbuch De l’Allemagne auch nach Frankreich. In der französischen Romantik, die im europäischen Vergleich verzögert einsetzt, rückt die Figur des Künstlers in den Mittelpunkt des Interesses auch der Schriftsteller - eine Thematisierung, die die Suche des Künstlers nach seiner Rolle in einer veränderten und sich weiter verändernden Gesellschaft verrät. Das Drame romantique ist in Frankreich durch die „Bataille d’Hernani“, den Streit um Hugos Stück Hernani am 25. Februar 1830, im kollektiven Gedächtnis verankert; es wird oft als repräsentative Gattung der Romantik gewertet. 2 Das Interesse der Literatur an der Figur des Künstlers je- 1 Vgl. Japp (2004), S. 13: „die Proklamation des Genies fällt zusammen mit der intendierten Emanzipation des Künstlers zum ‚freien Künstler‘.“ 2 Vgl. Gengembre (1997), S. 327. <?page no="108"?> C HARLOTTE K RAUSS 108 doch lässt sich auf den ersten Blick nicht gut an dieser Gattung ablesen. Nur wenige Theaterstücke wären explizit als Künstlerdramen zu bezeichnen, bringen - nach der Definition von Uwe Japp - „einen Konflikt um einen schöpferischen Protagonisten auf bühnenwirksame Weise zur Darstellung“ 3 . Dieser Definition entsprechen Chatterton (1835) von Alfred de Vigny sowie Kean ou désordre et génie (1836) von Alexandre Dumas père. Beide Dramen stellen respektive einen Dichter und einen Schauspieler in den Mittelpunkt; sie sollen in der Folge genauer betrachtet werden. Da diese Künstlerdramen aber als Ausnahmen des zumeist historische Stoffe aufgreifenden Drame romantique gewertet werden können, soll die Analyse um zwei Stücke erweitert werden, die die Rolle des Künstlers im Drama der Romantik verdeutlichen, auch wenn der Künstler in beiden Fällen nicht die Hauptrolle spielt, beide also keine expliziten Künstlerdramen sind: Alfred de Mussets Lesestück Lorenzaccio (1834) und Victor Hugos Versdrama Ruy Blas (1838). Diese Auswahl ermöglicht es zudem, die vier bekanntesten Autoren des Drame romantique und vier leicht variierende Konzeptionen - auch in Bezug auf die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft - zu berücksichtigen. Die Frage nach dem Individuum in seiner oft konfliktbeladenen Beziehung zur Gesellschaft bestimmt die gesamte Literatur der französischen Romantik. 4 Deren zweite Generation, zu der die hier vertretenen Autoren gehören, stand desillusioniert vor den „Vätern“, den Helden der Revolution und der Napoleonischen Feldzüge, und sah kaum noch Möglichkeiten, selbst zu handeln. 5 Von der Straße verlagerten sich die Gefechte in die Theater: Geschichtsstücke sollten Menschenmassen auf die Bühne bringen, und in der „Bataille d’Hernani“ standen sich Anhänger der Veränderung und Konservative dann tatsächlich gegenüber. Dieses Schlüsselereignis der jungen Literatur spitzte die Forderungen an eine neue, offene Dramenform zu, der Hugo bereits drei Jahre zuvor im Vorwort zu seinem Stück Cromwell eine theoretische Grundlage gegeben hatte und die in der französischen Theatergeschichte einen Zeitraum von immerhin 15 Jahren - ungefähr von 1827 bis 1843 - bestimmt. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass die Dramen von verschiedenen Autoren und für verschiedene Pariser Bühnen geschrieben wurden, so 3 Japp (2004), S. 2. 4 Vgl. Gengembre (1997), S. 327. 5 Dieses Gefühl der Nutzlosigkeit hat Alfred de Musset zu Beginn seiner Confession d’un enfant du siècle treffend zum Ausdruck gebracht: „Condamnés au repos par les souverains du monde, livrés au cuistre de toute espèce, à l’oisiveté et à l’ennui, les jeunes gens se voyaient retirer d’eux les vagues écumantes contre lesquelles ils avaient préparé leur bras. Tous ces gladiateurs frottés d’huile se sentaient au fond de l’âme une misère insupportable.“ (Musset (1993), S. 34). <?page no="109"?> Künstlerfiguren im französischen Drama der Romantik 109 dass die Stücke auch unterschiedlichen persönlichen Vorstellungen und unterschiedlichen Anforderungen der Theaterleiter und des Publikums unterworfen waren, dass sie mehr oder weniger deutlich mit der Theatertradition brachen. Das höchste Ziel war für die meisten Autoren weiterhin die offizielle Bühne der „Comédie française“. Dafür ging insbesondere Vignys Chatterton Kompromisse ein, die dazu führen, dass das Stück manchmal nicht mehr als Drame romantique gelesen wird. Dumas’ Kean hingegen feierte am „Théâtre des Variétés“ einen großen Erfolg und kann den Einfluss des Melodrams nicht verleugnen. Der Rückgriff auf populäre Theaterformen lässt sich auch dadurch erklären, dass das romantische Drama das einfache Volk erreichen sollte. 6 Daneben waren die einflussreichsten Schauspieler durch das Melodram berühmt geworden, so Frédéric Antoine, genannt Frédérick Lemaître, der Kean und Ruy Blas spielte, aber auch Marie Dorval, für die Vigny eigens Chatterton mit der weiblichen Hauptrolle Kitty Bell schrieb: 1827 hatte sie erstmals erfolgreich im Melodram La vie d’un joueur auf der Bühne gestanden. 7 Schließlich gründeten Hugo und Dumas mit Unterstützung des Herzogs von Orléans, Sohn von König Louis-Philippe, im „Théâtre de la Renaissance“ eine zweite offizielle Bühne. 1838 mit der Uraufführung von Hugos Ruy Blas eingeweiht, wendete sie sich jedoch in der Folge mehr dem Musiktheater zu, so dass Hugos Drama gleichzeitig auch der letzte Erfolg des Drame romantique war. Am Ursprung der Bewegung stand die Begeisterung für Shakespeares Stücke in den 1820er Jahren. In seiner Préface de Cromwell (1827) bezeichnet Victor Hugo Shakespeare als einen „Gott“ des Theaters, dem es auf der französischen Bühne nachzueifern gelte. 8 Hierfür soll das französische Drama nach Hugos Vorstellung nur den dem jeweiligen Stoff inhärenten Zwängen folgen und sich insbesondere von den als absurd empfundenen Einheiten der Zeit und des Ortes befreien. 9 Als „miroir de concentration“ 10 die Welt verdichtet widerspiegelnd, muss es alle Aspekte der Realität berücksichtigen und zu diesem Zweck eine Mischung zweier natürlicher Typen, des Sublimen mit dem Grotesken, anbieten. 11 Notwendigerweise werden dabei alle sprachlichen Register und alle Gat- 6 Vgl. Gengembre (2001), S. 327. 7 Vgl. ebd., S. 331. 8 Hugo (2001), S. 44. Bereits 1821 hatte Guizot eine Biographie, Vie de Shakespeare, veröffentlicht. 1823 stellte Stendhal in Racine et Shakespeare die offene Form gegen das klassische französische Theater, das als nicht mehr zeitgemäß empfunden wurde. 1827 schließlich gastierte eine englische Schauspielertruppe in Paris. Vgl. Bassan (1999), S. 51. 9 Hugo (2001), S. 40, 44-53, 55-57. 10 Ebd., S. 60. 11 Vgl. ebd., S. 39. <?page no="110"?> C HARLOTTE K RAUSS 110 tungen - Tragödie und Komödie - vermischt. 12 Auch wenn kein Autor alle Forderungen konsequent umsetzt, geben sie doch eine Tendenz an, die sich in den Dramen der französischen Romantik aufzeigen lässt. Thematisch stellt das Drame romantique zum einen geschichtliche Ereignisse auf der Bühne dar, zum anderen das individuell empfundene Drama des menschlichen Daseins. Aus diesen beiden Polen resultiert eine Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen individuellem Freiheitsdrang und sozialer Vorbestimmtheit in einer Welt, deren Werte der romantische Held zurückweist oder in der er selbst zurückgewiesen wird - und in der er oftmals zugrunde geht. 13 Diese Sichtweise beruht nicht zuletzt auf den eigenen Erfahrungen der Autoren, und so ist es nahe liegend, dass den von ihnen dargestellten Künstlerfiguren auch als „alter ego“ ihrer Schöpfer eine besondere Bedeutung zukommt. Die vermutlich berühmteste Künstlerfigur des Drame romantique ist Chatterton von Alfred de Vigny. Als Marie Dorval ein Engagement an der „Comédie Française“ bekam, nahm der Autor für die Schauspielerin einen Stoff wieder auf, den er drei Jahre zuvor in seinem Roman Stello (1832) verarbeitet hatte. Im Roman konfrontiert ein Binnenerzähler die Titelfigur mit den Schicksalen dreier „poètes maudits“. Einer von ihnen, der englische Dichter Chatterton, starb 1770 im Alter von knapp 18 Jahren und entspricht schon durch diese Tatsache dem Genieideal der Romantiker. Für die Dramenfassung fügte Vigny einige neue Elemente ein, vor allem die Figur des Lord Talbot; außerdem spitzte er die Figur des John Bell zu, der als mächtiger Unternehmer den Gegenpol zum Poeten bildet. Dem umfangreichen Vorwort „Dernière nuit de travail“ zufolge in nur siebzehn Nächten geschrieben 14 , weist das Drama eher klassische Formen auf und folgt unter anderem den aristotelischen Einheiten. Dies erklärt sich durch die äußeren Bedingungen, durch Vignys Willen, an der Comédie Française gespielt zu werden. Die Handlung in drei Akten ist daher auf ein absolutes Minimum reduziert und konzentriert sich auf die Figur des dichterischen Genies, das sich am Unverständnis und an den materiellen Interessen seiner Umgebung stößt. 15 12 Vgl. ebd., S. 84. 13 Vgl. Gengembre (2001), S. 339: „Dans le drame, les romantiques entendent montrer l’individu qui se heurte à la société, soit parce que leurs valeurs sont antagonistes (Chatterton contre le matérialisme bourgeois), soit parce que la société l’exclut au nom des préjugés (Ruy Blas), soit parce qu’elle est indigne de lui et qu’elle le dégrade (Lorenzaccio).“ 14 Vigny (2001), S. 37. 15 Damit das Stück am 12. Februar 1835 uraufgeführt werden und tatsächlich Marie Dorval die Rolle der Kitty Bell übernehmen konnte, bedurfte es jedoch der persönlichen Intervention des Königs Louis-Philippe, der Vigny als treuem Diener der Nationalgarde danken will. Vgl. Rey (Préface) in: Vigny (2001), S. 9. <?page no="111"?> Künstlerfiguren im französischen Drama der Romantik 111 Chatterton hat - das Modell der Ossianschen Gesänge nachahmend - seine Gedichte als die eines Mönches aus dem 15. Jahrhundert namens Rowley ausgegeben und ist zum Opfer seiner eigenen Strategie geworden: Kritiker stellen sein Talent in Frage und behaupten, der erfundene Mönch habe tatsächlich existiert. 16 Von einem Gläubiger verfolgt, lebt der junge Dichter unter falschem Namen in einem kleinen Zimmer einer Herberge, die dem reichen Unternehmer John Bell gehört und von dessen sensibler Frau Kitty geführt wird. In diese hat sich Chatterton verliebt. Unter Zeitdruck gelingt es dem Dichter nicht, bereits verkaufte Gedichte zu schreiben 17 ; zudem verliert er sein Inkognito, als er von einem ehemaligen Studienkollegen, Lord Talbot, wieder erkannt wird. Seine letzte Hoffnung ist der Bürgermeister von London, Lord Beckford, der ein Freund seines Vaters war. Dieser erscheint, versteht den sensiblen Dichter aber nicht und bietet ihm lediglich eine Stelle als Kammerdiener an, ein erniedrigendes Angebot, das Chatterton endgültig in den bis dahin hinausgezögerten Selbstmord treibt. Kitty Bell, die ihm zu spät ihre Liebe entdeckt hat, stirbt unmittelbar darauf. Der Fokus der Handlung ist auf die empfindsame Künstlerseele gerichtet. In seinem Vorwort schreibt Vigny explizit: „J’ai voulu montrer l’homme spiritualiste étouffé par une société matérialiste, où le calculateur avare exploite sans pitié l’intelligence et le travail.“ 18 Er stellt das Genie als eine besonders schutzbedürftige Art der schreibenden Menschen dar. Von einem gewöhnlichen „homme de lettres“, eine Art literarischer Handwerker, und dem selbstbewussten „grand écrivain“, ein Mensch des Wissens, des höheren Denkens, unterscheidet sich der Poet, das Genie, durch seine Gabe, aber auch durch seine Hilflosigkeit. 19 Als unglücklicher Held - „héros du malheur“ - ist er unfähig, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden, ohne gleichzeitig entweder seine Gabe oder gar sein Leben zu verlieren, bedarf der Hilfe seiner Mitbürger und des Staates, zu dessen Ruhm er beiträgt: N’entendez-vous pas ces jeunes désespérés qui demandent le pain quotidien, et dont personne ne paie le travail? Eh quoi! les nations manquent-elles à ce point de superflu? Ne prendrons-nous pas, sur les palais et les milliards que nous donnons, une mansarde et un pain pour ceux qui tentent sans cesse d’idéaliser 16 Vgl. die Erklärungen von Chatterton; ebd., (I, 5), S. 72. 17 „[. . .] et si demain ce livre n’est pas achevé, je suis perdu! oui, perdu! sans espoir! - Arrêté, jugé, condamné! jeté en prison! “ (Ebd., (III, 1), S. 101). „Oui, je ne devais pas compter à ce point sur mes forces et dater l’arrivée d’une muse et son départ comme on calcule la course d’un cheval. - J’ai manqué de respect à mon âme immortelle, je l’ai louée à l’heure et vendue.“ (Ebd. (III, 5), S. 117). 18 Ebd., S. 51 f. 19 Vgl. ebd., S. 39-43. <?page no="112"?> C HARLOTTE K RAUSS 112 leur nation malgré elle? Cesserons-nous de leur dire : "Désespère et meurs ; despair and die"? 20 Es geht in Chatterton also um den Menschen, nicht um sein Werk. Der Zuschauer muss an das Genie des Dichters glauben, ohne dass er hierfür Beweise, Verszitate etwa, erhalten würde. 21 Dies hängt auch damit zusammen, dass die Umwelt das Genie eben nicht zu fassen vermag. So lobt der junge Lord Lauderdale den Dichter für seine Verse, weil sie ihn so schön zerstreut haben: „Par Dieu! je suis bien aise de vous connaître: vos vers m’ont fort diverti.“ 22 Auch Lord Beckford nimmt das dichterische Talent nicht ernst: „Vous vous êtes amusés à faire des vers, mon petit ami . . .“ 23 Und selbst der ungeschickte, im Grunde aber hilfsbereite Lord Talbot vermag die Seelenqualen des Dichters nicht wahrzunehmen. Dieser leichtfertigen Außensicht steht unvereinbar die Innensicht der Dichterfigur gegenüber: Angesichts seines Misserfolges nimmt Chatterton sein Talent mehr als Qual denn als Gabe wahr. Bereits bei seinem Auftritt in der Mitte des ersten Aktes ist Chatterton, den Szenenanweisungen zufolge, als blass, schwach und erschöpft darzustellen, soll jedoch energische Gesichtszüge tragen. 24 Der Quäker, der die Funktion eines Beobachters und Mittlers einnimmt, weist den „Märtyrer“ explizit auf seinen schlechten Zustand hin, stößt aber nur auf Gleichgültigkeit und Lebensüberdruss: „[M]a vie est de trop à tout le monde.“ 25 Mehrmals fasst Chatterton im Stück seine Misere zusammen: Er leidet unter der mangelnden Anerkennung, seiner vergeblichen Liebe und seiner Angst vor der weißen Seite. Stolz aber unschuldig wie ein Kind 26 wolle er, so sagt er, nur er selbst sein, könne eben nichts anderes außer dichten: „Je suis ouvrier en livres, voilà tout.“ 27 Obwohl er erniedrigende Auftragsarbeiten unter Zeitdruck ablehnt, fordert der Dichter keinesfalls, 20 Vgl. ebd., S. 4 f. 21 Vgl. Rey (Préface) in: Vigny (2001), S. 12. Dieser Punkt gilt für Künstlerdramen im Allgemeinen und trifft im Prinzip auf die vier hier analysierten Dramen zu. Chattertons einzige poetische Äußerung ist die Beschreibung des Dichterberufs als Antwort auf die Sinnfrage Lord Beckfords. Dieser Aufschrei des Dichters ist jedoch von einer Ironie durchsetzt, die Lord Beckford freilich nicht zu erkennen vermag. Vgl. ebd. 22 Vigny (2001), (III, 3), S. 86. 23 Ebd., (III, 6), S. 120. 24 Ebd., S. 53: „Caractère. - Jeune homme de dix-huit ans, pâle, énergique de visage, faible de corps, épuisé de veilles et de pensée, simple et élégant à la fois dans ses manières, timide et tendre devant Kitty Bell, amical et bon avec le quaker, fier avec les autres, et sur la défensive avec tout le monde ; grave et passionné dans l’accent et le langage.“ 25 Ebd., (I, 5), S. 68. 26 Ebd., (II, 2), S. 81 : „Je suis inoffensif comme les enfants.“ 27 Ebd., (II, 4), S. 94. <?page no="113"?> Künstlerfiguren im französischen Drama der Romantik 113 sich der Kunst um der Kunst willen hinzugeben. Er opfert sich vielmehr für das Vaterland auf: Eh! cependant, n’ai-je pas quelque droit à l’amour de mes frères, moi qui travaille pour eux nuit et jour ; moi qui cherche avec tant de fatigues, dans les ruines nationales, quelques fleurs de poésie dont je puisse extraire un parfum durable ; moi qui veux ajouter une perle de plus à la couronne d’Angleterre, et qui plonge dans tant de mers et de fleuves pour la chercher ? [. . .] J’ai fait de ma chambre la cellule d’un cloître; j’ai béni et sanctifié ma vie et ma pensée ; j’ai raccourci ma vue [. . .]. 28 Die erhoffte Rettung durch das Vaterland jedoch - „c’est sur l’Angleterre que je compte“ 29 - bleibt aus. So hält nur die Furcht, Kitty könne seinen Tod nicht überleben, Chatterton kurzzeitig vom Selbstmord ab. Er erwägt sogar, das Dichten für sie aufzugeben, sieht jedoch angesichts Lord Beckfords Verhalten ein, dass er seine Seele verkauft hat, und verabschiedet sich von der Misere des Lebens, indem er Opium trinkt: „Adieu, humiliation, haines, sarcasmes, travaux dégradants, incertitudes, angoisses, misères, tortures du cœur, adieu! “ 30 Für Alfred de Vigny wird Chatterton zum beliebigen Modell eines grundlegenden Problems, der mangelnden Unterstützung der Poeten durch eine Gesellschaft, die auf ihrem Recht beharrt und sensible Seelen nicht versteht. 31 Ob sein Drama dies verändern kann, bleibt jedoch fraglich, denn bereits der Roman, so Vigny im Vorwort, sei zwar von vielen Menschen gelesen worden, habe aber nur wenige Herzen verändert. 32 Für die französische Literatur hingegen begründet Chatterton als typischer romantischer Held in einem untypischen romantischen Drama das Motiv des „Poète maudit“. Im nur ein Jahr nach Chatterton uraufgeführten Kean ou désordre ou génie von Alexandre Dumas père steht im Zentrum ein genialer Schauspieler, ein Künstler, der per definitionem mehr an die Öffentlichkeit tritt als ein Dichter. 33 Gleichzeitig stellt sich hier das Problem der - je nach Sichtweise 28 Ebd., (I, 5), S. 71. 29 Ebd., (III, 3), S. 118. 30 Ebd., (III, 7), S. 126. 31 Immer wieder haben Figuren „raison selon la loi“ (Ebd., (III, 5), S. 117). Vigny schreibt: „Le Poète était tout pour moi ; Chatterton n’était qu’un nom d’homme, et je viens d’écarter à dessein des faits exacts de sa vie pour ne prendre de sa destinée que ce qui le rend un exemple à jamais déplorable d’une noble misère.“ (Ebd., S. 52). 32 Ebd., S. 37. 33 Wie Chatterton hat auch Kean ein historisches Vorbild: einen englischen Schauspieler, der 1833 starb. Die erste Version des Stückes stammt von M.-E.-G. Théaulon de Lambert und Frédéric de Courcy; Lemaître brachte Dumas diese Fassung und bat ihn, das Stück zu überarbeiten. Vgl. Cooper (1999), S. 9. <?page no="114"?> C HARLOTTE K RAUSS 114 - nur reproduzierenden, in jedem Fall ephemeren Kunst. 34 Interessanterweise widerlegt Dumas in seinem Drama die Sicht der Gesellschaft auf den Künstler als exzentrische Skandalgestalt: Wie Chatterton will Kean, der Mitgliedern aller Gesellschaftsschichten als Projektionsfläche dient, nur in Ruhe arbeiten. Er strebt jedoch letztendlich nach einer fast kleinbürgerlichen Vorstellung vom geordneten Leben. So wirkt das Drama an vielen Stellen - wenn etwa die hohen Preise für Kostüme oder die Abhängigkeit vom zahlenden Publikum betont werden - wie ein Lehrstück über die schweren Bedingungen des Künstlers in der Gesellschaft, das die Zuschauer von falschen Vorstellungen heilen soll. Kean, der allabendlich Shakespeares Helden auf der Bühne des Drury- Lane-Theaters darstellt, übt auf die Damen der Londoner Gesellschaft die Faszination des Exoten aus. Sein Beruf verleiht ihm jedoch eine „réputation affreuse“. So mahnt zu Beginn des Stückes Amy de Goswill ihre Freundin Elena, Gräfin von Kœfeld, zur Zurückhaltung gegenüber dem Schauspieler: Kean est un véritable héros de débauche et de scandale! un homme qui se pique d’effacer Lovelace par la multiplicité de ses amours, qui lutte de luxe avec le prince royal, et qui, avec tout cela, par un contraste qui dénonce son extraction, revêt, à peine débarrassé du manteau de Richard, l’habit d’un matelot du port, court de taverne en taverne, et se fait rapporter chez lui plus souvent qu’il n’y rentre. [. . .] Un homme criblé de dettes, qui spécule, dit-on, sur les caprices de certaines grandes dames pour échapper aux poursuites de ses créanciers. 35 Dass Kean trotz seines Erfolges nicht zur guten Gesellschaft gehört, macht auch Elenas Gatte klar: Dieser hat Kean zur Abendgesellschaft geladen - als Hofnarr: „en qualité de bouffon: nous lui ferons jouer une scène de Falstaff après le dîner . . . Cela nous amusera, nous rirons.“ 36 Nach einem kurzen Auftritt im ersten Akt, in dem Kean sein schauspielerisches Talent unter Beweis stellen und Elena vor den Augen ihres Mannes um ein Treffen bitten konnte, zeigt der Beginn des zweiten Aktes ihn, ganz dem negativen Bild der Adeligen entsprechend, schlafend in seiner Loge zwischen den Überresten einer Orgie. Kean rechtfertigt sich jedoch, ein Schauspieler müsse auch die Abgründe des Lebens kennen, 34 Diesen Aspekt bringt die Titelfigur selbst zum Ausdruck: „Mais rappelez-vous donc que l’auteur ne laisse rien après lui, qu’il ne vit que pendant sa vie, que sa mémoire s’en va avec la génération à laquelle il appartient, et qu’il tombe du jour dans la nuit . . . du trône dans le néant . . .“ (Dumas (1876), (II, 4), S. 134). Vgl. dazu auch Japp (2004), S. 5; er weist ebenfalls auf dieses Problem der Schauspielerdramen hin. 35 Dumas (1876), (I, 2), S. 106. 36 Ebd., (I, 3), S. 110. <?page no="115"?> Künstlerfiguren im französischen Drama der Romantik 115 um sie auf der Bühne richtig darzustellen. 37 Hellsichtig hat er die Sicht der Gesellschaft auf ihn durchschaut und nutzt sie zu seinem Vorteil: So lässt er den Prinzen von Wales abweisen unter dem Vorwand, er habe die ganze Nacht getrunken: „il y a plus de chances qu’il te croie“ 38 . Der Auftritt seines ehemaligen Kollegen Pistol gibt einen Einblick in Keans schwierige Anfänge als Schauspieler in einer armseligen Gauklertruppe, aber unter ehrlichen Menschen, die er weiterhin unterstützt. Allmählich enthüllt sich der wahre Charakter Keans, der eines guten Menschen. Ihm gegenüber steht ein verschuldeter und verbrecherischer Adeliger, Lord Mewill, der aus rein finanziellem Interesse die junge Bürgerliche Anna Damby zur Heirat zu zwingen versucht. Diese fühlt sich jedoch zu Kean hingezogen und bittet den Schauspieler um Rat und Hilfe: Sein Vorbild hat in ihr die Liebe zum Theater geweckt, und sie will Schauspielerin werden. Kean rät ihr von dem Plan ab und beschreibt ausführlich das schwierige Leben der Schauspieler: Die Kunst beruht nicht nur auf Talent, sondern auch auf harter Arbeit 39 , und der Beruf verlangt die Investition von viel Geld. Auch warnt er sie vor böswilligen Kritikern, die gute Kritiken mit Gefälligkeiten erkaufen, sowie vor Rivalinnen, die mit Gerüchten das Publikum gegen talentierte Schauspieler aufbringen, so dass man schließlich den Tag verflucht, an dem man den Schauspielerberuf ergriffen hat. 40 Kean ersucht Anna, nicht dem Schein einer schönen Rolle zu verfallen: [Je suis] roi avec un sceptre de bois doré, des diamants de strass et couronne de carton; j’ai un royaume de trente-cinq pieds carrés, et une royauté qu’un bon petit coup de sifflet fait évanouir. 41 Doch obwohl er sich nach einem „normalen“ Beruf sehnt, kann der Schauspieler, da er einmal angefangen hat, das Theater nicht mehr verlassen. Wie ein Nessustuch klebt sein Beruf an ihm - und er träumt davon, wie Molière auf der Bühne zu sterben. Nachdem Anna zunächst in ihr bürgerliches Leben zurückgekehrt ist, kommt es in einer Taverne zur Konfrontation zwischen Kean und Lord Mewill, der Anna in eine Falle locken wollte. Kean entreißt dem Verbrecher seine Maske und konfrontiert ihn mit seinen Machenschaften. Feige verweigert der Lord jedoch dem Schauspieler ein Duell. Bevor er den 37 „Il faut qu’un acteur connaisse toutes les passions pour les bien exprimer, c’est le moyen de les savoir par cœur.“ (Ebd., (II, 2), S. 124). 38 Ebd., (II, 4), S. 136. 39 „Dans cinq ou six ans, c’est possible . . . car ne croyez pas que rien se fasse sans le temps et l’étude. Quelques privilégiés naissent avec le génie, mais comme le bloc de marbre naît avec la statue . . . il faut la main de Praxitèle ou de Michel-Ange pour en tirer une Vénus ou un Moïse.“ (Ebd., (II, 4), S. 131). 40 Vgl. ebd., (II, 4), S. 132 f. 41 Ebd., (II, 4), S. 134. <?page no="116"?> C HARLOTTE K RAUSS 116 korrupten Adeligen laufen lässt, stellt Kean in einer langen Tirade die eindeutig überkommenen Gesellschaftsstrukturen in Frage. 42 Die Situation spitzt sich weiter zu: Kean wird von Gläubigern gesucht, verdient als Schauspieler jedoch nicht genug, um seine Schulden zurückzuzahlen. Er verwünscht seinen Beruf, in dem er wie ein Automat Rollen spielen muss, die nicht seinem Gemütszustand entsprechen. So soll er Romeo spielen, entdeckt aber in Elenas Loge den Prinzen von Wales und spielt, von seiner Eifersucht übermannt, Falstaff, den Prinzen und Lord Mewill beschimpfend. Nach diesem Anfall, der allseits als Wahnsinn interpretiert wird, treten auch die wahren Charaktere der Frauen endgültig zu Tage: Während Elena den Schauspieler bittet, sie nicht zu lieben und das Land zu verlassen, eilt Anna besorgt herbei, um zu helfen. Kean erkennt Annas wahre Liebe und folgt ihr nach New York, wo sie Schauspielerin werden will. Indem es versucht, Vorurteile abzubauen, zu erklären oder zu widerlegen, wirbt Dumas’ Drama um Verständnis für die Künstler. Kean, der geniale Schauspieler, erscheint als der bessere Mensch, der am Schluss auch zur wahren, reinen Liebe findet. Anna verkörpert neben ihrer Funktion als ideale Schauspieler-Gattin die Macht des Theaters, auf der ihr Berufswunsch beruht. Nur das Theater, vor allem die Stücke Shakespeares, so berichtet sie Kean, konnten sie aus tiefer Melancholie retten. Theater kann auch Gefühle vermitteln und zum Leben erwecken: Romeo m’avait fait connaître l’amour, Othello la jalousie, Hamlet le désespoir . . . Cette triple initiation compléta mon être . . . Je languissais sans force, sans désir, sans espoir; mon sein était vide, mon âme en avait déjà fui, ou n’y était pas encore descendue, l’âme de l’acteur passa dans ma poitrine: je compris que je commençais seulement de ce jour à respirer, à sentir, à vivre! 43 In einer oberflächlichen und zum Teil korrupten Klassengesellschaft bleibt den beiden guten Menschen des Stückes jedoch als moralischen Außenseiter am Ende nur die Lösung, nach Amerika auszuwandern. Schon 1834 hatte Alfred de Musset mit Lorenzaccio ein Stück veröffentlicht, das er nicht zur Aufführung bestimmte, sondern seinem zweibändigen Werk Un spectacle dans un fauteuil zuordnete. Das Drama ist im Florenz der Renaissance angesiedelt und hat den - sinnlos gewerteten - Mord an Herzog Alessandro de’ Medici (Alexandre de Médicis) durch seinen Vertrauten und entfernten Verwandten Lorenzo zum Inhalt. In der Nebenfigur des Malers Tebaldeo Freccia bietet das Stück zunächst eine relativ klassische Problematisierung des Mäzenatentums, wie sie sich 42 Vgl. ebd., (III, 14), S. 158 f. 43 Ebd., (III, 12), S. 153 f. <?page no="117"?> Künstlerfiguren im französischen Drama der Romantik 117 etwa schon bei Molière finden lässt. 44 So tritt Alexandre de Médicis als Beschützer der Künste auf, wenn er verkündet: „Je protège les arts comme un autre, et j’ai chez moi les premiers artistes de l’Italie.“ 45 Gönnerhaft lässt er sich in Herrscherpose portraitieren. In der vor dem Portal einer Kirche spielenden zweiten Szene des zweiten Aktes erklärt Tebaldeo Kardinal Valori und Lorenzo seine Sicht der Kunst, indem er zunächst seine eigene Mittelmäßigkeit im Vergleich mit seinem Meister Raphaël und seinem zweiten Vorbild Michelangelo unterstreicht. Der Künstler opfert sich auf, um seinem Traum zu folgen. 46 Für sein Werk erntet er jedoch nur Lorenzos Spott: „Est-ce un paysage ou un portrait? De quel côté faut-il le regarder, en long ou en large? “ 47 Als Tebaldeo den provokativen Vorschlag, die Mazzafirra nackt zu malen, ablehnt, wirft Lorenzo ihm vor, die Realität nicht wahrzunehmen, wenn er keine Kurtisane, wohl aber einen Ort des Lasters wie Florenz zu malen bereit ist. Während der Maler exaltiert Florenz als seine „Mutter“ bezeichnet, spricht Lorenzo von der Stadt als einer „Prostituierten“. 48 Tebaldeo hingegen glaubt, die harte Hand eines Tyrannen könne einen Nutzen für die Kunst haben - eine Bemerkung, die seinen Gesprächspartner zu einer zynischen Zusammenfassung dieser Weltfremdheit veranlasst: C’est-à-dire qu’un peuple malheureux fait les grands artistes. [. . .] Les familles peuvent se désoler, les nations mourir de misère, cela échauffe la cervelle de Monsieur. Admirable poète ! comment arranges-tu cela avec ta piété? 49 Durch seine apolitische Haltung, in der er sich nur der Kunst hingibt, wähnt sich Tebaldeo sicher und unabhängig. 50 Als Lorenzo ihn jedoch in 44 Weitere Parallelen sind möglich, so zwischen Mussets Tebaldeo und der Figur des ebenfalls von einem absoluten Fürsten abhängigen Malers Conti in Lessings Emilia Galotti. Lessing war in Frankreich bekannt, seine Hamburgische Dramaturgie ins Französische übersetzt und von Mme de Staël nochmals erwähnt worden. Vgl. Gengembre (2001), S. 332. 45 Musset (1986), (I, 4), S. 33. 46 „Réaliser des rêves, voilà la vie du peintre. [. . .] Hélas! les rêves des artistes médiocres sont des plantes difficiles à nourrir, et qu’on arrose de larmes bien amères pour les faire bien peu prospérer.“ (Ebd., (II, 2), S. 53 f.). 47 Ebd., (II, 2), S. 54. 48 „- Pourquoi donc ne peux-tu peindre une courtisane, si tu peux peindre un mauvais lieu ? - On ne m’a point encore appris à parler ainsi de ma mère. - Qu’appelles-tu ta mère ? - Florence, Seigneur. - Alors, tu n’es qu’un bâtard, car ta mère n’est qu’une catin.“ (Ebd., (II, 2), S. 55). 49 Ebd., (II, 2), S. 56. 50 „[J]e ne fais de mal à personne. Je passe les journées à l’atelier. [. . .] Le soir, je vais chez ma maîtresse, et quand la nuit est belle, je la passe sur son balcon. Personne ne <?page no="118"?> C HARLOTTE K RAUSS 118 den Palast einlädt 51 , wird der Maler schnell von der Realität eingeholt: Angesichts von Giomos Berichten willkürlicher Grausamkeit beginnt er zu zittern. Und ohne es zu wollen, wird er zum Handlanger für den Mord, denn Lorenzo kann dem Herzog sein schützendes Kettenhemd entwenden, weil Tebaldeo ihn dazu bewogen hat, es für das Portrait abzulegen. In seiner Situation als ausführender, vom Willen eines absoluten Herrschers abhängigen Malers, ist Tebaldeo einer traditionellen Darstellung des Künstlers verbunden, die vor der Entstehung der Genieproblematik anzusiedeln ist und durch ihre Passivität wenig inneres Konfliktpotential birgt. 52 Diese Haltung wird in einer die Meinung des Volkes widerspiegelnden Straßenszene explizit durch die Figur des Goldschmieds kritisiert: Der Handwerker fühlt sich als Florenzer Bürger unterdrückt durch einen Tyrannen, von dessen Herrschaft nur große Künstler profitieren, weil sie die Realität neben der Kunst nicht beachten. 53 Der Rückzug in die Kunst, der mit der Unterwerfung unter den Tyrannen einhergeht, erweist sich jedoch als unfruchtbar, denn die Kunst der italienischen Renaissance ist zwar Referenz - Michelangelo, Raphaël und Cellini werden explizit im Text erwähnt, letzterer trat sogar im Entwurf in einer Szene auf, die Musset nicht beibehielt 54 -, Tebaldeo aber ist nur ein mittelmäßiger Künstler, der seinem Modell nacheifert, ohne es je erreichen zu können. Für eine korrupte Gesellschaft ist die Idealisierung klassischer Kunst keine zeitgemäße Lösung mehr. 55 me connaît, et je ne connais personne ; à qui ma vie ou ma mort peut-elle être utile ? “ (Ebd., (II, 2), S. 57). 51 „Viens demain à mon palais, je veux te faire faire un tableau pour le jour de mes noces.“ (Ebd., (II, 2), S. 57) - Tebaldeo versteht nicht, dass Lorenzo mit diesem Ausdruck den Mord an Alexandre meint, und auch dem Zuschauer wird dies erst im dritten Akt (III, 1) klar, als Lorenzo den Ausdruck eindeutiger gebraucht: „Ô jour de sang, jour de mes noces! “ (Ebd. (III, 1), S. 83; vgl. auch (III, 3), S. 102). 52 Vgl. Japp (2004), S. 12 f.: „Solange der Künstler als Könner und Kenner, als mehr oder weniger kompetenter Hersteller von Kunstwerken begegnete, eignete er sich naturgemäß nur bedingt als Mittelpunkt dramatischer Handlungen. Wird hingegen der Künstler als genialer Schöpfer (als alter deus oder ,second maker’) perzipiert, avanciert er zum privilegierten Medium der Weltaneignung, in dem sich Exzentrizität und Repräsentativität auf konfliktuöse und folglich spannende Weise mischen.“ 53 „Si j’étais un grand artiste, j’aimerais les princes, parce qu’eux seuls peuvent faire entreprendre de grands travaux. Les grands artistes n’ont pas de patrie.“ (Musset (1986), (I, 5), S. 38). 54 In dieser Szene übergibt Cellini dem Herzog eine Medaille mit seinem Konterfei. Cellini, den der Herzog - im Gegensatz zu Tebaldeo - nicht an seinem Hof halten kann, schlägt Lorenzo vor, die Rückseite der Medaille zu gestalten. Auch diese Szene stellte also Lorenzo als Künstler dar. (Vgl. ebd., S. 173 f.). 55 St Ours ((1994), S. 591) spricht von einer Epoche der verlorenen Illusionen, in der nicht nur der Wille zum Engagement für die Gesellschaft fehlt, sondern auch jedes <?page no="119"?> Künstlerfiguren im französischen Drama der Romantik 119 Die Parallele zwischen dem Florenz des 16. Jahrhunderts und dem Frankreich der Restauration ist hier offensichtlich durch Musset angelegt, die Kritik des Autors an einer realitätsfremden Kunst eindeutig. Dies bestätigt ein Artikel, den Musset im September 1833, unmittelbar vor der Arbeit an Lorenzaccio, in der Revue des deux mondes veröffentlichte. 56 Unter der Überschrift „Un mot sur l’art moderne“ fordert er explizit eine Kunst, die dem Leben nahesteht und sich an der Realität ihrer Zeit orientiert. 57 In der Annahme, dass ein guter Künstler eigene Modelle entwirft, weist er noch einmal die klassischen Regeln als leere Hülle zurück und erhebt stattdessen Shakespeare und Byron zum Vorbild, da diese vor der Realität nicht zurückschrecken. Als erstrebenswert erscheint ihm in der Tat die Darstellung der alltäglichen Umgebung durch die Kunst: Où voit-on un peintre, un poète préoccupé de ce qui se passe, non pas à Venise ou à Cadix, mais à Paris, à droite et à gauche? Que nous dit-on de nous dans les théâtres? de nous dans les livres? et j’allais dire de nous dans le forum? 58 Dieses Ideal des Autors verkörpert in Lorenzaccio weniger der Künstler Tebaldeo als vielmehr der Titelheld. 59 Es ist in der Tat auffällig, dass diese Figur immer wieder auch zur Kunst in Bezug gesetzt wird: Lorenzo singt eigene Lieder und begleitet sich dazu auf der Gitarre; beim Anblick von Tebaldeos Gemälde wird er zum Kunstkritiker. Vor allem jedoch wird Lorenzo als Schauspieler dargestellt, denn sein wahres Ziel, die Befreiung der Stadt vom Tyrannen, kann er nur mittels Verstellung erreichen: Nur so gelangt er in die Nähe des Herzogs, seines Cousins. 60 Besonders deutlich ist die Theatermetaphorik im dritten Akt, wenn Lorenzo seinen Ty- Engagement von vornherein sinnlos erscheint. Malachy ((1988), S. 278 f.) sieht in Lorenzaccio den Übergang von einem Zeitalter des Mythos (klassische Tragödie/ klassische Kunst) zu einem Zeitalter der Geschichte (Drame romantique). 56 Musset war zu diesem Zeitpunkt einer der Mitherausgeber der Zeitschrift. 57 „Il y a deux sortes de littératures: l’une, en dehors de la vie, théâtrale, n’appartenant à aucun siècle ; l’autre, tenant à un siècle qui la produit, résultant des circonstances, quelquefois mourant avec elles, et quelquefois les immortalisant.“ (Musset (1888), S. 133). 58 Ebd., S. 134. 59 In gewisser Hinsicht ist Tebaldeo jedoch auch als alter ego Lorenzos zu betrachten. Der Maler ähnelt in der Tat dem Bild Lorenzos, der sich als Heranwachsender nur mit seinen Büchern beschäftigte - ein Bild, das seine Mutter Marie noch verklärt vor Augen hat. Vgl. Musset (1986), (I, 6), S. 44. Vgl. auch Henning Mehnert ((1975), S. 132), der die Parallele zwischen den beiden Figuren anhand der antiken Temperamentenlehre zieht. 60 „Pour plaire à mon cousin, il fallait arriver à lui, porté par les larmes des familles ; pour devenir son ami, et acquérir sa confiance, il fallait baiser sur ses lèvres épaisses tous les restes de ses orgies. J’étais pur comme un lis, et cependant je n’ai pas reculé devant cette tâche. [. . .] Je suis devenu vicieux, lâche, un objet de honte et d’opprobre - qu’importe ? “ (Musset (1986), (III, 3), S. 98). <?page no="120"?> C HARLOTTE K RAUSS 120 rannenmord bis ins Detail hinein plant und gar mit seinem Diener probt 61 : Er ist Regisseur und Schauspieler zugleich - eine erstaunliche Mise en abyme der Theatersituation in einem Stück, das explizit nicht für die Bühne geschrieben wurde. Die Nähe Lorenzos zur Kunst ist im historischen Stoff angelegt: Lorenzino de Medici schrieb mehrere Theaterstücke, unter anderem eine Komödie mit dem Titel Aridosia. Nach dem Mord an Alessandro 1537 verfasste er außerdem eine Schrift, Apologia, in der er seine Tat als Tyrannenmord zu rechtfertigen suchte. 62 Musset spitzt diesen Konflikt zu, indem er Alexandre im Vergleich zum historischen Vorbild deutlich abgemildert als Spielball ausländischer Mächte darstellt, der nach seinem Tod unverzüglich durch eine neue Marionette ersetzt wird. Auch wenn der Herzog also nicht Caesar ist, nimmt Lorenzo seine Rolle als Brutus so ernst, dass er schließlich nicht mehr zwischen Spiel und Realität unterscheiden kann. Indem er nur noch als Schauspieler auftritt - dem Herzog spielerisch das Kettenhemd entwendet oder beim Anblick eines Schwertes in Ohnmacht fällt -, verliert er seine Identität und wird von allen Seiten nur noch als degradierte Figur wahrgenommen, verächtlich als „Lorenzaccio“ angesprochen. 63 Schließlich stellt er fest, dass die Maske seiner Rolle mit ihm untrennbar verwachsen ist und ihn vernichtet. 64 Zwar hat Lorenzo mittlerweile Zweifel am Sinn seines Zieles, doch ist es zu spät, denn nur noch durch den Mord an Alexandre kann er seinen Einstieg in die Welt der Korruption und der Gewalt rechtfertigen, für die er die eigene Identität aufgegeben hat. 65 Ebenso wie der Theaterpraktiker Musset scheitert jedoch auch der Schauspieler und Regisseur Lorenzo: Seine Eigenwahrnehmung als 61 Die Szene beginnt bezeichnenderweise mit den Worten „Maître, as-tu assez du jeu? “ (Ebd., (III, 1), S. 83); der Diener Scoronconcolo wiederholt kurz darauf: „Tu as inventé un rude jeu, maître . . .“ (Ebd.). 62 Vgl. The New Encyclopædia Britannica (2007), Bd. 7, S. 1002 f. 63 Beispielsweise Sire Maurice: „Le peuple appelle Lorenzo, Lorenzaccio ; on sait qu’il dirige vos plaisirs, et cela suffit.“ (Musset (1986), (I, 4), S. 33). Der Herzog bezeichnet Lorenzo als „femmelette“ (ebd., S. 34) und als er sich weigert, sich zum Duell zu stellen, als „Lorenzetta“ (ebd., S. 36). Giomo traut Lorenzo daher nicht zu, dass er das Kettenhemd entwendet hat: „Bah! un Lorenzaccio! La cotte est sous quelque fauteuil.“ (Ebd., (II, 6), S. 80). Nur die Mutter nennt ihn zärtlich „Lorenzino“ oder „Renzo“ (Ebd., (II, 4), S. 66). 64 „Le Vice, comme la robe de Déjanire, s’est-il si profondément incorporé à mes fibres, que je ne puisse plus répondre de ma langue, et que l’air qui sort de mes lèvres se fasse ruffian malgré moi ? “ (Ebd., (IV, 5), S. 133). Dauphiné ((1977), S. 62 f., 68) weist auf die Omnipräsenz der Maske im Stück hin. So beginnt auch die Handlung mit einem Ball anlässlich des Karnevals und endet mit einem politischen Marionettentheater. Vgl. auch Bricout (1977), S. 77. 65 „Tu me demandes pourquoi je tue Alexandre ? [. . .] Si je suis l’ombre de moimême, veux-tu donc que je rompe le seul fil qui rattache aujourd’hui mon cœur à quelques fibres de mon cœur d’autrefois ? “ (Musset (1986), (III, 3), S. 104). <?page no="121"?> Künstlerfiguren im französischen Drama der Romantik 121 Künstler entspricht nicht der Wahrnehmung seiner Umwelt. Der Herzog bezeichnet ihn als „gratteur de papier, un méchant poète qui ne sait seulement pas faire un sonnet“ 66 . Diese verächtliche Sicht auf „Lorenzaccio“ führt auch dazu, dass der geplante Mord, den Lorenzo abends wie eine Vorstellung auf dem Platz ankündigt, kein Publikum anlockt, denn niemand glaubt dem schwächlichen Günstling des Herzogs: A LAMANNO : C’est toi, Renzinaccio? Eh! entre donc souper avec de bons vivants qui sont dans mon salon. L ORENZO : Je n’ai pas le temps ; préparez-vous à agir demain. A LAMANNO : Tu veux tuer le duc, toi ? Allons donc ! tu as un coup de vin dans la tête. 67 Der Mord selbst ist denkbar unspektakulär und entspricht weder den lärmenden Proben, mit denen Lorenzo seine Nachbarn vorbereitet hat 68 , noch der Generalprobe im vierten Akt: Fast dem Wahnsinn nahe spielt er dort alle Einzelheiten des geplanten Mordes durch, berücksichtigt etwa die Beleuchtung, Ausreden und mögliche Stellungen. 69 Gegenüber diesem fieberhaften Monolog mutet die tatsächliche Mordhandlung geradezu lächerlich an: In Erwartung der vermeintlichen Geliebten legt der Herzog sich in Lorenzos Bett, Lorenzo sticht zu, und Alexander stirbt, ohne dass es zu Kämpfen oder Schreien kommt. 70 Das Stück, das Lorenzo geprobt hat, wird also letztlich nie aufgeführt. Und auch in Florenz ändert sich die Situation nicht: Mit Côme de Medicis wird ein neuer Herzog gefunden, und alles bleibt beim Alten - der Mord war also nicht nur unspektakulär, sondern zudem noch sinnlos. Auch Lorenzo fühlt sich nach getaner Tat überflüssig. 71 Er verlässt das Haus von Philippe Strozzi in 66 Ebd., (I, 4), S. 34. 67 Ebd., (IV, 7), S. 138. 68 Ebd., (III, 1), S. 84. 69 „Je commencerai par sortir. Scoronconcolo est enfermé dans le cabinet. Alors nous venons, nous venons - je ne voudrais pourtant pas qu’il tournât le dos. J’irai à lui tout droit. Allons, la paix, la paix ! l’heure va venir. [. . .] Est-elle bonne fille ? - Oui, vraiment. - En chemise ? - Oh ! non, non . . .“ (Ebd., (IV, 9), S. 141 f.). 70 „L ORENZO : Dormez-vous, Seigneur? Il le frappe. L E D UC : C’est toi, Renzo ? L ORENZO : Seigneur, n’en doutez pas. Il le frappe de nouveau. Entre Scoronconcolo. S CORONCONCOLO : Est-ce fait ? “ (Ebd., (IV, 11), S. 146). 71 „J’étais une machine à meurtre, mais à un meurtre seulement.“ (Ebd., (V, 8), S. 168). Vgl. Malachy ((1988), S. 274-277), die den Mord als eine Opferhandlung liest, deren erwartete Reinigung jedoch ausbleibt. Denommé ((1990), S. 66) belegt die schnelle Ernüchterung Lorenzos durch einen nur sehr kurzen Moment lyrischer, von Enthusiasmus zeugender Sprache unmittelbar nach dem Mord. <?page no="122"?> C HARLOTTE K RAUSS 122 Ve ünstler tztlich nur die Möglichkeit, seine eigene Ausweglosigkeit in einer undurchs i que les leurres de l’art prétendu messianiques que soutient Tebaldeo, Musset se vouera néanmoins à eines Autors nach einer zeitgemäßen Kunst nach, indem es die zeitgenössische Bühne radikal dem von Hugo angestrebten theoretischen Konzept des rom nedig in der Gewissheit, auf der Straße von seinen Häschern ermordet zu werden. Sowohl Tebaldeos abstrakter Traum von der reinen Kunst als auch Lorenzos eigenmächtig inszenierter Tyrannenmord werden hier als Irrwege gezeigt. Wie Kathryn St Ours feststellt, bleibt dem Autor als K le chaubaren, neuen und kunstfeindlichen Welt darzustellen: Rejetant la solution vitaliste et violente de Lorenzo ains dire l’indicible, c’est-à-dire, à s’affirmer dans l’échec. 72 Ebenso wie Tebaldeos Traum und Lorenzos Vorstellung scheitert mit Lorenzaccio auch Mussets Theatervision. 73 Augenscheinlich auf bessere Zeiten wartend, kommt das Drama der Forderung s ablehnt und an die Fantasie seiner Leser appelliert. In Hugos 1838 uraufgeführtem Versdrama 74 Ruy Blas gibt es zwar keine explizit als Künstler bezeichnete Figur, jedoch mit Don César de Bazan eine Verse schreibende Nebenfigur, die auch durch andere Details in die Nähe der Vorstellung eines romantischen Dichters rückt. Da Don César bei genauerem Hinsehen eine Schlüsselstelle für das Stück einnimmt und gleichzeitig in antischen Dramas ein Ideal darstellt, verdient die Figur hier genauere Betrachtung. 75 Nach Hernani ist Ruy Blas das zweite Stück Hugos, das einen spanischen Stoff verarbeitet: Die Handlung spielt am Königshof in Madrid um 1690. Don Salluste, von der Königin Dona Maria de Neubourg des Hofes verwiesen, will seinen Cousin Don César de Bazan zum Instrument seiner Rache machen. Dieser ist zwar von adeliger Abstammung, hat jedoch sein 72 St Ours (1994), S. 598. 73 Catherine Treilhou-Balaudé ((1999), S. 275-287) führt die Unspielbarkeit von Lorenzaccio im 19. Jahrhundert nicht nur auf nahe liegende Faktoren (politische Zensur, konservative Einstellungen der Theaterwelt) zurück, sondern eben auch auf das durch eine Wertekrise gestörte Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Lorenzo erscheint als eine kaum fassbare Persönlichkeit, die keine Identifikation mehr ermöglicht und daher im 19. Jahrhundert als unspielbar erscheinen musste. 74 Die Verssprache versteht Hugo explizit als Mittel der Kunst, das die Realität besonders eindringlich darzustellen vermag. Vgl. Hugo (2001), S. 68. 75 Die Nähe des Dramas zum Schriftstellertum wird ebenfalls hergestellt durch die Omnipräsenz von Briefen und schriftlichen Mitteilungen in nahezu jeder Szene. Auch Ruy Blas’ Fall wird letztendlich durch das Schreiben herbeigeführt, mit dem er sich zu Beginn der Handlung an Don Salluste ausgeliefert hat. Vgl. hierzu Thomasseau (1984), S. 55, 59. <?page no="123"?> Künstlerfiguren im französischen Drama der Romantik 123 Erbe verspielt und lebt unter dem Namen Zafari, von allen bis auf Don Salluste unerkannt, in der Welt der Bettler und Gauner. Die Szenenanweing zu Beginn des Stücks beschreibt Don César als eine in Lumpen gekleide sar de Bazan. Chapeau défoncé. Grande cape déguenillée qui ne ält sich auf gewisse Weise für verrückt 77 , steht seiner He deer Damen an den Grafen finden. Das Vergnügen, das ihm die Lektüre dieser monte. / Je m’assieds là. J’y lis les billets doux du comte, / Et, trompant l’estomac et le icht hinterlistig und feige an einer Frau. 81 Und er su te Gestalt mit Degen: Entre Don Cé laisse voir de sa toilette que des bas mal tirés et des souliers crevés. Epée de spadassin. 76 Don César selbst h rkunft gleichgültig gegenüber und scheint auch Geld nur zum Überleben zu brauchen. Mit Don Salluste und Don César treffen zwei völlig unterschiedliche Welten aufeinander. Während der eine in der höfischen Welt lebt, schreibt der andere Sonette für Frauen, die sein Cousin als Jeannetons, leichte Mädchen aus dem Volk, abtut. Don César selbst bezeichnet sie überhöht als „Lucindes“, angesehene Kurtisanen, denen er abends seine Sonette rezitiert. 78 Gleichzeitig scheut sich Don César nicht, mit Banditen bekannt zu sein und gar ihre Überfälle als Verse schreibender Zuschauer zu verfolgen. 79 Auch trägt er einen reich bestickten Rock, ein Geschenk des galizischen Räubers Matalobos, der ihn wiederum dem Grafen Alba gestohlen hat. An diesem Geschenk erfreut Don César besonders die Tatsache, dass sich in den Taschen noch zahlreiche Liebesbriefe verschie n Briefe bereitet, täuscht ihn gar oft über seinen Hunger hinweg: Les poches en sont pleines / De billets doux au comte adressés par centaines. / Souvent, pauvre, amoureux, n’ayant rien sous la dent / J’avise une cuisine au soupirail ardent / D’où la vapeur des mets aux narines me cœur tour à tour, / J’ai l’odeur du festin et l’ombre de l’amour. 80 Als jedoch Don Salluste aus dieser Verhaltensweise auf eine moralische Verworfenheit seines Cousins schließt und ihm eröffnet, dass er für Geld zur Rache an einer Frau beitragen soll, lehnt Don César dies strikt ab: Ein Adeliger rächt sich n 76 Hugo (1999), (I,1), S. 39. Vgl. auch die Selbstvorstellung der Figur in I, 2 (S. 44 f.). 79 dant les chais en faisant des vers sous les arcades.“ (Ebd., S. 41). 77 „Mais le sort de folie en naissant me coiffa.“ (Ebd., (I, 2), S. 44). 78 „A qui je dis le soir mes sonnets du matin.“ (Ebd., (I, 2), S. 43). „J’ai toujours dédaigné de battre un argousin. / J’étais là. Rien de plus. Pen estocades, / Je mar 80 Ebd., (I, 2), S. 43 f. 81 Vgl. ebd., (I, 2), S. 47 f. <?page no="124"?> C HARLOTTE K RAUSS 124 bee ufen lässt, führt Ruy Bla isons ’abord ceci.“ Literatur und Wein, philosophische und kulinarische Terminolo eux poëte appelé le soleil! / Xérès-des- Chevaliers n’a rien de plus vermeil. [. . .] / Quel livre vaut cela? Trouvez-moi ndet seine Tirade mit den Worten, dass er mit den Wölfen, nicht aber mit Schlangen lebe. 82 Diese Aussage verweist auf den entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Figuren: Während äußerlich Don Salluste dem Bild des Adeligen entspricht, hat sich Don César nichts außer einem Ehrenkodex bewahrt, den sein mächtiger Cousin am Hof schon lange abgelegt hat. Die Standesgrenzen konsequent außer Kraft setzend, fühlt sich Don César dem Bürgerlichen Ruy Blas verbunden, der einst sein Bruder im Elend war, sich nun aber, um der Misere zu entgehen, bei Don Salluste als Lakai verdingt hat. Als Don Salluste ein Gespräch der beiden belauscht und erfährt, dass Ruy Blas eine völlig aussichtslose Liebe für die Königin empfindet, nutzt er dies für seine Zwecke aus: Er entledigt sich Don Césars, indem er ihn an nordafrikanische Korsaren verka s als seinen Cousin Don César am Hof ein und erteilt ihm insgeheim den Auftrag, der Geliebte der Königin zu werden. Erst sechs Monate später kehrt im vierten Akt Don César überraschend zurück und verzögert das sich ankündigende Tragödienende durch einige komödienhafte Verwechslungsszenen: Auf der Flucht vor seinen Verfolgern landet er, durch den Schornstein fallend, mitten im Haus von Ruy Blas, der ja seinen Namen angenommen hat. 83 Den eines Edelmanns kaum würdigen Auftritt setzt Don César auf groteske Art fort. Er vermischt hohe Ziele - die Rache an seinem Cousin - mit rein menschlichen Bedürfnissen: Zunächst sieht er sich nach etwas Essbarem um. Zur Beschreibung des kulinarischen Genusses entfaltet der verrückte Dichter hier auf humorvolle Art eine Literatur-Metapher. Er findet den zum Mahl herbeigesehnten Wein in einem Bücherschrank und beschließt: „L d gie verschmelzen buchstäblich, wenn er sodann konstatiert: C’est une œuvre admirable / De ce fam quelque chose / De plus spiritueux. 84 Da Don César die Situation nur allmählich versteht, kommt es in der Folge zu einer Reihe von komischen Verwechslungsszenen, die den vierten Akt des Dramas in die Nähe der Komödie rücken und damit, Hugos Vorstellungen entsprechend, die Gattungsgrenzen außer Kraft setzen. Die Position des klarsichtigen Hofnarren einnehmend, verkündet César dem schließlich auftretenden Don Salluste, dass er dessen Pläne durchkreuzt. 82 „Je vis avec les loups, non avec les serpents.“ (Ebd., (I, 2), S. 49). 83 Dieser durch den spektakulären Auftritt noch unterstrichene „coup de théâtre“ entspricht einem Muster, das Florence Maugrette für alle Dramen Hugos feststellt. Vgl. Maugrette (1999), S. 100. 84 Hugo (1999), (IV, 2), S. 134 f. <?page no="125"?> Künstlerfiguren im französischen Drama der Romantik 125 Nur hat er ironischerweise gegen Ruy Blas gearbeitet. Die komischen Szenen des vierten, den Namen des komischen Helden tragenden, Aktes führen so letztendlich doch zu einem tragischen Ende. Don Salluste entledigt sich seines Cousins, indem er ihn von Soldaten als den Räuber Matalobos festnehmen lässt. Durch die Intrigen Don Sallustes in eine aussich r gesehen werden. All tes du hkreuzt er die Hofintrigen. Die auf Don César beruhenden, absurd bilisieren die Sprache der Bühne. Das Verhalten der Figuren hängt nicht mehr von ihrer tslose Situation gebracht, rettet der Bürgerliche Ruy Blas die Königin durch seinen Tod und kann endlich, wenn auch sterbend, als er selbst auftreten: Die Königin nennt den Sterbenden bei seinem wahren Namen. Nicht erst der Namenstausch verbindet Don César eng mit dem Titelhelden Ruy Blas. Bereits zu Beginn erinnern sich die beiden an eine gemeinsame Vergangenheit, können sie als Wahlbrüde erdings erscheint Don César in gewisser Weise auch als das genaue Gegenteil des Aufsteigers Ruy Blas: Gegen dessen Wunsch nach Integration setzt er ein konsequentes Streben nach Freiheit. 85 Im Gegensatz zu den Künstlern bei Vigny und Dumas hat Don César kein historisches Vorbild bzw. keinen Meister, dem er sich wie Mussets Tebaldeo zuordnen ließe. Er nimmt jedoch die in der kollektiven Vorstellung verankerte gesellschaftliche Außenseiterrolle des Künstlers ein, die hier konsequent im positiven und humorvollen Sinne fruchtbar gemacht wird. Die Figur stellt alle Grenzen in Frage, stößt sich nicht an Armut, sondern an Intrigen, die sie durchschaut. Don César, „prince des grotesques“ 86 , verkörpert als Schlüsselfigur des Stückes die für Hugo ideale Mischung aus Groteske und Sublime. Als Deus ex machina des vierten Ak rc komischen Szenen dienen der von Hugo angestrebten Auflösung von Gattungsgrenzen, die eine eindeutige Deutung unmöglich machen. 87 Im Drama der Romantik, so stellt Gérard Gengembre fest 88 , tragen die Figuren noch mehr als die eigentliche Thematik der Stücke ein revolutionäres Potential in sich. Auf die Bühne gelangen Banditen, Lakaien und zwielichtige Gestalten, deren gesellschaftliche und moralische Einordnung oft nicht einfach ist bzw. unmöglich sein kann. Wie dies Hugos Ruy Blas oder Dumas’ Kean deutlich machen, werden einfache Menschen zu positiven Helden, während Mitglieder des Adels das Böse repräsentieren können. Die verschiedenen - auch niederen - Stilebenen, die nicht explizit dem Guten oder dem Bösen zugeordnet werden können, desta 85 Vgl. Ubersfeld (1974/ 2001), S. 391. 86 Gengembre (2001), S. 341. 87 Vgl. auch Maugrette (1999), S. 95: „Hugo emprunte tour à tour et le plus souvent tout ensemble aux codes tragique, comique, et mélodramatique, qui ne procèdent pas de la même vision du monde, de la politique, de l’histoire, de la condition humaine: une hybridation qui pose donc de sérieux problèmes d’interprétation.“ 88 Vgl. Gengembre (2001), S. 342. <?page no="126"?> C HARLOTTE K RAUSS 126 He sich selbst als verrückt. Chatterton übernimmt gar eitweise die Meinung seiner feindlichen Umgebung und sieht die Poesie als Ge tor sei selbst schlicht verrückt geworden: „D rkunft ab und ist kaum vorhersehbar, so dass letztendlich auch das Genre der Dramen nicht mehr eindeutig zu bestimmen ist. Die Künstlerfiguren des Drame romantique werden Opfer eines falschen Bildes, das sich die Gesellschaft von ihnen macht, bzw. falscher Erwartungen, die die Gesellschaft an sie heranträgt, denen sie aber nicht entsprechen können oder wollen. Ihre Marginalisierung zeigt sich auch dadurch, dass die Künstlerfiguren Gefahr laufen, dem Wahnsinn zu verfallen. Explizite oder angedeutete Szenen des Wahnsinns lassen sich in der Tat in allen vier hier analysierten Stücken finden; immer betreffen sie die genialen Künstler: Der Quäker wünscht Chatterton, er möge lieber sterben als wahnsinnig werden, Kean täuscht einen Anfall vor, als er auf der Bühne von seiner Eifersucht übermannt wird, Lorenzaccio ficht in seinem Monolog einen an Wahnsinn grenzenden inneren Kampf aus und Don César bezeichnet z isteskrankheit: Non . . . je pense à présent que tout le monde a raison, excepté les Poètes. La Poésie est une maladie du cerveau. Je ne parle plus de moi, je suis guéri. 89 Der Schritt vom Stück zum Autor ist in diesem Zusammenhang von den Zeitgenossen rasch vollzogen worden. So empört sich im Dezember 1838 ein Artikel der Revue des deux mondes zunächst über den Don César zugeordneten vierten Akt in Ruy Blas: „le quatrième acte est le plus hardi défi que M. Hugo ait jamais adressé au bon sens et au goût de son auditoire.“ Dann vermutet er weiter, der Au e cet orgueil à la folie, il n’y a qu’un pas, et ce pas, M. Hugo vient de le franchir en écrivant Ruy Blas.“ 90 Die Autoreflexivität ist in den Künstlerfiguren angelegt - vom Dichter oder Schriftsteller zum Maler aber auch zum Schauspieler bedarf es nur der medialen Übertragung. 91 Die vier Stücke thematisieren im Bezug auf die Künstlerfiguren Probleme von sehr unterschiedlicher Tiefe, die von materiellen Sorgen über das Bedürfnis nach mehr Anerkennung bis hin zu persönlichen Sinnkrisen reichen; immer ist eine Mischung verschiedener Faktoren gegeben. Ob die Dramen explizit als Künstlerdramen zu werten sind oder nicht: In keinem der vier Stücke wird eine wahre Kostprobe des künstlerischen Schaffens gegeben (wenn man absieht von Keans kurzen Auftritten und von Tebaldeos mittelmäßigem Gemälde, das 89 Musset (1986), (III, 5), S. 117. 90 Zitiert nach Ubersfeld (2001), S. 424, 426. Anne Ubersfeld (ebd., S. 393) zieht auch die Parallele zwischen Don César und Victor Hugos Bruder Eugène, der im Jahr der Entstehung des Dramas in einem Irrenhaus starb. Als alter ego des künstlerischen Genies taucht Eugène auch in Hugos frühen Gedichten auf. 91 Vgl. Japp (2004), S. 8. <?page no="127"?> Künstlerfiguren im französischen Drama der Romantik 127 der Leser sich auch vorstellen muss). Thematisiert werden also Konflikte und spezifische Lebenssituationen der Künstler. Je nach Umfeld, nach der Stellung der Figur im Handlungsgefüge und der Gattungszuordnung des Stückes sind die Bedingungen und die Lösungen der Konflikte unterschiedlich: Sie reichen von der Unterordnung unter einen Mäzen bei einem - allerdings wenig genialen - Maler Tebaldeo über den nach kleinbürgerlichem Frieden suchenden Kean und den wohl verrückten, aber ehr archie dürften auch die Zeitzeugen vollzogen haben, selbst wenn die ublime, greift auf nationale Geschichte und populäre Kul enhaften Don César bis hin zu Lorenzo, dessen Vorhaben zum Verbrechen wird, und Chatterton, der aus Verzweiflung Selbstmord begeht. In allen vier Dramen erscheinen jedoch die Künstler als außergewöhnliche Figuren: Abgesehen von Tebaldeo sind sie nicht nur besondere Menschen - klug, oft sensibel und leicht verwundbar -, sondern sie bringen durch ihre Nähe zum Autor auch dessen Vorstellungen in idealer Form zum Ausdruck. Keine der Figuren jedoch ist letztlich erfolgreich: Als romantische Helden stoßen sich die Künstler an einer kunstfeindlichen oder misstrauischen Umgebung. 92 Sie leiden unter mangelnder Anerkennung, doch lässt ihr Talent ihnen keine andere Wahl als den Weg der Kunst zu beschreiten, auch wenn kein Ausweg sichtbar ist. Nicht umsonst wird die Kunst immer wieder als „Nessustuch“ beschrieben, das untrennbar mit dem Körper verbunden ist und ihn gleichzeitig vernichtet. In allen vier Stücken sterben, emigrieren oder verschwinden die Künstler. Den - wenig hoffnungsvollen - Rückbezug auf die Situation der Künste in der Julimon Handlungen alle im Ausland angesiedelt und zeitlich verfremdet waren. Trotz der Kurzlebigkeit des Drame romantique hatten die Stücke weiterhin Erfolg und fanden gar Nachahmer: So steht der als Künstlerdrama zu bezeichnende Cyrano de Bergerac von Edmond Rostand, obwohl erst 1897 uraufgeführt, eindeutig in der Tradition des romantischen Verstheaters und wird auch als letztes Drama der Romantik gewertet. 93 Noch einmal gelangen hier ein Dichter und seine Liebesabenteuer auf die Bühne des populären Unterhaltungstheaters, wird der Einfluss des Melodramas spürbar. Ebenso wie die Autoren des Drame romantique vermischt Rostand Groteske und S tur zurück und führt den Dichter als Außenseiter und gleichzeitig als positiven Held vor. Nur ein Jahr vor der Uraufführung von Cyrano eroberte auch Mussets Lorenzaccio endlich die Bühne: In einer - wenn auch stark bearbeiteten Fassung - wurde das Stück für den Lehnsessel mit Sarah Bernhardt in der 92 Vgl. Denommé (1990), S. 66: „The plays of Vigny, Hugo and Musset illustrate how the heroes in romantic drama are compelled to struggle against societies that refuse to acknowledge their actual identities.“ 93 Vgl. Gengembre (1997), S. 371 f. <?page no="128"?> C HARLOTTE K RAUSS 128 Hauptrolle 1896 erstmals aufgeführt. Durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch gab es eine ganze Reihe von Neuinszenierungen, die dazu beitrugen, dass von allen Drames romantiques heute ausgerechnet Lorenzaccio, Mu t zuletzt durch die Tatsache bewiesen, dass noch Jean-Paul Sartre Dumas’ Kean nach seinen Vorstellungen adapachte. eichnis e complet. Paris: d’Alfred de Musset. Bd. 9 rpentier, S. 127-139. on. Hg. P.-L. Rey. Paris: Gallimard 2001. et ssets Proteststück gegen die Theater seiner Epoche, in Frankreich am bekanntesten ist und am häufigsten aufgeführt wird. Schließlich wird der Erfolg der Stücke, die man als romantische Künstlerdramen bezeichnen kann, nich tierte und auf die Bühne br Literaturverz 1. 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Diese Auswirkungen betreffen zwar in erheblichem Maße auch Theater und Dramatik, der Zugewinn an Freiheit durch den weitgehenden Wegfall der Zensur und die neuen ökonomischen Verhältnisse, die den gesamten Kulturbereich verändert haben, werden von den Künstlern jedoch überwiegend pragmatisch gesehen und nicht zum Anlass künstlerischer Selbstreflexion genommen. Die raren Ausnahmen stehen denn auch nicht im Mittelpunkt der aktuellen Diskussionen um Drama und Theater. 1 Einzig eine aktuelle Aufführung fand gewisse Beachtung. Ende 2007 inszenierte Mark Rozovskij, selbst Bühnenautor und Leiter des Theaters am Nikitskij-Tor, im eigenen Haus ein unvollendetes Drama von keinem geringeren als Boris Pasternak, ein Stück, das einen leibeigenen Schauspieler des 19. Jahrhunderts ins Zentrum rückt. 2 Pasternak begann die Arbeit an dem Text kurz vor seinem Tod 1960 und spiegelt darin die eigene Unfreiheit als Künstler im sowjetischen Totalitarismus - 2007 sicher kein allzu aktuelles Thema mehr und wohl auch nicht einer der gewichtigsten Texte Pasternaks, wie die Kritik sogleich bemerkte. 3 Überhaupt hat die Auseinandersetzung mit Problemen des Künstlertums in der russischen Dramatik keine wirkliche Kontinuität aufzuweisen, so bemerkenswert die Einzelfälle auch sein mögen. Schaut man auf die Anfänge, so stellt man fest, dass schon vor der Einrichtung der ersten öffentlichen Theater in der Mitte des 18. Jahrhunderts die russische Dramatik mit einer Künstlerfigur aufwarten kann: Aleksandr Sumarokov - vielfach als „russischer Racine“ apostrophiert - schrieb 1750 den später 1 Ein zeitgenössischer Autor, der bereits eine Reihe von Künstlerdramen geschrieben hat, ist Aleksandr Stroganov (Jg. 1961). 2 Vgl. Pasternak (1991). 3 Vgl. Kaminskaja (2007), Zaslavskij (2008). <?page no="132"?> F RANK G ÖBLER 132 häufig gespielten Einakter Tresotinius, eine Satire auf den Dichter und Verstheoretiker Vasilij Trediakovskij, der hier als lächerlicher Pedant dargestellt wird - ein kleiner Racheakt für Trediakovskijs Kritik an Sumarokovs erster Tragödie Chorev (1747). Ein Künstlerdrama im engeren Sinne ist das freilich noch nicht. Erst in der Romantik, für die die Künstlerpersönlichkeit zu einem zentralen Problem wird, finden sich erste Beispiele. Noch vor Puškin legt Nestor Kukol’nik ein romantisches Künstlerdrama vor (Torkvato Tasso, 1830-31), dem weitere folgen. 4 Der erste über seine Zeit hinausweisende Beitrag zu dieser speziellen Gattung ist Aleksandr Puškins Einakter Mozart und Salieri (Mocart i Sal’eri, 1833). Er basiert auf dem Gerücht, Mozart sei von Antonio Salieri vergiftet worden und baut die mysteriöse Entstehungsgeschichte von Mozarts Requiem effektvoll in die Handlung ein. 5 Ferner ist in Der steinerne Gast (Kamennyj gost’, 1833), das ebenfalls zum Zyklus der Kleinen Tragödien Puškins gehört, die Don-Juan-Figur zumindest in Ansätzen als Künstler charakterisiert. 6 Erwähnenswert für das 19. Jahrhundert ist ferner Aleksandr Ostrovskij, der seit den 1870er Jahren mehrere Stücke im Schauspielermilieu angesiedelt hat. In der Komödie Der Wald (Les, 1871), die nach wie vor zum festen Bühnenrepertoire in Russland gehört, werden die Rollenspiele der Landadelsgesellschaft mit den Verstellungen und Posen eines Wanderschauspielers in vielfältige Bezüge gesetzt, so dass die Theatermetapher eine mindestens ebenso große Bedeutung gewinnt wie die des titelgebenden Waldes im Sinne kultureller Rückständigkeit und moralischer Verkommenheit. 7 Während der russischen Moderne gerät der Künstler angesichts dramatischer Umbrüche in der Gesellschaft in die Situation, sich selbst und seine Rolle permanent neu definieren zu müssen. Und dies geschieht - anders als in der Gegenwart - auch in dramatischer Form. Um vier Autoren soll es im folgenden gehen, die nicht nur verschiedene Entwicklungs- 4 Zuvor war der Tasso-Stoff 1817 in einer bekannten Elegie Konstantin Batjuškovs behandelt worden (Der sterbende Tasso / Umirajuš ij Tass), wie in der russischen Romantik die Selbstreflexion des Dichters überhaupt primär in lyrischer Form vor sich geht. Kukol’niks Tasso-Drama (vgl. dazu Zelinsky (1975), S. 401-411) ist das erste einer ganzen Serie von Künstlerdramen dieses Autors, bei denen italienische Dichter, Maler und Musiker im Vordergrund stehen (u. a. Domenichino, Pietro Aretino oder Giuseppe Tartini), daneben auch der englische Schauspieler David Garrick oder der deutsche Schriftsteller und Jurist Johann Anton Leisewitz. Schon Zeitgenossen bescheinigten diesen Stücken große Gleichförmigkeit. Ansehen und Publikumserfolg Kukol’niks, die vor allem auf seine Dramen aus der russischen Geschichte gründeten, schwanden im Laufe der 1840er Jahre (vgl. Ochotin / Ran in (1994)). 5 Bekanntlich hat der Spielfilm Amadeus von Peter Shaffer und Milos Forman (1984) diese Fiktion dann zu einer umfassenderen Handlung ausgebaut. 6 Vgl. Zelinsky (1975), S. 424-447. 7 Vgl. Steltner (1986). <?page no="133"?> Künstlerfiguren im Drama der russischen Moderne 133 etappen des russischen Dramas dieser Periode repräsentieren, sondern auch die Künstlerproblematik in sehr eigener Weise akzentuieren und dramatisch umsetzen: von Anton echov als Pionier des modernen Dramas über den Symbolisten Aleksandr Blok und den Futuristen Vladimir Majakovskij bis hin zu Michail Bulgakov, der die erste Generation der unter Stalin verfolgten Schriftsteller vertritt. Anton echov: Die Möwe Auf Anton echovs (1860-1904) berühmte Komödie Die Möwe ( ajka, 1895) soll nur ein Streiflicht geworfen werden, zumal hier das Scheitern von Künstlern als Spielart menschlichen Scheiterns überhaupt gesehen werden kann. echov hat es offenbar bewusst vermieden, in seinen Dramenfiguren allzu deutlich Aspekte des eigenen Künstlerseins zu modellieren. Entsprechend ist die Haltung gegenüber den Künstlern, die sein Drama bevölkern, von Distanz geprägt. Für die Figuren ist Kunst Verschiedenes: Mittel zur Erlangung von Wohlstand, gesellschaftlicher Anerkennung und öffentlicher Bewunderung, Ersatz für emotionale oder metaphysische Defizite, Ort der Flucht vor sich selbst. All diese Ansätze entlarvt das Stück als verfehlt, und zwar auf ganz einfache Weise: indem es die Liebe ins Spiel bringt. Die Möwe wurde 1896, im Jahr nach dem Erstdruck, in Petersburg uraufgeführt. Die Inszenierung wurde bekanntlich von Publikum und Kritik gleichermaßen schlecht aufgenommen. Erst als das Stück 1898 auf die Bühne des neugegründeten Moskauer Künstlertheaters kam, geriet es zu einem sensationellen Erfolg. 8 Vier Künstlerfiguren hat echov gleichsam spiegelbildlich angeordnet. Je eine Schauspielerin und einen Schriftsteller: das eine Paar erfolgreich, das andere erfolglos. Die verwitwete Irina Nikolaevna Arkadina vertritt eine konservative Kunstauffassung, sie ist über vierzig und eine bekannte Schauspielerin, die eine Beziehung zu dem ebenso berühmten Schriftsteller Trigorin unterhält. Dieser ist etwas jünger und trotz seines Erfolges im Grunde unzufrieden mit dem, was er schreibt. Er tut es fast zwanghaft, so wie er auch alles, was er um sich herum wahrnimmt - Eindrücke von Natur und Stimmungen, aber auch die Menschen in seiner Umgebung und ihre Beziehungen - auf ihre literarische Verwendbarkeit hin betrachtet und im positiven Fall in seinem Notizbuch fixiert. 9 8 Diese Inszenierung Stanislavskijs hat 1904 Aleksandr Blok gesehen (vgl. Schahadat (1995), S. 279). 9 Den Gebrauch von Notizbüchern hat Trigorin, wie verschiedentlich beobachtet worden ist, mit dem Autor echov gemeinsam. Der Deutung, echov habe seiner Figur „selbstparodistisch eigene Züge verliehen“ (Lauer (2000), S. 445), ist insoweit zuzustimmen, als auch die Parodie eine Form der Distanzierung darstellt. <?page no="134"?> F RANK G ÖBLER 134 Treplev, der Sohn der Schauspielerin Arkadina, Mitte zwanzig, hat schriftstellerische Ambitionen und scheint von der symbolistischen Schule beeinflusst zu sein. Als Spiel im Spiel wird ein Drama aus seiner Feder auf dem Gut des Onkels im Freien aufgeführt. Die einzige Rolle in diesem Stück, die der „Weltseele“, welche Tausende Jahre nach dem Aussterben der Menschheit pathetisch über ihre Einsamkeit monologisiert, wird gespielt von Nina Zare naja, der 19-jährigen Tochter des Nachbarn, in die Treplev verliebt ist. Nina ist eine glühende Verehrerin der Arkadina und möchte selbst Schauspielerin werden. Mit dem Text Treplevs kann sie wenig anfangen - wie Trigorin erkennt sie intuitiv das Falsche daran: Es ist eine leblose Gedankenkonstruktion. Arkadina hingegen macht nicht einmal den Versuch, das Stück ihres Sohnes ernst zu nehmen; sie tut es als dekadentes Zeug ab und treibt ihn durch ihre Störungen dazu, die Aufführung abzubrechen. Im Verlauf der ersten drei Akte wendet sich Nina von Treplev ab und verliebt sich in Trigorin, dessen Erfolg große Anziehungskraft auf sie hat und von dem sie insgeheim Unterstützung für den Aufbau einer Karriere am Theater erhofft. Der zwei Jahre später ansetzende vierte Akt offenbart, dass Nina eine Zeitlang mit Trigorin zusammengelebt und ein Kind von ihm bekommen hat, welches aber gestorben ist. Trigorin ist inzwischen zur Arkadina zurückgekehrt. Nina schlägt sich nun als mittellose Provinzschauspielerin durch, die nach dem Zeugnis Treplevs künstlerisch nur in den seltenen Momenten zu überzeugen vermag, in denen sie ihre eigene verzweifelte Gemütsverfassung darzustellen hat. Treplev selbst hat inzwischen einiges veröffentlicht, seine Arbeiten sind jedoch offenbar ein hilfloses Suchen nach neuen Formen, das von Kritik und Publikum gleichermaßen schlecht aufgenommen wird. Als Nina unerwartet bei Treplev auftaucht, schöpft dieser noch einmal Hoffnung, muss aber erkennen, dass er ihre Liebe nicht gewinnen kann. Als sie gegangen ist, zerreißt er seine Manuskripte und erschießt sich. Nina wird in eine entbehrungsreiche Künstlerexistenz zurückkehren, von der sie sich einzureden versucht, sie sei ein notwendiges Opfer im Namen der Kunst. Beider Scheitern ist also ganz offenkundig: Sie scheitern an der Fehleinschätzung ihrer künstlerischen Möglichkeiten und daran, dass sie alles auf die Liebe setzen - Treplev auf die Liebe zu Nina, Nina auf die Liebe zu Trigorin. Die Arkadina und Trigorin tun dies nicht; sie setzen an die Stelle der Liebe das Arrangement, ebenso wie sie sich künstlerisch mit Konventionen und Publikumserwartungen arrangiert haben. Das Wagnis, einen neuen Weg einzuschlagen, ist von ihnen nicht zu erwarten. Bei all dem also - von Genie keine Spur; und damit auch keine Größe, die das Scheitern der jeweiligen Künstler tragisch erscheinen ließe. Nicht einmal theatralisch inszeniert echov das Unglück seiner Figuren. Die <?page no="135"?> Künstlerfiguren im Drama der russischen Moderne 135 Distanz seiner Darstellung ist jedoch - obgleich er das Stück als „Komödie“ bezeichnet hat - auch nicht ironisch oder satirisch zu nennen. Es ist seine Distanz gegenüber Kunstauffassungen, die am Menschen vorbeigehen. Der „Antagonismus zwischen überkommenem Realismus und neuem Symbolismus“ 10 bildet dabei nur den Hintergrund, nicht den eigentlichen Konfliktstoff des Stückes. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass Petr Bicilli in seiner auf Arbeiten der 1930er und 1940er Jahre zurückgehenden Studie dem Dramatiker echov nicht nur eine Zwischenstellung zwischen Realismus und Symbolismus bescheinigte, sondern dies mit der heute seltsam anmutenden Behauptung in Verbindung brachte, „dass echovs Schaffenskraft versagte, wenn er fürs Theater schrieb“ 11 . Als gescheiterter Dramatiker hätte er demnach eher in Treplev sein Pendant geschaffen - sicher keine Deutung, die ernsthaft in Betracht gezogen werden kann. Festzuhalten ist gleichwohl, dass das Bewusstsein einer krisenhaften Übergangssituation der russischen Literatur mit in das Stück eingeflossen ist. Bicilli missdeutet offenbar noch die Zurücknahme von äußerer Handlung und Spannung sowie die Formen gestörter Kommunikation als dramatische Schwäche. Tatsächlich sind diese Formen der wirklichen Verfassung des modernen Menschen näher als das meiste, was an Dramatik dieser Zeit zu finden ist. Und zugleich sind sie ein impliziter Kommentar zur übertriebenen Theatralik, die auf den meisten russischen Bühnen zur Zeit echovs üblich war. Aleksandr Blok: Die Schaubude Gut zehn Jahre später gibt die russische Literatur bereits ein stark verändertes Bild ab. echov ist 1904 gestorben - für viele das Ende einer Ära; die Revolution von 1905, auf die auch Künstler und Intellektuelle Hoffnungen setzten, mündet in Enttäuschung; der Symbolismus hat seinen ersten Höhepunkt überschritten, er zeigt nun selbst Krisenerscheinungen, die bei Aleksandr Blok (1880-1921) in einer auch durch Selbstzeugnisse belegten kritischen Revision des eigenen früheren Schaffens Ausdruck finden. Sein Stück Die Schaubude (Balagan ik, 1906) ist die literarischtheatrale Gestaltung dieser Krise, zugleich aber auch schon der schöpferische Ansatz zu ihrer Überwindung und ein Vorbote der literarischen Avantgarde. Obgleich die Dramatik im Symbolismus zunächst eine untergeordnete Rolle spielte, kommt die Hinwendung zur dramatischen Form bei Blok 10 Lauer (2000), S. 445. R. Lauer möchte in ajka ein „programmatisches Stück“ sehen - eine m. E. zu weit gehende Deutung, die allenfalls aus literarhistorischer Perspektive ihre Berechtigung haben mag. 11 Bicilli (1966), S. 125, vgl. auch S. 123. <?page no="136"?> F RANK G ÖBLER 136 nicht ganz überraschend. Theatermotive finden sich in seiner Lyrik vermehrt ab 1902, 12 und so erhielt er im Austausch mit einer Künstlergruppe, die ein symbolistisches Theater gründen wollte, die Anregung (von Georgij ulkov), 13 ein Stück auf der Grundlage seines Gedichts Balagan ik (1905) zu schreiben. Mit seinen metatheatralen und antiillusionistischen Elementen hat das Stück - insbesondere durch die berühmte Inszenierung Vsevolod Mejerchol’ds - dem russischen Theater einen entscheidenden Innovationsschub gegeben. Die Abwendung von realistischer bzw. naturalistischer Dramatik manifestiert sich u. a. im Umgang mit Bühnenbild und Requisiten, in der Einführung verschiedener Fiktionsebenen und -bereiche, schließlich auch in der Sprache und in der Dialogführung. Die offenkundig metatheatrale Anlage ist schon durch den Titel vorgegeben, der sich auf die Volksschauspiele der Jahrmärkte bezieht. Zugleich ist das Stück von Anfang an als Künstlerdrama verstanden worden, obwohl die einzige Künstlerfigur im engeren Sinne die Figur des „Autors“ ist, der nur gelegentlich auf der Bühne erscheint und sein Unbehagen über den Text und den Verlauf des Geschehens äußert, die offenbar seinen Intentionen zuwiderlaufen, ohne dass er Einfluss auf sie nehmen könnte. Die Rezeption als Künstlerdrama hat gleichwohl ihre Berechtigung, und es gibt in diesem Falle gute Gründe, den künstlerischen Entwicklungsweg Aleksandr Bloks mitzulesen. Zur Zeit der Entstehung des Stückes war Blok an einem Punkt angelangt, da die Vorstellung, dass das Künstlertum auch sämtliche sonstigen Lebenszusammenhänge prägt, ins Wanken geriet. Die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit schien am Beginn des Jahrhunderts den jüngeren Symbolisten gänzlich verschwunden zu sein. Man versuchte, das eigene Leben nach den Regeln zu gestalten, die man für die Kunst als gültig erkannt zu haben glaubte. Dem Sein in der Wirklichkeit wurde dieselbe symbolische, ja mystische Bedeutsamkeit zugewiesen wie den dichterischen Schöpfungen. 14 12 Vgl. Schahadat (1995), S. 61. 13 Vgl. ebd. 14 V. Chodasevi , Zeitgenosse und anfänglich glühender Anhänger der Symbolisten, schrieb später, der Symbolismus sei „nicht nur eine Methode, sondern einfach (obwohl das keineswegs einfach ist) eine Lebensweise geworden“, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit in spezifischer Weise prägte: „In der heißen Gewitterluft jener Jahre konnte man nur schwer atmen, alles stellte sich zweideutig und doppelsinnig dar, die Umrisse der Gegenstände schienen zu wanken. Die Wirklichkeit, im Bewußtsein lodernd, wurde durchscheinend. Wir lebten in der realen Welt - aber zur gleichen Zeit in einer besonderen, nebelhaften und komplexen Widerspiegelung von ihr, wo alles ,dasselbe und doch nicht dasselbe‘ war. Jeder Gegenstand, jeder Schritt, jede Geste spiegelte sich gewissermaßen bedingt wider, projizierte sich auf eine andere Ebene, auf eine nahe, jedoch nicht faßbare Leinwand. Die Erscheinungen wurden zu Visionen. Jedes Ereignis nahm über seinen offensichtlichen Sinn <?page no="137"?> Künstlerfiguren im Drama der russischen Moderne 137 In Die Schaubude macht Blok nun die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit mit aller Deutlichkeit wieder sichtbar; das Stück zeigt, dass es in der Kunst, in der Fiktion nichts Reales gibt, es ein ebenso paradoxes Unterfangen ist, das Leben an der Kunst orientieren zu wollen wie die Wirklichkeit ins Theater zu holen. Zentral in der Konstellation sind zum einen Pierrot (P’ero), Harlekin (Arlekin) und Colombina (Kolombina), also Figuren, die aus der Commedia dell’arte entlehnt sind, zum anderen die „Mystiker beiderlei Geschlechts“, die esoterische Zirkel jener Zeit repräsentierten (darauf deutet auch ihre Kleidung hin). Beide Figurengruppen gehören offensichtlich verschiedenen Fiktionsbereichen an, die sich zwar in der Colombina-Figur überschneiden, hinsichtlich ihrer Weltdeutung aber völlig verschieden sind. Eine übergeordnete Fiktionsebene konstituiert die sporadisch auf der Bühne erscheinende „Autor“-Figur. Im Rahmen eines Maskenballs in der zweiten Hälfte des Stückes treten drei Liebespaare und ein Bajazzo auf, wobei der Ball zunächst ein Maskenspiel innerhalb der Fiktion darstellt, also in gewisser Weise auch wieder einen eigenen Fiktionsbereich konstituiert, dessen fiktionaler Status jedoch nicht klar markiert ist; konkret: Es bleibt im Ungewissen, ob hier Liebespaare an einem Maskenball teilnehmen oder ob Teilnehmer des Maskenballs Liebespaare spielen. So oder so haben diese Figuren und ihre Dialoge keinen unmittelbaren Bezug zum Geschehen um die Mystiker, Pierrot, Harlekin und Colombina. Bezüge gibt es auf thematischer und metaphorischer Ebene, jedoch keinerlei kausale Geschehenszusammenhänge. Die Handlungsstruktur des Stückes lässt sich beschreiben als Konfrontation von verschiedenen Welten, durch die sich auch die Figuren zum Teil grundlegend verändern. Zu Beginn des Stückes sind die „Mystiker beiderlei Geschlechts“ versammelt, auf der Bühne auch Pierrot und zeitweise der „Autor“. Die Mystiker warten auf etwas - wie sich dann zeigt, auf eine Jungfrau aus fernem Land, rein und weiß wie Marmor, mit leerem Blick und einem Zopf auf dem Rücken. Hier hat Blok ein vielsagendes Wortspiel eingebaut: Der ‚Zopf’ kann nämlich auch eine ‚Sense’ sein, beides sind im Russischen Homonyme (,kosá‘ - ,kosá‘). So wird aus der reinen Jungfrau unvermittelt die Gevatterin Tod (das russische Wort für ,Tod‘, ,smert’‘ ist ein Femininum). Pierrot hingegen wartet auf seine eher irdische Colombina, für die er sich schminken und einen Schnurrbart ankleben will. 15 hinaus noch einen zweiten an, den es zu dechiffrieren galt. Er war für uns nicht leicht zu fassen, aber wir wußten, dass gerade er der eigentliche war.“ Chodasevi (1939), S. 103 f., 102. 15 Einer der Mystiker ruft angesichts der auftauchenden Gestalt aus: „- Za ple ami kosa! “ („- Auf dem Rücken eine Sense/ ein Zopf“! ). In der unmittelbar darauf folgenden Replik wird diese Aussage vereindeutigt: „- to smert’“ („- Das ist der <?page no="138"?> F RANK G ÖBLER 138 Schon hier schaltet sich der „Autor“ ein, der sich über den Schauspieler beklagt, welcher sein Stück entstelle, es sei schließlich nicht für die Schaubude („balagan“, S. 9) geschrieben. Als die Ersehnte dann auftritt, erkennen die Mystiker in ihr den Tod, Pierrot hingegen nennt sie seine Braut Colombina. Die Mystiker erklären darauf, er müsse den Verstand verloren haben. Pierrot ist geneigt, ihnen zu glauben und will in die nächtlichen Straßen entfliehen; Colombina schickt sich an, mit ihm zu gehen. Da tritt Harlekin auf, spricht ein paar Verse und führt Colombina, die ihn anlächelt, kurzerhand davon. Pierrot geht zu Boden, die Mystiker verschwinden in ihren Gehröcken, als seien sie zusammengeschrumpft. Der Autor wendet sich hier erneut ans Publikum und klagt über die Entstellung seines Stückes. Eine Hand langt hinter dem Vorhang hervor, packt ihn am Kragen und zerrt ihn von der Bühne. Szenenwechsel: ein Maskenball. Pierrot sitzt inmitten des Ballgetümmels auf einer Bank und berichtet, was er nach den vorigen Ereignissen beobachtet hat: Harlekin und Colombina machten eine Schlittenfahrt, bis Colombina in den Schnee stürzte und sich als Pappfigur erwies, die nicht wieder aufzustellen war. Harlekin vereinte sich darauf mit Pierrot in der Trauer um die „Braut aus Pappe“ („podrugi kartonnoj“, „kartonnoj neveste“, S. 14). Auf der Bank lassen sich dann nacheinander die drei Liebespaare nieder. Das erste Paar (in Rosa und Blau gekleidet) glaubt, in einer Kirche zu sein. - Das zweite erscheint in Rot und Schwarz, sie mit schwarzer, er mit roter Maske. Ihr Dialog ist ein Gespräch über Leidenschaft, Eifersucht und einen Doppelgänger. - Dann tritt ein Ritter, der einen Papphelm und ein Holzschwert trägt, mit seiner Dame auf. Der Dialog ist denkbar einseitig: Zuerst stellt der Ritter Fragen über das Stück, in dem sie beide spielen, dann über den Maskenball, und schließlich preist er seine Dame in den höchsten Tönen. Ihre Antworten bestehen aber jeweils nur darin, das letzte Wort seiner Repliken zu wiederholen. Bei allen drei Paaren kommt ein Dritter ins Spiel, der die Zweisamkeit stört. Im letzten Falle ist das ein Bajazzo, welcher dem Ritter die Zunge herausstreckt, worauf dieser ihm mit dem Holzschwert über den Kopf haut. Der Bajazzo geht zu Boden und schreit, über die Rampe hängend: „Zu Hilfe, aus mir läuft Moosbeerensaft! “. 16 Dann entfernt er sich. Tod! “, Blok (1981), S. 15. Die deutsche Übersetzung kann sich hier nur für die „Sense“ entscheiden (Block (1978), S. 12). Am Ende wird der „Tod“ gemäß Nebentext eindeutig als solcher mit einer silbernen Sense auftreten, sich jedoch in ein schönes Mädchen verwandeln, während die Sense „sich in dem sich ausbreitenden Morgennebel verliert“ (Blok (1981), S. 19). - Originalzitate im Weiteren nach Blok (1981). 16 „Pomogite! Istekaju kljukvennym sokom! “ (S. 18). Schon in der vorangehenden Regieanweisung heißt es: „Iz golovy ego bryzžet struja kljukvennogo soka“ („Aus seinem Kopf spritzt ein Strahl Moosbeerensaft“, ebd.). Hier aber wird nun das The- <?page no="139"?> Künstlerfiguren im Drama der russischen Moderne 139 Anschließend tritt ein Fackelchor auf, aus dem der Harlekin als Chorführer hervortritt, um die weite Welt und den Frühling zu begrüßen, welche sich im Fenster zeigen. Beim Sprung durchs Fenster zeigt sich aber, dass die Frühlingswelt draußen nur auf Papier gemalt war - das Papier zerreißt und der Harlekin fällt „ins Leere“ („v pustotu“, S. 19). Draußen ist nur ein heller werdender Himmel, 17 vor dem sich dann der Tod mit Sense zeigt. Die Ballgäste laufen in Panik durcheinander. Dann erscheint Pierrot auf der Bühne und nähert sich langsam der Gestalt, die sich allmählich in Colombina verwandelt. Als Pierrot sie mit der Hand berühren will, schaltet sich aber wieder der „Autor“ ein und freut sich über das glückliche Ende - die Vereinigung der Liebenden nach langer Trennung -, ein Komödienschluss in seinem Sinne. Als er aber die Hände Pierrots und Colombinas zusammenführen will, fliegen auf einmal die Kulissen nach oben weg, die Maskierten eilen davon und nur „Autor“ und Pierrot bleiben auf der Bühne zurück. Als der „Autor“ seine Lage erkennt, sucht auch er das Weite. Pierrot hält seinen Schlussmonolog über die Braut aus Pappe und seinen Kummer und spielt dann noch auf einem Pfeifchen - über dasselbe Thema, wie der Nebentext behauptet. Neuartig an dem Drama Bloks ist nicht nur die Vielzahl von unterschiedlichen Fiktionsbereichen, sondern vor allem die Art und Weise, wie diese zueinander in Bezug gesetzt werden. Die Welt der Mystiker ist nicht als Fiktion innerhalb der Welt der commedia dell’arte-Figuren zu erklären oder umgekehrt - beide Welten durchdringen sich vielmehr und konkurrieren miteinander in ihren Deutungen der Colombina-/ Tod-Gestalt. Der „Autor“ repräsentiert eine höhere Ebene: die des Urhebers der Fiktion, auch wenn diese sich anders darstellt als von ihm intendiert. Und es wird eine noch höhere Instanz angedeutet, der sich auch der „Autor“ fügen muss: Sie zeigt sich in der Hand, die aus dem Vorhang schnellt und ihn von der Bühne zerrt. Bei der Beantwortung der Frage, warum Blok eine so komplexe Struktur für sein Stück verwendet hat, kann man bei seinem Konzept des lyrischen Dramas ansetzen. Blok verstand das lyrische Drama als „Darbietung der Erlebnisse einer einzelnen Seele in dramatischer Form“ 18 . Das Geschehen des Stückes muss also als Verbildlichung von Erfahrungen aterhafte des „besonderen Saftes“ von der Ebene des (impliziten) Autors in die Figurenebene geholt. Man könnte sagen, dass die Figur des Bajazzo sich seiner eigenen Fiktionalität bewusst wird (und sich eben deshalb so theatralisch gebärdet). 17 Im Original „odno svetlejuš ee nebo“, eine im Russischen (das keine Artikel kennt) merkwürdige Wendung, da das Zahlwort ,odno‘ (,ein‘) die Existenz mehrerer Himmel impliziert. Zu verstehen ist dies wohl als Hinweis darauf, dass hier ein zweiter fiktionaler (gemalter) Himmel zutage tritt, hinter dem sich möglicherweise weitere verbergen. Und das bedeutet: Wie viele Fiktionsebenen das Theater auch errichtet, es wird nie zur Realität gelangen. 18 Langer (1986), S. 235. <?page no="140"?> F RANK G ÖBLER 140 eines lyrischen Ich gedeutet werden, und dieses lyrische Ich ist für Aleksandr Blok eindeutig ein Künstler-Subjekt. Seine Erfahrungen lassen sich zusammenfassen als a) mystisches Erleben bzw. Auseinandersetzung mit Mystikern, b) Suche nach einem Ideal, c) Liebeskonflikt, d) Suche nach neuer Wirklichkeit und e) Illusionsverlust. Grundhaltung bei der Gestaltung dieser Erfahrungen ist die Ironie. Die Mystikerszene am Anfang war, wie man weiß, u. a. als Parodie auf die Dramen Maeterlincks intendiert, der zwar von einigen russischen Symbolisten hoch geschätzt wurde, dem Blok aber skeptisch gegenüberstand. Zugleich distanziert Blok sich hier von jenen Mystikerzirkeln, für die er selbst zeitweise eine Neigung hatte. Pierrot steht jener „einzelnen Seele“ am nächsten, 19 hat aber in Harlekin eine Art konkurrierenden Doppelgänger. Den Todeserwartungen der Mystiker setzt Pierrot die Erwartung seines Ideals der reinen Braut entgegen. Harlekin kann ihm zwar die Braut abjagen, sein Versuch, das Ideal in die gegenständliche Welt zu holen, misslingt jedoch: Die Braut erweist sich dort - wie gesehen - als Pappkameradin. Anders gesagt: Das Ideal existiert nicht wirklich, sondern es existiert nur in der Kunst. Es ist Produkt oder Projektion des Dichters, oder - wie Gudrun Langer formuliert hat - das „mystische Erlebnis“ wird „zum papiernen ,Spiel mit Worten‘“ 20 . Die Dreierkonstellation zwischen Pierrot, Colombina und Harlekin ist im Übrigen auch eine autobiographische Anspielung auf das Verhältnis zwischen Aleksandr Blok, seiner Frau Ljubov’ Dmitrievna und Andrej Belyj. Bezeichnend ist hier, dass beide Konkurrenten um Colombina letztlich enttäuscht zurückbleiben. Man könnte sagen, dass beide ihren eigenen Fiktionen zum Opfer fallen. Aber auch der „Autor“ kommt ja mit seinem Konzept eines konventionellen Theaters mit glücklichem Ende nicht recht zum Zuge: Er kann ebenfalls nur eine Fiktion bieten, noch dazu eine mit sehr viel trivialerem Anspruch. Der Titel des Stückes muss folglich in symbolischem Sinne verstanden werden. „Balagan“ steht für Theaterhaftigkeit, Künstlichkeit, für die offensichtliche „Bedingtheit“ („uslovnost’“) der Kunst. Damit verwirft Blok 19 Er wird von den Zeitgenossen, obwohl im Text nichts ausdrücklich darauf hinweist, als Künstlerfigur verstanden worden sein. Vor dem Hintergrund französischer symbolistischer Dichtungen, in denen Pierrot sich zum Dichter und Künstler wandelt, lag diese Deutung nahe. Insbesondere Albert Girauds Zyklus Pierrot lunaire (1884) und Jules Laforgues Sammlung Les complaintes (1885) sind hier zu nennen (vgl. Storey (1978) S. 125-127 und S. 139). Interessant ist ferner, dass zur selben Zeit in Frankreich auch das Motiv der Pappbraut auftaucht (in Léon Henniques und Joris-Karl Huysmans’ Pantomime Pierrot sceptique (1881), wo Pierrot die Pappfigur („la femme de carton“) aus einem Schneideratelier entführt; vgl. Storey (1978) S. 119). 20 Langer (1986), S. 233. <?page no="141"?> Künstlerfiguren im Drama der russischen Moderne 141 die verschiedenen Aspekte seiner eigenen Künstlerexistenz, die in den Mystikern, in Pierrot und Harlekin, im „Autor“, ansatzweise auch in den männlichen Parts der Liebespaare ihre Verkörperung finden. Das aus der Volkskultur hereingenommene karnevaleske Element erfüllt, wie Schamma Schahadat gezeigt hat, hierbei eine positive Funktion: die Funktion, „anhand der Puppenwelt den Ernst des Lebens zu überspielen und lebensbedrohliche Faktoren außer Kraft zu setzen“ 21 . Bloks Weg der dramatischen Gestaltung ist im Grunde umgekehrt wie bei echov. Anders als echov interessiert Blok sich allein für sein eigenes Künstlersein und verlegt die inneren Konflikte in äußeres Geschehen. In dessen Zentrum steht die Figur der Colombina, welche die Varianten und Wandlungen eines idealen Konzepts repräsentiert. - Für Vsevolod Mejerchol’d, der 1906 das Stück auf die Bühne brachte, war dies die ideale Textvorlage für ein neues, antiillusionistisches Theater. Vladimir Majakovskij: Vladimir Majakovskij Die russischen Futuristen, die dort, wo sie die Autonomie des Wortes fordern, dem Symbolismus schroff entgegengesetzt sind und sich mit provokativer rhetorischer Geste von ihm abwenden, 22 haben diesem offensichtlich weit mehr zu verdanken, als sie je öffentlich zugegeben hätten. Nicht nur der Antiillusionismus Bloks, sondern auch das Konzept des lyrischen Dramas finden im Futurismus ihre Fortsetzung - als Künstlerdrama in unikaler Form bei Vladimir Majakovskij (1893-1930). Er lässt in dem Stück, von dem im Folgenden die Rede sein soll, einen Dichter namens Vladimir Majakovskij auftreten, der zugleich die Titelfigur ist. Boris Pasternak schrieb später dazu: Der Titel „enthielt die genial einfache Entdeckung, dass der Dichter nicht Autor, sondern Gegenstand einer Lyrik ist, die in der ersten Person zur Welt spricht. Der Titel war nicht der Name des Verfassers, sondern der Familienname des Inhalts.“ 23 Die „Entdeckung“ ist allerdings nicht allein Majakovskij zuzuschreiben. Das Stück sollte nämlich eigentlich nur Eine Tragödie (Tragedija) heißen; als es jedoch 21 Schahadat (1995), S. 99. 22 Das Manifest „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“ („Poš e ina obš estvennomu vkusu“, 1912, unterzeichnet von D. Burljuk, A. Kru enych, V. Majakovskij und V. Chlebnikov) vollzieht die Abgrenzung von den Klassikern und dem Gros der Gegenwartsliteratur - insbesondere aber den Symbolisten - weniger argumentativ denn pauschal und polemisch. Von „der parfümierten Unzucht eines Bal’mont“ und dem „Papierpanzer vom schwarzen Frack des Kriegers Brjusov“ („bumažnyj laty s ernogo fraka Brjusova“) ist unter anderem die Rede; auch Aleksandr Blok fehlt hier nicht: Wir finden ihn in einer Liste von gefeierten Autoren jener Zeit, die „nur noch eine Datscha am Fluß“ benötigen („nužna liš’ da a na reke“, Chlebnikov (1985), Bd. 2, S. 107). 23 Ingold (1992), S. 156. <?page no="142"?> F RANK G ÖBLER 142 dem Zensor vorgelegt wurde, hielt der den Namen des Verfassers für den Titel, was Majakovskij dann einfach so beließ. 24 Von einer Handlung im konventionellen Sinne ist hier noch weniger übrig als in Bloks Schaubude, dafür gibt es eine klare, fast klassisch zu nennende Struktur: zwei Akte, umrahmt von Prolog und Epilog, welche von „Vladimir Majakovskij“ gesprochen werden. Das Personal besteht neben der Titelfigur aus grotesken Gestalten, einer „Bekannten“ von 2-3 „sažen’“ Größe (ca. 4-6 m), einem mehrere Tausend Jahre alten Mann mit zwei dürren Katzen, Menschen, denen verschiedene Körperteile fehlen: ein Auge und ein Bein, ein Ohr, der Kopf, einem Mann mit lang gezogenem Gesicht, einem Mann mit zwei Küssen, drei Frauen mit jeweils einer Träne (jedoch von unterschiedlicher Größe), dazwischen aber auch einem „gewöhnlichen jungen Mann“ (S. 5). Im Prolog präsentiert sich „V. Majakovskij“ mit überbordender, vieldeutiger Metaphorik, mit Wort- und Buchstabenspielen, mit teilweise gereimten, teils metrischen, teils rhythmisierten Versen unterschiedlicher Länge (zwischen einer und fünfzehn Silben) als „der vielleicht letzte Dichter“ („byt’ možet, / poslednij po t“, S. 6). Die den Sprecher umgebende Welt ist durchgängig personifiziert: Die Plätze sind (oder haben? ) eine unrasierte Wange, „in steinernen Alleen / schaukelt / das gestreifte Gesicht erhängter Langeweile“, Flüsse sind Hälse, von den Händen eiserner Brücken eingeknickt, der „Himmel weint“, ein Wölkchen zieht eine Grimasse, die Sonne greift aufdringlich mit dicken Fingern nach den Menschen, schließlich umarmt ein Lokomotivenrad den Hals des Dichters (S. 6-7). 25 In der zweiten Hälfte des Prologs - vor dieser vermutlich tödlichen Umarmung - spricht er dann die Menge (das Publikum? ) an, ruft die Menschen zu sich, verheißt ihnen neue Seelen, die durch seine Worte erweckt werden sollen, will ihnen „Münder / für riesige Küsse“ wachsen lassen und eine universelle Zunge oder Sprache („jazyk, / rodnoj vsem narodam“) verleihen (S. 7). Die Apostrophe wiederholt sich im Epilog. Dort spricht der Dichter sein Publikum als „arme Ratten“ an, die er leider nicht wie eine Mutter nähren könne, dafür habe er einen „nicht-menschlichen“ (oder „übermenschlichen“) Gedankenraum erschaffen („mysljam dal / takoj ne elove ij prostor“). Er schließt mit der noch zu kommentierenden Feststellung, dass er sich manchmal als holländischer Hahn, manchmal als 24 Vgl. Majakovskij (1978), S. 297. Weitere Zitate aus dem Text nach dieser Ausgabe. 25 „S nebritoj š eki ploš adej / stekaja nenužnoj slezoju, / ja, / byt’ možet, / poslednij po t. [. . .] v kamennych allejach / polosatoe lico povešennoj skuki, / a u m aš ichsja rek / na vzmylennych šejach / mosty zalomili železnye ruki. / Nebo pla et / bezuderžno, / zvonko; / a u obla ka / grimaska na morš inke rotika [. . .]. Puchlymi pal’cami v ryžych volosikach / solnce izlaskalo vas nazojlovost’ju ovoda [. . .] obnimet mne šeju koleso parovoza.“ <?page no="143"?> Künstlerfiguren im Drama der russischen Moderne 143 Pskover König vorkomme, dass ihm aber bisweilen am besten sein eigener Name gefalle: Vladimir Majakovskij (S. 24). 26 Das Stück beginnt und endet also mit dem Namen des Verfassers und Helden. Was sich dazwischen abspielt, ist schon von Zeitgenossen nicht als Handlung zwischen verschiedenen Figuren aufgefasst worden. Vielmehr hat man in ihnen - ähnlich wie in den lyrischen Dramen Bloks - Aspekte oder Projektionen des Helden bzw. Autors gesehen, zumal die meisten übrigen Schauspieler hinter Pappschildern verborgen waren, auf denen die den Figuren fehlenden Körperteile aufgemalt waren. Die „Bekannte“ (Gegenbild zu Bloks „Neznakomka“ 27 ) war ein überdimensionales Spielzeug, eine über fünf Meter große Puppe aus Pappmaché, die in der Mitte des ersten Aktes wie eine Statue enthüllt wird. 28 Insgesamt entsteht aus dem ersten Akt das Bild einer fröhlichen Rebellion, bei der unklar bleibt, gegen wen sie sich richtet und wofür sie eintritt. Ihr Schauplatz ist die Alltagswelt der modernen Großstadt, jedoch nicht in einem mimetischen Sinne, diese wird vielmehr nur durch äußerst eigenwillig kombinierte sprachliche Versatzstücke evoziert. Das Ende des ersten Aktes beschreibt (mit den Worten des Mannes ohne ein Auge und ein Bein) das, was nach einem früheren Titel Gegenstand des Stückes war: den „Aufstand der Dinge“ („Vosstanie veš ej“). Weinflaschen, eine Hose, eine Kommode etc. machen sich selbständig, während der Sprecher seine eigene Fragmentierung beschreibt: „Mein anderes Bein läuft mir in der Nachbarstraße hinterher“ 29 . Der zweite Akt hat die „neue Stadt“ zum Schauplatz; die Stimmung wird mit einem einzigen Wort umrissen: „sku no“ (S. 18; dt. „langweilig“, „sehnsuchtsvoll“, Huppert übersetzt: „mißlaunig“ 30 ), jedenfalls ein eindeutiger Gegensatz zum „fröhlich“ („veselo“, S. 8) des ersten Aktes. Vladimir Majakovskij ist zum lorbeerbekränzten Dichterfürsten verwandelt, dem die Menschen ihre Tränen darbringen. Offenbar weiß er damit nichts anzufangen, er sammelt sie in einen Koffer und verabschiedet sich Richtung Norden, während seine Seele in Büscheln an den Häusern der „neuen Stadt“ hängen bleibt. Der zweite Akt erscheint somit wie eine gescheiterte Utopie. 26 „Inogda mne kažetsja - / ja petuch gollandskij / ili ja / korol’ pskovskij. / A inogda / mne bol še vsego nravitsja / moja sobstvennaja familija / Vladimir Majakovskij.“ (S. 24). 27 Die Unbekannte (Neznakomka) ist der Titel eines Gedichts (1906) sowie eines weiteren lyrischen Dramas (1907), in denen Aleksandr Blok die ambivalente Gestalt einer verführerischen Frau entwirft, welche metaphysische Verheißung und (allzu) irdische Aspekte der Liebe in sich vereinigt. Vgl. auch Storch (1977), S. 49 f. 28 Vgl. Storch (1977), S. 63 mit Bezug auf Benedikt Livšic. 29 „Drugaja noga / eš e dobegaet v sosednej ulice.“ (S. 17). 30 Majakowski (1980), S. 22. <?page no="144"?> F RANK G ÖBLER 144 Vor diesem Hintergrund wäre der Epilog nochmals zu betrachten. Der an den Schluss gesetzte Name „Vladimir Majakovskij“ wird im Text des Epilogs anagrammatisch vorweggenommen. Die erste Druckfassung des Werkes von 1914 illustriert in der unterschiedlichen typographischen Realisierung von Wortteilen das Prinzip der Zerlegung, das hier nicht, wie in anderen futuristischen Texten, in Form von Neologismen umgesetzt ist; die Komponenten „moja“ und „kovskij“ - in ihrem jeweiligen Kontext durchaus am rechten Platz - fügen sich am Ende wieder zu einem Ganzen: „Majakovskij“, wodurch eine ziemlich ungewöhnliche Variante des geschlossenen Dramas entsteht. 31 Man könnte darin sogar den Rest einer von den Futuristen als hoffnungslos veraltet abgeurteilten Ästhetik sehen. Zum holländischen Hahn und Pskover König wäre im Übrigen noch zu ergänzen, dass hier zwei sinnträchtige Verfremdungen vorliegen. Im einen Falle ist der gallische Hahn („petuch gall’skij“ statt „petuch gollandskij“), der mit der Revolution 1789 französisches Wappentier wurde, zu assoziieren; im anderen der Statthalter von Pskov („posadnik pskovskij“ statt „korol’ pskovskij“). Wenn man bedenkt, dass es in Pskov niemals einen König gab, dass vielmehr Pskov im Mittelalter eine Stadtrepublik wie Novgorod war, die von einem gewählten Statthalter regiert und später gewaltsam dem Moskauer Großfürstentum einverleibt wurde, zeigt sich, dass beide Wendungen indirekt auf revolutionäre, oppositionelle, demokratische Traditionen in der Geschichte verweisen. Als Gesellschaftskritik mit Appellcharakter (Aufruf zur Revolution) lässt sich der Text allerdings zumindest nicht in der buchstäblichen Weise interpretieren, wie das in der Rezeptionsgeschichte insbesondere in der UdSSR vielfach geschehen ist - ganz gleich, wie kritisch Majakovskij über den zaristischen Staat, die Adelselite, die kapitalistische Wirtschaftsordnung und das Spießbürgertum geurteilt haben mag. 32 Ihm geht es hier um anderes. Es geht um eine neuartige Inbezugsetzung von Kunst und moderner Alltagswelt. Die Überschreitung der Grenze zwischen beiden war von den jüngeren Symbolisten in ihrer frühen Phase als - letztlich fatale - Umdeutung der sie umgebenden 31 Vgl. Ingold (1992), S. 166 f. (mit einem Faksimile des Epilogs in der Fassung des Erstdrucks). 32 Storch ((1977), S. 60) spielt eine für unser Thema interessante gesellschaftskritische Deutungsvariante durch: „Identifizierte man sich mit der Figur [Vladimir Majakovskij], müßte man den Standpunkt dessen einnehmen, der das Stück geschrieben hat, man würde das Stück verstehen als Künstlerdrama, das neben Goethes Tasso gehört. Der Dichter führt vor, wie sich ein Dichter in der kapitalistischen Gesellschaft verhalten muß, kann oder will, wie er fertig wird mit seinem Anspruch, was ihm der Ruhm gilt, was ihm übrigbleibt. Der Schluß liefert die Antwort: Es bleibt ihm die Rolle des Narren, selig besessen. Aber natürlich wird diese Ausdeutung dem Stück nicht gerecht.“ <?page no="145"?> Künstlerfiguren im Drama der russischen Moderne 145 Realitäten im Sinne ihrer poetologisch-metaphysischen Konstrukte praktiziert worden. Majakovskij geht zwar ähnlich vor, indem er sich selbst als kubofuturistisches Kunstwerk inszeniert. Jedoch versucht er erstens nicht, sich als Künstler aus einer fragwürdigen Transzendenz zu legitimieren. Zweitens sind die konstruktiven Verfahren seiner Dichtung aufs engste an den Phänomenen und Wahrnehmungsveränderungen eben dieser Zeit orientiert. Die Frage, was nach der Revolution kommt - und die erwartete Revolution wurde von vielen seiner Zeitgenossen ebenso sehr als künstlerische wie als gesellschaftliche gedacht -, beschäftigt Majakovskij offenbar schon 1913. Dass er im zweiten Akt keine optimistische Perspektive aufzeigt, mag man als grundlegende Skepsis gegenüber den eigenen Möglichkeiten oder auch nur als Warnung deuten. 33 Felix Philipp Ingold geht weiter: Er vertritt die Ansicht, dass das Stück als ein „erster Entwurf zur Lebens- ‚Tragödie‘ Wladimir Majakowskijs“ zu lesen sei, „die 1930 mit dem Freitod des Dichters [. . .] zu ihrem Ende und damit zur Vollendung kam“ 34 . Dem wäre insofern zu widersprechen, als Ingold suggeriert, der Weg in die Katastrophe sei der kubofuturistischen Poetik Majakovskijs von vornherein eingeschrieben. An der Lebenstragödie haben jedoch mindestens ebenso sehr die schwierigen persönlich-zwischenmenschlichen Verhältnisse und die politischen Wandlungen der 1920er Jahre mitgeschrieben. Was 1912 noch als „Ohrfeige für den öffentlichen Geschmack“ auftrat, war eine Provokation des Spießbürgers und des etablierten Kunstverständnisses, und selbst dort, wo futuristische Aktionen mit dem Einschreiten der Polizei rechnen mussten, war dies doch auch ein Spiel und eine kalkulierte Ausdrucksform eines anarchischen Künstlerselbstverständnisses. 1930 hingegen rief bereits jede künstlerische Provokation, selbst wenn sie gar nicht als solche intendiert war, Partei und Staatsorgane auf den Plan; dem Provokateur aber drohte - statt der Prominenz des intellektuellen Exzentrikers und Rebellen - die physische Vernichtung. Michail Bulgakov: Die letzten Tage (Puškin) Genau aus dieser Situation heraus sind die Künstlerdramen Michail Bulgakovs sowie sein Roman Der Meister und Margarita (Master i Margarita, 1966/ 67) entstanden. Michail Bulgakov (1891-1940) wurde erst ab Ende 33 Für den sowjetischen Kritiker Aleksandr Fevral’skij war die Wendung im zweiten Akt nur eine „Schwäche der Fabel“ (A. Fevral’skij: Majakovskij-dramaturg. Moskva 1940, S. 134; zitiert nach Storch (1977), S. 31). Die „Schwäche“ ist allerdings eine ideologisch begründete; der sozialistische Realismus erwartete vom Künstler die positive Perspektive (Kommunismus als Ziel der Geschichte), nicht Ängste, Zweifel oder Resignation. 34 Ingold (1992), S. 167. <?page no="146"?> F RANK G ÖBLER 146 der 1960er Jahre international bekannt durch die Veröffentlichung eben dieses bereits in den 1930er Jahren verfassten Romans. Als Satiriker und kritischer Beobachter des Zeitgeschehens war er Anfang der 1920er Jahre in Ungnade gefallen, konnte nicht mehr publizieren und schlug sich als Regieassistent und Librettist durch, konnte gleichwohl noch bis in die 1930er gelegentlich auch eigene Stücke am Theater realisieren - stets jedoch unter erheblichen Schwierigkeiten mit der Zensur, die bisweilen die Aufführung von premierereifen Inszenierungen noch in letzter Sekunde unterband. Die Stellung als Regieassistent allerdings verdankte er ausgerechnet dem Diktator Stalin, der zu den Bewunderern von Bulgakovs Bürgerkriegsdrama Die Tage der Turbins (Dni Turbinych, nach dem Bürgerkriegsroman Die weiße Garde (Belaja gvardija)), gehörte. 35 Das ambivalente Verhältnis, das Bulgakov aufgrund der staatlichen Repression einerseits und der persönlichen Fürsorge des Generalsekretärs andererseits zu diesem entwickelte, spiegelt sich in verschiedenen Konstellationen seiner literarischen Werke. Molière und Aleksandr Puškin sind herausragende Künstlerpersönlichkeiten, denen sich Bulgakov im Verhältnis zur Staatsmacht verwandt fühlte, wobei er manches in diese und ihre Biographien hineindeutete. 36 Puškin wird bei Bulgakov in seinem Stück von 1934/ 35 während der letzten Tage vor dem durch Intrigen herbeigeführten fatalen Duell gezeigt; entsprechend der Titel: Die letzten Tage (Poslednie dni). Dabei besteht der zentrale Kunstgriff des Stückes darin, den Dichter, der im Zentrum einer recht komplexen Konstellation von über vierzig (überwiegend historischen) Figuren steht, gar nicht selber auf die Bühne zu bringen. Dafür ist er durch Zitate aus seinem Werk, insbesondere durch Verse aus seinen Gedichten, geradezu omnipräsent. Das Dilemma, in dem Verfasser von Künstlerdramen bisweilen stehen, die Genialität ihrer Helden plausibel machen zu müssen, ist hier doppelt gebannt. Zum einen lässt Bulgakov die Zitate für den Künstler sprechen, statt ihm Worte in den Mund zu 35 Wegen des faktischen Publikationsverbots und der daraus resultierenden finanziellen Nöte wandte sich Bulgakov 1929 mit einem Brief an die sowjetische Regierung und bat um eine Anstellung am Theater - als Regisseur, notfalls auch als Statist oder Bühnenarbeiter. Sollte das nicht möglich sein, möge man ihm die Ausreise aus der UdSSR erlauben (was zu dieser Zeit nur sehr selten geschah). Wenig später erhielt er einen Telefonanruf von Stalin, der ihm eine Beschäftigung am Moskauer Künstlertheater in Aussicht stellte, die er schließlich auch erhielt (vgl. udakova (1988), S. 337-340). 36 Die Transponierung der Problematik in einen historischen Stoff dient also in erster Linie der Verschlüsselung der Aussagen über die Gegenwart und die eigene Situation. Dies geht einher mit einer ausgeklügelten Raumgestaltung, die z. B. die Mechanismen von Aufstieg und Fall oder den Verlust von Sicherheit, Geborgenheit und Unverletzlichkeit der Privatsphäre anschaulich werden lassen (vgl. Göbler (1990)). <?page no="147"?> Künstlerfiguren im Drama der russischen Moderne 147 legen, die seines Genies würdig sein sollen. Zum anderen umgeht er das Problem einer glaubwürdigen Besetzung der Rolle. Ungeachtet dieser Besonderheit ist Die letzten Tage von den vier hier behandelten Stücken das formal konventionellste. 37 Es hat eine klar konturierte, in vier Akte gegliederte Handlung; es gibt widerstreitende Interessen und Werte, es gibt Konflikte und Intrigen, die in recht konzentrierter Form ausgearbeitet sind. Gewisse impressionistische Züge zeigen sich bei der Gestaltung der Bühne, die sehr stark das Stimmungsmäßige betont und mit den Puškin-Zitaten gleichsam abgestimmt sind. Insbesondere die Szenenübergänge 38 , die ohne Vorhang - mit Verdunklung der Bühne - vor sich gehen, sind als Stimmungswechsel beschrieben. Man findet diese Elemente auch in anderen Dramen Bulgakovs, hier aber erfüllen sie - indem sie uns gleichsam in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts versetzen - im besonderen Maße die Funktion, die aktuellen Bezüge des Textes für die Zensur undeutlich zu machen. Ehe ich einige dieser Bezüge herausarbeite, möchte ich kurz die Ausgangssituation charakterisieren. Im ersten Akt erfahren wir, dass Puškin von Gläubigern bedrängt, vom Zaren zu unliebsamen Pflichten bei Hofe genötigt, von Neidern als Künstler herabgesetzt und von dem Abenteurer d’Anthès durch offenes Umwerben seiner Ehefrau provoziert wird. Dass er wegen politischer Verse, die teils tatsächlich von ihm stammen, teils ihm in böswilliger Absicht zugeschrieben werden, unter Beobachtung der politischen Polizei des Zaren steht, wird ebenfalls bereits im ersten Akt angedeutet. Zugleich hat er in seiner Schwägerin, dem Schriftsteller Žukovskij, der Gräfin Voroncova u. a. Freunde und Bewunderer, die sich schützend vor ihn zu stellen versuchen. Ungeachtet der ausgiebigen Verwendung von historischen Figuren und Fakten hat Bulgakov hier - wie in anderen Texten der 1930er Jahre - Konstellationen verwendet, die die Situation des Künstlers in der Stalinära spiegeln. Eine entscheidende Rolle wird dabei der Geheimpolizei zugewiesen, die mit Hilfe von Spitzeln das Material beschafft, um Künstler in Misskredit zu bringen und schließlich zu vernichten. 39 37 Bulgakovs Künstlerdramen zählen wohl nicht zu seinen besten Stücken. Da sie im Hinblick auf eine Inszenierung geschrieben wurden, mussten sie sich den Normen der Zensur anpassen. Und die Spielräume in der Dramatik waren angesichts der fortschreitenden Ideologisierung des Kulturbereichs bereits so eng, dass Bulgakov z. B. seine Kunst der Groteske, die noch die Qualität der satirischen Komödie Zojkas Wohnung (Zojkina kvartira, 1926) ausmacht, nicht mehr ausspielen konnte. 38 Bulgakov (1990) Bd. 3, S. 471, 479, 496, 503 , 506; weitere Zitate nach dieser Ausgabe. Eine deutsche Fassung erschien erstmals 1970 in der DDR. Sie wurde später wieder aufgelegt (Bulgakow (1982)). 39 Es ist eine merkwürdige Koinzidenz, dass der Pole Jaros aw Iwaszkiewicz fast zeitgleich ein Drama über Puškins letzte Lebensphase (Maskarade, 1938) schreibt, in dem „ein Willkürregime und eine Gesellschaft [. . .] dem großen Künstler keinen Raum für die von ihm benötigten Schaffensbedingungen“ lassen (vgl. den Beitrag <?page no="148"?> F RANK G ÖBLER 148 In der Sowjetunion war dies seit 1922 die GPU („Gosudarstvennoe politi eskoe upravlenie“; eine Unterabteilung des Innenministeriums NKVD). Denunziationen und Hausdurchsuchungen bei Künstlern und Intellektuellen waren in den 1930er Jahren an der Tagesordnung, ihre Darstellung in der Literatur jedoch ein absolutes Tabu. In Bulgakovs Drama wird die politische Polizei vertreten durch den Grafen Benckendorf und seine Untergebenen. Der reale Benckendorf leitete unter dem Zaren Nikolaus I. die so genannte „Dritte Abteilung der Eigenen Kanzlei Seiner Kaiserlichen Majestät“, die nach dem Dekabristenaufstand zur Kontrolle illegaler politischer Bewegungen eingerichtet worden war. Zuträger Benckendorfs im Hause Puškins ist bei Bulgakov der Uhrmacher Bitkov, welcher Puškins Papiere und Bücherbestände ausspioniert. Benckendorf wird auch explizit für den Tod Puškins verantwortlich gemacht, da er über das bevorstehende Duell zwischen dem Dichter und d’Anthès im Bilde ist, dies von Amts wegen eigentlich zu unterbinden hat, seinen Untergebenen aber - ohne Wissen des Zaren - anweist, sich scheinbar versehentlich zum falschen Ort zu begeben. Zwar hat es immer wieder Theorien gegeben, die Dritte Abteilung sei irgendwie in das Zustandekommen des Duells verwickelt gewesen, diese sind jedoch reine Spekulation geblieben. Es handelt sich also um eine eindeutige Interpretation der überlieferten mehrdeutigen Fakten, die darauf hinausläuft, dass - während die übrigen beteiligten Figuren eher Gefangene der Umstände, ihrer Stellung bzw. ihres Charakters sind - Benckendorf aus freier Wahl handelt und bewusst den Tod des Dichters herbeiführt. Selbst der Zar wirkt demgegenüber unfrei. Bulgakov lässt ihn gegenüber Puškins väterlichem Freund, dem Dichter Vasilij Žukovskij, der sich bei Nikolaus für ihn einsetzt, äußern: „Du weißt, dass ich niemanden und niemals strafe. Das Gesetz straft.“ („Tebe izvestno, to ja nikogo i nikogda ne karaju. Karaet zakon.“ S. 480). Dieser Satz läuft auf die „Sünde der Feigheit“ hinaus, von der im Roman Meister und Margarita mit Bezug auf Pontius Pilatus die Rede ist. 40 Und das will sagen: Der Mächtige kann von Brigitte Schultze in diesem Band, insbes. S.220). Merkwürdig auch, dass Iwaszkiewicz damit nicht die Absicht verbindet, die Situation des Künstlers in der Gegenwart am historischen Stoff auszuarbeiten. 40 Im Rahmen des Binnenromans (Kap. 25) über den Tod Jesu (Iešua) wird Pilatus berichtet, Iešua habe kurz vor seinem Tod geäußert, die Feigheit sei eine der schrecklichsten Sünden (Bulgakov (1990), Bd. 5, S. 296). Wenig später (Kap. 26) hat Pilatus einen Traum, in dem er an sein reales Gespräch mit Iešua anknüpft und sich selbst der Feigheit bezichtigt, da er mit Rücksicht auf die eigene Karriere versäumt habe, den „vollkommen unschuldigen, verrückten Träumer und Arzt“ zu retten („spasti ot kazni rešitel’no ni v em ne vinovatogo bezumnogo me tatelja i vra a“). Iešuas Satz über die Feigheit korrigiert er: Sie sei die „schrecklichste aller Sünden“ <?page no="149"?> Künstlerfiguren im Drama der russischen Moderne 149 seine Hände nicht in Unschuld waschen, er muss sich dort, wo es um Wahrheit und Gerechtigkeit geht, über die Zwänge seines Amtes hinwegsetzen. Dennoch wird dem Zaren nicht die Hauptverantwortung für den Tod des Dichters gegeben. Obwohl es vielleicht nicht ratsam ist, die aktuellen Bezüge des Stückes allzu buchstäblich zu lesen, ist es doch nicht ganz abwegig, hierin eine versteckte Botschaft zu sehen, die darauf hinausläuft, dass Bulgakov den Diktator Stalin von einem Teil der Verantwortung für den herrschenden Terror gegen die Kunstschaffenden entlasten möchte. Dafür sprachen aus damaliger Sicht des Autors die Erfahrungen der späten 1920er Jahre, als die Schriftstellervereinigung RAPP teilweise recht eigenmächtig Hetzkampagnen gegen missliebige Autoren inszenierte, dafür sprachen ferner manche willkürlichen Maßnahmen von Tscheka und später GPU, besonders aber die persönliche Unterstützung, die Bulgakov von Stalin zuteil wurde. 41 Wäre Bulgakov sich über das Ausmaß der von Stalin zu verantwortenden Verbrechen im Klaren gewesen, hätte er Die letzten Tage möglicherweise anders oder auch gar nicht geschrieben; vielleicht hätte er sich auch nicht dazu hinreißen lassen, eine frühe Phase in der politischen Karriere Stalins zum Gegenstand eines Theaterstücks zu machen. 42 Solche Verzerrungen in der Sicht der politischen Realitäten sind jedoch bei den Künstlern dieser Zeit keineswegs Einzelfälle, sie sind vielmehr ein allgemeines Symptom der Angst, welche das totalitäre Regime unter ihnen verbreitete. Dem Autor Bulgakov scheint dies aber nicht oder doch nicht in vollem Umfang bewusst gewesen zu sein. Er zeichnet Puškin als Modell eines Künstlers, dem es gegeben ist, höhere Wahrheiten zu erkennen und so zu formulieren, dass sie sich jedem einfühlsamen Menschen vermitteln (im Stück sind dies insbesondere die Schwägerin Aleksandra Gon arova wie auch der Uhrmacher Bitkov, der Puškins Verse auswendiglernen muss und sich deren Wirkung dann nicht entziehen kann). Und an diesem - im Grunde romantischen - Ideal orientiert sich auch das Bild des Meisters im Roman. Man kann also durchaus sagen, dass Bulgakov ein Künstlerbild aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aktualisiert hat. Jedoch nicht aus einer konservativen Haltung heraus, vielmehr war dies in der gegebenen („[. . .] trusost’, nesomnenno, odin iz samych strašnych prokov. Tak govoril Iešua Ga-Nocri. Net, filosof, ja tebe vozražaju: to samyj strašnyj porok“, ebd., S. 310). 41 Bei dem erwähnten Telefonat hatte Stalin Bulgakov ein persönliches Gespräch in Aussicht gestellt, von dem der Schriftsteller sich offenbar viel erhoffte, das jedoch nie zustande kam. Pilatus’ Traum von einem Gespräch mit Iešua ist zweifellos ein Reflex dieser merkwürdigen realen Konstellation (vgl. udakova (1988), S. 340). 42 Es handelt sich um das 1939 fertig gestellte Stück Batum (Bulgakov (1990), Bd. 3, S. 512-570). <?page no="150"?> F RANK G ÖBLER 150 kulturpolitischen Situation ein Akt geistiger Opposition. Bulgakov hatte nach der Hetze gegen sein Molière-Stück 1936 43 offenbar die Hoffnung gehegt, hierfür mit seinem Puškin-Stoff einen unverfänglichen Rahmen gefunden zu haben. Er befand sich im Irrtum: Das Stück erschien zu seinen Lebzeiten weder im Druck noch auf der Bühne. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle des Künstlers war im Theater unmöglich geworden. Fazit Die vorgestellten Fallbeispiele zeigen ganz unterschiedliche Interessen der Dramatiker an ihren Künstlerfiguren. echov geht es in erster Linie um den Menschen, der es lediglich als Künstler vielleicht besonders schwer hat, mit sich im Einklang zu sein. An den Stücken Bloks und Majakovskijs wird deutlich, welch enormes Innovationspotential der Selbstproblematisierung des Künstlers in der russischen Moderne innewohnt. Für Blok ist das Theater das Spielfeld, auf dem er die Irrwege des Symbolismus (und seine eigenen) inszenieren kann - in einer Form des Theaters, das den gerade erst durch das Moskauer Künstlertheater auf ungeahnte Höhen gebrachten Illusionismus in Stücke sprengt, auf der Bühne realisiert durch einen einstigen Schüler Stanislavskijs und Nemirovi -Dan enkos: Vsevolod Mejerchol’d. Majakovskijs Selbstinszenierung ist schon im Thematischen prospektiv: auf eine Kunst, eine Gesellschaft der Zukunft hin gerichtet (wenn auch mit skeptischen Untertönen). Umso mehr ist es sein Stück in struktureller Hinsicht - ein kubofuturistisches Gesamtkunstwerk, das mit den Mitteln von Zerlegung und Montage praktisch auf allen Ebenen des theatralen Textes arbeitet. In der Sowjetunion der 1930er ist auf den Bühnen keine Innovation mehr möglich, das Drama ist in Konventionalität erstarrt. Bulgakov ist hiervon nicht ausgenommen trotz seiner Ansätze zur Verschlüsselung von Aussagen über die Gegenwart durch strukturelle Mittel. Die Ausarbeitung eines künstlerisch produktiven Instrumentariums „aesopischer“ Verfahren, wie sie die Literatur der Sowjetzeit mitprägte, steckt hier noch in den Anfängen. 44 Das Künstlerbild Bulgakovs ist dabei der Tradition des 19. Jahrhunderts und insbesondere der romantischen Konzeption des Dichters als eines Auserwählten mit besonderem Zugang zur Wahrheit verpflichtet, wie es Puškin wegweisend in seinem Gedicht Der Prophet (Prorok, 1826) formuliert hat. In dieser Hinsicht - aber nur in dieser - steht Bulgakov sogar Blok und Majakovskij näher als einem echov, der die 43 Die Aufführung war von der linientreuen Presse heftig attackiert und anschließend vom Spielplan genommen worden. 44 Vgl. Losseff (1984). <?page no="151"?> Künstlerfiguren im Drama der russischen Moderne 151 Rolle des Künstlers sehr viel nüchterner betrachtet. Und in gewisser Weise ist nun Bulgakov seinerseits wegweisend: In den Jahrzehnten der Repression wird die Orientierung an der Puškinschen Tradition für viele russische Künstler zu einer Form der Selbstbehauptung. Literaturverzeichnis Bicilli, P.: Anton P. echov. Das Werk und sein Stil. München 1966 (Forum Slavicum. Bd. 7). Block, A.: „Die Schaubude“. In: Ders., Ausgewählte Werke. 3 Bde. München 1978. Bd. 2. Stücke. Essays. Reden, S. 7-21. Blok, A.: „Balagan ik“. In: Ders., Sobranie so inenij v šesti tomach. Leningrad 1980-83. Tom 3. Teatr 1906-1919. 1981, S. 7-20. Bulgakov, M. A.: „Aleksandr Puškin“. 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Köln, Wien 1975. <?page no="153"?> Alfred Gall Das Künstlerdrama als Gesellschaftsdrama: Die Glembays (Gospoda Glembajevi) von Miroslav Krleža Einleitung Der kroatische Schriftsteller Miroslav Krleža (1893-1981) gehört zusammen mit Ivo Andri und Miloš Crnjanski zum Dreigestirn der jugoslawischen Literaturen im 20. Jahrhundert. In seinem umfangreichen Werk hat er sich in verschiedenen Schaffensphasen intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie die Kunst als gesellschaftliches sowie kulturelles Phänomen erfasst werden kann. Er thematisiert diese Spannung auch, indem er Protagonisten kreiert, die als Künstler angelegt sind und exemplarisch die Wechselwirkungen und gegenseitigen Bedingungsverhältnisse von Kunst und Gesellschaft zum Vorschein bringen. 1 Die gegenstrebige Fügung zwischen Kunst und Gesellschaft weist bei Krleža autobiographische Dimensionen auf. Als Verfechter eines undogmatischen Marxismus engagiert er sich vor dem Zweiten Weltkrieg politisch, indem er sowohl die bestehenden staatlich-gesellschaftlichen Grundlagen des nach 1918 geschaffenen Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen (seit 1934 Jugoslawien) kritisiert, als auch die sich bei Linken unter dem Einfluss der stalinistischen Sowjetunion einsetzende ideologische Dogmatisierung vehement bekämpft, wobei ihm eine moderne Form des kritischen Realismus als ästhetisches Paradigma vorschwebt. 2 Für Krleža ist die Kunst eine autonome Praxis kritischer Reflexion und damit dasjenige Medium, in dem eine subjektive, d. h. politisch, gesellschaftlich und ideologisch nicht determinierte Erfahrung möglich sein soll. 3 Die für eine realsozialistische Gesellschaft, auch für die nicht dem Ostblock zugehörige jugoslawische, erstaunliche Verbindung zwischen nietzscheanischem Artistenindividualismus und marxistisch motivierter Gesellschaftskritik ist mit Sicherheit eines der wesentlichen 1 Vgl. dazu die einschlägige Studie von Leitner (1986), S. 128-133. 2 Vgl. Krleža (1973a), S. 147-169. Dieser Konzeption von Kunst und Literatur wird er auch später in Essays und Gesprächen treu bleiben. Vgl. Bogert (1991), passim. 3 Vgl. auch Matvejevi (1969), S. 148 f. <?page no="154"?> A LFRED G ALL 154 Merkmale von Krležas Habitus als Autor und, was das Werk des Autors betrifft, eine offensichtlich produktive Grundspannung. 4 Die Frage, inwiefern Krleža als Staatsschriftsteller und hochrangiger Kulturfunktionär - man denke auch an seine engen Kontakte zu Tito - die eigenen Prämissen einer unabhängigen sowie kritischen Kunst verrät, sei dahingestellt. 5 Hier interessiert, in welchen Problemzusammenhängen in Krležas Dramatik die Figur des Künstlers inszeniert wird. Die Glembays (kroat.: Gospoda Glembajevi), ein Drama in drei Akten, ist ein Beleg dafür, wie in der Dramatik des 20. Jahrhunderts die Problematik des Künstlers nicht mehr allein in Bezug auf die Frage reflektiert wird, wie die Kunst noch in der Gesellschaft situiert werden kann, sondern zur weiter gefassten Problematik verdichtet wird, wie denn überhaupt eigensinnige Praxis, sei es der Kunst, sei es der kritischen Reflexion, in gesellschaftlichen Zusammenhängen noch durchsetzbar ist. Aus der Frage nach dem Ende der Kunst, in deren Schatten wir wohl nach wie vor stehen, 6 wird bei Krleža die Frage nach der Möglichkeit einer unabhängigen, kritischen Position in der Gesellschaft. Mit dieser Verschiebung der Schwerpunkte ist ein direkter Anschluss an die Thematik der Ringvorlesung gegeben, denn das „Künstlerdrama als Spiegel ästhetischer und gesellschaftlicher Tendenzen“ ist gerade im dramatischen Schaffen von Miroslav Krleža von zentraler Bedeutung. In der vorliegenden Arbeit werden nicht die frühen, in expressionistischem Duktus gehaltenen Theaterstücke wie Michelangelo Buonarroti (1919) untersucht, sondern der erste Teil der Dramentrilogie über die Familie Glembay. Die Künstlerfiguren im Werk des kroatischen Schriftstellers In zahlreichen literarischen Texten thematisiert Krleža die Möglichkeiten und Perspektiven der Kunst in der Moderne. 7 Das berühmteste Beispiel ist in diesem Zusammenhang der Künstlerroman Die Rückkehr des Filip Latinovicz (Povratak Filipa Latinovicza) aus dem Jahr 1932, der als einer der wichtigsten Romane der kroatischen Literatur und zugleich als deren erster moderner Roman gilt, der in der Forschung in einen existenzialphi- 4 Vgl. Lindemann (1991), S. 143. 5 Die Diskussion über den Autor steht - zumindest in Kroatien - im Zusammenhang mit einer nach der Erlangung der Unabhängigkeit einsetzenden Revision des literarischen Kanons. Aufgrund seiner exponierten Stellung im sozialistischen Jugoslawien gerät im Zuge dieser Neubewertung vor allem auch Miroslav Krleža in den Brennpunkt kritischer Betrachtungen. Vgl. etwa zur Begründung der Aktualität von Krležas Werk: Nemec (1995), S. 118 ff. 6 Vgl. Geulen (2002), S. 9 ff. 7 Vgl. dazu die einschlägige Studie von Leitner (1986). <?page no="155"?> „Die Glembays“ („Gospoda Glembajevi“) von Miroslav Krleža 155 losophischen Kontext gerückt und mit Albert Camus oder Jean-Paul Sartre (v. a. mit La nausée) in Verbindung gebracht wird. 8 Mit der Darstellung des Malers Filip Latinovicz sind Fragen über den Standort und die Funktion der Kunst mit solchen nach der Möglichkeit authentischer Individualität zu einer grundsätzlichen Reflexion über die Moderne verdichtet, wobei die Moderne im Roman als vielschichtiges Gebilde erscheint, das ebenso durch die erschütternde Erfahrung des Ersten Weltkriegs geprägt ist wie es auch im Schatten von Nietzsches Diktum steht, dass Gott tot sei. In der Figur des Künstlers Latinovicz - er ist ein vom Fauvismus inspirierter Maler 9 - überlappen sich verschiedene Felder, wie die Frage nach der Bedeutung der Kunst in der modernen Industriegesellschaft, die durch den Kataklysmus des Ersten Weltkriegs hindurchgegangen ist, aber auch die Problematik, wie die europäische Kulturtradition aus der peripheren Perspektive des westlichen Balkans zu beurteilen sei, spielt eine Rolle und macht sich vor allem in der Spannung zwischen westeuropäischer Großstadt - etwa Paris, wo Filip Latinovicz einige Zeit lebte - und pannonischer Grenzlandschaft bemerkbar. 10 Diese beiden Aspekte verdichten sich zur existenziellen Grundfrage nach der Möglichkeit eines festen Grundes der eigenen Individualität, die angesichts der Kontingenz der Moderne zur Selbstbegründung eigener Lebensentwürfe, aber auch der Kunst, gezwungen ist, ohne dieser Herausforderung freilich gewachsen zu sein. Der Roman mit seiner Verknotung von ausgreifenden, assoziativ verketteten Erinnerungsprozessen, satirisch-grotesken Schilderungen sozialer Verhältnisse sowie essayistischen Reflexionen über die Kunst und die Moderne kann durchaus mit dem Schaffen anderer mitteleuropäischer 11 Romanautoren in Verbindung gebracht werden, also mit Hermann Broch, Robert Musil, aber auch mit dem lyrischen Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von Rainer Maria Rilke. 12 An der Figur des Künstlers zeigen sich bei Krleža die kulturellen und gesellschaftlichen Verwerfungen einer Epoche, die den Stahlgewittern des Ersten Weltkriegs kaum entkommen ist und die keinen neuen Zukunftshorizont aufspannt, sondern den Schutthaufen der Vergangenheit aus- 8 Vgl. dazu etwa Bogert (1990), S. 9-19. 9 Krleža bezeichnete den Romanprotagonisten als typischen Fauvisten und Vertreter der Avantgarde zu Beginn unseres Jahrhunderts. Vgl. Matvejevi (1969), S. 103 f. 10 Zur kulturwissenschaftlichen Perspektive eines Seitenblicks auf die europäische Kunst und Kultur, die vom Rande her in den Blick genommen und kritisch reflektiert wird vgl. Z. Kostantinovi (1990). 11 Zu diesem Begriff, der als beobachtungsorientiertes Instrumentarium gedacht ist und eine konstruktivistische Erkenntnisperspektive umreißt, mit deren Hilfe komparatistische Kontextualisierungen erfolgen vgl. Tötösy de Zepetnek (2002), S. 1 ff., 12 ff. 12 Vgl. Bogert (1990), S. 9 ff.; vgl. Stan i (1990), S. 51 ff. <?page no="156"?> A LFRED G ALL 156 stellt. Hier wie in anderen Texten Krležas sind es Künstler, an denen sich die Konsequenzen sozialer Umbrüche zeigen. 13 Im Jugenddrama Die Maskerade (Maskerata) (1914) wird die Künstlerthematik noch im verfremdenden Anschluss an die commedia dell’arte entworfen. Die Figuren sind weniger psychologisch ausgearbeitete Persönlichkeiten, als auf wenige, überzeichnete Merkmale reduzierte Masken, hinter denen sich freilich keine freizulegende Substanz, kein authentisches Gesicht verbirgt. In späteren Dramen setzt sich Krleža mit dem Grundproblem menschlicher Genialität auseinander. So wird in Michelangelo Buonarroti (1917) der italienische Renaissance-Künstler - und Inbegriff des Kunsttitans - Michelangelo zur Figur, an der sich die Ambivalenz der Stellung des Künstlers in der Gesellschaft ablesen lässt: Der Genialität, aus der die Kunst entsteht und die gesellschaftlich bewundert wird, steht die bei aller Bewunderung deutliche Distanz gegenüber, mit der die eben nicht genialische Gesellschaft sich den Künstler mit seiner exzessiven Persönlichkeitsstruktur sowie seiner diskursiv unvermittelbaren Rationalität vom Leib hält. Die dargestellte Künstlerfigur vereint die bei Hans Mayer beschriebenen Eigenschaften sowohl des intentionellen als auch des existentiellen Außenseiters, also sowohl die subjektive Absicht, sich einer bestimmten Gesellschaft mit ihren - z. B. ästhetischen - Normen und Werten zu entziehen als auch die allein durch die eigenen Merkmale sowie Erscheinung - die bloße Existenz - gegebene Außenseiterstellung, aus der auch bei bestem Willen angesichts der Diskrepanz zur Gesellschaft kein Herauskommen ist. 14 Im Drama sind verschiedene Modelle des Künstlertums aufgerufen, die Diener sprechen zum Beispiel vom Künstler als Seher und Zauberer, aber auch von einer teuflischen Kraft, die in ihm wirke, so dass er als Verrückter gelten müsse, wobei Verrücktheit nun nicht mehr im antiken Sinne - wie bei Plato (Phaidros 244a-245a, 265a-265b, Timaios 86b ) - als besondere Form des visionären Wahnsinns oder als Erkenntnis stiftende Entrückung begriffen wird. Der Künstler überschreitet in genialischer Ekstase Zeit und Raum, in expressiven Visionen stößt er in Dimensionen vor, die jenseits der von Menschen gedachten und erfassten Ordnung liegen und in eruptiven Bildern eingefangen werden. In einer Szene 13 Vgl. zum Roman Engelsfeld ((1975), S. 21 ff.) mit besonderer Gewichtung der im Roman verhandelten Problematik, wie in der Moderne - die gekennzeichnet ist durch die industrielle Massengesellschaft - und speziell nach dem Ersten Weltkrieg individuelle Existenz und Künstlertum auf eine feste Grundlage (podloga) gestellt werden können. Zur Erinnerungsstruktur, die auch aus Krležas Ausführungen über Marcel Prousts A la recherche du temps perdu abgeleitet wird, vgl. Frangeš (1964), S. 193-210. Zum Vergleich mit Proust und der in der Recherche entworfenen „mémoire involontaire“ siehe Jauß (1986), S. 221. Einen breit abgestützten und verschiedene literarische Texte berücksichtigenden Überblick über diese Fragestellung bietet der Sammelband von Lauer (1990). 14 Vgl. Mayer (1981), S. 13. <?page no="157"?> „Die Glembays“ („Gospoda Glembajevi“) von Miroslav Krleža 157 kämpft Michelangelo mit einem Unbekannten, der kein Geringerer ist als der Leibhaftige: Kunst erscheint als Grenzerfahrung am Rande des Wahns, und auch am Rande der metaphysisch gegliederten Welt, gleichsam zwischen Gott und Teufel, in einem Schwebezustand situiert zu sein. 15 Michelangelo ist der Titan, der den geheimnisvollen Unbekannten tötet - also den Teufel beseitigt - und aus dem Blut des Getöteten einen Teil der sixtinischen Kapelle malt. Kunst und Künstlertum sind also als zentrale wertsetzende und sinnstiftende Instanzen thematisiert, ja es ist die Kunst, die zum Glauben verführt, und nicht umgekehrt der Glaube, der die Kunst nach sich zieht - so jedenfalls versucht es der Teufel Michelangelo einzuflüstern, indem er den religiösen Glauben zum Produkt von dessen eigener Malerei macht. 16 Die Zwischenstellung des Außenseiters wird auch daran sichtbar, dass Michelangelo vom Papst dreißig Dukaten erhält, im Stück also als Judas gekennzeichnet wird. 17 In den Dramen, in denen sich die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, den Krleža kurzzeitig an der galizischen Front erlebte, niederschlägt, wird zunehmend die zeitkritische und politisch ausgerichtete Dimension wichtig. Der Krieg ist eine welthistorische Zäsur, die sich im Zerfall der Donaumonarchie und sozialen sowie existenziellen Brüchen manifestiert. In der Dramatik stellt sich Krleža der Herausforderung, die Erfahrung des Ersten Weltkriegs aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Das Drama Galizien, das später umbenannt wird in Im Lager (U logoru) (1920), zeigt den Krieg aus der Sicht der österreich-ungarischen Soldaten, die im Jahr 1916 an der galizischen Front kämpfen. 18 Die habsburgische Reichsaristokratie - einschließlich des Großbürgertums - offenbart in diesem Drama eine verbrecherisch-diabolische Ausmaße annehmende Dummheit, die den eigentlichen Grund für den Krieg darstelle. Die Dramentrilogie über die Familie Glembay vereint in sich die beiden Aspekte, nämlich die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten eines authentischen Künstlertums und die kritische Betrachtung der Geschichte. Das Drama: Requiem auf Habsburg Das Drama Die Glembays (Gospoda Glembajevi) bildet den ersten Teil der Dramentrilogie über die gleichnamige Familie und entstand im Jahr 1926. Die beiden nachfolgenden, zum Zyklus gehörenden Dramen In Agonie (U agoniji) sowie Leda verfasste Krleža in den nachfolgenden Jahren bis 1930. Die Glembays wurden am 14. Februar 1929 in Zagreb uraufgeführt, weitere 15 Vgl. Gašparovi (1989), S. 40 ff. 16 Vgl. Krleža (1973b), S. 80 (Michelangelo Buonarroti). 17 Vgl. ebd., S. 97. 18 Vgl. Krleža (1955), S. 7-149 (U logoru). <?page no="158"?> A LFRED G ALL 158 Aufführungen folgten, so auch in Belgrad am 18. Juni desselben Jahres. Die Trilogie errang internationale Bekanntheit durch Inszenierungen in Prag, Brünn, Bratislava, Warschau, Sofia, Budapest. Dass Krležas Drama vor allem in Städten, die einst zur Habsburger Monarchie gehörten, Geltung erlangte, ist kein Zufall, denn der Zerfall der Donaumonarchie sowie die sich daraus ergebenden Folgen für die Gesellschaften der neu entstehenden bzw. wiedererstehenden Nachfolgestaaten sind ein Kernmotiv in der Glembay-Trilogie. Die drei Dramen fokussieren ausschnittartig den Umbruch, der mit dem Zerfall der Donaumonarchie für die kroatische Gesellschaft, insbesondere für die in Diensten der Habsburger zu Macht und Ehren gelangten großbürgerlichen sowie aristokratischen Schichten, einsetzt. Die habsburgische Reichsoberschicht kann den Verlust ihrer einstigen sozialen Position kaum verkraften und findet sich in der neuen Situation des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen kaum zurecht. Das Drama Die Glembays stellt in drei Akten einige wenige Stunden an einem Spätsommerabend des Jahres 1913 dar; im Nebentext wird explizit darauf hingewiesen, dass es sich um einen Abend etwa ein Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges handelt, wodurch die spätere weltgeschichtliche Zäsur bereits deutlich markiert wird. In Agonie spielt im Jahr 1922, also bereits nach dem Zerfall der Donaumonarchie und der Errichtung eines Staates der Südslaven - des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen -, Leda im Jahr 1925. Die historische, gesellschaftliche und kulturelle Situation des Umbruchs bildet den Fokus der Dramatik und wird insbesondere an der Entwicklung der Figur des Künstlers, der als Außenseiter zur Familie zurückkehrt, ablesbar. In diesem Sinne machen sich in der Problematik des Künstlers auch gesellschaftliche sowie politische Grundfragen bemerkbar, die für die Entfaltung der dramatischen Fügung genutzt werden. Im Folgenden soll der erste Teil der Dramentrilogie als Reflexionsmedium des gesellschaftlichen Umbruchs untersucht werden, wobei interessiert, in welcher Weise gerade die Figur des Künstlers für die im Drama anklingende Zeit- und Sozialkritik konstitutiv ist. In der Forschung dominiert ein historisch-soziologischer Blick auf den Zyklus, der vorwiegend als Darstellung des Zusammenbruchs einer untrennbar mit der Habsburger Monarchie verbundenen kroatischen Oberschicht bewertet wird. Die kroatische Familie Glembay, deren in aristokratische und großbürgerliche Verzweigungen verästelter Stammbaum bis in die Zeit Maria Theresias zurückreicht, steht im Mittelpunkt. Die Familiensaga verbindet sich mit der Epochenanalyse in Zeiten eines weltgeschichtlichen Umbruchs, in dessen Verlauf gesellschaftliche, aber auch persönlich-existenzielle Grundlagen zerfallen, ohne dass neue Werte sich glaubhaft etablieren könnten. Auf der Basis dieser Ausrichtung kann natürlich auch eine Brücke geschlagen werden zwischen Krležas Dramentrilogie und den großen europäischen Gesellschaftsromanen: Thomas <?page no="159"?> „Die Glembays“ („Gospoda Glembajevi“) von Miroslav Krleža 159 Manns Roman Buddenbrooks (1901) mit dem bezeichnenden Untertitel Verfall einer Familie würde sich für einen kontrastiven Vergleich genauso eignen wie Roger Martin du Gards Les Thibaults (1920/ 22-1940) oder George Duhamels Chronique des Pasquiers (1933-1945). Zudem wäre für einen Vergleich der dramatischen Modellierung historischer Epochenbrüche auch der für Krleža erwiesenermaßen wichtige Karl Kraus zu nennen, vor allem das dokumentarisch konstruierte Drama Die letzten Tage der Menschheit (1915-1922). 19 Das Ende der Kunst und die kulturelle Selbstverortung Das Drama Die Glembays stellt eine interessante Rückbindung an die Tradition des analytischen Dramas dar und verbindet die Darstellung des Zerfalls einer großbürgerlichen Zagreber Familie mit einer ausgesprochen expressiven Sprachkraft, die der primär auf Gesprächen beruhenden Dramatik ihr Profil verleiht. Miroslav Krleža formuliert seine Absicht, eine auf Dialogen beruhende, psychologische Dramatik zu pflegen, und zwar im Anschluss an Ibsen und Strindberg: Osjetivši tako iskustvom svu suvišnu napravu vanjske, dekorativne, dakle kvantitativne strane suvremenog dramskog stvaranja, ja sam se odlu io da pišem dijaloge po uzoru na nordijsku školu devedesetih godina s namjerom da unutarnji naboj psihološke napetosti raspnem do što ja eg sudara, a te sudare da što bliže primaknem naše stvarnosti. 20 Nachdem ich so durch eigene Erfahrung die ganze überflüssige Beschaffenheit der äußerlichen dekorativen, also quantitativen Seite der zeitgenössischen Dramatik bemerkt hatte, entschloss ich mich, Dialoge nach dem Vorbild der nordischen Schule der neunziger Jahre [des 19. Jhs., Anm. d. Verf.] zu schreiben mit der Absicht, den Bogen der psychologischen Anspannung so stark anzuspannen, dass es zu möglichst heftigen Zusammenstößen kam, zu Zusammenstößen, die ein möglichst genaues Bild von unserer Wirklichkeit liefern sollten. 21 hen - in Krležas Verständnis - hervorbrechen soll, kann nicht nur auf die Mit dieser Schwerpunktsetzung ist deutlich ersichtlich, wie im Dramenzyklus die aristotelische Dominante der Handlung abgelöst wird durch den Primat der Sprache sowie der Sprechakte. 22 Diese Verlagerung des Schwerpunktes von der Handlung zum Dialog, aus der das Gesche- 19 Zu den Kontexten, speziell zu Kraus, vgl. Stan i (1990), S. 116 ff. 20 M. Krleža (1981), S. 357 („Dramaturški uvod iz god. 1928“, S. 355-358). 21 Deutsche Übersetzung nach Frangeš (1995), S. 337. 22 Diese Verschiebung beschreibt am Beispiel von A. P. echov Schmid (1976), S. 177- 207. <?page no="160"?> A LFRED G ALL 160 genannten nordischen Autoren bezogen werden, sondern auch mit der Dramatik Anton P. echovs in Verbindung gebracht werden. 23 Das Stück setzt ein mit der Rückkehr des Malers Leone Glembay ins Haus seiner Familie, nachdem er elf Jahre im Ausland verbracht und sich einen Namen als Künstler gemacht hat. Im ersten Akt - ein feierlicher Empfang im Hause der Glembays klingt gerade aus - treffen sich Leone und dessen verwitwete Schwägerin Angelika, die Witwe Ignaz Glembays, des ältesten Sohnes des Patriarchen Naci (Ignjat) Glembay, die nach dem Tod ihres Mannes Nonne wurde. In dieser Konfiguration 24 zeichnen sich bereits diejenigen Problemfelder ab, die im weiteren Verlauf des Dramas nachwirken werden. In Dialogpassagen, die beinahe das Ausmaß essayhafter Exkurse annehmen, gibt Leone zu erkennen, dass er die Kunst sowie sein eigenes Künstlertum für Erscheinungen hält, die dem Druck der modernen Naturwissenschaft nicht standhalten und daher zweitrangig seien. Die Mathematik scheint Leone dasjenige wissenschaftliche Paradigma zu sein, das in weit präziserer Weise als die Kunst oder die Philosophie Aufschluss über die Wirklichkeit geben könne, weshalb er Leonhard Euler und dessen Mechanica sive motus scientia analytice exposita (1736) über Kants Kritik der reinen Vernunft stellt und bitter die Paradoxie konstatiert, dass er trotz der Einsicht in die Überlegenheit der Mathematik ein Maler sei: Ovo je bitno: matematika je, ako se govori simboli no, bliže Nepoznatome od govora i od slike. Matemati kom formulom može se izgovoriti ono što ne mogu da izraze ni rije ni slika, pa ni muzika, koja je još uvijek relativno najmatemati nija! [. . .] I ja, što više slikam, sve sam više uvjeren da je da Vinci potpuno u pravu: stvar se može precizno odrediti samo apstraktnom matemati kom koordinacijom. I, eto, to je moje unutarnje protuslovlje: mjesto da sam matemati ar, ja slikam. S tim raskolom u sebi što može ovjek posti i više od diletantizma? 25 Dies ist wesentlich: Die Mathematik ist, wenn man symbolisch spricht, dem Unbekannten näher als die Sprache oder das Bild. Mit einer mathematischen Formel lässt sich das aussprechen, was weder das Wort noch das Bild, ja auch nicht die Musik, die ja noch verhältnismäßig am mathematischsten ist, ausdrücken können! [. . .] Und ich, je mehr ich male, desto mehr bin ich mir sicher, dass da Vinci vollkommen Recht hatte: Ein Ding kann nur präzise bestimmt werden durch abstrakte mathematische Koordinaten. Und eben dies ist mein 23 Wenngleich sich Krleža auch kritisch über echov äußerte - etwa in einem Essay anlässlich der Premiere des Dramas Golgota im Jahr 1922 - und dessen Werk für hoffnungslos veraltet hielt. Vgl. dazu Krleža (1972), S. 274. 24 Mit „Konfiguration“ meinen wir im Anschluss an S. Marcus die jeweils auf der Bühne zu einem gegebenen Zeitpunkt auftretenden und so in Beziehung zueinander gesetzten Personen. Vgl. Marcus (1973), S. 287 ff. 25 M. Krleža (1981), S. 15 f. (Gospoda Glembajevi, S. 9-135). Deutsche Übersetzung hier und nachfolgend v. Verf. <?page no="161"?> „Die Glembays“ („Gospoda Glembajevi“) von Miroslav Krleža 161 innerer Widerspruch: Anstatt Mathematiker zu sein, male ich. Was kann ein Mensch mit einem solchen Riss in sich selber auch anderes erreichen als Dilettantismus? Die bittere Selbsterkenntnis und die Zweifel an der Ausdruckskraft der Kunst kleidet Leone in eine offene Bewunderung der Mathematik ein, deren Formensprache als symbolische Ordnung derjenigen der Kunst überlegen sei. Es ist Angelika, die entgegenhält, dass weder die Logik noch das Wort an das Unaussprechliche oder Unerkannte rühren und ihrem Schwager vorwirft, in seinem Redeschwall das Problem zu verfehlen: Es sei die Intuition, eine rational nicht fassbare „Regung des Herzens“, die bis zur Wahrheit vordringe. Und diese Intuition sei als „qualitas occulta“ der Symbolsprache der Kunst ebenso wie allen anderen Formen des menschlichen Geistes überlegen: Ja sam, otkad postojim, gledala život u slikama: postoji u našem subjektu vani i unutra. Što se nalazi izme u toga? Nešto, kao što ti veliš, tamno i mutno: nervi, mozak, meso, nešto što se zove naš subjekt. [. . .] A sve se to razvija u vremenu i u ne em nepoznatom, transcendentalnom. I ako ti misliš da je tvoje slikanje logi no poniranje u to transcendentalno nešto izvan našega Ja, ti se varaš, Leone! 26 Ich habe, seit ich lebe, das Leben in Bildern betrachtet: Es existiert in unserem Subjekt ein Innen und ein Außen. Was befindet sich dazwischen? Etwas, wie du zu sagen pflegst, Dunkles und Trübes: Die Nerven, das Gehirn, Fleisch, etwas, das sich unser Subjekt nennt. [. . .] Und all dies entwickelt sich in der Zeit und in etwas Unbekanntem, Transzendentalem. Und wenn du meinst, dass dein Malen ein logisches Vordringen in dieses außerhalb unseres Ich gelegene transzendentale Etwas sei, täuschst du dich, Leone! Die Skepsis gegenüber den Erkenntnisansprüchen der Wissenschaft oder auch der Kunst bringt Angelika in prägnanten Bildern auf den Punkt. Die Intransparenz der Welt, die das Subjekt umgibt, erkennt sie als unaufhebbare Voraussetzung der menschlichen Existenz an: Svi mi vrvimo u životu kao crvi u kvarglu. I nitko od nas ne vidi iznad zbivanja, Leone! Ukoliko živimo, živimo samo tako da se pokoravamo nekoj tihoj, nevidljivoj zakonitosti; u nama i oko nas sve je isto tako tamno kao u termitskom mravinjaku. 27 Wir alle kringeln uns im Leben wie die Würmer im Quark. Und niemand von uns sieht über die Ereignisse hinaus. Soweit wir leben, leben wir nur so, dass wir uns einer stillen, unsichtbaren Gesetzmäßigkeit beugen; in uns und um uns herum ist alles genauso dunkel wie in einem Termitenhaufen. 26 Ebd., S. 16 f. 27 Ebd., S. 17. <?page no="162"?> A LFRED G ALL 162 Für Leone ist bei aller Skepsis gegenüber der Malerei, die den Naturwissenschaften mit ihrer - unterstellten - Exaktheit hoffnungslos unterlegen sei, die bildliche Wahrnehmung der Schlüssel zur Welt: Er nimmt die im Dunkel verschwimmende Welt als Künstler wahr, er deutet und erschließt sie in Analogie zu Bildern. So erscheint ihm seine Schwägerin, die geborene Beatrice Baronin von Zygmuntowicz, als Verkörperung eines Portraits, das Holbein malte. Bildliche Wahrnehmung und Eros durchdringen sich: Tvoje lice sje a me jedne Holbeinove glave: mislim da sam ja vidio u Baselu. Lice ovalno, lice jedne gracilne gejše, dje je, nasmijano, boja mlije na s prozirnim pastelnim preljevom! 28 Dein Gesicht erinnert mich an ein Portrait Holbeins: Ich denke, dass ich es in Basel gesehen habe. Ein ovales Gesicht, eines einer grazilen Geisha. Kindlich, lächelnd, weiß wie Milch, mit einer durchsichtigen, pastellfarbenen Glasur! Trotz Angelikas abwehrender Haltung setzt Leone seine ästhetisierenden Ausführungen fort und beschreibt sie zusätzlich als eine fast idealtypische Verkörperung einer Renaissance-Hofdame aus dem Trecento, wobei er den Wunsch äußert, ein Portrait seiner Schwägerin zu malen. Für Leone steht diese Szene in engem Zusammenhang mit einer noch auf Kunst und Künstlertum bezogenen Epoche, in der ein unmittelbarer ästhetischer Ausdruck möglich gewesen ist, also die - nach Leone - für die Kunst so bedrohliche Wirkung der exakten Naturwissenschaften noch weit in der Ferne liegt. Die Erinnerung an die Zeit der Troubadours erfolgt freilich nur noch aus einer sentimentalischen Bewusstseinslage heraus, in deren Horizont immer schon die Unmöglichkeit einer Anknüpfung an eine höfische Kultur eingeschrieben ist. Für Leone dominiert das erotische Substrat; dem Flirt vermag sich auch Angelika, die Ordensschwester, nicht ganz zu entziehen. Ein weiterer, auf die fragwürdig gewordene Position der Kunst verweisender Zusammenhang wird im Drama aufgespannt, als die Gäste der Feier des Bankhauses Glembay, Titus Andronicus Fabriczy-Glembay (der Cousin des Hausherrn) sowie Alojzije Silberbrandt (ein Priester und der Hauslehrer Oliver Glembays und zugleich Beichtvater der Baronin Castelli) den Salon betreten, in dem sich Angelika und Leone aufhalten und die Ahnengalerie der Glembays betrachten. Ein gutes Dutzend Portraits von Familienmitgliedern hängt an den Wänden und wird zum Anlass einer Debatte über den Sinn und Zweck von Kunst. Der theologisch geschulte Geistliche kommentiert die Portraits in Anlehnung an die mittelalterliche Scholastik; mit Thomas von Aquin oder Seneca versucht er seine Begriffsbestimmung der Kunst auszuformulieren sowie seiner Be- 28 Ebd., S. 18. <?page no="163"?> „Die Glembays“ („Gospoda Glembajevi“) von Miroslav Krleža 163 wunderung für die Ahnengalerie einen angemessenen Ausdruck zu verleihen. Es fallen sentenzhafte und prätentiös vorgetragene, längst zum Allgemeingut gewordene Aussagen, die von Silberbrandt als gültige Definition der Kunst verstanden werden, die zum einen als Ausdruck eines Schönen, das eben unmittelbar, aus sich heraus, schon in der bloßen Wahrnehmung, gefällt, zum anderen im direkten Anschluss an Seneca, als Nachahmung der Natur erfasst wird: „Pulchrum autem dicatur id, cuius ipsa apprehensio placet“ 29 oder - nur wenig später - „omnis ars naturae imitatio est“ 30 . Sein Gesprächspartner, Titus Andronicus Fabriczy-Glembay, pflichtet ihm, was die Würdigung der Gemälde betrifft, bei, begründet jedoch sein Gefallen, indem er auf eine naturalistische Kunstauffassung Bezug nimmt, die er ebenfalls mit einem wörtlichen Zitat aus Taines Philosophie de l’art (1865) darlegt: „L’oeuvre d’art est déterminée par un ensemble qui est l’état général de l’esprit et des mœurs environnantes.“ 31 Beiden Meinungen widersetzt sich Leone und kritisiert die Gemälde als oberflächliche Gebrauchskunst, die allein dem dekorativen Bedürfnis aristokratischer Selbstdarstellung verpflichtet sei, mit authentischer Kunst freilich nichts zu tun habe. Zugleich werden mit dieser Volte die geschmäcklerischen Ansichten, aber auch die elaborierten, halbgebildeten Ergüsse über Kunst bloßgestellt. Leone beharrt auf einer unüberbrückbaren Differenz zwischen einer modernen, der zeitgenössischen Situation angemessenen Kunst und der ästhetischen Tradition, die mit Thomas von Aquin und Seneca ihre Geltung als erklärendes Paradigma längst eingebüßt habe und zum Bildungsgut ohne authentische Aussagekraft verkommen sei; die mit Zitaten geschmückte Argumentation sei nichts weiter als „patristische Philatelie“ 32 . Gegen die Kritik Leones, der als Kunstmaler, der noch dazu in Florenz und Paris weilte und sich international durchsetzen konnte, ziehen sich die anderen auf ihre jeweiligen Ausgangspositionen zurück, beharren aber beide auf einem letzten Endes vormodernen Kunstbegriff, namentlich Silberbrandt wird mit Nachdruck betonen, dass für ihn die Kunst Erfahrung von Schönheit sei und im Schönen auch das moralisch Gute sowie das Wahre vereint seien. Die Trias des Wahren, Guten und Schönen ruht für ihn auf dem religiösen Fundament des Christentums. 33 Gegen die dilettantischen, durch die Tradition geweihten Diskurse seiner Kontrahenten bleibt Leone zum Schweigen verurteilt, denn er begründet seine 29 Ebd., S. 21. Vgl. dazu Thomas von Aquin: Summa Theologiae. Prima pars secundae partis, quaestio 27, articulus 1, ad tertium. 30 Ebd., S. 22. Vgl. L. A. Seneca: Epistulae morales ad Lucilium. 65. 31 Ebd., S. 21. Vgl. H. Taine : Philosophie de l’art. Paris 1865, S. 17, 22, 98. 32 Ebd., S. 23. 33 Vgl. ebd. <?page no="164"?> A LFRED G ALL 164 prinzipielle Ablehnung der einzelnen Portraits sowie der in ihnen verwirklichten Konzeption von Kunst nicht theoretisch, sondern auf der Basis der konkreten Bildbetrachtung, aus der sich dann nicht nur die Kritik an den einzelnen Gemälden ergibt, sondern auch die grundsätzliche und unaufhebbare Diskrepanz in Bezug auf die Vorstellungen von Kunst fassbar wird. Leones Auseinandersetzung mit einem Portrait wird im Drama sichtbar als Bildbeschreibung, die ins Groteske gesteigert ist und nur schon dadurch die Differenz der Kunstbegriffe in den Vordergrund treten lässt: Uzmite konkretno baruni inu ruku s lepezom? Zar može tako da izgleda jedna ženska ruka s lepezom! Tu se osje a tuba, ulje, to se lijepi kao smola, ti su prsti ostali neizdiferencirani kao marcipan! Pa onda frizura? Imate li vi osje aj gdje po inje elo, a gdje kosa? To je sve lakirani papirmaše, sakriven ovim banalnim trikom od dijadema. Ta svila, ti brokati, to njegovo perje, sve je to šareno kao papiga! To sve sebi može dozvoliti jedan Ferenczy koji prodaje svoje portrete engleskom dvoru, ali to nije slikarstvo! Kakvo to je slikarstvo? 34 Nehmen Sie konkret die Hand der Baronin mit dem Fächer. Kann denn so eine Frauenhand mit einem Fächer aussehen? Hier spürt man die Tube, das klebt doch alles wie Teer, diese Finger sind undifferenziert wie Marzipan! Und erst die Frisur? Erkennen Sie, wo die Stirn beginnt und wo das Haar? Das ist doch alles lackiertes Papiermaché, versteckt mit dem banalen Trick des Diadems. Diese Seide, dieser Brokat, diese seine Federn, all dies ist so bunt wie ein Papagei! Das kann sich vielleicht so ein Ferenczy erlauben, der seine Portraits dem englischen Königshof verkauft, aber das ist keine Malerei! Was ist das überhaupt für eine Malerei? Das Gespräch führt zu keinem Ergebnis, da Titus und Silberbrandt sich in ihrer Würde verletzt spöttisch über Leones Vorstellungen von Malerei äußern. Die Spannung vertieft sich zusätzlich, als neben den gegensätzlichen Auffassungen über Kunst und Malerei auch deutlich wird, dass Leone die durch die Ahnengalerie repräsentierte Familiengeschichte nicht mit Stolz und Ehrfurcht behandelt, sondern provozierend wiederholt die auf Betrug und Verbrechen fußende Tätigkeit der Glembays unterstreicht und nachdrücklich in Erinnerung ruft, dass der Wohlstand im Grunde genommen illegitim ist - und damit natürlich auch die gesellschaftliche Stellung der Glembays, die seit den seligen Zeiten Maria Theresias als obskure Bauern durch Untaten, Spekulationen und Heiratspolitik eine einflussreiche Stellung in der Zagreber Oberschicht errangen. Auch hier entwirft Leone seine Version der Familiengeschichte in einer luziden Umdeutung eines Bildes, also aus einer künstlerischen Perspektive: 34 Ebd., S. 23 f. <?page no="165"?> „Die Glembays“ („Gospoda Glembajevi“) von Miroslav Krleža 165 Ja sam u ovoj ku i prolaznik, meni ove slike govore stvari mnogo tamnije od jedne zdravice! Za vas onaj Glembay drži u ruci crkvu, a za mene krvavi nož! 35 Ich bin in diesem Haus nur ein Passant, mir sagen diese Bilder dunklere Sachen als eine Tischrede! Für Euch hält jener Glembay eine Kirche in der Hand, aber für mich ist es ein von Blut triefendes Messer! Diese aus ihrer Sicht infame Unterstellung reizt Fabriczy und Silberbrandt bis aufs Blut. Sie weisen diese Deutung als verleumderische Legende zurück. Es gelingt ihnen jedoch nicht, den Vorwurf zu entkräften oder gar Leone von ihrer Sicht zu überzeugen. Mit der scharfen Polemik, die mit dem Abgang des sichtlich genervten Leone nicht zu einem Ende kommt, ist bereits in den ersten Repliken des ersten Aktes deutlich die Sonderstellung Leones umrissen, der, zum Außenseiter gestempelt, in der familiären Umgebung keine ihm entsprechende und anerkannte Position einnimmt. Die weitere Sujetentfaltung scheint Leone Recht zu geben. Denn die Baronin Castelli, die Ehefrau des alten Glembay, ist in einen Prozess verwickelt gewesen, in dem sie der fahrlässigen Tötung beschuldigt wurde: Mit ihrer Kutsche überfuhr sie eine alte Frau. Die Baronin wird allerdings weder verhaftet noch schuldig gesprochen; ohne die geringste Strafe kann sie in Freiheit leben. Die verwitwete Schwiegertochter des Opfers, Fanika Canjeg, ist seither ganz allein auf sich gestellt und überdies schwanger. Sie strengte einen neuen Prozess an, um von der Baronin eine Entschädigung zu erhalten. Ihre Ansprüche wurden vor Gericht als unbegründet zurückgewiesen. Wie sie persönlich bei den Glembays vorsprechen will, um zumindest etwas Geld für den Kauf einer Nähmaschine zu erbitten, um so durch Heimarbeit die materielle Grundlage für sich und ihr Kind sicherzustellen, wird sie gar nicht erst vorgelassen. Verzweifelt stürzt sie sich vom dritten Stock des Anwesens in den Tod. Die Presse - vor allem die sozialistische - richtet das Augenmerk auf diesen skandalösen Vorfall und bringt auch den Selbstmord des jungen Journalisten Anton Skomrak mit Machenschaften der Baronin Castelli in Verbindung: Es wird angedeutet, dass Oliver Glembay, der Sohn der Baronin, möglicherweise in einen Raubüberfall verwickelt gewesen sei, wobei in allen diesen Fällen die Justiz untätig geblieben sei und die in ihrer gesellschaftlichen Position gleichsam unantastbar erscheinende Familie Glembay in keiner Weise zur Rechenschaft ziehe. Auch der seiner Familie, und speziell dem Vater sowie der Stiefmutter äußerst kritisch gegenüberstehende Leone hat Fanika Canjeg, als er sie antraf, kein Geld für die Nähmaschine zugesteckt, sei es nun aus Gleichgültigkeit, Ahnungslosigkeit oder schierer Unaufmerksamkeit. In einer Ironie, die der verzweifelten Frau entgehen muss, meint er nur mit entsetzlichem Sar- 35 Ebd., S. 29. <?page no="166"?> A LFRED G ALL 166 kasmus, dass ihr wohl nichts anderes übrig bleibe als Selbstmord zu verüben, denn es sei für ihn unvorstellbar, dass jemand in dieser moralisch verfallenen Familie dem Anliegen, das sie vorzutragen gedenkt, nachkommen werde. Auch Leone steckt, ohne dies selbst zu merken, bis über beide Ohren in der Familientradition und ist, bei aller intellektuellen Luzidität, nicht in der Lage, sich aus diesem Verhängnis, das sich aus Rücksichtslosigkeit und Verbrechen ergibt, zu befreien. Die Erkenntnis ist nur partiell eine Selbsterkenntnis und bleibt im Drama beschränkt auf die Einsicht in die nur noch bedingten Möglichkeiten der Kunst sowie die eigenen, als begrenzt und unzureichend betrachteten Fähigkeiten als Künstler, der in der durch den naturwissenschaftlichen Fortschritt gekennzeichneten Moderne an den Rand gedrängt wird. Leone verfällt gerade in dieser Situation, als der Selbstmord der Canjeg bekannt wird, seinerseits in sentenzenhaftes Reden. Dem Priester Silberbrandt erklärt er, dass er die Canjeg in ihrer Wohnung aufgesucht habe und dabei zum Schluss gekommen sei, dass, wer in so einer Wohnung unter solchen materiellen Voraussetzungen sein Leben fristen muss, bei den gegebenen Verhältnissen kaum einen anderen Ausweg als den Selbstmord hat. 36 Im zweiten Akt liegt der Schwerpunkt auf der Begegnung zwischen Leone und seinem Vater, Ignat Glembay. Leone ist das Kind aus der Ehe mit Irene Danielli-Basilides, die durch Selbstmord aus dem Leben schied. Leone sieht in der Untreue seines Vaters den Grund für diesen Selbstmord und hegt deshalb einen heftigen Widerwillen gegen ihn. Er wiederholt die bereits im ersten Akt geäußerte Überzeugung, im eigenen Haus doch nur ein Passant zu sein. Angewidert von seinem in obskure Geldgeschäfte verstrickten Vater lässt er in einer Wortsuada kein gutes Haar an der Familie und spricht vom „Glembaytum“ - „glembajevština“ - als einer eigenen, auf Intrigen und Lügen, auf Verbrechen und Mord ruhenden Kultursowie Gesellschaftsformation, der die Malerei etwas substanziell Fremdes und Unverständliches sein müsse. Vor allem die Baronin Castelli, die Stiefmutter und jetzige Ehefrau des alten Glembay, verkörpert für Leone den Inbegriff einer rücksichtslosen Prunksucht, die in der eigenen Befangenheit das Leben anderer, die sich einem in den Weg stellen, skrupellos auslöscht. Während der Vater die Gutherzigkeit und philanthropischen Tätigkeiten seiner Frau lobt, erkennt Leone in ihr nur eine ins Groteske verzerrte menschliche Existenz jenseits von Moral und Gewissen. Der elementare Mangel an moralischem Bewusstsein, besonders bei der Baronin Castelli, zeichnet sich für Leone in bildhafter Verdichtung beispielhaft in der Szene ab, in der die alte Frau von der Kutsche erfasst und totgefahren wird: 36 Vgl. ebd., S. 57. <?page no="167"?> „Die Glembays“ („Gospoda Glembajevi“) von Miroslav Krleža 167 ovje e! Ta žena gazi preko egzistencija tako šarmantnozlo ina ki da tu normalnome ocjeku staje pamet! A ovakav stari gospodin sjedi ovdje s monoklom u oku i pjeva pjesmu o njenom srcu! Jedna infernalna slika! I šta govore ljudi da nema danas šta da se slika? Slikara nema, ali od motiva sve vrvi kao u paklu! Naslikati bi te trebalo! Ovaj tvoj iracionalni, viši smješak oko tvoje usne kad govoriš o njoj, to bi trebalo fiksirati! 37 Mensch! Diese Frau zertritt Existenzen so charmant-verbrecherisch, dass ein normaler Mensch den Verstand verlieren muss! Aber ein alter Herr mit dem Monokel vor dem Auge stimmt ein Loblied auf ihr Herz an! Das ist ein infernalisches Bild! Und da sagen die Leute, dass es heute nichts zu malen gibt? Es gibt keine Maler, aber von Motiven wimmelt es nur so wie in der Hölle! Dich müsste man malen! Dein irrationales, überlegenes Lächeln um deinen Mund, wenn du über sie sprichst, müsste man fixieren! Ignjat Glembay wischt die Einwände erzürnt weg, dem Sohn hält er vor, die Zeit mit nutzlosen Beschäftigungen zu verschwenden und ihm sowie den anderen Familienmitgliedern mit leerem Geschwätz auf die Nerven zu gehen - auch die Malerei sei nichts weiter als eine eitle Zeitvergeudung ohne Sinn und Zweck, vor allem ohne kommerziellen Ertrag. In einer - auch als „Agramer Deutsch“ bezeichneten - Mischung aus Deutsch und Kroatisch, der Sprachpraxis der Zagreber Oberschicht, drückt Ignjat seine Verachtung gegenüber Leone aus: Šteta za vrjeme! Samo se tu igraš tim farbama, und die Zeit vergeht! Nikada nisi ni jednu stvar ozbiljno uzeo u svoje ruke! So steril herumtratschen, das kannst du, ja das ja - das ist das Einzige, was du kannst! Ni jednog krajcara nisi privrijedio [. . .]. 38 Schade um die Zeit! Du spielst mit diesen Farben herum, und die Zeit vergeht! Nie hast du eine Sache ernsthaft in die Hände genommen! So steril herumtratschen, das kannst du, ja das ja - das ist das einzige, was du kannst! Keinen einzigen Kreuzer hast du verdient [. . .]. Der scharfen Kritik kann Leone zwar rhetorisch entgegen treten, er gesteht aber, dass er als Künstler inzwischen erledigt sei, er habe kein Talent. So bleibt auch die infernalische Vision einer in Blut und Schande untergehenden Familie ohne Verwirklichung auf einem Bild ein letzten Endes leerer Eindruck, der ohne künstlerische Bewältigung verpufft und nur die sich anbahnende Desintegration von Leones Persönlichkeit verstärkt. 39 Die Anspannung zwischen Vater und Sohn kommt zu einer eruptiven Entladung, als der vor Zorn bebende Ignjat Leone mehrmals heftig ins Gesicht schlägt und dieser, selbst nur noch - wie es im Nebentext heißt - „wie ein Raubtier, glembayisch und instinktiv animalisch, mit 37 Ebd., S. 80. 38 Ebd., S. 82. 39 Vgl. ebd. <?page no="168"?> A LFRED G ALL 168 blutendem Mund, bluttriefender Nase und blutüberströmten Händen hasserfüllt“ 40 - auf seinen Vater losgeht, im letzten Moment aber innehält und sich beim Waschbecken das Blut von den Händen und vom Gesicht wischt. Leone rächt sich mit anderen Mitteln: Er gesteht seinem Vater, dass er mit der Baronin Castelli, also seiner heutigen Stiefmutter, in früherer Zeit ein Verhältnis gehabt habe. Geschockt fasst sich der Vater ans Herz; diese Mitteilung, aber auch der vorherige Wutanfall und die nervliche Anspannung, verursachen einen Herzinfarkt, dem er erliegt. Für die Künstlerproblematik ist der zweite Akt insofern von Bedeutung, als Leone nicht mehr, wie noch im ersten Akt, eine Rückzugsposition einnimmt, die ihm ein unabhängiges Urteil ermöglicht. Zwar ist auch noch im zweiten Akt die bildliche Wahrnehmung das entscheidende Medium bei der Erschließung der umgebenden Welt, Leone kann aber seine als Visionen eintretenden Einsichten nicht mehr zum Bild gestalten - die in expressivem Duktus gehaltenen, infernalischen Epiphanien übersteigen die Kunst. Auch steht er nicht mehr allein als Außenseiter da. In der Konfrontation mit seinem Vater zeigt sich, dass Leone selber dem Glembay-Paradigma folgt und ebenso vom Familienverhängnis heimgesucht wird. Es gibt, dies ist vor allem an der Eruption des Hasses gegen Ende des zweiten Aktes sichtbar, auch für Leone kein Außen mehr, auf das er sich zurückziehen oder berufen könnte. Er ist mittendrin im Glembaytum und keineswegs nur der Passant auf der Durchreise. Innen und Außen kollabieren, die scheinbar so klare Opposition zwischen dem Künstler und der Familie, zwischen dem hellsichtigen Individuum und der kriminellen, in Pracht und Reichtum erstrahlenden Gesellschaft wird aufgelöst. Die Grundlagen für eine solche Gegenüberstellung sind zertrümmert. Dies offenbart sich im dritten und letzten Akt in einem furiosen Finale. Hier interessiert vor allem die Begegnung zwischen Leone und seiner Stiefmutter, Charlotte von Castelli-Glembay. Schon unmittelbar nach dem überraschenden Tod des alten Glembay stellt sich heraus, dass die Firma zahlreichen Verbindlichkeiten nicht nachkommen kann und sich ein beträchtlicher Schuldenberg angehäuft hat, der nun das Finanzhaus in den Ruin stürzt. Die Konten der Familie sind längst überzogen, der restlose Bankrott des Bankhauses, und mit ihm der Absturz des Hauses Glembay, lässt sich nicht mehr vermeiden. Leone konstatiert bitter: „Und eine ganze, schwere Vergangenheit ist wie ein toter Fisch an die Oberfläche gekommen“ 41 . In diesem Moment treffen sich Charlotte und Leone. Die Baronin, an konkreten Geschäftsgängen vollkommen desinteressiert, ist erstaunt über die äußerst reservierte Haltung Leones, bei dem sich, in einem wahren 40 Ebd., S. 91. 41 Ebd., S. 102: „I itava jedna teška prošlost isplivala je na površinu kao mrtva riba.“ <?page no="169"?> „Die Glembays“ („Gospoda Glembajevi“) von Miroslav Krleža 169 Crescendo, mehr und mehr ein unbändiger Hass Bahn bricht. Dennoch ist die Baronin bemüht, die Anfeindungen Leones, der ihr Ignoranz, Gleichgültigkeit und einen liederlichen Lebenswandel vorwirft, zu entkräften, indem sie ihm mit entwaffnender Offenherzigkeit erklärt, allein aus finanziellen Gründen Ignjat Glembay geheiratet zu haben 42 , wobei sie Leones Beleidigung, eine Hure zu sein, zurückweist und sich selber, in einem Anflug selbstironischer Betrachtung, als „erotisch intelligente Dame“ bezeichnet - auch hier in einem eigentümlichen Agramer Deutsch: To je, naravno, vrlo jednostavno, za jednu ženu izbaciti parolu „sie ist eine Dirne“! Und gerade Sie, der so mit seiner Logik herumbrilliert und herumaffektiert, upravo vi biste trebali logi nije provesti tu svoju distinkciju - zwischen einer Dirne und einer erotisch intelligenten Dame! 43 Es ist natürlich ganz einfach, einer Frau mit dem Schlagwort zu kommen „sie ist eine Dirne! “ Und gerade einer wie Sie, der mit seiner Logik herumbrilliert und herumaffektiert, gerade Sie hätten ihre Unterscheidung logischer treffen müssen - zwischen einer Dirne und einer erotisch intelligenten Dame! Die Baronin Castelli - und dies gilt mutatis mutandis auch für Angelika - erscheint in einer für Krleža typischen genderspezifischen Rolle: Sie vereint sexuelle Promiskuität und Leiden an einer patriarchalisch dominierten Gesellschaft, die Frauen keine Entfaltungsmöglichkeiten bietet und auf wenige Rollen reduziert: Sie sind Dirne, Heilige, Familienmutter oder auch leidende und mitleidende, Moral und Tugend verkörpernde Frau. Leone führt ein letztes Mal im Rückgriff auf Malerei und bildhafte Wahrnehmung seine mehr und mehr im Wahn versinkenden Eindrücke aus. Erneut sieht er in Angelika ein Bild verwirklicht, kann aber nicht mehr die Lücke zwischen der künstlerischen Vorstellung und der ihn umgebenden Realität schließen. Ihm fehlt eine Grundlage: O, gospode bože moj, zašto svi vi mislite uvijek na nekakvim podlogama? Nikada ništa nema podloge! 44 Oh, mein Gott, warum denkt ihr alle immer nur in Grundlagen? Nie hat auch nur irgendetwas irgendeine Grundlage! In einer Art negativen Epiphanie erscheint ihm die absolute Grundlosigkeit des Daseins, in der alles, Religion, Moral, Gesellschaft sowie Kunst versinkt. Die sich noch abzeichnenden visuellen Eindrücke sind für Leone nach wie vor mit Malerei korreliert, offenbaren aber eine nicht mehr geordnete und nicht mehr auf menschliches Maß bezogene Realität, sondern 42 Vgl. ebd., S. 115. 43 Ebd., S. 112. 44 Ebd., S. 122. <?page no="170"?> A LFRED G ALL 170 eine Dimension absoluter Kriminalität, die drastisch durch die Scheinhaftigkeit der zerfallenden Wirklichkeit hervordringt und dabei auch das Maß der Kunst aufsprengt, wie dies etwa am Beispiel einer neuerlichen Beschreibung eines an den Wänden des Salons hängenden Portraits ablesbar ist: Eto, gledaj ondje onog Glembaja! Svi su oni njegovu donju eljust zvali velázquezovskom crtom, a ustvari to je bio kriminal u njemu: živinski kriminal! 45 Dort, schau dir diesen Glembay an! Alle haben in seinem Unterkiefer die Manier von Velázquez gesehen, aber in Tat und Wahrheit war in ihm nur das Verbrechen: Ein tierisches Verbrechen! Die mit Wucht in Erscheinung tretende Grundlosigkeit zerstört für Leone noch die letzten verbliebenen Grundlagen einer auf Kunst und Malerei abgestützten Klarsicht in einer sonst in Unwahrheit eingehüllten Gesellschaft: Pod magnetom ne ije eti ke inteligencje ja bih još mogao da sve to sperem sa sebe, u takvoj jednoj imaginarnoj nadzemaljskoj harmoniji ja bih još mogao da na em svoj raison d’être, i moj talenat mogao bi da se obrazloži, da se potvrdi, ja bih mogao da radim, da stvaram, da živim, da ozdravim - da iza em iz toga [. . .]. 46 Unter dem Magnet einer bestimmten moralischen Intelligenz hätte ich all dies von mir abwischen können, in einer solchen imaginären, überirdischen Harmonie hätte ich noch meine raison d’être finden können, und mein Talent hätte sich dartun können, hätte sich beweisen können, ich hätte arbeiten und künstlerisch tätig sein können, hätte leben und gesund werden können - hätte aus all dem davonkommen können [. . .]. Die Einsicht in die eigene Verfallenheit, die auch das Ende des eigenen Künstlertums meint, erfolgt in dem Moment, als die Baronin erneut die Szene betritt. Sie erscheint wutentbrannt, nachdem Sie zur Kenntnis nehmen musste, dass das gesamte Vermögen, auch ihr eigenes, durch die riskanten Spekulationen des verstorbenen Mannes verloren ging. Ihr Zorn und Leones Ingrimm entladen sich in einer Kaskade von wütenden Repliken, mit denen sich die beiden gegenseitig ihren Hass an den Kopf werfen. In dieser Suada widerfährt Leone eine epiphanieartige Erkenntnis, in deren Folge sich für ihn die umgebende Wirklichkeit in undurchdringbares Dunkel zurückzieht. Wörtlich heißt es in dieser Situation des Umschlagens: „Ta rije ,Stundenhotel’ otvori Leoneu o i. Od toga momenta on vidi.“ („Dieses Wort ,Stundenhotel’ öffnet Leone die Augen. Von die- 45 Ebd., S. 123. 46 Ebd., S. 124. <?page no="171"?> „Die Glembays“ („Gospoda Glembajevi“) von Miroslav Krleža 171 sem Moment an sieht er.“) 47 Er bleibt allein mit seiner blinden Wut zurück, ergreift eine zufällig auf dem Tisch liegende Schere, rennt seiner davoneilenden Stiefmutter nach und ersticht sie im Blutrausch. Die Gewalttat, mit der sich Leone selbst in die Ahnenreihe der Glembays eingefügt hat, konkretisiert die zu Beginn des Stücks im Zwiegespräch mit Angelika erörterte Intransparenz der Realität, in der sich der Mensch, als wäre er ein Wurm im Quark, kringelt, ohne dass eine Erschließung oder Aneignung der Welt auf der Grundlage einer sicheren Basis, wissenschaftlich oder künstlerisch, vorstellbar wäre. Der Zerfall der Familie ist nicht nur Ausdruck eines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ruins, er meint auch den Zerfall von Gesellschaft überhaupt: Moral, Wissenschaft, Religion und Kunst können keine die Dunkelheit der Grundlosigkeit erhellenden Perspektiven bieten und werden selber durch die absolute Grundlosigkeit, einen Zerfall aller Werte, in Mitleidenschaft gezogen: Die Gesellschaft und ihre Basis sind zertrümmert, zerschlagen ist aber auch die Kunst und mit ihr das Künstlertum, auch die Individualität des Künstlers ist vollkommen aufgelöst und im Wahn entmenschlicht - überall manifestiert sich eine nicht überwindbare, alles durchdringende Negativität, die den gesamten Komplex von Kunst und Gesellschaft zum Einsturz bringt, ohne dass sich Konturen einer anderen Ordnung zeigen würden. In der Komödie Leda, die den Dramenzyklus abschließt und aus dem Jahr 1930 stammt, tritt mit Aurel zwar noch einmal ein Künstler auf, er ist aber schon soweit zur grotesken Schrumpfversion eines Malers verkommen, dass nicht einmal mehr ein Vergleich mit Leone Glembay möglich ist. Aurel verkörpert den rein am Geschmack einer zerfallenden Gesellschaftsschicht orientierten Kunstmaler, der Gebrauchskunst und Auftragsarbeiten anfertigt, ohne noch im Geringsten über die Bedeutung und Funktion von Kunst nachzudenken. Dabei ist diese Gesellschaft nur noch eine groteske Versammlung dehumanisierter Protagonisten, die in ihren moralisch-intellektuellen Defiziten einen gesellschaftlichen Verfall zum Ausdruck bringen, der das Vorhandensein einer noch als Welt oder Gesellschaft beschreibbaren Umwelt von Grund auf negiert: Es handelt sich um im Vakuum, im luftleeren Raum aufgehängte Puppen, deren Regungen damit erklärbar sind, dass noch jemand an den Strippen zieht, aus sich heraus entfalten sie jedoch keine Lebensdynamik mehr. Dramatisch gelöst wird dies mit der im Drama aufgegriffenen Idee, dass alle nur eine Rolle in einem unbekannten Schauspiel spielen. 47 Ebd., S. 126. <?page no="172"?> A LFRED G ALL 172 Der kroatische literaturhistorische Kontext Krleža streitet ab, in irgendeiner Weise von kroatischen Autoren beeinflusst worden zu sein. Allein die nordischen Dramatiker sowie, mit Abstrichen, echov, aber auch die Wiener Moderne sowie Karl Kraus und der Expressionismus seien wichtig gewesen. Korrigierend muss hier nachgetragen werden, dass diese Selbstbeschreibung nur teilweise korrekt ist und klare Verbindungslinien zu bestimmten Texten der kroatischen Literatur gezogen werden können. In der Forschung wird überzeugend nachgewiesen, dass gerade die Künstlerproblematik, die im Drama Die Glembays mitschwingt, sehr wohl ihre Affiliationen in der kroatischen Literaturgeschichte aufweist. So unterstreicht Tomislav Sabljak die Verbindung zu Janko Poli Kamov, speziell zu dessen in symbolistischem Duktus gehaltenen Drama Tragödie der Gehirne (Tragedija mozgova) (1907), in dem die Protagonisten im Schnittpunkt von unkontrollierbaren, psychischen Spannungen und einer unbändigen Triebhaftigkeit gefangen sind, denen mit alteuropäischen Tugenden nicht mehr beizukommen ist - die Entladung von Eros und Instinkthaftigkeit untergräbt eine auf Rationalität und Humanität setzende, sich ihrer Moral bewusste, individuelle oder gesellschaftliche Identität. 48 Dies gilt auch, wenn die Künstlerproblematik in gattungsübergreifender Sicht am Beispiel kroatischer Romane der Zwischenkriegszeit erläutert wird. Denn in zahlreichen Texten ist die prekäre Stellung des Künstlers und die fragwürdige Legitimität der Kunst in der Gesellschaft ein zentrales Thema, wobei schon hier - zumindest andeutungsweise - durchschimmert, dass nicht einfach ein Gegensatz zwischen Künstler und Gesellschaft besteht, sondern Gesellschaft sich als solche überhaupt erst bilden muss, also ein soziales Vakuum, ein amorphes gesellschaftliches Umfeld einer zerrissenen Künstlerfigur gegenübersteht, die mit ihrer Reflexivität keine stabile Selbstverortung in einem amorphen Umfeld leisten kann. Die Gesellschaft hat zu wenig klare Konturen, um überhaupt als Gegenpol zur Kunst in Erscheinung zu treten, wenn sie dies trotzdem tut, so vor allem noch unter dem Gesichtspunkt, dass die kroatische Gesellschaft unter anderem gegen Ende des 19. sowie zu Beginn des 20. Jahrhunderts starken Magyarisierungstendenzen ausgesetzt war und so primär die Frage nach nationaler Selbstbehauptung interessiert. Künstler gewinnen gerade dann eine hohe soziale Anerkennung, wenn sie sich in den Dienst der Nation stellen. Und dieser Dienst kann auch nach 1918 im Zuge der erforderlichen Integration der einzelnen Nationen zu einem funktionierenden gemeinsamen Staat wiederum wichtig werden und entsprechend Unterstützung finden. Der Gegensatz zur (kroatischen) Gesellschaft zeichnet sich dort ab, wo der Künstler sich einem utilitaristischen sowie nationalpatriotischen Ansatz 48 Vgl. Sabljak (1992), S. 45-48. <?page no="173"?> „Die Glembays“ („Gospoda Glembajevi“) von Miroslav Krleža 173 zu entziehen versucht und dann Gefahr läuft, in eine unvermittelbare Isolation zu geraten. Ein Beispiel für eine Darstellung der spannungsgeladenen Beziehung zwischen Künstler und Gesellschaft ist für die kroatische Literatur der Zwischenkriegszeit etwa Ulderiko Donadinis Spießruten (Kroz šibe) aus dem Jahr 1921, in dem der junge Künstler Semi , eine sensible, introvertierte Person, an der Scheinhaftigkeit einer in kleinbürgerlicher Borniertheit erstarrten Umgebung leidet und eine Existenz in Einsamkeit fristet, aus der ihn seine intellektuelle und künstlerische Statur nicht herauszuführen vermögen. Oder schon früher hat Ksaver Šandor Gjalski (eigtl. Ljubo Babi ) (1854-1935) im Roman Radmilovi (1893) das Schicksal eines kroatischen Schriftstellers geschildert, der in der Regierungszeit Khuen- Hédervárys, die gekennzeichnet war durch eine forcierte Magyarisierungspolitik, über den Sinn und Zweck einer eigenen kroatischen Literatur nachdenkt und nicht mehr ohne weiteres davon ausgeht, dass die Aufgabe der nationalen Emanzipation im Sinne der Schaffung, Bewahrung und Tradierung einer kroatischen Nationalkultur eine bereits überzeugende Legitimierung der Literatur darstellt. In der Romanfigur zeichnet sich die ernüchternde Einsicht ab, dass ein nationalpatriotisches Programm zur Sicherstellung der Legitimität der Kunst sowie der Literatur nicht ausreicht, und möglicherweise für die Existenz einer Nation auch gar nicht erforderlich ist; denn in bedrückter Stimmung hält es die Titelfigur durchaus für vorstellbar, dass kleine, in Imperien integrierte beziehungsweise zwangsintegrierte Nationen als Satelliten großer Völker oder politisch zusammengehaltener Ordnungen eine wenn auch prekäre Existenz fristen und sich genau damit auch abfinden könnten, so dass eine im Geiste der nationalen Emanzipation verfasste Literatur funktionslos würde - und mit ihr auch der Schriftsteller. 49 Hier zeichnet sich also schon in Umrissen die Möglichkeit einer aufgrund gesellschaftlicher Desintegration in ein Vakuum fallenden Kunst ab, ist aber noch als Problem politisch-zeitgeschichtlich erfasst, also noch nicht wie bei Krleža Ausdruck einer prinzipiellen Infragestellung von Gesellschaft und der sich daraus ergebenden Frage nach einer alternativen Vergesellschaftung. Gjalskis Text ist stärker auf die im 19. Jahrhundert immer wieder, z. B. bei Stanko Vraz 1836, aufgeworfene Frage bezogen, welche Literatur die Kroaten brauchen und ob angesichts der Tatsache, dass die Nation erst gebildet werden muss, und zwar im doppelten Wortsinne, anspruchsvolle Kunst und Literatur nicht einfach sinnlos und überflüssig seien. 50 Krleža spitzt diese Problematik weiter zu, indem in Die Glembays nicht nur die Fragwürdigkeit der Kunst in einer nicht aufnahmewilligen Ge- 49 Vgl. Palme (1970). 50 Zum „Kampf um das Publikum“ vgl. etwa die entsprechende Weisung von S. Vraz an I. Mažurani aus dem Jahr 1836; Frangeš (1995), S. 304. <?page no="174"?> A LFRED G ALL 174 sellschaft thematisiert wird, sondern die für das Dilemma in Gjalskis Roman noch gültige, spannungsgeladene Gegenüberstellung von Kunst und Gesellschaft in sich zusammenbricht: Es gibt weder Kunst noch Gesellschaft mehr, es offenbart sich allein ein grundloses Geschehen, das sich schließlich im blutigen Verbrechen konkretisiert: Wie sich Würmer im Quark kringeln, so zucken die Menschen in einer grundlosen und daher nicht mehr welthaft erfahrenen Wirklichkeit. Diese Negativität ist auch als das besondere Verhängnis der Glembays zu sehen, meint aber mehr als nur den Untergang einer Familie. In die Sprache eingegangen ist aus Krležas Drama der Ausdruck „Glembajevština“ - das „Glembaytum“ - für die Bezeichnung einer in sich selbst verstrickten Gesellschaft, die sich nicht aus ihrer Befangenheit befreien kann und noch beim Versuch, sich aus der eigenen Situation zu befreien, nur das Verhängnis, unter dem sie steht, weiter verstärkt. Der Begriff meint mithin eine in ihren Verbrechen und Exzessen verstrickte Gesellschaft, die keine Kraft zur Selbsterneuerung aufbringt. Die dramatische Darstellung der Desintegration einer Familie legt zugleich den Blick frei auf einen gesellschaftlichen Wandel sowie die zerfallenden moralischen, religiösen, politischen sowie kulturellen und künstlerischen Ressourcen einer Gesellschaft. Das Drama fokussiert den totalen Bankrott einer von der Geschichte und der eigenen Befangenheit ins Abseits gestellten Schicht. Es gibt am Ende weder eine Gesellschaft, noch eine Kunst, die einander begegnen oder sich gegenseitig bekämpfen könnten - es gibt nur die Dunkelheit, in der man sich bewegt, eben den Quark, in dem sich die Protagonisten wie Würmer kringeln. Fazit: Vom Künstler zum Intellektuellen Im Drama ist im Vergleich mit den bisher in der Ringvorlesung diskutierten Stücken eine eigentümliche Akzentverschiebung bemerkbar: Aus dem Problemfeld Künstler und Gesellschaft wird das Problem der Vergesellschaftung; das transzendentale Apriori, dass immer schon eine Gesellschaft existiert, in der dann die Position des Künstlers oder der Kunst fragwürdig ist, wird überschritten und erweitert zur Frage, wie denn Gesellschaft überhaupt entsteht und dann auch erkannt werden kann. Damit drängt sich die Problematik einer erst noch zu leistenden und zumindest als Aufgabe gestellten Vergesellschaftung in den Vordergrund. Aus dem Künstlerdrama mit Bewusstseinsproblematik wird das gesellschaftsanalytische Drama auf der Basis einer unorthodox-marxistischen Reflexion gesellschaftlicher Bedingtheiten. Auf den ersten Blick verblüffen die Parallelen zu Texten anderer Autoren, die gemeinhin mit dem Komplex „Mitteleuropa“ in Verbindung gebracht werden und die sich in ihren literarischen Texten oder Essays <?page no="175"?> „Die Glembays“ („Gospoda Glembajevi“) von Miroslav Krleža 175 besonders mit der Spätzeit der Habsburger Monarchie befassen. Auch Robert Musil hat in Der Mann ohne Eigenschaften eine kakanische Gesellschaft entworfen, die in Distanz zum realen Geschehen, in einer unaufhebbaren Befangenheit („Phantasie des Nichtgeschehenen“), in realitätsferner Verspieltheit und - stärker gegriffen - existenzieller Verlogenheit (die ominöse „Mitmachung seiner selbst“) versinkt, ohne dass ein innerer Schwerpunkt die politisch-gesellschaftliche, aber auch die moralische Ordnung noch ausrichten und stabilisieren würde. 51 Oder man denke an Hermann Broch, der in seiner 1947/ 48 entstandenen Studie Hofmannsthal und seine Zeit auf der Grundlage seiner intensiven Beschäftigung mit dem Wertezerfall in der Moderne gerade in der Gesellschaft und Kultur der Donaumonarchie einen elementaren Ausdruck des diagnostizierten „Wert-Vakuums“ sieht, wobei Wien sogar als das „Zentrum des europäischen Wert-Vakuums“ erscheint und die „österreichische Substanzlosigkeit“ keine neuen Werte, die den Zerfall kompensieren könnten, stiftet. 52 In frappierender Analogie diagnostiziert auch Broch im Rückblick auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Donaumonarchie eine eigentümliche Schwammigkeit der politischen Ordnung, die als „eine Art Gallert-Demokratie“ 53 beschrieben wird. Wenn man den Aspekt der Verspieltheit und den Geist der - wie es bei Broch heißt - „fröhlichen Apokalypse“ der „Backhendlzeit“ 54 beiseite lässt, scheint die in Krležas Drama dargestellte Erosion einer Familie aus der Zagreber Oberschicht analog zur Situation der Aristokratie und des Großbürgertums in Österreich-Ungarn zu sein. Jedoch ist in Die Glembays die zweifellos in den Kontext „Mitteleuropa“ passende Problemkonstellation stärker noch als z. B. bei Musil oder Broch aus einer bewusst gesellschaftlichen und politischen Randsituation entworfen; der kroatische Blick erfolgt von der Peripherie her und thematisiert mit dem finanziellen Ruin, dem Zerfall der gesellschaftlichen Position sowie der moralischen Desintegration der Elite zugleich die kulturell und politisch Ausgeschlossenen, die, wie Fanika Canjeg, deren Mann sowie deren Großmutter, gar nicht erst Zugang finden zu einer sich abschottenden Gesellschaft. Die bei Krleža auch aus seiner unorthodox-marxistischen Haltung ableitbare Fokussierung der Gesellschaft als einer vor allem politisch bestimmten Erscheinung, in der die fatale Dialektik von Inklusion und Exklusion zur Entfaltung kommt, grenzt ihn von der kulturellen Werttheorie Brochs ebenso ab wie von dem mit essayistischen Exkursen durchsetzten epochalen Romanwerk Musils. Auch wenn sich Krleža gelegentlich gegen die Vorstellung ausgesprochen 51 Vgl. Musil (1960), S. 31 ff., 170, 450 f. 52 Vgl. Broch (2001); teilweise auch Broch (1997), S. 114-175 (hier besonders: S. 149, 153 f., 164, 171 zur „österreichischen Substanzlosigkeit“). 53 Broch (1997), S. 171. 54 Ebd., S. 146. <?page no="176"?> A LFRED G ALL 176 hat, dass es so etwas wie „Mitteleuropa“ oder einen „mitteleuropäischen Komplex“ gebe, da die einzelnen Nationen und Kulturen nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden könnten, steht außer Frage, dass die gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge, die sich aus dem geschichtlichen Erbe der Habsburger Monarchie ergeben, auch auf ihn einen wichtigen Einfluss ausüben. Mitteleuropa meint dann nicht einen bestimmten auf Literatur und Kunst zurückbeziehbaren Raum, der Gemeinsamkeiten umgreift, sondern einen kulturellen Kontext, aus dem bestimmte literarische Traditionen, aber auch Reflexionsweisen, hervorgehen. 55 Entscheidend ist für die Beschäftigung mit der Künstlerproblematik die Tatsache, dass in Die Glembays der Künstler keine konsequente Außenseiterposition einnimmt; er gehört der Familie und damit der Oberschicht an und steckt - in der Figur Leone Glembays - auch bis über beide Ohren in deren Verhängnis, dem er doch so gerne entkommen möchte. Dabei ist die Kunst zwar noch das Medium luzider Erkenntnis, freilich schafft Leone Glembay aber keine Bilder mehr, allein in der Betrachtung und Erkenntnis der Umwelt macht sich bei ihm noch das Künstlertum bemerkbar. Entscheidend ist dann die Volte am Ende des Dramas, als es nämlich ebenfalls die bildlich verfasste Wahrnehmungssowie Reaktionsweise Leones ist, die den Ausschlag für den Ausbruch der hemmungslosen Gewalt gibt, der die Baronin zum Opfer fällt. In diesem plötzlichen Umschlag ist die Kunst und eine an ihr orientierte Kognition nicht mehr Medium der Luzidität, sondern im Gegenteil Motor einer sich machtvoll durchsetzenden Entmenschlichung der Hauptfigur, die, vom wahrgenommenen Bild der Leere und der aufscheinenden Grundlosigkeit angetrieben, zum blindwütigen Mörder wird. Auch die Kunst gerät in den Sog des alles mitreißenden Zerfalls. Sie selbst ist ein Faktor, der zum Zusammenbruch der moralischen und sozialen Ordnung beiträgt und das Verbrechen begünstigt - ihre Rolle als Korrektiv einer bürgerlichen Ordnung ist endgültig ausgespielt. Der Künstler - Leone Glembay - ist nicht imstande, die familiären und gesellschaftlichen Bedingungen zu überschreiten: Die Kunst transzendiert die Gesellschaft nicht, ebenso wenig vermag sie bleibende Werte zu stiften oder in der prekären Position des Wahnsinns ein Asyl in der triumphierenden Gesellschaftsordnung zu bieten: Sie ist selbst ein Medium, das an der Implosion der Gesellschaft beteiligt ist. Nach dem auch aus heutiger Sicht wichtigsten dramatischen Werk wird Krleža erst wieder deutlich nach dem Zweiten Weltkrieg zum Drama zurückkehren. Areteios (Aretej) wird 1959 aufgeführt werden und das erste nach der Dramentrilogie verfasste Theaterstück sein. Areteios ist eine 55 Zu Krležas kritischer Auseinandersetzung mit dem Begriff „Mitteleuropa“ vgl. Matvejevi (1969), S. 63 ff. <?page no="177"?> „Die Glembays“ („Gospoda Glembajevi“) von Miroslav Krleža 177 dramatische Phantasie, die sich durch Zeit und Raum, historische Epochen und unterschiedliche Topographien, sowie Mythos und Geschichte bewegt und damit eine nicht-realistische Dramatik der Imagination bezeugt. In diesem Drama überschneiden sich das dritte nachchristliche Jahrhundert und das Jahr 1938. Die Simultaneität ist dramatisches Prinzip, das die ewige Wiederkehr der gleichen Grundspannung in der condition humaine demonstrieren soll: Staatlich-politische Zwangsgewalt trifft auf den Willen des Individuums, sich als authentisches Subjekt mit Würde und Vernunft im Sog der Geschichte zu behaupten. In dieser Konstellation ist nicht mehr der Künstler im Fokus, sondern der kritische Intellektuelle, der in den späteren Texten Krležas generell in den Vordergrund rückt. Die Problematik des Künstlers wird erweitert und vertieft zur Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten autonomer Individualität angesichts der Geschichte, die den Einzelnen in seiner Individualität restlos aufzulösen scheint. Das Paradigma des Künstlers wird abgelöst durch dasjenige des Intellektuellen, der sich nur schwer, wenn überhaupt, in der zeitgenössischen Gesellschaft eine anerkannte Autonomie verschaffen und behaupten kann. Dieses Bild der Geschichte deckt sich mit demjenigen des skeptischen Humanisten Miroslav Krležas, dem, bei aller bekundeten Sympathie für den Marxismus, das Vertrauen in eine teleologische Entfaltung der Geschichte oder in einen historischen Prozess vollkommen fehlt. Im Drama Aretej tritt diese Umcodierung der Künstlerproblematik zur Frage nach dem Ort des Intellektuellen in der Gesellschaft und angesichts der Geschichte ebenso zutage wie in den großen mehrbändigen Romanwerken Bankett in Blitwien (Banket u Blitvi) oder Die Fahnen (Zastave). 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Sicher spielte hier für ihn die Erfahrung des Ersten Weltkrieges und der russischen Revolution von 1917 die entscheidende Rolle. Diese Bodenlosigkeit, dieser Verlust aller Werte geradezu, lässt sich für ihn in verschiedenen Bereichen aufweisen, weshalb Witkacys dramatisches Werk um eine Handvoll Themen und Typen kreist, die in seinen Stücken in je unterschiedlicher Breite und Tiefe in den Vordergrund treten, damit im ursprünglichsten Wortsinn „eine Rolle spielen“. Das dramatische Gesamtwerk erinnert in dieser Hinsicht an ein Orchesterstück, in dem die verschiedenen Instrumentengruppen zusammenwirken, im weiteren Verlauf einzelne in den Vordergrund treten, die Führung übernehmen, sodann wieder im Ensemble versinken und wieder von anderen Gruppen oder von kurzzeitig solistisch agierenden Einzelinstrumenten abgelöst werden. Gemeinsam ist diesen Bereichen, dass sie allesamt zugleich Teil wie auch Symptom einer umfassenden Verunsicherung, mehr noch: einer Erschütterung sind, die nicht etwa schon abklingt, sondern deren katastrophale Folgen erst noch bevorstehen. Im Folgenden soll dies, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder abschließende Systematik, an einigen Beispielen aufgezeigt werden, und zwar zum einen anhand der Bereiche Macht, Machterlangung, Machtverlust, zum anderen mit Blick auf die Erschütterung des gesamten Weltbildes durch die Einsichten der zu Zeiten Witkacys neueren Mathematik und Physik. <?page no="182"?> E WA M AKARCZYK -S CHUSTER UND K ARLHEINZ S CHUSTER 182 Üblicherweise wird Witkacys Katastrophismus in erster Linie auf den politisch-gesellschaftlichen Bereich bezogen. Das Individuum wird im politischen Rahmen durch das Erstarken totalitärer Systeme bedroht; dies geht einher mit der Vermassung, durch die das Individuum erdrückt, zum Automaten, zu einem unbedeutenden Bauteil in einem gewaltigen Mechanismus degradiert wird. Tatsächlich ist dieses Bild allerdings zu ergänzen durch die Katastrophen, die sich gewissermaßen auf der dem menschlichen Handeln gegenüberliegenden Seite, in Mathematik und Naturwissenschaft, abspielten und gerade hier - in den Feldern, in denen der menschliche Geist sich vorzugsweise mit seinen eigenen Hervorbringungen befasst - den jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendealten festen Untergrund aus klassischer Logik, Mathematik und Physik unterspült haben. Was aber bleibt dann am Ende als Hoffnung, wenn anscheinend die ganze Spannweite des Menschlichen von dieser Katastrophenstimmung erfasst ist? Religion und Philosophie sind es letztlich nicht, zumindest nicht für Witkacy. Die Religion spielt für ihn im Grunde gar keine Rolle, wie sie überhaupt im 20. Jahrhundert weitgehend ausgedient hat. Aber auch die Philosophie kann diesen Part nicht übernehmen. Witkacy war zwar - wenn auch selbst kein systematisch verfahrender Denker - Anhänger einer an Leibniz’ Monadologie angelehnten Ontologie. Diese dient allerdings eher dazu, den Individualismus theoretisch zu rechtfertigen denn ihn praktisch aus der Gefährdungszone in Sicherheit zu bringen. Auch der Rückzug in das als unpolitisch gedachte Private, ins Idyll des Zwischenmenschlichen, in die innere Emigration gewissermaßen, stellt keine Lösung dar. Im Gegenteil: Dieser Bereich ist eher Kriegsgebiet als Ruheraum, denn er wird überschattet von der geschlechtlichen Triebhaftigkeit des Menschen - auch wenn diese von Witkacy durchaus genüsslich ausgebreitet wird. Witkacys Frauengestalten etwa sind fast durchgängig und von frühester Jugend an skrupellose Verführerinnen, wobei es letztlich gleichgültig ist, ob es sich um intelligente oder gar gebildete Frauen handelt oder um naive, billige Schönheiten mit dubiosem Vorleben, ob man es mit Nymphomaninnen zu tun hat oder mit frigiden Frauen, die sich daran weiden, die nach ihnen lechzenden Männchen vor unbefriedigter Gier buchstäblich heulen zu sehen. Entscheidend ist die unerklärliche erotische Ausstrahlung, die durch geistige Fähigkeiten weder ausgesprochen gefördert noch umgekehrt behindert wird, sondern hierdurch höchstens eine besondere Ausrichtung hinsichtlich ihrer Zielgruppe erfährt. Gemeinsam ist all diesen Frauen, dass sie - was die Männer angeht - die mit ihrer Ausstrahlung verbundene Macht zu genießen und sie fallweise auch zur Durchsetzung ihrer Zwecke einzusetzen wissen. Das Verhältnis der Frauen untereinander ist durch beständige Rivalitäten bis hinunter zur Zickenhaftigkeit gekennzeichnet. Die permanenten weiblichen Verführungsversuche gelingen natürlich nur, wenn ihnen auf <?page no="183"?> Am Ende die Kunst 183 der Seite der Männer eine entsprechende Verführbarkeit entgegensteht. So wie die Frauen in Witkacys Stücken im Regelfall Dämoninnen der Verführung sind, so sind umgekehrt die Männer, unabhängig fast von Bildung oder sozialer Position, bis zur Selbstaufgabe Opfer ihrer eigenen zügellosen Gier. Selbst das mathematische Jahrhundertgenie „Tumor Hirnriss“ (poln.: „Tumor Mózgowicz“) aus dem gleichnamigen Stück erliegt den ganz und gar nicht exklusiv auf ihren Stiefvater gerichteten Verführungskünsten seiner Stieftochter in einem Maße, dass er regelrecht um den Verstand gebracht wird und die Fortsetzung seines mathematischen Lebenswerkes gefährdet scheint. So sagt er: Issi, Issi [gemeint ist seine ihn verführende und erfolgreich in Konkurrenz zur eigenen Mutter tretende Stieftochter, Anm. d. Verf.], was ist die ganze Mathematik und das absolute Wissen verglichen mit einem Quadratzentimeter deiner Haut. 1 Also noch einmal: Was bleibt als Hoffnung, die sich dem Katastrophismus entgegenstellen lässt, als Fundament für einen Neuaufbau, als Basis des Menschlichen, und das heißt für Witkacy auch immer: des Individuums? Für Witkacy ist dies am Ende die Kunst, und zwar im Besonderen: Poesie und Theater, die nach seiner Auffassung überall dort existieren müssen, wo der Mensch als Mensch auftritt. Die Kunst ist das ureigenste Element des Menschlichen - und der Mensch ist (in Anlehnung an Schiller) nur dort eigentlich Mensch, wo er spielt, d. h. Kunst schafft. Umgekehrt ist damit aber auch die Kunst, eben wegen ihrer exponierten Stellung, eine besonders gefährdete Ausdrucksform des Menschlichen. Wenn Menschentum und Kunst so eng miteinander verflochten sind, dann kann, dann muss die Vernichtung des Individuums damit einsetzen, die Kunst zu zerstören. Betrachten wir nun aber, bevor wir zur Lösung übergehen, zunächst einmal Witkacys Szenario. Beginnen wir mit dem in der Forschung bereits hinreichend bestellten Feld der Macht, der Machterlangung, des Machtverlustes (im gesellschaftlichen und politischen Sinne), innerhalb dessen Witkacy uns ein ganzes Spektrum verschiedener Ausformungen von Macht, genauer gesagt: von Absoluter Macht, von Gewaltherrschaft vorführt, in denen der Mensch zum Werkzeug degradiert wird. 2 1 „Iziu, Iziu, czym e jest ca a matematyka i absolutna wiedza wobec jednego kwadratowego centymetra twojej skóry.“ (I, S. 242). Die Wiedergabe der Zitate folgt der von J. Degler betreuten und im Pa stwowy Instytut Wydawniczy erschienenen Ausgabe der Gesammelten Werke S. I. Witkiewiczs (Warszawa 1992 ff.), hierin wiederum den „Dramaty I-III“ (Warszawa 1996 ff.), zitiert als I, II und III plus Seitenzahl (siehe Witkiewicz (1992 ff.)). Die deutschen Übertragungen stammen von Makarczyk & Schuster. 2 Für das Folgende vgl. Makarczyk-Schuster (2004), insb. S. 16 ff. <?page no="184"?> E WA M AKARCZYK -S CHUSTER UND K ARLHEINZ S CHUSTER 184 Mit am schärfsten gezeichnet findet sich dieser Themenkreis in dem Stück Gjubal Zauderzar (poln.: Gyubal Wahazar), dessen titelgebende Hauptfigur ein jähzorniger, in seinen Wutausbrüchen geradezu lächerlich wirkender, letztlich geistig beschränkter, naiver, jedoch großspurig daherredender und sehr von sich selbst eingenommener Gewaltherrscher ist, geradezu ein vorweggenommener Mussolini, angesichts dessen sich die Frage aufdrängt, aufgrund welcher besonderen Eigenschaften er eine derartige Machtposition, die er für ebenso selbstverständlich gerechtfertigt hält wie viele seiner Untertanen, überhaupt erlangen konnte und vor allem, wie er die Träger der erforderlichen Machtinstrumente (also Geheimpolizei, Militär, Folterknechte, etc.) unter seine Kontrolle zu bringen in der Lage war. Das Ganze erinnert ein wenig an das Konzept von Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider, in dem die Einschüchterung, der Bann der Macht, die Furcht vor der Macht die Untertanen davon abhält, die offenkundige Tatsache der Nacktheit des Kaisers zuzugeben. Sowohl bei Andersen wie im Gjubal ist es übrigens ein Kind, das - in seiner entwaffnenden Direktheit - die Entzauberung des Popanzes und damit seinen Machtverlust bewirkt. Eine Kostprobe soll genügen, um einen Eindruck von der Person Gjubals zu vermitteln. Gjubal spricht zu den in seiner Residenz wartenden, eingeschüchterten Bittstellern zu Beginn des I. Aktes, wie bei fast allen seinen Auftritten, mit Schaum vor dem Maul: Haaaaaaaaa! ! ! Du Saukerl, du Zittergras! ! Du furunkulöses Schmarotzergezücht! ! ! ! [. . .] Du wagst es, mit einem zerknüllten Papier zu mir zu kommen und unterstehst dich auch noch, mit „Fürst“ zu unterschreiben? Was? Du Krüppel! Du mehrlöchrige Arschgeige! ! [. . .] Hört mir zu! ! ! Ich verkündete euch bereits, dass ihr vor mir alle gleich seid. Du, du alte Kröte, und du, du degenerierter Stadttrottel, und du, du Flittchen, und du, du armselige Hungerkralle. [. . .] Ihr seid nichts, absolut nichts. Euretwegen nehme ich das Allerschwerste auf mich: die völlige Einsamkeit. Keiner ist mir ebenbürtig. Kein Kaiser und kein König - ich nämlich schwebe in einer anderen Geistessphäre. Ich bin ein Genie des Lebens, von solcher Größe, dass ein Napoleon, ein Cäsar, ein Alexander und dieser ganze - Schnickschnack nichts ist im Vergleich zu mir: Staubkörnchen, genau wie ihr! Begreift ihr das überhaupt, ihr Strohköpfe? Ich habe ein Hirn wie ein Fass. Ich kann werden, was ich will, was immer ich mir erträumte. Versteht ihr das? Hää? ? 3 3 „Haaaaaaaaa! ! ! Ty wis ucho, ty trzepiecino! ! Ty w growaty gnidoszu! ! [. . .] Ty miesz przychodzi z pomi tym papierem i jeszcze miesz podpisywa si ,ksi ’? Co? Ty krzywulcu! Ty wieloszparkowy syzygambie! ! [. . .] S ucha ! ! ! Mówi em, e wobec, mnie wszyscy s równi. Ty, stara ropucho, i ty, zdegenerowany miejski chamie, i ty, lafiryndo, i ty, wielki zdechlaku. [. . .] Jeste cie nic, absolutnie nic. Dla was oddaj si rzeczy najtrudniejszej: zupe nej samotno ci. Nie mam równych sobie. Nie tak jak cesarze i królowie - ja jestem w innym wymiarze ducha. Jestem geniusz ycia tak wielki, e Napoleon, Cezar, Aleksander i tym podobne fidrygasy - to jest nic wobec mnie: py ki, takie same jak wy! Rozumiecie, suszone klapzdry? <?page no="185"?> Am Ende die Kunst 185 Das Gegenbild zur Erlangung unumschränkter Macht aufgrund einer unerklärlichen - nennen wir es: „Ausstrahlung“, findet sich in dem Stück SIE (poln.: ONI) in Form einer eher kalt berechnenden und rational handelnden militärischen Machtclique um die Figuren Abloputo und Tefuan, bei denen zwar durchaus plausibel erscheint, wie sie an die Macht gelangt sein könnten, aber unklar bleibt, was sie mit dieser Macht eigentlich bezwecken wollen. Jedenfalls geht es ihnen nicht um persönliche Machtgier. Ihr Idealbild ist das einer Gesellschaft, die einer im Gleichschritt marschierenden Kompanie gesichtsloser, entpersonalisierter Soldaten ähnelt. Womöglich könnte dies - aus deren Sicht - als durchaus positiver Zweck gedeutet werden: Die Masse erscheint ihnen als zur Selbstregierung, ja schon zur Gestaltung ihres eigenen Lebens untauglich, so dass es das Beste ist, sie sich eben nicht ausleben zu lassen, sondern zu disziplinieren. Es stünde bei dieser Art der Gewaltherrschaft die fast kindlich-rührende Vorstellung einer der Beruhigung des Gemütes dienenden Ordnung im Hintergrund. Die Menschenwelt würde dann nicht durch die Unberechenbarkeit des Individuums irritiert, sondern böte den erfreulichen Anblick eines schnurrenden Maschinchens. Für diese Annahme spricht auch eine leicht melancholische Grundstimmung der Machthaber, die ohne Begeisterung, sich nach eigenem Eindruck geradezu persönlich aufopfernd, das Unwesen des Individuums zu zähmen entschlossen sind - und dabei doch selbst schon an diese Mission im Innersten nicht mehr glauben wollen. Auch hier eine Kostprobe, der Ausschnitt eines Dialoges zwischen Tefuan und Abloputo, gegen Ende des Stückes. T EFUAN : Ich weiß, ich weiß. Unsere Gottheit ist der Automat. Die alte Gottheit war ein unumschränkter, boshafter und sinnenfroher Tyrann, der das Leben liebte, unser menschliches Leben. Heute liebt das keiner mehr. Nicht die Gottheiten meine ich - sondern: niemand liebt das Leben. So ist das eben. Siehst du, dass ich selbst an nichts mehr glaube - nicht mal mehr an den Automatismus. Rüdenblut! An nichts glaube ich mehr - und Schluss. [. . .] A BLOPUTO : Ja, alles ist vergangen, nur wir sind geblieben. Die Posse mit der Geheimregierung aber müssen wir zu Ende spielen, genau wie unsere eigene. So wie du in der Kompanie eine Wodkaflasche leersaufen musst, ob du Ja mam mózg jak beczka. Móg bym by , czym bym tylko zechcia , czym by mi si tylko zamarzy o. Rozumiecie? H ? ? “ (II, S. 215 f.). <?page no="186"?> E WA M AKARCZYK -S CHUSTER UND K ARLHEINZ S CHUSTER 186 nun willst oder nicht, müssen wir unsere Komödie mit der Geheimregierung bis zum Ende weiterspielen, und das war´s dann. [. . .] 4 Bleiben im einen Fall - Gjubal - die Wege zur Macht unerfindlich, so sind im anderen deren Zwecke unscharf. Hier wie dort, ob die Gewaltherrschaft nun der persönlichen Ausstrahlung eines Verbrechers entspringt oder dem Einsatz kühl kalkulierter militärischer Macht, das Individuum bleibt auf der Strecke und wird ersetzt durch das Konzept des menschlichen Automaten. Witkacys Diagnose in dieser Hinsicht ist eindeutig: Die Zerstörung des Menschlichen ist nicht nur schon eingeleitet, sondern bereits wirksam. Die Witkacys Werk zeitlich nachfolgenden totalitären Systeme faschistischer und kommunistischer Ausprägung haben seine Prognosen leider bestätigt. Eine Neigung zum Totalitarismus scheint der Moderne aus sich selbst heraus innezuwohnen. Dass die Welt gewissermaßen aus den Fugen geraten ist, wird von Witkacy auch auf der dem menschlichen Handeln gegenüberliegenden Seite, in Mathematik und Naturwissenschaften, wahrgenommen, zwei Bereichen, denen in der bisherigen Witkacy-Forschung nicht die Rolle zugemessen wurde, die sie eigentlich verdienen. Sogar die wie selbstverständlich als absolut gesetzten Anschauungsformen Raum und Zeit sind in den Ansätzen, die in den Relativitätstheorien Einsteins mündeten, ins Wanken geraten. Nicht ohne Grund wird im allgemeinen Sprachgebrauch der Physik des 20. Jahrhunderts die „klassische“ (also Newtonsche) Mechanik gegenübergestellt, damit einen Bruch, einen Paradigmenwechsel bezeichnend. Witkacy greift daher in seinen Stücken wiederholt in unterschiedlicher Ausprägung auf Themen aus der Mathematik und der Naturwissenschaft zurück. Was Witkacys Verhältnis zur Mathematik und Naturwissenschaft seiner Zeit angeht, kann nur gelten, was sich über das Verhältnis eines Autors zu seinem Werk überhaupt sagen lässt, nämlich, dass die Grenzen des Autors die Grenzen seines Werkes bezeichnen. Das heißt: Die Figuren seiner Dramen können natürlich nicht mehr über Mathematik und Physik „wissen“ als Witkacy selbst. Umgekehrt lässt sich aus einer möglicherweise oberflächlichen, popularisierenden, holzschnittartig bis zur Banalität vereinfachenden Sachkenntnis der Figuren nicht auf eine entsprechend 4 T EFUAN : „Wiem, wiem. Bóstwo nasze jest automat. Bóstwem dawnym by samow adny, z o liwy, rozkoszny tyran, który kocha ycie, nasze ludzkie ycie. Dzi nikt go nie kocha. Nie bóstw - ale nikt nie kocha ycia - ot, co. Widzisz, e ja sam nie wierz w nic - nawet w automatyzm. Psiakrew! W nic nie wierz , i koniec. [. . .]“ A B OPUTO : „Nic nie ma, ale my zostali my - Tajny Rz d i nasz komedi do ko ca rozegra musimy. Tak jak butelk wódki rozpi musisz, czy chcesz, czy nie chcesz, w kompanii, tak i my musimy rozegra nasz Tajny Rz d, i to wszystko. [. . .]“ (I, S. 463). <?page no="187"?> Am Ende die Kunst 187 beschränkte Kundigkeit des Autors zurückschließen. Es könnte durchaus sein, dass er - gegen eigenes besseres Wissen - die Figuren halbverdaute Banalitäten von sich geben lässt, um gerade diese weit verbreitete Banalisierung, bei der sich alles in ihm sträuben muss, darzustellen. In welcher Tiefe Witkacy nun tatsächlich mit den neueren Theorien seiner Zeit vertraut war, lässt sich mit letzter Gewissheit nicht mehr feststellen und aus seinem Werk auch nicht mit Sicherheit rekonstruieren, ist aber letztendlich auch unerheblich. Es geht hier nicht um die Darstellung der Person „Stanis aw Ignacy Witkiewicz“, sondern um die Brechung bestimmter Zeitfaktoren in einem für die Bühnenpraxis vorgesehenen literarischen Gesamtwerk. Gleichwohl müssen Witkacys Kenntnisse in Mathematik und Naturwissenschaften, wie sich aus den Äußerungen seiner Figuren schlussfolgern lässt, doch weit überdurchschnittlich gewesen sein und sogar diejenigen eines Durchschnittsintellektuellen seiner Zeit überstiegen haben. Es ist anzunehmen, dass Witkacy auch in diesem Bereich - wie in den meisten anderen - autodidaktisch verfuhr. Witkacy hatte nie eine öffentliche Schule besucht, sondern Privatunterricht genossen und nur kurzzeitig studiert. Dieser Bildungshintergrund, verbunden mit einer skalpellscharfen Intelligenz, die ihn schnell den Kern einer Sache erkennen ließ - mit Details gab er sich weniger ab; ihn interessierte eher der Wald als die Bäume - und einem nicht stillbaren Interesse an allem und jedem, einer weltoffenen Neugier, zeigt im Fall Witkacys in besonderer Ausprägung seine Vor- und seine Nachteile: Er konnte mit wesentlich größerer Unbefangenheit an bestimmte Fragen herangehen bzw. sich mit Theorien auseinandersetzen, umgekehrt dürften in vielen Bereichen die Voraussetzungen gefehlt haben, ein Werk wirklich so zu verstehen, wie es gemeint war, geschweige denn, es in einen größeren Zusammenhang einordnen zu können. Beginnen wir im Bereich der Wissenschaften mit einer die Seele betreffenden Erschütterung, die von Witkacy erstaunlicherweise nicht sogleich in sein katastrophistisches Weltbild eingegliedert, sondern im Gegenteil zum Thema einer Komödie gemacht wird. Der in Witkacys Hauptschaffensphase fallende Neuansatz der Psychoanalyse und verwandter Richtungen wird von ihm zwar offenkundig zur Kenntnis genommen und in Ein Irrer und ’ne Nonne (poln.: Wariat i zakonnica) sogleich zum Mittelpunkt eines ganzen Stückes gemacht; es bleibt aber trotzdem auffällig, welch geringe Spuren diese Theorien - allein schon quantitativ - ansonsten hinterlassen haben. Offenbar hat die Psychoanalyse, nach der die Seele gewissermaßen auch nicht mehr so war wie zuvor - sie von daher also bestens in Witkacys Denken gepasst hätte - auf ihn keinen tieferen Eindruck gemacht. Auch in dem genannten Stück selbst findet eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen Theorien eigentlich nicht statt, sie sind im Gegenteil nur Anlass zu Parodie und Spott. Etwa, wenn Witkacy <?page no="188"?> E WA M AKARCZYK -S CHUSTER UND K ARLHEINZ S CHUSTER 188 sich über die Technik der Freien Assoziation und über die unwissenschaftliche Eigentümlichkeit der Analytischen Psychologie mokiert, fast nach Belieben des Psychiaters, der aufgrund eigener unumstößlicher Selbstgewissheit die absolute Deutungshoheit über die Seele innehat, Komplexe in die Welt zu setzen und ein bewusstes Geschehen durch nur dem Analytiker bekannte un- oder unterbewusste Antriebe zu erklären, die mitunter rätselhafterweise genau das Gegenteil von dem besagen, was sich im bewussten Geschehen vollzieht. Ein Beispiel aus Ein Irrer und ’ne Nonne: Es tritt auf der (laut dramatis personae) „Psychoanalytiker der Freudschen Schule“ 5 Dr. Efraim Grün 6 ; mit Blick auf seinen Patienten spielt sich folgender Dialog ab: G RÜN : Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass er (zeigt auf Walpurgis [den Patienten, Anm. d. Verf.]) einen Zwillingsschwesternkomplex hat, aus der Zeit als er noch ein Embryo war. Darum kann er sich nicht richtig verlieben. Unbewusst liebt er seine Schwester, auch wenn er im Normalbewusstsein wirklichen Hass für sie empfindet. Walpurgis, was fällt Ihnen als erstes zu „Schwester“ ein. W ALPURGIS : Scharfe - Höhle - zwei Waisen auf einer unbewohnten Insel - der Roman „Blue Lagoon“ de Vere Stackpool. G RÜN : [. . .] Die Höhle, das ist der Mutterschoß. Die unbewohnte Insel - genau dasselbe. Ich hab den Komplex aufgelöst. Dieser Roman [. . .] das ist die zweite Ebene - die in die schon vorhandene psychische Anlage eingebettet ist. Walpurgis, in zwei Wochen sind Sie so gesund wie ein Stier. 7 Hier ist in wenigen Zeilen alles beisammen: die Ironisierung der Lehre von den Komplexen (hier: der nicht erst aus frühester Kindheit, sondern angeblich schon aus der Embryonalphase stammende Zwillingsschwesternkomplex), sodann die absurde Erklärung des Hasses auf die Schwester gerade aus unbzw. unterbewusster Liebe zu ihr, schließlich die Freie Assoziation, bei der Walpurgis Grün geradezu den Gefallen tut, solche Assoziationen zu produzieren, die in das erwartete Bild, nämlich zu dem 5 „Psychoanalityk ze szko y Freuda“. (III, S. 62). 6 Der Name ist auch im polnischen Original deutsch. 7 G RÜN : „R cz , e ten (wskazuje na Walpurga) ma kompleks siostry bli niaczki z czasów, kiedy by jeszcze embrionem. Dlatego nie mo e si naprawd zakocha . Kocha pod wiadomie siostr , mimo e w normalnej wiadomo ci czuje do niej prawdziw nienawi . Walpurg: pierwsze skojarzenie do ,siostra’“. W ALPURG : „Ostra - jaskinia - dwoje sierot na bezludnej wyspie - powie ,Blue Lagoon’ de Vere Stackpoola. “ G RÜN : „[. . .] Jaskinia to ono matki. Bezludna wyspa to samo. Rozwi za em kompleks. Ta powie [. . .] to druga warstwa - wesz a w zrobione ju o ysko psychiczne. Walpurg: za dwa tygodnie jeste cie zdrowi jak byk.“ (III, S. 80). <?page no="189"?> Am Ende die Kunst 189 Wunsch nach einem inzestuösen Verhältnis zu seiner Schwester, passen. Oder noch bissiger an anderer Stelle (wieder spricht Grün): Jung beschreibt einen ähnlichen Fall. Sein Patient ist ein vorbildlicher Ehemann und ein ausgezeichneter Architekt geworden, nachdem er seine Tante totgeschlagen hat, die zu ihm zu Besuch gekommen ist. Er hatte einen Tantenkomplex und hat ihn gelöst. Und so weit hat ihn nur die Psychoanalyse gebracht. 8 Es bleibt festzuhalten: So schön die Psychoanalyse in den Gesamtzusammenhang von Witkacys Katastrophismus gepasst hätte; diese Theorie vermochte er - zunächst einmal wohl wegen der anfechtbaren Beliebigkeit ihrer Methoden - nicht ernst zu nehmen. Eine Erschütterung des Weltbildes geht für ihn von ihr jedenfalls nicht aus - umgekehrt kann sie aber auch nicht als Basis für ein neues, positives Weltbild dienen. Ganz anders geht Witkacy mit den mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit um. Offenbar nahm er Mathematik und Naturwissenschaft als Hervorbringungen in der Sphäre reiner Geisteskonstrukte oder in der Raum, Zeit und Materie als solche betreffenden Grundlagenforschung sehr ernst und musste genau deshalb den Revolutionen auf diesen Feldern eine zentrale Rolle in seinem katastrophistischen Weltbild einräumen. In den beiden ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts kulminierend, vollzog sich in der Fundierung von Logik und Mathematik und in der Betrachtung der Anschauungsformen Raum und Zeit sowie den in ihnen verkehrenden Körpern eine bereits in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts beginnende „Revolution der Denkungsart“, die - wie jede Revolution -, auch wenn ihre sichtbaren Teile in kürzester Zeit und mit Macht zum Tragen kamen, ihr fein verästeltes Wurzelwerk bereits früher ausgebildet hatte. Beginnen wir mit der neuen Mathematik, 9 der Witkacy, von sonstigen Einzelbefunden abgesehen, mit Tumor Hirnriss (poln.: Tumor Mózgowicz) immerhin ein ganzes Stück gewidmet hat. An einer Schlüsselstelle dieses Stückes sagt Tumors Mathematikerkollege Green zu Irene, der Tochter von Hirnriss: [. . .] Sie wissen nicht, dass er [Tumor Hirnriss, Anm. d. Verf.] eine Klasse von Zahlen erschaffen hat, die mit persischen Zeichen dargestellt werden, und jetzt soll er den Beweis formulieren, dass die Abzählbarkeit einer bestimmten Menge 8 „Jung opisuje podobny wypadek. Jego pacjent sta si wzorowym m em i wietnym architektem, kiedy ukatrupi swoj ciotk , która przysz a go odwiedzi . Mia kompleks ciotki i rozwi za go. A doprowadzi a go do tego tylko psychoanaliza.“ (III, S. 83). 9 Zum mathematischen Hintergrund siehe z. B. Aumann/ Haupt (1974), insb. S. 59 ff., sowie - in etwas populärer Form - Reinhardt/ Soeder (1974), insb. S. 23 ff. <?page no="190"?> E WA M AKARCZYK -S CHUSTER UND K ARLHEINZ S CHUSTER 190 höher ist als alle andern, nur ihm und dem Satan bekannten Mengen. Er hat sich sogar getraut, dem einen Namen zu geben: das ist die Tumor-Eins. 10 Diese Stelle spielt - wie auch viele andere in diesem Stück - auf den Mathematiker Georg Cantor an, der sogar namentlich genannt wird, ganz abgesehen davon, dass der Vorname Tumor sicher nicht zufällig als Verballhornung des Nachnamens Cantor zu lesen ist. Cantor hatte für eine - wie das in der Mathematik typischerweise der Fall ist - zunächst nur die Fachwelt betreffende Erschütterung gesorgt, indem er dem Problem der Unendlichkeit, das schon in der Antike eine gewisse Unruhe ausgelöst hatte, in der Form der Unendlichkeit von Mengen in der Zahlentheorie eine völlig neue Wendung gab. Wenn schon die Menge der Natürlichen Zahlen unendlich groß ist, wie steht es dann erst mit der Menge der Ganzen Zahlen, die die Natürlichen Zahlen, die Negativen Zahlen und die Zahl Null umfasst - allem Anschein nach also doppelt so viele Elemente wie die der Natürlichen Zahlen hat? Und dann erst mit den Rationalen Zahlen, die darüber hinaus noch die Dezimalbrüche enthalten? Schon zwischen der Null und der Eins gibt es ja eine unendliche Menge von Brüchen des Typs 1/ 2, 1/ 3, 1/ 4, 1/ 5 und so weiter. Cantor fand nun eine verblüffende Lösung dieses Problemes im Rahmen der von ihm entwickelten Mengenlehre: Zwei Mengen sind - in Übereinstimmung mit der naiven Anschauung - dann gleich groß (oder gleich „mächtig“ wie er es nannte), wenn jedem Element der einen Menge ein und nur ein Element der anderen zugeordnet werden kann. Ist darüber hinaus eine derartige Zuordnung der Elemente einer Menge mit der Menge der Natürlichen Zahlen möglich, wird die Menge in Übereinstimmung mit der Umgangssprache als „abzählbar“ bezeichnet. Cantor wies nun nach, dass zwischen den Natürlichen, den Ganzen und den Rationalen Zahlen eine derartige Zuordnung möglich ist. Die Ganzen und die Rationalen Zahlen sind abzählbar, mithin ebenso mächtig wie die Menge der Natürlichen Zahlen. Nicht möglich ist eine derartige Zuordnung jedoch im Bereich der Irrationalen Zahlen (das sind Dezimalzahlen vom Typus der „Kreiszahl“ ). Damit ist die Menge der Irrationalen Zahlen, wenn zwar auch unendlich groß, doch nicht mehr abzählbar (sie ist „überabzählbar“) und daher „mächtiger“ als die unendliche Menge der Natürlichen Zahlen. Cantor hat, um diesen Sachverhalt auszudrücken, unter Verwendung des hebräischen Alphabetes, eigene Zahlensymbole bzw. Zahlenmengensymbole eingeführt: die Aleph-Null, die Aleph-Eins und so weiter. Das Zahlensymbol „Aleph“ steht für ganze 10 „[. . .] ale pani nie wie, e on stworzy klas liczb oznaczonych perskimi znakami i teraz ma sformu owa dowód, e liczno pewnej wielo ci jest wy sza od wszystkich, jemu tylko i szatanowi znanych, wielo ci. Nawet o mieli si nazwa to: jest to tumor-jeden.“ (I, S. 257). <?page no="191"?> Am Ende die Kunst 191 Klassen von Abzählbarkeit bzw. Überabzählbarkeit. Aufgrund eines einfachen Potenzierungsverfahrens ist nachweisbar, dass die Anzahl überabzählbarer Mengen ihrerseits unendlich groß ist. Damit ist die Unendlichkeit - als Grenzbegriff des Verstandes - bei dem Versuch, ihrer in einem rationalen Ansatz habhaft zu werden, endgültig ins Bodenlose gestürzt. Dass es Cantor gelungen ist, im Bereich des Unendlichen nicht nur Ordnung zu schaffen, sondern wie selbstverständlich sogleich mit ganzen Mengen unendlicher und womöglich überabzählbarer Mengen zu hantieren, lässt den mathematisch Unversierten taumeln. So auch in Tumor Hirnriss Irene, Tumors Tochter aus zweiter Ehe. Sie sagt: „Was habt ihr bloß aus der Unendlichkeit gemacht! “ 11 Witkacy bezieht sich in der Darstellung von Tumors Leistung - wie gesagt - eindeutig auf Cantor. So lautet etwa der Titel von Tumors (angeblichem) jüngstem Werk: „Über transfinite Funktionen im alephdimensionalen Raume“ 12 . Die Leistung Cantors wird von Witkacy (natürlich) sofort ironisch gebrochen. Tumor selbst sagt: Ich könnte diese Klasse von Zahlen zeigen, die ich mit persischen Ziffern bezeichnet habe. Aber die Anzahl der Alphabete ist begrenzt. Diese Zahlen, meine eignen, werde ich Tumoren nennen. 13 Muss also Cantor schon zum hebräischen Alphabet greifen, um seine Klassen überabzählbarer Zahlenmengen zu zählen, so wird dies nochmals gleichsam potenziert. Nicht nur, dass Tumor auch das hebräische Alphabet nicht mehr ausreicht und er nunmehr auf persische Ziffern zurückgreifen muss, nein: am Ende werden sogar die Alphabete insgesamt zu knapp, um der Mengen und der Mengen von Mengen, der - wie Hirntumoren - ins Uferlose gewucherten Konstrukte des menschlichen Geistes, noch Herr zu werden. Dann ist es bloß konsequent, diese Zahlen gleich nach ihrem Erfinder Tumor zu benennen, dessen Vorname genau für das steht, was die Erfindung dieser Zahlen bedeutet - Wildwuchs letztlich, eine bösartige Erkrankung, jedenfalls keine das Denken zu leiten geeignete, allgemein nachvollziehbare Grundlage, wie man dies etwa von der klassischen Logik her kannte. Selbst dem reinen Denken wird der Boden entzogen. So stellt Tumor selbst fest: „Wir haben dem Begriff der Logik selbst eine andere Bedeutung verliehen, wir: Hirnriss. Das können diese Halbhirne nicht ertragen.“ 14 11 „Co cie wy zrobili z Niesko czono ci! “ (I, S. 260). 12 (I, S. 225); auch im polnischen Original deutsch. 13 „Tam mog im pokaza t klas liczb, któr oznaczy em perskimi cyframi. Ale ilo alfabetów jest sko czona. Te liczby, moje w asne, nazw tumorami.“ (I, S. 243). 14 „Samemu poj ciu logiki nadali my inne znaczenie, my: Mózgowicz. Tego nie wytrzymaj te pó g ówki.“ (I, S. 253). <?page no="192"?> E WA M AKARCZYK -S CHUSTER UND K ARLHEINZ S CHUSTER 192 Diese Inflation der Zahlensysteme könnte nun aber auch für die alltägliche Lebenspraxis verheerende Folgen haben. Der bereits erwähnte Mathematiker Green zu Tumor: Und wenn du siegst, Professor? Was dann? Was soll man mit der ganzen Mechanik anfangen, was mit dem Maschinenbau, womit die Schwerkraft ersetzen? Ein erstes Beispiel unserer Zeiten, das die reine Deduktion, eine mehrere Jahrhunderte alte Weltanschauung, zerstört. 15 Wenn schon die Zahlensysteme selbst ins Wanken geraten, wie soll dann in Disziplinen, die die Mathematik als Hilfswissenschaft benutzen, wie soll dann in der Physik, in der Technik gearbeitet werden? Und noch folgenschwerer: Wird - wie es eben hieß - „dem Begriff der Logik selbst eine andere Bedeutung verliehen“, so hat man damit „eine mehrere Jahrhunderte alte Weltanschauung“ zerstört. Die geistige Katastrophe ist perfekt. Gleichfalls namentlich genannt werden bei Witkacy zwei weitere Mathematiker, nämlich Russell und Whitehead, so etwa in dem Stück Das Wasserhuhn (poln.: Kurka wodna), wenn die Figur der Lady das beklagenswerte Ende ihres Gatten schildert: Ein Tiger hat ihn im Dschungel von Madhya Pradesh aufgefressen. Er hat immer seinen Mut auf die Probe gestellt, bis am Ende dem Höchsten Wesen der Geduldsfaden gerissen ist. Zwei Tage nach dem Unfall ist er gestorben, und ich kann behaupten, er ist wunderschön gestorben. Sein Bauch war aufgeschlitzt, und er hat sich fürchterlich gequält. Bis zum letzten Augenblick hat er das Werk von Russell und Whitehead gelesen: die „Principia mathematica“. Wissen Sie, diese Zeichen. 16 Offenbar ist, gemäß der Bewertung durch die Lady, die Qual, von einem Tiger aufgeschlitzt zu werden, mit der Lektüre der Principia Mathematica durchaus auf eine Stufe zu stellen. Umgekehrt ist der Heroismus, sich mit derartigem zu beschäftigen, gar nicht hoch genug einzuschätzen. Die Lady an anderer Stelle: „Ja, er hat die Principia mathematica von Russell 15 „A je li zwyci ysz, profesorze? Co wtedy? Co pocz z ca mechanik , co pocz z budow maszyn, czym zast pi prawo ci enia? Pierwszy przyk ad naszych czasów, eby dedukcja czysta zwali a wiatopogl d maj cy kilkaset lat za sob .“ (I, S. 253). 16 „Zjad go tygrys w Mand apara-Jungle. Próbowa ci gle swej odwagi, a wreszcie przerwa a si tama cierpliwo ci Istoty Najwy szej. Umar w dwa dni po wypadku i mog stwierdzi , e umar pi knie. Mia brzuch rozdarty i cierpia straszliwie. A do ostatniej chwili czyta dzie o Russella i Whiteheada: ,Principia Mathematica’. Wie pan - te znaczki.“ (II, S. 302). <?page no="193"?> Am Ende die Kunst 193 und Whitehead gelesen und hatte dabei vom Tiger zerfetzte Innereien. Das war ein Held.“ 17 Auffällig bleibt, dass wenn bei Witkacy von Russell und/ oder Whitehead die Rede ist, anders etwa als im Falle Cantors, inhaltlich auf deren Werk nicht der geringste Bezug genommen wird; worum es Russell und Whitehead gegangen sein könnte, wird nicht einmal angedeutet. Die beiden Namen werden nur noch zu Chiffren für Unverständlichkeit. Im Falle Whiteheads wird von Witkacy sogar der Verdacht befördert, dass die durch ihre durchgängige Verwendung von Symbolen kaum noch verständlichen Principia mathematica zuletzt, wenn sie schon nicht reine Schaumschlägerei sind, so doch möglicherweise weit unterhalb dessen angesiedelt sind, was sie zu beanspruchen vorgeben. Im Tumor Hirnriss sagt der sechzehnjährige Sohn Tumors, Alfred, ein vielversprechendes mathematisches Talent: Ich hab mir das Problem [gemeint ist eine mathematische Aufgabe, Anm. d. Verf.] mithilfe von Whiteheads Methode erschwert. Dieser ungeheuerliche Greis versteht es, die einfachste Aufgabe irgendwie nach Belieben schwieriger zu machen. 18 Dann allerdings wäre Whiteheads Vorgehen das Gegenteil eines sachdienlichen Ansatzes, oder - deutlicher gesagt - eines aufklärerischen Aktes: Statt komplexe Probleme durch eine „kopernikanische Wende“ einer einfacheren Lösung zuzuführen, wird umgekehrt das Einfachste verkompliziert. Die Mathematik verkäme zur bloßen Denksportaufgabe. Jedenfalls besteht ein Anfangsverdacht, dass sich die Schwierigkeit des Verstehens bei den Werken Whiteheads nicht allein aus der Kompliziertheit der Sache selbst ergibt, sondern sich umgekehrt die Angelegenheit auch durchaus einfacher hätte behandeln lassen, sich mithin ein Unverständlichkeitsüberschuss allein aus der Art der Darstellung ergibt. Das Problem besteht nun darin, hierüber ein Urteil zu fällen: Wer das Werk nicht versteht, ist zu einer Entscheidung darüber, ob es auch einfacher gegangen wäre, nicht in der Lage; wer es versteht, wird sich hüten zuzugeben, dass alles in Wirklichkeit ganz einfach ist, weil er so in den Verdacht geraten könnte - es nicht verstanden zu haben. Eine das Denken insgesamt begründende Logik ist auf diesem Wege jedenfalls nicht zu erlangen. Hatten sich die Erschütterungen im Bereich der Mathematik zunächst auf einen der Alltagserfahrung fernen und der Popularisierung weitgehend widersetzenden Gegenstand, nämlich den der Zahlentheorie, be- 17 „Tak, czyta ,Principia Mathematica’ Russella i Whiteheada, maj c wn trzno ci rozdarte przez tygrysa. To by bohater.“ (II, S. 325). 18 „Utrudni em sobie problemat metod Whiteheada. Ten potworny starzec umie z najprostszego zagadnienia uczyni co dowolnie trudnego.“ (I, S. 227). <?page no="194"?> E WA M AKARCZYK -S CHUSTER UND K ARLHEINZ S CHUSTER 194 schränkt, so weitete sich der Eindruck, auf schwankendem Boden zu stehen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts schlagartig aus. Ausgangspunkt waren auch hierbei fachwissenschaftliche, namentlich physikalische Ansätze, die - in von ihren Urhebern sicherlich zunächst unbeabsichtigter Popularisierung mit einer inhaltlichen Verflachung einhergehend und den ursprünglichen Geltungsbereich der Aussagen gründlich überschreitend - zu einer tiefreichenden Verunsicherung führten. Bislang als „absolut“, als fest angenommene Größen wurden als bloß „relativ“, als unsicher erwiesen. Die größte Bedeutung in diesem Prozess hatten zweifellos die Spezielle und die Allgemeine Relativitätstheorie Albert Einsteins, die die Vorstellung eines Absoluten Raumes (vorgestellt wie ein Bühnenraum in seinen drei Beschreibungsachsen Breite, Tiefe und Höhe) und einer Absoluten Zeit, in der die Ereignisse brav gleichzeitig oder aber hübsch nacheinander erfolgen, aufzugeben zwangen. 19 Zwar sind die Arbeiten Einsteins nur als Endpunkt eines Erkenntnisstranges anzusehen, der bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzte, aber wie nie zuvor und selten danach wurde ein Name, nämlich derjenige Einsteins, zum Synonym für eine ganze Richtung, die als Zerstörung des klassischen, nicht nur des klassisch physikalischen Weltbildes empfunden wurde. Auch Witkacy ist die Bedeutung der in der Relativitätstheorie mündenden physikalischen Erkenntnisse nicht entgangen. Er unterscheidet aber, und zwar völlig berechtigterweise, zwischen der physikalischen Theorie im engeren Sinne, die letztlich nur von fachwissenschaftlichem Interesse ist und in einem der Alltagserfahrung fernen Bereich von Phänomenen gilt, und ihrer Breitenwirkung, die einer unzulässigen Verflachung und gleichzeitigen Ausdehnung entspringt, gepaart mit dem von Einstein zumindest teilweise selbst inszenierten Geniekult um seine Person. Kurz gesagt: Die eigentliche Bedeutung der Relativitätstheorie - durchaus auch mit Blick auf den Eindruck, einer umfassenden geistigen Revolution, wenn nicht Katastrophe beizuwohnen - besteht nicht in deren unbestreitbaren Wert als physikalische Theorie, sondern gerade in ihrer Popularisierung und Banalisierung. In dem Stück Die Schuhmacher (poln.: Szewcy) etwa heißt es: F ÜRSTIN : Alles ist relativ - der Einfluss dieses Juden Einstein - ich hab längst schon [. . .]. I. H ANDWERKSBURSCHE : Das ist eine Ungeheuerlichkeit, aufgeblasne Betzenbrut! Das ist intelligentes Getreidel! Das weiß doch selbst ich, dass die Relativitätstheorie in der Physik nichts mit der Relativität der Ethik und der Ästhetik und der Dialektik und so weiter zu tun hat! - tamda-lamda, tramda- 19 Zum physikalischen Hintergrund siehe z. B. Feynman / Leighton / Sands (1979), hier insb. die Kapitel 15 ff. und 34; ferner Kittel / Knight / Ruderman (1975), hier insb. Kapitel 13 f., sowie Gerthsen / Kneser / Vogel (1977), hier insb. Kapitel 15. <?page no="195"?> Am Ende die Kunst 195 lambda! Kein weitres Geschwafel mehr - man möcht nur noch kotzen bei so nem Geschwafel. 20 Die Popularisierung der Theorien vollzog sich also - wie an dieser Stelle schön zu erkennen ist - auf zweierlei Weise: erstens in einer unzulässigen, weil die Grenze zur Unrichtigkeit, ja zur Peinlichkeit überschreitenden Vereinfachung und Verflachung (Stichwort: „Alles ist relativ“), zum anderen in einer Grenzüberschreitung, indem gewisse Erkenntnisse der physikalischen Theorie auf gänzlich andere Bereiche übertragen wurden, was hier als „Geschwafel“ qualifiziert wird. Natürlich ist eine derartige Grenzüberschreitung unzulässig, aber sie ist - gleichgültig ob nun zulässig oder nicht - auf jeden Fall historisch wirksam. Es bleibt festzuhalten, dass eine derartige Übertragung stattgefunden hat, eben weil das in der Physik in deren Bereich Entdeckte so hervorragend in das allgemeine Zeitgefühl passte, dass alles schwankend (in diesem Sinne „relativ“) geworden ist. Wie ist eine gewissermaßen klassische Ordnung menschlichen Zusammenlebens denkbar, wenn schon Raum und Zeit nicht mehr das sind, was sie einmal waren? Inhaltlich geht Witkacy auf die naturwissenschaftlichen, namentlich die physikalischen Erkenntnisse seiner Zeit kaum ein; dass er dies nicht tut, könnte natürlich an eigener Unkenntnis liegen. Wahrscheinlicher ist aber, dass in der Tat ausgedrückt werden sollte, dass die geistige und auch emotionale Wirkung dieser Theorien mit ihrem inhaltlichen Kern längst nichts mehr zu tun hat. Dabei setzt Witkacy selbst eben genau diese Technik der Verschiebung ein: So sind etwa die Begriffe „nichteuklidisch“ und „sphärisch“ in zweien seiner Stücke besonders markiert. Gjubal Zauderzar trägt den Untertitel Nichteuklidisches Drama in vier Akten 21 , Das Wasserhuhn bezeichnet Witkacy als Sphärische Tragödie in drei Akten 22 . Er selbst überträgt damit bestimmte Fachbegriffe auf einen gänzlich fremden Bereich, denn natürlich gibt es „eigentlich“ keine nichteuklidischen oder sphärischen Dramen oder Tragödien. Wenn es sich um mehr als bloß gehobenen Unsinn handeln sollte - und bei Witkacy ist eine „Sinnvermutung“ stets angebracht - stellt sich die Frage: Was könnte dies bedeuten? 20 K SI NA : „Oto jest wzgl dno wszystkiego - to wp yw tego yda Einsteina - ja dawno ju [. . .].“ I C ZELADNIK : „A dy to je wstyd, psiokrew zapowietrzona! To je inteligencka trajdocha! Ta ja to wiem ju , e teoria wzgl dno ci w fizyce nic nie ma do czynienia ze wzgl dno ci etyki i estetyki, i dialektyki, i tak dalej! - tamdalamda, tramda-lambda! Nie bedem gada - rzyga si od tej gadaniny ino chce.“ (III, S. 349). 21 Nieeuklidesowy dramat w czterech aktach. (II, S. 205). 22 Tragedia sferyczna w trzech aktach. (II, S. 283). <?page no="196"?> E WA M AKARCZYK -S CHUSTER UND K ARLHEINZ S CHUSTER 196 Die nichteuklidische, sphärische und hyperbolische Geometrie entstand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Versuch von Mathematikern wie Gauß, Riemann, Lobatschewski und Bolyai, Geometrien zu entwickeln, in denen das klassische euklidische Parallelenpostulat nicht gilt, entweder indem es zu einem Punkt außerhalb einer Geraden keine Parallele zu dieser Geraden gibt (sphärische Geometrie) oder indem mehrere Parallelen möglich sind (hyperbolische Geometrie). Dieser Ansatz wiederum erlangte eine das rein Mathematische übersteigende Bedeutung in der Allgemeinen Relativitätstheorie. Gravitationskräfte und Raumkrümmungen sind phänomenal nicht zu unterscheiden; durch die von Materiemassen hervorgerufene Raumkrümmung weicht der physikalische Raum, die vierdimensionale Raum-Zeit - zumindest regional - von der euklidischen Geometrie ab. Zum einen werden Begriffe wie „nichteuklidisch“ von Witkacy nun, ihrer eigentlichen Bedeutung im mathematisch-physikalischen Bereich entleert, als Chiffren für eine Welt verwendet, die gewissermaßen den rechten Winkel verloren hat, die gekrümmt, um nicht zu sagen: verkrümmt ist. Der Literat Floetrizi Dumont (ausgerechnet ein Literat! ), der bei dem Gewaltherrscher Gjubal Zauderzar um die Genehmigung zur Aufführung seiner Dramen nachsucht, spricht ihn einmal ironisch mit „Eure Psychische Nichteuklidschaft“ 23 an; Gjubal selbst beendet einen seiner wirren Wortausbrüche unvermittelt mit dem Ausruf: „Die sechste Dimension! Nichteuklidischer Staat! “ 24 Die Psyche Gjubals ist in ähnlicher Weise aus der Bahn geraten wie der von ihm geschaffene Staat - und wie die Struktur der Welt insgesamt. Im selben Stück sagt Pater Unbeugsam, Gjubals Nachfolger: Die Theorie Einsteins fügt sich nahtlos in mein System ein. Für die Physiker ist die Welt endlich und nichteuklidisch, für mich ist sie unendlich und amorph. Der reale Raum hat keine Struktur - das ist die Absolute Wahrheit, die die Physikalische Wahrheit in sich schließt [. . .]. 25 Die angebliche Strukturlosigkeit des physikalischen Raumes wird zum Sonderfall des Strukturverlustes der Welt insgesamt. Die Welt hat - ebenso wie der anschaulich euklidische Raum - seine Ordnung, seine so beruhigend einfache und gewissermaßen „ordentliche“ Beschreibbarkeit durch drei anständig senkrecht aufeinander stehende Achsen verloren. 23 „Wasza Psychiczna Nieeuklidesowo “. (II, S. 218). 24 „Szósty wymiar! Nieeuklidesowe pa stwo! ! “ (II, S. 235). 25 „Teoria Einsteina nawet wchodzi w mój system jako detal. Dla fizyków wiat jest sko czony i nieeuklidesowy, dla mnie jest niesko czony i amorficzny. Rzeczywista przestrze nie ma struktury - oto jest Absolutna Prawda, która obejmuje Prawd Fizyczn [. . .].“ (II, S. 249). <?page no="197"?> Am Ende die Kunst 197 Umgekehrt werden gerade die Stückuntertitel durch den Verlauf der Stücke ironisch negiert. Es ist sicher kein Zufall, dass gerade in diesen beiden Stücken Parallelhandlungen vorkommen, Ereignisse und Konstellationen sich in ähnlicher Form wiederholen, eine Wiederkehr des leicht gewandelten Gleichen sich vollzieht. Gjubal etwa ist von seiner Einmaligkeit überzeugt, hält eine Parallelwelt zu der seinen wohl für schlechthin undenkbar, aber gerade in seinem Untergang entsteht eine solche Parallelwelt. Der neue Machthaber, Pater Unbeugsam, der sich als Menschenfreund und Weltverbesserer, als Sektengründer und Weiser gibt, übernimmt im ersten Schritt zur Macht sogleich die auch schon Gjubal zur Verfügung stehenden Machtinstrumente und damit auch dessen Machtmethoden. Die Welt Gjubals könnte auf diese Weise durch eine Vielzahl „paralleler“ Welten ersetzt werden. Fassen wir zusammen: Der Anteil der neueren Mathematik und der Physik an der katastrophischen Grundstimmung besteht in dreierlei: erstens in der Zerstörung eines über Jahrhunderte gesicherten Denk- Fundamentes; zweitens - und in diesem Zusammenhang fast noch wichtiger - im Ersetzen dieses Fundamentes durch eine Reihe von Theorien, die schlechterdings, mit Ausnahme einiger weniger Fachwissenschaftler, nicht mehr nachvollziehbar sind; sodann drittens - zumindest in der Physik - auf der sicherlich nicht zwangsläufig erforderlichen Popularisierung dieser Theorien bis hinunter auf die Ebene des bloßen Geschwätzes, das als Grundlage exakten Denkens untauglich ist. Auch von dieser Seite her wird die geistige Katastrophe also noch befördert. Gerade auch Mathematik und Physik, die in ihrer Exaktheit Richtschnur des Denkens sein könnten - und für Witkacy auch sein sollten -haben an der Erschütterung Anteil, ohne ein neues, brauchbares, und das heißt auch: allgemein verbindliches Fundament errichten zu können. Ist damit Witkacys Welt ein einziger Ort der Hoffnungslosigkeit, der Bedrohung, der Zerstörung? Oder gibt es doch einen Bereich, der dieser umfassenden Zerschmetterung entgehen, als Konstante gelten kann? In der Tat, es gibt ihn am Ende: in der Kunst, in der Poesie und im Theater. Es wäre zweifellos übertrieben, Witkacys Stücke als „Künstlerdramen“ zu bezeichnen. Gleichwohl kommt kaum eines seiner Stücke ohne einen Künstler oder einen Gelegenheitskünstler oder wenigstens einen der Kunst Nahestehenden aus. Allen diesen Figuren gemein ist, dass sie - in unterschiedlichster Form - als Personen oder als Künstler scheitern oder dass in ihnen die Kunst scheitert. Dies könnte auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, dass auch die Kunst insgesamt dem Niedergang, der Wirkungslosigkeit, dem Katastrophismus geweiht ist. Einige wenige Beispiele hierzu: Der bereits zitierte Literat Floetrizi Dumont aus Gjubal Zauderzar, der bei dem Gewaltherrscher um die Aufführungsrechte für seine Dramen nachsucht, scheitert am drastischsten; er wird, ohne uns noch eine Kostprobe seines Talentes zu Gehör bringen zu <?page no="198"?> E WA M AKARCZYK -S CHUSTER UND K ARLHEINZ S CHUSTER 198 können, hinter der Bühne erschossen, was Gjubal hocherfreut mit den Worten quittiert: „[. . .] wieder ein Literat weniger. Es atmet sich gleich leichter.“ 26 Offenbar haben Literaten in einem nichteuklidischen Staat nichts verloren. Es wird sich noch erweisen, warum. Ein ähnliches Schicksal erleidet in dem Stück SIE die Schauspielerin Spika Tremendosa, die in einer ihrer ersten Repliken sagt: „Die Bühnenkunst darf nicht untergehen.“ 27 , um sich dann im letzten Akt als Leiche auf der Bühne wiederzufinden. Ihr Liebhaber, der Kunsttheoretiker und Kunstsammler Kalixt Wirrsal, der in kühler Kennerschaft seine Picassos ebenso zu goutieren weiß wie Frauen oder marinierte Pilzchen, ein Genießer eben, geht seiner wertvollen Sammlung moderner Kunst verlustig; sie wird im Zuge einer planmäßigen Aktion vernichtet, weil sie in einer Diktatur nichts zu suchen hat. Auch der Jahrhundertmathematiker Tumor Hirnriss fühlt sich - wie übrigens auch weitere Angehörige seiner Sippschaft - zur Kunst, in seinem Fall: zur Dichtkunst berufen. Die von ihm vorgetragenen, selbstverfassten Gedichte deuten allerdings eher auf einen Mangel an Befähigung hin. (Man denke in diesem Zusammenhang vielleicht auch an den Geige spielenden Einstein.) Ein Sammelsurium künstlerischer Unfähigkeit findet sich in dem Stück Eine Tat ohne Namen (poln.: Bezimienne dzie o). Der - natürlich schwindsüchtige - Maler Plasmönchen Blödestaug bezeichnet sich zwar selbst als Künstler, bringt aber eigentlich nichts rechtes hervor. Ständig hindern ihn äußere Umstände daran - so sieht er das zumindest. Seine Gespielin Rosa van der Blaast, eine Komponistin, malt - nach eigener Aussage - „[. . .] Kreise und Pünktchen aufs Papier“ 28 , ohne dass ihre Werke je aufgeführt würden. Die Malerin Claudestine de Montreuil, immerhin die einzige, die erkennbar überhaupt etwas zuwege bringt, vertritt den Typus der verhuschten, zur Selbstfindung neigenden Träumerin. Wohl völlig im Ernst gemeint sagt sie: Ich male die Wunder der Natur aus dem Blickwinkel von Insekten, Fröschen und anderen kleinen Lebewesen. Ich male sie jedoch nicht so, wie sie sind, sondern im Lichte meines metaphysischen geistigen Blickes. 29 Florestan aus der „Neuen Befreiung“ schließlich, im Hauptberuf Vizedirektor der größten metallurgischen Werke der Welt, versteht sich selbst 26 „[. . .] ju o jednego literata mniej. Zaraz l ej si robi w powietrzu.“ (II, S. 219). 27 „Sztuka teatralna nie mo e upa .“ (I, S. 408). 28 „[. . .] kó eczka i kropki na papierze.“ (II, S. 393). 29 „Ja maluj cuda natury z punktu widzenia owadów, ab i innych ma ych stworze . Nie maluj ich jednak tak, jak one s , tylko w o wietleniu mego metafizycznego spojrzenia duchowego.“ (II, S. 358). <?page no="199"?> Am Ende die Kunst 199 auch als Künstler, der nach Belieben malen, komponieren und dichten kann, und zwar - wie er großspurig verkündet - besser als alle anderen. Tennismatches gewinnt er übrigens auch noch. Kunst ist für ihn Mittel zur Wichtigtuerei, insbesondere zu dem Zweck, Mädchen und Frauen zu beeindrucken. Die Kunst ist für ihn, wie er selbst ungeschickterweise während eines Annäherungsversuches erklärt, nichts anderes als ein Spiel - ebenso wie die Frauen. Die siebzehnjährige Amüsanta, die er für sich einzunehmen sucht, kontert: Sie sind doch wohl nicht etwa Künstler? Das ist heutzutage aber sehr gewöhnlich. Schließlich ist heute jeder ein Künstler. 30 Im Zeitalter der Vermassung, die mit dem Verlust des Individuums einhergeht, wird die Kunst zur Dekoration. Jeder ist ein Künstler - oder glaubt es zu sein. Damit ist der Niedergang der Kunst besiegelt, wobei jedoch einschränkend festzuhalten ist, dass - von Fällen persönlichen Unvermögens einmal abgesehen - die Kunst unter den Bedingungen der Vermassung und des Totalitarismus zum Scheitern verurteilt ist. Ihr Scheitern ist dann allerdings geradezu berechtigt, weil sie eigentlich schon gar keine Kunst, kein Ausdruck individueller Schöpferkraft mehr ist, sondern allen möglichen anderen Zwecken dient. Die Bedeutung der Kunst in einem wohlverstandenen Sinne jedoch wird ironischerweise gerade von einem Gegner der Kunst zurechtgerückt. In dem Stück SIE findet sich im I. Akt ein bemerkenswertes kunsttheoretisches Miniaturmanifest; die Sequenz wurde von Witkacy selbst durch eine selbstverständlich leicht ironisierte, zuletzt aber sicher ernst gemeinte Fußnote besonders markiert: „Nicht ein einziges Wort dieses Monologes darf im Falle einer Aufführung dieses Stückes ausgelassen werden - der Letzte Wille des Autors 12.XII.1920.“ 31 Die besagte Stelle lautet (es spricht der bereits früher zitierte Tefuan, der „Begründer der neuen Religion des Absoluten Automatismus“): Es gibt die unterschiedlichsten Qualitäten, die die Existenz der verschiedenen Einzelwesen erfüllen. Vielleicht gibt es auf dem Mars keine Farben, dafür aber die Qualitäten X 1 . Vielleicht gibt es auf der Venus keine Töne, aber die Qualitäten X 2 . Wenn nun eine bestimmte Gattung sich auf einem solchen Niveau in der Hierarchie der Wesen befindet, dass sie Begriffe schaffen und sich bewegen und handeln kann, dann sind Töne, Farben oder die Qualitäten X 1 oder X 2 oder sogar X n-1 nebensächlich. Aber diese Gattung muss notwendigerweise Poesie besitzen, in der die Bedeutungen der Begriffe als künstlerische Elemente wirken, 30 „Ale przecie nie jest pan artyst ? To takie dzi pospolite. Wszyscy s dzi artystami.“ (I, S. 343). 31 „Ani jedno s owo z monologu tego nie ma by opuszczone w razie przedstawienia tej sztuki - ostatnia wola autora. 12 XII 1920.“ (I, S. 441). Witkacy war zu diesem Zeitpunkt übrigens gerade einmal 35 Jahre alt! <?page no="200"?> E WA M AKARCZYK -S CHUSTER UND K ARLHEINZ S CHUSTER 200 und sie muss das Theater haben, weil das Theater sich aus dem Wirken der Einzelwesen ergibt, die zur fortwährenden Bewegung im Raume fähig sind. Versteht ihr also, dass Malerei und Musik nicht notwendigerweise existieren müssen; an ihrer Stelle kann es genausogut die Künste X 1 und X 2 geben - oder auch nicht. Aber Poesie und Theater müssen zwangsläufig überall dort existieren, wo es Wesen gibt, die sich auf einer ihnen gemäßen Hierarchiestufe befinden. 32 Nun ließe sich gegen die Bedeutung dieser Stellungnahme für Witkacys Kunstvorstellungen einwenden, dass sie eben gerade von einem Gegner der Kunst gemacht wird. Das allerdings ändert nichts an ihrem theoretischen Status, im Gegenteil: Gerade Tefuan erkennt - ebenso wie Witkacy - die Bedeutung der Kunst für den Menschen an; er zieht nur eine andere Konsequenz. Eben wegen dieser Bedeutung gehört die Kunst vernichtet, weil der Individualismus selbst vernichtet werden soll. Die Kunst ist dem Menschen eigentümlich - also kann sie dem Menschentum als Basis dienen -, oder sie muss mit dem Menschen untergehen. Daher die Erleichterung Gjubals über die Erschießung des Literaten Floetrizi Dumont, daher die Vernichtung der Gemäldesammlung Kalixt Wirrsals; daher auch womöglich - über seine methodischen Bedenken hinaus - Witkacys Ablehnung der Psychoanalyse. Er konnte nicht akzeptieren, dass das Schöpferische nicht mehr ureigenster Ausdruck des Individuums, sondern das Produkt irgendwelcher dunkler, das Tageslicht scheuender Antriebe sein sollte. Zweifellos angeregt durch Leibniz’ Idee der „möglichen Welten“ wird in obigem Monolog zunächst konstatiert, dass Welten denkbar (im Sinne von: denkmöglich) sind, in denen die sinnliche Gegebenheitsweise der Dinge eine andere ist als in der uns bekannten. So könnten in einer solchen Welt uns bekannte Qualitäten fehlen (es ist beispielhaft von Farben und Tönen die Rede); andererseits wären Wesen vorstellbar, die einen Sinn für uns unzugängliche Qualitäten haben bzw. es wären darüber hinaus Welten denkbar, in denen die Dinge selbst (physikalische) Seiten aufweisen, die es in unserer Welt nicht gibt - die angesprochenen Qualitäten X 1 und X 2 . Kurz gesagt: Es lassen sich Welten vorstellen, die (für das 32 „Jako ci wype niaj ce trwania ró nych Istnie Poszczególnych mog by ró ne. Mo e na Marsie nie ma barw, ale s jako ci X 1 , mo e na Wenerze nie ma d wi ków, ale s jako ci X 2 ,. Ale je li dany gatunek jest ju raz na tym poziomie hierarchii Istnie , e tworzy poj cia i mo e rusza si i dzia a , to w takim razie wszystko jedno, czy to b d d wi ki, barwy czy jako ci X 1 , lub X 2 , a nawet X n-1 , musi mie poezj , dzia aj c przez znaczenia poj , jako artystyczne elementy, i musi mie teatr, jako e teatr jest konstrukcj dzia a Istnie Poszczególnych, zdolnych do post powego ruchu w przestrzeni. Rozumiecie wi c, e malarstwo i muzyka mog gdzie nie istnie , s lub nie ma na ich miejsce sztuki X 1 , i X 2 . Ale poezja i teatr musz istnie wsz dzie, gdzie s Istnienia, znajduj ce si na pewnym stopniu ich hierarchii.“ (I, S. 441). <?page no="201"?> Am Ende die Kunst 201 erkennende Subjekt) eine andere als die uns vertraute sinnliche Gegebenheitsweise besitzen. Die sinnliche Verfassung einer bestimmten Welt ist damit in dieser Hinsicht „zufällig“ (im Sinne von: nicht denknotwendig). Eine sich den Sinnen anders gebende Welt wäre immer noch Welt. Nun gibt es Künste - und dies ist der zweite Argumentationsschritt -, die frei schöpferisch ausschließlich im Bereich entsprechender sinnlicher Qualitäten gestaltend tätig werden. Genannt werden als Beispiele die Malerei (im Bereich der Farben) und die Musik (im Bereich der Töne). Die Malerei geht in ihrem sinnlichen Bereich ebenso vollständig auf wie die Musik in dem ihren. Musik ist nichts anderes als Gestaltung von Tönen. Ohne Töne keine Musik, ohne Farben keine Malerei. Die im Sinnlichen verbleibenden Künste nun existieren nicht notwendigerweise - und dies wohl in zweierlei Hinsicht: Ihr Vorhandensein ist insofern nicht denknotwendig, als ja gerade die Existenz des Materials, mit dem sie umgehen und in dessen Bearbeitung sie sich erschöpfen, ebenfalls eine zufällige, zumindest nicht denknotwendige ist. Es könnte statt ihrer „genausogut die Künste X 1 und X 2 geben - oder auch nicht“. Diese letzten drei Wörter („oder auch nicht“) sind insofern wichtig, als sie auf eine zweite „Zufälligkeit“ der im Sinnlichen verbleibenden Künste verweisen: Das bloße Vorhandensein einer sinnlichen Qualität führt nicht zwingend zur Ausbildung einer entsprechenden Kunstform. Also: Diese im Sinnlichen verbleibenden Künste sind zufällig hinsichtlich ihres Materials und hinsichtlich ihrer tatsächlichen Existenz. 33 Diesen im rein Sinnlichen wirkenden Künsten werden nun die Poesie und das Theater entgegengesetzt - als Kunstformen, die einer Gattung Begriffe schaffender und sich bewegender und handelnder Wesen nicht nur zufällig zukommen; vielmehr muss eine derartige Gattung sie besitzen, und beiden gegenüber erscheinen die anderen „bloß sinnlichen“ Kunstformen als ebenso „nebensächlich“ wie die ihnen zugrundeliegenden sinnlichen Qualitäten. Was die Begriffe angeht, so treten diese zweifellos in sinnlicher Form auf (zum Beispiel in der Lautform des Wortes, in der graphischen Form der Schrift und so weiter); durch diese ihre sinnliche Gegebenheit werden die Begriffe jedoch nicht selbst auf Sinnliches reduziert; entscheidend ist die Bedeutung dieser Begriffe, die selbst unsinnlich ist. Nun ist es zunächst einmal erstaunlich, dass bei diesen auf einem höheren „Niveau in der Hierarchie der Wesen“ stehenden Gattungen nicht alleine von Begriffe schaffenden, sondern im selben Atemzug auch von 33 Dies bedeutet nun nicht, dass diese Künste gewissermaßen „minderwertig“ oder unbedeutend sind. Das wäre von Witkacy, der selbst Maler und Fotograf war, auch gar nicht zu erwarten. Es heißt nur, dass diese Künste nicht notwendigerweise auftreten. Wo sie allerdings auftreten, sind sie zweifellos auch Ausdruck menschlichen Geistes. <?page no="202"?> E WA M AKARCZYK -S CHUSTER UND K ARLHEINZ S CHUSTER 202 sich bewegenden und handelnden Wesen die Rede ist, als ob begriffsbildende Wesen zugleich auch sich bewegende und handelnde sein müssten (und umgekehrt). Unterstellen wir, Witkacy hätte dies genau so gemeint. Diese nicht weiter begründete zwangsläufige Verbindung von Begriffsbildung und Handeln wäre dann wohl so zu erklären, dass die Begriffsbildung allererst im Austausch, im handelnden Umgang solcher Wesen möglich ist: Wesen, die gewissermaßen wie Bäume angewurzelt lebten, wären aus sich heraus zur Begriffsbildung unfähig. Umgekehrt setzt Handeln im engeren Sinne begrifflichen Austausch voraus. Das heißt, das - nennen wir es: „denkende Wesen“ schafft seinen Begriffsapparat im Verlauf seiner Geschichte in Akten wechselseitigen Austausches aus sich selbst heraus, und nur ein Austausch, der einen begrifflichen Austausch, das heißt die Mitteilung von Gedanken umfasst, verdient den Namen „Handlung“. Als nächstes stellt sich die Frage, weshalb einer solchen Gattung von Wesen die künstlerische Überhöhung der Begriffsbildung in der Poesie bzw. von Bewegung und Handeln im Theater notwendig sein soll. Dass in dem Monolog eine Erklärung hierfür fehlt, die Zwangsläufigkeit von Poesie und Theater für entsprechende Wesen nicht begründet, sondern scheinbar dogmatisch vorausgesetzt wird, könnte so zu deuten sein, dass eine derartige Erklärung gar nicht erforderlich ist: Begriffsbildung und Handlung enthalten in sich bereits dasjenige gleichsam spielerische Moment, den freien, schöpferischen Umgang mit den Dingen, der in Poesie und Theater lediglich pointiert wird, während die sinnliche Wahrnehmung ein derartig spielerisch-schöpferisch-künstlerisches Element in sich selbst nicht enthält, sondern - von Seiten begriffsbildender und handelnder Wesen - ihr erst nachträglich hinzugefügt wird - „oder auch nicht“, eben im spielerischen Verzicht auf eine entsprechende Kunstform. Ein begriffsbildendes Wesen muss die Möglichkeit zum freien, schöpferischen Umgang mit diesen Begriffen haben, ein handelndes Wesen muss die Möglichkeit zum freien, schöpferischen Umgang mit seinem Handeln besitzen, sonst verlöre es eben seine Eigenschaft, begriffsbildend und handelnd zu sein. Festzuhalten bleibt schließlich noch die ausdrückliche Trennung von Poesie und Theater, was ihre Gegenstände und damit ihre Wirkungsbereiche angeht. Richtet sich jene auf die „Bedeutungen der Begriffe“, so diese auf das „Wirken der Einzelwesen“. Das Theater ist also keineswegs bloß um das Agieren der Personen erweiterte Poesie. Das gesprochene Wort im Theater wird umgekehrt zum Teil der Handlung, zu einem Moment der Aktion bzw. der Interaktion. Theater ohne Text (Beispiel: Pantomime) bleibt Theater, ein unszenisch vorgetragenes Bühnenmanuskript nicht. In der Kunst im Allgemeinen, in Poesie und Theater im Besonderen, hat Witkacy ein dem Menschen, dem Individuum, dem schöpferischen <?page no="203"?> Am Ende die Kunst 203 Individuum ureigenstes Feld herausgearbeitet, ohne das er als Mensch, als Individuum nicht zu denken ist. Die von Witkacy vorhergesehenen politischen Katastrophen sind zweifellos menschliche Tragödien; abschließende Bedeutung aber haben sie nicht und können sie nicht haben. Die mathematischen und physikalischen Revolutionen, die letztlich erst durch ein Missverständnis zu solchen wurden, sind sicherlich Erschütterungen des menschlichen Geistes durch sich selbst; ein beruhigender Neuaufbau ist in diesem Gebiet nicht zu erwarten. Am Ende aber hat Witkacy etwas gefunden, das ihn hoffen lässt und sicher auch selbst ermutigt hat, trotz seiner äußerlichen Erfolglosigkeit ein schon vom Umfang her gewaltiges Werk zu schaffen. Nicht schaumschlägerische Pseudo- Kunst ist gemeint, nicht eine unter den Bedingungen von Totalitarismus und Entindividualisierung stehende Unterhaltungs- oder Tendenzkunst, sondern Kunst als tiefster, weil zwangsläufiger, notwendiger Ausdruck dessen, was den Menschen, so er sein Menschsein erlangt hat, ausmacht: die Individualität. Gerade darum ist die Kunst natürlich besonders gefährdet; wer das Individuum vernichten will, muss die Kunst vernichten. Darum aber auch ist die Kunst noch lange nicht am Ende. Und deswegen steht am Ende - wie auch am Anfang: die Kunst. Literaturverzeichnis Aumann, G./ O. Haupt: Einführung in die reelle Analysis. Bd. 1: Fuktionen einer reellen Veränderlichen. Berlin 1974. Feynman, R. P./ R. B. Leighton/ M. Sands: The Feynman lectures on physics. Volume 1: Mainly mechanics, radiation and heat. Reading 1979. Gerthsen, C. / H. O. Kneser/ H. Vogel: Physik. Berlin 1977. Kittel, C./ W. D. Knight / M. A. Ruderman: Berkeley Physik Kurs. Bd. 1: Mechanik. Braunschweig 1975. Makarczyk-Schuster, E.: Raum und Raumzeichen in Stanis aw Ignacy Witkiewiczs Bühnenschaffen der zwanziger Jahre oder Kann man am Ende der Bühne noch die Hand ausstrecken? Frankfurt a. M. 2004 (Studien zur Deutschen und Europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 52). Reinhardt, F./ H. Soeder: Dtv-Atlas zur Mathematik. Bd. 1: Grundlangen, Algebra und Geometrie. München 1974. Witkiewicz, S. I.: Dzie a zebrane. Hg. J. Degler. Warszawa 1992 ff. <?page no="205"?> Brigitte Schultze Künstlertum als Bindung: Jaros aw Iwaszkiewiczs Kammerspiele Die Hochzeit des Herrn Balzac (Wesele Pana Balzaca) und Sommer in Nohant (Lato w Nohant) Mit Blick auf die polnische Literatur fällt für den Themenkomplex „Kunst“/ „Künstlerrolle“ - neben dem Schaffen des Multitalents Stanis aw Ignacy Witkiewicz und zwei Dramen von Tadeusz Ró ewicz, Auf allen Vieren (Na czworakach) sowie Die Falle (Pu apka) - vor allem Jaros aw Iwaszkiewicz ein. Selbst kurze Lexikoneinträge machen auf die Stelle der Künstlerthematik in Iwaszkiewiczs fiktionalen und feuilletonistischen Texten aufmerksam. 1 Der 1894 in der Nähe von Kiev, d. h. im russisch besetzten Teil des ehemaligen Vielvölkerstaats Polen, geborene und 1980 in Warschau gestorbene Iwaszkiewicz gilt z. B. als derjenige polnische Lyriker, welcher dem Thema Musik mehr Raum gewidmet hat als alle übrigen Lyriker des 20. Jahrhunderts. 2 Dieser Befund lässt sich mit biographischen Daten in Verbindung bringen: Seit seiner Jugend mit der Künstlerfamilie der Szymanowskis befreundet, hat Iwaszkiewicz - außer Jura - zunächst Musikwissenschaft studiert; er hat nicht nur das Libretto für eine von Karol Szymanowskis Opern geschaffen, 3 sondern auch Monographien zu Johann Sebastian Bach, Frédéric Chopin und Karol Szymanowski vorgelegt. 4 Das Künstlerthema bildet auch in Iwaszkiewiczs - im Vergleich mit Lyrik und Prosa eher begrenztem - Dramenschaffen einen deutlichen Akzent. Drei der sieben Bühnenwerke gelten Künstlern, nämlich Aleksandr Puškin, Frédéric Chopin und George Sand sowie Honoré de Balzac. Während Iwaszkiewiczs lyrisches und Prosaschaffen zu der am besten untersuchten polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts gehört, 5 haben die Dramen offensichtlich weniger Beachtung gefunden. An dieser Stelle sollen nur die beiden „berühmtesten“ Stücke 6 - vor allem diejenigen, die 1 Vgl. Rapacz (1989), S. 1471. 2 Vgl. G owi ski (1992), S. 550. 3 Vgl. Marczak-Oborski (1991), S. 432. 4 Vgl. Rapacz (1989), S. 1471. 5 Vgl. Czy ak/ Galant/ Kuczy ska-Koschany (1999), S. 9. 6 Vgl. Czerwi ski (1988), S. 91. <?page no="206"?> B RIGITTE S CHULTZE 206 im polnischen Bühnenrepertoire Bestand haben - vorgestellt werden. Die beiden am häufigsten inszenierten Stücke sind der 1936 entstandene Dreiakter Sommer in Nohant (Lato w Nohant) und die 1958 abgeschlossene, dreiaktige „Komödie“ Die Hochzeit des Herrn Balzac (Wesele Pana Balzaca). Diese beiden Dramen sind, so viel sei vorab festgestellt, in hohem Maße dadurch gekennzeichnet, dass sie die Spiegelfunktion ästhetischer und gesellschaftlicher Tendenzen kaum bzw. gar nicht erfüllen. Dass beide Kammerspiele, wie zu zeigen sein wird, auf bemerkenswerte Art unberührt von den jeweiligen ästhetischen und gesellschaftlichen Tendenzen scheinen, hat offensichtlich mit Iwaszkiewiczs Verständnis von seinem Künstlertum und wohl auch mit der Autostilisierung gemäß diesem Selbstbild zu tun. Der Vorstellung der beiden Fallbeispiele sind daher einige Überlegungen zu dem überaus fleißigen und vielseitigen, jahrelang als polnischer Nobelpreisträger ‚gehandelten’ Autor 7 vorauszuschicken. Iwaszkiewicz, der 21 Jahre lang, von 1959 bis zu seinem Tode, Präsident des polnischen Schriftstellerverbandes war, gilt als eine der „umstrittenen Gestalten der zeitgenössischen polnischen Literatur“. 8 Das weit verbreitete Unbehagen an seiner Person betrifft dabei nicht den „schriftstellerischen Rang“ 9 , sondern den Umgang mit den politisch Mächtigen, mit Geschichte überhaupt. Der Schweizer Slavist German Ritz spricht hier von einem „uneindeutigen Verhältnis zur Macht“. 10 Die polnische Iwaszkiewicz-Spezialistin Anna Nasi owska hebt hervor, dass Iwaszkiewicz „gegenüber manchen Seiten gemeinschaftlichen Lebens [. . .] komplette Unempfänglichkeit“ 11 gezeigt habe. Iwaszkiewicz selbst habe sich als „aspo eczny“ (etwa: ‚ohne Gemeinsinn’, ‚gesellschaftlich abstinent’) 12 bezeichnet. Diese Haltung sei - zur Irritation vieler Beobachter - von den Mächtigen der Zeit des realen Sozialismus akzeptiert, d. h. niemals zu einem Problem gemacht worden. So habe etwa das Gierek- Regime diesen Schriftsteller „mit höchster Wertschätzung umgeben“, obwohl völlig klar gewesen sei, dass er mit der „Ideologie“ dieses Regimes, dem „Historischen Materialismus“, „nichts gemeinsam“ gehabt habe. 13 So ergibt sich das Bild eines sonderbaren Status quo, bei welchem weder der Autor noch das Regime nach einer Klarstellung verlangten. Mit Blick auf das Regime ist zu bedenken, dass dieser Autor einer der gebildetsten Vertreter seiner Generation, ein international anerkannter, in viele Sprachen übersetzter und verfilmter Vertreter Polens war. Neben 7 Vgl. Nasi owska (1994), S. 162. 8 So lautet der Titel eines von A. Brodzka 1994 edierten Sammelbandes. 9 Brodzka (1994), S. 5. 10 Vgl. Ritz (1995). 11 Nasi owska (1994), S. 157. Deutsche Übersetzungen hier und im Folgenden von B. Schultze. 12 Nasi owska (1994), S. 158; vgl. auch S. 160. 13 Vgl. Nasi owska (1994), S. 163. <?page no="207"?> Künstlertum als Bindung: Jaros aw Iwaszkiewiczs Kammerspiele 207 einem Mosaik negativer bzw. ungeklärter, nicht eindeutiger Positionen gibt es aber auch eine Teilmenge eindeutiger, vielfach bestätigter Haltungen Iwaszkiewiczs. Diese hängen, soweit erkennbar, vor allem mit dem imaginierten, wohl auch aktiv vertretenen, Selbstbild als Künstler zusammen. Als eines der Grundelemente seiner Identität als Künstler - und dies war offensichtlich gleichbedeutend mit Iwaszkiewiczs Identität - hatte er sich seine adlige Herkunft aus den kresy, d. h. aus den weiten östlichen Räumen des ehemaligen Vielvölkerstaats, zurechtgelegt. Dies war insofern begründet, als er aus der kleinen bzw. mittleren Szlachta der kresy stammte. 14 Mit Blick auf Iwaszkiewiczs Verhalten und Verhaltensmuster nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert Nasi owska bündig: „Iwaszkiewicz liebte Reisen, die Aristokratie, künstlerische Elite.“ 15 Für die hier interessierende Frage des künstlerischen Selbstverständnisses ist diese Aussage durchaus relevant: Der gegenüber dem Schicksal der gesamten polnischen Gesellschaft indifferente, abstinente Schriftsteller sah nämlich seine Verantwortung vor allem da, wo Künstler in Not waren. Während des Zweiten Weltkriegs war z. B. das Anwesen seiner Frau eine „Oase“ für in Not geratene Künstler. 16 Die Wahrnehmung von Verantwortung für diese Teilmenge einer Bevölkerung gehörte offensichtlich zum Lebensprogramm sowohl Iwaszkiewiczs als auch seiner Frau. Auch wenn dieses biographische Faktum gewiss nicht überstrapaziert werden darf, ist eine Spur davon in Iwaszkiewiczs fiktionalen Texten, insbesondere in der Prosa, nicht zu übersehen: Bei der überaus facettenreichen Darstellung der Künstlerthematik geht es nicht allein um namhafte Künstler oder Genies, sondern überhaupt um Künstler, die mit ihrer Tätigkeit existentiell verbunden sind, wie z. B. der Geigenspieler Friedenssohn, ein jüdischer Emigrant, den der Ich-Erzähler in Mendelssohns Quartet (Kwartet Mendelssohna) auf einer Südamerika-Reise trifft. Die Affinität zu einem adligen, insbesondere aristokratischen Milieu, eine spezifische ‚gesamtgesellschaftliche Abstinenz’ und auch die Ausrichtung auf Gestalten, die - auf die eine oder andere Art - für eine der Künste offen sind, werden bei der Betrachtung der beiden Dramenbeispiele zu beobachten sein. Mit Blick darauf, dass zum Entstehungszeitpunkt beider Stücke, d. h. in den 1930er und späten 1950er Jahren, gänzlich unterschiedliche ästhetische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen gegeben waren, sind beiden Fallstudien knappe Überlegungen zu dem jeweiligen Kontext dieser beiden Künstlerdramen voranzustellen. 14 J. Rohozi ski ((1984), S. 380) spricht von „adliger Intelligenz“ der kresy und betont dabei die multikulturelle - russische, ukrainische und polnische - Ausrichtung dieses Lebensraumes. Vgl. dazu auch Nasi owska (1994), S. 166 f. 15 Nasi owska (1994), S. 162. 16 Vgl. Nasi owska (1994), S. 160. <?page no="208"?> B RIGITTE S CHULTZE 208 Iwaszkiewiczs 1936 abgeschlossener und uraufgeführter Dreiakter Sommer in Nohant (Lato w Nohant) 17 gehört in ein - nahezu europaweit - auffallend heterogenes Jahrzehnt. Dies betrifft gleichermaßen die gesellschaftliche, politische und künstlerische Situation. In Polen setzt sich z. B. das heterogene Bild des Dramenschaffens wie auch der Bühnenproduktion aus folgenden Teilmengen zusammen: 1. Es gibt einzelne Stücke der zweiten historischen Avantgarde, z. B. von Witkiewicz, auch der ‚typologischen’ Avantgarde, z. B. Witold Gombrowiczs Yvonne, die Burgunderprinzessin (Iwona, ksi niczka Burgunda, 1937/ 38); 2. Von Shaws Bühnenschaffen angeregt entstehen Konversationskomödien, die auch aufgeführt werden; 3. Ein neues, kurzlebiges Bühnengenre ist die sog. „wissenschaftliche Komödie“, d. h. der mit sprachlichem Witz angefüllte, dramatisierte wissenschaftliche Vortrag, etwa Antoni Cwojdzi skis Einsteins Theorie (Teoria Einsteina, 1934); 4. Ferner gibt es ein Spektrum von Stücken, die auf politische und gesellschaftliche Veränderungen und Bedrohungen reagieren, z. B. antifaschistische Satiren; 5. Es entstehen sog. „psychologische Komödien“ unterschiedlicher Thematik und Anlage; eine ganze Gruppe von Stücken gilt Genderaspekten, etwa Zofia Na kowskas Haus der Frauen (Dom kobiet, 1930); zu dieser Spielart der Komödie oder auch ‚ernsten Komödie’ mit psychologischer Ausrichtung zählt die vie romancée als „neues Modell“ des Theaters der 1930er Jahre. Es geht um eine „szenische Entsprechung der belletristischen Verarbeitung“ von Lebenssituationen eines herausragenden Künstlers. Eben dieses „neuen Modells“ hat Iwaszkiewicz sich - allerdings nur in der formalen Anlage - zum einen mit Sommer in Nohant zum anderen mit Maskerade (Maskarada, 1938), einem Stück zu Puškins Lebensende, bedient. 18 Sommer in Nohant lässt sich somit in den ästhetisch heterogenen 1930er Jahren verorten. Es sollte noch eine weitere Zuordnung mitbedacht sein. Wie die Forschung wiederholt herausgestellt hat, mehren sich - insbesondere in der Lyrik - in den 1930er Jahren Zeichen einer Rückbindung an oder auch Fortführung von thematischen und ästhetischen Akzentsetzungen der klassischen Moderne. Signalsetzungen zur „Spätmoderne“, für die z. B. die polnische, tschechische und slovakische Lyrik zahlreiche Beispiele hat, 19 gibt es offensichtlich auch im Dramenschaffen. Möglicherweise ist Iwaszkiewiczs Chopin-Drama - in gewissem Umfang - auch mit Rückbindung an ein dominantes Thema der Moderne zu begründen. Zunächst ist also festzuhalten, dass bei dem hier zu betrachtenden Bühnenwerk die Sondierung von Künstlerproblemen nicht mit einem 17 Vgl. Kelera (1992), S. 196: Lato w Nohant ist, soweit erkennbar, 1949 mit Blick auf eine Inszenierung am Deutschen Nationaltheater Weimar übersetzt und als Bühnenmanuskript gedruckt worden. Eine Aufführung ist jedoch nicht zustande gekommen. Vgl. dazu Misterek (2002), S. 264, 273. 18 Vgl. Kelera (1992), S. 195 f. 19 Vgl. Kliems / Raßloff / Zajac (2006a). <?page no="209"?> Künstlertum als Bindung: Jaros aw Iwaszkiewiczs Kammerspiele 209 Beitrag zur Innovation von Drama und Theater einhergeht: Iwaszkiewicz, der um 1920 - als Mitglied der Gruppierung Skamander - schon einmal in Codes der Frühavantgarde gedichtet und an Theaterhappenings mitgewirkt hatte, 20 lässt in Lato w Nohant gleichsam die eigene Erfahrung mit der Avantgarde hinter sich. Mit dem Künstler Chopin (1810-1849), dem „wichtigsten Helden in Iwaszkiewiczs Oeuvre“ 21 , sind historisch-biographische Geschehnisse der 1840er Jahre aufgerufen. Während der Nebentext die genaue Jahreszahl durch suggestive Pünktchen ersetzt („184…“ 22 ), geht die Forschung von 1847 als dem gemeinten historischen Jahr aus. 23 Die dargestellten Sommertage auf George Sands Anwesen wären danach etwa zwei Jahre vor Chopins Tod zu denken. Iwaszkiewicz geht es offensichtlich nicht um solche historische Genauigkeit. Entscheidend ist vor allem - das wird wiederholt direkt ausgesprochen -, dass die Zeit einer leidenschaftlichen Beziehung zwischen Chopin und George Sand weit zurückliegt. In einem Replikenwechsel zwischen der Schriftstellerin und deren Tochter Solange erklärt George Sand, Chopin habe sie bereits zu Beginn des von großen Erwartungen begleiteten Kuraufenthalts in Mallorca (das historische Datum lautet 1838) in die Rolle einer „Krankenschwester“ (L, S. 146) gezwungen. Ein weiteres historisches Datum, das gleichfalls nicht genannt wird, ist die Entstehungszeit der Sonate h-Moll op. 58. Diese Sonate, die Chopin 1844, fünf Jahre vor seinem Tode, komponiert und der Comtesse Emilie de Penthuis gewidmet hatte, 24 ist das strukturelle, atmosphärische und axiologische Zentrum des Kammerspiels: Während sich eine Mikrogesellschaft mit Liebeleien, Zank, Spaziergängen, Kartenspiel u. a. m. die Zeit vertreibt, darf Chopin auf Anweisung der Herrin von Nohant - abseits vom Lärm des Salons - an der begonnenen Sonate h-Moll weiterkomponieren. George Sand hat somit nicht nur den Rollenwechsel von einer Geliebten zur „Krankenschwester“ bis in die dargestellte Gegenwart hinein durchgehalten; sie schützt, offensichtlich nicht ganz ohne eigene Interessen, das musikalische Genie vor mancherlei Störungen des banalen Alltags. Die Frage, ob und in welchem Maße die dargestellte Gesellschaft das Genie Chopin und künstlerische Höchstleistung zu schätzen vermag, gehört zu den Fragen, die in dem Kammerspiel sondiert werden. Die strukturgebende und strukturtragende Funktion der h-Moll- Sonate besteht zunächst darin, dass Chopins Arbeit an dieser Sonate nahezu ununterbrochen akustisch gegenwärtig ist. Wesentliche Teile, die bereits vorliegen - die beiden ersten Sätze („Allegro maestoso“, „Scherzo: 20 Dazu Rohozi ski (1984), S. 380; Nasi owska (2000), S. 242. 21 Maci g (1959), S. 103. 22 Iwaszkiewicz (1980), S. 72 (Lato w Nohant). Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden unter der Chiffre L im Haupttext zitiert. 23 Vgl. Werder (1990), S. 503. 24 Vgl. Rueger (1998), S. 255. <?page no="210"?> B RIGITTE S CHULTZE 210 Molto vivace“) und das Finale („Presto non tanto“) 25 - klingen immer wieder an. Der Künstler ringt vor allem um den mittleren Teil des Largo, d. h. um den dritten Satz. Bis er gegen Ende des II. Aktes das erste Mal auftritt, ist Chopin lediglich als Gesprächsthema und „durch einzelne Takte der Sonate“, die „durchgespielt und bearbeitet werden“ (L, S. 73), anwesend. Zu Beginn des II. Aktes, „vor einem Gewitter“, „sind Teile des Largos und des Scherzos, das Thema des Finales vernehmbar“, wobei „häufige Unterbrechungen im Spiel [von] Gewitterschlägen“ erfüllt sind (L, S. 113). 26 Zu Beginn des III. Aktes ist dann das Klavierspiel unterbrochen: Chopin, der einen banalen Streit mit George Sands verwöhntem, herrschsüchtigen Sohn Maurice zum Anlass nimmt, nach Paris zurückzukehren und sich somit von der Fürsorge wie auch Abhängigkeit von der Schriftstellerin zu lösen, lässt das Klavier aus seinem abgelegenen Zimmer in den Salon zurücktragen. In einer Situation allgemeinen Aufbruchs, in welcher mehrere Paare und Einzelgestalten bereits den Salon, teilweise auch das Haus, verlassen haben (Solange hat sich überstürzt zu einer Ehe mit Clésinger, dem früheren Geliebten ihrer Mutter; entschieden, die von Maurice ausgenutzte entfernte Verwandte Augustyna und der Maler Rousseau schließen sich Chopin an (L, S. 186 f.)), setzt Chopin sich - bereits in Reisekleidern - ans Klavier und komponiert das Largo zu Ende. Anregungen gibt ihm dabei die Musik von Johann Sebastian Bach. Von dem „mit geschlossenen Augen spielenden“ Chopin unbemerkt, „kehren“ alle Gestalten „langsam auf die Bühne zurück“ (L, S. 190). Bei allmählich verlöschendem Licht setzt sich gleichsam das akustische Feld als einziges durch. Die axiologische bzw. im weiteren Sinne deutungsbezogene Rolle der Musik ist u. a. darin greifbar, dass die Gesprächsbeiträge einzelner Rollenfiguren - alltäglich-banale oder auch tiefernste - durch einzelne Takte der Sonate unterstrichen, im Sinne des Kontrapunkts exponiert sein können. Ein musikorientierter Regisseur findet hier manche gestalterische Möglichkeiten. Die Stelle von Künstler und Künstlertum sowie das Verhältnis von Kunst und Lebenswelt sind in Lato w Nohant jedoch nicht nur durch Chopins Arbeit an der h-Moll-Sonate in Szene gesetzt. Von insgesamt zwölf Rollenfiguren üben vier einen künstlerischen Beruf aus. Neben der durch Chopin vertretenen Musik gibt es die durch George Sand vertretene Wortkunst; überdies sind die bildenden Künste zweifach repräsentiert - durch den jungen Maler Rousseau und durch den groben, zynischen Bildhauer Clésinger. Eine Debatte der drei Kunstrichtungen untereinander, z. B. über gemeinsame Anliegen in der Gesellschaft, bleibt jedoch 25 Vgl. Rueger (1998), S. 255. 26 Die Schaffung von Atmosphäre und eine Reihe weiterer Verfahren bringen Bühnenwerke von echov und Turgenev in Erinnerung. <?page no="211"?> Künstlertum als Bindung: Jaros aw Iwaszkiewiczs Kammerspiele 211 Leerstelle. Die Vertreter der bildenden Künste sehen sich bisweilen durch die Musik gestört (L, S. 80); entsprechend „verzieht Chopin“ beim Anblick von Malerei, „sogar von Delacroix“, „das Gesicht“ (L, S. 95); dagegen hat sich die Schriftstellerin daran gewöhnt, während Chopins Klavierspiel Korrekturarbeiten zu machen (L, S. 92). Iwaszkiewicz hat die einzelnen Künste von Anfang an einer Art Ranking unterzogen. So sind die beiden Vertreter der bildenden Künste niemals als Figuren dargestellt, die persönlich-existentiell mit ihrem Material und dessen Ausdrucksmöglichkeiten verbunden sind. Beiden fällt es denn auch nicht schwer, ihre jeweiligen künstlerischen Vorhaben (beiden dient George Sands Tochter Solange als Modell) dem Rhythmus des Lebens zwischen Salon und Sommergarten nachzuordnen. Ein expliziter und impliziter Diskurs zu Künstler und Künstlertum findet dagegen zwischen Chopins Arbeit als Komponist und George Sands Rolle als Schriftstellerin statt, wobei George Sand ihre Doppelrolle als Mutter und Schriftstellerin bzw. die Gefährdung ihrer Schriftstellerexistenz durch die Mutterrolle thematisiert. In ihrer Selbstbeschreibung sieht sie sich als „Genie“ (L, S. 102), bezeichnet ihre schriftstellerische Tätigkeit jedoch als „Arbeit“ („praca“ (L, S. 75)), die sie „von der Wirklichkeit ablenkt“ (L, S. 76). Die Möglichkeit eines Erkenntnisauftrags an die Literatur wird an keiner Stelle in Erwägung gezogen. Anders als die Schriftstellerin George Sand, hat Chopins Klavierschülerin Rozjerka (Mademoiselle de Rosières) eine Ahnung von der Andersheit des begnadeten Künstlers. Rozjerka versucht mehrfach die ‚Grenze’ zwischen gewöhnlichen Menschen und der künstlerischen Ausnahmeexistenz sprachlich zu fassen: „Aber trotz allem ist das ein ungewöhnlicher Mensch. Ich habe immer den Eindruck, dass das ganze Nohant von seiner Atmosphäre erfüllt ist.“ („Zawsze mam takie wra enie, e ca e Nohant jest przepe nione jego atmosfer .“ (L, S. 97)); „selbst wir, die Musiker, wissen das nicht richtig zu würdigen oder auch verstehen das an ihm nicht, was vielleicht das Wichtigste ist [. . .].“ („Nawet my, muzycy, nie doceniamy albo i nie rozumiemy w nim tego, co mo e jest najwa niejsze [. . .].“ (L, S. 99)). Auf George Sands wiederholte Klage, der Komponist sei dem Schriftsteller gegenüber privilegiert, da ihm doch alles „allzu leicht [. . .] zukomme“ („przychodzi [. . .] zbyt atwo“ (L, S. 99)), macht Rozjerka auf Chopins unendlich „qualvolle“ Arbeit an der Sonate („m czy si “, „m ka“ (L, S. 99)) aufmerksam. Dies ist die weiteste sprachliche Annäherung an Chopins Künstlertum. Für die Schriftstellerin George Sand gibt es hier eine Verstehensgrenze. Dagegen hat sie im Laufe von Jahren Einsicht in die Tatsache gewonnen, dass die Musik Chopins einzig wirkliche, dauerhafte Bindung und innerlich akzeptierte Verpflichtung ist. Als Solange sich, gewiss nicht ohne jugendliche Schwärmerei, in Chopin verliebt hat und an eine Bin- <?page no="212"?> B RIGITTE S CHULTZE 212 dung denkt, lenkt George Sand die Aufmerksamkeit ihrer Tochter auf eben dieses Moment: [. . .] mo e nigdy nie wyrazi am tego tak dobitnie. [. . .] Mi o [. . .] odsunie go od tego, co jest istot jego ycia - od sztuki. (L, S. 145 f.) [. . .] vielleicht habe ich dies noch nie so prägnant ausgedrückt. [. . .] Liebe [. . .] wird ihn dem entziehen, was die Essenz [das Wesen, Anm. d. Verf.] seines Lebens ist - der Kunst. Angesichts dieser Einsicht setzt die Schriftstellerin alles daran, ihre Tochter rasch mit jemand anders zu verheiraten. Nachdem Solange den sie verehrenden und liebenden Nachbarssohn Fernand abgewiesen hat, ist selbst der grobe, hoch verschuldete Bildhauer Clésinger als Schwiegersohn akzeptiert. Solange wird die Trennung von Chopin dadurch erleichtert, dass er auch ihr gegenüber menschliche Defizite zeigt, die bereits ihrer Mutter zugesetzt haben: Der Künstler ist nahezu unfähig, sich spontan zu einer zwischenmenschlichen Beziehung zu bekennen. Als Solange ihn wissen lässt, sie sei mit Clésinger verlobt, bringt er lediglich eine formelle Reaktion über die Lippen. „Ach, ja . . . Gratuliere herzlich . . .“ („Ach, tak . . . Winszuj serdecznie . . .“ (L, S.150)). Zu einem späteren Zeitpunkt gibt er dann zu erkennen, dass ihm das Schicksal von Solange keineswegs gleichgültig ist. Ihr gesteht er auch, dass sein ‚Handicap’, für seine Gedanken keine Sprache finden zu können, überaus „quälend“ („m cz ce“ (L, S. 179)) sei. In dieser bedingungslosen Bindung an die Musik und Verpflichtung gegenüber dem künstlerischen Schaffen ist ohne Frage eine zentrale Aussage von Sommer in Nohant zu sehen. Chopins Kontaktarmut und Hilflosigkeit in zwischenmenschlich bedeutsamen Situationen gehört dabei zu einer Künstlerdarstellung, die, wie zu zeigen sein wird, auch in Die Hochzeit des Herrn Balzac (Wesele Pana Balzaca) wiederkehrt: Künstlertum, dem das Epitheton „Genie“ zukommt, geht bei Iwaszkiewicz mit auffallenden Defiziten im zwischenmenschlichen Verhalten und im Lebensalltag einher. Bei Chopin gehört z. B. auch leichtes und anhaltendes Gekränktsein durch nichtige Anlässe zu solchen Unzulänglichkeiten. 27 Die hier skizzierten Diskurse, oder genauer: Ansätze von Diskursen zum Wesen des Genies und zu Künstlertum als einer Form exklusiver, dauerhafte Liebesbeziehungen ausschließender Bindung sind nun, das sei betont, nur eine Teilmenge der in diesem Stück aufgerufenen ‚Beobachtungsorte’ von Differenz und Andersheit. Neben der Andersheit des mu- 27 Hier geht es also nicht um die vie romancée im Sinne der bei Wilpert (2001, S. 442) beschriebenen „dramatisierten Künstlerbiographie als anekdotenhafter Aneinanderreihung überlieferter Episoden ohne tieferes Eingehen auf die Probleme des Künstlertums“. <?page no="213"?> Künstlertum als Bindung: Jaros aw Iwaszkiewiczs Kammerspiele 213 sikalischen Genies wird eine Fülle weiterer, wiederum ansatzweiser Diskurse zu Differenz und Andersheit geboten: Es geht um die nicht zu überbrückende Andersheit von Mann und Frau (L, S. 161), den „Abgrund“ („przepa “) zwischen Franzosen und Polen (L, S. 157-160) u. a. m. Auch wenn die Künstlerthematik im Vordergrund steht, Lato w Nohant somit zu Recht als Künstlerdrama gesehen wird, lässt sich die Häufung von Diskursen zu Differenz und Andersheit nicht übersehen. Die Künstlerthematik wird durch diese zusätzlichen Differenzbekundungen unterlaufen, teilweise aufgeweicht. Einige Überlegungen seien auch dem Schlussbild gewidmet, in dem die Musik Chopins - als magische, jeden individuellen Willen brechende Kraft - alle ständigen Bewohner und abreisenden Gäste von Nohant in den Salon zurückzieht bzw. -zwingt. Die Deutung von Lato w Nohant als „dramatische Apotheose der Musik und des musikalischen Genies“ 28 erfährt durch dieses Schlussbild eine besondere Unterstützung. Ob diese Form der ‚Problembeseitigung’ bzw. Harmonisierung von Theaterbesuchern akzeptiert wird, dürfte sowohl von der szenischen Realisierung als auch von den einzelnen Rezipienten abhängen. Auf das in Lato w Nohant enthaltene Inszenierungsangebot und auf das Bild des mit menschlichen Defekten ausgestatteten Genies ist nun in Verbindung mit dem zweiten Fallbeispiel zurückzukommen. Das Jahr der Entstehung und Uraufführung von Die Hochzeit des Herrn Balzac (Wesele Pana Balzaca) 1958, fällt mit einer wichtigen Zäsur für das polnische Drama und Theater in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammen. Nachdem die gesamte polnische Literatur, insbesondere nach 1956, „ideologische Abrechnung mit dem Stalinismus“ betrieben hatte, „gewinnt um 1958“ das Drama und Theater ein „spezifisch ausgewiesenes Profil“ 29 . Die durch den - wenn auch niemals umfassend verbindlichen - Sozialistischen Realismus 30 „verlorenen Jahre“ werden nun „auf ungewöhnlich dynamische Art [. . .] nachgearbeitet“. Dabei helfen die „herausragenden Werke der Weltliteratur“, d. h. Stücke von Sartre, Camus, Miller, Beckett, Ionesco, Genet und vielen anderen. 31 Bei der dramatisch-theatralen Verarbeitung der Diktaturen des 20. Jahrhunderts setzt das polnische Drama und Theater vor allem auf die transkulturell zugängliche Parabel. 32 1958 wird z. B. S awomir Mro eks Parabel zum Wesen eines Polizeistaats, Polizei (Policja), uraufgeführt. 33 In die Jahre um 28 Werder (1990), S. 503. 29 Kelera (1992), S. 200. 30 Vgl. Schultze (2006), S. 113; vgl. auch Olschowsky (1990), S. 323 und Kliems/ Raßloff/ Zajac (2006b), S. 9. 31 Vgl. Kelera (1992), S. 200. 32 Vgl. Kelera (1992), S. 200, 202. 33 Vgl. Kelera (1992), S. 202. <?page no="214"?> B RIGITTE S CHULTZE 214 1958 fallen dann auch Neuinszenierungen von Witkiewiczs (Witkacys) Stücken, für dessen heterogenen, im Kern avantgardistischen Code es in Polen „im Grunde keine Inszenierungstradition gab“ 34 . Iwaszkiewiczs Die Hochzeit des Herrn Balzac traf somit auf eine überaus lebendige, auf Innovation eingestellte Theatersituation. Während das Künstlerdrama Sommer in Nohant - wenigstens vom thematisch-formalen Vorwurf her - als vie romancée zu dem gemischten Repertoire der 1930er Jahre passt, stehen die in Szene gesetzten Tage vor Honoré de Balzacs Hochzeit in der Ukraine eher als Sonderfall da. Der dargestellte, historisch-biographische Zeitpunkt ist dabei genauer bestimmt als derjenige aus Chopins Künstlerleben. Wesele Pana Balzaca zeigt einige Tage Anfang März des Jahres 1850; der Ort des Geschehens ist der ukrainische Palast der Gräfin Ewelina Ha ska-Rzewuska in Wierzchownia. Nach einem schneereichen Winter lässt das Frühlingstauwetter noch auf sich warten. 35 Unweit des Palastes wohnt - von Ewelina Ha skas Verwandten, Dienstpersonal und Gästen räumlich getrennt - der Schriftsteller Honoré de Balzac in einem Gartenpavillon. Mit der ihm eigenen Besessenheit im Schreibprozess gebunden wartet Balzac darauf, dass die Gräfin Ha ska ihren Besitz in der Ukraine, vor allem ihr Hauptschloss, verkauft und mit ihm gemeinsam das von ihm minutiös geplante luxuriöse Domizil in Paris bezieht. Die von Ewelina Ha ska lange hinausgezögerte Trauung soll am Beginn der Reise nach Paris, noch in der Ukraine, stattfinden. Ha ska, die Balzac seit etwa 17 Jahren kennt und noch vor dem Tode ihres ersten Mannes in langjähriger Korrespondenz mit dem Schriftsteller verbunden war, befindet sich emotional und sachlich in einer komplizierten Situation. Es gibt hier keine eindeutige Lösung; ähnlich wie bei der Beziehung zwischen Chopin und George Sand, ist auch in dem Verhältnis zwischen Ha ska und Balzac die Zeit großer persönlicher Nähe längst Vergangenheit; Ewelina Ha ska weiß sich persönlich gebunden an ihr Besitztum und die Lebensformen der polnischen Aristokratie in der Ukraine; sie weiß, dass ihre Familie ihren Rollenwechsel zur „Pariser Bürgerin“ (W, S. 532) missbilligt. Nachdem Ha ska in einer Reihe von Gedankenspielen und tatsächlichen Inszenierungen Modelle einer Trennung von Balzac und des Weiterlebens in der Ukraine getestet hat (sie prüft ihre Wirkung auf Männer ihrer heimischen Umgebung), fügt sie sich in den Weg, den ihr Leben nun einmal genommen hat, d. h. mit Balzac nach Paris zu gehen. Das Stück lässt offen, ob die ‚Unterwegs-Trauung’ - „bei solchem Wetter“, „bei solcher Schneeschmelze“ (W, S. 618) - den von der Wirklichkeit losgelösten Planungen Balzacs folgt oder noch aufgeschoben wird. Nicht erwähnt sind auch die 34 Fik (1992), S. 207. 35 Vgl. Iwaszkiewicz (1980), S. 504 (Wesele Pana Balzaca). Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden unter der Chiffre W im Haupttext zitiert. <?page no="215"?> Künstlertum als Bindung: Jaros aw Iwaszkiewiczs Kammerspiele 215 weiteren historisch-biographischen Fakten: Balzacs früher Tod in Paris am 18. August des gleichen Jahres. Die Hochzeit des Herrn Balzac und Sommer in Nohant sind als Künstlerdramen dadurch aufeinander bezogen, dass in beiden Fällen die fundamentale Andersheit des Künstlers gegenüber seiner menschlichen und gesellschaftlichen Umwelt herausgestellt ist. Auch die Rahmenbedingungen für das künstlerische Schaffen sehen ähnlich aus: In beiden Fällen kann der Künstler seinem Schaffen als privilegierter Gast eines aristokratischen Hauses nachgehen, kann z. B. selbst entscheiden, in welchem Maße er sich in das Leben des ihn umgebenden Mikrokosmos integrieren will oder auch nicht. Während Chopin, von der Arbeit an seiner Sonate ‚gefangen’, eine Integration in den sommerlichen Zeitvertreib auf Nohant meidet, gibt es bei Balzac so etwas wie eine partielle Überintegriertheit: Balzac ist nämlich gleichsam zweifach besessen - zum einen von seinen schriftstellerischen Plänen und seinem Schreibprozess, zum anderen von seiner Gier nach vielfältigem Lebensgenuss. Während er vor allem die nächtliche Stille zum Schreiben nutzt, setzt er tagsüber seine Vorlieben und Ansprüche gegenüber dem Koch Anton durch (z. B. W, S. 542), sondiert die Möglichkeiten zum Erwerb von Nerzfellen anlässlich der Trauung mit Ewelina Ha ska (W, S. 617), usw. In der Außensicht mehrerer Rollenfiguren wird Honoré de Balzac so dargestellt, wie Autoren der Süddeutschen Zeitung ihn anlässlich der unlängst erschienenen Biographie von Johannes Willms porträtieren: Willms erzähle den Lebensroman dieses von geradezu selbstzerstörerischer Schreibwut besessenen Genies [. . .], von seiner unheilbaren Sucht nach dem Luxus von Mahagonimöbeln, edlen Spazierstöcken [. . .] und seiner dafür notwendigen Meisterschaft im Schuldenmachen [. . .] der [. . .] kurz vor seinem Ende doch noch gleichsam die Prinzessin zur Frau bekommt [. . .]. 36 Während die „selbstzerstörerische Schreibwut“ dem Blick der Bewohner und Gäste in Ha skas Schloss weitgehend entzogen ist, ist die „Sucht nach [. . .] Luxus“ diejenige Seite von Balzacs Persönlichkeit, mit welcher Ewelina Ha ska und ihr Haus fortwährend konfrontiert sind. Auch wenn Balzac die Gräfin buchstäblich zum Angel- oder Zielpunkt seines Lebens erklärt - „alles, was ich bisher getan habe, habe ich für sie getan“ („wszystko, co uczyni em dotychczas, uczyni em dla niej“ (W, S. 570) -, ist er völlig unempfänglich gegenüber der Tatsache, dass sie gerade dabei ist, seinetwegen ihr Familieneigentum und ihre vertraute Umgebung aufzugeben. Hemmungslos verplant er das vorhandene und das noch zu erarbeitende Geld seiner künftigen Frau: 36 SZ (2007), S. 16. <?page no="216"?> B RIGITTE S CHULTZE 216 Ch opi powinni robi [. . .], pszenica powinna pój do Odessy. [. . .] Jednym s owem Halperyn musi nam po drodze te osiemna cie tysi cy dla Rotszyldów da . (W, S. 618) Die Bauern müssen arbeiten [. . .], der Weizen muss nach Odessa gehen. [. . .] Mit einem Wort, Halperyn muss uns unterwegs die achtzehntausend für die Rothschilds geben Diese und ähnliche Planungen Balzacs werden nicht in gemeinsamen Gesprächen weiterverhandelt. Das unterstreicht ihre Funktion bei der Herstellung des Persönlichkeitsbildes des Ausnahmemenschen Balzac. In einer Reihe von Replikenwechseln werden zum einen die Genusssucht, zum anderen der Schreibzwang des Schriftstellers thematisiert und - zumeist aus der Perspektive des Unten - in Frage gestellt. Vom Podest eines über anderen Menschen stehenden Ausnahmemenschen holen z. B. die Diener Leon und Mosiej sowie Ha skas arme Verwandte Dyzia den Schriftsteller herab. Angesichts der fortwährenden Änderungen von Speiseplan und Rezeptwünschen gibt es diesen Wortwechsel: L EON : To nie pani Hrabina, to pan Balzac takie kaprysy urz dza. M OSIEJ : A re, z przeproszeniem, jak wilk. D YZIA : Dobrze, e powiedzia e wilk. (W, S. 507) 37 L EON : Es ist nicht Frau Gräfin, es ist Herr Balzac, der solche Marotten veranstaltet. M OSIEJ : Und frisst, mit Verlaub, wie ein Wolf. D YZIA : Gut, dass du Wolf gesagt hast. Als die etwas verwachsene, zu Bosheiten neigende Dyzia mit ihrer verbalen Demontage des Schriftstellers fortfährt - „Was ist denn dieser gewisse Herr Balzac? “ („Có to jest ten jaki pan Balzac? “ (W, S. 509)) -, liefert die vom Schicksal begünstigtere, gleichfalls bei der Gräfin lebende Verwandte Sewerka diese offizielle Version eines Balzac-Verständnisses: „Balzac ist doch der größte Schriftsteller Frankreichs.“ („Przecie Balzac jest najwi kszym pisarzem Francji.“) Mit dieser Entgegnung behält Dyzia dann das letzte Wort: „Schriftsteller hin, Schriftsteller her. Was heißt das schon, Schriftsteller? Ein halbes Jahr nach seinem Tod wird sich schon niemand an ihn erinnern.“ („Pisarz, pisarz. Co to znaczy pisarz? W pó roku po mierci nikt ju o nim nie b dzie pami ta .“ (W, S. 509)) In der zeitlichen Perspektive des Jahres 1958 zeigt sich, dass die Geschichte weder Dyzia noch Sewerka Recht gibt: Balzac ist nicht „der größte Schriftsteller Frankreichs“. Und dennoch auch 108 Jahre nach seinem Tod gilt er als einer der bedeutenden Vertreter der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. 37 Vgl. Schultze (1982), S. 40 f. <?page no="217"?> Künstlertum als Bindung: Jaros aw Iwaszkiewiczs Kammerspiele 217 Derartige zwischen Ablehnung und Akzeptanz schwankende Stellungnahmen zu Balzac und dessen - so scheint es - sprichwörtlicher Andersartigkeit werden aus der Innensicht des Schriftstellers selbst ergänzt, vertieft und weitergehend ausdifferenziert, zugleich auch problematisiert und ironisiert. Einmal unterbricht Balzac sein nächtliches Grübeln und Schreiben und sucht im Schloss den Verwalter Darowski auf, um jenem ein Bild von seinen ‚Extremlagen’ zu geben. Dass er ausgerechnet diesen nüchtern veranlagten, nach eigenem Bekunden wenig lesenden, dafür aber „politische Verse“ schreibenden (W, S. 520) Verwalter ins Vertrauen zieht, kann dabei mit mangelnder Menschenkenntnis, aber auch mit dem Wunsch nach einem unvoreingenommenen Zuhörer zu tun haben. Balzac gibt nun - weitgehend ohne Distanz zu sich selbst - Beispiele seiner persönlichen Schwächen, etwa der Hypochondrie. Als Zentrum seines Lebens nennt er die „Aufgabe“, die eigentlich „Menschenkräfte [übersteige]“ („zadanie ponad si y ludzkie“ (W, S. 565): den „in seiner Art singulären Gedanken, ein Bild von der gesamten Gesellschaft zu geben [. . .]“. („pomys jedyny w swoim rodzaju, odda wizerunek ca ego spo ecze stwa [. . .].“ (W, S. 564)). Neben einem geradezu fanatischen Wunsch nach Vollständigkeit - „auf dass keine einzige Lebenssituation [. . .] der Aufmerksamkeit [entginge]“ („aby ani jedna sytuacja yciowa [. . .] nie [usz a] uwadze“ (W, S. 564)) - stehe ständige Angst vor einem Scheitern an dieser Aufgabe: „Und was dann? Es werden diese Steinberge bleiben.“ („I co wtedy? Zostan te kamienie.“ (W, S. 565)). Zur Autokreation schöpferischer Andersheit gehört aber auch Hybris: „Für mich ist alles zu wenig. Ich würde mich gern Gott ähnlich machen.“ („Dla mnie wszystko ma o. Chcia bym si upodobni do Boga.“ (W, S. 565)) Solche Hybris kippt dann wieder um in fundamentale Zweifel an den Möglichkeiten kreativer Konzentration, an der Zuverlässigkeit sprachlichen Ausdrucks, an der persönlichen Wahrhaftigkeit: „Dieser schreckliche Abgrund zwischen dem, was man schaffen wollte, und dem, was entstanden ist“ („ta straszna przepa mi dzy tym, co si chcia o stworzy , a tym, co si stworzy o“ (W, S. 565)); „Bisweilen scheint es mir, dass ich mich selbst betrogen habe, als ich die Menschliche Komödie schrieb.“ („Chwilami wydaje mi si , e zdradzi em sam siebie pisz c Komedi ludzk .“ (W, S. 567)) Angesichts solcher Selbstbekundungen, von denen hier nur ein Ausschnitt gegeben werden kann, stellt sich die Frage nach einer theatralen Realisierung. So kann zum einen die selbstmitleidige Verbosität des Egomanen, zum anderen aber die - zumindest stellenweise anklingende - Facette des von Selbstzweifeln geplagten Künstlers hervorgehoben werden. Dort, wo überdies das Stereotyp der Einsamkeit jedes großen Künstlers eingebracht ist - „Denn der Mensch ist immer allein, so allein es nur geht, nur mit dieser Lebensaufgabe“ („Bo cz owiek jest zawsze sam, jak najbardziej sam, tylko z tym zadaniem yciowym“ (W, S. 568 f.)) -, dürf- <?page no="218"?> B RIGITTE S CHULTZE 218 ten Schauspieler, den Untertitel „Komödie“ bedenkend, die Selbstbespiegelung und das Selbstmitleid, somit auch die Beschädigungen, die Balzac seiner eigenen Würde zufügt, ausspielen. Festzuhalten ist zunächst, dass der in Iwaszkiewiczs Künstlerdrama dargestellte Honoré de Balzac eher als ein zwischen lauter Wünschen, Projekten und Ängsten hin und hergerissener Zweifler denn als „verschuldeter Optimist“ 38 erscheint. Die vor allem temperament- und charakterbedingte Existenzweise Balzacs liefert auch die Rahmenbedingungen für die Hochzeit mit Ewelina Ha ska. Der in Iwaszkiewiczs Drama dargestellte Balzac ist derartig besessen von seiner „Lebensaufgabe“ und derartig fixiert auf und eingebunden in seine Vorstellungen von Lebensfülle und -genuss, dass für ein Eingehen auf einen anderen Menschen in einer Zweierbeziehung kein Raum bleibt. Die Gräfin Ha ska, der er durchaus in Dankbarkeit und Verehrung zugetan ist, hat einen festen Platz in seinem Lebensprojekt. Dem Schlossverwalter Darowski gibt er diese Stichwörter dazu: „Diese ungewöhnliche Frau [. . .] Das große Glück in meinem Leben [. . .].“ („Ta niezwyk a kobieta [. . .] To wielkie szcz cie w moim yciu [. . .].“ (W, S. 571)) Für Ewelina Ha skas schmerzhaften Weg zur endgültigen Einwilligung in eine Hochzeit mit Balzac (eine Zustimmung expressis verbis fehlt in dem Stück), in welcher offensichtlich persönlicher Anstand und Resignation miteinander einhergehen, ist der exklusiv mit sich selbst befasste Schriftsteller blind. Da der Platz für Bindung, Eingebundensein, Selbstverpflichtung usw. bereits vollständig ausgefüllt ist, erhält die Hochzeit hier eine Bedeutung, die von der geradezu topischen Stelle der Hochzeit in der polnischen Literatur grundlegend abweicht. 39 In der ‚Unterwegs-Trauung’ von Balzac und Ewelina Ha ska soll nicht - in einem magischen Akt - eine „alte Ordnung [. . .]aufgelöst“ und „eine Lebensform durch eine andere“ 40 ersetzt werden; vielmehr soll eine Hochzeit die von Maßlosigkeit bestimmte Daseinsweise Balzacs dauerhaft sichern. Im Unterschied zu anderen Hochzeiten in der polnischen Literatur stellt diese Hochzeit denn auch keine Bedrohung für den Künstler und das Künstlertum dar. 41 Von ihren traditionellen Sinngehalten gelöst, soll sie nur mehr ein Ereignis zur Feier des „Herrn Balzac“ sein (W, S. 618). Mit Blick auf die hier zusammengetragene Teilmenge des Deutungsangebots von Die Hochzeit des Herrn Balzac treten einige Probleme mit dem Konzept und Terminus ‚Künstlerdrama’ zutage: Obwohl in dem Rollenbild des Schriftstellers Balzac vertraute Denkmuster wie die Andersheit des Künstlers, die Einsamkeit des kreativ Tätigen u. a. m. vorkommen, ist 38 SZ (2007), S. 16. 39 Vgl. Schultze (1982). 40 Schultze (1982), S. 13. 41 Vgl. Schultze (1982), S. 40, 37 f. <?page no="219"?> Künstlertum als Bindung: Jaros aw Iwaszkiewiczs Kammerspiele 219 Honoré de Balzac so umfassend und vielfältig als ein Einzelbzw. Sonderfall dargestellt, dass hier korrekterweise vom ‚Drama eines Künstlers’ oder auch vom ‚Drama des Künstlers Balzac’ zu sprechen ist. Der Anlage und Ausgestaltung der zentralen Rollenfigur ist kein Deutungsangebot im Sinne einer Parabel vom großen Künstler bzw. des Künstlers in der Gesellschaft abzugewinnen. Ähnlich wie in seinem Drama Sommer in Nohant hat Iwaszkiewicz allerdings auch in seiner Hochzeit des Herrn Balzac zusätzliche Diskursmöglichkeiten zum Thema künstlerischer Andersheit geschaffen. Die wesentliche Ergänzung erfolgt durch eine weitere Rollenfigur aristokratischer Herkunft. Auf der Durchreise aus dem „Ausland“ (Weimar) zurückkehrend (W, S. 524, 527), stattet die Fürstin Karolina z Iwanowskich Sayn- Wittgenstein, die Geliebte von Franz Liszt, ihrer Cousine einen Besuch ab. Für Caroline von Sayn-Wittgenstein, deren Scheidung und Wiederverheiratung mit Liszt vom Kaiser untersagt ist (W, S. 528), besteht die Andersheit von Künstlern vor allem in ‚Raserei’, ‚Tollheit’, ‚Außer-sich-Sein’: „Alle Künstler sind mehr oder weniger sehr verrückte [wahnsinnige] Menschen.“ („Wszyscy arty ci s mniej lub bardziej szalonymi lud mi.“ (W, S. 530)) In einem Gespräch mit Ewelina Ha ska entwirft sie ihr Selbstverständnis und Selbstbild einer „nüchternen“, „vorausschauenden“ und auch opferbereiten Geliebten, welche dem Künstler für seine Arbeit ‚den Rücken freihält’. Bei diesem Dienst an der ganzen Menschheit soll dem Künstler die Möglichkeit zu autonomem Schaffen eröffnet werden - „ohne Verrat an den eigenen Grundsätzen“ („bez zdradzenia swoich zasad“ (W, S. 532)). Von solchen „Ambitionen“ (W, S. 531) distanziert sich Ewelina Ha ska; sie distanziert sich damit auch von der Vorstellung eines von seiner Geliebten oder Frau ‚gemachten’ Künstlers. Mit dem Problem künstlerischer Autonomie und den Rahmenbedingungen zur Sicherstellung solcher Autonomie ist - zumindest indirekt - die langjährige Rolle der Gräfin Ha ska in Balzacs Lebensweise angesprochen. Die fundamentale Frage nach den Chancen zur Sicherstellung künstlerischer Autonomie ist jedoch nur ‚angetippt’. Die echauffierte Art, in welcher die Fürstin Sayn-Wittgenstein den Klaviervirtuosen und Komponisten Liszt gleichsam als ihr persönliches Projekt darstellt, nimmt der Frage nach künstlerischer Autonomie ihr eigentliches Gewicht. Neben der Andersheit von zwei Künstlerpersönlichkeiten, einem Schriftsteller und einem Komponisten, sind in diesem Stück wiederum weitere Fälle von Andersheit und Differenz thematisiert. Ähnlich wie Sommer in Nohant ließe sich z. B. auch Die Hochzeit des Herrn Balzac unter Gender-Gesichtspunkten erschließen. Als Fall von Differenz wäre auch hier die Fremdheit zwischen Polen und Franzosen zu untersuchen. 42 Of- 42 Vgl. Kijowski (1978), S. 113 f. <?page no="220"?> B RIGITTE S CHULTZE 220 fensichtlich stieße man dabei aber eher auf stereotype Vorstellungen denn auf Impulse zu neuen Erkenntnissen. In diesem Zusammenhang ist noch einmal auf den Entstehungszeitpunkt der Hochzeit des Herrn Balzac, 1958, zurückzukommen. In den vorangehenden Ausführungen zu dieser „Komödie“ wird deutlich, dass Iwaszkiewicz keinen Subtext bzw. keine zweite Ebene installiert hat, welche einen Diskurs zu den Bedingungen künstlerischen Schaffens in einer Diktatur mit sich führte. Zum kommunistischen Regime, z. B. zur für Künstler immer noch gegebenen politischen Zensur, wird keine Verbindung hergestellt. Mit Blick auf die Gegenwart ist dieses Drama somit politisch abstinent. Der Rezipient wird zum - möglicherweise nostalgischen - Nacherleben eines aristokratischen Milieus in der Mitte des 19. Jahrhunderts eingeladen. Bedenkt man, dass mit Mro eks Parabel Polizei (Policja) eine große Zeit der international erfolgreichen polnischen Bühnenparabel beginnt und mit den Inszenierungen von Stücken Witkacys, Ró ewiczs u. a. das traditionelle Texttheater umfassend innoviert wird, steht Iwaszkiewiczs Künstlerdrama am Rande, wenn nicht außerhalb des aktuellen Theaterlebens, vor allem des Bühnentrends. Es verweist auf zurückliegende Dramen- und Theatercodes, darunter auf die Tradition der Salonkomödie und des Konversationsstücks. Sowohl bei Sommer in Nohant als auch bei der Hochzeit des Herrn Balzac geht es um einen spezifischen, thematisch-strukturellen Typus des Künstlerdramas: den szenisch-gestalteten Ausschnitt aus einer Künstlerbiographie. In diesem Fall wird jeweils auf eine zentrale und eine weitere Künstlerpersönlichkeit Bezug genommen. Im ersten Stück sind Chopin und George Sand zueinander ins Verhältnis gesetzt, im zweiten ist - zumindest punktuell - der Zentralfigur Balzac der zwar abwesende, jedoch eingehender besprochene Franz Liszt zugeordnet. Dem gleichen Muster folgt auch das Puškin geltende „Melodrama“ Maskarada. 43 Während in den beiden hier betrachteten Stücken eine Gesellschaft gezeigt ist, die den Künstler und Ausnahmemenschen teilweise deshalb erträgt, weil sie ihn - aufgrund der eigenen Lebensumstände - ertragen muss, ihn teilweise aber auch aktiv trägt, sind in Maskarada ein Willkürregime und eine Gesellschaft gezeigt, die dem großen Künstler keinen Raum für die von ihm benötigten Schaffensbedingungen lässt. In der vorletzten Replik des Stückes erklärt die Rollenfigur ukowskij: „Russland hat ihn [Puškin, Anm. d. Verf.] verspeist [aufgefressen, Anm. d. Verf.]. Das ist kein Land, in dem Dichter leben können! “ („Rosja go zjad a. To nie jest kraj, w którym mog y poeci! “ (W, S. 340)) 44 43 Vgl. Iwaszkiewicz (1980), S. 191-340 (Maskarada). 44 Vgl. Maci g (1959), S. 104. <?page no="221"?> Künstlertum als Bindung: Jaros aw Iwaszkiewiczs Kammerspiele 221 Auch wenn weder die Mikrogesellschaft in Nohant noch diejenige in Wierzchownia den Künstler eliminieren oder gar vernichten, sind weder Chopin noch Balzac in das Leben der dargestellten Gesellschaft integriert. Bei beiden hat das zunächst damit zu tun, dass für sie ihr künstlerisches Schaffen ihre vorrangige Bindung und Selbstverpflichtung ist. Während der introvertierte Chopin niemanden an seinen Gedanken zu seinem Künstlertum teilhaben lässt (und ähnlich verhält sich die Puškin-Gestalt in Maskarada), 45 stellt der eher extrovertierte Balzac sein Verständnis von seinem Künstlertum dem Verwalter Darowski gegenüber geradezu heraus. In einzelnen Sequenzen der Komödie Die Hochzeit des Herrn Balzac macht sich die Hauptgestalt selbst zum Verlachgegenstand. Es fällt auf, dass die Nichtintegriertheit des Künstlers in den beiden hier eingehender untersuchten Stücken gleichsam in einer spezifischen Versuchsanlage dargeboten ist: Während Puškin in seiner eigenen - aristokratischen, russischen - Gesellschaft in die Enge getrieben wird, lebt Chopin, gemeinsam mit seinem Diener Jan und seinem Freund Wodzi ski, in seiner von Polens Schicksal wenig berührten zweiten Heimat Frankreich. Balzac hält sich nicht einmal in einer ‚zweiten Heimat’ auf; die Situation des geteilten Polen und der polnischen Ukraine unter russischer Besatzung ist ihm völlig unzugänglich. Mit Blick auf diese spezifischen Konstellationen, die von vornherein nationale und politische Differenz enthalten, kann das Problem Künstler und Gesellschaft also gar nicht ungebrochen, ‚in Reinform’, ausgelotet und dargestellt werden. Überdies fällt auf, dass in beiden Stücken zwar vielfältige Denkanstöße zur Künstlerproblematik zusammengetragen sind, jedoch keinem der Denkansätze konsequent nachgegangen ist. Entschiedene, lesende und schauende Rezipienten ggf. nachhaltig verstörende Aussagen sind überdies vermieden. Die Künstlerproblematik - wie auch die übrigen thematischen Linien zu Formen von Differenz und Andersheit - sind gleichsam in der Schwebe gelassen. 46 Diese Darstellungsweise dürfte unmittelbar mit Iwaszkiewiczs Selbstverständnis als Schriftsteller zusammenhängen. Distanziertheit und Sublimierung wird gegenüber Einmischung und Direktheit der Vorrang gegeben. Dies führt noch einmal zu der ‚gesellschaftlichen Abstinenz’ zurück, die Iwaszkiewicz für sich als Künstler in Anspruch nahm. Wie gezeigt, wird für die beiden zentralen Rollenfiguren, Chopin und Balzac, solche Abstinenz nicht wirklich auf die Probe gestellt: Beide befinden sich in einem Raum, in dem sie den Grad ihrer Integration oder Nichtintegration selbst bestimmen können. Aus der aktuellen politischen Geschichte können, ja müssen sie sich heraushalten. 45 Vgl. Kijowski (1978), S. 113 f. 46 Kijowski ((1978), S. 112) stellt für Iwaszkiewiczs gesamtes Dramenwerk fest: „Der Dramenautor meditiert, beschreibt, kommentiert - niemals kämpft er, selten macht er einen Vorschlag.“ <?page no="222"?> B RIGITTE S CHULTZE 222 Iwaszkiewicz dürfte sich für seine großen Künstler eine solche Freiheit von Entscheidungszwängen angesichts der aktuellen politischen Geschichte gewünscht haben. Mit Blick auf sein gesamtes Schaffen sieht Nasi owska den von der Geschichte gelösten Künstler als Modell und Ideal: „Entweder die Unabhängigkeit des Künstlers oder die Geschichte und ihre Wandelbarkeit.“ 47 In den konkreten Texten wird das Bild vom politisch abstinenten, großen Künstler auf vielfache Art unterlaufen. So gibt in Sommer in Nohant selbst der introvertierte Chopin wiederholt seine Verbundenheit mit Polens Schicksal zu erkennen. Und eben diese politische Geschichte trennt ihn, den Musiker von Weltgeltung, von den Franzosen. Das deutlich erkennbare polnisch-patriotische Element, das in beiden hier betrachteten Dramen mitgeführt wird, verhält sich wie ein Stachel zum Ideal der Ahistorizität eines großen Künstlers. Im Zusammenhang des polnisch-patriotischen Themas stellt sich die Frage, warum diese beiden Künstlerdramen zwar zum Repertoire polnischer Bühnen, 48 nicht aber zum internationalen Bühnenrepertoire zählen. Es fallen mehrere mögliche Ursachen ein: Hierher kann gehören, dass die Künstlerproblematik nicht im Sinne einer Parabel oder anders mit Entschiedenheit behandelt ist, sondern - von mehreren weiteren Differenzdiskursen begleitet - alles in der Schwebe lässt; auch die Art und Weise, wie Chopin als vertraut, das Milieu der George Sand hingegen als befremdlich und, umgekehrt, Honoré de Balzac als veritabler Fremdkörper in einer vertrauten polnisch-ukrainischen Situation gezeigt ist, kann das Interesse international eingestellter Bühnenhäuser mindern; ein noch größeres Hindernis dürfte jedoch der von Iwaszkiewicz gewählte Code des Konversationsstücks sein, d. h. diese geradezu extreme Form eines Texttheaters. Während Sommer in Nohant in den 1930er Jahren immerhin noch in das heterogene Bühnenrepertoire gepasst hat, sind beide Künstlerdramen für die Zeit nach 1958 Beispiele für eine stehen gebliebene, wenn nicht sogar rückwärtsgewandte Theaterästhetik. 49 Beide Stücke sind, das bleibt festzuhalten, eindeutige Beispiele für Künstlerdramen des 20. Jahrhunderts. Als solche gehören sie in einen 47 Nasi owska (1994), S. 159. In der Prosa sind immer wieder außerordentliche Spannungen zwischen persönlich empfundener Pflicht zum Engagement und versuchter Distanzierung festzustellen. Vgl. z. B. auch Ritz (1995), S. 200 f., 215. 48 Nach meinen Beobachtungen wird Lato w Nohant häufiger gespielt als Wesele Pana Balzaca. Lato w Nohant ist auch in Gastspielen in Paris und Wien gezeigt worden (vgl. Marczak-Oborski (1991), S. 431). Theatergeschichte hat in Polen u. a. eine Inszenierung gemacht, für die Tadeusz Kantor das Szenenbild - einen Salon und „nicht ein einziges überflüssiges Möbel“ - geschaffen hatte (vgl. Marczak-Oborski (1985), S. 262, 260). 49 Iwaszkiewiczs dokumentarischer Band zum Bühnenrepertoire des Teatr Polski in den Jahren 1938-1949 (vgl. Iwaszkiewicz (1971)) lässt erkennen, dass er auch sonst ausschließlich auf die Tradition des Texttheaters eingestellt war. <?page no="223"?> Künstlertum als Bindung: Jaros aw Iwaszkiewiczs Kammerspiele 223 Bestandskatalog. Dabei ist allerdings die Behandlung der Künstlerproblematik derartig mit dem Selbstverständnis des Schriftstellers Jaros aw Iwaszkiewicz verbunden, dass die Suche nach dem Konzept und Terminus Künstlerdrama zum Problem wird. Autobiographische und individualästhetische Gegebenheiten der hier beschriebenen Art sperren sich gegen Versuche der Theoriebildung und der Prägung von Termini. Literaturverzeichnis 1. 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Wilpert, G. von: „Künstlerdrama“. In: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 8 2001, S. 442 f. <?page no="225"?> Nassim W. Balestrini Emily Dickinson im amerikanischen Drama Einleitung Dass Emily Dickinsons Leben für Dramatiker von Interesse sein kann, leuchtet ein, da die 1830 in Amherst, Massachusetts, geborene Dichterin als die wichtigste amerikanische Lyrikerin des neunzehnten Jahrhunderts gilt. Kritiker und Biographen streiten sich seit Dickinsons Tod im Jahr 1886 darüber, welche Beweggründe die Dichterin für ihr abgeschiedenes Leben im Hause ihrer Familie gehabt haben möge. Unterschiedliche Fraktionen von Verwandten und Freunden hatten seit der Veröffentlichung einer Auswahl stark edierter Gedichte und Briefe Interesse daran, Dickinson in dieses oder jenes Licht zu rücken. Legenden wucherten ob des Anlasses für ihren Rückzug in die Privatsphäre und ihre Vorliebe für weiße Kleidung. Biographen sagten der Dichterin eine unglückliche Liebesbeziehung nach. Ob eine Ehe von ihrem Vater unterbunden wurde oder ob es sich um einen verheirateten Mann handelte, darüber schieden sich lange die Geister. Cynthia Griffin Wolff stellt in ihrer Dickinson- Biographie von 1986 zwar vier Männer vor, die um Dickinson warben, jedoch betont Wolff, dass nur zwei überragende Krisen in Dickinsons Leben nachweisbar sind: ihre Augenkrankheit, durch die sie zwischen 1861 und 1865 die Erblindung fürchtete, sowie der Tod des Vaters 1874. 1 Somit lehnt Wolff die These der unglücklichen Liebe als Auslöser für Dickinsons lyrisches Schaffen ab. Kurz gesagt: Die Wahl Dickinsons als Gegenstand für ein Künstlerdrama lässt sich durch ihren Status innerhalb der Literaturgeschichte begründen, besonders wenn ein Dramatiker davon ausgeht, dass solchen Künstlerpersönlichkeiten innerhalb der Nationalliteratur ein Denkmal gesetzt werden muss, und wenn derselbe Dramatiker sich damit vielleicht erhofft, selbst auch in die Nationalliteratur einzugehen. Die Unklarheiten in Dickinsons Biographie mögen an historischer Genauigkeit interessierte Dramatiker abschrecken, jedoch gerade den Erfindungsgeist derjenigen anregen, die die Legendenbildung schätzen und dazu beitragen möchten. Außerdem öffnen diese Unklarheiten der Instrumentalisierung Dickinsons für unterschiedliche Interessensgruppen Tür und Tor. 1 Vgl. Wolff (1986), S. 164 f. <?page no="226"?> N ASSIM W. B ALESTRINI 226 Für den Zeitraum von 1930 bis 2005 sind in elektronischen Bibliothekskatalogen etwa anderthalb Dutzend Bühnenbearbeitungen nachzuweisen. In der Mehrzahl handelt es sich dabei um Dramen. 2 Eine Suche über Internet-Suchmaschinen fördert weitere Werke zu Tage. Das neueste hierbei ist ein Drama aus der Feder von David Starkey, der am City College in Santa Barbara in Kalifornien lehrt und 2007 sein Theaterstück How Red the Fire auf die Bühne brachte. Sicherlich würde man in der Abteilung für urheberrechtlich geschützte, jedoch nicht veröffentlichte Werke in der Kongressbibliothek in Washington, D. C., noch eine Reihe weiterer Bearbeitungen finden. Diese Einleitung legt möglicherweise nahe, Dramen über Dickinson seien primär Versuche, ihr Leben und Schaffen in einer in sich schlüssigen Form zu präsentieren. In den neueren Stücken steht jedoch etwas anderes im Vordergrund: Nicht lediglich die Interpretation von Dickinsons Biographie und Werk ist wichtig, sondern auch die Darstellung von Personen, die sich mit Dickinson beschäftigen. Die akademische Welt, die Dickinson-Forschung und die Auseinandersetzung des einzelnen Künstlers mit Dickinson nehmen nun einen wichtigen Platz ein, so dass Dickinson eher zu einem Katalysator als zum Zentrum des Interesses wird. Diese Vorgehensweise klingt zwar bereits im ersten Künstlerdrama von 1930 an, kehrt jedoch nach historisierenden „Kostümdramen“ erst in jüngerer Zeit wieder. 3 Susan Glaspells Stück Alison’s House aus dem Jahre 1930 enthält Dickinsons Lebensgeschichte nur implizit, jedoch ist die Anspielung unverkennbar. 4 Gedichte Dickinsons werden nicht zitiert, und ihr Name wird nicht genannt, da dies der Dramatikerin von Nachfahren Dickinsons un- 2 Diese stammen von Adams, Campbell/ Lynch, Franklin, Gardner, Glaspell, Halpin / Nugent, Heaver, Knight, Luce, Marsh, Olson, Parker, Patterson, Rosten, Stein, sowie York/ Pohl. Ein Werk wird als „musical play“ beschrieben. Drei Werke sind aus M.A.- oder Ph.D.-Projekten an amerikanischen Hochschulen hervorgegangen. Zwei weitere Examensarbeiten bezeichnen sich als Bearbeitungen von William Luces Dickinson-Drama aus den 1970er Jahren, und zwar für das Kindertheater; eine Videoaufnahme wird als Adaptation desselben Dramas definiert. Drei Stücke sind Werke für eine Solo-Schauspielerin. 3 J. Guerra beschreibt fünf Charakteristika von Dramen und anderen künstlerischen Werken über Dickinson. Erstens: Die Dramen postulieren, sie seien aus einer Art Zusammenarbeit zwischen der toten Dichterin und dem Dramenautor entstanden. Zweitens: Die Dramatiker identifizieren sich stark mit Dickinson. Drittens: Die Werke geben gängige bzw. sich verändernde Ideen über Dickinsons Lebensgeschichte wieder. Viertens: Dickinsons Gedichte werden in Dramentexte eingearbeitet. Fünftens: Adaptationen von Dickinsons Leben zeigen, welch große Bandbreite an Personenkreisen die Werke und die Biographie der Dichterin ansprechen. Vgl. dazu Guerra (1998a), S. 387 f. Während ich teilweise Guerras Sichtweise folge und bestätige, so gehe ich im Folgenden sehr viel stärker als sie ins Detail und diskutiere auch Werke, die seit dem Ende des 20. Jahrhunderts erschienen sind. 4 Vgl. Glaspell (1930). <?page no="227"?> Emily Dickinson im amerikanischen Drama 227 tersagt wurde. 5 Das Stück spielt statt in Massachusetts in Iowa, und zwar am 31. Dezember 1899. Zum Zeitpunkt des Bühnengeschehens ist die im Dramentitel Alison genannte Dichterin bereits verstorben; somit ist die Hauptperson nie auf der Bühne zu sehen, wird jedoch durchweg in den Dialogen diskutiert. 6 Susan Glaspell, die in der Dramengeschichte primär mit den experimentellen Provincetown Players verbunden wird, erhielt für Alison’s House den Pulitzer Prize - eine Entscheidung, die damals umstritten war und auch von manchen heutigen Dramenhistorikern kritisiert wird. 7 Drei Elemente, die in späteren Werken eine wichtige Rolle spielen, finden sich bereits in Glaspells Drama. Erstens: Im Mittelpunkt des Theaterstücks steht die These, die bereits verstorbene Dichterin und Titelheldin habe einen verheirateten Mann geliebt, dieser Liebe jedoch entsagt, sich daraufhin ins Elternhaus zurückgezogen und zur Eigentherapie gedichtet. Zweitens: Als das Haus der Familie anderthalb Jahrzehnte nach ihrem Tod verkauft wird, kommen drei Generationen dort zusammen, und die Handlung dreht sich um die Einstellungen der einzelnen Charaktere zu Alisons Person und zu ihrem Werk. In diesem Sinne geht es also schon bei Glaspell um die Rezeption der unkonventionellen Dichterin, wenn auch zunächst hauptsächlich in der eigenen Familie. Im Stück tritt aber auch ein Journalist, der zudem Hobbydichter ist, auf. Er plädiert dafür, die Biographie und das Werk der verstorbenen Dichterin allgemein zugänglich zu machen, da Genies der gesamten Gesellschaft etwas zu vermitteln hätten. Drittens: Das Fazit des Stücks ist, dass Alisons Gedichte nicht ihrer Familie gehören, sondern der Welt und dass diese lyrischen Texte besonders anderen Frauen, die unter ungewöhnlichen oder gesellschaftlich nicht akzeptierten Liebesbeziehungen leiden, Trost spenden können. Dadurch wird Glaspells Dichterin bereits eine Vorbotin späterer Darstellungen Dickinsons als Protofeministin. Der Umgang des akademischen Umfelds mit Dickinson wird im Drama insofern verurteilt, als der Großneffe der Dichterin seine Note in einem Englischkurs an der Harvard-Universität retten möchte, indem er - angeblich auf Verlangen seines Professors - anrüchige Familiengeheimnisse in Erfahrung bringt und 5 Vgl. Guerra (1998a), S. 389. 6 Diese Vorgehensweise ist für Glaspell nicht untypisch. Auch in ihrem Einakter Trifles tritt die weibliche Hauptfigur nicht auf, während alle anderen Figuren zu ergründen versuchen, ob diese Hauptfigur einen Mord begangen hat. 7 Die Kontroverse darüber, ob Glaspells Drama den Pulitzer-Preis verdient hat, zeigt sich beispielsweise im Presseecho. Vgl. dazu die New York Times-Artikel von Atkinson (1930) sowie (1931b) und (1931a). Vgl. auch den Artikel „Culled from the Dramatic Mailbag“ (1931). Zur wissenschaftlichen Rezeption von Glaspells Drama vgl. Rodier (1995), S. 195-218. Der wohl prominenteste Dramen- und Theaterhistoriker, der Glaspells Stück ablehnt, ist Christopher Bigsby. <?page no="228"?> N ASSIM W. B ALESTRINI 228 diese an seinen Professor weitergibt. Sensationalismus und Fortschrittsdenken prallen somit aufeinander. Neben diesen in Glaspells Drama und in andere Stücke eingebetteten Elementen soll es in der nun folgenden Diskussion darum gehen, wie Autorinnen und Autoren die Entstehung ihrer Dramen beschrieben und kommentiert haben. Als weiterer Aspekt wird der Umgang mit historiographischer und literaturwissenschaftlicher Rezeption im Rahmen ausgewählter Dramen zu diskutieren sein. Dickinson als leidende Dichterfigur Ein Beispiel für diejenigen Stücke, in deren Mittelpunkt Dickinsons unglückliche Liebe steht, ist Dorothy Gardners Eastward in Eden: The Love Story of Emily Dickinson von 1945. 8 Dieses Stück ist ein üppiges Kostümdrama, das Dickinsons Wandlung vom lebenslustigen Teenager, der sich über das Tanzverbot des puritanischen Vaters hinwegsetzt, in die ihrer wahren Liebe entsagende Dichterin visuell in Szene setzt, indem Dickinson zuerst in kräftigen Farben und verzierten Roben und am Ende des Stücks in schlichtem Weiß auftritt. 9 Das Drama beinhaltet außerdem eine Traumszene, in der Dickinson in einer Art Paradies mit dem Mann, den sie liebt, eine idealisierte Beziehung erleben darf. 10 An diesem Schauplatz, den die Regieanweisungen als „Cottage in Eternity” beschreiben, tritt Dickinson unter Begleitung von Harfenmusik als Ehe- und Hausfrau auf, deren selbstgebackenes Brot hervorragend mundet, die ein Nähkörbchen hat, die aber auch Liebesgedichte schreibt. Dass der geliebte Mann, der Pfarrer Charles Wadsworth, ihr ihren Aufenthaltsort erklären muss und sie dafür lobt, dass sie sich die Augen eines Kindes bewahrt habe und deshalb die geistige Welt besser verstünde, mag in den 1940er Jahren dem Publikum gefallen haben, passt jedoch nicht in das heute dominierende Bild Dickinsons als einer fortschrittlichen Denkerin. 8 Guerra ordnet dieses Stück, wie auch Glaspells, in die Gruppe der Werke aus den dreißiger und vierziger Jahre ein, die von in jener Zeit erschienenen Dickinson- Biographien inspiriert wurden. Ein weiteres Beispiel in dieser Werkgruppe ist Brittle Heaven (1935)von Vincent York und Frederick Pohl. Vgl. Guerra (1998a), S. 388 f. 9 Zu Dickinsons Kleidung vgl. Gardner (1949), S. 8, 26, 35, 46, 56, 62, 68 f., 93. B. Atkinson, der Glaspells Drama seinerzeit ablehnte, lobt Gardners Stück als besser als seine Vorgänger (vgl. Atkinson (1947), S. 33). Das Stück wurde fünfzehn Mal in dieser Broadway-Produktion aufgeführt. Zu einer Neuinszenierung des Dramas vgl. Gelb (1956), S. 25. Gardner arbeitete in den 1950er Jahren auch mit Jan Meyerowitz zusammen an einer vieraktigen Opernversion des Dramas (vgl. Gardner (1954), S. 17; vgl. auch Downes (1954), S. 34). 10 Zur im Himmel angesiedelte Traumszene im 2. Akt vgl. Gardner (1949), S. 63-72. <?page no="229"?> Emily Dickinson im amerikanischen Drama 229 Anstatt nun weiter auf die Handlung oder auf stilistische Details bzw. benutzte Klischees einzugehen, möchte ich die Zielsetzung dieses Stücks anhand zweier Vorworte diskutieren. Das erste Vorwort stammt von George F. Whicher, der am Amherst College lehrt. Whicher lobt Gardners Drama, indem er zuerst die Unmöglichkeit eines guten Theaterstücks über Dickinsons unglückliche Liebe konstatiert und daraufhin die Sympathie und die Würde von Gardners Darstellung betont. Er behauptet: „Miss Gardner is aware of the true nature of Emily Dickinson’s inner drama.“ 11 Deshalb gehe es in ihrem Stück nicht um historische Authentizität, was die Identität des von Dickinson möglicherweise geliebten Mannes betreffe, sondern um etwas anderes, welches Whicher als „the high ideality of it all“ bezeichnet und folgendermaßen definiert: Gardner „has understood how the fine steel of poetic artistry was tempered in the fires of suffering“. 12 Dadurch ziehe sich durch das ganze Stück „the shadow of a woman’s cross“ 13 . Dickinson wird somit zu einer Art Heiligen, die durch das Kreuz, das sie zu tragen hatte, geläutert wurde und - um dieses Bild heidnisch zu brechen - in den Pantheon der Nationalliteratur aufgestiegen ist. Dementsprechend kommt Whicher zu dem Schluss: „If there were such a thing as a national theater in America, this play should have an assured place in its repertory.“ 14 Mit anderen Worten geht es ihm darum, eine Ikone der amerikanischen Literaturgeschichte durch eine psychologisierende Darstellung ihrer inneren Krisen und Leiden zur Nationalheldin zu erheben und zur Grundlage eines thematisch begründbaren, amerikanischen Dramenkanons zu erklären. Der Dramatikerin unterstellt Whicher, wie oben zitiert, Zugang zur inneren Welt Dickinsons gefunden zu haben. 15 Diese enge Beziehung zwischen Autor und Gegenstand soll ein Garant für die hohe Qualität des Stücks sein. Das zweite Vorwort zu Eastward in Eden stammt von Gardner selbst. Darin erfahren die Leser, dass die Dramatikerin die Dickinson-Biographie This Was a Poet von 1939 als Hauptquelle für den angeblichen Beweis von Dickinsons unerfülltem Wunsch einer Ehe mit dem bereits verheirateten Pfarrer Charles Wadsworth nutzte. Der Autor von This Was a Poet ist George F. Whicher. Während also Whicher selbst in seinem Vorwort die historische Genauigkeit des Dramas als zweitrangig bezeichnet und sich und Gardner implizit gegen den Vorwurf verwahrt, u. U. den falschen Geliebten identifiziert zu haben, beruft sich die Dramatikerin auf die Arbeit eines Literaturhistorikers als wissenschaftliche Grundlage ihres 11 Whicher (1949), S. vi. 12 Vgl. ebd. 13 Ebd., S. vii. 14 Ebd. 15 Guerra wird in ihrer Zusammenfassung der Merkmale von Dickinson-Dramen vermutlich dieses Charakteristikum, das Whicher dem Werk Gardners zuspricht, gemeint haben (vgl. Fußnote 3). <?page no="230"?> N ASSIM W. B ALESTRINI 230 Künstlerdramas. Gardner wiederholt die Grundidee des ersten Vorworts; sie betont die Dramatik von Dickinsons Leiden und erklärt so das umfangreiche lyrische Schaffen: „The pattern of her life is as simple as the design of a cross. The pattern of her inner experience is transfiguration.“ 16 Dass das Theaterstück jedoch alle Mittel der mit zeitgeschichtlichen Details überladenen Bühne und dramatischer Szenen voller Spannung, Lichteffekte, Musik, zahlreicher Charaktere und elaborierter Dialoge ausnutzt, scheint für die Dramatikerin kein Widerspruch zur betont spirituell verklärten Auffassung von der Persönlichkeit ihrer Heldin zu sein. Inwiefern sind diese beiden Vorworte aufschlussreich? Die Legitimierung, die das Drama einer Autorin durch das Vorwort eines Literaturwissenschaftlers erfährt, führt die uralte Tradition fort, die verlangt, einem Drama einen höheren Anspruch zu verleihen, indem es ein von der Bühne an sich abgehobenes Interesse befriedigt. In diesem Fall ist es nicht nur die vergeistigte Sichtweise eines Genies, das litt und der Nachwelt dadurch wunderbare Gedichte hinterließ. Whicher und Gardner sind auch daran interessiert, die Großartigkeit der amerikanischen Nationalliteratur zu bestätigen. Dabei werden zwei Genres verknüpft: Während Whicher die unumstrittene Größe von Dickinsons Dichtung voraussetzt, plädiert er für die Schaffung eines ebenso von der akademischen Welt abgesegneten Kanons dramatischer Literatur. Die postulierte geistige Verbindung, die die Dramatikerin mit Dickinson erlebt, verleiht diesem Ansatz das Flair künstlerischer Intuition, mithilfe dessen potentielle Unzulänglichkeiten im Hinblick auf die Authentizität der Handlung und der Charakterisierung mehr als ausgeglichen werden sollen. Dickinson im „One-Woman Play“ Eine seit den 1970er Jahren zunehmend populäre Variante der Vorstellung, jemand könne in Dickinsons Psyche eindringen und sie dementsprechend wahrheitsgetreu als Bühnenfigur präsentieren, wird anhand diverser „one-woman plays“ vermittelt. Das erste Beispiel hierzu ist das bekannteste aller Dickinson-Dramen: William Luces The Belle of Amherst: A Play Based on the Life of Emily Dickinson, das 1976 uraufgeführt wurde. In der ersten Broadway-Inszenierung, die es auf 117 Aufführungen brachte, verkörperte die Schauspielerin Julie Harris die Dichterin und erhielt dafür ihren fünften Tony Award. 17 Eine Fernsehproduktion sowie die Verbreitung dieser Aufnahme auf Videobändern und jetzt auch auf DVD deuten 16 Gardner (1949), S. x. 17 Vgl. Guerra (1998a), S. 390; vgl. auch Gussow (1976), S. 48 und Kerr (1976), S. 61. Zu einer der zahlreichen Neuinszenierungen des Stücks vgl. Klein (1983), S. NJ26. <?page no="231"?> Emily Dickinson im amerikanischen Drama 231 den im Vergleich zu den anderen Dickinson-Dramen weitaus stärkeren Bekanntheitsgrad von Luces Werk an. 18 Im Vorwort beschreibt William Luce die Zielsetzung und die Entstehung seines Stücks. Als Ziel formuliert er: When I undertook the writing of The Belle of Amherst, it was my hope to depict the humanity and reasonableness of Emily Dickinson’s life. I say reasonableness, because I believe that she consciously elected to be what she was - a voluntary exile from village provincialism, an original New England romantic, concisely witty, heterodox in faith, alone but not lonely [. . .]. 19 Anstelle von Whichers und Gardners Opfer einer unglücklichen Liebesbeziehung, dessen Leben einem Martyrium der Entsagung gleichkommt und in mystischer Verklärung mündet, ist Luces Dickinson also eine unabhängig und mit klarem Kopf agierende Frau. Luce lehnt außerdem die psychoanalytische Lesart ab, nach der Dickinsons exzentrisches Leben ein Zeichen von Abnormität sei. Dickinson sei gemäß Luce geistig gesund gewesen und habe sich einem „deliberate covenant with Nature and Art“ und „a premeditated channeling of creative desire“ verschrieben. 20 Demnach sei ihre Kreativität nicht die Folge von Liebesleid oder Verrücktheit, sondern von bewusstem Umgang mit ihren Hauptinteressen, nämlich mit Natur und Kunst. Luce begründet die Form seines Stücks damit, dass die Fokussierung auf eine Darstellerin schlüssig vermittle, wie sehr Dickinson ihre Individualität geschätzt und geschützt habe. Neben der Zielsetzung seines Dramas kommentiert der Autor auch dessen Entstehung. Luce beschreibt, er habe über zwei Jahre hinweg mehrere Dickinson-Biographien sowie die jeweils dreibändigen Ausgaben der Gedichte und der Briefe studiert und dieses Material mit Julie Harris, Charles Nelson Reilly und Timothy Helgeson diskutiert. 21 Aus diesem intensiven Studium habe sich Luces Methode ergeben, seine eigenen Worte möglichst nahtlos mit Zitaten aus Dickinsons Gedichten und Briefen zu verschmelzen, was ihm nach eigenen Angaben gut gelungen sei. Laut Luce sei im Laufe des Schreibens Folgendes geschehen: „Gradually, Emily’s story emerged, as if she were telling it herself.“ 22 Luce behauptet auch, Dickinsons Sprache entströme „theatrical texture“ und eigne sich von daher auf ideale Weise für ein Drama. 23 18 Vgl. den Artikel „The Poet’s Black Cake“(1976); vgl. auch O’Connor (1976), S. 51. Die DVD liegt vor unter dem Titel The Belle of Amherst, Kino on Video, K363, 2004. 19 Luce (1978), S. xiv („Preface“). 20 Vgl. ebd. 21 Der Schauspieler und Regisseur Charles Nelson Reilly hat im Rahmen diverser Inszenierungen mit Timothy Helgeson als Regieassistenten zusammengearbeitet. 22 Luce (1978), S. xiv. 23 Vgl. ebd., S. xv. <?page no="232"?> N ASSIM W. B ALESTRINI 232 In diesem Vorwort fällt ins Auge, dass der Dramatiker seine künstlerische Adaptation von Dickinsons Biographie von denjenigen Werken absetzen möchte, die alte Legenden über ihr Leben perpetuieren oder neue schaffen. Dies bewerkstelligt Luce angeblich dadurch, dass er die Schriften der Dichterin eingehend analysiert und dass er mit anderen ‚Dickinson-Schülern‘ - er selbst bezeichnet die Gruppe als „Dickinson students“ - zusammenarbeitet. 24 Trotz dieses Studiums der Briefe und Gedichte beinhaltet der Schaffensprozess jedoch etwas Unwirkliches, etwas geradezu Magisches, da Luce suggeriert, Dickinsons Geist habe seine Feder geführt und das Theaterstück sei zudem „a love affair with language“. 25 Diese Wendung von ernsthafter Lektüre zu schwärmerischer Sprachbegeisterung wirkt auf mich wie der Wunsch, wissenschaftliche Fundiertheit mit sprachkünstlerischen Höhenflügen, die der womöglichen Trockenheit wissenschaftlicher Erkenntnisse entgegenwirken sollen, zu verbinden. Einerseits soll das Stück durch seine gründlichen Vorarbeiten, andererseits durch seine inspirierte künstlerische Energie unangreifbar sein. 26 Der Umstand, dass Emily Dickinson in Luces Drama nicht nur sich selbst, sondern auch andere Menschen darstellt, läuft allen gängigen Vorstellungen von der zurückgezogenen Dichterin zuwider. Dies scheint jedoch nur ein Teil von Luces Gesamtstrategie der Auflösung bestimmter Legenden zu sein. Einige Beispiele mögen dies illustrieren: Seine Emily Dickinson wehrt sich gegen den Vorwurf, verrückt gewesen zu sein, indem sie behauptet, die Rolle der Exzentrikerin mit Freude gespielt zu haben. Auch die Beziehung zu ihrem Vater fällt bei Luce weniger angespannt aus als in manchen Biographien. Und Luces Dickinson möchte unbedingt ihre Gedichte veröffentlichen, wird jedoch von ihrer verständnislosen Umwelt, allen voran von Thomas Wentworth Higginson, dem Herausgeber der für zeitgenössische Schriftsteller als Sprungbrett in die breitere Öffentlichkeit geltenden Zeitschrift Atlantic Monthly, daran gehindert. 27 Luces bereits zitierter Anspruch, „the humanity and reasonableness of Emily Dickinson’s life“ zu vermitteln, wird insofern erfüllt, als seine Pro- 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. ebd. 26 Luces oben erwähnte Auffassung von Dickinsons theatertauglicher Sprache manifestiert sich im Theaterstück nicht nur durch die oft ironischen und spielerisch formulierten Aussagen der Protagonistin, sondern auch dadurch, dass die Darstellerin in die Rollen anderer Menschen aus ihrem Umfeld schlüpft, und dadurch, dass sie das Publikum direkt anspricht. Vgl. dazu z. B. Emily Dickinsons makabren Humor, als eine neugierige ältere Person an ihrer Haustür klopft, dann behauptet, auf der Suche nach einem neuen Heim zu sein, und Dickinson ihr den Weg zum Friedhof weist (Vgl. Luce (1978), S. 4, 33). 27 Vgl. ebd., S. 6 f., 21 f., 24 ff., 37-43, 46-49. <?page no="233"?> Emily Dickinson im amerikanischen Drama 233 tagonistin lebensnah und nicht der Welt entrückt erscheint. Außerdem legt sie dem Publikum Gründe für ihr Verhalten nahe, die nicht für psychische Gestörtheit, sondern eher für Lebhaftigkeit und starkes Empfinden sprechen. Luce stellt eine modern(isiert)e Dickinson auf eine Weise vor, die es Zuschauern der 1970er Jahre leichter macht, Verständnis für die Dichterin zu haben. Indem sie kein Blatt vor den Mund nimmt, was die Unzulänglichkeiten der Gesellschaft ihrer Zeit betrifft, versetzt Luce seine Dickinson ins späte 20. Jahrhundert und legitimiert sie somit für sein Publikum. Im Gegensatz zu Glaspell, in deren Stück die Dichterin nicht auf der Bühne erscheint, spielt dabei die angebliche Liebe zu einem verheirateten Mann nur eine untergeordnete Rolle. Zentral sind - statt einer tradierten, auf eine zwischenmenschliche Beziehung konzentrierten Ausrichtung der Handlung - der lebhafte Intellekt und die sprachliche Ausdruckskraft der Protagonistin. Wie Guerra anreißt, hatte Luces Drama nicht nur eine immense Wirkung auf die Dickinson-Rezeption unter Nicht-Akademikern und Nicht- Amerikanern, sondern das Werk zog auch eine Welle weiterer Monodramen für Solo-Schauspielerinnen nach sich. Sie nennt vier Schauspielerinnen, die solche „one-woman shows“ geschrieben haben, mit diesen Stücken in kleineren Theatern aufgetreten sind, die Texte jedoch nicht veröffentlicht haben. 28 Zwei von Guerra nicht erwähnte Werke von 1995 und 2005 verdeutlichen, dass das Interesse an der Form des Solostücks weiterhin besteht und besonders die dramatische Umsetzung der Rezeption und der individuellen Auseinandersetzung mit Dickinson fortführt. Ein 1995 verfasstes Werk ist eine Abschlussarbeit von K. D. Halpin und K. Nugent mit dem Titel Emily Unplugged. 29 M. A. Ackmann, Professorin für Gender Studies am Mount Holyoke College, die die beiden Dramatikerinnen beriet, beschreibt das Stück wie folgt: The play is a smart, funny, feminist appraisal of Emily Dickinson and those who appropriate her. It has a liveliness and irreverence (about Dickinson scholarship, not Dickinson herself) that I find refreshing. 30 Dieses Drama ist also nicht nur ein Produkt eines „creative writing“- Studiengangs, sondern es thematisiert außerdem die akademische Dickinson-Rezeption. Die 2005 in London erschienene Arbeit Emily Dickinson & I: The Journey of a Portrayal: A One Woman Play about Writing, Acting and Getting into 28 Vgl. Guerra (1998b), S. 89. 29 Die einzige Bibliothek, die laut WCAT ein Exemplar dieser Arbeit besitzt, ist die Amherst College Library. Aus diesem Grunde vermute ich, dass Halpin und Nugent dort studiert haben. Es gibt auch eine Videoaufnahme des Sleeveless Theatre von einer Aufführung aus dem Jahr 1997. 30 „New & Notable“ (2008). <?page no="234"?> N ASSIM W. B ALESTRINI 234 Emily Dickinson’s Dress ist ein Werk der britischen Schauspielerin Edie Campbell und ihres Ehemanns, des amerikanischen Schauspielers und Schauspiel-Dozenten Jack Lynch. 31 Campbell zeigt darin ihren vierzehn Jahre währenden Versuch, Dickinson auf die Bühne zu bringen. Hier reflektiert also eine Schauspielerin darüber, wie sie möglicherweise Dickinson darstellen könnte, zeigt aber zugleich, welche Ereignisse in ihrem eigenen Leben die Arbeit an ihrem Dickinson-Projekt beeinflussten. Wiederum legitimieren zwei Vorworte das Drama, deren Autoren das Werk loben und die enge Beziehung, die Edie Campbell angeblich zu Emily Dickinson entwickelt hat, vorrangig betonen. 32 Für die Betrachtung der inzwischen als Tradition zu bezeichnenden Reihe von Dramen über Dickinson ist von besonderem Interesse, dass Edie Campbell, die sich selbst auf der Bühne als „Edie“ verkörpert, auch auf diese Tradition der Adaptation eingeht und postuliert, mit ihrem Werk etwas völlig Neues und auch etwas Besseres geschaffen zu haben. So kritisiert sie William Luces Belle of Amherst als Stück „in which the playwright puts words into the poet’s mouth“ 33 . Als Ergebnis entstehe „not the real Emily. The undiluted Emily“, nach der die Schauspielerin suche. 34 Es fällt jedoch auf, dass Edie sich dennoch genauso vorbereitet, wie es Luce und andere Dramatiker getan haben: Sie liest alle Gedichte und Briefe Dickinsons mit dem Ziel, das oder zumindest ein „mouthpiece“ der Dichterin zu werden. Sie ist jedoch nicht so naiv anzunehmen, dass dieses Ziel leicht zu erreichen wäre: „But how do I perform that without getting in her way? “ 35 Letztendlich stellt Edie im Laufe ihrer Meditation über den Weg zu dem gerade im Aufführungsprozess befindlichen Stück fest, dass eine direkte Darstellung der wahren Emily Dickinson nicht möglich ist. Analog dazu fasst sie das Grundproblem aller Schauspieler zusammen, indem sie konstatiert: „Ever since I first met Emily, I have wanted to be her. Well . . . portray her.“ 36 In einer Art 31 Campbells metadramatische Methode erinnert an zeitgenössische amerikanische Werke wie D. Wrights I Am My Own Wife: Studies for a Play about the Life of Charlotte von Mahlsdorf (2004). In Campbells Stück wandelt sich die Absicht, ein Idol auf der Bühne verkörpern zu wollen, aufgrund der Einsicht, dies nicht zu können, in die Absicht, den Prozess der Beschäftigung mit dem Idol und mit dem Schreiben eines entsprechenden Stücks zu dramatisieren. In Wrights Fall ist es jedoch so, dass aktuelle Informationen zum ausgewählten Vorbild - nämlich die angebliche Zusammenarbeit Charlotte von Mahlsdorfs mit der Stasi - dessen Vorbildcharakter in Frage stellen und dementsprechend das Projekt einer Bühnen-Hommage problematisch wird. Letztendlich geht es also um eine Auseinandersetzung mit einer Person, die jedoch mysteriös bleibt. 32 Vgl. Drabble (2005) und Lynch (2005), S. 11, 15 f. 33 Campbell/ Lynch (2005), S. 31. 34 Vgl. ebd., S. 37. 35 Ebd., S. 32. 36 Ebd., S. 59. Auslassung im Original. <?page no="235"?> Emily Dickinson im amerikanischen Drama 235 Selbstparodie stellt sie sich daraufhin vor, die jüngste Inkarnation der Dichterin zu sein, verwirft diese Idee jedoch. 37 Gegen Ende des Stücks kommt sie zu dem Schluss: „[. . .] even when I put on Emily’s dress, it’s still me inside the dress. The actor’s eternal dilemma.“ 38 Sie beschränkt die Austauschbarkeit oder Vergleichbarkeit ihrer selbst mit Dickinson auf gewisse Ähnlichkeiten, die sie mit ihrem Idol verbinden. Insbesondere betont sie zwei zentrale Erfahrungen, nämlich den inneren Kampf einer Künstlerin (sei es einer Dichterin oder einer Schauspielerin) und die Konfrontation mit dem Verlust des eigenen Vaters. Somit wird Dickinson erneut zu einer Identifikationsfigur über das Verbindende von Erfahrungen, die neben der Hauptfigur des Stücks offensichtlich auch zahlreiche andere Menschen durchmachen. In Campbells Stück ist diese Erfahrung nicht die unglückliche Liebe, sondern die Frage nach der Entwicklung individueller Fähigkeiten und der Umgang mit dem Tod. Dass der Dramentext nicht dazu auffordert, Edie als Reinkarnation oder als Bühnenfigur zu sehen, die Dickinson mimetisch überzeugend darstellt, ist insofern bedeutsam, als das Stück dadurch subtiler ist als dasjenige Detail, welches Drabble im Vorwort lobt. Gerade Drabbles Behauptung, „she [Edie Campbell, Anm. d. Verf.] manages to evoke the physical presence of the poet“ 39 , scheint mir unangebracht, da das Drama die Unmöglichkeit einer unmittelbaren Darstellung eines anderen Menschen thematisiert und dramatisch darstellt. Ob die Parallelen zwischen Dickinson und Campbell überzeugen, sei dahingestellt. Mit der offenen Fokussierung des Stücks auf Entwicklungen und Gedankengänge der Schauspielerin umgeht Campbell die Schwierigkeiten, die die Vorgängerstücke mit der Frage der Authentizität hatten. Die metadramatische Beschäftigung mit der psychologischen Realität einer Person, die man nicht persönlich kannte, mit der man sich jedoch über ihre Gedichte und Briefe und über ihre Rezeptionsgeschichte verbunden fühlt, erlaubt eine Art von Subjektivität, die in Stücken, die Dickinson selbst auf die Bühne zu bringen meinen, weniger oder gar nicht akzeptabel erscheint, wie Campbells Kritik an Luces Stück verdeutlicht. Das Leben und Überleben einer Dichterin und ihres Werkes Wie eingangs erwähnt, thematisiert bereits Glaspells Drama die Frage nach dem Erbe, das ein Dichter oder eine Dichterin der Nachwelt hinterlässt. Die Frage der Rezeption und der Art, wie man sich an Künstler und 37 Vgl. ebd, S. 65. 38 Ebd., S. 113. 39 Drabble (2005), S. 11. <?page no="236"?> N ASSIM W. B ALESTRINI 236 ihr Werk erinnern kann oder soll, wurde seitdem in zahlreichen weiteren Bühnenstücken gestellt. In Glaspells Alison’s House ist die Dichterin seit Jahren tot, und es geht um ihr Nachwirken in ihrer Familie und in der Gesellschaft im Allgemeinen. In Gardners Eastward in Eden wird Dickinsons Leben dargestellt, und die Interpretation ihrer persönlichen Entwicklung vermittelt Gardners Verständnis dessen, was Dickinsons Werk für die Nachwelt bedeutet. Dasselbe gilt für Luces Belle of Amherst, wobei hier durch die Tatsache, dass die Protagonistin ihr Publikum anspricht und ihm rhetorische Fragen stellt, der Eindruck vermittelt wird, Dickinson wolle ein bestimmtes Bild ihrer selbst in den Köpfen der Zuschauer hinterlassen. Eine weitere Methode, die dazu dient, Dickinsons Ära und die Zeit ihrer postumen Rezeption in einem Drama zu verbinden, ist die abwechselnde Präsentation von Szenen, die in diesen unterschiedlichen Perioden spielen. Ein Beispiel für diesen Ansatz liefert Norman Rostens Auftragswerk Come Slowly, Eden: A Portrait of Emily Dickinson, das 1966 Premiere am Nassau Community College feierte. 40 Rostens Drama spielt auf zwei Zeitebenen - eine zu Dickinsons Lebzeiten und eine drei Jahre nach ihrem Tod. In den Szenen, die nach Dickinsons Tod spielen, spricht ihre Schwester Lavinia mit Thomas Wentworth Higginson über die Veröffentlichung einer Auswahl von Dickinsons Gedichten und Briefen und über die bis in Rostens Zeit üblichen Fragen zu Dickinsons Leben: Welche Krisen musste sie überstehen? Wen liebte sie? Welche Ereignisse führten zu intensiven Schaffensphasen? Interessanterweise betont Rosten somit einerseits die ungeklärten Details aus Dickinsons Biographie und andererseits die Tatsache, dass sich nach ihrem Tod Verwandte und Freunde an der Veröffentlichung ihrer Werke beteiligten. 41 Dass es in Dickinsons Fall schwierig ist, das dichterische Werk zu entschlüsseln, wird in Higginsons Monolog zu Beginn des Stücks deutlich, denn er gibt zu: I am preparing her poems and letters for publication, at her family’s request. Now, only a few years after her death, I shall try to explain the mystery. I am anxious to try again, for I must confess I failed to understand her when she was alive. 42 Im Drama versucht er daraufhin, sich Dickinsons Leben und Persönlichkeit anhand ihrer Gedichte und Briefe vorzustellen. Das Fazit ist, Dickinson sei ihrer Zeit voraus gewesen. Die Aufgabe der Herausgeber ihrer 40 Rosten (1966, rev. Fassung 1967). Weitere Aufführungen folgten am White Barn Theatre in Westport, Connecticut, in der Kongressbibliothek in Washington, D.C., und im Theatre De Lys in New York City. 41 Higginson gab den ersten Band 1890 mit Mabel Loomis Todd heraus. 42 Rosten (1966/ 67), S. 9. <?page no="237"?> Emily Dickinson im amerikanischen Drama 237 Werke formuliert Higginson dann folgendermaßen: „We’re preparing to give her to the world.“ 43 Die Idee, man könne von den Werken auf die Persönlichkeit schließen und als Herausgeber eine verstorbene Autorin dem Lesepublikum schlüssig präsentieren, scheint für Rostens Higginson noch plausibel, wenn auch schwierig. Wie die Diskussion von Campbells Stück gezeigt hat, wird genau diese Art von Vermittlung in jüngerer Zeit zunehmend angezweifelt, so dass die in einem Stück wie Campbells vermittelte Sichtweise als individuell und subjektiv dargestellt wird, da allgemeinere Ansätze zum Scheitern verurteilt seien. Während Higginson in Rostens Drama „die Welt“ nicht in die Sphäre der akademischen Rezeption und in die Sphäre der breiteren Rezeption aufteilt, stellt David Starkeys Theaterstück die Frage nach den Umständen, unter denen das Werk eines Künstlers für die Nachwelt erhalten, wissenschaftlich aufgearbeitet und an Studierende vermittelt wird. Das Thema der Rezeption in der akademischen Welt wird zwar schon von Glaspell angedeutet und in jüngerer Zeit auch von Campbell parodiert, indem sie in einer Szene in die Rolle einer Lehrkraft schlüpft, die ein festgefahrenes Bild der Dichterin vermittelt, jedoch entwickelt Starkey in dieser und in anderer Hinsicht einen Ansatz, der in bisherigen Dickinson- Adaptationen für die Bühne nicht vorkam. 44 Starkeys Drama How Red the Fire wurde am 22. Februar 2007 im Fé Bland Forum auf dem West Campus des Santa Barbara City College, an dem er Literatur und akademisches Schreiben lehrt, uraufgeführt. 45 Das Theaterstück, das aus 18 Szenen besteht, nutzt zwei grundlegende Strukturelemente. Erstens alternieren die Szenen zwischen dem 19. Jahrhundert und der Gegenwart, zwischen Massachusetts und Kalifornien. Die ersten neun Szenen zeigen abwechselnd Emily Dickinson in Amherst in den letzten sechs Wochen ihres Lebens und die Literatur-Professorin Anna Young, die gerade von einer fiktiven Zweigstelle der California State University im Simi Valley eine Lebenszeitstelle erhalten hat und die etwas widerwillig mit einem ihrer schwächeren Studenten mehrmals über Dickinson spricht. Die Szenen der zweiten Dramenhälfte spielen erneut in Massachusetts und Kalifornien, im 19. bzw. 21. Jahrhundert, jedoch sind die jeweiligen Ausgangssituationen andere. Und damit kommt das zweite Strukturelement ins Spiel: Starkey nutzt die aus der Science-Fiction- 43 Ebd., S. 41. 44 Vgl. Campbell/ Lynch (2005), S. 40-47. 45 Vgl. Starkey (2007). Der Titel des Stücks ist ein Zitat aus folgendem, undatierten Dickinson-Gedicht: „On my volcano grows the Grass / A meditative spot - / An acre for a Bird to choose / Would be the general thought - / / How red the Fire rocks below / How insecure the sod / Did I disclose / Would populate with awe my solitude“ (Dickinson (1999), Nr. 1743, S. 624). Herr Starkey stellte der Autorin dieses Aufsatzes freundlicherweise eine elektronische Fassung seines Dramentextes zur Verfügung. Bisher ist sein Stück nicht im Druck erschienen. <?page no="238"?> N ASSIM W. B ALESTRINI 238 Literatur bekannte Methode der „alternate history“. D. h. ein wichtiges Ereignis in der Weltgeschichte wird fiktional abgewandelt, und die Handlung konzentriert sich auf einen anderen Verlauf der dem Leser bekannten Geschichte. 46 Die „alternate histories“ in Starkeys Drama sind kausal miteinander verknüpft: Er stellt sich vor, 1867 sei das Haus, in dem Emily Dickinson mit ihrer Schwester Lavinia lebte, abgebrannt; bei dem Brand seien Dickinsons Gedichtmanuskripte zerstört worden, und Lavinia sei den Flammen zum Opfer gefallen. Starkeys Emily Dickinson lebt daraufhin zwei Jahre lang bei ihrem Bruder Austin und seiner Frau Sue, zerstreitet sich jedoch mit Sue und zieht nach Cambridge, Massachusetts, in eine Pension, in der sie kurz vor ihrem Tod von ihrem Neffen Ned mehrmals besucht wird und ihm gesteht, dass sie sich die Schuld für Lavinias Tod gibt, da sie in ihrer Panik versucht hatte, ihre Gedichte zu retten, bevor sie den ebenso vergeblichen Versuch unternahm, ihre Schwester zu retten. Der in Kalifornien angesiedelte Handlungsstrang wird durch diese Fiktionalisierung von Dickinsons Lebensgeschichte grundlegend abgewandelt: Die College-Professorin hat kein Buch über Dickinson, sondern über deren Zeitgenossen Walt Whitman geschrieben. Sie beendet gerade ihr letztes Semester am College, da ihre „tenure“-Verhandlungen gescheitert sind und sie nun arbeitslos sein wird. Ihre Frustration basiert auch auf der Tatsache, dass sie eigentlich lieber ein Buch über Dickinson geschrieben hätte, von deren Œuvre jedoch nur 22 Gedichte, die sie in Briefen an Freunde und Verwandte geschickt hatte, vorliegen. Die Professorin hält Dickinson für die beste amerikanische Dichterin des 19. Jahrhunderts, konnte aber aufgrund der mageren Quellenlage keine Monographie verfassen und verfehlte somit das Ziel, eine unbefristete Professur zu erhalten. Starkeys Stück legt nahe, dass die Überlieferung literarischer Werke dem Zufall überlassen ist. Wären Dickinsons Gedichte nicht im Haus der Familie erhalten geblieben und hätte Lavinia nicht ihre Schwester überlebt, wären ihre Werke nicht im vorliegenden Ausmaß veröffentlicht worden. Hätten sich Literaturhistoriker nach der ersten Popularitätswelle Ende des 19. Jahrhunderts und einer längeren Phase der fehlenden Beachtung ihrer Werke nicht im Laufe des 20. Jahrhunderts erneut Dickinson zugewandt, dann wären ihre Werke jetzt nicht in diversen Ausgaben und unzähligen Anthologien erhältlich, und sie ständen nicht in den Amerikanistik- und Englisch-Lehrplänen. Zu dieser Überlegung kommt, wie gerade dargestellt, Starkeys Idee hinzu, dass die Karrieren jetzt lebender Wissenschaftler von solchen Zufällen abhängen. Auch wenn ein Wissenschaftler auf der Basis nur weniger überlieferter Gedichte den Eindruck hat, die Autorin müsse genial 46 Vgl. „alternate history“ (2008). <?page no="239"?> Emily Dickinson im amerikanischen Drama 239 gewesen sein, dann wird dieser Wissenschaftler kaum eine für eine Karriere ausreichende Reihe an Publikationen über 22 Gedichte zustande bringen. Die Professorin im Drama scheitert jedoch nicht direkt aufgrund ihres Interesses an Dickinson, sondern aufgrund der Tatsache, dass sie ein Buch über Dickinsons Zeitgenossen Walt Whitman schrieb. Sie erhält keine Lebenszeitstelle, da der Verlag, bei dem sie ihre Dissertation veröffentlichen möchte, das Manuskript mit der Begründung ablehnt, ihre Ideen und Argumente seien nicht innovativ und interessant genug. Zur Herausforderung an die Literaturwissenschaftlerin, zu einem kanonisierten Autor etwas Neues und aus der Sicht eines Verlags Verkaufsförderndes erforschen zu sollen, kommt hierbei der Umstand, dass Whitmans in vielerlei Hinsicht als revolutionär empfundene Werke zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden und auch Dickinson bekannt waren. Dass er und Dickinson heutzutage nebeneinander als Hauptrepräsentanten der amerikanischen Lyrik des 19. Jahrhunderts anthologisiert und diskutiert werden, gibt ihrer Gegenüberstellung im Drama die entsprechende Brisanz. Starkeys Werk präsentiert demnach Dickinson und ihre Rezeption als untrennbare Themen, wobei ihre Wirkungsgeschichte primär in der universitären Welt und nicht in der breiteren Bevölkerung angesiedelt ist, auch wenn letztere zumindest über die Rolle der nicht literaturwissenschaftlich interessierten Studierenden, die primär ihre Pflichtkurse in Englisch absolvieren oder Englisch als angeblich leichtes Nebenfach wählen, angedeutet wird. Im Gegensatz zu den Dramen, die sich mit der Richtigkeit oder der Falschheit bestimmter biographischer Details und mit der biographisch ausgerichteten Interpretation von Dickinsons Werken auseinandersetzen, stellt Starkeys Drama verschiedene Möglichkeiten der Appropriierung einer Dichterin, ihres Werkes und ihrer selbst dar. Die College-Professorin vertritt apodiktische Meinungen über akzeptable Dickinson-Interpretationen und verweist dazu auch auf literaturwissenschaftliche Werke; ihr Student Teddy jedoch kann mit dieser, auf bestimmten Theorien basierenden Literaturkritik nichts anfangen und findet Zugang zu Dickinson eher intuitiv über Parallelen zwischen den in einigen Gedichten dargestellten Gefühlen und Ereignissen in seinem eigenen Leben. 47 Einerseits thematisiert das Drama somit den Gegensatz zwischen einer analytisch-intellektuellen Lesart, die jedoch den jeweiligen Trends in der Literaturtheorie unterworfen sein kann, und einer subjektiv-erfahrungsbasierten Lesart, die auf emotionale Identifikation mit 47 Dr. Young spricht feministische Ansätze an (Szene 1, S. 4), ist sich aber auch dessen bewusst, dass es geradezu eine „Emily Dickinson industry“ (S. 7) gibt. Sie schilt Teddy dafür, „pre-1955“-Ideen (Szene 3, S. 18) zu haben. Teddy entwickelt seine persönliche Sichtweise einiger Gedichte aufgrund der schmerzlichen Erfahrung, dass seine Freundin ihn verlässt (Szene 7). <?page no="240"?> N ASSIM W. B ALESTRINI 240 einem Autor und den Inhalten seiner Werke abzielt. Andererseits stellt Starkey die Frage, weshalb bestimmte Dichter überhaupt auf den Lehrplänen stehen und wie zwischen Forschungsinteressen und Lehre vermittelt werden kann. Diese Konflikte werden im Stück nicht gelöst, denn es entsteht weder ein harmonischer Gedankenaustausch zwischen Dozentin und Student, noch wird suggeriert, man könne Dickinsons Verhalten - sei es in den an die historische Wahrheit angelehnten Szenen oder in den Szenen der alternativen Geschichtsschreibung - vollständig erklären oder verstehen. Dr. Young und ihr Student Teddy können sich nicht einigen, was Dickinsons Gedichte für „die Welt“ bedeuten, ob sie mysteriöse literarische Rätsel bleiben oder ob sie bestimmte emotionale Zustände vermitteln. 48 Der Wechsel zwischen den Zeitebenen und Schauplätzen sowie der Kontrast zwischen realitätsnahem und fiktionalisiertem Geschichtsverlauf verdeutlichen die vom Zufall abhängige Kanonisierung von Autoren, und somit läuft das Drama nicht Gefahr, zur bloßen Heldenverehrung einer nationalen Ikone zu werden. Eine gewisse Zwiespältigkeit bleibt auch in diesem Bereich erhalten, denn in den Szenen der „alternate histories“ ergibt sich ein Widerspruch, wobei jedoch unklar bleibt, ob dieser auf fehlenden Informationen beruht oder ob er Ausdruck des Wunschdenkens einer Forscherin ist; Dickinson gesteht ihrem Neffen Ned, sie habe beim Brand des Hauses zuerst ihre Gedichte zu retten versucht und dann weder diese noch ihre Schwester aus dem Flammen holen können. Sie sagt lakonisch: „Words seduced me. I traded my sister’s life for a box of poems. A box of ash.“ 49 Im Gegensatz zu diesem, mit biblischen Anklängen formulierten Schuldgefühl behauptet die Dozentin ihren Studenten gegenüber das Gegenteil: Dickinson habe gar nicht erst versucht, ihre Gedichte zu retten, und beim misslungenen Versuch, Lavinia aus den Flammen zu holen, ihre Schwester und ihr Werk verloren. Die Dozentin trifft diese Aussage ohne jegliche empirische Grundlage und agiert in diesem Moment ebenso emotional und unwissenschaftlich wie ihr Student Teddy. Zu dem unerklärten Gegensatz zwischen Dickinsons Aussage über ihr Verhalten und der Darstellung der Dozentin kommt noch die Interpretation der jeweiligen Sichtweise. Dickinsons Neffe schwankt zwischen Abscheu ob des Gedankens, ein Menschenleben zu opfern, denn die Welt habe ja recht gut ohne die Gedichte seiner Tante weiter existiert; kurz darauf will er Dickinson jedoch mit der Behauptung trösten, es sei einfach Pech gewesen, dass sie weder die Gedichte noch ihre Schwester habe retten können, denn Emilys Hund Carlo sei ihr im entscheidenden Moment in die Quere gekommen, habe den Behälter mit den Gedichten zu Fall gebracht und so den Versuch, Lavinia zu retten, weiter verzö- 48 Vgl. Szene 9, S. 42. 49 Szene 18, S. 81. <?page no="241"?> Emily Dickinson im amerikanischen Drama 241 gert. 50 Dr. Young hingegen spricht resigniert über die Konsequenzen des Brandes für die Rezeption und für das Nachleben der Autorin und ihres Werks. Dabei wandelt sie den Satz „The Emily Dickinson who might have been never was“ zu Beginn ihrer Aussage ab in die abschließende Bemerkung „Emily Dickinson never was“ 51 . So wird einer Dichterin ihre Existenz abgesprochen, da ihr Erbe nicht umfangreich genug ist, um gewürdigt werden zu können. Andererseits drückt dieser Satz die Resignation der Forscherin aus, die sich am Ende ihrer akademischen Karriere sieht und am liebsten den Gegenstand ihres verzweifelten Interesses aus Frustration verneinen möchte. Wessen Emily Dickinson? Welche Schlüsse lassen sich aus diesem Überblick von Dickinson-Dramen ziehen? Guerra zollt den frühen Bühnenwerken über Dickinson insofern Tribut, als sie diese zumindest als Darstellungen der frühen Dickinson- Rezeption sieht. Sie erkennt auch die Breitenwirkung von Luces Stück - besonders durch die Fernsehausstrahlung - an. Dennoch kritisiert sie Luce dafür, dass er Dickinsons hausfrauliche Qualitäten wie das Backen von preisgekröntem Brot und Kuchen betone und dass er, wie diverse Biographen, eine kausale Beziehung zwischen Dickinsons Arbeit als Dichterin und der Tatsache, dass sie nie geheiratet habe, herstelle. Die direkten Verbindungen, die Luce zwischen bestimmten Gedichten und Ereignissen in Dickinsons Leben impliziere, seien ebenso problematisch. 52 Im Gegensatz zu Guerras Blickwinkel der Dickinson-Expertin, die sich bzgl. der Auswirkungen des von Luces Monodrama vermittelten Bildes der Dichterin sorgt, erfreut sich das Werk großer Beliebtheit bei Schauspielerinnen, was jedoch nicht bedeutet, dass diese Künstlerinnen dem Stück nicht ihren individuellen Stempel aufdrücken möchten. Maravene Loeschke beispielsweise verleiht zwar ihrer Begeisterung für Luces Text Ausdruck und verteidigt den Dramatiker gegen die literaturwissenschaftliche Kritik, jedoch beschreibt sie auch aus ihrer Sicht notwendige Veränderungen am Dramentext, wie das deutlichere Herausarbeiten des Spannungsverhältnisses zwischen Dickinsons Scheu der Öffentlichkeit gegenüber und der direkten Interaktion mit dem Publikum von der Bühne aus. 53 Die überragende Wirkung des Stücks pointiert Loeschke mit der Behauptung, Zuschauer hätten aufgrund der Aufführung das Gefühl gehabt, 50 Vgl. Szene 18, S. 78, 81. 51 Szene 15, S. 65. 52 Vgl. Guerra (1998a), S. 389-91. 53 Vgl. Loeschke (1993), S. 126 f. <?page no="242"?> N ASSIM W. B ALESTRINI 242 that they knew Emily personally, that they wanted to read more of Emily’s poetry, that they felt as if they had peeked into her brilliant mind or spent an evening in her parlor. I honestly feel that this play is a primary contributor to an increased public awareness of Emily Dickinson. 54 Diese Ausführungen bestätigen ein generelles Phänomen, das Cynthia Griffin Wolff in ihrer Monographie über Dickinsons Leben und Werk im Hinblick auf die Dickinson-Rezeption beobachtet: Emily Dickinson led such an unremarkable, quiet life that few details of her day-to-day existence survive. Principally, she must be known through her written remains. [. . .] The real Emily Dickinson resides in the poetry. Life has been supplanted by art. Indeed, given the degree to which life has been supplanted by art in Emily Dickinson’s case, it is astonishing how many of her audience feel that somehow they know her personally. This disarming intimacy is, perhaps, the central paradox of Dickinson’s achievement. Hundreds of thousands of readers have responded not merely to her superb verbal artistry, but to a felt presence, her “self.” 55 Dass Dickinson für manche Dramatiker und Schauspieler einfach „Emily“ wird und dass Autoren in ihren Vorworten ihre geheimnisvolle Beziehung zum Werk und ihrer Urheberin betonen, bestätigt Wolffs Eindruck. Die Tatsache, dass die Mehrzahl der Autoren in die Dialoge ihrer Stücke zahlreiche Sätze und Teilsätze aus Dickinsons Gedichten und Briefen einflechten, ohne diese als solche kenntlich zu machen, illustriert die scheinbare Notwendigkeit, sich wörtlich auf Dickinsons Schriften zu stützen. Dies impliziert eine Identität zwischen Schriftsteller und Werk, die in der Literaturkritik nicht mehr als akzeptabel gilt, für die Adaptation und die Bühne jedoch nutzbar gemacht wird. Zu Beginn hieß es, Glaspells Drama von 1930 beinhalte bereits drei wichtige Themen der Dickinson-Künstlerdramen, und ich möchte kurz erneut auf die Frage nach Dickinson und ihrer Bedeutung für „die Welt“ eingehen. Glaspell betont die Rolle, die Dickinsons Œuvre für jeden an Lyrik interessierten Menschen, für jeden Menschen mit dichterischen Ambitionen und für Menschen, die ähnlich leidvolle Erfahrungen und Krisen wie die Dichterin durchlebt hätten, spielen könne. Das aus Glaspells Sicht manchmal fehlgeleitete Interesse akademischer Kreise an Dickinson wird anhand des Großneffen und seines Harvard-Professors kritisiert: Anstatt eine emotionale Verbindung zu den Gedichten aufzubauen, wollen beide Dickinsons Biographie für ihre eigenen Zwecke ausnutzen. 54 Ebd., S. 128. 55 Wolff (1986), S. 163. <?page no="243"?> Emily Dickinson im amerikanischen Drama 243 In den späteren Künstlerdramen unterstützt jedoch just die Rezeption innerhalb der Literaturgeschichte den subjektiven Zugang zu Dickinsons Leben und Werk. Literaturgeschichtliche Erkenntnisse dienen beispielsweise Gardner als Legitimation für das Verfassen ihres Dramas. Luce betrachtet wissenschaftliche Editionen und Biographien als wichtige Grundlage für seine Beschäftigung mit Dickinson. Außerdem wird Dickinsons Rezeptionsgeschichte dramatisch umgesetzt, indem z. B. bei Rosten das fehlende Verständnis zu ihren Lebzeiten, die Veröffentlichung ihrer Werke kurz nach ihrem Tod und die Rezeption in der Gegenwart thematisiert werden. Je stärker die Rolle der Rezeptionsgeschichte in den Dramen wird, desto kritischer wird diese betrachtet. In Starkeys Drama wird beispielsweise die Distanz zwischen den Forschungsarbeiten von Professoren und dem studentischen Zugang zum Lernstoff thematisiert. Aus welchen Personenkreisen soll sich also das potentielle Publikum für Dickinson-Dramen rekrutieren? Julie Harris erhielt, wie bereits erwähnt, für ihre Rolle in Luces Theaterstück den Tony Award, eine Auszeichnung, die seit 1947 für Broadway-Produktionen vergeben wird und die mit dem Pulitzer Prize und dem New York Drama Critics Circle Award zu den drei höchsten Auszeichnungen des kommerziellen Theaters in den Vereinigten Staaten gehört. Dieses Drama hatte also vermutlich ein bedeutend größeres Publikum als die für ein universitäres Umfeld geschriebenen und dort produzierten Werke. In diesem Sinne gehört Luce zu denjenigen Dramatikern, die Dickinson als für die ganze Gesellschaft relevante und interessante Persönlichkeit zu porträtieren und zumindest die ins Theater gehenden Segmente der Gesellschaft erfolgreich anzusprechen vermochten. Die Werke der vergangenen zwei Jahrzehnte sind auf den ersten Blick eher Produktionen, die Personen aus der akademischen Welt anzuziehen versuchen. In einer Szene von Starkeys Drama erwähnt die College- Professorin z. B. Gilbert und Gubar als einflussreiche Forscherinnen. Diese Anspielung auf Sandra Gilberts und Susan Gubars feministisches Werk über Autorinnen des 19. Jahrhunderts mit dem Titel The Madwoman in the Attic leuchtet zwar vielen Wissenschaftlern in amerikanistischen Kreisen ein, wäre für ein generelles Publikum aber verwirrend. 56 Dass die Anspielung die Distanz zwischen Forschung und Lehre, zwischen der Gedankenwelt von Dozenten und Studierenden auf den Punkt bringen soll, wird universitären Zuschauern eher deutlich. Starkeys Dickinson-Drama scheint demnach zu einem gewissen Grad von einem solchen universitären Publikum auszugehen und nicht von der Erwartung, weite Kreise von Theaterbesuchern anzuziehen. Bei einer Einschätzung der angesprochenen Theaterbesucher sind jedoch verschiedene Charakteristika des amerikanischen Bildungswesens und des Theaterbetriebs in Betracht zu ziehen. 56 Vgl. Gilbert/ Gubar (1984, rev. Ausgabe 2000). <?page no="244"?> N ASSIM W. B ALESTRINI 244 Statistiken der vergangenen anderthalb Jahrzehnte besagen, dass 75 Prozent derjenigen, die die „high school“ abschließen, sich an einem College oder einer Universität einschreiben. 57 Colleges und Universitäten sind dementsprechend in das Leben eines großen Teils der Bevölkerung integriert, was dafür spricht, dass deren öffentliche Veranstaltungen eben mehr als nur die gerade Eingeschriebenen erreichen können. Hinzu kommt, dass amerikanische Theater in der Regel keine städtisch oder anderweitig staatlich geförderten Einrichtungen sind und dass diese Abhängigkeit von hohen Besucherzahlen dazu führt, dass in solchen Häusern für neue Stücke, die nicht über einen langen Zeitraum aufgeführt werden können, kein oder kaum Platz ist. Universitäten versuchen durch ihre Inszenierungen zwar nicht gerade Broadway-Besucherzahlen zu erreichen, jedoch bemühen sie sich darum, die allgemeine Bevölkerung, die auch an neueren Stücken interessiert ist, die nicht bereits in New York City oder anderen Metropolen erfolgreich inszeniert wurden, einzubeziehen. Dadurch erfüllen sie eine Funktion, die die kommerziellen Theater - insofern sie in kleineren Städten überhaupt existieren - nicht erfüllen können oder wollen. Wenn man nun davon ausginge, dass Starkeys Drama auch für ein Publikum geschrieben wurde, das sich in der amerikanistischen Literaturwissenschaft nicht auskennt und für das Gilbert und Gubars Studie The Madwoman in the Attic kein Begriff ist, dann könnten diese Zuschauer die Situation des Studenten Teddy, der Dickinsons Gedichte anders rezipiert als seine auf Forschung ausgerichtete Dozentin, nachvollziehen. Beide Blickwinkel, der der Professorin und der des Studierenden, sind also in diesem Sinne publikumswirksam und fördern das Verständnis des Dramas. Edie Campbells Emily Dickinson & I erinnert an die oben erwähnte Diskrepanz zwischen Guerras Blickwinkel der Dickinson-Forscherin und Loeschkes Sichtweise der durchaus auf das Publikum didaktisch einwirkenden Schauspielerin. Campbell parodiert die angebliche Festgefahrenheit und Steifheit akademischer Darstellungen und setzt ihr die lebensnahe, ergreifende und somit angeblich authentischere Präsentation einer persönlichen Sichtweise, die sich aus individuellen Erfahrungen ergibt, entgegen. Trotz ihrer Kritik an Luce verquickt sie hierbei auch zu einem gewissen Grad Werk und Biographie, indem manche Gedichte zum Versuch der Entschlüsselung von Dickinsons Persönlichkeit dienen. Diese Vorgehensweise ist, wie die Zitate auf den Umschlagseiten des Buches und die bereits besprochenen Vorworte verdeutlichten, Teil des Bemühens, möglichst viele Menschen zu begeistern. Das Thema „Emily Dickinson“ interessiert also sowohl Theaterschaffende an Universitäten als auch im regulären Theater, sei es wie in Luces Fall auf dem Broadway oder in weniger bekannten Häusern. Dass gerade 57 Vgl. Steinberg (2005), S. 225. <?page no="245"?> Emily Dickinson im amerikanischen Drama 245 Dickinson als Identifikationsfigur ausgesucht wird, ergibt sich teilweise aus dem Spannungsverhältnis zwischen Legenden über sie, ihren Gedichten und Briefen und ihrer Rezeptionsgeschichte. Ein gewisses Maß an Wissen über diese Bereiche kann eher bei literatur- und kulturgeschichtlich interessierten Zuschauern vorausgesetzt werden. Dass manche Künstlerdramen „creative writing“-Programmen entspringen, nimmt also kaum Wunder. Wie Whichers Vorwort zu Gardners Stück aus den 1940er Jahren bereits zeigte, begann dies aber nicht erst mit der Einrichtung von akademischen „creative writing“-Einrichtungen. Dass Dickinson eine historische Persönlichkeit ist, mit deren Namen inzwischen eine Breitenwirkung verbunden wird, zu der Universitäten beitragen, zeigt sich beispielsweise in einer Veranstaltungsreihe der kalifornischen Stanford University von Januar bis März 2008. 58 Die Reihe umfasste eine dramatische Lesung von Briefen und Gedichten Dickinsons, ein Konzert mit Musikstücken, die die Dichterin kannte, und „a short, comic vignette set during Emily’s death bed visit to a dying school chum“, in dem auf humorvolle Weise Dickinsons für ihre Zeitgenossen ungewöhnlicher lyrischer Umgang mit dem Thema „Tod“ dargestellt werden soll. Das Plakat, auf dem diese Veranstaltungen angekündigt werden, ist merkwürdig, denn es zeigt eine junge Frau in einem langen blauen Kleid, die mit einem Fallschirm auf eine Berglandschaft herabschwebt. Ein Blickfang ist es allemal, wenn auch der Bezug zu Dickinson ironisch zu sein scheint. Kommt Sie in stereotypisierter und gleichzeitig ungewöhnlicher Form - wenn man ihre Kleidung mit dem Fallschirm kontrastiert - von Neuengland über die Sierra Nevada an die Westküste? Auch in Europa wird Dickinson eine kommerzielle Wirkkraft zugeschrieben - zumindest unter Menschen, die an Lyrik interessiert sind. Die österreichische Schokoladenfirma Zotter vermarktet innerhalb ihrer Serie „Lyrische Genüsse“ eine handgeschöpfte Schokolade mit Zimt-, Apfel- und Honiggeschmack, auf deren Einpackpapier Emily Dickinsons Name, ein Faksimile ihrer Unterschrift sowie ein gezeichnetes Porträt vor dem Hintergrund einer gedruckten Textseite zu sehen sind. 59 Diese Dickinson schlägt versonnen und verschämt die Augen nieder; eine Haarsträhne fällt ihr in die Stirn; und sie hält ein Häschen in ihrer rechten Hand. Dickinsons Naturverbundenheit, die sich auch in der Geschmacksrichtung niederschlägt, mit der der Erfinder dieser Schokolade auf ihre Gedichte über Pflanzen, Früchte, Bienen und dergleichen anspielt, wird visuell vermittelt. Auf der Innenseite des Papiers finden sich nebst einem solchen 58 Ich bin meiner Kollegin Lauren LaFauci dankbar dafür, dass sie mich auf diese Veranstaltungsreihe aufmerksam gemacht und mir die Ankündigungen per E-Mail zugeschickt hat. 59 Ich danke meiner Kollegin Cornelia Stein dafür, dass Sie mit mir an einem weiteren Dickinson-Projekt arbeitet und mir diese Schokolade zukommen ließ. <?page no="246"?> N ASSIM W. B ALESTRINI 246 Gedicht eine knappe Darstellung ihres Lebens sowie ein „Vernaschtipp“, der postuliert: Wahre Genüsse muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, damit sie wirklich im Gedächtnis bleiben. Das ist bei feinsten Schokoladen genauso wie bei großer Lyrik. Unvergleichlich - unvergänglich. Dass diese Schokolade zu den fair gehandelten Bioschokoladen gehört, passt zum didaktischen Impetus des Einwickelpapiers. Dickinson wird hier zum Vehikel eines sinnlichen Genusses und, wie die Kurzbeschreibung ihres Lebens und Schaffens nahe legt, eines verinnerlichten Dichtertums, das erst nach ihrem Tod der Welt offenbart wurde. Wie in den Dramen begegnet man hier einer Inszenierung von Dickinson als Figur, die bestimmte Zuschauer- und Konsumentenwünsche erfüllt. Das visuelle und das verbale Beiwerk zur Schokolade verquickt Verständnis für individualistisches Künstlertum mit unterschiedlichen Formen des Genusses, die sozial akzeptabel oder sogar erwünscht sind. Meine, deine, unsere Emily Dickinson? Die Dichterin bewegt weiterhin die Gemüter Theaterschaffender und anderer Künstler und Rezipienten. Dramatiker haben sich zunehmend weniger für die Frage nach Dickinsons persönlichen Krisen - besonders im Bereich der romantischen Liebe - und mehr für Anknüpfungspunkte wie ihre von ihren Lesern wahrgenommene Charakterstärke und ihre gewollte, sowie von ihr angeblich genossene Unkonventionalität interessiert. Dennoch entkommen auch die Stücke, in denen die persönliche Begegnung eines Dramatikers oder Schauspielers mit Dickinsons Gedichten und Briefen dargestellt oder zumindest verarbeitet wird, nicht der Deutung ihrer Werke als Fundgrube für biographische oder zumindest persönlichkeitsrelevante Details, um daraufhin diese Beziehung zwischen Leben und Werk auf den eigenen Erfahrungshorizont übertragen zu können. Dass in jüngster Zeit ein vielschichtiges Stück wie David Starkeys How Red the Fire, in dem der Autor nicht nur Dickinsons Nachleben als nationalen Mythos, sondern auch ihre literaturwissenschaftliche Rezeption in größere Fragen der Kanonisierung und des Wissenschaftsbetriebs einbettet, der Kommerzialisierung Dickinsons auf einer Schokoladenverpackung gegenübersteht, ist faszinierend. Literaturverzeichnis Adams, B.: War Between the Houses. Examensarbeit. 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Wordsworth und S. T. Coleridge hatten die Auffassung propagiert, ein Dichter - und im weiteren Sinne jeder Künstler - sei zwar einerseits nur „a man speaking to men“ 1 , unterscheide sich von den hoi polloi aber letztlich doch durch seine höhere Sensibilität für ästhetische wie gesellschaftliche Zusammenhänge. Mit dieser Auffassung standen die Romantiker allerdings lange Zeit alleine da. Denn nicht nur im angelsächsischen Raum wurde Künstlern über Jahrhunderte hinweg eine besondere gesellschaftliche Bedeutung nicht zugebilligt. Sie fanden Anerkennung als „Kulturschaffende“, aber da sie die Kunst zum Broterwerb machten, waren sie dem Status von Handwerkern näher und keinesfalls auf Augenhöhe mit ihren Auftraggebern. Das galt auch für Shakespeare. Im England Elisabeths I. war Shakespeare ein „script writer“, und die geringe Anerkennung von „script writers“ auch heute noch wurde durch deren 2008 die amerikanische Unterhaltungsindustrie über Monate hinweg lahm legenden Streik untermauert. Nicht nur jeder Amerikaner kennt die Talkshows von Larry Reno und David Letterman. Erst als diese und auch andere ihre Programme absetzen mussten, weil die streikenden „script writers“ keine zündenden „gags“ mehr lieferten, wurde dem Publikum bewusst, dass hinter den charismatischen Talkmastern ganz andere Köpfe am Werk sind. In Deutschland hätte es die Karrieren von Otto Waalkes oder Harald Schmidt ohne die Kreativität der Autoren des satirischen Magazins Titanic nicht gegeben. 1 Wordsworth (1968), S. 34. <?page no="250"?> B ERNHARD R EITZ 250 Diesen Sachverhalt bestätigt ein Blick in alte Lexika. Im zehnten Band von Meyers Konversations-Lexikon, „eine(r) Enzyklopädie des allgemeinen Wissens“.von 1890, finden sich zwar gut drei Spalten zum Stichwort „Kunst“, nach einem Eintrag zu „Künstler“ sucht man jedoch vergeblich. Verwiesen wird auf Stichworte wie „Genie“ und „Talent“. Der zehnte Band der Brockhaus-Enzyklopädie von 1970 dagegen definiert den Künstler wie folgt: Künstler ist [ein] jeder Mensch, der bestimmte von der Gesellschaft als künstlerisch empfundene Tätigkeiten ausübt, im engeren Sinne jedes Mitglied einer arbeitsteiligen Gesellschaft, das sich (ausschließlich oder nicht) darauf richtet, mit Vorstellungs- und Formkraft ein Werk mit ästhetischem Anspruch zu schaffen. 2 Nicht nur postmoderne Zweifel an dieser den Künstler „in einer arbeitsteiligen Gesellschaft“ auf einen allein ästhetischen Anspruch reduzierenden Definition sind angebracht - sie wird, das sei vorausgeschickt, in Stoppards Dramen thematisiert. Für deren Kontext sind jedoch noch einige Anmerkungen notwendig. Bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das britische Theater ein rein kommerzielles Theater, das, da es keine Subventionen erhielt, sich am Publikumsgeschmack ausrichten musste. In diesem Theater war für Künstlerfiguren, die als „Kippfiguren“ den Widerstreit sowohl ästhetischer wie gesellschaftlicher Positionen verkörpern, kein Platz. Das englische Theater des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts war trotz des sich verstärkenden sozialkritischen Engagements, für das repräsentativ der frühe George Bernard Shaw steht, mehrheitlich ein bürgerliches Selbstbespiegelungstheater der Mittel- und Oberschicht. Hätte dieses Publikum an Künstlerdramen Interesse gehabt, so wären diese, davon darf man ausgehen, auch geschrieben worden. Diese Situation sollte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg ändern, als nach langen Debatten eine staatliche Kunstförderung durch das Arts Council of Great Britain eingeführt wurde. 1956 war zwar keineswegs das annus mirabilis des neuen englischen Theaters, als das es lange apostrophiert wurde, aber der Erfolg von John Osbornes Look Back in Anger bescherte nicht nur Osborne, sondern auch anderen Dramatikern wie John Arden, Arnold Wesker oder Edward Bond, sowie deren Nachfolgern ein neues Selbstwertgefühl. Dramatiker waren nun nicht mehr nur Zulieferer für die Unterhaltungsindustrie im Londoner „West End“. Sie waren jetzt gefragt als Analysten des Zeitgeists, die einen gesellschaftlichen Auftrag zu schultern hatten. Erst unter diesen veränderten Produktionsbedingungen entstand Raum für Künstlerdramen. Edward Bond, der mit seinen damals kontro- 2 Artikel „Künstler“. In: Brockhaus-Enzyklopädie in 20 Bänden (1970), Bd. 10, S. 766. <?page no="251"?> Konstruktion und Dekonstruktion in den Dramen Tom Stoppards 251 versen frühen Stücken Saved (1965) und Early Morning (1968) einen entscheidenden Beitrag zur Abschaffung der anachronistischen, seit 1737 bestehenden Theaterzensur geleistet hatte, brachte 1973 Bingo und 1975 The Fool auf die Bühne. Beides waren Produktionen der English Stage Company im Royal Court Theatre, das sich noch immer der Förderung neuer Talente verpflichtet fühlt. Beides sind Künstlerdramen. Protagonist von Bingo ist der gealterte Shakespeare, der sich in seine Heimatstadt Stratford zurückgezogen hat. Aber die letzten Lebensjahre des Barden werden von keiner Abendsonne vergoldet. Mit der materiellen Sicherheit, die Shakespeare sich in London als Autor und Teilhaber des Globe Theatre erworben hatte, kontrastiert seine desillusionierte Einsicht, dass die humanistische Botschaft seiner Stücke an der unmenschlichen Lebenswirklichkeit des späten 16. und des frühen 17. Jahrhunderts nichts zu ändern vermocht hatte. Als „letzte Worte“ vor seinem Selbstmord lässt Bond ihn fragen: „Was anything done? “ 3 Auch The Fool zeigt einen scheiternden Künstler, den heute zumeist nur noch Anglisten bekannten Dichter John Clare (1793-1864). Der bildungsfern aufgewachsene Clare wird von der Gesellschaft als „romantisches“ Naturtalent entdeckt, seinen ländlichen Wurzeln entfremdet, aber - als sich der Publikumsgeschmack wandelt - auch ebenso schnell wieder fallen gelassen. Bond zeichnet in den Scenes of Bread and Love - Bingo ist untertitelt als Scenes of Money and Death - Clares Lebensweg bis in das Irrenhaus nach, in dem er starb. In diesen Kontext fügt sich Howard Brentons Bloody Poetry von 1984. Brenton zeigt Shelley und Byron im Exil, erst in der Schweiz und dann in Italien. England haben beide nicht nur wegen ihrer privaten Verstrickungen verlassen - es ist für sie, und der Vergleich mit den realen politischen Bedingungen im Kontinentaleuropa nach Napoleon hilft da wenig, eine Despotie. Michael Billington schrieb seinerzeit über Bloody Poetry im Guardian: Brenton is, in fact, doing something markedly ambitious in this phantasmagoric play. He is celebrating the idea of the committed artist who seeks to stir and provoke sullen, defeated, bourgeois England. At the same time with clear-eyed honesty, he shows how difficult it is to upset the moral order. 4 Mit der „idea of the committed artist“ benennt Billington zutreffend den gemeinsamen Nenner jener Künstlerdramen, die in Großbritannien nach 1956 den Künstler zum Anstoßgeber für gesellschaftliche Veränderungen stilisieren. Dabei wird eine zu eindeutige Idealisierung jedoch bewusst vermieden. Edward Bonds Shakespeare ist Humanist, aber eben auch Großgrundbesitzer. John Clare lässt sich nur allzu gern auf den vermeint- 3 Bond (1974), S. 51. 4 Billington zitiert in Brenton (1985), S. 1. <?page no="252"?> B ERNHARD R EITZ 252 lichen Aufstieg in die „bessere Gesellschaft“ ein, und Brentons Shelley und Byron müssen erst mal in einem Gespräch von Mann zu Mann klären, wer denn nun Shelleys Schwägerin Claire geschwängert hat. 5 An der Aussage ändert dieses menschliche Schwächeln der Protagonisten allerdings nichts. Bonds und Brentons Künstlerfiguren wollen eine bessere Welt, und das verleiht auch ihrem Scheitern an der Wirklichkeit noch Größe. Zu dieser Funktionalisierung des Künstlers im Namen des gesellschaftlichen, bei Bond und Brenton sozialistisch grundierten Fortschritts gibt es jedoch eine Gegenposition, die der 1946 geborene Howard Barker besetzt. Anders als der gleichaltrige Christopher Hampton, der 1968 in Total Eclipse die selbstzerstörerische Beziehung zwischen Arthur Rimbaud und Paul Verlaine nachzeichnete und dann in den Tales from Hollywood 1982 dem englischen Theaterpublikum die Exiljahre von Thomas und Heinrich Mann sowie Bertolt Brecht vergegenwärtigte, verweigert sich Barker dem teleologisch angelegten Künstlerdrama in der Nachfolge Bonds jedoch ebenso wie dem Biographismus Hamptons. Mit Barkers Verständnis der Rolle des Künstlers in der Gesellschaft lassen sich auch die Künstlerfiguren nicht vereinbaren, die mit einem Hampton vergleichbaren biographischen Ansatz Pam Gems auf die Bühne gebracht hat. Gems hat in Piaf (1978) den Lebensweg des „Spatz von Paris“, effektvoll von dessen Chansons untermalt, nachgezeichnet - die Geschichte einer Frau, die auch auf dem Höhepunkt einer internationalen Karriere ihre Vorgeschichte als Prostituierte nicht vergessen kann. In Stanley (1996) dramatisiert Gems die Biographie des britischen, eher nur einer Minderheit bekannten Malers Stanley Spencer, der seinen Zwiespalt zwischen den traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und christlicher Lebensbejahung beim Ausmalen der Sandham Memorial Chapel 1927-1932 in Bilder zu fassen versuchte. 1996 hat Gems mit Marlene zudem ein weiteres, beim Publikum erfolgreicheres Künstlerdrama als Stanley auf die Bühne gebracht - die gealterte, sich auf einen Auftritt vorbereitende Marlene Dietrich lässt die entscheidenden Stationen ihres Lebens Revue passieren. Aber Pam Gems hat nicht nur den Lebensverlauf von Stars wie Piaf oder Marlene Dietrich thematisiert. In The Snow Palace (1998) zeichnet sie, wenngleich vom Publikum eher zurückhaltend rezipiert, die Biographie der polnischen Autorin Stanislawa Pryzybyszewska (1901-1935) nach - die Geschichte einer Frau, die in den zwanziger Jahren in einem gut 600 Seiten umfassenden und deshalb auch nicht spielbaren Drama die Ideale der französischen Revolution, ein neues Verständnis von Geschlechterrollen und Reflektionen über die zukunftsweisende Rolle des Künstlers in der Gesellschaft zusammenführen wollte. 5 Vgl. Brenton (1985), S. 43. <?page no="253"?> Konstruktion und Dekonstruktion in den Dramen Tom Stoppards 253 Von solchen Versuchen, Künstlerbiographien entweder teleologisch zukunftsweisend oder als bedenkenswerte Zeitzeugnisse zu thematisieren, hält Howard Barker nichts. Die Gründe hierfür liegen in seinem Theaterverständnis. Für Barker, der stolz darauf ist, noch immer Großbritanniens kontroversester Gegenwartsdramatiker zu sein, ist das Theater keine Lehranstalt, sondern kann nur als Ort aufrüttelnder, aber nicht notwendigerweise kathartischer Erfahrung existieren. Solche Erfahrung können Künstlerfiguren jedoch prismatisch bündeln. In Scenes from an Execution (1985) ist es die venezianische Malerin Artemisia Gentileschi (1593-1653), die vergeblich darum ringt, wie man der Seeschlacht von Lepanto, dem Rückzugsgefecht Europas gegen die Türken im Jahr 1571, Ausdruck verleihen könnte. Künstlerdrama ist auch Barkers Bearbeitung von Tschechows Onkel Wanja (Uncle Vanya, 1991), für Barker ein „danse macabre“, in dessen Aufführung bei Barker Tschechow selbst in die für Barker keineswegs nostalgischen, sondern existentiell verzweifelten „Szenen aus dem Landleben“ eindringt. Bei Barker stirbt nicht Wanja, sondern Tschechow - er hält die Hand seiner Figur und begreift erst im Augenblick des Todes in Ansätzen die Komplexität der Welt, die er für die Bühne geschaffen hat. Edward Bond und Howard Brenton, Christopher Hampton, sowie Pam Gems und Howard Barker haben in den bisherigen Ausführungen Leuchtturm-Funktion. Sie zeigen zunächst nur, wie nach Jahrhunderten der Absenz das britische Künstlerdrama in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine im Rückblick kaum prognostizierbare Blüte erlebt hat. Es bleiben jedoch noch Namen, die ausgespart wurden. Weitet man dazu den Begriff „Künstlerdrama“ aus auf nicht historisch belegte, aber für die Frage nach der ästhetischen, gesellschaftlichen und existentiellen Verortung des Künstlers kaum weniger wichtige Künstlerfiguren 6 , dann steht man einem Konvolut von Texten gegenüber, das unüberschaubar wird. Weshalb aus dieser Gemengelage Tom Stoppard herauszuheben ist, bedarf deshalb der Begründung. Die Funktionalisierung des Künstlers zur Verkörperung eines hegelianisch wie marxistisch interpretierbaren Fortschritts bei Bond und Brenton, das von Christopher Hampton und Pam Gems implizit propagierte romantische Ideal, in Künstlerbiographien konkretisiere sich der Zeitgeist, und Howard Barkers wie auch David Hares seinerzeit selbstverliebte Vorstellung, nur in den Selbstzweifeln eines Künstlers könne die innere Zerrissenheit der Welt einen adäquaten Ausdruck finden, benennen den Kontext, in dem Stoppard platziert werden muss. 6 Ein Beispiel wäre die Sängerin Maggie in David Hares Teeth’n’Smiles (1967), die in ihrem revolutionären Gestus auf Janis Joplin zurückverweist, aber keine deckungsgleiche Biographie hat. <?page no="254"?> B ERNHARD R EITZ 254 Der Beitrag Tom Stoppards zum britischen Künstlerdrama der Gegenwart ließe sich auch quantitativ begründen. Bereits in Rosencrantz and Guildenstern Are Dead, mit dem Stoppard 1966 im fringe des Edinburgh Festival auf sich aufmerksam machte, sind nicht die Studienkollegen Hamlets in Wittenberg die wirklichen Hauptfiguren, sondern es ist der „First Player“, eine Künstlerfigur, die bei Shakespeare der Entlarvung des Claudius als Mörder den Weg bereitet, bei Stoppard jedoch daran scheitert, den namensgebenden Protagonisten einen Ausweg zwischen elisabethanischer Rachetragödie und dem existentiellen Niemandsland Samuel Becketts zu weisen. Mit dem Hörspiel Artist Descending a Staircase von 1972 sowie in den Farcen The Real Inspector Hound (1968) und After Magritte (1970) hat Stoppard die Frage, ob ein Künstler der Gesellschaft jenseits platter Unterhaltung doch noch etwas sagen könnte, weiter vertieft. Dass sich diese Frage aufgrund unterschiedlicher gesellschaftlicher Bedingungen jeweils ganz anders stellen kann, hat Stoppard mit Dogg’s Hamlet, Cahoot’s Macbeth von (1977) vertieft. Hier wird eine Privataufführung von Macbeth, die Pavel Kohout und seine Freunde in Prag proben, von einem tumben Inspektor der Geheimpolizei gestört, der auch in einer Shakespeareinszenierung nur systemfeindliche Agitation vermutet. Die Probe rettet, dass sich die Darsteller in eine Kunstsprache - „Dogg’s English“ - flüchten, die den Inspektor in hilflosem Unverständnis zurücklässt: „What’s that language he’s talking? “ 7 Die Frage, wo sich denn ein Künstler in seinem Selbstverständnis verorten kann, ob er zwischen den Positionen des das kommerzielle Medium Theater bedienenden Unterhalters und des seine eigene Bedeutung vielleicht gnadenlos überschätzenden praeceptors des Weltgeists überhaupt einen Platz finden kann, diese Frage durchzieht Stoppards dramatisches Schaffen wie ein roter Faden. Er stellt sie in erneut in The Real Thing (1982), dessen Held ein weichgespülter Ibsen-Nachfolger ist, und er vertieft sie auch in The Invention of Love (1997), wo der Dichter A. E. Housman zum Zeitzeugen des Fin de Siècle wird. In diesem Kontext des Künstlerdramas, der auch für Stoppard selbst ein Entwicklungskontext ist, weil es bei ihm hinsichtlich der Frage nach der Rolle des Künstlers in der Gesellschaft nicht nur in Erz gegossene Positionen gibt, soll der Blick nachfolgend auf ein Stück gelenkt werden, das „den Künstler“ zugleich konstruiert und dekonstruiert. Es ist Travesties, das 1974 von der Royal Shakespeare Company uraufgeführt wurde. Travesties trägt einen Titel, der bereits die Reflektion von Kunst impliziert. Travestieren kann man nur etwas, das einen Anspruch auf künstlerische Höherwertigkeit reklamiert, aber diesen Anspruch nicht mehr gesichert behaupten kann. Jedoch muss dieser Aspekt hier zunächst hintangestellt werden. 7 Stoppard (1980), S. 73. <?page no="255"?> Konstruktion und Dekonstruktion in den Dramen Tom Stoppards 255 Zum Ende des Ersten Weltkriegs ergab sich eine im Rückblick historisch ebenso wie literarisch bedeutungsgeladene Situation. Während an der Marne und an der Somme, in Flandern und in Ostpreußen jeden Tag noch Tausende junger Männer einen sinnlosen Tod starben, erschien die neutrale Schweiz wie eine Insel der Seligen. Aber sie war es nur scheinbar, denn in ihr tummelten sich keineswegs nur zartlila Kühe auf Almweiden. Tatsächlich war die Schweiz ein Hort der Revolution. Der Zufall, denn da kann man divine providence nicht reklamieren, fügte es, dass 1917/ 18 die Schweiz das Refugium sowohl für Lenin wie für James Joyce war. Beide arbeiteten in der Züricher Stadtbibliothek. Lenin an dem Projekt Weltrevolution, dessen Konsequenzen bekannt sind, und Joyce schrieb an dem für den Roman der Moderne revolutionären Ulysses. Ob sie sich dabei wirklich einmal begegnet sind, ist nicht belegt. Aber in der Stadtbibliothek, in der Spiegelgasse oder in einem Gasthaus an der Limmat hätten sie auf noch einen dritten Revolutionär treffen können. Es war Tristran Tzara, neben Hugo Ball die zweitwichtigste Galionsfigur des Dadaismus. Aus dieser Konstellation entwickelt Stoppard sein Stück, allerdings jedoch nicht als historisch-dröge Retrospektive. Um Lenin, Joyce, Tzara und die Denkwelten, für die diese jeweils stehen, zusammenzuführen, bedient er sich einer Katalysatorfigur, die ebenfalls historisch verbürgt ist. Es ist der britische Konsulatsangestellte Henry Carr (1894-1962), der zumindest mit James Joyce zusammengetroffen ist. 8 Beide wirkten 1918 bei einer Laienaufführung von Oscar Wildes Komödie The Importance of Being Earnest mit. Daraus resultierte dann ein Rechtsstreit darüber, ob Joyce den Kaufpreis der Garderobe, die Carr für seine Rolle als Algernon erstanden hatte, erstatten müsse. Vor Gericht erzielte Joyce in dieser bizarren Episode nur einen Teilerfolg. Aber er rächte sich und schrieb sowohl Carr wie den damals ebenfalls involvierten britischen Generalkonsul A. P. Bennett als Rüpel in das „Circe“-Kapitel von Ulysses. Was nüchtern betrachtet nur Marginalie im Leben eines Künstlers ist, der unstrittig zu den bedeutendsten Romanautoren des 20. Jahrhunderts zählt, wird bei Stoppard zum Ansatzpunkt für eine Durchleuchtung des Spannungsverhältnisses zwischen Kunst, Ideologie und Gesellschaft. Stoppard hat Travesties als „memory play“ konzipiert. Was wir über die potentiell wirkungsmächtige, kunsttheoretische Konstellation in Zürich vor dem Ende des Ersten Weltkriegs erfahren, das wird nicht mit den Mitteln des Dokumentartheaters aufbereitet. Denn der Filter der Wahrnehmung ist der inzwischen gealterte, auf seine Zeit in Zürich zurückblickende Henry Carr. Allerdings ist Henry Carr („old Carr“) zu Beginn des Stückes schon reichlich senil. Seine Versuche, sich der im Gegensatz zu ihm inzwischen 8 Zur Biographie Henry Carrs vgl. Berry (16. Januar 2008). <?page no="256"?> B ERNHARD R EITZ 256 berühmt gewordenen Zeitgenossen zu erinnern, werden von ihm immer wieder neu mit der Dramaturgie von The Importance of Being Earnest konfundiert, was diese Erinnerungsanläufe (und Wildes Komödie) travestiert. Daraus entsteht nicht weniger als in Wildes Vorlage fulminante Situationskomik, deren Parallelitäten jedoch einer eigenen Analyse bedürfen. Als einziges Beispiel sei hier nur benannt, dass bei Wilde ein Baby - Jack Worthing - aus Schusseligkeit der Gouvernante zugunsten einer Reisetasche voller sentimentaler Romane auf einem Bahnhof zurückgelassen wurde. Bei Stoppard werden aus Schusseligkeit Lenins und Joyces Manuskripte vertauscht, was - bevor das Missverständnis aufgeklärt wird - beide völlig konsterniert und ihr Verhaftetsein in nicht kompatiblen Denkwelten entlarvt. In Stoppards an Wilde orientierter Rollenverteilung agiert Henry Carr wie seinerzeit in Zürich als Algernon. Tristan Tzara fällt die Rolle des zweiten Dandys bei Wilde, des Jack, zu und Gwendolen ist nun Carrs jüngere Schwester. Cecily, bei Wilde das frühreife Mündel Jacks, das sich in den Kopf gesetzt hat, den von Jack erfundenen leichtlebigen Bruder zu reformieren, ist bei Stoppard Bibliothekarin der Züricher Stadtbibliothek und eine bekennende Sozialistin, die Lenin verehrt. Was diese Beziehungen angeht, so werden sie komödienkonform mit happy endings abgeschlossen. Aber diesen geht eine Wildes Komödie ebenso thematisierende wie transzendierende Diskussion über das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft voraus. Stoppard vergibt in Travesties einerseits eindeutige, aber dann bei genauerem Hinsehen doch auch in sich widersprüchliche Positionen innerhalb der Debatte. Leicht zu durchschauen sind Henry Carr und Tristan Tzara, jeder ein „Dandy“ in der Nachfolge der Protagonisten Oscar Wildes. Dass „Dandyism“ mit einem gehörigen Maß an Selbstüberschätzung einhergehen kann, das exemplifizieren beide. Dazu gehört bei Carr, dass er in seinen Erinnerungsphantasien einen Rollentausch vornimmt. Er ist dort der britische Konsul. Sein damaliger Vorgesetzter Bennett agiert dagegen als sein Butler. Carrs Selbstgefälligkeit zeigt sich außerdem in den wiederholten Erinnerungsanläufen, die seine Biographie mit den Biographien seiner bedeutenden Zeitgenossen verknüpfen sollen: Memories of James Joyce. James Joyce as I knew him. The James Joyce I knew. Through the Courts with James Joyce [. . .]. Lenin as I knew him. The Lenin I knew. Halfway to the Finland station with V. I. Lenin: A Sketch [. . .]. Memories of Dada by a Consular Friend of the Famous in Old Zurich: A Sketch [. . .]. 9 9 Vgl. Stoppard (1980), S. 22-25. <?page no="257"?> Konstruktion und Dekonstruktion in den Dramen Tom Stoppards 257 Es reicht jedoch nicht einmal zu einem Sketch, der Joyce, Lenin oder dem Dadaismus nur annähernd gerecht würde. Statt dessen enthüllt Carr in den Gesprächen mit Bennett, der ihm die täglichen Depeschen vorlegt, seine Unfähigkeit, komplexe politische Zusammenhänge zu verstehen, und bei den erinnerten Zusammentreffen mit Tzara und mit Joyce offenbart er ein bis ins Groteske reichendes Unverständnis von Kunst. Stoppards Carr geriert sich als Mann von Welt, aber den zipfelmützigen Bourgeois, der er in Wahrheit ist, kann er nicht verstecken. Nicht nur im Wortgefecht mit Tzara über den Dadaismus und die Kunst „an sich“ bricht aus ihm immer wieder der Spießer hervor, der, weil er für neue Ideen nicht offen ist, vor allem befürchtet, von Künstlern geleimt und über den Tisch gezogen zu werden: Artists are members of privileged class. Art is absurdly overrated by artists, which is understandable, but what is strange is that it is absurdly overrated by everyone else. [. . .] What is an artist? For every thousand people there’s nine hundred doing the work, ninety doing well, nine doing good, and one lucky bastard who’s the artist. 10 Wo Künstler mehr beanspruchen als sowieso schon viel zu gut bezahlte Unterhalter zu sein und ihr Publikum mit Ideen konfrontieren, die es nicht nachvollziehen kann, da ist grundsätzlich Misstrauen angebracht. Dadaismus und Joyce benennen Horizonte, denen sich Carr gar nicht erst annähern will. Für ihn erreicht Kunst ihren Höhepunkt in der Operette, in den Savoy Operas von Gilbert & Sullivan, und dass diese vielleicht auch komplexer sind als er sie wahrnimmt, dieser Gedanke kommt ihm nicht. Zwar erobert auch bei Stoppard Algernon/ Carr Cecily, aber glücklich wurden - das zeigen die Dialoge zwischen „old Carr“ und „old Cecily“ - der selbstgefällige Bourgeois und die engagierte Sozialistin miteinander nicht. Denn Cecily rückt auch als „old Cecily“ nicht von ihrer Überzeugung ab, „the sole justification of art is social criticism“. 11 Selbstgefälliger Dandy ist auch Tristan Tzara. Aber schon in The Importance of Being Earnest sind die Dandys Algernon und Jack trotz der Schnittmenge ihres „Dandytums“ nicht deckungsgleich. Carr entlarvt sich als kunstfeindlicher, misstrauischer Bourgeois. Tristan Tzara dagegen will Carrs Selbstgefälligkeit aufbrechen, ohne sich dabei aber der eigenen Selbstgefälligkeit bewusst zu sein. Für Tzara ist es die Bestimmung des Künstlers, nicht nur die Kunst, sondern auch die Gesellschaft zu revolutionieren. Deshalb verehrt er Lenin: 10 Ebd., S. 46. 11 Vgl. ebd., S. 74. <?page no="258"?> B ERNHARD R EITZ 258 Artists and intellectuals will be the conscience of the Revolution. He [Lenin, Anm. d. Verf.] is a reactionary in art, and in politics he was brought up in a hard school that killed weaker spirits, but he is moved by a vision of a society of free and equal men. And he will listen. He listens to Gorki [. . .]. 12 Nicht nur die Geschichte desavouiert Tristan Tzara. Bei Stoppard führt er sich selbst ad absurdum. Seine „künstlerische“ Leistung besteht darin, klassische Texte in einen Zylinder zu schnipseln, um dann aus den Textfetzen dadaistische Lyrik zu basteln. Das ist zwar effektvoll, aber hinter der Pose des Dandys ist Tristan Tzara nicht weniger verunsichert als Henry Carr. Denn als es darum geht Gwendolen zu gewinnen, da verzichtet Tzara auf dadaistische Improvisationen. Um Gwendolens Hand wirbt er nur erfolgreich, weil er für sie Shakespeares 18. Sonett evoziert - „Shall I compare thee to a summer’s day“ - das Gwendolen „sadly“ für ihn rezitiert. 13 In Travesties ist Tristan Tzaras Traum, der Künstler sei dazu berufen, die Kunst wie die Gesellschaft zu revolutionieren, nur Schaum. Dies führt ihm nicht nur der gegenüber jeder Veränderung misstrauische Henry Carr vor Augen. Einen Tzaras Selbstinszenierung als zur Weltveränderung bestimmten Künstler endgültig den Boden unter den Füßen wegziehenden Widerpart hat er in James Joyce. Joyces voller Name, James Augustine Aloysius Joyce, war für Stoppard zu verlockend, um ihn im Wilde’schen Erinnerungskontext Carrs nicht als Lady Augusta Bracknell zu verorten. Wildes Lady Augusta, eine erst durch geschickte Heirat noblierte Tänzerin, die sich darob aber als besonders standesbewusst geriert und außerdem als „extremely money-minded“ erweist, ist bei Wilde die Mutter Gwendolens. Als alter ego für Joyce wird sie von Stoppard jedoch in Hinblick auf den Schlusseffekt nur allmählich aufgebaut. Denn bei seinen ersten Auftritten in Carrs Erinnerungen ist Joyce - wie es in der Regieanweisung heißt - „obviously an Irish nonsense“ 14 . Joyce ist anfänglich ein sprichwörtlicher „Stage Irishman“, eine im englischen Theater stereotype, clowneske Figur, die sich bei Stoppard zunächst in gezielt albernen Limericks artikuliert und mit dem Stereotyp gemein hat, dass auch er ständig monetär klamm ist. Joyce kompensiert dies zunächst - und hier ergibt sich eine Schnittmenge mit Carr und Tzara - durch Selbstgefälligkeit. Denn an Verweisen auf sein monumentales Werk lässt er es nicht fehlen. Als jedoch die Diskussionen über die Frage, was Kunst und was ein Künstler ist, eskalieren und die benannten Positionen Carrs und Tzaras reiteriert werden, kommt es am Ende des ersten Akts zu einer kataklystischen Konfrontation. Zunächst beleidigt Tzara Joyce fast handgreiflich: 12 Ebd., S. 83. 13 Vgl. ebd., S. 53 f. 14 Ebd., S. 33. <?page no="259"?> Konstruktion und Dekonstruktion in den Dramen Tom Stoppards 259 You [. . .] streak of Irish puke! [. . .] Your art has failed. [. . .] It’s too late for geniuses! [. . .] Now we need vandals and desecrators, simple-minded demolition men to smash centuries of baroque subtlety, to bring down the temple [. . .]. Dada! Dada! 15 Angesichts dieser Provokation wird Joyce zu Wildes Lady Augusta Bracknell, die in der berühmten Katechisierungsszene im ersten Akt von The Importance of Being Earnest Jack Worthing über seine Herkunft examiniert, um ihm dann zu erklären, dass sie die Hand ihrer Tochter niemals einem Mann überlassen würde, der als Baby in einer Reisetasche auf einem Bahnhof aufgefunden wurde. Da Tzara ihn persönlich beleidigt hat, staucht Joyce ihn mit unterkühlter Herablassung zunächst zurecht: You are an over-excited little man, with a need for self-expression far beyond the scope of your natural gifts. This is not discreditable. Neither does it make you an artist. 16 Nachfolgend belehrt er Tzara, warum dessen Selbstverständnis als Künstler nicht nur naiv, sondern inakzeptabel ist: An artist is the magician put among men to gratify - capriciously - their urge for immortality. The temples are built and brought down around him, continuously and contiguously, from Troy to the fields of Flanders. If there is any meaning in any of it, it is what survives in art [. . .]. What now of the Trojan War if it had been passed over by the artist’s touch. Dust. A forgotten expedition prompted by Greek merchants looking for new markets. A minor redistribution of broken pots. But it is we who stand enriched, by a tale of heroes, of a golden apple, a wooden horse, a face that launched a thousand ships [. . .]. 17 Auch für Joyce ist der Künstler ein Zauberer. Aber er „zaubert“ nicht wie Tzara, indem er statt eines weißen Kaninchens aus wahllos aus dem Zylinder gefischten Papierschnipseln dadaistischen Nonsens produziert. Bei Joyce ist der Künstler sowohl Bannerträger wie Bewahrer. Er hütet das kulturelle Gedächtnis, von dem Tzara glaubt, dass es längst obsolet sei. Sein Auftrag ist es - und deshalb wird aus Homers Odyssee Joyces Ulysses -, dieses kulturelle Gedächtnis immer wieder neu zu formulieren. Denn nur so kann es weitergegeben werden. Es muss aus Stoppards Sicht auch weitergeben werden, selbst wenn - vor dem Hintergrund der Schützengräben von 1917/ 18 und der vom Publikum mitzudenkenden, nachfolgenden Geschichte des 20. Jahrhunderts - dieser Auftrag scheinbar unmöglich erscheint. Für Edward Bonds Shakespeare, daran sei hier erinnert, endet der Versuch, eine humanere Welt zu schaffen, im Gefühl, gescheitert zu sein. 15 Ebd., S. 62 16 Ebd. 17 Ebd. <?page no="260"?> B ERNHARD R EITZ 260 Stoppards James Joyce setzt dieser Resignation ein entschiedenes „trotzdem“ entgegen. Hierin liegen nicht nur der Auftrag, sondern auch die Würde des Künstlers. Er ist nicht der oberflächliche Unterhalter, auf den ihn Carr reduziert. Aber er darf sich auch nicht anmaßen, sich wie Tzara außerhalb und jenseits der Geschichte und der Kunstgeschichte positionieren zu können. Er ist im Sinne der zitierten Brockhaus-Definition Mitglied „einer arbeitsteiligen Gesellschaft“, aber eben auch kein Mitglied, das man nur auf ästhetische Experimente reduzieren kann. Indem er das kulturelle Gedächtnis bewahrt und dieses für ein neues Verständnis unter sich wandelnden Rezeptionsbedingungen transformiert, fällt ihm eine identitätsstiftende Aufgabe zu - eine entscheidende Aufgabe, denn, wie wir inzwischen wissen, sind auch in einer globalisierten Welt Gesellschaften auf einen stets neu zu reflektierenden Identitätskonsens angewiesen. Bei Stoppard steht James Joyce für den Beitrag, den der Künstler erbringen kann und aus dem er seine Legitimation bezieht. Am Ende des ersten Akts von Travesties hat Joyce nach Punkten gesiegt. Seine Katechisierung Tzaras bestätigt allerdings ein letztlich doch bildungsbürgerlich grundiertes Kunstverständnis, dessen Vertreter im Publikum deshalb hochgestimmt in die Theaterpause gehen können. Ob das publikumswirksame „Abbürsten“ Tzaras im Namen der „Hochkultur“ aber wirklich so problemlos ist, diese Frage stellt sich nicht, weil Stoppard sie nicht stellt. Der Dadaismus war nur ein kurzlebiges Phänomen; aus der Perspektive der „Hochkultur“ bestenfalls ein Irrlicht. Doch im Zeitalter von Popkultur und Randkulturen, von Minoritäten- und Migrantenkulturen können da schon Zweifel auftreten, ob man den eurozentristischen, bildungsbürgerlichen Kulturbegriff, den Stoppards Joyce zunächst so vehement vertritt, wirklich so uneingeschränkt verabsolutieren kann. Die Dekonstruktion der Selbstinszenierung von James Joyce als Hohepriester der Hochkultur hat Stoppard dem zweiten Akt vorbehalten, aber dabei spielen jedoch - die Uraufführung von Travesties liegt mehr als dreißig Jahre zurück - selbstkritische, multikulturelle Reflektionen keine Rolle. Was eigentlich erstaunen sollte, denn 1974 war die Frage, ob und wie man die Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien auch kulturell in Großbritannien integrieren könne, in der politischen Auseinandersetzung ein zentrales Thema. 1974 herrschte noch „Kalter Krieg“. Ausweislich von Stücken wie dem schon genannten Dogg’s Hamlet, Cahoot’s Macbeth, von Every Good Boy Deserves Favour (1977) oder dem im gleichen Jahr uraufgeführten Fernsehspiel Professional Foul hat Stoppard, der sich seinen tschechischen Wurzeln im Verlauf seiner Karriere als Dramatiker immer mehr zugewandt hat, den von Joyce in Travesties verkörperten Künstler- und Kulturbegriff jedoch nicht multikulturell in Frage gestellt. Die Bedrohung liegt aus <?page no="261"?> Konstruktion und Dekonstruktion in den Dramen Tom Stoppards 261 seiner Sicht vielmehr in totalitären Systemen, die er in Travesties in Lenin konkretisiert. Während alle anderen Protagonisten in Carrs Erinnerungsszenarien in den travestierten Handlungsverlauf von The Importance of Being Earnest integriert werden, bleiben Lenin und seine Frau Nadya bei Stoppard außen vor. Die Überlegung, Lenin als Miss Prism in Wildes Stück einzubinden - ein Ansatz findet sich in den vertauschten Manuskripten - hat Stoppard nach eigenen Angaben verworfen. 18 Lenin kann sich zwar von Kunst persönlich angerührt fühlen, wie von Beethovens „Apassionata“-Sonate - für ihn „superhuman music“ -, aber er relativiert dies sofort: But I can’t listen to music often. It affects my nerves, makes me want to say nice stupid things and pat the heads of those people who while living in this vile hell can create such beauty. Nowadays we can’t pat heads or we’ll get our hands bitten off. We’ve got to hit heads, hit them without mercy [. . .]. 19 Wo solche Prioritäten gesetzt werden, da bleibt für Tzara und Joyce, aber auch für Carr und ihrer aller Streit um die Rolle des Künstlers und die Bedeutung von Kunst für den Einzelnen wie für Gesellschaften kein Platz. Stoppards Lenin deklamiert apodiktisch: Today, literature must become party literature. Down with non-partisan literature! Down with literary supermen! Literature must become a part of the common cause of the proletariat, a cog in the Social Democratic mechanism [. . .]. 20 Wohin das geführt hat, ist bekannt: Zu Lenins und Stalins Gleichschaltung der Künstler, die nachfolgend schon vor Alexander Solschenizyn kritische Autoren ins Exil trieb und erst mit dem Ende der Sowjetunion aufgebrochen wurde. Zu Maos Kulturrevolution, und zu den „killing fields“ in Kambodscha. Dies überschattet das mit The Importance of Being Earnest konforme „happy ending“ für Carr und Cecily, für Tzara und Gwendolen, das erst möglich wird, als Lenin und Nadya schon nach Russland abgereist sind. Und nachdem auch die vertauschten Manuskripte wieder bei ihren Autoren angelangt sind, kann Joyce seine Arbeit an Ulysses fortsetzen. Was bleibt als Erkenntnis? Erhabene Kunst, Hochkultur, „literary supermen“, wie sie James Joyce propagiert, Kunst als intellektuell anspruchslose Unterhaltung, wie sie Henry Carr einfordert, und auch künstlerische Experimente, selbst wenn sie so volatil sind wie die Tristan Tzaras, haben vor dem Hintergrund von Lenins Forderung, Literatur 18 Vgl. Whitaker (1983), S. 113 f. 19 Stoppard (1980), S. 89. 20 Ebd., S. 85. <?page no="262"?> B ERNHARD R EITZ 262 habe sich allein an dem „common cause of the proletariat“ auszurichten, einen gemeinsamen Nenner: Ihre Möglichkeit setzt Freiheit voraus. Hierfür steht, emblematisch, bei Tom Stoppard die Schweiz. Literaturverzeichnis 1. Primärliteratur Bond, E.: Bingo. Scenes of Money and Death. London 1974. --: The Fool & We Come to the River. Scenes of Bread and Love. London 1976. Brenton, H.: Bloody Poetry. London 1985. Joyce, J.: Ulysses. London 1992. Stoppard, T.: Dogg’s Hamlet, Cahoot’s Macbeth. London 1980. --: Travesties. London 1975. Wilde, O.: The Importance of Being Earnest and Other Plays. London (Penguin) 1986. Wordsworth, W.: „Preface To Lyrical Ballads 1800; Revised 1802“. In: R. A. Foakes (Hg.), Romantic Criticism 1800-1850. London 1968, S. 34. 2. Sekundärliteratur Berry, M.: „Travesties“. <www.sff.net/ people/ mberry/ travest.htp>, 16. Januar 2008. Bloom, H. (Hg.): Tom Stoppard. New York 2003. Brockhaus Enzyklopädie in 20 Bänden. Band 10. Wiesbaden 1970. Fleming, J.: Stoppard’s Theater: Finding Order Amid Chaos. Austin 2003. Hunter, J.: Tom Stoppard’s Plays. London 1982. --: Tom Stoppard. London 2000. Jenkins, A.: The Theatre of Tom Stoppard. Cambridge 2 1987. Kelly, K. E. (Hg.): The Cambridge Companion to Tom Stoppard. Cambridge 2001. Meyers Konversations-Lexikon. Eine Enzyklopädie des allgemeinen Wissens. Leipzig/ Wien 4 1890. Plett, H. F.: „Tom Stoppard: Travesties“. In: R. Lengeler (Hg.), Englische Literatur der Gegenwart 1971-1975. Düsseldorf 1977, S. 81-93. Sammels, N.: Tom Stoppard: The Artist as Critic. Basingstoke 1988. Whitaker, T. R.: Tom Stoppard. London 1983. <?page no="263"?> Christine Mundt-Espín Valère Novarina: Pour Louis de Funès (1985): L’Acteur Nul et Parfait Einleitung Was hat Louis de Funès in einer Reihe über Künstlerdramen zu suchen? Die Frage ist berechtigt, denn Gemeinsamkeiten des Komikers mit Künstlerfiguren wie Orpheus, Tasso, Sappho oder Kean sind auf den ersten Blick schwer auszumachen. Der französische Schauspieler, der in den 60er und 70er Jahren zahllose Filme drehte, die im Deutschen Titel trugen wie Drei Bruchpiloten in Paris oder Balduin, das Nachtgespenst sowie Louis und seine außerirdischen Kohlköpfe, 1 gilt als Garant anspruchslosester Filmkomik. In allen Filmen bietet Funès den immergleichen Charakter: einen extrem cholerischen Kleinbürger, der in seinen allseits erwarteten Wutausbrüchen eine Art Grimassenfeuerwerk über seine zu Statisten degradierten Mitspieler niedergehen lässt. Wie viele Komiker polarisierte er das Publikum: Entweder man lachte sich halb tot - oder man ging gar nicht erst ins Kino. Valère Novarina, den der Regisseur Patrice Chéreau einem Ondit zufolge als den - nach Bernard-Marie Koltès - derzeit bedeutendsten französischen Dramatiker bezeichnet, 2 gehört offensichtlich zu denjenigen, die Funès bewundern, mehr noch: Er erhebt ihn in seinem Essay Pour Louis de Funès geradezu zu einem Modell des Künstlers; dieser Text aus dem Jahr 1985 rief - wie auch andere Texte von Novarina - Schauspieler und Dramaturgen auf den Plan, die ihn als Theaterstück inszenierten und damit zu einem zeitgenössischen Künstlerdrama machten. Freilich weist dieses Künstlerdrama signifikante Unterschiede zu seinen prominenten Vorläufern auf und um diese Unterschiede soll es im Folgenden gehen. 1 Wie so oft sind die Originaltitel der Filme etwas diskreter als ihre deutschen Übersetzungen: Drei Bruchpiloten in Paris (La grande vadrouille, 1966), Balduin, das Nachtgespenst (Le tatoué, 1968) und Louis und seine außerirdischen Kohlköpfe (La soupe aux choux, 1981). 2 Eine Quelle für diese Äußerung von Chéreau war nicht zu ermitteln. Allerdings werben die Französischen Kulturinstitute in Deutschland, die Veranstaltungen über Novarina abhalten, mit dieser griffigen Formulierung. <?page no="264"?> C HRISTINE M UNDT -E SPÍN 264 Allgemeines zum Künstlerdrama in Frankreich Anders als die deutsche Literaturwissenschaft hat die „critique littéraire“ in Frankreich keinen Begriff ausgeprägt, der dem des „Künstlerdramas“ entspräche. Das mag zum einen an der französischen Wortbildungslehre, zum anderen aber vermutlich auch an der Tradition der Gattungsbezeichnungen liegen, die im Französischen in der Ausprägung neuer Termini eher behutsam verlief. Zwar gab es Bildungen zur Benennung neuer Subgenera wie „comédie larmoyante“ und „drame bourgeois“ im 18. oder „drame romantique“ im 19. Jahrhundert, es findet sich jedoch keine französische Bezeichnung für ein Theater, das durch den Berufsstand oder die Verfasstheit seiner Hauptfigur gekennzeichnet wäre. 3 Dabei gibt es natürlich auch in der französischen Literatur zahlreiche Stücke, deren zentrale Figuren Künstler, Musiker oder Dichter sind: Spätestens seit Ende des 18. Jahrhunderts wimmelt es von Künstlern auf französischen Bühnen und zwar nicht allein im Sprechtheater, sondern auch im Musiktheater, etwa in der Opéra comique und auch in der Oper. Als Künstler begegnen historische Figuren: Dichter wie Chatterton, Maler wie Andrea del Sarto und Schauspieler wie Kean, im Musiktheater auch Ossian und Milton. 4 Seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts treffen wir immer öfter Figuren an, die nicht direkt einen Künstlerberuf ausüben, aber durch ihre kreativen Talente als Künstler erkennbar sind, wie etwa der Narr Triboulet in Victor Hugos Le Roi s’amuse (1832, Vorlage für Verdis Rigoletto, Uraufführung 1851) oder Fantasio in Mussets gleichnamigem Stück von 1834. Mit dieser Vorliebe für Künstlerfiguren steht das Theater innerhalb der Literatur in Frankreich nicht allein: Es bildet vielmehr nur eine Variante dessen aus, was in der Lyrik ebenso wie in der erzählenden Literatur zu den beliebtesten Sujets des 19. Jahrhunderts gehört. 5 Die Grundzüge der verschiedenen Inszenierungen von Künstlerschicksalen ähneln sich 3 Daher fehlen Arbeiten wie die folgenden, die in der deutschen Germanistik eine lange Tradition haben: Levy (1929), Westfalen (1981), Japp (2004). Vereinzelte Ausnahmen aus dem frankophonen Bereich gibt es freilich. Vgl. dazu Andréoli (1994); man beachte die kursiv gesetzte Fügung „contes artistes“, die das sprachliche Unbehagen des Autors ins Typographische zu übersetzen scheint. 4 Siehe etwa Lesueurs Erfolgsoper Ossian, ou les Bardes (1804) oder Spontinis einaktigen fait historique Milton (1804); bekanntere Beispiele sind Berlioz’ Benvenuto Cellini (1834-37, 1852), Wagners Meistersinger (1868), Giordanos Andrea Chénier (1896) oder Puccinis La Bohème (1896). Interessanterweise beschäftigen sich gerade Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts verstärkt mit der Künstleroper. 5 Man vergleiche allein die Erzählungen und Romane Balzacs, in denen es um Künstlerfiguren geht, wie Le chef d’oeuvre inconnu (1831), Gambara (1837) und Illusions perdues (1837/ 38, 1843), bis hin zu Huysmans’ À rebours (1884) oder Zolas Roman L’Œuvre (1886). Die Reihe ließe sich beliebig verlängern. <?page no="265"?> Valère Novarina: „Pour Louis de Funès“ : L’Acteur Nul et Parfait 265 gattungsübergreifend vom 18. bis weit ins 19. Jahrhundert hinein: 6 Fast immer ist der Künstler eine Figur, der ein glückliches Leben innerhalb der Gesellschaft misslingt, ja misslingen muss, weil das Talent und die Folgen, die mit diesem Talent verknüpft sind, eine erfolgreiche Integration in die umgebende Gesellschaft verhindern; gelegentlich schlagen die Probleme, die der Künstler mit seiner Umgebung hat, auch auf seine Imagination zurück und bedrohen somit sowohl sein Talent als auch seine Produktivität. Die vielzitierte „Disproportion des Talents mit dem Leben“ 7 wird in diesen Stücken anhand unterschiedlicher dramatischer Konflikte entfaltet und endet fast immer mit dem Ausschluss des Künstlers aus der Gesellschaft, meist sogar mit seinem Tod. 8 All diese Texte - dramatische, prosaische und lyrische - sind als Zeugnisse der Selbstreflexion ausführlich untersucht worden. Pierre Bourdieu hat mit seinen Analysen des „champs littéraire“ ein Instrumentarium bereitgestellt, um die Ursachen und Folgen dieser Selbstreflexion sowie die Handlungsspielräume des Individuums aus soziologischer Sicht näher zu bestimmen. 9 Aus historisch-philosophischer Perspektive hat Paul Bénichou seit den 70er Jahren seine großen Studien zu den Wandlungen des dichterischen Selbstverständnisses seit dem Ende der Aufklärung in Frankreich vorgelegt: Seine Lesart resultiert aus den Befunden des umfassenden Säkularisierungsprozesses, im Zuge dessen es zu einer religiösen Aufladung des Künstlerbildes kommt, dessen Missverhältnis zu den tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklungen immer krasser hervortritt. 10 Der Literaturwissenschaftler Jean-Luc Steinmetz schließlich widmete sich in den 80er Jahren der Aufgabe, die Ergebnisse zu Gestaltungsansätzen von Künstlerschicksalen in der französischen Literatur zu bündeln und zu ordnen. 11 Das Ergebnis ist die Unterscheidung zweier aufeinander folgender Modelle dichterischer Selbstinszenierung, nämlich das des „poète malheureux“ und das des „poète maudit“: Ende des 18. Jahrhun- 6 Eine Ausnahme bildet das Musiktheater bis zu den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts: Aufgrund der als unausweichlich betrachteten Verpflichtung zum „lieto fine“ auch in den ernsthaften Genres kommt der tragische Ausgang der Stücke einfach nicht in Frage. Erst mit dem Beginn der romantischen Oper und den in ihr gestatteten tragischen Schlüssen erleiden auch hier die Künstler große, erschütternde Schicksale. 7 So Caroline Herder in einem Brief an ihren Mann vom März 1789: „Von diesem Stück sagte er [Goethe, Anm. d. Verf.] mir im Vertrauen den eigentlichen Sinn. Es ist die Disproportion des Talents mit dem Leben. Er freut sich recht über mich, daß ich es selbst so gut empfinde.“ (Goethe (1952), S. 442). 8 Eine der wenigen Ausnahmen bildet das Lustspiel Kean von Alexandre Dumas: Hier erhält der Künstler eine Art Gnadenfrist, da er zwar nach Amerika auswandern muss, aber immerhin am Leben bleibt. 9 Vgl. Bourdieu (1992). 10 Vgl. Bénichou (1973, 1977, 1988, 1992). 11 Vgl. Steinmetz (1982). Vgl. auch Brissette (2005). <?page no="266"?> C HRISTINE M UNDT -E SPÍN 266 derts entsteht in Frankreich in einem Kreis um den Lyriker Nicolas Gilbert unter Rückgriff auf antike Traditionen und die Melancholie-Vorliebe des 18. Jahrhunderts das Modell des „poète malheureux“, der seiner seelischen Disposition zur Melancholie sein Talent verdankt, aber leider auch sein Ungeschick im Umgang mit der Welt. Diese Interpretation des Künstlers, die sich beispielsweise in Alfred de Vignys Chatterton (1835) zeigt, erfährt in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts eine Verschärfung hin zum Modell des „poète maudit“, etwa in Mussets Stücken Les caprices de Marianne (1833) oder Fantasio (1834). Von nun an radikalisiert sich die Talent-Unglück-Kombination insofern, als sie mit dem Stigma der unentrinnbaren Fatalität ausgestattet wird. Diese Stilisierung der Dichterfigur, die späterhin besonders von symbolistischen Autoren gepflegt wird und auf anderer Ebene von dem Konzept der Kunstautonomie begleitet ist, ist innerhalb der Literatur freilich keine isoliert zu betrachtende Erscheinung. Neben dieser Tendenz stehen in Frankreich die Bestrebungen realistischer und naturalistischer Schriftsteller, wie Balzac oder Zola, dem Künstler gerade im Kontext der gesellschaftlich anerkannten Naturwissenschaften eine herausragende Position innerhalb der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung zuzuschreiben. Beide Interpretationen des eigenen Tuns lassen sich als Reaktionen auf die zunehmend heikler werdende Bewertung künstlerischen Tuns in einer modernen Industriegesellschaft lesen, und beide wirken noch weit über das Ende des 19. Jahrhunderts hinaus. Die Avantgarden in Frankreich - zunächst Apollinaire und sein Kreis, etwas später dann die Dadaisten und schließlich die Surrealisten - beschäftigen sich in der Zeit um den Ersten Weltkrieg intensiv mit den Überlegungen ihrer Vorgänger des 19. Jahrhunderts: Sie, die den Bruch nicht allein mit der Tradition, sondern mit der Kunst überhaupt und damit auch mit tradierten Künstlerbildern anstreben, wollen sich aus der Umklammerung traditioneller Dichtermodelle lösen. Eine Orientierung an den Wissenschaften steht für die Franzosen angesichts dessen, was Wissenschaft für die Entwicklung der Kriegsmaschinerie geleistet hat, nicht zur Debatte. Aber auch das Modell des „poète maudit“, mittlerweile zum Klischee verkommen, bietet keine Identifikationsmöglichkeit mehr. Aus ihrer Interpretation der Literaturgeschichte und der Dichtermodelle, die sie als Prozess fortschreitender Verbürgerlichung und damit als Entschärfung der vitalen Ressourcen von Poesie lesen, resultiert die Forderung nach einer radikalen Neubestimmung von Kunst und Leben: Allen Gruppen gemeinsam ist, so unterschiedlich sie sich selbst auch definieren mögen, ein totalisierendes Konzept von Kunst, was unter anderem zur Folge hat, dass zumindest bis etwa zur Mitte der 20er Jahre Begriffe wie „Künstler“ oder „Dichter“ in ihren jeweiligen Diskursen gar nicht mehr vorkommen. Sie versuchen vielmehr ihr neues Selbstver- <?page no="267"?> Valère Novarina: „Pour Louis de Funès“ : L’Acteur Nul et Parfait 267 ständnis im Modell des „homme nouveau“ bzw. des „homme moderne“ zu artikulieren - und zwar auch und gerade auf der Bühne. 12 Was tun in Zeiten der Post-Avantgarde? Die Konzepte französischer Autoren nach diesen avantgardistischen Versuchen fallen sehr unterschiedlich aus: Jean Cocteau, letztlich ein Abkömmling des Surrealismus, experimentiert formal und medial mit der Orpheus-Figur und ist damit als Stifter der bis heute produktiven Orpheus-Rezeption auf dem Theater und im zeitgenössischen Musiktheater zu betrachten. Der Rückgriff auf Orpheus als eine Art maximaler Inkarnation des Dichters gestattet die unterschiedlichsten formalen Experimente - meist freilich ohne dem Mythos inhaltlich Neues hinzuzufügen. Jean- Paul Sartre, der an formalen Experimenten ohnehin kein rechtes Vergnügen hat, bleibt mit seinem Kean (1953) den Prinzipien des klassischen Künstlerdramas treu: Er bearbeitet die Vorlage von Alexandre Dumas aus dem Jahr 1836 unter Wahrung von dessen formalen Vorgaben (fünf Akte, etc.) und bemüht sich um die Person des Schauspielers Kean. Indem er dessen Eigenarten und Probleme (Schein-Wirklichkeit) in das Licht einer existentialistischen Betrachtungsweise taucht, stilisiert er Kean zu einer Art Präzedenzfall menschlichen Seins schlechthin. Kean gerät damit unversehens zum Beleg für die „Zeitlosigkeit“ der Künstlerexistenz, wie auch das 19. Jahrhundert sie gerne gesehen hatte. 13 Erst Valère Novarina scheint in jüngerer Zeit einen Ansatz des Künstlerdramas zu liefern, der die Avantgarden hinter sich lässt, ohne deswegen hinter sie zurückzugehen oder aber in einen Rausch der fortschreitenden Selbstzerstörung zu verfallen, in der das Theater schließlich sich selbst vernichtet. Valère Novarina Valère Novarina, 1947 im Kanton Genf geboren, kann sich bei seinen vielfältigen künstlerischen Begabungen lange nicht recht auf eine Tätigkeit festlegen. Seit den 70er Jahren verfasst er verstärkt Texte, die unmit- 12 Vgl. Mundt (1990). 13 Ein interessantes Inszenierungsbeispiel von Sartres Kean, das genau mit dieser vermeintlichen Zeitlosigkeit spielt, stammt aus dem Herbst 2002. In Montréal inszeniert René-Daniel Dubois im Théâtre du Nouveau Monde das Stück so, dass jeder der fünf Akte zu einer anderen Zeit spielt, nämlich 1820, 1915,1943, 1968 und 2002. Kean geht gleichsam unberührt und unwandelbar durch die Epochen hindurch, immer mit den gleichen Problemen von Schein und Wirklichkeit beschäftigt. <?page no="268"?> C HRISTINE M UNDT -E SPÍN 268 telbar für das Theater gedacht sind; einer der ersten Inszenierungsversuche seines Stückes L’atelier volant endet 1974 mit seinem eigenen Rausschmiss durch den Regisseur Jean-Pierre Sarrazac. An dem Vorgang zeigt sich in besonderer Weise Novarinas Umgang mit Positionen der Theateravantgarde: In dem Stück, in dem es vor allem um Körperöffnungen geht, müssen die Figuren lernen, mit dem Anus zu sprechen, da ihnen der Mund verboten wurde. Was zunächst wie ein verspäteter avantgardistischer Gag aussehen mag - auch die Dadaisten hatten sich für den Petomanen Joseph Pujol begeistert, der bis zum Jahr 1914 mit seiner Kunst am Montmartre auftrat -, erweist sich in der Folge als Fundament von Novarinas stark körperorientiertem Theater. Der Eklat veranlasst ihn zu dem Essay Lettre aux acteurs, einer Art Manifest seines Verständnisses von Schauspielkunst, das gerne zusammen mit dem zehn Jahre jüngeren Pour Louis de Funès auf die Bühne gebracht wird und mittlerweile als Basistext zeitgenössischen Theaters gelten kann: J’écris par les oreilles. Pour les acteurs pneumatiques [. . .] Bouche, anus. Sphincters. Muscles ronds fermant not’tube. L’ouverture et la fermeture de la parole. Attaquer net (des dents, des lèvres, de la bouche musclée) et finir net (air coupé). Arrêter net. Mâcher et manger le texte. Le spectateur aveugle doit entendre croquer et déglutir, se demander ce que ça mange, là-bas, sur ce plateau. Qu’est-ce qu’ils mangent ? Ils se mangent ? Mâcher ou avaler. Mastication, succion, déglutition. [. . .] Mange, gobe, mange, mâche, poumone sec, mâche, mastique, cannibale! 14 Der avantgardistische Gestus bezieht sich zwar auf die klassische Avantgarde, stößt sich aber gleichzeitig von ihr ab, indem er den Rekurs auf das Physische als integralen Bestandteil in seine Produktionsästhetik einbaut. Recht ungebrochen ist Novarinas Begeisterung für Puppen- und Marionettentheater, für Jahrmarkt, Clowns, Operette, Film und Music-Hall. Diese typische Vorliebe avantgardistischer Autoren, die gegen eine arrivierte Kultur Front machen möchten, hat zahlreiche Spuren in seinem Werk hinterlassen. Was seine sonstigen Leitbilder betrifft, unterscheidet Novarina wenig zwischen Theaterdichtern und Autoren anderer literarischer Gattungen: Dante mit seinem enzyklopädischen Anspruch und Rabelais mit seiner Sprachakrobatik gehören genauso dazu wie Mallarmé mit seiner Sprachkonzeption und Artaud mit seinem „théâtre de la cruauté“. Er selbst begleitet seine Arbeit als Regisseur und Schauspieler mit einer umfangreichen essayistischen Produktion, die seine Überlegungen zu Aufgaben und Möglichkeiten des zeitgenössischen Theaters reflektiert. 15 Einer größeren Öffentlichkeit bekannt wird er in Frankreich durch 14 Novarina (2007), S. 9 (Lettre aux acteurs, 1974). 15 Seit Beginn der 80er Jahren erscheinen fast alle Titel Novarinas in dem Verlag éditions P. O. L., dessen Inhaber Paul Otchakovsky-Laurens sich der zeitgenössischen <?page no="269"?> Valère Novarina: „Pour Louis de Funès“ : L’Acteur Nul et Parfait 269 eine turbulente Vorstellung seines von ihm selbst inszenierten Stückes Le drame de la vie beim Theaterfestival in Avignon im Jahr 1986, dem er seither verbunden ist. Das Konzept, eine große Anzahl an Schauspielern auf die Bühne zu bringen, die riesige Mengen schwierigster Texte zu sprechen haben, fährt Novarina in den 90er Jahren zurück, indem er sich zumindest vordergründig an Bühnenkonventionen anpasst (L’Espace furieux, La Chair de l’Homme, L’Animal du temps, L’Inquiétude). Es folgen die Stücke L’Origine rouge und La Scène, die wieder Akteinteilung, Szenen und wiedererkennbare Figuren in überschaubarer Anzahl enthalten. Und allmählich stellt sich in Frankreich offizielle Anerkennung ein: Im Jahr 2006 nimmt die Comédie Française das Stück L’espace furieux in einer Inszenierung des Autors in ihr Repertoire auf, und im Sommer 2007 werden die Festspiele in Avignon im Ehrenhof des Papstpalastes mit seinem Stück L’Acte inconnu eröffnet, das seither mit staatlicher Förderung durch die französische Provinz tourt. Es scheint, dass Novarina in den kulturellen Institutionen seines Sprachraumes angekommen ist. 16 Das wäre für einen Avantgardisten äußerst bedenklich, stürzte Novarina nicht nach wie vor Kritik und Publikum in große Verwirrung. Das Urteil der Presse ist zweigeteilt: Es gibt verständnislose Reaktionen wie die folgende aus der Wochenzeitung Freitag, die die Aufführung des Stückes L’Acte inconnu in Avignon 2007 folgendermaßen kommentiert: Wie stets bei Novarina gibt es in seinem von ihm selbst uraufgeführten Unbekannten Akt Wortkaskaden, Neologismen und nicht den Hauch einer Handlung. Akkordeonspieler bevölkern die Bühne, zwölf Schauspieler übernehmen die unzähligen Rollen, zelebrieren den Text und arbeiten lustvoll daran, Erwartungen der Zuschauer zu hintergehen. 17 Es überwiegen allerdings deutlich die enthusiastischen Kritiken, v. a. von französischer, aber auch von deutscher, spanischer und italienischer Seite. Bei den positiven Besprechungen fällt eines auf: Sie alle sind ungeheuer zitatenreich und sie neigen dazu, den Sprachgestus Novarinas zu imitieren. Es scheint, dass Zuschauer und Kritiker es nicht ganz leicht haben, die analytische Distanz zu wahren. Das liegt vermutlich nicht allein an der Rätselhaftigkeit der Sprache, sondern mehr an einer gewissen Sogwirkung, die ihre Darbietung entfaltet. Der Performance gelingt es gleichsam, sich die Kritik anzuverwandeln - in einer optimistischen Einschät- Literatur und Kunst verschrieben hat. Eine ständig aktualisierte Bibliographie zu Novarina findet sich auf Novarinas Website; vgl. Hersant/ Babin (2008). 16 Man betrachte nur den auf Novarinas Website eingestellten Kalender mit Veranstaltungen zu und mit Novarina, um sich ein Bild von dem derzeitigen „Novarina- Hype“ der französischen Kulturszene zu machen. 17 Kasch (2007). Schadenfroh meldet der Autor weiterhin, dass sich die Reihen nach einer Stunde Spielzeit deutlich gelichtet hätten. <?page no="270"?> C HRISTINE M UNDT -E SPÍN 270 zung der Lage könnte man von einer Art Ansteckung der Kritik durch die Kunst sprechen. 18 Dass Novarina in Deutschland bislang wenig bekannt ist, hängt sicher mit den besonderen Herausforderungen zusammen, die seine Stücke an Dramaturgen und Schauspieler stellen. An der Sprache allein, über die noch zu reden sein wird, kann es nicht liegen, hat er doch für das Deutsche mit Leopold von Verschuer einen absolut kongenialen Übersetzer und höchst engagierten Promotor seines Theaters gefunden. Offensichtlich in beiden Sprachen gleich gut zu Hause, liefert er nicht nur hervorragende deutsche Übersetzungen, sondern spielt auch in den französischen Produktionen von Novarina-Stücken in Frankreich mit; dazu inszeniert und spielt er ebenso die von ihm selbst ins Deutsche übersetzten Stücke - natürlich auch Pour Louis de Funès. 19 Das Theater von Valère Novarina - „Arrêtez le boléro réaliste! “ 20 Das auffälligste und immer wieder zu Recht in den Vordergrund gerückte Merkmal von Novarinas avantgardistischem Theater ist dessen zutiefst amimetischer Charakter 21 . Bei ihm herrscht so etwas wie ein omnipräsentes Repräsentationsverbot: 18 Auf diese Neigung verweist auch Susanne Hartwig in ihrem Aufsatz über Novarina; Hartwig (2007), S. 10: „Quand on écrit sur le théâtre de Novarina, on est tenté de procéder comme lui, par impressions, par impulsions, par associations libres, pour rendre justice à cette ,cure du Verbe’ à laquelle le spectateur est forcé, tôt ou tard, de se livrer à l’aveuglette.“ 19 Bereits 1998 von Verschuer mit dem Kölner Théâtre Impossible aufgeführt, gab es ebendort 2000/ 01 die Adaption einer Produktion von Dominique Pinon mit Verschuer unter dem Titel Pour Louis de Funès - Trialog. Eine Zusammenstellung von Aufführungen in Frankreich und teilweise Deutschland findet sich auf der Website von Novarina unter dem Link: http: / / www.novarina.com/ livres/ th-pa-liv.html (vlg. Hersant / Babin (2008)). Im deutschen Sprachraum, wo sich überwiegend freie Truppen, Studiobühnen und Theaterfestivals dem Theater Novarinas widmen, gab es von Pour Louis de Funès - wenn ich recht sehe, das meistgespielte Stück Novarinas in Deutschland - seit der Premiere in der Studiobühne Köln am 28. April 1995 folgende Aufführungen: Erfurt - Stadttheater, Köln - Orangerie, Saarbrücken - Festival Perspectives 96, Berlin - Theatertreffen 98, Bremen - Junges Theater, Bonn - Theater im Ballsaal, Stuttgart - Theater Rampe. 2006 folgte eine Inszenierung am Kleinen Haus des Schauspiels in Düsseldorf (vgl. dazu Grewe (2006)). Zu Verschuers Selbstverständnis als Übersetzer Novarinas vgl. Fournier (2008), S. 108-127. Von Verschuer stammten die deutschen Untertitel der Übertragung von L’Acte inconnu der Eröffnung des Festivals in Avignon durch ARTE am 11. Juli 2007 - eine Produktion, in der er selbst auch mitspielte. 20 Novarina (2007), S. 170 (Pour Louis de Funès, 1985). 21 Vgl. Grewe (2006), S. 7 und Hartwig (2007), S. 13. <?page no="271"?> Valère Novarina: „Pour Louis de Funès“ : L’Acteur Nul et Parfait 271 La réprésentation est interdite. Tout est présenté offert sur le plateau mais rien n’est représenté. 22 Die Umsetzung dieses Verbots findet sich auf allen Ebenen des Theatralischen: Ihr gehorchen Figurenkonzepte, Handlungsmuster, Personenkonstellationen, Bühnengestaltung, Didaskalien und Lichtregie, sowie natürlich die Texte. Was die Verknüpfung von Text- oder Handlungselementen betrifft, so bewahrt Novarina die avantgardistische Tradition insofern, als er deren Skepsis gegen große Syntagmen weiter trägt und dem Paradigmatischen immer den Vorzug vor dem Syntagmatischen gibt. Aus den Handlungsfetzen, die kaleidoskopartig montiert, zerrissen und neu wieder zusammengefügt werden, entstehen dabei mitunter durchaus Geschichten, jede Episode bleibt jedoch in sich Fragment. Auch die Sprache Novarinas ist weitestgehend vom Gebot der Mimesis befreit - sie vielleicht zuallererst. Neologismenreihen, Satzkaskaden, Archaismenknäuel, Echolalien, pure Worterfindungen, die in syntaktisch perfekt konstruierten Endlosschleifen miteinander verknüpft werden - sprachliche Elemente dieser Art bilden die Grundsteine, aus denen Novarina seine Texte baut: Loin d’ici, écrabouilleurs de syllabes, arlequins en bois, pantins stylés, colibris nationaux, confuseurs de voyelles, faux rhythmiques, feints ivrognes [. . .] singes symétriques, instruments de monodie, loin d’ici metteurs en choses, metteurs en ordre, adapateurs tout-à-la-scène, poseurs de thèses, phraseurs de poses, imbus, férus, sclérotes, doxiens, dogmates, segmentateurs, connotateurs, metteurs en poche, adaptateurs en chef, artistes autodéclarés [. . .]. 23 Die rhythmisierte Hingabe an die Ebene des „signifiant“ bei gleichzeitigem Desinteresse für das „signifié“, sowie die vollkommen kohärente Syntax, die aber die sprachliche Äußerung in keiner Weise wirklich gliedert, signalisieren diese Absage an den Repräsentationscharakter theatralischer Texte. Was sich, wie in dem oben angeführten Beispiel, so liest oder anhört, als müsse man sich nach zehn Minuten langweilen, kann durch die besondere Schauspieler-, Sprach- und Sprechkonzeption von Novarina zu einem höchst fesselnden Theaterereignis werden. Theater findet bei Novarina statt, wenn ein Schauspieler oder besser ein „acteur“ auf der Bühne steht und sprechend agiert; nahezu alles, was Novarina über Theater schreibt, schreibt er für den Schauspieler und um den Schauspieler herum. Oberstes Gebot ist auch für den „acteur“ der Verzicht auf Mimesis. Mimesis darf höchstens als Versatzstück, als Reminiszenz oder z. B. als Vorlage für parodistisches Spiel, als Theater auf dem 22 Novarina (2006a), S. 30. 23 Novarina (2007), S. 162 (Pour Louis de Funès, 1985). <?page no="272"?> C HRISTINE M UNDT -E SPÍN 272 Theater dienen 24 . Orientierungsfigur ist vielmehr Adam, der alles, was er tut, neu tut, erstmalig und damit einzigartig, noch dazu ausgestattet mit schöpferischen Kräften, die die Tradition eher dem Schöpfer Adams zuspricht. Der „acteur“ hat eine Art Nullstufe in sich herzustellen, von der aus er in den Akt der Schöpfung einsteigt: L’acteur n’exécute pas, mais s’exécute, interprète pas mais se penètre, raisonne pas mais fait tout son corps résonner. Construit pas son son personnage mais s’décompose le corps civil maintenu en ordre, se suicide. C’est pas d’la composition d’personnage, c’est de la décomposition de la personne, d’la décomposition d’l’homme qui se fait sur la planche. 25 Mimesis in einem tieferen Sinne taugt höchstens als Analogie zum Prozess des Schreibens, dem kreativen Akt schlechthin also, den er physisch auf der Bühne neu vollzieht: Le texte devient pour l’acteur une nourriture, un corps. Chercher la musculature de c’vieux cadavre imprimé, ses mouvements possibles, par où il veut bouger; le voir p’tit à p’tit s’ranimer quand on lui souffle dedans, refaire l’acte de faire le texte, le réécrire avec son corps [. . .]. 26 Neben dem bereits zu Beginn angesprochenen Einsatz des Körperlichen ist das zweite Hauptinstrument des „acteur“ bei seinem Tun die Sprache, und zwar im Sinne der „parole“, des Sprechens. Das Handeln des „acteur“ bezieht sich nicht allein auf physische Aktionen wie Tanz, Mimik, Gestik; Novarina setzt sozusagen noch weiter zurück: Das Sprechen ist der Ort, an dem sich die Körperlichkeit von Sprache realisiert. Das Sich-Abarbeiten des „acteur“ am Text hat das Ziel, dessen kreatives Potential im Moment des Sprechens zutage zu fördern. Das Sprechen der Texte dient damit als Einladung an den Zuschauer mit hinabzusteigen zum Urgrund der Sprachentstehung. Novarinas Wunsch wäre, dass der Zuschauer „voit au théâtre non quelque chose de représenté mais quelque chose qui opère“. 27 Der „acteur“ auf der Bühne soll den Zuschauern das Faszinosum des kreativen Prozesses vermitteln, damit sie den künstlerischen Akt durch eine Art physischer Ergriffenheit mitvollziehen können. 24 Ein gutes Beispiel für eine solche parodistische Einlage ist der Auftritt des Vaudeville-Sängers in L’acte inconnu (2007): Ein Schauspieler singt und spielt gleichzeitig alle drei Figuren einer typischen „Mon mari, mon mari! “-Komödie. Durch das irrwitzige Spieltempo, die Verwendung einer Art Pseudo-Sprache, in der immer nur einzelne Fetzen (z. B. das Wort „mari“) zu verstehen sind und schließlich das mimisch-gestische Sperrfeuer des Darstellers gerät die kleine Szene zu einer wahren Delikatesse parodistischen Theaters auf dem Theater (vgl. Mitschnitt bei ARTE vom 11. Juli 2007). 25 Novarina (2007), S. 32 (Lettre aux acteurs, 1974). 26 Ebd., S. 27. 27 Novarina (2003b), S. 109. Vgl. auch das Interview von Costaz (2001). <?page no="273"?> Valère Novarina: „Pour Louis de Funès“ : L’Acteur Nul et Parfait 273 Was der Zuschauer im Theater erleben soll, hat wenig mit Analyse oder Deutung, dafür umso mehr mit Teilhabe oder Kommunion zu tun: „Sur la table de la scène, le premier sacrifié c’est le personnage, le deuxième c’est l’acteur, et le troisième c’est toi, spectateur.“ 28 Die Opfermetaphorik, die im Zitat anklingt, ist - was den Künstler betrifft - durchaus auch ein Spiel mit christologischen Vorstellungen: „C’est l’acteur qui saigne pour nous, en peintures, en souffle et en mots. Il nous offre son sacrifice comique. Le sacrifice de sa personne.“ 29 Novarina geht nicht soweit den Künstler als Christus zu inszenieren, wie es mitunter im Modell des „poète malheureux“ im 19. Jahrhundert geschah. Freilich bedient er sich gern eines Vokabulars und eines Tons, der - gerade wenn es um die begriffliche Annäherung an Schöpfungsvorgänge geht - zutiefst von Bibellektüre und religiöser Rhetorik geprägt scheint. 30 Betrachtet man sein Theater vor dem Hintergrund der Frage, welche Auffassung von Kunst und Künstler hier zugrunde liegt, dann kommt man zu folgenden Überlegungen: Obwohl Novarina an gewisse Traditionen der Avantgarde anknüpft, bezieht er hinsichtlich seines Kunstverständnisses eine durchaus differenzierte Position. Die Illusion der Avantgarden, dass Kunst sei, was man dafür erklärt, da sie nur ins Leben und damit zu sich selbst zurückfinde, wenn man ihren Kunstcharakter bis zu einem gewissen Grad vernichtet, hat er angesichts der Entwicklungen, die diese Forderung auf dem modernen Kunstmarkt genommen hat, wohl längst hinter sich gelassen. Die Kunst des „acteur“ ist eine hochgradig professionalisierte Tätigkeit mit völlig eigenen Herausforderungen, Qualitäten und Gesetzen. Nur in der Anerkennung dieser Grundbedingungen künstlerischen Schaffens kann Theater als Kunst das total Andere, die echte Gegenwelt zur Alltagswelt werden. Und genau hier liegt wohl auch letztlich der Sinn von Novarinas metaphorischen Ausflügen ins Biblische und Sakrale: Sie unterstreichen den Charakter der grundsätzlichen Andersartigkeit des Theaters und halten damit dessen oppositionelles Potential wach. Freilich treibt Novarina die Opposition zwischen Kunst und Leben nicht so weit, dass er künstlerischem Tun jede Art gesellschaftspolitischer 28 Novarina (2003a), S. 171. 29 Novarina (2006a), S. 15. 30 Nicht ohne Grund stimmt ein Genfer Kritiker, vermutlich mit einem feinen Ohr für diese Zwischentöne ausgestattet, seine Kritik des Acte inconnu genau auf diese Einflüsse ab: „Au commencement était le verbe et le verbe se fit chair. Ce texte fondateur qui donne naissance à l'univers, aux mots et aux gens dans cet ordre pourrait servir d'épigramme à la pièce et peut-être à l'oeuvre entière de Valère Novarina.“ (Maurice (2007)). Auch das stetige Interesse der katholischen Zeitung La Croix an Novarina verwundert vor diesem Hintergrund nicht weiter. Vgl. zu diesem Komplex auch Hartwig (2007), S. 17: „Novarina développe donc sa dramaturgie sur le modèle du théâtre sacrificiel [. . .].“ <?page no="274"?> C HRISTINE M UNDT -E SPÍN 274 Bedeutung absprechen würde - im Gegenteil: In einer Zuspitzung der Mallarméeschen Sprachkritik sieht er im Theater eine fundamentale Möglichkeit des Widerstandes gegen die Scheinkommunikation von Sprache, wie sie in unserer von der Sprache der Massenmedien durchsetzten Welt stattfindet: L’histoire bouge par glissements de termes, syllabes qui s’agglutinent, lettres qui se confondent. Nous sommes jouets de mots, soumis à leurs mouvements erratiques. Nous perdons de jour en jour la maîtrise du langage - et c’est lui qui nous agit. Le langage est l’acteur de l’histoire [. . .] Le maître (à parler et à penser), c’est le speaker, le show talker, l’annonceur, l’animateur. . .c’est le prince des intellectuels: seigneur et clown maître en Logogogie [. . .] Nous ne sommes pas du tout ,à la fin des idéologies’, comme on nous le serine, mais dans leur plein triomphe [. . .]. 31 Der gesellschaftspolitische Beitrag der Kunst wird also wirksam, indem das Theater den sprachlichen Gewohnheiten der sog. Informationsgesellschaft ein Gegenmodell vorhält. Dem Theater soll auf diesem Weg sogar eine besondere Art analytischer Kraft zuwachsen, mit der es in die Alltagswelt und deren Sprachpraxis hinein wirken könne: „Le théâtre ne ment pas, ni ne dit la vérité, ni ne représente ni simule quoi que ce soit. En réalité, le théâtre analyse le réel.“ 32 Louis de Funès in Oscar (1967) Pour Louis de Funès entsteht 1985, also gut 10 Jahre nach den ersten dramatischen Versuchen Novarinas. Der Frage, was Novarina in diesem Text umtreibt, wollen wir uns anhand des Films Oscar von 1967 annähern, der in Funès’ Karriere einen besonderen Platz einnimmt und der für Novarina und seine Einschätzung der Besonderheiten von Funès eine zentrale Rolle spielt. Novarina geht in seinem Text im Wesentlichen von dem Theaterstück Oscar aus, wir werden im Folgenden mit dem Film vorlieb nehmen müssen. Zur Erinnerung: Louis Germain David de Funès de Galarza wird 1914 als Sohn spanischer Einwanderer nahe Paris geboren. Auf verschiedene abgebrochene Ausbildungen und lange Jahre als Barpianist folgen ab den 50er Jahren kleinere Rollen in Boulevardkomödien und Filmen, wo Louis de Funès allmählich beginnt seinen „Charakter“ auszubilden. Der Durchbruch kommt 1958/ 59 mit Oscar, einer Boulevardkomödie von Claude 31 Novarina (2002), S. 70 f. 32 Novarina (1999), S. 148. Auch diese Textsammlung, hervorgegangen aus einem Inszenierungstagebuch, wurde zu einem Schauspiel umgearbeitet, und zwar unter dem Titel Devant la parole, précipite théâtral von L. Castel (UA Festival Avignon 2002) - und auch in dieser Produktion tritt „Louis de Funès“ auf. <?page no="275"?> Valère Novarina: „Pour Louis de Funès“ : L’Acteur Nul et Parfait 275 Magnier. Zunächst in Paris ohne Funès aufgeführt, geht das Stück mit Funès auf Tournée und wird dabei ein derartiger Erfolg, dass es in Paris weiter mit Funès auf dem Spielplan des Comédie des Champs-Elysées bleibt. 1967 wird es von Pierre Molinaro mit Funès verfilmt, läuft aber daneben bis in die 70er Jahre hinein immer wieder mit Funès in Paris im Théâtre du Palais-Royal. Das Stück lebt von zahllosen Verwechslungen in einer Handlung, die sich um die anstehende Verheiratung der Tochter dreht; dabei spielen mehrere Koffer eine Rolle, die gleichfalls ständig miteinander verwechselt werden. Unentwegt tragen verschiedene Personen verschiedene Koffer ins Haus hinein und wieder hinaus, was die Zentralfigur, den Familienvater Barnier, der sich um Kontrolle der Situation bemüht, zur Raserei bringt. Die auftretenden Personen sind denkbar schlicht angelegt und handeln vollkommen marionettenhaft. Oscar ist im Übrigen keineswegs die Hauptfigur des Stückes (das eben ist Mr. Barnier, gespielt von Louis de Funès), sondern der Liebhaber der Tochter, eine Art menschliches Requisit, das ab und zu die Szene betritt und wieder verlässt. Abgesehen von dem rasanten Inszenierungstempo hängt der größte Teil der Komik des Films mit Louis de Funès zusammen. Wie andere Filmkomiker auch - etwa Charlie Chaplin oder Buster Keaton - präsentiert er dem Publikum eine unverwechselbare Figur, die in den verschiedenen Filmen weitgehend gleich bleibt. Die Rolle mutet an wie die Karikatur eines modernen Pantalone. Als solcher ist er ein Familienvater, dem die Kontrolle über seine unmittelbare Umgebung zu entgleiten droht, dessen kleinbürgerliches Minderwertigkeitsgefühl sich in Kriecherei gegenüber den Starken und in autoritär-verächtlichem Gehabe gegenüber Schwächeren ausdrückt und der von einem Wutanfall in den nächsten stürzt: Grimassierend tobt er durch Szenerien und Handlungen, ist dabei gemein und niederträchtig und stets auf seinen persönlichen Vorteil bedacht. Im Folgenden beziehe ich mich auf eine bestimmte Szene aus dem Film Oscar. 33 Wieder geht es um zwei Koffer, die in die jeweils falschen Hände gelangt sind, was Mr. Barnier zunächst gar nicht verstanden hat. Die anwesenden Personen - seine Gattin, seine Tochter und sein Masseur - bemühen sich um Aufklärung und Beruhigung, soweit ihr Kenntnisstand das zulässt. Was sich in den wenigen Minuten nach der Aufklärung ereignet, geht über die üblichen Wutausbruchsszenarien von Funès weit hinaus. Vor den zusehends beklommener dreinblickenden Familienmitgliedern spielt sich eine Szene ab, die klassischerweise als „Theater auf dem Theater“ zu bezeichnen ist: Die Wut von Barnier-Funès über die vermeintliche Dummheit seiner Tochter sowie der Zorn über das möglicher- 33 Oscar (F), 1967, 80 Min., Produktionsfirma: Gaumont; Regie: E. Molinaro (DVD Tobis, Juli 2004). Die fragliche Szene geht von 01: 06: 57 bis 01: 10: 16. <?page no="276"?> C HRISTINE M UNDT -E SPÍN 276 weise nun endgültig verschwundene Geld steigern sich zu einem solchen Ausmaß, dass der Familienvater den Verstand zu verlieren scheint. Die ratlosen Gesichter der zunehmend passiver werdenden Familienmitglieder zeigen, dass sie mit etwas konfrontiert sind, was nichts mit ihrem sonstigen Leben zu tun hat. Was hier an wilder Körperlichkeit und purer Energie über sie hereinbricht, ist das ganz Andere, was sie sich nur als Wahnsinn erklären können. In dem spektakulären Ausbruch scheint Mr. Barnier vollkommen aus seinen Rollenbezügen zu geraten. Der Eklat steigert sich von kindischer Regression über haltlose Aggression zu einer Art von kreativem Delirium, das schließlich in der imaginierten Selbstvernichtung endet. Am Ende der Szene erwacht Mr. Barnier wie aus einem Trancezustand und kehrt mit verwirrtem Kopfschütteln in seine familiäre Wirklichkeit zurück. Durch einen vergleichsweise geringfügigen Anlass motiviert, dient der Wutanfall auf der Ebene der Spielhandlung dazu, die irrationalobsessive Aggressivität des Familienvaters vorzuführen. Auf einer Metaebene verbinden sich sprachliche Artikulation und körperliche Aktion zu einem schieren Ausbruch kreativer Energie: In einer „mise en abyme“ macht Funès die primären Energien des Schauspielens sichtbar, indem er deren allmähliche Kristallisation vor unseren Augen inszeniert. Für Novarina muss diese Szene geradezu wie die Illustration seiner theoretischen Äußerungen über den Schauspieler gewesen sein. Angesichts dieser Mischung aus commedia dell’arte, Jahrmarkttheater, Slapstick und Comic kann man nachvollziehen, wieso sich Novarina für Funès interessiert; wieso er ihn allerdings zu einer Art Mythos des Schauspielers erhebt, ist damit noch nicht geklärt. Ausschlaggebend für Novarinas starke Affinität zum populären Theater und Film, wie ihn Funès repräsentiert, ist wie bei vielen avantgardistischen Autoren - neben der provokanten Distanz zum offiziellen Kulturbetrieb - die besondere Vorliebe dieser Theaterformen für den körperlichen Anteil an der Komik. In seiner Aphorismensammlung L'Esprit respire nimmt Novarina die Komik von produktionsästhetischer sowie wirkungsästhetischer Seite in den Blick: Le comique est la seule émotion qui se voit. [. . .] Par éclair, le rire est comme une pensée du corps dans un grand état d’alerte et de sauve-qui-peut mental; c’est une suractivité neuronale rapidissime, fulgurante, une course par tous les raccourcis et un souvenir de tout. [. . .] Le rire [. . .] touche les limites de la raison, éprouve la fin du langage [. . .] reconnaît les limites de l’esprit humain. Le Rire est un rapt, un suicide court, un raptus. 34 Das befreiende, entfesselnde Moment der Komik bzw. des Lachens im Theater liegt für Novarina in seiner Bindung an das Physische begründet 34 Novarina (2006b), S. 55 f. <?page no="277"?> Valère Novarina: „Pour Louis de Funès“ : L’Acteur Nul et Parfait 277 und aufgrund dieser Bindung wird es auch für sein eigenes Theater interessant. Die eigentliche Bedeutung der Komik ist verankert in einer „Ästhetik der Zersprengung“, die in extremis vorführt, was Theater überhaupt sein kann. Und auf diesem Wege kann auch Funès zu einem Prototyp des Schauspielers und damit des Künstlers werden, nämlich als Inbegriff von dessen Möglichkeiten. Der Essay und erst recht seine Inszenierung sind weit mehr als das, was der Titel zu suggerieren scheint, nämlich eine freundliche Hommage an einen großen Komödianten. Pour Louis de Funès (1985) Louis de Funès ist bis in die jüngste Zeit in Novarinas Texten präsent und immer wieder ist er Bezugspunkt für Überlegungen zur Schauspielerei. 35 Der etwa 60 Seiten umfassende Essay Pour Louis de Funès aus dem Jahr 1985 reiht in lockerer Folge Gedankensplitter zum Schauspieler und zum Theater allgemein aneinander, wobei das Sprechen über die Figur Louis de Funès in einer Art Bricolage erfolgt. So entwirft der Essay u. a. einen sprechenden Funès, dessen vollkommen imaginäre Zitate in einer Weise eingeführt werden, die im Sprachduktus stark an Nietzsches Zarathustra erinnert, wie Novarina selbst vergnügt in einem Interview zugibt. 36 Ein Beispiel: Louis de Funès disait en sortant: „Ils sont venus assister à la passion de l’acteur qui représente les passions.“ Il voulait dire que le théâtre est le ring de l’acteur et le lieu de sa lutte contre lui. Dans sa gigue tempêteuse, sa sarabande verbigérée d’acrobate des acrobates, l’acteur Louis de funès passe de force. Insoumis, hérétique, balanceur de grimaces, sur la corde, c’est un singe très saint, qui rend très saintes les choses comiques et très comiques les choses sacrées. 37 Die Mischung aus trockener Analyse, hymnischer Beschreibung, apodiktischem Prophetenwort und schierem Unfug entreißt Louis de Funès dem diffusen Licht seiner Filmkomödien und verleiht ihm eine Dignität, die zwar ihrerseits auch durchaus komische Züge hat, jedoch die Wesensart seines Schauspielethos’ erkennbar werden lässt. Novarina konstruiert damit eine Kunstfigur „Louis de Funès“, was es wiederum leicht macht, den 35 So z. B. in Devant la parole (1999), Pour Louis de Funès (1985) und Lumières du corps (2006); vgl. dazu auch Chenetier (2004). 36 „,Il n'était pas de bon ton de l’apprécier [Funès, Anm. d. Verf.]. Ce n’était pas assez chic. Alors que c’était un très grand acteur de théâtre. J’ai fait parler Louis de Funès comme quelqu’un d'autre a fait parler Zarathoustra‘, s’amuse le dramaturge malicieux [Novarina, Anm. d. Verf.] [. . .].“ (Liger (2006)). 37 Novarina (2007), S. 215 (Pour Louis de Funès, 1985). <?page no="278"?> C HRISTINE M UNDT -E SPÍN 278 Text auf die Bühne zu bringen, ohne den Schauspieler auf eine fortgesetzte Funès-Imitation festzulegen. 38 Der Text beginnt mit einer umfassenden Laudatio auf den Schauspieler Funès in Oscar (wobei sich Novarina immer eher auf die Theaterinszenierung bezieht): Louis de Funès était au théâtre un acteur doué d’une force extraordinaire, un danseur fulgurant qui semblait aller au-delà de ses forces [. . .], tout en restant parfaitement économe de son effort et toujours prêt à recommencer. Un athlète de la dépense. Un maîtriseur d’énergie: entre deux crises paroxystiques, sa sobriété exemplaire et la pureté de son jeu rappelaient Helene Weigel. 39 Der Vergleich mit Helene Weigel und im Anschluss daran mit der Figur des Shite aus dem Nô-Theater, der später im Text noch erweitert wird durch Meister Eckart, Abulafia, San Juan de la Cruz und andere Mystiker, ist nicht allein als Provokation aufzufassen. Er lenkt auch den Blick auf ein Charakteristikum von Funès, nämlich dessen besonderen Umgang mit seinem Körper. Funès wird in diesem Kontext zum Inbegriff der Überschreitung, der Entfesselung eines bis an die Grenzen seines Selbst gehenden energetischen Einsatzes, der Verzerrungen und Deformierungen seiner Figur als integrale Bestandteile des Spiels in sich aufnimmt. Nicht nur in dem, was man Novarinas „Ästhetik der Verausgabung“ nennen könnte, bietet Funès als Schauspieler des Extremen interessantes Material; seine Vorliebe für die Verzerrung, für apokalyptische Szenarien und irrwitzige Situationen lässt sich auch als Absage an das mimetische Element der Komödie lesen. Nichts ist bei Louis de Funès auch nur annähernd realistisch, selbst das Dekor in dem Film Oscar („farouchement sixties“, wie der Kritiker einer DVD-Aufnahme schrieb 40 ) ist geradezu ein Affront gegenüber jeglichem Anspruch an realistisches Interieur. Funès entzieht also ausgerechnet der Komödie - einer Theaterform, deren Stolz über Jahrhunderte ihre Realitätsverbundenheit war - diesen zentralen Aspekt. Er deformiert sie durch den rücksichtslosen Einsatz von Verfahren, die auf das unkontrollierte, ausbruchsartige Lachen der Zuschauer zielen - tut dies allerdings durch den Einsatz eines Höchstmaßes an professioneller Selbstkontrolle. Den zerstörerischen Aspekt im Tun Funès’, der sich zunächst in dem destruktiven Charakter seiner Figur spiegelt, bezieht Novarina auch auf Funès’ Umgang mit vorgegebenen Formen und damit auf dessen konkrete Theaterarbeit: „Acteur Nul et Parfait, 38 Auch in Devant la parole (1999) übernimmt Louis de Funès solche Rollen, die vom Prediger über den erleuchteten Schriftdeuter bis hin zum Propheten gehen; vgl. auch Ramat (2002). 39 Novarina (2007), S. 163 (Pour Louis de Funès, 1985). Vgl. ebd. S. 164, 207. 40 Vgl. „Résumé“ (2008). Diese DVD, erschienen mit vier anderen Filmen in Frankreich 2002 (Gaumont Homevideo), enthält neben vielen Extras auch einen dreiminütigen Mitschnitt der Theaterfassung mit Louis de Funès aus dem Jahr 1972. <?page no="279"?> Valère Novarina: „Pour Louis de Funès“ : L’Acteur Nul et Parfait 279 toujours Louis de Funès entrait en néant, en niant et en tourbillonant.“ 41 Auf diesem Wege wird Funès für Novarina zum Modell seiner Schauspielerästhetik werden, das nur noch punktuell etwas mit dem Darsteller der vielen komischen Filme aus den 60ern und 70gern zu tun hat. Das Künstlerdrama Pour Louis de Funès (1998) Der Text Pour Louis de Funès erlebte in Frankreich verschiedene Inszenierungen, darunter die sehr bemerkenswerte Fassung mit Dominique Pinon, zunächst in Angoulême, dann im Théâtre de la Bastille in Paris im März 1998. Dominique Pinon, einem größeren Publikum aus dem Film Delicatessen von Marc Caro aus dem Jahr 1990 bekannt, hat inzwischen in etlichen Produktionen von Novarina mitgewirkt; unter der Regie von Renaud Cojo und mit der Musik des Komponisten Pascale Comelade spielt er Pour Louis de Funès als einaktiges Ein-Mann-Stück, das nicht zuletzt aufgrund der raffinierten Dramaturgie zu einem Theaterstück über den Künstler schlechthin wird. Die Inszenierung fußt neben dem Text über Funès auf dem, was Novarina auch sonst in seinen theatertheoretischen Ausführungen zur Sprache bringt. Das Wechselspiel von freiwilliger Selbstreduktion des Schauspielers und seine energetische Wiederaufladung durch Sprache soll das schaffen, was als das Eigentümliche des Schauspielers und schließlich allgemein des Künstlers betrachtet wird: Schöpfungsakt pur, Kommunikation mit dem Betrachter durch die Vermittlung des kreativen Faszinosums an sich. Eine ausgefeilte Lichtregie trägt das Ihre dazu bei, das Wunder zu veranschaulichen; wenn vier riesige Scheinwerfer ihre ganze Strahlkraft auf das Publikum richten und es ihm dadurch unmöglich machen, die leere schwarze Bühne überhaupt zu erfassen, dann wirkt das wie ein gigantisches Gleichnis über die Situation der Zuschauer, die vor lauter Licht die „chambre noire de l’imagination“ 42 nicht sehen können. Das Schauspiel beginnt mit dem Verlöschen der Scheinwerfer und damit der totalen Finsternis, aus der heraus der Schauspieler seine ersten Sätze spricht: Le théâtre ne doit plus recommencer. La scène ne doit plus recommencer à se peupler pour déverser tout ce qui vient: lutte de trucs, chute de quoi, rengaines de gloses en traductions, coupure des trois en deux, torsions grammaticales, masculinades, vie des hommes-troncs [. . .]. 43 41 Novarina (2007), S. 185 (Pour Louis de Funès, 1985). 42 Formulierung von Novarinas Landsmann Blaise Cendrars aus Le lotissement du ciel (Cendrars (1949)). 43 Novarina (2007), S. 161 (Pour Louis de Funès, 1985). <?page no="280"?> C HRISTINE M UNDT -E SPÍN 280 Was die Zuschauer sehen, ist die allmähliche Verfertigung des Schauspielers beim Sprechen und Agieren. Pinon lässt das Publikum teilhaben an der Dialektik von Nullpunkt und Atemholen, von Sich-Zurück-Nehmen und In-Erscheinung-Treten. Er gestaltet die Schaffung einer Figur, die sich in diesem Fall an dem Mythos „Louis de Funès“ orientiert: „Qu’est-ce qu’un artiste? Quelqu’un qui doit s’autogénérer, naître lui-même, naître seul, qui doit se fabrique l’organe qui ne lui a pas poussé.“ 44 Auch dieses Theaterstück versucht, dem Anspruch des Amimetischen zu genügen: Die Reminiszenzen an die komischen Verfahren von Funès im Gestischen und Mimischen sind minimal. Die Kunstfigur „Funès“ ist wie eine Hohlform, in die all die Verfahren des schauspielerischen Handelns auf der Bühne hineingegossen werden. Das Agieren des Vereinzelten, der gleichsam stellvertretend das Ungeheure leistet, verstärkt die christologischen Aspekte der Figur, die immer wieder in den theoretischen Texten anklingen: Die Bühne, auf der der Künstler sein selbstzerstörerisches Werk für die Zuschauer betreibt, wird zu einer Art Opferaltar; die Figur „Funès“ - angesiedelt zwischen „pitre“ und „apôtre“ - entwirft den imaginären Raum des Schöpferischen, in dem das Theater sein wundersam infektiöses Werk entfalten kann. 45 Wie nun ließe sich dieses Stück vor dem Hintergrund der anfangs skizzierten Künstlermodelle bestimmen? Mit seiner Vorstellung eines amimetischen Theaters reiht sich Novarina in die Zahl von Theaterautoren ein, die unter neuen Vorzeichen das Erbe der klassischen Avantgarden weiterpflegen. Seine Abneigung gegenüber dem traditionellen Ausstattungstheater und seine Skepsis gegenüber dem engagierten Theater einerseits und den multimedialen Verlockungen des postmodernen Theaters anderseits treiben bei ihm eine radikale Kunst hervor, die vom Schauspieler ein Höchstmaß an energetisch-physischer Verausgabung verlangt - und vom Zuschauer ein hohes Maß an Bereitschaft sich auf das Gebotene einzulassen. Komik und extremer physischer Einsatz sind dabei erlaubt, stehen jedoch gleichberechtigt neben dem steilen Pathos und dem schneidenden Ernst der Deklamation. Der Künstler sucht eine Möglichkeit der Kommunikation, die genau von der Gegensätzlichkeit zwischen der Alltagswelt und der Theatersprache lebt. Das Theater ist daher, wenn es authentisch sein will, darauf angewiesen, in seiner Fremdheit bestehen zu bleiben. Das Modell des Künstlers, das Novarina in Anlehnung an Louis de Funès inszeniert, beharrt genau auf dieser Position: Der Schauspieler als Inkarnation des schöpferischen Künstlers kommuniziert vermittels seiner Kunstausübung dem Zuschauer das, was Novarina als Grundanliegen von Kunst betrachtet - Kreativität unter extremen Be- 44 Novarina (2007), S. 107 (Entrée dans le théâtre des oreilles, 1980). 45 „Louis de Funès est-il une figure du Sauveur? En tout cas, c’est une figure du Chuté. Ce qui est la moitié du Sauveur.“ (Novarina (2006), S. 66). <?page no="281"?> Valère Novarina: „Pour Louis de Funès“ : L’Acteur Nul et Parfait 281 dingungen, eigentlich das schlechthin Inkommunikable. Bei allem Widerwillen gegen ein vordergründig politisch engagiertes Theater ist eine kulturell-politische Wirkung dennoch intendiert. Interpretiert man die dramaturgische Umsetzung dieses Programms in Pour Louis de Funès, so wird allerdings auch die Konsequenz dieses radikalen Ansatzes deutlich: Der Künstler ist einsam. Im Gegensatz zu seinen Vorläufern im 19. Jahrhundert leidet er allerdings nicht an der Einsamkeit, sondern deutet sie positiv um zur Grundbedingung seines Schaffens. Wie eben Louis de Funès: Louis de Funès [. . .] ne venait jamais se montrer et démontrer - que l’argent est noir, les chiens dangereux, le peuple trompé, Œdipe aveugle, tout le monde coupable - mais avançait toujours à l’intérieur d’un rôle plus loi jusqu’à briser le personnage per tous côtés comme un condamné à interpréter l’homme et qui voudrait s’en défaire, pour entrer en solitude, publiquemenz, devant tous, sans musique. 46 Literaturverzeichnis 1. Bibliografie Hersant, C./ I. Babin: „Bibliographie complète“. <www.novarina.com>, 19. Juni 2008. 2. 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Paris 1988. 46 Novarina (2007), S. 171 (Pour Louis de Funès, 1985). <?page no="282"?> C HRISTINE M UNDT -E SPÍN 282 Bourdieu, P.: Les règles de l'art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris 1992. Brissette, P.: La Malédiction littéraire. Du poète crotté au génie malheureux. Montréal 2005. Cendrars, B.: Le lotissement du ciel. Paris 1949. Chenetier, M.: „ Pour ou contre Louis de Funès : ambiguïtés de l’acteur novarinien“. In: L. Dieuzayde (Hg.), Le Théâtre de Valère Novarina. Une scène de délivrance. Aix-en- Provence 2004, S. 161-172. Costaz, G.: „La scène est une chambre d’apparition. Entretien avec Valère Novarina“. In: Le Magazine littéraire (juillet 2001). Fournier, A.: „Valère Novarina und Leopold von Verschuer“. In: Viceversa. Jahrbuch der Literaturen der Schweiz. Bd. 2 (2008), S. 108-127. Goethe, J. W.: Goethes Werk. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. E. Trunz. Hamburg 1952, Bd. 5. Grewe, A.: „Eine Herausforderung: Valère Novarinas Brief an die Schauspieler. 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B.-Movie, Rainald Goetz’ Jeff Koons und Falk Richters Gott ist ein DJ Wenn einem Autor nichts mehr einfällt, kann er immer noch über sich, sein Schreiben und die Begleiterscheinungen seines Schreibens schreiben. Es fragt sich allerdings, warum sich Leser dafür interessieren sollten, es sei denn sie sind selbst (oder sie verstehen sich als) Künstler und bringen daher aus Leidensgenossenschaft ein gleichsam naturwüchsiges Interesse am Schriftstellerdasein auf. Dennoch boomt das Geschäft mit Literatur, die vom Schreiben und der Selbstbehauptung von Autoren im - wie Walter Benjamin es nannte - „Literaturkampf“ 1 handelt. Die Aufmerksamkeit, die Romane wie Martin Walsers Tod eines Kritikers (2002), Bodo Kirchhoffs Schundroman (2002), Hanns Josef Ortheils Die geheimen Stunden der Nacht (2005), Ernst-Wilhelm Händlers Die Frau des Schriftstellers (2006), Klaus Modicks Bestseller (2006) und jüngst Thomas Glavinics Das bin doch ich (2007) gefunden haben, zeugen von einem erstaunlichen Interesse an den Vorgängen hinter den Kulissen des Literaturbetriebs. Diese Bücher unterscheiden sich jedoch im Grad ihrer Fiktionalisierung von Wirklichkeit und im mal mehr, mal weniger deutlichen Spekulieren auf den Voyeurismus des Publikums. Dieser wird fast ganz ohne literarische Versteckspiele im Internettagebuch des Schriftstellers Alban Nikolai Herbst bedient. 2 Herbst berichtet dort täglich, was er so tut und treibt, was er isst und trinkt, was er liest und schreibt und wie es ihm dabei geht. Er lässt so jeden, der möchte, an seinem Leben teilhaben und inszeniert sich auf diese Weise als eine Art lebendiges Gesamtkunstwerk. „Literaturbetriebsromane“ und der Exhibitionismus eines Autors wie Herbst zielen auf ein Bedürfnis nach dem „Authentischen“ in einer Zeit, in der die Möglichkeit solcherart „Authentizität“ längst zweifelhaft geworden ist. „Allzu nachhaltig“, befand Siegfried Kracauer schon 1930, 1 Benjamin (1972), S. 108. 2 Vgl. Herbst (2009). <?page no="284"?> G UNTHER N ICKEL 284 hat in der jüngsten Vergangenheit jeder Mensch seine Nichtigkeit und die der anderen erfahren müssen, um noch an die Vollzugsgewalt des beliebigen Einzelnen zu glauben. Sie aber bildet die Voraussetzung der bürgerlichen Literatur in den Vorkriegsjahren. Die Geschlossenheit der alten Romanform spiegelt die vermeintliche der Persönlichkeit wider, und seine Problematik ist stets eine individuelle. 3 Dieses Bedürfnis nach der Darstellung von Individualität, so Kracauer weiter, befriedige eine - von ihm als „neubürgerlich“ bezeichnete - Kunstform: die literarische Biographie. Die Hauptperson der jeweiligen Biographie hat wirklich gelebt und alle Züge dieses Lebens sind dokumentarisch belegt. Der Kern, den einst die erfundene Handlung bot, wird in einem Schicksal wiedererlangt, das beglaubigt ist. 4 Man muss diese Bestimmung nur geringfügig modifizieren und hat die exakte Beschreibung dessen, was Autoren wie Glavinic in Form eines autobiographisch grundierten Romans und Herbst im Internet dem Publikum anbieten. Die Unterschiede zwischen einer literarischen Biographie und ihrer „Literaturbetriebsliteratur“ bestehen im Wesentlichen lediglich darin, statt des vergangenen einen gegenwärtigen und statt eines fremden einen dem Autor unmittelbar vertrauten Gegenstand zu wählen. Der Kritik an einer - inzwischen geradezu inflationären - Selbstbespiegelung des Künstlers in der Literatur gab Herbert Marcuse in seiner Dissertation über den deutschen Künstlerroman aus dem Jahr 1928 im Anschluss an die Ästhetik Hegels eine geschichtsphilosophische Wendung. Erstens, so Marcuse, zeuge der Künstlerroman von einer Entzweiung, denn die ursprüngliche Einheit von Kunst und Leben sei zerrissen und der Künstler empfinde einen deutlichen Gegensatz zwischen sich und der Gesellschaft. Zweitens werde im gelungenen Künstlerroman gezeigt, wie sich diese Entzweiung überwinden lasse, etwa durch seine Überführung in einen Bildungsroman; beispielhaft sei dafür Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. Und drittens eigne sich das Künstlerdrama anders als der Künstlerroman für eine Überwindung des Konflikts nicht, denn für ein Drama sei ein Antagonismus conditio sine qua non. Notwendig müsse ein Dramatiker auf dessen Zuspitzung und nicht auf eine Auflösung aus sein. „Wo daher“, so Marcuse, das Drama eine dem Künstlertum wesentlich zugehörige Problematik gestaltet, wird es die Gegensätze in letzter Steigerung zusammenballen: die Zweiheit von Kunst und Leben, Künstlertum und Menschentum zu einem akuten Konflikt in symbolisch zusammengedrängter Handlung anschwellen lassen. Oder aber das Künstlerdrama gibt - ganz abgesehen von den „historischen“ Künstlerdramen 3 Kracauer (1977), S. 76. 4 Ebd., S. 77. <?page no="285"?> Das Künstlerdrama in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 285 - den Künstler nur als gesteigerten Empfinder und Erleber rein menschlicher Konflikte, oder es greift einzelne Probleme und Konflikte aus dem Künstlererleben heraus, ohne sie in die Totalität des künstlerischen Weltgefühls zu verwurzeln. 5 Diese Argumentation birgt Implikationen, die inzwischen zweifelhaft geworden sind. Hat die von Marcuse angenommene Einheit von Kunst und Leben wirklich jemals bestanden? „Die goldne Zeit womit der Dichter uns / Zu schmeicheln pflegt“, lässt schon Goethe in seinem Schauspiel Torquato Tasso die Prinzessin Leonore sagen, „die schöne Zeit, sie war, / So scheint es mir, so wenig als sie ist.“ 6 Als Meinungsäußerung einer Kunstfigur hat diese Bemerkung zwar nur eingeschränkte Beweiskraft, aber sie zeugt doch von einer idealismuskritischen Denkfigur schon zu einer Zeit, in der eines der wirkungsmächtigsten geschichtsphilosophischen Systeme des deutschen Idealismus, dem Marcuses Argumentation verpflichtet ist, noch gar nicht ausgearbeitet war. Zudem sind seine normativen gattungspoetischen Vorstellungen spätestens mit Peter Szondis Begründung einer historischen Gattungspoetik in seiner 1956 veröffentlichten Theorie des modernen Dramas in der Literaturwissenschaft nachhaltig in Frage gestellt worden. Die Entwicklung seitdem bis hin zu Formen des „postdramatischen Theaters“ 7 lassen eine Fixierung von normativen Gattungsdifferenzen allenfalls noch als programmatische Setzungen zu, die allerdings nicht in das Aufgabengebiet der Literatur- und Theaterwissenschaften gehören. Wenn sich im übrigen tatsächlich leicht angeben ließe, wie der Konflikt zwischen Kunst und Leben oder der zwischen Künstler und Gesellschaft zu überwinden sei, wäre die Befassung mit dem Künstlerdrama und seiner Geschichte müßig. Dass sie, wie überhaupt das Studium der Literatur, tatsächlich müßig sei, ist zwar ein Ressentiment, dem man mitunter begegnet. Aber das wird hier nicht erwähnt, weil man es ernst nehmen müsste, sondern nur, weil es eine populistische Variante von Marcuses Forderung darstellt, nicht der Konflikt zwischen Künstler und Gesellschaft habe zu interessieren, sondern nur dessen Überwindung. Bezeichnenderweise gelingt, wie Marcuses Dissertation zeigt, außer bei Goethe diese Überwindung im Künstlerroman auch gar nicht, weder bei Tieck in Franz Sternbalds Wanderungen noch in Schlegels Lucinde, weder in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen noch in E.T.A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr, nicht bei Mörike im Maler Nolten und nicht in Karl Gutzkows Die Ritter vom Geiste; die Reihe der Beispiele ließe sich problemlos fortsetzen. Im Künstlerroman wie im Künstlerdrama manifestiert sich die Dichotomie von Kunst und Leben meist auf zwei Weisen, die sich spiegelbild- 5 Marcuse (1978), S. 18. 6 Goethe (1790/ 1988), V. 998 ff. 7 Vgl. Lehmann (2005). <?page no="286"?> G UNTHER N ICKEL 286 lich zueinander verhalten. Die eine ist eine Hypostasierung des Künstlers, wie sie etwa Peter Weiss 1971 in seinem Stück Hölderlin vornahm. Dort wird Hölderlin zu einem politischen Künder und Revolutionär stilisiert, dessen Vorbildcharakter außer jedem Zweifel steht. Wie schon Benno von Wiese feststellte, gelingt die Verklärung des revolutionären Dichters jedoch nur um den Preis eines Widerspruchs: Der elitäre, auf Rang und Schicksal des Einzelnen gestellte Dichterbegriff widerspricht seinem Wesen nach dem „Hinübersteigen ins proletarische Element“ und kann daher auch nicht als eine [. . .] Vorwegnahme dieses Hinübersteigens interpretiert werden. 8 Die Kehrseite des emphatischen Künstlerbilds (um nicht zu sagen: des Kults um das Künstlerindividuum) zeigt sich, sobald sich die Wirklichkeit der Realisierung der mit ihm verbundenen Wirkungsphantasien dauerhaft widersetzt. Der Künstler erfährt dann im besten Fall als Künstler eine Würdigung, fungiert aber faktisch nur als eine Art „Emotionalclown“, wie Peter Stein und Yaak Karsunke es 1969 formulierten, als Stein in Bremen Goethes Torquato Tasso inszenierte und im Konflikt Tassos mit der höfischen Gesellschaft Parallelen zur damals aktuellen Situation des Künstlers in der Bundesrepublik erkennen wollte. 9 (Im schlechtesten Fall, der nicht verschwiegen sein soll, wird dem Künstler auch die künstlerische Anerkennung versagt. Er mag dann noch so sehr in der Lage sein, zu sagen, was er leidet, es hört ihm im Unterschied zum alimentierten „Emotionalclown“ noch nicht einmal jemand zu.) Beides - hier die Hypostasierung des Künstlers zu einem „Individuum, das seine gesteigerte Empfindung sowie seine Wahrnehmungsfähigkeit in einer individualisierten und authentisch-originellen ästhetischen Sprachlichkeit auszudrücken versteht“, 10 dort dessen Resignation angesichts realer gesellschaftlicher Ohnmacht - basiert gleichermaßen auf einem idealistischen Künstlerbild, das im 19. Jahrhundert zuweilen kunstreligiöse Züge annahm. Es weist dem Künstler die Aufgabe zu, um den Preis gesellschaftlicher Exterritorialität ewige oder wenigstens unbequeme Wahrheiten zu artikulieren und Gegenentwürfe zur schlechten Wirklichkeit zu formulieren. Der Gegensatz von Kunst und Leben, an dem schon Grillparzers Sappho leidet und der dann eines der wichtigsten Leitmotive etwa im Werk von Thomas Mann darstellt, wird also in Peter Weiss’ Hölderlin und Peter Steins Tasso-Inszenierung nur fortgeschrieben. In der Geschichte des deutschen Künstlerdramas wurde dieses Bild vom Künstler, sieht man von den Anfängen des Genres im 18. Jahrhundert einmal ab, erstmals von Friedrich Dürrenmatt in seinem Stück Der 8 Wiese (1979), S. 234. 9 Vgl. Stein/ Karsunke (1970), S. 135. 10 Ruppert (2000), S. 232 f. <?page no="287"?> Das Künstlerdrama in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 287 Meteor (1966) ironisiert, dann vollends der Lächerlichkeit preisgegeben von Thomas Bernhard u. a. in seinem Drama Über allen Gipfeln ist ruh (1981) sowie von Friederike Roth in ihrem Schauspiel Erben und sterben (1992). 11 Auf andere Weise in Frage gestellt hat es Wolfgang Bauer 1968/ 69 mit seinen Stücken Magic Afternoon und Change. Dreißig Jahre nach ihm haben auch Albert Ostermaier (geb. 1967), Falk Richter (geb. 1969) und Rainald Goetz (geb. 1954) das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft in Künstlerdramen reflektiert und gezeigt, dass der Kunstmarkt den Charakter dieser Dichotomie verändert hat, vor allem aber, dass eine Voraussetzung des Künstlerdramas abhanden gekommen ist: die der Möglichkeit von Authentizität, also gerade die Möglichkeit dessen, was in Künstlerromanen und Künstleronlinetagebüchern der letzten Jahre dem Publikum offeriert wird. Betrachten wir diese Theaterstücke im Einzelnen. Wolfgang Bauer steht mit seinen Stücken Magic Afternoon (1968) und Change (1969) auf der Schwelle zu einem neuen Typus des Künstlerdramas, in dem Kunst und Kultur lediglich als ein vermarktbares Phänomen fungieren. Die Künstler in diesen Stücken lassen kein Anliegen erkennen, das von einer göttlichen Eingebung, einem gesellschaftlichen Veränderungswillen oder überhaupt von einem Anspruch zeugt, der über rein handwerkliche Fragen hinausgeht. In Change ist es Blasi Okopenko, 12 der sich mit dem Malen veristischer Bilder die Zeit vertreibt. Sie tragen so vielsagende Titel wie „Die gelben Birken von Sankt Pölten“, „Tanne, vier Kilometer von St. Pölten“ oder „Föhrenschopf, 7 Kilometer von St. Pölten“. Im Hauptberuf ist Blasi Okopenko Schlosser, als Maler ist er nur Autodidakt. Er sei aber, meint der Journalist Reicher, „technisch piccobello, malt jede Haslstaudn wie a Foto“. Reicher und sein Freund, der Maler Fery Kaltenböck, überlegen sich zunächst aus Spaß, bald im Ernst, Blasi Okopenko als großen Künstler zu inszenieren: F ERY : Du könntest ja in der Zeitung was über ihn schreiben . . . irgend a ganz windige Interpretation seiner Baumschulen . . . was? 11 Uwe Japp ((2004), S. 20-26) hat betont, die Geschichte des deutschen Künstlerdramas beginne nicht erst im Sturm und Drang (so noch Goldschmidt (1925), S. 11), sondern mit Christian Felix Weißes Komödie Die Poeten nach der Mode (1757) und (dem bei Goldschmidt freilich schon erwähnten) Lustspiel Der Dichter von Joseph Freiherr von Petrasch (1765). Wenn man so will, greift Dürrenmatt, natürlich unter gänzlich veränderten Voraussetzungen, den kritischen Impuls vor allem Weißes gegen den Literaturbetrieb wieder auf. 12 Die Namensgebung ist zweifellos ein Seitenhieb gegen Andreas Okopenko (geb. 1930), der nach einem Studium der Chemie in der Industrie arbeitete, sich von 1950 an daneben literarisch betätigte und seinen Beruf 1968 schließlich zugunsten einer Existenz als freier Schriftsteller aufgab. <?page no="288"?> G UNTHER N ICKEL 288 R EICHER : Man könnte ihn so auf kleinen Rousseau . . . der Zöllner aus St. Pölten hinbosseln [. . .]. F ERY : Oder na . . . man macht überhaupt eine große Künstlerpersönlichkeit aus ihm . . . [. . .] R EICHER : Und dann machst a riesige Vernissage mit ihm, wost ihn dann vorführst wie an . . . wie an zugestutztn Pudl auf einer Hundeausstellung. [. . .] F ERY : Na, man müßte den Burschen so lenken, daß er einfach alles macht, dann . . . daß er sich auch zum Beispiel umbringt, daß man einfach seine Umwelt so . . . so . . . arrangiert, daß er nicht anders kann wie sich umbringen. 13 Ziel des Unternehmens ist die Herstellung eines vermarktbaren Kunstprodukts mit Hilfe von „a bisserl Schmä“ 14 . Doch Blasi Okopenko erweist sich als nicht domestizierbar, mehr noch: Er vollzieht alsbald an Fery, was dieser sich für ihn ausgedacht hat. Erst spannt er ihm die Freundin aus. Und als sie von ihm ein Kind erwartet, verlässt er sie zwar nicht, heiratet aber deren Mutter. Der am Anfang des Stücks noch kühl berechnende Fery bleibt angesichts dieser Entwicklung nicht mehr Herr seiner Emotionen. Zu einem ersten Eklat kommt es bei der Hochzeitsfeier. Als Blasi Okopenko schließlich bei einer skurrilen Party „Change-Tanzspiele“ inszeniert, bei denen unter anderen er und Fery die Rollen tauschen, erscheint Fery die Lage derart aussichtslos, dass er sich auf’s Abort begibt und erhängt. Ein Konflikt zwischen Künstler und Gesellschaft ist in diesem Stück noch nicht einmal am Rande Thema. Voraussetzung der Handlung ist zwar ein Kunstmarkt, der auch allerlei Allotria goutiert, auf dem es zumindest den Protagonisten möglich erscheint, sogar Bilder wie „Tanne, vier Kilometer von St. Pölten“ zu platzieren, aber der Kunstmarkt steht keineswegs im Zentrum des Stücks. Dargestellt wird in erster Linie ein subkulturelles Milieu, in dem sich keine neuen Perspektiven abzeichnen, weshalb man sich mit Musik-, Alkohol- und Drogenkonsum (und hin und wieder auch mit Malen, Schreiben oder Lesen) die Zeit totschlägt. „Wir machen eh nix. Und wenn dann vielleicht nur ein kurzer Abtrunk irgendwo . . .“ 15 , sagt der Schriftsteller Charly zu Beginn von Bauers erstem Erfolgsstück Magic Afternoon. Und wenn Charly von seiner Freundin Birgit aufgefordert wird, statt nur herumzuhängen, vielleicht wieder einmal etwas zu schreiben, antwortet er: „I kann höchstens ein Stück, wo zwei auf der Bühne sitzen und Platten hören . . . a Platten nach der andern . . .“ 16 . Entsprechend ist die Haltung seines Kollegen Joe: „Na, wenn man was machen würde, dann ganz was lockeres . . . So, wie wir jetzt reden . . . 13 Bauer (1969/ 1986), S. 48 f. 14 Ebd., S. 49. 15 Bauer (1968/ 1986), S. 14. 16 Ebd., S. 15. <?page no="289"?> Das Künstlerdrama in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 289 sowas vielleicht, das ist angenehm . . . aber sonst . . .“ 17 . Diese Dialoge sind charakteristisch für alle Stücke Bauers. Immer sind die dramatis personae antriebs- und ziellos. Daher geraten seine Künstler auch nicht als Künstler in Konflikt mit dem Leben oder der Gesellschaft. Man hat Bauers Stücke als naturalistische Milieudarstellung gewürdigt. Sie seien indes - so Peter Handke über Magic Afternoon - „kein photographisches Idyll“, sondern bewirkten „eine Art von Halluzination des Zuschauers vor lauter Übergenauigkeit“. 18 Angesichts von Change betonte auch Botho Strauss, die „scheinbar kopierende Wirklichkeitsdarstellung“ habe ganz andere Motive als der alte literarische Naturalismus, der etwa die Erfahrung nicht machte, dass man sich gezwungen sieht, die äußeren realistischen Erscheinungen und Lebensformen selbst als Kunstvorgänge zu rezipieren. Denn: Je exakter die natürlichen Vorgänge auf der Bühne in Bauers Stücken nachgebildet werden, umso deutlicher klären sie die Illusion, die über ihre Natürlichkeit verhängt ist. 19 Wenn aber die Realität nur als manipulierte und damit künstliche Realität erfahrbar wird, ist die tradierte Unterscheidung von Kunst und Leben hinfällig. In seinem Stück Silvester oder Das Massaker im Hotel Sacher zieht Bauer aus dieser Überlegung die Konsequenz. Dort muss ein Dramatiker eine Auftragsarbeit fertigstellen, ist mit ihr aber überfordert, lädt deshalb einige Bekannte ins Wiener Hotel Sacher ein und nimmt ihre Gespräche heimlich mit einem Tonband auf. Aus der Transkription der Aufzeichnungen besteht schließlich das Stück, das er abliefert, und aus nichts anderem besteht letztlich auch Bauers Drama. Ein gesellschaftskritischer Effekt ergibt sich hier ausschließlich durch das, was Erving Goffman als „Framing“, als Rahmung, bezeichnet hat. 20 Indem Bauer eine Kopie der Wirklichkeit, die nur eine vermittelte Wirklichkeit ist, auf der Bühne ausstellt, wird dem Zuschauer eine Haltung zu den gezeigten Verhältnissen abverlangt, die Bauer selbst - im Gegensatz etwa zu Peter Weiss - verweigert. Diese Zuschauerhaltung bestand entweder in empörter Ablehnung durch das Abonnentenpublikum oder in rückhaltloser Begeisterung mit der Begründung, dass sich der „Alltag der Subkultur“ im bürgerlichen Theater einen kulturellen Raum erobert habe, der bis dato nur „der ‚Sinngebung ins Höhere’“ vorbehalten gewesen sei. 21 In der Rezeption seiner Stücke erlebte Bauer also durchaus eine Dichotomie zwischen Kunst und Gesellschaft. Doch in den 1970er Jahren verlor sich allmählich das Provokante seines Verfahrens. Das liegt unter ande- 17 Ebd., S. 19. 18 Handke (1972), S. 195 f. 19 Vgl. Strauss (1969), S. 39. 20 Vgl. Goffman (1980). 21 Vgl. Baacke (1978). <?page no="290"?> G UNTHER N ICKEL 290 rem daran, dass es zwar nicht ohne Raffinesse ist, aber unbestimmt bleibt. Das Resultat lässt sich wie bei einer Kippfigur gleichermaßen als Affirmation wie als Kritik der dargestellten Zustände begreifen und bleibt in beiden Lesarten ohne die geringste Andeutung einer Alternative. Albert Ostermaiers The Making Of. B.-Movie entstand als Auftragsarbeit des Bayerischen Staatsschauspiels zum 100. Geburtstag Brechts. Lose griff er Motive aus Brechts dramatischem Erstling Baal auf, das wie bei Ostermaier eine Auseinandersetzung mit einem Künstlerdrama ist: mit Hanns Johsts Der Einsame. Hanns Johst wiederum thematisierte in seinem Stück Leben und frühen Tod des Dramatikers Christian Dietrich Grabbe und zeichnete ihn ähnlich wie Peter Weiss Hölderlin: als einsamen, visionären Dichter, auf den seine Zeitgenossen mit Unverständnis reagierten. Brecht konterkarierte diese idealistische Verklärung und machte aus Baal einen anarchischen, sich oft rüpelhaft benehmenden, asozialen, auf Eigennutz und Triebbefriedigung bedachten „lyrischen Dichter“. In Ostermaiers Stück überredet der Schauspieler Silber den nach Afrika geflüchteten Kollegen Andree nach Europa zurückzukehren und dort einen jederzeit zu äußerster Gewalt bereiten Soldaten zu spielen, der Gedichte und Stücke schreibt: „Ab morgen bist du eine Kampfmaschine, die schreibt, kein Lyriker, der sich nicht verkaufen kann.“ 22 Silber verspricht für die Texte und das Marketing zu sorgen. Andrees Rolle besteht nur darin, der von Silber konstruierten Figur ein Gesicht zu geben. Nachdem der Pakt geschlossen ist, wechselt Andree seinen Namen und nennt sich Brom. An der Härte, Asozialität und Unbedingtheit, die Brom nach Silbers Willen zu verkörpern hat, ergötzt sich sofort die Kulturschickeria. „Ein Dichter kälter als der Tod“ 23 , schwärmt etwa der Kritiker Müller-Schuppen. Brom eignet sich seine Rolle jedoch mit einer Konsequenz an, dass niemand Silber ernst nimmt, als er von einem „Fake“ spricht und Broms wahre Identität enthüllt. 24 So wie Blasi Okopenko in Wolfgang Bauers Change macht sich auch bei Ostermaier die Kunstbzw. Künstlerfigur selbständig, und wie Fery bei Bauer kommt Silber bei Ostermaier am Ende ums Leben (hier allerdings nicht von eigener Hand). Brom ist aber nicht nur eine aktualisierte Neuauflage von Brechts Baal, denn Ostermaier griff für das Stück auch auf einen Literaturskandal der 1950er Jahre zurück: Unter dem Namen George Forestier hatte der Lyriker, Erzähler und Verlagslektor Karl Emerich Krämer zwei Gedichtbände herausgegeben und in seinem Nachwort behauptet, es handle sich um die Verse eines Elsässers, der als Fremdenlegionär in Indochina gekämpft 22 Ostermaier (1999), S. 28. 23 Ebd., S. 48. 24 Vgl. ebd., S. 127 f. <?page no="291"?> Das Künstlerdrama in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 291 habe und dort seit Herbst 1951 verschollen sei. Da die Gedichte große Beachtung gefunden hatten, war die Aufregung groß, als der Verlag im He ch einen Rahmen, der auch die etwas plakative Na n Bühnenwirklichkeit und der me heaterszene damit vor allem zur Akkumulation symbo „an den zerrauften Haaren der Ideenlosigkeit herbeigezogene[n] Plot“ rbst 1955 diese Fälschung bekannt machte. 25 Um die Handlung, die durch ihren Zitat- und Anspielungscharakter ohnehin schon jedes Verdachts der „Authentizität“ beraubt ist, noch weiter zu fiktionalisieren, gab Ostermaier seiner Geschichte von Brom und Silber zusätzlich no menswahl 26 erklärt: Wenn die Zuschauer den Raum betreten, sehen sie ein Fernsehteam, das anscheinend Vorbereitungen trifft, das Stück aufzuzeichnen. Am Rande der Bühne ist ein Regiepult und Schneideplatz installiert sowie eine Videoleinwand, auf der die Zuschauer die Schnitte und die Bildregie des Fernsehteams verfolgen können. Die Kamerafahrten werden zum Alternativauge des Betrachters, es entsteht ein gezielter Konflikt zwischen der real und live erlebten, sinnlich erfasste dialen Umsetzung und Manipulation. 27 Der Effekt ist eine Episierung. Das Bühnengeschehen, das die Inszenierung einer Inszenierung zeigt, wird wiederum Gegenstand einer Verfilmung, die selbst auch nur eine Inszenierung ist. Was Ostermaier dergestalt in Szene setzte, war das Resultat, zu dem Brecht in seiner Schrift Der Dreigroschenprozeß aus dem Jahr 1931 gekommen war: Das „Kunstwerk als adäquater Ausdruck einer Persönlichkeit“ wird im medialisierten kapitalistischen Kulturbetrieb genauso zu einer Chimäre wie die Vorstellung von einem authentischen Individuum. Trotz der mehrfachen perspektivischen Brechung ergibt sich die Aporie, einen Kulturbetrieb, an dem der Autor selbst partizipiert, in kritischer Absicht vorzuführen zum Beispiel mit dem Stück The Making Of. B.-Movie. Diesem Widerspruch entging auch der Regisseur der Inszenierung am Kölner Schauspielhaus, Volker Hesse, nicht. Er platzierte Statisten, die wie durchschnittliche Theaterbesucher aussahen, ins Publikum, die der Darsteller des Brom dann verbal und körperlich traktierte, wodurch das Stück zu einem „Publikumsschocker“ wurde. Zwar gelang auf diese Weise die Provokation, aber gerade darin bestand auch ihr affirmatives Moment, diente sie doch innerhalb der T lischen Kapitals. Man hat Ostermaier vorgeworfen, er habe mit „bildungshuberischen Verschlüsselreizen“ die älteren und mit seiner „Remix-Technik“ die jüngeren Theaterzuschauer für sich einnehmen wollen und doch nur einen 25 Vgl. Schmitt (1992). 26 Brom und Silber sind unverzichtbare Elemente der Photochemie, also der materiellen Basis jeder Filmproduktion vor Beginn des digitalen Zeitalters. 27 Vgl. Ostermaier (1999), S. 15. <?page no="292"?> G UNTHER N ICKEL 292 zustande gebracht. 28 Auf diese Weise könnte man auch Brecht seine zahlreichen literarischen Anleihen in Baal vorhalten, obwohl sie für die beabsichtigte Kontrafaktur zur expressionistischen Feier des Genies durchaus legitim erscheinen. Nicht Ostermaiers Arbeitsweise an sich ist daher fragwürdig, sondern das prekäre Verhältnis von The Making Of. B.-Movie zu Baal als einem der literarischen Prätexte. „Das Stück ‚Baal’“, notierte Brecht in seinem 1953 veröffentlichten Aufsatz Bei Durchsicht meiner ersten Stücke, „mag denen, die nicht gelernt haben, dialektisch zu denken, allerhand Schwierigkeiten bereiten. Sie werden darin kaum etwas anderes als die Verherrlichung nackter Ichsucht erblicken.“ 29 Im Gegensatz zu Johsts Heroisierung des verkannten Genies zielte Brecht auf den untrennbaren und durchaus tragischen Zusammenhang von Genuss und (Selbst-)Zerstörung. Diese Dialektik kommt aber in Ostermaiers Verschränkung von Baal-Motiven und Brechts Kritik an der Kulturindustrie abhanden. Ostermaier spitzt in seinem Stück Phänomene des Kulturbetriebs parodistisch zu. Die inhärente Medienkritik ist aber von großer Allgemeinheit, damit ungenau und in nuce das Gegenteil dessen, was Rainald Goetz von einer gelungenen Medienkritik erwartet. In Goetz’ „Erzählung“ genanntem Text Rave heißt es dazu: Daß [. . .] jeder Schreiber immer denkt, weil er natürlich so viel mit anderen Schreibern über andere Schreiber und die Medien überhaupt redet: nichts wäre leichter, als ein bißchen lässige Medienkritik. Und dann immer irrt. Weil es ziemlich schwierig ist, das wirklich gut zu machen. Entweder man wird superpedantisch, seriös und dröge, und ficht das Ding wirklich argumentativ durch oder, Normalfall, es wird der zu kritisierende Text, weil man ihn für falsch hält, in einem ironischen, zitategespickten Nacherzählsound referiert, der dauernd so tut, als wäre die Argumentationsarbeit längst geleistet und allen eh bekannt, weshalb man sie sich, so die soundmäßige Unterstellung, gleich ganz sparen kann, und man macht es sich gerade auf dieser Nullbasis schön schlaff dahinlallend, so richtig schön gemütlich, bis plötzlich - huch, jetzt schon? - der Text auf einmal aus ist. Das war es dann. Und das ist eben zu wenig. Statt Argumente bietet man nur: diesen schlechten, extrem billigen und abgedroschenen Sound gemeinsamer Konsense, von Herrschenden kollektiv dissidierender Dissenskonsense. Das ist der Spaß für die ganz Armen, die geistige Vergnügung für die Allerärmsten im Geiste. 30 Eine argumentative Medienkritik, wie Goetz sie hier fordert, liefert er in seinen Büchern selbst kaum. Stattdessen begibt er sich in literarisch unerschlossene Bereiche der Wirklichkeit, um sie schreibend zu rekonstruieren. Das geschieht mit dem Bewusstsein, dass dieses Unternehmen scheitern muss. Zumindest ausschnitthaft will Goetz trotzdem versuchen, 28 Vgl. Schmidt (1999). 29 Brecht (1993), S. 241. 30 Goetz (1998a), S. 177. <?page no="293"?> Das Künstlerdrama in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 293 durch Protokollierung und Kommentar Wirklichkeit abzubilden und Momente von Intensität festzuhalten. „Was ist es, was total bekiffte Leute beim Tanzen zu Techno-Musik empfinden? “ ist zum Beispiel eine Frage, der er in Rave nachgeht, und zwar so: Er schaute hoch, er nickte und fühlte sich gedacht vom Bum-bum-bum des Beat. Und der große Bumbum sagte: eins eins eins - und eins und eins und eins eins eins - und - geil geil geil geil geil . . . Er sah Hardy und Leksie, Gesichter und Blicke, im Takt gestolpert, gedrängelt, gestoßen, berührt. Sah das Kaputte, Beglückte, Vertrauen und Zartes, die vielen Signale, schnell, kurz, ganz klar, vom nächsten schon wieder verwischt, in Wellen von Sympathie. Er schaute und tanzte und sah das Schöne. Vom Rand her kamen die Beine und Lichter, auf Füßen, in Flashs, die Schritte und Bässe, die Flächen und das Gezischel, die Gleichungen und Funktionen einer höheren Mathematik. Er war jetzt selber die Musik. 31 Goetz’ Verfahren ist eine Art mimetischer Nachvollzug, bei dem er sich auch nicht scheut, auf abgegriffene Klischees zurückzugreifen, wenn dies dazu dienen kann, Erfahrungen erfahrbar zu machen, Momente festzuhalten, in denen das medial vernetzte Subjekt vielleicht nicht authentisch ist, sich aber doch authentisch fühlt, und damit zumindest ein Effekt der Unmittelbarkeit entsteht. Ein hergestellter Effekt der Unmittelbarkeit ist jedoch keineswegs Unmittelbarkeit, sondern Resultat einer Vermittlung. Dieses Problem stellt sich nicht erst bei der Rezeption ein, sondern ist schon eines der Produktion: Der Akt des Aufzeichnens kann nie zeitlich kongruent mit den Bewusstseinsakten sein, die festgehalten werden sollen. Selbst das Schreiben über das, was man gerade schreibt, ist eine Rekonstruktion „du temps perdu“. Goetz weicht diesem Problem mit einer obsessiven Strategie immer neuer Anläufe aus, ohne dass es ihm dadurch je gelingen könnte, die Distanz zur Realität in der Rekonstruktion aufzuheben. Das Obsessive geht soweit, dass er zuweilen einfach mitschreibt, was er gerade im Fernsehen sieht. In seinem Tagebuch Abfall für alle berichtet er auch von Gesprächen auf der Buchmesse, die er sofort schriftlich fixiert: „Die Notiererei nervt natürlich alle, auf die Dauer, klar. Zerstört immer neu die Unmittelbarkeit der Situation, für die anderen, für mich besteht die eh nicht.“ 32 Rave und Abfall für Alle sind zwei Teile des fünfteiligen Projekts Heute Morgen, das 1999 mit Rave begonnen, im Jahr darauf mit dem Theaterstück Jeff Koons und Texten und Bildern zur Nacht unter dem Titel 31 Ebd., S. 19. 32 Goetz (1999a), S. 642. <?page no="294"?> G UNTHER N ICKEL 294 Celebration fortgesetzt wurde. Hierauf folgte Abfall für Alle, ein zunächst im Internet veröffentlichtes Tagebuch eines Jahres, und schließlich das Tagebuch Dekonspiratione. Das Gesamtprojekt besteht also aus der Kombination heterogener Formen, die in ihrem Mit- und Gegeneinander eine „fünfbändige Geschichte“ der Gegenwart ergeben sollten. Jeff Koons handelt von einem „Wochenende Kunst“ 33 . „Es geht“, erläutert Goetz in Rave, „um die politischen Aspekte künstlerischer Praxis in einem gewissermaßen klassischen Künstlerdrama, unter den gegenwärtigen Bedingungen, heute, also ‚nach 1989’. Was immer das heißt.“ 34 Das Stück demonstriert Haltungen, die Sprecher zur Kunst und zum Kunstmarkt einnehmen. Mal sind sie fasziniert, mal gelangweilt oder betreiben einfach nur „modern talking“: halloo ja klar du auch? natürlich ja Mensch Mann ganz toll und wie ich freue mich ja ja, na ja es geht, und du? hallo halloo sehr schön ich auch 35 Das Stück zeigt diverse Situationen vor, während und nach einer Vernissage. Nirgends lässt sich eine bewertende Instanz ausmachen. Es gibt nicht einmal Personen, geschweige denn eine Charkterentwicklung. Man kann lediglich verschiedene Sprechsituationen unterscheiden: dialogische und monologische. Wer jeweils spricht, wird im Text nicht festgelegt. Selbst den Titelhelden gibt es nicht. Der Name des Konzeptkünstlers Jeff Koons steht zwar auf dem Umschlag der Buchausgabe, aber er kommt als Rolle im Stück nicht vor. Dass Koons daher - wie der Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier meinte - zu einem „Helden des reinen Herzens, des großen Aufatmens (,ä, ä, geil, geil, ja, ja’)“ 36 werde, lässt sich am Text nur schwer festmachen. 33 Goetz (1999/ 2002), S. 101. 34 Goetz (1998a), S. 208. 35 Goetz (1999/ 2002), S. 112. 36 Stadelmaier (1999). <?page no="295"?> Das Künstlerdrama in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 295 Auch der formale Aufbau ist verwirrend: Das Stück beginnt auf S. 15 mit dem dritten Akt, der erste folgt auf S. 37, der fünfte steht nach dem siebten. 37 Auf diese und andere Eigentümlichkeiten reagierten Regisseure mit diametral entgegengesetzten Realisierungskonzepten: Bei einer Inszenierung in Bonn wurde das Stück den Bühnenkonventionen angepasst, mit einem hinzuerfundenen Jeff Koons als Protagonisten samt seiner Frau als Muse. Erzählt wurde eine lineare Geschichte, die von Schaffenskrise, Kunstproduktion und Kunstrezeption handelt. Bei der Uraufführung am Hamburger Schauspielhaus, die nur wenige Wochen vor der Bonner Inszenierung zu sehen war, wurde der Text auf insgesamt neun Sprecher verteilt. Diese Verteilung wirkte beliebig, eine Handlung war nicht erkennbar. Der Text trat in seiner Bedeutung hinter anderen Elementen der Bühnenrealisation zurück. 38 So unterschiedlich das Stück in Bonn und Hamburg auch inszeniert wurde, es war jedes Mal ein Nachvollzug, bei dem sich der Zuschauer in Distanz zum Geschehen befand. Eben darin besteht das „Klassische“ des Stücks: Es bleibt Guckkastentheater. Wie Wolfgang Bauer okkupiert Goetz mit Jeff Koons lediglich einen Raum der Hochkultur und verschafft sich damit eine Legitimation seiner privilegierten Sprecherposition als Autor. Proklamiert wird von ihm aber das Erleben des Jetzt. Und das erreicht man bei diesem Stück nur, wenn man es als Darstellung eines Konglomerats von disparaten Haltungen begreift, die in keine Werthierarchie eingeordnet sind, also als Darstellung von Haltungen, die dann, wenn man sie selbst probeweise nacheinander einnimmt, eine innere Bewegung entstehen lassen. Diese Bewegung besteht entweder in einer fortwährenden Negation, einer fortwährenden Affirmation oder - ad libitum - einem Wechsel von Affirmation und Negation. Allenfalls im Vollzug dieser Bewegung kann im Umgang mit diesem Text ein Jetzt entstehen. Verlangt ist mithin eine experimentelle Haltung, wie sie Goetz selbst einnimmt, von dem der Literaturkritiker Hubert Winkels einmal treffend sagte, er verhalte sich wie ein „Ethnologe, der auf die Seite des Untersuchungsobjekts wechseln möchte“. 39 Das ist zwar unmöglich, aber aus dieser Spannung zwischen Absicht und Vermögen gewinnen Goetz’ Texte in den besten Momenten ihre Intensität. Sein Dilemma sieht er selbst darin: 37 Eine Interpretation dieser Organisation des Materials liefert Windrich (2007), S. 397- 417. 38 Eine eingehende Beschreibung und ein Vergleich der beiden Inszenierungen finden sich in Rättig (2006). 39 Winkels (2005), S. 137. Ähnlich, nämlich als „Form von ,PRAXIS’, die sich permanent selbst überholt“, auch die Charakterisierung von Goetz’ Intention in Schumacher (2003), S. 121. <?page no="296"?> G UNTHER N ICKEL 296 Daß genau das schon der Fehler ist: sich als Beobachter der Gegenwart zu sehen. Daß das genau der Unterschied zur Vergangenheit wäre: daß man die nur beobachten kann, die Gegenwart aber selber nur sein kann, leben muß. Und daß das das Anstrengende und Schwierige ist, die Zeit mehr oder weniger einfach durch sich durch zu lassen. Für die Gegenwart kann man sich nicht interessieren. Die Gegenwart ist ein Zerstörungs- und Erschöpfungsvorgang in einem, dem man ausgeliefert ist, sich hingibt, der man dadurch WIRD. 40 Dieses Dilemma, das verblüffende Parallelen zu dem von Brechts Baal aufweist, ist erkenntnisfördernd, weil es die Opposition von Literatur und Leben im Künstlerdrama auf eine neue Weise radikalisiert. Es zeigt, dass es eine Gegenwartsliteratur im strengen Sinn des Wortes nicht geben kann. Literatur kommt stets zu spät oder ist ihrer Zeit voraus, sie verfehlt aber immer das Jetzt. Für performative Künste gilt das auf den ersten Blick nicht notwendig. Wie weit sie dadurch in der Lage sind, Authentizität zum Ausdruck zu verhelfen, ist das Thema in Falk Richters Gott ist ein DJ, das 1999 am Mainzer Staatstheater uraufgeführt wurde. Noch bevor die erste Folge von Big Brother über deutsche Fernsehschirme flimmerte - die erste Staffel lief vom 28. Februar bis zum 9. Juni 2000 -, führte Richter in seinem Stück ein Künstlerpaar vor, das nonstop von Kameras umgeben ist, die alles, was die beiden Protagonisten tun - sie heißen lediglich ER und SIE -, live ins Internet übertragen. Ihre Einzimmerwohnung ist in einer Kunsthalle nachgebaut. Dort bewegen sie sich innerhalb einer Spielvereinbarung, die sie immer wieder auf die Frage führt: „Was ist echt, was nicht? “ SIE verkündet einmal ein neues, ihrer Lage angepasstes Identitätskonzept, das das Authentische nicht aufgibt: Es geht darum, denke ich, gegen den Zugriff der Medien immun zu werden, unfaßbar, ungreifbar, sich zu bewegen, wirklich zu surfen, und zwar wirklich echt zwischen unterschiedlichen selbst konzipierten Identitäten zu surfen, in unregelmäßigen Abständen unterschiedliche Formen anzunehmen . . . Im Grunde ein intelligentes Davonlaufen, Schnellersein, sich neue Identitäten jederzeit irgendwo neu aufzubauen, schnell sein, perfekt sein, intelligent sein, wie ein Molekül unterschiedliche Verbindungen eingehen zu können, wie ein Virus resistent gegen jeglichen Zugriff zu werden, trotzdem jederzeit unerkannt in jedes System eindringen zu können . . . praktisch gesehen: Widersprüchlichkeit produzieren und dabei unterhaltsam bleiben. 41 Diese Figurenrede steht allerdings in Anführungszeichen. Sie ist ein Kommentar, den SIE vor einer Leinwand „wie ein Popstar am Mikro“ spricht. Dabei sieht man SIE auf der Leinwand „ins Unendliche verdoppelt“. Ihr Versuch einer Neubestimmung von Identität und Authentizität, die Ähnlichkeiten mit den Bemühungen von Rainald Goetz hat, wird so 40 Goetz (1999a), S. 93. 41 Richter (1999/ 2005), S. 165f . <?page no="297"?> Das Künstlerdrama in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 297 ad absurdum geführt. Es bleibt nur eine Sehnsucht nach dem Echten, und auch die ist möglicherweise nur eine Simulation. Jedenfalls lässt sich, wie der Prolog des Stücks zeigt, das Echte von einer Imitation nicht mehr unterscheiden: In der Nacht wurde jemand im Valley erschossen, und ich hatte das Fenster weit geöffnet und den Fernseher angeschaltet, einen Tex-Mex-Remake von Tarantino, so daß man den echten Schuß nicht von dem Tex-Mex-Schuß unterscheiden kann, und alle, die diesen Track hören, glauben, das sei ein Sound, den ich aus dem Fernsehen herauskopiert hätte, aber für diesen Sound mußte wirklich jemand sein Leben lassen, dies ist ein echter Sound, für den wirklich jemand gestorben ist, da floß viel Blut durch den Wüstensand, damit dieser Sound jetzt so brutal fett in unseren Ohren klingen kann. 42 Es scheint jedoch einen Moment zu geben, in dem - um es in der Terminologie Jean Baudrillards zu formulieren - das Simulakrum die Realität nicht vollständig verdrängen kann: SIE: Können wir vielleicht über was Echtes reden? Unser Kind vielleicht? Ja? Nein? Abtreiben? Drinlassen? Ja? Nein? [. . .] Willst du das Kind, dieses Kind, dieses Kind, was uns da irgendwie passiert ist, hallo, willst Du das? 43 Am Ende des Stücks aber wird auch die Realität der Schwangerschaft fraglich: SIE: Für dich würde ich jedem ganz brutal echt den Hals aufschlitzen, alles vernichten, alles neu erfinden, alles wiederentdecken, alles wiederholen, alles kopieren, alles alles alles ER: Und? SIE: Und was? ER: Das Kind? SIE: Welches Kind? Er küßt Sie, Blackout. Ende. 44 Der offene Schluss eskamotiert die Möglichkeit des Einbruchs des Realen in die Simulation nicht. Geboren werden, Gebären und Sterben bleiben archaische Reste, die medial ausgebeutet werden können, die aber, am eigenen Leib erfahren, doch „echt“ bleiben. Aber mehr als die Möglichkeit zu solchen archaischen Fragmenten von Realität findet sich in der Welt von ER und SIE nicht. Beide gehen in ihrer Rollenidentität soweit auf, dass die Differenz zu einer anderen, „wahren“ Identität selbst innerhalb der Beziehung zwischen ER und SIE immer fraglich bleibt. Als Künstler 42 Ebd., S. 140. 43 Ebd., S. 192. 44 Ebd., S. 195. <?page no="298"?> G UNTHER N ICKEL 298 verfolgen Sie ein Programm, bei dem Kunst und Wirklichkeit nicht deckungsgleich sind, aber die Differenz für niemanden mehr erkennbar ist. Wie Wolfgang Bauer setzt Falk Richter darauf, dass durch schlichte Performation im Rahmen des Guckkastentheaters eine Metaebene entsteht und so im Zuschauer eine kritische Reflexion des Gezeigten induziert wird. Wie Albert Ostermaier entgeht er nicht der Aporie, selbst zu reproduzieren, was er zu kritisieren beabsichtigt. In seinem Konzept Das System versucht er daher einen Weg aus einer lediglich zirkulär bleibenden Spiegelung medialisierter Realität ins Unendliche zu finden. Sein Ziel ist dabei die Rückgewinnung einer kritischen Distanz und damit einer neuen intellektuellen Souveränität. Daher hegt er auch Vorbehalte gegen die poststrukturalistische Theoriebildung, namentlich gegenüber Foucault, Derrida und Baudrillard, die dafür gesorgt hätten, dass die Europäer vollkommen handlungsunfähig geworden seien, weil sie nichts mehr als real wahrnähmen. 45 Eine zentrale Rolle spielte bei dieser Auseinandersetzung auch ein affirmatives Moment, das dieser Systemkritik immanent ist: „Ich bin“, erklärte Richter in einem Gespräch mit Anja Dürrschmidt, „ja Teil des westlichen Systems, lebe und arbeite hier, verdiene mein Geld mit der ästhetisch kritischen Wiedergabe des Neoliberalismus - wie verhalte ich mich dazu, begreife ich mich als Täter und Opfer gleichzeitig? “ 46 Gesellschaftskritische Kunst ist immer auch Teilhabe, Partizipation an einem Subsystem Kunst, in dem radikale kritische Gesten nicht nur in Kauf genommen, sondern erwartet werden. Richter beschäftige sich daher, so Peter Laudenbach, mit dem „Paradox, dem keine Systemkritik entgeht, die im Dagegensein vor allem darum kämpft, Dabeizusein.“ 47 Diesen Mechanismus beschreibt und analysiert auch Pierre Bourdieu in seinem Buch Les règles de l'art (1992, dt.: 1999). Welche Konsequenzen aus der Einsicht in seine Funktionsweise zu ziehen wären, bleibt bei Richter jedoch genauso offen wie schon bei Ostermaier. Ich hatte zwar ursprünglich nicht vor, im Widerspruch zu Herbert Marcuse dem Künstlerdrama gegenüber dem Künstlerroman literarisch den Vorzug zu geben, aber es ergibt sich doch phänomenologisch das Resultat, dass die Künstlerromane der Gegenwart und deren Derivate ein Problem verschleiern, das in Künstlerdramen der jüngeren Zeit auf unterschiedliche Weise wenigstens zum Ausdruck kommt, dass nämlich, wie es schon bei Hegel heißt, 45 Vgl. Dürrschmidt (2004), S. 56. 46 Ebd., S. 51. 47 Laudenbach (2004), S. 22. <?page no="299"?> Das Künstlerdrama in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 299 in unserem gegenwärtigen Weltzustande das Subjekt [sich] allerdings nach dieser oder jener Seite hin aus sich selber handeln [kann], aber jeder Einzelne [. . .] doch, wie er sich wenden und drehen möge, einer bestehenden Ordnung der Gesellschaft an[gehört] und [. . .] nicht als die selbständige, totale und zugleich individuell lebendige Gestalt dieser Gesellschaft selber [erscheint], sondern nur als ein beschränktes Glied derselben. Er handelt deshalb auch nur als befangen in derselben, und das Interesse an solcher Gestalt wie der Gehalt ihrer Zwecke und Tätigkeiten ist unendlich partikulär. 48 Was Hegel hier für das Subjekt der Moderne im Allgemeinen feststellt, gilt ohne Abstriche auch für den Künstler der Moderne. Dass er sich bis in unsere Tage dennoch gern als „Wahrsager“ 49 oder „Inkarnation des Menschen schlechthin“ 50 oder „Inbegriff der feineren seelischen Empfindung“ 51 versteht und vom Publikum dergestalt auch akzeptiert wird, gehört wohl zu den mythologischen Resten in unserer säkularisierten Welt, die eine Kompensation fortbestehender gesellschaftlicher Widersprüche offenbar erleichtern. Literaturverzeichnis 1. Primärliteratur a) Künstlerdramen Bauer, W.: Werke in sieben Bänden. Bd. 2 (darin die Stücke Magic Afternoon [1968], Change [1969], Film und Frau [1971], Das Massaker im Hotel Sacher [1972], Gespenster[1973]). Hg. G. Melzer. Graz/ Wien 1986. Bernhard, T.: „Über allen Gipfeln ist Ruh“ (1981). In: Ders., Stücke. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1988, S. 191-283. Brecht, B.: Baal (1918 ff.). Drei Fassungen. Hg. D. Schmidt. Frankfurt a. M. 1966. Dürrenmatt, F.: „Der Meteor“ (1966). In: Ders., Gesammelte Werke. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1996, S. 321-408. Goethe, J. W.: „Tasso“ (1790). 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W.: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795/ 96). In: D. Borchmeyer (Hg.), Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. I, Bd. 9. Frankfurt a. M. 1992, S. 357- 992. Gutzkow, K.: Die Ritter vom Geiste (1850/ 51). Hg. T. Neumann. Frankfurt a. M. 1998. Händler, E. W.: Die Frau des Schriftstellers. Frankfurt a. M. 2006. Herbst, A. N.: „Arbeitsjournal“. <http: / / albannikolaiherbst.twoday.net/ topics/ Arbeitsjournal/ >, 27. Juli 2009. Hoffmann, E. T. A.: „Lebensansichten des Katers Murr“ (1819/ 21). In: H. Steinecke (Hg.), Sämtliche Werke. Bd. 5, Frankfurt a. M. 1992, S. 9-458. Kirchhoff, B.: Schundroman. Frankfurt a. M. 2002. Modick, K.: Bestseller. Frankfurt a. M. 2006. Mörike, E.: „Maler Nolten“ (1832). In: H. G. Göpfert (Hg.), Sämtliche Werke in vier Bänden. Bd. 2. Stuttgart 1981, S. 423-818. Novalis: Heinrich von Ofterdingen (1802). Hg. J. Kiermeier-Debre. München 1997. Ortheil, H. J.: Die geheimen Stunden der Nacht. München 2005. Tieck, L.: Franz Sternbalds Wanderungen (1798). Hg. A. Anger. Stuttgart 1999. Walser, M.: Tod eines Kritikers. Frankfurt a. M. 2002. c) Weitere Primärtexte Brecht, B.: „Bei Durchsicht meiner ersten Stücke“ (1953). In: W. Hecht (Hg.), Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 23. Berlin/ Weimar/ Frankfurt a. M. 1993, S. 239-245. --: „Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment“ (1932). In: W. Hecht (Hg.), Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 21. Berlin/ Weimar/ Frankfurt a. M. 1992, S. 448-514. Goetz, R.: Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt a. M. 1999a. --: Celebration. Texte und Bilder zur Nacht. Frankfurt a. M. 1999b. --: Rave. Erzählung. Frankfurt a. M. 1998a. --: Dekonspiratione. Erzählung. Frankfurt a. M. 1998b. 2. Sekundärliteratur Baacke, D.: „. . . die Fortpflanzung is eh noch das einzig Gefährliche was ma ham . . . das is das einzig Gefährliche. Notizen zu einer Aufführung von Magic Afternoon“. In: Text + Kritik. Heft 59 (1978), S. 35-37. 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W. 12 Ball, H. 255 Balzac, H. de 11, 205, 216, 219, 266 Barker, H. 13, 252 f. Baudrillard, J. 297 f. Bauer, W. 13, 283, 287-290, 295, 298 Beckett, S. 213, 254 Beethoven, L. van 261 Béjart, A. 34 Béjart, M. 34 Belyj, A. 140 Benckendorf, S. 148 Bénichou, P. 265 Benjamin, W. 283 Benn, G. 104 Bennett, A. P. 255 Bernhard, Th. 287 Bernhardt, S. 127 Bicilli, P. 135 Billington, M. 251, 253 Blok, A. 9, 133, 135-141, 150 f. Bolyai, F. W. 196 Bond, E. 13, 250-253, 259 Bourdieu, P. 265, 298 Boursault, E. 8, 29-34 Brecht, B. 13, 252, 290, 292, 296 Brenton, H. 13, 251, 253 Broch, H. 155, 175 Brutus 120 Bulgakov, M. 10, 133, 146-151 Byron, G. G. 87, 93, 119 Caesar 120 Campbell, E. 12, 233-235, 237, 244 Camus, A. 155, 213 Cantor, G. 190 f., 193 Caro, M. 279 Carr, H. 255 Castiglione, B. 25, 60, 62 f. Tschechow s. echov echov (Tschechow), A. P. 9, 133, 135, 141, 150 f., 160, 172, 253 Cellini, B. 118 Chaplin, Ch. 275 Chatterton, Th. 9, 108-110 126 f., 264 Chéreau, P. 263 Chiari, P. 8, 27, 33, 47, 55 Chopin, F. 11, 205-209 Clare, J. 251 Cochin, C.-N. 22 Cocteau, J. 267 Cojo, R. 279 Coleridge, S. T. 249 Comelade, P. 279 Crnjanski, M. 153 udakova, M. 146 ulkov, G. 136 Cwojdzi ski, A. 208 D’Alembert, J.-B. le Rond 56 Dante 268 Della Casa, G. 25, 47 Derrida, J. 298 <?page no="304"?> Register 304 Diabelli, A. 80 Dickinson, E. 12, 225-248 (passim) Diderot, D. 16, 19, 27 Dietrich, M. 252 Donadini, U. 173 Donizetti, G. 8, 78, 80 f., 83 Dorval, M. 109 f. Drabble, M. 235 Duhamel, G. 159 Dumas, A. 267 Dumas, A. (père) 9, 107 ff., 113 f., 116, 125, 128 Dürrenmatt, F. 286 Dürrschmidt, A. 298 Düsing, W. 8, 87 Einstein, A. 186, 194, 196, 198 Elisabeth I. 249 Enghaus, C. 92 Euler, L. 160 Ferretti, I. 82 Foscolo, U. 18 Foucault, M. 298 Foucquet, N. 32 Freytag, G. 7 Funès, L. de 13, 263-282 (passim) Gall, A. 10 Gard, R. M. du 159 Gardner, D. 12, 228, 230 f., 236, 243, 245 Gauß, J. C. F. 196 Gems, P. 13, 252 f. Genet, J. 213 Gengembre, G. 125 Gentileschi, A. 253 Giacometti, P. 8, 78, 82 Gierek, E. 206 Gilbert, N.-J. 16, 54, 56, 266 Gilbert, S. M. 243 f. Gjalski, K. S. 10, 173, 174 Glaspell, S. 12, 226, 228, 233, 235 f., 242 Glavinic, T. 283 f. Goethe, J. W. 8, 15-85 (passim), 89 f., 93-95, 99, 107, 284-286 Goetz, G. 14 Goetz, R. 283, 287, 292-296, 298 Goffman, E. 289 Goldoni, C. 8, 15-85 (passim) Gombrowicz, W. 208 Gozzi, C. 33 Grabbe, Ch. D. 290 Grillparzer, F. 8 f., 87-106 (passim), 286 Guarini, G. B. 20, 43 f., 55 f. Gubar, S. 243 f. Guerra, J. 233, 241, 244 Guizot, F. 109 Gutzkow, K. 285 Halpin, K. D. 12, 233 Hampton, C. 13, 252 f. Handke, P. 289 Händler, E.-W. 283 Hare, D. 253 Harris, J. 230 f., 243 Hebbel, F. 92, 101 f. Hegel, G. W. F. 102 f., 284, 298 f. Heinse, W. 17, 20 Helgeson, T. 231 Herbst, A. N. 283 f. Herder, J. G. 100 Hesse, V. 291 Hoffman, E. T. A. 285 Holbein d. J., H. 162 Hölderlin, F. 286, 290 Homer 259 Hugo, V. 107 ff., 122-125, 264 Hugo, V. 9 Huppert, H. 143 Ibsen, H. J. 159, 254 Ingold, F. P. 142, 144 f. Ionesco, E. 213 Iwaszkiewicz, J. 7, 11, 205-224 (passim) Jacobi, J. G. 17 Japp, U. 88, 108 Johst, H. 290,292 Joyce, J. 13, 255, 258, 260 Kaiser, G. 102 Kamov, J. P. 10, 172 Kant, I. 101, 160 Karsunke, Y. 286 Kean, E. 9, 108 f., 113 ff., 125 f., 264, 267 Keaton, B. 275 Khuen-Héderváry, K. 173 Kirchhoff, B. 283 Klopstock, F. G. 103 Kohout. P. 254 Koltès, B.-M. 263 Koons. J. 294 Körner, Ch. G. 99 Kracauer, S. 283 f. Krämer, K. E. 290 Kraus, K. 159, 172 Krauß, Ch. 9, 13 Krleža, M. 10, 153-179 <?page no="305"?> Register 305 Krüger, G. W. 96 Kukol’nik, N. 132 La Fontaine, J. de 32 Langer, G. 140 Laudenbach, P. 298 Leibniz, G. W. 182, 200 Lemaître, F. 109 Lenin, V. I. 13, 255, 261 Leonardo da Vinci 160 Lespinasse, J. de 16 Lessing, G. E. 37 Letterman, D. 249 Ley, K. 8 Lobatschewski, N. I. 196 Loeschke, M. 241, 244 Luce, W. 12, 230-236, 241, 243 f. Lukrez 48 Lynch, J. 12, 234 Maeterlinck, M. 140 Maffei, S. 35 Magnier, C. 274 f. Majakovskij, V. 10, 133, 141-145, 150 f. Makarczyk-Schuster, E. 11 Malachy, T. 121 Mallarmé, S. 268, 274 Mann, H. 252 Mann, Th. 104, 158 f., 252, 286 Manso, J. K. F. 47 Mao Tse-tung 261 Marcuse, H. 284 f., 298 Martelli, L. 33 Mayer, H. 156 Medici, L. de 9, 116, 120 Médicis, A. de 9, 116 Mejerchol’d, V. 136, 141, 150 Metastasio, P. 28, 39, 40, 43, 46 Michelangelo 117 f., 156 Miller, A. 213 Milton, J. 264 Modick, K. 283 Molière 8, 18, 23, 26, 28, 29, 32-34, 36, 51 f., 67, 107, 115, 117, 146, 150 Molinaro, P. 275 Morelli, D. 84 Moreri, L. 47-49 Mörike, E. 285 Moyreau, J. 20 f. Mozart, W. A. 104, 132 Mro ek, S. 213, 220 Müller, E. 91 Müller, J. 88 Müllner, A. 89, 95 Mundt- Espín, C. 13 Musil, R. 155, 175 Musset, A. de 9, 107, 108, 116, 117, 119, 120, 122, 125, 264, 266 Na kowska, Z. 208 Nasi owska, A. 206 f., 222 Nemirovi -Dan enko, V. I. 150 Newton, I. 186 Nickel, G. 13 Nietzsche, F. 155, 277 Nikolaus I. 148 Nota, A. 8, 78 f., 83 Novalis 103, 285 Novarina, V. 13, 263-282 (passim) Nugent, K. 12, 233 Ortheil, H. J. 283 Osborne, J. 250 Ossian 264 Ostermaier, A. 13, 283, 287, 290-292, 298 Ostrovskij, A. 9, 132 Pasternak, B. 131, 141 Penthuis, Emilie Comtesse de 209 Petrarca, F. 54, 56 Piaf, E. 252 Pinon, D. 279 f. Platen, A. von 15, 73 Plato 156 Plautus 46 Pryzybyszewska, S. 252 Pujol, J. 268 Puškin, A. S. 10, 132, 146, 151, 205, 208, 220 Rabelais, F. 268 Raffael (Raphaël) 117 f. Reilly, C. N. 231 Reitz, B. 12 Reno, L. 249 Richter, F. 14, 283, 287, 296, 298 Riemann, B. 196 Rilke, R. M. 155 Rimbaud, A. 252 Ritz, G. 206 Rostand, E. 127 Rosten, N. 12, 236 f. Roth, F. 287 Rousseau, J.-J. 16, 18, 23, 26, 46, 54, 56, 69-73 Ró ewicz, T. 205, 220 Rozovskij, M. 131 Russel, A. H. 192 Sabljak, T. 172 <?page no="306"?> Register 306 Salieri, A. 132 Sand, G. 11, 205-209 Sappho 87-106 (passim) Sarrazac, J.-P. 268 Sarto, A. del 264 Sartre, J.-P. 128, 155, 213, 267 Schahadat, Sch. 133, 136, 141 Schelling, F. W. J. 103 Schiller, F. 8, 91-93, 96 f., 99-101, 103, 105, 183 Schimmelmann, Gräfin v. 100 Schlegel, F. 92, 285 Schleiermacher, F. D. E. 92, 103 Schmidt, H. 249 Schultze, B. 7, 11 Schuster, K. 11 Seneca, L. A. 163 Serassi, P. 18 Shakespeare, W. 109, 114, 116, 119, 249, 258 Shaw, G. B. 208, 250 Škreb, Z. 88 Sohn, C. F. 77 Solschenizyn, A. 261 Spencer, S. 252 Spengler, A. 181 Speroni, S. 56 St Ours, K. 122 Stadelmaier, G. 294 Staël, A. L. G. de 87, 107 Stalin, I. V. 10, 133, 146, 149, 261 Stanislavskij, K. S. 150 Starkey, D. 12, 226, 237-240, 243 f., 246 Stein, P. 286 Steinmetz, J.-L. 265 Stendhal 109 Stoppard, T. 13, 249-262 (passim) Strauss, B. 289 Strindberg, A. 159 Sumarokov, A. 131 f. Szondi, P. 285 Szymanowski, K. 205 Taine, H. A. 163 Tasso, T. 15-85 (passim) Terenz 27, 28, 37, 46 Thomas von Aquin 162 Tieck, L. 7, 285 Tito, J. B. 154 Trediakovskij, V. 132 Tschechov s. echov Tzara, T. 13, 255 Verdi, G. 264 Verduc, J. 21 Vergil 46, 56 Verlaine, P. 252 Verschuer, L. von 270 Vigny, A. de 9, 107, 108-113, 125, 266 Voltaire 35 Vraz, S. 173 Waalkes, O. 249 Wackenroder, W. H. 92 Wadsworth, C. 229 Wallenstein, A. E. W. von 95 Walser, M. 96, 283 Weigel, H. 278 Weiss, P. 286, 289 f. Wesker, A. 250 Whicher, G. F. 229-231, 245 Whitehead, J. H. C. 193 Wiese, B. von 286 Wilde, O. 255 f. Willms, J. 215 Winckelmann, J. J. 92 Winkels, H. 295 Witkiewicz, S. I. (Witkacy) 10, 181-203 (passim), 205, 208, 214, 220 Wolff, C. G. 225, 242 Wordsworth, W. 249 Zainer, J. 31 Zelinsky, B. 7 Zola, E. 266 <?page no="308"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Die Rückkehr zu Wort und Sprache gilt als zentrale Konstituente des Gegenwartstheaters. Zahlreiche avancierte Regisseure wie René Pollesch oder Falk Richter sind zugleich auch ihre eigenen Autoren. Globale Fragen der Polis werden von jungen Autoren erneut thematisiert, wenngleich ein explizit theaterpolitisches Engagement im Übergang zum 21. Jahrhundert fehlt. Der schnelle Zugriffauf aktuell geschriebene dramatische Literatur erscheint somit als Möglichkeit, einen Realitätsbezug zu behaupten, der Theaterkunst ihre gesellschaftspolitische Relevanz sichert. Die in diesem Band versammelten Beiträge widmen sich erstmalig der kulturhistorischen Bedeutung dieser neuen Formen avancierten dramatischen Theaters im interkulturellen Vergleich. Friedemann Kreuder / Sabine Sörgel (Hrsg.) Theater seit den 1990er Jahren Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 39 2008, 291 Seiten €[D] 58,00/ SFr 98,00 ISBN 978-3-7720-8264-1 075508 Auslieferung Juli 2008.in19 19 16.07.2008 13: 20: 16 Uhr
