Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne
1209
2009
978-3-7720-5351-1
978-3-7720-8351-8
A. Francke Verlag
Klaus Müller-Wille
Noch immer findet man Darstellungen Hans Christian Andersens, in denen er als naiver Märchenonkel auftritt, der sich an eine kindliche Zuhörerschar richtet. Dabei gehörte er zu den Autoren, die sich früh und intensiv mit den vielfältigen Aspekten der Moderne auseinandergesetzt haben. Vor allem aber formulierte er den Anspruch, diesen Innovationen mit einer modernen Schreibweise auch ästhetisch gerecht zu werden. Die Beiträge dieses Bandes versuchen den innovativen Charakter seiner Texte vor allem an den Brüchen und Ungleichzeitigkeiten aufzudecken, die illustrieren, dass Andersen trotz seiner Aufmerksamkeit für Phänomene der Moderne keinem einfachen Fortschritts denken verfällt.
A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL BEITRÄGE ZUR NORDISCHEN PHILOLOGIE 46 Klaus Müller-Wille (Hrsg.) Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne Beiträge zur Nordischen Philologie Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien Redaktion: Oskar Bandle †, Jürg Glauser, Silvia Müller, Klaus Müller-Wille, Hans-Peter Naumann, Barbara Sabel, Thomas Seiler Beirat: Michael Barnes, François-Xavier Dillmann, Stefanie Gropper, Annegret Heitmann, Andreas G. Lombnæs Band 46 · 2009 A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL Klaus Müller-Wille (Hrsg.) Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Klaus Müller-Wille Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 1661-2086 ISBN 978-3-7720-8351-8 Titelbild: Ausschnitt aus Christine Stampes Billedbog (1859), das Hans Christian Andersen zusammen mit Adolph Drewsen angefertigt hat (vgl. Abb. 5 der Einleitung). Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Kunstmuseums Silkeborg. Inhaltsverzeichnis Vorwort und Dank ...................................................................................................................... VII K LAUS M ÜLLER -W ILLE , Z ÜRICH Hans Christian Andersen und die vielen 19. Jahrhunderte - Eine Einführung ........................................................................................................................... 1 I. nach H.C. Andersen V ERENA S TÖSSINGER , B ASEL Schuhe, Störche und ein Dank ................................................................................................... 21 G ISELA P ERLET , R OSTOCK Des Kaisers alte Kleider ............................................................................................................... 26 II. Polyperspektive - Zeichnung, Fotografie und andere Medien L ASSE H ORNE K JÆLDGAARD , K OPENHAGEN Emanzipation der Bilder. Das optisch Unbewusste in Hans Christian Andersens Skyggen ............................................ 33 A NNEGRET H EITMANN , M ÜNCHEN Flache Fremde. H.C. Andersens Wahrnehmung der Fremde in Bild und Text ........................................... 52 III. Multiplizität von Zeit und Gedächtnis F REDERIKE F ELCHT , M ANNHEIM Im Uhrwerk der Macht. Oldefa’er und die Geschichten der Globalisierung ................................................................ 77 T HOMAS S EILER , Z ÜRICH »Aber ich habe die Erinnerung, die kann mir keiner nehmen«. Figurationen der Erinnerung in H.C. Andersens Dingmärchen ........................................ 95 IV. Vielfalt der Dinge und Waren E LISABETH B RONFEN , Z ÜRICH Pop Nacht. Andersens Spaziergang in einer Sylvesternacht (1829) ............................... 117 K LAUS M ÜLLER -W ILLE , Z ÜRICH Hans Christian Andersen und die Dinge ............................................................................... 132 V. Polymorphe Körper K LAUS M ÜLLER -W ILLE , Z ÜRICH »Allt gaaer i Bøtten«. Zur Poetologie von Schmerz und Schreiben in Tante Tandpine ...................................... 161 D AG H EEDE , O DENSE Busenfreunde und Frauenleichen oder Der dänische Krieg um Hans Christian Andersens Sexualität .......................................... 179 VI. Plurale Ästhetik J ACOB B ØGGILD , Å RHUS Genre- und Stimmenvielfalt in den Erzählungen von Hans Christian Andersen ........ 199 J OACHIM G RAGE , F REIBURG IM B RSG . Zukunftspoesie - Zukunftsmusik. Hans Christian Andersen und Richard Wagner .................................................................. 215 Namens- und Titelregister ........................................................................................................ 231 Vorwort und Dank Etwa die Hälfte der Beiträge dieses Bandes gehen auf eine Tagung zurück, die von der Abteilung für Nordische Philologie an der Universität Zürich in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien (SGSS) sowie dem Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) organisiert wurde und die anlässlich des 200-jährigen Geburtstags Andersens im Mai 2005 stattfand. Nicht alle der damals gehaltenen Vorträge haben in diese Anthologie Eingang gefunden, da der Band eine deutlichere thematische Einheit bilden sollte. So wurden gezielt weitere Beiträger zum Themenfeld »Andersen und die Moderne« angefragt, was zum Teil zur verzögerten Publikation dieses Bandes geführt hat. Da meine Zürcher Antrittsvorlesung über »Hans Christian Andersen und die Dinge«, die ich im März 2009 gehalten habe, noch stark von den Ergebnissen der Andersen-Tagung geprägt war, habe ich mir erlaubt, sie ebenfalls in diesem Kontext zu publizieren. Ich möchte mich bei den beiden Mitorganisatoren der Tagung - Prof. Dr. Jürg Glauser und Dr. Christine Holliger - für die Zusammenarbeit und für Inspiration bei der Vorbereitung der Veranstaltung bedanken. Weiterhin geht ein Dank an alle Beiträger, die zum Entstehen dieses Bandes beigetragen und geduldig auf dessen Erscheinen gewartet haben. Ebenfalls danken möchte ich Miriam Bertschi und Cristina Frey, die mich bei der Einrichtung des Manuskriptes sowie den anfallenden Korrektur- und Übersetzungsarbeiten tatkräftig unterstützt haben. Schliesslich danke ich der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW), die mit ihrer großzügigen Unterstützung maßgeblich zur Finanzierung dieses Buches beigetragen hat. Klaus Müller-Wille Zürich, September 2009 Hans Christian Andersen und die vielen 19. Jahrhunderte - Eine Einführung K LAUS M ÜLLER -W ILLE , Z ÜRICH 1. Andersen und die große Erzählung der Moderne Dank zahlreicher Bibliografien, 1 mehreren Forschungsüberblicken, 2 der eigenen Zeitschrift Anderseniana, vier internationalen Andersen-Konferenzen 3 und einem eigenen Forschungszentrum 4 gehört die Andersen-Forschung sicherlich zu den lebendigsten und am besten dokumentierten Forschungsfeldern in der Neueren Skandinavistik. Dennoch oder vielleicht gerade aufgrund der Vielfältigkeit der Publikationsforen bleibt die Forschungslandschaft extrem unübersichtlich. So ist es durchaus bezeichnend, dass der Fülle an Sammelbänden und Themennummern von Zeitschriften, die anlässlich des Jubiläumsjahrs 2005 erschienen sind, 5 nur wenige, 1 Die Andersen-Forschung wird seit Jahren kompetent von Aage Jørgensen bibliografiert. Seine Bibliografien erscheinen in Buch- und Heftform sowie in der Zeitschrift Anderseniana. Vgl. stellvertretend Aage Jørgensen: H.C. Andersen-litteraturen 1995-2006. Odense 2007. 2 Stellvertretend seien hier aktuellere Studien erwähnt: Poul Houe: Hans Christian Andersen’s Andersen and the Andersen of Others. On Recent Andersen Literature. In: Orbis Litterarum 61: 1 (2006), S. 53-80; Niels Ingwersen: Andersen after 2005: Will It Ever End? On Four Recent Volumes on the Tales of Hans Christian Andersen. In: Scandinavian studies 2007: 4, S. 489-510. 3 Die Vorträge der ersten vier internationalen Andersen-Konferenzen, die den Themen »Andersen and the World« (Odense 1991), »Hans Christian Andersen. A Poet in Time« (Odense 1996), »H.C. Andersen. Old Problems and New Readings« (Snowbird, Utah, USA 2000) und »Hans Christian Andersen between children’s literature and adult literature« (Odense 2005) gewidmet waren, liegen inzwischen publiziert vor. 4 Informationen zum »Andersen-Centret« der Syddansk universitet in Odense sowie weitere nützliche Informationen rund um das Werk des Autors finden sich auf: www.andersen.sdu.dk (August 2009). 5 Der folgende kursorische und thematisch fokussierte Forschungsüberblick stützt sich auf die Sammelbände von Carsten Bach-Nielsen, Doris Ottesen (Hg.): Andersen og gud. Teologiske læsninger i H.C. Andersen forfatterskab. Frederiksberg 2005; Svenja Blume, Sebastian Kürschner (Hg.): Hans Christian Andersen zum 200. Geburtstag: »Mein Leben ist ein schönes Märchen, so reich und glücklich«. Hamburg 2005; Per Krogh Hansen, Marianne Wolff Lundholt (Hg.): When We Get to the End ... Towards a Narratology of the Fairy Tales of Hans Christian Andersen. Odense 2005; Aage Jørgensen, Henk van der Liet (Hg.): H.C. Andersen. Modernitet og modernisme. Essays i anledning af Annelies van Hees’ asked fra Amsterdams Universitet. Amsterdam 2006; Elisabeth Oxfeldt (Hg.): H.C. Andersen - eventyr, kunst og modernitet. Bergen 2006; Marc Auchet (Hg.): (Re)lire Andersen. Modernité de l’œuvre. Paris 2007. Darüber hinaus wurden die Andersen-Themennummern von Fabula 46: 1/ 2 (2005), Orbis Litterarum 60: 6 (2005) sowie Scandinavica 46: 2 (2007) eingesehen. Klaus Müller-Wille, Zürich 2 um nicht zu sagen, so gut wie gar keine Monografien zu den Schriften des Autors gegenüberstehen, die über rein biografische Darstellungen hinausgehen. 6 Wenn man dennoch versuchen will, so etwas wie einen Trend in der jüngeren Andersen-Forschung (und das heißt in diesem Fall nicht mehr als die Forschung der letzten fünf Jahre) zu definieren, dann stößt man zwangsläufig auf den Begriff der Moderne. Gleich drei der in den letzten Jahren erschienenen Sammelbände verweisen mit (Unter)Titeln wie »Modernité de l’oeuvre«, »eventyr, kunst og modernitet«, »modernitet og modernisme« auf eine Epoche, die man bis in die 1990er Jahre kaum mit Andersen verknüpft hätte. 7 Dessen Märchen wurden im Gegenteil lange Zeit als Paradebeispiel für die süßlich-harmonisierende Tendenz der Biedermeier-Literatur Dänemarks angesehen. Auch wenn Gerhard Schwarzenberger schon 1962 einen ersten Aufsatz zum Thema »Andersen og det nye« (»Andersen und das Neue«) veröffentlicht, 8 zeichnet sich der eigentliche Paradigmenwechsel in der Forschung erst Ende der 1980er Jahre ab, als Heike Depenbrook und Heinrich Detering eine ganze Reihe von Aufsätzen zum Thema ›Andersen und die Moderne‹ veröffentlichen. 9 Während sich ihre Beobachtungen vor allem auf Andersens subtile Wahrnehmung von Industrialisierungsprozessen und seine Reflexionen über die radikalen Veränderungen im Verkehrswesen (insbesondere die Eisenbahn) abstützen, 10 6 Die wichtigsten dänischen Monografien, die sich mit den Texten (und eben nicht mit dem Leben) Andersens beschäftigen, erscheinen vor 2005. Dabei kann Johan de Mylius seine grundlegende Arbeit zur Ästhetik der Märchen sogar noch mit der überaus überraschenden Bemerkung einleiten, dass das Standardwerk zur Schreibweise der Märchen noch aus dem Jahr 1927 stammt. Auch wenn seit Poul V. Rubows Klassiker H.C. Andersens Eventyr. Forhistorien. Idé og Form. Sprog og Stil (Kopenhagen 1927) eine ganze Reihe von Monografien zu Andersens Märchen erschienen sind, werden diese zum überwältigenden Teil von psychoanalytischen Betrachtungsweisen dominiert, die nicht unbedingt auf die Machart der Texte Bezug nehmen. Vgl. den wirklich erstaunlich kurzen Forschungsüberblick in Johan de Mylius: Forvandlingens pris. H.C. Andersen og hans eventyr. Kopenhagen 2 2005, S. 9-17. 7 Vgl. die in Anm. 5 genannten Titel. Inwiefern sich dieser Blickwinkel inzwischen tatsächlich etabliert hat, lässt sich auch an einem jüngeren dänischen Schulbuch illustrieren. Vgl. Ivy Möller-Christensen: H.C. Andersen. Tradition og modernitet. Århus 2005. 8 Vgl. Gerhart Schwarzenberger: Den ældre H.C. Andersen og ›det nye‹. In: Danske Studier 1962, S. 33-34. Den Hinweis auf Schwarzenbergers Aufsatz verdanke ich Lasse Horne Kjældgaard. 9 Vgl. Heike Depenbrock und Heinrich Detering: Die Sprache der Dampfmaschine. H.C. Andersens ›Et Stykke Perlesnor‹. In: Norrøna 8 (1988), S. 6-16; Heike Depenbrock und Heinrich Detering: Der Tod der Dryade und die Geburt der Neuen Muse. In: Kurt Braunmüller und Mogens Brøndsted (Hg.): Deutsch-nordische Begegnungen. 9. Arbeitstagung der Skandinavisten des deutschen Sprachgebiets 1989 in Svendborg. Odense 1991, S. 366-90; Heike Depenbrock und Heinrich Detering: Poesie und industrielles Zeitalter in I Sverrig. In: Johan de Mylius (Hg.): Andersen og verden. Indlæg fra den første internationale H.C. Andersen-konference. 25.-31. August 1991. Odense 1993, S. 31-51. 10 Weitere Belege für Andersens intensive Auseinandersetzung mit dem Prozess der fortschreitenden Industrialisierung bieten Wolfgang Behschnitt: ›Der fliegende Kampfdrache‹. H.C. Andersen und die moderne Technik. In: Blume, Kürschner (Hg.): »Mein Leben ist ein schönes Märchen« (Anm. 5) S. 173-188; und Torben Hviid Nielsen: ›Den Andersen und die vielen 19. Jahrhunderte 3 wurde Andersen in der Folge als literarischer Pionier entdeckt, der sich schon sehr früh mit den einschneidenden medialen (vor allem Fotografie, Mikroskopie und Telegrafie) 11 und gesellschaftlichen Veränderungen (insbesondere den Frühformen der Globalisierung) 12 auseinandersetzt, die das 20. Jahrhundert prägen werden (zu den entsprechenden Forschungsnachweisen s.u.). Andersens Interesse an technischen Erfindungen und naturwissenschaftlichen Beobachtungen lässt sich auch den Bilderbüchern entnehmen, die er ab den 1850er Jahren für Kinder aus seinem Bekanntenkreis herstellt (vgl. Abb. 1). 13 Entscheidend ist dabei, dass Andersen die technischen und gesellschaftlichen Umwälzungen seiner Zeit in seinen Texten nicht nur thematisiert, sondern dass er auch nachdrücklich über die Notwenigkeit ästhetischer Innovationen reflektiert, mit denen die Kunst auf die Veränderungen zu reagieren habe. 14 Annelies von Hees hat sich ausgehend von diesen poetologischen Reflexionen Andersens darum bemüht, die modernen Züge seiner Prosa aus einem ästhetischen Blickwinkel zu analysieren. Dabei macht sie auf den anti-mimetischen, selbstreferentiellen Charakter vieler Märchen aufmerksam, die gleichermaßen vom Sprach- und Schriftbewusstsein des Autoren zeugen, der sich - und dies ist für van Hees’ Analyse entscheidend - in menneskelige Kløgt‹ og ›de stærke Natur-Aander‹. H.C. Andersen om den eventyrlige teknologi. In: Oxfeldt (Hg.): H.C. Andersen (Anm. 5) S. 115-143. 11 Zu Andersen theoretischer Beschäftigung mit der Fotografie vgl. Thomas Fechner-Smarsly: Elektrifiziertes Schauen oder: Von der Beleuchtung zur Belichtung. Hans Christian Andersens Märchen Dryaden. In: skandinavistik 26 (1996), S. 83-101; und Ders.: Der Spiegel und seine Schatten. Abdrücke der frühen Photographie in Texten von Aa.O. Vinje, Henrik Ibsen und H.C. Andersen. In: Annegret Heitmann, Joachim Schiedermair (Hg): Zwischen Text und Bild. Zur Funktionalisierung von Bildern in Texten und Kontexten. Freiburg im Brsg. 2000, S. 21-42. Zur eingehenden Beschäftigung mit der Telegrafie vgl. Hviid Nielsen: ›Den menneskelige Kløgt‹ (Anm. 10). 12 Das Interesse an der Globalisierung kommt nicht nur in den Texten zum Ausdruck, in denen sich Andersen kritisch mit den orientalistischen und imperialistischen Phantasmen seiner Zeitgenossen auseinandersetzt, sondern auch in Märchen wie Dryaden (1868; Die Dryade) und Den store Søslange (1871; Die große Seeschlange), die der medialen und ökonomischen Vernetzung der Welt nachgehen. 13 Die Abbildung 1 zeigt eine Collage aus Jonas Drewsens Billedbog (1862), das Andersen zusammen mit Adolph Drewsen angefertigt hat. Das Buch ist Teil der Jean Hersholt Collection, die an der Library of Congress in Washington aufbewahrt wird. Photo mit freundlicher Genehmigung der Rare Books and Special Collections Division of the Library of Congress. 14 Vgl. dazu Depenbrock und Detering: Der Tod der Dryade (Anm. 9); Heinrich Detering: ›Zukunftspoesie‹. Zu Andersens poetologischen Schriften. In: Annegret Heitmann, Karin Hoff (Hg.): Ästhetik der skandinavischen Moderne. Bernhard Glienke zum Gedenken Beiträge zur Skandinavistik 14). Frankfurt a.M. 1998, S. 17-34; Heinrich Detering: The Phoenix Principle. Some Remarks on H.C. Andersen’s Poetological Writings. In: Johan de Mylius u.a. (Hg.): Hans Christian Andersen. A Poet in Time. Papers from the Second International Hans Christian Andersen Conference. 29 July to 2 August 1996. Odense 1999, S. 51-65; sowie zwei jüngere Aufsätze von Johan de Mylius und Aage Jørgensen, die weitere Belegstellen im Werk Andersens aufführen - Johan de Mylius: En lysbærer for tider og slægter. En skitsering af H.C. Andersens poetologi. In: Jørgensen, van der Liet (Hg.): H.C. Andersen. Modernitet og modernism (Anm. 5) S. 21-40; Aage Jørgensen: H.C. Andersen mellem rodfæstethed og modernitet, med særlig henblik på eventyret ›Dryaden‹. In: Ebd. S. 67-84. Klaus Müller-Wille, Zürich 4 seinen Texten darüber hinaus daran macht, übergreifende Sinnkonstruktionen von Wahrheit, Schönheit und Moral zumindest in Frage zu stellen. 15 Abb. 1 Im Folgenden möchte ich versuchen, das (wenn man so will) ›moderne‹ Bewusstsein Andersens zunächst noch aus einem weiteren Blickwinkel - nämlich seiner umfangreichen Collageproduktion - zu beleuchten. Dabei soll allerdings deutlich auf die Ungleichzeitigkeiten aufmerksam gemacht werden, die zeigen, dass Andersen (wenn überhaupt) einer vielfältigen, in sich gebrochenen Moderne zuge- 15 Vgl. die wirklich lesenswerte Analyse von Suppe paa en Pølsepind (1858; Suppe aus einem Wurstspeiler) in Annelies van Hees: En modern fortælling. In: Aage Jørgensen, Henk van der Liet (Hg.): H.C. Andersen. Modernitet og modernism (Anm. 5) S. 9-21. Wer sich für die Modernität von Andersens Erzählverfahren interessiert, sei auf die schöne Anthologie von Per Krogh Hansen und Marianne Wolff Lundholt verwiesen, die narratologische Studien zu den Märchen versammelt. Vgl. Hansen, Wolff Lundholt (Hg.): When We Get to the End ... (Anm. 5). Andersen und die vielen 19. Jahrhunderte 5 schrieben werden kann, die sich in kein lineares Fortschrittsparadigma, auch nicht das Paradigma eines ästhetischen Fortschritts fügt. 2. Collagen der vielen 19. Jahrhunderte H.C. Andersens umfangreiche Collagen entstehen in der Zeit zwischen 1850 und 1874. Überliefert sind sechzehn (bislang bekannte) Bilderbücher, die er für Kinder befreundeter Familien anfertigte, sowie ein vierflügeliger beidseitig gestalteter Ofenschirm. 16 Ausgang der Bilderbuchproduktion bilden collagierte Bücher für Rigmor (1852), Astrid (1853), Christine (1859) und Jonas (1862) Drewsen, die Andersen zusammen mit Adolph Drewsen, dem Großvater der Kinder, gestaltet. 17 Parallel dazu entstehen fünf Hefte für Agnete Lind, die Andersen im Verlauf der 1850er Jahren anfertigt. 18 Zusammen mit Mathilde Ørsted kreiert er weitere Bücher für Hans Christian (1869) und Viggo Ørsted (1869). 19 Schließlich beendet Andersen seine Bilderbuchproduktion in seinen letzten Lebensjahren mit zwei Arbeiten für Kinder aus dem jüdisch-bürgerlichen Milieu Kopenhagens, mit dem er in den 1870er Jahren intensiven Umgang pflegte: Marie Henrique und Charlotte Melchior. 20 In einer jüngst erschienen Kopenhagener Dissertation geht Torben Jelsbak dem Begriff der Collage nach. Dabei kommt er am Rande auch auf H.C. Andersen zu sprechen. Im Bemühen, dessen Papierprodukte von den Collagen der Avantgarde abzugrenzen, macht Jelsbak völlig zu Recht auf die fundamental anderen institutionellen Rahmungen aufmerksam. Während Andersens Bilderbücher in einem 16 Grundlegend (aber leider nicht weitreichend) zu Andersens Bildkunst und Collagen vgl. Kjeld Heltoft: H.C. Andersens billedkunst. Kopenhagen 1969. 17 Die Jahreszahlen geben das Entstehungsdatum der Bücher und nicht den Geburtstag der Kinder an. Christine und Astrid Stampes Bilderbücher, die heute im Silkeborgs Kunstmuseum sowie im H.C. Andersen Hus (Odense) aufbewahrt werden, sind in kommentierten Faksimileausgaben publiziert worden. Vgl. Christines billedbog [samlet af] H.C. Andersen og morfar Adolph Drewsen. Hg. von Erik Dal. Kopenhagen 1984; Astrid Stampes billedbog samlet af H.C. Andersen og Adolph Drewsen. Hg. von Karsten Eskildsen. Kopenhagen 2003. Beide Bilderbücher sind inklusive der Kommentare als elektronische Faksimileausgaben auch über die Königliche Bibliothek (Kopenhagen) - www.kb.dk/ da/ kb/ nb/ ha/ web_udstil/ hca.html (August 2009) - und das Andersens Hus (Odense) - museum.odense.dk/ e-museet/ hc-andersen-samlinger.aspx (August 2009) - zugänglich. Jonas Stampes Bilderbuch wird als Teil der Jean Hersholt Collections in der Library of Congress, Washington, aufbewahrt. Auch dieses Buch ist in einer vorzüglichen elektronischen Faksimileausgabe einsehbar: www.loc.gov/ rr/ rarebook/ coll/ 114.html (August 2009). 18 Auszüge aus den Bilderbüchern Agnete Linds finden sich in Heltoft: H.C. Andersens billedkunst (Anm. 16) sowie auf einer dänischen Andersen-Präsentation: www.hcandersenhomepage.dk/ billedboeger.htm (August 2009). 19 Hans Christian Ørsteds Bilderbuch, das in der Königlichen Bibliothek Kopenhagens aufbewahrt wird, ist als elektronische Faksimileausgabe über die Andersen-Seite der Königlichen Bibliothek Kopenhagen zugänglich (vgl. Anm. 17). 20 Charlotte Melchiors Bilderbuch, das im H.C. Andersen Hus aufbewahrt wird, ist als elektronische Faksimileausgabe über die Andersen-Seite der Odense bys museer zugänglich (vgl. Anm. 17). Klaus Müller-Wille, Zürich 6 familiären Rahmen zirkulierten und keineswegs als Kunstprodukte ausgestellt wurden, fertigen Picasso und seine Nachfolger Collagen für (oder gegen) den Museumsbetrieb an. Trotz dieser Differenzierung räumt Jelsbak ein, dass es erstaunlich sei, »in welchem hohem Grad Andersens Collagen - als Materialien betrachtet - in ihrer Wahl von Textquellen, typografischen Wortfragmenten von Büchern und anderen Druckmedien an Picasso und Braque erinnern«. 21 Abb. 2 Dieser Behauptung ist etwa mit Blick auf eine Collage aus den Bilderbüchern für Agnete Lind zuzustimmen, in der Andersen nicht nur verschieden farbiges Papier, sondern auch Textfragmente aus verschiedenen prominenten Vorlagen von Thomas Kingo, Ludvig Holberg, Bernhard Severin Ingemann und Christian Winther 21 Torben Jelsbak: Avantgardefilologi og tektsttransmission. Den historiske avantgardelitteratur som udfodring til moderne filologi og litteraturforskning. [phd-avhandling. Universität Kopenhagen 2008; Manuskript], S. 198. Übersetzung aus dem Dänischen stammen hier und im Folgendem von mir, KMW. Es ist wirklich erstaunlich, dass Andersens Collagen in der Kunstgeschichte noch immer übergangen werden. So findet sich etwa in Brandon Taylors jüngst erschienener und gut dokumentierter Geschichte der Collage nicht ein einziger Hinweis auf den Dänen. Vgl. Brandon Taylor: Collage. The Making of Modern Art. London 2006. Andersen und die vielen 19. Jahrhunderte 7 aufeinander prallen lässt, wobei die Schriftstücke mit aller Deutlichkeit als typografisch und materiell interessante Materialien in Szene gesetzt werden (vgl. Abb. 2 und 3). 22 Abb. 3 Auch zwei Collagen aus Christines Bilderbuch erinnern aufgrund der Dynamik, mit der die Zeitungsausschnitte hier arrangiert werden, unwillkürlich an die Stadtcollagen bekannter Dada-Vertreter wie Hannah Höch oder Roul Hausmann (Abb. 4 und 5). 23 Immerhin lässt sich auch die Randbemerkung zu einem der Blätter, die Andersen handschriftlich auf die gegenüberliegende Seite schreibt, als Kommentar zu den massiven politischen Verwerfungen des Zeitalters lesen: 22 Abbildung 2 zeigt ein Blatt aus Astrid Stampes Billedbog (1853), das Andersen zusammen mit Adolph Drewsen angefertigt hat (Handschrift von Drewsen). Abbildung 3 zeigt ein Blatt aus den Bilderbücher für Agnete Lind (Handschrift Andersen). Beide Abbildung sind mir freundlicher Weise vom H.C. Andersens Hus, Odense, zur Verfügung gestellt worden (ein besonderer Dank geht an Ane Grum-Schwensen). Copyright: H.C. Andersen Hus, Odense Bys Museer. 23 Abbildungen 4 und 5 zeigen zwei Blätter aus Christine Stampes Billedbog (1859), das Andersen zusammen mit Adolph Drewsen angefertigt hat (mit freundlicher Genehmigung des Kunstmuseums Silkeborg). Klaus Müller-Wille, Zürich 8 Her seer Du Cometen, den har stødt paa, Derved har den misted sin lange Hale, Saa Alting er væltet, kun to seer Du staae Paa Torvet og der om Ulykken tale, Een sidder paa Taget og skriver det op Men Posten skynder sig hurtigst fra Byen. Selv Ræven er bange for Skind og for Krop, Han seer mod Cometen, der øverst bag Skyen, Det er en Forstyrrelse - Alt er smidt om, - Det var før Christine til Verden kom! Hier siehst du den Kometen, er ist aufgeschlagen, Dadurch hat er seinen langen Schweif verloren, So dass Alles umgestürzt ist, nur zwei siehst Du stehen Auf dem Marktplatz und dort über das Unglück reden, Einer sitzt auf dem Dach und schreibt es auf Aber die Post eilt schnellstens aus der Stadt. Selbst der Fuchs ängstigt sich um Leib und Pelz, Er sieht zum Kometen, dort oben hinter den Wolken, Es ist eine Absonderlichkeit - Alles ist umgeschmissen, - Das war, bevor Christine auf die Welt kam! Abb. 4 Zunächst ist interessant, dass sich die Bilderbücher offensichtlich ähnlich wie die Märchen gleichermaßen an Erwachsene wie an Kinder richten. Die Doppeladres- Andersen und die vielen 19. Jahrhunderte 9 sierung kommt bei dieser Collage nicht nur in den indirekt angesprochenen politischen Unruhen der Zeit zum Ausdruck, die durch die im Bild zusammengefügten Szenen einer Volksjustiz in New York, dem Bankett mit Redner und der auf dem Boden platzierten Krone unterstrichen werden, sondern vor allem auch durch zahlreiche selbstreflexive Elemente, die im Gedicht eigens betont werden. In den Collagen finden sich häufig Abbildungen von Schreibern, schreibenden Händen (Abb. 5) oder Schreibwerkzeugen. 24 Abb. 5 Diese Hinweise auf den Schreibakt scheinen in den Collagen völlig unterschiedliche Funktionen zu erfüllen. Zum einen regen sie dazu an, die zusammengefügten Zeitungsfragmente aus einer übergeordneten Perspektive zu beobachten. Wie im oben zitierten Gedicht wird die Aufmerksamkeit der Leser auf die Beobachtungs- und Kommunikationsinstanzen (die Post) verwiesen, welche die Ereignisse nehmen, in ein Medium bannen und transferieren. Zum anderen verdeutlichen 24 Auf entsprechende selbstreferentielle Züge und deren weitreichende schrifttheoretische Implikationen in den Märchen Andersens haben Marc Auchet, Annelies van Hees und Marianne Stecher-Hansen aufmerksam gemacht. Vgl. van Hees: En modern fortælling (Anm. 15); Marc Auchet: Andersen et le conflit des écritures. Essai sur la métanarrativité dans le Contes et histoires. In: Ders. (Hg.): (Re)lire Andersen (Anm. 5), S. 81-102; Marianne Stecher-Hansen: Romantic and Modern Metatexts: Commemorating Andersen and the Self- Referential Text. In: Johan de Mylius u.a. (Hg.): Hans Christian Andersen. Between Children’s Literature and Adult Literature. Papers from the Fourth International Hans Christian Andersen Conference. 1 to 5 August 2005. Odense 2007, S. 88-100. Klaus Müller-Wille, Zürich 10 die Schreiber und schreibenden Hände die mediale Differenz zwischen Handschrift und den über neue technische Verfahren massenhaften reproduzierbaren Zeitungsblättern - Eine Differenz, die sich wiederum in den Collagen selbst wiederfindet, in denen Andersen und Drewsen häufig verschiedene Typografien und handschriftliche Notizen aufeinanderprallen lassen (vgl. Abb. 2 und 3). Deutlich wird so auf einen einschneidenden Medienwandel - hier konkret die neuen Druckverfahren der bunten Zeitungspresse 25 - verwiesen, der die Konditionen des Schreibens in vielerlei Hinsicht verändert. Überspitzt formuliert könnte man behaupten, dass Andersen mit seinen Collagen tatsächlich Verfahren späterer Avantgardisten vorwegnimmt. Denn mit den Collagen wird nicht zuletzt der Status des Kunstwerkes im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und das heißt auch im Zeitalter der Warenästhetik offengelegt. Nicht von ungefähr stehen Warenannoncen, lange Auszüge aus Modeseiten und Abbildungen von Krämerläden in den Bilderbüchern neben Illustrationen von allerlei technischen Innovationen, insbesondere medientechnischen Erfindungen wie dem Telegrafenkabel, welches die im letzten Zitat angesprochene gute alte Postkutsche in der Mitte des 19. Jahrhunderts schon längst ersetzt hat. 26 Zwei Abbildungen aus dem in dieser Hinsicht besonders anspruchsvollen Bilderbuch für den kleinen Hans Christian Ørsted mögen die weitreichenden Implikationen von Andersens Medienreflexion illustrieren: Das eine Blatt zeigt eine »sehr schöne Boutique« mit einem ganzen Warentisch, unter dem ein Paar Schreibfedern abgebildet sind: »Og her er to Penne at du kan skrive/ Hvor store dine Regninger blive.« (Abb. 6). 27 Geht es in diesem Blatt um die veränderten ökonomischen Implikationen der Schriftstellertätigkeit, so geht die mediale Selbstreflexion bei der folgenden Abbildung mit einer Beobachtung von Globalisierungseffekten einher: »Hen over de vilde Stepper bærer Telegraphtraaden/ Navnet Hans Christian Ørsted. Det var min Faerfaer tør lille/ Hans Christian sige« (Abb. 7). 28 Für alle drei angesprochenen Themenbereiche, die mit der Medienreflexion verbunden werden, finden sich zahlreiche Belege in den Bilderbüchern. Die Collagen bilden in ihrer Materialität nicht nur die wichtigen drucktechnischen Innovationen des 19. Jahrhunderts ab, sondern zitieren den (informations)technischen Fortschrittsglauben, 25 Zu den konkreten drucktechnischen Innovationen, welche die massenhafte (Re)Produktion der von Andersen verwendeten bunten Zeitungsblätter überhaupt erst ermöglichte, vgl. Erik Dal: Om Christines billedbog. In: Christines billedbog (Anm. 17) S. 7f. und S. 257-267. 26 Ausführlich zu Andersens Beschäftigung mit der Telegrafie - insbesondere dem Märchen Den store Søslange - vgl. Hviid Nielsen: ›Den menneskelige Kløgt‹ (Anm. 10). 27 »Und hier sind zwei Federn, so dass du schreiben kannst, wie hoch deine Rechnungen werden.« Abbildung 6 zeigt ein Blatt aus Hans Christian Ørsteds Billedbog. Photo: Königliche Biblothek Kopenhagen. Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Königlichen Bibliothek. Ein Dank für die Beschaffung des Faksimiles geht an Bruno Svindborg. 28 »Und über die wilde Steppe trägt der Telegrafendraht den Namen Hans Christian Ørsted. Das war mein Großvater, wagt der kleine Hans Christian zu sagen.« Abbildung 7 zeigt ein Blatt aus Hans Christian Ørsteds Billedbog. Photo: Königliche Biblothek Kopenhagen. Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Königlichen Bibliothek. Ein Dank für die Beschaffung des Faksimiles geht an Bruno Svindborg. Andersen und die vielen 19. Jahrhunderte 11 den Warenkult sowie die imperialistischen und orientalistischen Phantasmen, 29 die das Zeitungswesen in der Mitte des 19. Jahrhunderts prägen. Abb. 6 Aufgrund meiner bisherigen Beschreibung von Andersens Bilderbüchern könnte der Eindruck entstehen, dass diese durch und durch von der Beschäftigung des Autors mit den ›Musen des neuen Zeitalters‹ geprägt seien. Dieser Eindruck stellt eine bewusste Verzerrung des Materials dar. Im Gegenteil zeichnen sich die Bilderbücher - wie die Märchen und andere Texte Andersens auch - durch eine stilistische und thematische Vielfalt aus. Liebliche Genreszenen und pittoreske Volksdarstellungen stehen neben exotischen Stadt- und Landansichten sowie einer Menge von Tier- und Pflanzenabbildungen. Bissige Karikaturen und groteske Körperphantasien stehen neben einer kitschig anmutenden Ornamentik. Andersen scheint sich also 29 Inwieweit die Beobachtung von Globalisierungsphänomenen bei Andersen mit einem kritischen Interesse für orientalistische Phantasmen und den entsprechenden Figuren des Anderen verbunden ist, zeigen eine ganze Reihe von Studien, die sich insbesondere um sein Drama Mulatten (1840; Der Mulatte) drehen. Vgl. Karin Hoff: Inszenierung des Anderen. Andersens Drama Mulatten (Der Mulatte). In: skandinavistik 35: 2 (2005), S. 117-129. Joachim Schiedermair: Xenophobie als Originalität. Die Dialektik von Eigenem und Fremden in H.C. Andersens ›Mulatten‹. In: Der Norden im Ausland - das Ausland im Norden. Formung und Transformation von Konzepten und Bildern des Anderen vom Mittelalter bis heute. Wien 2006, S. 572-581; Bjarne Thorup Thomsen: The Orient According to Hans Christian Andersen. Conceptions of the East in ›En Digters Bazar‹. In: Ebd. S. 675-683; Kirsten Wechsel: Von Bildung und anderen Gütern. Kopplungen zwischen Ökonomie, (Selbst)Bildung und Theater am Beispiel von H.C. Andersens Drama ›Mulatten‹. In: Christiane Berz, Wolfgang Behschnitt (Hg.): Bildung und Anderes. Alterität in Bildungsdiskursen in den skandinavischen Literaturen. Würzburg 2006, S. 89-110. Klaus Müller-Wille, Zürich 12 weniger für den modernen Fortschritt an sich als für die gewaltsame Heterogenität seines Zeitalters beziehungsweise für die gewaltsame Heterogenität der vielen 19. Jahrhunderte zu interessieren, die am Besten im bunten Einerlei der Pressebilder zum Ausdruck kommt. Zweifelsohne stellt gerade die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen, die sich sehr deutlich in den Darstellungen der Bilderbücher niederschlägt, den Ausgangspunkt für Andersens Interesse an dieser »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« dar. 30 Abb. 7 3. Vielstimmigkeit der Moderne (zu den Beiträgen) Die Beiträge dieses Bandes kreisen um just diese »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«. Zwar nehmen sie ihren Ausgang in Andersens Beschäftigung mit Modernitätsphänomenen - seien es die Krise von Blick und Bild (Abschnitt II), von Zeit und Gedächtnis (Abschnitt III), die Revolution der Dingrelationen (Abschnitt IV), 30 »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« verweist auf den Titel einer von Sabine Schneider und Heinz Brüggemann organisierten Tagung, die im März 2009 an der Universität Zürich durchgeführt wurde und die den »Formen und Funktionen von ästhetischer Pluralität in der ästhetischen Moderne« gewidmet war (der Band zu dieser Tagung erscheint nächstes Jahr). Wie gut sich Texte Andersens aus einer solchen Forschungsperspektive entfalten lassen können, zeigen unter anderem jüngere Studien von Jacob Bøggild, Aage Jørgensen und Heinrich Detering auf, die Andersen ambivalentes und durch und durch widersprüchliches Verhältnis zu Moderne und Fortschrittsglauben entfalten. Vgl. Jacob Bøggild: Ruinous Reflections. On H.C. Andersen’s Ambiguous Position Between Romanticism and Modernism. In: Steven P. Sondrup (Hg.): H.C. Andersen. Old Problems and New Readings. Odense 2004, S. 75-96; Jørgensen: H.C. Andersen mellem rodfæstethed og modernitet (Anm. 14); Heinrich Detering: Blümchen des Bösen. H.C. Andersen, Baudelaire und das Poème-en-prose. In: skandinavistik 35: 2 (2005), S. 101-116. Andersen und die vielen 19. Jahrhunderte 13 das veränderte Verhältnis zur Körperlichkeit (Abschnitt V) oder die Krise ästhetischer Normen (Abschnitt VI) -, doch sie versuchen dabei, den ambivalenten und widersprüchlichen Reaktionen Andersens auf diese unterschiedlichen Krisen gerecht zu werden. Es ist vielleicht nicht überraschend, dass sich gleich zwei Beiträge mit Fragen der Visualität in den Texten Andersen beschäftigen. Andersens Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Text und Bild nimmt einen relativ großen Raum in der jüngeren Andersen-Forschung ein. 31 In seinem Beitrag gelingt es Lasse Horne Kjældgaard nachzuweisen, wie eng Andersens Interesse an Prozessen des Sehens und der bildnerischen Gestaltung an die Auseinandersetzung mit der Fotografie geknüpft ist. Durch eine subtile semiotische Lektüre von Skyggen (1847; Der Schatten) macht er darauf aufmerksam, dass sich Andersen nicht nur eingehend mit den weitreichenden Effekten dieses neuen Mediums beschäftigte, sondern inwiefern er auch den Auswirkungen der Fotografie auf die zeitgenössische Imagination nachgeht und die entsprechenden Wunsch- und Wahnvorstellungen des Publikums thematisiert. Im Gegensatz zu Kjældgaard stützt sich Annegret Heitmanns Analyse nicht allein auf die Texte Andersens, sondern auch auf dessen Zeichnungen. Anhand dieses Materials belegt Heitmann zunächst Andersens Bemühen um eine Überwindung etablierter Sehweisen. Die Modernität der Zeichnungen, die etwa im Spiel mit überraschenden Perspektiven zum Ausdruck kommt, dient ihr schließlich als Ausgangspunkt, um über die Inszenierung des Sehens in Andersens Reiseberichten zu reflektieren. Der eigentlich überraschende Befund ihres Aufsatzes besteht dabei in der Beobachtung, dass das Experimentieren mit neuartigen Sehweisen in den Italienbeschreibungen des Autors viel ausgeprägter ist als in seinen orientalischen Reiseschilderungen. Auch Frederike Felcht nimmt Andersens Beschäftigung mit anderen Welten zum Anlass einer kritischen Reflexion der ungebrochenen (ästhetischen) Fortschrittsperspektive, die man dem Autor bisweilen unterstellt hat. Ausgangspunkt ihrer Reflexion bildet eine textnahe Analyse von Andersens Märchen Oldefa’er (1872; Urgroßvater). Dabei zeigt sie sehr genau auf, inwiefern Andersen das Thema globaler Wirtschafts- und Kommunikationsströme zum Anlass nimmt, um über die oben erwähnte »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« zu reflektieren. Entgegen der anfänglichen Erwartungen liefert das Märchen keine Illustration der großen Erzählung der Moderne, sondern lässt sich im Gegenteil auf die Reflexion der Beobachter- und Erzählerpositionen ein, an die eine solche Erzählung geknüpft ist. Auch Thomas Seiler lässt sich in seiner Studie zu den Dingmärchen Andersens auf dessen kritische Auseinandersetzung mit dem linearen Zeitkonzept der Geschichts- 31 In diesem Zusammenhang ist sicherlich zuerst die Monografie von Jørgen Bonde Jensen zu erwähnen, welcher die Schreibweise des Autors aus einem interartiellen Blickwinkel zu beleuchten versucht. Vgl. Jørgen Bonde Jensen: H.C. Andersen og genrebilledet. Kopenhagen 1993. Eine konzise und kritische Zusammenfassung weiterer Forschungstitel zu den visuellen Strategien Andersens bietet Annette Fryd: Verden som billedkunst, billedkunsten som verden. Om ord og bilder i H.C. Andersens Skyggebilleder og Improvsatoren. In: Oxfeldt (Hg.): H.C. Andersen (Anm. 5), S. 145-164. Klaus Müller-Wille, Zürich 14 schreibung ein. Dabei weist er nach, wie eng Andersens Interesse für die Dinge mit gedächtnistheoretischen Überlegungen verknüpft ist, die das Gedächtnis im Gegensatz zur Historie nicht an erinnernde Rekonstruktionen binden, sondern an die augenblickliche Verschränkung unterschiedlicher Zeithorizonte, die an konkreten, präsenten Gegenständen erfahrbar wird. Auch Elisabeth Bronfen setzt sich mit Andersens komplexer Dingtheorie auseinander. Dabei wählt sie eine bewusst anachronistische Perspektive, um das Pop-Potential von Andersens Erstlingsroman Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829 (1829; Fußreise von Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829) zu entfalten. Diese anachronistische Perspektive hilft paradoxerweise, den Roman genauer historisch zu verorten. Denn während die Fußreise früher häufiger mit der romantischen Ironie in Verbindung gebracht wurde, zeigt Bronfens Lektüre, inwieweit sich Andersen mit der konsequenten Warenästhetik des Romans von den Vorlagen des frühen 19. Jahrhunderts entfernt. Im Anschluss an diese Überlegung habe ich im folgenden Artikel versucht zu zeigen, wie genau sich Andersen in seinen Dingmärchen auf eine Phänomenologie der Ware einlässt. Das heißt, ich bemühe mich nachzuweisen, wie genau er über den veränderten Status der Dinge im Zeitalter ihrer massenhaften Reproduktion reflektiert, wobei sowohl die Frage nach den Auswirkungen der Dinge auf die Begehrensstrukturen der Subjekte wie die Frage nach den poetologischen Konsequenzen dieser Auswirkungen gestreift werden. Im darauffolgenden Kapitel habe ich versucht, am Beispiel des Märchens Tante Tandpine (1872; Tante Zahnschmerz) zu zeigen, inwiefern die Reflexionen über den Status der Dinge von Andersen mit körpertheoretischen Überlegungen verschränkt werden. Auch in diesem Märchen geht es um eine Aufhebung von traditionellen Subjekt-Objekt-Relationen. Gerade mit Hilfe der Überlegungen zum komplexen Phänomen des Schmerzes gelingt es Andersen, auf Wechselrelationen zwischen Dingen, Körpern und Subjekten aufmerksam zu machen, die sich nicht mehr in die einfache Dichotomie von körperlicher Natur und technischen Kulturprodukten bannen lassen. Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des produzierten Körpers steht auch im Zentrum von Dag Heedes Artikel, der die Frage nach Andersens Homosexualität nicht noch einmal zu beantworten, sondern aus einem konsequent diskursanalytischen Blickwinkel historisch zu verorten versucht. In seinem Forschungsabriss verdeutlicht der Artikel dabei die weitreichenden Implikationen, die in dem Bemühen der Forschung zum Ausdruck kommen, Andersens Sexualität eindeutig zu definieren. Der Sammelband schließt bewusst mit zwei Artikeln, die die Frage nach der Heterogenität der Moderne aus einem ästhetischen Blickwinkel beleuchten. Ausgehend von genretheoretischen Überlegungen zeigt Jacob Bøggild die Modernität von Andersens Märchen auf, die nicht nur mit den Vorgaben des traditionellen Volksmärchens spielen, sondern dieses Genre gezielt mit anderen Gattungen vermischen. Vor allem aber kann Bøggild aufzeigen, dass sich Andersen in seinen Märchen auf weitreichende gattungstheoretische Reflexionen einlässt, die nicht nur Andersen und die vielen 19. Jahrhunderte 15 das Märchen, sondern auch traditionelle aristotelische Kategorien des Dramas oder Vorgaben der phantastischen Literatur betreffen. Der letzte Beitrag des Bandes setzt sinnigerweise mit einem Aufenthalt Andersens in Zürich ein. Die Begegnung zwischen dem Dichter und Richard Wagner wird von Joachim Grage zum Anlass genommen, um über Andersens langjährige Auseinandersetzung mit Wagners Opern und vor allem über Andersens Auseinandersetzung mit der Kunsttheorie zu reflektieren, die Wagner selbst und seine Zeitgenossen aus der Beschäftigung mit seinen Werken ableiten. Dabei zeigt Grage nicht nur auf, auf welche Weise sich Andersen das Konzept einer Zukunftsmusik poetologisch als Zukunftspoesie zu eigen macht. Vielmehr macht er auf Andersens ambivalente Haltung gegenüber dem Deutschen aufmerksam. Genau dadurch gelingt es ihm schließlich, die Widersprüchlichkeit von Andersens Modernitätskonzept zu entfalten. Ich freue mich sehr, dass die Frage nach der Modernität der Andersenschen Texte in diesem Band nicht nur aus einer wissenschaftlichen Perspektive beleuchtet, sondern anhand von zwei literarisch-essayistischen Texten auch praktisch illustriert wird. Da beide Texte aus der Hand von ausgewiesenen Andersen-Kennerinnen stammen, tragen sie auf spitzfindige Weise zur theoretischen Auseinandersetzung mit seinen Märchen bei und verdeutlichen indirekt, mit welch subtilen erzählerischen Mitteln der vermeintliche Märchenonkel zu arbeiten wusste. Der Essay der Basler Autorin und Skandinavistin Verena Stössinger ist anlässlich einer Andersen- Feier entstanden, die sie am 3. Februar 2006 für das Basler Literaturhaus organisiert hat. Die bekannte Andersen-Übersetzerin und Biografien Gisela Perlet zeigt mit ihrer Fortsetzung von Des Kaisers neue Kleider eine ganz neue und unbekannte Facette ihrer intensiven Beschäftigung mit dem dänischen Autor. Klaus Müller-Wille, Zürich 16 Literatur Primärliteratur Astrid Stampes billedbog samlet af H.C. Andersen og Adolph Drewsen. Hg. von Karsten Eskildsen. Kopenhagen 2003. Christines billedbog [samlet af] H.C. Andersen og morfar Adolph Drewsen. Hg. von Erik Dal. Kopenhagen 1984. Sekundärliteratur: Auchet, Marc: Andersen et le conflit des écritures. Essai sur la métanarrativité dans le Contes et histoires. In: Ders. (Hg.): (Re)lire Andersen, S. 81-102. Auchet, Marc (Hg.): (Re)lire Andersen. Modernité de l’œuvre. Paris 2007. Bach-Nielsen, Carsten und Doris Ottesen (Hg.): Andersen og gud. Teologiske læsninger i H.C. Andersen forfatterskab. Frederiksberg 2005. Behschnitt, Wolfgang: ›Der fliegende Kampfdrache‹. H.C. Andersen und die moderne Technik. In: Svenja Blume, Sebastian Kürschner (Hg.): Hans Christian Andersen zum 200. Geburtstag, S. 173-188. Blume, Svenja und Sebastian Kürschner (Hg.): Hans Christian Andersen zum 200. Geburtstag: »Mein Leben ist ein schönes Märchen, so reich und glücklich«. Hamburg 2005. Bonde Jensen, Jørgen: H.C. Andersen og genrebilledet. Kopenhagen 1993 Bøggild, Jacob: Ruinous Reflections: On H.C. Andersen’s Ambiguous Position Between Romanticism and Modernism. In: Steven P. Sondrup (Hg.): H.C. Andersen. Old Problems and New Readings. Odense 2004, S. 75-96. Depenbrock, Heike und Heinrich Detering: Die Sprache der Dampfmaschine: H.C. sens ›Et Stykke Perlesnor‹. In: Norrøna 8 (1988), S. 6-16. Depenbrock, Heike und Heinrich Detering: Der Tod der Dryade und die Geburt der Neuen Muse. In: Kurt Braunmüller und Mogens Brøndsted (Hg.): Deutsch-nordische Begegnungen. 9. Arbeitstagung der Skandinavisten des deutschen Sprachgebiets 1989 in Svendborg. Odense 1991, S. 366-390. Depenbrock, Heike und Heinrich Detering: Poesie und industrielles Zeitalter in I Sverrig. In: Johan de Mylius (Hg.): Andersen og verden. Indlæg fra den første internationale H.C. Andersen-konference. 25.-31. 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Abdrücke der frühen Photographie in Texten von Aa.O. Vinje, Henrik Ibsen und H.C. Andersen. In: Annegret Heitmann, Joachim Schiedermair (Hg): Zwischen Text und Bild. Zur Funktionalisierung von Bildern in Texten und Kontexten. Freiburg im Brsg. 2000, S. 21-42. Fryd, Annette: Verden som billedkunst, billedkunsten som verden. Om ord og bilder i H.C. Andersens Skyggebilleder og Improvsatoren. In: Oxfeldt, Elisabeth (Hg.): H.C. sen, S. 145-164. Heltoft, Kjeld: H.C. Andersens billedkunst. Kopenhagen 1969. van Hees, Annelies: En modern fortælling. In: Aage Jørgensen, Henk van der Liet (Hg.): H.C. Andersen. Modernitet og modernism, S. 9-21. Houe, Poul: Hans Christian Andersen’s Andersen and the Andersen of Others. On Recent Andersen Literature. In: Orbis Litterarum 61: 1 (2006), S. 53-80. Hviid Nielsen, Torben: ›Den menneskelige Kløgt‹ og ›de stærke Natur-Aander‹. H.C. Andersen om den eventyrlige teknologi. In: Elisabeth Oxfeldt (Hg.): H.C. Andersen, 115-143. 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Andersen, vor denen gehe ich in die Knie. Der Erstling Fußreise von Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829 so ein Text; das Protokoll einer fiktiven Wanderung in der Silvesternacht und der Einblick in das heiße Hirn eines jungen Autors - eines jungen Mannes, heißt der Autor nicht werden, sondern natürlich längst sein will und zwar von zuinnerst bis zu den Sternen hinauf und quer durch die Jahrhunderte; ein überbordender Text, ein fantastischer, vielstimmiger und einer, der sehr kühn ist und ironisch und wahrscheinlich sogar ziemlich modern? Geschrieben jedenfalls vor fast hundertachtzig Jahren und dabei »herrlich wie am ersten Tag«. Und es gibt andererseits Texte von Andersen, die mich ärgern und trotzdem nicht loslassen: gefühlige Miniaturen und gnadenlos konsequente, geradezu rachsüchtige Beweisführungen, wie die Geschichte von den »roten Schuhen«. Die erzählt von Karen, einem »kleinen Mädchen«, das ist »ganz fein und ganz niedlich, aber im Sommer musste es immer mit bloßen Füssen gehen, denn es war arm, und im Winter mit großen Holzschuhen, so dass der kleine Spann ganz rot wurde, und das war sehr schlimm«. Klein und groß, arm und bloß und rot und fein und niedlich: die Koordinaten sind ewig, schon gar für Frauen, und die Adjektive machen mich wild, denn natürlich meinen sie genau das, was sie sagen und sind das Programm, das erzählt wird, denn Andersen ist ja auch ein Meister der Behaftbarkeit: da wird so eifrig und eng gestrickt, dass ich beim Lesen an das Sprichwort denken muss: Gottes Mühlen mahlen langsam, aber furchtbar fein - denn Gott kommt auch oft vor in Andersens Texten, er sitzt Tag ein, Tag aus auf seinem Wolkenbalkon und schaut mit stereoskopischen Augen allen Menschen in die Winkel ihrer Seelen hinein. Aber »das gehört nun wirklich nicht zur Sache«, sagt die Storchenmutter. »Du machst es immer so weitschweifig! Und dabei weißt du doch, dass ich es nicht ertragen kann, wenn ich hingehalten werde...« »Aber das gehört doch schon zur Geschichte«, sagt der Storchenvater, damals hatten die Geschichten nämlich noch eine Herkunft und die, die sie erzählten, waren noch nicht tot; und natürlich ist die Geschichte von Karen auch »beinahe inländisch«, von ihrem Verfasser aus gesehen. Sie spielt in Dänemark, zum Beispiel in einem Dorf »am Wildmoor in Vendsyssel, das liegt im Amtsbezirk Hjørring, Richtung Skagen hinaus in Jütland (wenn wir uns einmal sachkundig ausdrücken wollen).« »Aber die Adjektive kannst du weglassen«, sagt die Storchenmutter: »ich verstehe es auch so.« Verena Stössinger, Basel 22 »Ja, dann wollen wir hören! « Karen also hatte keine Eltern mehr, aber sie war bei einer Pflegemutter untergekommen, bei der sie lesen und nähen lernte, beten und bescheiden sein - wo sie doch am liebsten tanzte. Tanzen sollte sie aber nicht, das galt als eitel, und Freude an den neuen Schuhen sollte sie auch nicht haben, obwohl die aus Glanzleder waren und rot. »Keine Adjektive, hab ich gesagt! «, sagt die Storchenmutter. »Aber das eine muss sein«, sagt der Storchenvater, »das rote, sonst verstehst du von der Geschichte nichts.« Karen trug also ihre roten Schuhe jedes Mal, wenn sie in die Kirche ging, denn der Kirchgang war die einzige Freude, die erlaubt war, und eines Sonntags stand vor der Kirchentür ein Soldat, dessen Bart sogar »sehr rot« war, und bat, ihr die Schuhe abwischen zu dürfen. Er durfte, und während er es tat, schlug er mit der Hand gegen die Sohlen und sagte: »Sitzt fest, wenn ihr tanzt! « Und das taten sie dann auch, die roten Schuhe, denn der Soldat war mächtig - sehr mächtig, wie die Literatursenschaft inzwischen herausgefunden hat: er ist nämlich »eine eindeutige Verkörperung des Teufels. Das eigentlich Böse aber steckt in der Hauptperson Karen, die sich ihrer Natur nicht bewusst ist«, und diese Natur will, dass sie tanzt, die roten Schuhe anhat und sich darüber freut. Und die Natur ist stark und Karen tanzt also und kann nicht aufhören, kann die Schuhe auch nicht mehr ausziehen, denn sie »waren an den Füssen festgewachsen, und sie tanzte und musste über Feld und Wiese tanzen, in Regen und Sonnenschein, bei Nacht und bei Tage; aber nachts war es am gräulichsten«. Und als wieder Sonntag war und sie auf die Kirche zu tanzte, stand ein Engel vor der Kirchentür »mit Flügeln, die ihm von den Schultern bis zur Erde reichten«, und hielt in der Hand ein Schwert - »und das, was dieser Engel zu Karen sagte«, sagt der Storchenvater: »das muss ich wörtlich wiederholen mit allen Adjektiven, so grausam ist es - sonst verstehst du von der Welt auch nichts.« »Aber halt dich kurz«, sagt die Storchenmutter: »Du weißt doch, ich sitze auf den Eiern, und da darf ich mich nicht aufregen.« »Was wahr ist, soll man laut sagen«, sagt der Storchenvater, und zitiert den Engel: »Tanzen sollst du! « hat der zu Karen gesagt, «tanzen in deinen roten Schuhen, bis du bleich und kalt wirst, bis deine Haut zu einem Gerippe zusammenschrumpft! Tanzen sollst du von Tür zu Tür, und wo stolze und hochmütige Kinder wohnen, sollst du anklopfen, so dass sie dich hören und fürchten! Tanzen sollst, tanzen -! « Denn so ist die Gerechtigkeit, weiß Andersen, mit der Gott, der ja Tag ein, Tag aus auf seinem Wolkenbalkon sitzt, die Menschen auf Erden in Schach hält. Und Karen tanzt also immer weiter und ist schon ganz müde und mürbe und kommt schließlich zu dem Haus, wo der Scharfrichter wohnt, und da klopft sie an und bittet ihn, heraus zu kommen und ihr die Füße abzuschlagen. Zack, weg von den Beinen! Damit sie endlich zur Ruhe kommt. Und der Scharfrichter tut, was sie wünscht. Er nimmt sein Beil und schlägt ihr die Beine an den Fesseln entzwei. Die Füße mit den roten Schuhen tanzen auf und davon, Karen dankt dem Scharfrichter und der schnitzt ihr noch Holzfüße und Schuhe, Störche und ein Dank 23 Krücken und lehrt sie einen Psalm. Aber Gnade vor Gott kann er ihr nicht schnitzen, er ist weder Engel noch Teufel, und so geht die Geschichte dann gnadenlos weiter: Karen humpelt herum und bereut längst, dass sie so gerne tanzen wollte, sie weint und fastet jahrelang, ringt die Hände, erhebt die Augen und schleppt sich Sonntag für Sonntag vor die Kirchentür und bittet, endlich wieder eingelassen zu werden und Vergebung zu finden; aber der Engel wacht und ist unerbittlich. Ihre Sünde ist groß und die Gnade wird Karen erst im Augenblick des Todes zuteil, denn Strafe muss sein. »Es gibt verschiedene Deutungen, worin das Böse, das Karens Schicksal bestimmt, tatsächlich besteht« - sagt die Literaturwissenschaft -: »traditionell jedoch wird ihre Gleichgültigkeit Gott gegenüber als das Böse interpretiert. Aus psychologischer Sicht sind ihre roten Tanzschuhe als Symbol für Sexualität gedeutet worden - für das Böse, das zu opfern ist. Der Soldat mit dem roten Bart könnte dabei als eine Art Vaterfigur gesehen werden. Und die Sünde bestünde dann in einer verbotenen sexuellen Verbindung, darauf würde auch das Abhacken der Füße als ein Kastrationssymbol hinweisen«. Ach, sage ich, wie ich da sitze und Andersen hinterher denke. Die Sexualität. Ein Lieblingsthema der Andersen-Forscher. Seine Homosexualität, Bisexualität, Keuschheit und/ oder Verklemmtheit holen sie aus seinen Tinten ans Licht, das lebenslange Sublimieren und Kaschieren, denn speziell in diesem Punkt ist Andersen nämlich überhaupt nicht tot und jedes Kreuzchen in seinem Tagebuch enthüllt ihnen eine tiefere Bedeutung. Aber das macht die Krücken-Karen auch nicht wieder lebendig. »Schön blöd«, sagt da Helga nur. Das heißt, sie ruft es aus dem Wildmoor in Vendsyssel der armen Schwester im Werke zu. »Du hast die Nacht vergessen, meine Liebe! «, ruft sie: »die Nacht und die Macht, die sie gegen den Zauber hat, und käme er direkt vom Himmel! « Helga ist die Tochter vom dänischen Schlammkönig und der ägyptischen Prinzessin, die in seinem Moor versunken ist, als sie die Moorblume holen wollte, die ihren königlichen Vater im Familienpalast in Ägypten wieder gesund machen konnte - und Helga weiß sich zu behaupten. Hat nämlich zwei Gestalten: ist tagsüber ein Frauenkind, wunderschön, aber aggressiv und böse, und nachts eine Kröte, furchtbar hässlich, aber großmütig und sanft. Und in dieser Doppelgestalt kann sie den Fluch brechen, der auf ihr liegt - das heißt: sie narrt ihn und alle, indem sie Körper und Wesen wechselt. Und steht schließlich, nach getaner Arbeit und in erlöster Prinzessinnen-Gestalt, in Ägypten auf dem Dach vom Palast und schaut zufrieden über die Ländereien ihres Großvaters, sieht den jagenden Strauss, die Nachtigall im Tamarindenbusch, den Adler auf der Pyramide und die reich beladenen Kamele, die im Gänsemarsch aus der Wüste kommen, sieht Krokodile und Frösche und Schwäne... Verena Stössinger, Basel 24 »Frösche! « ruft die Storchenmutter, die etwas eingenickt war. »Wo sind Frösche? « »Nirgends«, sagt der Storchenvater, »das heißt, in Ägypten gibt es welche, in meiner Geschichte, aber unterbrich mich doch nicht immer...« »Dann halte du mich nicht zum Narren«, sagt die Storchenmutter beleidigt. »Man muss sich erheben können über die Wirklichkeit«, sagt der Storchenvater, »jedenfalls gelegentlich.« »Und was wird dann aus meinen Eiern? « - Das wissen wir auch nicht, wir überlassen es dem Autor. Aber Helga schaut noch immer über das ägyptische Land. Sie hat ihre Prüfungen bestanden. Sie war ihrem Schicksal nicht ausgeliefert, denn sie hatte zwei verschiedene Naturen, immer abwechslungsweise, aber am allerwichtigsten ist natürlich die Gestalt, in der man zuerst geschaffen wurde. Das weiß schon jedes Tier. Dann macht es nichts, wenn man zum Beispiel in einem Entenhof aufwächst, wenn man zuvor in einem Schwanen-Ei gelegen hat, »aber jetzt hast du wirklich den Faden verloren«, sagt die Storchenmutter zu ihrem Mann. »Dass du es nie einfach und kurz machen kannst, dabei ist die Zeit so kostbar! Ich glaube sogar, es bewegt sich schon etwas unter mir...« »Es geht um Größeres«, sagt der Storchenvater. »Es geht ums Prinzip«, sage ich, oder um das, besser gesagt, was das Erzählen zusammen hält. Bei Andersen zum Beispiel. Etwa darum, dass Helga zwei Naturen hatte, und dass das für sie die Erlösung war. Und dass Karen nur eine haben durfte, entweder die eine, oder die andere: immer gehorchen musste oder immer tanzen, und das brach sie und brachte sie um. Und auch, dass sie sich deswegen so sorgte und quälte - wogegen Helga ein Schönheitsteufel sein konnte und ein Krötenengel außerdem, bedenkenlos extrem, und damit hat sie nicht nur den Zauber überwunden, der auf ihr lag, sondern auch das Heidentum ihrer wikingischen Pflegeeltern überwand sie, und das Christentum des frommen Wanderpredigers, der sie zu seinem am Holz angenagelten Gott bekehren wollte, überwand sie gleich mit, und zuletzt konnte sie sogar fliegen: flog in Schwanengestalt vom Vendsysseler Moor bis nach Ägypten und sah dabei Andersens ganze Welt: ganz Dänemark sah sie und Deutschland von Norden nach Süden und die Schweiz dann, Basel, den Jura, den Rhein und Interlaken, den Brünig, Grindelwald und die Mühle von Bex, die eigentlich in Naters steht, wenn man es genau nimmt, und das Schloss Chillon, alles von oben, flog dann über die Alpen und sah Italien, Rom, Neapel und Sizilien und jene heißen Länder, wo die Menschen von der Sonne mahagonibraun geworden sind oder sogar schwarz, und zuletzt landete sie zuhause, punktgenau auf dem Dach vom Palast ihres Großvaters, wo das Glück auf sie wartete und damit das Ende der Geschichte. Es ist die Ehe, die ihr winkt als Preis: das lebenslange Glück an der Seite eines arabischen Prinzen, eines schönen Mannes mit gekräuseltem schwarzem Bart und glutvollen, dunklen Augen - doch leider kommt ihr dann doch noch etwas dazwi- Schuhe, Störche und ein Dank 25 schen (wie anderen Verlobten bei Andersen kurz vor der Hochzeit ja auch). Es ist ihre Sehnsucht nach dem weiten Himmel. Helga sitzt an der Hochzeitstafel, »gekleidet in Seide und Juwelen«, und schaut »hinaus, empor zu den blinkenden, funkelnden Sternen, die vom Himmel herunterleuchteten. Da rasselte es von starken Flügelschlägen« und die Störche kamen angeflogen, direkt aus dem kalten Norden kamen sie, wie jedes Jahr; sie setzten sich auf das Geländer der Veranda und wussten wohl, »was für ein Fest das war. (...) Und als Helga sie sah, stand sie auf und ging hinauf auf die Veranda und zu ihnen hinüber, um ihnen über den Rücken zu streichen.« Und die Störche fühlten sich geehrt und Helga schaut in den Himmel hinauf und wünscht sich in ihn hinein, Gott nickt wahrscheinlich gnädig, denn sie wünscht es sich so sehnlich, dass sie »hinaufgehoben« wird. Doch statt ins Paradies gerät sie in eine Zeitmaschine hinein. Fliegt durch die Jahre und Jahrhunderte und wir fliegen mit, als hätten wir jetzt alle Sankt Peters wunderbare Brille aus der ›Fußreise‹ auf der Nase: wir fliegen und sehen Menschen und Häuser und Länder und wie sie wachsen und wieder vergehen, sehen wilde Schwäne und Seeschlangen, das ganze Dichterland sehen wir und den Entenhof, der gleich daneben liegt, und auf der anderen Seite den Eispalast mit seinen geheimnisvollen Splittern und Scherben; wir sehen Theaterbühnen, auf denen Das Abenteuer meines Lebens gespielt wird, und Kammern, in deren Dachfenstern noch immer die Rosen blühen, sehen Märchenbücherstapel, Kassetten, CDs und Videos, sehen Andersen-Festumzüge und -Bettwäsche, Jubiläumskomitees, Lobredner bei ihrer Arbeit und Leichenfledderer bei der ihren, und dann sehen wir die Störche in den letzten Abend fliegen; sehen die Dryaden, die sich wieder in die Bäume zurückziehen, und eiserne Glocken, unter denen nicht mehr getaucht wird, sondern die Ozeane umgepflügt und abgesaugt werden, bis nichts Lebendiges mehr in ihnen ist, und da wenden wir erschrocken und fliegen zurück und landen in einem Keller, einem helldunklen, stillen Raum, gerade noch rechtzeitig, und auf Stühlen, die hart sind und deutlich aus Holz. Und atmen durch. Es ist Freitag, der 3. Februar 2006, 21 Uhr 20 (oder wie spät es jetzt eben gerade ist). Wir sind wieder da, wo wir waren, und sind doch nicht mehr ganz dieselben: denn konfrontiert zu werden mit Andersens Texten, heißt immer, an eine Grenze geführt zu werden, wo man reagieren muss. Sie sind so unerbittlich konsequent, naiv und durchtrieben zugleich, und man entkommt ihnen nur schwer. Freut sich, ärgert sich und stellt sich dem Modell, zu dem er uns die Welt macht. »Aber mir muss keiner kommen und etwas sagen«, sagt die Storchenmutter. »Ich weiß alles schon von Natur.« »Du hast doch immer das letzte Wort«, sagt der Storchenvater. Nein, ihr Lieben: ich habe es. Und sage: Danke, alter Andersen. Des Kaisers alte Kleider G ISELA P ERLET , R OSTOCK »Aber er hat ja nichts an! « tönte es durch die Straßen. »Er hat wirklich nichts an! « rief das ganze Volk. »Er ist splitterfasernackt! « schrieen die Frauen und zeigten auf ihn mit Fingern. »Und so was will Kaiser sein, gar nichts ist an dem dran! « Womit sie nicht unrecht hatten. Der Kaiser, blauhäutig und vor Kälte schlotternd, versuchte schamhaft seine Blöße zu bedecken. Doch weder Reichsapfel noch Zepter, anderes hatte er nicht zur Hand, reichten dafür aus. Seine Minister und Fahnenträger blieben einer nach dem anderen zurück. Die Kammerherren trugen zwar noch seine unsichtbare Schleppe, doch als ihre Arme schließlich erlahmten, machten sie sich davon in die Seitengassen. Auch dort wurde gelacht und gejohlt und »Er hat ja nichts an! « gerufen, und um nicht als Kaiserdiener erkannt zu werden, schrieen sie aus Leibeskräften mit. Da begann selbst der Thronhimmel bedenklich zu schwanken, als würde auch er von Gelächter geschüttelt. Seine Träger tauschten bedeutsame Blicke aus und blieben alle vier wie auf Kommando stehen. Sie klappten das schwere Gestell mit Fransen und Troddeln zusammen und warfen es, ebenso ihre berüschten Seidenjacken, einfach weg. Dann mischten sie sich hemdsärmlig unter das Volk und verkündeten, sie hätten die Knechtschaft satt. Nun war der Kaiser ganz allein und ging und ging mit gellenden Ohren. Niemand stellte sich ihm in den Weg, niemand wollte ihm nahe kommen, niemand reichte ihm eine wärmende Decke. Die Leute ließen ihn einfach laufen und schickten ihm ihr Gelächter hinterdrein. Jetzt herrschte kein Kaiser mehr, sondern eitel Freude, und jeder sagte, was er sonst kaum zu denken gewagt hatte. Da war eine Ausgelassenheit, ein Gejubel, das sich in einigen Stadtteilen zu Orgien steigerte. Man war so mutig und frei und überaus einig. Nur das Kind, das die später geflügelten Worte zuerst gesagt hatte, verstand von alledem gar nichts. Es war von all dem Geschrei und Gedränge verschreckt, fing zu weinen an und wollte nach Hause. »Hast recht«, sagte sein Vater, den böse Ahnungen befielen, »wir wollen es jedenfalls nicht gewesen sein, wenn es mal wieder anders kommt.« Und so verschwanden sie, was niemandem auffiel. * Auch der Kaiser wollte nichts als nach Hause. Auch er verstand von alledem gar nichts. Er spürte, was Zepter und Reichsapfel wogen, und setzte einen Fuß vor den Des Kaisers alte Kleider 27 andern. Weil der Weg zum Schloss hinauf steil und steinig war, brauchte er dafür eine lange Zeit. So war es kein Wunder, dass ihm die Nachricht von der Wirkung seines Nacktauftritts längst vorausgeeilt war. Aus allen Fenstern hingen Hofbeamte und Diener, neugierig und feixend, als hätten sie ihn noch nie ohne Kleider gesehen. Es war für den Kaiser ein Glück, dass er sich ihre Kommentare nicht anhören musste. Nur eine Gestalt, die allein an einem Fenster des Seitenflügels stand, lachte nicht. Das war die Kaiserin. Obwohl der Kaiser immer nur schöne Kleider im Kopf und seine Frau fast vergessen hatte, gab es sie noch, und sie schäumte vor Wut. »Komm du mir man nach Haus! « schrie sie in einem ortsfremden Dialekt, den man bei Hofe nicht recht verstand. »Dann kannste aber was erleben! « Und dazu schwenkte sie drohend den Besen. Als der Kaiser die Stimme seiner Gemahlin vernahm, fuhr er zusammen und konnte nicht einmal erbleichen. Verzweifelt krümmte er sich, um etwas Unsichtbares zu verbergen. Zu spät, die Augen der Kaiserin waren schneller gewesen. »An dem ist nichts dran! « kreischte sie. »Deshalb waren ihm Kleider so wichtig. Der kann nur kaisern, und sonst kann er gar nichts! « Dann warf sie das Fenster krachend zu. Ohne dass ihm ein Diener half, öffnete der Kaiser das schwere Portal und schleppte sich mühsam die Treppe hinauf. Niemand hieß ihn im Schloss willkommen, niemand stand vor ihm stramm und fragte nach seinen Wünschen. Nicht einmal Schlafrock und Pantoffeln bekam er gereicht. Ihn umgab nur eine drohliche Stille. Und weil ihm nichts anderes einfiel, ging er ins Bett und weinte sich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. * Der nächste Morgen war grau und trübe, wie nächste Morgen eben sind. Die Bewohner der Stadt hatten sich ausgelacht, nicht aber ausgeschlafen, und verspürten wenig Lust, sich den schmerzenden Kopf über einen nackten Kaiser zu zerbrechen. Die Straßen sahen abscheulich aus: überall Aschereste von Freudenfeuern, zerbrochene Flaschen, zerfetzte Fahnen, abgerissene Kaiserbilder und andere übel riechende Überreste. Weil Ordnung nun einmal sein muss, machten sich einige Frühaufsteher ans Aufräumen, fegten Unrat und Scherben zusammen und hängten einige heil gebliebene Kaiserbilder wieder auf. Nicht zu sehen war, dass ein paar Leute immer noch feierten oder über notwendige Reformen berieten, denn die meisten begaben sich an diesem ganz gewöhnlichen Alltag an ihr ganz gewöhnliches Tagewerk. Die leeren Geschäfte öffneten wie immer, die Erwachsenen gingen zur Arbeit, die Kinder gingen zur Schule und stellten sich zum üblichen Fahnenappell auf. Vielleicht klang das Hoch auf den Kaiser ein wenig dünner, einige Problemkinder Gisela Perlet, Rostock 28 zappelten und lachten dabei, doch sie wurden von den Aufsichtskräften schnell zur Ruhe gebracht. Denn nächst der Ordnung tat Ruhe not, damit die Träume der letzten Nacht nicht zu Albträumen oder gar zu Wirklichkeit würden. Vielleicht war dieser Kaiser besser als keiner oder ein anderer, bei dem man nicht wusste, woran man war. Dachte die Mehrheit und wartete ab. * Im Gegensatz zu dem müde-verkaterten Volk war der Kaiser hellwach und munter. Erschöpft von der ungewohnten Bewegung in Kälte und an frischer Luft, befreit von enger Bekleidung und schweren Orden, hatte er so prachtvoll wie lange nicht geschlafen und räkelte sich ausgiebig und zufrieden. Dann aber fiel ihm der Vortag ein, die Prozession, die zur Prozedur geworden war. Man hatte ihn verhöhnt und ausgelacht, wie nie in seinem ganzen Leben. Und alle hatten ihn im Stich gelassen, keiner hatte ihm die Treue gehalten, sein Hofstaat nicht, die Kaiserin nicht und das Volk schon gar nicht. Kein einziger taugte für sein Amt, alle waren sie dümmer als erlaubt. Wie hätten sie seine schönen neuen Kleider da sehen können? Er allein war hier der Kaiser, und also musste er regieren und sie strafen. Er griff zur Glocke und ließ die beiden Minister antreten, die als erste den Stoff auf dem Webstuhl gelobt hatten. »Habt ihr mir ewige Treue geschworen? « fuhr er sie an. »Jawohl, Majestät! « »Habt ihr den Stoff auf dem Webstuhl gesehen? « »Wir taugen für unser Amt, Majestät.« »Habt ihr mich also angelogen? « »Wir haben auf Eure Weisheit vertraut.« »Wo wart ihr, als ich allein durch die Straßen schritt? « »Wir haben nach den Betrügern gesucht, leider erfolglos.« »Es reicht! Ihr habt eure Unfähigkeit bewiesen. Ab in den Kerker! « »Für den Anfang ging das ja vortrefflich«, lobte sich der Kaiser selbst. Als Nächste ließ er die Schleppen- und Thronhimmelträger kommen, warf ihnen Verrat und Majestätsbeleidigung vor und strafte sie auf die gleiche Weise. Das Regieren machte ihm jetzt richtig Spaß. Hatte er sich bisher in den bewundernden Blicken seiner Untertanen gesonnt, so sah er nun in ihren Augen Angst. Und das gefiel ihm viel besser. Am liebsten hätte er immer so weiter gemacht, um sie dann alle hinrichten zu lassen. Da aber fiel ihm rechtzeitig ein, dass er ein paar von ihnen noch brauchte: Soldaten und Büttel und Henker vor allem, natürlich Lakaien, Köche, Schneider und Putzpersonal. Auch ein paar Ratgeber, um ihnen danach die Schuld zu geben. Und Gaukler und Hofnarren, damit man etwas zu lachen hatte. Sogar eine Kaiserin war notwendig, schon wegen der Leute. Des Kaisers alte Kleider 29 Aber sie hatte ihn auch verraten, und Staat war mit ihr ohnehin nicht zu machen. Deshalb musste sie abgestraft und abgeschafft werden. Doch als er sie einbestellte, ließ sie ihm ausrichten, sie habe Migräne, und er könne sie mal, was sie allerdings etwas drastischer ausdrückte. Dass sie ihm schlicht den Gehorsam verweigerte, verdarb ihm die Stimmung. Nach dem nächsten Läuten erschien niemand mehr. Auch alle weiteren Versuche waren vergeblich. »Will sich denn keiner regieren lassen? « rief er laut und bekam keine Antwort. »Ich bin der einzige, der für dieses Amt taugt! « Hätte er nur besser hören als befehlen gelernt, dann hätte er Rascheln und Tuscheln und halblaute Bemerkungen vernommen, gegen die das Gelächter des Volks ein harmloser Spaß gewesen war. So ein Schloss hat viele geheime Gänge und Winkel, die entlassenen Hofschranzen, welche keineswegs im Kerker verschwunden waren, Zuflucht und Verschwörungsmöglichkeiten boten. Sie wollten sich wirklich nicht mehr regieren lassen, nicht von einem, der völlig übergeschnappt war und eine große Gefahr für das ganze Land darstellte. Dass er dumm war und für sein Amt nicht taugte, hatten sie längst erkannt, doch dieser obszöne Auftritt vor allem Volk und nun seine Machtallüren, das brachte das Fass zum Überlaufen. Alle waren sich darin einig, dass ein solcher Kaiser abgesetzt gehörte und es de facto auch schon war. Nur über die Nachfolge war man sich nicht einig, da gingen die Meinungen weit auseinander, und die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber wurde ständig größer. Es fand ein Macht- und Wahlkampf statt, bei dem nicht nur Worte zum Einsatz kamen. Weil aber die Folgen eines zu schnellen Führungswechsels nicht abzusehen waren, einigte man sich erst einmal auf den Beschluss, jeden Schritt des Nicht-mehr- Kaisers zu überwachen, um, falls erforderlich, unverzüglich einzugreifen. * Von alledem ahnte der Kaiser nicht das Geringste. Nicht einmal um die Intrigen bei Hofe hatte er sich gekümmert, schlimmer noch - er hatte sie nicht für möglich gehalten. Er wollte jetzt nur so gern regieren, doch woher sollte er die notwendigen Untertanen nehmen? Plötzlich fiel ihm das Volk ein. Das hatte ihn zwar bitter enttäuscht und seine prächtigen Kleider nicht gesehen, taugte also nicht für sein Amt - doch wäre ein weniger dummes Volk denn besser? Nur wer zu viel denkt, ist gefährlich. Und diese Leute hatten genug zu essen und waren bisher nicht als rebellisch aufgefallen. Vielleicht sollte er seinem alten Volk noch eine letzte Chance geben, auf dass es sich bewähren und seiner Pracht und Herrlichkeit würdig erweisen könnte. Er wollte sich sogar selbst bemühen, den ersten Schritt tun und zu ihm gehen, so wie er war. Da warf er die Decke ab, sprang aus dem Bett, und als er nun in den Spiegel sah, erfüllte ihn der Anblick seines Körpers mit Wohlgefallen: Die Haut war nicht mehr bläulich-käsig, sondern glänzte rosig. Zwar waren seine Schultern etwas Gisela Perlet, Rostock 30 schmal geraten, darunter aber nahm er an Fülle zu, und Bauch und Hinterteil wirkten geradezu imposant-majestätisch. Ja, er glich ganz und gar einer Birne, wie andere berühmte Herrscher auch. Hoch erhobenen Hauptes, geschmückt nur mit der Kaiserkrone, in der einen Hand den Reichsapfel und in der anderen das Zepter, verließ er nun das Schloss und näherte sich mit zierlichen Trippelschritten der Stadt. Dort erinnerte kaum noch etwas an die Ereignisse des Vortags. Der gröbste Unrat war beseitigt, dass ein paar Bilder und Transparente fehlten, fiel nicht weiter auf, auch vorher hatten die Leute sie kaum bemerkt. Dass die Stadt an diesem normalen Werktag menschenleer und ruhig wirkte, war nicht ungewöhnlich, denn niemand war zum Spalierstehen und Fähnchenschwenken an den Straßenrand beordert. Doch so einsam, wie sich nun der enttäuschte Kaiser fühlte, war er nicht. Zum einen schlich ihm, von der Leibgarde angeführt, auf leisen Sohlen sein ganzer Hofstaat nach. Zum anderen war auch die Stadt nicht so unbelebt. Da er nur immer vorwärts, weder nach rechts noch nach links noch hinter sich schaute, sah er die Schatten nicht, die sich hinter Gardinen, Ecken und in zwielichtigen Gassen regten. Und wäre ihm nicht die Krone auf die Ohren gerutscht, hätte er dazu ein mehrstimmiges Gemurmel vernommen. Denn seine Rufe »Wo bist du, mein Volk? Ich liebe dich doch! « verhallten keineswegs ungehört Im Gegenteil, sie lösten sehr unterschiedliche Reaktionen aus. »Der will uns nur vorspielen, er sei unser Kaiser«, meinten einige. »Vielleicht will er uns auf die Probe stellen? « fragten mehrere. »Aber hinter ihm kommt ja der ganze Hofstaat und sogar Militär! « bemerkten alle und fanden das ganz und gar nicht zum Lachen. Da verbreiteten sich Angst und Entsetzen, erste Schreie ertönten, mehrten sich, wurden immer lauter und schriller und drangen schließlich bis zu den Ohren des Kaisers vor. Erstaunt blieb er stehen und hob das Zepter. Für eine Schrecksekunde herrschte Stille. Dann setzte sich eine Stimmenmehrheit durch, und es erklang wie ein Jubelchor: »Gott, wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! « Und weiter, als wäre noch nicht genug gelobt: »Was hat er für eine herrliche Schleppe am Rock! Wie prächtig das sitzt! « Da lächelte der Kaiser seinem Volk, das also doch für dieses Amt taugte, gnädig zu. »Ja, es ist ganz allerliebst! « rief hinter ihm der ganze Hofstaat. »Ja! « und noch einmal »Ja! « »Da kann man ja mal sehn«, sagte die Kaiserin. II. Polyperspektive - Zeichnung, Fotografie und andere Medien Die umseitige Abbildung zeigt Hans Christian Andersens Zeichnung »Venustemplet i Bajæ« (Marts 1834). Mit freundlicher Genehmigung von H.C. Andersens Hus, Odense. Copyright: H.C. Andersens Hus, Odense Bys Museer. Emanzipation der Bilder Das optisch Unbewusste in Hans Christian Andersens Skyggen L ASSE H ORNE K JÆLDGAARD , K OPENHAGEN Eines der Kennzeichen der Moderne ist die Erfindung eines breiten Spektrums von neuen Techniken zur Aufnahme, Reproduktion und Verbreitung von Geräuschen und Bildern sowie die darauffolgende Einführung und Erweiterung von vielen neuen Medien, etwa Fotografie, Fonografie und Telefonie. Walter Benjamins berühmte Bezeichnung für die Epoche als »Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit« referiert auf diesen Prozess, der die Bedingungen zur Herstellung und Rezeption von Kunstwerken unwiderruflich veränderte. 1 Dieser Hypothese folgend hat die Forschung des letzten Jahrzehnts dem Einfluss von Technologie und insbesondere Medientechnologie im Hinblick auf die ästhetische und sprachlich-literarische Entwicklung große Aufmerksamkeit geschenkt. 2 In diesem Artikel möchte ich diesen Ansatz an Hans Christian Andersens kurzer und klassischer Doppelgänger- Geschichte Skyggen (1847; Der Schatten) erproben. In diesem Märchen verliert ein Gelehrter seinen Schatten und wird von ihm verfolgt und umgebracht. Ich werde den Text mit speziellem Fokus auf die visuelle Massenkultur des 19. Jahrhunderts lesen und insbesondere möchte ich die Beziehungen zwischen Skyggen und zwei Medientechnologien untersuchen: zuerst das so genannte ›Schattenspiel an der Wand‹, welches eine prä-kinematische ästhetische Technologie zur Schaffung von bewegten Bildern war und im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert sowohl als öffentliche wie auch als private Unterhaltung ungemein beliebt wurde; und als zweites die Daguerrotypie, eine der ersten Techniken zur fotografischen Reproduktion. Skyggen wurde 1846 geschrieben und im Jahr danach publiziert - ein Jahrzehnt nach der Erfindung der fotografischen Reproduktion, die als Daguerrotypie verbreitet und einem schnell wachsenden Publikum zugänglich gemacht wurde. Hans Christian Andersen war schon seit einem frühen Stadium von diesem aufstrebenden Medium fasziniert; er teilt in einem Brief von 1839 mit, wie begeistert er von Daguerres Erfindung ist, die ihn »sehr beschäftigt«. 3 Aber, wie wir sehen werden, 1 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936]. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt a.M. 1977, S. 7-44. 2 Siehe dazu Sara Danius: The Senses of Modernism. Technology, Perception, and Aesthetics. Ithaca 2002; Tim Armstrong: Modernism, Technology, and the Body. A Cultural Study. Cambridge 1998; sowie Friedrich A. Kittler: Gramophone, Film, Typewriter. Stanford 1999. 3 Hans Christian Andersen in einem Brief vom 2. Februar 1839 an Chr. Høegh-Guldberg. Hier zitiert nach Gerhart Schwarzenberger: Den ældre H.C. Andersen og ›det nye‹. In: Danske Lasse Horne Kjældgaard, Kopenhagen 34 entdeckte Andersen auch schnell einige der dunklen Seiten der Fotografie. Sicherlich, im Text selbst finden sich keine Anspielungen auf irgendwelche dieser Techniken. Dennoch werde ich darzulegen versuchen, dass sie einen wichtigen Kontext darstellen, um Skyggen und dessen spezifischen Anreiz für die zeitgenössische Imagination zu verstehen. Der Bezug auf die Mediengeschichte wird es erlauben, mit Skyggen auf die traumatischen Auswirkungen der neuen visuellen Ökonomie aufmerksam zu machen, die auf der Fotografie gründet. Dieses historische Verständnis von Andersens Skyggen unterscheidet sich von üblichen Lektüren, die den Text psychologisch interpretieren und seine universelle Relevanz betonen. 4 Es gibt eine lange Tradition, die Ablösung des Schattens als psychische Abspaltung zu lesen. Der Protagonist wird entsprechend als eine gespaltene Persönlichkeit angesehen, deren Status und Genese anhand von verschiedenen psychoanalytischen Theorien interpretiert wird. Otto Ranks wegweisende Studie Der Doppelgänger, die zum ersten Mal 1914 in der von Sigmund Freud herausgegebenen ›Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften‹ Imago publiziert wird, war von enormer Bedeutung für diese Linie der Textrezeption. Skyggen wird von Rank kurz analysiert und in die »dichterischen Darstellungen des Doppelgängermotivs« eingeschlossen, die er folgendermaßen charakterisiert: [Sie schildern] den Verfolgunswahn, nicht nur die Freudsche Auffassung von der narzißtischen Disposition zur Paranoia, sondern sie reduzieren auch in einer von den Geisteskranken relativ selten erreichten Anschaulichkeit den Hauptverfolger auf das eigene Ich, die ehemals geliebte Person, gegen die sich nun die Abwehr richtet. 5 Die Verdoppelung des Selbst in Skyggen wurde dementsprechend als ein Psychodrama zwischen einem Mann und seinem dämonischen Double betrachtet. Der Schatten als Externalisierung seines inneren Selbst aufgefasst. Diese Interpretation des Textes wurde in Dänemark vom modernistischen Autor Villy Sørensen weiterentwickelt und aufrechterhalten, der 1954 feststellte, dass die Erzählung »nicht von zwei Personen, sondern von zwei Seiten der gleichen Persönlichkeit handele […] und von der Spaltung in diesem Menschen, sobald sich der Schatten emanzipiere und ein unabhängiges Leben führe«. 6 Dieses psychopathologische Verständnis von Skyggen als einer Geschichte über eine gespaltene Persönlichkeit Studier 1962, S. 33-34. Dieser Artikel bietet eine wertvolle Einführung in Hans Christian Andersens Rezeption der technischen Erfindungen seiner Zeit. 4 Eine Ausnahme stellt ein Artikel Uffe Hansens dar, in dem er auf den spezifischen historischen Kontext zur gespaltenen Persönlichkeit in Der Schatten hinweist. Das Phänomen des Mesmerismus - eine hypnotische Induktion, die mit animalischem Magnetismus einhergehen sollte, - war in einigen Kreisen, in denen Andersen zu dieser Zeit verkehrte, en vogue. Vgl. Uffe Hansen: H.C. Andersens Skyggen i en overset idehistorisk sammenhæng. In: Kritik 165 (2003), S. 63-70. 5 Otto Rank: Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie. Leipzig u.a. 1925, S. 101f. 6 Villy Sørensens Interpretation erschien erstmals als Sonderbeitrag in der dänischen Zeitung Berlingske Tidende vom 12. August 1954. Kürzlich erneut abgedruckt in Villy Sørensen: Sørensen om Andersen. Kopenhagen 2004, hier S. 54. Emanzipation der Bilder 35 war in der dänischen Textrezeption dominant. 7 Innerhalb dieses konzeptuellen Rahmens wurde Skyggen traditionell als eine Untersuchung von einem universellen und zeitlosen Thema gelesen, der Beziehung vom Selbst zum Selbst. Wie erwähnt möchte ich dagegen versuchen, die Erzählung historisch einzubetten. Dabei wird meine Analyse ihren Ausgang in dem eher oberflächlichen Thema der semiotischen Beziehung nehmen, um welche die Geschichte zentriert ist, nämlich der Beziehung zwischen einem Mann und seinem Schatten. Die Spaltung, mit der ich mich beschäftige, ist also eher semiotisch als psychologisch definiert. Die Alternative, die ich vorschlage, ist die Annäherung an das ›optisch Unbewusste‹ der Geschichte, weniger das Unbewusste im gewöhnlichen psychoanalytischen Sinn. Das »Optisch-Unbewusste« gehört zu den Ausdrücken, die Walter Benjamin 1931 in seinem Artikel über die Geschichte der Fotografie und insbesondere über die erhellenden Effekte der frühen Fotografie einführte. Der Begriff sollte auf den Aspekt der visuellen Realität aufmerksam machen, welchen die gewöhnliche Wahrnehmung nicht registriert: So zum Beispiel die unendlich kleinen Schritte der menschlichen Fortbewegung, welche die chronometrische Fotografie plötzlich aufnehmen und dem menschlichen Auge präsentieren konnte. Die Kamera war mit anderen Worten fähig, mehr Dinge zu sehen als das bloße Auge und deshalb schließt Benjamin: »Von diesem Optisch-Unbewussten erfährt er erst durch sie [die Photographie], wie von dem Triebhaft-Unbewussten durch die Psychoanalyse.« 8 In vergleichbarer Weise lässt uns Skyggen einige der kollektiven Ängste und Phantasien entdecken, die von den aufstrebenden Medien stimuliert wurden. Skyggen lässt sich als sehr frühe Antwort auf diese neue Technologie lesen, deren traumatische Auswirkungen das Märchen sehr genau registriert. Meines Erachtens verweist die Emanzipation des Schattens auf eine Erfahrung, die für ein zeitgenössisches Publikum zumindest erkennbar gewesen sein müsste (auch wenn sich dies sicherlich nicht beweisen lassen wird). 7 Gemäß Inger Lise Jensen bot Villy Sørensen »a new conceptual framework for understanding the fairy tale«. Zitiert nach Inger Lise Jensen: Why are there so many Interpretations of H.C. Andersen’s ›The Shadow‹? In: Steven P. Sondrup (Hg.): H.C. Andersen. Old Problems and New Readings. Provo, Utah 2004, S. 292 (eine zweifelhafte Feststellung, denn immerhin lag Sørensens Lesart - wie wir gesehen haben - auf der gleichen Linie wie Otto Ranks psychopathologisches Verständnis des Textes). Eine gute Sammlung von Lektüren zu Skyggen wurde von Finn Barlby herausgegeben. Vgl. Finn Barlby (Hg.): Det Dæmoniske Spejl. Analyser Af H.C. Andersens ›Skyggen‹. Kopenhagen 1998. Der Stellenwert des Märchens in der dänischen Literatur kann nicht nur an der hohen Zahl von Lektüren gemessen werden, sondern auch an der Menge anderer kanonischer Erzählungen, die von Skyggen angeregt oder inspiriert worden sind. Vergleiche etwa Tom Kristensens Novelle Hærværk (1930), Isak Dinesens The Dreamers in Seven Gothic Tales (1934) oder Villy Sørensens Kurzgeschichte Duo in Sære historier (1953). 8 Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie [1931]. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt a.M. 1977, S. 45-63, hier S. 50. Lasse Horne Kjældgaard, Kopenhagen 36 1. Der Gelehrte und der Schatten Doch lassen Sie mich damit beginnen, die Umrisse der Handlung zu skizzieren. Ein junger Gelehrter aus dem Norden hält sich im Süden auf, wo die Sonne sticht und die Hitze unerträglich ist. Den ganzen Tag ist er gezwungen, mit vorgezogenen Gardinen und geschlossenen Türen in seinem Zimmer zu bleiben. Erst nach Sonnenuntergang ist es ihm möglich auszugehen. Er verbringt seine Abende auf dem Balkon, wo das Kerzenlicht aus dem Zimmer hinter ihm seinen Schatten auf den Balkon des gegenüberliegenden Hauses projiziert. Der Mann betrachtet das flackernde Bild seines Schattens an der Wand und ermuntert ihn eines Nachts im Spaß - als ob er mit einem Hund oder einem Kind spräche - ins Haus einzutreten: »Ja saa gaa, men bliv ikke borte! « (EoH I, 413). 9 Nur der Erzähler beobachtet, dass der Schatten dies tatsächlich tut und nicht zurückkehrt; der Gelehrte selbst bemerkt den Verlust erst am nächsten Tag. Als er feststellt, dass sein Schatten verschwunden ist, reagiert er nicht verwundert, sondern verlegen. Besonders großen Kummer bereitet ihm die Tatsache, dass der unglaubliche Vorfall, der ihm passiert ist, schon in einer Geschichte vorweggenommen ist, die jeder in seinem Heimatland kennt. Mit diesem Hinweis ehrt Andersen offensichtlich das Vorbild seines eigenen Schattens, nämlich Adalbert de Chamissos klassische Novelle Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Sie wurde 1814 auf Deutsch publiziert und 1841 ins Dänische übertragen, also sechs Jahre vor Andersens Skyggen. Die Berühmtheit von Chamissos Geschichte macht den armen Protagonisten von Andersens Erzählung nicht nur verlegen: Er ist nicht nur seines Schattens beraubt, sondern läuft auch Gefahr, zu Hause Gebühren für das Imitieren von Schlemihls wundersamer Geschichte bezahlen zu müssen. Und er würde sich schämen, andere zu imitieren, denn das ist schließlich genau das, was von einem Schatten erwartet wird. Fürs Erste ist der unangenehme Zustand aber gelöst, denn nach wenigen Wochen in der Sonne ist dem Gelehrten ein neuer Schatten gewachsen und er kann ohne Weiteres heimkehren. Die Transformation, von der er später betroffen sein wird, wird jedoch durch seine Ängstlichkeit antizipiert. Viele Jahre vergehen, bevor der Vorfall Konsequenzen zeitigt. Zurück in der Heimat bekommt der Gelehrte eines Abends Besuch von einem dünnen Mann, der perfekt gekleidet ist und äußerst vornehm wirkt. Der Besucher erweist sich als sein ehemaliger Schatten, geschniegelt und fähig, sich wie ein Mensch zu benehmen. Tatsächlich wirkt er - dem Kommentar des Erzählers zufolge - wie eine vermögende Person, die viele Zeichen (Token) ihres Reichtums blitzen lässt: »Jo, Skyggen var 9 »Ja, dann geh nur, aber geh mir nicht verloren! « (SM I, 447). Das Originalzitat folgt H.C. Andersens samlede værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Bd. 1-3. Eventyr og Historier I-III. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2003. Hier und im Folgenden zitiert als EoH. Die deutsche Übersetzung folgt Hans Christian Andersen: Sämtliche Märchen in zwei Bänden. Hg. von Erling Nielsen. Übersetzt von Thyra Dorenburg. Darmstadt 1974. Hier und im Folgenden zitiert als SM. Emanzipation der Bilder 37 overordentligt godt klædt paa, og det var just det, som gjorde at den var ganske et Menneske.« 10 (EoH I, 415). Natürlich möchte der Gelehrte wissen, was passiert ist, wie der Schatten zu einem Menschen wurde. Es geschah alles in den warmen Ländern, erklärt der Schatten, in diesem seltsamen Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in welches er eingetreten war. Wochenlang blieb der Schatten im Vorraum und es gelang ihm auch, in das innerste Zimmer des Hauses zu spähen, wo die Poesie wohnte. Das war sein Schlüssel zum vollkommenen Wissen, das dasjenige des Gelehrten bei weitem übertrifft. Dessen Schulgelehrtheit geht nicht über die theoretische Sphäre des Guten, Wahren und Schönen hinaus. Der gewitzte Schatten ringt ihm das Versprechen ab, nicht über seine Vergangenheit als Knecht zu sprechen, was angesichts des hohen Ranges, den der Schatten jetzt innehat, geheim bleiben muss. Wie seinem früheren Meister ist dem Schatten bewusst, was die Leute von ihm denken könnten und er will den Schein deshalb um jeden Preis wahren. Nach dieser Begegnung vergehen nochmals mehrere Jahre, bis der Schatten wieder im Leben des Gelehrten auftaucht und sich vertrauensvoll nach dessen Wohlbefinden erkundigt. Nicht gut, ist die Antwort, denn die Abhandlungen über das Gute, das Wahre und das Schöne haben weder Publikum noch öffentliche Aufmerksamkeit gewonnen. Dem Gelehrten erscheinen seine Anstrengungen überflüssig, sein Leben nutzlos. Der Schatten rät ihm, die Niedergeschlagenheit mit Hilfe einer Reise zu überwinden und bietet sich als Begleiter an: »Vil De reise med, som Skygge? « 11 (EoH I, 417), fragt er und beabsichtigt damit, ihr ursprüngliches Verhältnis umzukehren. Obwohl der Gelehrte diesen Vorschlag reichlich beleidigend findet, geht er darauf ein und begleitet seinen ehemaligen Schatten an einen Kurort und dient ihm jetzt als Ersatzschatten. Dort treffen sie eine Prinzessin, die Geschmack am Schatten und seiner genießerischen Lebensweise findet. Besonders beeindruckt ist sie vom Luxus, einen so weisen Schatten zu besitzen, der zudem noch frei herumlaufen darf. Sie beschließt, ihn zu heiraten. Jetzt, da die Spitze der Gesellschaft für den Schatten in Sicht ist, wird es noch wichtiger, dass der Gelehrte kein Wort über die wahre Natur ihres Verhältnisses verliert. Deshalb beabsichtigt der Schatten, mit dem Gelehrten ein Abkommen zu schließen und bittet ihn, im Austausch gegen eine privilegierte Stellung am Hof wieterhin als sein Schatten zu agieren. Der Gelehrte schlägt das Angebot aus und droht, das Geheimnis auffliegen zu lassen. Mit folgendem moralischen Argument weigert er sich die Rolle anzunehmen, die er für den Schatten spielen soll. ›Nei det er dog altfor galt! ‹ sagde den lærde Mand, ›det vil jeg ikke, det gjør jeg ikke! det er at bedrage hele Landet og Kongedatteren med! Jeg siger Alting! at jeg er Mennesket, og at du er Skyggen, du er bare klædt paa! ‹ (EoH I, 420) 10 »O ja, der Schatten war außerordentlich gut angezogen, und gerade das war es, was ihn so ganz zum Menschen machte.« (SM I, 450). 11 »Wollen Sie mitfahren, als Schatten? « (SM I, 453). Lasse Horne Kjældgaard, Kopenhagen 38 ›Nein, das ist zu toll! ‹ sagte der gelehrte Mann, ›das will ich nicht, das tue ich nicht; das heißt das ganze Land betrügen und die Königstochter dazu! Ich erzähle alles! dass ich ein Mensch bin und dass du der Schatten bist, du hast nur Kleider anbekommen! ‹ (SM I, 458) Der Schatten selbst antwortet mit der Drohung, dass er seinen einstigen Besitzer einsperren und in der Nacht vor der Hochzeit enthaupten werde. Als der Schatten der Prinzessin erzählt, welch absonderliche Idee sein verrückter Schatten ausgebrütet habe und wie er ihn umzubringen gedenke, lobt sie ihn für die Humanität, mit der er der Krankheit seines Dieners begegne und betrachtet es als wohltätiges Werk, ihn töten zu lassen. 2. Perversionen Die Darstellung der Exekution als Gnadenakt ist nur die letzte Perversion einer ganzen Reihe von Perversionen. Es handelt sich um eine alptraumhafte Vision der Welt, in der beinahe alles schief geht und vom richtigen Kurs abgebracht wird. Ja, man könnte von der Perversion als strukturbildendem Muster einer Erzählung sprechen, in der alle sozialen Beziehungen und Hierarchien verdreht werden und in der es der Kopie gelingt, sich als Original auszugeben. Es ist, wie wenn man einen Horrorfilm anschaut, in dem eine gruslige Figur den Helden umbringt und für diese Schandtat noch gelobt wird. Von Beginn weg laufen die Dinge schief, als der gelehrte Mann entdeckt, dass seine Erwartung, sich im Süden draußen aufhalten zu können, ein ›Fehler‹ war. Wegen des südlichen Klimas ist der Tagesrhythmus verschoben, so dass man tagsüber drinnen bleibt und in der Nacht ausgeht. Eine weitere Perversion ist der fröhliche Scherz, der zur Abspaltung des Schattens und damit zum Beginn der Katastrophe führt. Auch die Darstellung der Krankheit der Prinzessin erscheint verdreht, denn sie sieht zu gut. Keine besonders verlässliche Diagnose, wenn man bedenkt, dass sie noch nicht einmal in der Lage ist zu erkennen, dass ihr Verlobter ein Schatten ist. Auf praktisch jeder Ebene des Textes trotzen die Ereignisse den konventionellen Erwartungen und werden verzerrt. All dies steht natürlich mit dem grundsätzlichen Skandal der Geschichte in Verbindung, dem zufolge ein Schatten von seinem zugehörigen Objekt aufbricht, sich wie ein Mensch kleidet und möglicherweise seinen ursprünglichen Referenten zerstört. Es ist natürlich nachlässig, hier von Perversionen zu sprechen, ohne deutlich zu machen, von welchen etablierten Normen sich die Geschichte abhebt. Dies lässt sich deutlicher akzentuieren, wenn man Skyggen in Bezug zur literarischen Tradition setzt, aus der die Geschichte stammt. In seinem bemerkenswerten Werk A Short History of the Shadow hat der Kunsthistoriker Victor Stoichita einen bestimmten Topos der europäischen Literatur beschrieben. Dieser - auf mittelalterlichen Emblemen und Erzählungen aufbauende - Topos schildert ein schuldgeprägtes Psychodrama zwischen einem Mann und seinem Schatten, der Zeuge der Missetaten des Mannes war. Der Schatten fungiert dabei als Verkörperung eines schlechten Emanzipation der Bilder 39 Gewissens. Der Kampf gegen dieses Gewissen bringt den Mann letztlich dazu, Selbstmord zu begehen. Stoichita bezeichnet den Konflikt als »a blueprint that will thrive as part of our European culture. It was predominantly a favourite theme of romantic fiction, which has endured until now«. 12 Genau mit diesem Motiv hat auch Andersen gearbeitet, aber er hat es subtil verdreht, indem er den Schatten zum Zerstörer eines Gelehrten macht, der sich gar nichts zu Schulden hat kommen lassen. Das ›Verbrechen‹, für das der Gelehrte mit seinem Leben bezahlen muss, ist sein Wissen um die peinliche Vergangenheit des Schattens, der sein eigener Untergebener war. Nicht Falschheit, sondern Aufrichtigkeit führt zu seinem Ende. Der Gelehrte »var et meget godt Hjerte, og særdeles mild og vennlig« 13 (EoH I, 418), versichert uns der Erzähler, und sein Verhalten in der Geschichte gibt uns keinen Anlass, daran zu zweifeln. Die in Skyggen geschilderte Grausamkeit wird noch deutlicher, wenn wir die Schuldfrage in Relation zu Chamissos Novelle betrachten, die selbstverständlich der gleichen literarischen Tradition angehört. Auch Peter Schlemihls wundersame Geschichte nimmt ihren Ausgangspunkt in der Schuldlosigkeit des Gelehrten. Chamissos Text handelt vom armen Schlemihl, der auf einem Gartenfest versucht wird, seinen schönen Schatten einem Mann in Grau - dem Teufel persönlich - zu verkaufen. Preis ist ein magischer Beutel, der unerschöpfliche Mengen an Gold hervorbringt. Der Teufel löst Schlemihls Schatten geschickt ab, faltet ihn sorgfältig zusammen, steckt ihn in seine Tasche und nimmt ihn mit. Schlemihls Gewinn ist grenzenlos, kann aber nicht die Stigmatisierung kompensieren, welche die Schattenlosigkeit mit sich führt. Das Leben ohne Schatten wird zu einem regelrechten Fluch für Schlemihl als er sich in ein Mädchen, Mina, verliebt. Ihr kann er das Geheimnis weder verheimlichen noch anvertrauen. Dies führt zu einer Menge von Problemen, aber das Stück nimmt dennoch einen glücklichen Ausgang, weil Schlemihl am Ende von Mina und einem unterwürfigen Diener gerettet wird. Ein Vorwort gibt der ganzen Geschichte zusätzlich einen moralischen Rahmen, in dem die Menschheit davor gewarnt wird, Schatten auf Gartenfesten an fremde Männer zu verkaufen. Schlemihl ist ausdrücklich eine Erzählung mit Moral, während Andersens Skyggen unbestreitbar keine solche ist. Die Einmaligkeit von Andersens Erzählung lässt sich durch einen Vergleich mit Schlemihl genauer konturieren. Das seltsamste Element in Andersens Skyggen - die Trennung von Mann und Schatten - ist eindeutig von Chamisso übernommen. In Schlemihls Fall wird der Schatten zu einem allgemeinen und tragbaren Zeichen. Victor Stoichita hat diese Transaktion wie folgt kommentiert: [The] shadow is the very prototype of the immovable sign. It is undetachable from, coexistent and simultaneous with the object it duplicates. To suggest (and to perform) 12 Victor Stoichita: A Short History of the Shadow. London 1997, S. 140. 13 »[W]ar ein sehr guter Kerl und besonders mild und freundlich«. (SM I, 454). Lasse Horne Kjældgaard, Kopenhagen 40 such an exchange, we must accept that it is ›exchangeable‹ and that it has an exchange value. We must therefore accept its reification. 14 In Andersens Fall funktioniert es anders: Wir haben nicht die Verdinglichung des Schattens zu akzeptieren, sondern die Tatsache, dass der Schatten ein Eigenleben angenommen hat. Die Tätigkeit, die Andersen dem Schatten zuschreibt, bildet die Grundlage für die essentielle Metamorphose der Geschichte: Ein rein physisches Phänomen tritt als soziales wieder auf - als eine Machtstruktur, die umgedreht wird. Die physische Verbindung von Mann und Schatten wird von Chamisso in eine kommerzielle Beziehung und von Andersen weiter in eine soziale - und wirklich reziproke - Relation umgewandelt. In Andersens Geschichte ist der Schatten der Dämon, der Teufel in Menschengestalt. Die Art und Weise, wie Andersens Erzählung Schlemihl und den Teufel in der Figur des Schattens kombiniert, ist wirklich der faszinierendste Aspekt der Verwandlung von Schlemihl wundersame Geschichte zu Skyggen. Dies ist auch der Grund, weshalb der Schatten Anerkennung fordern und dieses Ziel so skrupellos verfolgen kann. Umgekehrt ist der Gelehrte weniger schuldig und wird härter bestraft als Schlemihl. Der Anlass für die Trennung von seinem Schatten ist nicht, dass er ihn für Geld verkauft, sondern dass er die Trennung in einem (harmlosen) Scherz vorschlägt. 3. Semiotik des Schattens Stoichitas Beobachtungen über die semiotische Natur des Schattens führen zum Grundproblem, was ein Schatten überhaupt ist. Meines Erachtens wurde die einfachste Antwort auf diese fundamentale Frage vom Kunsthistoriker Michael Baxandall formuliert: »[a shadow] is in the first instance a local, relative deficiency in the quantity of light meeting a surface«. 15 Dieses relative Absinken der Lichtmenge entsteht, sobald ein solides Objekt gleich welcher Art zwischen eine Lichtquelle und eine Oberfläche tritt. Dieses Verhältnis zwischen Objekt und Zeichen kann wiederum genutzt werden, um semiotisch zu definieren, was ein Schatten ist. Wenn das schattenwerfende Objekt ein Mensch ist, gleicht der Schatten diesem Subjekt und steht notwendigerweise in einer physischen Verbindung zu ihm. 16 Eine solche Beziehung kann mit Charles Sanders Peirce sowohl als ›ikonisch‹ als auch als ›indexikalisch‹ bezeichnet werden. Beim Schatten-Zeichen handelt es sich um ein ›Ikon‹, weil es der Person ähnelt, und es handelt sich um einen ›Index‹, weil die Relation zwischen der Person und dem Schatten-Zeichen auf einer direkten physischen Verbindung beruht: [The index] refers back to its object not so much because it is similar or analogous to it nor because it is associated with the general characteristics that this object happens to 14 Stoichita: A Short History of the Shadow (Anm. 12) S. 170. 15 Michael Baxandall: Shadows and Enlightenment. New Haven 1995, S. 2. 16 Stoichita, A Short History of the Shadow (Anm. 12) S. 15. Emanzipation der Bilder 41 possess, but because it is dynamically (and spatially) connected with both the individual object on the one hand and on the other with the sense or memory of the person to which it serves as a sign of the other. 17 Ich lege hier so großen Wert auf die indexikalische Relation, da es sich um genau diese dynamische und räumliche Verbindung handelt, die in Andersens Geschichte über den Schatten außer Kraft gesetzt ist. Der Skandal der Erzählung ist die Tatsache, dass sich das indexikalische Zeichen von dem dazugehörigen Objekt emanzipiert. Das heißt aber nicht, dass der ikonische Aspekt nicht wichtig wäre. Das ist er keineswegs, denn wenn der Schatten nur zu einem diffusen, amorphen Geisterwesen ohne jede Ähnlichkeit mit einem Menschen geworden wäre, hätte es sich eher um eine lächerliche denn um eine unheimliche Geschichte gehandelt. Aber das Märchen ist unheimlich. Meines Erachtens hängt das Unheimliche mit der spezifischen Art und Weise zusammen, wie sich das Double ablöst, wie die indexikalische Beziehung abreißt. Die Trennung des Schattens vom Gelehrten ist ein special effect, der außerhalb des Glaubhaften steht und zum Bereich des Imaginären gehört: »Aldrig havde jeg troet at Ens gamle Skygge kunde komme igjen som Menneske! « 18 (EoH I, 414), sagt der Gelehrte über die Rückkehr des Schattens und wir können seine Verwunderung leicht nachvollziehen. Dennoch gibt diese Transformation etwas wieder, was dem zeitgenössischen Publikum auf unheimliche Weise vertraut gewesen sein könnte. Ich möchte mich deshalb einen Moment bei dieser Transformation aufhalten. 4. Phantasmagorie Die Szene auf dem südlichen Balkon, auf dem der Gelehrte betrachtet, wie sich sein Schatten an der Wand bewegt, könnte als Schlüsselstelle von Skyggen bezeichnet werden. Folgen wir dem Kommentar des Erzählers, dann ist die Beziehung zwischen dem Gelehrten und dem Schatten zunächst noch intakt: En Aften sad den Fremmede ude paa sin Altan, inde i Stuen bag ved ham brændte Lyset, og saa var det jo ganske naturligt at Skyggen af ham gik over paa Gjenboens Væg. (Eoh I, 412) Eines Abends saß der Fremde draußen auf seinem Balkon, hinter ihm in der Stube brannte Licht, und so war es ja ganz natürlich, dass sein Schatten auf die Wand des gegenüberliegenden Hauses fiel. (SM I, 447), Jørgen Bonde Jensen hat aufgezeigt, dass diese Projektionsszene auf dem Balkon starke Ähnlichkeit mit einer speziellen Form der populären Unterhaltung hat, die 17 Zitiert nach ebd. S. 113. 18 »Nie hätte ich geglaubt, dass der eigene Schatten als Mensch wiederkehren könnte.« (SM I, 450). Lasse Horne Kjældgaard, Kopenhagen 42 von den Zeitgenossen ›Schattenspiel an der Wand‹ genannt wurde. 19 Die Diaschauen vorwegnehmend, wurden diese Spektakel von fahrenden Schaustellern vorgeführt, die transparente, bemalte Folien an eine Mauer oder auf eine aufgehängte Leinwand projizierten. Unter Zuhilfenahme eines einfachen Tricks - »[b]y using a stationary slide as background and a moving one as a foreground« - wurden die Folien seit 1736 so präpariert, dass Bewegungen auf der Leinwand simuliert werden konnten. 20 Die Projektion des Schattens an die gegenüberliegende Wand in Andersens Erzählung ist eine Parallele zu diesen beliebten Spektakeln, welche seit dem späten 18. Jahrhundert modern waren. Es ist erwiesen, dass sich Andersen für diese Art von Unterhaltung interessierte. Schon der Titel der Reiseschilderung Skyggebilleder af en Reise til Harzen, det sachsiske Schweitz etc. etc., i Sommeren 1831 (1831; Schattenbilder von einer Reise zum Haru, der sächsischen Schweiz etc. etc., im Sommer 1831) deutet an, dass er den Ausdruck ›Schattenbilder‹ als Metapher für seine mimetischen Bestrebungen verwendet. Im Prolog erklärt er bescheiden: Vi spænde ingen lagen ud paa Væggen, det gjør saa megen Uleilighed, vi havde de hvide Blade i Bogen, her staae nu Billederne, rigtignok kun med løse Træk, men man husker paa, der er jo ogsaa kun Skyggebilleder af Virkeligheden. 21 Wir spannen kein Laken an der Wand aus, das bereitet so große Umstände, wir haben doch die weißen Blätter im Buch, hier stehen nun die Bilder, sicherlich nur mit losen Strichen, aber man erinnere sich, es handelt sich ja nur um Schattenbilder der Wirklichkeit. (Übersetzung Klaus Müller-Wille) Folglich dienen die Buchseiten aus Papier als Ersatz für die Leinwand an der Mauer. Genauso wie die Leinwand werden sie als Oberflächen angesehen, auf denen Bilder erscheinen, - mit losen Strichen, die der Leser mit Hilfe seiner Phantasie ausfüllen muss. Auch Søren Kierkegaards Pseudonym verwendet das Schattenspiel an der Wand als Metapher für sein literarisches Bestreben. Im Abschnitt Skyggerids (Schattenrisse) des ersten Teils von Enten - Eller (1843) präsentiert der fiktive Verfasser des ersten Teils von Enten - Eller, also der Ästhet A, eine Art literarischer Bilderfolge zum Thema ›die reflektierte Trauer‹. »In wenigen Bildern« werden einige literarische Figuren hervorgerufen, die in Herz und Geist gebrochen sind. Der Ästhet, der diese Bilderfolgen fortlaufend erläuternd kommentiert, erklärt: Jeg kalder dem Skyggerids, deels for strax ved benævnelsen at minde om, at det er fra Livets mørke Side jeg henter dem, deels fordi de ligesom Skyggerids ikke umiddelbart ere synlige. Tager jeg et Skyggerids i Haanden, da faaer jeg intet Indtryk deraf, kan 19 Jørgen Bonde Jensen: Reisekammeraten Versus Skyggen. In: Ders.: Forgyldning Forgår. Guldalderlæsninger. Kopenhagen 1998. 20 Vgl. Charles Joseph Singer und Trevor Illtyd Williams: A History of Technology. Oxford 1954. Bd. 5, S. 736. 21 Zitiert nach H.C. Andersens samlede vaerker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Bd. 14. Rejseskildringer I. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2006, S. 67. Emanzipation der Bilder 43 inden egentlig Forestilling gjøre mig derom, først naar jeg holder de op mod Væggen og nu ikke betragter det umiddebare Billede men det, der viser sig paa Væggen, først da seer jeg det. 22 Ich nenne sie Schattenrisse, teils um mit Hilfe dieser Bezeichnung daran zu erinnern, dass ich sie der dunklen Seite des Lebens entlehne, teils weil sie wie die Schattenrisse nicht unmittelbar sichtbar sind. Nehme ich einen Schattenriss zur Hand, bekomme ich keinen Eindruck davon, kann ich mir keine Vorstellung davon machen, erst wenn ich ihn gegen die Wand halte und nun nicht das unmittelbare Bild sondern das, was sich auf der Wand zeigt, betrachte, erst dann sehe ich es. (Übersetzung KMW) Die aufwendige Erläuterung zur Technologie des Schattenspiels wird vom Ästhet genutzt, um einen imaginativen Prozess zu beschreiben, der Teil seiner psychologischen Untersuchungen ist. Kierkegaards Ästhet kommentiert die Wahl des Titels Skyggerids für seine psychologischen Profile mit dem Hinweis, dass sie von der dunklen Seite des Lebens handeln. Dieser Kommentar spielt nicht nur auf die technische Negativität der transparenten Folien an - die Umkehr von Licht und Schatten auf der Folie -, sondern auch auf den vornehmlich schauerlichen Inhalt dieser Schattenbilder- Spektakel, die sich oft mit der dunklen Seite des Lebens befassten und die Grenzen zwischen Leben und Tod auf die Probe stellten. Dies war insbesondere bei den so genannten phantasmagoria shows - dem öffentlichen Zeigen von übernatürlichen Erscheinungen - der Fall. Der entscheidende Clou dieser Vorführungen bestand darin, dass der Projektor vor dem Publikum verborgen war oder, wie Jonathan Crary erklärt: »Phantasmagoria was a name for a specific type of magic-lantern performance in the 1790s and early 1800s, one that used back projection to keep an audience unaware of the lanterns«. 23 Dies geschah natürlich, um die Illusion der geisterhaften Erscheinungen oder toten Personen zu verstärken, welche der Schausteller anrief und deren Stimmen er imitierte. Da die magische Laterne versteckt war, schienen diese Gestalten aus dem Nichts aufzutauchen. Von den phantasmagoria shows wurde oft als eine Art Schwarzer Kunst gesprochen und selbst der Name der Maschine - laterna magica - weist auf die Verbindung zwischen diesen Vorführungen und der traditionellen Zauberei hin, welche dieses Medium für die populäre Imagination so faszinierend machte. 24 Die spezielle Anziehungskraft der laterna-magica-Spektakel lag an der Fluktuation zwischen rationalen und irrationalen Gesetzen, die im fortlaufenden Wechsel zwischen dem Heraufbeschwören von geisterhaften Wesen und dem Verneinen ihrer Existenz zum Ausdruck kam. In ihrer eingehenden Analyse des Phänomens in The Female Thermometer schreibt Terry Castle: 22 Søren Kierkegaard: Skrifter. Bd. 2. Enten - Eller. Første Del. Hg. von Niels Jørgen Cappelørn u.a. Kopenhagen 1997, S. 170. 23 Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge, Mass 1992, S. 132. 24 Siehe dazu David Robinson: The Lantern Image: Iconography of the Magic Lantern, 1420- 1880. Nutley, East Sussex 1993. Lasse Horne Kjældgaard, Kopenhagen 44 Producers of phantasmagoria often claimed, somewhat disingenuously, that the new entertainment would serve the cause of public enlightenment by exposing the frauds of charlatans and supposed ghost-seers. Ancient superstition would be eradicated when everyone realized that so-called apparitions were in fact only optical illusions. The early magic-lantern shows developed as mock exercises in scientific demystification complete with preliminary lectures on the fallacy of ghost-belief and the various cheats perpetrated by conjurers and necromancers over the centuries. But the pretense of pedagogy quickly gave way when the phantasmagoria itself began, for clever illusionists were careful never to reveal exactly how their own bizarre, sometimes frightening apparitions were produced. Everything was done, quite shamelessly, to intensify the supernatural effect. Plunged in darkness and assailed by unearthly sounds, spectators were subjected to an eerie, estranging, and ultimately baffling spectral parade. The illusion was apparently so convincing that surprised audience members sometimes tried to fend off the moving ›phantoms‹ with their hands or fled the room in terror. Thus even as it supposedly explained apparitions away, the spectral technology of the phantasmagoria mysteriously recreated the emotional aura of the supernatural. 25 Solche bewegliche und bewegende Phantasmen waren zuvor nur der Phantasie zugänglich, aber jetzt konnten sie mit Spannung betrachtet werden, da die Ungläubigkeit momentan durch die Lebendigkeit der sich bewegenden Schatten außer Kraft gesetzt war: »One knew ghosts did not exist, yet one saw them anyway, without knowing precisely how«. 26 Das Schauspiel diente folglich der Belustigung, aber der Effekt hing vom ›was, wenn doch‹ ab, das die Schau begleitete und die Unterhaltung mit dem notwendigen Schrecken würzte. Ich glaube, der ausschlaggebende Punkt in der Handlung von Andersens Skyggen - die Loslösung des Schattens vom Gelehrten - ist der ultimative Horror, mit dem die laterna-magica-Spetakel spielen: Nämlich die Vorstellung, dass die Schatten an der Wand lebendig werden und sich vom gegenständlichen Rahmen der Projektion lösen. Bei der Szene auf dem südlichen Balkon in Skyggen handelt es sich tatsächlich um eine Art Schattenspiel. Das künstliche Licht, die Kerze im Zimmer, befindet sich hinter dem Gelehrten und bleibt deshalb unsichtbar für ihn. In diesem Sinne betrachtet er eine Phantasmagorie an der gegenüberliegenden Wand, wo sich der durchlässige Körper seines Schattens bewegt und plötzlich, durch seine Aufforderung, selbständig bewegt. Die näheren Umstände der Trennung scheinen diese Kontextualisierung zu untermauern, denn die phantasmagoria shows waren ein Spiel mit dem Teufel. Genau auf ein solches Spiel lässt sich auch der Gelehrte ein, indem er den Schatten mit seiner Apostrophe anthropomorphisiert und ihn darüber hinaus einlädt, wegzugehen. 27 Ich nehme mit anderen Worten an, dass die Schattenbilderspiele möglicherweise zu der animistischen und erschreckenden semiotischen 25 Terry Castle: The Female Thermometer. Eighteenth-Century Culture and the Invention of the Uncanny, Ideologies of Desire. New York 1995, S. 143f. 26 Ebd. S. 144. 27 Siehe dazu Jørgen Bonde Jensens neue Anmerkungen über das Schattenspiel des Gelehrten als ein zerstreutes Spiel mit dem Feuer. Vgl. Bonde Jensen: Reisekammeraten Versus Skyggen (Anm. 19) S. 135. Emanzipation der Bilder 45 Phantasie von Andersens Skyggen angeregt haben. Gleichzeitig verweisen die Schattenspiele auf das imaginative Szenario, welches eine wesentliche Grundlage für die Rezeption der Geschichte bietet. Es geht um die Aufregung und die Ängstlichkeit über das bewegte Bild, das - wie der Schatten - selbst Leben annehmen und zu einer autonomen Gefahr werden kann. 5. Die Emanzipation der Bilder Dass sich Andersens Skyggen tatsächlich auf ein derartiges kollektives und historisches Phänomen beruft, lässt sich aus den Variationen des Themas schließen, die man in der dänischen Literatur dieser Periode antrifft. Ich werde versuchen, meine Analyse durch eine Gegenüberstellung mit anderen exemplarisch gewählten Texten (von Heiberg und Kierkegaard) zu untermauern, die ungefähr aus der gleichen Zeit stammen und Andersens Vorstellung des emanzipierten Bildes teilen. Eine ähnliche Vorstellung von einer entfliehenden Imagination findet man in der sehr einflussreichen ästhetischen Schrift Om Malerkunsten i dens Forhold til de andre skjønne Kunster (1838; Über die Malerei in ihrem Verhältnis zu den anderen schönen Künsten) von Johan Ludvig Heiberg. Heiberg war Dramatiker, Hegel- Anhänger und der dominierende Ästhetiker im so genannten Guldalder (goldenen Zeitalter) der dänischen Literatur. Er war ein Kritiker, den Andersen sowohl bewunderte als auch fürchtete und den er eifrig las. Ich möchte einen Auszug zitieren, in dem eine semiotische Loslösung beschrieben wird, die derjenigen in Skyggen auffällig ähnelt. Die angesprochene Passage findet sich in Heibergs Ausführungen zur Porträtmalerei. Diese wird auf hegelianische Weise als ein Vorgang beschrieben, in dem der Maler das ideale Bild des phänomenalen Menschen extrahiert, den er porträtiert. Dabei bedient sich Heiberg in seiner Beschreibung einer zunächst überraschenden christlichen Rhetorik. Der Künstler vollziehe eine Art ästhetische Auferstehung, indem er dem Objekt einen neuen, umgestalteten Körper verleihe, der sozusagen den Platz des phänomenalen einnehme. 28 Die christliche Eschatologie wird hier allerdings konsequent säkularisiert und nicht mehr allein figurativ verwendet. In diesem Sinne lässt sich Heiberg auf eine sehr konkrete Schilderung der Art und Weise ein, wie sich die transfigurierten Bilder von ihren Objekten lösen und frei herumschweben: Thi hvis Skjønheden i Almindelighed er Virkelighedens Billede, der som Yderfladen er befæstet paa den, lader os da et Øieblik tænke os, at alle disse Billeder løsreve sig fra den Virkelighed, hvorpaa de hvile, ligesom Tonerne fra Strængene, og flagrede frit omkring, men uden at forsvinde, saaledes som Tonerne: da vilde Skjønheden jo være befriet fra sin phænomene Tilstand her paa Jorden og befinde sig i Selskab med de 28 Heibergs Schilderung ist eng verknüpft mit der zeitgenössischen Kontroverse, die in der dänischen Intelligentia über die Unsterblichkeit der Seele geführt wurde. In einer früheren Studie habe ich zu zeigen versucht, wie eng ästhetisches Denken und literarische Praktiken im dänischen Guldalder von dieser Debatte geprägt sind. Vgl. Lasse Horne Kjældgaard: Sjælen efter døden. Guldalderens moderne gennembrud. Kopenhagen 2007. Lasse Horne Kjældgaard, Kopenhagen 46 salige Aander. For de menneskelige Individer vilde da Legemets Opstandelse komme til at bestaae i Billedets Befrielse fra det materielle Substrat. 29 Denn, wenn Schönheit im Allgemeinen das Bild der Wirklichkeit ist, die wie die Oberfläche an ihr befestigt ist, dann lass uns einen Augenblick vorstellen, dass sich all diese Bilder von der Wirklichkeit [Virkelighed] losreißen, auf der sie ruhen, wie die Töne von den Saiten, und frei umherschweben, aber ohne wie die Töne zu verschwinden: dann wäre die Schönheit ja wirklich von ihrem phänomenalen Zustand hier auf der Erde befreit und würde sich in Gesellschaft mit den seligen Geistern befinden. Für das menschliche Individuum würde die Auferstehung des Körpers dann in der Befreiung des Bildes von dessen materiellem Substrat bestehen. (Übersetzung KMW) Der starke Idealismus von Heibergs ästhetischer Vision ist an ihrem grundlegenden Gestus gegenüber der Materialität des Signifikanten erkennbar. Die Verankerung der Kunst in der Empirie wird als Skandalon aufgefasst, welches bei den bildenden Künsten natürlich besonders frappierend ist. Heiberg träumte davon, die Bilder von ihrer Materialität zu befreien. Ironischerweise aber scheint seine Vision von den immateriellen Bildern, die wie Schmetterlinge herumfliegen, stark von den ästhetischen Apparaturen seiner Zeit geprägt zu sein, das heißt von den Vorführungen mit der laterna magica, welche tatsächlich in der Lage war, immaterielle Bilder zu produzieren. Heibergs theoretische Vision ist auf bemerkenswerte Weise mit dem semiotischen Alptraum in Skyggen verknüpft, der genau die Emanzipation des Bildes »von seinem materiellen Substrat« behandelt, die im Zentrum von Heibergs positiver Darstellung autonom agierender Bilder steht. Sicherlich möchte ich hier nicht behaupten, dass Heibergs Artikel als direkte Inspirationsquelle für Skyggen gedient hat, obwohl Andersen zweifelsohne gut mit dem Text vertraut war. Ich zitiere den Text lediglich, um zu zeigen, dass es sich bei der Vorstellung der fliehenden Bilder, auf der der plot von Skyggen gründet, keineswegs um eine singuläre Eingebung von Andersen, sondern um einen gängigen Topos in der zeitgenössischen dänischen Literatur und der zeitgenössischen populären Imagination handelt. Dass dies der Fall ist, lässt sich auch an Søren Kierkegaards Enten - Eller belegen. Der zweite Teil dieses 1843 erschienenen Buches beinhaltet ein langes Plädoyer zu Gunsten der »ästhetischen Relevanz der Ehe« (»Ægteskabets æsthetiske Gyldighed«), mit dem sich der ethische Richter Wilhelm gegen die ästhetische Vision der menschlichen Existenz wendet, die sein Freund, der Ästhet A, im ersten Teil von Enten - Eller entfaltet. Ich interessiere mich in diesem Zusammenhang jedoch nicht für die zwei Lebensentwürfe, die Kierkegaard in Enten - Eller skizziert. Vielmehr geht es mir um die Analogien, die der Richter verwendet, um die Lebensweise seines verlorenen Freundes anzuklagen. Insbesondere die Fixierung des Ästheten auf den Augenblick erscheint dem Richter tadelnswert, wobei er sich insbesondere gegen das Konzept einer romantischen Liebe wendet, die ihre 29 Johan Ludivg Heiberg: Om Malerkunsten i dens forhold til de andre skjønne Kunster [urspr. in Perseus. Journal for den speculative Idee 2; 1838]. In: Ders.: Prosaiske skrifter. Bd. 2. Kopenhagen 1861, S. 249-350, hier S. 338. Emanzipation der Bilder 47 Erfüllung in einem kurzen magischen Moment findet. Im Gegensatz zur Flüchtigkeit der romantischen Liebe seien Tugenden und Freuden wie die Ehe in der Lage, ein ganzes Leben lang zu bestehen, zu wachsen und zu reifen. Die Totalität des Ästheten dagegen sei von vorne herein dazu verdammt, sich in einer Fülle interessanter Details - so wie dem erotisch aufgeladenen Blickwechsel mit einem jungen Mädchen in einem Spiegel - zu verlieren, die der Ästhet jedes für sich aufzunehmen und für den späteren Genuss aufzuheben versuche. Diese Lebenspraxis wird vom Richter mit zwei interessanten Metaphern beschrieben, die das Schattenspiel und Chamissos Erzählung von Peter Schlemihl miteinander in Verbindung bringen und darüber hinaus auf die neue fotografische Technik der Daguerrotypie verweisen: »Sligt opbevarer Du saa nøie som en Daguerreotyp og saa hurtigt som denne, da man som bekjendt endog i det sletteste Veir kun bruger ½ Minut«, 30 schreibt der Richter dem Ästheten und zeigt ihm damit, dass er über die neuesten Entwicklungen dieser Technologie genau Bescheid weiß, denn erst wenige Jahre zuvor sind die Belichtungszeiten enorm verkürzt worden. Der kleine Einschub »som bekjendt« verdeutlicht, dass diese Tatsache allgemein bekannt war. Die Freude, die der Ästhet aus dem Beobachten und Erinnern solcher Momente gewinnt, beschreibt der Richter als eine Art Diebstahl: Du derimod, Du lever virkelig af Rov. Du lister dig ubemærket paa Folk, stjæler deres lykkelige Øieblik, deres skjønneste Øieblik fra dem, stikker dette Skyggebillede i Din Lomme, som den lange Mand i Schlemil [sic! ] og tager det frem, naar Du ønsker det. 31 (EE II, S. 20) Du dagegen, du lebst wirklich von Diebstahl. Du schleichst dich unbemerkt an Leute an, stiehlst deren glückliche Augenblicke, deren schönste Augenblicke von ihnen, und steckst dieses Schattenbild in deine Tasche, wie der lange Mann in Schlemihl und nimmst sie dann hervor, wenn Du es wünschst. (Übersetzung KMW) Mit Hilfe dieser rhetorischen Finte - die im unerwarteten Übergang von der Metapher der Daguerrotypie zum Dia des Schattentheaters gipfelt - argumentiert der Richter gegen seinen Freund. Die Analogie, die der Richter zwischen dem Lebensstil des Ästheten und der Geschichte von Peter Schlemihl herstellt, zieht wieder eine wichtige Modifikation der Quelle nach sich. Man erinnere sich, dass es keineswegs eine Schattentheater- Folie ist, die der Teufel in Peter Schlemihls wundersame Geschichte ersteht, zusammenfaltet und in seiner Tasche wegträgt - es ist Schlemihls Schatten. Im Zitat aus Enten - Eller wird der Schatten vom Richter schlicht durch ein Schattenbild ersetzt. Chamissos Erzählung bietet offensichtlich ein narratives Modell, um visuelle Technologien zu erklären und über sie zu phantasieren. Dabei werden die unterschied- 30 »So etwas bewahrst Du genauso genau auf wie eine Daguerreotypie und genauso schnell wie diese, für die man, wie allgemein bekannt, auch bei schlimmstem Wetter nur eine ½ Minute braucht.« (Übersetzung KMW). Das Originalzitat folgt Kierkegaard: Enten - Eller (Anm. 22) S. 17. 31 Ebd. S. 20. Lasse Horne Kjældgaard, Kopenhagen 48 lichen Techniken, die im Diskurs erwähnt werden, vom Richter gleich behandelt. Im Verlauf von wenigen Seiten ist die Daguerrotypie zu einem Schattenbild geworden. Beide Technologien - Schattenspiel und Daguerrotypie - werden zunächst verwendet, um auf die Dauer und die Portabilität der Erinnerungsbilder des Ästheten anzuspielen. Dabei werden die Technologien aufgrund der vorwurfsvollen Haltung, mit welcher der Richter die soziale Interaktion des Ästheten verurteilt, jedoch zu einem gewissen Grad mit Diebstahl in Verbindung gebracht. Dies bestätigt das Wort »stjæler« (»stehlen, plündern«), welches suggeriert, dass der Ästhet den Leuten mit Absicht Wertgegenstände raubt. Sowohl die Aktivitäten des Ästheten wie die Technologien, mit denen sie verglichen werden, werden als unethisch, wenn nicht sogar als kriminell gekennzeichnet. Die Verschiebung vom Schattenbild zur Daguerrotypie, die wir im zweiten Teil von Enten - Eller finden, liefert uns einen Hinweis darauf, was in Andersens Erzählung über den Gelehrten und seinen emanzipierten Schatten vor sich geht. 6. Die Semantik von Bild und Selbst Die Art und Weise, wie die Daguerrotypie in Kierkegaards Diskurs zunächst mit Schlemihls Schatten verglichen wird, und die Art und Weise, wie sie später unmerklich zu einem Schattenbild mutiert, mag erklären, warum die Idee des emanzipierten Bildes in dieser Zeit so häufig nachgewiesen werden kann. Die von mir untersuchten Texte wurden alle in der Anfangszeit der Fotografie geschrieben, also zu einer Zeit, als sich die Kenntnis der Daguerrotypie verbreitete. Diese Technologie bietet erst die Grundlage, von Bildern als etwas zu sprechen, das an einer Person ›klebt‹, von ihr ›gelöst‹ oder sogar ›gestohlen‹ werden kann. Kurz: Die Daguerrotypie etablierte eine neue Sprache, um das Verhältnis von Selbst und Bild zu beschreiben. Der springende Punkt bei fotografischen Bildern ist, dass die physische Verbindung unterbrochen wird. Das indexikalische Zeichen wird von seinem Referenten gelöst und kann frei wuchern. Der semiotische Bruch, den Heiberg und Kierkegaard visualisieren und der bei Andersen zum Alptraum wurde, ist eigentlich der normale Prozess der Fotografie, der das Bild von seinen indexikalischen Verpflichtungen befreit. Ein Schatten ist, wie wir wissen, eine Kombination von einem Ikon und einem Index und das waren auch die fotografischen Bilder, die Louis Daguerre erfunden hatte. Jede Fotografie ist mit den Worten von Rosalind Krauss »the result of a physical imprint transferred by light reflections onto a sensitive surface. The photograph is thus a type of icon, or visual likeness, which bears an indexical relationship to its object.« 32 32 Rosalind E. Krauss: The Originality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths. Cambridge 1985. S. 203. Auch Peirce lebte im Zeitalter der Fotografie und konnte diese neue Repräsentationspraxis kategorisieren: »Photographs […] are very instructive, because we know that they are in certain respects exactly like the objects they represent. But this resemblance is due to the photographs having been produced under such circumstances that they were physically forced to correspond point by point to nature. In that aspect, then, they belong to Emanzipation der Bilder 49 Der Schatten kann auf diese Weise als eine aufwühlende Dramatisierung der neuen Semantik gelesen werden, welche das Verhältnis zwischen Bild und Selbst etabliert. 33 Mit der Erfindung der Fotografie wurden indexikalische Bilder ermächtigt, ein eigenes Leben anzunehmen und ihren Referenten zu überleben, wie der Schatten in Andersens Erzählung. Eine Fotografie fängt uns in einem Moment ein und erinnert uns an unsere zeitliche Existenz, die eines Tages zu Ende sein wird, während das Bild weiterlebt. Diese gespenstische Eigenschaft wurde später zu einem Schlüsselthema in der Theorie der Fotografie, wie zum Beispiel in Roland Barthes’ denkwürdiger Aussage über »[the] microversion of death«, die man erlebt, wenn man fotografiert wird: »I am truly becoming a spectre«. 34 Folgende Gewissheit ruft der Schatten dem Gelehrten anlässlich seines ersten Besuches in Erinnerung: »[...] der kom en slags Længsel over mig efter engang see Dem før De døer, De skal jo døe! « 35 (EoH I, 414) - Eine Bemerkung, die voraussetzt, dass der Schatten selbst unsterblich ist. In diesem Kontext gesehen lässt uns Skyggen einige der unbewussten Ängste entdecken, welche sich im Schatten der neuen Technologie entfalteten. Der Text inszeniert die Emanzipation der Bilder, welche die zeitgenössische visuelle Kultur prägte und liefert uns einen kleinen Eindruck von den traumatischen Folgen der modernen Bedingungen, die durch die neue Ökonomie des Zeichens etabliert wurden. Aus dem Englischen übersetzt von Miriam Bertschi und Klaus Müller-Wille the second class of signs, those by physical connection.« Zitiert nach W.J.T. Mitchell: logy. Image, Text, Ideology. Chicago 1986, S. 60. 33 Diese Verbindung wurde auch von Thomas Fechner-Smarsly entdeckt, der vorgeschlagen hat, dass man »Andersen’s Märchen durchaus als Allegorie auf das Verhältnis - oder auch Mißverhältnis - von Individuum und dessen (öffentlichem) Bild« lesen könne. Vgl. Thomas Fechner-Smarsly: Der Spiegel und seine Schatten. Abdrücke der frühen Photographie in Texten von Aa.O. Vinje, Henrik Ibsen und H.C. Andersen. In: Zwischen Text und Bild. Zur Funktionalisierung von Bildern in Texten und Kontexten. Hg. von Annegret Heitmann, Joachim Schiedermair. Freiburg im Brsg. 2000, S. 21-42, hier S. 36. 34 Roland Barthes: Camera Lucida. Reflections on photography. New York 1981, S. 13f.. 35 »[...] befiel mich so etwas Ähnliches wie Sehnsucht, Sie einmal wiederzusehen, bevor Sie sterben, Sie werden ja sterben! « (SM I, 449). Lasse Horne Kjældgaard, Kopenhagen 50 Literatur Primärliteratur H.C. Andersens samlede Værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Kopenhagen 2003-2007. Bd. 1-3. Eventyr og Historier I-III. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2003. Bd. 14. Rejseskildringer I, 1826-1842. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2006. Adalbert de Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Frankfurt a.M. 1984. Johan Ludvig Heiberg: Om Malerkunsten i dens Forhold til andre skjønne Kunster [urspr. in Perseus. Journal for den speculative Idee 2; 1838]. In: Ders.: Prosaiske skrifter. Bd. 2. Kopenhagen 1860, S. 249-350. Søren Kierkegaard: Skrifter. Bd. 2-3. Enten - Eller. 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Andersens Wahrnehmung der Fremde in Bild und Text A NNEGRET H EITMANN , M ÜNCHEN Wenn auch mein Beitrag sich in erster Linie auf En Digters Bazar (1842; Eines Dichters Bazar) konzentrieren wird, möchte ich mit einem Zitat aus dem ersten Kapitel des gut 10 Jahre älteren Reisebuches Skyggebilleder (1831; Schattenbilder) beginnen. Andersen reflektiert dort über die Repräsentationsmöglichkeiten der »fremmede Stæder med fremmede Mennesker« 1 (»fremden Orte mit fremden Menschen«), die er als »en broge[t] Række Billeder« 2 (»eine bunte Bilderreihe«), also mit Bezug auf das Medium der Visualität wiedergeben will. Er hält es allerdings für zu aufwendig und mühsam, ein Laken an der Wand aufzuspannen, um die Bilder als Schattenrisse projizieren zu können, sondern er will sich auf die weißen Seiten des Buches beschränken, auf denen auch ein Bild entsteht: En Forgrund med en Smule Grønt, Ein Vordergrund mit ein bisschen Grün, Et Træ - men det maa være kjønt! Ein Baum - aber er muss schön sein! En Luft, og saa er det forbi, Eine Luft, und dann ist es genug, Saa har man strax et Malerie! Da hat man schon ein Gemälde! Men til et Digt? - hvad skal der meer? Aber für ein Gedicht? - was braucht´s Her strax man et for Øiet seer. 3 da mehr? Hier sieht man schon eins vor Augen. In dem Verweis auf die Bildhaftigkeit des Gedichts beweist Andersen nicht nur ein visuelles Interesse, sondern vor allem eine Reflexion über die Medialität des Textes. Das Textbild wird in seiner Materialität als schwarze Buchstaben auf weißem Grund und in einer bestimmten grafischen Form als ein Block von Zeichen mit gegenüber dem Seitenraum verkürzten, doch ungefähr gleichmäßig langen Einheiten begriffen. In den die Skyggebilleder einleitenden poetologischen Überlegungen führt die Ablehnung eines damals gebräuchlichen visuellen Mediums wie Leinwand und Schattenriss zu einer selbstreflexiven Poetik, wobei Deskription und Reflexion ineinander greifen und den Text performativ hervorbringen. Wir können also damit rechnen, es mit einem medienbewussten Autor zu tun zu haben, wenn wir unter Medien semiotisch distinkte Kommunikationssysteme verstehen, d.h. Systeme und Techniken, die sich jeweils spezifischer Übermittlungsformen bedienen und eine bestimmte Mate- 1 Hans Christian Andersen: Skyggebilleder. Hg. von Johan de Mylius. Kopenhagen 1986, S. 10. 2 Ebd. 3 Ebd. Übersetzung von mir (AH). Flache Fremde 53 rialität aufweisen. 4 Wie so oft tritt im intermedialen Verweis, in der Anspielung auf den Schattenriss, der das visuelle Medium lediglich sprachlich zitiert, die poetologisch signifikante Reflexion des eigenen Mediums, der Literatur, hervor. 5 Doch nicht nur dieses kleine Gedicht, sondern auch die biografische Selbstpräsentation sowie viele Beispiele aus dem Gesamtwerk weisen Andersen als medienbewussten Menschen aus. Da sind zum einen seine vielfältigen künstlerischen Ausdrucksformen, von der Strichzeichnung über den Scherenschnitt bis hin zu den Bilderbüchern, Collagen, Tintenkleckszeichnungen, Papierarbeiten und dem großen Wandschirm. 6 Da ist zum anderen sein frühes und intensives Interesse für das neue Leitmedium der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Fotografie. Mehr als 150 fotografische Porträts von Andersen sind erhalten, die in den letzten 25 Jahren seines Lebens entstanden sind. Von den Daguerrotypien aus den 1840er Jahren ist leider nur ein Beispiel überliefert. Und da ist zum dritten seine bereits vielfach diskutierte Faszination für die modernen technischen Transport- und Kommunikationsmedien wie die Eisenbahn, das Dampfschiff, die Elektrizität und den Telegrafen. Nicht zuletzt diese Interessen, die Andersen zu einem ›Medienmenschen‹ auf der Höhe seiner Zeit machen in demselben Maße wie es eine Generation später August Strindberg wurde, hat man in der Forschung der letzten 20 Jahre als Indizien seiner ›Modernität‹ gelesen und ihn vom Nimbus des biedermeierlichen Märchenonkels befreit. So hat man sich in den letzten Jahren auch für seine Zeichnungen interessiert, die zunächst von der Kunstgeschichte als naiv und bedeutungslos belächelt wurden. Zeitgenossen wie Edvard Collin, der die Zeichnungen erbte und immerhin dafür sorgte, dass sie bewahrt wurden, oder auch Museumsdirektor Ludvig Müller hielten sie für minderwertige Erinnerungsstützen. 7 Ihr künstlerischer Wert ist unter Kunsthistorikern, die überraschend wenig zu diesen Bildern zu sagen haben, umstritten; Vilhelm Wanscher bezeichnete sie in seiner Ausgabe von 1925 als unansehnlich. 8 Erst seit den Publikationen von Kjeld Heltoft (1969) und Hans Edvard Nørregård- Nielsen (1990), der allerdings vorwiegend biografisch interessiert ist, sowie einer Ausstellung in Fyns Kunstmuseum 1996 haben die Bilder ernsthafte Aufmerksamkeit gefunden. So gehörte eine Ausstellung der Zeichnungen zum Festprogramm, 4 Dieses enge, aber für den gegenwärtigen Zweck ausreichende semiotisch orientierte Verständnis des Mediums müsste grundsätzlich erweitert werden und - abgesehen von dem Zeichensystem und der materiellen Basis des Codes - das Transmissionssystem, den technischen Apparat und seine kulturelle und soziale Institutionalisierung umfassen. Vgl. Stephan Michael Schröder und Vreni Hockenjos: Historisierung und Funktionalisierung. Zur Intermedialität, auch in den skandinavischen Literaturen um 1900. In: Stephan Michael Schröder, Vreni Hockenjos (Hg.): Historisierung und Funktionalisierung. Intermedialität in den skandinavischen Literaturen. Berlin 2005, S. 30. 5 Vgl. Annegret Heitmann: Intermedialität im Durchbruch. Bildkunstreferenzen in der skandinavischen Literatur der frühen Moderne. Freiburg im Brsg. 2003. 6 Vgl. Kjeld Heltoft: Hans Christian Andersen als Bildkünstler. Kopenhagen 1980. 7 Vgl. ebd. S. 49-51 sowie Hans Edvard Nørregård-Nielsen: Jeg saae det Land. H.C. Andersens rejseskitser fra Italien. Kopenhagen 1990, S. 44. 8 Vgl. Vilhelm Wanscher: Indledning. In: Vilhelm Wanscher: H.C. Andersens Tegninger. Kopenhagen 1925, S. 19. Annegret Heitmann, München 54 das man 2005 in Dänemark zu H.C. Andersens 200. Geburtstag mit großem Aufwand abhielt. 1. H.C. Andersens Zeichnungen Andersen war Autodidakt, weder ausgenoch verbildet von der institutionalisierten Malkonvention, seine Bilder von Italien, Griechenland und dem so genannten Orient, um die es im Folgenden gehen soll, sind unscheinbare kleinformatige Werke auf schlechtem Papier. 9 Mehrere hundert Skizzen sind erhalten, ca. 200 allein in Italien entstandene; er hat kein Skizzenbuch benutzt, sondern Blätter aus Schreibpapier längs und quer gefaltet und mit dem Taschenmesser auf eine Größe von ca. 7 mal 9 cm geschnitten; das ist Innentaschenformat und klein genug, um ein Buch als Ersatzstaffelei benutzen zu können. Die Zeichnungen sind während langer Spaziergänge in Skizzenform mit Bleistift gearbeitet und später mit Tusche nachgezeichnet und komplettiert worden. Andersen selbst hat sie sorgsam gesammelt und in einem Skizzenbuch zusammengetragen. Insofern darf man seine Bescheidenheitsgesten, sein wiederholtes »Ach, hätte ich doch zeichnen gelernt! « 10 nicht zu ernst nehmen, das wohl hauptsächlich im Zusammenhang mit der Etablierung eines bestimmten Künstlermythos zu sehen ist. Die Zeichnungen priorisieren durchgehend Architektur und Natur als Fokus der Darstellung, bevorzugte Sujets sind Exterieurs, Fensterblicke, Küstenszenen, Felsen, Grotten, Wälder und immer wieder die charakteristischen Silhouetten der Bäume einer südlichen Landschaft. Diese Themenwahl hat technische Entsprechungen: Schlicht, klar, linear, fast abstrakt arbeitet der Zeichner Andersen, während der Autor des Italienromans Improvisatoren (1835; Der Improvisator) dieselbe Szenerie ausführlich, gefühlsbetont, detail- und vor allem adjektivreich mit einer oft kritisierten Neigung zum Sentimentalen und Pathetischen beschreibt. Die Reduktion auf die Kontur und den Kontrast macht die Qualität der Bilder aus, ihr Gespür für Strukturen, Materialien, Formen und Linien charakterisiert sie; in der Elimination alles Unwesentlichen, in der Konzentration auf wenige, raumschaffende Gegenstände liegt ihr Appell. Diese Form der Reduktion und Abstraktion führt die Kunsthistoriker heute zu Vergleichen mit führenden Vertretern der Kunst der Moderne wie Vincent van Gogh, Paul Klee oder Henri Matisse. 11 Da eine solche Parallelisierung aber kaum durch Argumente gesichert wird und zunächst einmal ahistorisch und übereilt scheint, soll im Folgenden die Repräsentationsweise der Zeichnungen genauer betrachtet und in Relation zu der textuellen Darstellung entsprechender Reiseerfahrungen in En Digters Bazar gesetzt werden. 9 Vgl. Heltoft: Andersen (Anm. 6) S. 52. 10 Ausrufe dieser und ähnlicher Art finden sich häufig in seinen Tagebüchern. Vgl. Nørregård- Nielsen: Jeg saae (Anm. 7) S. 26, 28 usw. 11 Vgl. ebd. S. 37, 104 oder Heltoft: Andersen (Anm. 6) S. 52. Flache Fremde 55 1.1. Zeigen und Vortäuschen: die ikonische Differenz 12 Abb.1 Neben dem kleinen Format und der skizzenhaften Darstellung, die beide schon das geltende Werkkonzept und die ihm inhärente Auratisierung der Kunst durch Flüchtigkeit, Prozessualität und Non-Finito hinterfragen, 13 fällt zunächst die Vorliebe für die Herausarbeitung von Strukturen auf. Mit großer Liebe zum Detail wird in feinsten Stift- und Federstrichen die Materialität der abgebildeten Oberfläche suggeriert. Das betrifft Dächer, Fenster, Bäume und Berge, wie auf dem »Fensterblick in Brieg« (Abb. 1) 14 oder auf der Darstellung des »Monte Calici«. 15 Die minutiös gearbeiteten Schraffierungen, Schuppungen und die feinen Striche betonen den jeweils unterschiedlichen Status der Materialien. So werden, aus der Distanz betrachtet und im kleinen Format wiedergegeben, Häuser zu Mosaiksteinchen, wie auf der Darstellung des »Tiberfloden i Rom« (Abb. 2), 16 so dass sich das »Zeigen« und das »Vortäuschen« des Bildes, die mimetische und die im Material selbst befindliche illusionistische Qualität die Waage halten. 12 Der Terminus ist übernommen von Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder. In: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild? München 1995, S. 11-38. 13 Vgl. Hans Belting: Das unbekannte Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst. München 1998. 14 Die Zeichnung trägt den Titel »Udsigt fra mit Vindue i Brieg. Den 18. Sept. 1833«. Die erwähnten Bücher von Heltoft (Anm. 6) und Nørregård-Nielsen (Anm. 7) enthalten eine große Zahl von Andersens Zeichnungen. Einige von ihnen wurden vom Künstler selbst betitelt, andere rückwirkend benannt. Das Copyright dieses und aller folgender Bilder liegt beim H.C. Andersen Hus, Odense Bys Museer. 15 »Monte Calici. September 1833«. In: Nørregård-Nielsen: Jeg saae (Anm. 7) S. 50. 16 »Tiberfloden i Rom. Rom 18.1.1834«. Ebd. S. 95. Annegret Heitmann, München 56 Abb. 2 Die Evokation der Materialität muss nicht immer minutiös ausgestaltet, sie kann auch lediglich angedeutet sein, wie auf »Landevejen over de pontiske Sumpe«, 17 wo trotz der sparsamen Strichführung die Differenz der Stofflichkeit hervortritt. Gelegentlich scheint durch das inzwischen vergilbte Papier die beschriebene Rückseite durch, gelegentlich trägt die Struktur des Papiers selbst, eine Falte oder eine Knitterspur, zum Bildeindruck bei, wie in der Darstellung des Vesuvs mit dem Titel »Ved Amalfi« (Abb. 3), 18 wo das Papier den Berg als im Wasser gespiegelte Reliefform hervortreten lässt und gleichzeitig die Illusion bricht und als Papier störend wirkt. Abb. 3 17 Ebd. S. 119. 18 »Ved Amalfi«. In: Heltoft: Andersen (Anm. 6) S. 77. Flache Fremde 57 Einige Male hat sich Andersen den Untergrund des Blattes explizit zunutze gemacht für Schraffierungen oder optische Effekte, indem er z.B. in dieser Darstellung des Hafens von Genua (Abb. 4) 19 die unter dem Zeichenblatt befindliche Tischdecke oder Stoffmusterung in die Darstellung der Wasseroberfläche einbezogen hat. Abb. 4 Auch damit wird eine Doppelung der ikonischen Differenz erzielt, die gleichzeitig den Illusionseffekt erhöht und ihn als künstlich hervorgebracht, als Bild kenntlich macht. In diesem Zusammenhang der Repräsentation von Stofflichkeit und Materialität ist der Vergleich zu Paul Klee gezogen worden. Verwunderlich ist übrigens, dass man nicht eher Max Ernsts Frottagen als Parallele herangezogen hat. 1.2. Raumgestaltung: die Begrenzung des Blicks Doch die Zeichnung von Genua (Abb. 4) weist noch ein zweites für Andersens Bilder charakteristisches Merkmal auf: die kühne Raumgestaltung. Der niedrig gelegte Horizont resultiert in einer Weite des Blicks in den Raum hinein, die offen gelassenen Flächen beherrscht der Zeichner mit kühner Linienführung, wie schon auf der Darstellung des Vesuv gesehen oder wie bei der »Aussicht von Novella«. 20 Mit sparsamen Strichen gelingt nicht nur eine evokative Darstellung einer Landschaft, sondern es wird auch Weite und Räumlichkeit repräsentiert, besonders weil das Blatt ganz ausgefüllt wird. Auch in Bezug auf die Bildkomposition geht der Zeichner Andersen allerdings manches Mal unkonventionelle Wege, wenn er mit außergewöhnlichen Bildbegrenzungen arbeitet. Nicht wie die Romantiker geht er vor, die neben dem niedrigen Horizont auf die linke und rechte Darstellung einer Bildbegrenzung ganz verzichten, um damit den Blick gleichsam in die Ewigkeit zu führen. Vielmehr macht Andersen 19 »Genua den 2den October 1833«. Ebd. S. 54. 20 »Udsigt fra kroen Novella [...] den 3. April 1834«. In: Nørregård-Nielsen: Jeg saae (Anm. 7) S. 188. Annegret Heitmann, München 58 - wie 20 Jahre nach ihm Eduard Manet - auf das Ausschnitthafte der Wahrnehmung, die Begrenzung des Blicks aufmerksam. Die Abbildung des »Wirtshauses St. Agatha im Neapolitanischen« (Abb. 5) 21 drängt den im Bildtitel benannten Ort an den rechten Bildrand. Abb. 5 Im nahezu komplett ausgefüllten Blatt des Fensterblicks in Le Locle (Abb. 6) 22 wird die Blickbegrenzung durch die fast aus dem Bild verschwindenden Häuser links unten und rechts oben markiert, immer wieder werden dargestellte Gegenstände oder Gebäude abgeschnitten, die das Zentrum versetzen und verrücken: 21 »Værtshuset St. Agatha i det Neapolitanske. Februar 1834«. In: Heltoft: Andersen (Anm. 6) S. 79. 22 »I Le Locle fra mit Vindue. Sept. 1833«. Ebd. S. 56. Abb. 6 Flache Fremde 59 Dieser Bildaufbau erzeugt einerseits perspektivische Tiefe, andererseits suggeriert er Fülle, Enge und Unruhe, wie auch auf dieser Darstellung von Amalfi (Abb. 7): 23 Abb. 7 1.3. Perspektivengebrauch: Flache Fremde Wie Andersen mit der perspektivischen Tiefendarstellung umgehen kann, haben einige der bereits gezeigten Bilder bewiesen. Doch auch für dieses dritte Charakteristikum seiner Zeichnungen machen sich sowohl zeichnerisches Vermögen als auch Fremdheitseffekte geltend. Einige der bereits gezeigten Bilder arbeiten mit den Konventionen der Zentralperspektive, d.h. sie erzeugen auf der zweidimensionalen Fläche eine illusionäre Raumtiefe durch die bekannten Techniken der Größenverzerrung, wie z.B. diese Darstellung von Pompeji (Abb. 8): 24 Abb. 8 23 »Amalfi. Marts 1834«. Ebd. S. 82. 24 »Pompeji. 3. Februar 1834«. Ebd. S. 72. Annegret Heitmann, München 60 Selten wird eine eher ungewöhnliche Perspektive der Draufsicht gewählt, die die Größe des dargestellten Objekts betont, 25 öfter allerdings ein Panoramablick bevorzugt, der den Blick in die Weite von einer nicht näher definierten erhöhten Warte erlaubt. 26 Auch die berühmte spanische Treppe wird von einem solchen eigentümlich erhabenen Blickpunkt aus gesehen, auf den sich zwangsläufig auch der Betrachter begeben muss, dessen Blick dann allerdings durch schiefe Linien und irritierende Proportionen verunsichert wird und dessen Standpunkt in einer fragwürdigen Position angesiedelt ist (Abb. 9). 27 Abb. 9 Am auffälligsten sind in diesem Zusammenhang die Zeichnungen, die Andersen den Vorwurf des Dilettantismus und der Naivität eingetragen haben, weil sie die Konventionen der Zentralperspektive nicht befolgen. Manche seiner Skizzen sind a-perspektivisch, verzerrt, gewähren schiefe Einblicke, stülpen das Innere nach Außen, das Hintere nach vorn, wie z.B. bei dem Haus in Vinculo 28 oder diesem Venustempel (Abb. 10): 29 25 Vgl. z. B. »Viva Maria«. Ebd. S. 64. 26 Vgl. z.B. »Bjerglandskab nær Adriaterhavet. April 1834«. In: Nørregård-Nielsen: Jeg saae (Anm. 7) S. 195. 27 »Scala di Spagna i Roma. Rom 19.12.1833«. In: Heltoft: Andersen (Anm. 6) S. 61. 28 Vgl. »Opgang gjennem et Huus til St. Pietro in Vinculo 2 den Jan. 1834«. Ebd. S. 94. 29 »Templet for Venus og Rom«. In: Nørregård-Nielsen: Jeg saae (Anm. 7) S. 109. Flache Fremde 61 Abb. 10 Die berühmte Darstellung des Wohnhauses von Thorvaldsen 30 wird ganz flächig darstellt, die Ansicht von Montefiascone mischt die flächige und die tiefenperspektivische Darstellungsweise in einem Bild (Abb. 11). 31 Abb. 11 Der Venustempel von Bajae (Abb. 12) 32 wird von innen betrachtet, wie aus einem Weitwinkelobjektiv gesehen verzerrt; die Panoramasicht wird auf den kleinen Innenraum übertragen. Die abgebildete Fremde wird damit als solche markiert, sie wird nicht gefällig präsentiert, sondern sieht merkwürdig, bizarr und irritierend aus. Nachdem seit der Renaissance die zentralperspektivische Bildkomposition zur gängigen und dominanten Repräsentationsform geworden war, erlaubt die Vernachlässigung der klassischen Kompositionsregeln einen originellen und neuen Blick, 30 Vgl. »Thorvaldsen’s Huus i Via Sistina i Rom«. In: Heltoft: Andersen (Anm. 6) S. 67. 31 »Montefiascone den 2 den April 1834«. In: Nørregård-Nielsen: Jeg saae (Anm. 7) S. 188. 32 »Venustemplet i Bajæ. Marts 1834«. Ebd. S. 178. Annegret Heitmann, München 62 markiert eine Fremdheit und lenkt neue Aufmerksamkeit auf das Sehen selbst, wie sie von den Bildkünstlern der Moderne immer wieder genutzt worden ist. 33 Entscheidend ist dabei, dass die Verflachung nicht nur den fehlenden oder zweifelhaft gewordenen Fluchtpunkt im Bild, sondern gleichermaßen den Standort des Betrachters betrifft, der nun nicht, wie im Panoramabild von erhöhter Warte hinunterschaut oder sich aus privilegierter Blickpunktperspektive dem Objekt gegenübersieht, sondern aus verunsichertem, schrägen Blickwinkel schaut. 34 Diese spatiale Metapher, die von Heinrich Detering auf die Märchen appliziert wurde, 35 hat in hohem Maße Geltung für die Bildkunst Andersens. Abb. 12 Das zentralperspektivisch organisierte Bild steht nun nicht nur für eine zeichentechnisch hervorgebrachte Repräsentationsform, sondern auch für ein Subjektverständnis, das dieser Bildform eingeschrieben ist. Das sehende Subjekt ist zwangsläufig als stabiler Mittelpunkt gedacht, die umgebende Welt ist durch die Blickkonstruktion auf es hin fokussiert; die die Fluchtlinien komplementierenden, aus dem Bild herausführenden Linien bündeln sich im Blickpunkt, der sich als Zentrum der gesehenen Welt ergibt. Die perspektivische Tiefe des Bildes erzeugt also, um es noch einmal anders zu formulieren, als ihren Gegenpol die stabile und selbstbewusste Position des Betrachters am Schnittpunkt der aus dem Bild heraustretenden Kompositionslinien. Der Subjektstatus des Schauenden macht 33 Vgl. Gottfried Boehm: Die Bilderfrage. In: Boehm: Was ist ein Bild? (Anm. 12) S. 325-343. 34 Vgl. Norman Bryson: The gaze in the expanded field. In: Hal Forster (Hg.): Vision and Visuality. Seattle 1988, S. 87-113. 35 Vgl. Hans Christian Andersen: Schräge Märchen. Hg. und übers. von Heinrich Detering. Frankfurt a.M. 1996. Flache Fremde 63 gleichzeitig das Gesehene zum Objekt, arretiert Zeit und Bewegung und fixiert den Abstand zwischen Subjekt und Objekt. Eine Abweichung von den überkommenen kompositorischen Konventionen, wie sie z.B. Edouard Manet immer wieder zur Darstellung bringt, verunsichert den Blick und die derart bestimmte Position des Sehenden. Ähnlich geht es einem beim Betrachten von Andersens Bildern, beim Nachvollziehen seines Blicks. Durch diverse Ansätze zur Verfremdung des Sehens wird die starre Subjekt-Objekt-Dichotomie hinterfragt, das Sehen selbst wird als Problem markiert. 2. Der Reisebericht und die Wahrnehmung des Fremden Von besonderem Interesse ist der so am Bild geschulte Blick des Künstlers, wenn er, wie in den Bildern der Italien- und Orientreise, versucht, das Unbekannte und Fremde zu erfassen. Dasselbe hat er auch als Schriftsteller angestrebt, das Thema von En Digters Bazar sowie des Reiseberichts allgemein ist in erster Linie die Repräsentation des Fremden. Und wie das im Modus der Zentralperspektive konzipierte Bild unterliegt auch das textuell entworfene Bild von der Fremde dem vom Eigenen bestimmten Blick. Andersens Bilder, und vor allem ihre teilweise ungewöhnlichen Blickrichtungen, können daher vielleicht eine Leseanleitung für seinen Reisebericht über denselben Gegenstand bieten. Dies gilt umso mehr, als die Gattung seit der Aufklärung dem in der klassischen Epistème vorherrschenden Paradigma der Sichtbarkeit verpflichtet war. 36 Die Repräsentation des Sichtbaren fällt in den Kontext der eurozentrischen Systematisierung der Natur, für die Linnés Klassifizierungsprojekt sinnbildend wurde. Während Reiseberichte der Aufklärungszeit ganz im Zeichen der wissenschaftlichen Erfassung und Ordnung der dem Auge zugänglichen Welt stehen, entwickelt die Gattung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in der Konzentration auf den ästhetischen Blick und die Bildung des Herzens eine Gegenreaktion gegen die Beschränkungen der Quantifizierung und Visibilisierung. 37 Was die Wahrnehmungsform betrifft, so stellt diese Entwicklung der Gattung lediglich eine konsequentere Auslegung der Subjektivität und der Dichotomisierung von Eigenem und Anderem, von Subjekt und Objekt dar. Explizit und programmatisch wird die bereiste und textuell dargestellte Fremde nun vorrangig eine Folie für die auf das Subjekt zentrierte Erfahrung. Die auf Distanz beruhende Wahrnehmung des Fremden ist und bleibt das vorrangige Problem der Reiseliteratur, dem sich Andersen in seinem Bericht seiner großen Südosteuropareise auf bemerkenswerte Weise stellt. Die Thematik ist in der Forschung selbstverständlich schon mehrfach behandelt worden, vor allem allerdings unter gattungstheoretischen und literaturhistorischen Gesichtspunkten. So hat Uwe Ebel die Poetisierungsstrategien in En Digters Bazar 36 Vgl. Michel Foucault: Les mots et les choses. Paris 1966. 37 Vgl. z.B. Peter J. Brenner: Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts. In: Peter J. Brenner (Hg.): Der Reisebericht. Frankfurt a.M. 1989, S. 14-49. Annegret Heitmann, München 64 herausgestellt, 38 Fritz Paul die Realitätswahrnehmung als ein bewusstes Changieren (er nennt es mit einem medientechnisch anachronistischen Ausdruck »Zoomen«) zwischen Nah- und Fernsicht als Inszenierung des beginnenden Realismus gelesen. 39 Johan de Mylius hat die dem Bild verpflichtete Anschauungsform des »Øjeblik« (»Augenblick[s]«) herausgestellt und als experimentelle Transgression der Wirklichkeitswiedergabe in visionärer Ekstase verstanden. 40 Bernhard Glienke sieht das Neue und Avantgardistische der Reportage in der Inszenierung von Bewegung und Tempo, 41 Lars Handesten setzt die Modernität mit dem Bekenntnis zum Touristischen von En Digters Bazar gleich, 42 so wie auch Poul Houe das Paradigma des Reisens als Existenzform der Alterität interpretiert hat, die das überkommene Bildungsideal als unzureichend hinter sich lässt. 43 Heinrich Detering und Heike Depenbrock haben - am Beispiel anderer Reisetexte - die Skepsis gegenüber der »Evidenz des Augenscheins« als dezidiertes Modernitätssignal verstanden und als poetologisches Programm herausgearbeitet. 44 Bei all diesen Ergebnissen, insbesondere aber bei der letztgenannten These, kann ich ansetzen und nun zurückkommen zu Andersens bildkünstlerisch geschultem Blick auf das Fremde und es weniger literarals medienhistorisch auswerten. 3. Visuelle Wahrnehmung in En Digters Bazar 45 Sofort fällt eine Dominanz des Visualität bezeichnenden Vokabulars sprichwörtlich ›ins Auge‹. Andersens Reisender ist von visuellen Eindrücken überwältigt, er sieht und schaut und erblickt und hat einen Ausblick; das Auge fühlt (Ba, 169), das Auge trifft auf etwas (Ba, 151), das Auge misst aus (Ba, 96); eine Szene wird betrachtet, Florenz ist ein Bilderbuch (Ba, 64), ganz Rom ist eine Bildersammlung (Ba, 107). Die Häufigkeit mit der allein das Wort »sehen«, nicht zuletzt in der Imperativ-Form 38 Vgl. Uwe Ebel: Studien zur skandinavischen Reisebeschreibung von Linné bis Andersen. Frankfurt a.M. 1981. 39 Vgl. Fritz Paul: Die Welt aus der Doppelperspektive oder das Kalifornien der Poesie. H.C. Andersens Reisebücher zwischen Romantik und Poetischem Realismus. In: Johan de Mylius u.a. (Hg.): Andersen og verden. Indlæg fra den Første Internationale H.C. Andersen- Konference 25.-31. august 1991. Odense 1993, S. 139-160. 40 Johan de Mylius: Øjeblikket - en anskuelsesform hos H.C. Andersen. In: Ebd. S. 57-74. 41 Bernhard Glienke: Andersen in den Städten oder Die Entdeckung der Schnelligkeit. In: Bernhard Glienke: Metropolis und nordische Moderne. Großstadtthematik als Herausforderung literarischer Innovationen in Skandinavien seit 1830. Frankfurt a.M. 1999, S. 27- 44. 42 Lars Handesten: Litterære rejser - poetik og erkendelse i danske digteres rejsebøger. Kopenhagen 1992. 43 Poul Houe: Den rejsende - et kapitel om H.C. Andersen og vor tid. In: Johan de Mylius u.a. (Hg.): Andersen og verden (Anm. 39) S. 434-443. 44 Heike Depenbrock und Heinrich Detering: Poesie und industrielles Zeitalter in H.C. Andersens ›I Sverrig‹. In: Johan de Mylius u.a. (Hg.): Andersen og verden (Anm. 39) S. 31-56. 45 Ich weise Andersens im Folgenden im Mittelpunkt stehenden Text durch Angabe der Sigle Ba und die Seitenangaben im fortlaufenden Text nach. Sie beziehen sich auf die Ausgabe: Hans Christian Andersen: En Digters Bazar. In: Romaner og Rejseskildringer. 7 Bde. Hg. von Knud Bøgh. Bd. 6. Kopenhagen 1944. Flache Fremde 65 »See! « benutzt wird, ist frappierend, variiert wird es durch »skue«, »titte«, »øine«, »opdage«, »kaste et Blik« usw. In manchen Ankunftspassagen, wenn der Reisende zuerst mit der neuen Umgebung konfrontiert wird, häufen sich die Beschreibungen der visuellen Wahrnehmung, die nicht nur das Objekt des Blicks wiedergeben, sondern auch, und das ist wichtig, den eigenen Sehakt betonen: »Hvilket Skue! « (Ba, 146; »Was für ein Anblick! «) ruft der Reisende bei der Seepassage nach Griechenland aus. »En saadan Pragt havde jeg aldrig før seet« (Ba, 147; »So eine Pracht hatte ich noch nie gesehen«) heißt es bei der Ankunft auf Malta; der erste Abend in Piräus ist »et Skuespil, som jeg aldrig har seet det« (Ba, 169; »ein Schauspiel, wie ich es noch nie gesehen hatte«); und auch in Konstantinopel »overvældes [man] ved Skuet« (Ba, 240; »wird man vom Anblick überwältigt«). Der Reisende sieht nicht nur, sondern er markiert stets das Dargestellte als vom eigenen Blick erfasst. Eine besondere Betonung erfährt die auf visuelle Apperzeption ausgerichtete Erfahrung im Erlebnis der Fremde als Bild. Während das im alltäglichen Sprachgebrauch häufige und daher unauffällige Wort »sehen« dem unaufmerksamen Leser entgehen könnte, enthält die überaus häufig benutzte Metaphorik des Bildes deutlichere Hinweise auf den Wahrnehmungsmodus und stellt gleichzeitig ein intermediales Zitat und somit ein poetologisches Signal dar. Der Verweis auf das andere Medium wird sehr häufig, den ganzen Text durchziehend und in verschiedener Ausprägung benutzt. Zum einen werden Ansichten und Erfahrungen als »malerisk« (»malerisch«) bezeichnet, zum anderen werden Szenen wie Bilder, Panoramen, Genrebilder 46 oder Porträts, entfaltet. Doch trotz der auffälligen Dominanz solcher Annäherungen an Visualität und Bildkunst dürfen diese Passagen nicht als synästhetische Steigerungen der Repräsentationsweise oder, wie es Inge Lise Rasmussen versteht, als »Vereinigung von Wort und Bild zu einer neuen Kunstform« 47 begriffen werden. 3.1. Bildskepsis: die Statik und Begrenzung des Bildes Im Gegenteil, schon zu Beginn des Buches, bei der Ankunft in Nürnberg, gilt es, das immer wieder so genannte Malerische skeptisch zu bewerten. Ich zitiere eine längere Passage: Kunde jeg male, da vilde jeg gaae hen paa Torvet, trænge mig gjennem Mængden og skizzere Springbrønden der; vel pranger den ikke nu, som i gamle Dage, med riig Forgyldning, men alle de prægtige Malm-Figurer staae endnu. [...] hele sexten smykke Brøndens nederste Søile-Række, og oven over træder Moses frem med alle Propheterne! Var jeg Maler, vilde jeg gaae til St. Sebaldus´ Grav, naar Sollyset faldt gjennem de brogede Kirkeruder paa Apostelstatuerne, som Peter Vischer gjød af Malmet, 46 Vgl. Jørgen Bonde Jensen: H.C. Andersen og genrebilledet. Kopenhagen 1993. 47 Inge Lise Rasmussen: Øjets sekraft og billedets fødsel. Kopenhagen 2000, S. 128: »Det maleriske og det digteriske bliver til ét og en ny kunstform opstår.« Annegret Heitmann, München 66 og Kirke og Grav skulde blive tegnet, som de afspejlede sig i mit Øie; men jeg er ikke Maler, jeg kan ikke gjengive det. Jeg er Digter, og derfor spurgte jeg om Hans Sachs´s Huus, og man viste mig ind i en Sidegade og pegede paa et Huus; det havde de gamle Former, men det var dog et nyt Huus [.] (Ba, 22-23; Kursivierungen im Original) Wenn ich malen könnte, würde ich auf den Marktplatz gehen, mich durch die Menge hindurchdrängen und den Springbrunnen dort skizzieren; er prangt zwar jetzt nicht, wie zu alten Zeiten, mit reicher Vergoldung, aber alle die prächtigen Bronzefiguren stehen noch [...] ganze sechzehn schmücken die unterste Säulenreihe des Brunnens, und darüber tritt Moses mit allen Propheten hervor! Wenn ich Maler wäre, würde ich zum Grab von St. Sebaldus gehen, wenn das Sonnenlicht durch die bunten Kirchenfenster auf die Statuen der Apostel fällt, die Peter Vischer aus Bronze gegossen hat, und die Kirche und das Grab würden gezeichnet werden wie sie sich in meinem Auge abzeichnen; aber ich bin kein Maler, ich kann es nicht wiedergeben. Ich bin Dichter, und darum fragte ich nach dem Hans-Sachs-Haus, und man wies mich in eine Seitenstraße und zeigte auf ein Haus. Es hatte die alten Formen, aber war doch ein neues Haus. Gleichzeitig mit der Beschreibung von bestimmten Nürnberger Sehenswürdigkeiten, dem so genannten Schönen Brunnen, der Sebalduskirche und dem Hans-Sachs- Haus, wird eine Auseinandersetzung um die Repräsentationsmedien Wort und Bild geführt. Der Erzähler entwirft hier zwar die Möglichkeit der bildlichen Wiedergabe, distanziert sich aber von ihr zu Gunsten einer textuellen Repräsentation. Und das hat nichts mit Bescheidenheit des künstlerischen Selbstentwurfs zu tun, die Passage enthält vielmehr eine fundamentale Bildkritik, wenn begründet wird, warum die Repräsentation nicht als Skizze oder Zeichnung erfolgen soll. Die bildliche Wiedergabe ist an das Hier und Jetzt gebunden, was besonders deutlich herausgestellt wird in dem Hinweis auf das imaginierte Gemälde der Apostel, die in dem Moment festgehalten werden sollten, als das Sonnenlicht auf sie fiel. Als Momentaufnahme kann auch der Brunnen nur zeichnerisch bewältigt werden, seine Veränderung, seine Historizität entzieht sich der bildnerischen Repräsentation, die einstmalige Vergoldung kann im Bild nicht mehr sichtbar gemacht, wohl aber sprachlich repräsentiert werden. Der Dichter nähert sich daher dem Hans-Sachs-Haus, um sein jetziges Aussehen, seine Veränderung und seine historische Bedeutung zu beschreben. Was dem Bild als Ausdruck arretierter Zeit also fehlt ist die Möglichkeit, Geschichte, Wandel und Bewegung zu erfassen. Schon das veranlasst den Dichter zu einer gewissen Skepsis. Denn wie wir ja wissen, war ihm sehr daran gelegen »Liv og Bevægelse«, 48 wie er es immer wieder nennt, zu schildern. Beweglichkeit ist ein Kriterium, an dem er Kunst misst - das lässt sich besonders in Improvisatoren sowie in den Tagebüchern verfolgen - und Beweglichkeit erfassen zu können, ist auch ein ästhetisches Ziel seines Reiseberichts. Wie er dieses Vorhaben umsetzt, ist mehrfach gezeigt worden: durch 48 Vgl. als eines von vielen Beispielen: H.C. Andersens Dagbøger 1825-1875. Hg. von Kåre Olsen und H. Topsøe-Jensen. Bd. 1. 1825-1834. Hg. von Helga Vang Lauridsen. Kopenhagen 1971, S. 251 (Eintrag vom 14.12.1833). Flache Fremde 67 die Kürze der Kapitel, die Beschreibungen von Fahrt und Dynamik, die Impressionismus antizipieren, den abwechslungsreichen Aufbau, der zwischen Deskriptionen, Szenen, Fiktionen und Anekdoten alterniert, die narrativen Brüche, die vielen Dialoge, die langen, atemlos vorgebrachten parataktischen Gefüge usw. Doch auch die Auseinandersetzung mit dem Bild und der visuellen Wahrnehmung trägt zu diesem neuartigen Charakter einer Reisebeschreibung bei, indem die bildliche Repräsentation wiederholt, ja geradezu leitmotivisch aufgerufen, aber mit Skepsis belegt wird. »I mange smaa Skizzer har jeg søgt at beskueliggjøre een lille Strækning, Athen og dens Omgiving« heißt es, als der Reisende bereits in Griechenland ist »og dog hvor farveløst staaer dette givne Billede, hvor ringe antyder det Grækenland« (Ba, 209; »In vielen kleinen Skizzen habe ich versucht, einen kleinen Ausschnitt, Athen und Umgebung, zu veranschaulichen, doch wie farblos ist dieses Bild, in welch geringem Maße deutet es Griechenland an.«) Die Einsicht, die bereiste Fremde in ihrer Vielfalt und Veränderlichkeit kaum adäquat repräsentieren zu können, betrifft zwar nicht nur die visuelle Wiedergabe, wird jedoch an ihrem Beispiel besonders klar herausgearbeitet. Dazu tragen neben der Statik des Bildes weitere Züge seiner spezifischen medialen Verfasstheit bei. Wie Andersen bei der Arbeit an seinen Skizzen erfahren hat, gehört dazu die Bildbegrenzung, das Ausschnitthafte des Bildes. Bei der Fahrt durch das Inntal unterbricht der Erzähler seine Beschreibung mit den Worten »nei Sligt kan ikke males i sin Heelhed« (Ba, 37; »nein, so etwas kann nicht in seiner Ganzheit gemalt werden«) mit der Begründung, dass »Skyer og Bjerge med Solskin [rundt om]« (»von Sonne beschienene Wolken und Berge ringsherum«), nur im Rundblick von 360 Grad zu erblicken seien und eben dadurch ihre besondere Kraft gewönnen. Der Panoramablick ist dem traditionellen Bildkunstwerk fremd, weil es auf einen fixen Blickpunkt hin konzipiert ist und durch seine Ränder definiert wird. Die stark visuell ausgerichteten Schilderungen der Ankunft in Rom machen diese perspektivische Begrenzung des Bildes besonders deutlich. Der Leser folgt dem Blick des Reisenden: »See, der til Venstre« (Ba, 84; »Sieh, dort nach links«) wird er aufgefordert, dann wird der Blick in der räumlichen Imagination nach rechts gelenkt, jeweils wird vom Betrachter aber, wie bei einer Bildbetrachtung, nur ein Ausschnitt erfasst. Der Angabe seines Standpunkts »vi staae paa en stor Plads« (Ba, 84; »wir stehen auf einem großen Platz«) folgt die Wiedergabe des Blickwinkels: »Man seer et Stykke af Capuziner-Klostret, man øiner gamle, forfaldne Mure, seer en Række usle, smaa Kjøbstedshuse og bag ved disse eet af de prægtigste Paladser« (Ba, 84; »Man sieht ein Stück eines Kapuzinerklosters, man erblickt alte, verfallene Mauern, sieht eine Reihe erbärmlicher, kleiner Kleinstadthäuser und hinter diesen einen der prächtigsten Paläste«). Die als Bild evozierte Szenerie hat Vorder- und Hintergrund, links und rechts und Begrenzungen, die das Kloster nur teilweise in den Blick kommen lassen. Wenn man »det Hele« (Ba, 94; »das Ganze«) sehen will, wie es ein paar Kapitel später heißt, muss man sich drehen, bewegen, die Position des Blickpunkts dynamisieren. »Vi staae i en lille Gaard [...]. Gaarden omsluttes af aabne Buer og i disse prange verdensberømte Herligheder. Her staaer Annegret Heitmann, München 68 Antonius, den vaticanske Apollo; her vaander Laokoon sig i evig Smerte, omsnoet af Slangerne; her have Canovas Gladiatorer og Perseus Plads« (Ba, 94, Kursivierung im Original; »Wir stehen in einem kleinen Hof. [...] Der Hof wird umschlossen von offenen Bögen und in diesen prangen weltberühmte Herrlichkeiten. Hier steht Antonius, der vatikanische Apollo; hier windet Laokoon sich in ewigem Schmerz, umwunden von den Schlangen; hier haben Canovas Gladiatoren und Perseus ihren Platz«). Das wiederholte »hier, hier, hier« indiziert die beim Sprechen vollzogene Drehbewegung der Sehenden, die Rundumschau in der literarisch vergegenwärtigten Raumwahrnehmung, die bei der Bildbetrachtung eben nicht möglich ist, da der Betrachterstandpunkt durch die Bildperspektive festgeschrieben ist. Andersen macht auf jeweilige Blickwinkel und ihre Begrenzungen aufmerksam - En Digters Bazar ist auch ein Text über die Wahrnehmung und die ihr inhärenten Probleme. 3.2. Die mediale Präformation des Blicks Noch deutlicher wird das, wenn andere visuelle Medien ins Spiel kommen und das traditionelle Medium des Bildes als Zeichnung oder Gemälde in zeitgenössische Formen der visuellen Repräsentation übersetzt wird. Im Laufe des Textes tauchen Panoramen, der Perspektivkasten, die Daguerrotypie, die Laterna Magica, das Fernglas, das Kaleidoskop und der Scherenschnitt auf. Bei allen handelt es sich um im 19. Jahrhundert populäre, zum Teil hochaktuelle Medien zur Bilderzeugung bzw. Wiedergabe. Über die Frühform der Fotografie und die Literatur ist viel geschrieben worden, 49 Thomas Fechner-Smarsly hat sich ausführlich damit beschäftigt, wie sie im Werk von Andersen fungiert. 50 Auf den Panorama-Rundblick bin ich schon eingegangen, er wurde als ein Massenmedium des 19. Jahrhunderts zum Volksvergnügen auf Jahrmärkten in der Vor-Kino-Zeit eingesetzt. Das griechisch klingende Wort, aus pan (: alles) und horama (: sehen) zusammengesetzt, ist eine Wortschöpfung aus dem Jahre 1789. Diese Bezeichnung wählte der Ire Robert Baker für einen optischen Apparat, den er zwei Jahre zuvor - noch unter einem anderen Namen (La nature à coup d´oeuil) zur Patentierung angemeldet hatte: In einem Rundgemälde war der gesamte Horizont von 360 Grad Rundsicht zu sehen und bot ein neues Seh- Erlebnis der Weite und Raumbeherrschung. Auch das Kaleidoskop wurde zu Beginn des 19. Jh. in Großbritannien entwickelt und mit dem griechischen Namen für »Schönformseher« bedacht; als sein Erfinder gilt der schottische Adlige Sir Edwin Brewster, der 1817 das Patent anmeldete. Auch dieses heute vor allem als Kinderspielzeug bekannte optische Gerät trat einen Siegeszug durch ganz Europa an. Beides hat zu Andersens Zeit also mediale Hochkonjunktur, doch auch die ebenso genann- 49 Vgl. z.B. Gerhard Plumpe: Der tote Blick. Zum Diskurs der Fotografie in der Zeit des Realismus, München 1990; Rolf H. Krauss: Literatur und Fotografie. Zur photographischen Wahrnehmung in der deutschsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Ostfildern 2000. 50 Vgl. Thomas Fechner-Smarsly: Der Spiegel und sein Schatten. Abdrücke der frühen Fotografie in Texten von Aa.O. Vinje, Henrik Ibsen und H.C. Andersen. In: Annegret Heitmann, Joachim Schiedermair (Hg): Zwischen Text und Bild. Zur Funktionalisierung von Bildern in Texten und Kontexten. Freiburg im Brsg. 2000, S. 21-42. Flache Fremde 69 ten Laterna Magica, Silhouetten und Dioramen erfreuten sich allgemeiner Beliebtheit. Wenn Andersen diese Bildrepräsentationen in seinem Text nennt, stellt er damit nicht nur seine Aufmerksamkeit gegenüber populärkulturellen Medienentwicklungen unter Beweis, sondern er problematisiert ein weiteres Mal die visuelle Wahrnehmung, dieses Mal als medial präformiert. Als er in Nürnberg einfährt, imaginiert er die Stadt wie eine Landschaft in einem Daguerreschen Panorama; und als er in Augsburg ankommt, wähnt er sich in einem Perspektivkasten seiner Kindheit: »Jeg var nu midt inde i Perspectivkassen, havde faaet mit Barndoms-Ønske opfyldt« (Ba, 26; »Ich war jetzt mitten drin im Perspektivkasten, hatte meinen Kindheitswunsch erfüllt bekommen«). Der Blick auf die Städte wird durch ein Medienerlebnis gesteuert, eine Erwartungshaltung, die einem Bild entspricht, das mit optischen Illusionswirkungen operiert, wird der eigenen Anschauung vorgeschaltet; gesehen mit der Medienerfahrung des 19. Jahrhunderts sieht die Wand einer italienischen Kneipe aus wie eine Laterna Magica (Ba, 79), die vatikanische Galerie »som Farvebillederne i et Caleidoskop« (Ba, 93; »wie Farbbilder in einem Kaleidoskop«), ein Blick in ein türkisches Fenster bot »et prægtigt Diorama« (Ba, 253; »ein prächtiges Diorama«). Mit diesen Entsprechungen wird einerseits die Fremde vorstellbar gemacht durch zeitgenössisch aktuelle Medienvergleiche, andererseits wird sie popularisiert und angeeignet, der vorgeformten Erfahrung unterworfen und angeglichen. Die Fremde wird damit fassbar, in eigene Kategorien übersetzt, auch die Wahrnehmungsakte in En Digters Bazar bilden die schon mehrfach hervorgehobene Inszenierung touristischer Welterfahrung ab. 3.3. Sinnestäuschung und Subjektzentrierung Dabei herrscht das Bewusstsein vor, dass das Sehen kulturell und sozial konditioniert und möglichen Täuschungen unterworfen ist. Der Erzähler erwähnt mehrfach mögliche Sinnestäuschungen (Ba, 7), eine »Øienforblendelse« (Ba, 45; »Augenverblendung«), die Blendung durch Schönheit und Farben (Ba, 93), die Ununterscheidbarkeit von Nähe und Ferne und die daraus folgende Schwierigkeit, Entfernungen abzuschätzen (Ba, 169). Auch in einer zentralen Passage, dem Bericht vom Besuch der Peterskirche in Rom, stellt sich heraus, dass die visuelle Wahrnehmung täuscht, da der Betrachter nicht in der Lage ist, die gewaltige Größe des Kirchenraumes richtig einzuschätzen: »Rummet er for stort til at Øiet kan udmaale det« (Ba, 96; »Der Raum ist zu groß für das Auge um ihn ermessen zu können«) heißt es dort. Weil der Ausgangspunkt der Wahrnehmung der eigene Standpunkt ist und das Andere am Eigenen gemessen wird, kommt es zur Fehleinschätzung des in der Ferne Befindlichen als klein: »Mosaik-Englene i Kuplen syntes os saa ubetydelige, og stige vi derop da strække de sig flere Alen høie« (Ba 96; »Die Mosaik-Engel in der Kuppel scheinen uns so unbedeutend, und steigen wir dort hinauf, dann erstrecken sie sich über mehrere Ellen hoch«). Die Subjektzentrierung des Blicks verhindert es, die eigene Position als bedeutungslos in Annegret Heitmann, München 70 Relation zum mächtigen Kirchraum zu erkennen, im Mittelpunkt bleibt zwangsläufig immer »vor Øiepunkt« (Ba, 96; »unser Blickpunkt«). Insofern wird auch die Erkenntnis des Fremden im Modus der Visualität immer dem ›Blickpunkt‹ des Subjekts verhaftet bleiben. Andersens Reisebericht bekennt sich zu dieser subjektiven Wahrnehmung und inszeniert - wie in seinen Bildern - die Begrenzungen und Verzerrungen des Blicks: Distanz, Statik, den zentralperspektivisch geschulten Blick, die Möglichkeit der Sinnestäuschung, die mediale Präformation. Die den Text durchziehende Thematisierung von Blick und Bild untermalt den auf Distanz, d.h. fremd bleibenden Status des Reisenden. Im Bewusstsein dieser Problematik entfaltet der Text eine Bildskepsis, die der wiederholt vorgebrachten Formel »wenn ich doch malen könnte« einen ironischen Ton verleiht. Denn das Medium des Bildes wird verstanden als eines der Aneignung, der distanzierten, subjektzentrierten Wahrnehmung par excellence. »Hvo der dog kunde tegne og male! «, heißt es innerhalb der eingeschobenen Erzählung »Metalsvinet«, »saa kunde man faa den hele Verden til sig! « (Ba, 64; »Wenn man nur malen könnte! Dann könnte man sich die ganze Welt aneignen! «). Die mimetische Reproduktion des Metallschweines »ved et Par Streger« 51 (»mit ein paar Strichen«), die Andeutung des Hauses dahinter können ein Objekt erfassen und führen das Abgebildete in den Besitz des Zeichners über. Wenn also ganz Florenz, Rom, Italien zu einem Bilderbuch, zu »min Billed-Samling« (Ba, 107; »meine[r] Bildersammlung«) werden, dann gibt Andersen damit sowohl der Subjektivität seiner Darstellung als auch der bewusst vorgetragenen aneignenden Geste Ausdruck. Die Erfahrungen der Fremde werden als zweidimensionales, flaches Bild transportiert und gleichzeitig als solches gekennzeichnet und ausgestellt. 3.4. Orientalismus: Fixierung des Anderen als Objekt des Blicks Dieses Bildbewusstsein verliert allerdings seine deutliche Markierung im zweiten Teil von En Digters Bazar. Sobald der Reisende in Gegenden kommt, die er zum ersten Mal sieht und die auch in der Literatur noch nicht mit einer derartigen Tradition behaftet sind wie die Italienreise, gewinnt die bloße Wiedergabe von Szenen, Erlebnissen, Erfahrungen und Wahrnehmungen die Überhand, ohne dass sie durchgehend und mit derselben Insistenz als solche markiert und damit problematisiert sind. Das hat auch zur Folge, dass die Relation von Eigenem und Fremdem, die im Italien-Teil destabilisiert wurde, wo das Fremde zur Heimat und die Heimatlosigkeit zum Programm wurde, bei der Begegnung mit dem Orient wieder als überkommene Dichotomie hervortritt. Die Erfahrung der wie Dampfmaschinen und Puppen tanzenden Derwische (Ba, 248 ff.), die Beschreibung des Sklavenmarktes (Ba, 243) und der verschleierten Frauen in Konstantinopel, die Ausführungen über das Völkergemisch auf den Märkten, immer im Bemühen, Charakteristika der Juden, der Armenier, Bulgaren und Türken auszumachen (Ba, 242), 51 Zitiert nach H.C. Andersens samlede værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Bd. 14. Rejseskildringer I. 1826-1842. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2006, S. 278. Flache Fremde 71 stellt sich streckenweise wie bloßer Exotismus dar. 52 Als Objekt des Blicks werden die im wahrsten Sinne des Wortes oberflächlich wahrgenommenen Fremden als Andere fixiert. Zwar heißt es auch hier gelegentlich selbstkritisch und bildskeptisch: »Jeg giver Billedet, som jeg har seet det« (Ba, 255; »Ich gebe das Bild so wieder, wie ich es gesehen habe«), doch entwirft auch der Text selbst Bilder, die von unüberwindbarer Distanz und dem Bemühen um Aneignung geprägt sind. Sorte Cypresser og lysegrønne Løvtræer, tittede arabeskartigt frem mellem dette Steen- Hav af mørkerøde Bygninger, hvor Moskeernes Kupler med gyldne Kugler og Halvmaane, hver hvilede som en Noahs Ark; og hvor i hundredeviis de høie, søileagtige Minareter med deres spidse Taarne skinnede mod den graa, skyfulde Luft. (Ba, 236-237). Schwarze Zypressen und grüne Laubbäume lugten arabeskenartig hervor aus diesem Stein- Meer dunkelroter Gebäude, wo die Kuppeln der Moscheen mit goldenen Kugeln und Halbmonden je wie eine Arche Noah ruhten und wo hunderte von hohen säulenartigen Minaretten mit ihren spitzen Türmen gegen die graue, wolkige Luft schimmerten. Die Ankunft in Konstantinopel wird hier in einer Fernsicht repräsentiert, deren Metaphorisierung eine Angleichung an die nordeuropäische Erfahrung beinhaltet: Die fremden Bäume werden mit Arabesken verglichen, die unbekannten Gebäude werden zu einem Steinmeer, die Moscheen gar zur Arche Noah, die Minarette zu Säulen. Später erinnert ihn die Stadt an Stockholm (Ba, 267), in Bulgarien sieht es aus wie auf Møn (Ba, 297), am Bosporus »bejler Orienten til Europa« (Ba, 271; »macht der Orient Europa einen Antrag«). Hier ist die Blickrichtung eindeutig, ohne dass - wie beim Besuch von Augsburg, Nürnberg oder der Peterskirche - stets und ständig die Fragwürdigkeit der Verbildlichung selbst- und medienkritisch reflektiert wird, ohne dass die Doppelheit von Repräsentation und Repräsentiertem unablässig markiert wird. Der Titel des Werks weist natürlich in besonderem Maße auf den zweiten Teil des Werks hin, auf das Exotische des Orientalischen als das Neue und Sensationelle. Poetologisch und wahrnehmungsgeschichtlich sensationell ist aber vor allem der Italien-Aufenthalt, der schon von vielen vor Andersen geschildert wurde. Hier kommt die Innovation der Darstellungsweise, die produktive Auseinandersetzung mit dem Authentizitäts- und Bildungsanspruch der Gattung, mit der eigenen Wahrnehmung sowie dem Evidenzanspruch des Bildes und der visuellen Erkenntnis deutlich zum Ausdruck. Mit der Skepsis und Ambivalenz, die jedem Bildzitat dort eingeschrieben ist, nimmt Andersen einen charakteristischen Zug der Literatur der frühen Moderne in Skandinavien vorweg. Ausgebildet hat er diese Skepsis wohl nicht zuletzt durch seine eigene bildkünstlerische Betätigung. Die Auseinandersetzung mit der Fremde wird über ihre deutlich markierte Bildlichkeit geführt, die im 52 Vgl. zum Orientalismus z.B. Birgitte von Folsach: I Halvmånens Skær. Eksempler på skildringer af den nære orient i dansk kunst og litteratur omkring 1800-1875. Kopenhagen 1996; Elisabeth Oxfeldt: Nordic orientalism: Paris and the cosmopolitan imagination 1800 - 1900. Kopenhagen 2005. Annegret Heitmann, München 72 Wahrnehmungsmodus des Touristen als ›flach‹, als Fläche für Projektionen hervortritt. Flache Fremde 73 Literatur Primärliteratur H.C. Andersens samlede værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Bd. 14. Rejseskildringer I. 1826-1842. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2006. Hans Christian Andersen: En Digters Bazar. In: Romaner og Rejseskildringer. Hg. von Knud Bøgh. 7 Bde. Kopenhagen 1944. (= Ba) H.C. Andersens Dagbøger 1825-1875. Hg. von Kåre Olsen und H. Topsøe-Jensen. Bd. 1. 1825-1834. Hg. von Helga Vang Lauridsen. Kopenhagen 1971. Hans Christian Andersen: Skyggebilleder. Hg. von Johan de Mylius. Kopenhagen 1986. Hans Christian Andersen: Schräge Märchen. Hg. und übers. von Heinrich Detering. Frankfurt a.M. 1996. Sekundärliteratur Belting, Hans: Das unbekannte Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst. München 1998. Boehm, Gottfried (Hg.): Was ist ein Bild? München 1995. Bonde Jensen, Jørgen: H.C. Andersen og genrebilledet. Kopenhagen 1993. Brenner, Peter J.: Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts. In: Peter J. Brenner (Hg.): Der Reisebericht. Frankfurt a.M. 1989, S. 14-49. Bryson, Norman: The gaze in the expanded field. In: Hal Forster (Hg.): Vision and Visuality. Seattle 1988, S. 87-114. 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Multiplizität von Zeit und Gedächtnis Die umseitige Abbildung zeigt Lorenz Frølichs Illustration zu Oldefa’er (1870; Urgroßvater). Im Uhrwerk der Macht Oldefa’er und die Geschichten der Globalisierung F REDERIKE F ELCHT , M ANNHEIM Ökonomische Integration, Vernetzung durch Technik beziehungsweise Medien und kulturelle Austausch- und Vermischungsprozesse - all diese Themen stehen in Geschichten der Globalisierung im Fokus des Interesses. Könnte es sich lohnen, Hans Christian Andersens Texte im Lichte globalgeschichtlicher Ansätze zu betrachten? Argumente für eine solche Betrachtung sind, dass der Entstehungszusammenhang der Texte Andersens von Globalisierungsprozessen im 19. Jahrhundert stark geprägt ist und dass die Texte bemerkenswerte ästhetische Strategien aufweisen, Geschichte(n) im Kontext dieser Prozesse zu erzählen. So wird Andersen in seinen Autobiografien als grenzüberschreitender Autor inszeniert, der sich in einem transnationalen Netzwerk von Künstlern, Politikern und Geschäftsleuten mühelos bewegt. In den Eventyr og Historier sowie den Reisebüchern spielen Kommunikations- und Transporttechniken eine zentrale Rolle: In Den Store Søslange (1871; Die große Seeschlange) ist das Transatlantikkabel die Titelfigur; in En Digters Bazar (1842; Eines Dichters Bazar) finden sich neben dem Eisenbahnkapitel auch zahlreiche Hinweise auf eine intensive Nutzung des sich beschleunigenden Post- und Nachrichtenwesens. Und in I Spanien (1863; In Spanien) wird anhand einer Zigarre eine kurze Geschichte globalen Warenverkehrs erzählt. 1 Auf der Grundlage von Walter Benjamins geschichtsphilosophischer Überlegung, dass Geschichte nicht unabhängig vom Standpunkt des Betrachters gedacht werden sollte und in der Vergegenwärtigung der Vergangenheit auch die Gegenwart auf die Probe gestellt werden kann, 2 wendet dieser Beitrag sich einem ausgewählten Text Andersens zu. Anhand der Geschichte 3 Oldefa’er (1870; Urgroßvater) wird bei- 1 Vgl. H.C. Andersens samlede værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Bd. 15. Rejseskildringer II. 1851-1872. Hg. von Laurids Kristian Fahl u. a. Kopenhagen 2006, S. 337f. Ich danke Christina Gehrlein für Anregungen und Kritik. Die diesem Aufsatz zu Grunde liegenden Gedanken stehen im Zusammenhang mit meinem Dissertationsprojekt zum Thema ›Andersen und die Globalisierung‹. 2 Vgl. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd.V. Das Passagen-Werk. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1991, S. 494f. 3 Die Bezeichnung ›Geschichte‹ verwende ich in Anlehnung an Andersens ›Historie‹. Andersen fasst diesen Begriff in seinen Anmerkungen zu den Eventyr og Historier recht weit. Vgl. H.C. Andersens samlede værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Bd. 3. Eventyr og Historier III. Hg. von Laurids Kristian Fahl u. a. Kopenhagen 2003, S. 376. Zitatbelege nach dieser Ausgabe künftig im Text mit Sigle EoH III und Seitenangabe. Vgl. auch Wolfgang Behschnitt: Wanderungen mit der Wünschelrute. Landesbeschreibende Literatur und die vorgestellte Geographie Deutschlands und Dänemarks im 19. Jahrhundert. Würzburg 2006, S. 423f., Anm. 51. Frederike Felcht, Mannheim 78 spielhaft dargelegt, wie Andersens Texte Geschichte erzählen und welche Aktualität diese Form der Geschichtsschreibung aus einer globalisierungstheoretisch fundierten Position gewinnt. Historiografie und Literatur bereichern sich aus dieser Perspektive gegenseitig. 1. Andersen in globaler Perspektive Nachdem Globalisierung lange als gegenwartsdiagnostischer Begriff verwendet wurde, hat sich in den vergangenen Jahren in den Geschichtswissenschaften ein breites Interesse am Globalisierungsbegriff entwickelt. Die Definitionen des Begriffs sind teilweise widersprüchlich und oftmals vage. Dies ist Problem und Chance zugleich. Das Potential von Globalisierung liegt nämlich weniger in einer geschlossenen theoretischen Konzeption als vielmehr darin, dass sie eine Perspektive eröffnet, »Prozesse in einem umfassenderen Kontext zu situieren und den methodologischen Nationalismus der Geschichtswissenschaften zu unterminieren.« 4 Das Interesse an einem umfassenderen Kontext und das Aufgeben eines methodologischen Nationalismus erweisen sich auch in der Literaturwissenschaft als fruchtbar. So spricht sich Svend Erik Larsen in Tekster uden grænser dafür aus, Globalisierung als Perspektive für die Literaturwissenschaft zu begreifen. Diese soll nach Larsen auch dazu dienen, Literatur zu lesen, die der Vergangenheit angehört, insofern sie eine Voraussetzung für das Verständnis einer solchen Perspektive darstellt. 5 Als Perspektive lenkt Globalisierung die Aufmerksamkeit auf grenzüberschreitende Prozesse. Untersucht werden zum Beispiel das Verhältnis von Lokalem und Globalem, Nationalisierung und Transnationalisierung, kulturelle Uniformisierungs- und Differenzierungsprozesse sowie Veränderungen in der Vorstellung von Zeit und Raum, die mit Transport- und Kommunikationsmedien einhergegangen sind. 6 Viele Elemente dieser Perspektive sind nicht neu und müssen nicht unbedingt im Kontext von Globalisierung gedacht werden, erhalten aber durch eine Einbettung in diesen einen neuen Akzent. So gibt es in der Andersen-Forschung Arbeiten, die sich mit dem Verhältnis von Technik und Literatur auseinandersetzen und dabei auch Kommunikations- und Transporttechniken zum Thema haben. In diesem Zusam- 4 Sebastian Conrad und Andreas Eckert: Globalgeschichte, Globalisierung, Multiple Modernen. In: Dies., Ulrike Freitag (Hg.): Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen. Frankfurt/ New York 2007, S. 20; vgl. auch Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus - Antworten auf Globalisierung. Frankfurt 1997, S. 42-47; Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen. München 2007, S. 7-15. 5 Vgl. Svend Erik Larsen: Tekster uden grænser. Litteratur og globalisering. Aarhus 2007, S. 23f. 6 Vgl. Ottmar Ette: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Göttingen 2001, S. 15f.; Larsen: Tekster uden grænser (Anm. 5) S. 7f., 17f., 28ff.; Horst Steinmetz: Globalisierung und Literatur(geschichte). In: Manfred Schmeling (Hg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Würzburg 2000, S. 197. Auch die Geschichtswissenschaft stellt diese Aspekte ins Zentrum ihrer Überlegungen. Vgl. Conrad und Eckert: Globalgeschichte (Anm. 4) S. 20; Osterhammel und Petersson: Geschichte der Globalisierung (Anm. 4) S. 10-15. Oldefa’er und die Geschichten der Globalisierung 79 menhang wird oft auch das Verhältnis der Texte Andersens zur Idee des Fortschritts reflektiert. Aufsätze von Heinrich Detering und Heike Depenbrock, Wolfgang Behschnitt oder Aage Jørgensen beispielsweise verdeutlichen, wie vielschichtig die in den Texten auftretenden Konzeptionen von Zeit sind und inwiefern sie mit technologischem Wandel verbunden sind. 7 Bindet man diese Analysen in die aktuelle Globalisierungsforschung ein, können sie mit Dipesh Chakrabartys postkolonialer Historiografiekritik weiter gedacht werden. Im Anschluss an Walter Benjamins Kritik der Vorstellung von einer »homogene[n] und leere[n] Zeit« 8 , die Fortschrittsgeschichte erst zu denken erlaubt, weist Chakrabarty auf den eurozentrischen Charakter und die Geschichtlichkeit dieser Zeitkonzeption hin und stellt ihr ein komplexeres Verständnis von Zeit gegenüber. Nach Chakrabarty wird die Vorstellung einer Übersetzbarkeit alles Geschehens in eine gottlose, kontinuierliche, homogene und leere geschichtliche Zeit, die als natürliche Zeit gedacht wird, mit der Physik nach Einstein und der so genannten linguistischen Wende problematisch. Die Idee einer solchen universell geltenden Zeit setze die einer alles umfassende Sprache voraus. Diese Annahme ist nach Chakrabarty ins Wanken geraten. 9 Andersens Texte, so die These, lassen sich im Sinne einer solchen Unübersetzbarkeit und dem damit verbundenen komplexen Verständnis von Zeit lesen, indem sie Geschichte nicht von einem übergeordneten und einheitlichen Standpunkt aus erzählen. Das darin liegende kritische Potential wird vielleicht erst heute in seinem ganzen Ausmaß ersichtlich. Auch mit der Bedeutung von Raumvorstellungen und -gestaltungen in Texten Hans Christian Andersens setzen sich die oben genannten Aufsätze auseinander. Wolfgang Behschnitts Wanderungen mit der Wünschelrute sind ein weiteres Beispiel für eine Befragung von Andersens Texten im Zeichen von Raumvorstellungen und -darstellungen. Anhand von ausgewählten Romanen und Geschichten beleuchtet 7 Vgl. z. B. Wolfgang Behschnitt: ›Der fliegende Dampfdrache‹. H.C. Andersen und die moderne Technik. In: Svenja Blume, Sebastian Kürschner (Hg.): Hans Christian Andersen zum 200. Geburtstag: ›Mein Leben ist ein schönes Märchen, so reich und glücklich! ‹. Hamburg 2005, S. 173-188; Heinrich Detering und Heike Depenbrock: Die Sprache der Dampfmaschine. H.C. Andersens Et Stykke Perlesnor. In: Norrøna 8 (1988), S. 6-16; Dies.: Der Tod der Dryade und die Geburt der Neuen Muse. In: Kurt Braunmüller, Mogens Brønsted (Hg.): Deutsch-dänische Begegnungen. 9. Arbeitstagung der Skandinavisten des deutschen Sprachgebiets 1989 in Svendborg. Odense 1991, S. 366-390; Dies.: Poesie und industrielles Zeitalter in H.C. Andersens I Sverrig. In: Johan de Mylius u.a. (Hg.): Andersen og verden. Indlæg fra den første internationale H.C. Andersen-Konference 25.-31. august 1991. Odense 1993, S. 31-55; Aage Jørgensen: H.C. Andersen mellem rodfæstethed og modernitet med særligt henblik på eventyret ›Dryaden‹. In: Ders., Henk van der Liet (Hg.): H.C. Andersen Modernitet & Modernisme. Essays i anledning af Annelies van Hees’ afsked fra Amsterdams Universitet (= Amsterdam Contribuitions to Scandinavian Studies 1). Amsterdam 2007, S. 67-83. 8 Walter Benjamin: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a.M. 1977, S. 258. Zur Herstellung einer »homogenen und leeren Zeit« vgl. auch Christoph Asendorf: Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert. Gießen 1984, S. 100-109. 9 Vgl. Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. With a new preface by the author. Princeton/ Oxford 2008, S. 72ff. Frederike Felcht, Mannheim 80 Behschnitt Andersens vorgestellte Geografie Dänemarks. 10 Elisabeth Oxfeldt bettet Vorstellungen der Nation noch deutlicher in einen globalen Rahmen ein. Sie befragt nationale Selbstbilder in Nordic Orientalism auf Grundlage einer kritischen Rezeption von Edward W. Saids Orientalism und geht unter anderem ausführlicher auf Nattergalen (1843; Die Nachtigall) ein. 11 Aus einer globalen Perspektive können Lokales, Nationales oder Regionales 12 nicht unabhängig von umfassenderen Weltbildern gedacht werden, die wiederum als Bewusstsein anderer möglicher Lebenswelten den eigenen Standpunkt in Frage stellen können. Spuren eines solchen globalen Wahrnehmungsrahmens finden sich bereits in Andersens Texten und geben Anlass, das Verhältnis von Nationalisierung und Globalisierung kritisch zu betrachten. Eine Lektüre von Andersens Texten mit dem Einfallswinkel Globalisierung soll nicht den Eindruck erwecken, bei Globalisierung handle es sich um einen widerspruchsfreien Prozess. Stattdessen soll das Potential von Globalisierung ersichtlich werden, Fragen zu stellen, die an bekannte Themen anknüpfen und diese aus einem Standpunkt im Jetzt weiter denken. Im Folgenden wird keine Theorie der Globalisierung entwickelt und auf den Text angewendet. Im Zentrum steht stattdessen der Text selbst. In diesem lassen sich einerseits Spuren globalgeschichtlicher Prozesse entdecken. Andererseits eröffnet seine Form des Erzählens neue Perspektiven für globales Geschichtsdenken. 2. Übersetzungen, Zeit und Herrschaft Trotz seiner Kürze - die dänische Ausgabe umfasst etwa dreieinhalb Seiten - handelt es sich bei Oldefa’er um einen ausgesprochen komplexen Text. Dass er 1870 zunächst in englischer Übersetzung erschien und erst danach auf Dänisch (vgl. EoH III, 448), deutet auf ein im Kontext von Globalisierungsprozessen und Literaturwissenschaft zentrales Thema hin: Die Übersetzung. Im Falle Andersens zeigt sich sehr deutlich, dass sprachliche Übersetzungsprozesse in der Literatur zugleich eine kulturelle und eine ökonomische Dimension aufweisen. Die Übersetzung seiner Texte ist Bestandteil kultureller Austauschprozesse in einer langen, überwiegend europäischen Literaturtradition. Andersen wird in anderen Ländern lesbar und Teil eines transnationalen Textgewebes, in dem ein Transfer von Ideen über Sprachgrenzen hinweg möglich wird, wenn auch unter Inkaufnahme übersetzungsbedingter Verschiebungen. Aufgrund herrschender Moralvorstellungen kam es bei einigen Übersetzungen auch zu Eingriffen, in deren Zuge sexuelle Anspielungen oder sub- 10 Vgl. Behschnitt: Wanderungen (Anm. 3) S. 391-438. 11 Vgl. Elisabeth Oxfeldt: Nordic Orientalism. Paris and the Cosmopolitan Imagination 1800- 1900. Kopenhagen 2005, S. 83-97. 12 Regional können auch staatenübergreifende Strukturen sein. Vgl. Peter E. Fäßler: Globalisierung. Ein historisches Kompendium. Köln u.a. 2007, S. 215. Oldefa’er und die Geschichten der Globalisierung 81 versive Ansätze getilgt wurden. 13 Übersetzungen finden nicht im herrschaftsfreien Raum statt. Es ist kein Zufall, dass Andersens Text zuerst auf Englisch erschien: Handelt es sich hierbei doch um einen zentralen Markt literarischer Übersetzungen. Übersetzung hatte im Falle Andersens nahezu immer auch eine ökonomische Dimension, da der kleine dänische Buchmarkt finanziell wenig abwarf. Weil sich internationale Urheberrechtsvereinbarungen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchsetzen konnten, war es wichtig, fremde Märkte im persönlichen Kontakt mit den dortigen Verlegern zu erobern, um Verträge abschließen zu können, die ein Honorar einschlossen. 14 Zum Zeitpunkt des Erscheinens von Oldefa’er hatte Andersen sich auf den wichtigen englischen und deutschen Buchmärkten bereits infolge einer geschickten Selbstvermarktungsstrategie etabliert. Um sprachliche Übersetzungsprozesse geht es jedoch im Text selbst weniger. Stattdessen könnte man von einem Übersetzungsprozess sprechen, der verschiedene Formen von Zeit betrifft. Fragen nach der Bewertung von alter und neuer Zeit, von Tradition und Fortschritt, sind zentrale Themen des Textes. Oldefa’er verhandelt Repräsentationen von Vergangenheit und Gegenwart und hat insofern Teil am wachsenden historischen Interesse seit der Aufklärung. Im Text dreht sich die Darstellung von Geschichte insbesondere um Konstellationen von Herrschaft und Gewalt sowie um Technik und Fortschritt. Aage Jørgensen sieht in Oldefa’er ein Beispiel für ein relativ unzweideutiges Primat der Modernität, während Dryaden (1868; Die Dryade) deutlich ambivalenter sei. 15 Obgleich das Ende von Oldefa’er optimistischer ist als das von Dryaden, akzentuiert meine Interpretation die Vieldeutigkeit der Geschichte stärker. Diese Vieldeutigkeit hängt auch damit zusammen, dass in Oldefa’er verschiedene Stimmen zu Wort kommen, deren Aussagen teilweise unkommentiert nebeneinander stehen. Zu Beginn erzählt der Ich-Erzähler von seinem klugen und guten Großvater, der mit der Geburt seines ersten Urenkels zum Urgroßvater aufsteigt. Urgroßvater liebt seine Familie herzlich, weniger jedoch die gegenwärtige Zeit: ›Gammel Tid var god Tid! ‹ sagde han; ›sindig og solid var den! nu er der saadan en Galop og Venden op og ned paa Alt. Ungdommen fører Ordet, taler om Kongerne selv, som om de vare dens Ligemænd. Enhver fra Gaden kan dyppe sin Klud i raaddent Vand og vride den af paa Hovedet af en Hædersmand! ‹ Ved saadan Tale blev Oldefa’er ganske rød i Ansigtet; men lidt efter kom igjen hans venlige Smiil og da de Ord: ›Naa, ja! maaskee tager jeg noget feil! jeg staaer i gammel Tid og kan ikke faae ret Fodfæste i den nye, Vor Herre lede og føre den! ‹ (EoH III, 264) 13 Vgl. z. B. W. Glyn Jones: H.C. Andersen in English - A Feasibility Study I. In: de Mylius u.a. (Hg.): Andersen og verden (Anm. 7) S. 85-99. 14 Zu einer Theorie eines literarischen Welt-Raums, bei dessen Herausbildung Übersetzungsprozesse von zentraler Bedeutung sind vgl. Pascale Casanova: The World Republic of Letters. Cambridge/ London 2007. Zur Globalisierung des Urheberrechts vgl. Fäßler: Globalisierung (Anm. 12) S. 94. Zu Andersens Angewiesensein auf außerdänische Märkte vgl. z. B. Steffen Auring u. a. (Hg.): Dansk litteraturhistorie. Bd. 5. Borgerlig enhedskultur 1807-1848. Kopenhagen 1984, S. 134-139. 15 Vgl. Jørgensen: H.C. Andersen (Anm. 7) S. 81. Frederike Felcht, Mannheim 82 ›Alte Zeit war gute Zeit! ‹ sagte er; ›besonnen und solide war sie! jetzt ist solch ein Galopp und Umwerfen von allem. Die Jugend führt das Wort, redet selbst über die Könige, als wären sie ihresgleichen. Jeder von der Straße kann seinen Lappen in faules Wasser tauchen und ihn auf den Kopf eines Ehrenmannes auswringen! ‹ Bei solch einer Rede wurde Urgroßvater ganz rot im Gesicht; aber kurz darauf kam sein freundliches Lächeln wieder und dann die Worte: ›Na ja! vielleicht irre ich mich etwas! ich stehe in alter Zeit und kann nicht recht Fuß fassen in der neuen, Unser Herr leite und führe sie! ‹ 16 Einerseits wird an dieser Stelle die Beschleunigungserfahrung der Moderne (»Galop«) verbunden mit dem Gefühl der Wurzellosigkeit - eine Kombination, die bereits in Dryaden (1868) wiederholt auftritt. 17 Andererseits wird in Oldefa’er Geschichte als Transformation von Herrschaft problematisiert. Hier tritt Urgroßvater als Anhänger traditioneller Formen von Herrschaft auf, als Verteidiger von Königen und Adligen. »Wenn Urgroßvater von alter Zeit sprach, war es als ob sie zu mir zurück käme«, 18 erklärt der Ich-Erzähler. In seinen Gedanken fährt er in einer Gold-Kutsche und sieht die festlichen Umzüge der Zünfte. Schon an dieser Stelle tritt eine Unsicherheit der zeitlichen Ordnung ein. Das bald darauf in Gestalt des älteren Bruders Frederik auftretende, in Oldefa’er teilweise und in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts weitgehend dominierende Fortschrittsnarrativ ist an eine lineare Zeitkonzeption gebunden. In einer solchen Zeitkonzeption ist die Zeit eine homogene, leere Struktur, in die sich Ereignisse chronologisch einfügen lassen, ohne die Zeitstruktur selbst zu verändern. 19 In dieser Zeitstruktur ordnet sich das Individuum einem abstrakten Schema unter. 20 Im Unterschied zu einer solchen Konzeption ist die Vorstellung, die Zeit kehre zum Ich-Erzähler zurück (und nicht der Ich-Erzähler gedanklich in die Vergangenheit), ein erster Hinweis auf die Subjektabhängigkeit geschichtlichen Denkens. Es folgt eine Reflexion über den Zusammenhang von Herrschaft und Gewalt in der alten Zeit: Der var jo rigtignok ogsaa i den Tid meget Fælt og Grueligt, Steiler, Hjul og Blods- Udgydelse, men alt det Gruelige havde noget Lokkende og Vækkende. Jeg fornam om de danske Adelsmænd, der gav Bonden fri, og Danmarks Kronprinds, der ophævede Slavehandelen. Det var yndigt at høre Oldefa’er fortælle derom, høre fra hans Ungdomsdage; dog Tiden foran den var dog den allerdeiligste, saa kraftig og stor. (EoH III, 264) 16 Wo nicht anders angegeben stammen die Übersetzungen von mir, F.F. 17 Vgl. diesbezüglich Detering und Depenbrock: Der Tod der Dryade (Anm. 7); Jørgensen: H.C. Andersen (Anm. 7); Johan de Mylius: Problemer omkring H.C. Andersens realisme. En skitse. In: Jørgen Breitenstein u. a. (Hg.): H.C. Andersen og hans kunst i nyt lys. Odense 1976, S. 128-131. 18 »Naar Oldefa’er talte om gammel Tid, var det ligesom om den kom tilbage til mig.« (EoH III, 264). 19 Vgl. Chakrabarty: Provincializing Europe (Anm. 9) S. 73f. 20 Vgl. Asendorf: Batterien der Lebenskraft (Anm. 8) S. 107. Oldefa’er und die Geschichten der Globalisierung 83 Es gab allerdings auch in dieser Zeit viel Garstiges und Grausames, Pfähle, Räder und Blutvergießen, aber all das Grausame hatte etwas Lockendes und Erregendes. Ich vernahm von den dänischen Adligen, die den Bauern frei gaben, und von Dänemarks Kronprinz, der den Sklavenhandel aufhob. Es war schön, Urgroßvater davon erzählen zu hören, von seinen Jugendtagen zu hören; doch die Zeit vor dieser war doch die allerschönste, so kräftig und groß. Erinnert wird hier, dass in der alten Zeit die Marter als Spektakel der Macht herrschte. In Überwachen und Strafen zeigt Michel Foucault, wie diese »Ökonomie der Verausgabung und des Exzesses« schließlich durch eine »Ökonomie der Kontinuität und Dauer« 21 ersetzt wurde. Die Marter wird nach Foucault im Zuge eines Abstraktionsprozesses abgeschafft, nach dem die Strafe »weniger dem wirklichen, schmerzempfindlichen Körper [...] als vielmehr dem juristischen Subjekt« 22 gilt. Die spektakuläre Grausamkeit weicht einer kontrollierten Ausübung von Macht. Foucault stellt den Wandel der Strafpraxis in den Kontext eines veränderten Status des Körpers in einer industriellen Ökonomie. Oldefa’er gibt ebenfalls Hinweise auf den geschichtlichen Zusammenhang der Abschaffung der Martern. Auf die Darstellung der herrschaftlichen Gewalt folgen in Oldefa’er unmittelbar Bauernbefreiung und Aufhebung des Sklavenhandels. Diese gesellschaftlichen Umwälzungen beruhen auf einer neuen Vorstellung von Gleichheit, die Urgroßvater eingangs in Form von Respektlosigkeit gegenüber den Herrschenden ablehnte, deren emanzipatorisches Potential jedoch an dieser Stelle ersichtlich wird. Zugleich sind Bauernbefreiung und Aufhebung des Sklavenhandels Indizien eines ökonomischen Transformationsprozesses, der in Oldefa’er nur indirekt, in seinen politisch-kulturellen Dimensionen, angesprochen wird: Bauernbefreiung und Aufhebung des Sklavenhandels sind Schritte in Richtung des massenhaften Auftretens freier Arbeiter, die für die Entstehung des modernen Kapitalismus zentral sind. Durch das Motiv der Aufhebung des Sklavenhandels wird deutlich, dass die modernen Vorstellungen von Gleichheit und der ökonomische Wandel im 19. Jahrhundert von Beginn an in einem globalen Spannungsfeld entstehen. Zudem wird hier erkennbar, dass Urgroßvater bereits eine Übergangsfigur ist. Die Vergangenheit, die dem Ich-Erzähler besonders reizvoll erscheint, kann dieser zwar in seiner Vorstellung hervorbringen, schon sein Großvater hat sie jedoch nicht persönlich erlebt. Damit wird auch in Frage gestellt, was für eine »gammel Tid« es eigentlich ist, in der Urgroßvater zu stehen vermeint, während er in der neuen nicht Fuß fassen kann. Denn mit der Bauernbefreiung und dem Verbot des Sklavenhandels steht das Leben des Großvaters von Beginn an im Zeichen gesellschaftlicher Umwälzungen. Handelt es sich bei der guten alten Zeit vielleicht nur um ein Konstrukt, eine retrospektive Vorstellung ursprünglicher Verwurzelung, die es in Wahrheit nie gegeben hat? Diese Frage stellt sich für das 19. Jahrhundert auch im 21 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt 2001, S. 111. 22 Ebd. S. 21. Frederike Felcht, Mannheim 84 Kontext von Vergangenheitskonstruktionen, die sich als eminent wirkungsmächtig für die Entstehung von Nationalstaaten erwiesen. 23 Die Antwort Frederiks auf die Idealisierung der alten Zeit ist in den Augen des Ich-Erzählers respektlos, da Frederik sie seinem Großvater geradeheraus sagt. Die vom jüngeren Enkel bewunderte und von Urgroßvater vermisste alte Zeit der Kraft und Größe wird von Frederik als rohe Zeit verworfen: »›Gott sei Dank, dass wir über sie hinaus sind! ‹« 24 Der älteste Bruder sagt von sich selbst, dass er der Vater des Ich-Erzählers sein könnte. Letzterer bemerkt dazu: »[E]r sagte halt so viel Komisches.« 25 An dieser Stelle wird ein Zweifel hinsichtlich der Aussagen Frederiks in den Text eingeschrieben: Wie ernst ist zu nehmen, was dieser sagt? Frederik verkörpert die neue Zeit, in der das Bürgertum zur herrschenden Klasse aufsteigt. Als Student mit besten Noten und als geschickter Geschäftsmann vereinigt er Bildung und Besitz. Mit Urgroßvater eint ihn eine Hassliebe, sie können ohneeinander nicht sein und streiten doch ständig. Oldefa’er hørte til med lysende Øine naar Frederik fortalte eller læste op om Fremskridt i Videnskaben, om Opdagelser af Naturens Kræfter, om alt det Mærkelige i vor Tid. ›Menneskene bliver klogere, men ikke bedre! ‹ sagde da Oldefa’er. ›De opfinde de forfærdeligste Ødelæggelsesvaaben mod hverandre! ‹ ›Des hurtigere er Krigen forbi! ‹ sagde Frederik, ›man venter ikke syv Aar paa Fredens Velsignelse! Verden er fuldblodig, den maa imellem have en Aareladning, det er fornødent! ‹ (EoH III, 265) Urgroßvater hörte mit leuchtenden Augen zu, wenn Frederik vom Fortschritt in der Wissenschaft erzählte oder vorlas, von Entdeckungen der Kräfte der Natur, von all dem Merkwürdigen in unserer Zeit. ›Die Menschen werden klüger, aber nicht besser! ‹ sagte dann Urgroßvater. ›Sie erfinden die furchtbarsten Vernichtungswaffen gegen einander! ‹ ›Umso schneller ist der Krieg vorbei! ‹ sagte Frederik, ›man wartet keine sieben Jahre auf den Segen des Friedens! Die Welt ist vollblütig, sie muss zwischendurch einen Aderlass haben, das ist nötig! ‹ Die Stelle bleibt unkommentiert stehen. Indem im Text zuvor darauf hingewiesen wurde, dass Frederik so viel Komisches oder Sonderbares (»Løierligt«) sagt, wird auch davor gewarnt, seine Worte unhinterfragt als Wahrheit zu akzeptieren - obgleich er die Insignien gesellschaftlichen Erfolgs trägt. Die angesichts des Fortschritts in Wissenschaft und Technik leuchtenden Augen des Urgroßvaters haben folgerichtig an Schärfe nicht verloren, wenn sie zugleich kritisch blicken und für die waffentechnologischen Innovationen auf das Gefälle zwischen moralischem Wollen und technischem Können hinweisen, das im 19. Jahrhundert deutlich spürbar wur- 23 Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983, S. 19; Eric Hobsbawm: Introduction: Inventing Tradition. In: Ders., Terence Ranger (Hg.): The Invention of Tradition. Cambridge 1989, S. 1-14. 24 »›Gud skee Lov at vi ere ud over den! ‹« (EoH III, 264). 25 »[H]an sagde nu saa meget Løierligt.« (Ebd.). Oldefa’er und die Geschichten der Globalisierung 85 de. Wie zynisch Frederiks Ansicht ist, lässt sich vielleicht erst aus unserem Standpunkt im Jetzt, vor dem Hintergrund der Massenvernichtungswaffen des 20. Jahrhunderts, in vollem Ausmaß begreifen. 26 Das Argument ist jedoch schon zum Zeitpunkt seiner Äußerung Ausweis der folgenschweren Idee, der einzelne Mensch könne überflüssig, ja schädlich sein für das optimale Funktionieren des Systems. Der Text lässt die Kehrseite des neuen Gleichheitsdenkens, das von der emanzipatorischen Gleich-Gültigkeit in eine vernichtende Gleichgültigkeit umschlagen kann, erkennbar werden. Der Zugriff auf den menschlichen Körper im Zeichen der Abstraktion von seiner konkreten Realität erlaubt die Vorstellung desselben als Partikel im Strom eines notwendigen Aderlasses. Die an organische Denkmodelle anknüpfende Körpermetaphorik lässt paradoxerweise einzelne Körper in Frederiks Denken als überflüssige konzeptualisierbar werden. Eine Bedeutungsverringerung des Einzelnen im Zeichen des großen Ganzen lässt sich auch in der Geschichte entdecken, die Frederik im Folgenden erzählt: In einer kleinen Stadt gab die Uhr des Bürgermeisters, die große Rathausuhr, der Bevölkerung die Zeit an. Die Menschen richteten sich nach ihr, obgleich sie nicht ganz genau ging. Als jedoch Eisenbahnen in dieses Land kommen, die mit denen aller anderen Länder in Verbindung stehen, wird eine genaue Zeitmessung wichtig, um Unfälle zu verhindern. Die Eisenbahn bekommt eine Uhr, die sich nach der Sonne richtet und richtig geht. An dieser orientieren sich nun die Bewohner der Stadt. 27 In dieser kleinen Geschichte wird der globalisierende Charakter technischer Innovationen greifbar. Die Eisenbahn verbindet nicht allein verschiedene Länder miteinander, sondern erfordert zugleich einen grenzüberschreitenden Standardisierungsprozess, die Herstellung einer Zeit, die die Vernetzung erst erlaubt. 28 Mit der Herstellung einer universellen Zeit verbindet sich eine Verschiebung von Macht: Die Uhr des Bürgermeisters wird durch die Sonnenuhr verdrängt. Die Sonne verkörpert die Suche nach allgemeingültigen, nicht lokal gebundenen Prinzipien. Metaphorisch verweist sie zugleich auf die Idee einer universalen Vernunft, blickt jedoch auch auf eine Tradition als Herrschaftssymbol in monarchischen Zusammenhängen zurück, die beispielsweise Peter Sloterdijk nachzeichnet. Mit der Sonnenmetaphorik verbindet sich nach diesem auch die Idee der Fern-Herrschaft. 29 Im Text wird ersichtlich, dass das universalistische Zeitmodell historisch bedingt ist. Es erhebt aber über seinen spezifischen Entstehungsrahmen hinaus Geltungsanspruch. Indem Frederik über die Uhr des Bürgermeisters aussagt: »Die Uhr ging 26 Welche Tragweite die Einsicht des Urgroßvaters im späteren Angesicht der Atombombe haben kann, lässt sich in Günther Anders’ Philosophie nachvollziehen. Vgl. Ders.: Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 1994, S. VIIf. und S. 233-324. 27 Vgl. EoH III, 265. 28 Vgl. Fäßler: Globalisierung (Anm. 12) S. 91-94; Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt 2004, S. 35-45. 29 Vgl. Peter Sloterdijk: Sphären II. Globen. Frankfurt 1999, S. 702-727. Frederike Felcht, Mannheim 86 nicht ganz richtig« 30 , übersetzt er die allgemeingültig auftretende Sonnenuhr- und Eisenbahnzeit in die Vergangenheit. Die Richtigkeit der Eisenbahnzeit kann aber nur sinnvoll ausgesagt werden, wenn es eine Eisenbahn gibt, die eine genaue Taktung erforderlich macht. Obgleich Zeit nicht unabhängig von ihrer historischen und lebensweltlichen Situation gilt, wird im universalen Geltungsanspruch der Eisenbahnzeit vom lokalen und historischen Charakter von Zeitmodellen abstrahiert. 31 Oldefa’er fragt nach dem Zusammenhang von Zeit, Ort und Herrschaft in universalistischen Systemen. Während der Ich-Erzähler nach Frederiks Geschichte lacht, wird sein Großvater ernst und bedient sich ebenfalls des Geschichtenerzählens, das zugleich ein Geschichte-Erzählen ist. Er berichtet von der Uhr seiner Kindertage, die nicht genau ging, deren Funktionsweise jedoch nicht weiter hinterfragt wurde. Stattdessen vertraute man dem Zeiger. ›Nu er Staatsmaskinen bleven et Uhr af Glas, hvor man kan see lige ind i Maskineriet, see Hjulene dreie og snurre, man bliver ganske angest for den Tap, for det Hjul! hvorledes skal det gaae med Klokkeslettet, tænker jeg, og har ikke længer min Barnetro.‹ (EoH III, S.265) ›Jetzt ist die Staatsmaschine eine Uhr aus Glas geworden, wo man direkt in die Maschinerie hineinsehen kann, die Räder drehen und schnurren sehen, man bekommt Angst vor dem Zapfen, vor dem Rad! wie soll es mit dem Glockenschlag gehen, denke ich, und habe meinen Kinderglauben nicht länger.‹ Anstelle des Kinderglaubens tritt die Einsicht in eine »Mikrophysik der Macht« 32 im Wortsinne, eine verteilte Macht, in der das Vertrauen in den Zeiger und das Gefühl der Sicherheit verloren gegangen sind. Diese Macht bleibt trotz ihrer Transparenz und scheinbaren Rationalität unheimlich und furchteinflößend. Und diese Gefühle haben ihre Berechtigung, denkt man sie im Kontext der zuvor angesprochenen Vernichtungswaffen, die der Fortschritt mit sich bringt. In der Welt, die von scheinbar universell vernünftigen Prinzipien regiert wird, die weltweite Standardisierungsprozesse wie die Entstehung einer Weltzeit anzustoßen vermögen, verschwindet die Gewalt nicht, sie verändert nur ihre Gestalt. Die auf den ersten Blick rätselhafte Furcht vor Zapfen und Rad ist ein Rückgriff auf Pfahl und Räder der alten Zeit und die ihnen inhärente Grausamkeit, die hier unverzichtbarer, wenn auch weitgehend domestizierter Bestandteil des Systems wird. 30 »Uhret gik ikke ganske rigtigt« (EoH III, 265). 31 In diesem Prinzip gründet auch der von postkolonialen Historikern kritisierte eurozentrische Charakter von Fortschrittsgeschichte, nach der alle Länder am europäischen Modell von Geschichte gemessen werden. Vgl. Chakrabarty: Provincializing Europe (Anm. 9) S. 3-46; Sebastian Conrad und Shalini Randeria: Einleitung. Geteilte Geschichten - Europa in einer postkolonialen Welt. In: Dies. (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichtswissenschaften. Frankfurt/ New York 2002, S. 35-38. 32 Foucault: Überwachen (Anm. 21) S. 38. Oldefa’er und die Geschichten der Globalisierung 87 3. »at Verden i det Hele taget gaaer frem til det Bedre«? Im zweiten Teil der Geschichte erfährt Technik eine deutlich positivere Interpretation. Wie alte und neue Zeit können auch Frederik und Urgroßvater nicht ohneeinander auskommen, heißt es, doch Frederik muss auf eine Geschäftsreise nach Amerika. 33 Die Trennung fällt schwer, wird aber erleichtert durch die beschleunigte Kommunikation zwischen den Erdteilen. Auf deren Effekt auf die Raum-Zeit- Wahrnehmung wird später noch genauer eingegangen. Nach einem Monat, in dem zahlreiche Botschaften den Atlantik überquert haben, trifft die Nachricht ein, dass Frederik sich verlobt hat. Eine Fotografie erlaubt es der Familie, die Auserwählte bereits durch ein Vergrößerungsglas zu betrachten, bevor sie überhaupt eingetroffen ist. Urgroßvater ist begeistert und vermeint, die Verlobte nun schon zu kennen, wenn sie durch die Tür tritt. »Aber das wäre beinahe niemals geschehen; glücklicherweise hörten wir zuhause nicht recht von der Gefahr, bevor sie vorbei war.« 34 Das junge Paar erleidet auf seiner Heimreise Schiffbruch. Eine Rettung scheint unmöglich, da kein Rettungsboot die Unglücksstelle erreichen kann. Mittels eines an einer Rakete befestigten Taus gelingt es jedoch, eine Verbindung zum Festland herzustellen und so können sich in einem Rettungskorb alle von Bord retten. Der bereits durch die Vernichtungswaffen etablierte Zusammenhang von Technik und Krieg erfährt hier eine positive Wendung: Mit der relativ jungen beschriebenen Rettungstechnik wird aus einer Waffe, der Rakete, ein Instrument der Lebensrettung. Die Stelle verweist implizit auf den insbesondere in Europa auch technisch gegebenen engen Zusammenhang zwischen militärischer und kommerzieller Seefahrt, der auf weltpolitischer Ebene einen wichtigen Faktor für die europäische Vorherrschaft in vielen Weltregionen darstellte. 35 Als die Familie von der Rettung Frederiks erfährt, weinen alle. Urgroßvater faltet seine Hände »und - ich [der Ich-Erzähler, F. F.] bin mir dessen sicher - segnete die neue Zeit.« 36 Er spendet auch für ein Ørsted-Monument, was Frederik sehr begrüßt: ›det var Ret Oldefa’er! nu skal jeg ogsaa læse for Dig hvad Ørsted allerede for mange Aar tilbage skrev om gammel Tid og vor Tid! ‹ ›Han var vel af din Mening? ‹ sagde Oldefa’er. ›Ja, det kan Du nok vide! ‹ sagde Frederik, ›og Du er med, Du har givet til Monumentet for ham! ‹ (EoH III, 267) 33 Vgl. EoH III, 265. 34 »Men nær var det aldrig skeet; lykkeligviis hørte vi hjemme ikke ret om Faren, før den var forbi.« (EoH III, 266). 35 Vgl. Franz Marie Feldhaus: Ruhmesblätter der Technik. Von den Urerfindungen bis zur Gegenwart. Bd. 1. Leipzig 1924, S. 261-264; Osterhammel und Petersson: Geschichte der Globalisierung (Anm. 4) S. 46-50. 36 »og - jeg er vis derpaa - velsignede den nye Tid.« (EoH III, 267). Frederike Felcht, Mannheim 88 ›das war Recht, Urgroßvater! jetzt will ich Dir auch vorlesen, was Ørsted schon vor vielen Jahren über die alte Zeit und unsere Zeit geschrieben hat! ‹ ›Er war wohl deiner Meinung? ‹ sagte Urgroßvater. ›Ja, das kannst Du schon wissen! ‹ sagte Frederik, ›und Du bist dabei, Du hast für das Monument für ihn gespendet! ‹ Dies ist das Ende des Textes. Alte und neue Zeit scheinen im Zeichen des Fortschritts versöhnt. Die Technik als Segen setzt sich in der zweiten Hälfte des Textes durch. In seinen Bemærkninger til Eventyr og Historier (1874; Bemerkungen zu den Märchen und Geschichten) erklärt Andersen: ›Oldefa’er‹ blev nedskrevet i Erindringen om en Samtale en Gang med H.C. Ørsted, om ›gammel Tid og ny Tid‹, hvorom han havde skrevet en Afhandling i Kjøbenhavns Almanak. (EoH III, 397) ›Urgroßvater‹ wurde niedergeschrieben in Erinnerung an ein Gespräch mit H.C. Ørsted über ›alte Zeit und neue Zeit‹, worüber er eine Abhandlung in Kopenhagens Almanach geschrieben hatte. Der von Andersen genannte Aufsatz wurde in Ørsteds Aanden i Naturen (1849- 1850; Der Geist in der Natur) aufgenommen und verdient im Zusammenhang mit Oldefa’er eine genauere Betrachtung. 37 Ørsted geht darin von der Frage aus, ob die Welt schlechter wird. Dies verneint er ausdrücklich. Zentral sind für Oldefa’er Ørsteds Überlegungen zur moralischen Entwicklung der Menschheit. Wie ein Mensch mit zunehmendem Alter klüger werde, werde auch die Menschheit aufgeklärter, je älter sie werde. Die Jungen lernten überall von den Alten. Ørsted betrachtet das Lob auf die Tapferkeit der Vorväter kritisch. Die Menschen seien früher leichter zu Zorn und Raubgier getrieben worden und führten unaufhörlich Kriege, da eine gute Regierung und gute Einrichtungen weitgehend fehlten. Dagegen seien die menschlichen Leidenschaften heute stärker von der Vernunft gezähmt. Auch sei man vorsichtiger damit geworden, Kriege zu beginnen, die so vieler Menschen Leben und Wohlergehen aufs Spiel setzten. Werde dennoch Krieg geführt, seien die Menschen nicht weniger tapfer als die früheren Generationen. Mit Ehrlichkeit und Aberglauben stand es nach Ørsteds Überzeugung früher schlechter als heute. Die Aufklärung trage kräftig dazu bei, Habgier, Grausamkeit und Hochmut einzudämmen. Je aufgeklärter das Christentum, desto stärker treten Liebe und Demut in den Vordergrund. Beide gehörten zusammen, da es einen Mangel an Liebe verrate, andere gering zu schätzen. Diese Entwicklung des Christentums drücke sich auch in einer besseren Behandlung der einfachen Leute aus. Ørsted nennt als Beispiele für die entwickelte christliche Nächstenliebe die Bauernbefreiung und die Aufhebung des Sklavenhandels; schließlich verweist er noch auf die zunehmende Zahl derer, die dafür arbeiten, die Verhältnisse der Armen zu 37 Vgl. Hans Christian Oersted: Gamle og nye Tider. In: Ders.: Aanden i naturen. Bd. 2. Naturvidenskaben og Aandsdannelsen. Kopenhagen 1850, S. 135-149. Oldefa’er und die Geschichten der Globalisierung 89 mildern, sogar die Verbrecher auf den rechten Weg zurück zu führen und die Botschaft der Bibel zu verbreiten. Abschließend differenziert er seine Argumentation noch einmal dahingehend, dass es auch in der Vergangenheit viel Gutes gegeben habe und auch heute noch Vieles verändert werden müsse. »Meine Absicht war nur zu zeigen, dass die Welt im Ganzen genommen vorwärts zum Besseren geht« 38 . Dabei will Ørsted den Weg aufzeigen, der dorthin geführt hat und weiter zu gehen ist. Ist Ørsted der Meinung Frederiks, wie dieser behauptet? Ørsteds Betonung christlicher Liebe und Demut, die eine Geringschätzung anderer ausschließen, sowie seine pazifistische Argumentation hinsichtlich der Tapferkeit lassen kaum an Frederiks Aussagen denken. Die behauptete aufklärerische Eindämmung von Habgier, Grausamkeit und Hochmut erfährt in der Figur Frederiks teilweise ihre Widerlegung. Dieser ist schließlich ein Geschäftsmann, der Kriege von Zeit zu Zeit als Aderlass begrüßt und seinem Großvater gegenüber stellenweise respektlos auftritt. Trotz des überaus optimistisch anmutenden Endes von Oldefa’er ist damit Anlass gegeben, die Standpunkte der Einzelnen im Gefüge der Geschichte noch einmal genau zu betrachten. Geht Ørsted von einem moralischen Fortschritt der Menschheit aus, ist die Geschichte Oldefa’er diesbezüglich deutlich vorsichtiger, artikuliert in der Position Urgroßvaters gegenüber den Tendenzen der jüngeren Generation, Gewalt gutzuheißen. Die segensreiche Verwendung technischer Neuerungen ist in Oldefa’er bedroht von der Lust an der Gewalt ebenso wie von einer den Menschen überragenden Technik. Gewaltlust schlägt den Ich-Erzähler in den Bann, wenn er von der Größe und Kraft der Zeit der Marter spricht. Dabei wird deutlich, dass die scheinbar in der Zeit geordnete Abfolge der Generationen nicht zwingend die Reihenfolge hat, die Ørsted beschreibt. Hier verbindet sich vielmehr die jüngste Generation mit einer retrospektiven Vorstellung von der alten Zeit, die sie in ihrem Denken eigentlich erst hervorbringt. Zeiten lösen in Oldefa’er einander nicht nur ab, sondern greifen auch ineinander und erzeugen sich gegenseitig. Frederik begrüßt als Vertreter der jungen Generation massenhaftes Sterben im Krieg - als Heilmittel gesellschaftlicher Überreiztheit. Diese Überreiztheit entsteht jedoch vielleicht erst durch die Beschleunigung des Lebens, wie sich im Zorn des Großvaters angesichts der ständigen Umwälzungen der Gesellschaft und des damit verbundenen Verlustes an Halt andeutet. Die Auflösung überlieferter und lokal verankerter gesellschaftlicher Ordnungen und der wahrnehmungstechnische Wandel lösen eine in Aggression mündende Überforderung aus. Damit wird der Fortschritt zugleich Voraussetzung für Explosionen der Gewalt. 38 »Min Hensigt var kun at vise, at Verden i det Hele taget gaaer frem til det Bedre.« Zitiert nach ebd. S. 149. Zu der hier wiedergegebenen Argumentation vgl. ebd. S. 135 und S. 143- 149. Frederike Felcht, Mannheim 90 4. Der Raum der Geschichte(n) Die mehrfach genannte Beschleunigung ist eine raumzeitliche Wahrnehmung, die sich mit den im Text auftretenden Techniken der Eisenbahn, des Dampfschiffs und des Telegrafen verändert. Diesem Wandel wird abschließend nachgegangen. Dabei wird ersichtlich, dass der Text sich in einem zunehmend technisch durchdrungenen globalen Raum bewegt. Schon mit dem Sklavenhandel wurde der Zusammenhang europäischer Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen mit außereuropäischen Prozessen angesprochen. Mit Frederiks Amerikareise tritt der wirtschaftliche und kulturelle Verflechtungsschub hervor, der das 19. Jahrhundert wesentlich prägte. Dieser wurde wesentlich durch die in Oldefa’er angesprochenen Techniken und Standardisierungen geprägt. 39 Zuerst fällt Frederiks Familie die Trennung schwer: »und die Reise war so lang, ganz über das Weltmeer, zu einem anderen Teil der Erdkugel.« 40 Im Bild der Erdkugel bzw. des Erdenkörpers ist das Sediment eines kulturgeschichtlichen Prozesses enthalten. Dass die Erde als ein in allen seinen Teilen erreichbarer Körper vorgestellt wird, hat eine lange Vorgeschichte, die zurückgeht auf die Entdeckung des in Oldefa’er angesprochenen Erdteils Amerikas, welche die europäische Expansion und damit die von Peter Sloterdijk so genannte ›terrestrische Globalisierung‹ 41 einläutete. Der ferne Handelskontakt ist inzwischen eingebunden in ein transnationales Verkehrs- und Nachrichtennetz. Im Zuge der wachsenden wirtschaftlichen Integration Amerikas muss Frederik dorthin, um Geschäfte zu machen, und kann dabei seinem Großvater einen Brief alle zwei Wochen versprechen, »›und schneller als alle Briefe wirst du durch den Telegrafendraht von mir hören können; die Tage werden Stunden, die Stunden Minuten.‹« 42 Die Beschleunigung der Kommunikation und die schnelle Überwindung räumlicher Distanzen bewirken, was David Harvey als ›time-space compression‹ beschreibt: Die benötigte Zeit, um Raum zu durchqueren, nimmt ab. Zugleich wachsen weltweite Abhängigkeiten, und indem sich Zeithorizonte verkürzen tritt die Gegenwart in den Vordergrund. 43 In Oldefa’er ist die notwendige Geschäftsreise Zeichen der globalen Interdependenz, mit ihr tritt die Gegenwart ganz in den Vordergrund: Die Vergangenheit wird nur noch einmal thematisiert, als die Vorzüge der Fotografie gegenüber der Malerei festgehalten werden. 44 Harvey betont, dass es bei diesem Prozess immer wieder zu krisenhaften Momenten kommt, in denen progressive Zeitvorstellungen ins Wanken geraten und die Kontrolle über den 39 Vgl. Fäßler: Globalisierung (Anm. 12) S. 74-97. 40 »og Reisen var saa lang, heelt over Verdenshavet, til en anden Deel af Jordkloden.« (EoH III, 266). 41 Vgl. Ders.: Sphären II (Anm. 29) S. 801-1005; Ders.: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Frankfurt 2006. 42 »›og hurtigere end alle Breve, vil Du gjennem Telegraphtraaden kunne høre fra mig; Dagene bliver Timer, Timerne Minutter! ‹« (EoH III, 266). 43 David Harvey: The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change. Cambridge/ Oxford 1990, S. 242ff. 44 Vgl. EoH III, 266. Oldefa’er und die Geschichten der Globalisierung 91 medial-technisch durchdrungenen Raum der Erfahrung der daraus hervorgehenden unkontrollierbaren Effekte weicht. 45 Unkontrollierbare Effekte treten auch in Oldefa’er in der medial beschleunigten Kommunikation zwischen Großvater und Enkel auf, in Form einer fehlerhaften Meldung; erinnert werden kann auch an den unzuverlässigen Zeiger der transparenten Uhr, der im Text im Anschluss an die vernetzte Zeit vorgestellt wird. Zunächst ist Urgroßvater ob der Nachrichten begeistert und preist Gott für die Möglichkeit einer nahezu an Echtzeitkommunikation heranreichenden Beschleunigung der Nachrichtentechnik seiner Zeit. Dass dabei der Ich-Erzähler erklärt, diese Naturkräfte (gemeint ist der Elektromagnetismus) seien laut Frederik zuerst im eigenen Land verstanden und ausgesprochen worden, 46 verdeutlicht, dass globale Vernetzungstechnik und nationale Abgrenzung zeitlich zusammenfallen können. Globalisierung und Nationalisierung sind nicht zwingend als Gegensatzpaar fassbar, wie dies beispielsweise bei Ulrich Beck geschieht. 47 Der Nationalstaat ist von Beginn an Teil eines globalen Vernetzungsprozesses; nationale und transnationale Verbindungen schließen sich nicht aus, sondern aneinander an - das wird bereits im Motiv der Eisenbahn deutlich. Urgroßvater antwortet seinem Enkel, dass er in die Augen des Entdeckers dieser Naturkraft geblickt habe; diese seien Kinderaugen wie die seinen gewesen. Steht diese Charakterisierung Ørsteds für Unschuld und kindliche Neugier? Oder kann darin auch Ausdruck einer Naivität gelesen werden, die Entdeckern neuer Technologien nicht unbedingt zum Vorteil gereicht? Ein ambivalentes Bild geben kurzfristig auch die von Urgroßvater gepriesenen Segnungen der Telekommunikation ab. Denn zum Zeitpunkt der Heimreise Frederiks erreicht die Familie per Telegramm das Gerücht, dass ein englisches Dampfschiff untergegangen sei, woraufhin alle »große Herzensangst« 48 bekommen. Noch in der gleichen Stunde erreicht die besorgten Angehörigen aber eine Nachricht Frederiks, und es fließen Tränen der Erleichterung. Damit wird klar, dass das Medium allein wenig aussagt, auf den Inhalt der Botschaft kommt es an. Oldefa’er entwickelt ein mehrfach gebrochenes und gewendetes Narrativ der Moderne. Dieses verknüpft die Motive abstrakter Herrschaft, kommunikations- und transporttechnischer Vernetzung, die eine Vereinheitlichung von Zeit vorantreibt, und des Aufstiegs eines von Handel und Wissenschaft durchdrungenen Bürgertums. An verschiedenen Stellen gibt es Hinweise darauf, dass Moderne ein globales Projekt ist. Handel und Produktion vollziehen sich im Kapitalismus in weltweiten Kontexten. Ebenso wird der globalisierende Charakter zentraler technischer Neuerungen des 19. Jahrhunderts, der Eisenbahn, des Dampfschiffs, der Telegrafie und 45 Vgl. Harvey: Condition (Anm. 43) S. 261. Ein zentrales Krisenereignis fällt nach Harvey in die Jahre 1847-1848. 46 Für Helge Kragh liegt hier die zentrale Botschaft der Geschichte: Hans Christian Ørsted trete in ihr beinahe als Erfinder der Telegrafie auf. Vgl. Ders.: H.C. Andersen, Ørsted og Naturvidenskaben. In: Gamma 139 (2005), S. 16f. M.E. ist Andersens Verhältnis zum technischen Fortschritt deutlich ambivalenter als Kragh annimmt. 47 Vgl. Beck: Was ist Globalisierung? (Anm. 4) S. 34. 48 »stor Hjerteangst« (EoH III, 267). Frederike Felcht, Mannheim 92 der Beschleunigung des Postwesens in Oldefa’er ersichtlich: Sie verknüpfen Länder, bis hin zu Kontinenten. Reflektiert wird jedoch nicht allein der beschleunigte Austausch von Informationen und Menschen in einem solchen Weltsystem und dessen Herausforderungen an das Individuum, das den Erfordernissen des globalen Marktes mit seinen Konsequenzen für das familiäre Zusammenleben nachkommen muss. Auch der Transformation von Herrschaft im Zeichen der Durchdringung des Welt- Raums durch die neuartige Mikrophysik der Macht wird nachgegangen. Dass gerade die Verfügung über die Form der Zeit eine Herrschaftstechnik ist, wird im Text klar ersichtlich. Damit reflektiert er implizit sein eigenes Unterfangen, Geschichte zu erzählen. In der Autorität der Sonnenuhr und der mit ihr verbundenen Zeitkonzeption ist auch die Möglichkeit begründet, die Geschichte (im Singular) zu erzählen, der alle lokalen Geschichten untergeordnet werden. Indem Oldefa’er die Historizität dieser Vorstellung ersichtlich macht, wird deutlich, dass diese Idee von Geschichte nicht die einzig mögliche ist. Zwar dominiert insbesondere in der zweiten Hälfte des Textes ein fortschrittsoptimistisches Narrativ. Dieses wird aber durch die Figurenkonzeptionen unterlaufen. Es ist kein Zufall, dass in Oldefa’er Geschichte von mehreren Personen erzählt wird. Dadurch nimmt sie eine multiperspektivische Gestalt an, die sich Komplexitätsreduktionen wie denen eines eindimensionalen Fortschrittsnarratives entzieht. Indirekt stellt dieses plurale Erzählen universelle Geschichtsmodelle infrage. Und macht auf diesem Wege ein Potential kritischen Geschichtsdenkens ersichtlich, das vielleicht besonders Literatur inhärent ist. Die Ablösung individueller Verantwortlichkeit in lokal begrenzten Herrschaftsbereichen durch abstrakt-allgemeingültige Prinzipien wird von Urgroßvater problematisiert - eine Kritik, die an Aktualität kaum verloren hat und im Globalisierungsdiskurs von großer Relevanz ist. Urgroßvater misstraut der Staatsmaschinerie, die sich transparent und rational organisiert gibt, vielleicht nicht zu Unrecht. Denn welches Geschehen, welchen Glockenschlag, sie letztlich hervorbringt, bleibt in der Moderne ebenso wenig vollständig vorhersagbar wie zuvor. Oldefa’er und die Geschichten der Globalisierung 93 Literatur Primärliteratur H.C. Andersens samlede værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Kopenhagen 2003-2007. Bd. 3. Eventyr og Historier III. Hg. von Laurids Kristian Fahl u. a. Kopenhagen 2003. (= EoH III) Bd.15. Rejseskildringer II. 1851-1872. Hg. von Laurids Kristian Fahl u. a. Kopenhagen 2006. Hans Christian Oersted: Gamle og nye Tider. In: Aanden i naturen. Bd. 2. Naturvidenskaben og Aandsdannelsen. Kopenhagen 1850, S.135-149. Sekundärliteratur Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd.1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 1994. Anderson, Benedict: Imagined Communities. 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Andersens Dingmärchen T HOMAS S EILER , Z ÜRICH Es gibt kaum einen Märchendichter, bei dem der Themenkomplex Erinnern und Vergessen eine ähnlich prominente Rolle spielt wie beim Dänen H.C. Andersen. In seinen Dingmärchen 1 ist die Auseinandersetzung mit der Memoria eng verknüpft mit der beginnenden Moderne und damit mit einer Epoche, in der die manuelle Herstellung der Güter zunehmend von der industriellen Fertigung derselben abgelöst wird. Wie sich diese Produktionsveränderung auf die Gedächtnisfähigkeit des Einzelnen auswirkt, ist eine der spannenden Leitfragen, die Andersens Dingmärchen durchzieht. Diese Texte sind meist von einem bestimmten Muster geprägt: Ein in die Jahre gekommener und deshalb oft beschädigter Gegenstand läuft wegen technischer Innovationen Gefahr, aus dem Verkehr gezogen und zerstört zu werden. Als drohendes Opfer des Fortschritts erinnert sich dieser noch einmal an die gute alte Zeit. Im Märchen Den gamle Gadeløgte (1847; Die alte Straßenlaterne) etwa wird die Geschichte einer Straßenlaterne erzählt, die eingeschmolzen werden soll. Bei diesem Gedanken quält sie vor allem »at den ikke vidste, om den da beholdt Erindringen om, at den havde været Gadeløgte« 2 (EoH I, 387). 3 Im Märchen Theepotten (1864; Die Teekanne) wird die Transformation einer Teekanne in eine Scherbe geschildert, auch dieser Text weist der Erinnerung eine wichtige Funktion zu, wenn es am Schluss heißt: »[…] og jeg blev kastet ud i Gaarden, ligger der som et gammelt Skaar, - men jeg har Erindringen, den kan jeg ikke miste.« 4 (EoH III, 49). Der Text Den stumme Bog (1863; Das stumme Buch) schließt mit den Worten »Gjemt - glemt! « 5 (EOH III, 45), und ein anderer Text straft gerade diese Aussage 1 Unter einem Dingmärchen versteht die Forschung ein Märchen, in dem ein Ding, ein Gegenstand menschliche Züge erhält, eine Art von Personifizierung desselben. Der Gegenstand, z.B. ein Zinnsoldat, erhält menschliche Eigenschaften, er kann sprechen, handeln etc. In unserem Zusammenhang besonders interessant sind Gebrauchsgegenstände, die entweder kaputt gehen oder wegen fortschreitender Modernisierung Gefahr laufen, aus dem Verkehr gezogen zu werden. Zur Typologie der Dingmärchen vgl. Jette Lundbo Levy: Om ting der går i stykker. Ekelöf og Andersen. In: Edda 1998: 3, S. 259-267, hier S. 261. 2 »[D]aß sie nicht wusste, ob sie dann die Erinnerung daran behielt, daß sie Straßenlaterne gewesen war.« (ASM I, 418) Die Übersetzungen werden nach folgender Ausgabe zitiert: H.C. Andersen: Sämtliche Märchen, Düsseldorf 2003 (zwei Bände in einem). 3 Andersens Texte werden unter der Sigle EoH nach der neuen maßgebenden Ausgabe H.C. Andersens samlede værker zitiert, die von Klaus P. Mortensen im Namen von Det Danske Sprogog Litteraturselskab herausgegeben wurde. 4 »[…] und ich wurde auf den Hof hinausgeworfen, liege da als ein alter Scherben - aber ich habe die Erinnerung, die kann mir keiner nehmen.« (ASM II, 402). 5 »Verwahrt - vergessen! « (ASM I, 507). Thomas Seiler, Zürich 96 Lügen, wenn in ihm drei Beispiele erzählt werden, die die Titelgebung »Gjemt men ikke glemt« (»Bewahrt ist nicht vergessen«) illustrieren sollen. Im berühmten Märchen Sneedronningen (1845; Die Schneekönigin) wird in bemerkenswerter Weise Klugheit und Intelligenz in einen Zusammenhang mit dem Vergessen gebracht, wenn es von der Schneekönigin heißt, sie sei so klug, dass sie alles wieder vergesse: »I dette Kongerige, hvor vi nu sidde, boer en Prindsesse, der er saa uhyre klog, men hun har ogsaa læst alle Aviser, der ere til i Verden, og glemt dem igjen, saa klog er hun.« 6 (EoH I, 316). Das sind einige Beispiele aus einer Fülle anderer, die etwas von der Bandbreite zeigen, in der Andersen das Thema immer wieder variierend gestaltet. Zieht man die Gattung in Betracht, so lässt diese Häufigkeit aufhorchen, gilt sie doch als für Märchen untypisch. Diese sind durch eine gewisse »Flächenhaftigkeit« sowie die »fehlende Beziehung zur Zeit« charakterisiert, um mit Lüthi zu reden. 7 Man kann die fast schon obsessiv zu nennende Beschäftigung mit der Zeit und den Dingen bei Andersen gattungsmässig mit dem Hinweis rechtfertigen, es handle sich bei seinen Texten nicht um Volks-, sondern um Kunstmärchen, um bewusst gestaltete, literarisch durchgeformte Texte eines Autors. Die Frage bleibt dennoch im Raum, weshalb Andersen gerade der Vergangenheitsthematik als im Grunde den Märchen fremdes Element in seinen Texten ein derart großes Gewicht einräumt. Bemerkenswert ist es aber auch, weil Andersen einer der ersten ist, der von einem Konzept auszugehen scheint, das am besten mit der Formulierung ›Gedächtnis der Dinge‹ in Worte gefasst werden könnte. Hellsichtig nimmt er entsprechende Überlegungen der Moderne hinsichtlich des Verhältnisses von Ding und Mensch vorweg bzw. die Frage, ob und wie die veränderten Produktionsbedingungen die Menschen in ihrer Memoriafähigkeit beeinflussen. Die Beschäftigung mit der Zeit ist als epochentypisch anzusehen, hat doch im 19. Jahrhundert eine beispiellose Historisierung stattgefunden, die zusehends alle Lebensbereiche zu erfassen drohte, und die auch der zeitgenössischen Literatur als Reflexionsgrundlage diente. 8 Diese Historisierung ist als Folge eines Abrisses von Traditionslinien zu verstehen, die bis ins 19. Jahrhundert als selbstverständlich galten. Grätz spricht in ihrer Studie von einem »Traditionsschwund«, und der literarischen Gestaltung eines solchen Schwunds begegnen wir auch bei H.C. Andersen immer wieder. Gerade in seinen Dingmärchen kann sehr schön beobachtet werden, wie die ›Dingprotagonisten‹ fast verzweifelt darum bemüht sind, an einer Traditionslinie festzuhalten, und gleichzeitig scheinen sie um die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen zu wissen. Mit der Historisierung ist die Musealisierungstendenz des Zeitalters eng verknüpft, das aufgrund sich rasant ändernder Produktions- 6 »In dem Königreich, in dem wir jetzt sitzen, wohnt eine Prinzessin, die ungemein klug ist, aber sie hat auch alle Zeitungen, die es in der Welt gibt, gelesen und wieder vergessen, so klug ist sie.« (ASM I, 330). 7 Vgl. Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen. Tübingen 1985, S. 13 und 20. 8 Vgl. hierzu für den deutschsprachigen Raum etwa Katharina Grätz: Musealer Historismus. Die Gegenwart des Vergangenen bei Stifter, Keller und Raabe. Heidelberg 2006. »Aber ich habe die Erinnerung, die kann mir keiner nehmen« 97 bedingungen eine eigentliche Sammelleidenschaft entwickelt, mit der dem drohenden Traditionsverlust entgegengewirkt werden soll. Dass sehr viele Museumsgründungen gerade in diese Epoche fallen, ist deutliches Indiz für den Willen zur Bewahrung und das Bemühen um die Sichtbarmachung einer historischen Kontinuität. Nicht von Ungefähr spricht Hartmut Böhme vom 19. Jahrhundert als vom »Saeculum der Dinge« und macht darauf aufmerksam, dass durch die Industrialisierung eine »Vermehrung künstlicher Dinge im täglichen Gebrauch und Verbrauch« stattgefunden habe. 9 Andersens ›Dingversessenheit‹ erstaunt vor diesem Hintergrund wenig, weil er ein Zeitphänomen gestaltet. Was hingegen überrascht, ist, dass ›Dingüberhang‹ und ›Technisierung der Lebenswelt‹ bereits so früh, nämlich gleichsam in statu nascendi, von Andersen als mögliche Probleme des kulturellen Gedächtnisses menschlicher Gemeinschaften erkannt werden. 1. Ding und Gedächtnis Wie oben bereits angetönt wurde, kann die Besinnung auf die Tradition im 19. Jahrhundert als Resultat eines deutlich empfundenen Bruchs mit eben dieser Tradition begriffen werden. Richard Terdiman prägte dafür den Begriff der »memory crisis«, den er wie folgt umschreibt: »A sense that their (peoples) past had somehow evaded memory, that recollection had ceased to integrate with consciousness. In this memory crisis the very coherence of time and of subjectivity seemed disarticulated.« 10 Auch der französische Historiker Pierre Nora spricht davon, dass der Moderne das Gedächtnis abhanden gekommen sei. In der Nachfolge von Maurice Halbwachs bringt er die Geschichte als im 19. Jahrhundert neu entstandene wissenschaftliche Disziplin in einen radikalen Gegensatz zu dem, was er als Gedächtnis bezeichnet. Nora zufolge spalten wir in dem Moment, in dem wir in ein reflektierendes Verhältnis zur Vergangenheit treten, das Gedächtnis von uns ab und es wird Geschichte. Hausten wir noch in unserem Gedächtnis, brauchten wir ihm keine Orte zu widmen. Es gäbe keine Orte, weil es kein von der Geschichte herausgerissenes Gedächtnis gäbe. Jede Geste bis zur alltäglichsten würde wie die religiöse Wiederholung dessen erlebt, was immer schon getan wurde, in einer körperlichen Identifizierung von Tat und Sinn. Sobald es eine Spur, Distanz, Vermittlung gibt, befindet man sich nicht mehr im wahren Gedächtnis, sondern in der Geschichte. 11 Das Gedächtnis selbstverständlicher Gemeinschaften - Nora führt als Beispiel die bäuerliche Welt an - ist affektiv und magisch, im Gegensatz zu demjenigen der Geschichte, das archivarisch ist und dessen Voraussetzung ein deutlich empfundener 9 Vgl. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Hamburg 2006, S. 17. 10 Richard Terdiman: Present Past - Modernity and the Memory Crisis. Ithaca, London 1993, S. 3-4. 11 Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis [1984, 1986]. Frankfurt a.M. 1998, S.13. Thomas Seiler, Zürich 98 Bruch zwischen der jeweiligen Gegenwart und der Vergangenheit ist. Nora zufolge gehört dem »vollkommenen Gedächtnis« die Vergangenheit der Gegenwart, und er begründet die Existenz von Gedächtnisorten mit dem Fehlen selbstverständlicher Gedächtnisgemeinschaften. »Es gibt lieux de mémoire, weil es keine milieux de mémoire mehr gibt.« 12 Nora macht für diesen Prozess die Beschleunigung der Geschichte verantwortlich, die er in einem unversöhnlichen Gegensatz zum Gedächtnis sieht. Das Modell eines »echten, sozialen und unberührten Gedächtnis(ses)« 13 seien die so genannten primitiven oder archaischen Gesellschaften, in denen das Gedächtnis auf selbstverständliche Art und Weise eingebunden in die Gesellschaft und sich nicht bewusst sei. Diesem Modell stehe unser Gedächtnis gegenüber, das »bloß Geschichte« sei und zum selbstverständlichen Gedächtnis, wie es eine bäuerliche Gesellschaft auszeichne, in einem radikalen Gegensatz stünde. Dabei wird die Geschichte als »problematische und unvollständige Rekonstruktion dessen, was nicht mehr ist« verstanden, das Gedächtnis hingegen als ein »stets aktuelles Phänomen, eine in ewiger Gegenwart erlebte Bindung«. Das Gedächtnis sei »affektiv und magisch«, es behalte »nur die Einzelheiten, welche es bestärken«. Die Geschichte hingegen fordere »Analyse und kritische Argumentation«. Das Gedächtnis rückt die Erinnerung ins Sakrale, die Geschichte vertreibt sie daraus, ihre Sache ist die Entzauberung. […] Das Gedächtnis haftet am Konkreten, im Raum, an der Geste, am Bild und Gegenstand. Die Geschichte befasst sich nur mit zeitlichen Kontinuitäten, mit den Entwicklungen und Beziehungen der Dinge. Das Gedächtnis ist ein Absolutes, die Geschichte kennt nur das Relative. 14 Noras Konzeption des Gedächtnisses als »affektiv« und »magisch«, als aufs Engste mit dem Kontext verbunden, hat viel gemein mit Andersens Gedächtniskonzeption in seinen Märchen. So haftet auch bei ihm das Gedächtnis am Konkreten, am Sinnlichen und entzündet sich daran. Die alte Straßenlaterne etwa hat die affektive Seite ihrer Erinnerungen im Blick und diese sind mit der Umgebung verbunden, zu der der Straßenzug ebenso wie das Wächterpaar gehört, wie folgende Passage zeigt: Hvorledes det gik eller ikke, den vilde blive været skilt fra Vægteren og hans Kone, hvem den betragtede ganske som sin Familie. Den blev Løgte da han blev Vægter. Konen var den Gang fiin paa det, kun om Aftenen naar hun gik forbi Løgten saae hun til den, men aldrig om Dagen. Nu derimod, i de sidste Aar, da de alle tre vare blevne gamle, Vægteren, Konen og Løgten, havde Konen ogsaa pleiet den, pudset Lampen af og skjænket Tran i den. […] Men der gik ogsaa andre Tanker igjennem den; der var saameget, den havde seet, saameget, den havde lyst til, […]. Den huskede saa meget, og imellem blussede Flammen op inde i den, det var som havde den en Følelse af: ›ja, man husker ogsaa mig! ‹ (EoH I, 387) 12 Ebd. S. 11. 13 Ebd. S. 12. 14 Ebd. S. 14. »Aber ich habe die Erinnerung, die kann mir keiner nehmen« 99 Wie immer es auch gehen mochte, oder nicht gehen mochte, sie mußte sich von dem Wächter und seiner Frau trennen, die sie ganz als ihre Anverwandten betrachtete. Sie wurde Straßenlaterne, als er Wächter wurde. Die Frau war damals sehr fein, nur abends, wenn sie an der Laterne vorbeiging, sah sie zu ihr hin, aber nie am Tage. Jetzt dagegen, in den letzten Jahren, da sie alle drei alt geworden waren, der Wächter, die Frau und die Laterne, hatte die Frau sie auch gepflegt, die Lampe abgeputzt und Tran aufgefüllt. […] Aber auch andere Gedanken gingen ihr durch den Kopf; sie hatte so viel gesehen, so vieles, was sie beleuchtet hatte, […] Sie erinnerte sich an so vieles, und zwischendurch flackerte die Flamme in ihr auf, es war, als hätte sie so ein Gefühl: ›Ja, man erinnert sich auch meiner! ‹ (ASM I, 418f.) Das Zitat macht deutlich, dass zur Lampe nicht nur ihre Erinnerungen gehören, sondern auch das sie betreffende Umfeld. Sie erinnert sich nicht etwa primär an das, was in ihrer Umgebung besprochen wurde, sondern an gestische und visuelle Momente sowie an Affekte. Wenn sie am Schluss beschließt, Laterne zu bleiben, so fasst sie diesen Entschluss in erster Linie aufgrund ihrer affektiven Verbundenheit mit dem alten Wächterpaar, das sie pflegt: ›Hvilke Evner jeg har! ‹ sagde den gamle Løgte idet den vaagnede. ›Næsten kunde jeg længes efter at smeltes om! - dog nei. Det maa ikke skee saalænge de gamle Folk leve! De holde af mig for min Persons Skyld! Jeg er dem jo, som i Barns Sted og de have skuret mig og de have givet mig Tran! ‹ […] Og fra den Tid havde den mere indvortes Ro, og det fortjente den skikkelige gamle Gadeløgte. (EoH I, 393) ›Was habe ich für eine Begabung! ‹ sagte die alte Laterne, als sie erwachte. ›Es könnte mich beinahe danach verlangen, eingeschmolzen zu werden! - Doch nein, es darf nicht geschehen, solange die alten Leute am Leben sind! Sie sind mir zugetan um meiner Person willen! Sie haben mich ja an Kindes Statt, und sie haben mich gescheuert, und sie haben mir Tran gegeben! ‹ […] Und von Stund an hatte sie mehr innere Ruhe, und das verdiente die brave alte Straßenlaterne. (ASM I, 425) Damit ist ein, wenn auch prekärer, Ausgleich hergestellt. Prekär ist dieser Ausgleich deshalb zu nennen, weil der Text nicht etwa von der definitiven inneren Ruhe berichtet, die die Laterne gefunden habe, sondern es ist ausdrücklich nur von »mehr innere(r) Ruhe« die Rede. Das emotionale Verhältnis der Laterne zu ihrer Umgebung wird besonders auch dadurch betont, dass sie wiederholt von ihrer besonderen Beziehung zum Laternenputzer spricht. Dieser hat sich die Laterne denn auch als Geschenk zu seiner Pensionierung gewünscht, ein Wunsch, für den er von seinen Kollegen ausgelacht wird. Er und nur er verknüpft mit ihr Bedeutungen und Energien, die die Laterne von sich aus nicht hat. D.h. sie stellt für ihn einen Fetisch dar. 15 Und als solcher hat sie für ihn auch Bedeutung als Memorialobjekt. Indem Andersen die Dinge nicht einfach als tote Materie begreift, sondern als »Aktanten des Historischen« 16 , erweist er sich als ungemein moderner Autor. Er ist wohl einer der ersten, der dem ›Ge- 15 Zur Theorie des Fetischs vgl. Böhme: Fetischismus (Anm. 9). 16 Böhme: Fetischismus (Anm. 9) S. 110. Thomas Seiler, Zürich 100 dächtnis der Dinge‹ auf der Spur ist. Andersen reagiert mit dieser Konzeption auf die aufkommende industrielle Massenproduktion von Gütern, die eine affektive Bindung an den Gegenstand, welche bei manueller Produktion eher noch möglich ist, verhindert. Was die Laterne darüber hinaus beängstigt, ist nicht nur der Verlust der Erinnerungen, sondern auch der Verlust einer Kontinuität, wie sie beispielsweise in einer genealogischen Abfolge zum Ausdruck kommt: Saadan gik der mange Tanker gjennem den gamle Gadeløgte, som iaften lyste for sidste Gang. Skildvagten, som løses af, veed dog sin Efterfølger, og kan sige ham et Par Ord, men Løgten vidste ikke sin og den kunde dog givet ham et og andet Vink, [...]. (EoH I, 389) So gingen viele Gedanken in der alten Straßenalterne um, die heute abend zum letzten Male schien. Die Schildwache, die abgelöst wird, kennt doch ihren Nachfolger und kann ein paar Worte mit ihm reden, aber die Laterne kannte ihren nicht, und sie hätte ihm doch diesen oder jenen Wink geben können, […]. (ASM I, 420) Deutlich kommt in solchen Formulierungen die Furcht der Straßenlaterne vor einem Bruch zum Ausdruck, der sich darin äußert, dass die neue Zeit mit ihren Errungenschaften offenbar nicht mehr an die alte Zeit sich organisch anschließt, sondern etwas radikal Neues bringt, das mit dem Vergangenen in keiner einsichtigen Verbindung mehr steht. Das heißt, die alte Zeit wird nicht mehr als organischer Teil der Gegenwart gesehen, sondern droht, unterzugehen und damit unverständlich zu werden für kommende Generationen. In Den gamle Gadeløgte wird keine Alternative zum drohenden Vergessen formuliert, wenn am Schluss die Laterne beschließt, sich wenigstens so lange nicht umschmelzen zu lassen, solange der alte Wächter und seine Frau, die die Laterne geschenkt erhielten, am Leben sind. Doch weshalb eigentlich beginnt sich die Laterne dennoch danach zu sehnen, eingeschmolzen zu werden. Wie ist das zu erklären? Vor allem, wenn man bedenkt, dass sie sich zu Beginn des Märchens ja genau davor fürchtet? Die Begabung, von der im Zitat die Rede ist, besteht in der Imaginationsfähigkeit, der poetischen Phantasie der Laterne, die sich unmittelbar vor dem Zitat in einem Traum ihre Zukunft ausmalt. Dabei träumt sie, die alten Leute seien gestorben und sie selber sei zu einem schönen eisernen Leuchter in der Form eines Engels umgeschmolzen. Und dieser Leuchter würde auf dem Schreibtisch eines Dichters stehen, »og Alt hvad han tænkte og skrev, det rullede op rundt omkring, Stuen blev til dybe mørke Skove, til solbelyste Enge, hvor Storken gik og spankede, og til Skibsdækket høit paa det svulmende Hav! « 17 (EoH I, 393). Weil die Laterne sich das vorstellen kann, spürt sie das Verlangen, eingeschmolzen zu werden. 17 »[...] und alles, was er dachte und schrieb, das wurde ringsum entrollt, die Stube wurde zu tiefen, dunklen Wäldern, zu sonnenbeschienenen Wiesen, wo der Storch umherstolzierte, und zu einem Schiffsdeck hoch auf dem wogenden Meer! « (ASM I, 424f.). »Aber ich habe die Erinnerung, die kann mir keiner nehmen« 101 Andersens vermeintlich naives Märchen entpuppt sich mit diesem Schluss als ein Text, der das Dilemma der beginnenden Moderne auf den Punkt bringt. Die Laterne scheint zu merken, dass das Gedächtnis je länger je prekärer wird in einer arbeitsteiligen Welt, der der selbstverständliche Umgang mit der Vergangenheit abhanden kommt. Es wird verdrängt durch die Geschichte im Sinne Pierre Noras, durch ein reflektiertes Verhältnis zur Vergangenheit, das von einem deutlichen Gegensatz zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen ausgeht. Dass Andersen diesen Prozess im Gewande einer poetischen Imaginationsfähigkeit ausdrückt, verstellt den Blick auf diesen Befund, die ausgesuchte Künstlichkeit der neuen Form der Laterne spricht jedoch nichtsdestotrotz eine deutliche Sprache. Im Lauf dieses Transformationsprozesses verliert sie ihre funktionelle Eigenschaft und damit ihren Nutzen, den sie für die Leute erbringt. Sie übernimmt stattdessen eine rein ästhetische Funktion ohne Nutzen. Sie wird zum Engel, der einen Strauß trägt. Diese Transformation der Laterne in einen Leuchter muss bedacht werden. Als rein ästhetischer Gegenstand hätte der Leuchter das »Familiengedächtnis«, das ihn mit dem Wächterehepaar verbindet, als dessen Kindersatz die Laterne fungierte, verloren. 18 Als ästhetischer Leuchter eines Dichters wäre das neue Familiengedächtnis zwischen ihm und ihr nur noch ideell begründet, in der gemeinsamen Fähigkeit zur Imagination. Genau darauf zielt ja der Wind ab, der ihr zum Abschied versprach, ihren »Hjernekasse« (»Hirnkasten«) auszulüften, »saa at Du klart og tydeligt ikke alene skal kunne huske hvad Du har hørt og seet, men naar der fortælles eller læses Noget i din Nærværelse, skal Du være saa klarhovedet, at Du ogsaa seer det! « 19 (EoH I, 390). Niels Kofoed verwischt den Unterschied zwischen den Seinsmodi der alten (funktionalen) Laterne und dem neuen (ästhetischen) Leuchter etwas, wenn er das Märchen als »allegori over digtersindet« 20 interpretiert, wobei seine Lesart, das muss betont werden, durchaus möglich ist. Denn im Vergleich zur Laterne und dem Wächterpaar, die in gegenseitiger Abhängigkeit tätig miteinander verbunden waren, zeichnet sich das Verhältnis zwischen dem Dichter und dem Leuchter durch eine andere Qualität aus, die mit dem Begriff der Familienähnlichkeit nicht mehr adäquat zu erfassen ist. Vielmehr hat es sich zu einem rein geistigen gewandelt, das darin 18 »Familiengedächtnis« ist ein Begriff, den Maurice Halbwachs in seiner Studie Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen verwendet. Halbwachs unterstreicht mit diesem Begriff sein zentrales Anliegen, das Gedächtnis von seinen sozialen Bedingungen her zu verstehen. Ihm zufolge gibt es eine Art von kollektivem Gruppengedächtnis, das die Mitglieder, beispielsweise einer Familie, aufgrund ihrer klaren Position innerhalb der Gruppe miteinander teilen und das etwas anderes ist als das Gedächtnis des einzelnen Vertreters dieser Gruppe. Dies sei u.a. deshalb so, weil mit dem Eintritt in eine Gruppe bereits existierende Regeln, Gewohnheiten und Denkweisen unsere Stellung in dieser Gruppe bestimmen. Vgl. hierzu Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Beziehungen [1925]. Frankfurt a.M. 1985, S. 203-242. 19 »[S]o dass du nicht allein klar und deutlich behältst, was du gehört und gesehen hast, sondern, wenn in deiner Gegenwart etwas erzählt oder vorgelesen wird, so klar im Kopfe bist, dass du es auch siehst! « (ASM I, 420). 20 »Allegorie über den Dichtersinn«; zitiert nach Niels Kofoed: Studier i H.C. Andersens fortællekunst. Kopenhagen 1967, S. 114. Thomas Seiler, Zürich 102 besteht, dass der Leuchter die poetische Imagination des Dichters nachvollziehen kann. Der Leuchter hat als künstliches Gebilde fast die gleichen Fähigkeiten wie der Dichter; es scheint nämlich so zu sein, als ob Andersen die Grenzen zwischen Dichter und Laterne bewusst verwische. Denn wer imaginiert im oben stehenden Zitat wen oder was? Ist es der Dichter oder ist es die Laterne bzw. der nunmehrige Leuchter? Wie ist die Formulierung »und alles, was er dachte und schrieb, das wurde ringsum entrollt«, zu verstehen? Es ist hier augenfällig, dass der Dichter des Leuchters bedarf, um sein Geistesprodukt sichtbar zu machen und seine Imaginationskraft ist auch diejenige des Gegenstands, deshalb erwähnt dieser auch unmittelbar nach der Imagination seine eigene Begabung. Was die Laterne am Dichter beeindruckt ist seine Fähigkeit, sich die Dinge vorzustellen, eine Fähigkeit, an der sie auch teilnimmt, wodurch sie in ein reflektiertes Verhältnis zu ihrer Umgebung eintritt, ihre poetische Imaginationsfähigkeit ist an die sie umgebende Wirklichkeit nicht mehr gebunden, ihr anfängliches affektives Erinnern droht, von einer reflektierten und reflektierenden Poiesis verdrängt zu werden, wobei letztere sich vom Prinzip der Nachahmung (Mimesis) emanzipiert. Damit aber hat sich das affektive Erinnern der Laterne in ein reflektiertes, künstlerisches Imaginieren des Leuchters verwandelt. Interessant ist nun zu sehen, wie Andersen zwischen diesen beiden Polen, affektives Gedächtnis vs. poetisches, reflektiertes, hin und her schwankt, indem er in anderen Texten Letzterem die Aufgabe zuweist, die Vergangenheit hinüberzuretten in die Gegenwart. Damit wird der Kunst übertragen, was in einer »selbstverständlichen Gedächtnisgemeinschaft« (Pierre Nora) gar nicht extra gewollt werden muss: ein prekärer Rettungsversuch im Reiche der Ästhetik, der das Scheitern gerade dadurch ostentativ hervorkehrt. Die affektive Qualität der Erinnerungen wird in den Märchen Andersens generell stark betont. Die Laterne erinnert sich deshalb so gut, weil sie die Fähigkeit zum Mitgefühl bewahrt hat, ihr Erinnern wird als schon fast körperlicher Vorgang beschrieben. Anläßlich eines Begräbnisses einer jungen Frau liest man: »[…] hele Fortouget var fuldt med Mennesker, de fulgte alle med Ligtoget, men da Faklerne var af Syne og jeg saae mig omkring, stod her endnu En ved Pælen og græd, jeg glemmer aldrig de to Sorgens Øine, der saae ind i mig! « 21 (EoH I, 389). Interessant an diesem Zitat ist, dass die Erinnerungen nicht durch eine sprachliche Äußerung verfestigt oder stabilisiert werden, sondern durch den Affekt, hier durch »trauervolle Augen«. Zur affektiven Art des Erinnerns gehört auch die Umgebung, die in den Erinnerungsprozess hineingezogen wird und von ihm nicht ablösbar ist. So gelten die Sorgen der Laterne auch der Tatsache, dass sie sich von dem Wächter und seiner Frau trennen muss, die sie ganz als ihre Anverwandten betrachtet. Was sie verbindet, ist die gemeinsame Geschichte mit demselben Erinnerungsmilieu. 21 »[…] der ganze Bürgersteig war voll von Menschen, sie gingen alle mit im Leichenzug, als aber die Fackeln außer Sicht waren und ich mich umsah, stand da noch jemand am Pfahl und weinte, ich vergesse nie die beiden trauervollen Augen, die in mich hineinblickten! « (ASM I, S. 419). »Aber ich habe die Erinnerung, die kann mir keiner nehmen« 103 Liest man seine Dingmärchen auf dieses Thema hin, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, Andersen mache die beginnende industrielle Massenproduktion von Gütern für den Verlust der Gedächtnisfähigkeit verantwortlich. Denn der industriell gefertigte Gegenstand wird emotional wertlos für seinen Besitzer, der ihn nur noch unter einem funktionalen Gesichtspunkt betrachtet. Es entsteht eine Abfallgesellschaft, die mit den Dingen gleich auch noch ihre Memoria wegschmeisst. Das ist der durchaus gesellschaftskritische Aspekt, der seinen Dingmärchen eingeschrieben ist. In Andersens Märchen hat dieser Grundzug einer modernen Gütergesellschaft fatale Konsequenzen für den Umgang derselben mit Gedächtnis und Erinnerung, und zwar deshalb, weil in seinen Texten beide Phänomene in erster Linie materiell fundiert werden: Es ist die Materie, die Erinnerungen speichert und an der Erinnerungsspuren ablesbar sind. Werden materielle Dinge zerstört, wird der Mensch der Fähigkeit beraubt, die Gegenwart als Fortsetzung der Vergangenheit und damit als meinungsvoll begreifen zu können. Mit der Zerstörung der Dinge, die als Zeugen einer vergangenen Zeit fungieren, wird es ihm verunmöglicht, das Gedächtnis der Vergangenheit in die Gegenwart zu tradieren. Er wird zum geschichtslosen Gegenwartsmenschen, der kein Wissen um die Vergangenheit mehr hat. In Andersens Billedbog uden Billeder (1844; Bilderbuch ohne Bilder) erzählt der Mond an 33 Abenden seine Geschichten. Am siebten Abend erzählt er von einem Hünengrab, das er beschien und von den Vorbeikommenden. Dabei zeigt es sich, dass nur »ein armes Mädchen« die Bedeutung des Ortes auffasst, alle anderen verfehlen diese, weil sie ihn unter dem Nützlichkeitsaspekt betrachten. Das Mädchen erkennt aber nicht nur die Bedeutung, sondern wird sich an den Ort auch genau erinnern können: »Selv begreb hun ikke den Følelse, som gjennemstrømmende hende, men jeg veed, at gjennem Aar vil mangen Gang dette Minut, med Naturen rundtom, langt skjønnere, ja mere tro, end da Maleren nedskrev den med bestemte Farver, staae i hendes Erindring.« 22 Wieder fällt hier auf, dass Andersen die Erinnerungsfähigkeit oder das, was Pierre Nora Gedächtnis nennen würde, an das ›richtige Milieu‹ koppelt, in dem sich diese Art von Memoria entfalten kann. Einzig das »arme Mädchen« verfügt über ein Gedächtnis im Sinne Pierre Noras, das als affektiv und magisch bezeichnet werden kann und sich selber nicht bewusst ist. Beim »armen Mädchen« gehört die Vergangenheit ganz selbstverständlich zur Gegenwart. Wir haben weiter oben bemerkt, dass Pierre Nora die Beschleunigung der Geschichte für den Verlust des Gedächtnisses verantwortlich macht. Auch Andersen hatte die immer rascher aufeinander folgenden Veränderungen im Blick und wiederholt - insbesondere in seinen Reisebüchern - darüber geschrieben. So liest 22 »Es selbst verstand das Gefühl nicht, welches es durchströmte, aber ich weiß, dass noch nach Jahren diese Minute und die Natur ringsum weit schöner, ja weit getreuer, als der Maler sie mit seinen Farben auf das Papier brachte, ihm in der Erinnerung schweben wird.« Die deutsche Übersetzung folgt H.C. Andersen: Bilderbuch ohne Bilder, Halle a.d.S. 1886, S. 12. Das dänische Originalzitat folgt H.C. Andersens samlede værker (Anm. 3) Bd. 9. Blandinger. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2005, S. 372. Thomas Seiler, Zürich 104 man etwa in den Skyggebilleder af en Reise til Harzen (1831; Schattenbilder auf einer Reise in den Harz) gleich zu Beginn: »Vi leve i en Tid, hvor Verdensbegivenheder følge Slag i Slag paa hinanden, hvor der i eet Aar udvikler sig mere, end før i hele Decennier; [...].« 23 Dies Empfinden einer beschleunigten Zeiterfahrung, das Andersen mit vielen anderen Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts teilt, wirft fast zwangsläufig die Frage auf, was angesichts einer sich rasant verändernden Welt im kulturellen Gedächtnis überleben kann und wie sich das auf das Gedächtnis des Einzelnen auswirkt. Mögen diese rasanten Veränderungen hinsichtlich der Memoria auch problematisch sein, so hat Andersen hierin auch eine neue Art von Poesie entdeckt. 2. Erinnerung und Identität Die Gefahr einer Diskontinuitätserfahrung wird nun bei Andersen nicht nur unter der Perspektive der Erinnerung abgehandelt, sondern auch unter derjenigen der Identität, die mit der Erinnerung jedoch in einem engen Zusammenhang steht. So fürchtet Die alte Straßenlaterne nicht primär die neue Zeit als solche, sondern der radikale Neubeginn wird nur deshalb in Frage gestellt, weil er verbunden ist mit einer kompletten Vernichtung des Bestehenden und der damit verbundenen Identität, für die die Form der Laterne steht. Die Laterne überlegt sich denn auch, ob es möglich sei, die Erinnerungen zu bewahren bei veränderter Gestalt. Ähnlich wie Kierkegaard scheint auch Andersen Erinnerung und Identität als aufs Engste zusammengehörend zu denken. Erinnerung in den Stadier paa Livets Vei (1845; Stadien auf dem Lebensweg) ist ja gerade, wie Dietmar Götsch zeigte, vom Gesichtspunkt subjektiver Identität her privilegiert gegenüber dem Gedächtnis. 24 Die Konsequenz allerdings, die aus der identitätsstiftenden Funktion der Erinnerung bei Kierkegaard gezogen wird, nämlich das Leben von vornherein auf Erinnerung hin anzulegen, wird von Andersen nicht gezogen. Bei ihm wird stattdessen die Gefahr des Zusammenbruchs der alten Ordnung betont und dagegen wird angeschrieben. Denn nicht einem Bruch, sondern einem Zeitkontinuum, in das man sich selber einreihen kann, wird der Vorzug gegeben. Hat die Erinnerung bei Kierkegaard die Funktion, etwas Neues entstehen zu lassen und damit zu einem rein schöpferischkreativen Akt zu werden, dem die empirische Grundlage fehlt, hat sie bei Andersen eher die Funktion des Bindeglieds zwischen dem Alten und dem Neuen. Und da die Memoria in seiner Konzeption aufs Engste mit den Dingen, die als materieller Ausdruck und Tresor derselben fungieren, zusammengehört, wird Mal für Mal betont, wie wichtig es sei, dass die Gegenstände unversehrt bleiben. In dem Maße, wie die Gegenstände einer vergangenen Zeit vernichtet oder umfunktionalisiert 23 »Wir leben in einer Zeit, in der Weltgeschehnisse Schlag auf Schlag folgen, wo in einem Jahr sich mehr entwickelt als früher in ganzen Dezennien.« Übersetzung Thomas Seiler. Das dänische Zitat folgt H.C. Andersens samlede værker (Anm. 3) Bd. 14. Rejseskildringer I. Hg. Von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2006, S. 66. 24 Vgl. Dietmar Götsch: Entfernendes Begreifen. Zu Kierkegaards Konzeption der Erinnerung, in: Annegret Heitmann (Hg.): Arbeiten zur Skandinavistik. Frankfurt a.M. 2001, S. 489-498, hier S. 494. »Aber ich habe die Erinnerung, die kann mir keiner nehmen« 105 werden, wird auch diese selbst unverständlich, weil die Dinge als materielle Träger des Gedächtnisses dieser Epoche fungieren und deren Gedächtnis an den Dingen abgelesen werden kann. Man muss sich jedoch hüten, aus diesem Befund eine fortschrittsfeindliche Haltung heraus lesen zu wollen, wird doch der Verlust eines angeblich poetischen Zeitalters nicht beklagt und auch eine Furcht vor den technischen Umwälzungen ist nicht auszumachen, im Gegenteil. Es ist bekannt, dass Andersen das anbrechende Eisenbahn-Zeitalter enthusiastisch begrüßte. So schreibt er in seinem Reisebuch über Spanien einleitend: Da i Europa Jernbanerne bleve aabnede, hørte man en Skrigen, at nu var den gamle, skjønne Maade at reise paa forbi, Reise-Poesien forsvunden, Trylleriet tabt; just da begyndte Trylleriet. Vi flyve nu med Dampens Vinger, og foran os og rundt om os følger Billed paa Billed i rig Afvexling; der kastes som Bouquet til os, nu en heel Skov, nu en By, Bjerge og Dale. 25 Als in Europa Eisenbahnlinien eröffnet wurden, wurde bedauert, dass nun die alte, schöne Art des Reisens vorbei, die Reisepoesie verschwunden sei, der Zauber verschwunden; just da begann die Zauberei. Wir fliegen nun mit den Flügeln des Dampfs, und vor uns und um uns herum folgt Bild auf Bild in reicher Abwechslung, die wie ein Bouquet uns zugeworfen werden, bald ein ganzer Wald, bald eine Stadt, Berge und Täler. (Übersetzung von mir, TS) Andersen setzt der alten »Reisepoesie« eine Poesie entgegen, deren Reiz gerade in der beschleunigten Zeiterfahrung steckt, liegt doch ihm zufolge die neue Art von Zauberei in der Schnelligkeit, mit der ständig sich verändernde Sinneseindrücke während einer Eisenbahnfahrt an den Reisenden vorbeihuschen. Es geht ihm demnach nicht um eine angeblich glücklichere, poetischere Vergangenheit, die bewahrt werden soll, sondern um die produktive Aneignung derselben für die Gegenwart im Bewusstsein einer drohenden Verlusterfahrung. Diese Verlusterfahrung steht auch hinter Kierkegaards Überlegungen zu Gedächtnis und Erinnerung. Sie wird zum Signum einer Epoche, ist in hohem Maße zeittypisch und rührt von dem Gefühl eines zunehmenden Zweckrationalismus her, der nach Auffassung der Romantiker mit dem Schönen in Konflikt gerät. »Das Schöne«, um eine Formulierung von Hans Robert Jauß zu übernehmen, »das die romantische Subjektivität angesichts der eingetretenen Versachlichung und Verdinglichung zu bewahren sucht, ist ein Schönes im Status des Vergangenseins.« 26 Das ist bei Andersen deutlich zu sehen, etwa im Märchen Den gamle Liigsteen (1855; Der alte Grabstein), in dem das Problem thematisiert wird, wie das vergangene Schöne in die Gegenwart und Zukunft hinüber gerettet werden kann. 25 Das dänische Zitat folgt H.C. Andersens samlede værker (Anm. 3) Bd. 15. Rejseskildringer II. Hg. Von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2006, S. 220. 26 Zitiert nach Götsch: Entfernendes Begreifen (Anm. 24) S. 490. Thomas Seiler, Zürich 106 In diesem Text wird der Kunst die Aufgabe zugewiesen, die Vergangenheit für kommende Generationen zu tradieren und das kulturelle Gedächtnis einer Gemeinschaft zu repräsentieren. Schließt das Märchen Den gamle Gadeløgte noch mit einer Laterne, die sich mit ihrem Schicksal versöhnt und zumindest solange nicht eingeschmolzen werden will, wie das alte Wächterpaar noch lebt, wird in diesem Märchen ausdrücklich der Kunst die Aufgabe zugewiesen, von dem Vergangenen zu berichten, um es dadurch im zeitgenössischen Bewusstsein lebendig zu erhalten. Denn der letzte Träger eines verschütteten Wissens steht kurz vor dem Tod, deshalb schließt er seine Erzählung auch mit dem resignativen »Glemmes! - Alt skal glemmes! « 27 (EoH II, 23). Ein zufällig entdeckter Grabstein, auf dem nur noch verwitterte Initialen kaum lesbar sind, dient der Geschichte als Katalysator. Nur der Älteste der Anwesenden kennt noch das alte Ehepaar, auf das die Initialen verweisen, und er beginnt, dessen Geschichte zu erzählen. Er schließt seine Erzählung mit den Sätzen: »Den brolagte Gade gaaer nu hen over gamle Prebens og hans Hustrues Hvilested; Ingen husker dem mere! « 28 (EoH II, 22). Damit erweist sich der Älteste der Runde als der einzige, der kraft seines Alters noch fähig ist, eine dem Untergang geweihte Ordnung narrativ hinüberzuretten in die Gegenwart. Ihm geht es um das Andenken an das alte Ehepaar. Andersens Märchen ist ein Säkularisierungsprozess eingeschrieben, der durch die Zweckentfremdung der Klosterkirche ausgedrückt wird, die von der anbrechenden neuen Zeit ausschließlich unter dem Aspekt ihres ökonomischen Nutzens gesehen wird. Vom großen Stein vor der Haustüre, der den Mägden nun als Abstellfläche für die gescheuerten Küchensachen dient, heißt es: ›Ja,‹ sagde Manden i Huset, ›jeg troer, den er fra den gamle nedbrudte Klosterkirke; der blev jo solgt baade Prædikestol, Epitaphier og Liigstene! Min salig Fader kjøbte flere af disse, de bleve slaaede itu til Brolægning, men denne Steen blev tilovers og den er siden bleven liggende i Gaarden.‹ (EoH II, 21) ›Ja‹, sagte der Hausvater, ›ich glaube, er stammt von der alten, abgerissenen Klosterkirche; da wurden ja Kanzel, Epitaphien und Grabsteine verkauft; mein seliger Vater kaufte mehrere davon, sie wurden zum Pflastern zerschlagen, aber dieser Stein blieb übrig und liegt seitdem im Hof.‹ (ASM I, 513) Deutlicher als in diesem Zitat kann der Zweckrationalismus der beginnenden Moderne kaum ausgedrückt werden. Damit aber steht die neue Zeit in scharfem Gegensatz zu derjenigen, in der das alte Ehepaar lebte und die es gleichsam verkörperte, indem der gleiche Erzähler dessen Selbstlosigkeit und christliche Gesinnung hervorhebt: »De vare saa mageløst gode mod de Fattige! De bespiste dem, de klædte 27 »Vergessen! - Alles wird vergessen! « (ASM I, 515). 28 »Die gepflasterte Straße führt jetzt über die Grabstätte des alten Preben und seiner Ehefrau hinweg; ihrer erinnert sich niemand mehr! « (ASM I, 515). »Aber ich habe die Erinnerung, die kann mir keiner nehmen« 107 dem; og der var Fornuft og sand Christendom i al deres Godgjørenhed.« 29 (EoH II, 22). Der alte Erzähler sieht offenbar einen Zusammenhang zwischen dem Verlust der Erinnerungen und dem Aufkommen einer modernen zweckrationalen Lebensweise. Er zeigt auf, wie nachhaltig die räumlichen Gegebenheiten verändert werden und damit auch der Mensch seiner Fähigkeit beraubt wird, seine Erinnerungen, die an bestimmten Gegenständen festgemacht werden, topografisch zu verorten: Det Bindingsværks Huus, med Bænken paa den høie Steentrappe under Lindetræet, blev revet ned af Magistraten, thi det var altfor brøstfældigt til at de kunde lade det staae. - Siden, da det gik med Klosterkirken ligesaadan, og Kirkegaarden blev hævet, saa kom Prebens og Marthes Gravsteen, som Alt derfra, til hvem der vilde kjøbe den, og nu har det truffet sig saa, at den ikke er blevet slaaet istykker og brugt, men ligger endnu i Gaarden til Legested for de Smaa og til Hylde for Pigernes skurede Kjøkkentøi. (EoH II, 22) Das Fachwerkhaus mit der Bank auf der hohen steinernen Treppe unter der Linde wurde vom Magistrat abgerissen, denn es war viel zu baufällig, als daß sie es hätten stehenlassen können. Später, als es mit der Klosterkirche ebenso gemacht und der Friedhof eingeebnet wurde, kam Prebens und Marthes Grabstein, wie alles von dort, an den, der ihn haben wollte, und nun trifft es sich so, daß er nicht zerschlagen und verbraucht worden ist, sondern auf dem Hof liegt als Spielplatz für die Kleinen und als Abstellplatz für die gescheuerten Küchensachen der Mägde. (ASM I, 515) Der alte Mann, der als Träger eines Wissens fungiert, das mit seinem Tod erlischt, behält jedoch nicht das letzte Wort. Die Gesprächsrunde widmet sich nach dieser Erinnerung anderen Dingen, und nur ein kleiner Junge wurde von der Erzählung derart beeindruckt, dass er den ihm zuvor »tom« (»leer«) und »flad« (»platt«) scheinenden Stein jetzt als ein »heelt stort Blad af en Historiebog« 30 (EoH II, 23) auffasst und seinen Blick in den Nachthimmel schweifen lässt, damit gleichsam die Wirklichkeit transzendierend. Das heißt, dass der Stein unter dem Eindruck des Erzählten semantisiert worden ist. Es ist die poetische Imaginationsfähigkeit des Jungen, die das Erscheinen des Engels bewirkt, der als Muse interpretiert werden darf. Sie soll ihn inspirieren, mit seiner dichterischen Schöpferkraft das - als Dichtung - entstehen zu lassen, was sonst in Vergessenheit geraten könnte. Voraussetzung dafür ist, dass es erinnerungswürdig ist. Das Gute und das Schöne werden nicht vergessen. Es muss »gut« und »schön« (Det Gode og Skjønne) sein, wobei diese zwei Begriffe sogar noch kursiv hervorgehoben sind. »Ved dig, du Barn, skal den udslettede Indskrift, den smuldrende Gravsteen, staae med lyse, gyldne Træk for kommende Slægter! « 31 (EoH II, 23). 29 »Sie waren so unbeschreiblich gut gegen die Armen; sie speisten sie, sie kleideten sie, und in all ihrer Wohltätigkeit lagen Vernunft und wahres Christentum.« (ASM I, 514). 30 »[E]ine ganze große Seite aus einem Geschichtenbuch« (ASM I, 516). 31 »Durch dich, mein Kind, soll die verwischte Inschrift, der verwitterte Grabstein mit hellen, goldenen Zügen künftigen Geschlechtern vor Augen stehen! « (ASM I, 516). Thomas Seiler, Zürich 108 Andersen ist hier ganz einer idealistischen Ästhetik verpflichtet, die nur das als Gegenstand der Dichtung gelten lassen will, was mit dem ästhetischen Ideal des Guten und des Schönen in einer Verbindung steht. Erinnerungswürdig ist in dieser Konzeption nur das Schöne - hier das vorbildliche Leben und Wirken des alten Ehepaars -, und der Junge fungiert als Medium, durch das dieses Leben in das kulturelle Gedächtnis des Volkes eingeschrieben wird. Die Gabe des Dichtens ist im Grunde ein Geschenk des Himmels. Die metaphorische Redeweise des Engels ist aufschlussreich. Von einem »Samenkorn« ist die Rede, welches der Junge in Form der Erzählung erhalten habe. Dieses »Samenkorn« müsse bis zur Reife schlummern, es müsse zu einem blühenden Dichterwerk wachsen (»voxe til et blomstrende Digterværk«; EoH II, 23). Diese Metaphorik ist einer romantischen Vorstellung verpflichtet, wonach die Gabe des Dichtens nicht etwa gelernt werden kann, sondern als Geschenk Gottes anzusehen ist. Es ist eine Begabung des Einzelnen, der das »Samenkorn« als himmlisches Geschenk empfangen durfte. Andersen steht hier, vermutlich ohne es zu wissen, in der Tradition der antiken Mnemotechnik, derzufolge Mnemosyne als Göttin der Erinnerung auch die Mutter der neun Musen ist. Aufgabe der Kunst ist es, von dem zu sprechen, was die Gesellschaft verdrängt. In der Kunst soll die Tradition gerettet werden, die in der Lebenspraxis offenbar keinen Ort mehr hat. Mag auch die Erzählung im Musenanruf noch einen letzten Anklang an die antike Mnemonik aufweisen, so zeigt sie doch andererseits deutlich, dass der Bruch mit der Tradition unwiderruflich ist und sich mit den Verfahrensweisen der Memoria-Tradition nicht mehr beheben lässt. Denn es geht nicht mehr um den Fortbestand einer gelebten Tradition, wie sie durch das alte Ehepaar repräsentiert wurde, sondern nur noch um ein Hinüberretten derselben in das Reich der Kunst. 3. Erzählen und Erinnern Bislang war wenig von der im Grunde trivialen Tatsache die Rede, dass in diesen Texten vom Erinnern erzählt wird, d.h. Erinnerung artikuliert sich im Medium der Sprache. In welchem Verhältnis das Erinnern und das Erzählen dieser Erinnerungen stehen, ist deshalb eine wichtige Frage. So ist es beispielsweise entscheidend, im Märchen Den gamle Liigsteen das Verhältnis von Figurenrede und Erzählerkommentar zu beachten, weil erstere durch letzteren konterkariert wird. Dergestalt wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die Erzählsituation des Märchens gelenkt. Es handelt sich um eine Rahmenerzählung, wobei der mit Abstand Älteste der Runde mit seiner Erzählung über das alte Ehepaar fast den gesamten Text beansprucht. Eingerahmt wird seine Erzählung von einem heterodiegetischen Erzähler, d.h. der Erzähler als Figur ist nicht Teil der Erzählung. Es liegt eine ironische Textstruktur vor, insofern der Erzählverlauf die manifeste Aussage des Protagonisten konterkariert, wird doch, rezeptionsästhetisch gesehen, das alte Ehepaar gerade nicht vergessen, weil es im Text Andersens für den Leser weiterlebt. »Aber ich habe die Erinnerung, die kann mir keiner nehmen« 109 Aber auch auf der Textebene selber wird es nicht vergessen, weil der kleine Junge sein Andenken weiter tradieren wird. Eine andere Form von Ironie finden wir im Märchen Den gamle Gadeløgte. Hier treffen die Erinnerungen der Gegenstände ebenfalls auf einen heterodiegetischen Erzähler, der ihr Erzählen jedoch ironisch bricht und so Distanz zwischen dem Leser und dem Diskurs der Gegenstände schafft. Das wird schon mit den ersten beiden Sätzen deutlich gemacht, hebt doch das Märchen folgendermaßen an: »Har Du hørt Historien om den gamle Gadeløgte? Den er slet ikke saa overordentlig morsom, men man kan altid høre den een Gang.« 32 (EoH I, 387). Solche metafiktiven Elemente durchbrechen den Gang der Erzählung und schaffen Distanz zum erzählten Geschehen. Der auktoriale Erzähler unterbricht und ordnet die Erzählung der alten Straßenlaterne, etwa wenn wir lesen: »Næste Dag - - ja næste Dag kunne vi springe over; næste Aften laa Løgten i Lænestol, og hvor -? Hos den gamle Vægter.« 33 (EoH I, 391). Mit solchen Formulierungen wird auf die ordnende Hand des heterodiegetischen Erzählers aufmerksam gemacht, der die Erzählung der Straßenlaterne ordnet und in einen ihm sinnvoll erscheinenden Ablauf bringt. In ihrem Aufsatz Material Witnesses vergleicht Brigid Gaffikin die Aufgabe des heterodiegetischen Erzählers mit derjenigen des Historikers im Sinne der Bestimmung Pierre Noras. Wie der Historiker so müsse auch der auktoriale Erzähler die Erzählung in eine sinnvolle zeitliche Abfolge bringen und konsistent darstellen können, wozu es der Reflexion bedürfe. 34 Beide müssten Distanz zu den erzählten Ereignissen schaffen, um eine Vergangenheit zu rekonstruieren und die Ereignisse in einer sinnvollen Chronologie wiederzugeben. Aufgabe des Historikers ist die Analyse und kritische Argumentation. 35 Mit Noras Unterscheidung zwischen Geschichte und Gedächtnis vor Augen ließe sich dann in der Tat mit Gaffikin sagen: »If, as Nora maintained, memory is located in the concrete, then in these eventyr it is allied with an object such as the disused lamp that protests, in the face of threats of memorial annihilation, that in fact wants both to retain and remember the past.« 36 Entsprechend wäre der Diskurs der Gegenstände, der, wie wir gesehen haben, emphatisch ist, dem zuzuordnen, was Nora als Gedächtnis bezeichnet. Das heißt, wir haben es mit zwei sich konkurrierenden Systemen zu tun, wobei das Gedächtnis der Gegenstände, ihr Erinnerungsdiskurs vom ordnenden, leicht ironischen Geist des heterodiegetischen Erzählers bedroht ist. Dieser entscheidet, was er vom Erinnerungsdiskurs der Gegenstände in seine Erzählung übernehmen will. Noras antagonistisches Prinzip zwischen dem Gedächtnis und der Geschichte wird in den Dingmärchen Andersens nachvollzogen auf der Ebene der Auseinandersetzung 32 »Hast du die Geschichte von der alten Straßenlaterne vernommen? Die ist gar nicht so sehr erfreulich, aber man kann sie immer wieder einmal hören.« (ASM I, 418). 33 »Am nächsten Tag - ja, den nächsten Tag können wir überspringen -, am nächsten Abend dann lag die Laterne im Lehnstuhl, und wo? Bei dem alten Wächter.« (ASM I, 422). 34 Vgl. Brigid Gaffikin: Material Witnesses. Hans Christian Andersen’s Tingseventyr and the Memories of Things. In: Edda 2004: 3, S. 186-200, hier S. 194. 35 Vgl. ebd. 36 Ebd. Thomas Seiler, Zürich 110 zwischen den erzählenden Gegenständen (= Gedächtnis) und dem heterodiegetischen Erzähler (= Geschichte). Das Changieren zwischen einem Ich-Erzähler und einem Erzählen in der dritten Person ist auch Niels Kofoed aufgefallen, wenn er schreibt: »Andersen står på spring til at servere historien som jeg-fortælling, men han griber sig i det og fører så sin fremstilling tilbage til tredje person.« 37 Kofoed zufolge verwendet Andersen für die Retrospektion einen Ich-Erzähler, der in aller Ausführlichkeit seine Lebensgeschichte ausbreiten darf, obwohl diese, wie Kofoed bemerkt, für die Haupthandlung »uvedkommende« (»unwesentlich«) sei. Dass die alte Laterne soviel Raum in der Erzählung über sie einnehmen darf, zeigt jedoch, wie wichtig diese Erinnerungspassagen für Andersen waren, obwohl er sie der milden Ironie eines heterodiegetischen Erzählers aussetzt. Dieses Spiel zwischen einem ironischen, heterodiegetischen Erzähler und dem Ich-Erzählen der Figuren und Dinge, die durch ihre Geschichten die Aussagen des ersteren auch wieder relativieren können, macht das Reizvolle von Andersens Märchen aus. So gesehen ist es auch nicht unwichtig, dass am Schluss des Märchens vom alten Grabstein nicht etwa der heterodiegetische Erzähler das letzte Wort hat, sondern die Muse in Gestalt eines Engels. Ihre Rede vermag angesichts der realen Verhältnisse nicht mehr zu überzeugen, und zwar gerade deshalb, weil das »Schöne« und das »Gute« in der Lebenspraxis keine Rolle mehr spielen, sondern nur noch im Reich des Fiktiven. Das ist in denjenigen Märchen zu sehen, wo das Motiv des Vergessens wirklich das letzte Wort behält, wie z.B. in Den stumme Bog das mit den Worten schließt: »Gjemt - glemt! « 38 (EoH III, S. 45). Fast scheint es so, als ob auch Andersen seinem Musenanruf nicht mehr ganz trauen wollte. Spielt bei Kierkegaard 39 die Frage, inwieweit die Erinnerung überhaupt noch in einem Erlebnis fundiert ist, eine zentrale Rolle, bzw. droht bei ihm das Erinnern sich zu verselbständigen und zu einem rein schöpferischen Vorgang zu werden, dessen Verbindungslinie zur Empirie gekappt ist, ist Andersen sorgsam darauf bedacht, die Erinnerungen seiner Figuren im Erlebnis derselben zu verorten oder sie materiell zu fundieren. Zwar wird auch beim Märchendichter die Erinnerung durch poetische Imaginationskraft in Gang gesetzt, allerdings ist diese Kraft letzten Endes doch in der Materie verankert bzw. geht von ihr aus. Auch der Dichtergabe des kleinen Jungen im Märchen Den gamle Liigsteen liegt ursächlich ein verwitterter Grabstein zugrunde, an dem sich die Erzählung des alten Mannes erst entzünden konnte. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass die alten und vermeintlich wertlosen Dinge nicht vernichtet werden, weil an ihnen die Vergangenheit ablesbar ist. Etwas zugespitzt ließe sich sogar sagen, Andersen sei einer der ersten, der den Wert des Abfalls entdeckt und ihn nobilitiert habe, und zwar gerade unter dem Aspekt der 37 »Andersen möchte die Geschichte im Grunde als Ich-Erzählung präsentieren, aber er hält sich zurück und führt seine Darstellung zurück zur dritten Person Erzählung.« Übersetzung von mir, TS. Das dänische Zitat folgt Kofoed: Studier (Anm. 20) S. 115. 38 »Verwahrt - vergessen! « (ASM I, 507). 39 Vgl. etwa die Fortale zu den Stadier paa Livets Vei. »Aber ich habe die Erinnerung, die kann mir keiner nehmen« 111 Erinnerungsspuren, die in diesem verborgen sind. Von hier aus gibt es eine direkte Verbindungslinie zum schwedischen Lyriker Gunnar Ekelöf, der in einem seiner Prosatexte sein Gehirn mit einem Abfallhaufen vergleicht und dabei nachdrücklich auf den Konstruktionscharakter der Erinnerungen hinweist. Indem in Andersens Märchen darauf hingewiesen wird, dass Gedächtnis und Erinnerung letztlich nur entzifferbar aufgrund der Materie sind, können seine Texte auch als kritische Auseinandersetzung mit einer Memoriatradition verstanden werden, die die Auseinandersetzung mit diesem Thema in erster Linie als Angelegenheit der Sprache versteht. In Andersens Dingmärchen wird nun im Gegenteil gezeigt, dass der Erinnerungsprozess durch seine Strukturierung im Medium der Sprache - eine Aufgabe, die der heterodiegetische Erzähler übernimmt - bedroht ist. Gäbe es keinen alten Grabstein, gäbe es letztlich auch keinen Jungen, der aufgrund der Erzählung über diesen Grabstein poetisch die Vergangenheit hinüberretten kann in die Gegenwart und Zukunft. D.h. am Anfang steht die Materie, und erst an zweiter Stelle kommt die Erzählung darüber. 40 Deshalb ist es in Andersens Dingmärchen so wichtig, dass die Dinge nicht vollständig zerstört werden. Wäre das der Fall, gäbe es keine Erinnerungen mehr. Im Märchen Theepotten wird dieser Gedanke sogar direkt durchgespielt, indem die Teekanne zahlreiche Beschädigungen erfährt und zweckentfremdet wird, und zwar bis zu dem Punkt, wo sie bloß noch als Scherbe existiert und sagt: »Man slog mig midt over; det gjorde voldsomt ondt; men Blomsten kom i en bedre Potte, - og jeg blev kastet ud i Gaarden, ligger der som et gammelt Skaar, - men jeg har Erindringen, den kan jeg ikke miste! « 41 (EoH III, 49). Die Pointe dieses Märchens besteht darin, dass ein Bruchstück der Kanne übrig bleibt, das ist gleichsam sein Höhepunkt: ein gewöhnlicher Scherben fungiert als Aufhänger für die Erzählung. Jette Lundbo Levy geht in ihrer Lektüre des Märchens so weit, im Scherben eine Art von Allegorie der Erzählung selbst zu erblicken, wenn sie schreibt: »Som hyacinthen vokser ud af løget, sådan vokser fortællingen om tepotten ud af det bortkastede skår. Og fortællingen viser at skåret er noget, kan indgå i en ny helhed, som er fortællingen.« 42 Liest man den Text in dieser Art und Weise, tritt das Prekäre von Andersens Versuch, das Gedächtnismilieu im Sinne Pierre Noras zu retten für die Gegenwart, deutlich zu Tage. Wie schon bei der alten Straßenlaterne ist es nämlich auch hier ein Rettungsversuch ausschließlich unter ästhetischen Vorzeichen, eine Rettung im 40 Dabei spielt die Frage, inwieweit das Erinnerte überhaupt deckungsgleich sein kann mit dem Geschehnis in der Vergangenheit, keine Rolle. Der Konstruktionscharakter von Erinnerungen ist ein Problem, mit dem sich in der Nachfolge des Dänen die Schweden August Strindberg und Gunnar Ekelöf beschäftigen werden. 41 »Man hieb mich in der Mitte durch; das tat fürchterlich weh; aber die Blume kam in einen besseren Topf, und ich wurde auf den Hof hinausgeworfen, liege da als ein alter Scherben - aber ich habe die Erinnerung, die kann mir keiner nehmen.« (ASM II, 402). 42 »Wie die Hyacinthe aus der Zwiebel wächst, so wächst die Erzählung über die Teekanne aus einer weggeworfenen Scherbe.« Übersetzung von mir, TS. Das dänische Zitat folgt Lundbo Levy: Om ting (Anm. 1) S. 266. Thomas Seiler, Zürich 112 Reiche der Kunst sozusagen. Nur noch im Reich der Ästhetik ist es mittels poetischer Imagination möglich, die Erinnerung hinüberzuretten in die Gegenwart. Aber nicht einmal dieser Lösungsansatz ist immer von Erfolg gekrönt, wie das Märchen Den stumme Bog zeigt. In diesem sehr kurzen Text, der das Motiv des Verstummens zu seiner eigenen Poetik zu machen scheint, behält der Tod das letzte Wort, wenn der unglückliche Student mit seinem Buch unter dem Kopf begraben wird, und die Erzählung folgendermaßen schließt: »Nu komme Mændene med Søm og med Hammer, Laaget lægges over den Døde, der hviler sit Hoved paa den stumme Bog. Gjemt - glemt! « 43 (EoH III, 45). Das ist der Kommentar eines Erzählers, der zu wissen scheint, dass die Lebenspraxis schon längst in Gegensatz zum propagierten Erinnerungsmilieu geraten ist. Was unter solchen Vorzeichen als Einziges noch bleibt, sind, rezeptionsästhetisch gewendet, die Erinnerungen der Leser an Andersens Figuren. Ein Gedächtnismilieu im Sinne Pierre Noras scheint einzig im Bewusstsein der Leser als fiktionales Konstrukt überlebensfähig zu sein, nicht in der empirischen Wirklichkeit. Der melancholische Ton von Andersens Dingmärchen hat in dieser Erkenntnis seinen Ursprung. 43 »Jetzt kommen die Männer mit Nagel und Hammer, der Deckel wird über den Toten gelegt, dort ruht sein Kopf auf dem stummen Buch. Verwahrt - vergessen! « (ASM I, 507). »Aber ich habe die Erinnerung, die kann mir keiner nehmen« 113 Literatur Primärliteratur H.C. Andersens samlede værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Kopenhagen 2003-2007. Bd. 1-3. Eventyr og Historier I-III. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2003. (= EoH I-III) Bd. 9. Blandinger. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2005. Bd. 14. Rejseskildringer I. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2006. Bd. 15. Rejesekildringer II. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2006. Søren Kierkegaard: Skrifter. Bd 6. Stadier paa Livets Vei [1845]. Hg. von Niels Jørgen Cappelørn u.a. Kopenhagen 1999. H.C. Andersen: Bilderbuch ohne Bilder, Halle a.d.S. 1886. Hans Christian Andersen: Sämtliche Märchen. 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Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis [1984, 1986]. Frankfurt a.M. 1998. Seiler, Thomas: ›Gjemt (er ikke) glemt‹ - Erinnern und Vergessen in H.C. Andersens Dingmärchen. In: Anderseniana 2008, S. 5-25. Terdiman, Richard: Present Past - Modernity and the Memory Crisis. Ithaca, London 1993. IV. Vielfalt der Dinge und Waren Die umseitige Abbildung zeigt eine Collage von Hans Christian Andersen und Adolph Drewsen aus Astrid Stampes Billedbog (1853). Abbildung mit freundlicher Genehmigung des H.C. Andersen Hus, Odense Bys Museer. Copyright: H.C. Andersen Hus, Odense Bys Museer. Der handschriftliche Kommentar Andersens zu dem Blatt lautet: Træd ind og kjøb, her sælge de ud, Lige til sidste Trevl og Klud Det er stor Skade, om nu Du gaaer, Den hele Boutik for en Slik Du faaer! Hurra! I maa løbe, Komme at kjøbe! Trave trave! Jeg blæser sammen Fruer, Frøkener og Madammen Kommer dog bare, Her er deilige Vare! Trete ein und kaufe, hier wird ausverkauft, Bis zum letzen Fetzen und Lumpen Es ist wirklich schade, wenn du gehst, Du bekommst die ganze Boutique für einen Spottpreis! Hurra! Ihr müsst laufen, Kommt kaufen! Lauft, lauft! Ich ziehe zusammen Frauen, Fräuleins und Madammen Kommt doch nur, Hier gibt es schöne Ware! Pop Nacht Andersens Spaziergang in einer Sylvesternacht (1829) E LISABETH B RONFEN , Z ÜRICH 1. Die Welt - Ein Kaufmannsladen Im kulturellen Imaginären war die Nacht immer schon mehr als nur jene Zeit, die mit der Dämmerung einsetzt und dem Sonnenaufgang zu Ende geht. Seit der Antike wird sie als besonderer Schauplatz verstanden, vor dessen Hintergrund Handlungen sich ergeben, Begegnungen stattfinden und Erkenntnisse gewonnen werden, die einen Kommentar zum Tag bieten. Die Welt ist nach Einbruch der Dunkelheit eine veränderte, weil deren Spiel von Licht und Schatten einen Ort der Verwandlungen entstehen lässt. Die Konturen der Umwelt werden unscharf, der Raum verliert sein Maß; Distanz und Nähe können nicht mehr genau eingeschätzt werden. Es entsteht die Erfahrung einer Ortlosigkeit, die beruhigend, verführerisch oder furchterregend sein kann, in jedem Fall aber eine Verfremdung des Vertrauten mit sich bringt. Die Verunsicherung, die damit einhergeht, dass das Sehvermögen herabgesetzt ist, führt aber nicht nur zur Verwirrung des Blickes. Sie erhöht auch ein geistiges Sehen. Die auf nächtlichen Schauplätzen geförderte Phantasie kann sich demzufolge entweder als Verblendung oder als geistige Erleuchtung entpuppen, in jedem Fall aber als Verunsicherung von festgelegten Ordnungssystemen. In der Nacht entfalten sich Orte, die den Ausbruch aus Alltagszwängen oder eine revolutionäre Umkehrung von herkömmlichen Ordnungen erproben lassen; und gerade in diesem Sinne einen Kommentar zum Tag bieten. Denn die dort verankerten Gesetze der Vernunft und der Gehorsamkeit regieren hier nicht mehr ausschließlich. Im gleichen Zuge, in dem das reale Sehvermögen nämlich aufgrund der nächtlichen Finsternis herabgesetzt wird, steigt das Vermögen eines anderen - man könnte sagen nächtlichen - Sehens: Im Sinne jenes Phantasierens, das die Welt umgestaltet und dabei einen Dialog mit den Toten oder mit den immateriellen Gestalten der Literatur erlaubt. Somit ergibt sich in der Nacht als fremd gewordenem Ort eine eigene Korrespondenz zwischen äußerer und innerer Erfahrung. Die Beeinträchtigung der Sichtbarkeit und das daran geknüpfte Privileg der Einbildungskraft hat zur Folge, dass auch die Grenze zwischen dem Nachtreisenden und der von ihm erfahrenen Welt sich verflüssigt. Der nächtliche Ort fungiert als Schauplatz für ein Entfalten der Dichtungen desjenigen, der in ihn eingetreten ist; als wäre der nächtliche Chronotopos vergleichbar mit Elisabeth Bronfen, Zürich 118 jener Papierfläche, auf der sich der Text des Nachtreisenden als Schrift auch gleichzeitig entfaltet, während er diese Reise erlebt und wir sie lesen. 1 Für das romantische Nachtstück - was Andersen in seiner Fußreise von Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829 explizit aufgreift - lässt sich die Dialektik solch einer nächtlichen Poetik folgendermaßen zuspitzen: Das romantische Nachtstück denkt, was außerhalb der Gesetze des Alltags der Vernunft liegt, aber auch, was die Philosophie als ihre Grenze wahrnimmt. 2 Der Protagonist des Nachtstückes, der eine Umnachtung in dem Sinne auskostet als er sich auf ein Nachtwandeln der Gedanken einlässt, weil er vom Weg der Vernunft abkommt, bewegt sich entlang einer Horizontlinie. Diese trennt sowohl ein nächtliches Schreiben vom Denken des Tages ab, wie sie auch die Zeichenhaftigkeit aller Schrift (ob poetisch oder philosophisch) von jenem Abgrund abgrenzt, man könnte auch sagen von jener ursprünglichen Nacht, aus der jegliche Art der Bestimmungssetzung kommt, gegen die sie aber auch gerichtet ist. Im dreizehnten Kapitel seiner Fußreise begegnet Andersens Dichter, den am Anfang dieser Nacht der Geist des Bösen auf die Landstrasse der Poesie getrieben hatte, einer vom Tod gelenkten Postkutsche. Die lange, magere Gestalt bittet ihn auf den Wagen zu steigen, doch der junge Dichter, der hartnäckig an der Vorstellung seines irdischen Ruhmes festhält, erwidert: »Ach nein - - Meine Reise ist nicht fertig! « 3 (Fussreise, 301). Das Durchlaufen der nächtlichen Welt und das Verfassen eines Textes, der als Spaziergänge der Gedanken zu verstehen ist, waren von Anfang an als performative Haltungen in dieser Erzählung analog gesetzt. Das Erscheinen der Gestalt des Todes bringt nun aber einen weiteren Vergleich ins Spiel; die Lebensreise nämlich, die wie das Jahr am Sylvester ebenfalls zu Ende gehen kann. »Jetzt oder später - was macht das … es ist alles dasselbe«, erklärt der Tod und schlägt dem Dichter vor, noch einmal durch seine Himmelsbrille zu blicken, in der Erwartung, »vielleicht kommen dir noch andere Gedanken« 4 (Fussreise, 302). Insgeheim hofft er, der Dichter würde sich aufgrund seiner veränderten Sinne doch für ihn und seine Todeskutsche entschließen. Diese 1 Für Untersuchungen der an den nächtlichen Raum geknüpften Semantiken siehe Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. München 2008; Die Nacht. Ausstellungskatalog Haus der Kunst München. München 1998; Tzotcho Boiadjiev: Die Nacht im Mittelalter. Würzburg 2003, und Georges Banu: Nocturnes. Peindre la nuit. Jouer dans le noir. Paris 2005. 2 Zwei deutschsprachige Ausgaben wurden für diesen Artikel verwendet: Hans Chrstian Andersen: Spaziergang in der Sylvesternacht 1828/ 29. Übersetzt von Anni Carlsson. München 1952; und Hans Christian Andersen: Fussreise von Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829. In: Peer im Glück. Fußreise. Tante Zahnweh. Übersetzt von Renate Bleibtreu und Gisela Perlet. Zürich 2005. Zitiert wurde aus der Übersetzung von 2005, jeweils mit Angabe »Fussreise« (hier bewusst in der Schreibweise ohne ›ß‹) und der Seitenzahl. Die dänischen Originalzitate werden mit der Sigle ASV 9 wiedergegeben nach Hans Christian Andersen: Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1818 og 1829. In: Hans Christian Andersens samlede værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Bd. 9. Blandinger. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2005, S. 165-257. 3 »Ak nei - - min Reise er ikke færdig« (ASV 9, 249). 4 »[M]aaskee kan Du endnu faae andre Tanker.« (ASV 9, 249). Andersens Spaziergang in einer Sylvesternacht (1829) 119 Brille - so hatte der Leser im Verlauf des Textes mehrmals erfahren - erlaubt ein anderes, genauer ein nächtliches Sehen: ein Sehen jenseits der alltäglichen Gesetze des Blickens, mit denen wir die Welt, die uns umgibt, betrachten, um uns in ihr einzurichten. Diese Zauberbrille erlaubt nämlich den Anblick jener anderen Nacht - wie Maurice Blanchot sie nennt -, die sich als eine Leere in der begehbaren Nacht auftut. Im Gegensatz zur konkreten Nacht, in die man - wie Andersens junger Dichter - eintreten und die man durchwandern kann, ist diese andere Nacht nicht als begehbarer Raum zu verstehen, bleibt stets draußen (hors). Blanchot hält fest: In der Nacht findet man den Tod, man erwartet die Vergessenheit. Aber diese andere Nacht ist der Tod, den man nicht findet, ist das Vergessen, das sich vergisst, das am Busen der Vergessenheit die Stelle des unaufhaltsamen Erinnerns besetzt. 5 Einen Einblick in diese andere Nacht erhalten heißt für Blanchot sich der Faszination für das Leere hingeben. Vor allem aber bietet eine von diesem anderen Ort inspirierte Schrift einen Zugang zu sich selbst widerspiegelnden Erzählungen, Bildern oder Denkfiguren; also zu der für die romantische Ironie brisanten ästhetischen Selbstreflexivität. Weil diese Widerspiegelungen auf ihre eigene Medialität verweisen und sich somit einer durch klare Grenzziehungen strukturierten materiellen Welt als Referenzpunkt entziehen, führen sie den Dichter - und implizit den Lesenden - zu jenem Außen, von dem die andere Nacht berichtet. Als textuelle Performanz bringen sie ein Verschwinden des schreibenden (und lesenden) Subjekts zum Ausdruck, und zwar in dem Sinne, dass dieses Subjekt entmaterialisiert wieder erscheint aus jenem sich durch das Verschwinden von Referenzialität öffnenden Abgrund. In der Begegnung mit der anderen Nacht erscheint das dichtende Subjekt als verschwundenes; man könnte aber auch sagen als sich-selbst-schreibendes. Mit der Wahl des Titels ›Pop Nacht‹ geht es mir um folgende theoretische Ausweitung des Konzepts des romantischen Nachtstückes. Radikal unzugänglich ist die von Blanchot entworfene andere Nacht dennoch erlebbar und zwar gerade über den Umweg des völlig Künstlichen, genauer in ästhetischen Gebilden, welche durch das Kappen aller Bezüge zur materiellen Welt ein Sprechen des Außen simulieren. Dies wird im 13. Kapitel von Andersens Fußreise präzise auf eine Denkfigur gebracht. Nachdem sein Dichter nämlich die Himmelsbrille, die Sankt Petrus ihm mehrere Stunden vorher gab, aufgesetzt hat, bemerkt er: Ich überblickte fast eine halbe Welt, und es kam mir vor, als starrte ich nur in Blankensteiners Spielzeugladen mit all seinem Nürnberger Kram, wo alle Marionetten und Gliedermänner durch einen verborgenen Faden ständig in Bewegung gesetzt waren. Jeder lärmte nach seiner Manier, der eine wie der andere. Dort stand ein Heiliger mit einem prachtvollen Glorienschein aus Papier, hier waren in Seide gekleidete Damen aus Paris mit feinen Pappköpfen. In einer steifen, beschnittenen 5 Maurice Blanchot: L’espace littéraire. Paris 1986, S. 222 (meine Übersetzung, EB). Elisabeth Bronfen, Zürich 120 Allee umarmten zwei Personen einander; ich dachte an Chodowieckis Zeichnungen und da wusste ich wohl, dass es sich um Freundschaft handelte. (Fussreise, 302) Jeg saae ud over, næsten en halv Verden og det forekom mig, som stirrede jeg kun ind i Blankensteiners Boutik med al sin Nürnberger-Stads, hvor alle Marionetter og Gliedermänner ved en skjult Traad vare satte i en bestandig Bevægelse. Hver larmede paa sin Maneer; den Ene som den Anden. Hist stod en Helgen med en deilig Papirs- Glorie, her vare silkeklædte Pariser-Damer med fine Pap-Hoveder. I en stiv beskaaren Allee omfavnede to Personer hinanden; jeg tænkte paa Chodowiekis Tegning, og vidste da nok at det var Venskab. (ASV 9, 249) Wörtlich mit der Kutsche des Todes im Rücken blickt unser Dichter um sich, um zu entscheiden ob er leben oder sterben will, und was sieht er? Er erblickt einerseits die Welt als Kaufladen, auf ihren Waren- und Konsumwert reduziert. Andererseits erfährt seine kraft der Himmelsbrille optische Entleerung von der Welt noch eine weitere Entstellung. Die Mitmenschen des Dichters sind nicht nur umgestaltet worden in käufliche Gegenstände, sondern auf Oberflächenzeichen reduziert. Er erkennt ihre Bedeutung, weil er sie mit anderen Zeichen - genauer mit den Zeichnungen des Chodowiecki - vergleichen kann. Wir haben es also bei Andersens Fußreise nicht nur im konventionellen Sinne mit einer besonderen Nacht zu tun; nämlich dem Umbruch von einem Jahr in ein neues. Andersen führt uns zudem die Reise durch eine Nacht vornehmlich als performative Inszenierung einer Reise der Gedanken vor, die durch die Literatur und gleichzeitig zum Verfassen einer Schrift - der »Fußreise« des umherwandernden Dichters - führt. Im Verlauf des Textes schaffen nämlich die Deklarationen des Dichters Schrift, und zwar den Text, den wir lesen, als Schrift, die er im Durchschreiten des nächtlichen Raums mit seinem Körper leiblich schreibt. Es ist eine Schrift, die im ersten Kapitel explizit von einer blasphemischen Kosmologie »böser Lüste« ausgeht (Fussreise, 141). Dessen Verfasser wird einem Vasallen Satans gleichgesetzt, weil er mit seinen nächtlichen poetischen Ausschweifungen der Erschaffung von Welt durch Gottes Worte eine »neue Wassersflut« an Worten entgegensetzt, die ihrerseits wie eine Sintflut die Welt überschwemmen (Fussreise, 140). Weil also der Weg, den er beschreitet (und dabei gleichzeitig beschreibt) dem Schreiben seines Textes gleichgesetzt wird, lässt sich der nächtliche Raum auch als Papierbogen und seine Erfahrungen als Zeichenproduktion begreifen. So geht es ganz wörtlich um eine Reise durch die Schrift, durch deren Materialität nämlich, und zwar im Sinne des Schicksals der poetischen Gedanken. Im Verlauf der Fußreise wird somit nicht zuletzt zur Schau gestellt, wie Denkbilder und Lektüren sich vom tradierten Bildrepertoire speisen. Im 9. Kapitel führt Andersen uns beispielsweise den Tempel der Poesie vor, und zwar als wörtliche Figuration von Literatur im Sinne einer Reduktion auf einzelne sie metonymisch vertretende Figuren. Im 6. Kapitel erhalten wir hingegen einen Exkurs über die Etappen der Produktion, die dazu führten, dass die Ausgabe von Hoffmans Die Elixiere des Teufels, die der Dichter auf seiner Nachtreise in die Tasche gesteckt hatte, um doch ein wenig Phantasie in Andersens Spaziergang in einer Sylvesternacht (1829) 121 Reserve zu haben, sollte seine eigene versagen, konkret Buch wurde. Das Buch spricht zu ihm und inszeniert somit eine Art nächtlichen Pop-Spuk, weist es doch auf seine reine Materialität - vor und nach jeglichem Sinn - hin. Brisanterweise steckt unser Dichter auch genau um Mitternacht dieses selbst-sprechende Buch wieder in die Tasche. 6 Wir befinden uns somit nicht nur mitten in einem klassisch-romantischen Nachtstück, sondern - so meine These - im Bereich der Pop Art, wenn auch avant la lettre. Denn die Nachtreise, die Andersen uns vorführt, ist als Inszenierung von readymades konzipiert: Von Hegels Nacht der Welt als Denkbild für geistige Umnachtung, beispielsweise in der Begegnung mit dem melancholischen Schulkameraden, der davon erzählt, »daß die Erde an nichts hängt«, 7 und er selber in einem »bodenlosen Schlund« schwebt, der sein »Gehirn zum Sieden bringt« 8 (Fussreise, 178f.), sich dabei aber als Schlafwandler entpuppt, den man bekanntlich nicht wecken darf. Wie diese Fußreise auch als ready-made jene aus Shakespeares Dramen entlehnte Vorstellung von der Welt als Theater aufgreift: »Wer weiss, ob nicht all die Verstorbenen jetzt dasitzen und unser Spiel mit ansehen«, meint der Dichter an einer Stelle, »und ob nicht auch wir, wenn unsere Rollen zu Ende sind, unter die Zuschauer geraten und zusehen, wie die Nachfolgenden das alte Drama in neuen Kostümen spielen« 9 (Fussreise, 163). Ebenfalls in diesem Sinne nennt der Nachtwächter seinen nächtlichen Handlungsraum ein Theater, in dem das Leben der Menschen ein herrliches Zauberspiel und ihre Träume eine bunte Ware ergeben, die er aber bei Morgengrauen immer zusammenpacken muss, sodass er »selten ein ordentliches Ende des nächtlichen Schauspiels« 10 erlebt (Fussreise, 208). In Andersens Fußreise eine Pop Haltung zu entdecken ergibt sich jedoch zudem dadurch, dass in dieser Erzählung eine Drehung der Schraube der romantischen Ironie hinzukommt. Die Reduktion der nächtlichen Welt auf eine Welt der Zeichen und Zeichnungen stellt, wie das Anfangszitat aufzeigen sollte, den nächtlichen Chronotopos nicht nur als Bühne für geistige Wanderschaft (oder poetische Umnachtung) dar, sondern operiert immer auch mit einem Verständnis von Welt, und der Literatur, die sie beschreibt, als kommerzieller Ware. Wiederholt findet sich unser Dichter in einem Brotkorb. Die Literatur, die er verspeist, um aus ihr seinen eigenen Text zu generieren, ist in Andersens Erzählung wörtlich zur Konsumierung gedacht. Gleichzeitig - und daran hängt die Brisanz des vorgeschlagenen cross- 6 Die Schrift lässt sich auf ihre reine Gegenwärtigkeit reduzieren, im Sinne der von Hans Ulrich Gumbrecht vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen Sinnkultur und Präsenzkultur. Siehe Hans Ulrich Gumbrecht: Production of Presence. What Meaning Cannot Convey. Stanford 2004. 7 »Er det ikke et Mirakel, at Jorden hænger paa Intet.« (ASV 9, 186). 8 »[D]a svinder Alt omkring mig og jeg svæver i et bundløst Svælg der bringer min Hjerne til at syde.« (ASV 9, 186). 9 »Hvem veed om ikke alle de Afdøde nu sidde og see vort Spil og naar vore Roller ere ude, vi ogsaa komme hen imellem Tilskuerne og see Efterkommerne spille det gamle Drama i nye Costumer.« (ASV 9, 178). 10 »[S]aa at vi, sædvanligviis, sjelden faae en ordentlig Ende paa det natlige Skuespil.« (ASV 9, 204). Elisabeth Bronfen, Zürich 122 mapping - nähert sich diese ironische Reduktion von Welt auf Zeichenhaftigkeit und Konsumgut einem Wissen um den Abgrund. Wie Andy Warhols Brillo Boxes, Stars oder Desasters lässt sich auch für Andersens ready-mades feststellen: Gerade weil sie nur als Oberflächenbilder, als Klischees, als Abzüge von anderen Bildern inszeniert werden, bringen sie zum Ausdruck, dass sich hinter dem ästhetischen Schein keine Botschaft über den Sinn der Welt zeigt; dass es hinter der Oberfläche des Bildes keinen Trost gibt. Stattdessen wird eine Leere erzeugt, in der der Abgrund, den man mit Blanchot die andere Nacht des romantischen (aber auch des post-modernen) Nachtstückes nennen könnte, in seiner ganzen Unzugänglichkeit sichtbar gemacht wird. Vergessen wir nicht, wie bei Warhol ist dieser aporetische Einblick auch bei Andersen einer, der sich aus zwei Zeichen der Entleerung virtuell ergibt. Hinter dem Dichter steht die Kutsche des Todes, vor ihm entfaltet sich die Welt reduziert auf einen Kaufladen. 2. Andersens pre-posterous pop stance Die Neubetrachtung historisch spezifischer ästhetischer Werke im Vergleich mit zeitgenössischen zu lesen, wird von Mieke Bal bezeichnenderweise »preposterous history« genannt. Dabei geht es ihr weder darum, die Vergangenheit mit der Gegenwart kollabieren zu lassen, noch die Vergangenheit zum Objekt werden zu lassen, um sie somit in den Griff zu bekommen, sondern sich in Form einer Umkehrung mit einer so genannten »history today« auseinander zu setzen. »This reversal« erklärt Bal, »which puts what came chronologically first (›pre‹) as an aftereffect behind (›post‹) its later recycling, is what I would like to call a preposterous history.« 11 Im Englischen heißt das Wort ›preposterous‹ umgangssprachlich aber auch ›verkehrt‹, ›widersinnig‹. So ließe sich in Andersens Fußreise jener pop stance 12 nachspüren, deren ästhetische Geste gerade darin besteht, mit Hilfe einer radikalen Zeichenhaftigkeit performativ eine Erfahrung von Leere - vom Widersinn, von der Verkehrung - zum Tragen kommen zu lassen. Die Behauptung, Andersens Nachtstück würde Anliegen der Pop Art vorweg nehmen, lässt jedoch erst nachträglich im Sinne von Bals preposterous history dieses Verhältnis zwischen Romantik und Postmoderne erkennen. Dabei geht es weniger darum, Andersens Ausprägung romantischer Ironie der Pop Art grundsätzlich gleichzusetzen, sondern aufzuzeichnen wo - und warum - der romantische Dichter eine ästhetische Einstellung und ein mediales Selbstverständnis mit dem ironischen Spiel der Pop Art teilt. Die These, Andersens Fußreise würde uns auf analoge Weise wie die Pop Art affizieren, setzt ein Verständnis von pop stance (Nancy Marmer) voraus, das im recycling 11 Siehe Mieke Bal: Quoting Caravaggio. Contemporary Art, Preposterous History. Chicago 1999, S. 7. 12 Nancy Marmer: Pop Art in California. In: Lucy R. Lippards (Hg.): Pop Art. London 1966, S. 148. Andersens Spaziergang in einer Sylvesternacht (1829) 123 einen Akt kultureller Übertragung erkennt. 13 Im Zuge des recycling erhalten visuelle und textuelle Zeichen, die - wie jede Literatur als Objekt, das verkauft, rezensiert und konsumiert wird - dem Bereich der Warenkultur angehört, eine Wiederverwertung. Sie sind mehr (weil nochmals einsetzbar) aber auch weniger (weil ein Abzug) eines vorhergehenden Bildes. Von Pop als Einstellung und Haltung zu sprechen heißt, das ästhetische Verfahren als populäres und kommerzielles zu entlarven. Im gleichen Zuge wird aber auch die Realität, oder zumindest unser Zugang zu ihr, als die Wirklichkeit reproduzierende Zeichen, und somit als textuelle Ware verhandelt. Mit recycling ist deshalb gemeint, dass das Medium Bild - oder im Falle Andersens der Text - als Wiederverwertung bereits existierender Zeichen aus zweierlei Gründen in den Vordergrund gestellt wird; einerseits um die Funktion von Literatur als kommerziell erfolgreiche Ware zu thematisieren, und andererseits um die Träume, die an den Verkaufswert von Literatur geknüpft werden, zu entlarven. In Andersens Fußreise geschieht dies in den wiederholten Anspielungen auf das Verhältnis des Dichters zu seinem impliziten Publikum. Es ist der Traum des Ruhmes (bezeichnet als böser Geist, der den Namen Satan trägt), der ihn in dieser Nacht auf die Strasse treibt, doch er zensiert sich im Verlauf seines geistigen Spaziergangs immer wieder im Hinblick auf die öffentliche Meinung, deren böser Geist er ebenfalls internalisiert hat. An jener Stelle, in der sich eine Gewitterwolke als überdimensionale St. Peters-Gestalt entpuppt - ein belebtes billboard könnte man meinen - erklärt der Dichter emphatisch: »Ach nein! Das geht überhaupt nicht an! Was wird der Leser sagen? Ihr ganzes Auftreten ist nicht motiviert genug. Sie passen ja gar nicht in meine ›Fußreise‹«. Lakonisch antwortet St. Peter durchaus im ironischen Gestus der Pop Art: »Man muß nur nicht tun, als wenn es etwas Besonderes wäre - man gewöhnt sich an alles« 14 (Fussreise, 213). Andersens erste Erzählung im Sinne einer pop stance zu lesen, heißt deshalb, den Blick auf Textbeispiele zu lenken, die ebenso medial selbstreflexiv in Bezug auf die eigene Zeichenhaftigkeit vorgehen wie die Kunst Warhols oder Lichtensteins. Nimmt er doch Sujets der Pop Art vorweg, nämlich die Werbung und Verpackung von Literatur als Konsumware, um eine Erzählung zu schaffen, deren Erfolgschance er gerade darin sieht, dass sie eine selbstbewusste Distanz zum eigenen Medium zelebriert. Dabei setzt seine Ausprägung von Verfremdung Schlegels romantische Ironie bereits selbst als ready-made ein. In der zentralen Stelle im 8. Kapitel setzt der Dichter zum ersten Mal jene ihm von Sankt Peter geschenkte Brille auf, die man durchaus als Pop-Brille verstehen könnte, weil die optische Verfremdung, die sie erzeugt, den Warencharakter von Welt mit dessen Zeichenhaftigkeit verschränkt. Mit dieser Linse vor seinen Augen 13 Für eine Diskussion, was mit dem Begriff einer pop stance gemeint ist, siehe Elisabeth Bronfen: Pop Kino. Konsum und Kritik des Populären in Hollywood. In: Walter Grasskamp (Hg.): Was ist Pop? Zehn Versuche. Frankfurt a. Main 2004, S. 165-188. 14 »[B]ehøver jeg at citere Dem hvad der gestiefelte Kater siger til Gottlieb: man muß nur nicht thun, als wenn es etwas Besonderes wäre, - man gewöhnt sich an alles.« (ASV 9, 206). Elisabeth Bronfen, Zürich 124 sieht der Dichter das aufgebrauchte Jahr als Ansammlung von Konsumgegenständen: [N]ur ganz flüchtig sah ich, wie alle Schlechtigkeiten Kopenhagens aus dem alten Jahr im Wiegehäuschen gewogen wurden, bevor sie hinaus ins ewige Vergessen fahren durften. - Falsche Brüste und orthodoxes Christentum, Luxusartikel und unerlaubte Lotterielose, alles durcheinander. (Fussreise, 217) [J]eg saae kun ganske flygtig hvorledes alle Kjøbenhavns Daarligheder fra det gamle Aar, bleve veiede paa Veierboden før de fik Lov til at kjøre ud til evig Forglemmelse. - Forlorne Bryster og orthodox Kristendom, Luxus Artikler, og rejicerede Lotterisedler, Alt imellem hinanden. (ASV 9, 209) Unser Dichter eilt daraufhin weiter, bis vor ihm das flache Amager liegt, das von ihm in dieser Nacht zum »herrliche[n] Tummelplatz der Phantasie« deklariert wird. Eine Beschreibung des Ganzen, meint er, »könnte ein guter Anfang für eine Novelle sein« (Fussreise, 218). Doch für einen neuen Einblick - er selber spricht von einem weiten, der bis zum Mond reichen würde - braucht er seine Himmelsbrille. Andersens pop stance lässt sich vornehmlich an dem festmachen, was er seinen Dichter daraufhin sehen und beschreiben lässt; ist dies doch gerade ein Einblick in die Klischeehaftigkeit jeglicher von der Natur inspirierten Dichtungen. Das Neue liegt in der Betonung des ready-made; in der Improvisation als recycling. Vor seinen Augen öffnet sich ihm nämlich nun eine Verdinglichung des Geistigen, die er als »eine ganze bunte Welt« versteht. Zuerst erblickt er Verkörperungen von Wünschen, die jedoch nicht nur als allegorische Gestalten wahrgenommen werden, sondern eben auch selbst-ironisch als Verwertung, weil entleerter Abzüge von Vorbildern. »Ich sah auch meine eigenen Gefühle als kleine ›Werther‹ in elegischen Gewändern hinausflattern«, erklärt er, »aber sie waren so blaß, so spindeldürr, nichts weiter als nur Gefühl, so daß mir für ihre Aufnahme in der Welt ganz bange wurde« 15 (Fussreise, 221). An dieser Passage zeigt sich jene für die Pop Art so zentrale unsaubere Schnittstelle zwischen privaten Wünschen und Stereotypen, wird hier doch angesprochen, dass wir, um unser Leben als sinnhafte und kohärente Geschichte zu gestalten, auf vorgegebene Bildfiguren zurückgreifen müssen; auf billboards am Straßenrand des eigenen Lebensweges. Doch Angst macht Andersens Dichter bezeichnenderweise nicht der Umstand, dass alle Wünsche, auch die seines literarischen Ruhmes, nachempfundene Kopien sind, und somit keine authentischen Emotionen, sondern seine Befürchtung, dass sie deshalb keine erfolgreiche Ware abgeben werden. »Nur in einer lustigen Narrentracht, als originelle Burschen, könnt ihr Erfolg haben« 16 (Fussreise, 221f.), ruft er ihnen zu. Deshalb bearbeitet er sie im Sinne eines spin 15 »[J]eg saae ogsaa mine egne Følelser flagre ud som smaae Werthern i elegiske Gevandter, men de var saa blege, saa skindmagre, ikke andet end den bare Følelse, saa jeg blev ganske bange for deres Optagelse i Verden.« (ASV 9, 210). 16 »[K]un i en lystig Narre-Dragt, som originale Krabater, kan I gjøre Lykke.« (ASV 9, 211). Andersens Spaziergang in einer Sylvesternacht (1829) 125 doctors, und so erfahren sie ein vielversprechenderes restyling. Erfolg werden sie haben, weil sie explizit auf ihre Klischiertheit verweisen: Dergleichen elegische Ausbrüche, die recht aus dem Herzen kommen, nehmen sich doch ganz anders aus, wenn man die blassen Gesichter mit einem bisschen guter Laune übermalt, ihnen ein paar komische Knebelbärte, eine poetische Papierkrone und allen Witz, den man hat, als Pritsche an die linke Seite gibt; leicht finden sie da die Tür geöffnet, denn die Welt möchte lachen. (Fussreise, 222) Saadanne elegiske Udbrud, ret fra Hjertet, faae dog et ganske andet Syn naar man maler de blege Ansigter over med en Smule Lune, giver dem et par comiske Knebelsbarter, en poetisk Papirskrone, og al sin Vittighed som Brix ved venstre Side, let finde de da Døren aaben, thi Verden vil gjerne lee. (ASV 9, 211) Eine pop stance leitet unsere Aufmerksamkeit jedoch nicht nur darauf, dass Realität als reproduziertes Bild behandelt wird; dass wir es immer mit einer Reproduktion von Zeichen, nicht mit einer mimetisch transparenten Abbildung von Welt zu tun haben. Sondern pop stance versteht sich auch als kritisches Engagement mit Kultur als imaginärer Vermittlung und Verwaltung realer Lebensumstände, mit dem Warencharakter von Literatur. In diesem Sinne erblickt Andersens Dichter, nachdem seine als erfolgsträchtigere Ware umgestalteten Gefühle lustig fortgeflattert sind, die Literatur, von der diese Dichtergefühle sich speisen. Er erblickt sie als »große Königs-Revue über alle Dichterwerke,« als »phantastische Revue« (Fussreise, 225). Die Heldinnen und Helden des kulturellen Imaginären, das mit seinem eigenen Text ein recycling erfährt, sind nach Gestalt und Empfindung in Regimente eingeteilt: Biografien, Räubergeschichten, das Regiment der Liebe, wobei jeweils der Warencharakter der Texte hervorgehoben wird. Bei einer hübschen kleinen Brotfrau entdeckt er unter dem Deckel ihres Korbes »die herrlichsten reifen Lesefrüchte,« neben vier gebratenen Brieftauben, eine gut zugepfropfte »Flasche mit Lächeln und Tränen von N.T. Bruun und viele andere hübsche Sachen« 17 (Fussreise, 227). Er wird am Ende des Kapitels selber in den Korb klettern und sich von der Brotfrau in den Tempel der Poesie tragen lassen, auf seinen Status als literarisches Konsumgut willentlich reduziert. So wird der Traum vom Ruhm des Dichters als Konsumgut entlarvt; eine Einstellung, die ihm ein ungehemmtes Konsumieren seiner Phantasie verspricht, ihn aber auch zur Ware eines an der imaginierten Instanz der Konsumenten orientierten Marktes macht. Indem die durch seine Himmelsbrille wahrgenommene Welt als Reproduktion erscheint, hebt Andersen auch hervor, dass nicht nur die Gefühle seines Helden ausschließlich als konsumierbare Zeichen zum Ausdruck kommen. Seine im Verlauf des Spaziergangs zur Schau gestellten Haltungen entpuppen sich, auch wenn sie Ausdruck romantischer Ironie sind, ebenfalls als Ware, die das 17 »Hun trak strax Dugen bort - (den er bekjendt fra Axel og Valborg) - jeg stirrede ned i Kurven, og saae de deiligste, modne Læsefrugter, fire stegte Brevduer; et røget Bryst af den galende Hane; et Laar af Meister Floh, (men det er meget dyrt); en vel tilproppet Flaske med: Smiil og Taarer af N.T. Bruun; og mange andre, rare Sager.« (ASV 9, 213f.). Elisabeth Bronfen, Zürich 126 Medium Literatur (und Andersen als Autor der Fußreise) an sein Publikum verkauft. Doch wie bei den amerikanischen Pop Artists ist Konsum nur die schillernde Oberfläche von Konsumiertwerden. Der Dichter entdeckt auch ein Regiment von Verwundeten: »Dem fehlten Arme, einem anderen Beine, ein dritter hatte weder Augen noch Nase, ja, es gab sogar einige, von denen - mirabile dictu - nichts weiter als der kleine Finger übrig war« 18 (Fussreise, 229). An diesen Invaliden wird die traurige Konsequenz einer Ästhetik des ready-mades verhandelt. Diese amputierten Gestalten verkörpern nämlich [...] teils alte Klassiker, teils nur wenig bekannte Schriften, denen die Kleinschriftsteller der Gegenwart bald einen Arm, bald ein Bein, hier ein Auge, da einen Heldenarm stehlen, um auf solche Art einigermaßen erträgliche Helden und Heldinnen daraus zusammenzuflicken, die sie für ihre eigenen ausgeben können. (Fussreise, 230) [...] deels gamle Classiker deels kun lidet bekjendte Skrifter, hvilke Nutidens Smaa- Forfattare snart stjæle en Arm, snart et Been fra; nu et Øie, nu en Helte-Arm, for saaledes at flikke dem en nogenlunde taalelig Helt og Heltinde sammen, de kan give ud for deres egen. (ASV 9, 215) Recycling erweist sich in Andersens Spaziergang also immer auch als entleerende Zeichenökonomie, die auf einen literarischen Markt gerichtet ist. Ihre verdinglichende Verwertung von ready-mades unseres kulturellen Imaginären, die als proto- und stereotypische Gesten gehandelt werden, versteht sich gleichzeitig dezidiert als Gegenkraft zur romantischen Sentimentalität und Melancholie. Die Übertreibung des Zitatenspiels verweist darauf, dass Denk- und Sprachbilder nicht erfunden, sondern übernommen werden; dass es nichts Neues, nur das Konsumieren eines bereits existierenden Kulturarsenals gibt. Doch alles auf die Ebene des materiellen Zeichens zu heben bedeutet auch, die Phantasie gegenüber dem Philistertum höher einzuschätzen. Indem von einer mimetischen Referenz Abstand genommen wird und die Welt nur durch den nächtlichen Blick, und dann potenziert durch die Himmelsbrille, wahrgenommen wird, entsteht eine doppelte Entfernung. Einerseits greift Andersen auf bestehende Bildsprache zurück, andererseits setzt er diese Sprachbilder in seinem Text nur noch als Oberflächenwert ein, reduziert auf die rhetorische Geste des Anzitierens; analog Warhols Brillo Boxes, die eine Verpackung wiedergeben, die ihrerseits für eine Ware (das Seifenpulver) einsteht und somit doppelt entstellt. Wie die Pop Artists blickt Andersens Dichter auf die Welt durch die Linse jener literarischen Reproduktionen, die er mit seinem Schreiben nochmals verwerten will. In ein und demselben Zug ist er sowohl Leser wie Autor, gibt es doch zwischen seinem Durchschreiten des nächtlichen Schauplatzes und dem Schreiben jenes Nachtstückes, das wir als Lesende in der Hand halten, keine Differenz. Eine pop stance reiner Zeichenhaftigkeit wird somit dadurch zelebriert, dass die Ge- 18 »[E]n manglede Arme, en anden Been, en tredie havde hverken Øine eller Næse, ja der var endogsaa nogle, der - mirabile dictu - ikke var andet tilbage af end den lille Finger.« (ASV 9, 214). Andersens Spaziergang in einer Sylvesternacht (1829) 127 danken und Gefühle des Dichters (der vom impliziten Autor Andersen kaum unterschieden werden kann) in dem Augenblick Schrift werden, in dem wir sie auf der Buchseite lesen. Wenn aber alles, was der Text produziert, konsumiert und in Umlauf setzt, Zeichen ist, muss man das ready-made zum Prinzip erheben. Am Anfang seines Spazierganges hatte der Dichter - als wäre er in einem comic strip - zwei allegorische Gestalten getroffen; einerseits eine Amagerbäuerin, die die Haltung der Klassik verkörpert, andererseits die die Romantik vertretende sterbende Heloise, die schweigt, während seltsam bunte Phantasiebilder um sie herum schweben. Andersen operiert mit einer anti-mimetischen Pop Haltung, indem er diesem Wettkampf der Musen noch jenen Aspekt des ready-mades dramaturgisch hinzufügt, nämlich Ware und Kopie zugleich zu sein. Die Muse der Klassik versucht den Dichter zuerst mit Äpfeln, Walnüssen und rosenroten Zuckerschweinchen zu verführen, zieht dann aber - als sei es austauschbar mit diesen Genussgütern - seine Fußreise aus der Tasche. Das sich noch im Geschriebenwerden befindende Buch hat bereits ein label. Wenn wir uns daran erinnern, wie sehr Andy Warhol trash liebte, wird unser Blick durch die analytische Brille einer preposterous history durchaus ein unheimlicher: »Mit einem satanischen Lächeln ließ sie ihren spitzen Zeigefinger glühende Zeichen auf seinen Rücken malen: ›Unsinn‹ stand da« 19 (Fussreise, 146). Dass das ästhetisch Neue nur in der Geste der zitierenden Wiederverwertung liegen kann, wird von Andersen natürlich auch explizit thematisiert, bezeichnenderweise als Ratschlag einer alten Katze an den schwärmerischen Dichter Kater Mons. »Es gibt nichts Neues unter der Sonne,« erklärt sie dem jungen elegischen Dichter, der entweder unsterbliche Kunst schaffen oder gar kein Dichter sein möchte: »Sollte der Dichter nicht fühlen, was von anderen vor ihm gefühlt wurde? « 20 (Fussreise, 159). Andersens Pop lässt einen Nachtwächter diese Katzenmusik unterbrechen. Auch er tritt als ready-made auf, und inszeniert somit leiblich das Votum der alten Katze. Ist die Nacht in unserem kulturellen Imaginären immer mit dem Fatum und dem Tod verschränkt, verkündet deren Abgeordneter auch das Ende aller Schwärmerei. Denn auch die Rückkehr in eine kalte Wirklichkeit gehört der Erfahrung der Nacht an. Das ready-made als ästhetisches Prinzip findet aber vor allem in der darauf folgenden Szene seinen dramaturgischen Höhepunkt. Nachdem der Dichter über die Welt als Theater nachgedacht hat, kommt er zu einem Schloss. Der Gedanke an die Zukunft nimmt ihn so gefangen, dass das Gegenwärtige überhaupt nicht auf ihn wirkt, und in diesem Geisteszustand findet er dort ein großes rotes Opernplakat aufgehängt, auf dem steht: »Das Jahr 2129« (Fussreise, 164). Durchaus im Sinne einer preposterous history betritt er nun einen in der Form eines riesigen Kaleidoskops gebildeten Theaterraum, in dem alle Theatereffekte des 19. Jahrhunderts 19 »[M]ed et satanisk Smiil malede hendes spidse Pegefinger luende Ziffre paa Bogens Ryg. ›Vaas‹ stod der.« (ASV 9, 170). 20 »Der er Intet Nyt under Solen. Hvad skulde Digteren føle, der ikke var følt af Andre før ham.« (ASV 9, 176). Elisabeth Bronfen, Zürich 128 aufgeführt werden. Von Andersens expliziter Inszenierung einer preposterous history lässt sich deshalb reden, weil er den Blick aus der Zukunft auf seine Zeit durchspielt und dabei diese als Konglomerat von Versatzstücken erscheinen lässt: »Felsen mit Wasserfällen, brennende Städte, Wolken mit Feuerregen und strandende Schiffe wirbelten bunt durcheinander« 21 (Fussreise, 166). Aus der Perspektive einer historischen Entfernung von 300 Jahren reduziert sich die Kultur des 19. Jahrhunderts auf Holzfiguren, künstliche Automaten. Die Bücher existieren nur noch als Titel, die von einem lebenden Katalog, genauer von einem Papagei, der den Bibliothekar spielt, heruntergescharrt werden. Die Szene hört jedoch bezeichnenderweise damit auf, dass der Dichter auf einen hohen Turm steigt, von dem aus er über ein ganzes Menschengeschlecht hinaus schauen kann. Nun ist sein Zeitalter nicht mehr eine Revue von Versatzstücken, sondern regelrecht Staub. Um nochmals Warhols eigene pop stance zu bemühen: Für Andersens Dichter sind Zeichenhaftigkeit und Abgrund zwei Seiten der gleichen Medaille. Die Welt als Abzug anderer Bilder wahrzunehmen und die Welt als bodenlose Leere zu begreifen - diese beiden Einsichten entsprechen sich. Der Dichter starrt, nachdem er über die Eitelkeit des Menschen nachgedacht hat, in den tiefen Abgrund unter sich. Um sich zu retten versucht er, in eine kleine Droschke einzusteigen, die wie eine rettende Chimäre am Himmel erschienen ist, wacht aber aus seiner tiefen Ekstase auf, weil eine weibliche Stimme ausruft, »Ist Er verrückt! ! ! « 22 (Fussreise, 174). Er muss erkennen, dass er im Konsumrausch der eigenen Phantasien einen Kuchenkorb für eine fliegende Droschke gehalten hat. Teil von Andersens pop stance ist es eben auch, die rauschhafte optische Täuschung, die der Blick der Dichtung erlaubt, als solche zu entlarven. 3. Die Virtualität des Textes Im 12. Kapitel entpuppt sich der Tod auch als Fluchtpunkt jeglicher konsumierbarer Ware. Wie die Pop Artists des 20. Jahrhunderts weiss auch Andersen, dass Konsument des Traums vom literarischen Ruhm zu sein immer umzuschlagen droht, und zwar weil man von diesem Wunsch selber konsumiert, sich in der Verdinglichung von Ruhm auflöst. Immer wieder thematisiert Andersen, dass mit dem Aufsetzen der Brille die Welt fantastisch gefärbt erscheint, als trete man in eine Matrix ein. Mit dem Ablegen oder Verlieren der Brille hingegen geht eine Auflösung jener Reproduktionen einher, die nicht zu einem wahren Blick auf die Welt führt, sondern einen Blick des von Blanchot theoretisierten Außen (hors) aufruft. Die Brille zu verlieren heißt jenseits von Welt als Ware und Vorstellung zu sehen; in einen Zustand des Nichts eintreten, in den Fluchtpunkt des kulturellen Imaginären, den Tod, der laut Blanchot die andere Nacht ist. Man könnte aber auch von einem textuellen Fluchtpunkt sprechen, nämlich der chronotopischen Virtualität des Tex- 21 »Klipper med Vandfald, brændende Byer, Skyer med Ildregn, og strandende Skibe, styrtede brogede imellem hinanden.« (ASV 9, 179). 22 »[E]r han gal! ! ! « (ASV 9, 183). Andersens Spaziergang in einer Sylvesternacht (1829) 129 tes, die performativ eine Entsprechung des Nachtschreibens darstellt. Diese beinhaltet eine unmögliche Gleichzeitigkeit von geistigem Wandern, leiblichem Schreiben und Rezeption durch den Lesenden. Mimetisch steht dieses unmögliche Produkt dialektisch dem Nichts gegenüber und nährt sich gleichzeitig davon. Inszeniert die Fußreise doch, wie man von Klischees ergriffen, konsumiert und manipuliert wird; wie Wünsche als konsumierbare Zeichen zirkulieren, und wie sie verzehrt, verdaut und ausgeschieden werden. Gleichzeitig lässt sich aber auch deshalb von Konsum sprechen, weil Andersens Spaziergang diegetisch und extradiegetisch als Rausch angelegt ist. Der Dichter ist nach der endlosen Reproduzierbarkeit seiner ready-mades süchtig, kann nicht inne halten, erfährt aber in der Kutsche des Todes, wie sehr dieses rauschhafte Zehren einer Zersetzung gleichkommen kann. Nochmals geht es um eine Verdinglichung von Literatur, die sie auf ihre bare Materialität zurückführt, vergleichbar damit, wie Lichtenstein das Bild auf den Pinselstrich reduziert. Für einen Augenblick besteigt der Dichter den Wagen des Todes, und tritt dort in eine eigene kleine Welt ein. Als erstes fällt sein Blick auf einen Mann, von dem er meint, dieser sei ein reicher Hotelier »überall behängt mit Speisekarten,« bis er in ihm einen deutschen Buchhändler erkennt, »der die Werke von Schriftstellern tranchierte und verkürzte, um mit wohlfeilen Ausgaben seinen Beutel zu spicken« 23 (Fussreise, 304). Die anderen Insassen dieser dem Tod zueilenden Welt entpuppen sich ein letztes Mal als ready-mades: Verkörperungen seiner - und unserer - Erinnerungen an literarische Figuren, die es gegeben hat oder geben könnte. In ihrer Mitte hat unser Dichter nun die Möglichkeit, sein eigenes Sterben anzunehmen und selbst der Tod setzt als Argument ein letztes Klischee ein. »Folgen Sie mir! « verkündet er. »Ihre besten Träume werden doch in die Brüche gehen« 24 (Fussreise, 312). Doch in dem Augenblick kräht der Hahn, die Kutsche braust davon. Unser Dichter steht allein am Strand, sein Spaziergang ist vorbei. Ein weiterer Ausflug in den Irrgarten der Phantasie ist im Licht der Morgenröte nicht mehr möglich. Anstelle des Heiligen Petrus, Schutzpatron seiner geistigen Abschweifungen, erscheint plötzlich vor ihm sein Rezensent. Dieser nennt seine ganze Reise ein »Chaos von verwirrten Ideen, aufgewärmten Reminiszenzen und im höchsten Fall ein missglücktes Märchen« 25 (Fussreise, 315). Der junge Dichter verteidigt sich, doch der Rezensent verkündet unwillentlich die Devise einer Pop Ästhetik: »Nichts ist an Ihnen oder an Ihrem Buch, aus Ihnen wird nie etwas« 26 (Fussreise, 316). So- 23 »[D]et var en tydsk Boghandler der trancherede og forkortede Forfattares Værker, for med Godtkjøbs Udgaver at spække sin Pung.« (ASV 9, 250). 24 »Følg mig! Deres bedste Drømme vil dog gaae i Skuddermudder.« (ASV 9, 254). 25 »[E]t Chaos af forvirrede Ideer, opkogte Reminiscenser, og i det høieste et mislykket Eventyr.« (ASV 9, 255). 26 »Der er ingen Ting ved Dem eller Deres Bog; der bliver aldrig noget af Dem.« Das Zitat stammt aus der 1840 erschienenen, erheblich modifizierten dritten Ausgabe der Fußreise. In dieser Ausgabe fügt Andersen mehrere Passagen ein, in denen er direkt oder indirekt auf Johan Ludvig Heibergs ausführliche Kritik des Buches eingeht, die dieser 1829 in der ersten Nummer der Maanedskrift for Litteratur veröffentlicht. Es gehört wohl zu der hier angedeuteten Recycling-Strategie Andersens, dass er diese Kritik Heibergs in der dritten Elisabeth Bronfen, Zürich 130 mit benennt er explizit das Zusammenspiel von Vergänglichkeit und Nichtigkeit im Herzen der Endlosschlaufe einer reinen Reproduktion von Zeichen. Doch Andersen bleibt der logischen Konsequenz des ready-made treu. Auch der kritische Rezensent ist Teil der Verwertungsmaschinerie. Er schlägt dem Dichter mit seinem Stock quer über die Nase, so dass die Himmelsbrille ins Wasser fällt, und mit ihr verschwindet nicht nur der Rezensent, sondern auch die Inspiration des Dichters. Dieser kann jetzt kein »schönes Schlusskapitel« (Fussreise, 317) schreiben. Er muss es dem Leser schuldig bleiben. Auch das ist eine Variante von pop stance: Jene fröhliche Bejahung der unsauberen Schnittfläche zwischen Leben und Schreiben, sowie der endlosen Reproduzierbarkeit vorgegebener Zeichen, die unweigerlich auf eine offene Zukunft hinweist. Wenn man ihn zu Hause besucht, verspricht der Dichter, wird er das Ende mündlich mitteilen. Dann aber bemerkt er (in Klammern), der zufällige Verlust seiner Zauberbrille hat auch dazu geführt, dass sein Buch nun aus dreizehn Kapiteln besteht. Deshalb muss er ein weiteres hinzufügen, das freilich nichts enthält, sondern die konventionelle Sinnstiftung des Happyend ausschließlich performativ inszeniert. »Ich will nur die Interpunktionszeichen setzen,« erklärt er, »dann kann es ein jeder nach eigenem Belieben ausfüllen« 27 (Fussreise, 318). Mit der schieren Materialität der Schrift, die jedem Sinn entleert nur die Oberflächenstruktur von Sätzen wiedergibt, endet diese Nachtreise, und löst sich somit wörtlich in reine Zeichen auf: - - - - ! ! ! ! - - - - - ? - -, - - - -, - - -, - - -; - - -. - -! - - - -? - -, - -, - -, -, - - -, - -, - -: - - -, «- - -. - - -; - - -! - - -! ! ! ! ! ! » (Fussreise, 318) Ausgabe in einem Anhang vollständig wiedergibt. Der Text der dritten Ausgabe wird hier zitiert nach H.C. Andersens samlede skrifter. Andet udgave. Bd. 6. Kopenhagen 1877, S. 161- 270, hier S. 263. 27 »[J]eg vil heri allene sætte Interpunctions-Tegnene, saa kan enhver efter eget Behag udfylde det saa herligt han vil.« (ASV 9, 256). Andersens Spaziergang in einer Sylvesternacht (1829) 131 Literatur Primärliteratur Hans Christian Andersen: Spaziergang in der Sylvesternacht 1828/ 29. Übersetzt von Anni Carlsson. München 1952. Hans Christian Andersen: Fussreise von Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829. In: Ders.: Peer im Glück. Fußreise. Tante Zahnweh. Übersetzt von Renate Bleibtreu und Gisela Perlet. Zürich 2005. (= Fussreise) Hans Christian Andersen: Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829. In: Hans Christian Andersens samlede værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Bd. 9. Blandinger. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2005, S. 165-257. (= ASV 9) Hans Christian Andersen: Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1818 og 1829. In: H.C. Andersens samlede skrifter. Andet udgave. Bd. 6. Kopenhagen 1877, S. 161-270. Sekundärliteratur Bal, Mieke: Quoting Caravaggio. Contemporary Art, Preposterous History. Chicago 1999. Banu, Georges: Nocturnes. Peindre la nuit. Jouer dans le noir. Paris 2005. Blanchot, Maurice: L’espace littéraire. Paris 1986. Boiadjiev, Tzotcho: Die Nacht im Mittelalter. Würzburg 2003. Bronfen, Elisabeth: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. München 2008. Bronfen, Elisabeth: Pop Kino. Konsum und Kritik des Populären in Hollywood. In: Walter Grasskamp (Hg): Was ist Pop? Zehn Versuche. Frankfurt a.M. 2004, S. 165-188. Die Nacht. Katalog zur Ausstellung. Haus der Kunst München. München 1998. Gumbrecht, Hans Ulrich: Production of Presence. What Meaning Cannot Convey. Stanford 2004. Marmer, Nancy: Pop Art in California. In: Lucy R. Lippards (Hg.): Pop Art. London 1966. Hans Christian Andersen und die Dinge K LAUS M ÜLLER -W ILLE , Z ÜRICH Da det blev ud paa Aftenen, kom alle de andre Tinsoldater i deres Æske og Folkene i Huset gik til Sengs. Nu begyndte Legetøiet at lege, baade at komme Fremmede, føre Krig og holde Bal; Tinsoldaterne raslede i Æsken, for de vilde være med, men de kunde ikke faae Laaget af. Nøddeknækkeren slog Kaalbøtter, og Griffelen gjorde Commers paa Tavlen; det var et Spektakel saa Kanarifuglen vaagnede, og begyndte at snakke med, og det paa Vers. (EoH I, 189) 1 Als es Abend wurde, kamen alle andern Zinnsoldaten in ihre Schachtel und die Leute im Haus gingen ins Bett. Nun fing das Spielzeug zu spielen an, sowohl ›Auf Besuch kommen‹ als auch ›Krieg führen‹ und ›Ball geben‹. Die Zinnsoldaten rasselten in der Schachtel, denn sie wollten dabei sein, aber sie konnten den Deckel nicht hochstemmen. Der Nussknacker schlug Purzelbäume und der Griffel trieb auf der Tafel Unsinn; es war ein solcher Spektakel, dass der Kanarienvogel erwachte und anfing mitzusprechen, und zwar in Versen. 2 Den standhaftige Tinsoldat (1838; Der standhafte Zinnsoldat) gehört zu einer ganzen Reihe von Märchen, in denen Andersen neben Zinnsoldaten, Nussknackern und Griffeln auch Stopfnadeln, Teekannen, Kragen oder Flaschenhälse zum Sprechen bringt, um uns mit ihren erstaunlichen Abenteuern, Gebrechen und Eitelkeiten zu konfrontieren. 3 Diese von der Forschung als Dingmärchen (dän. ›tingseventyr‹) 4 klassifizierten Texte sind schon früh zum Anlass genommen worden, um den dänischen Dichter zu einem Biedermeierautoren mit kindlichem Gemüt zu stilisieren, der wie die Kinder eben jene Dinge beseele, die sich in den Bürger- und Kinderstuben des zeitgenössischen Kopenhagens tummelten. Der bekannte dänische Kritiker der Jahrhundertwende Georg Brandes gehört zu den ersten Literatur- 1 Hinweise unter der Sigle EoH verweisen auf Band und Seitenzahl der neuesten Ausgabe der Eventyr von Klaus P. Mortensen. 2 Übersetzungen aus dem Dänischen stammen von mir, KMW. 3 Dieser Aufsatz ist die schriftliche Fassung meiner Antrittsvorlesung vom 16. März 2009 an der Universität Zürich. 4 Natürlich finden sich schon vor Andersen beseelte und sprechende Dinge im Märchen. Die Besonderheit von Andersens Dingmärchen besteht allerdings darin, dass die Dinge Hauptfiguren und alleinige Aktanten der Handlung sind. Auch hier konnte Andersen auf Vorbilder aus Fabeln und Kunstmärchen des späten 18. Jahrhunderts sowie des frühen 19. Jahrhunderts zurückgreifen. Die Gattungsbezeichnung ›tingseventyr‹ hat sich in der Andersen-Forschung sowie im dänischen Schulunterricht fest etabliert. Sie geht wohl auf frühe Versuche zurück, die Märchen Andersens nach Einzelgattungen zu klassifizieren. Schon in seinem Klassiker zu Andersens Märchendichtung differenziert Paul Rubow eine Untergattung von Märchen, die alleine von Gegenständen handeln, wobei er auf Barthélemy Imbert und E.T.A. Hoffmann als wichtigste Vorbilder für die Ausgestaltung dieses Genres verweist. Vgl. Paul V. Rubow: H.C. Andersens Eventyr [1927]. Kopenhagen 1967, S. 141f.. Hans Christian Andersen und die Dinge 133 wissenschaftlern, welche diese These entwickelt haben, für die sich noch heute zahlreiche Belege aus dem populären Schrifttum über Andersen finden: Nerven i denne Konst er Barnets Indbildningskraft, der besjæler og personliggjør Alt; derved levendegjør den et Stykke Bohave saavelsom en Plante, en Blomst saavelsom en Fugl eller Kat, og Dyret ligesaa fuldt som Dukken, som Portraitet, som Skyerne, Solstraalerne, Vindene og Aarets Tider. Selv en Springgaas bliver da for Barnet et levende Hele, et tænkende, villende Væsen. Forebilledet for en saadan Poesi er Barnets Drøm [...]. 5 Der Nerv dieser Kunst ist die Einbildungskraft des Kindes, die alles beseelt und individualisiert, mit dieser Gabe macht es ein Stück Hausgerät genauso lebendig wie eine Pflanze, eine Blüte genauso wie einen Vogel oder eine Katze, und das Tier genauso wie die Puppe, wie das Portrait, wie die Wolken, Sonnenstrahlen, Winde und die Jahreszeiten. Selbst der Springbock [Spielzeug] wird für das Kind zu einem lebendigen Ganzen, zu einem denkenden, wollenden Wesen. Das Vorbild für eine solche Poesie ist der Traum des Kindes [...]. Immerhin ist Brandes der erste, der die spezifische Rhetorik und Komposition der Andersenschen Märchen als Ausdruck einer ästhetischen Kalkulation zu würdigen versteht. Andersen wird in diesem Sinne durchaus als ernstzunehmender Künstler vorgestellt, der eine ganze Ästhetik aus der kindlichen Einbildungskraft ableite. Dennoch stellt sich die Frage, ob die kindliche Phantasie, die Brandes Andersen unterstellt, nicht genau seinen eigenen Blick auf dessen Märchen prägt. Immerhin trägt er mit seinem Rekurs auf die Urszene der Subjektivität, die sich projizierend in den Dingen des alltäglich Lebens wiedererkennt, seinerseits dazu bei, die Texte Andersens auf eine Weise zu beseelen, dass sie als »lebendiges Ganzes« erscheinen und als Ausdruck der »Einbildungskraft des Kindes« in Anspruch genommen werden können. Schon das erste Zitat mag illustrieren, wie unangemessen Brandes’ Charakterisierung aus heutiger Sicht wirkt. Mit der überraschenden Konstellation von Nussknacker, Griffel, Zinnsoldat und Kanarienvogel, die aus ihren alltäglichen Kontexten entbunden und neu korreliert werden, wird ein Tohuwabohu fremd wirkender Dinge inszeniert, das eher an Lautreamonts spannungsreiche Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm auf dem Operationstisch erinnert als an die »lebendige Ganzheit« biedermeierlicher Interieurs. 6 Nun habe ich Brandes inzwischen selbst weit über 100 Jahre alte Feststellung natürlich nicht an den Anfang dieses Aufsatzes gestellt, um im Folgenden triumphierend dagegen zu polemisieren. Das Zitat ist hier allein deshalb von Interesse, da es genau jenes Verhältnis zwischen dem Subjekt und den Dingen beschreibt, das Andersen in seinen Dingmärchen meines Erachtens kritisch beleuchtet. Ich werde 5 Georg Brandes: H.C. Andersen som Eventyrdigter. In: Ders.: Danske digterportrætter. Hg. v. Sven Møller Kristensen. Kopenhagen 1964, S. 192-236, hier S. 195-196 [der Artikel erschien ursprünglich unter dem Titel »Andersens Eventyr« in Illustreret Tidende im Juli 1869]. 6 Schon Jette Lundbo-Levy nimmt Andersen als Vorläufer der ästhetischen Moderne in Anspruch, in dem sie dessen Dingmärchen (in einer vagen Andeutung) mit dem surrealistischen Konzept des l’objet trouvé in Verbindung setzt. Vgl. Jette Lundbo Levy: Om ting der gå i stykker - Gunnar Ekelöf og H.C. Andersen. In: Edda 1998: 3, S. 259-267, hier S. 259. Klaus Müller-Wille, Zürich 134 also versuchen zu zeigen, dass die Dingmärchen nicht als Ausdruck einer subjektiven Projektion zu verstehen sind, sondern als Versuch, mit dem Rekurs auf die Welt der Dinge genau die Grenzen dieser Projektion und damit auch die Grenzen des Subjekt- und Textverständnisses zu umreißen, das für Brandes noch Gültigkeit besitzt. Auf diese Weise nehmen die Dingmärchen eine zentrale Stellung in Andersens Bemühen um eine moderne Poesie beziehungsweise um eine Poesie im Zeichen der Moderne ein. Als Ausgangspunkt meiner Ausführungen, mit denen ich diese Thesen zu untermauern versuchen werde, dienen zwei ganz unterschiedliche Impulse aus der jüngeren Andersen-Forschung. Zunächst habe ich mich an Studien aus den 1980er Jahren orientiert, in denen man beginnt, sich mit Andersens Interesse für die Moderne zu beschäftigen. Dieses Interesse schlägt sich etwa in seinen wahrnehmungstheoretisch fundierten Beobachtungen technischer oder technisch-medialer Entwicklungen - seien es Eisenbahnen, Dampfschiffe, Telegrafen, Fotoapparate oder Mikroskope - nieder. Entscheidend dabei ist - wie dies insbesondere Heike Depenbrock und Heinrich Detering in mehreren Aufsätzen nachgewiesen haben - dass Andersen gerade die Gattung der Märchen verwendet, um über die Notwendigkeit einer modernen Poetologie zu reflektieren, die adäquat auf die Herausforderung des Zeitalters und die rasante Umwandlung aller Lebensverhältnisse reagiert. 7 Dabei werden die Märchen nicht nur als Ort der Reflexion über solche kunsttheoretische Fragen genutzt, sondern auch als Experimentierfeld adäquater literarischer Ausdrucksformen und Verfahren. In eine völlig andere Richtung weist eine Sammlung von Essays zu Keiserens nye Klæder (1837; Des Kaisers neue Kleider), die im Rahmen des von Albrecht Koschorke geleiteten Projektes ›Poetologie der Körperschaften‹ am Zentrum für Literaturforschung in Berlin entstanden sind. 8 Hier wird Andersen als Theoretiker des politischen Imaginären präsentiert, der sich auf subtile Weise mit den Effekten von intersubjektiven Projektionen auseinander gesetzt habe. 9 Das Märchen zeige auf, 7 Vgl. Heike Depenbrock und Heinrich Detering: Die Sprache der Dampfmaschine. H.C. Andersens ›Et Stykke Perlesnor‹. In: Norrøna 8 (1988), S. 6-16; Heike Depenbrock und Heinrich Detering: Der Tod der Dryade und die Geburt der Neuen Muse. In: Kurt Braunmüller und Mogens Brøndsted (Hg.): Deutsch-nordische Begegnungen. 9. Arbeitstagung der Skandinavisten des deutschen Sprachgebiets 1989 in Svendborg. Odense 1991, S. 366-90; Heike Depenbrock und Heinrich Detering: Poesie und industrielles Zeitalter in I Sverrig. In: Johan de Mylius (Hg.): Andersen og Verden. Indlæg fra den første internationale H.C. Andersen-konference. 25.-31. August 1991. Odense 1993, S. 31-51; Heinrich Detering: Andersen dans les Passages parisiens. La dryade entre Baudelaire, Rilke et Benjamin. In: Etudes germaniques 58 (2003), S. 711-733. 8 Thomas Frank, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Ethel Matala de Mazza: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte - Bilder - Lektüren. Frankfurt a.M. 2002. 9 Zum Begriff des ›politischen Imaginären‹, der wesentliche Anregungen für die Neulektüre von Keiserens nye Klæder geliefert hat, vgl. Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie [1975]. Frankfurt a.M. 1990. Hans Christian Andersen und die Dinge 135 wie politische Realität - in diesem Fall die Existenz des kaiserlichen Gewandes - als Effekt des Glaubens an diese Realität überhaupt erst erzeugt werde. Meines Erachtens führt Andersen die Reflexion über das Imaginäre politischer Herrschaft in den Dingmärchen weiter, wobei er sich nun allerdings - seinem grundlegenden Interesse für die Welt der Moderne gemäß - für die Effekte einer, wenn man so will, ökonomischen Imagination interessiert, 10 die sich an der Welt der alltäglichen Dinge orientiert. Das Interesse verschiebt sich dabei von den Kleidern des Kaisers zu den nicht minder komplexen Beziehungsgeflechten, mit denen Subjekte und Dinge respektive Subjekte und Waren auf subtile Weise ineinander verwoben sind. Um diese Thesen zu entfalten, werde ich im nächsten Abschnitt zunächst ganz kurz auf den Begriff des Dings eingehen. Im darauf folgenden Abschnitt möchte ich nachweisen, inwiefern Hans Christian Andersen seine Märchen nutzt, um zumindest Ansätze zu einer Theorie der Dinge zu entwickeln. Schließlich möchte ich in einem abschließenden Abschnitt auf die weitreichenden poetologischen Konsequenzen zu sprechen kommen, die Andersen aus dem Rekurs auf die Dinge zieht. 1. Was ist ein Ding? Schon die Frage ›Was ist ein Ding? ‹, mit der etwa Bill Brown oder Hartmut Böhme ihre Studien zum Phänomen des Dings einleiten, verrät etwas über die Intention der entsprechenden Theorien, die nicht nur darin besteht, die Bedeutung des Wortes ›Ding‹, sondern auch den selbstverständlichen Umgang mit den Dingen selbst in Frage zu stellen. Grundlegend für ihre Ausführungen ist die Unterscheidung zwischen ›Dingen‹ und ›Objekten‹. 11 Wenn wir eine Sache als Ding und nicht mit einer konkreten Bezeichnung etwa als ›Schachtel‹, ›Nussknacker‹ oder ›Griffel‹ bezeichnen, so bringen wir damit zunächst zum Ausdruck, dass wir keinen angemessenen Begriff für den Gegenstand zur Hand haben. Dies mag daran liegen, dass uns der Gegenstand schlicht fremd und unbekannt ist oder dass der gewöhnliche Umgang mit dem Gegenstand aufgrund eines Defektes gestört ist. Dinge sind offensichtlich Gegenstände, bei denen die normale Relation zwischen erkennendem und handelndem Subjekt und erkanntem und behandeltem Objekt außer Kraft gesetzt ist. Ich zitiere aus dem Aufsatz »Thing theory« von Bill Brown: We begin to confront the thingness of objects when they stop working for us: when the drill breaks, when the car stalls, when the windows get filthy, when their flow within the circuits of production and distribution, consumption and exhibition, has been arrested, however momentarily. The story of objects asserting themselves as things, then, 10 Anregungen zu einem entsprechenden Konzept eines an den Dingen orientierten gesellschaftlichen Imaginären liefert das Kapitel über die Ding-Beziehung in Castoriadis: Gesellschaft (Anm. 9) S. 455-558. 11 Vgl. Bill Brown: Thing Theory. In: Critical Inquiry 28: 1 (2001), S. 1-22; Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Hamburg 2006. Klaus Müller-Wille, Zürich 136 is the story of a changed relation to the human subject and thus the story of how the thing really names less an object than a particular subject-object relation. 12 Wenn Dinge die Differenz zwischen Subjekten und Objekten aufheben und stattdessen komplexe Subjekt-Objekt-Relationen bezeichnen, dann wird die Tragweite der Ding-Theorien deutlich. Sie rechnen in erster Linie mit einer auf das Subjekt konzentrierten Erkenntnistheorie ab und greifen den schon in der Phänomenologie entwickelten Gedanken auf, dass das Subjekt nicht als unabhängiges Erkenntniszentrum bezeichnet werden kann, sondern selbst Produkt der Lebenswelt ist, mit der es sich auseinander setzt. Dinge ließen sich somit - in Anlehnung an eine frühe Studie Giorgio Agambens - als eine dritte Zone bezeichnen, in der sich nicht nur Subjekte und Objekte in Relation zueinander setzen, sondern in der sich sogar der Raum, auf dem diese Relation gründet, selbst konstituiert: Die Dinge liegen nicht außerhalb von uns, im äußeren meßbaren Raum, wie neutrale Gebrauchs- und Tauschobjekte (ob-jecta), vielmehr sind sie selbst es, die uns den ursprünglichen Ort erschließen, von dem aus die Erfahrung des äußeren, messbaren Raums allein möglich wird; d.h. sie selbst sind von Anfang an vom topos outopos, in dem sich unsere Erfahrung des In-der-Welt-Seins abspielt, ergriffen und be-griffen. Die Frage Wo ist das Ding? ist von der Frage Wo ist der Mensch? nicht zu trennen. Wie der Fetisch, wie das Spielzeug, sind die Dinge eigentlich nirgendwo, denn ihr Ort liegt diesseits von den Objekten und jenseits vom Menschen, in einer Zone, die nicht mehr objektiv oder subjektiv, weder persönlich noch unpersönlich, weder gegenständlich noch ungegenständlich ist, in der uns vielmehr mit einem Schlag dieses scheinbar so einfache x gegenübersteht: der Mensch, das Ding. 13 Die phänomenologische Vorstellung einer solchen dritten Zone ist nicht von ungefähr in der Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte zum Ausgangspunkt von historischen Studien genommen worden, welche aufgezeigt haben, wie eng wissenschaftliche Erkenntnis und philosophische Theoriebildung an die Eigendynamik unterschiedlicher technischer Apparaturen gebunden waren und sind. 14 12 Brown: Thing Theory (Anm. 11) S. 4. Dass sich diese Ding-Definiton durchaus auf den dänischen Ausdruck ›ting‹ beziehen lässt, zeigt ein Blick in das Ordbog over det danske sprog, wo ›ting‹ unter anderem als erkennbares, sichtbares und vorstellbares Einzelphänomen über den entscheidenden Zusatz »ofte om hvad man ikke kan ell. vil angive nærmere, ogs. undertiden som en spøg. ell. let nedsæt. betegnelse for noget« (»oft, was man nicht näher angeben kann oder will, inzwischen auch als Witz oder leicht abwertende Bezeichnung für etwas«) beschrieben wird. 13 Giorgio Agamben: Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur [1977]. Zürch/ Berlin 2005, S. 105. Ich habe in diesem Zusammenhang bewusst auf ein Zitat aus Agambens Stanzen zurückgegriffen, da Agamben den widersprüchlichen Charakter der Ware in diesem Buch unter anderem mit Rückgriff auf die unheimliche Welt der Spielzeuge erläutert, deren beunruhigende Faszination gerade in der Tatsache besteht, dass sie sich als reine Objekte der Begierde jeder Gebrauchsregel entziehen und dadurch das gespenstische Wesen des Fetischs als Zeichen von Etwas und dessen Abwesenheit besonders deutlich verkörpern. 14 Ausführlich zu den dingtheoretischen Arbeiten Bruno Latours und Lorraine Dastons vgl. Böhme: Fetischismus und Kultur (Anm. 11) S. 72-94. Hans Christian Andersen und die Dinge 137 Die Vorgaben aus der Wissenschaftsgeschichte sind schließlich wieder in den Geistes- und auch in den Literaturwissenschaften aufgegriffen worden, um über den Status von Dingen - und das heißt im definierten Sinne über den Status von komplexen Subjekt-Objekt-Relationen - in literarischen Texten zu reflektieren. Hartmut Böhme hat sogar versucht, aus den Vorgaben der Ding-Theorien eine andere Theorie der Moderne zu entwickeln. 15 Dabei nimmt er unterschiedliche historische Diskurse über animistische Praktiken vermeintlich primitiver Gemeinschaften zum Ausgangspunkt, um über den verdrängten Fetischismus der modernen Gesellschaft zu reflektieren. Hinter der fortlaufenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem primitiven Fetischismus, die in der Aufklärung einsetzt, verberge sich - so Böhme - eine Reaktion auf den latenten und geleugneten Einfluss, welche die Dinge in Form der fetischisierten Warenwelt in der europäischen Moderne entfalten. Natürlich kann sich Böhme mit dieser kulturgeschichtlichen Konstruktion auf eine lange Tradition marxistisch inspirierter Theorien über den Warenfetisch abstützen, die auch ich zunächst zum Anlass nehmen möchte, um Andersens Auseinandersetzung mit den Dingen historisch zu rahmen. 2. Andersen als Ding-Theoretiker Zunächst ließe sich fragen, ob Andersens Märchen tatsächlich von Dingen und nicht eher von Objekten handeln. Immerhin werden die Gegenstände bei Andersen konkret als ›Stopfnadel‹, als ›Flasche‹ oder als ›Zinnsoldat‹ bezeichnet und firmieren nur in der nachträglichen und künstlichen Gattungsbezeichnung ›Dingmärchen‹ als Dinge. Ganz unsinnig scheint diese Bezeichnung aber nicht zu sein, denn Andersens Darstellung der durchweg belebten Gegenstände trägt immerhin dazu bei, die traditionelle Gegenüberstellung von Subjekten und Objekten in Frage zu stellen. Doch mit dieser Feststellung sind wir lediglich bei der These von Andersens vermeintlich kindlichem Animismus gelandet, die ich zu Beginn meiner Ausführungen vorgestellt habe. Die Märchen selbst laden dazu ein, viel subtiler über das Wesen der Dinge und das heißt wie gesagt über die wechselseitige Verflechtung von Subjekten und Objekten zu reflektieren. Ein Hinweis auf entsprechende Reflexionen bietet etwa das 1859 in der vierten Sammlung der Nye Eventyr og Historier publizierte Märchen Pen og Blaekhuus (Feder und Tintenfass), in dem sich die beiden Schreibinstrumente in einen Streit darüber verwickeln, wer denn eigentlich für die Entstehung von literarischen Kunstwerken verantwortlich sei: ›Een Draabe af mig, [sagde Blækhuset,] den er nok til en halv Side Papir, og hvad kan der ikke staae paa den. Jeg er noget ganske mærkeligt! fra mig udgaaer alle Digterens Værker! disse levende Mennesker, som Folk troe at kjende, disse inderlige Følelser, dette gode Humeur, disse yndige Skildringer af Naturen; - jeg begriber det ikke selv, for jeg kjender ikke Naturen, men det er nu engang i mig! ‹ (EoH II, 288) 15 Vgl. ebd. Klaus Müller-Wille, Zürich 138 ›Ein Tropfen von mir, [sagte das Tintenfass,] der reicht für eine halbe Seite Papier, und was kann nicht alles auf ihm stehen. Ich bin etwas wirklich Merkwürdiges! Von mir gehen alle Werke des Dichters aus! Diese lebendige Menschen, die die Leute wiederzuerkennen glauben, diese innerlichen Gefühle, diese gute Laune, diese bezaubernden Schilderungen der Natur; - ich verstehe das selber nicht, da ich die Natur nicht kenne, aber es ist nun einmal in mir! ‹ Diese Meinung lässt die Schreibfeder nicht gelten. Mit Rückgriff auf die Differenz zwischen Innen und Außen und einem traditionellen Genderverhältnis versucht sie oder in der dänischen Erzählung versucht er, 16 das Verhältnis zwischen Feder und Tinte als Subjekt-Objekt-Verhältnis abzubilden: »›De giver Væde, saa at jeg kan udtale og synliggjøre paa Papiret det jeg har i mig, det jeg skriver ned. Pennen er det som skriver! ‹« 17 (EoH II, 288) - Während dieser Streit unentschieden bleibt, wohnt der erwähnte Dichter einem Violinen-Konzert bei, bei dem er den Eindruck hat, dass die Violine selber spiele, der Bogen von selber spiele. Zu Hause angekommen schreibt er ob dieses Eindrucks folgende Gedanken auf: ›Hvor taabeligt, om Buen og Violinen vilde hovmode sig over deres Gjerning! og det gjør dog saa tidt vi Mennesker, Digteren, Kunstneren, Opfinderen i Videnskaben, Feltherren; vi hovmode os, - og Alle ere vi dog kun Instrumenterne Vor Herre spiller paa; ham alene Æren! vi have Intet at hovmode os over! ‹ (EoH II, 289) ›Wie töricht, wenn Bogen und Violine über ihre Leistungen hochmütig wären! Und genau dies tun doch wir so häufig, wir Menschen, Dichter, Künstler, Erfinder in der Wissenschaft, Feldherren; wir sind hochmütig, - und alle sind wir doch nur Instrumente, auf denen Unser Herr spielt; ihm allein Ehre! Wir haben nichts, worüber wir hochmütig sein könnten.‹ Im Text wird dies mit dem folgenden entscheidenden Zusatz kommentiert: »Ja, det skrev Digteren ned, skrev det som en Parabel og kaldte den ›Mesteren og Instrumenterne‹.« 18 (EoH II, 289). Die offensichtlich beunruhigende Reflexion über das Verhältnis zwischen Subjekten und Objekten wird über den Rekurs auf eine Fiktion gelöst. Doch im Gegensatz zu der im Text erwähnten Parabel Mesteren og Instrumenterne zeichnet sich der unter der Gattungsbezeichnung ›eventyr‹ oder ›historie‹ publizierte Text Pen og Blækhuus dadurch aus, dass er nicht von einem gegebenen Verhältnis zwischen Menschen und Werkzeugen ausgeht, um daraus Aussagen über das Verhältnis zwischen 16 Im folgenden Streit werden die Geschlechtszuschreibungen noch deutlicher gemacht, denn die Schreibfeder wird das Tintenfass mit »Madame« anreden, worauf sie mit einem männlichen Schimpfwort antwortet (EoH II, 289). Ausführlich zu den gendertheoretischen Implikationen von Pen og Blækhuus vgl. Lundbo Levy: Om ting (Anm. 6) S. 265. 17 »›Sie geben nur die Feuchtigkeit, damit ich auf dem Papier das ausdrücken und veranschaulichen kann, was in mir ist, was ich niederschreibe. Die Schreibfeder ist das, was schreibt.‹« 18 »Ja, dies schrieb der Dichter nieder, schrieb es als eine Parabel und nannte sie ›Der Meister und die Instrumente‹.« Hans Christian Andersen und die Dinge 139 Gott und den Menschen abzuleiten. 19 Vielmehr steht der Akt des Schreibens der Parabel im Zentrum des Märchens, das auf diese Weise die rhetorischen Strategien und Metaphern vorführt, mit denen das Verhältnis zwischen Subjekten und Objekten als solches überhaupt erst vom Dichter etabliert wird. In diesem Sinne macht sich der Text nicht über die Instrumente lustig, die sich unverschämter Weise anmaßen als eigenständige Subjekte agieren zu können, sondern im Gegenteil über den Dichter, welcher der beunruhigenden Erfahrung einer subjektgefährdenden Autonomie der Dinge kurioserweise mit Hilfe seiner Schreibinstrumente Herr zu werden versucht. In diesem Fall lässt sich der kritische Hinweis auf die im Text geschriebene Parabel sogar konkretisieren. 1773 publiziert Barthélemy Imbert mit La plume d’un bel-esprit einen Text, der ebenfalls um die Rede eines angeberischen Federkiels kreist. Da diese kurze Verserzählung jedoch im Rahmen der Fables nouvelles des Autors publiziert wird, erscheint die Gattungszugehörigkeit und die damit einhergehende moralische Intention des Textes viel eindeutiger zu sein als bei Andersen. Allerdings verbirgt sich hinter dem intertextuellen Hinweis auf Imbert meines Erachtens nicht nur ein kritisch-ironischer Kommentar. Denn immerhin wird die zentrale moralische Aussage von Imberts Fabel, die ebenfalls um das Verhältnis zwischen »l’ouvrier & l’instrument« 20 kreist, auch in dessen Fabel nicht vom Erzähler formuliert, sondern ausgerechnet einem Fauteuil in den Mund gelegt, der sich ob der wiederholten Ergüsse des Federkiels langweilt und der ihn allein deshalb zurechtzuweisen versucht. Zweifelsohne ließe sich die dingtheoretische Reflexion, die Andersen in enger Auseinandersetzung mit der französischen Vorlage entfaltet, gut in Beziehung zu seiner Beschäftigung mit anderen zeitgenössischen Medien setzen. 21 So erscheint es keineswegs zufällig, dass im Text auf die jüngste technische Entwicklung aufmerksam gemacht wird, die das Handschreiben im Übergang vom Federkiel zu den in »englischen Fabriken« (EoH II, 288) produzierten Stahlfedern maßgeblich verändert. Nicht zuletzt diese medientheoretische Reflexion stellt auch die geschriebene Fiktion von sprechendem Tintenfass und sprechender Schreibfeder in Frage. Der Leser wird durch das Märchen Pen og Blaekhuus mit einer beunruhigenden 19 So religiös scheint Annelies van Hees den Text in ihrer (allerdings nur angedeuteten) Interpretation zu lesen. Vgl. Annelies van Hees: En modern fortælling. In: Aage Jørgensen, Henk van der Liet (Hg.): H.C. Andersen. Modernitet og modernism. Essays i anledning af Annelies van Hees’ asked fra Amsterdams Universitet. Amsterdam 2006, S. 9-21, hier S. 12- 13. 20 M. [Barthélemy] Imbert: La pume d’un bel-esprit. In: Ders.: Fables nouvelles. Paris 1773, S. 51. 21 Zu Andersens früher Auseinandersetzung mit der Fotografie vgl. die Beiträge von Lasse Horne Kjældgaard und Annegret Heitmann in diesem Band sowie Thomas Fechner-Smarsly: Der Spiegel und sein Schatten. Abdrücke der frühen Photographie in Texten von Aa.O. Vinje, Henrik Ibsen und H.C. Andersen. In: Annegret Heitmann, Joachim Schiedermair (Hg.): Zwischen Text und Bild. Zur Funktionalisierung von Bildern in Texten und Kontexten (= Nordica 2). Freiburg im Brsg. 2000, S. 21-42. Klaus Müller-Wille, Zürich 140 Dinglichkeit des Textes konfrontiert, die sich dem schreibenden und lesenden Subjekt entzieht. 22 Abb. 1 Die gesteigerte Aufmerksamkeit für die materielle Oberfläche des Textes, auf die das Gespräch der Schreibinstrumente konstant verweist und die sich vielleicht besonders deutlich mit Blick auf die Originalmanuskripte akzentuieren lässt (vgl. 22 Genau dieser Hinweis auf die sich entziehende Materialität unterscheidet meine Interpretation von anderen Lektüren solcher selbstreferentiellen Passagen, die meist in die Behauptung münden, dass Andersen in einer anti-mimetischen Geste die Materialität der Zeichenträger betone. In Abschnitt 3 werde ich versuchen, diesen entscheidenden Unterschied, der sehr eng mit der Reflexion der Dinge in den Dingmärchen zusammenhängt, noch deutlicher zu akzentuieren. Vgl. Annelies van Hees: En modern fortælling (Anm. 19); Marc Auchet: Andersen et le conflit des écritures. Essai sur la métanarrativité dans les Contes et histoires. In: Ders. (Hg.): (Re)lire Andersen. Modernité de l’œuvre. Paris 2007, S. 81-102; Marianne Stecher-Hansen: Romantic and Modern Metatexts: Commemorating Andersen and the Self-Referential Text. In: Johan de Mylius u.a. (Hg.): Hans Christian Andersen. Between Children’s Literature and Adult Literature. Papers from the Fourth International Hans Christian Andersen Conference. 1 to 5 August 2005. Odense 2007, S. 88-100. Hans Christian Andersen und die Dinge 141 Abb. 1), 23 führt letztendlich zur Reflexion des Leseaktes selbst, der aus der Materie der Schrift, Stimmen herauszulösen versucht (ich werde im dritten Abschnitt dieses Aufsatzes noch ausführlicher auf diesen Punkt zu sprechen kommen). Neben dieser subtilen Reflexion über die weitreichenden Effekte von vermeintlichen Werkzeugen des Geistes, finden sich in den Märchen auch Ansätze zu einer phänomenologisch anmutenden Reflexion über das Verhältnis von Körpererfahrung und Dingen. Schon Jette Lundbo Levy hat in einem Artikel zu den Dingmärchen darauf aufmerksam gemacht, dass menschliche Aktanten in den Dingmärchen häufig auf die Metonymie einer agierenden Hand reduziert werden. 24 Ein schönes Beispiel dafür bietet etwa der folgende Anfang des 1846 in der Zeitschrift Gæa publizierten Märchens Stoppenaalen (Die Stopfnadel): Der var engang en Stoppenaal, der var saa fiin paa det, at hun bildte sig ind, at hun var en Synaal. ›Seer nu bare til, hvad I holde paa! ‹ sagde Stoppenaalen til Fingrene, der toge den frem. ›Tab mig ikke! falder jeg paa Gulvet, er jeg istand til aldrig at findes igjen, saa fiin er jeg! ‹ (EoH I, 403) Es war einmal eine Stopfnadel, die hielt sich für so fein, dass sie sich einbildete, sie sei eine Nähnadel. ›Achtet nun auch darauf, wie ihr mich haltet! ‹, sagte die Stopfnadel zu den Fingern, die sie hervornahmen. ›Verliert mich nicht! Falle ich auf den Boden, bin ich imstande, nie wiedergefunden zu werden, so fein bin ich! ‹ Es kommt, wie es kommen muss. Die hochmütige Nadel landet in der Gosse und trifft dort auf eine nicht weniger hochnäsige Flaschenscherbe. Die beiden verwickeln sich in ein Gespräch, in dem sich die Stopfnadel wie folgt präsentiert: ›Ja, jeg har boet i en Æske hos en Jomfru,‹ sagde Stoppenaalen, ›og den Jomfru var Kokkepige; hun havde paa hver Haand fem Fingre, men noget saa indbildsk, som de fem Fingre, har jeg ikke kjendt, og saa vare de kun til for at holde mig, tage mig af Æske og lægge mig i Æske! ‹ (EoH I, 404) ›Ja, ich habe bei einer Jungfrau in einer Schachtel gewohnt‹, sagte die Stopfnadel, ›und diese Jungfrau war Köchin; sie hatte an jeder Hand fünf Finger, aber etwas so Eingebildetes wie diese fünf Finger habe ich nie erlebt, und dabei waren sie nur dafür da, um mich zu halten, mich aus der Schachtel zu nehmen und wieder in die Schachtel zu legen.‹ Die Komik der Szene kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Andersen hier auf eine Reflexion einer taktilen Weltwahrnehmung einlässt, die sich nur im Kontakt zu den Dingen, das heißt im chiastischen Wechselspiel von ›Fühlen‹ und ›Gefühlt- 23 Abbildung 1 zeigt Andersens Manuskript zu Pen og Blækhus. Photo: Königliche Biblothek Kopenhagen. Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Königlichen Bibliothek. Ein Dank für die Beschaffung des Faksimiles geht an Bruno Svindborg. 24 Lundbo-Levy: Om ting (Anm. 6) S. 266-267. Klaus Müller-Wille, Zürich 142 Werden‹ konstituiert. Genauso wie sich die Nadel in Differenz zu den fünf Fingern der Hand definiert, ist auch die körperliche Selbstwahrnehmung von einem taktilen Begreifen der Dinge abhängig. Inwieweit sich Andersen tatsächlich auf eine solche, im weitesten Sinne körpertheoretisch fundierte Reflexion der Dingwelt einlässt, ließe sich etwa an einem seiner letzten Märchen Tante Tandpine (1872; Tante Zahnweh) illustrieren. 25 Angesichts der subtilen repräsentationstheoretischen Reflexion über das außersprachliche Phänomen Schmerz, die in dem Text entfaltet wird, erscheint es mir nicht unerheblich zu sein, dass der Schmerz mit Hilfe einer Allegorie abgebildet wird, in der die Hand völlig mit den Werkzeugen verschmilzt, über die sich die sprachliche Repräsentation von stechenden, schneidenden oder hämmernden Schmerzen überhaupt erst realisieren lässt: [F]orfærdelig saae hun ud, selv om man ikke saae mere af hende end Haanden, den skyggegraa, iiskolde Haand, med de lange syletynde Fingre; hver af dem var et Piinsels- Redskab: Tommeltot og Slikkepot havde Knivtang og Skrue, Langemand endte i en spids Syl, Guldbrand var Vridbor og Lillefinger Sprøite med Myggegift. (EoH III, 350) [E]ntsetzlich sah sie aus, auch wenn man nicht mehr von ihr sah als die Hand, die schattengraue, eiskalte Hand, mit den langen pfriemdünnen Fingern; jeder von ihnen war ein Peinigungsinstrument: Däumling und Schlecker hatten Kneifzange und Schraube, Mittelmann lief in einen spitzen Pfriem aus, Goldfinger war Drehbohrer und Kleinfinger eine Spritze mit Mückengift. Andersens theoretisches Interesse an den Dingen ließe sich schließlich an den gedächtnistheoretischen Reflexionen illustrieren, welche die Dingmärchen durchziehen. Im Anschluss an Überlegungen von Brigid Gaffikin haben sowohl Finn Hauberg Mortensen wie Thomas Seiler darauf aufmerksam gemacht, dass diese theoretischen Überlegungen in einem Interesse für das materielle Zeugnis, einem Gedächtnis der Dinge gipfeln, welches gegen das sprachliche Gedächtnis ausgespielt wird. 26 Ich werde auf diesen wichtigen Punkt noch am Ende dieses Aufsatzes zurückkommen, möchte zum Abschluss meiner Ausführungen über Andersens Ding- Theorie aber zunächst noch auf das Wechselverhältnis zwischen Ding-Welt und spezifischen Begehrensstrukturen eingehen, das in vielen der Dingmärchen thematisiert und reflektiert wird. Dieser Punkt soll nicht zuletzt dazu beitragen, die bisherigen Beobachtungen historisch zu rahmen. Wie erwähnt, verstehe ich die Dingmärchen als Reaktion auf die rasant anwachsende Warenwelt, welche in den Wohnzimmern des zeitgenössischen Kopenhagens Einzug hält. 25 Ausführlich zur Relation zwischen Schmerzerfahrung und der Phänomenologie der Dingwelt vgl. Elaine Scarry: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur. Frankfurt a.M. 1992 (vgl. meinen Beitrag zu Tante Tandpine in diesem Band). 26 Vgl. Brigid Gaffikin: Material Witnesses. Hans Christian Andersen’s Tingseventyr and the Memories of Things. In: Edda 2004: 3, S. 186-200; Finn Hauberg Mortensen: Ting og eventyr. In: Nordica 23 (2006), S. 61-79; Thomas Seiler: ›Gjemt [er ikke] glemt‹ - Erinnern und Vergessen in H.C. Andersens Dingmärchen. In: Anderseniana 2008, S. 5-25. Hans Christian Andersen und die Dinge 143 Viele der Dingmärchen Andersens thematisieren den rasanten Verfall von Gegenständen, die aus der behüteten Welt des bürgerlichen Interieurs herausfallen und den Leser in die verborgenen Räume der Städte - den Rinnstein, die Kanalisation, den Müllhaufen, die Verbrennungsöfen oder die Schmelztiegel - führen. Mit dem Verfall der Gegenstände zu Müll wird indirekt auch ihr Status als Waren thematisiert. Das heißt, die Texte lassen sich auf eine Reflexion über die schillernde Verführungskraft von Gegenständen ein, deren Wert sich nicht mehr alleine über ihren Gebrauchswert definiert und entsprechend schnell verfallen kann. Die Verführungskraft der Waren wird in den Märchen in Beziehungsgeschichten zwischen den Dingen gespiegelt. In dem 1843 publizierten Märchen Kjærestefolkene (Liebespaar) etwa verliebt sich ein Kreisel in einen Ball, wird aber von diesem abgewiesen, da der Ball aus feinstem Saffian genäht ist und nach eigenen Aussagen von Saffians-Pantoffeln abstammt. Dem Kreisel hilft es da auch nicht, dass er aus Mahagoniholz gefertigt ist und mit einem Messingnagel versehen wird. Die Geschichte endet für den Ball tragisch. Er liegt über Jahre hinweg in einer Dachrinne, um dann in einem Abfallfass zu landen. Dort trifft er erneut auf den Kreisel. Die Verhältnisse haben sich inzwischen verkehrt, denn der Kreisel ist seinerseits neu vergoldet und möchte nichts mit dem aufgeweichten »sonderbaren runden Ding« (»en underlig rund Ting«; EoH I, 282) zu tun haben, »das wie ein alter Apfel aussah, aber kein Apfel war« (»der saae ud som et gammelt Æble; - med det var intet Æble«; EoH I, 282). Es fragt sich, ob sich hinter der Geschichte, die sich auf den ersten Blick wie eine simple Parabel auf das Sprichwort ›Hochmut kommt vor dem Fall‹ liest, nicht eine Auseinandersetzung mit einer blockierten Begehrensstruktur versteckt, die - zumindest wenn man den entsprechenden freudo-marxistisch inspirierten Theorien Glauben schenken möchte - eng mit dem Aufkommen von Waren zusammenhängt. Immerhin handelt das Märchen nicht nur vom Fall des Balles, sondern auch vom Begehren des Kreisels, das sich im Überschwang des Verlangens einem Objekt gegenüber manifestiert, welches sich selbst unerreichbar gemacht hat: »Jo mere Toppen tænkte derpaa, desmere indtaget blev han i Bolden; just fordi han ikke kunde faae hende, derfor tog Kjærligheden til« 27 (EoH I, 282). Von Anfang an verkörpert der Ball für den Kreisel einen symbolischen Wert, der seine Wirkung über das paradoxe Moment eines präsentierten Entzugs - einer anwesenden Abwesenheit - entfaltet. Auch die Anfangsszene aus dem Standhaften Zinnsoldaten kreist um ein auf eine Ware ausgerichtetes Begehren. Zunächst ist zu bemerken, dass das Begehren des einbeinigen Zinnsoldaten deutlicher als dasjenige des Kreisels in einem Mangel - seinem fehlenden Bein - begründet ist. Seine Liebe zur Nippes-Prinzessin aus Papier beruht auf einer reinen Projektion, die sich von Anfang an über die Unmöglichkeit ihrer Erfüllung zu legitimieren scheint. Entsprechend lähmt das Begehren den Zinnsoldaten, der im Gegensatz zu den anderen Dingen, die in der Nacht 27 »Je mehr der Kreisel daran dachte, desto mehr wurde er von dem Bällchen eingenommen. Und eben weil er es nicht bekommen konnte, nahm seine Liebe zu.« Klaus Müller-Wille, Zürich 144 ihr Spektakel treiben, völlig bewegungsunfähig ist und lediglich die Prinzessin - beziehungsweise das Bein, auf dem die Prinzessin balanciert, - regungslos anstarrt: De to eneste, som ikke rørte sig af Stedet, var Tinsoldaten og den lille Dandserinde; hun holdt sig saa rank paa Taaspidsen og begge Armene udad; han var ligesaa standhaftig paa sit ene Been, hans Øine kom ikke et Øieblik fra hende. (EoH I, 189) Die beiden einzigen, die sich nicht von der Stelle rührten, waren der Zinnsoldat und die kleine Tänzerin; sie hielt sich so gerade auf den Zehenspitzen und mit beiden Armen nach oben gestreckt; er war genauso standhaft auf seinem einen Bein, seine Augen ließen nicht einen Augenblick von ihr ab. Abb. 2 Mit dieser im starrenden Blick erstarrten Szene, die im direkten Kontrast zum eingangs zitierten Tohuwabohu steht, das die Spielzeuge samt Nussknacker und Kanarienvogel entfalten, inszeniert Andersen eine lähmende Widersprüchlichkeit des Begehrens: »[J]ust fordi han ikke kunde faae hende, derfor tog Kjærligheden til.« (s.o.) Das Bein der balancierenden Prinzessin repräsentiert das Objekt des Begehrens des Soldaten, gleichzeitig führt sie ihm seinen Mangel überdeutlich vor Augen, was sein Begehren erneut potenziert. Vilhelm Pedersens Illustration, die mit Gewehr, Nussknackerhebel, Leiter und Säbel gleich eine ganze Serie von Phallus- Symbolen entfaltet, zeigt, dass die sexuellen Anspielungen des Märchens durchaus schon von den Zeitgenossen Andersens verstanden wurden (Abb. 2). 28 Indem die Dingmärchen den bekannten Topos der unerreichbaren Liebe allerdings auf ein auf Dinge ausgerichtetes Begehren übertragen, 29 lassen sie sich indirekt 28 Abbildung 2 zeigt Vilhelm Pedersens 1847 entstandene Illustration zu Den standhaftige Tinsoldat. 29 Ausführlich zum Fortleben von frühneuzeitlichen Melancholie- und Liebeskonzepten in der Warentheorie vgl. Agamben: Stanzen (Anm. 13). Hans Christian Andersen und die Dinge 145 auf eine Reflexion von Waren ein, die - da sie nicht nur einen Gebrauchswert, sondern auch abstrakte Tauschwerte verkörpern - den in sich widersprüchlichen Charakter von Fetischen annehmen: Ebenso wie der Fetischist seinen Fetisch niemals ganz zu besitzen vermag, weil dieser das Zeichen zweier widersprüchlicher Wirklichkeiten ist, genauso kann auch der Besitzer der Ware sich an dieser niemals gleichzeitig als Gebrauchsgegenstand und als Wert erfreuen. Mag er den stofflichen Körper, in dem sie sich zeigt, auch auf alle erdenklichen Weisen handhaben, mag er ihn physisch bis zur Zerstörung verändern: selbst in diesem Hinschwinden wird die Ware einmal mehr ihre Ungreifbarkeit bestätigen. 30 Inwieweit sich Andersen in seinen Märchen tatsächlich auf eine Reflexion moderner Begehrensstrukturen eingelassen hat, die Agamben im Anschluss an Marx und Freud mit dem Begriff des Warenfetischs zu umreißen versucht, ließe sich nicht zuletzt an dem 1847 zunächst in englischer Übersetzung publizierten Märchen Flipperne (Der Kragen) illustrieren, in dem ein Kragen sich in ein Strumpfband verliebt. Das folgende Zitat dürfte zu den ersten Belegen eines perversen Genießens gehören, in dem sich das sexuelle Begehren völlig mit dem unmöglichen Begehren nach dem nicht mehr allein über seinen Nutzen definierten Warenfetisch vermischt: [Flipperne] vare nu saa gamle at de tænkte paa at gifte sig, og saa traf det at de kom i Vadsk med et Strømpebaand. ›Nei! ‹ sagde Flipperne, ›nu har jeg aldrig seet nogen saa slank og saa fiin, saa blød og saa nysselig. Maa jeg ikke spørge om deres Navn? ‹ ›Det siger jeg ikke! ‹ sagde Strømpebaandet. ›Hvor hører de hjemme? ‹ spurgte Flipperne. Men Strømpebaandet var saa undseelig af sig og syntes at det var noget underligt at svare paa. ›De er nok Livbaand! ‹ sagde Flipperne, ›saadan indvortes Livbaand! jeg seer nok de er baade til Nytte og Stads lille Jomfru! ‹ (EoH I, 449) [D]er Kragen war jetzt so alt, dass er daran dachte, sich zu verheiraten, und da traf es sich, dass er mit einem Strumpfband in die Wäsche kam. ›Nein‹, sagte der Kragen, ›Etwas so Schlankes und Feines, so Weiches und Allerliebstes habe ich nun noch nie gesehen! Darf ich nicht nach Ihrem Namen fragen? ‹ ›Den sage ich nicht‹, sagte das Strumpfband. ›Wo sind sie denn zu Hause? ‹, fragte der Kragen. Aber das Strumpfband war von einem so schüchternen Wesen und fand, dass es etwas sonderbar sei, darauf zu antworten. ›Sie sind wohl ein Leibband? ‹, sagte der Kragen. ›So ein inwendiges Leibband? Ich sehe schon, Sie sind zum Nutzen und auch zum Schmuck da, kleine Jungfrau! ‹ Im weiteren Verlauf des Märchens wird der Kragen vergeblich versuchen, sein Begehren zu erfüllen, das sich vom Strumpfband zu den Waren Bügeleisen, Papierschere und Kamm fortlaufend verschiebt und nie Erfüllung findet. Der Bezug 30 Agamben: Stanzen (Anm. 13), S. 69. Klaus Müller-Wille, Zürich 146 zu Freud drängt sich nicht zuletzt auf, da der Kragen zu allem Übel im Verlaufe der Handlung von der Schere auch noch empfindlich beschnitten wird. Trotz dieses Beleges mag der Bezug auf den Fetisch-Begriff übertrieben erscheinen. Ich habe ihn in diesem Zusammenhang dennoch verwendet, da er es erlaubt, Andersens Interesse für komplexe Subjekt-Objekt-Beziehungen als Reaktion auf eine grundlegende historische Zäsur im Umgang mit den Dingen zu begreifen. Auf der einen Seite tragen die auf Projektionen gründenden und von Projektionen handelnden Märchen dabei dazu bei, über die in der Umwandlung des handwerklichen Gegenstandes in einen Massenartikel implizit enthaltene Verwandlung 31 der Dinge zu reflektieren, die nunmehr nicht als reine Gebrauchsgegenstände, sondern als Teil einer komplexen Begehrensökonomie fungieren. 32 Auf der anderen Seite scheint sich Andersen für so etwas wie eine Rettung der zu bloßen Waren verkommenen Dinge zu interessieren. Dies ließe sich zumindest an den vielen Märchen nachweisen, die vom Verfall der Waren zu Müll handeln. Dieser Verfall trägt zunächst zur Individualisierung der seriell verfertigten Dinge bei. Als Fragmente und Abfallprodukte gewinnen die Dinge eine Singularität zurück, die in den Märchen zu ihrer erneuten Funktionalisierung, wenn nicht sogar zu ihrer Fetischisierung als Gedächtnisträger für singuläre Ereignisse genutzt wird. 33 So verweist etwa das sonderbare runde Ding, zu dem der Saffianball mutiert, wie die vielen Scherben und Aschehaufen in den Dingmärchen indexikalisch auf die ursprüngliche Präsenz einer Ware und daran geknüpfter Ereignisse, von deren unwiederbringlichen Verlust sie andererseits Zeugnis ablegen. Spätestens mit dieser Thematisierung materieller oder dinglicher Zeichen werden die poetologischen Dimensionen der Reflexion über die Dinge deutlich, die Andersen in seinen Märchen führt. 31 Der neutrale Begriff ›Verwandlung‹ wird hier bewusst verwendet, um nicht gleich dem großen Narrativ einer vermeintlichen ›Entfremdung‹ der Dinge zu verfallen, das implizit an die Vorstellung eines ›Naturzustandes‹, eines ›natürlichen‹ Umgangs mit den Dingen gebunden ist. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die traditionell mit dem Begriff der ›Entfremdung‹ umschriebene historische Zäsur einer Warenökonomie negiert wird, durch die sich das Verhältnis zu den Dingen grundlegend verändert. 32 Vgl. dazu auch das 1845 publizierte Märchen De røde Skoe, in dem Andersen thematisiert, wie die Waren - hier ein Paar fetischisierte Schuhe - buchstäblich zu tanzen beginnen und sich des Subjektes bemächtigen. 33 Vgl. dazu schon Gaffikin: Material Witnesses (Anm. 26) S. 196-197. Während Gaffikin das singuläre Gedächtnis der Dinge gegen ihre Funktion als seriell produzierte Waren auszuspielen scheint, liesse sich mit Baudrillard auf den strukturellen Zusammenhang aufmerksam machen, der zwischen der Fetischisierung der Dinge als Waren und der Fetischisierung der Dinge als Gedächtnisträger singulärer Ereignisse besteht. Vgl. dazu das Kapitel »Das alte Objekt - Zeit und Dauer« in Jean Baudrillard: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen [1968]. Frankfurt/ New York 2007, S. 95-109. Hans Christian Andersen und die Dinge 147 3. Texte als Dinge - Andersens dingliche Poetologie Im letzten Abschnitt dieses Aufsatzes möchte ich der Frage nachgehen, wie sich die Reflexion über die Dinge in den Märchen auch auf eine Reflexion über die Dinglichkeit der Märchen selber ausdehnt beziehungsweise welche poetologischen Konsequenzen Andersen aus seiner Beschäftigung mit den Dingen zieht. Schon in seinem ersten Roman Fodreise fra Holmens Kanal til Østpynten af Amager (Fußreise von Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager), den Andersen 1829 publiziert, setzt er sich ausführlich mit dem Status des Buches als Ding und Ware auseinander. Im fünften Kapitel begegnet der Erzähler den Elixisieren des Teufels, hier wohlgemerkt als dinghaftes Buch, das von seiner Kindheit in der Buchdruckerei, seinem Schulleben beim Buchbinder und schließlich von seinem Vertrieb im Gyldendalschen Buchhandel berichtet. Die Szene ist Teil der durch und durch selbstreflexiven romantisch-ironischen Gesamtstrategie des Buches, in dem in einer rein phantastischen Szenerie nichts anderes geschildert wird als die Genese der Fußreise selbst. Der Bezug auf die Materialität des Textes erfüllt im Rahmen dieser romantisch-ironischen Gesamtanlage des Buches dabei die Funktion, den Blick des Lesers auf die Ebene der Signifikanten, die Schrift selbst zu lenken, welche die Bedingung der Möglichkeit der Einbildungskraft des Dichters und damit auch die Bedingung der Möglichkeit eines an dieses Medium gebundenen performativen Zugangs zur Welt zu bieten. Während Andersen den Bezug auf das materielle Buch in der Fußreise also verwendet, um zeichentheoretische Fragen zu entfalten, scheint das Interesse für die Materialität der Zeichenträger, das sich aus den Dingmärchen reformulieren lässt, aus einem gegenteiligen Impuls zu resultieren. Dies möchte ich im Folgenden zunächst an dem 1849 in Fædrelandet publizierten Märchen Hørren (Leinen oder Flachs) entfalten, in dem die Produktionsgeschichte einer Pflanze geschildert wird, die nach der Ernte zu einem Leinenstück verarbeitet wird. Aus dem Leinenstück werden mehrere Gewebe produziert, die ihrerseits als Lumpen in der Papiermühle landen und zu einem Papierblatt werden. Dieses Blatt wird in der Buchdruckerei bedruckt und am Ende des Märchens verbrannt. Doch - und dies ist für die folgenden Ausführungen entscheidend - auch dieser Verbrennungsprozess erzeugt einen Rest. Zum Schluss zeugt ein Haufen Asche von der Existenz des Papiers. Auch diese Erzählung lenkt den Blick des Lesers auf die materielle Grundlage des Buches. In diesem Fall werden allerdings nicht die Zeichen akzentuiert, die die sprachliche Bedingung der Möglichkeit eines Weltbezugs bieten, sondern die dinglichen Zeichenträger, die nicht als sprachliche Zeichen fungieren. Das Märchen leistet somit einer merkwürdigen Form von Realismus Vorschub, der die Hinwendung zu den Dingen des alltäglichen Lebens, die in der Geschichte verhandelt wird, potenziert. Der Text verweist den Leser auf die Materialität des Papiers und mit dem Motiv der Asche - zumindest indirekt - auf die Materialität, d.h. die bloße Konsistenz der gedruckten Buchstaben, die ihrerseits als Zeugen für eine singuläre Pro- Klaus Müller-Wille, Zürich 148 duktionsgeschichte instrumentalisiert werden. 34 Als Index stiftet das materielle Zeichen einen ganz anderen Bezug zur Wirklichkeit als die Buchstaben, welche die Grundlage einer auf dem Prinzip des Textes konstituierten Form von Wirklichkeit bieten. Diese zeichentheoretische Diskussion wird in dem 1869 im Folkekalender for Danmark abgedruckten Märchen Laserne (Die Lumpen) weitergeführt. Denn hier verwickeln sich zwei Lumpen, die der Fiktion nach aus Norwegen und Dänemark stammen und vor einer Fabrik auf ihre Verarbeitung zu Papier warten, in einen Streit über die Vorzüge der beiden Nationen. Dabei macht Andersen sehr deutlich auf die sprachliche oder sogar die vom Buchmarkt selbst initiierte Konstruktion der entsprechenden Nationalstereotypien aufmerksam. Gleichzeitig werden genau diese sprachlichen Konstruktionen mit dem Hinweis auf die Materialität des Papiers unterlaufen, das lediglich über eine sprachliche Zuschreibung als ›norwegisches‹ oder ›dänisches‹ Produkt klassifiziert werden kann. Auch das oben erwähnte Märchen Flipperne endet in einer Papiermühle. Dabei wird der Bezug auf die Materialität des Papiers noch einmal potenziert. Denn hier wird nicht auf das Material an sich, sondern konkret auf das singuläre Blatt verwiesen, auf dem die Geschichte abgedruckt ist. Am Ende der Geschichte prahlt der Kragen vor den anderen Lumpen über seinen vermeintlichen Erfolg als Liebhaber, wobei er sich insbesondere mit der Fiktion zu schmücken versucht, dass das Strumpfband sich aus Liebe zu ihm umgebracht habe und in einen Wasserkübel gegangen sei. Diese Lüge drängt ihn schließlich zu der folgenden Feststellung: ›Jeg har meget paa min Samvittighed, jeg kan trænge til at blive til hvidt Papir! ‹ Og det blev de, alle Kludene bleve hvidt Papir, men Flipperne bleve netop til dette Stykke hvide Papir vi her see, hvorpaa Historien er trykt, og det var fordi at de pralede saa frygteligt bagefter af hvad der aldrig havde været; og det skal vi tænke paa, at vi ikke bære os ligesaadan ad, for vi kunne saamæn aldrig vide, om vi ikke ogsaa engang komme i Klude-Kassen og blive gjort til hvidt Papir og faae vor hele Historie trykt for paa, selv den allerhemmeligste og maa saa selv løbe om og fortælle den, ligesom Flipperne. (EoH I, 450-451) ›Ich habe viel auf dem Gewissen, es drängt mich geradezu, weißes Papier zu werden! ‹ Und das wurde er, alle Lumpen wurden weißes Papier; aber der Kragen wurde gerade zu diesem Stück weißem Papier, das wir hier sehen und auf das diese Geschichte gedruckt ist, und das geschah, weil er so fürchterlich mit dem geprahlt hatte, was nie 34 Zu den zeichentheoretischen Reflexionen, die die Auseinandersetzung mit den Dingen im Realismus vorantreiben vgl. Sabine Schneider: Die stumme Sprache der Dinge. Eine andere Moderne in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. In: Elisabeth Bronfen, Christian Kiening (Hg.): Mediale Gegenwärtigkeit. Zürich 2007, S. 265-281. Generell zum Versuch über die Dingtheorie zu einem neuen Verständnis realistischer Erzählweisen zu gelangen, vgl. Sabine Schneider, Barbara Hunfeld (Hg.): Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Würzburg 2008. Allgemein zu Problemen und Möglichkeiten, ästhetische Kategorien der Moderne auf Erzähltexte des Realismus zu übertragen, vgl. Ralf Simon: Realismus und Moderne. In: Christian Begemann (Hg.): Realismus. Epoche - Werke - Autoren. Darmstadt 2007, S. 207-223. Hans Christian Andersen und die Dinge 149 gewesen war; und daran sollten wir denken, damit wir uns nicht so benehmen, denn wir können wirklich nicht wissen, ob wir nicht auch einmal in die Lumpenkiste kommen und zu dem weißen Papier gemacht werden und unsere ganze Geschichte aufgedruckt bekommen, selbst die allergeheimste, und ob wir dann selbst herumlaufen und sie erzählen müssen wie der Kragen. Abb. 3 Der verlogene Wunsch des Kragens, weißes Papier zu werden, verkehrt sich also in seiner Erfüllung, indem er nun gezwungen wird, seine tatsächlichen Sünden zu beichten. Aber auch der Text selbst verwickelt sich in markante Widersprüche, denn die enthüllte Geschichte über genau das Blatt Papier, auf dem die Geschichte geschrieben oder abgedruckt ist, wird überdeutlich als reine Fiktion gekennzeichnet und ruft das Interesse für eine Erfahrung der Dinglichkeit des Papiers hervor, die weder von dessen materieller Präsenz als Objekt noch von einer - wie auch immer Klaus Müller-Wille, Zürich 150 gearteten - Form von Erzählung eingelöst werden kann. Der Text verweist also nicht auf die Materialität des präsentierten Blattes, sondern auf eine entzogene Form von Materialität, die wir im Anschluss an Bill Brown als dessen Dinglichkeit bezeichnen könnten (s.o.). Diese Pointe lässt sich vielleicht gut mit zwei Abbildungen illustrieren, die den Schluss des Märchens im Faksimile der Originalhandschrift und einer beliebigen Auflage wiedergeben (Abb. 3 und 4). 35 Abb. 4 Schon in der Handschrift wirkt der Rekurs auf die Geschichte des singulären Blattes keineswegs glaubwürdig, könnte aber dazu beitragen, das Papier der hier präsentierten Handschrift als singuläres Zeugnis eines einmaligen Schreibprozesses zu feti- 35 Abbildung 3 zeigt das Ende der Erzählung im Originalmanuskript, das zur Sammlung der Odense Bys museer gehört. Abb. 4 gibt die Seite 305 der 1919 von Hans Brix und Anker Jensen publizierten Ausgabe der Eventyr wieder. Um die Pointe meiner Argumentation zu verdeutlichen, handelt es sich genauer gesagt um eine Wiedergabe des Blattes aus meinem Exemplar dieser Ausgabe, das ich von meinen Stockholmer Großtanten geerbt habe und das als Erinnerungsträger mit konkreten Personen und Ereignissen verknüpft ist. Hans Christian Andersen und die Dinge 151 schisieren. Immerhin handelt es sich ja um genau dieses Blatt, auf das Andersen selbst die Geschichte des Kragens bezogen hat. In dem als Ware vertriebenen Buch dagegen löst der Hinweis auf die Singularität exakt dieses Blattes genau den Widerstreit zwischen Massenartikel und dem Buch als singulärem, dinghaftem Zeugnis aus, der in vielen der Dingmärchen und nicht zuletzt in Flipperne selbst thematisiert wird. Es erscheint mir keineswegs zufällig, dass sich Andersen just Ende der 1840er Jahre mit den Besonderheiten einer massenhaften Papierproduktion und (indirekt) mit dem Buch als Massenware auseinandersetzt. Das gesamte frühe 19. Jahrhundert ist von der Industrialisierung der Papierherstellung geprägt, deren weitreichende Effekte etwa an der rasanten Verbreitung der Zeitungsmedien deutlich werden. 36 Ein noch tieferer Einschnitt in der Papierproduktion zeichnet sich aber just in den 1840er Jahren ab, als zum ersten Mal Papierherstellungsverfahren entwickelt werden, die nicht mehr mit Lumpen, sondern mit Holz arbeiten. Wie aufmerksam Andersen die rasanten Entwicklungen in der Papierproduktion verfolgte und wie gut er mit den entsprechenden industriellen Prozessen vertraut war, zeigt sein später Reiseessay Silkeborg, den er im Folkekalender for Danmark 1854 veröffentlicht. Der Artikel widmet sich just der Beschreibung einer modernen Papierfabrik, die Michael Drewsen, mit dessen Familie Andersen regen Kontakt pflegte, dort in den 1840er Jahren gegründet hat. 37 Die Ausführung zum konkreten medien- oder technikhistorischen Kontext von Flipperne mögen Andersens gesteigerte Aufmerksamkeit für die Materialität des Papiers, die sich in den erwähnten Geschichten manifestiert, erklären. Das Besondere an Andersens Märchen besteht allerdings darin, dass er schon zu diesem Zeitpunkt über die weitreichenden ästhetischen Konsequenzen einer massenhaften, seriellen Papier- und Buchproduktion zu reflektieren scheint, die durch die fortlaufenden technischen Evolutionen noch beschleunigt wird. Auch diese ästhetischen Reflexionen lassen sich mit Blick auf die beiden Abbildungen (Abb. 3 und 4) erläutern. Während das gedruckte Buch meiner Interpretation zufolge also weniger auf den aktuellen Zeichenträger selbst als auf die Differenz zwischen einem massenhaft reproduzierten Druckwerk und einem singulären Manuskript verweist, scheint das Manuskript doch zu einer Fetischisierung des singulären Blattes beizutragen, auf dem das Ende der Erzählung geschrieben ist (Abb. 3). Auch hier ist Vorsicht geboten: Denn im Kontext der Überlegungen zu einem veränderten Umgang mit den Dingen - und vor allem im Kontext der Analyse der entsprechenden Begehrensstrukturen, die Andersen just in Flipperne entwickelt, 36 Zu den einschneidenden Veränderungen in der Papierproduktion des frühen 19. Jahrhunderts vgl. stellvertretend Rolf Stümpel (Hg.): Vom Velinpapier zur Papiermaschine. In: Ders. (Hg.): Papier (= Materialien 2). Berlin 1987, S. 35-40; Claus Gröger: Papier - Vom Aufstieg des Handgeschöpften zum unentbehrlichen Massenprodukt. Der technikgeschichtliche Wissensstand zum Grundstoff literarischer Kultur. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 15 (1990), S. 184-206. 37 Vgl. Hans Christian Andersen: Silkeborg. In: Ders.: Samlede Skrifter. Bd. 6. Kopenhagen 1877, S. 273-283. Klaus Müller-Wille, Zürich 152 - wird diese Auratisierung des singulären Blattes sofort wieder zurückgenommen. Andersen verweist nicht auf die präsente Materialität des Blattes, sondern auf seinen Charakter als Fetisch, der sich über das Moment des Entzugs definiert. Diese Reflexion betrifft selbstverständlich nicht nur das auratisierte Manuskriptblatt, sondern auch den als Ware vertriebenen Märchentext, den Andersen, wie oben erwähnt, zunächst auf dem englischen Buchmarkt feilzubieten versucht, wobei der Titel der entsprechenden Anthologie - A Christmas Greeting to My English Friends - nicht von ungefähr auf das Weihnachtsgeschäft verweist. Flipperne, Laserne und Hørren sind nur drei Belege für eine Reihe anderer Dingmärchen, in denen sich Andersen mit dieser komplexen Form von Materialität beziehungsweise mit dieser Form des Fetischcharakters von Texten beschäftigt. Zu nennen wäre dabei sicherlich auch das Märchen Den stumme bog (1863; Das stumme Buch), in dem die Idee einer nicht mehr am Buchstaben, sondern an der Buchmaterie selbst orientierten Lektüre mit dem Motiv eines Herbariums auf den Punkt gebracht wird, dessen einzelne Pflanzen als Indices für verschiedene Episoden aus dem Leben eines Toten gedeutet werden. 38 Auch hier steht der nachträgliche Versuch des Textes, den Dingen eine sprachlich definierte Geschichte zu verleihen, in Spannung zu der mit dem Titel unterstrichenen Idee eines stummen Buches, das sich eben nicht mehr lesen lässt und doch nicht als reines Papierobjekt wahrgenommen werden kann, da es den Leser mit einer ihm konsequent entzogenen Dinglichkeit konfrontiert. Nochmals sei darauf verwiesen, inwiefern sich meine Interpretation der erwähnten Texte genau in diesem Punkt von Lektüren unterscheidet, die - wenn man so will ahistorisch - auf Andersens Aufmerksamkeit für Schreibwerkzeuge und Schriftträger verwiesen haben. 39 Meines Erachtens erweitert Andersen die schrift- und medientheoretischen Beobachtungen, die in diesen Märchen selbstverständlich enthalten sind, um drei weitere Reflexionsschleifen: 1. Die Schriftreflexion wird durch eine Aufmerksamkeit für den materiellen Zeichenträger überboten. Es geht um eine Aufmerksamkeit für das singuläre Blatt Papier, das als materieller Gedächtnisträger für spezifische, mit diesem Blatt verbundene Ereignisse (seien es der spezifische Prozess seiner Produktionsgeschichte oder Erinnerungen an verschiedene Besitzer). 2. Diese gedächnistheoretische Spekulation wird durch eine Reflexion über die spezifische Materialität des Papiers gesteigert, die sich nicht sprachlich diskursiv erfassen lässt, sondern nur als inkommensurable, sich entziehende Form der Materialität fassbar ist. 38 Zu Den stumme bog im Kontext der gedächtnistheoretischen Reflexionen Andersens vgl. Seiler: ›Gjemt [er ikke] glemt‹ (Anm. 26) S. 17-22. 39 Bezeichnenderweise verknüpfen sowohl Auchet, wie van Hees und Stecher-Hansen ihre Beobachtungen zur Selbstreflexivität von Andersens Texten mit dem Verweis auf entsprechende Phänomene in Texten des 20. Jahrhunderts. Vgl. van Hees: En modern fortælling (Anm. 19); Marc Auchet: Andersen et le conflit des écritures (Anm. 22); Stecher- Hansen: Romantic and Modern Metatexts (Anm. 22). Hans Christian Andersen und die Dinge 153 3. Die Aufmerksamkeit für das spezifische Material von Buch und Papier wird schließlich mit sehr konkreten medienhistorischen und ding- oder warentheoretischen Reflexionen verbunden, mit denen Andersen die Auratisierung des singulären Schriftträgers, die sich in den angedeuteten gedächtnis- und materietheoretischen Überlegungen abzeichnet, wieder zurücknimmt. So wird er sich schließlich nicht nur für Buch und Papier als singuläre Gedächtnisträger und singuläre Materialien interessieren, sondern auch für Buch und Papier als massenhaft reproduzierte Dinge, die als Teil einer komplexen Begehrensökonomie fungieren und entsprechend als Waren fetischisiert werden. Es ist evident, dass sich Andersens bislang geschilderte, extrem genaue Beobachtungen zum veränderten Status der Dinge und insbesondere zum veränderten Status von Schreibwerkzeugen und Schriftträgern auch auf sein Verständnis des Lesens ausgewirkt haben. Schon mit der Darstellung der sprechenden Dinge verweist Andersen auf eine rhetorische Figur, nämlich die Prosopopoia, die eng mit dem Akt der Lektüre verknüpft ist. Indem die Texte die Fiktion der sprechenden Dinge durch ironische Brechungen oder Rahmungen unterlaufen, tragen sie zu einer kritischen Reflexion des Lektüreaktes bei: Die Illusion aus den materiellen Buchseiten die Stimme eines Subjektes heraushören zu können, wird gestört und der Leser wird mit einer Dinglichkeit der Texte konfrontiert, die sich nicht allein über deren Zeichencharakter erschließt. Diese Beobachtung lässt sich an einem Märchen konkretisieren, das meines Erachtens als eine Art metapoetologischer Kommentar zu den ohnehin selbstreferentiell konzipierten Dingmärchen gelesen werden kann. Schon der Anfang des 1852 publizierten Märchens Nissen hos Spekhøkeren (Der Nisse beim Speckhöcker) verdeutlicht das Reflexionspotential des Textes. Ein Student vertieft sich beim Einkaufen in die Lektüre einer Buchseite, die als Verpackungsmaterial um einen Käse gewickelt worden ist. Er verzichtet auf den Käse und kauft stattdessen die Reste des Buches, die sich noch beim Speckhöker finden. Mit einem Witz macht er dabei auf die merkwürdige Verschränkung von symbolischem und ökonomischem Wert aufmerksam, welche die Ware Buch im Gegensatz zum Käse auszeichnet: ›Tak,‹ sagde Studenten, ›lad mig faae den [Bogen] istedetfor Osten! jeg kan spise Smørrebrødet bart! syndigt var det, om hele den Bog skulde rives i Stumper und Stykker. De er en prægtig Mand, en practisk Mand, men Poesi forstaaer De Dem ikke mere paa, end den Bøtte! ‹ Og det var uartigt sagt, især mod Bøtten, men Spekhøkeren loe og Studenten loe, det var jo sagt saadan i en Slags Spøg. (EoH II, 67) ›Danke‹, sagte der Student, ›lassen Sie mich [das Buch] anstelle des Käses nehmen! Ich kann mein Butterbrot auch ohne Aufstrich essen! Es wäre Sünde, wenn das ganze Buch in Fetzen und Stücke gerissen werden würde. Sie sind ein prächtiger Mann, ein praktischer Mann, aber von Poesie verstehen Sie nicht mehr als diese Tonne.‹ Und das war unartig gesagt, insbesondere gegenüber der Tonne, aber der Speckhöcker lachte und der Student lachte, es war ja so im Scherz dahin gesagt. Klaus Müller-Wille, Zürich 154 Nicht nur der Erzähler, auch ein Nisse (Wichtel), der dieses Gespräch belauscht, ärgert sich über den Witz des Studenten. In der Nacht geht er in den Laden, um der Tonne zu ihrem Recht zu verhelfen: Da det blev Nat, Boutiken lukket og Alle tilsengs, paa Studenten nær, gik Nissen ind og tog Madamens Mundlæder, det brugte hun ikke naar hun sov, og hvor i Stuen han satte det paa nogensomhelst Gjenstand, der fik den Maal og Mæle, kunde udtale sine Tanker og Følelser ligesaa godt, som Madammen, men kun een ad Gangen kunde have det, og det var en Velgjerning, for ellers havde de jo talt hverandre i Munden. (EoH II, 67) Als es Nacht wurde, der Laden geschlossen war und alle außer dem Studenten zu Bett gegangen waren, kam der Nisse herein und nahm das Mundleder der Frau. Das brauchte sie nicht, wenn sie schlief. Wo er es in der Stube auf einen Gegenstand legte, bekam dieser Sprache und Wort und konnte seine Gedanken und Gefühle genauso gut aussprechen wie die Frau. Aber nur einer auf einmal konnte das Mundleder bekommen, und das war eine Wohltat, denn sonst wären sie alle einander ins Wort gefallen. Es handelt sich um eine kaum übersetzbare Passage, da Andersen den im Dänischen üblichen Ausdruck ›Mundleder‹ (deutsch ›Maulwerk‹) hier buchstäblich verwendet. Das in jeder Hinsicht schiefe Sprachbild des auf die Dinge gelegten ›Mundleders‹ wiederum verdeutlicht just die rhetorische Strategie, mit der im Märchen den Dingen - hier der Tonne, einer Kaffeemühle, einem Geldkästchen und einem Butterfässchen - eine Stimme verliehen wird. Dass sich der Text tatsächlich auf eine solche Reflexion des Lesens einlässt, wird in einer Szene verdeutlicht, in der der Nisse den Studenten bei der Lektüre des Buches beobachtet. Wichtig ist mir bei diesen Beobachtungen, dass Andersen seine Reflexionen über den spezifischen Status des Buches als Ding und Ware offensichtlich mit einer subtilen Reflexion über eine spezifische Lektürepraktik verknüpft, die an die (halluzinatorische) Wahrnehmung von Stimmen gebunden ist. 4. Fazit In einer kurzen Lektüre von Keiserens nye Klæder beschäftigt sich Jacques Derrida mit nichts Geringerem als der Frage nach dem Status von Text-Interpretationen überhaupt. 40 Ausgangspunkt seiner Argumentation bildet Freuds Interpretation von Andersens Märchen in der Traumdeutung. Freuds Bemühen, mit seiner psychoanalytischen Deutung die verborgene Wahrheit über Keiserens nye Klæder zu enthüllen, laufe fehl, da der Text selbst schon die Frage nach Verkleidung und Enthüllung, nackter Wahrheit und rhetorischem Betrug ins Zentrum des geschilderten Geschehens stelle. Das heißt, dass die zentrale Differenz von manifester Darstellung und latentem, verborgenem Inhalt, auf die Freud in seiner Analyse immer wieder rekurriere, durch Andersens Märchen selbst schon unterlaufen werde, das seine wie 40 Vgl. das Kapitel »Der Facteur der Wahrheit« in Jaques Derrida: Die Postkarte. Von Sokrates bis Freud und jenseits. Bd. 2. Berlin 1987, S. 183-282, insb. 185-192. Hans Christian Andersen und die Dinge 155 auch immer argumentierenden Interpreten auf diese Weise theoretisch überhole. Derrida gründet seine Lektüre vor allem auf der Metaphorik einer sprachlichrhetorischen Textur, die in einem Zug dazu beitrage, Wahrheiten zu erzeugen und zu verhüllen. Bereits diese Beobachtungen sollten uns davor warnen, die Dingmärchen als simple Parabeln zu interpretieren, in denen Andersen sich der sprechenden Dinge lediglich bedient, um moralische Wahrheiten zu formulieren, die sich von den Texten abheben ließen. Ich habe zu zeigen versucht, dass sich die meisten der Dingmärchen ganz im Gegenteil in ähnlich komplexe Sprachbetrachtungen verwickeln wie Keiserens nye Klæder. Schon die wenigen Zitate in diesem Aufsatz zeigen, inwieweit die Märchen von Sprachspielen leben, die zu einer selbstreferentiellen Inszenierung der rhetorischen Figuren führen, mit denen die Texte operieren. Dabei habe ich jedoch versucht, den Blickwinkel von der metaphorischen Textur, um die Derridas Beobachtungen kreisen - also das Gewebe der Signifikanten, das Verkleidung und Enthüllung in einem konstituiert und somit zur Erzeugung von Wahrheiten beiträgt, - zu der realen Textur zu verschieben, auf der Signifikanten ruhen: das heißt den Leinengeweben und Lumpen, die auf eine Dinglichkeit des Papiers verweisen, die sich nicht mehr allein mit semiotischen Kategorien beschreiben lässt. 41 Die Aufmerksamkeit für die Dinglichkeit der Medien, über die sich das Subjekt performativ konstituiert, geht in den Märchen mit der Thematisierung einer subtilen Verdinglichung des Subjektes einher, in denen das komplexe Wechselspiel zwischen Subjekten und Objekten in Ansätzen medien- und körpertheoretisch erörtert wird. Der besondere Reiz der Märchen besteht dabei darin, dass diese Reflexionen über die Verdinglichung des Subjekts in einem denkbar krassen Gegensatz zur Anthropomorphisierung der Dinge steht, mit der die Texte spielen. All diese Reflexionen habe ich auf Andersens Auseinandersetzung mit einer aufblühenden Warenwelt zurückzuführen versucht, mit der sich der Autor - wie dies Elisabeth Bronfen in einer schönen Lektüre der Fußreise gezeigt hat 42 - schon früh auseinandersetzt. Doch während der Bezug auf die Welt der Waren in der Fußreise genutzt wird, um das philosophisch legitimierte Verfahren einer potenzierten romantisch-ironischen Schreibweise, wie wir sie etwa bei Schlegel ausgeprägt finden, endgültig zu subvertieren und auf den Charakter des Kunstwerkes als reines Konsumgut aufmerksam zu machen, geht Andersen in den Dingmärchen eher den veränderten Dingbeziehungen und vor allem den veränderten Begehrensstrukturen nach, die durch die Waren ausgelöst werden. Darüber hinaus reflektieren die Märchen über eine Ästhetik der beschädigten und fragmentierten Gegenstände, die zumindest einen indexikalischen Bezug auf eine dem Subjekt grundlegend entzo- 41 Zu entsprechenden papierfixierten Überlegungen in der Briefkultur des deutschen Sprachraums vgl. den schönen Aufsatz von Davide Giuriato: Briefpapier. In: Anne Bohnenkamp-Renken, Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief. Ereignis und Objekt. Frankfurt a.M. 2008, S. 1-18. 42 Vgl. den Beitrag »Pop Nacht. Andersens Spaziergang in einer Sylvesternacht (1829)« in diesem Band. Klaus Müller-Wille, Zürich 156 gene Wirklichkeit garantieren sollen. Sowohl in den poeotologischen Reflexionen zur Begehrensökonomie der Waren wie in der angedeuteten Ästhetik der fetischisierten, zurückgelassene Dinge - das heißt in der Aufmerksamkeit für die verrostete Nadel im Rinnstein, den aufgeweichten Saffian-Ball im Abfalleimer oder den beim Speckhöker wiederverwerteten Buchseiten - wird das Potential von Andersens Märchen deutlich. Sie geben keineswegs dem Begehren nach ›Authentizität‹ und ›Präsenz‹ nach, das in der Diagnose der zu Waren verkommenen und entfremdeten Dinge mitschwebt, sondern machen gerade auch in ihrer Aufmerksamkeit für den fetischisierten Müll oder für das in seiner unbegreiflichen Materialität fetischisierte Papier deutlich, dass dieser Wunsch nach ›Authentizität‹ und ›Präsenz‹ selbst nur ein Effekt der Warenökonomie ist. Hans Christian Andersen und die Dinge 157 Literatur Primärliteratur: Hans Christian Andersen: Silkeborg. In: H.C. Andersens samlede skrifter. Andet udgave. Bd. 6. Kopenhagen 1877, S. 273-283. H.C. 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Foto mit freundlicher Genehmigung der Rare Books and Special Collections Devision of the Library of Congress. »Allt gaaer i Bøtten« Zur Poetologie von Schmerz und Schreiben in Tante Tandpine K LAUS M ÜLLER -W ILLE , Z ÜRICH Hinter der trockenen und lakonischen Art, mit der Andersen in seinen Bemærkninger til Eventyr og historier (1874; Bemerkungen zu den Eventyr og historier) auf das Märchen Tante Tandpine (1872; Tante Zahnschmerz) eingeht, verbirgt sich eine kaum verhohlene rhetorische Strategie: Historien om ›Krøblingen‹, der er en af de allersidste jeg har skrevet og maaske skriver, troer jeg at høre til en af de heldigste jeg har givet, og som et Slags Forherligelse af Eventyrdigtning kunde den maaske passende slutte den hele Samling. Eventyret ›Tante Tandpine‹ er imidlertid det senest digtede og nedskrevne. (EoH III, 400) 1 Geschichte über den ›Krüppel‹, die eine der allerletzten ist, die ich geschrieben habe und vielleicht schreiben werde, gehört zu dem glücklichsten, das ich geschafft habe, und könnte als eine Verherrlichung der Märchendichtung vielleicht gut passen, um die ganze Sammlung zu beenden. Das Märchen ›Tante Tandpine‹ ist indessen das zuletzt gedichtete und niedergeschriebene. 2 Andersen versucht Tante Tandpine offensichtlich bewusst eine markante Sonderstellung innerhalb seines Oeuvres zuzuschreiben (die Tatsache, dass in Wirklichkeit andere Märchen den Status des Letztwerkes in Anspruch nehmen könnten, unterstreicht nur die Bedeutung dieser Aussage). Nicht die vom Autor angekündigte Verherrlichung der Märchendichtung in Krøblingen (1872; Der Krüppel), sondern die tatsächlich am Ende der Sammlungen stehende Reflexion über den Zahnschmerz soll es erlauben, die Poetologie der gesammelten Märchen neu zu reflektieren. Wendet man sich - geleitet von diesem auktorialen Versprechen - dem so ausgezeichneten Märchen zu, so wird man nicht enttäuscht. Schon der Beginn von Tante Tandpine macht mit Nachdruck auf den poetologischen Gehalt des Märchens aufmerksam. Der Text setzt mit einer Rahmenerzählung ein, in der uns ein anonym bleibender Ich-Erzähler (ganz in romantischer Manier) von einem skurrilen Manuskriptfund berichtet. Ausgerechnet in der obskuren Sammlung eines Gewürzhändler-Gesellen stößt der Erzähler auf »ein paar Blätter eines größeren Schreibheftes, dessen be- 1 Zitiert wird unter der Sigle EoH nach H.C. Andersens samlede værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Bd. 1-3. Eventyr og historier I-III. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2003. 2 Sofern nicht anders vermerkt stammen die Übersetzungen von mir, KMW. Klaus Müller-Wille, Zürich 162 sonders schöne und deutliche Handschrift sofort seine Aufmerksamkeit auf sich zieht«. 3 Der besagte Geselle hat es sich zu Eigen gemacht, »wichtige Aktenstücke aus dem Papierkorb des einen oder anderen allzu beschäftigten zerstreuten Beamten, Briefe von Freundin zu Freundin: Skandal-Noten, die nicht weitergereicht, nicht von einem Menschen erwähnt werden dürfen,« 4 aus dem reichhaltigen Papierbestand zu retten, der im Krämerladen seines Vaters als Verpackungsmaterial recycelt wird. Mit der Frage, welche Texte in gebundenen Ausgaben kanonisiert und als teure Waren vertrieben werden und welche es lediglich zu einer schnöden Karriere zwischen Butter, Hering und grüner Seife bringen, steuert der Erzähler des Rahmens nicht nur direkt auf die heikle Frage literarischer Wertungsmaßstäbe zu, sondern er verbindet diese Frage in einer durchaus aktuellen Wendung mit Überlegungen zur textuellen Materialität, die Grundlage dieser Wertungen bilden. Das schön geschriebene Heft wird als Rest einer umfangreicheren Hinterlassenschaft eines Studenten tituliert, der an Zahnschmerzen gestorben sei. Auch sein Manuskript, das im Folgenden unter dem Titel »Tante Tandpine« im gleichnamigen Märchen eingefügt wird, beginnt mit der Frage nach dem Wesen ästhetischer Qualität. Im ersten der vier Abschnitte, die den abgedruckten Manuskripttext untergliedern, führt sich der Ich-Erzähler als Student mit bescheidenen dichterischen Ambitionen ein. Diese werden insbesondere durch seine Tante Mille unterstützt, die ihm in der Kindheit mit Süßigkeiten die Zähne und nun mit übertriebenem Lob den Realitätssinn zu verderben droht. Der zweite Abschnitt, der in die Kindheit des Protagonisten führt, verstärkt die zwiespältige Wahrnehmung der Tante. Während die Kinder sie als freigiebige, alterslose Schönheit mit blendend weißen Zähnen wahrnehmen, lüftet ausgerechnet der Brauer Rasmussen, dessen von wenigen schwarzen Stumpen besetzter Mund deutlich von dem Gebiss der Tante absticht, das Geheimnis ihrer Schönheit. Dieses bestehe schlicht darin, »dass sie ihre Zähne schone, in der Nacht nicht mit ihnen schlafe«. 5 Der Tod des sarkastischen Brauers - der sich als verschmähter Jugendgalan der Tante entpuppt - bildet den Auftakt eines innigen Spiegelverhältnisses zwischen der von Rasmussen als »Tante Zahnschmerz« entlarvten Muse und dem Ich-Erzähler, das im vierten Abschnitt einen wiederum zwiespältigen Höhepunkt findet. Aufgrund eines Schneesturms ist die Tante gezwungen, eine Nacht in der Wohnung des Studenten zu verbringen. In der Nacht wird er von einer weiblichen Erscheinung heimgesucht, die er als »Fru Tandpine« oder »Satania infernalis« bezeichnet. Es handelt sich um eine groteske Verkörperung des Zahnschmerzes selbst, die den Studenten indirekt zur Entscheidung drängt, entwe- 3 »Der laae et Par Blade af en større Skriverbog; den særdeles smukke og tydelige Haandskrift tildrog sig strax min Opmærksomhed.« (EoH III, 343). 4 »[V]igtige Actstykker fra En og Anden altfor beskæftiget tankespredt Embedsmands Papirskurv; eet og andet fortroligt Brev fra Veninde til Veninde: Scandal-Meddelelser, som ikke maatte gaae videre, ikke omtales af noget Menneske.« (EoH III, 343). 5 »Hun sparede ogsaa paa dem, sov ikke med dem om Natten! sagde Brygger Rasmussen.« (EoH III, 345). Zur Poetologie von Schmerz und Schreiben in Tante Tandpine 163 der ein großer Dichter zu werden und große Schmerzen zu erleiden oder gar nicht mehr zu schreiben: ›Jeg skal lære Dig Versemaal! ‹ sagde hun. ›Stor Digter skal have stor Tandpine, lille Digter lille Tandpine! ‹ ›O lad mig være lille! ‹ bad jeg. ›Lad mig slet ikke være! og jeg er ikke Poet, jeg har kun Anfald af at digte, Anfald, som af Tandpine! far hen! far hen! ‹ (EoH III, 350) ›Ich werde dich das Versmaß lehren! ‹ sagte sie, ›Großer Dichter soll großes Zahnweh haben, kleiner Dichter kleines Zahnweh! ‹ ›O lass mich klein sein! ‹ bat ich. ›Lass mich gar nicht sein! Ich bin kein Poet, ich habe nur Anfälle im Dichten, Anfälle wie von Zahnweh! Fahre hin! Fahre hin! ‹ (TZ, 336) 6 Der vermeintliche Dichter entsagt also sofort und ungefragt seinem Ruf. Der Rest des Manuskriptes ist von Reflexionen des Studenten über den Status der Erscheinung geprägt, wobei er einerseits über das ambivalente Verhältnis von Traum und Wirklichkeit sinniert und andererseits dem Doppelgängerverhältnis zwischen »Tante Mille« und »Tante/ Fru Tandpine« auf den Grund zu kommen versucht. Den Schlusspunkt des Märchens bildet der folgende, kurze und drastische Epilog des Rahmenerzählers: Ja her holdt Manuskriptet op. Min unge Ven, den vordende Urtekæmmersvend, kunde ikke opdrive det Manglende, der var gaaet ud i Verden, som Papir om Spegesild, Smør og grøn Sæbe; det havde opfyldt sin Bestemmelse. Bryggeren er død, Tante er død, Studenten er død, ham fra hvem Tankegnisterne gik i Bøtten. Alt gaaer i Bøtten. Det er Enden paa Historien, - Historien om Tante Tandpine. (EoH III, 352f.) Ja, hier hörte das Manuskript auf. Mein junger Freund, der angehende Krämergehilfe, konnte das Fehlende nicht auftreiben, es war in die Welt hinausgewandert, als Einwickelpapier für Salzhering und Schmierseife - es hatte seine Bestimmung erfüllt. Der Brauer ist tot, [die] Tante ist tot, der Student ist tot, und seine Gedankenfunken waren im Eimer. Alles ist einmal im Eimer. Das ist das Ende der Geschichte - der Geschichte von Tante Zahnweh. (TZ, 340) In der Forschung wurde das Märchen lange Zeit als Ausdruck einer resignierenden ästhetischen Haltung des alternden (von Zahnschmerzen geplagten) Andersen interpretiert, der die idealisierende und wirklichkeitsmodifizerende Macht der 6 Die Sigle TZ verweist auf die deutsche Übersetzung von Gisela Perlet. Hans Christian Andersen: Tante Zahnweh. In: Ders.: Peer im Glück. Fußreise. Tante Zahnweh. Übersetzt von Renate Bleibtreu und Gisela Perlet. Zürich 2005, S. 319-340. Klaus Müller-Wille, Zürich 164 Kunst - im markanten Gegensatz zu dem in Krøblingen vertretenen Märchenprogramm - offensichtlich selbst schon in Frage stelle. Sowohl Ib Johansen als auch Niels Kofoed versuchen die Kontinuität einer wahlweise als grotesk, arabesk oder phantastisch bezeichneten Schreibweise im Werk Andersens zu illustrieren, mit der dieser die harmonisierende Ästhetik des Biedermeier im Rückgriff auf selbstreferentielle Schreibweisen und Formexperimente Sternes oder Baggesens satirisch unterlaufe. 7 Interessanterweise stützen sich beide Forscher dabei auf einen Vergleich zwischen Tante Tandpine und Andersens Debütroman Fodreisen fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829 (1829; Fußreise von Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829) ab. Der engen Bezug zu Fodreisen lässt sich nach Ansicht von Johansen und Kofoed an zwei Szenen festmachen. Zum einen werde das Verhältnis zwischen Tante Mille und dem Studenten in der Fußreise durch einen metapoetischen Dialog vorweggenommen, in dem sich ein junger Dichter - in diesem Fall in der Gestalt eines Katers - mit seiner Tante über seine Zukunft austauscht. Zum anderen werde die Doppelgestalt von Tante Mille und Satania infernalis durch eine ähnliche Oppositionsbeziehung zwischen zwei weiblichen Figuren in der Fußreise präfiguriert. Dort wird der Erzähler nämlich vor die Wahl zwischen einer gediegenen Frau aus Amager und einer sterbenden Heloise gestellt, die er schnell als Allegorien für eine klassizistisch überformte Biedermeierästhetik und einem phantastischen Romantizismus à la Hoffmann zu interpretieren weiß. Obwohl ihn die Amagerkone mit Süßigkeiten locken will, widersteht er ihr, woraufhin sie sich in eine Furie verwandelt und ausbricht: »man wird Dein Buch wegwerfen, wenn man anderthalb Seiten gelesen hat; bald wird der Krämer, wie Prometheus Geier, sein Inneres zerreißen, und es um Zucker und Seife gewickelt in die große Stadt versenden.« 8 Die Pointe des Vergleichs läuft auf die Vermutung hinaus, dass Andersen mit Tante Mille und Satania infernalis erneut versuche, den Gegensatz zwischen einer affirmativen und eskapistischen Illusionskunst und einem desillusionierenden schwarzen Romantizismus, zwischen biedermeierlichem Harmonie- und Traditionsstreben und modernistischer Zerrissenheit allegorisch abzubilden. Es ist vor allem Finn Barlby zu verdanken, dass die Interpretationen von Tante Tandpine nicht bei diesen abstrakten Dichotomien stehen geblieben sind. 9 Auch 7 Vgl. Ib Johansen: H.C. Andersen og det fantastiske - fra ›Fodreise‹ till ›Tante Tandpine‹. In: Johan de Mylius u.a. (Hg.): Andersen og verden. Indlæg fra den Første Internationale H.C. Andersen-Konference 25.-31. august 1991. Odense 1993, S. 453-463; und Niels Kofoed: The Arabesque and the Grotesque - Hans Christian Andersen Decomposing the World of Poetry. In: Ebd. S. 461-470. 8 »[...] kaste den bort, naar man har læst halvandet Blad; snart vil Høkeren som Prometheus’ Grib, sønderrive dens Indre, og om Sukker og Sæbe sende den ud i den store By.« Zitiert nach H.C. Andersen: Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829. In: H.C. Andersens samlede værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Bd. 9. Blandinger. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2005, S. 165- 260, hier S. 170. 9 Vgl. Finn Barlby: Satania infernalis - eller forførelsens arabesk - om ›Sneedronningen‹, ›Isjomfruen‹ og ›Tante Tandpine‹. In: de Mylius u.a. (Hg.): Andersen og verden (Anm. 7) S. 276-288. Zur Poetologie von Schmerz und Schreiben in Tante Tandpine 165 Barlby liest Tante Mille und Tante Tandpine als Kunstallegorien, die er in eine Reihe mit anderen verführenden Frauengestalten in Andersens Märchen stellt. Die männlichen Protagonisten dieser Märchen werden von diesen Frauengestalten aus einem Status einer naiven Unmittelbarkeit geführt und erleben eine fundamentale Heteronomie ihrer eigenen Körperlichkeit. In Tante Tandpine werden diese Verführerfiguren durch die nächtliche Erscheinung der Satania infernalis repräsentiert, die selbst auf den Sündenfall verweist und die sich explizit als Verkörperung der Schlange Edens bezeichnet. Satania infernalis stehe - so Finn Barlby - für eine Konfrontation mit dem Anderen im Eigenen, die im Text deutlich durch die Phänomene Tod, Schmerz, Traum sowie Erotik und Inzest unterstrichen wird. Tante Mille dagegen stehe für den ästhetischen Versuch des Biedermeiers, diese Heteronomien durch süßlich-harmonisierende Phantasmen zu überblenden. Die ›freudianische‹ Pointe des Textes bestehe schließlich darin, dass Fru Tandpine deutlich als verdrängte Kehrseite von Tante Mille dargestellt werde. Das strahlende Gebiss des Biedermeier ist strukturell mit unterdrückter Höllenpein verknüpft. verbindet diese inhaltlichen Beobachtungen mit formalen Analysen, um seine Thesen zu unterstreichen beziehungsweise auszuweiten. Kernpunkt seiner Analyse bildet der letzte Satz des zitierten Epilogs des Märchens (s.o.). Die Verwendung der unbestimmten Form von Tante im Satz »Bryggeren er død, Tante [sic! ] er død, Studenten er død« wird von Barlby als Hinweis darauf gedeutet, dass der Ich-Erzähler der Binnengeschichte mit dem Ich-Erzähler der Rahmengeschichte identisch ist (es handelt sich nicht um »die Tante«, sondern um »Tante«, ergo um ›seine eigene Tante‹). In diesem Sinne hat der Student keineswegs vor der Erscheinung der Satania infernalis kapituliert. Gestorben ist lediglich der Student als unschuldiger Biedermeierautor, der seiner Tante zu gefallen versuchte. Als Jünger der Fru Tandpine lernt der Student den Sündenfall aus der naiven Unmittelbarkeit zu bejahen und liefert als satanisch-verführender Autor ausgerechnet mit dem in jeder Hinsicht zwiespältigen Märchen Tante Tandpine sein Gesellenstück. Zwei aktuelle Interpretationen haben diese Lesart vertieft. Jacob Bøggild konnte in einem wunderbaren close reading auf zahlreiche Inkonsistenzen in der Erzählerrede des Rahmens und der Binnengeschichte hinweisen, die deutlich machen, dass wir es hier mit zwei oder eben mit einem extrem unzuverlässigen Erzähler zu tun haben. 10 Wie Nathaniel Kramer liest er Tante Tandpine als Auseinandersetzung mit einer auf Repräsentation fixierten Kunst, die im Märchen in eine Repräsentation der Repräsentation selbst münde. 11 Diese Repräsentation der Repräsentation äußere sich vor allen Dingen in einem extrem bewussten Umgang mit rhetorischen Figuren 10 Vgl. Jacob Bøggild: Det er ikke ramme alvor med den ramme. H.C. Andersens ›Tante Tandpine‹. In: Carsten Madsen, Rolf Reitan (Hg.): Ekbátana. Festskrift till Peer E. Sørensen. Århus 2000, S. 179-202. 11 Vgl. Nathaniel Kramer: H.C. Andersen’s ›Tante Tandpine‹ and the Crisis of Representation. In: Steven P. Sondrup (Hg.): H.C. Andersen. Old problems and new readings. Papers from the Third International Hans Christian Andersen Conference. Odense 2004, S. 7-32. Klaus Müller-Wille, Zürich 166 oder Sprachkleidern, die das metaphorische Spiel von Zahnschmerz und Dichterschmerz und den zahlreichen Zahnallegorien im Text präge. Meine eigene Interpretation, die auf diesen Forschungspositionen aufbauen wird, nimmt ihren Ausgang in einer leichten Irritation. Wenn die bisherigen Interpreten die Modernität des Textes zu unterstreichen versuchen, so tun sie dies paradoxerweise im Rückgriff auf frühe Schriften Andersens beziehungsweise - wie im Fall von Nathaniel Kramer - im expliziten Rückgriff auf klassische Positionen der Jenaer Romantik. Folgen wir den Interpreten und gehen von der Vorstellung einer Kontinuität ›arabesker‹ oder genuin ›romantischer‹ Schreibweisen im Werk Andersens aus, dann stellt sich automatisch die Frage, in welchem Verhältnis diese Kontinuität zu seinem Bemühen um eine ›modernistische‹ Poetologie steht, auf die Heinrich Detering (zum Teil zusammen mit Heike Depenbrook) in mehreren Artikeln aufmerksam gemacht hat. 12 Ich werde versuchen, diese Frage über einen langen Umweg zu beantworten, indem ich auf zwei Aspekte des Märchens eingehe, die mir bislang vernachlässigt worden zu sein scheinen. Der erste Aspekt betrifft die Aufmerksamkeit für den Schmerz selbst. Der zweite Aspekt betrifft die Aufmerksamkeit für unterschiedliche Artefakte, das heisst für Werkzeuge, Dinge und Waren, die schon durch das Setting des Rahmens im Krämerladen vorweggenommen wird. Ich werde im Folgenden deutlich zu machen versuchen, inwiefern diese beiden Aspekte strukturell miteinander verknüpft sind und inwiefern sie dazu beitragen könnten, die spezifische Modernität des Textes offenzulegen. 1. Schmerz in Tante Tandpine Schon ein kurzer Blick in die dänische Literaturgeschichte zeigt, dass die Vorstellung des produktiven Dichterschmerzes, mit der Andersen im Märchen spielt, auf einer langen Tradition beruht. 13 Während die besondere Schmerzempfindlichkeit barocker Poeten noch an die Vorstellung einer imitatio Christi gebunden ist, verschiebt sich die Perspektive im Verlaufe des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zusehends zu einer Thematisierung von subjektiv empfundenen seelischen Leiden, die letztendlich in den Kitsch einer ›Herz-Schmerz‹-Poesie münden. Mit der expliziten Gleichsetzung von »Digterpine« und »Tandpine« (»Dichterschmerzen« und pro- 12 Vgl. Heinrich Detering: The Phoenix Principle. Some Remarks on H.C. Andersen’s Poetological Writings. In: Johan de Mylius u.a. (Hg.): Hans Christian Andersen. A Poet in Time. Papers from the second international Hans Christian Andersen Conference. 29 July to 2 August 1996. Odense 1999, S. 51-66. 13 Meine eigenen Überlegungen zum Verhältnis zwischen Schmerz und Literatur sind maßgeblich durch neuere Studien der Germanistik angeregt, wenn hier auch nicht der diskurshistorische Zugang verfolgt wird, der insbesondere die Arbeiten von Roland Borgards prägt. Vgl. knapp Roland Borgards: Das Leben ein Schmerz. Die Geschichte einer Denkfigur in Literatur und Medizin. In: Maximilian Bergengruen u.a. (Hg.): Die Grenze des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800. Würzburg 2001, S. 135-158; ausführlich Roland Borgards: Poetik des Schmerzes. Physiologie und Literatur von Brockes bis Büchner. Paderborn 2007. Zur Poetologie von Schmerz und Schreiben in Tante Tandpine 167 saischen »Zahnschmerzen«) macht sich Andersen satirisch über die Auswüchse einer solchen Befindlichkeitspoesie lustig. Es ist kaum verwunderlich, dass er dabei auf eine satirischen Tradition des 18. Jahrhunderts (unter anderem Baggesen und Wessel) zurückgreifen konnte, die mit der empfindsamen Poesie abrechnet. Doch hinter dem Rückgriff auf die Darstellung körperlicher Leiden verbirgt sich meines Erachtens mehr als nur Satire. Im Gegensatz zur literarischen Tradition versucht der Text nicht, den Schmerz religiös oder ästhetisch zu funktionalisieren, sondern macht ihn als das unfassbare körperliche Phänomen, das er ist, zu seinem eigentlichen Thema. Mit Nathaniel Kramer ließe sich eine solche Darstellung von ›Schmerz selbst‹ zunächst in Einklang mit der repräsentationstheoretischen Thematik des Märchens bringen: »Pain marks the impossibility of adequate representation, the intrusion of absence, and the attendant rupture of the whole.« 14 Tatsächlich wird die Undarstellbarkeit von Schmerz im Märchen selbst thematisiert. Ausgerechnet die Allegorie des Schmerzes, Fru Tandpine oder Satania infernalis, macht auf die Vergeblichkeit des Versuchs aufmerksam, den Schmerz in diversen Zeichensprachen zu bannen: ›Erkjender Du da, at jeg er mægtigere end Poesien, Philosophien, Mathematiken og hele Musiken! ‹ sagde hun. ›Mægtigere end alle disse afmalede og i Marmor hugne Fornemmelser! ‹ (EoH III, 350) ›Erkennst du jetzt, dass ich mächtiger bin als die Poesie, die Philosophie, die Mathematik und die ganze Musik? ‹ sagte sie. ›Mächtiger als all diese abgemalten und in Marmor gehauenen Gefühle? ‹ (TZ, 336f.) Die Anspielungen auf die Diskurse von Mathematik und Philosophie scheinen im Kontext der Schmerzthematik keineswegs zufällig gewählt zu sein. Physischer Schmerz lässt sich weder qualitativ über eine wie auch immer geartete Form von Wesen erfassen noch mit rein quantifizierenden Verfahren messen. Schmerz verkörpert - und Fru Tandpines Äußerung ließe sich hier mit modernen Schmerz-Theorien in Einklang bringen - eine singuläre, exzeptionelle Position in der Erlebniswelt des Menschen. Im Gegensatz zu anderen emotionalen, perzeptiven und somatischen Zuständen ist Schmerz mit keinem Objekt in der äußeren Welt verknüpft (dagegen liebt man ein X; hungert nach einem Y; sieht ein Z; hasst ein A; begehrt ein B, etc.). 15 Aus dieser Objektlosigkeit des Schmerzes, aus diesem Fehlen jeglichen referentiellen Gehalts (wir können Schmerz noch nicht einmal mit einer Röntgenaufnahme sichtbar machen), resultiert die Schwierigkeit, ihn in einem symbolischen Medium auszudrücken und zu kommunizieren. Der Schmerz des Anderen bleibt für uns verschlossen, der eigene Schmerz lässt sich nicht adäquat ausdrücken. Ja mehr noch, Schmerz liefert uns der Erfahrung einer radikalen Subjektivität aus, die sich gegen vorstrukturierte kollektive Sinnzusammenhänge zu wenden droht. Die heftige Erfahrung von 14 Kramer: H.C. Andersen’s ›Tante Tandpine‹ (Anm. 11) S. 22. 15 Ich stütze mich im Folgenden vor allen Dingen auf Ausführungen Elaine Scarrys. Vgl. Elaine Scarry: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur. Frankfurt a.M. 1992. Klaus Müller-Wille, Zürich 168 Schmerz droht Sprache zu zerstören, Wahrnehmungen zu zerrütten und Bewusstseinsinhalte zu desintegrieren: »Der körperliche Schmerz ist nicht nur resistent gegen Sprache, er zerstört sie; er versetzt uns in einen Zustand zurück, in dem Laute und Schreie vorherrschen, derer wir uns bedienten, bevor wir sprechen lernten.« 16 Mit der Erwähnung der vier Kunstgattungen - Poesie, Musik, Malerei und Skulptur - scheint Fru Tandpine darüber hinaus bewusst auf den prominentesten ästhetischen Diskurs über den Schmerz zu rekurrieren - Lessings Laokoon. Martin von Koppenfels zeigt in deutlicher Anlehnung an Elaine Scarry, wie sich Lessing im Laokoon darum bemüht, den Schmerz als das ›anästhetische Phänomen schlechthin‹ (das heisst als das Wahrnehmung überschreitende und zerrüttende Phänomen) konsequent aus der Ästhetik auszugrenzen. Ich zitiere sein diesbezügliches Resümee: [Schmerz] provoziert die Ästhetik, weil er eines ihrer grundlegenden Paradigmen von innen heraus sprengt: den Begriff des Ausdrucks - Verstanden als Objektivierung der Innensphäre eines Subjekts. Als schlechthin evidente Wahrnehmung aus dieser Innensphäre gilt der Schmerz; er bezeichnet allerdings einen Punkt, an dem sich Subjektivität nicht im freien Schweifen durch einen ins Unendliche fluchtenden Innenraum erfährt, sondern im harten Schlag gegen die Wand der Physiologie. 17 Umgekehrt kann von Koppenfels nachweisen, inwiefern Lessing versucht, den physischen Schmerz als Grenzphänomen des Ästhetischen wieder in die Ästhetik zu reintegrieren. Dabei lassen sich zwei Verfahren unterscheiden: 1. Das Laokoon- Paradigma des ›unterdrückten Schreis‹, in dem versucht wird, Schmerz mimetisch so abzubilden, dass nicht Unlust, sondern (so Lessing) ›das süße Gefühl des Mitleids‹ erregt wird. Das heißt, dass der Schmerz auf eine Art und Weise verkörpert wird, die das klassizistische Ideal des geschlossenen Körpers (und das spätaufklärerische Ideal des ganzen Menschen) nicht gefährdet. 2. Das Philoktet-Paradigma, in dem der Schmerz durch eine einschließende ausschließende Geste in einen distanzierten epischen Kontext integriert und narrativ aufgehoben wird: Die Sonderrolle Philoktets und des Philoktet wirkt wie ein Emblem für die Position des Schmerzes im Feld der klassischen Ästhetik, eine Position, die durch eine einfache aus- oder einschließende Geste nicht bestimmt werden kann. Philoktets periodisch aufbrechende Wunde verletzt im Gegensatz zu Laokoons Schmerzmimik das klassizistische Ideal des geschlossenen Körpers, vor allem aber verunsichert sie die Grenze zwischen innen und außen, indem sie ein neues Außen im Innen öffnet. Dies ist die Topik der Wunde, bei Sophokles metaphorisch verdoppelt durch die Topik des Kraters auf der 16 Ebd. S. 13. 17 Martin von Koppenfels: SCHMERZ. Lessing, Duras und die Grenzen der Empathie. In: Robert Stockhammer (Hg.): Grenzwerte des Ästhetischen. Frankfurt a.M. 2002, S. 118-145, hier S. 126. Zur Poetologie von Schmerz und Schreiben in Tante Tandpine 169 vulkanischen Insel. Übertragen auf das Verhältnis von Schmerz und Ästhetik ergibt sie am ehesten das Bild eines Ausgeschlossenen im Inneren, eines zystischen Einschlusses. 18 Martin von Koppenfels’ Ausführungen helfen erneut, die anti-klassizistische Tendenz in Andersens Text zu unterstreichen. Denn dem Bemühen, den Schmerz als Grenzwert des Ästhetischen symbolisch zu verkörpern oder einschließend auszuschließen, steht bei Andersen eine kalte Allegorisierung gegenüber, welche die fundamentale Heteronomie des Schmerzes (seinen ex-zentrischen Status als Äußeres im Inneren) eher unterstreicht als ästhetisch oder narrativ bewältigt. Schon in seinem Umgang mit Bildfiguren bestätigt der Text den Riss beziehungsweise die Wunde, welche der physische Schmerz in die Topik einer klassizitischen Körperwahrnehmung zu schlagen vermag. Der Bezug zu Lessings Laokoon ließe sich an der Darstellung von offenen Mündern im Märchen vertiefen. Da ich jedoch bezweifle, dass eine solche Motivstudie wirklich zu neue Einsichten führt, möchte ich meine Perspektive auf die Schmerzthematik im Text leicht verschieben. Mit Blick auf jüngere kulturtheoretische Studien zur Geschichte des Schmerzes 19 könnte man behaupten, dass Andersen in Tante Tandpine nicht nur der Undarstellbarkeit des Schmerzes nachgeht, sondern die Konsequenzen zu untersuchen versucht, die aus dieser Undarstellbarkeit resultieren. Der Text widmet sich meines Erachtens einer Beobachtung der diskursiven Verarbeitungsstrategien von Schmerzen oder mit anderen Worten einer Poetologie des Schmerzes. Ich möchte diese These zunächst an einem Vergleich zu einem frühen Tagebucheintrag Andersens illustrieren. Schon auf seiner Deutschlandreise im Jahr 1831 klagt Andersen über heftige Zahnschmerzen: Jeg havde igien en utaalelig Tandpine. - Auditør Aal og jeg havde et Værelse med en deilig Udsigt over Alsteren. Mine Tænder smerte mig uhyre; Nærverne ere i Grunden fine Tangenter, som det umærkelige Lufttryk spiller paa, og derfor spiller det i Tænderne, snart piano, snart crescendo, alle Smertens Melodier af Forandringen i Veirskjiftiget. 20 Ich hatte wieder unerträgliche Zahnschmerzen - Der Richter Aal und ich hatten ein Zimmer mit einer schönen Aussicht über die Alster. Meine Zähne schmerzten ungeheuerlich; die Nerven sind im Grunde genommen feine Tangenten, auf denen der Luftdruck spielt, und deshalb spielt es in den Zähnen, bald piano, bald crescendo, alle Melodien des Schmerzes ausgelöst durch die Veränderung im Wetterwechsel. Das Tagebuchschreiben übernimmt offensichtlich eine vielbeschriebene therapeutische Funktion: Der objektlose innere Schmerzzustand wird externalisiert und über die metaphorische Beschreibung, die Analogie zu einem Musikinstrument objekti- 18 Ebd. S. 128. 19 Vgl. David B. Morris: Geschichte des Schmerzes. Frankfurt a.M. 1996 und vor allem den instruktiven Aufsatz von Jakob Tanner: Körpererfahrung, Schmerz und die Konstruktion des Kulturellen. In: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 489-502. 20 Hans Christian Andersen: Dagbøger 1825-1875. Hg. von Kåre Olsen und H. Topsøe-Jensen. Bd. 1. 1825-1834. Hg. von Helga Vang Lauridsen. Kopenhagen 1971, S. 60. Klaus Müller-Wille, Zürich 170 viert und dadurch in Ansätzen regulierbar gemacht. Andersens frühe Beschreibung einer Nervenorgel findet direkten Eingang in das späte Märchen. Hier ist es allerdings nicht mehr der Wind, sondern natürlich Fru Tandpine, die auf der Nervenorgel spielt: ›Naa, saa Du er Digter! ‹ sagde hun, ›ja jeg skal digte Dig op i alle Pinens Versemaal! jeg skal give Dig Jern og Staal i Kroppen, faae Traad i alle dine Nervetraade! ‹ Det var som gik der en gloende Syl ind i Kindbenet; jeg vred og vendte mig. ›Et utmærket Tandværk! ‹ sagde hun, ›et Orgel at spille paa. Mundharpe-Concert, storartet, med Pauker og Trompeter, Fløite piccolo, Basun i Viisdomstanden. Stor Poet, stor Musik.‹ (EoH III, 350) ›So, na, du bist Dichter! ‹ sagte sie. ›Ja, ich werde dich durch alle Versmaße des Schmerzes dichten! Ich werde deinem Körper Eisen und Stahl, all deinen Nervenfäden Draht einziehen! ‹ Das war, als bohrte sich eine glühende Ahle in meinen Backenknochen; ich wand und krümmte mich. ›Ein vorzügliches Zahnweh! ‹ sagte sie, ›eine Orgel zum Spielen! Maultrommel-Konzert, großartig, mit Pauken und Trompeten, Pikkoloflöte, Posaune im Weisheitszahn. Großer Poet, große Musik! ‹ (TZ, 336) Auch wenn sich die beiden Zitate ähneln, übernehmen sie im jeweiligen Kontext eine völlig andere Funktion. Im Rahmen eines Märchens, das dem Werdegang eines jungen Dichters gewidmet ist, achtet man automatisch eher auf die Machart der Metaphern als auf den zum Ausdruck gebrachten Inhalt. In der Tat meint Tante Mille das dichterische Talent des Studenten vor allen Dingen an dessen Bildgebrauch festmachen zu können, etwa wenn dieser die Strassen einer Stadt mit einer großen Bibliothek vergleicht, in der die Häuser die Regale sind und jede Etage ein Regalbrett mit Büchern. Der Leser wird hier vo vornherein darauf getrimmt, auf den Bildgebrauch des Ich-Erzählers zu achten und somit auch die poetische Inszenierung des eigenen Zahnschmerzes zu würdigen. Im Hinblick auf diese implizite Leserlenkung demonstriert das Märchen weniger die musikalischen Fähigkeiten der Fru Tandpine als die poetische Virtuosität des Studenten, die er im weiteren Verlauf der Szene durch einen artistischen Wechsel im verwendeten Bildprogramm demonstriert. Nachdem er von der allegorischen oder personifizierenden Abbildung des Schmerzes zu einer metaphorischen Umschreibung ›pfeifender‹ oder ›trommelnder‹ Schmerzen übergewechselt ist, greift er in der folgenden Passage wieder auf die rhetorische Figur der Personifikation zurück. Dabei wird der personifizierte Schmerz in diesem Fall in Form einer Metonymie - hier die agierende eiskalte Hand der Satania infernalis - repräsentiert, wobei die einzelnen Bestandteile der Metonymie - also die einzenen Finger - nicht nur als Metonymien der Metonymie fungieren, sonder ihrerseits indexikalisch auf den Schmerz verweisen. Schmerz wird hier nämlich über die unterschiedlichen Werkzeuge repräsentiert, die Schmerzen hervorrufen können: Zur Poetologie von Schmerz und Schreiben in Tante Tandpine 171 Jo hun spillede op og forfærdelig saae hun ud, selv om man ikke saae mere af hende end Haanden, den skyggegraa, iiskolde Haand med de lange syletynde Fingre; hver af dem var et Piinsels-Redskab: Tommeltot og Slikkepot havde Knivtang og Skrue, Langemand endte i en spids Syl, Guldbrand var Vridbor og Lillefinger Sprøite med Myggegift. (EoH III, 350) Ja sie spielte auf, und ihr Anblick war gräßlich, obwohl von ihr nichts als die Hand zu sehen war, die schattengraue, eiskalte Hand, mit den langen, ahlendünnen Fingern. Jeder davon war ein Folterwerkzeug: Daumen und Zeigefinger hielten Kneifzange und Schraube, der Mittelfinger endete in einer spitzen Ahle, der Ringfinger diente als Handbohrer und der kleine Finger als Spritze mit Mückengift. (TZ, 336) Auch wenn die Abbildung des Schmerzes über dessen Agenten oder Verursacher in die Alltagssprache Eingang gefunden hat und wohl zu den üblichsten Formen gehört, mit denen wir Schmerz zu beschreiben versuchen (hämmernde Schmerzen, schneidende Schmerzen, ein Kneifen im Bauch etc.), vermag allein die Vorstellung, dass Andersen hier reale Instrumente damaliger Zahnarztpraxen beschreibt, zu einer affektiven Schmerzübertragung führen. Auch der Text deutet meines Erachtens an, dass der Student Opfer seiner eigenen Imagination - Opfer seiner eigenen gesteigerten Rhetorik - wird. Der poetische, schöpferische Prozess der Schmerzerzeugung wird nämlich im Verlauf der Märchenhandlung explizit abgebildet. So wird die Allegorie des Schmerzes, die als Agentin der Orgel wie der Folterwerkzeuge fungiert, selbst als Produkt eines künstlerischen Prozesses in den Text eingeführt: Paa Gulvet sad en Skikkelse, tynd og lang, som naar et Barn tegner med Griffel paa Tavlen Noget, der skal ligne et Menneske; en eneste tynd Streg er Legemet; en Streg og een til ere Armene; Benene ere ogsaa hver kun en Streg, Hovedet en Mangekant. (EoH III, 349) Auf dem Fußboden saß eine Gestalt, lang und dünn, als ob ein Kind mit dem Griffel etwas auf die Schiefertafel gezeichnet hätte, was einem Menschen gleichen sollte: Ein einziger dünner Strich ist der Körper, ein Strich und noch ein Strich sind die Arme, auch die Beine sind je nur ein Strich, der Kopf ist ein Vieleck. (TZ, 334f.) Die Offenlegung der Allegorie als zweidimensionales Schriftprodukt untermauert nochmals die These, dass es Andersen hier darum geht, die Undarstellbarkeit des ›Schmerzes‹ darzustellen. 21 Die virtuosen Sprachbilder, mit denen er das Undarstellbare darstellt, werden ebenso virtuos als reine zweidimensionale Kunstprodukte dekonsturiert und somit ad absurdum geführt. Ohne die Implikationen dieser Interpretation in Frage stellen zu wollen, scheint sie mir doch zu kurz zu greifen. Denn der Text demonstriert nicht nur, dass der Schmerz undarstellbar ist, er demonstriert auch, inwiefern sich Schmerz mit Hilfe von Griffel und Schiefertafel - das heisst über 21 Dies ist meines Erachtens die Pointe von Kramers Lektüre. Vgl. Kramer: H.C. Andersen’s ›Tante Tandpine‹ (Anm. 11). Klaus Müller-Wille, Zürich 172 Sprache und Schrift - fortlaufend neu produzieren lässt. Der Text zeigt mit anderen Worten, dass nicht nur Waffen und Werkzeuge einer gegebenen technisch-apparativen Umwelt verwendet werden können, um Schmerzen zu projizieren und zu objektivieren, sondern dass auch die Werkzeuge, die an der Herstellung symbolischer Ordnungen beteiligt sind, in die Schmerzproduktion eingehen. Gerade im Zusammenhang mit der Rahmenerzählung, die den Text ganz deutlich als handwerkliches Produkt eines Schönschreibprozesses ausstellt, erscheinen mir diese Beobachtungen wichtig zu sein. Schließlich geht auch Fru Tandpine in ihrer Drohung an den Studenten explizit auf den Gebrauch von Schreibmaterialien ein: Ja, vil Du opgive at være Digter, aldrig sætte Vers paa Papir, Tavle eller noget Slags Skrivemateriale, saa skal jeg slippe Dig, men jeg kommer igjen, digter Du! (EoH III, 350) Ja, gibst du es auf, Dichter zu sein, bringst du nie wieder Verse auf Papier, Tafel oder irgendeine Art Schreibmaterial, dann will ich dich loslassen, aber ich komme wieder, wenn du dichtest. (TZ, 337) Meine besondere Aufmerksamkeit für das Wechselverhältnis zwischen Werkzeug und Schmerz schuldet sich wieder der methodischen Vorlage von Elaine Scarry. Ihre Studie über den Körper im Schmerz nimmt in einer Untersuchung von Folterpraktiken ihren Ausgang, die sie als Sprache, Wahrnehmung und Bewusstsein vernichtende - kurz als ›Welt auflösende‹ - Praktiken interpretiert. Im zweiten (eher spekulativen) Teil ihrer Arbeit versucht sie ausgehend von diesen Beobachtungen nichts anderes als die Erfindung der Kultur nachzuzeichnen, die sie umgekehrt als Erzeugung von Welt aus dem körperlichen Gefühl des Schmerzes definiert. Die entsprechenden Überlegungen nehmen ihren Ausgang in dem chiastischen Verhältnis von Vorstellung und Schmerz: Physischer Schmerz ist ein intentionaler Zustand ohne intentionales Objekt; Vorstellung dagegen ist ein intentionales Objekt ohne erfahrbaren intentionalen Zustand. Vielleicht ist deshalb die Annahme nicht verquer, dass der Schmerz den intentionalen Zustand des Vorstellungsvermögens und die Vorstellung das intentionale Objekt des Schmerzes bilde. Gewiss ist es nicht korrekt, einen objektlosen Zustand als ›intentionalen Zustand ohne Objekt‹ zu bezeichnen, denn nur insofern er ein Objekt hat, existiert er als intentionaler Zustand. Isoliert betrachtet, ›intendiert‹ Schmerz überhaupt nichts; er ist etwas Passives; er wird erlitten und nicht gewollt oder gelenkt. Präziser ist es wohl zu sagen, der Schmerz wird zu einem intentionalen Zustand, sobald er in Beziehung zur objektivierenden Kraft der Vorstellung gebracht wird. Erst durch diese Beziehung verwandelt sich der Schmerz aus einem passiven und hilflosen Geschehen in eines, das sich selbst verändert, und im besten Fall, selbst eliminiert. 22 Im Gegensatz zu einfachen intentionalen Akten wie ›eine Stimme hören‹ oder ›eine Fensterscheibe berühren‹ bezeichnet das Wechselverhältnis zwischen Schmerz 22 Scarry: Der Körper im Schmerz (Anm. 15) S. 246. Zur Poetologie von Schmerz und Schreiben in Tante Tandpine 173 und Vorstellung kein Akt-Objekt-Paar, sondern den Rahmen innerhalb dessen solche intentionale Akte überhaupt vollzogen werden können: Es kann nämlich sein, dass ›Schmerz‹ und ›Vorstellung‹ die beiden Grenzfälle von Intentionalität als Zustand einerseits und Intentionalität als Selbstobjektivierung andererseits sind und dass zwischen diesen beiden Grenzfällen alle sonstigen und vertrauten Akt-Objekt-Paare angesiedelt sind. Das heißt Schmerz und Vorstellung bilden gleichsam den Rahmen, in den sich alles perzeptive, somatische und emotionale Geschehen einfügt. Zwischen diesen beiden Grenzfällen ließe sich dann das gesamte Terrain der menschlichen Psyche aufzeichnen. 23 Die Erfindung der Kultur, die Scarry ausgehend von dieser Rahmenkonstellation nachzuzeichnen versucht, nimmt ihren Ausgang im Begriff der Arbeit: Weit mehr als irgendein anderer intentionaler Zustand nähert sich die Arbeit den beiden Polen des Schmerzes und der Vorstellung an, denn sie besteht sowohl aus einem extrem körperlichen, physischen Akt [...] als auch aus einem Objekt, das zuvor nicht in der Welt war, [...] Arbeit und ihr ›Werk‹ (oder Arbeit und ihr Objekt, ihr Artefakt) - das sind die Namen, die Schmerz und Vorstellung tragen, wenn sie nicht länger eine in sich geschlossene Schleife innerhalb des Körpers bleiben, sondern aus dem Körper heraustreten und zu einer in die Außenwelt projizierten Schleife werden. Durch diese Bewegung aus dem Körper heraus und in die Welt hinein beginnt die extreme Privatheit des Geschehens (sowohl der Schmerz als auch die Vorstellung sind für jeden außerhalb des eigenen Körpers unsichtbar) für andere zugänglich zu werden, wird Empfindung sozial und gewinnt damit ihre spezifische Gestalt. 24 Kulturelle Interaktion bedeutet Überschreiten des Körpers beziehungsweise Externalisierung des Körperinneren: Vermittels materieller Artefakte - und darunter versteht Scarry explizit auch textuelle Produkte - schaffen sich Menschen soziale Institutionen und damit Gesellschaft. Als Schlüsselbegriffe für diesen Vorgang der Ausstellung eines Körperinneren wählt Scarry die Bezeichnungen »Projektion« und »Objektivierung«. Objektivierung macht nicht nur das »gänzlich abwesende« (die fehlenden Objekte im Empfindungszustand reiner Objektlosigkeit) anwesend, und (im besten Fall) die Anwesenheit des Schmerzes abwesend, sondern sie nimmt der Außenwelt durch die Übertragung des Schmerzes ihre Immunität, Bewusstlosigkeit und Gleichgültigkeit. 25 Der Begriff wird zunächst über Freuds Ausführungen zu »projizierten Materialisierungen« in Das Unbehagen und die Kultur erläutert. 26 Schon Freud macht darauf aufmerksam, dass zahlreiche Körperteile über Äquivalente in der Außenwelt produzierter Dinge verfügen: Brillen, Mikroskope, Fernrohre und Kameras ließen sich in diesem Sinne als projizierte Materialisierungen der Linse des Auges verstehen. Entsprechendes weist Freud bekanntlich an allerhand phallischen Objekten nach. Scarry erweitert die Begriffe der Objekti- 23 Ebd. 24 Ebd. S. 255. 25 Ebd. S. 415. 26 Ebd. S. 411. Klaus Müller-Wille, Zürich 174 vierung und Projektion gezielt um die Externalisierung eines Innenlebens, das heisst einer Externalisierung der Fähigkeiten und Bedürfnisse des Körpers: Zur Vertauschung von Innen- und Außenseite ist es nicht erforderlich, daß der Körper buchstäblich umgestülpt wird; notwendig ist lediglich, daß etwas Inneres und Privates nach außen treten und von anderen geteilt werden, und daß dieses nun Äußere und von anderen Geteilte wieder in die Intimität des individuellen Bewusstseins aufgenommen werden kann. 27 Da das Wechselspiel von Externalisierung eines Körperinneren und nachfolgender Re-Internalisierung asymmetrisch verläuft - die Rückwirkung übertrifft die Projektion - entfaltet es eine Dynamik, die (so Scarry) den Kern des selbstreferentiellen Schöpfungsprozesses der Gesellschaft bildet. In ihrer Aufmerksamkeit für die Rückkopplungseffekte von »Machen und Gemachtwerden«, »Prägen und Geprägtwerden«, »Strukturieren und Strukturiertwerden« ist Scarry - wie dies Jacob Tanner in einer konzisen Zusammenfassung ihrer Theorie auf den Punkt gebracht hat - einem fundamentalen »Außer-Sich-Sein« beziehungsweise der »exzentrischen Positionalität« 28 des Prothesengottes Mensch auf der Spur. Als Ort dieser Rückkopplungseffekte bestimmt Scarry das Artefakt, das sie als »Hebel« oder noch besser als »Drehpunkt« eines komplexen Gesamtgeschehens bezeichnet. Artefakt in diesem Sinne bezeichnet nicht nur ein durch einen Schöpfungsakt erzeugtes Objekt, sondern - und dies ist der zentrale Punkt ihrer Argumentation - auch die Umgestaltung des Menschen durch dieses Objekt. Im Schmerz als Nullpunkt der körperlichen Existenz, im Schmerz als eines fundamentalen ›Außen im Innen‹ ist die Empfindung einer fundamentalen Nicht- Identität des Subjektes angelegt, die fortdauernd neue kulturelle Schöpfungs- und Gestaltungskräfte freizusetzen vermag. Genau diese Heteronomie, die der Schmerz verkörpert, lebt als quasi körperliche Eigendynamik auch in den über Projektion und Objektivierung erzeugten Werkzeugen und Artefakten fort, die uns umgeben und uns beeinflussen. Scarrys Analyse der spezifischen Dynamik des Artefakts steuert auf diese Weise der Vorstellung eines Eigenlebens der uns umgebenden Objektwelt zu, wobei sie so etwas wie einen körpertheoretisch fundierten Begriff von Animismus und Fetischismus zu entwickeln versucht. Selbstverständlich liesse sich dieses fundamentale anthropologische Konzept, das Scarry aus dem Begriff des Schmerzes zu entwickeln versucht, kritisch beleuchten. Die Genealogie ihrer eigenen Argumentation führt meines Erachtens über die Phänomenologie (Husserl, Sartre und andere) zu Schmerzkonzepten des 19. Jahrhunderts zurück, in denen der Schmerz noch synonym mit Leben verwendet wird. Unabhängig jedoch davon, wie man sich zu dem allgemeinen theoretischen Anspruch von Scarrys Monografie stellen mag, halte ich das Buch für eine gute Interpretationshilfe von Andersens Tante Tandpine. Dies gilt nicht nur, weil Andersen in dem Märchen dem chiastischen Verhältnis von Phantasie und Schmerz nach- 27 Ebd. S. 415. 28 Vgl. Tanner: Körpererfahrung (Anm. 19) S. 501. Zur Poetologie von Schmerz und Schreiben in Tante Tandpine 175 geht, das im Zentrum von Scarrys Argumentation steht, sondern auch, weil er diese Reflexion mit Beobachtungen über die Welt der Artefakte (hier im Sinne Scarrys) verbindet. Der Text - und dies ist die Hauptthese meines Aufsatzes - geht dem körperlichen Phänomen Schmerz nicht nur in einer kritischen Reflexion sprachlicher Repräsentationsformen, das heißt einer kritischen Reflexion symbolischer Objektivationen nach, sondern ist darüber hinaus den Rückkopplungseffekten zwischen Körpern und Dingen gewidmet. Nicht nur Sprache konstituiert unsere Körperlichkeit, sondern auch die Welt der materiellen oder körperlichen Artefakte. So liefert der Text selbst ein wunderbares Beispiel für die Dynamik von Projektion und Rückwirkung, die Scarry mit dem Begriff des Artefakts zu fassen versucht. Im dritten Kapitel des Manuskriptes, auf das ich in meiner Zusammenfassung des Textes nicht eingegangen bin, liefert der Ich-Erzähler eine Beschreibung seiner neuen Wohnumgebung: Jeg var flyttet ind i en ny Huusleilighed og havde boet der en Maaned. Herom talte jeg med Tante. ›Jeg boer hos en stille Familie; den tænker ikke paa mig, selv om jeg ringer tre Gange. Forresten er det et sandt Spectakel-Huus med Lyd og Larm af Veir og Vind og Menneske. Jeg boer lige over Porten; hver Vogn, som kjører ud eller ind, faaer Skilderierne paa Væggen til at bevæge sig. Porten smælder og rusker i Huset, som var det en Jordrystelse. Ligger jeg i Sengen, gaae Stødene gjennem alle mine Lemmer; men det skal være nervestyrkende. Blæser det, og blæse gjør det alltid her til Lands, saa dingle de lange Vindues-Kramper udenfor frem og tilbage og slaae mod Muren. Naboens Portklokke til Gaarden ringer ved hvert Vindstøt. [...] Dobbelte Vinduer er der ikke, men der er en knækket Rude, den har Vertinde klistret Papir over, Vinden blæser alligevel ind gjennem Sprækken og frembringer en Lyd som af en summende Bremse.‹ (EoH III, 347) Ich war in eine neue Wohnung umgezogen und hatte einen Monat dort verbracht. Darüber unterhielt ich mich mit meiner Tante. ›Ich wohne bei einer stillen Familie; sie denkt nicht an mich, und wenn ich dreimal läute. Ansonsten ist es ein wahres Spektakel-Haus mit Geräuschen und Lärm von Wetter und Wind und Menschen. Ich wohne direkt über dem Tor; jeder Wagen, der aus- oder einfährt, versetzt die Bilder an der Wand in Bewegung. Wenn das Tor zuschlägt, wird das Haus wie von einem Erdbeben erschüttert. Liege ich im Bett, dann gehen mir die Stöße durch alle Glieder; aber das soll die Nerven stärken. Wenn der Wind weht, und das tut er hierzulande immer, dann baumeln draußen die langen Fensterkrampen und schlagen gegen die Mauer. Die Glocke am Tor des Nachbarhofs läutet bei jedem Windstoß. [...] Doppelfenster gibt es nicht, dafür eine zersprungene Scheibe; die Wirtin hat zwar Papier darüber geklebt, aber der Wind weht trotzdem hindurch und erzeugt ein Geräusch wie eine sirrende Bremse.‹ (TZ, 328f.) Häuser sind ein gutes Beispiel für das Phänomen körperlicher Objektivation. Die Vorstellung eines Außen- und Innenraums des Körpers wird materialisiert und wirkt umgekehrt auf das Körperverständnis zurück. Das hier beschriebene Haus allerdings Klaus Müller-Wille, Zürich 176 ist so unheimlich, weil es genau diese projizierte Topologie von Außen und Innen in Frage stellt. Es verfügt über eine Eigendynamik, die direkt auf die Körperlichkeit des Protagonisten zurückwirkt - wobei das Bild der pfeifenden Fenster schon die Schmerz-Metaphern des folgenden Kapitels vorwegnimmt. Das Beispiel allein wird kaum reichen, um meine These ausreichend zu stützen. Noch deutlicher wird sie, wenn man das Märchen - wie von Andersen selbst angedeutet - im Kontext der Gesammelten Märchen verortet. 3. Konklusion - Andersen und die Artefakte Tante Tandpine läßt sich in vielfacher Hinsicht als Umschrift eines schon 1853 publizierten Märchens - Nissen hos Spekhøkeren (Der Nisse beim Speckhöcker) - lesen. Hier finden wir nicht nur den Ort des Krämerladens, sondern auch das Motiv des in der Tonne gefundenen Manuskriptes sowie den verarmten Studenten mit poetischer Ader wieder. Dieses Märchen hat allerdings nicht aufgrund seiner intertextuellen Relation zu Tante Tandpine Beachtung gefunden, sondern aufgrund eines Motivs, das direkt mit Andersens Konzeption der so genannten Dingmärchen verknüpft ist. Der Nisse verfügt nämlich über ein Mundleder (ein figurativer dänischer Ausdruck für Maulwerk), das er über die Dinge des Krämerladens streichen kann, um sie zum Reden zu bringen. Als besonders gesprächiger Zeitgenosse entpuppt sich ein Bottich oder Eimer (dän. »Bøtte«). Bekanntermaßen greift Andersen selbst häufig auf dieses Mundleder zurück, hinter dem sich nichts anders als die rhetorische Figur der Prosopopoia verbirgt. Schon in den vielen Dingmärchen, in denen er Stopfnadeln, Flaschenhälsen, Geld oder Teekannnen eine Stimme verleiht, geht er einem verwirrenden Eigenleben der Artefakte nach. Im Kontext meiner Argumentation erscheint mir insbesondere der Bezug zu dem 1860 erschienenen Märchen Pen og Blækhuus (Feder und Tintenfass) sowie zu dem 1850 publizierten Hørren (Flachs) wichtig zu sein, die direkt auf die Eigendynamik der in den Schreibakt involvierten Materialien verweisen. 29 Die Besonderheit von Tante Tandpine besteht nun darin, dass die in diesen Märchen angedeuteten Reflexionen über die Heteronomie der in den Schreibakt involvierten Instrumente direkt auf die Konzeption von Körperlichkeit zurückprojiziert wird. Meine Argumentation nahm ihren Ausgang in der literaturhistorischen Frage nach dem Verhältnis zwischen den frühen und späten Arabesken Andersens. Diese Frage liesse sich möglicherweise wie folgt beantworten: Es spricht viel dafür, dass die spezifische Form der Ex-Zentrik, die der Text untersucht, also das doppelt ex-zentrische Verhältnis zwischen Körpern und Artefakten, direkt auf Andersens Auseinandersetzung mit Phänomenen der technischen Moderne zurükgeht. In Tante Tandpine beginnt Andersen zumindest sehr gezielt über die Rückwirkung von techni- 29 Vgl. meinen Beitrag zu Andersen und den Dingen in diesem Band. Zur Poetologie von Schmerz und Schreiben in Tante Tandpine 177 schen Artefakten auf unser Körper- und Subjektverständnis zu spekulieren. Mit dieser Reflexion über die Dinghaftigkeit des Körpers, die ihren Ausgang in der Reflexion über die Dinghaftigkeit des Schmerzes nimmt, lässt er das Menschenbild von Romantik und Idealismus weit hinter sich. Klaus Müller-Wille, Zürich 178 Literatur Primärliteratur H.C. Andersens Dagbøger 1825-1875. Hg. von Kåre Olsen und H. Topsøe-Jensen. Bd. 1. 1825-1834. Hg. von Helga Vang Lauridsen. Kopenhagen 1971. H.C. Andersens samlede værker Hg. v. Klaus P. Mortensen. Hans Christian Andersen: Eventyr og Historier III. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2003. (= EoH III) Hans Christian Andersen: Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829. In: H.C. Andersens samlede værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Bd. 9. Blandinger. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen, S. 165- 260. Hans Christian Andersen: Peer im Glück. Fußreise. Tante Zahnweh. Übersetzt von Renate Bleibtreu und Gisela Perlet. Zürich 2005. (= TZ) Sekundärliteratur Barlby, Finn: Satania infernalis - eller forførelsens arabesk - om ›Sneedronningen‹, ›Isjomfruen‹ og ›Tante Tandpine‹. In: Johan de Mylius u.a. (Hg.): Andersen og verden. Indlæg fra den Første Internationale H.C. Andersen-Konference 25.-31. August 1991. Odense 1993, S. 276-288. Borgards, Roland: Das Leben ein Schmerz. Die Geschichte einer Denkfigur in Literatur und Medizin. 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In: Johan de Mylius u.a. (Hg.): Hans Christian Andersen. A Poet in Time, S. 461-470. Koppenfels, Martin von: SCHMERZ. Lessing, Duras und die Grenzen der Empathie. In: Robert Stockhammer (Hg.): Grenzwerte des Ästhetischen. Frankfurt a.M. 2002, S. 118-145. Kramer, Nathaniel: H.C. Andersen’s ›Tante Tandpine‹ and the Crisis of Representation. In: Steven P. Sondrup (Hg.): H.C. Andersen. Old problems and new readings. Papers from the Third International Hans Christian Andersen Conference. Odense 2004, S. 7-32. Morris, David B.: Geschichte des Schmerzes. Frankfurt a.M. 1996. Scarry, Elaine: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur. Frankfurt a.M. 1992. Tanner, Jakob: Körpererfahrung, Schmerz und die Konstruktion des Kulturellen. In: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 489-502. Busenfreunde und Frauenleichen oder Der dänische Krieg um Hans Christian Andersens Sexualität D AG H EEDE , O DENSE 1. Intro: Der Krieg Mein Land befindet sich im Krieg. Vielleicht ist es nicht ganz bekannt, aber seit über hundert Jahren ist Dänemark ein Schlachtfeld. Das Land befindet sich in höchster Alarmbereitschaft. Vitale nationale Interessen stehen auf dem Spiel. Schweres biografisches und literaturwissenschaftliches Geschütz wurde aufgefahren. Der Krieg betrifft die Sexualität des Nationalkleinods Hans Christian Andersen (1805- 1875). Denn wie bekannt besitzt Dänemark bereits eine Königin. Dass der Nationaldichter auch eine Queen gewesen sein soll, ist seit über hundert Jahren der Alptraum der Andersen-Forschung und der dänischen Bevölkerung. Denn kann man eine Tunte zum Nationaldichter haben? Seit dem fatalen Verlust von Schleswig-Holstein 1864 ist Dänemark ja schon kastriert, an den Hüften abgeschnitten, um es mit Herman Bangs (1857-1912) suggestiver Formulierung aus dem Roman Stuk (1887) auszudrücken. Ich werde im Folgenden versuchen, das Schlachtfeld, oder, anders ausgedrückt, die Geschichte eines modernen nationalen Traumas zu skizzieren, das in Verbindung mit der gigantischen Feier zum 200. Geburtstag von Andersen 2005 wieder ausgebrochen ist. 1 2. Ein Appetithappen Ich möchte diese Skizze mit zwei Zitaten einleiten. Das erste stammt aus Klaus P. Mortensens Buch Svanen og skyggen. Historien om unge Andersen (Der Schwan und der Schatten. Die Geschichte des jungen Andersen) von 1989: »Læser man i dagbøgerne, er der imidlertid ingen tvivl om, at der er ét og kun ét køn, som vækker lysten i ham, det kvindelige.« 2 1 Siehe dazu auch Dag Heede: Hjertebrødre. Krigen om H.C. Andersens seksualitet. Odense 2005. 2 »Liest man die Tagebücher, besteht indessen kein Zweifel daran, dass nur ein Geschlecht die Lust in ihm weckt, und zwar das weibliche.« Alle Übersetzungen aus dem Dänischen stammen von mir (D.H.). Das dänische Zitat folgt Klaus P. Mortensen: Svanen og skyggen. Historien om unge Andersen. Kopenhagen 1989, S. 79. Dag Heede, Odense 180 Das zweite Zitat stammt - wie ich einräume, nicht ganz zufällig, - aus einem der eben genannten Tagebücher. Es ist ein Eintrag von Andersens erster Italienreise, das Italien, das der Andersen-Biograf Jens Andersen korrekt als »ein großes erotisches Museum« 3 für H.C. Andersen beschreibt. Er ist 28 Jahre alt, befindet sich in Rom, Datum ist Sonnabend, der 18. Januar 1834: Tæt ved Porte di Leone, lossede man et lille Skib; en halv Snees Karle ganske nøgne, kun med en Art Svømmebukser bare Sækkene i Land. Det saae smukt ud, de stærkbyggede, brede Skuldre; det lodne Bryst, og Maven bedækket med Haar og saa en meget bruun Hud. De gik fra Skibet gjennem et Huus over Gaden, saa alle Fruentimmer der kom denne Vei saae dem i deres smukke Nøgenhed. Om Eftermiddagen kom mit mørke Humeur tilbage. 4 In der Nähe der Porta di Leone lud man ein kleines Schiff aus; ein Dutzend ganz nackter Kerle, nur in einer Art Badehose, trugen die Säcke an Land. Es sah schön aus, die kräftig gebauten, breiten Schultern; die behaarte Brust, und der Bauch bedeckt mit Haar und dann eine sehr braungebrannte Haut. Sie gingen vom Schiff durch ein Haus über die Straße, so dass alle Frauenzimmer, die diesen Weg entlang kamen, sie in ihrer schönen Nacktheit sahen. Am Nachmittag kam meine Schwermut zurück. Mit diesem einen Zitat aus dem Reisetagebuch des jungen Andersen behaupte ich natürlich nicht, irgendeinen ›Beweis‹ für Andersens etwaige ›Homosexualität‹ geliefert zu haben. Selbst wenn ich immer weiter damit fortfahren könnte, Beobachtungen derselben Art sowohl aus Hans Christian Andersens Werk als auch aus seiner Biografie zu zitieren - Beobachtungen über nackte, muskulöse männliche Proletarier, niedliche Soldaten in stramm sitzenden Hosen, die den reisenden Dänen wie ein Pfeil ins Herz treffen, hübsche Mönche, schöne Priester und zärtliche Küsse und Umarmungen von romantischen Busenfreunden - meine ich grundsätzlich nicht, dass dies ein ›Beweis‹ einer sexualpathologisch klassifizierbaren ›Konstitution‹ ist. Abgesehen davon, dass Andersen einen guten Geschmack und ein waches Auge für männliche Schönheit hatte, wenn sie ihm über den Weg lief. Wenn ich mich trotzdem mit dem ›Krieg um H.C. Andersens Sexualität‹ befasse, liegt das daran, dass dieser Krieg, so lautet meine These, eine zentrale Achse der Andersen-Forschung und -Vermittlung darstellt, zumindest in Dänemark. Die mangelnde Männlichkeit, die daraus folgende Femininität sowie die mangelnde Heterosexualität des Nationaldichters ist ein ureigener dänischer Schmerzpunkt, eine Wunde, die gerade im Jahr 2005 wieder aufgerissen wurde. Zu behaupten, Andersen sei ein femininer Mann mit einer Vorliebe für romantische Männerfreundschaften gewesen, ist verboten, aber eine einleuchtende Tatsache - ungefähr auf einer Linie mit dem Hinweis, dass der Papst ein Kleid trägt, oder aber dass der Kaiser gar keine Kleider trägt. 3 Jens Andersen: Andersen. Bd. II. Kopenhagen 2004, S. 348. 4 H.C. Andersen: Romerske Dagbøger. Hg. von Paul V. Rubow und H. Topsøe-Jensen. Kopenhagen 1947, S. 53f. Busenfreunde und Frauenleichen 181 3. Die ›Sex-Monarchie‹ Bevor ich zu meiner historischen Genealogie des sexualitätsdefinitorischen Schlachtfelds komme, muss ich einem häufigen Einwand vorbeugen: Warum müssen wir überhaupt ständig über Hans Christian Andersens Sexualität sprechen? Das müssen wir, weil wir - ob wir wollen oder nicht - in einem hypersexualisierten Zeitalter leben, das der französische Philosoph Michel Foucault in seiner Sexualitätsgeschichte La volonté de savoir (1976) ironisch als »Sexmonarchie« 5 bezeichnet hat. Kennzeichnend für die letzten 150 Jahre im Westen ist eine Vorstellung von Sexualität als einer geheimen, kostbaren, zerbrechlichen, wahrheitstragenden, unterdrückten und emanzipierbaren Essenz, eine Sexualität, die als der Königsweg zum Individuum dargestellt wird, eine problematische und nur schwer entzifferbare Wahrheit, die scheinbar den Kern jedes einzelnen Menschen ausmacht. In dieser sehr allgemeinen und äußerst umfassenden historischen Strömung ist Sigmund Freud nur eines der expliziteren Sprachrohre. Michel Foucault nennt ihn höhnisch »das berühmteste Ohr des Jahrhunderts«. 6 Wir befinden uns laut Foucault in der »Kultur der sprechenden Schamlippen«, 7 Sexualität ist das tiefste Geheimnis, und die Bekenntnis und Dechiffrierung der Sexualität ist der Weg, um das Innerste des einzelnen Menschen zu verstehen. Ob wir es wollen oder nicht sind wir alle Geiseln dieser Sexualmaschinerie. Niemand kommt darum herum, sexualitätsdechiffriert zu werden. In unserem Verständnisrahmen ist es nicht möglich, keine Sexualität zu haben. Wenn das der Fall zu sein scheint, starten Interpretationsmaschine und Triebhermeneutik, und je versteckter und abwesender das Sexuelle zu sein scheint, desto mehr gibt es für Experten und Interpreten zu tun. Man kann schlicht und einfach nicht keine Sexualität haben, wenn sie manchmal auch posthum reproduziert werden muss. Damit nicht genug. Je normaler Sexualität wirkt, desto weniger gibt es zu sagen. Die abweichende Sexualität ist die Sexualität par excellence. Je schlimmer, desto besser für die Interpreten. Also stellt Michel Foucault die ersten sexuellen Abweichler der Geschichte als umgekehrte und paradoxale Pioniere der Sexualitätsinstallierung dar. Der neue Menschenschlag, der durch die Sexualdiagnosen des späten 19. Jahrhunderts erfunden wurde und neue und sonderbare Namen zugeteilt bekam - Homosexuelle, Bisexuelle, Sadisten, Fetischisten, Masochisten, Automonosexualisten, Skoptophilisten, Zoophilisten, Nekrophilisten - bezeichnet die Entstehung radikal neuer und moderner Individuen, deren Geburt und Existenz unauflöslich nicht nur mit Modernität, Urbanität, Medizin und Sexualpathologie verbunden ist, sondern auch mit radikalen Veränderungen der grundlegenden Macht-Wissens- Strukturen der Gesellschaft. Eine längere Geschichte. 5 Michel Foucault: La volonté de savoir. Histoire de la sexualité. Paris 1976, S. 211. 6 Ebd., S. 148. 7 Ebd., S. 101. Dag Heede, Odense 182 Und was hat das alles nun mit Andersen zu tun? Tja, Andersen ist genau deshalb interessant, weil er vielleicht der letzte ›asexuelle‹ Mensch der dänischen Geschichte ist. Er lebte in einer Umbruchszeit und kam zu Lebzeiten gerade noch um die Sexualitätsdiagnostizierung herum. Als der Freund Edvard Collin 1877, zwei Jahre nach dem Tod des Dichters, im Zusammenhang mit der Arbeit an seinem Buch über H.C. Andersen og det Collinske Hus (H.C. Andersen und das Haus Collin) seinen Cousin Emil Hornemann, den ehemaligen Arzt Andersens, nach dem Geschlechtstrieb des Dichters fragt, ist dessen Antwort sehr aufschlussreich: »Jeg antager, at Andersen var en slags Asket, hvad Kjønsdriften angaar.« 8 . Wir befinden uns an einem historischen Zeitpunkt, als Asketismus für eine gültige und sinnvolle Kategorisierung von Sexualität gehalten wird. Dabei sollte es nicht bleiben. 4. Das homosoziale Begehren Um Andersens sexuellen Nachruhm und den Krieg um seine Sexualität im 20. und 21. Jahrhundert zu verstehen, müssen wir uns jedoch mit etwas mehr Theorie bewaffnen. Dafür schlage ich den amerikanischen Verständnisrahmen mit der Bezeichnung queer theory vor. Ich begnüge mich hier mit einer einzigen Denkerin, nämlich mit der Literaturwissenschaftlerin Eve Kosofsky Sedgwick und ihren Begrifflichkeiten des ›homosozialen Begehrens‹ (›homosocial desire‹) aus ihrem Buch Epistemology of the Closet. 9 Sedgwick weigert sich, gleichgeschlechtliche Beziehungen eindeutig zu klassifizieren und spielt mit dem Gedanken eines emotionalen Kontinuums zwischen Männern. Sie arbeitet mit der provokanten These potenziell fließender Übergänge zwischen Homosozialität und Homosexualität, wobei sie behauptet, dass niemand im Voraus eine Grenze ziehen kann zwischen beispielsweise einer Vorzugsbehandlung von Männern durch Männer, sportlichen Aktivitäten, Kameradschaften, Wirtshausbesuchen, Kollegialität usw. einerseits, und Begehren andererseits. Vielmehr identifiziert sie genau dies als eines der größten Probleme des 20. und 21. Jahrhunderts: dass nämlich niemand weiss, wo und wie die Grenzziehung zwischen männlicher Homosozialität und Homosexualität vonstatten gehen soll. Die Grenze muss deshalb immer wieder neu etabliert werden, in praktisch jedem Kontext, wo Männer auf andere Männer treffen. Während das homosoziale Begehren von Frauen ein eher undramatisches und unproblematisches Kontinuum zwischen Homosozialität und Homosexualität darstelle (manche feministischen Theoretikerinnen sprechen vom ›lesbischen Kontinuum‹), behauptet Sedgwick, dass die Differenzierung zwischen männlicher Homosozialität und männlicher Homosexualität ein zentraler Schmerzpunkt der westlichen Kultur des 20. und des 21. Jahrhunderts sei, wo es alles entscheidend sei, nicht 8 »Ich nehme an, dass Andersen, was den Geschlechtstrieb betrifft, eine Art Asket gewesen ist.« Zitiert nach Edvard Collin: H.C. Andersen og det Collinske Hus. Kopenhagen 1877, S. 354. 9 Vgl. Eve Kosofsky Sedgwick: Epistemology of the closet [1990]. Berkeley 1994. Busenfreunde und Frauenleichen 183 nur den Homosexuellen zu identifizieren und zu lokalisieren, sondern auch das Homosexuelle, ein Bestreben, das per Definition unmöglich zu erfüllen ist. Alle Männer sind also eine Art Geiseln der Homo/ Hetero-Definitionsmaschine, ob Mann (mit zwei ›n‹) nun in der Gruppe heterosexueller Männer platziert ist, deren homosoziales Begehren angeblich von Homosexualität chemisch gereinigt ist und deren Reinigungs- und Beschwörungsprozeduren zwanghaft wiederholt werden müssen, oder aber ob er als Träger von Homosexualität ausgegrenzt ist, mit allem, was dies an Sexualisierung, Objektivierung und Stigmatisierung mit sich bringt. Sedgwick geht noch weiter. Sie meint schlicht, dass die merkwürdige, mühsame und ziemlich einzigartige Problematisierung und Verwaltung männlichen homosozialen Begehrens in der modernen westlichen Welt, darunter die wohlbekannte Einteilung des männlichen Teils der Menschheit in zwei getrennte Kategorien, ›Heterosexuelle‹ und ›Homosexuelle‹, einen enormen und dramatischen Einfluss auf die gesamte Moderne habe. 10 Sedgwick meint, dass wir über die bekannten Deutungsparameter Geschlecht, Klasse und race hinaus Sexualität als eine zusätzliche Ebene mitdenken müssen, deren Einfluss nicht im Voraus bestimmt oder festgelegt werden kann. Sie behauptet (unter anderem in Anlehnung an Michel Foucault), dass im Grunde genommen jedes einzelne kulturelle Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts im Westen wenn schon nicht von der Aufteilung in Homosexuelle und Heterosexuelle definiert, dann doch in jedem Fall davon markiert ist. Diese Binarität in der Verwaltung männlichen homosozialen Begehrens sei ein zentraler kultureller Schmerzpunkt und ein kulturelles Problemfeld. Die männliche Homosexualität liefert eine privilegierte Optik auf die Modernität. Weiter behauptet Sedgwick, dass jegliche Analyse eines beliebigen modernen Phänomens, welche die Homo-/ Heterosexualitätsbinarität und deren Einfluss auf eine lange Reihe anderer zentraler kultureller Gegensätze wie krank/ gesund, weiblich/ männlich, Land/ Stadt, Kitsch/ Kunst, Dekadenz/ Entwicklung usw. nicht berücksichtigte, nicht nur mangelhaft, sondern in ihrem Kern verfehlt sei. Aus der Perspektive einer Sedgwick ist Hans Christian Andersen ein wundervolles und bevorzugtes Feld, das uns in das Herz homosozialer Begehrensverhandlungen und mehr oder weniger lächerlicher Grenzziehungsversuche und Klassifizierungsbestrebungen in Bezug auf die Homo-/ Heterobinarität führt. Wir können deswegen Andersen als Zauberspiegel benutzen, um unsere eigenen Schwierigkeiten zu untersuchen, emotionale Beziehungen zwischen Männern zu verstehen, zu tolerieren, zu diagnostizieren oder um uns einfach daran zu erfreuen. 10 Zu den Beziehungen zwischen männlicher Homosexualität und Modernität siehe auch Henning Bech: When Men Meet. Homosexuality and Modernity. Cambridge 1997. Dag Heede, Odense 184 5. Der Fall Andersen Ich möchte allerdings einem Missverständnis vorbeugen. Meine Pointe ist nicht, dass Hans Christian Andersen den guten alten Zeiten angehörte, als Gefühle zwischen Männern freie Bahn hatten, ein präsexualhermeneu-tischer paradiesischer Glückszustand, als Jünglinge eng umschlungen umherwandern und einander in die tiefsten Geheimnisse ihres Herzens und ihr romantisches Gefühlsleben einweihen konnten, ohne darüber zu spekulieren, ob sie sexuell abnorme oder richtige Männer seien, solange sie nicht päderastische oder sodomitische Handlungen begingen. Andersens Biografie zeigt, dass seine Beziehungen sowohl zu Geschlechternormen als auch zu Männern alles andere als unproblematisch waren, und dass seine Sehnsüchte vermutlich meist unerfüllt blieben. Meine Pointe ist schlicht und einfach, dass wir gezwungen sind, uns unserer Homosexualitätsdefinition, unserer sexualitätsklassifikatorischer Besserwisserei und der gesamten Sexualisierungsmaschinerie unserer Zeit zu entledigen, um zumindest zu versuchen, eine Kultur zu verstehen, die in mancherlei Hinsicht eine historische Voraussetzung unserer eigenen darstellt, in anderer Hinsicht radikal anders gewesen zu sein scheint. Ohne Andersens Zeitalter und den romantischen Männerfreundschaftskult des 19. Jahrhunderts zu romantisieren, müssen wir uns also gegenüber anderen möglichen Verhandlungen männlichen homosozialen Begehrens öffnen, die nicht unbedingt zu primitiven oder naiven Vorformen von ›Homosexualität‹ reduziert werden können. Andersen war also nicht einfach ›schwul‹, ohne es zu wissen. Wir müssen uns vorstellen, dass Begehren, Intimität und Körperlichkeit in einem anderen Verstehenshorizont als ›Sexualität‹, darunter die Kategorien ›Heterosexualität‹ und ›Homosexualität‹, gestaltet und erlebt werden können. Die Geschichte von Hans Christian Andersens sexuellem Nachruhm soll also nicht als retrospektive Diagnostizierung und sexuelle Klassifikation verstanden werden, sondern im Gegenteil als eine Kritik der Schwierigkeiten des 20. und 21. Jahrhunderts, mit einer geschlechtlichen und sexuellen Herausforderung wie Andersen umzugehen, als eine Kritik unserer mangelnden Gastfreundschaft gegenüber Größen wie erwachsener Kindlichkeit und männlicher Weiblichkeit. 6. Homo- und Heterosexualitätskonstruktionen Zurück zur Konstruktion von Andersens sexuellem Leben. Bereits in den 1890er Jahren, als die erste größere homosexuelle Panikwelle das Land überrollte und der Schriftsteller schon über 15 Jahre tot war, brachte die Schmutzpresse eine Geschichte über einen angeklagten homosexuellen Mann heraus - einen der ersten in Dänemark -, der angeblich in seiner Jugend von Andersen während eines Besuchs auf einem Landgut verführt worden war. Die Geschichte war frei erfunden, was die Familie Collin schnell richtig stellte, aber sie kündigte eine Epoche an, in der die Busenfreunde und Frauenleichen 185 Sexualität des Nationaldichters ein heißes Eisen in der Forschung und Vermittlung werden sollte. 11 Die erste Entfaltung des Themas erfolgt 1901, als der dänische Schriftsteller Carl Albert Hansen Fahlberg unter dem (Halb)Pseudonym, d.h. Mittelnamen, Albert Hansen, einen Essay in der Zeitschrift Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen des deutschen Sexologen Magnus Hirschfeld veröffentlicht. Der Titel des Essays lautet bezeichnenderweise »H.C. Andersen. Beweis seiner Homosexualität«. 12 Für Hansen besteht kein Zweifel, dass der pedantische Junggeselle mit seinen merkwürdigen Angewohnheiten und Zwangsvorstellungen, intensiven Phasen der Verliebtheit in Männer, Kränklichkeit, Nervosität, Femininität, Hypochondrie, Selbstbezogenheit und künstlerischem Genie in die Reihen der Homosexuellen aufgenommen werden kann und soll. Hansens Artikel muss als Ausdruck von Bestrebungen verstanden werden, das Phänomen Homosexualität als eine harmlose Laune der Natur zu entkriminalisieren und zu entdramatisieren, die seit Anbeginn der Zeiten - wenn man so will, seit Adam und Adam - existiert und Berühmtheiten wie Alexander den Großen, Cäsar, Kaiser Hadrian, Leonardo da Vinci und Michelangelo umfasst habe. Und also auch den weltberühmten Andersen. Es ist bezeichnend, dass Hansens Essay auf Deutsch geschrieben und in Deutschland veröffentlicht wurde, denn die homosexuelle Konstruktion Andersens ist - bis vor kurzem - ausschließlich ein ausländisches, vielleicht sogar ein undänisches Phänomen. All unser Verdruss ist deutsch, sagt ein altes dänisches Sprichwort, und auch diesmal wurde der Unkrautsamen aus dem Süden über den Zaun geblasen. Die dänische Forschungstradition, wenn auch in hohem Maß biografisch orientiert, weist eine erstaunliche Schweigsamkeit in der Frage um Andersens Sexualität auf. Wenn sie überhaupt behandelt wird, wird Andersen vor allem als ein unglücklicher und missglückter Heterosexueller dargestellt, der schlicht das Pech hatte, sich ausschließlich in Frauen zu verlieben, die sich entweder gerade mit jemand anderem verlobt hatten (was Andersen natürlich wusste), die fast zwerg- oder nonnenartig waren oder aber nur mütterliche oder schwesterliche Gefühle für den großen, hässlichen, femininen und sonderbaren Mann nährten. Wenn Andersen also heterosexuell war, und falls es sein größter Wunsch war, zu heiraten, muss er sicherlich als der unglücklichste Liebende der Literaturgeschichte bezeichnet werden. Und man ist versucht zu fragen, ob nicht die Standarderklärung für Andersens ›Junggesellentragödie‹ (wie sie in den dänischen Literaturgeschichten häufig genannt wird), seine angebliche Sexualangst, nicht auch - oder vielleicht vor allem - die Angst der Forschung vor Andersens Sexualität bezeichnet. 11 Mehr hierzu in Wilhelm von Rosen: Månens kulør. Kopenhagen 1993, S. 620-625. 12 [Carl] Albert Hansen [Fahlberg]: H.C. Andersen. Beweis seiner Homosexualität. In: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 3 (1901), S. 203-230. Dag Heede, Odense 186 7. Psychopath oder Homosexueller? 1927 werden Andersen und seine Sexualität vom Psychiater Hjalmar Helweg in dessen Buch H.C. Andersen. En psykiatrisk Studie (H.C. Andersen. Eine psychiatrische Studie) ziemlich unsanft und lieblos behandelt. 13 Helwegs aktive Heterosexualisierung des Nationaldichters baut in hohem Maße auf Material aus einer der frühesten und einflussreichsten biografischen Andersen-Konstruktionen, nämlich Hans Brix’ Abhandlung H.C. Andersen og hans Eventyr 14 (H.C. Andersen und seine Märchen) aus dem Jahr 1907. 15 Diese Abhandlung ist einer der wesentlichsten Beiträge zur dänischen biografischen Literaturforschung. Obwohl sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts durchaus umstritten war, war sie doch in vielerlei Hinsicht musterbildend. In meinem Zusammenhang ist Brix’ Abhandlung ein Grundlagentext, da sie sowohl eine starke und wirkungshistorisch beinahe unüberschätzbare biografische Andersen-Konstruktion liefert und da diese Konstruktion die Liebe des Schriftstellers zu Männern überhaupt nicht mitdenkt oder sich dazu verhält und das weder in Bezug auf das Leben noch in Bezug auf die Texte. Es kommt Brix schlicht nicht in den Sinn, dass ein suggestiver Text wie Venskabspagten (1842; Der Freundschaftspakt) 16 - eine in allen Bedeutungen des Worts griechische Geschichte um einen Brauch, mit dessen Hilfe sich zwei romantische Busenfreunde in einer Kirche von einer Jungfrau trauen lassen können (eine Art eingetragene Partnerschaft mit kirchlichem Segen à la grecque, wenn man so will) - von etwas anderem handeln könne als von Andersens unglücklicher Liebe zu Louise Collin. Brix’ Abhandlung ist ein Schulbeispiel dafür, was Sedgwick machtvolle Unkenntnis (›powerful ignorance‹) nennt: eine solide Konstruktion, basierend auf systematischer Blindheit und unreflektierter Selektion. Eine solche Naivität kann Helweg sich zwanzig Jahre später nicht mehr erlauben. Andersens Heterosexualität ist nämlich nicht mehr unbestritten, zumindest nicht außerhalb der Landesgrenzen, was der international orientierte Oberarzt weiß. Etwas muss unternommen werden, und Helweg impliziert mehr als deutlich, dass es den Charakter von Landesverrat habe, wenn Dänen im Ausland in Weltsprachen Gerüchte über Andersens Homosexualität in die Welt setzen. Helwegs Essay vertritt deshalb nicht nur moralische, sondern auch nationale Interessen. Helweg schlussfolgert, dass Andersen trotz seiner - wie Helweg sie beschreibt, »ekelhaften« 17 - Freundschaften besonders zu dem Großfürsten Carl Alexander 13 Hjalmar Helweg: H.C. Andersen. En psykiatrisk studie [1927]. Kopenhagen 1984. 14 Hans Brix: H.C. Andersen og hans Eventyr. Kopenhagen 1907. 15 Zur umfassenden dänischen Heterosexualitätskonstruktion Andersens siehe auch Dag Heede: H.C. Andersen som heteroseksuel. Historien om en konstruktion (Hans Christian Andersen als Heterosexueller. Die Geschichte einer Konstruktion). In: Lambda nordica 11 (2006: 1), S. 60-75. 16 Hans Christian Andersen: Venskabspagten. In: H.C. Andersens samlede værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Bd. 3. Eventyr og historier III. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2003, S. 27-35. 17 »[V]amme«. Helweg: H.C. Andersen (Anm. 13) S. 170. Busenfreunde und Frauenleichen 187 von Sachsen-Weimar 18 nicht homosexuell gewesen sei, hingegen aber ein »ausgesprochener Psychopath«, 19 eine Diagnose, die zum gegebenen Zeitpunkt sicher positiver aufgeladen war als Homosexualität. Helweg distanziert sich explizit von Hansens Essay und erklärt Andersen vor allem ausgehend von einer Theorie seines Minderwertigkeitsgefühls, einer psychopathischen Insuffizienz. Um sein Argument zu stützen, dass Andersen nicht homosexuell gewesen sein könne, weist Helweg beispielsweise auf die Tatsache hin, dass Andersen einen natürlichen Stimmbruch gehabt habe. Homosexuelle dagegen sprächen bekanntlich alle mit einer präpubertären Fistelstimme. 20 Helweg ist nur einer von unzähligen dänischen Produzenten massiver Heterosexualisierungsmythen um Andersen, die seine unglückliche Liebe zu diversen Frauen - Riborg Voigt, Louise Collin und Jenny Lind sind nur die berühmtesten - aufblasen und dramatisieren und in derselben Bewegung seine Liebe zu einer langen Reihe von Männern in allen Lebensphasen herunterspielen. Es ist ein tragisches Paradox, dass der Grossteil der dänischen Andersen-Forschung einerseits absurd grossen Wert auf das Biografische legt und gleichzeitig darauf beharrt, nur diejenigen biografischen Informationen zu verwerten, welche die Konstruktion Andersens als Heterosexuellen bekräftigen können. Und ich spreche nicht nur von bornierten Verheimlichungen der Vergangenheit. Die offizielle Broschüre zur Feier 2005 21 nennt weiterhin nur die zwei autorisierten unglücklichen Verhältnisse zu Frauen, während Edvard Collin nicht einmal erwähnt wird. Und die jüngste Habilitationsschrift über Hans Christian Andersen, Viggo Hjørnager Pedersens Ugly Ducklings, die 2004 an der Syddansk Universitet verteidigt wurde, führt weiterhin Helweg als Autorität für diese Frage an. 22 Das Fistelstimmenargument scheint also in der Andersen-Forschung des 21. Jahrhunderts weiterhin gangbar zu sein. Aber auch in der breiteren kommerziellen Vermittlung ist die Heterosexualisierung beinahe mit Händen zu greifen. In Touristenshops können Ausländer zum Beispiel Kartenspiele kaufen, die Hans Christian Andersen beziehungsweise seine letzte große ›staatsautorisierte‹ unglückliche Liebe, die Opernsängerin Jenny Lind (die so genannte ›schwedische Nachtigall‹), auf dem Titel tragen. So können die Touristen, indem sie die Karten mischen, zumindest symbolisch die körperliche Vereinigung der beiden, die zu Lebzeiten nie stattgefunden hat, retrospektiv realisieren. Und das dänische Kaufhaus Magasin war Weihnachten 2004 so freundlich, 18 Zum Briefwechsel zwischen Andersen und Carl Alexander siehe: Mein edler, theurer Grossherzog! Briefwechsel zwischen Hans Christian Andersen und Grossherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach. Hg. von Ivy und Ernst Möller-Christensen. Göttingen 1998. 19 »Diagnosen af H.C. Andersens sygelige tilstand kan ikke være vanskelig: Han var en udtalt psykopath.« Zitiert nach Helweg: H.C. Andersen (Anm. 13) S. 162. 20 Vgl. Helweg: H.C. Andersen (Anm. 13) S. 48. 21 Die Broschüre »www.hca2005.com«. 22 Viggo Hjørnager Pedersen. Ugly Ducklings? Studies in the English translations of Hans Christian Andersen’s tales and stories. Odense 2004, S. 51. Dag Heede, Odense 188 meine Pointen transparent zu machen: Das Weihnachtslogo bestand aus einem verfälschten Andersen-Scherenschnitt zweier Busenfreunde. Dem einen hatte man ein Kleid angezogen. So wurde es auch in jenem Jahr Weihnachten in Dänemark, denn bekanntlich ist Weihnachten die ultimative heterosexuelle Selbst-Zelebrierung. 8. Deutsch/ dänische Homopolemik Den vorläufigen Höhepunkt der deutschen homosexuellen Konstruktion Andersens bildet 1994 Heinrich Deterings Habilitationsschrift Das offene Geheimnis. 23 In einer Polemik gegen die Verleugnungsstrategien und Vertuschungsmanöver der dänischen Forschung zieht Detering auf Entdeckungsreise von Homoerotik in Briefen und Werken und enthüllt Spuren in den Collin-Briefen, den Romanen O.T. (1836) und Kun en Spillemand (1837; Nur ein Spielmann), dem Drama Agnete og Havmanden (1833; Agnete und der Meermann), und in den Märchen Den lille Havfrue (1837; Die kleine Meerjungfrau) und Der Schatten (1847; Skyggen). Detering operiert nicht mit einem konstruktivistischen Sexualitätsbegriff, der ›den Homosexuellen‹ als radikal moderne Schöpfung sieht, dessen Geburt auf ca. 1870 datiert werden kann, sondern implizit mit einem scheinbar transhistorischen Begriff der ›Homoerotik‹. Die Habilitation erschien gleichzeitig mit einer anderen Habilitation, Wilhelm von Rosens Månens kulør (Die Farbe des Mondes), die neben ihrem radikal konstruktivistischen und behutsamen quellenbasierten Zugang auch ein ausführliches Kapitel über Andersen, seine Liebe zu Edvard Collin und Ludvig Müller und die zärtliche romantische Männerfreundschaft im allgemeinen aufweist. 24 Im Gegensatz zu Detering sieht von Rosen die Kategorie Homosexualität in Bezug auf Andersen als einen Anachronismus an: Men hverken i Andersens ungdom i 1830’erne eller i begyndelsen af 1860’erne, da han rejste sammen med Jonas Collin, eksisterede den homoseksuelle kønsrolle med alle dens sociale konsekvenser, den selvforståelse og identitet. Der kunne derfor heller ikke bestå nogen ›mistanke‹ om, at Andersen hørte til i denne kriminelle og marginaliserede ›menneskeklasse‹ med dens subkultur, mødesteder og særlige æstetiske, kvindagtige, selvmorderiske og landflygtige livsstil. Om Andersen var ›homoseksuel‹, var et spørgsmål, der var ligeså umuligt at besvare som et spørgsmål, om han var ›kommunist‹ eller ›cyklist‹. 25 Aber weder in Andersens Jugend in den 1830ern noch zu Beginn der 1860er Jahre, als er zusammen mit Jonas Collin reiste, existierte die homosexuelle Geschlechterrolle mit all ihren gesellschaftlichen Konsequenzen, ihrem Selbstverständnis und ihrer Identität. Deshalb konnte auch kein ›Verdacht‹ bestehen, dass Andersen zu 23 Heinrich Detering. Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis Thomas Mann. Göttingen 2000. 24 Vgl. von Rosen: Månens kulør (Anm. 11). 25 Ebd. S. 627. Busenfreunde und Frauenleichen 189 dieser kriminellen und marginalisierten ›Menschenklasse‹ mit ihrer Subkultur, ihren Treffpunkten und ihrem besonderen ästhetischen, femininen, selbstmörderischen und landflüchtigen Lebensstil gehöre. Ob Andersen ›homosexuell‹ war, ist eine Frage, die ebenso unmöglich zu beantworten ist wie eine Frage, ob er ›Kommunist‹ oder ›Fahrradfahrer‹ gewesen sei. 9. Homophobie in Dänemark 2000 wird die gut geschriebene und lesenswerte Andersen-Biografie Hans Christian Andersen. The Life of a Storyteller der englischen Journalistin Jackie Wullschlager veröffentlicht, eine nüchterne und undramatische Darstellung in der englischen lifeand-work-Tradition. 26 Wullschlager stellt brillante Beobachtungen des häufigen Dreiecksmusters in Andersens Liebesbiografie an, wo die Liebe zu Frauen oft einen Mann involviert oder von ihm ausgelöst wird. Sie stellt auch kurz die Frage nach Andersens möglicher Homosexualität, die sie jedoch als Anachronismus in Bezug auf Andersen und seine Zeit betrachtet. Groß muss ihre Verblüffung gewesen sein, als sie nach Veröffentlichung der dänischen Übersetzung vom dänischen Fernsehen angerufen wird, das in den Hauptnachrichten den Skandal lanciert, dass eine neue englische Biografie behauptet, Andersen sei homosexuell gewesen. In einem Anfall journalistischer Pädophilie wird ein Bericht aus einem dänischen Kindergarten gebracht, wo ein etwa fünfjähriges Mädchen nach seiner Meinung dazu gefragt wird, was es für ihr Verständnis von Andersens Märchen bedeute, dass der Dichter ›schwul‹ gewesen sei. In schönem andersenschen Sinn antwortet sie indessen ziemlich entwaffnend, dass sie das nicht wisse, dass sie aber die Märchen gut finde. Ich möchte behaupten, dass die Journalistin dem Mädchen bewusst naiv diese Aussage einpflanzt, um das Hetero-Dänemark noch einmal darin zu bestätigen, dass Andersens Sexualität selbstverständlich und keinesfalls Konsequenzen für die Wahrnehmung von Andersens Leben und Werk haben kann. Das weiß ja jedes Kind. Das Beispiel ist wieder eine Demonstration machtvoller Unwissenheit, wo bestimmten Phänomenen von vornherein ein Erklärungswert abgesprochen wird. Wir wissen von vornherein, dass sie rein gar nichts bedeuten. Eve Sedgwick parodiert diese Haltung wie folgt: Don’t ask; You shouldn’t know. It didn’t happen; it doesn’t make any difference; it didn’t mean anything; it doesn’t have any interpretive consequences. Stop asking just here; stop asking just now; we know in advance the kind of difference that could be made by the invocation of this difference; it makes no difference; it doesn’t mean. 27 26 Jackie Wullschlager; Hans Christian Andersen. The Life of a Storyteller. Chicago 2000. Eine gute, unhomophobische, deutsche Kurzeinführung in Andersens Leben und Werk liefert Gisela Perlet in Hans Christian Andersen. Frankfurt a.M. 2005. 27 Sedgwick: Epistemology (Anm. 9) S. 53. Dag Heede, Odense 190 10. Andersen und Andersen Hiermit sind wir am Ende unseres sexualdefinitorischen Kriegspfads namens Andersen angelangt. Und das vorläufige Ziel ist ein neuer Andersen, Jens Andersen und seine 2003 erschienene, von der Kritik begeistert aufgenommene Biografie, Andersen. 28 Jens Andersen verdient - auch in meinem Zusammenhang - viel Lob dafür, dass er die Heterosexualisierungsmythologisierungen um H.C. Andersen konsequent durchlöchert. Er entwickelt von Rosens grundlegende Studien am fruchtbarsten weiter und kann als einer der schärfsten Kritiker der Homophobie in der dänischen Andersen-Forschung und -Vermittlung gelten. Weiterhin kann ich nur Jens Andersens Blick für Andersens Blick für stattliche Leutnants, bildschöne Jünglinge, hübsche Mönche und wohlgeformte Militärs in körperbetonten Uniformen bewundern. Er hat ein gutes straight eye for the queer guy. 11. Die tote Mutter Aber lassen wir uns nun den Blick von der anachronistischen Homophobie der dänischen Andersen-Forschung wenden, und uns stattdessen mit fröhlicheren Themen beschäftigen: Misogynie und toten Frauen. Diese Themen verlangen deutlich tiefgründigere Analysen, aber leider finden sich weder feministische noch postfeministische Lektüren von Andersens Werk. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man die intensive Misogynie, also den Frauenhass bedenkt, der so viele der Texte prägt, die bis heute eine so bedeutende Rolle in der Sozialisation von Millionen (oder Milliarden? ) von kleinen Jungen und Mädchen auf der ganzen Welt spielen. Es ist vielleicht eine etwas zu grobe Formulierung, aber man ist versucht zu behaupten, dass eine gute Frau für Hans Christian Andersen eine tote Frau ist. Frauen haben ein gewisses Recht auf Leben falls sie selbstlose, engelartige und opferbereite Schwestern oder Mütter sind; Zwerginnen oder Nonnen scheinen ebenfalls besonders wünschenswert zu sein. Wenn Frauen irgendeine Form von Sexualität oder vielleicht nur Selbstbewusstsein ausdrücken, sind sie häufig monströs oder animalisch, ihnen werden Glieder abgeschnitten oder sie werden getötet. Man kommt kaum an der Tatsache vorbei, dass der Tod von Frauen in Andersens Werk auf bemerkenswert untragische Weise vor sich geht. Oft lösen diese Todesfälle sogar eine lange Reihe von Problemen, sowohl für den männlichen Protagonisten als auch für den Plot des Texts. Aber fangen wir mit dem Anfang an: die Mutter ist ein guter Ausgangspunkt. Nicht die historische Anne Marie Andersdatter (1767[? ]-1833), die reife Frau, die einen um vieles jüngeren Schuhmacher heiratete und nach dessen Tod einen weiteren viel jüngeren Mann. Abgesehen von ihrer deutlichen Vorliebe für Alkohol 28 Vgl. Andersen: Andersen (Anm. 3) Bd. 1-2. Busenfreunde und Frauenleichen 191 und junge Männer wissen wir nicht viel über sie. Ich bin hier eher an der Konstruktion der Mutter in Andersens Biografien, Briefen und Fiktionen interessiert. Ein überraschendes Element in diesen Autobiografien ist die geringe Rolle, welche die Mutter spielt, nachdem Hans Christian Odense verlassen hat, um als 14-Jähriger nach Kopenhagen zu ziehen. Ich glaube, dass noch unbewusste psychoanalytische Homo-Klischees umhergeistern, wenn die Andersen-Forschung diese ›Mutterbindung‹ beschreibt. Andersen erwähnt selten seine proletarische Mutter, als er in den Familien der Kopenhagener Bourgeoisie beginnt, Erfolg zu haben. Man könnte unterstellen, dass er keinen Platz mehr für seine leibliche Mutter gehabt habe, als er sich eifrig darum bemühte, sich neue Familien - neue Brüder, Schwestern, Väter und Mütter (nicht zuletzt in der Familie Collin) - zu konstruieren. Wer braucht eine alte Entenmutter, wenn man gerade als junger Schwan aufblüht? Als die Mutter 1833 stirbt, weilt der Sohn in Rom und ist sehr niedergeschlagen über die negativen Reaktionen auf sein Drama Agnete og Havmanden. Er beschreibt in den Biografien, dass seine Reisekameraden und gute Menschen in Rom plötzlich viel netter zu ihm gewesen seien, nun da er mutterlos war. Andersen hatte sein ganzes Leben hindurch eine eminente Begabung dafür, das Beste aus einer schlechten Situation zu machen. In Mit Livs Eventyr (1855; Meines Lebens Märchen) beschließt Andersen, die Beschreibung der Nachricht vom Tod seiner Mutter mit einem langen Briefzitat der mütterlichen Bourgeoisie-Freundin Signe Læssøe, die ihm versichert, dass er entgegen seiner Behauptungen nun nicht ungeliebt sein müsse. Sie hat Andersen als Sohn aufgenommen. Frau Læssøe war nur eine in einer ganzen Reihe bürgerlicher Frauen, die als Muttersubstitute für den bedürftigen Andersen dienten, der auch in seinem Erwachsenenleben eine herausragende Gabe dafür besaß, sich Reservemütter zu besorgen. 12. Ein soziales Trampolin Wenn der Tod der Mutter in Mit Livs Eventyr eine Lücke hinterlässt, die schnell von sozial höher stehenden Frauen geschlossen wird, dient die tote Mutter im Roman Improvisatoren (1835; Der Improvisator), den Andersen nach seiner ersten Italienreise schrieb, in einem noch höheren Grad als soziales Trampolin für die junge, Andersen ähnliche Hauptfigur, Antonio, ein sensibler römischer Jüngling, der nach oben will und künstlerische Neigungen besitzt. Als Junge sagt ihm eine Zigeunerfrau eine glänzende Zukunft voraus, und seine zweifelnde Mutter fragt, ob sie wohl auch einen Platz im Wagen auf dem Weg zum Glück haben werde. Schon am nächsten Tag wird sie genau von diesem Wagen überrollt, als ein römischer Adliger aus der Familie Borghese die Kontrolle über seine Pferde verliert. Wieder wird dies nicht als ein besonders trauriges Ereignis geschildert, vor allen Dingen nicht für den nun mutterlosen Jungen, der hierdurch seinen wichtigsten Mäzen gefunden hat. Die Mutter wird buchstäblich geopfert. Ihre Leiche ist das Trampolin, von dem der junge Mann den Absprung und seinen sozialen Aufstieg schafft. Dag Heede, Odense 192 In O.T. (1836) löst der Tod der Mutter wiederum eine Reihe von Problemen. Der düstere Otto ist das Resultat der Begegnung des unartigen Sohns eines Obersts mit einem selbstlosen Dienstmädchen. Ottos Vater stiehlt von seinem Vater, während das Mädchen die Schuld auf sich nimmt und im Zuchthaus in Odense endet, wo sie mit Otto und seiner Zwillingsschwester Eva niederkommt. Nach einigen Jahren wird Otto vom Großvater adoptiert und ihm wird eine bürgerliche Erziehung zuteil, aber er leidet unter dem Gedanken an seine Schwester, die vielleicht eine animalische Proletarierin geworden ist. Zumindest war die Mutter so anständig zu sterben, so dass Ottos zweifelhafte Herkunft nur in Form der geheimnisvollen Tätowierung ›O.T.‹ - wenn man so will als eine Art symbolisches Mutter-Mal - in seinen Körper eingeschrieben ist. Was geschieht, wenn die Mutter nicht stirbt, zeigt Andersens vierter Roman Kun en Spillemand (1837; Nur ein Spielmann) auf unheimliche Art und Weise. Der Roman ist unter anderem ein Gedankenexperiment dessen, was alles schief laufen kann, wenn ein armer, begabter fünischer Jüngling versucht, in der Hauptstadt als Künstler anerkannt zu werden. Der musikalische Christian steht tatsächlich kurz vor dem Durchbruch, als seine kranke, verarmte und dazu auch noch gerade verwitwete Mutter überraschend, ja geradezu schockartig, in Kopenhagen angestiefelt kommt. Damit ist Christians Verderben besiegelt. Und obschon krank, will sie nicht mal sterben. Der Text formuliert ziemlich unfromm: »Men Døden har Luner som Lykken, den kommer ikke, hvor man haaber dens Komme.« 29 Während die tote Mutter einen karrieremäßigen Dynamo für den aufstrebenden Jüngling darstellt, ist die lebende Mutter ein Bremsklotz, der hier dafür sorgt, dass aus Christian nie ein Hans Christian wird, nie ein weltberühmter Künstler, sondern Nur ein Spielmann. 13. Das Substitut Bis hierher sind wir wenigstens schon einige Frauen losgeworden. Aber bekanntlich gibt es auf dieser Welt noch andere Frauen als Mütter und Schwestern. Und diese stellen oft ein noch größeres Problem dar. Lassen Sie uns Riborg Voigt anschauen, nicht so sehr die konkrete Kaufmannstochter aus Fåborg, die Andersen 1830 verehrte, sondern die ›Riborg Voigt‹, die er in Briefen und Autobiografien als seine erste große unglückliche Liebe konstruiert. Zwei Umstände machen diese Romanze zu einer typischen Andersenaffäre: ihre heimliche Verlobung mit einem anderen, sowie ihr Bruder, Christian Voigt, Andersens zärtlicher Freund. Über ihn schreibt Andersen ein Jahr später im Mai 1831 in einem Brief, dass er sich von ihm am meisten angezogen fühle, ja, dass es sei, als ob ihn Christian verhext habe. 30 29 »Aber der Tod ist launisch wie das Glück, er kommt nicht, wenn man auf sein Kommen hofft.« Zitiert nach Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand. Hg. von Mogens Brøndsted. Kopenhagen 1988, S. 75. 30 Vgl. Andersen: Andersen (Anm. 3) Bd. 1, S. 233. Busenfreunde und Frauenleichen 193 Nachdem sich Andersen in Riborg verliebt hat, vertraut er sich sofort dem Bruder an. Er vermag es nicht, Riborg persönlich um ihre Hand zu bitten, da er auf dem Weg zu ihr einen Angstanfall bekommt, und am nächsten Tag verschläft … Allerdings wird ihm eine Menge Mitgefühl zuteil, insbesondere von Christian. Triumphierend kann er seinem väterlichen Freund Ingemann mitteilen: »Hendes Broder har jeg vundet, han veed Alt, og føler og lider med os, han holder saa inderlig af os begge to«. 31 Dennoch gelingt es Andersen, Riborg einen höchst eigenartigen Heiratsantrag zu schicken, den er zurück bekommt und den er in seine erste Autobiografie aufnimmt, so dass für alle - auch für ihn selbst - ein für alle Mal dokumentiert ist, dass er sich tatsächlich einmal im Leben als potenzieller Ehemann versucht hat. Der äußerst unambitionierte Heiratsantrag, der zum Großteil von Riborgs heimlichem Verlobten zu handeln scheint, hat indessen vielleicht eher den Charakter eines ›Freibriefs‹, damit sich der junge Mann nun seiner Kunst widmen kann, vor dem Hintergrund der Liebe zu dem Mädchen, das er nie bekommen konnte. Wir kennen das Klischee. Unterdessen brachte die verneinende Antwort auch andere Vorteile mit sich. Riborg erlegt es ihrem Bruder auf, sich besonders liebevoll um den verschmähten Bewerber zu kümmern. Und dieser Ersatz wird in Andersens Levnedsbogen (Lebensbuch) als vollkommen befriedigend dargestellt: »O i alt dette saae og følte jeg hendes Kjærlighed«. 32 14. Zwischen Männern »Saa huggede Soldaten Hovedet af hende. Der laae hun! « 33 Aus der Riborg-Romanze schuf Andersen Poesie. Seine erste Gedichtsammlung Phantasier og Skizzer (1831; Phantasien und Skizzen) wurde ihm selbst zufolge vor diesem Hintergrund geschrieben. Besonders ein Gedicht Livet en Drøm (1831; Das Leben ein Traum) sei, behauptet er in Mit Livs Eventyr, 34 auf die Begegnung mit Christian und Riborg Voigt hin geschrieben. Aber hier hat die Geschichte eine interessante Wendung genommen. Der Dichter ruft den Busenfreund für seine Treue in Lust und Schmerz an: Dit aabne Blik, Dit barnlig’ rene Hjerte, Og hun - vor Søster - bandt mig fast til Dig; 31 »Ihren Bruder habe ich gewonnen, er weiß alles und fühlt und leidet mit uns, er mag uns beide so herzlich gern.« Andersens Brief an Bernhard Severin Ingemann vom Mai 1831 zitiert nach ebd. 32 »Und in alledem sah und fühlte ich ihre Liebe.« Zitiert nach H.C. Andersen: Erindringer. Levnedsbogen. Hg. von Jens Jørgensen. Kopenhagen 1994, S. 130. 33 »Da schlug der Soldat ihr den Kopf ab. Da lag sie! « Aus Fyrtøiet (1835; Das Feuerzeug) zitiert nach H.C. Andersens samlede værker (Anm. 16) Bd. 1. Eyventyr og Historier I. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2003, S. 81. 34 Siehe H.C. Andersen: Mit Livs Eventyr. Hg. von Jonas Collin. Kopenhagen 1908, S. 101f. Dag Heede, Odense 194 Nu er hun død - jeg saae Din stille Smerte, Imens Din Læbe vilde trøste mig. - - - O Broder, Livets bedste Bobler briste, O lad mig ei Dit stærke Venskab miste! 35 Dein offener Blick, Dein kindlich reines Herz, Und sie - unsere Schwester - band mich fest an Dich; Nun ist sie tot - ich sah Deinen stillen Schmerz, Während Deine Lippe mich trösten wollte. - - - Oh Bruder, die besten Blasen des Lebens platzen Oh lasse mich Deine tiefe Freundschaft nie verlieren! Wie man bemerkt, wird Riborgs Heirat hier durch ihren Tod ersetzt. Aber die tote Frau dient als Brücke, die den Dichter auf ewig mit seinem zärtlichen Freund vereinigt - vielleicht im Gegensatz zur platzenden Seifenblase der zweigeschlechtlichen Paarbeziehung. Die weibliche Leiche funktioniert fast wie ein symbolischer Ehering in der Vereinigung der Busenfreunde - vielleicht ähnlich wie die lebende Jungfrau, die zwei Männerfreunde in Venskabs-Pagten vermählt. In Andersens Werk haben Frauen oft genau diese Funktion. Eine Zeit lang dienen sie als Brücken, die Verhältnisse zwischen Männern bis zu einem gewissen Punkt verbinden, verkörpern und verstärken, bis sie eher ein Hindernis darstellen und sterben müssen. Man ist verführt, Andersens Biografie kurzzuschließen und zu spekulieren, ob nicht alle Frauen, die in seinem Leben zwischen ihn und seine Busenfreunde gerieten, in der Fiktion in eine andere Welt hinüber verfrachtet wurden. Liebe Leser! Vielleicht folgen Sie meiner heiter-paranoiden Rhetorik schon längst nicht mehr und sitzen nun da und lesen meine Interpretation als ein weiteres groteskes Beispiel dafür, dass der queer theory nichts heilig ist und selbst große Literatur und große Männer pervertiert werden. Aber bleiben Sie noch kurz dabei und lesen Sie zumindest noch ein Zitat aus Andersens erster Autobiografie Lebensbuch über die Begegnung des blutjungen Dichters mit dem romantischen Ideal seiner Zeit, dem schönen, reifen Adam Oehlenschläger: De fleste Desciple i øverste Klasse, havde alle flere Gange været forelsket; det faldt mig nu ind, at det ogsaa var paa Tiden jeg blev det. Jeg sværmede for Øehlenschlæger, og dette Sværmerie meente jeg ogsaa maatte gaae over til Datteren. - Jeg fandt det poetisk at elske hans Datter og besluttede mig til det. - Jeg stirrede paa hende, jeg vilde saa gjerne blive forelsket, men jeg kunde ikke; dog mærkede man mine Blik og sagde: ›han elsker Lotte‹; nu troede jeg det selv, skjøndt jeg godt husker, at jeg undrede mig over at man saadan kunde blive forelsket naar man selv vilde! - (Jeg var et Barn, der var ikke Idee om sand Kjærlighed)! - Nu vel! jeg elskede Lotte men meente egentligt hendes Fader. 36 35 Livet er en Drøm zitiert nach H.C. Andersens samlede værker (Anm. 16) Bd. 8. Digte II. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2005, S. 277. 36 Andersen: Levnedsbogen (Anm. 32) S. 81f. Busenfreunde und Frauenleichen 195 Die meisten Schüler der obersten Klasse waren alle schon einige Male verliebt gewesen; es kam mir nun in den Sinn, dass es an der Zeit sei, mich auch zu verlieben. Ich schwärmte für Oehlenschläger, und ich meinte, dass diese Schwärmerei auch auf seine Tochter übergehen könnte. - Ich fand es poetisch, seine Tochter zu lieben, und beschloss, es zu tun. - Ich starrte sie an, ich wollte mich so gerne verlieben, aber konnte es nicht; jedoch bemerkte man meinen Blick und sagte: ›er liebt Lotte‹; jetzt glaubte ich es selbst, obwohl ich mich gut erinnern kann, dass ich mich wunderte, dass man sich einfach verlieben konnte wenn man es nur selbst wollte! - (Ich war ein Kind, es konnte keine Rede von wahrer Liebe sein)! - Naja! Ich liebte Lotte, aber meinte eigentlich ihren Vater. 15. Schluss: die Märchen Ein schräger (›queerer‹), seltsamer oder perverser Blick auf Andersens Werk kann nicht nur neues Licht auf die Misogynie, die männlich homosoziale Begehrenslogik und die komplexen Liebes- und Rivalitätsdreiecksverhältnisse in den Romanen werfen, sondern auch das Handwerkszeug für neue Interpretationen der Märchen liefern. 37 Ein schräger Blick auf Andersen sollte sich nicht damit begnügen, ein Märchen wie Den lille Havfrue (1837; Die kleine Meerjungfrau) biografisch als homosexuelle Allegorie und künstlerische Reaktion auf H.C. Andersens Verlust Edvard Collins zu lesen, als jener 1836 heiratete. Unter anderen Wilhelm von Rosen und Heinrich Detering haben solche Lektüren bereits mit gutem Ergebnis durchgeführt. Ich möchte Sie stattdessen dazu einladen, diesen suggestiven und reichhaltigen Text, der wohl letztendlich Bedeutungspotenziale und Deutungsmöglichkeiten in Bezug auf fast jede Form von Transgression zulässt, auch als transsexuelle Fantasie zu lesen, als ein fantasmatisches Ausprobieren einer Geschlechtsumwandlung, mithilfe derer es vielleicht gelingen kann, den ›Prinzen‹ zu kapern. Die nationale Ikone der Touristindustrie, die auf dem Stein auf Langelinje in Kopenhagen Touristen mit dickem Geldbeutel ins Land lockt, ist vielleicht nicht nur ein tragisches weibliches Monster oder eine autobiografische homosexuelle Allegorie, sondern vielleicht ein präoperativer male-to-female-Transsexueller, der erleben muss, dass, selbst wenn man(n? ) den ›Schwanz‹ abschneidet, der Traumprinz trotz alledem mit einer richtigen, schwanzlosen Prinzessin abhaut. Übrig bleibt allein die Verwandlung in einen Luftgeist. 37 Für solche Lektüren siehe z.B. Dag Heede: Hvem ringer ›Klokken‹ for? En analyse af et H.C. Andersen-eventyr. (Für wen läutet ›Die Glocke‹? Eine Analyse eines Andersen-Märchens). In: Aage Jørgensen, Henk van der Liet (Hg.): H.C. Andersen. Modernitet og Modernisme. Amsterdam 2006, S. 107-126. Dag Heede, Odense 196 Literatur Primärliteratur H.C. Andersens samlede værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Bd. 1-3. Eventyr og historier I-III. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2003. H.C. Andersens samlede værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Bd. 8. Digte II. Hg. von Laurids Kristian Fahl u.a. Kopenhagen 2005. H.C. Andersen: Improvisatoren. Hg. von Mogens Brøndsted. Kopenhagen 1995. H.C. Andersen: Kun en Spillemand. Hg. von Mogens Brøndsted. Kopenhagen 1988. H.C. Andersen: Erindringer. Levnedsbogen. Hg. von Jens Jørgensen. Kopenhagen 1994. H.C. Andersen: Mit Livs Eventyr. Hg. von Jonas Collin. Kopenhagen 1908. H.C. Andersen: O.T. Hg. von Mogens Brøndsted. Kopenhagen 1987. H.C. Andersen: Romerske Dagbøger. Hg. von Paul V. Rubow, H. Topsøe-Jensen. Kopenhagen 1947. Mein edler, theurer Grossherzog! Briefwechsel zwischen Hans Christian Andersen und Grossherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach. Hg. von Iyv und Ernst Möller-Christensen. Göttingen 1998. Sekundärliteratur Andersen, Jens: Andersen. Bd. 1-2. Kopenhagen 2004. Bech, Henning: When Men Meet. Cambridge 1997. Brix, Hans: H.C. Andersen og hans Eventyr. Kopenhagen 1907. Collin, Edvard: H.C. Andersen og det Collinske Hus. Kopenhagen 1877. Detering, Heinrich: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis Thomas Mann. Göttingen 1994. Foucault, Michel: La volonté de savoir. Histoire de la sexualité. Paris 1976. Hansen [Fahlberg], [Carl] Albert: H.C. Andersen. Beweis seiner Homosexualität. In: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 3 (1901), S. 203-230. Heede, Dag: Hvem ringer ›Klokken‹ for? En analyse af et H.C. Andersen-eventyr. In: Aage Jørgensen, Henk van der Liet (Hg): H.C. Andersen. Modernitet og Modernisme. Amsterdam 2006, S. 107-126. Heede, Dag: H.C. Andersen som heteroseksuel. Historien om en konstruktion. In: Lambda nordica 11 (2006: 1), S. 60-75. Heede, Dag: Hjertebrødre. Krigen om H.C. Andersens seksualitet. Odense 2005. Helweg, Hjalmar: H.C. Andersen. En psykiatrisk studie [1927]. Kopenhagen 1984. Hjørnager Pedersen, Viggo: Ugly Ducklings? Studies in the English translationas of Hans Christian Andersen’s tales and stories. Odense 2004. Mortensen, Klaus P.: Svanen og skyggen. Historien om den unge Andersen. Kopenhagen 1989. Sedgwick, Eve Kosofsky: Epistemology of the closet [1990]. Berkeley 1994. Perlet, Gisela: Hans Christian Andersen. Frankfurt a.M. 2005. von Rosen, Wilhelm: Månens kulør. Kopenhagen 1993. Wullschlager, Jackie: Hans Christian Andersen. The Life of a Storyteller. Chicago 2000. VI. Plurale Ästhetik Die umseitige Abbildung zeigt eine Collage von Hans Christian Andersen und Adolph Drewsen aus Jonas Drewsens Billedbog (1862). Das Bild zeigt, dass sich Andersen nicht nur intensiv mit Prozessen der Verknotung und Verschränkung von divergenten Materialien beschäftigt hat, sondern auch, dass er sich der gattungstheoretischen Implikationen dieser Verschränkung bewusst war (man beachte die groteske Karikatur der haarigen Laookon-Gruppe am oberen Rand der Collage). Das Bilderbuch ist Teil der Jean Hersholt Collection, die an der Library of Congress, Washington aufbewahrt wird. Foto mit freundlicher Genehmigung der Rare Books and Special Collections Devision of the Library of Congress. Genre- und Stimmenvielfalt in den Erzählungen von Hans Christian Andersen J ACOB B ØGGILD , Å RHUS Die meisten Leute auf der Welt sehen H.C. Andersen als Märchenautor für Kinder an, obwohl er sich selbst in erster Linie als Verfasser für ein erwachsenes Publikum verstand. In Dänemark akzeptieren ihn tatsächlich einige Leute als Autor für ein erwachsenes Publikum. Aber je weiter man sich von den Literaturinstitutionen entfernt, desto weniger wahrscheinlich ist es, solche Leute anzutreffen. Und sogar innerhalb der literarischen Institutionen gibt es nur wenige, die wirklich anzuerkennen bereit sind, dass Andersen ein Autor von sehr komplexen und faszinierenden Erzählungen ist. Das Schisma in der Rezeption von Andersens Werk zeigte sich bereits im Porträt, das Georg Brandes, der einflussreichste dänische Literaturkritiker überhaupt, dem Autoren Andersen gewidmet hat. Brandes’ Porträt entstand 1869, also noch zu Lebzeiten Andersens. Darin weist Brandes etliche der raffinierten Aspekte von Andersens Schreiben nach. Man stößt auf enthusiastische Passagen wie die folgende: Æventyrene danner et Hele, et i mangfoldige Radier utstraalende Væv, der synes at sige til Betragteren som Edderkoppen i Aladdin: ›Betragt min svage Spind, hvor Traadene sig flette! ‹ […] [V]il jeg gøre Læseren opmærksom paa at han i et berømt videnskabeligt Værk af Zeising: Aesthetische Forschungen, vil kunne se den hele Række af æstetiske Modsætningsbegreber med alle deres Nuancer (det Skønne, Komiske, Tragiske, Humoristiske, Rørende o.s.v.) ordnede i en stor Stjerne, ganske som Andersen har tænkt sig det for sine Æventyrs Vedkommende. 1 Die Märchen bilden ein Ganzes, ein in vielfältigen Radien ausstrahlendes Gewebe, die dem Betrachter wie die Spinne in Aladdin [ein Drama des dänischen Romantikers Adam Oehlenschläger] zuraunen: ›Betrachte mein schwaches Gewebe, wo sich die Fäden verweben! ‹ [...] Ich würde den Leser gerne auf ein berühmtes wissenschaftliches Werk von Zeising Aesthetische Forschungen aufmerksam machen, in dem er die ganze Serie von ästhetischen Gegensatzbegriffen mit all ihren Nuancen (das Schöne, Komische, Tragische, Humoristische, Rührende, u.s.w.) zu einem großen Stern angeordnet sehen kann, genauso wie es sich Andersen in Bezug auf seine Märchen gedacht hat. (Übersetzung Klaus Müller-Wille) 1 Zitiert nach Georg Brandes: H.C. Andersen som Æventyrdigter (Juli 1869). In: Ders.: Samlede Skrifter. Bd 2. Kopenhagen 1899, S. 91-132, hier S. 123. Jacob Bøggild, Århus 200 Meines Erachtens impliziert diese Passage, dass Brandes Andersen als einen äußerst genialen und komplexen Autor schätzt. Aber dennoch hält er an der Vorstellung fest, dass Andersens Haupteigenschaft als Verfasser und Person »Kindlichkeit« (»Barnlighed«) ist und bejubelt ihn als »den Poeten der Naivität und Natur«. 2 Dieses Schisma - so könnte man behaupten - hat die nachfolgende Andersen-Forschung von Brandes geerbt. Ich möchte in diesem Aufsatz dagegen zeigen, wie genial und komplex Andersen als Autor arbeitet. Dabei werde ich mich, wie im Titel signalisiert, auf die Multiplizität der Genres und Stimmen konzentrieren, mit der Andersen in seinen Märchen arbeitet. 1. Genrevielfalt Von einem ›kindlichen‹ und ›naiven‹ Autor würde man natürlich erwarten, dass er ›simple‹ oder schlicht gattungskonforme Märchen schreibt, denn das Volksmärchen könnte gut als das einfachste oder grundlegendste von allen narrativen Genres bezeichnet werden. Folglich basieren grundlegende narratologische Modelle, wie das bekannte Aktantenmodell des französischen Strukturalisten Greimas, auf der formalistischen Erforschung von Volksmärchen, insbesondere auf dem Werk von Vladimir Propp. Propp ermittelte bekanntlich eine Reihe von Charakteristika oder Konstanten, die allen Russischen Volksmärchen gemeinsam waren. 3 Diese Charakteristika oder Konstanten waren dynamischer Natur, sie hatten alle mit Handlung und Plot zu tun. Deshalb entwickelte Propp die These, dass die Charaktere eines Volksmärchens weniger als Personen oder Persönlichkeiten fungieren denn als bloße Agenten der Handlung oder des Plots. Handlung und Plot sind dabei fast immer durch einen anfänglichen Zustand des Wollens oder einen Mangel motiviert. Der Protagonist verlässt sein Heim, um diesem Wollen oder Mangel beizukommen. Mit anderen Worten: Wollen und Mangel kommen schlicht in der Tatsache zum Ausdruck, dass der Protagonist nicht zu Hause bleiben kann, sondern in die weite Welt hinausgehen muss, um sich ein neues Heim zu suchen. Wie auch immer, der Protagonist zieht aus auf eine Quest (eine Heldenreise, eine Suche). Auf seinem Weg erhält er von den einen Unterstützung, während andere Schurken sind oder Hindernisse darstellen, die er überwinden muss. Wenn er überwunden hat, was zu überwinden war, wird er mit einem Preis beschenkt, eine neue Sicherheit in der Form - oder sogar in der Formel - von ›der Prinzessin und dem halben Königreich‹. Wie erwähnt, wurden diese Konstanten oder Charakteristika - der Helfer und der Widersacher, der Sender und der Empfänger, das begehrende Subjekt und das begehrte Objekt - von Greimas in einem Aktantenmodell angeordnet. 4 Es handelt sich um ein Modell, das gemäß Greimas nicht nur die Struktur des Volksmärchens generiert, sondern die Struktur des Narrativen an sich (und es 2 Ebd. S. 115 und S. 131. 3 Vgl. Vladimir Propp: Morphologie des Märchens. München 1972. 4 Vgl. Algirdas J. Greimas: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Braunschweig 1971. Genre- und Stimmenvielfalt in den Erzählungen von Hans Christian Andersen 201 gibt viele Geschichten oder Filme, die diese Sicht bestätigen). Somit erscheint die These, dass es sich beim Volksmärchen um ein sehr einfaches und basales Genre handelt, durchaus stichhaltig. Kehren wir zum Ausgang dieses narratologischen Exkurses zurück: In Übereinstimmung mit der konventionellen Vorstellung von Andersens Natur müsste man erwarten, dass sich seine Märchen sehr stark an der Tradition des Volksmärchens orientieren, obwohl es sich um Kunstmärchen handelt. Ein kurzer Blick auf eines von Andersen allerersten Märchen, Fyrtøjet (1835; Das Feuerzeug), zeigt, dass dies kaum der Fall ist. Die Erzählung beginnt folgendermaßen: Der kom en Soldat marcherende henad Landeveien: een, to! een, to! han havde sit Tornister paa Ryggen og en Sabel ved Siden, for han havde været i Krigen, og nu skulde han hjem. (EoH I, 79) 5 Ein Soldat kam auf der Landstrasse dahermarschiert: Eins, zwei! Eins, zwei! er hatte seinen Tornister auf dem Rücken und einen Säbel an der Seite, denn er war im Krieg gewesen, und nun wollte er nach Hause. (SM I, 5) 6 Der Soldat ist natürlich unser Protagonist. Aber zu Beginn der Geschichte befindet er sich nicht unbedingt auf einer Heldenreise. Falls er tatsächlich etwas wünscht oder vermisst, so erfahren wir nichts davon. Und so bricht er auch nicht in der üblichen Richtung von der Heimat aus in die ungewisse Fremde auf, sondern befindet sich auf dem Heimweg. 7 Zufälligerweise stößt er auf eine Hexe, die ihn darum bittet, ein Feuerzeug für sie zu beschaffen und die ihm einen guten Lohn für seine Mühen verspricht. Das Feuerzeug ist der magische Agent (ein weiterer Terminus von Propp) dieser Erzählung und die Hexe ist folglich die Helferin, die den Protagonisten in dieser Angelegenheit unterstützt. Aber im weiteren Verlauf wird er diese Helferin ausrauben und sogar töten. In konventionellen Märchen muss der Protagonist oft beweisen, dass er gut genug ist, um zu verdienen, was er begehrt. Mit Propps Worten ist dies der qualifizierende Test, der Eignungstest. Und wie zeichnet sich der Held in Andersens Erzählung aus? Indem er zum Dieb und Mörder wird! Und später wird er die Prinzessin entführen und ihr Küsse rauben, während sie schläft. Der Höhepunkt der Geschichte besteht darin, dass er den König, der normalerweise die Funktion des Senders erfüllt, wie die Königin samt deren Leibwächter von den gigantischen Hunden umbringen lässt, die er durch das Feuerzeug kontrol- 5 Zitiert nach H.C. Andersens samlede værker. Hrsg. von Klaus P. Mortensen. Bd. 1-3. Eventyr og Historier I-III. Hg. von Laurids Kristian Fahl. Kopenhagen 2003. Hier und im Folgenden zitiert als EoH. 6 Die deutsche Übersetzung folgt Hans Christian Andersen: Sämtliche Märchen in zwei Bänden. Hg. von Erling Nielsen. Übersetzt von Thyra Dorenburg. Darmstadt 1974. Hier und im Folgenden zitiert als SM. 7 Es gibt verschiedene Versionen von Märchen, die auf der Geschichte eines Soldaten aufbauen, der auf dem Heimweg vom Krieg auf eine Hexe trifft. Andersen hat Fyrtøjet womöglich im Rückgriff auf eine solche Vorlage geschrieben. Falls dies der Fall ist, können wir schließen, dass er eine ziemlich untypische Art von Volkserzählung als Ausgangspunkt für die erste Erzählung seiner Märchensammlung wählte. Jacob Bøggild, Århus 202 liert! Das Herrscherpaar muss aus dem Weg geschafft werden, damit er die Prinzessin heiraten kann. Die Konstanten aus dem Volksmärchen werden von Andersen also durchaus verwendet, aber er gebraucht sie in Fyrtøjet, indem er sie ironisch verdreht. Kinder können das akzeptieren, weil eine Hexe per Definition ›böse‹ ist und es deshalb durchaus in Ordnung ist, sie zu bestehlen und umzubringen. Auch der Mord an dem Königspaar und dessen Leibwächtern wird durch eine Erzählfinte legitimiert, indem sie so beschrieben werden, als ob es sich um Spielfiguren handelte: […] og saa foer Hundene ind paa Dommerne og hele Raadet, tog en ved Benene og en ved Næsen og kastede dem mange Favne op i Veiret, saa de faldt ned og sloges reent i Stykker. ›Jeg vil ikke! ‹ sagde Kongen, men den største Hund tog baade ham og Dronningen, og kastede dem bagefter alle de Andre. (EoH I, 84) […] und da gingen die Hunde auf die Richter und den ganzen Rat los, nahmen einen bei den Beinen und einen bei der Nase und warfen sie viele Klafter hoch in die Luft, so dass sie herunterfielen und sich ganz zuschanden schlugen. ›Ich will nicht! ‹ sagte der König, aber der größte Hund nahm ihn wie auch die Königin und warf sie hinter all den anderen drein. (SM I, 12-13) Auch ein anderes Märchen Andersens kulminiert in einer eklatanten Verdrehung des ethischen Appells, der dem Volksmärchen eigen ist. Dabei ist Skyggen (1847; Der Schatten) im Gegensatz zu Fyrtøjet aber nicht im Geringsten für Kinder geeignet. Wir erfahren von einem gelehrten Mann aus dem Norden, der in den Süden gereist ist. Er erträgt die Hitze kaum, bleibt den ganzen Tag in der Wohnung und schreibt über das Gute, das Wahre und das Schöne, obwohl sich niemand auch nur im Entferntesten für das interessiert, was er schreibt. Dieser gelehrte Mann entpuppt sich zunächst als Protagonist der Handlung. Allerdings macht er sich nicht selbst auf die Suche, als er schöne Musik aus dem Haus gegenüber hört und einen Blick von der schönen Dame dort erhascht. Stattdessen schickt er seinen Schatten auf die Mission zu dem erwähnten Haus. Bei der Beschreibung, wie sich der Schatten loslöst, handelt es sich um ein Meisterstück Andersens: [...] den Fremmede reiste sig og hans Skygge ovre paa Gjenboens Altan reiste sig ogsaa; og den Fremmende dreiede sig og Skyggen dreiede sig ogsaa; ja dersom Nogen ordentligt havde lagt Mærke dertil, da havde de tydeligt kunnet see, at Skyggen gik ind af den halvaabne Altandør hos Gjenboen, lige i det den Fremmede gik ind i sin Stue og lod det lange Gardin falde ned efter sig. (EoH I, 413) [...] der Fremde stand auf, und sein Schatten auf dem Balkon gegenüber stand auch auf; und der Fremde drehte sich um, und der Schatten drehte sich auch um; ja, falls jemand so richtig darauf geachtet hätte, dann hätte er deutlich sehen können, wie der Schatten durch die halb geöffnete Balkontür des Nachbarn ging, gerade als der Fremde in seine Stube ging und den langen Vorhang hinter sich zufallen ließ. (SM I, 447f.) Genre- und Stimmenvielfalt in den Erzählungen von Hans Christian Andersen 203 Der Schatten kehrt nicht zurück, was den gelehrten Mann sehr verärgert. Da die Dinge in einem heißen Klima jedoch schnell wachsen, wächst ihm in nur ein paar Wochen ein neuer Schatten. Bald darauf kehrt er zurück in den Norden. Zu seiner großen Überraschung besucht ihn sein alter Schatten eines Tages. Dieser ist sehr wohlhabend geworden und zwar - wie der Leser versteht - durch kleinere Erpressereien. Der gelehrte Mann dagegen schöpft keinen Verdacht. Schrittweise kippt die Machtbalance zu Gunsten des Schattens. Schließlich kann er den Gelehrten als seinen Schatten anstellen, etwas, das er aus Gründen, die der internen Logik der Geschichte folgen, nun will. Der Schatten ist nun der (durch einen Mangel und ein Wollen ausgezeichnete) Protagonist, nicht der gelehrte Mann. Sie fahren gemeinsam an einen Kurort, wo der Schatten »die Tochter eines Königs« (EoH I, 418) umgarnt, mit anderen Worten eine Prinzessin. Er überzeugt sie von seiner Brillanz, indem der Gelehrte - augenscheinlich sein Schatten - alle Fragen beantwortet, welche die Prinzessin stellen kann. Wer einen so klugen Schatten hat, muss selbst noch viel klüger sein, überlegt die Prinzessin und ist einverstanden, den Schatten zu heiraten. Leider viel zu spät versucht der gelehrte Mann gegen diese Wendung der Geschichte zu rebellieren. Deshalb lässt ihn der Schatten kurzerhand umbringen. Er heiratet die Prinzessin und danach tritt das glückliche Paar auf den Balkon, um sich von den Leuten bejubeln zu lassen. Dies sind die lakonischen letzten Worte der Erzählung: »Den lærde Mand hørte ikke noget til Alt det, for ham havde de taget Livet af. - « 8 (EoH I, 421). Ein weiteres Mal ist der Bösewicht der Held, der die Prinzessin heiratet. Das Märchen mit dem stärksten Quest-Motiv ist vielleicht Sneedronningen (1845, Die Schneekönigin). Auf den ersten Blick handelt es sich um eine typische Märchen- Handlung. Die Geschichte handelt von den zwei Kindern und Seelenverwandten, Gerda und Kay. Zu Beginn teilen sie eine glückliche Kindheit ohne jegliche Sorgen. Aber dann wird Kay von Teilen eines zersplitterten dämonischen Spiegels getroffen und verliert seine kindliche Unschuld. Deshalb folgt er der Schneekönigin willig zu ihrem Schloss in den hohen Norden. Niemand weiß, was mit ihm geschehen ist, aber dennoch zieht Gerda von zu Hause los, um ihn zu finden. Nach einer langen und umständlichen Suche (Quest) findet sie ihn schließlich im Schloss der Schneekönigin und es gelingt ihr, die Splitter zum Schmelzen zu bringen. Danach kehren sie heim. Jetzt sind sie Erwachsene, aber immer noch unschuldig, immer noch Kinder in ihren Herzen. Die anfängliche Stabilität und Harmonie ist also auf eine sehr traditionelle Weise wiederhergestellt. Trotzdem scheint etwas nicht ganz zu stimmen. So wie wir sie verstehen, handeln traditionelle Volksmärchen von dem Versuch der Helden, aufzuwachsen, sich zu emanzipieren und sich ein neues Heim zu schaffen, das heißt, sie handeln vom schmerzhaften, aber nötigen Abschied von der gesicherten Kindheit. Kay und Gerda jedoch kehren ins gleiche Heim zurück, das sie am Anfang verlassen haben. 8 »Der gelehrte Mann hörte nichts von alledem, denn man hatte ihn umgebracht.« (SM I, 447f.). Jacob Bøggild, Århus 204 Wir haben es narratologisch gesehen wieder mit etwas sehr Grundlegendem zu tun. In Reading for the plot, möglicherweise dem einflussreichsten narratologischen Werk der letzten Jahrzehnte, zeigt Peter Brooks, dass es eine spezielle Beziehung zwischen dem Anfang und dem Ende einer Erzählung gibt. 9 Das Ende muss in einem gewissen Sinn eine Rückkehr zum oder eine Wiederholung des Anfangs sein, aber es muss sich dennoch davon unterscheiden. ›The same, but different‹ ist Peter Brooks Formel für diese Beziehung. Aber in Sneedronningen ist das Ende dem Anfang zu ähnlich, eher ›the same, but the same‹ als ›the same, but different‹. Diese Tatsache könnte man auf viele Arten interpretieren, aber das ist hier nicht mein Ziel. Es ist mir in diesem Zusammenhang nur daran gelegen, darauf aufmerksam zu machen, dass die Frage nach dem Genre bei Andersens Märchen viel komplexer und komplizierter ist, als es auf den ersten Blick erscheint. Je mehr man sich mit Sneedronningen beschäftigt, desto komplexer und komplizierter wird die Frage nach dem Genre. Die Erzählung scheint tatsächlich einer Reihe von verschiedenen Genres gleichzeitig anzugehören. Der Untertitel lautet Et Eventyr i syv Historier (Ein Märchen in sieben Geschichten). Dies wirft sofort die Frage nach dem Unterschied zwischen einem ›Märchen‹ (dän. ›eventyr‹) und einer ›Geschichte‹ (dän. ›historie‹) auf. Leider ist diese Frage leichter zu stellen als zu beantworten und ich will hier nicht weiter darauf eingehen, sondern nur auf die Tatsache hinweisen, dass das Märchen, wie der dämonische Spiegel, fragmentiert oder zersplittert scheint. Der Mangel an Einheitlichkeit und Kohärenz wird an einem spezifischen Punkt der Geschichte besonders deutlich. Die erste Station auf Gerdas Erlebnisreise und Suche ist der Garten einer freundlichen Hexe. Die Hexe mag Gerda und möchte, dass sie bleibt. Deshalb verzaubert sie Gerda, damit diese Kay und ihre Mission, ihn zu finden, vergisst. An einem gewissen Punkt aber erinnert sie sich trotzdem daran und fragt deshalb alle Blumen des Gartens, ob sie wüssten, wo Kay sei. Aber alles was diese liefern können, ist etwas, das im Text »ein Lied« (»[en] Vise«; EoH I, 314) genannt wird, was aber eher ein kleines Prosagedicht oder eine Genreszene oder ein Konversationsstück ist. Jede Blume kann ein solches Stück liefern, das für sie spezifisch und mit der Symbolik verbunden ist, die man mit der entsprechenden Pflanze assoziiert. Dies lässt sich vielleicht am besten an einem Beispiel illustrieren, in diesem Fall das »Lied« der Feuerlilie: Hører Du Trommen: bum! bum! det er kun to Toner, altid bum! bum! hør Qvindenes Sørgesang! hør Præsternes Raab! - I sind lange røde Kjortel staaer Hindue-Konen paa Baalet, Flammerne slaae op om hende og hendes døde Mand; men Hindue-Konen tænker paa Levende her i Kredsen, ham, hvis Øine brænde hedere end Flammerne, ham hvis Øines Ild naae mere hendes Hjerte, end de Flammer, som snart brænde hendes Legeme til Aske. Kan Hjertets Flamme døe i Baalets Flammer? (EoH I, 312f.) Hörst du die Trommel: bumm! bumm! es sind zwei Töne, immer bumm! bumm! hör nur das Klagelied der Frauen! höre den Ruf der Priester! - In ihrem langen, roten Gewand steht die Hindufrau auf dem Scheiterhaufen, die Flammen schlagen über ihr 9 Vgl. Peter Brooks: Reading for the plot. Design and Intention in Narrative. New York 1984. Genre- und Stimmenvielfalt in den Erzählungen von Hans Christian Andersen 205 und ihrem toten Mann zusammen; aber die Hindufrau denkt an den Lebenden hier im Kreis, an ihn, dessen Augen heißer brennen als die Flammen, an ihn, dessen Augen mit ihrem Feuer eher ihr Herz erreichen als die Flammen, die bald ihren Leib zu Asche verbrennen. Kann die Flamme des Herzens in den Flammen des Scheiterhaufens sterben? (SM I, 326) Gerda kann diesen Stücken nur wenig Sinn zuschreiben und sie erscheinen ihr deshalb nutzlos zu sein. Auch nachträglich scheinen sie nur von begrenztem Nutzen innerhalb der Geschichte und für die Geschichte zu sein. Es handelt sich gewissermaßen um zufällige Verästelungen am Hauptstamm der Erzählung. Der erwachsene Leser mag sie vielleicht symbolisch interpretieren und davon weiser werden oder auch nicht, aber für die Handlung bleiben sie absolut überflüssig. Sie sind somit Zeugen für Andersens arabeske Poetik (auf die Arabeske zielte auch mein Bild der Verästelungen am Stamm ab), was ein interessantes Thema ist, aber keines, das ich hier vertiefen werde. Doch obwohl Die Schneekönigin von Fragmentierung handelt und selbst fragmentiert ist, könnte sie durchaus auch als eine kohärente christliche Allegorie gelesen werden. Nicht nur, weil es um Glaube und Unschuld geht, sondern auch, weil es sich um eine großartige Glosse auf die berühmte Passage über unser fragmentarisches Wissen in Paulus’ ersten Korintherbrief handelt, der seinen Höhepunkt in der Behauptung erreicht, dass die Liebe das Höchste ist, wenn sie mit Glaube und Hoffnung verglichen wird (1 Kor, 13: 11-13: 13). Diesem Bezug bin ich an anderer Stelle nachgegangen. 10 In diesem Zusammenhang werde ich mich darauf beschränken, an einem Beispiel zu illustrieren, dass und inwiefern Sneedronningen als eine christliche Allegorie gelesen werden kann. Als sich Gerda dem Schloss der Schneekönigin nähert, wird sie von deren Wächtern angegriffen, die als Schneeflockenformationen auftreten und sich zu Schlangen und anderen drohenden Gestalten formen. Aber Gerda gelingt es, die Situation folgendermaßen zu bewältigen: Da bad den lille Gerda sit Fadervor, og Kulden var saa stærk at hun kunde see sin egen Aande; som en heel Røg stod den hende ud af Munden: Aanden blev tættere og tættere og den formede sig til smaa klare Engle, der voxte meer og mere, naar de rørte ved Jorden; og alle havde de Hjelm paa Hovedet og Spyd og Skjold i Hænderne; de bleve flere og flere, og da Gerda havde endt sit Fadervor, var der en heel Legion om hende; de hug med deres Spyd paa de gruelige Sneeflokker saa de sprang i hundrede Stykker, og den lille Gerda gik ganske sikker og freidig frem. Englene klappede hende paa Fødderne og paa Hænderne, og saa følte hun mindre, hvor koldt der var, og gik rask frem mod Sneedronningens Slot. (EoH I, 326) 10 Vgl. meinen Artikel: Fortællingens arabeske allegori: ›Sneedronningen‹. In: Finn Barlby (Hg.): Det (h)vide Spejl. Analyser af H.C. Andersens ›Sneedronningen‹. Kopenhagen 2000, S. 137-164 [eine englische Version dieses Artikels findet sich in Per Krogh Hansen, Marianne Wolff Lundholdt (Hg.): When We Get to the End ... Towards a Narratology of the Fairy Tales of Hans Christian Andersen. Odense 2005, S. 267-282]. Jacob Bøggild, Århus 206 Da betete die kleine Gerda ihr Vaterunser, und die Kälte war so stark, dass sie ihren eigenen Atem [Ånden] sehen konnte, wie ein Dampf stand er ihr aus dem Mund; der Atem wurde dichter und dichter, und er wurde zu kleinen, lichten Engeln, die größer und größer wurden, sowie sie die Erde berührten; und alle hatten sie einen Helm auf dem Kopf und Speer und Schild in den Händen; es wurden immer mehr und mehr, und als Gerda ihr Vaterunser zu Ende gesprochen hatte, war eine ganze Heerschar um sie; sie hieben mit ihren Speeren auf die grausigen Schneeflocken ein, so dass sie in hundert Stücke zerschellten, und die kleine Gerda ging ganz mutig und sicher vorwärts. Die Engel streichelten ihre Füße und Hände, und nun fühlte sie weniger, wie kalt es war, und sie ging raschen Schrittes auf das Schloss der Schneekönigin zu. (SM I, 345) Als Gerda das Vaterunser spricht, verdichtet sich ihr Atem in der Kälte und nimmt die Gestalt einer regelrechten Heilsarmee von Engeln an, welche die Schneeflocken bekämpfen können. Im Dänischen ist das Wort für Atem und Geist dasselbe: Ånde. Als Gerda das Gebet spricht, ist es somit Ånden - also der Heilige Geist -, der sie rettet und der es ihr ermöglicht, frisch und munter auf die dämonische Region rund um das Schloss der Schneekönigin zuzugehen. Arabeske Prosagedichte und christliche Allegorie stehen also in ein- und demselben Märchen nebeneinander, das seinerseits aus sieben ›Geschichten‹ besteht. Mit anderen Worten handelt es sich um ein fragmentiertes und allegorisches Märchen, das Fragmente in der Form von Genreszenen oder Konversationsstücken enthält. Sneedronningen ist zweifelsohne ein Text der Genrevielfalt. Obwohl es sich um eine viel kürzere Geschichte handelt, gilt das Gleiche für Historien om en Moder (1848, Die Geschichte einer Mutter), eine andere Geschichte, die sich um ein Quest-Motiv dreht. Sie handelt von einer Mutter, deren Kind stirbt. In der Geschichte geschieht dies auf eine so figurative Art und Weise, dass der personifizierte Tod das Kind abholt. Die Mutter setzt ihm nach und muss verschiedene Eignungstests bestehen, die sie, wieder figurativ, mit den Insignien von Trauer versehen: Sie muss die Lieder singen, die sie jeweils für ihr Kind gesungen hat (echte Trauerarbeit! ), sie muss einen Dornbusch umarmen, sie muss ihre Augen ausweinen (ein dänisches Idiom für exzessives Weinen) und ihr schönes Haar gegen das weiße Haar einer alten Frau eintauschen (Spiel mit einem anderen dänischen Idiom ›Vor Kummer weiße Haare bekommen‹). Kurz: Es handelt sich um ein Märchen, aber auch um einen extrem figurativen Text, eine Allegorie. Liest man Historien om en Moder als Allegorie, dann wird man nicht umhin kommen, die Geschichte als christliche Allegorie zu interpretieren. Dabei balanciert die Erzählung auf eine sehr heikle und gefährliche Weise zwischen verschiedenen Wertesystemen. Auf der einen Seite ist die Mutter eine beeindruckende Figur, die willens ist, alles durchzustehen, um den Tod zu besiegen und ihr Kind zurückzugewinnen. Und selbstverständlich ist es nicht schwierig, ihren Kummer und ihre Verzweiflung nachzuvollziehen und sich damit zu identifizieren. Aber auf der anderen Seite ist der personifizierte Tod in der Erzählung ein Gesandter Gottes und der Versuch der Mutter, das Unvermeidliche ungeschehen oder rückgängig zu machen, somit als eine Auflehnung gegen Gott zu interpretieren. Hier bringt es die Genre- und Stimmenvielfalt in den Erzählungen von Hans Christian Andersen 207 Geschichte fertig, die Solidarität mit der Protagonistin aufrecht zu erhalten, während diese gleichzeitig einsieht, dass sie im Unrecht ist. Und dies geschieht - wie ich im Folgenden nachweisen möchte -, indem sich die Erzählung auf Schlüsselkonzepte der antiken Tragödie stützt, wie sie von Aristoteles formuliert wurden. Wie durch ein Wunder erreicht die Mutter, allen Prüfungen auf dem Weg zum Trotz, den Garten des Todes noch vor dem Tod. In diesem Garten gibt es eine Anzahl Blumen, die alle ein Menschenleben repräsentieren. Wenn eine Person stirbt, sorgt der Tod dafür, dass die Blume in den Garten des Himmels, Gottes Reich, umgepflanzt wird. Die Mutter erkennt eine kleine, kränkliche Blume als diejenige, die für das Leben ihres Kindes steht. An dieser Stelle tritt der Tod auf und die Mutter verlangt ihr Kind zurück. Als der Tod ablehnt, reagiert die Mutter folgendermaßen: »Med eet greb hun med hver haand om to smukke Bloster tæt ved og raabte til Døden: ›Jeg river alle dine Blomster af, for jeg er i Fortvivelse! ‹« 11 (EoH I, 446). In der antiken Tragödie begeht der Held oft ein Verbrechen, wie Ödipus, ohne sich dessen bewusst zu sein. Es handelt sich deshalb eher um einen (möglicherweise gravierenden) Fehler als um eine schlechte Tat. Diesen Fehler nennt Aristoteles in seiner Poetik hamartia. 12 Die gebräuchliche dänische Übersetzung von diesem Konzept ist ›fejlgreb‹, wörtlich ein Fehlgriff. Genau einen solchen ›Fehlgriff‹ scheint die Mutter zu begehen, wenn sie nach den Blumen greift, die andere Menschenleben repräsentieren, und wenn sie droht, diese mit den Wurzeln auszureißen. Der Tod versucht seinerseits, den Fehlgriff zu seinen Gunsten zu wenden: ›Rør dem ikke! ‹ sagde Døden. ›Du siger, at du er saa ulykkelig, og nu vil Du gjøre en anden Moder ligesaa ulykkelig -! ‹ ›En anden Moder? ‹ sagde den stakkels Kone og slap strax begge Blomsterne. (EoH I, 446) ›Rühre sie nicht an! ‹ sagte der Tod. ›Du sagst, du seiest unglücklich, und nun willst du eine andere Mutter ebenso unglücklich machen! ‹ ›Eine andere Mutter? ‹ sagte die arme Frau und ließ sofort die beiden Blumen los. (SM I, 484) Nun hat der Tod die Überhand. Auf seinem Rückweg liest er die ausgeweinten Augen der Mutter auf und legt sie ihr vor. Dies ermöglicht ihr, das folgende Schauspiel zu sehen: ›Der har du dine Øine,‹ sagde Døden, ›jeg har fisket dem op af Søen, de skinnede saa stærkt; jeg vidste ikke at det var dine; tag dem igjen, de ere nu klarere end før, see saa ned i den dybe Brønd tæt ved, jeg skal nævne Navnene paa de to Blomster, du vilde rive op og Du seer deres hele Fremtid, deres hele Menneskeliv, ser hvad Du vilde forstyrre og ødelægge! ‹ 11 »Mit einemmal griff sie mit jeder Hand um eine schöne Blume dicht neben ihr und rief dem Tode zu: ›Ich reiße alle deine Blumen ab, denn ich bin voll Verzweiflung! ‹« (SM I, 484). 12 Vgl. Aristoteles: Poetik. Hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, insb. Kapitel 13, S. 37-41. Jacob Bøggild, Århus 208 Og hun saae ned i Brønden; og det var en Lyksalighed at see, hvor den ene blev en Velsignelse for Verden, see hvormegen Lykke og Glæde der udfoldede sig rundt om. Og hun saae den Andens Liv og det var Sorg og Nød, Rædsel og Elendighed. ›Begge Dele ere Guds Villie! ‹ sagde Døden. ›Hvilken af dem er Ulykkens Blomst og hvilken er Velsignelsens? ‹ spurgte hun. ›Det siger jeg Dig ikke,‹ sagde Døden, ›men det skal Du vide af mig, at den ene Blomst var dit eget Barns, det var dit Barns Skjæbne Du saae, dit eget Barns Fremtid! ‹ Da skreeg Moderen af Skræk, ›hvilken af dem var mit Barn! siig meg det! frels den Uskyldige! frels mit Barn fra al den Elendighed! bær det heller bort! bær det ind i Guds Rige! glem mine Taarer, glem mine Bønner og Alt hvad jeg har sagt og gjort! ‹ (EoH I, 446-448) ›Da hast du deine Augen‹, sagte der Tod, ›ich habe sie aus dem See herausgefischt, sie schimmerten so stark; ich wusste nicht, dass es deine sind; nimm sie wieder, sie sind jetzt heller als vorher, blicke nun in den tiefen Brunnen hier neben dir hinab, ich werde die Namen der beiden Blumen nennen, die du herausreisen wolltest, und du siehst ihre ganze Zukunft, ihr ganzes Erdenleben, siehst, was du zerstören und vernichten wolltest! ‹ Und sie blickte in den Brunnen hinab; und es war eine Glückseligkeit zu sehen, wie die eine ein Segen für die Welt wurde, zu sehen, wieviel Glück und Freude sich um sie herum entfaltete. Und sie sah das Leben der anderen, und es war Kummer und Not, Grauen und Elend. ›Beides ist Gottes Wille! ‹ sagte der Tod. ›Welche von ihnen ist die Blume des Unglücks und welche die des Segens? ‹ fragte sie. ›Das sage ich dir nicht‹, sagte der Tod, ›aber eins sollst du von mir erfahren, die eine Blume war die deines Kindes und es war deines Kindes Schicksal, was du sahest, deines eigenen Kindes Zukunft! ‹ Da schrie die Mutter vor Angst: ›Welches von ihnen ist mein Kind? Sage es mir! Erlöse das Unschuldige! Erlöse mein Kind von all dem Elend trag es lieber fort! Trag es hinein in das Reich Gottes! Vergiss meine Tränen, vergiss mein Flehen und alles, was ich gesagt oder getan habe! ‹ (SM I, 484-485) Die Mutter beginnt zu verstehen, dass sie im Unrecht war. Ein Detail der Szene erscheint mir bemerkenswert: Keine dieser schönen Blumen kann die kleine kränkliche sein, in der die Mutter zuvor ihr Kind erkannt hatte. Es scheint also, dass der Tod sie betrügt. Er lässt sie ihren Fehlgriff durch eine Täuschung, eine unverhohlene Lüge, einsehen. Vielleicht weist der Autor Andersen an dieser Stelle spöttisch darauf hin, dass die Lüge, welche die Fiktion in einem gewissen Sinn ist, dennoch positive Effekte zeitigen kann. Wie dem auch sei, auch der Moment, in dem der tragische Held einsieht, dass er im Unrecht war, und in dem er sozusagen erkennt, dass er sich der hamartia schuldig gemacht hat, ist in Aristoteles’ Poetik als anagnoresis begrifflich gefasst. 13 In Oedipus Rex lässt Teiresias Ödipus einsehen, was er getan hat. In Historien om en Moder spielt der Tod die Rolle von Teiresias und fördert die anagnoresis der Mutter. Die katharsis der Erzählung ist schließlich mit der Einisicht der Mutter verbunden, die das Unvermeidliche und damit Gottes Willen zu akzeptieren lernt: 13 Ebd. Kap. 11, S. 35-37. Genre- und Stimmenvielfalt in den Erzählungen von Hans Christian Andersen 209 Da vred Moderen sine Hænder, faldt paa sine Knæ og bad til vor Herre: ›Hør mig ikke, hvor jeg beder imod din Villie, som er den bedste! hør mig ikke! hør mig ikke! ‹ Og hun bøiede sit Hoved ned i sit Skjød. Od Døden gik med hendes Barn ind i det ubekjendte Land. (EoH I, 448) Da rang die Mutter die Hände, fiel auf die Knie und betete zu Gott: ›Erhöre mich nicht, wenn ich gegen deinen Willen bete, welcher der beste ist! Erhöre mich nicht! Erhöre mich nicht! ‹ Und sie neigte den Kopf auf ihren Schoss hernieder. Und der Tod ging mit ihrem Kind in das unbekannte Land hinein. (SM I, 485) Das Wechselspiel zwischen Märchen, Arabeske und Allegorie in Sneedronningen ist großartig. Genauso großartig ist das Wechselspiel zwischen Märchen und der Poetik der antiken Tragödie in Historien om en Moder. Ich werde meine Untersuchung zur Vielfältigkeit der Genres bei Andersen mit einem kurzen Blick auf eine Erzählung beenden, die Andersen als seine letzte verstanden haben wollte und die deshalb gewissermaßen als sein literarisches Testament gelesen werden kann: Tante Tandpine (1872; Tante Zahnschmerz). Bei dieser Geschichte handelt es sich wieder um kein Märchen im traditionellen Sinne, sondern eher um eine Novelle im Sinne Goethes. Die Geschichte dreht sich auch nicht um ein ausgeprägtes Quest-Motiv, sofern nicht die Ambition des jungen Mannes, ein berühmter Dichter zu werden, als Erlebnishandlung bezeichnet werden kann. Die Geschichte verfügt über eine äußerst geschickt angelegte Rahmenhandlung, der ich mich allerdings erst zuwenden werde, nachdem ich die verschiedenen Stimmen des Textes untersucht habe. In diesem Rahmen sind einige angebliche Tagebuchfragmente des erwähnten jungen Mannes angeordnet, die schlicht von seinem Ziel handeln, ein Dichter zu werden. In diesem Begehren wird er von seiner Tante Mille unterstützt, die glaubt, dass er eines Tages sogar erfolgreicher als Dickens oder Jean Paul sein werde. Eines Nachts muss Mille wegen eines starken Schneesturms bei ihm übernachten. Im Schlaf wird der Dichter von einer alptraumhaften Erscheinung, Satania Infernalis, heimgesucht, der Personifikation der Zahnschmerzen. Sie quält ihn und informiert ihn, dass ein großer Dichter starke Zahnschmerzen zu ertragen bereit sein muss, ein kleiner Dichter dagegen nur geringe. Der junge Mann möchte überhaupt kein Dichter mehr werden; das sagt er wenigstens dem Dämon, damit seine Folter aufhöre. Das Seltsamste ist, dass ihn die Erscheinung irgendwie an Tante Mille erinnert, die im Zimmer nebenan schläft. Danach lesen wir Folgendes: Da kom der et Stormkast, saa at den aflaasede Dør ind til Tante sprang op. Tante sprang op, kom i Skoene, kom i Klæderne, kom ind til mig. Jeg sov som en Guds Engel, sagde hun, og nænte ikke at vække mig. Jeg vaagede af mig selv, slog Øinene op, havde reent glemt, at Tante var her i Huset, men snart huskede jeg det, huskede mit Tandpine-Syn. Drøm og Virkelighed gik over i hinanden. (EoH III, 352) Jacob Bøggild, Århus 210 Da kam ein Windstoß, dass die zugesperrte Tür zu Tante hinein aufsprang. Tante sprang auf, kam in die Schuhe, kam in die Kleider, kam zu mir herein. Ich hätte wie ein Engel Gottes geschlafen, sagte sie, und sie habe es nicht über sich gebracht, mich zu wecken. Ich erwachte von selbst, schlug die Augen auf, hatte ganz vergessen, dass Tante hier im Hause war, aber bald fiel es mir ein, fiel mir meine Zahnweherscheinung ein. Traum und Wirklichkeit gingen ineinander über. (SM II, 710) Aber wie kann der junge Mann wissen, was seine Tante getan hat, wenn er erst später aufgewacht ist? Traum und Realität gehen tatsächlich ineinander über. So war die Tür zuvor offen und Tante Mille trat durch sie ins Zimmer in der Gestalt der Satania Infernalis ein. Oder hatte der junge Mann bloß einen Alptraum, der durch seine Zahnschmerzen hervorgerufen worden war? Solche Zweifel definieren das literarisch Fantastische, zumindest wenn man der Untersuchung eines anderen berühmten Narratologen, Tzvetan Todorov, folgt, der auch den Begriff ›Narrotologie‹ geprägt hat. In seinem Werk über das Fantastische Introduction à la littérature fantastique legt Todorov dar, dass das Fantastische an sich - zumindest in seiner ›klassischen‹ romantischen Form, die hier relevant ist - immer ein Zögern zwischen einer übernatürlichen und einer rationalen Erklärung der sich ereignenden seltsamen Geschehnisse hervorruft. 14 Und wir sind tatsächlich zu einem solchen Zögern eingeladen in Tante Tandpine: Kann Tante Mille wirklich als Satania Infernalis auftreten oder war alles nur ein böser Traum? Aber das bedeutet nicht, dass Tante Tandpine stichhaltig als fantastische Erzählung klassifiziert werden könnte. Es ist unter anderem eine Allegorie (in diesem Fall keine christliche) auf die Schmerzen, die mit einer Literaturproduktion einhergehen, die ihren Namen auch wirklich verdient. Aber innerhalb dieses allegorischen Rahmens demonstriert Andersen, wie er das wichtigste Merkmal der fantastischen Erzählung meisterhaft zitieren und verwenden kann. Doch genug der Genrevielfalt. 2. Stimmenvielfalt Zu Beginn dieses Aufsatzes habe ich das Schisma erwähnt, das Georg Brandes der späteren Andersen-Forschung mit auf den Weg gegeben hat. In meinen Augen ist Søren Baggesen einer der jüngeren Forscher, der dieses Schisma am weitesten überwunden hat. In seinem Abschnitt über Andersen im fünften Band der Dansk litteraturhistorie porträtiert er Andersen als durchgehend ironischen Schriftsteller. 15 Baggesen bemerkt, dass Andersen aus dem Vollen schöpfen konnte: »Eventyrs- 14 Vgl. Tzvetan Todorov: The Fantastic: A Structural Approach to a Literary Genre. New York 1975. 15 Søren Baggesen: En rendestensunges dannelse. H.C. Andersen. In: Peter Holst u.a. (Hg): Dansk litteraturhistorie. Bd. 5. Borgerlig enhedskultur 1807-48. Kopenhagen 1984, S. 124- 158. Genre- und Stimmenvielfalt in den Erzählungen von Hans Christian Andersen 211 stilens dobbelttungethed, dens skyldige uskyld, blev en befriende mulighed for at sige det, der måtte siges, men ikke kunne siges uironisk.« 16 Weiterhin stellt Baggesen fest, dass diese Doppelzüngigkeit bereits in Fyrtøjet sichtbar wird. Wie man aus meiner obigen Lektüre entnehmen kann, teile ich diese Einschätzung mit Baggesen. Außerdem ist Andersens Ironie gemäß Baggesen nihilistisch, was er allerdings mit der folgenden wichtigen Bemerkung einzuschränken versucht: »Ironien hos Andersen er altfortærende nihilistisk, men den er ikke kynisk-blasert. Den er en kunstnerisk artikuleret protest over, at det gode i livet er uopnåeligt.« 17 Andersens Ironie ist jedoch häufig so verspielt, dass ich mich selbst zurückhalten würde, sie als nihilistisch zu bezeichnen. Auch stimme ich nicht völlig mit Baggesen überein, wenn er zwischen Märchen der Versöhnung, für die es charakteristisch sei, »dass deren Versöhnung als eine Art stilistische Überwindung der Ironie durchgeführt ist« (»at deres forsoning stilistisk forsøges gennemført som ironiens overvindelse«) und ihren Gegenstücken unterscheidet, wo die Strategie die gegenteilige sei (»strategien er den omvendte«). 18 Auch wenn es sich hierbei um eine sehr genaue und nützliche Unterscheidung handelt, ist Vorsicht geboten. Denn, wer immer glaubt, er hätte die Ironie vollständig gefunden und unter Kontrolle gebracht, setzt sich, wie Kierkegaard als erster betonen würde, mehr denn je dem Risiko aus, dass er ihr Opfer wird. Wie dem auch sei, Formulierungen wie jene von Baggesen sind Meilensteine in der Andersen-Forschung. Und sie deuten auf einen sehr wichtigen Aspekt von Andersens Stil hin; auf die Tatsache nämlich, dass es in Andersens Erzählung keine einheitliche Stimme gibt. Ironie kann nie einstimmig sein, sie ist per Definition mehrdeutig. Deshalb müssen wir erkennen, dass die Stimme der ›Kindlichkeit, Naivität und Natur‹ nur eine Stimme unter anderen in Andersens Märchen ist und in keiner Weise mit der genuinen Stimme des Autors zusammentreffen muss. Das erste Gebot der Literaturanalyse lautet natürlich: ›Du sollst die Stimme des Erzählers nicht mit der des Autors verwechseln‹. Aber wenn es um Andersens Werke geht, hat die Vorstellung, dass er selbst von naiver und simpler Natur war, als Legitimation gedient, seine Texte als direkten Ausdruck ebendieser Natur zu lesen. Im Folgenden werde ich die Abwesenheit von jeglicher Einheit der Stimmen zu illustrieren versuchen, aus der eine Art Polyphonie oder (wie ich es in meinem Titel nenne) eine Multiplizität von Stimmen resultiert. Leider muss ich mich in Anbe- 16 Ebd. S. 152. »Die Doppelzüngigkeit des Märchen-Stils, seine schuldige Unschuld, wurde zu einer befreienden Möglichkeit, um das zu sagen, das gesagt werden musste, aber nicht unironisch gesagt werden konnte.« (Übersetzung KMW) 17 Ebd. 155. »[d]ie Ironie bei Andersen ist allesverzehrend [altfortærende ist ein bemerkenswertes Prädikat, das viel eher an Kierkegaards Konzeption der Ironie in Om begrebet ironi erinnert, als jedwede Bemerkung zur Ironie, die normalerweise mit Andersen verbunden oder assoziert wird; mein Kommentar, JB] nihilistisch, aber sie ist nicht zynischblasiert. Es handelt sich um einen künstlerischen Protest gegen die Tatsache, dass das Gute im Leben unerreichbar ist.« (Übersetzung KMW) 18 Ebd. S. 152. Jacob Bøggild, Århus 212 tracht des mir zur Verfügung stehenden Platzes auf ein prominentes Beispiel, Tante Tandpine, beschränken. Wie bereits angekündigt werde ich mich dabei mit dem Rahmen der Geschichte auseinandersetzen. In diesem Rahmen berichtet uns ein Erzähler, wie er in den Besitz von den Fragmenten kam, die angeblich dem Tagebuches eines jungen Mannes entstammen. Seine einleitenden Worte sind folgende: Hvorfra vi har Historien? - - Vil Du vide det? (EoH III, 343) Wo wir die Geschichte her haben? - - Möchtest du es wissen? (SM II, 698) Diese Fragen können sich nur an den Leser richten. Es gibt keinen anderen in Betracht zu ziehenden Adressaten für das ›du‹. Die erste Frage ist besonders verzwickt, denn sie scheint eine frühere Frage an den Erzähler zu implizieren, nämlich die Frage ›Woher hast du diese Geschichte? ‹. Diese Frage kann aber nur vom Leser gestellt worden sein, der mit ›du‹ angesprochen wird. Aber es gibt keinen Leser, der diese Frage gestellt hat. Mit ihren ersten sechs Worten vollbringt die narrative Instanz ein bemerkenswertes Kunststück. Sie bringt es fertig, ihren eigenen Diskurs in zwei verschiedene Stimmen aufzuspalten, obwohl eine von ihnen nur als stilles Echo einer abwesenden Frage präsent ist. Und dieses stille Echo versetzt den Leser, impliziert oder nicht, in eine gespenstische Anwesenheit im Text. Ein unbestritten kühnes Unterfangen. Aber das Ende der Geschichte ist ebenso bemerkenswert und es ist wieder die Stimme (oder die Stimmen), welche unsere Vorstellung davon, was wir eigentlich lesen, verunsichert. Am Ende der Tagebuchfragmente übernimmt der Rahmenerzähler wieder und beendet die Geschichte: Ja her holdt Manuskriptet op. Min unge Ven, den vordende Urtekræmmersvend, kunde ikke opdrive der Manglende, det var gaaet ud i Verden, om Papir om Spegesild, Smør og grøn Sæbe, det havde opfyldt sin Bestemmelse. Bryggeren er død, Tante er død, Studenten er død, ham fra hvem Tankegnisterne gik i Bøtten. Alt gaaer i Bøtten. Det er Enden paa Historien, - Historien om Tante Tandpine. (EoH III, 352f.) Ja, hier hört das Manuskript auf. Mein junger Freund, der künftige Grünwarengehilfe, konnte das Fehlende nicht auftreiben, es war in die Welt hinausgewandert, als Einwickelpapier für Heringe, Butter und grüne Seife; es hatte seine Bestimmung erfüllt. Der Brauer ist tot, Tante ist tot der Student ist tot, der, von dem die Gedankensplitter in den Eimer gingen: das ist das Ende der Geschichte, der Geschichte von Tante Zahnweh. (SM II, 711) Genre- und Stimmenvielfalt in den Erzählungen von Hans Christian Andersen 213 Etwas stimmt mit den letzten Worten der Erzählung nicht. Es ist nur ein kleines Detail, aber es hat etliche Konsequenzen für unsere Interpretation der Erzählung. Wenn der Erzähler die Personen aufzählt, die tot sind (und die natürlich alle in der Geschichte erwähnt worden sind), warum spricht er von der Tante des Studenten in der unbestimmten Form als ›Tante‹ und nicht von ›der Tante‹? Nach allem, was er bisher gesagt hat, ist er in keiner Weise verwandt mit ihr, er hat nur das Manuskript ihres Neffen gelesen. Es gibt tatsächlich nur eine Person im Text, die so von der Tante sprechen könnte - nämlich den Studenten selbst. Und dann wären der Erzähler der Rahmenhandlung und der Student ein- und dieselbe Person. 19 Das hat einige dramatische Konsequenzen. Der Pessimismus - oder sogar der Nihilismus -, der in den Worten des Erzählers zum Ausdruck kommt (»Alt gaaer i Bøtten«! ), müsste eigentlich einer Euphorie weichen, denn der Student lebt und ist wohlauf. Ja, er ist sogar als Autor eines doppelschichtigen Werks aktiv. Die zweite Lesart der Passage trägt eher zur Verunsicherung der Leser bei. Denn durch die mögliche (und eben nur ›mögliche‹ und deshalb letztendlich unlösbare) Durchdringung der narratvien Ebenen wird das Verhältnis von Rahmen und gerahmtem Inhalt völlig destabilisiert. Während wir am Anfang der Geschichte seltsamerweise mit zwei Stimmen statt mit einer konfrontiert waren, so können wir nun nicht einmal mehr auseinanderhalten, was wir für zwei verschiedene Stimmen gehalten haben. So lässt uns die Geschichte am Ende mit der Frage im Regen stehen, wer uns eigentlich was erzählt hat. Ich hoffe, dass ich zeigen konnte, dass Andersens Erzählungen tatsächlich so komplex und faszinierend sind, wie ich am Anfang gesagt habe und dass jede seriöse Lektüre von dieser Tatsache ausgehen muss. Aus dem Englischen übersetzt von Miriam Bertschi und Klaus Müller-Wille 19 Darauf hat schon Finn Barlby hingewiesen. Vgl den Abschnitt zu Tante Tandpine in Finn Barlby: Det hemmelige liv. Kopenhagen 1997, S. 101. Jacob Bøggild, Århus 214 Literatur Primärliteratur H.C. Andersens samlede værker. Hg. von Klaus P. Mortensen. Bd. 1-3. Eventyr og Historier I-III. Hg. von Laurids Kristian Fahl. Kopenhagen 2003. Hans Christian Andersen. Sämtliche Märchen in zwei Bänden. Übersetzt von Thyra Dorenburg, herausgegeben von Erling Nielsen. Darmstadt 1974. Sekundärliteratur Aristoteles: Poetik. Hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982. Baggesen, Søren: En rendestensunges dannelse. H.C. Andersen. In: Peter Holst (Hg): Dansk litteraturhistorie. Bd. 5. Borgerlig enhedskultur 1807-48. Kopenhagen 1984, S. 124-158. Barlby, Finn: Det hemmelige liv. Kopenhagen 1997. Bøggild, Jacob: Fortællingens arabeske allegori: ›Sneedronningen‹. In: Finn Barlby (Hg): Det (h)vide Spejl. Analyser af H.C. Andersens ›Sneedronningen‹. Kopenhagen 2000, S. 137-164. Bøggild, Jacob: Arabesque and Allegory in H.C. Andersen’s ›The Snow Queen‹. In: Per Krogh Hansen, Marianne Wolff Lundholdt (Hg.): When We Get to the End ... Towards a Narratology of the Fairy Tales of Hans Christian Andersen. Odense 2005, S. 267-282. Brandes, Georg: H.C. Andersen som Æventyrdigter (Juli 1869). In: Ders.: Samlede Skrifter. Bd. 2, Kopenhagen 1899, S. 91-132. Brooks, Peter: Reading for the plot. Design and Intention in Narrative. New York 1984. Greimas, Algirdas J.: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Braunschweig 1971. Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens. München 1972. Todorov, Tzvetan: The Fantastic. A Structural Approach to a Literary Genre. New York 1975. Zukunftspoesie - Zukunftsmusik Hans Christian Andersen und Richard Wagner J OACHIM G RAGE , F REIBURG IM B RSG . Am 24. August 1855 stattete Hans Christian Andersen dem Komponisten Richard Wagner in Zürich einen Besuch ab, zu einem Zeitpunkt, als Wagner zunehmend unter der als Isolation empfundenen Situation im Schweizer Exil litt. 1 Von der Zusammenkunft wissen wir allein aus Andersens Aufzeichnungen, Wagner dagegen hat sich weder in seinen autobiographischen Schriften noch in seinen Briefen dazu geäußert. Glaubt man der Darstellung in Andersens Selbstbiografie Mit Livs Eventyr (1855; Das Märchen meines Lebens), so wurde der Gast »freundlich empfangen« (»venligt modtaget«), 2 und Wagner ließ sich von ihm über das dänische Musiktheater unterrichten, von dem er nur wenig wusste. Der Komponist hörte Andersen »mit großer Aufmerksamkeit« (»med stor Opmærksomhed«) 3 zu, und als Replik legt Andersen ihm in den Mund: »Det er, som om De fortalte mig et heelt Eventyr fra Musikkens Verden, som rullede De et heelt Forhæng op for mig hiinsides Elben.« 4 Als selbsternannter Kulturbotschafter fühlt er sich für den gesamten Norden zuständig: Er erzählt seinem Gastgeber auch von »Schwedens Bellman« (»Sverrigs Bellman«) 5 und dass dieser wie Wagner ein Dichterkomponist sei, der den Text zu seiner Musik selbst geschrieben habe; ansonsten seien Wagner und Bellman aber durch und durch gegensätzlich. Mit diesem kuriosen Vergleich und der ihm zugrundeliegenden Einordnung Wagners in den eigenen kulturellen Referenzrahmen präsentiert sich Andersen als musikalischer Laie, der mit eher touristischer Wahrnehmung auf die Musik blickt. Wagner scheint freundlich darauf reagiert zu haben, denn Andersen wertet den Besuch im Rückblick als eine »unvergessliche, glückliche Stunde, die ich später nicht noch einmal erlebt habe«. 6 Andersen inszeniert sich in seiner Autobiografie wie gewohnt als Märchenerzähler, während er Wagner die Rolle des Zuhörers zuweist. Damit kehrt er die Kommunikationssituation um, von der bei ihm sonst im expliziten Zusammenhang 1 Zum biographischen Hintergrund Wagners vgl. Martin Gregor-Dellin: Richard Wagner. Sein Leben - Sein Werk - Sein Jahrhundert. München 1980, S. 403f. 2 Zitiert nach Hans Christian Andersen: Mit Livs Eventyr. Hg. von H. Topsøe-Jensen. 2 Bde. Kopenhagen 1951 (Reprint 1996), hier: Bd. 2, S. 190. Zitatnachweise nach dieser Ausgabe mit Sigle MLE 2 und Seitenangabe künftig im Text. Übersetzungen aus dem Dänischen stammen hier und im Folgenden von mir, J.G. 3 Ebd. 4 »Es ist, als ob Sie mir ein ganzes Märchen aus der Welt der Musik erzählten, als rollten Sie einen ganzen Vorhang jenseits der Elbe für mich auf.« Zitiert nach ebd. 5 Ebd. 6 »[E]n uforglemmelig, lykkelig Time, som jeg ikke senere har gjenlevet«. Zitiert nach ebd. Joachim Grage, Freiburg im Brsg. 216 mit dem Komponisten die Rede ist: Dann nämlich äußert sich Andersen als Hörer zu Wagners Musik. Diese Äußerungen weisen den Weg zu einem impliziten Dialog mit Wagner, der Andersens literarische und autobiographische Texte ab Mitte der 1840er Jahre bis hinein ins Spätwerk immer wieder durchzieht und in dem sich ein spannungsreiches Verhältnis zur Moderne artikuliert. Ich werde im Folgenden vor allem zwei literarische Texte von Andersen in den Blick nehmen, den späten Roman Lykke-Peer (1870; Peer im Glück) und die poetologische Geschichte Det nye Aarhundredes Musa (1861; Die Muse des neuen Jahrhunderts), die ich mit autobiographischen Äußerungen kontextualisieren werde. 7 Die Texte sollen in Hinblick auf intertextuelle und intermediale Bezüge zu Wagners musikalischen Werken untersucht werden, und zwar insbesondere zu Tannhäuser und Lohengrin, zu Wagners zentraler Programmschrift Das Kunstwerk der Zukunft und schließlich zum öffentlichen Diskurs über den Komponisten. Dabei gehe ich der Frage nach, welche Rolle Richard Wagner als Erneuerer des musikalischen Dramas in den poetologischen Reflexionen Andersens spielt. 1. Lykke-Peer und der literarische Wagner-Diskurs Den Ausgangspunkt für meine Überlegungen bildet der Roman Lykke-Peer, erschienen 1870 in Kopenhagen. Es ist Hans Christian Andersens sechster und letzter Roman und zugleich sein kürzester: Gerade einmal 82 Seiten nimmt der Text in der jüngsten Einzelausgabe ein. 8 In extremer Verkürzung und Verdichtung 9 wird darin die Geschichte eines genialen Künstlers erzählt, der aus armen Verhältnissen stammt und den es zum Theater zieht, wo er eine märchenhafte Karriere macht. Der Stoff würde für einen Bildungsroman taugen, nur verweigert sich Andersen dieser Erwartungshaltung, indem sein Held ohne Widerstände in die Theaterkultur und die Musikgeschichte hineinwächst, bereits als junger Mann ans Ziel des größten künstlerischen Triumphes gelangt, woraufhin Andersen ihn kurz und schmerzlos sterben lässt. Peer, das Glückskind, tritt zunächst als Ballett-Knabe im königlichen Theater auf. Bald wird man auf seine schöne Stimme aufmerksam, mit der er ganze Opern aus dem Gedächtnis nachsingt. Ein anonymer Mäzen ermöglicht ihm den Besuch einer Schule in der Provinz, wo er erste Erfahrungen als Schauspieler sammelt, und nach 7 Eine umfassende Zusammen- und Darstellung von Wagner-Bezügen vor allem in den autobiographischen Schriften, Briefen und Tagebüchern Andersens (in deutscher Sprache, ohne genaue Quellenverweise) bietet Erik Dal: Hans Christian Andersen und Richard Wagner. In: Bayreuther Festspiele 2005 [Festspielbuch], S. 40-52. Der Beitrag ist im gleichen Band auch in englischer (S. 54-65) und französischer Sprache (S. 66-76) abgedruckt. 8 Hans Christian Andersen: Lykke-Peer. Hg. von Erik Dal (= Danske Klassikere). Kopenhagen 2000. Zitatbelege nach dieser Ausgabe künftig mit der Sigle LP und Seitenangabe im Text. 9 »Det karakteristiske for Lykke-Peer er imidlertid sammentrængningen, den uhyre forkortning af det skildrede.« Zitiert nach Johan de Mylius: Myte og roman. H.C. Andersens romaner mellem romantik og realisme. Kopenhagen 1981, S. 211. Zu Lykke-Peer vgl. außerdem Maria Davidsen: På sporet af H.C. Andersens kunstkonception. In: Synsvinkler 5 (1993), S. 13-36. Zukunftspoesie - Zukunftsmusik 217 dem Stimmbruch erobert er die Kopenhagener Opernbühne, wo man nicht nur seinen makellosen Gesang, sondern auch sein darstellerisches Talent, die perfekte Verkörperung der jeweiligen Rolle bestaunt. Seine Stimme ist jeder Partie gewachsen: Er glänzt in großen Repertoirerollen sowohl als lyrischer Tenor wie auch als als Bariton. Schließlich wird er auf die Musikdramen Wagners aufmerksam: Fremtidsmusiken, som den nyere Retning i Operaen kaldes og for hvilken særlig Wagner er Bannerfører, fik en Forsvarer og Beundrer i vor unge Ven. Han fandt her Charaktererne saa klart tegnede, Recitativerne saa tankegivende, den hele Handling i dramatisk Fremadskriden, uden Stillestaaen ved idelig tilbagevendende Melodier. ›Det er dog en Unatur med disse store indlagte Arier! ‹ (LP, 75) Die Zukunftsmusik, wie man die neuere Richtung in der Oper nennt und für die besonders Wagner Bannerträger ist, fand einen Verteidiger und Bewunderer in unserem jungen Freund. Hier fand er die Charaktere so klar gezeichnet, die Rezitative so anregend, die gesamte Handlung in einem dramatischen Voranschreiten, ohne Stillstand durch fortwährend wiederkehrende Melodien. ›Es ist doch eine Unnatur mit diesen großen eingelegten Arien! ‹ Die Terminologie des Erzählers zeigt, wie schwierig es ist, das Innovative Wagners mit Begriffen einer Opernästhetik zu beschreiben, die durch dessen Musikdramen überwunden wurde: Die »Zukunftsmusik«, Wagners neuartige Gestaltung des musikdramatischen Dialogs, kennt kein Rezitativ mehr. Und wenn Peer mit ›Natur‹ argumentiert, bezieht er sich auf eine traditionelle Ästhetik, deren Ablösung er zugleich begrüßt. Er fasst den Entschluss, in einer Wagner-Oper aufzutreten: Valget faldt paa Lohengrin, den unge, hemmelighedsfulde Ridder, der i Baaden, trukken af Svanen, glider op ad Scheldefloden for at kæmpe for Elsa af Brabant. Hvo havde vel sunget eller givet, som han, Mødets første Sang, Hjertesamtalen i Brudekammeret og Afskedssangen, hvor den hellige Grals hvide Due omflagrer den unge Ridder, som kom, seirede og - forsvandt. (LP, 76) Die Wahl fiel auf Lohengrin, den jungen, geheimnisvollen Ritter, der im Boot, gezogen vom Schwan, den Schelde-Fluss hinaufgleitet, um für Elsa von Brabant zu kämpfen. Wer hätte wohl wie er den Gesang des ersten Treffens gesungen oder gegeben, das Herzensgespräch in der Brautkammer und den Abschiedsgesang, wo die weiße Taube des heiligen Grals den jungen Ritter umflattert, der kam, siegte und - verschwand. Peers Identifikation mit dieser Rolle geht so weit, dass sich in Lohengrins Schicksal, dem plötzlichen Abschied nach dem Sieg, das des genialen Sängers ankündigt. Dieser nämlich nimmt sich nun vor, selbst eine Oper zu schreiben, und zwar wie Wagner sowohl den Text als auch die Musik, und wie dieser greift er auf ein mythisches Sujet zurück: auf den Aladdin-Stoff, durch das gleichnamige Drama von Adam Oehlenschläger aus dem Jahr 1805 einer der zentralen Stoffe der dänischen Romantik; konzipiert als Gegenentwurf zum Faust, gilt Aladdin als Verkörperung der dänischen Seele. Für Peer hat die Aladdin-Figur noch eine zusätzliche Bedeu- Joachim Grage, Freiburg im Brsg. 218 tung, denn »Ein Glückskind wie Aladdin war unser junger Freund! «, 10 wie der Erzähler kommentiert. Das eigene Leben wird zur Oper, dementsprechend tritt Peer auch selbst in der Titelpartie auf, um die Authentizität der künstlerischen Fiktion aufs Höchste zu steigern. Das Publikum ist begeistert, und Peer feiert einen Triumph, wie ihn das Theater noch nicht erlebt hat. Noch während des Schlussapplauses sinkt Peer auf der Bühne tot zusammen: ›Er kam, siegte und - verschwand‹! 2. Zukunftsmusik - ein Diskursphänomen Die direkten Bezüge des Textes auf Wagner stehen vor dem Hintergrund des damaligen Wagner-Diskurses, der eine der zentralen ästhetischen Debatten des 19. Jahrhunderts darstellt und der auch im zeitgenössischen Kopenhagen mit großer Vehemenz geführt wurde, weil ein halbes Jahr vor Erscheinen des Romans die erste Wagner-Oper im königlichen Theater aufgeführt worden war - es war Lohengrin. 11 Nun also konnte sich das Kopenhagener Publikum einen Eindruck von der vermeintlichen »Zukunftsmusik« machen. Dieses Schlagwort stammte nicht etwa von Wagner selbst, sondern machte im Zuge der Rezeption seiner so genannten Zürcher Kunstschriften, entstanden in den Jahren 1849 bis 1851, die Runde und beherrschte fortan den populären Wagner-Diskurs. »›Zukunftsmusik‹ war die Spottformel der Antiwagnerianer« 12 - der Komponist selbst hatte vom »Kunstwerk der Zukunft« gesprochen, das eben kein rein musikalisches war. Gemeint war damit ein theoretisch und geschichtsphilosophisch fundiertes ästhetisches Konzept, das auch unter dem Stichwort »Gesamtkunstwerk« diskursiviert und trivialisiert wurde, eigentlich aber nicht eine bestimmte Art zu komponieren bezeichnen sollte, geschweige denn die kompositorische Praxis, die Wagner zu diesem Zeitpunkt selbst pflegte. So jedoch verwendet Andersen den Begriff »Zukunftsmusik«: als Schlagwort für die in den Opern Wagners praktizierte musikalisch-szenische Dramaturgie, die Abkehr von der Nummern-Oper zu Gunsten durchkomponierter Szenen bzw. ganzer Akte - und zwar durchaus affirmativ, im Unterschied zu vielen Zeitgenossen. Peer ist wie Wagner an einer Dramatisierung der Oper interessiert, die sich in einer konsequenten Musikalisierung der dramatischen Handlung manifestiert. »Die ganze Dichtung muss durchgehend in den Tönen leben und atmen«, 13 fordert er im Gespräch mit seinem Mentor, dem Gesangslehrer, der zwar ebenfalls künstlich anmutende Gesangseinlagen in einem gesprochenen Text ablehnt, aber die Arie als lyrisches Moment im dramatischen Geschehen verteidigt. Er erkenne zwar die Leis- 10 »Et Lykkebarn som Aladdin var vor unge Ven! « (LP, 86). 11 Vgl. Gerhard Schepelern: Wagners Operaer i Danmark. Valby 1988, S. 13-17. 12 Dieter Borchmeyer: Nachwort zu Band VI. In: Richard Wagner: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden. Hg. von Dieter Borchmeyer. Bd. 10. Bayreuth. Späte weltanschauliche Schriften. Frankfurt a.M. 1983, S. 303-310, hier S. 303. 13 »Den hele Digtning maa gjennemgaaende leve og aande i Tonerne.« (LP, 75). Zukunftspoesie - Zukunftsmusik 219 tungen der »neuen musikalischen Richtung« 14 an, weigere sich aber, wie er sagt, am Tanz um das goldene Kalb teilzunehmen. Damit ist die diskursive Formation, auf die sich Andersens Roman bezieht, treffend charakterisiert, denn die Zuspitzung der Diskussion um Wagners Musikdramen auf das Schlagwort »Zukunftsmusik« führte zu einer Polarisierung, der man sich kaum entziehen konnte. Wer, wie Peer, Wagners Kunst bewunderte, musste sie zugleich auch verteidigen. Man kam nicht umhin, zu Wagner Position zu beziehen, sich auf die Seite seiner Freunde oder seiner Gegner zu schlagen, wobei mit der Zustimmung zu seinem Werk oder dessen Ablehnung stets mehr verbunden war als ein rein ästhetisches Urteil, zumal in Dänemark, wo die Parteinahme für einen deutschen Komponisten nach dem verlorenen deutsch-dänischen Krieg auch eine politische Stellungnahme bedeutete. 15 Die Debatte über Wagner und die so genannte neudeutsche Schule hatte Züge der sektenhaften Fraktionsbildung, in der eine differenzierte Meinung eine prekäre Position war. Für Andersen war die Lage noch brisanter, wie die Äußerungen über Wagner in seinen autobiographischen Texten sowie in den Tagebüchern und Briefen zeigen, denn einerseits erkannte er die Notwendigkeit, in der Wagner-Frage Position zu beziehen, andererseits aber war er zutiefst gespalten: Er war ein glühender Verehrer und ein Anti-Wagnerianer in einer Person, zugleich fasziniert und abgestoßen von dessen Kunst. 3. Andersens Positionierung in der Wagner-Frage Als Andersen im Februar 1846 die Ouvertüre zum Tannhäuser im Leipziger Gewandhaus hörte, war er einer der ersten Skandinavier, die mit Wagners Musik in Berührung kamen. Am Pult stand damals Felix Mendelssohn-Bartholdy, in dessen Haus Andersen verkehrte und dem er auch ein Gedicht gewidmet hat. 16 1855 schreibt Andersen über das Konzerterlebnis in Mit Livs Eventyr: Det Malende i hele denne Tonedigtning greb mig, og jeg brød ud i Bifald - men jeg var saa godt som den Eneste, rundt om saae man paa mig, man hyssede, men jeg blev mit 14 »[D]en nye musikalske Retning« (LP, 76). 15 Wagner bestätigte noch dazu antideutsche Ressentiments, indem er auf einen Brief des Theaterintendanten August Bournonville, der im Lohengrin Regie geführt und ihm von der erfolgreichen Premiere der Oper berichtet hatte, antwortete, er freue sich darüber, dass man nun in Dänemark deutsche Kunst und deutsche Musik kennenlerne. Bournonville wertete das als »arrogante Unwissenheit« (»arrogant Uvidenhed«) und entgegnete pikiert, dass man zwar mit der deutschen Politik in Dänemark nicht sehr viel am Hut habe, aber mit deutscher Musik aufgewachsen sei. Vgl. Schepelern: Wagners operaer (Anm. 11) S. 15. 16 Das Gedicht »I Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdys Stambog (Mens gennem Kirken Orglets Toner runged’)« erschien 1846 in Digte, gamle og nye. Vgl. Schepelern: Wagners operaer (Anm. 11) S. 9f., sowie Inger Sørensen: H.C. Andersen og komponisterne. Kopenhagen 2005. Joachim Grage, Freiburg im Brsg. 220 Indtryk af Musiken tro, klappede endnu engang og raabte ›Bravo‹; men indvendig følte jeg Forlegenhed, Blodet kom mig op i Kinderne. (MLE 2, 139) 17 Das Malende in dieser gesamten Tondichtung ergriff mich, und ich brach in Beifall aus - aber ich war so gut wie der einzige, um mich herum blickte man auf mich, man zischte, ich aber blieb meinem Eindruck von der Musik treu, klatschte erneut und rief ›Bravo‹; aber innerlich spürte ich Verlegenheit, das Blut stieg mir in die Wangen. Bereits der erste Eindruck von Wagners Musik ist also geprägt von der Polarisierung innerhalb des diskursiven Feldes, in dem Wagner rezipiert wurde. Als Andersen sechs Jahre nach dem Leipziger Konzert im Hause Franz Liszts in Weimar von dieser wackeren, allein vom ästhetischen Eindruck gesteuerten Parteinahme für Wagner berichtet, erntet er selbst dafür Beifall: Er befindet sich nun als Gast im inner circle der Wagnerverehrung und wird als ein Parteigänger des Fortschritts begrüßt. 18 Auch seinem dänischen Publikum stellt er sich mit dieser Anekdote in seiner Autobiografie als hellsichtiger Laie dar, der die Bedeutung Wagners früh erkannt hat. Doch Andersen relativiert sein Urteil angesichts der Bekanntschaft mit einer vollständigen Wagner-Oper. Während seines Aufenthaltes in Weimar 1852 hat er nämlich auch Gelegenheit, den Lohengrin zu hören, diesmal unter der Leitung von Liszt, der dieses Werk zwei Jahre zuvor am selben Ort uraufgeführt hat. In seinem Tagebuch notiert Andersen seinen Eindruck: »Lohengrin er en god Text og en storartet Musik, men uden Melodie. Et susende Træ, uden Blomst og Frugt.« 19 In der Rückschau auf diesen Abend in der Autobiografie greift er dieses Bild erneut auf und spricht außerdem von einem »großen Ton-See« (»en stor Tone-Sø«), der über ihn hinweggeströmt sei, ihn geistig und körperlich ergriffen habe, so dass er, von Liszt nach seiner Meinung gefragt, habe antworten müssen: »jeg er halv død! « (MLE 2, 139; »Ich bin halb tot! «). Sein Urteil ist geprägt von einer Ambivalenz zwischen Anerkennung des Neuen und der Verstörung wegen nicht erfüllter Hörerwartungen - und auch von der körperlichen Erschöpfung nach der mehr als vierstündigen Aufführung. 20 Seinen Lesern erläutert er sein Urteil, indem er ihnen er- 17 Vgl. auch die Darstellung desselben Ereignisses in Hans Christian Andersen: Dagbøger 1825- 1875. Hg. von Kåre Olsen und H. Topsøe-Jensen. Kopenhagen 1971-77, Bd. 3. 1845-1850. Hg. von Helga Vang Lauridsen und Tue Gad. Kopenhagen 1974, S. 61. 18 »[...] jeg fortalte det til Liszt oh han og hele hans musikalske Omgivelse lønnede mig med et ›Bravo! ‹, fordi jeg havde fulgt den rigtige Følelse.« (MLE 2, 139; »Ich erzählte das Liszt, und er und seine ganze musikalische Umgebung belohnten mich mit einem ›Bravo! ‹, weil ich dem richtigen Gefühl gefolgt war.«) Vgl. auch Andersen: Dagbøger (wie Anm. 17) Bd. 4. 1851-1860. Hg. von Tue Gad. Kopenhagen 1974, S. 155. Während Andersen diese Episode in Mit Livs Eventyr im Zusammenhang mit seinem Besuch in Weimar 1852 erzählt, ist sie im Tagebuch auf den 29. 6. 1854 datiert. 19 »Lohengrin ist ein guter Text und eine großartige Musik, aber ohne Melodie. Ein rauschender Baum, ohne Blüte und Frucht.« Zitiert nach Andersen: Dagbøger. Bd. 4 (Anm. 18) S. 89. 20 Die Episode wird in der Andersen-Literatur gern erzählt, um Andersens Vorbehalte gegen Wagners Kunst anschaulich zu machen. Allerdings wurde bisher nicht zur Kenntnis genommen, dass der Dichter im hohen Alter kaum eine Gelegenheit ungenutzt ließ, Wagner- Opern zu hören: Am 30. April 1870 besuchte er die dänische Erstaufführung des Lohengrin in Kopenhagen, am 2. Mai den ersten und zweiten Akt (wobei er sich in seinem Tagebuch Zukunftspoesie - Zukunftsmusik 221 klärt, was Musik für ihn zu leisten habe, und hier wird nun die ästhetische Ambivalenz zum Programm erhoben: Man misforstaae mig ikke, min Dom over Musiken er desuden af ringe Betydning, men jeg forlanger i denne Kunst, ligesom i Poesien, de tre Elementer, Forstand, Phantasie og Følelse, og denne sidste aabenbarer sig i Melodier! Jeg seer i Wagner en Nutids tænkende Componist, stor gjennem Forstand og Villie, en mægtig Nedbryder af forkasteligt Gammelt, men jeg savner hos ham det Guddommelige, som en Mozart og en Beethoven fik. (MLE 2, 139) Man möge mich nicht missverstehen, mein Urteil über die Musik ist außerdem von geringer Bedeutung, aber ich verlange in dieser Kunst, ebenso wie in der Poesie, die drei Elemente: Verstand, Phantasie und Gefühl, und letzteres offenbart sich in Melodien! Ich sehe in Wagner einen denkenden Komponisten der Gegenwart, groß durch Verstand und Willen, der mit Macht das verwerfliche Alte niederreißt, aber ich vermisse bei ihm das Göttliche, das ein Mozart und ein Beethoven bekommen haben. Dreierlei ist an dieser Äußerung von eben nicht geringer Bedeutung: Erstens die Einsicht, dass eine Erneuerung der Kunst notwendig ist, was durchaus aggressiv als ein unausweichlich destruktiver Akt, als Zerstörung der Tradition geschildert wird. 21 Im scheinbaren Widerspruch dazu steht zweitens das gleichzeitige Beharren auf einem wesentlichen Konzept klassizistischer und romantischer Ästhetik: der göttlichen Inspiration, die allein dem Genie zuteil wird. Dass diese fehlt, offenbart sich Andersen offenbar im vermeintlichen Mangel an Melodie, ein Element, das nicht nur er, sondern viele Zeitgenossen in der Musik Wagners vermissten. 22 Drittens wird freudig darüber äußert, dass er davon nicht so erschöpft sei wie in Weimar), für die Aufführung am 4. Mai hatte er seinem Jugendfreund Edvard Collin und dessen Frau Karten geschenkt, und dass die Vorstellung am 6. Mai durch eine Aufführung seiner eigenen Oper Liden Kirsten ersetzt wurde, war ihm auch wert, im Tagebuch notiert zu werden. Am 16. Oktober 1870 verließ er die Lohengrin-Aufführung im zweiten Akt, weil er wegen des deutsch-französischen Kriegs in eine tiefe Depression gestürzt war; vgl. Andersen: Dagbøger (Anm.17) Bd. 8. 1868-1972. Hg. von Kirsten Weber. Kopenhagen 1975, S. 362-364 und S. 421f. Auch als in Kopenhagen im Frühjahr 1872 Die Meistersinger von Nürnberg gegeben wurden, saß Andersen wieder täglich im Publikum: am 23.3. (Premiere), 25.3. (1. und 2. Akt), 26.3. (1. und 2. Akt), 27.3. (2. und 3. Akt); vgl. ebd., Bd. 9. 1871-1872. Hg. von Kirsten Weber. Kopenhagen 1975, S. 245f. - Wenn angesichts einer solch intensiven Rezeption aber behauptet wird, Andersen habe Wagner »niemals lieben gelernt« (»aldrig lærte at elske«), dann scheinen eher eigene Vorbehalte die Feder zu diktieren oder die Quellen nicht zu Rate gezogen worden zu sein; vgl. Mogens Wenzel Andreasen: H.C. Andersen og musikken. Kopenhagen 2005, S. 70. 21 Das vermeintlich Destruktive der Musik Wagners scheint im dänischen Wagner-Diskurs sehr im Vordergrund gestanden zu haben. Vgl. dazu Andersen: Dagbøger (Anm. 17) Bd. 6. 1864- 1865. Hg. von Kirsten Weber. Kopenhagen 1972, S. 163f., wo Andersen von einem Gespräch mit dem Komponisten J.P.E. Hartmann berichtet, der Wagner mit Kierkegaard verglichen habe: »begge brydende ned, men Intet selv give« (»beide niederreißend, aber nichts selbst geben«). 22 Zur dänischen Diskussion über Wagner vgl. Schepelern: Wagners operaer (Anm. 11) S. 11- 17. Auch Johan Ludvig Heiberg schrieb polemisch über eine Aufführung des Fliegenden Holländers in Prag, dass Wagners Methode, die ›flauen Melodien‹ der Italienischen Oper zu vermeiden, darin bestehe, jegliche Melodie zu vermeiden. Vgl. ebd. S. 11. Joachim Grage, Freiburg im Brsg. 222 das programmatische Konzept nicht nur für die Musik als verbindlich formuliert, sondern auch für die Literatur. Beide Künste werden in einem Atemzug genannt. In logischer Konsequenz wird Andersen daher später als Pendant zur Zukunftsmusik ein Programm der Zukunftspoesie formulieren. 4. Die Poesie der Zukunft: Die Muse des neuen Jahrhunderts (1861) Das Wort von der »Poesie der Zukunft« (»Fremtids Poesie«) 23 fällt in dem Text Det nye Aarhundredes Musa, den Andersen 1861 im fünften Heft von Nye Eventyr og Historier (Neue Märchen und Geschichten) veröffentlicht hat. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Geschichte im landläufigen Sinne, geschweige denn um ein Märchen, denn dieser Text steht nicht im Modus des Erzählens, sondern in dem der Frage und der Prophezeiung. Im Unterschied zu den theoretischen Schriften Richard Wagners gibt er sich dennoch entschieden literarisch, unter anderem, indem er den Sachverhalt, den er analysiert, allegorisch darstellt. Hauptfigur ist die Muse des neuen Jahrhunderts, die Verkörperung der Poesie in einer bevorstehenden Phase der kulturellen Entwicklung. Wo und wann sie geboren wird, wie sie aufwächst, was sie liest, wie sie sich kenntlich machen wird - über all das spekuliert die Sprecherinstanz in prophetischer Rede. Konstatiert wird eine Krise der Poesie (wie bei Wagner eine Krise der Oper), die bedingt ist durch die Verlagerung der gesellschaftlichen Interessen vom Kulturellen aufs Ökonomische: »Unsere geschäftige Zeit« (NAM, 112; »vor travle Tid«), ist die leitmotivische Diagnose der Ausgangssituation. Zwar verspürten noch einige Menschen den »Drang nach Poesie« (NAM, 112; »Trang til Poesien«), doch lasse sich dieser schon mit einem Blick auf das Einwickelpapier vom Gemüsehändler befriedigen. Aber »Zukunftspoesie wie Zukunftsmusik gehören zu den Donquichoterien; von diesen zu sprechen ist das gleiche, als spräche man von Reiseentdeckungen auf dem Uranus.« 24 Mit dieser ironischen Bemerkung bricht Andersen eine Lanze für die programmatische Utopie und stellt sich hier explizit und öffentlich an die Seite Wagners, indem er die beiden programmatischen Begriffe in einem Atemzug nennt. Die Literatur, die der Sprecher des Textes heraufziehen sieht, verweigert sich keineswegs der Entwicklung, welche die Ökonomisierung der Kultur und die Beschleunigung des Alltags vorantreibt, sondern wird Teil derselben, indem die Muse in den Fabrikhallen aufwächst, über neueste technische Übertragungsmedien verfügt, sich mit der Eisenbahn und im Heißluftballon fortbewegt, Literatur und Kunst aller Länder, Kulturen und Epochen im Zeitraffertempo rezipiert und daraus einen eigenwilligen weltliterarischen Kanon bildet. Wagner hatte mit seiner Programmschrift vom »Kunstwerk der Zukunft« ein festes Projekt im Auge: Er wollte an die 23 Hans Christian Andersen: Det nye Aarhundredes Musa. In: H.C. Andersens Eventyr. Hg. von Erik Dal. Bd. 4. 1861-66. Hg. von Erik Dal. Kopenhagen 1966, S. 112-117. hier S. 113. Zitatnachweise künftig mit der Sigle NAM und Seitenangabe. 24 »Fremtids Poesie, som Fremtids Musik, hører til Donquixotiaderne, tale om den, er som at tale om Reise-Opdagelser i Uranus.« (NAM, 113). Zukunftspoesie - Zukunftsmusik 223 Wurzeln der europäischen Kultur zurückkehren, zur griechischen Tragödie, in der er die Einheit der Künste verwirklicht sah, und sein Ziel war ein neues musikalisches Drama, in dem sich diese Künste wieder vereinigen sollten. Andersen dagegen legt sich nicht fest, wie die Literatur der Zukunft konkret aussehen wird, erklärt aber unmissverständlich: »Als Wiedergänger der entschwundenen Zeit will sie nicht auftreten! « 25 Auf die Widersprüche in Andersens Programm hat Heinrich Detering bereits hingewiesen: Die »Bereitschaft zu modernistisch anmutenden Proklamationen« steht im deutlichen Kontrast zum »Festhalten an konservativ-romantischen Kategorien«, 26 eine Ambivalenz, die wir auch schon an Andersens Stellungnahmen zu Wagners Musik beobachten konnten. Vor allem aber erfüllt Andersens Geschichte von der Geburt der neuen Muse als literarischer Text nicht recht die Ansprüche, die er selbst in Bezug auf Wagner als maßgeblich für die Musik wie für die Poesie formuliert hat: Verstand mag man dem Text zugestehen, Phantasie vielleicht auch, Gefühl aber wohl kaum. Andersen schlüpft hier selbst in die Rolle des ›denkenden Künstlers der Gegenwart, groß durch Verstand und Willen, der mit Macht das verwerfliche Alte niederreißt‹, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen - und wenn er im Lohengrin die Melodien vermisst, so fehlt dieser Geschichte die Handlung. Neue Ausdrucksformen, wie Andersen sie bei Wagner noch bemängelt hat, gesteht er der Poesie also nun sehr wohl zu, und er experimentiert mit ihnen in seinen eigenen Texten. 5. Die Musik der Zukunft: Aladdin und Lohengrin Andersen belässt es nicht bei einem programmatischen Entwurf der Zukunftspoesie, sondern denkt im Lykke-Peer auch Wagner weiter, indem er den Wagnerianer Peer eine Oper komponieren und so eigene Zukunftsmusik in die Welt setzen lässt. Diese steht wiederum in einem eigenartigen Spannungsverhältnis zu den Kompositionen und zur Programmatik Wagners. Was Andersen an der Tannhäuser-Ouvertüre lobt, »das Malende in dieser ganzen Tondichtung«, 27 prägt auch Peers musikalischen Geschmack. Grundlegend für dessen Rezeptionsverhalten gegenüber Musik ist ein synästhetisches Empfinden. Musik berührt ihn, wenn sie ›malend‹ ist, was sich nicht in erster Linie auf die Vermittlung optischer Eindrücke bezieht, sondern vielmehr als Metapher für ein mimetisches Verfahren zu verstehen ist, das im Hörer konkrete Vorstellungen hervorruft. Peer erkennt, »dass die malende Musik, in der die Natur sich widerspiegelte und die Strömungen des Menschenherzens widerklangen, am tiefsten bei 25 »Ikke vil hun optræde som Gjenganger af den svundne Tid.« (NAM, 116). 26 Heinrich Detering: ›Zukunftspoesie‹. Zu Andersens poetologischen Schriften. In: Annegret Heitmann, Karin Hoff (Hg.): Ästhetik der skandinavischen Moderne. Berhard Glienke zum Gedenken. (= Beiträge zur Skandinavistik 14). Frankfurt a.M. 1998, S. 17-34, hier S. 31. 27 »[D]et Malende i hele denne Tonedigtning« (MLE 2, 139). Joachim Grage, Freiburg im Brsg. 224 ihm anschlug«. 28 Diese Ästhetik ist wiederum alles andere als zukunftweisend, denn Peer denkt hier in erster Linie an Beethoven und Haydn. Dementsprechend folgt er auch in seinen eigenen Kompositionen diesem Ideal des Malerischen. Die Ouvertüre zur Aladdin-Oper wird ausführlich in Form einer musikalischen Ekphrasis beschrieben, als Vorwegnahme zentraler Bilder oder Szenen des nachfolgenden dramatischen Geschehens: jublende, legende Børn, glade Barnerøster, Mund i Mund; Gjøgen kukkede med til dem, Droslen slog. Det var det uskyldige Barnesinds Leg og Jublen, Aladdins-Sindet; da rullede ind deri et Tordenveir [...]; et dræbende Lyn slog ned, sprængte Fjeldet; bløde, lokkende Toner løde, en Klang fra Tryllegrotten, hvor Lampen lyste i den forstenede Hule, omsuset af mægtige Aanders Vingeslag. Nu klang i Valdhorn-Toner en Psalmesang, saa mild og blød, som kom den fra Barnemund; et enkelt Horn hørtes, og atter et, flere og flere smeltede ind i samme Toner, og løftede sig derpaa i en Fylde og Kraft som var det Dommedags-Basunen. Lampen var i Aladdins Haand! og der svulmede et Hav af Melodie og Storhed, som Aandernes Behersker og Tonernes Mester mægter det. (LP, 89) Jubelnde, spielende Kinder, fröhliche Kinderstimmen, Mund in Mund; der Kuckuck rief ihnen zu, die Drossel schlug. Es war das Spiel und der Jubel des unschuldigen Kindergemüts, das Aladdin-Gemüt; da zog ein Gewitter herauf [...]; ein tödlicher Blitz schlug nieder, sprengte den Fels; sanfte, lockende Töne erklangen, ein Klang aus der Zaubergrotte, wo die Lampe in der versteinerten Höhle leuchtete, umrauscht vom Flügelschlag mächtiger Geister. Nun erklang in Waldhorn-Tönen ein Kirchenlied, so sanft und weich, als käme es aus Kindermund; man hörte ein einzelnes Horn, und wieder eines, immer mehr verschmolzen in den gleichen Tönen und erhoben sich darauf in einer Fülle und Kraft, als seien es die Posaunen des Jüngsten Gerichts. Die Lampe war in Aladdins Händen! und da erschwoll ein Meer von Melodie und Größe, wie sie der Herrscher der Geister und der Meister der Töne zu bewältigen imstande sind. Das musikalische Vorbild Wagner wird man in diesen pittoresken Kinderszenen kaum vermuten, eher ist in der Abfolge von heiterer Szene, Gewitter und Choral die sechste Sinfonie von Beethoven zu erkennen. Tatsächlich aber war es auch gerade die Ouvertüre zum Lohengrin, die zwanzig Jahre zuvor in ganz ähnlicher Manier beschrieben worden war, und zwar von keinem Geringeren als Franz Liszt, der im Jahr 1851 zwei umfangreiche Werkanalysen zu Tannhäuser und Lohengrin gemeinsam publiziert hatte. 29 Als sich Andersen 1852 in Weimar aufhielt, dedizierte ihm Liszt ein Exemplar dieses Bandes, wohl um den enthusiasmierten Skeptiker ganz auf die Seite der Wagnerianer zu ziehen. 30 Gerade der Lohengrin-Aufsatz hatte einen 28 »[A]t det var den malende Musik, hvori Naturen afspejlede sig og Menneskehjertets Strømninger gjenklang, som slog dybest an hos ham« (LP, 57). 29 Vgl. Franz Liszt: Sämtliche Schriften. Hg. von Detlef Altenburg. Bd. 4. Lohengrin et Tannhaüser de Richard Wagner. Lohengrin und Tannhäuser von Richard Wagner. Hg. von Rainer Kleinertz. Wiesbaden 1989. 30 Andersen erwähnt dieses Buch in Mit Livs Eventyr (MLE 2, 138) und in einem Brief an Edvard Collin vom 12.6.1852. Vgl. Hans Christian Andersen: H.C. Andersens Brevveksling Zukunftspoesie - Zukunftsmusik 225 kaum zu unterschätzenden Einfluss auf die Rezeption dieser Oper in ganz Europa. In der umfangreichen und stilistisch ausgefeilten Beschreibung der Lohengrin- Ouvertüre zeigen sich die gleichen Strategien wie in Andersens Musik-Ekphrasis der fiktiven Aladdin-Ouvertüre: die Verknüpfung von musikalischem Verlauf mit dem Wechsel von Bildern, der Bezug auf die Instrumentation und die Anreicherung der Musik mit konkreten bildhaften Vorstellungen. Während der Erzähler bei Andersen lediglich Kinderspiel, Felsenhöhle und umherschwirrende Geister aus der Musik heraushört, meint Liszt sogar den Gralstempel mit seinen »süßduftenden Mauern, mit goldenen Toren, mit Balken aus Asbest, Säulen aus Opal, Spitzbögen aus Onyx und seinen mit Edelsteinen gepflasterten Höfen« 31 zu vernehmen. Den wesentlichen Mangel aber, den Andersen der angeblich vom Verstand dominierten Musik Wagners zuschreibt, lässt er Peer in seinem idealen Musikdrama beheben: In der Aladdin-Ouvertüre strömt gleich ein ganzes Meer von Melodien. Die fiktive Oper harmonisiert damit die Erneuerung der musikdramatischen Form mit den traditionellen Hörgewohnheiten. Aladdin, so lässt sich zugespitzt sagen, ist Lohengrin mit Melodie, wiederum ein Bekenntnis zum Fortschritt in der Kunst unter Beibehaltung romantischer Konzeptionen, wie Andersen es bereits in der Geschichte von der Muse des neuen Jahrhunderts abgelegt hat. 6. Lykke-Peer und Das Kunstwerk der Zukunft - Parallelen und Kritik Man braucht gar nicht auf die augenfällige Präsenz von Musikern unter den Romanfiguren Andersens zu verweisen, um zu verstehen, dass die Rede über Musik in Lykke-Peer auch eine poetologische Dimension hat. Bereits der Verweis auf Wagner setzt einen größeren Rahmen, denn ihm ging es in seinen theoretischen Schriften ja keineswegs nur um eine Erneuerung der Oper als musikalische Gattung, sondern um eine Erneuerung und Synthese aller Künste in der Oper. Explizit wird der aus dem Wagner-Diskurs stammende Begriff »Zukunftsmusik« in Andersens Roman zwar allein auf die formalen Neuerungen Wagners bezogen, doch bei genauerem Hinsehen zeigen sich inhaltlich bemerkenswerte Anlehnungen an das theoretische Konzept, das Wagner in Das Kunstwerk der Zukunft entwirft; diese werden auf der Ebene des Diskurses, den die Figuren über Wagner führen, eher verschleiert. Die Leistung Peers wird als Steigerung dessen gepriesen, wofür Wagner steht: die Personalunion von Librettist und Komponist, denn Peer ist zudem auch noch ausführender Sängerdarsteller. Er setzt damit aber nur um, was schon in Wagners Schrift Das Kunstwerk der Zukunft angelegt ist, wenn es um den Künstler der Zukunft geht. Wagner schreibt: Wer also wird der Künstler der Zukunft sein? Ohne Zweifel der Dichter*. med Edvard og Henriette Collin. Bd. 2. 1844-1860. Hg. von C. Behrend und H. Topsøe- Jensen. Kopenhagen 1934, S. 224. 31 Franz Liszt: Lohengrin et Tannhäuser (Anm. 29) S. 33. Joachim Grage, Freiburg im Brsg. 226 Wer aber wird der Dichter sein? Unstreitig der Darsteller. Wer jedoch wird wiederum der Darsteller sein? Notwendig die Genossenschaft aller Künstler. 32 Unter dem »Dichter«, so erläutert Wagner in einer Fußnote, sei der »Tondichter« wie der »Sprachdichter« zu verstehen, »ob persönlich oder genossenschaftlich, das gilt hier gleich«. 33 Wagner meinte nicht, dass sich die Einheit von Darsteller, Dichter und Musiker in einer Person zeigen sollte, sondern hatte die Vorstellung einer naturhaften Gemeinschaft aller Künstler, deren Einzelleistungen in seiner Vision vom »vollendete[n] Kunstwerk der Zukunft«, dem »allgemeinsame[n] Drama«, 34 aufgehen, ohne dass individuelle Anteile daran zu würdigen seien. Denn die »Genossenschaft aller Künstler« ist ein Teil des Volkes, dem eigentlichen Urheber des Kunstwerks der Zukunft. Trotz der Konzentration der schöpferischen Potenz allein auf die Person Peers entspricht dieser gerade wegen seiner Herkunft aus dem einfachen Volk und der Begründung seines Könnens durch Genialität statt intellektueller Bildung sehr wohl dieser Vorstellung des zukünftigen Künstlers. Er verkörpert darüber hinaus durch seinen Bildungsweg vom Ballett über die Musik zur Literatur Wagners Konzept von der ursprünglichen Einheit von Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst in der griechischen Antike, die im Laufe der Geschichte abhanden gekommen, im Kunstwerk der Zukunft aber wiederhergestellt sein soll. Das ist um so bemerkenswerter, als im öffentlichen Diskurs über Wagner seine Ausführungen zur Tanzkunst als Grundlage einer allgemeinmenschlichen Ausdruckskunst kaum eine Rolle spielten. Eine weitere deutliche Parallele zu Wagners Konzept vom Kunstwerk der Zukunft ist die zweimalige Anspielung auf den Triumph des Sophokles beim antiken Tragödienwettstreit (vgl. LP, 37 und 90) - die Aladdin-Oper wird damit in die gleiche Tradition gestellt, in der auch Wagner seine Vorstellung vom Gesamtkunstwerk gesehen hat. Der Roman liest sich wie das Protokoll eines Experiments, in dem das Modell vom Kunstwerk der Zukunft exemplarisch durchgespielt wird. Doch zeigt Andersen auch die Grenzen des Wagnerschen Projektes auf, dessen Problem vor allem in der Vollendung liegt. Denn Wagner sieht in bestimmten Kunstwerken wie Beethovens neunter Sinfonie oder dem ›allgemeinsamen Drama‹, das er heraufbeschwört, unübertreffliche Endpunkte einer Entwicklung, nach denen kein Fortschritt mehr möglich ist. Der scheinbar so glückliche Tod des Künstlers auf dem Höhepunkt seines Ruhms, den er mit Sophokles teilt, veranschaulicht die Tragik eines Konzeptes, das auf höchste Steigerung der Kunst zielt. Was aber kann danach kommen? Ist das Kunstwerk der Zukunft zugleich der Endpunkt seiner Geschichte? Erschöpft sich die zukünftige Kunst in endlosen Wiederholungen? Der Blick auf die Geschichte von der Muse des neuen Jahrhunderts legt nahe, dass 32 Wagner: Dichtungen und Schriften (Anm. 12) Bd. 6. Reformschriften 1849-1852, S. 139. 33 Ebd. 34 Ebd. S. 68. Zukunftspoesie - Zukunftsmusik 227 Andersen bereits weiter denkt: Pathetisch sieht er die Literatur seiner Zeit darin unter den Pflug der Moderne geraten, sich selbst als Wurm zerschnitten von einer neuen Generation. Auch Peer, der konservative Revolutionär, muss das Feld räumen, kaum dass er etwas Neues in die Welt gesetzt hat. Der ästhetische Fortschritt frisst seine Protagonisten. 7. Resümee Bekanntermaßen ist die literarische Wagnerrezeption Andersens im Rahmen eines Diskurses über die Moderne kein Einzelfall. Es sei nur auf die Zeitgenossenschaft zum Wagnerismus in Frankreich verwiesen, der mit Baudelaires Artikel über »Richard Wagner und Tannhäuser in Paris« 1861 einsetzte und bald zum Motor der literarischen Moderne wurde. 35 Auch in Skandinavien begleitet Wagner als Subtext die jeweilige Avantgarde, sei es in den Kammerspielen August Strindbergs oder im Werk Lars von Triers. In diesem Kontext mag Andersen mit dem romantischen Lehm an seinen Stiefeln zunächst fremd wirken, aber gerade der Widerspruch zwischen einerseits einem Beharren auf romantischen Positionen und andererseits der Einsicht, dass die Tradition gewaltsam überwunden werden muss - dieser Widerspruch, der auch in Andersens Wagner-Diskurs anschaulich wird, zeigt die Modernität Andersens. Zugleich hat der häufige Bezug auf Wagner die Funktion, sich im literarischen Feld zu positionieren, um es mit den Begriffen Bourdieus auszudrücken: Andersen häuft durch seine Auseinandersetzung mit Wagner symbolisches Kapital an, setzt sich von konservativen Kräften ab und verortet sich, trotz anfänglicher Vorbehalte gegen Wagner, auf Seiten der Erneuerer der Kultur. Der Begriff der Zukunftsmusik, den Andersen dem populären Wagner-Diskurs entnimmt, dient ihm als Bezugsrahmen für poetologische Konzepte, in denen sich modernistische Ansätze mit romantischen Positionen vermischen, die das Wagnersche Konzept teilweise in Frage stellen und zugleich eine erstaunliche Nähe zu ihnen aufweisen. Dass Wagner von dieser literarischen Rezeption Kenntnis genommen hat, ist nicht zu vermuten. Dennoch war der deutsch-skandinavische Kulturkontakt in diesem Fall nicht einseitig. Wie sehr sich Wagner in seiner Ring-Tetralogie die altnordischen Götter- und Heldenlieder der Edda und die Völsunga saga angeeignet hat, ist hinlänglich bekannt. Im Spätwerk hat er aber möglicherweise auch ein Märchen Andersens zu einem Musikdrama transformiert: Dieter Borchmeyer hat auf die erstaunlichen Parallelen zwischen Paradisets Have (1839; Der Paradies- 35 Vgl. dazu einführend Erwin Koppen: Der Wagnerismus - Begriff und Phänomen. In: Ulrich Müller, Peter Wapnewski (Hg.): Wagner-Handbuch. Stuttgart 1986, S. 609-624. - Die Baudelaire und Andersen gemeinsame Affinität zu Wagner ist gerade angesichts von deren Situierung innerhalb der literarischen Moderne frappierend und wohl keineswegs zufällig; vgl. auch Heinrich Detering: Die Blümchen des Bösen. H.C. Andersen, Baudelaire und das Poème-en-prose. In: skandinavistik 35 (2005), S. 101-116. Joachim Grage, Freiburg im Brsg. 228 garten) und Klingsors Zaubergarten im Parsifal aufmerksam gemacht. 36 Ebenso wenig wie man davon ausgehen kann, dass Andersen Wagners kunsttheoretische Schriften aus eigener Lektüre kannte, lässt sich entscheiden, ob die motivischen Beziehungen zwischen Märchen und Operntext zufällig oder Resultat einer unmittelbaren Rezeption sind. Immerhin stand eine Sammelausgabe von Andersens Märchen auch in der Villa Wahnfried - als beliebtes Vorlesebuch für die Kinder. 37 Doch unabhängig von der bewussten oder intendierten Bezugnahme lässt sich so am Beispiel von Andersen und Wagner, zweien der einflussreichsten Geschichtenerzähler des 19. Jahrhunderts, die Zirkulation von Themen, Stoffen und ästhetischen Konzepten tatsächlich als Kreislauf anschaulich machen. 36 Vgl. Dieter Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners. Idee - Dichtung - Wirkung. Stuttgart 1982, S. 287-291. 37 Vgl. ebd. Zukunftspoesie - Zukunftsmusik 229 Literatur Primärliteratur Hans Christian Andersen: H.C. Andersens Brevveksling med Edvard og Henriette Collin. Bd. 2. 1844-1860. Hg. von C. Behrend und H. Topsøe-Jensen. Kopenhagen 1934. Hans Christian Andersen: Mit Livs Eventyr. Revideret tekstudgave ved H. Topsøe-Jensen. 2 Bde. Kopenhagen 1951. (= MLE) Hans Christian Andersen: Det nye Aarhundredes Musa. In: H.C. Andersens Eventyr. Hg. von Erik Dal. Bd. 4. 1861-66. Hg. von Erik Dal. Kopenhagen 1966, S. 112-117. (= NAM) Hans Christian Andersen: Dagbøger 1825-1875. Hg. von Kåre Olsen und H. Topsøe- Jensen. 12 Bde. Kopenhagen 1971-77. Bd. 3. 1845-1850. Hg. von Helga Vang Lauridsen und Tue Gad. Kopenhagen 1974. Bd. 4. 1851-1860. Hg. von Tue Gad. Kopenhagen 1974. Bd. 6. 1864-1865. Hg. von Kirsten Weber. Kopenhagen 1972. Bd. 8. 1868-1870. Hg. von Kirsten Weber. Kopenhagen 1975. Bd. 9. 1871-1872. Hg. von Kirsten Weber. Kopenhagen 1975. Hans Christian Andersen: Lykke-Peer. Hg. von Erik Dal (= Danske Klassikere). Kopenhagen 2000. (= LP) Franz Liszt: Sämtliche Schriften. Hg. von Detlef Altenburg. Bd. 4. Lohengrin et Tannhäuser de Richard Wagner. Lohengrin und Tannhäuser von Richard Wagner. Hg. von Rainer Kleinertz. Wiesbaden 1989. Richard Wagner: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden. Hg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt a.M. 1983. Bd. 6. Reformschriften 1849-1852. Hg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt a.M. 1983. Bd. 10. Bayreuth. Späte weltanschauliche Schriften. Hg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt a.M. 1983. Sekundärliteratur Borchmeyer, Dieter: Das Theater Richard Wagners. Idee - Dichtung - Wirkung. Stuttgart 1982. Borchmeyer, Dieter: Nachwort zu Band VI. In: Richard Wagner: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden. Hg. von Dieter Borchmeyer. Bd. 10. Frankfurt a.M. 1983, S. 303-310. Dal, Erik: Hans Christian Andersen und Richard Wagner. In: Bayreuther Festspiele 2005 [Festspielbuch], S. 40-52. Davidsen, Maria: På sporet af H.C. Andersens kunstkonception. In: Synsvinkler 5 (1993), S. 13-36. Detering, Heinrich: ›Zukunftspoesie‹. Zu Andersens poetologischen Schriften. In: Annegret Heitmann, Karin Hoff (Hg.): Ästhetik der skandinavischen Moderne. Berhard Glienke zum Gedenken (= Beiträge zur Skandinavistik 14). Frankfurt a.M. 1998, S. 17-34. Joachim Grage, Freiburg im Brsg. 230 Detering, Heinrich: Die Blümchen des Bösen. H.C. Andersen, Baudelaire und das Poème-enprose. In: skandinavistik 35 (2005), S. 101-116. Gregor-Dellin, Martin: Richard Wagner. Sein Leben - Sein Werk - Sein Jahrhundert. München 1980. Koppen, Erwin: Der Wagnerismus - Begriff und Phänomen. In: Ulrich Müller, Peter Wapnewski (Hg.): Wagner-Handbuch. Stuttgart 1986 de Mylius, Johan: Myte og roman. H.C. Andersens romaner mellem romantik og realisme. Kopenhagen 1981. Schepelern, Gerhard: Wagners Operaer i Danmark. Valby 1988. Sørensen, Inger: H.C. Andersen og komponisterne. Kopenhagen 2005. Wenzel Andreasen, Mogens: H.C. Andersen og musikken. Kopenhagen 2005. Namens- und Titelregister Agamben, Giorgio 136, 144f, 157 Alexander der Grosse 185 Altenburg, Detlev 224, 229 Andersdatter, Anne Marie 190 Andersen, Hans Christian Agnete og Havmanden 188, 191 Astrid Stampes Billedbog 5, 7, 116 Bemærkninger til Eventyr og historier 88, 161 Billedbog uden Billeder 103 Christine Stampes Billedbog 7 Den gamle Gadeløgte 95, 100, 106, 109 Den gamle Liigsteen 105, 108, 110 Den lille Havfruen 188 Den standhaftige Tinsoldat 132, 144 Den store Søslange 3, 10, 77 Den stumme Bog 95, 110, 112, 152 Det nye Aarhundredes Musa 216, 222 Digte, gamle og nye 219 Dryaden 3, 81f En Digters Bazar 11, 52, 54, 63f, 68-70, 77 Flipperne 145, 148, 151f Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1818 og 1829 14, 21, 25, 118-123, 126f, 129, 147, 164 Fyrtøjet 201f, 211 Historien om en Moder 206, 208f Hørren 147, 152, 176 Improvisatoren 54, 66, 191 I Spanien 77 Jonas Drewsens Billedbog 3, 160, 198 Keiserens nye Klæder 134, 154f Kjærestefolkene 143 Krøblingen 161, 164 Kun en Spillemand 188, 192 Laserne 148, 152 Lebensbuch 193f Liden Kirsten 221 Livet er en Drøm 194 Lykke-Peer 216, 223, 225 Mit Livs Eventyr 191, 193, 215, 219f, 224 Mulatten 11 Nattergalen 80 Nissen hos Spekhøkeren 153, 176 Oldefa’er 13, 76f, 79-92 O.T. 188, 192 Paradisets Have 227 Pen og Blækhuus 137, 141, 176 Phantasier og Skizzer 193 Silkeborg 151 Skyggebilleder af en Reise til Harzen, det sachiske Schweiz etc. etc., i Sommeren 1831 42, 52, 104 Skyggen 13, 33, 42, 44-46, 49f, 188, 202 Sneedronningen 96, 203-206, 209 Stoppenaalen 141 Suppe paa en Pølsepind 4 Tante Tandpine 14, 142, 161-166, 169, 174, 176, 209f, 212f Theepotten 95, 111 Venskabspagten 186 Andersen, Jens 180, 190, 193, 196 Anderson, Benedict 84 Aristoteles 207f, 214 Poetik 207f, 214 Armstrong, Tim 33, 50 Asendorf, Christoph 79, 82, 93 Auchet, Marc 1, 9, 16, 140, 152, 157 Auring, Steffen 81, 93 Bach-Nielsen, Carsten 1, 16 Baggesen, Jens 164, 167 Baggesen, Søren 210f Baker, Robert 68 Bal, Mieke 122, 131 Bang, Herman 179 Stuk 179 Banu, Georges 118, 131 Barlby, Finn 35, 50, 164f, 178, 205, 213f Barthélemy, Imbert 132, 139, 157 La plume d’un bel-esprit 132, 139, 157 Namens- und Titelregister 232 Barthes, Roland 49f Baudelaire, Charles 12, 227 Baxandall, Michael 40, 50 Beck, Ulrich 78, 91, 93 Behrend, C. 225, 229 Behschnitt, Wolfgang 2, 11, 16, 18, 77, 79f, 93 Bellman, Carl Michael 215 Belting, Hans 55, 73 Benjamin, Walter 33, 35, 50, 77, 79, 93 Begemann, Christian 148, 158 Bergengruen, Maximilian 166, 178 Berz, Christiane 11, 18 Blanchot, Maurice 119, 122, 128, 131 Bleibtreu, Renate 118, 131, 163, 178 Blume, Svenja 1f, 16, 79, 93 Bøggild, Jacob 12, 14, 16, 165, 178, 214 Bøgh, Knud 64, 73 Boehm, Gottfried 55, 62, 73 Böhme, Hartmut 97, 99, 113, 135-137, 157 Bohnenkamp-Renken, Anne 155, 158 Boiadjiev, Tzotcho 118, 131 Bonde Jensen, Jørgen 13, 16, 41f, 44, 50, 65, 73 Borchmeyer, Dieter 218, 227-229 Borgards, Roland 166, 178 Bournonville, August 219 Brandes, Georg 132-134, 157, 199f, 210, 214 Braunmüller, Kurt 2, 16, 79, 93, 134, 157 Breitenstein, Jørgen 82, 94 Brenner, Peter J. 63, 73 Brewster, Edwin 68 Brix, Hans 150, 186, 196 Brøndsted, Mogens 2, 16, 134, 157, 192, 196 Bronfen, Elisabeth 14, 118, 123, 131, 148, 155, 157f Brooks, Peter 204, 214 Brown, Bill 135f, 150, 157 Brüggemann, Heinz 12 Bryson, Norman 62, 73 Cappelørn, Niels Jørgen 43, 50, 113 Carl Alexander von Sachsen-Weimar 186f Carlsson, Anni 118, 131 Casanova, Pascale 81, 93 Cäsar 185 Castle, Terry 43f., 50 Castoriadis, Cornelius 134f, 157 Chakrabarty, Dipesh 79, 93 Chamissos, Adalbert de 36, 39f, 47, 50 Peter Schlemihls wundersame Geschichte 36, 39f, 47, 50 Collin, Edvard 53, 182, 187, 195f, 221, 224, 229 Collin, Henriette 225, 229 Collin, Jonas 188, 193, 196 Collin, Louise 186f Conrad, Sebastian 78, 86, 93 Crary, Jonathan 43, 50 Daguerre, Louis 33, 48, 69 Dal, Erik 5, 10, 16, 216, 222, 229 Danius, Sara 33, 50 Davidsen, Maria 216, 229 Depenbrock, Heike 2f, 16, 64, 73, 79, 82, 93f, 134, 157 Derrida, Jacques 154f, 157, Detering, Heinrich 2f, 12, 16, 62, 64, 73, 79, 82, 93f, 134, 157, 166, 178, 188, 195f, 223, 227, 229 Dickens, Charles 209 Dinesen, Isak 35 The dreamers 35 Dorenburg, Thyra 36, 50, 201, 214 Drewsen, Adolph 3, 5, 7, 10, 16, 116, 160, 198 Drewsen, Astrid 5 Drewsen, Christine 5 Drewsen, Jonas 5 Drewsen, Michael 5 Ebel, Uwe 63f, 73 Eckert, Andreas 78, 93 Ekelöf, Gunnar 111 Ernst, Max 57 Eskildsen, Karsten 5, 16 Ette, Ottmar 78, 94 Fahl, Laurids Kristian 36, 42, 50, 70, 73, 77, 93, 103, 113, 118, 131, 157, 161, 164, 178, 186, 196, 201, 214 Fäßler, Peter E. 80f, 85, 90, 94 Namens- und Titelregister 233 Fechner-Smarsly, Thomas 3, 17, 49f, 68, 73, 139, 157 Felcht, Frederike 13 Feldhaus, Franz Marie 87, 94 von Folsach, Birgitte 71, 73 Forster, Hal 62, 73 Foucault, Michel 63, 73, 83, 86, 94, 181, 183, 196 Frank, Thomas 134, 158 Freitag, Ulrike 78, 93 Freud, Sigmund 34, 145f, 154, 165, 173, 181 Frølich, Lorenz 20, 76 Fryd, Annette 13, 17 Fuhrmann, Manfred 207, 214 Gad, Tue 220, 229 Gaffikin, Brigid 109, 113, 142, 146, 158 Gehrlein, Christina 77 Giuriato, Davide 155, 158 Glienke, Bernhard 64, 73 von Goethe, Johann Wolfgang 209 van Gogh, Vincent 54 Götsch, Dietmar 104f, 113 Grage, Joachim 15 Grasskamp, Walter 123, 131 Grätz, Katharina 96, 113 Gregor-Dellin, Martin 215, 230 Greimas, Algirdas J. 200, 214 Gröger, Claus 151, 158 Grum-Schwensen, Ane 7 Gumbrecht, Hans Ulrich 121, 131 Halbwachs, Maurice 97, 101, 113 Handesten, Lars 64, 73 Hansen, Carl Albert [Fahlberg] 185, 187, 196 Hansen, Per Krogh 1, 4, 17, 205, 214 Hansen, Uffe 34, 50 Hartmann, Johan Peter Emilius 221 Harvey, David 90f, 94 Hausmann, Roul 7 Heede, Dag 14, 179, 186, 195f von Hees, Annelies 3f, 9, 17, 139f, 152, 158 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 42, 121 Heiberg, Johan Ludvig 45f, 48, 50, 129f, 221 Om Malerkunsten i dens Forhold til de andre skjønne Kunster 45f, 50 Heitmann, Annegret 3, 13, 16f, 49f, 53, 68, 73, 104, 113, 139, 157, 223, 229 Heltoft, Kjeld 5, 17, 53-56, 58, 60f, 73 Helweg, Hjalmar 186f, 196 Hirschfeld, Magnus 185 Hobsbawm, Eric 84, 94 Hockenjos, Vreni 53, 74 Höch, Hannah 7 Hoff, Karin 3, 11, 16f, 223, 229 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 132, 164 Høegh-Guldberg, Christian 33 Houe, Poul 1, 17, 64, 74 Holberg, Ludvig 6 Holst, Peter 210, 214 Hunfeld, Barbara 148, 158 Husserl, Edmund 174 Hviid Nielsen, Torben 2f, 10, 17 Ingemann, Bernhard Severin 6, 193 Ingwersen, Niels 1, 17 Jauß, Hans Robert 105 Jelsbak, Torben 5f, 17 Jensen, Inger Lise 35, 50 Johansen, Ib 164, 178 Jones, Glyn 81, 94 Jørgensen, Aage 1, 3f, 12, 79, 81f, 94, 139, 158, 195f Jørgensen, Jens 193, 196 Kiening, Christian 148, 158 Kierkegaard, Søren 42-48, 50, 104f, 110, 113, 211, 221 Skyggerids 42f Enten - Eller 42f, 46-48, 50 Stadier paa Livets Vei 104, 113 Kingo, Thomas 6 Kittler, Friedrich A. 3, 50 Kjældgaard, Lasse Horne 2, 13, 45, 51 Klee, Paul 54, 57 Kleinertz, Rainer 224, 229 Kofoed, Niels 101, 110, 113, 164, 178 Koppen, Erwin 227, 230 von Koppenfels, Martin 168f, 178 Koschorke, Albrecht 134, 158 Namens- und Titelregister 234 Kragh, Helge 91, 94 Kramer, Nathaniel 165-167, 171, 178 Krauss, Rolf H. 68, 74 Krauss, Rosalind 48, 51 Kristensen, Tom 35 Hærværk 35 Kristensen, Sven Møller 133, 157 Kürschner, Sebastian 1f, 16, 79, 93 Larsen, Svend Erik 78, 94 Lauridsen, Helga Vang 66, 73, 169, 178, 220, 229 Lessing, Gotthold Ephraim 168f Laokoon 168f Levy, Jette Lundbo 95, 11, 113, 133, 138, 141, 158 Lichtenstein, Roy 123, 129 van der Liet, Henk 1, 4, 17, 79, 94, 139, 158, 195f Lind, Jenny 187 Lippards, Lucy R. 122, 131 Liszt, Franz 220, 224f, 229 Lüdemann, Susanne 134, 158 Lundholdt, Marianne Wolff 1, 4, 17 Lüthi, Max 96, 113 Manet, Edouard 58, 63 Marmer, Nancy 122, 131 Marx, Karl 145 Matala de Mazza, Ethel 134, 158 Matisse, Henri 54 Melchior, Charlotte 5 Melchior, Marie Henriques 5 Michelangelo 185 Mitchell, William John Thomas 49, 51 Möller-Chrsitensen, Ernst 187, 196 Möller-Christensen, Ivy 2, 17, 187, 196 Morris, David B. 169, 178 Mortensen, Finn Hauberg 113, 142, 158 Mortensen, Klaus P. 36, 42, 50, 70, 73, 77, 93, 95, 113, 118, 131f, 157, 161, 164, 178f, 186, 196, 201, 214 Müller, Ludvig 53, 188 Müller, Ulrich 227, 230 de Mylius, Johan 2f, 9, 16-18, 52, 64, 73, 79, 81f, 94, 134, 140, 157f, 164, 166, 178, 216, 230 Nora, Pierre 97f, 101-103, 109, 111-113 Nielsen, Erling 36, 50, 201, 214 Nørregård-Nielsen, Hans Edvard 53f, 55, 57, 60f, 74 Oehlenschläger, Adam 194, 199, 217 Aladdin eller den forunderlige lampe 199 Olsen, Kåre 66, 73, 169, 178, 220, 229 Ørsted, Hans Christian 10, 88f Aanden i Naturen 88 Ørsted, Hans Christian [Enkel von Hans Christian Ørsted] 5, 10 Ørsted, Mathilde 5 Ørsted, Viggo 5 Osterhammel, Jürgen 78, 87, 94 Ottesen, Doris 1, 16 Oxfeldt, Elisabeth 1, 3, 13, 17, 71, 74, 80, 94 Paul, Jean 209 Paul, Fritz 64, 74 Pedersen, Viggo Hjørnager 187, 196 Pedersen, Vilhelm 144 Peirce, Charles Sanders 40, 48 Perlet, Gisela 15, 118, 131, 163, 178, 189, 196 Petersson, Niels P. 78, 87, 94 Plumpe, Gerhard 68, 74 Propp, Vladimir 200f, 214 Randeria, Shalini 86, 93 Ranger, Terence 84, 94 Rank, Otto 34f, 51 Rasmussen, Inge Lise 65, 74 Robinson, David 43, 51 von Rosen, Wilhelm 185, 188, 190, 195f Rubow, Paul V. 132, 158, 180, 196 Said, Edward W. 80 Sartre, Jean-Paul 174 Scarry, Elaine 142, 158, 167f, 172-175, 178 Schepelern, Gerhard 218f, 221, 230 Schiedermair, Joachim 3, 11, 17, 49f, 68, 73, 139, 157 Schivelbusch, Wolfgang 85, 94 Schlegel, Friedrich 123, 155 Schmeling, Manfred 78, 94 Schneider, Sabine 12, 148, 158 Schröder, Stephan Michael 53, 74 Schwarzenberger, Gerhart 2, 17, 33, 51 Namens- und Titelregister 235 Schweppenhäuser, Hermann 77, 93 Sedgwick, Eve Kosofsky 182f, 186, 189, 196 Seiler, Thomas 13, 113, 142, 152, 158 Shakespeare, William 121 Singer, Charles Joseph 42, 51 Sloterdijk, Peter 85, 90, 94 [Sophokles] Oedipus Rex 208 Sondrup, Steven P. 12, 16, 35, 50, 165, 178 Sørensen, Inger 219, 230 Sørensen, Villy 34f, 51 Duo 51 Stecher-Hansen, Marianne 9, 18, 140, 152, 158 Steinmetz, Horst 78, 94 Stoichita, Victor 38-40, 51 Stössinger, Verena 15 Strindberg, August 53, 111, 227 Stümpel, Rolf 151, 158 Svindborg, Bruno 10, 141 Tanner, Jakob 169, 174, 178 Taylor, Brandon 6, 18 Terdiman, Richard 97, 113 Thorup Thomsen, Bjarne 11, 18 Tiedemann, Rolf 77, 93 Todorov, Tzvetan 210, 214 Topsøe-Jensen, H. 66, 73, 169, 178, 180, 196, 215, 220, 225, 229 von Triers, Lars 227 da Vinci, Leonardo 185 Voigt, Christian 192f Voigt, Riborg 187, 192f Wagner, Richard 15, 215-228 Tannhäuser 216, 219, 223-225 Lohengrin 216-221, 223-225 Das Kunstwerk der Zukunft 216, 225 Die Meistersinger von Nürnberg 221 Der fliegende Holländer 221 Parsifal 221 Wanscher, Vilhelm 53, 74 Wapnewski, Peter 227, 230 Warhol, Andy 122f, 126-128 Weber, Kirsten 221, 229 Wechsel, Kirsten 11, 18 Wenzel Andreasen, Mogens 221, 230 Wessel, Johan Herman 167 Wiethölter, Waltraud 155, 158 Williams, Trevor Illtyd 42, 51 Winther, Christian 6 Wolff Lundholt, Marianne 1, 4, 17, 205, 214 Wullschlager, Jackie 189, 196 Beiträge zur Nordischen Philologie Band 1 Oskar Bandle: Die Gliederung des Nordgermanischen. 1973, 117 Seiten und 23 Karten Band 2 Conradin Perner: Gunnar Ekelöfs Nacht am Horizont. 1974, 250 Seiten Band 3 Heinz Klingenberg: Edda - Sammlung und Dichtung. 1974, 185 Seiten Band 4 Oskar Bandle u.a.: Studien zur dänischen und schwedischen Literatur des 19. Jahrhunderts. 1976, 225 Seiten Band 5 Hartmut Röhn: Untersuchungen zur Zeitgestaltung und Komposition der Islendingasögur. 1976, 159 Seiten Band 6 Ulrike Sprenger: Untersuchungen zum Gebrauch von sá und nachgestelltem inn in der altisländischen Prosa. 1977, 282 Seiten Band 7 Hans-Peter Naumann: Sprachstil und Textkonstitution. Untersuchungen zur altwestnordischen Rechtssprache. 1979, 188 Seiten Band 8 Wilhelm Friese u.a.: Strindberg und die deutschsprachigen Länder. Internationale Beiträge zum Tübinger Strindberg-Symposion 1977. 1979, 396 Seiten Band 9 Wolfgang Pasche: Skandinavische Dramatik in Deutschland. Björnstjerne Björnson, Henrik Ibsen, August Strindberg auf der deutschen Bühne 1867-1932. 1979, 310 Seiten Band 10 Aldo Keel: Innovation und Restauration. Der Romancier Halldór Laxness seit dem Zweiten Weltkrieg. 1981, 161 Seiten Band 11 Oskar Bandle u.a.: Strindbergs Dramen im Lichte neuerer Methodendiskussionen. Beiträge zum IV. Internationalen Strindberg-Symposion in Zürich 1979. 1981, 289 Seiten Band 12 Jürg Glauser: Isländische Märchensagas. Studien zur Prosaliteratur im spätmittelalterlichen Island. 1983, 357 Seiten Band 13 Radko Kejzlar: Literatur und Neutralität. Zur schwedischen Literatur der Kriegs- und Nachkriegszeit. 1984, 278 Seiten Band 14 Hans Joerg Zumsteg: Olav Duuns Medmenneske-Trilogie. 1984, 304 Seiten Band 15 Festschrift für Oskar Bandle. Zum 60. Geburtstag am 11. Januar 1986. Herausgegeben von Hans-Peter Naumann unter Mitwirkung von Magnus von Platen und Stefan Sonderegger. 1986, 316 Seiten Band 16 Bjørnstjerne Bjørnsons Briefwechsel mit Deutschen. Herausgegeben von Aldo Keel. I. Teil: 1859-1898. 1986, 414 Seiten 237 Band 17 Bjørnstjerne Bjørnsons Briefwechsel mit Deutschen. Herausgegeben von Aldo Keel. II. Teil: 1899-1909. 1987, 330 Seiten Band 18 Andreas Heusler an Wilhelm Ranisch. Briefe aus den Jahren 1890-1940. In Zusammenarbeit mit Oskar Bandle herausgegeben von Klaus Düwel und Heinrich Beck. 1989, 739 Seiten Band 19 Nordische Romantik. Akten der XVII. Studienkonferenz der International Association for Scandinavian Studies 7-12. August 1988 in Zürich und Basel. 1991, 528 Seiten Band 20 Stefanie Würth: Elemente des Erzählens. Die þættir der Flateyjarbók. 1991, 170 Seiten Band 21 Susan Brantly: The Life and Writings of Laura Marholm. 1991, 206 Seiten Band 22 Thomas Seiler: På tross av - Paal Brekkes Lyrik vor dem Hintergrund modernistischer Kunsttheorie. 1993, 193 Seiten Band 23 Karin Naumann: Utopien von Freiheit. Die Schweiz im Spiegel schwedischer Literatur. 1994, 226 Seiten Band 24 Wilhelm Friese: Halldór Laxness. Die Romane. Eine Einführung. 1995, 164 Seiten Band 25 Stephen N. Tranter: Clavis Metrica: Háttatal, Háttalykill and the Irish Metrical Tracts. 1997, 226 Seiten Band 26 Stefanie Würth: Der „Antikenroman“ in der isländischen Literatur des Mittelalters. Eine Untersuchung zur Übersetzung und Rezeption lateinischer Literatur im Norden. 1998, 294 Seiten Band 27 Wolfgang Behschnitt: Die Autorfigur. Autobiographischer Aspekt und Konstruktion des Autors im Werk August Strindbergs. 1997, 325 Seiten Band 28 Hans-Peter Naumann / Silvia Müller (Hrsg.): Hochdeutsch in Skandinavien. Internationales Symposium, Zürich 14.-16. Mai 1998. 2000, 254 Seiten Band 29 Bettina Baur: Melancholie und Karneval. Zur Dramatik Cecilie Løveids. 2002, 234 Seiten Band 30 Uwe Englert: Magus und Rechenmeister. Henrik Ibsens Werk auf den Bühnen des Dritten Reiches. 2001, 368 Seiten Band 31 Oskar Bandle: Schriften zur nordischen Philologie. Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte der skandinavischen Länder. Herausgegeben von Jürg Glauser und Hans-Peter Naumann. 2001, 638 Seiten Band 32 Jürg Glauser / Barbara Sabel (Hrsg.): Skandinavische Literaturen in der frühen Neuzeit. 2002, 350 Seiten 238 Band 33 Susanne Kramarz-Bein: Die Þiðreks saga im Kontext der altnorwegischen Literatur. 2002, 396 Seiten Band 34 Astrid Surmatz: Pippi Långstrump als Paradigma. Die deutsche Rezeption Astrid Lindgrens und ihr internationaler Kontext. 2005, 618 Seiten Band 35 Iris Ridder: Der schwedische Markolf. Studien zu Tradition und Funktion der frühen schwedischen Markolfüberlieferung. 2002, 276 Seiten Band 36 Barbara Sabel: Der kontingente Text. Zur schwedischen Poetik in der Frühen Neuzeit. 2003, 171 Seiten Band 37 Verschränkung der Kulturen. Der Sprach- und Literaturaustausch zwischen Skandinavien und den deutschsprachigen Ländern. Zum 65. Geburtstag von Hans-Peter Naumann herausgegeben von Oskar Bandle, Jürg Glauser und Stefanie Würth. 2004, 582 Seiten Band 38 Silvia Müller: Schwedische Privatprosa 1650-1710. Sprach- und Textmuster von Frauen und Männern im Vergleich. 2005, 370 Seiten Band 39 Klaus Müller-Wille: Schrift, Schreiben und Wissen. Zu einer Theorie des Archivs in Texten von C.J.L. Almqvist. 2005, XII, 510 Seiten Band 40 Jürg Glauser / Barbara Sabel (Hrsg.): Balladen-Stimmen. Vokalität als theoretisches und historisches Phänomen in der Balladentradition. 2010, ca. 250 Seiten Band 41 Anna Katharina Richter: Transmissionsgeschichten. Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit. 2009, X, 327 Seiten Band 42 Jürg Glauser / Anna Katharina Richter (Hrsg.): Text - Reihe - Transmission. Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa 1500-1800. 2010, ca. 300 Seiten Band 43 Lena Rohrbach: Der tierische Blick. Mensch-Tier-Relationen in der Sagaliteratur. 2009, XII, 382 Seiten Band 44 Andrea Hesse: Zur Grammatikalisierung der Pseudokoordination im Norwegischen und in den anderen skandinavischen Sprachen. 2009, X, 254 Seiten Band 45 Jürg Glauser / Susanne Kramarz-Bein (Hrsg.): Rittersagas. Übersetzung, Überlieferung, Transmission. 2010, ca. 270 Seiten Band 46 Klaus Müller-Wille (Hrsg.): H.C. Andersen und die Heterogenität der Moderne. 2009, 237 Seiten Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Pferde, Wölfe, Wale, Adler: Im historischen Teil der altnordischen Sagaliteratur wimmelt es geradezu von zahmen und wilden Tieren des Landes, der Lüfte und des Meeres. Die Interaktion des Menschen mit der ihn umgebenden Tierwelt - die sich in dieser Form in keiner anderen Gattung mittelalterlicher Literatur findet - ist Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Monographie. Zentrales Anliegen der literarisch-anthropologisch ausgerichteten Studie ist es darzulegen, auf welche Weise Tiere in den Sagaerzählungen zur Konstituierung von Bedeutung herangezogen werden und welche Rückschlüsse daraus auf die den Texten zugrundeliegenden Gesellschaftsbilder und das Selbstverständnis der spätmittelalterlichen isländischen Verfassergesellschaft gezogen werden können. Lena Rohrbach Der tierische Blick Mensch-Tier-Relationen in der Sagaliteratur Beiträge zur Nordischen Philologie, Band 43 2009, XII, 382 Seiten, €[D] 49,00/ SFr 83,00 ISBN 978-3-7720-8307-5 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Die Historien von Apollonius, Melusina, Helena von Konstantinopel und Griseldis, die zu den beliebtesten Erzähltexten der frühen Neuzeit in Skandinavien gehörten, sind Teil des europaweit verbreiteten Genres der Prosaromane oder »schönen Historien«. Die vorliegende Studie untersucht ausgewählte dänische und schwedische Vertreter dieser Erzählprosa unterhaltenden und didaktischen Inhalts im Zeitraum vom 16. bis zum 19. Jahrhundert aus transmissionshistorischer und diskursanalytischer Perspektive. Der erste Teil der Untersuchung befasst sich mit Aspekten der Transmission bzw. des Überlieferungsprozesses der Historie von Apollonius von Tyrus in Dänemark und Schweden von 1594 bis 1882, wobei die Varianz der einzelnen Ausgaben und verschiedene literarische und kulturhistorische Kontextualisierungen der Erzählung, insbesondere über ihre Paratexte und Überlieferungsverbünde, fokussiert werden. Im zweiten Teil der Arbeit werden ausgewählte Historien aus dem 16. und 17. Jahrhundert zu den Themen Liebe, Ehe/ Familie und Sexualität/ Inzest untersucht und mit zeitgenössischen schwedischen und dänischen Ökonomieschriften und Ehetraktaten (Hausväterliteratur) in Korrespondenz gesetzt. Anna Katharina Richter Transmissionsgeschichten Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit Beiträge zur Nordischen Philologie, Band 41 2009, X, 327 Seiten, €[D] 49,00/ SFr 83,00 ISBN 978-3-7720-8292-4 056109 Auslieferung Mai 2009.indd 17 09.06.2009 7: 39: 55 Uhr
