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Umberto Eco

Die Biographie

0428
2010
978-3-7720-5353-5
A. Francke Verlag 
Michael Nerlich
<?page no="0"?> Michael Nerlich UMBERTO ECO DIE BIOGRAPHIE <?page no="1"?> Umberto Eco - Die Biographie <?page no="3"?> UMBERTO ECO DIE BIOGRAPHIE Michael Nerlich <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abruf bar. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Informationsdesign D. Fratzke, Kirchentellinsfurt Druck und Bindung: freiburger graphische betriebe Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8353-2 Umschlagabbildung: © ullstein bild - Andree Foto hintere Klappe des Schutzumschlags: Joël Lumien <?page no="5"?> Für France und Evelyne <?page no="7"?> Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVIII Kindheit im faschistischen Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Erweckung zum Lesen und religiöse Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Studium und Promotion an der Universität Turin . . . . . . . . . . . . . . . 26 Zwischen Wissenschaft, Fernsehen, Verlagsarbeit und Kunst . . . . . 37 Eco und die Avantgarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Lachen und rationales Engagement: Gruppe 63 und Mai 68 . . . . . . . 61 Journalismus und Kinderbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Zwischen Philosophie und Belletristik oder Mut zur Vernunft in blutiger Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort . . . . 117 Wie das deutsche Feuilleton einen Aristoteliker „aus dem Bauch heraus“ bekämpft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Der Sumpf aus dem Berlusconi kam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Die Insel des vorigen Tages oder ein Buch von vielen Autoren über die Ordnung des Universums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Umberto Eco - politisch-moralische Instanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Baudolino oder vom piemontesischen Nebel über Paris und Deutschland, Zentrum des Universums, in das gelobte Land des Presbyters Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 <?page no="8"?> VIII Inhalt Ecos Aufruf zu einem moralischen Referendum und später Beginn eines langsamen Umdenkens im deutschen Feuilleton . . . . . . . . . . 272 Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana oder das Buch vom Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Vom Hässlichen in der italienischen Politik oder la sua lotta continua . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Zitatnachweis und Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Bibliographie (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 <?page no="9"?> Vorwort 2009 hat der Pariser Louvre, das wahrscheinlich bekannteste - und vielleicht auch bedeutendste - Museum der Welt, dem italienischen Philosophen, Wissenschaftler, Journalisten und Romancier Umberto Eco seine Räume für eine Ausstellung nach Ecos Ideen - einem raumzeitlichen Ordnungs-Konzept mit dem Namen Vertigine della lista (Die schwindelerregende Liste) - und ein Kolloquium zur Verfügung gestellt. Man möge sich das einmal vorstellen: das Alte Museum, das Neue Museum, das Pergamonmuseum, die Alte Nationalgalerie und das Bode-Museum, kurz die fünf großen Museen der Berliner Museumsinsel, ungefähr das Äquivalent des Louvre, oder auch die Alte und die Neue Pinakothek sowie die Pinakothek der Moderne und dazu noch die Villa Stuck, das Lenbachhaus, das Haus der Kunst, kurz die Münchner Kunst-Museen zusammen, oder die Kölner, die Dresdner oder auch nur die Hamburger Museen würden ihre Gebäude und Sammlungen für eine Ausstellung zur Verfügung stellen, die Umberto Eco organisieren dürfte und die begleitet wäre von einem internationalen Kolloquium zur Präsentation des Eco’schen Werkes. Das wäre in der Tat nicht vorstellbar, denn obwohl Ecos Werke auch in Deutschland Millionen anonymer Leser und die namhaftesten Historiker und Geisteswissenschaftler begeistert haben, stellt seine Rezeption im erst getrennten und dann wiedervereinten Deutschland eine regelrechte nationale Tragödie dar, denn (mit wenigen Ausnahmen) hat die deutsche Feuilletonkritik von der Zeit oder der FAZ über Die Welt oder Die Süddeutsche Zeitung bis zum Spiegel oder dem Literarischen Quartett Ecos Romanen eine geradezu wütige Abwehrschlacht geliefert, die seit dem Namen der Rose (1980/ 1982) bis zur Geheimnisvollen Flamme der Königin Loana (2004/ 2006) von immer denselben Stereotypen bestimmt war und z. T. noch ist: der „professore“ „Umbertus Ecus“, auch überaus witzig immer wieder „alter Eco“ genannt, sei unfähig, zu erzählen beziehungsweise „Gestalten von Fleisch und Blut“ hervorzubringen, „langweile“ seine Leser mit „ungenießbarem Bildungsballast“, ja, wörtlich: mit „merde“, auf Deutsch: „Scheiße“, und wenn so viele Leute Ecos Bücher kaufen, so hat das deutsche Feuilleton diagnostiziert, dann nur, um damit anzugeben, denn verstehen täten sie das gelehrte Zeug natürlich nicht und stellten Ecos Bücher daher ungelesen in ihre Schränke, und die begeisterten <?page no="10"?> X Vorwort Wissenschaftler-… na ja, die haben - laut Feuilleton - weder Ahnung vom Leben noch von Literatur. Falls jemand glauben sollte, diese Bestandsaufnahme sei übertrieben, so möge er sich selbst überzeugen: die Aussagen sind im Folgenden dokumentiert und lassen sich zum großen Teil auch - dank Internet - in den Archiven der Presse verifizieren. Es wäre also vorauszusehen, was geschähe, würden die genannten deutschen Museen dem Beispiel des Louvre folgen: ein Sturm der Entrüstung und des Spotts würde durch das deutsche Feuilleton brausen, das im Übrigen mit seinem negativen Urteil - mit wenigen Ausnahmen, die vor allem in den katholisch-reaktionären Massenmedien Italiens und speziell Silvio Berlusconis anzutreffen sind - absolut isoliert dasteht: das französische Feuilleton zum Beispiel war und ist von Ecos Romanen begeistert, was denn wohl auch die Initiative des Louvre miterklärt. Diese international absolut einzigartige Nicht-Rezeption des Romanciers Eco durch die deutschen Massenmedien ist aber umso tragischer, als der mit der deutschen Kunstexpertin Renate Ramge verheiratete Vater zweier deutschitalienischer Kinder nicht nur der wahrscheinlich deutscheste aller ausländischen Schriftsteller der Nachkriegszeit ist, sondern Deutschland und seine Geschichte im Verbund mit Italien in den Mittelpunkt seines philosophisch-geisteswissenschaftlichen Werkes und speziell seiner von Millionen rund um den Globus begeistert gelesenen und in 45- Sprachen übersetzten Romane stellt, die u. a. die Wiedergewinnung der kulturellen Identität und nationalen Würde zum Ziel haben, die Deutschland und Italien in der Epoche des Faschismus verloren hatten. Die Positionen dafür hatte der 1932 geborene und vom Faschismus traumatisierte Eco, der wie seine deutschen Altersgenossen an der Universität mit Hilfe von Wilhelm Windelbands Lehrbuch in die Geschichte der Philosophie gefunden hatte, bereits mit vierundzwanzig Jahren in seiner Dissertation über Thomas von Aquin und die Ästhetik abgesteckt. Sie erschien u. a. in England und Frankreich, liegt aber ausgerechnet in Deutschland bis heute nicht vor. Das ist umso bedauerlicher, als Eco in ihr nicht nur seine Abkehr vom katholischen Glauben, sondern auch vom deutschen, in Italien von Croce vertretenen Idealismus und damit von der auf „kongenialer Einfühlung“ gründenden Hermeneutik vollzieht. Diese „idealistische“ - von Schleiermacher und Dilthey begründete - Interpretationstheorie hatte als ahistorische Verstehensstrategie die deutsche Feuilletonkritik bereits vor 1933 entzückt und verabsolutierte sich in Westdeutschland <?page no="11"?> XI Vorwort nach 1945 - als Mittel therapeutischen Vergessens der Nazi-Zeit und Waffe gegen marxistisch-soziologisches Literaturverständnis - zur ausschließlichen Betrachtungsweise, die in der heute im deutschen Feuilleton zur Norm gewordenen Forderung nach „aus-dem-Bauchheraus-Schreiben“ samt seines „kongenial“-instinktiven Verstehens durch den Feuilletonkritiker ihre absolute Trivialisierung und Verallgemeinerung erfahren hat. Konsequenterweise verweigert dieses deutsche Feuilleton denn auch den - historisch-moralisch dringend notwendigen - Dialog mit Eco, denn mit „aus-dem-Bauch-heraus- Schreiben“ hat dieser spätestens seit 1956 nichts mehr am Hut und wendet sich - von Windelband an Aristoteles und Kant verwiesen - historisch-rationalem Denken zu, das er zunächst an der Überwindung ahistorischer Mittelalterkonzeptionen erprobt, für die neben Croce vor allem Ernst Robert Curtius steht und die zur geistigen Grundlage der Europa-Vision Adenauer-Deutschlands wurden, von denen noch heute der alljährlich für Verdienste um die europäische Einigung im Sinn des christlich-abendländischen Europas von der Stadt Aachen verliehene Karlspreis zeugt. Diesem Abstraktum aber setzt bereits der jugendliche Eco das Plädoyer für die Erforschung der mittelalterlichen Kultur auf geschichtlich-soziologischer Grundlage entgegen, für die er Arnold Hausers Sozialgeschichte der Kunst und Literatur von 1951, später aber auch Marx und Gramsci sowie die gesamte moderne Mittelalterforschung von De Sanctis und Taine über Braudel bis Duby und Le Goff heranzieht und die ihn begreifen lässt, dass die Bezeichnung „Mittelalter“ spätestens für die Zeit nach dem 12. Jahrhundert nichts anderes ist als ein Verlegenheitsbegriff, beginnt Europa doch, sich in jener Epoche von Lübeck über Amsterdam bis Venedig und Florenz die Struktur zu geben, die es urbanistisch, verkehrsmäßig und ökonomisch noch heute besitzt: die Struktur unserer modernen Gesellschaft. Nicht zuletzt wegen seiner Absage an Croce und den deutschen Idealismus sowie seiner Abkehr von der katholischen Kirche muss Eco seine berufliche Lauf bahn trotz seines brillanten Wissenschaftsdebüts außerhalb der Universität beginnen: beim italienischen Staatsfernsehen, wo er von 1954 bis 1958 Kultursendungen macht, neben vielen anderen Brecht, Calvino, Boulez, Stockhausen und Strawinsky begegnet und - selbst Flötenspieler - zusammen mit Luciano Berio eine musikalisch strukturierte Präsentation des bis dahin in Italien unbekannten Ulysses von James Joyce besorgt. 1958 wechselt er als Sachbuchlektor zum Bompiani Verlag, wo er sich u. a. mit Technikgeschichte vertraut macht und seine Auseinandersetzung mit mo- <?page no="12"?> XII Vorwort derner Literatur und Kunst vertieft. Er begeht sogar die für jene Zeit immense Unvorsichtigkeit, seine neben Radio- und Verlagstätigkeit weiterbetriebene Wissenschaftsarbeit auf dem Gebiet der Mediävistik und die damit verbundene Methodenreflexion mit der Erforschung der akademisch verpönten Moderne zu verbinden. Das führt ihn zur Entdeckung des von Peirce initiierten und von Dewey vertieften amerikanischen Pragmatismus, wovon u. a. seine grundlegenden Arbeiten über Das Offene Kunstwerk von 1962 und über Die nichtexistente Struktur von 1968 zeugen, Arbeiten, die Eco auch für seine Studien zur Semiotik, der Lehre von den Zeichen, inspirieren werden. Für diese wird er 1971 die erste außerplanmäßige und 1975 eine planmäßige Professur in Bologna erhalten und - neben vielen Gastprofessuren an den bedeutendsten Universitäten der gesamten Welt mit Ausnahme Deutschlands, wo man der Semiotik mit Skepsis begegnet - bis 2007 innehaben. Schuld an seiner nicht - oder nur unzulänglich - erfolgten Rezeption in Deutschland ist im Übrigen auch, dass Eco seit den fünfziger Jahren schriftstellerisch und journalistisch tätig ist, denn derartige Arbeiten wurden von der deutschen Literaturkritik nicht sonderlich geschätzt. Das erklärt auch, dass sie kaum ins Deutsche übersetzt oder doch nur über mehr als problematische Auswahlbände vorgestellt wurden. So blieb weitgehend unbekannt, dass Eco bereits in den 50er und 60er Jahren in den führenden Literaturzeitschriften wie Il Verri, Menabò und Quindice, für die er literarische Parodien und theoretische Essays verfasst, engagiert an der Debatte über die Aufgaben der Literatur im Nachkriegsitalien teilnimmt. Sie führt Eco u. a. zur Auseinandersetzung mit der Massenkultur und deren Verurteilung durch die Frankfurter Schule um Adorno und - in der Tradition Gramscis-- zu ganz vorbehaltlosem Umgang sowohl mit populärem Formmaterial (wie Comics und Krimis) als auch mit den kühnsten Formexperimenten der Avantgarde seit den Dadaisten, den Futuristen und den Surrealisten. Ja, zu Beginn der 60er- Jahre gehört Eco zusammen mit Balestrini und Sanguineti zu den Mitbegründern der wahrscheinlich bedeutendsten Neo-Avantgarde-Bewegung der italienischen Nachkriegszeit, die sich als Hommage an die deutsche Gruppe 47 den Namen Gruppe 63 gibt und deren Debatten keineswegs in einem akademisch luftleeren Raum außerhalb der Gesellschaft stattfinden. Im Gegenteil: die 68er Bewegung zwingt auch die Avantgarde zu politischem Engagement, und der damals an der Seite der Sozialistischen Partei engagierte Eco bezieht seit dieser Zeit in allen links engagierten Magazinen und Zeitungen von der Unità über den Corriere della sera <?page no="13"?> XIII Vorwort oder die Stampa bis zu L’Espresso Stellung zu tagespolitischen Ereignissen aus geschichtlich-philosophisch-republikanischer Perspektive. Das ist durchaus nicht ungefährlich und nimmt geradezu dramatische Dimensionen an, als die Roten Brigaden das Land und speziell Bologna mit Terroranschlägen überziehen und Dutzende hochrangiger Juristen und Politiker wie Aldo Moro ermorden: Eco, der sich hinter Bolognas kommunistische Stadtverwaltung stellt, nimmt in seiner Verurteilung dieses Wahnsinns kein Blatt vor den Mund und stößt auf linksradikalen Zorn im In- und Ausland. Es gehört zur Tragödie der deutschen Eco-Rezeption, dass die meisten dieser politischen Stellungnahmen, die auch geschichtlich-soziale Psychogramme seiner oberitalienischen Heimat, Italiens insgesamt und sogar der Weltpolitik enthalten, in Deutschland unbekannt blieben, obwohl diese Texte, in denen es auch um die Funktion von Literatur und Kunst geht, unverzichtbar für das Verständnis seines weiteren Schaffens sind. Denn dies ist das Atelier, in dem Eco seit 1977 seine geschichtlichen, philosophischen, kulturellen, wissenschaftlichen und künstlerischen Erfahrungen sammelt und aus dem seine ebenso überzeitlich gültigen wie absolut politisch-aktuellen Romane hervorgehen werden. Und das beginnt mit dem Paukenschlag des Namens der Rose, in dem Eco sein Geschichtswissen auf politischem, technologischem, buchhändlerisch-medialem und kulturell-künstlerischem sowie architektonischem Gebiet zu einem Kriminalroman vereint, der - Ende des 13., Anfang des 14.-Jahrhunderts angesiedelt-- nicht nur eine Verurteilung dogmatisch-terroristischen Denkens und Handelns auf allen (auch religiösen) Ebenen, sondern auch eine Bejahung und Propagierung aufklärerischen Denkens darstellt, das-- vom deutschen Feuilleton so gut wie unbegriffen - auch und vor allem eine Rehabilitierung des frühneuzeitlichen Deutschlands darstellt. Das Entscheidene aber: Eco konzipiert den Namen der Rose unter Akzeptierung der avantgardistischen Errungenschaften der Narrativik, aber auch der Kriminalromantradition, explizit und rigoros nach der vom deutschen Idealismus zu Beginn des 19.-Jahrhunderts im Kampf gegen den (damaligen) „Erbfeind“ Frankreich zugunsten der ahistorischen „Kongenialität“ verurteilten aristotelischen Literaturkonzeption, wobei Ecos großes Vorbild - neben Manzonis Verlobten - der größte (aristotelisch-experimentale) Romanerfolg aller Zeiten ist: Der sinnreiche Junker Don Quijote aus der Mancha von Cervantes (1605/ 1615). Intentional und kompromisslos gegen jedes „aus-dem-Bauch-heraus-Schreiben“ als literarästhetisch-vergnügliche Denkaufgabe konzi- <?page no="14"?> XIV Vorwort piert, gelingt Eco mit diesem Romanexperiment, was nach Überzeugung der deutschen Feuilletonkritik nicht möglich ist: es fasziniert und begeistert Millionen von Lesern so wie die folgenden vier Romane, die alle nach aristotelischem Literaturverständnis verfasst und wie Der Name der Rose republikanische Aufarbeitung der Menschheitsgeschichte sind, in deren Mittelpunkt die um Deutschland und Italien konzentrierte Geschichte Europas und seiner Kultur vom 12.- Jahrhundert bis in die Gegenwart der europäisch-amerikanischarabischen Weltkonflikte, aber auch des Niedergangs der italienischen Demokratie unter Berlusconi steht. Dass diese romanhafte Interpretation und Darstellung der europäischen Geschichte von Ecos anderen Publikationen zur Philosophiegeschichte, zur Kunst von der Antike bis in die Gegenwart, zur Musik und zur Architektur, aber auch und vor allem von seinem journalistisch-publizistischen Engagement für Demokratie und Aufklärung und gegen jede Form des Faschismus bis in seine Neu-Auflagen im Nachkriegsitalien und speziell im Italien Berlusconis begleitet werden, gestattet, aus diesem aristotelischrationalistischen Engagement des Umberto Eco, der wie kein anderer den Literatur-Nobelpreis verdiente, Hoffnung für die Zukunft der Menschheit abzuleiten. Meine eigene Auseinandersetzung mit Eco begann in den 70er-Jahren im Kontext der semiotischen Methodendiskussionen und der Medienkritik an der Technischen Universität Berlin, wovon u. a. mein Buch Apollon ou la science incertaine des signes. Montaigne, Stendhal, Robbe-Grillet von 1989 zeugt, das ich weitgehend als Einspruch gegen die von Eco damals vertretenen Thesen von der „unbegrenzten Semiose“ bzw. gegen deren Missbrauch durch Eco-Adepten verfasst hatte, noch bevor Eco selbst mit Die Grenzen der Interpretation von 1991 seine Thesen relativierte und vor allem gegen ihren Missbrauch verteidigte. Wenig später kamen Auseinandersetzungen mit seiner Mittelalter-Forschung - speziell in meiner Kritik an den Mittelalterspekulationen von Curtius und in der Wiederentdeckung der von Eco zu Recht hochgeschätzten Literarästhetik des europäischen Mittelalters von Hans Hermann Glunz - hinzu, bevor ich mich dann auch mit Ecos Romanen auseinandersetzte und sogar die Ehre hatte, 1995 in Lettre International die erste deutsche Besprechung der Insel des vorigen Tages vorzulegen, die wenig später Aufnahme in eine Auswahl internationaler Stimmen zu diesem Roman fand, die von Thomas Stauder in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft herausgegeben wurde. Der Anstoß zur Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk Ecos wurde dann aber von Uwe Naumann gegeben, der mich bat, für die <?page no="15"?> XV Vorwort Reihe der Rowohlt-Monographien, für die ich bereits den Stendhal- Band hatte machen dürfen, eine Eco-Monographie anzufertigen, die eigentlich bereits um 2000 erscheinen sollte. Dass sie dies nicht tat, war ein großes Glück, denn was weder Uwe Naumann noch ich ahnen konnten, war die Tatsache, dass Eco seit 1999 sein Gesamtwerk noch einmal nahezu verdoppelt hat, was den Verfasser der vorliegenden Studie vor immense Aufgaben stellte. Denn Eco ist zwar nicht der einzige Philosoph und Wissenschaftler der Weltgeschichte, der sich an das Verfassen poetisch-literarischer Werke gewagt hat. Aber er dürfte der erste sein, der mit aller Konsequenz seine philosophiegeschichtlichen, historischen, sprach- und literaturwissenschaftlichen Themen selbst als Denkfiguren und Gegenstand der Fiktion in sein Romanschaffen aufgenommen hat, was aufseiten des Interpreten seiner Romane zwar keine „kongeniale Versenkung“, aber doch angemessene Einarbeitung in die von ihm erforschten Wissenschaftsgebiete notwendig macht. Diese Einarbeitung aber wurde noch dadurch erschwert, dass Umberto Eco nicht aufhörte, bis heute unentwegt neue Werke zu produzieren und in immer neue Dimensionen des Nachdenkens über die Welt vorzudringen, die nicht mehr in der verhältnismäßig kleinen Rowohlt-Monographie unterzubringen waren, zumal diese von der Sache her einen kurzen, wenn auch von der literarischen Produktion mitstrukturierten biographischen Überblick in Text und Bild zu liefern hatte. Es lag also nahe, die Arbeit zu splitten und in einem anderen Buch vor allem die geistige Entwicklung darzulegen und die - sit venia verbo-- nötigen „Interpretationshilfen“ für Ecos enzyklopädisch ausgreifendes Lebenswerk und speziell für seine literarische Produktion und damit für seinen genialen Pentateuch, die fünf Bücher oder Romane vom Namen der Rose bis zur Geheimnisvollen Flamme der Königin Loana an die Hand zu geben, was aus den genannten Gründen die Einbeziehung aller wissenschaftlich-philosophischen Dimensionen des Gesamtwerks notwendig machte und - für Deutschland - eine zusätzlich historisch-moralische Dimension besitzt. Ich jedenfalls hoffe, dass ich mit dem vorliegenden Buch einen Beitrag dazu habe leisten können, der Diskussion über Ecos literarisches Werk auch in den deutschen Medien und in der deutschen Feuilletonkritik die politischästhetische Ernsthaftigkeit zu verleihen, derer unsere Nation aus unheilvollen geschichtlichen Gründen immer noch und immer wieder bedarf. Dass die dafür notwendige Arbeit geleistet werden konnte, danke ich-- neben dem erwähnten Anstoß vonseiten Uwe Naumanns - der <?page no="16"?> XVI Vorwort liebenswürdigen Hilfe bei der Beibringung von Texten, die ich in dem französischen Dorf, in das ich mich nach der Emeritierung zurückgezogen habe, nicht erreichen konnte, durch Wolfgang Asholt in Osnabrück, Gian-Luigi Beccaria in Turin, Christiane Fritsch-Weith und ihren Buchladen am Bayerischen Platz in Berlin, Henning Krauss und seine Mitarbeiterin Ulrike Eisenhut in Augsburg, Leoni Obalski, Ulrike Kramer und Christina Knecht vom Hanser Verlag, dem Deutschland die Bekanntschaft mit den meisten Werken aus Ecos Feder verdankt, der geduldig-tüchtigen Equipe vom Francke Verlag um Gunter Narr und Kathrin Heyng, Jean Petitot in Paris und Thomas Stauder in Erlangen. Dass Stauder, der riesige Verdienste um die Eco-Rezeption in Deutschland erworben hat und dessen Interviews mit Eco eine unverzichtbare Quelle für biographische Informationen darstellen, auch nicht eine Sekunde gezögert hat, mir bei der Beschaffung z. T. nicht mehr zugänglicher Materialien behilflich zu sein, soll ebenso erwähnt sein wie die Tatsache, dass der andere große Eco-Experte Burkhart Kroeber, dem wir die vorzüglichen Übersetzungen ins Deutsche verdanken, sofort freundschaftlich zur Hilfe eilte, als ich Auskünfte von Renate Ramge-Eco benötigte. Und damit sei ein Geheimnis gelüftet: nein, ich bin Umberto Eco nie begegnet, habe mich auch nicht in seine Bibliothek begeben, um mir dort kühlen Weißwein oder heißen Espresso kredenzen zu lassen, wie deutsche Feuilletonisten dies zu tun pflegten, um Eco danach zu verreißen, denn ich denke, dass er schon genug um die Ohren hat, ganz abgesehen davon, dass ich den meisten anderen Autoren, über die ich bislang von Chrétien de Troyes über Fray Luis de Leon, Montaigne, Cervantes, Molière bis zu André Gide oder Heinrich Mann gearbeitet habe, auch nie begegnet bin. Und Dank gilt endlich und ganz besonders Evelyne Sinnassamy, die einmal mehr die Geduld besessen hat, alles zu lesen und zu korrigieren. * Die biographischen Angaben zu Eco mussten aus den verschiedensten Quellen zusammengetragen werden. Vgl. neben Francesca Pansa/ Anna Vinci: Effetto Eco und vor allem neben den Interviews, die Thomas Stauder in Gespräche mit Umberto Eco versammelt hat, u. a. folgende Interviews: mit Marie-Françoise Leclère in: Le Point 17. 02. 2002; Catherine David in: Nouvel Observateur 04/ 10. 09. 2003, S.-96-98; Thomas Stauder in: Italienisch, XXVIII, 2006/ 1, S. 2-14; Alberto Sinigaglia in: La Stampa 05. 05. 2007. <?page no="17"?> XVII Vorwort Originalzitate Ecos sind kursiv gesetzt. Sofern sie häufig genannten Werken entstammen, werden sie im Text durch Abkürzungen ausgewiesen (siehe Abkürzungsverzeichnis Seite XVIII). Die Zahlenangaben in Klammern verweisen dann auf diese Werke Ecos bzw. Interviews mit Eco, über die man in der Bibliographie genauere Auskünfte einholen kann. Alle übrigen Zitate sind im Zitatnachweis ab Seite 317 belegt. Zusätzliche Anmerkungen zu den im Text mit * gekennzeichneten Stellen finden sich ebenfalls dort. Sämtliche Übersetzungen von Zitaten aus Werken, die nicht ins Deutsche übersetzt wurden, stammen vom Autor der vorliegenden Biographie. <?page no="18"?> Abkürzungsverzeichnis Originalzitate Ecos aus häufig genannten Werken werden im Text durch die folgenden Abkürzungen ausgewiesen. Die Zahlenangaben in Klammern verweisen dann auf diese Werke Ecos bzw. Interviews mit Eco, über die man in der Bibliographie genauere Auskünfte einholen kann. AI Apokalyptiker und Integrierte B Baudolino BP Die Bücher und das Paradies CC Il costume di Casa Derrick Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß FP Das Foucaultsche Pendel G Thomas Stauder, Gespräche mit Umberto Eco GW Über Gott und die Welt IT Die Insel des vorigen Tages KL Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana KS Kant und das Schnabeltier KSM Kunst und Schönheit im Mittelalter (dtv 1993) LF Lector in fabula (dtv 1990) LSA La struttura assente (Bompiani 1968) NdR Der Name der Rose Nesp N’espérez pas vous débarrasser des livres Ns Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘ OKW Das offene Kunstwerk (Suhrkamp 1977) PE Il problema estetico in Tommasso d’Aquino (Studi Bompiani 1982) PSL Platon im Striptease-Lokal S Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen Schüsse Schüsse mit Empfangsbescheinigung ÜS Über Spiegel und andere Phänomene Wg Woran glaubt, wer nicht glaubt? ZN Zum Nutzen des Menschen <?page no="19"?> Kindheit im faschistischen Italien Geburt und Familie - 1932, Ecos Geburtsjahr, oder Mussolini, der Mann der göttlichen Vorsehung - Faschismus für Kinder - Umberto Eco Balilla Geburt und Familie Dass Umberto Eco zu den berühmtesten lebenden Schriftstellern unserer Zeit zählt, wird niemand zu bestreiten wagen, und auch daran kann kein Zweifel bestehen, dass Eco nie gezögert hat und immer noch nicht zögert, in der Öffentlichkeit aufzutreten, in den Massenmedien das Wort zu ergreifen und unbefangen und wortgewaltig zu allen brennenden und ihn bewegenden Themen Stellung zu beziehen. Ja, in Italien warten Hunderttausende von Lesern auf Ecos zunächst wöchentliche, inzwischen vierzehntägige politisch-soziologisch-kulturelle und stets aus aktuellem Anlass verfassten Kommentare, die unter dem Glossen-Titel Bustine di Minerva im römischen Nachrichtenmagazin L’Espresso erscheinen. Kurz: Eco ist aus dem alltäglichen Bewusstsein der italienischen Zeitgenossen, aber auch der Weltöffentlichkeit nicht wegzudenken. Umso eindrucksvoller, wie sehr es diese Persönlichkeit des öffentlich-kulturellen und politischen Lebens verstanden hat, seine Privatsphäre zu wahren und seine deutsch-italienische Familie aus der Klatsch- und Skandalpresse herauszuhalten, was umso bemerkenswerter ist, als nicht selten gerade Menschen, die wie er, einfachen Verhältnissen entstammen, aber zu Ruhm gelangten, der Versuchung nicht widerstehen können, ihr Privatleben in den Massenmedien auszubreiten. Umberto Eco wird am 5. Januar 1932 als Sohn des dreifachen Kriegsveteranen Giulio Eco, Buchhalter, und dessen Frau Giovanna Bisio, genannt Rita, im piemontesischen Alessandria, der Stadt des „Borsalino“-Hutes geboren. Giovannas Vater, von Beruf Schneider, war bereits 1918 an der spanischen Grippe gestorben. Giulios Vater war - laut Umberto Eco - ein Findelkind, das von einem Gemeindediener nach jesuitischer Tradition den Namen E[x] C[oelo]O[blatus] (vom Himmel geschenkt) erhalten hatte. Von Beruf Buchdrucker und nach seiner Pensionierung Buchbinder, hatte er als Vater von dreizehn Kindern die Familie kaum über Wasser halten können und war <?page no="20"?> 2 Kindheit im faschistischen Italien zeitweilig - obwohl (ebenfalls laut Enkel Umberto) Sozialist - auf die Unterstützung durch eine katholische Bruderschaft angewiesen. Giulio und Giovanna hingegen hatten es zu bescheidenem Wohlstand gebracht, was ihnen erlaubte, Umberto und seiner 1935 geborenen Schwester Emilia, genannt Emi, eine materiell weitgehend sorgenfreie Kindheit zu ermöglichen. Da sie von Handwerkern abstammten, sagt Umberto Eco am 15. Dezember 2002 in einem Interview mit Thomas Stauder, waren mein Vater und meine Mutter innerhalb ihrer jeweiligen Verwandtschaft die erste Generation kleinbürgerlicher Hutträger. Damals spielte der Hut als soziales Unterscheidungskriterium noch eine wichtige Rolle: Nur wer einen Hut trug, war ein Herr oder eine Dame; wer keinen trug, war bloß ein Mann oder eine Frau (G 118). 1932, Ecos Geburtsjahr, oder Mussolini, der Mann der göttlichen Vorsehung Umberto Ecos Geburtsjahr sieht Benito Mussolini auf dem Höhepunkt seiner Macht. Von den squadre d’azione, den schwarzbehemdeten Schlägertrupps seiner 1919 in Mailand gegründeten Fasci di combatimento, die sich 1921 zum Partito nazionale fascista (PNF), der Nationalen Faschistischen Partei verbinden, an die Macht geputscht, erhält der von Machiavelli, Nietzsche, Vilfredo Pareto, Charles Sorel, Oswald Spengler, Gabriele d’Annunzio inspirierte und von der Idee des Wiederaufstiegs Roms zur Weltmacht besessene Mussolini am 29.-Oktober 1922, dem Tag, da Zehntausende seiner squadre in Rom einmarschieren, von König Victor Emmanuel III. den Auftrag, als künftiger Ministerpräsident ein neues Kabinett zu bilden. Zwar scheint sich Mussolini zunächst an die Spielregeln der liberalen Verfassung von 1848 zu halten, doch während sich der PNF immer neue Satzungen und Organisationsformen gibt, die ihm staatlich-exekutive Funktionen einräumen, werden die parlamentarischen Instanzen, die anderen politischen Formationen und die Gewerkschaften nach und nach entmachtet, aufgelöst oder für faschistische Zwecke umfunktioniert. 1932 sind die demokratischen Parteien verboten und die Parlamentswahlen ersetzt durch ein Plebiszit für die Kandidaten des PNF. Die Pressefreiheit ist beseitigt. Radio- und Filmzensur sowie Geheimpolizei kontrollieren öffentliche Meinung und privates Leben. Die Gewerkschaften sind durch korporatistische Abkommen zwischen dem faschistischen Unternehmerverband und dem faschistischen Syndikat ersetzt. Streiks sind verboten. Missliebige Beamte sind ausgetauscht und alle staatlichen Schlüsselpositionen an Mitglieder des PNF ver- <?page no="21"?> 3 1932, Ecos Geburtsjahr, oder Mussolini, der Mann der göttlichen Vorsehung geben. Das Amt des Bürgermeisters ist abgeschafft und ersetzt durch einen vom Staat ernannten Verwalter, den podestà. Aus dem „Ministerpräsidenten“ Mussolini ist der „capo del governo“, der „Regierungschef “ geworden, und die leitende Instanz des PNF, der Große Faschistische Rat, der über Minister und Deputierte entscheidet, erhält ein Mitbestimmungsrecht bei allen verfassungsrelevanten Entscheidungen einschließlich der Thronfolge des offiziell immer noch monarchischen Italiens mit dem König als „Staatschef “. Und am 17.-November 1932 verankert der PNF in seinem Statut und in Großbuchstaben die Anrede Mussolinis: DUCE. Gewiss, da waren Tausende von Faschismus-Gegnern mit Knüppeln und Rhizinusöl gequält, verwundet oder - wie der sozialistische Abgeordnete Giacomo Matteotti 1924 oder der Linksliberale Piero Gobetti, der 1926 noch nach Paris fliehen konnte, um dort seinen Verletzungen zu erliegen - ermordet worden. Da wurden Tausende unbekannter, aber auch namhafter Italiener, Liberal-Konservative wie Giovanni Amendola, Francesco Nitti, Ernesto Rossi oder Alberto Tarchiani, Kommunisten wie Palmiro Togliatti oder Giorgio Amendola, Sozialisten wie Giuseppe Saragat, Claudio Treves und Filippo Turati oder Pietro Nenni und sogar Geistliche wie der berühmte Luigi Sturzo, Gründer des Partito Popolare Italiano, in die Emigration getrieben oder - wie der bedeutendste marxistische Denker Italiens, Antonio Gramsci, oder der konservative Journalist Ernesto Grossi - in Kerkern oder in confini, der inneritalienischen Verbannung, weggesperrt. Aber das Echo in dem von Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs und sozialen Krisen erschütterten Ausland ist gespalten, hat Mussolini - wegen einiger Wohlfahrtsmaßnahmen, vor allem aber wegen der auf Genie-Kult und Technik-Begeisterung gründenden Moderne-Sympathie der faschistischen Bewegung - doch auch in Italien Rückhalt bei namhaften Intellektuellen und Künstlern. Im April 1925 unterschreiben 400 von ihnen das vom durchaus bedeutenden rechtshegelianischen Philosophen Giovanni Gentile (1875- 1944) verfasste Manifest der faschistischen Intellektuellen, in dem Gentile seine Theorie vom „reinen Akt“ oder atto puro, dem Denkprozess, der vorgeblich in freier Dialektik und unabhängig von sonstwie Gedachtem und materieller Kontingenz das kreativ Neue hervorbringt, auf die faschistische Bewegung überträgt. Der „in das lebendige Gefüge des italienischen Volkes“ eingefügte Faschismus, steht im Manifest, sei - „wie jede wahre, d. h. lebendige Idee, welche ihre eigene Kraft ist“- „nicht von den Menschen gemacht“, sondern diese Idee des Faschismus - verkörpert im Duce - mache den faschistischen Menschen: <?page no="22"?> 4 Kindheit im faschistischen Italien „Der Faschismus ist zur gleichen Zeit eine junge und uralte Bewegung des italienischen Geistes“, erklärt Gentile, auf Caesarismus und Rom- Idee sowie auf deren vermeintliche Auferstehung im jugendlichen Enthusiasmus der squadre abhebend, und diese „Bewegung“ müsse sich in Aufopferung für das Gemeinwesen, den Staat als „Tradition“ und „Mission“ gleichzeitig verwirklichen. Daraus ergebe sich „der religiöse Charakter des Faschismus“: „Denn das Vaterland der Faschisten ist […] die Weihe der Traditionen und Einrichtungen, welche in der fließenden Ewigkeit der Überlieferungen die Substanz der Zivilisation sind. Und es ist eine Schule der Unterordnung des Partikularen und Geringeren gegenüber dem Universalen und Unsterblichen, es bedeutet Respekt vor Gesetz und Disziplin […].“ Die Lehren dieser „Schule“ würden nun von Mussolini umgesetzt, und viele Ausländer hätten „damit begonnen, die öffentliche Ordnung, die heute in Italien regiert, mit Neid zu betrachten“. Was sollte es da helfen, dass Benedetto Croce (1866-1952), der andere große und Gentile durchaus geistesverwandte neo-hegelianische Philosoph der Epoche, eine Antwort verfasste, die am 1. Mai 1925 in Il Mondo erschien und in der er die pathetische Glorifizierung des Faschismus durch Gentile als „inkohärentes und bizarres Gemisch von Appellen an die Autorität und von Demagogentum“ und als „chaotische und unbegreif bare ‚Religion‘“ verurteilte und eine rationale Rückkehr zu demokratisch-liberalen „Ordnungen und Methoden“ einforderte, hatte Croce doch kurz zuvor noch selbst der faschistischen Machtergreifung zugestimmt. Gewiss, sein Gegenmanifest wird von Luigi Albertini, Giovanni Amendola, Antonio Banfi, Luigi Einaudi, Giorgio Levi Della Vida, Attilio Momigliano, Eugenio Montale, Gaetano Salvemini und anderen mehr unterschrieben. Doch diesen Unterschriften stehen die unter dem faschistischen Manifest entgegen: von Curzio Malaparte z. B., Ugo Ojetti, Pirandello, Ardengo Soffici, Ungaretti und von Hunderten mehr wie u. a. - damals war der italienische Faschismus noch nicht offen antisemitisch - der reichen jüdischen Mussolini-Verehrerin Margherita Sarfatti, Verfasserin einer Duce-Biographie, die 1925 zuerst in England erschien und ein Bestseller wurde, und Kunstmäzenin, die die bedeutendsten Avantgardekünstler um sich sammelte. Dazu gehörten Maler und Architekten, die sich in der von Mario Sironi mitbegründeten Gruppe Novecento (Zwanzigstes Jahrhundert) zusammenfanden, aber auch die Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti, der übrigens auch Gentiles Manifest unterzeichnet hatte, Giacomo Ballà, Carlo Carrà, Fortunato Depero, Gerardo Dottori, Julius Evola, Achille Funi, Enrico Prampolini, die <?page no="23"?> 5 1932, Ecos Geburtsjahr, oder Mussolini, der Mann der göttlichen Vorsehung „Unabhängigen“ wie Giorgio De Chirico und Giorgio Morandi sowie die Architekten des Movimento Moderno und des Razionalismo Italiano wie Giacomo Boni, Adalberto Libera, Marcello Piacentini, Gio Ponti oder Giuseppe Terragni. 1932 jedenfalls triumphieren der Faschismus und Mussolini in der Mostra della Rivoluzione Fascista in Rom, der Ausstellung der Faschistischen Revolution, an der leitend Dottori, Libera, Cipriano Efisio Oppo, Prampolini, Sironi und Terragni teilnehmen, alle bis heute anerkannte Avantgardisten, und im selben Jahr 1932 wird im faschistischen Italien ein Festival eröffnet, das bis heute besteht: die Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica di Venezia, die Filmfestspiele von Venedig, an der im selben Jahr 1932 u. a. Ernst Lubitsch mit Trouble in Paradise und René Clair mit A nous la liberté teilnehmen. Kurz, es ist für die Zeitgenossen in den zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre nicht leicht zu einem Urteil zu kommen, zumal Croce, der in Italien bleibt, auch weiterhin moderate Kritik äußern darf und Gentiles Verweis auf Bewunderung im Ausland durchaus nicht aus der Luft gegriffen ist, woran auch und vor allem die katholische Kirche schuld war, hatte sie doch - zumal nach der Wahl des militant reaktionären Kardinals Ratti zum Papst Pius XI. am 6. Februar 1922 - dem faschistischen Regime geradezu rückhaltlose Unterstützung gewährt. In beiderseitigem Interesse, denn Mussolini war klar, dass er in Italien keine antikatholische Diktatur errichten konnte, und dem Vatikan war klar, dass er keinen engagierteren Bundesgenossen als den PNF und seinen DUCE im Kampf gegen den „Bolschewismus“ finden konnte, wie man damals alle sozialistischen, marxistischen oder auch nur laizistischen Ideen zu nennen pflegte. Am 11. Februar 1929 fuhr man denn auch die große Ernte ein: für den Vatikan unterschrieben Kardinal Pietro Gasparri und für den italienischen Staat Mussolini selbst die sogenannten Lateranverträge, mit denen der seit den napoleonischen Kriegen schwelende Streit um den Besitz Roms, Hauptstadt Italiens seit 1870, beendet wurde. Der Vatikanstaat erhielt politische Souveränität und wurde mit einem Milliardenbetrag für die Verluste am übrigen römischen Besitz entschädigt. Im Gegenzug erkannte der Vatikan den offiziellen capo des faschistischen Staates, Viktor Emmanuel III., als König Italiens an und erklärte sich bereit, dem Klerus zu verbieten, sich politisch zu betätigen. Der Staat verpflichtete sich seinerseits, kirchliche Eheschließungen zivilrechtlich anzuerkennen, erhob darüber hinaus den katholischen Glauben zur Staatsreligion und vereinbarte, den 1887 abgeschafften obligatorischen Religionsunterricht in den Schulen wieder einzuführen. <?page no="24"?> 6 Kindheit im faschistischen Italien Von da an ist das Regime Mussolinis, den Pius XI. nach Unterzeichnung der Verträge „den Mann“ nannte, „den uns die Vorsehung“ gesandt hat,* trotz gelegentlicher Differenzen eine vom Vatikan akzeptierte faschistische Diktatur mit katholischer Staatsreligion, und Mussolini kann 1932 verkünden: „Im faschistischen Staat gilt die Religion als eine der tiefsten Offenbarungen des Geistes; sie wird daher nicht nur geachtet, sondern auch verteidigt und geschützt.“ Dass dies alles die Verwirrung (nicht nur) im Ausland noch vergrößert und widerständige Aktivitäten wie die der - 1929 in Paris von antifaschistischen Emigranten um Carlo Rosselli und Nitti gegründeten - Bewegung Giustizia e Libertà, Gerechtigkeit und Freiheit, noch schwieriger macht, liegt auf der Hand. Denn dass ein Hitler 1927 in Mein Kampf seine „tiefste Bewunderung für den großen Mann südlich der Alpen“ bekundete, war die eine, logische Seite, dass ein Churchill 1929 von Mussolini als der „Verkörperung des römischen Genius“ und dem „größten Gesetzgeber“ sprechen konnte,** die andere, weniger logische Seite einer Faszination, die verständlich macht, wieso der Bonner Romanist Ernst Robert Curtius 1932 in seinem Traktat Deutscher Geist in Gefahr für die Faschisierung Deutschlands nach italienischem Vorbild plädieren kann. Unter Hinweis darauf, dass Italien in seiner Geschichte „starke Zuströme germanischen Blutes“ empfangen und in seinem „Bildungsideal […] die antike und die eigene nationale Tradition“ bewahrt habe, ruft Curtius, der eine entscheidende Rolle in Ecos geistiger Entwicklung spielen wird, zur Abkehr vom modernen Frankreich, das diese „Tradition“ verraten habe, und zur Kollaboration mit Mussolinis Italien auf und erklärt: „Seit dem Sieg des Faschismus hat die Romidee eine Renaissance erlebt. […] Je mehr Trennendes sich zwischen Deutschland und Frankreich auftürmt, umso mehr Verbindendes taucht zwischen Deutschland und Italien auf.“ Faschismus für Kinder Ohne der genannten Fakten eingedenk zu sein, ist es unmöglich, Ecos intellektuelle Entwicklung, sein demokratisches Engagement, ja, letztlich auch sein literarisches Werk auch nur annähernd zu verstehen. Natürlich könnte man meinen, dass er viel zu jung gewesen sei, als dass jene Zeit von 1932 bis 1944 von größerer Bedeutung für sein wissenschaftliches und literarisches Schaffen hätte sein können. Das ist jedoch nicht Ecos eigene Meinung, und wer dies - in der Art üblicher Missachtung kindlichen Erfahrens- und Urteilsvermögens, aber natürlich auch kindlicher Traumata-- bezweifelte, den belehrt sein 2004 <?page no="25"?> 7 Faschismus für Kinder veröffentlichter fiktiv-autobiographischer Roman Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana eines Besseren, ist eine seiner wichtigsten Dimensionen doch der Suche nach dem vergangenen Ich in der nichtproustianischen Perspektive des Befragens von Zeugen und vor allem von schriftlichen Zeugnissen aus seiner piemontesischen Kindheit und frühen Jugend gewidmet. Dass Eco, um diese Befragung - speziell der schriftlichen Dokumente aller Art - intensivieren zu können, nicht nur sein fiktives Parallel-Ich namens Giambattista Bodoni, das er wenige Tage früher als sich selbst im Dezember 1931 in Solara, einem (fiktiven) Ort in den piemontesischen Langhe zur Welt kommen lässt, zu einem (bedeutenden) Antiquar macht, sondern auch noch mit einem Großvater versieht, der ebenfalls Antiquar gewesen ist und ein Riesenkorpus an Dokumenten und Texten hinterlassen hat, ändert nichts an der Tatsache, dass viele der Bücher, Schulhefte, Manuskripte und Bilder, die jener Bodoni im Roman nach seiner Vergangenheit befragt, auch in Ecos Kindheit eine reale Rolle gespielt haben. Aber zum Verständnis dieser fiktiv-authentischen Befragung der Kindheit und Jugend seines Parallel-Ichs bedarf es noch einer Ergänzung zur eingangs skizzierten Faschisierung der italienischen Gesellschaft, trifft diese doch die unschuldigsten und wehrlosesten Opfer am härtesten: die Kinder und Jugendlichen, die - wie in Gentiles Manifest der faschistischen Intellektuellen beispielhaft ausgeführt - im mythisch verbrämten Mittelpunkt der faschistischen Gesellschaftspolitik standen. Ihre Indoktrination und brutale Integration in eine sich immer mehr militarisierende Gesellschaft fand auf zwei Ebenen statt, die sich bis hin zur totalen Fusion miteinander verbanden: der Schule und der zwangsweisen Eingliederung in die Organisationen der 1926 gegründeten Opera Nazionale Balilla (O.N.B.), des Nationalen Jugendwerks, das sich „Balilla“ nach dem Spitznamen eines Jugendlichen nannte, der 1746 in Genua den Aufstand gegen die Habsburgischen Besatzungstruppen ausgelöst haben soll. Diese Organisation (ab 1937 umbenannt in Gioventù Italiana del Littorio - die Italienische Jugend vom Liktorenbündel: nach dem Emblem des Faschismus ) war - für die männliche Jugend - aufgeteilt in die Altersgruppen der 8bis 14-Jährigen, die Balilla, der 14bis 18-Jährigen, die Avanguardisti (bzw. seit 1933 auch, mit Alterseinstieg von 7 Jahren, Balilla Moschettieri - Balilla-Musketiere) und der 18bis 21-Jährigen, die Giovani fascisti - Jungfaschisten genannt wurden. Zu diesen Gruppen traten an der Universität seit 1927 die faschistischen Studentenschaften und in Kindergärten und Grundschulen seit 1933 die - in Erinnerung an Romulus und Re- <?page no="26"?> 8 Kindheit im faschistischen Italien mus, die mythologischen Gründer Roms, bzw. an die Wölfin, die sie gesäugt hatte - sogenannten Figli della Lupa, die Wolfssöhne. Das waren Kindertruppen, denen man zunächst mit sechs, dann bereits mit vier Jahren beitreten konnte und später musste, um unter der Devise Glauben, gehorchen und kämpfen das erste Schwarzhemd und einen Fez (später auch eine blaue Krawatte) zu tragen, den faschistischen „Römergruß“ sowie faschistisch-patriotische Gesänge zu lernen und in der Folge bewaffnet zu werden. Giovanni Gentiles Name ist auch mit dieser ideologischen Gleichschaltung der Kinder und Jugendlichen unrühmlich verbunden. Als Unterrichtsminister des faschistischen Regimes zeichnete er 1923 verantwortlich für eine Schulreform, die von Mussolini „die faschistischste aller Reformen“ genannt wurde. Sie war es insofern, als sie - unter Beibehaltung eines eher konservativen Literatur- und Fächerkanons - strukturell jede weitergehende ideologische Anpassung ermöglichte. Das betraf zum einen den Religionsunterricht, zum anderen die immer intensiver werdende Infiltration mit faschistischer Ideologie selbst über das Nationale Jugendwerk Balilla, dem zunächst die körperliche Ausbildung im Sportunterricht übertragen wurde. Nach und nach wurde sie aber auch über Begleit-Zeremonien wie Fahnenappelle, gemeinsames Absingen faschistischer Lieder und speziell der Parteihymne Giovinezza in allen anderen Bereichen praktiziert. Seit dem Ende der zwanziger Jahre wurde jegliche Zurückhaltung aufgegeben. War bis dahin die Indoktrination über erläuternde Kommentare der Lehrer erfolgt, was durchaus Formen des Widerstands möglich machte, hielt sie nun Einzug in die Schulbücher selbst bis hin zur Einführung der Staatlichen Einheitstexte, und die Lehrer, die 1931 zum Eid auf den Staat und zum Eintritt in den PNF gezwungen wurden und zum Unterricht uniformiert oder zumindest schwarz-behemdet antreten mussten, hatten nun kaum mehr Möglichkeiten, andere Dimensionen des Denkens als die durch Manuale wie die Nozioni di cultura fascista vorgegebenen auch nur anzudeuten. Sie hatten die faschistische Ideologie direkt zu vermitteln, wobei vor allem der DUCE-Kult, die Verherrlichung der Faschistischen Partei und ihrer „heroischjugendlichen“ Kämpfer aus der squadra-Zeit, der Rom-Mythos und der Marsch auf Rom im Mittelpunkt standen: „Der italienische Staat verlangt, dass sich die Schule an den Idealen des Faschismus orientiert [und] die italienische Jugend auf allen ihren Stufen und in allen ihren Unterrichtsfächern zum Verständnis des Faschismus erzieht, damit sie sich im Faschismus erneuert und in dem geschichtlichen Bewusstsein lebt, das der Faschismus geschaffen hat.“, hatte Mussolini 1925 <?page no="27"?> 9 Faschismus für Kinder verkündet, und 1934 wurde dies der neuen Schulreform als Prämisse vorangestellt.* Im selben Jahr 1934 kommt es zur ersten Begegnung zwischen Hitler und Mussolini, womit die deutsch-italienische Annäherung beginnt, in Kooperationen überzugehen. Diese werden zwar vom Staatssekretariat für Propaganda (ab 1937 Ministero della Cultura Popolare, genannt MinCulPop) seit der Ausrufung der „Achse Rom-Berlin“ am 1. November 1936 bis zum Abschluss des sogenannten „Stahlpakts“ (mit wechselseitiger Beistandspflicht im Kriegsfall) am 22. Mai 1939 als Erfolge des Mussolini-Regimes ausgegeben, bilden in gewisser Weise auch einen Schutzwall, hinter dem Mussolini seine kolonialistischen Abenteuer unternehmen kann, stürzen Italien aber in Wahrheit in tiefe Abhängigkeit von Nazi-Deutschland und beschleunigen damit das Ende des faschistischen Regimes in Italien. Der größenwahnsinnige Mussolini missachtet alle Warnsignale. Im Oktober 1935 lässt er seine Truppen in Äthiopien einmarschieren. Am 9.-Mai 1936 wird Italien zum Italienischen Reich Ostafrika und Viktor Emmanuel III. zum Kaiser von Äthiopien ernannt. Im Jahr danach entsendet Mussolini Truppen nach Spanien, die aufseiten der falangistischen Franco-Truppen gegen die spanische Republik kämpfen sollen, dort aber u. a. in der Schlacht von Guadalajara Niederlagen gegen die republikanischen spanischen Truppen im Verbund mit italienischen Antifaschisten erleiden. Das aber hält Mussolini keineswegs von weiteren katastrophalen Abenteuern in Afrika, aber auch in Albanien und Griechenland ab. Diese werden, in Ausführung der Befehle, die sie von den Erziehungsministern Cesare Maria Del Vecchi (1935-36), dem die italienische Schule ein neues Schulfach, die cultura militare verdankte, und Giuseppe Bottai (1936-1943) erhalten, den Kindern und Jugendlichen im Schulunterricht nahezu täglich so wie die Kampfeinsätze der Schwarzhemden im Spanischen Bürgerkrieg in Wort und Bild als militärische Triumphe verkauft. Dabei radikalisieren sich auch hier Tonart und Bildstil, ist es den Italienern doch seit 1937 verboten, sich mit Farbigen aus den Kolonien zu verheiraten, und 1938 wird einmal mehr ein faschistisches Manifest vorgelegt, das sogenannte Manifest der Rasse, das von vielen Intellektuellen wie Francesco Biondolillo, Mediävist und Dante-Spezialist, Amintore Fanfani, dem großen Christdemokraten der Nachkriegszeit, Agostino Gemelli, Arzt, Psychologe, Franziskanerpater, 1920 Gründer der Università Cattolica del Santo Cuore in Mailand, oder Giovanni Guareschi, dem Verfasser der Don Camillo und Peppone-Romane unterschrieben ist. 1938 treten denn auch die Faschistischen Rassegesetze in Kraft, die jüdische Lehrer <?page no="28"?> 10 Kindheit im faschistischen Italien und Schüler vom Unterricht ausschließen, Schulbücher, die von jüdischen Autoren verfasst wurden, verbieten und später Tausende Italiener - wie Primo Levi - in die Vernichtungslager der Nazis schicken werden. Sie schlagen sich auch im letzten faschistischen Schulreform- Programm nieder, das am 15. Februar 1939 verabschiedet wird und bereits den Einsatz moderner Massenmedien wie des - damals noch unerschwinglichen - Radios vorsieht. Ihm zufolge soll der Unterricht nun auch „von den ewigen Werten der italienischen Rasse und Zivilisation“ bestimmt sein, und in der Tat rechtfertigen die Schulmanuale die italienische Kolonialpolitik als zivilisatorische Hilfe für primitive Völker mit der angeblichen Überlegenheit der italienisch-arischen Rasse. Damit ist der Höhepunkt der Faschisierung von Schule und Jugendpolitik erreicht und gleichzeitig überschritten, denn das faschistische Italien verschwindet im Chaos des Zweiten Weltkriegs. Die afrikanischen Kolonien gehen trotz deutschen Beistands verloren, und nach der Landung der Alliierten in Sizilien und den ersten Bombardierungen Roms erinnert sich der Gran Consiglio an seine statutarischen Rechte und zwingt Mussolini am 25. Juli 1943 zum Rücktritt. Er wird verhaftet, und die Regierungsgeschäfte gehen an Generalmarschall Pietro Badoglio über, der den PNF auflöst und nach kurzer Schamfrist in Waffenstillstandsverhandlungen mit den Alliierten tritt, während der größte Teil Italiens noch von der deutschen Wehrmacht besetzt ist und die Bevölkerung Hunger leidet. Doch während das von allen antifaschistischen Kräften gebildete Komitee zur Nationalen Befreiung gegründet und die Resistenza zur Massenbewegung wird, erfolgt der Theatercoup: Mussolini wird am 12. September 1943 von einem SS- Kommando aus dem Gefängnis befreit und darf als Chef eines Marionettenstaats mit Namen Repubblica Sociale Italiana (auch nach der Phantomhauptstadt Republik von Salò genannt) im - von den deutschen Truppen besetzten - Norditalien, wo die Resistenza immer größere Erfolge erzielt, noch eineinhalb Jahre mit den Nazis kooperieren, die immer noch Tausende italienischer Bürger jüdischen Glaubens aus den besetzten Gebieten deportieren. Am 27. April 1945 aber ist der faschistische Spuk definitiv zu Ende. Mussolini versucht, in die Schweiz zu flüchten, wird aber mit seiner Geliebten Clara Petacci in Dongo am Comer See von Partisanen festgenommen und am folgenden Tag hingerichtet. <?page no="29"?> 11 Umberto Eco Balilla Umberto Eco Balilla Beim Zusammenbruch des faschistischen Regimes, das seit 1943 eher verächtlich „il ventennio“ genannt wurde, „die Zwei Jahrzehnte“, befindet sich Eco in Nizza Monferrato, einem Dorf dreiunddreißig Kilometer südwestlich von Alessandria, im hügeligen Weinanbaugebiet zwischen den Flüssen Po und Tànaro, wohin seine Mutter mit den Kindern vor den Bombardierungen der Stadt geflüchtet war und wo sie unter großen Anstrengungen bei den Bauern etwas Mehl und bisweilen auch ein halbes Kaninchen beschaffte. Dort bot sich dem Jungen, wie Eco am 15. Dezember 2002 im Gespräch mit Thomas Stauder berichtet (G- 119), der Krieg aus drei verschiedenen Blickwinkeln dar: Erstens, aus dem eines bloßen Zuschauers aus der Distanz, der von den Ereignissen aus der Zeitung oder dem Radio erfuhr. Zweitens, aus dem des Opfers; mir ist noch eine Nacht der Bombardierung Alessandrias in Erinnerung, während derer die Geschosse aus den Luftabwehrgeschützen fehlgeleitet in eine Straße in meiner Nähe fielen […]. Drittens, als Beobachter des Partisanenkriegs, den Eco auf dem Land im Monferrato miterleben konnte. Wie weit er sich damals bereits von der faschistischen Indoktrination hatte freimachen können, ist schwer zu entscheiden. Zwar erklärt Eco in einem anderen Interview mit Marie-Françoise Leclère, er habe die Ereignisse von 1943 bis 1945 und speziell die Handlungen der Resistenza mit der Luzidität eines Dreißigjährigen erlebt, aber als er Stauder das Interview gibt, sitzt er an der Königin Loana und versucht (man könnte sagen: verzweifelt) darauf eine Antwort zu geben… wenn auch per Befragung der Dokumente durch sein Analogie-Ich Giambattista Bodoni. Und mit diesem teilt er Kindheit und Jugend bis hin zur Identität, denn so wie Giambattista war auch Umberto zwangsweise der kindlich-jugendlichen Faschisierung unterworfen gewesen: da ich 1932 geboren wurde, durchlief ich die damals üblichen Stationen faschistischer Erziehung: ‚Figlio della Lupa‘, ‚Balilla‘, ‚Balilla Moschettiere‘. Elfeinhalb Jahre sei er gewesen, als 1943 die Diktatur nach der Verhaftung Mussolinis in Süditalien zu Ende ging, aber im Norden Italiens, in der Republik von Salò war der Faschismus […] weiter militärisch und propagandistisch präsent. Das heißt, dass die Kinder in Norditalien im Gegensatz zu jenen jungen Männern, die bereits unter dem Faschismus ihr Studium begonnen hatten und in der Übergangszeit immerhin den Mussolini-Kritiker Benedetto Croce oder auch Karl Marx hatten lesen können, weiter der faschistischen Propaganda ausgesetzt waren und daher weitgehend unvorbereitet den Übergang <?page no="30"?> 12 Kindheit im faschistischen Italien in eine demokratische Gesellschaft vollziehen mussten, während sich aus der relativen Freiheit des Denkens für die Studenten in der Übergangszeit erkläre, warum aus ihnen später sowohl Kommunistenführer als auch Soldaten der Republik von Salò hervorgingen, obwohl sie alle in den Gruppi Universitarii Fascisti organisiert gewesen waren. Wie auch immer: nur die Tatsache, dass viele der Jungen den Faschismus innerlich und äußerlich unbeschadet überstanden hatten, könne erklären, dass nicht wenige Vertreter seiner Generation […] trotz einer totalitären Erziehung zu […] überzeugten Demokraten wurden (G, S. 118). Allerdings sind die Traumata enorm und der Blick auf die Kindheit im Faschismus ebenso faszinierend wie schmerzhaft, wie die von Eco in die Königin Loana investierte Arbeit beweist. Sein Lehrer in der Grundschule sei, so erinnert er sich im Gespräch mit Stauder, ein glühender Faschist gewesen, der 1922 an Mussolinis Marcia su Roma teilgenommen hatte und der die Kinder ohrfeigte, wenn sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatten. Dass dies nur die Kinder aus den niedrigeren Schichten erdulden mussten und den anderen (wie Eco selbst) erspart blieb, ist die eine Seite der Erinnerungen, die andere aber das Eingeständnis, dass der junge Umberto selbst trotz oder wegen dieses Lehrers zu einem begeisterten Mussolini-Anhänger geworden war. Das ist insofern nicht überraschend, als spätestens seit seiner Einschulung 1937 die volle Balilla-Walze über ihn hinweggerollt war, und so ist nur zu verständlich, dass er auf die Frage eines anderen Interviewers, Alberto Sinigaglia, welches die Texte seien, die ihn am tiefsten beeinflusst hätten, im Mai 2007 die faschistischen Schulbücher nennt. Er erinnere sich noch immer, wie er Seite für Seite sein Lesebuch für die erste Klasse betrachtet habe, die Fibel, die für alle kleinen Italiener Pflicht war, die Bodoni in der Königin Loana vorstellt und in der die Kinder nicht nur den schwachsinnigen, von Gabriele D’Annunzio zum ersten Mal lancierten Kampfschrei „Eja Eja Alalà“ kennenlernen durften, der zusammen mit dem Heilsschrei „Für Mussolini“ als Refrain in die faschistische Hymne Giovinezza aufgenommen worden war, sondern auch die Symbolik des faschistischen Liktorenbündels. Im Mittelpunkt freilich stand die Verherrlichung der „Figli della Lupa“ und der „Balilla“: Zuerst eine Seite mit einem Jungen in Uniform […] ‚Mario ist ein Mann‘, stand darunter. Dann ein Text über die ‚Söhne der Wölfin‘ […]: ‚[…] Guglielmo zieht die schöne neue Uniform an, die Uniform eines Figlio della Lupa. ‚Papi, auch ich bin ein kleiner Soldat des Duce, nicht wahr? Ich werde ein Balilla sein, ich werde die Standarte tragen, ich werde einen Karabiner haben, ich werde ein Vorkämpfer sein. Ich möchte auch die Übungen machen wie die richtigen Soldaten, ich möch- <?page no="31"?> 13 Umberto Eco Balilla te der tapferste von allen sein, ich möchte mir viele Orden verdienen …‘ Gleich darauf eine Seite, die an die Drucke aus Epinal erinnerte, aber es waren […] die Uniformen der faschistischen Jugendorganisationen […] Um den Laut gl zu lehren, brachte die Fibel als Beispiele gagliardetto, battaglia, mitraglia - Standarte, Schlacht, Maschinengewehr. Für sechsjährige Kinder (KL 202-203). Um in den indoktrinierten Kindern keine Zweifel aufkommen zu lassen, war - wie Eco in der Königin Loana berichtet - in den Schulbüchern, die in den folgenden Jahren ediert wurden, das zeitgleiche Kriegsgeschehen ausgeblendet, denn es gehörte sich nicht, in Schullesebüchern von den Widrigkeiten des Krieges zu sprechen, und so wich man der Gegenwart aus, um die Ruhmestaten der Vergangenheit zu preisen (206). Dazu gehörten die italienischen Waffentaten des Ersten Weltkriegs, oder Berichte über die faschistischen Kolonisierungen, die als Erfolge ausgegeben wurden, obwohl die Armee längst auf dem Rückmarsch war: Da wir Ostafrika erst Ende 1941 völlig verlieren sollten, als dieses Lesebuch schon längst eingeführt war, kommentiert Eco/ Bodoni die Edition für die vierte Klasse von 1940-41, taten sich darin noch unsere stolzen Kolonialtruppen hervor, und was ich in einer Abbildung sah, war ein somalischer Dubat in seiner schönen […] Uniform, passend zu den Kostümen der Eingeborenen, die wir dort zivilisierten […] Aber Somalia war bereits im Februar 1941 in die Hände der Engländer gefallen […] Wußte ich das, während ich las? (206-207) Diese Frage, die immer wieder aufgeworfen wird, kann keine definitive Antwort finden, auch wenn ihretwegen die Königin Loana geschrieben wurde, und es ist keine ausschließlich aus der Romanlogik erwachsene Frage, auf die nur der Protagonist Bodoni keine Antwort zu geben wüsste. Sie zwingt sich vielmehr aus der Logik der realen Geschichte auch dem Individuum Eco auf, der dieser Indoktrination als Balilla ausgesetzt war und seit 1938 auch den brutalsten Rassismus und Antisemitismus über sich ergehen lassen musste, denn das Lesebuch der fünften Klasse z. B. bot nicht nur dem fiktiven Bodoni, sondern auch dem wirklichen Eco eine Betrachtung über die Rassenunterschiede, mit einem Abschnitt über die Juden und die Aufmerksamkeit, die man diesem perfiden Stamm widmen müsse, der, ‚nachdem er sich raffiniert unter die Arier gemischt hat … die nordischen Völker mit einem neuen Geist des Krämertums und der Gewinnsucht verseucht‘ (208). Die Frage ist selbst dann nicht restlos beantwortet, als Eco bis an die Grenzen der Gewissheit gelangt zu sein scheint, weil z. B. eins der Schulbücher ihn wahrscheinlich trotz versuchter propagandistischer <?page no="32"?> 14 Kindheit im faschistischen Italien Ablenkung durchaus realistisch mit dem schwierigsten aller Themen vertraut gemacht habe, wie Eco im Gespräch mit Sinigaglia, ausführt: mit dem Sterben: Als tapfere Balilla waren wir in jener Zeit dazu erzogen, die Vaterlandsliebe als Blutzoll aufzufassen […] im Lesebuch der fünften Klasse hatte ich eine Geschichte mit dem Titel ‚Loma Valente‘ gelesen. Es handelte sich um eine heroische Episode aus dem Spanischen Bürgerkrieg: ein Bataillon der ‚Schwarzen Pfeile‘* stürmt eine Anhöhe, und eine der Abteilungen wird von Valente, einem dunkelhaarigen Athleten von vierundzwanzig Jahren geführt, der daheim Literatur studierte und Gedichte schrieb […] und der sich als Freiwilliger nach Spanien gemeldet hat […] Die Geschichte beschreibt die verschiedenen Phasen dieses heroischen Unternehmens […] Die Roten** […] feuern aus allen Rohren […] Valente ist fast oben angelangt, als ihm ein harter Schlag gegen die Stirn die Ohren mit schrecklichem Lärm füllt: ‚Dann tiefste Dunkelheit. Valente liegt mit dem Gesicht auf dem Gras […] Das Auge des Helden […] erblickt zwei oder drei Grashalme, dick wie Pfähle […] was heißt das: sterben? Es ist das Wort, das uns gewöhnlich Angst macht. Jetzt, da er stirbt, und es weiß, fühlt er weder heiß noch kalt noch Schmerz.‘ Er weiß nur, dass er seine Pflicht getan hat […] Diese wenigen Seiten, fügt Eco hinzu, haben mir zum ersten Mal vom wirklichen Sterben erzählt und mir gezeigt, dass dies nichts Heroisches ist, welche Anstrengungen der Autor auch immer unternehmen wollte. Diese Bilder von den pfahlgroßen Grashalmen […] hatten mich dermaßen beeindruckt, dass ich mich immer wieder […] mit dem Gesicht nach unten auf Gras gelegt habe, um jene Pfähle zu sehen. Dies ist ein authentisches Kindheitserlebnis Umberto Ecos, und es ist fast wörtlich so, als Erlebnis Giambattista Bodonis, in der Königin Loana erzählt, wo es Eco dazu dient, Bodoni erneut die Frage aufwerfen zu lassen, die Ecos eigene Frage ist: ob er zu dieser Zeit bereits begonnen hatte, sich vom Faschismus abzuwenden. Eco/ Bodoni mobilisiert noch ein anderes Dokument aus jener Zeit, um die Antwort zu finden: die Geschichte von einem zerbrochenen Glas, das die Mutter als unzerbrechlich erstanden hatte, einen Erlebnisaufsatz vom Dezember 1942, der in der Tat auch aus der Feder des kindlichen Umberto*** stammt und den Eco/ Bodoni am Ende des 20. Jahrhunderts sehr metaphorisch als Parabel auf den Verlust des Glaubens an den Duce interpretieren möchte: Es war eine der ersten Geschichten, die wirklich von mir waren, nicht die Wiederholung angelesener Klischees […] In jenen Scherben, die da […] wie Perlen schimmerten, zelebrierte ich […] mein vanitas vanitatum und bekannte mich zu einem kosmischen Pessimismus (236). <?page no="33"?> 15 Umberto Eco Balilla Tat Eco/ Bodoni dies wirklich? Er vermutet es. Er möchte es vermuten. Aber ein Zweifel bleibt, denn nur neun Monate zuvor hatte seine Duce-Begeisterung einen makabren Höhepunkt erreicht. Und dies ist erneut ein authentisches Ereignis aus dem Leben des Schülers Eco, das Eingang in den Roman von der Königin Loana gefunden hat. Mit zehn Jahren jedenfalls hatte der kleine Balilla namens Umberto Eco einen Aufsatzwettbewerb gewonnen und war dafür ausgezeichnet worden. In diesem Aufsatz hatte er seinen ganzen Enthusiasmus für den Duce zusammengefasst, für den er sterben wollte, und diese Episode wird ebenfalls in der Königin Loana erinnert. Ja, mehr noch: der gesamte Text wird dokumentiert als Aufsatz, wieder aufgefunden von Eco/ Bodoni in einem Heft aus der fünften Klasse, 1942, Jahr XX der Faschistischen Ära (230). Natürlich kann man nicht mit Sicherheit sagen, dass es der Text aus dem Jahr 1942 ist, der in der Königin Loana abgedruckt ist, aber dass der zehnjährige Eco einen solchen Text verfasst hat, ist sicher, und selbst wenn er im Roman Retouchen welcher Art auch immer angebracht hätte, dürfte er korrekt wiedergeben, was das Kind von damals empfunden hatte: Schon immer war mein dringlichster Gedanke: Wenn ich einmal groß bin, werde ich Soldat. Und jetzt, da ich aus dem Radio von den unzähligen Heldentaten […] unserer tapferen Soldaten erfahre, ist dieser Wunsch noch unbändiger in meinem Herzen geworden und keine menschliche Kraft wird ihn daraus vertreiben können. Jawohl! Ich werde Soldat sein, ich werde kämpfen, und wenn Italien es will, werde ich sterben für seine neue, heroische, heilige Kultur, die der Welt Wohlstand bringen wird und die nach Gottes Willen in Italien Wirklichkeit geworden ist. Jawohl! Die fröhlichen […] Balilla werden als Erwachsene zu Löwen werden […] Und mit der belebenden Einnerung an die vergangenen Ruhmestaten […] und mit der Hoffnung auf die zukünftigen, vollbracht von den Balilla, die heute noch Kinder und morgen Soldaten sind, geht Italien weiter seinen glorreichen Gang der geflügelten Siegesgöttin entgegen (231). <?page no="34"?> Erweckung zum Lesen und religiöse Erziehung Lektüre im Elternhaus - Lesen gegen den Strich und die ersten literarischen Texte Umberto Ecos - Don Bosco oder das große Trauma Lektüre im Elternhaus Die früheste Erinnerung, die sich in Umberto Ecos Gedächtnis eingebrannt hatte, war allerdings ganz friedlich unmilitaristischer Natur. Man hatte ihn zu einem Nachbarn namens Salon gebracht, der unter ihnen wohnte, Tiere ausstopfte und ihm die Präparate in seinem Atelier zeigte. Als er in die elterliche Wohnung zurückkam, war die Schwester geboren. Beide Ereignisse müssen ihn tief beeindruckt haben, hat er doch das Erlebnis mit den ausgestopften Tieren nicht nur im Foucaultschen Pendel evoziert, sondern zusammen mit der Geburt der Schwester auch in seinem letzten Roman aus dem Jahr 2004, in dem er die Schwester Ada und den Tierpräparator Piazza nennt. Als er in die elterliche Wohnung zurückkam, erinnert sich Eco/ Bodoni und weist dem Doppelereignis eine symbolische Dimension zu, habe er entdeckt, dass während seines Aufenthaltes im Reiche der Toten ein Schwesterchen geboren worden war. Das zweite Ereignis, dessen er sich auch als Erwachsener noch auf das lebhafteste erinnert, wie er im Gespräch mit Sinigaglia äußert, ist ebenfalls symbolisch-vorausweisend: 1936 liest ihm seine Mutter eine Geschichte aus dem Corriere dei Piccoli vor, dem Boten für die Kleinen, von seinen Fans auch Corrierino-- Kinderpost genannt, der ersten italienischen Comic-Zeitschrift, die von 1908 bis 1995 wöchentlich erschien, die Bilder noch mit traditionellen Unterschriften präsentierte und didaktisch-schulische Intentionen verfolgte, was sie von anderen Comic-Produkten unterschied, die in den dreißiger Jahren den Markt überschwemmten. In der Königin Loana analysiert Eco dieses vielfältige Comic-Angebot, mit dem er als Kind - zumindest theoretisch - hätte in Berührung kommen können, von dem wir aber nicht mit Sicherheit sagen können, dass er es als Kind gesehen oder gelesen hatte, ist doch mit der enzyklopädischen Fülle eine andere Dimension des Romans eröffnet: die Autobiographie von Ecos Generation zu sein. Die konkreten Aussagen bezüglich der Texte, die er im Haus der Eltern gelesen hat, sind eher rar. Entscheidender scheinen die Begegnungen mit dem Großvater vä- <?page no="35"?> 17 Lektüre im Elternhaus terlicherseits gewesen zu sein, in dessen Atelier Eco, kurz vor dem Tod des Großvaters 1938, Bücher des 19. Jahrhunderts kennengelernt hatte. Von diesen, so erinnert er sich, hätten ihn besonders die Romane von Alexandre Dumas wegen der Illustrationen von Maurice Leloir fasziniert. Die eigentliche Lektüre hat anscheinend mit anderen Texten begonnen, auch wenn er nicht mehr weiß, ob er zuerst Comics von Pinocchio oder Romane von Emilio Salgari (1862-1911) gelesen hat, dem italienischen Karl May, wie er in der deutschen Übersetzung der Königin Loana genannt wird. 1942 entdeckt Eco dann in einer Truhe aus dem Nachlass dieses Großvaters, auf bewahrt im Keller des väterlichen Hauses, Bücher, die in ihm - wie er später sagen sollte - die Liebe zur Literatur wecken sollten, die aber alle verloren gegangen seien bis auf zwei Volksausgaben von Marco Polos Reisebericht Milione und Victor Hugos Der Mann, der lacht. Die anderen Bücher waren, Eco zufolge, Abenteuerromane, wissenschaftliche Publikationen (wie Darwins Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl) sowie vor allem einige Jahrgänge des 1879 gegründeten Giornale illustrato dei viaggi e delle avventure di terra e di mare, der Illustrierten Zeitschrift über Reisen und Abenteuer zu Lande und zu Wasser, die den späteren Wissenschaftler und Romanautor ebenso tief beeindruckten wie die Romane von Dostojewskij oder Balzacs Père Goriot, die Kinderbuchversionen des Don Quijote und des Gargantua von Rabelais, Frances Burnetts Der kleine Lord, Florence Montgomerys Unverstanden und vor allem Salvator Gottas Il Piccolo Alpino von 1926, aber auch die Trivialromane, die ihm seine Großmutter mütterlicherseits zu lesen gab. Welche dieser Texte Eco als Kind tatsächlich gelesen hat, muss dahingestellt bleiben, auch wenn davon auszugehen ist, dass z. B. Balzacs Père Goriot dazugehörte, zu dem auch Bodoni ein besonderes Verhältnis hat und den Eco, seiner Erinnerung nach, 1944 las. Von seinen Eltern scheint ein Lese-Interesse allerdings nicht unbedingt gefördert worden zu sein, was verschiedene Gründe haben mag. Als Umberto 1941 darum bittet, die 1937 gegründete katholische Wochenzeitschrift Il Vittorioso zu abonnieren, die ebenfalls mit Comics arbeitet, hätten die Eltern gezögert, berichtet Eco im Interview mit Alberto Sinigaglia, weil in ihnen die Sprechblasentechnik verwendet worden sei, statt der Bildunterschriften wie im Corriere dei Piccoli. Die Begründung ist überraschend, und eigentlich liegt es näher, etwas anderes in Betracht zu ziehen, was Eco andernorts ausgeführt hat: die politische Zurückhaltung der Eltern, wie sie Millionen anderer Eltern in Diktaturen zum Schutz ihrer Kinder praktizieren. Das würde auch ihr Schwei- <?page no="36"?> 18 Erweckung zum Lesen und religiöse Erziehung gen erklären, mit dem sie anscheinend auf Umbertos Schulaufsatz reagierten, in dem er sich bereit erklärt hatte, für den Duce zu sterben. Glaubte ich wirklich daran, fragt Eco/ Bodoni (231), oder wiederholte ich vorgestanzte Phrasen? Was sagten meine Eltern, wenn ich mit besten Noten für solche Texte heimkam? Wahrscheinlich nur Verlegenheitsfloskeln, und mit Sicherheit nichts Negatives, um dem Kind nicht zu schaden, wenn man es schon vor der Propaganda nicht schützen konnte. Denn die war überall: vom Schlager, der per Radio oder Schallplatte massenhaft Verbreitung fand und dem Eco in der Königin Loana ausführliche Kommentare widmet, bis zur Warenreklame, hieß doch sogar der Fiat Topolino zunächst Balilla. Selbst Pinocchio konnte als Faschist auftreten. Die Propaganda hatte sich auch in anscheinend völlig harmlose Texte eingeschlichen, wie Eco, der seinem fiktiven Parallel-Ich Bodoni durch einen fiktiven Parallel-Großvater und eine fiktive Parallel-Mutter dieselben Texte und Bilder aushändigen oder vorlesen lässt, in der Königin Loana darlegt. Beim Betrachten des Corriere dei Piccoli, lässt er Bodoni feststellen, dass sich das politische Geschehen der Epoche - wie die Eroberung Abessiniens oder der Einsatz italienischer Truppen im spanischen Bürgerkrieg - auch in ihm spiegelte (254): Unterschiedslos war die Rede von faschistischen Ruhmestaten und von phantastischen Welten voll märchenhafter und grotesker Personen. Und dasselbe galt auch für das katholische Wochenblatt und machte es doppelt gefährlich, gab es doch de facto dem Faschismus seinen Segen (257): Die Schizophrenie war auch hier total, diagnostiziert Eco/ Bodoni, man wechselte von reizenden Episoden in Zoolandia, mit Figuren wie Giraffone, dem Fisch Aprilino und dem Äffchen Jojo, oder von den komisch-heroischen Abenteuern des Trios Pippo, Pertica und Palla […] zu Verherrlichungen der ruhmreichen Vergangenheit unseres Landes und zu direkt vom laufenden Krieg inspirierten Geschichten. Wenn die Eltern am Ende doch dem Abonnement des Vittorioso zustimmten, das Abonnement der ebenfalls gleichgeschalteten Comic- Reihen Topolino und L’Avventuroso aber verweigerten, so dass Umberto sie bei Freunden lesen musste, dann wahrscheinlich, weil (wie Eco in der Königin Loana auch zu verstehen gibt) der - im Übrigen religiös eher desinteressierte - Vater und besonders die durchaus gläubige Mutter, der Umberto die regelmäßige Teilnahme an Gottesdiensten verdankte, hofften, dass die katholischen Glaubensbotschaften, die das Wochenblatt ebenfalls enthielt, den Fanatismus der faschistischen Ideologie ausgleichen oder doch zumindest relativieren könnten. Diese Hoffnung dürften im katholischen Italien Hunderttausende geteilt <?page no="37"?> 19 Lesen gegen den Strich und die ersten literarischen Texte Umberto Ecos haben, auch Vertreter der katholischen Kirche, die mit Sicherheit nicht alle jene Perversionen des Glaubens billigten, denen die Kinder allenthalben und speziell in der Schule ausgesetzt waren, wie Eco ein halbes Jahrhundert später bei der Analyse der Fibel für die Erstklässler diagnostiziert, in der es heißt (KL 203): Es geht ein Kind auf der langen Straße, / allein, ganz allein und weiß nicht wohin …/ Klein ist das Kind und groß das Land / doch ein Engel sieht es und begleitet es. Wohin sollte mich der Engel begleiten? fragt sich Bodoni: Dorthin, wo die mitraglia in der battaglia sang? Soweit ich wußte, hatten die Kirche und der Faschismus schon seit langem die Große Versöhnung in Form eines feierlichen Konkordats geschlossen, und so durfte man nun wohl, während man die Kinder zu Balilla erzog, die Engel nicht vergessen. Lesen gegen den Strich und die ersten literarischen Texte Umberto Ecos „Wenn ich damals die Frankfurter Zeitung las,“ schreibt Hans Werner Richter, der Begründer der Gruppe 47, im Rückblick auf Nazi- Deutschland, „so empfand ich das als ein Oppositionsblatt. Ich konnte zwischen den Zeilen lesen, was die Journalisten gegen das Dritte Reich sagten. Wenn ich dieselben Nummern heute lese, […] scheint mir alles als Nationalsozialismus. Ich empfinde nicht mehr heraus, was damals zwischen den Zeilen stand.“ In der Königin Loana stellt sich Eco derselben Aufgabe und kommt, nicht zuletzt auf Grund seines jahrzehntelangen Nachdenkens über Zeichen, Texte und Interpretation, zu einer anderen Antwort, die der Dialektik der praktischen Vernunft zu danken ist (199-200): So schreiend propagandistisch die italienischen Zeitungen waren, erlaubten sie trotzdem sogar in Kriegszeiten zu begreifen, was geschah […] Man muß zwischen den Zeilen lesen können […] Im Corriere della sera vom 6.-7. Januar 1941 verkündete die Schlagzeile: ‚An der Front von Bardia ist die Schlacht mit großer Erbitterung fortgesetzt worden.‘ Im Text des Kriegsberichts […] hieß es weiter unten lakonisch: ‚Andere Stützpunkte sind nach tapferem Widerstand unserer Truppen, die dem Feind beträchtliche Verluste zugefügt haben, gefallen.‘ Andere Stützpunkte? Aus dem Kontext begriff man, daß der libysche Küstenort Bardia in die Hände der Engländer gefallen war […] Der Corriere vom 7. Juni 1944 verkündete […] triumphierend: ‚Das massive Abwehrfeuer der Deutschen schlägt die alliierten Einheiten an den Küsten der Normandie.‘ Was machten Deutsche und Alliierte an den Küsten der Normandie? […] Ich konnte also methodisch vorgehen und die Abfolge der realen Ereignisse erkennen, indem ich die faschistische <?page no="38"?> 20 Erweckung zum Lesen und religiöse Erziehung Presse so las, wie man sie lesen mußte und wie sie wahrscheinlich alle gelesen hatten. Hatte der kleine Umberto dies alles selbst so gelesen? Oder so Radio gehört? Wie Eco in Schüsse mit Empfangsbescheinigung, einem seiner Streichholzbriefe aus dem Jahr 2000 mitteilt, muss es so gewesen sein: Am späten Abend (damals um elf Uhr nachts) beendete das Radio sein Progamm mit patriotischen Hymnen […] Kurz darauf hörte man ein Brummen am Himmel: Das war Pipetto, der englische Aufklärer, nach dessen Vorbeiflug man die Uhren stellen konnte […] Dann, wenn es soweit war, schloß man die Fenster, drehte das Radio leise und stellte es auf die Frequenz von Radio London ein. Nach dem schicksalhaft pochenden ‚Tun-tun-tun-tam‘ begann Colonel Stevens in seinem Italienisch mit fast parodistisch klingendem Akzent zu sprechen. Wir lauschten gebannt, um zu erfahren, wie die Dinge standen, obwohl wir uns bewußt waren, daß auch er Propaganda machte. Nach Colonel Stevens kamen die Sonderbotschaften […] zum Beispiel ‚Die Sonne geht noch einmal auf ‘ […] Wir wußten, daß es Nachrichten oder Instruktionen für den Partisanenkrieg waren, zum Beispiel die Ankündigung, daß an dem und dem Ort zu der und der Stunde Waffen und Lebensmittel per Fallschirm abgeworfen wurden (Schüsse 14-15). War es wirklich so? Schwer zu entscheiden, obwohl man zweifeln könnte, ob die Eltern ihrem Sohn tatsächlich derart riskantes Radio- Hören gestatteten, oder ob die Interpretation der verschlüsselten Botschaften, falls Eco sie gehört haben sollte, nicht post festum erfolgte und die Zeitebenen sich in der Erinnerung nicht vermischen. Wie auch immer, in jener Zeit war Umberto - vom Unterricht in der weiterhin faschistischen Schule abgesehen - vorrangig wohl mit anderen Dingen beschäftigt. Zum Beispiel - neben dem Ordnen seiner Briefmarkensammlung (Schüsse 14) - seit Beginn der 40er Jahre mit dem Verfassen seiner ersten Romane: Ich nahm ein Heft und schrieb die Titelseite, erinnert er sich 1996 in Wie ich schreibe: Der Titel klang nach Salgari, denn seine Romane waren meine Quellen (zusammen mit denen von Verne, Boussenard und Scolliot in den Jahrgängen 1911-1921 des Giornale illustrato dei viaggi e delle avventure di terra e di mare […] Also Titel wie […] Die Kundschafter von Labrador oder […] Der Geisterkahn. Dann schrieb ich unten den Verlag hin, er hieß Tipografia Matenna (eine kühne Zusammenziehung von matita und penna, Bleistift und Feder). Danach machte ich mich an die Auswahl der Illustrationen, die alle zehn Seiten eingefügt werden sollten, nach dem Muster der Illustrationen von Della Valle oder Amato in den Salgari-Ausgaben. Die Auswahl der Illustrationen bestimmte die Geschichte […] Tatsäch- <?page no="39"?> 21 Lesen gegen den Strich und die ersten literarischen Texte Umberto Ecos lich schrieb ich einige Seiten des ersten Kapitels. Doch um die Sache richtig professionell aussehen zu lassen, schrieb ich in Blockschrift, ohne mir irgendwelche Korrekturen zu erlauben. Versteht sich, daß ich das Unternehmen nach einigen Seiten abbrach. So war ich zu jener Zeit nur der Autor großer unvollendeter Romane (BP 306-307). Nur eines dieser Werke habe überlebt, aber dieses sei vollendet, trage den Titel Im Namen des Kalenders und sei datiert auf 1942, XXI Era fascista, wie es damals Pflicht und Brauch war. Es handelt sich, wie Eco berichtet, um das Tagebuch eines Zauberers Pirimpimpino, des Entdeckers, Kolonisators und Reformators einer Insel im Arktischen Eismeer namens Ghianda, deren Bewohner den Gott Calendario anbeteten. Dieser Pirimpimpino notierte Tag für Tag mit großer dokumentarischer Pingeligkeit Fakten und […] sozio-ethnologische Strukturen seines Volkes, wobei er diese trockenen Aufzählungen mit kleinen literarischen Übungen auflockerte. Zum Beispiel finde ich da eine ‚futuristische Erzählung‘, die so geht: ‚Luigi war ein tapferer Mann, weshalb er sich, nachdem er die Teller der Häsinnen geküßt hatte, in den Lateran begab, um das passato prossimo [das Perfekt] zu kaufen […] Doch unterwegs fiel er in einen Berg und starb. Erschütterndes Beispiel für Heroismus und Philanthropie, wurde er von den Telegrafenmasten beweint.‘ […] Der Text alternierte mit Zeichnungen, und die Erzählung (die keinerlei Regeln irgendwelcher Gattungen gehorchte) mündete in die Enzyklopädie […] Als ich nicht wußte, was ich der Insel und ihrem Herrscher noch widerfahren lassen sollte, ließ ich ihn auf Seite 29 mit den Worten schließen: ‚Ich werde eine lange Reise unternehmen … Vielleicht werde ich auch nicht wiederkommen. Ein kleines Geständnis: In den ersten Tagen habe ich mich als Zauberer bezeichnet. Das war gelogen: ich heiße nur Pirimpimpino. Verzeiht mir‘ (BP 307-308). Nach dem Abbruch dieses Prosaexperimentes verlegt sich Eco, der zu jener Zeit noch davon träumt, Straßenbahnfahrer zu werden, auf die Herstellung von Comics, die er für Schulkameraden gegen entsprechende Mengen Schreibpapier handschriftlich vervielfältigen will, was natürlich scheitern muss, und er widmet sich dem Verfassen jener - von der Schule geforderten - Chroniken, zu denen die in der Königin Loana evozierte Geschichte vom zerbrochenen Glas gehörte. Noch vor Kriegsende findet dann jedoch ein qualitativer Umbruch statt. Eco, der in der Schule vorschlägt, den Unterricht mit Beethovens Symphonien zu beleben, beginnt, sich für epische Dichtung zu interessieren, versucht sich an einer Familienchronik in Form einer Parodie auf Dantes Divina Commedia sowie an einer Geschichte der Kunst in Form von Comics, und verfasst eine Reihe von Porträts der olym- <?page no="40"?> 22 Erweckung zum Lesen und religiöse Erziehung pischen Götter, wiederbesichtigt in jenen dunklen Jahren, das heißt im täglichen Ringen mit der Lebensmittelrationierung, der allabendlichen Verdunkelung […] Alles in klassischen Elfsilblern […] wie diesen: […] Hier sehen wir Apollo, die erlesenste Seele / dieses Olymps, der Götter Behausung, / ein leichtes Musikstückchen spielen, / nicht mehr auf der Kithara oder der Lyra, und er hat recht; / er spielt Klavier, Kornett, / Flöte, Ziehharmonika und Posaune. / Warum die Lyra (= Lira) verschwenden, wenn das Geld / zum Kauf von Öl in diesen Zeiten so teuer ist? (BP-308-309). Die Literatur lässt ihn auch nach dem Krieg nicht los, wobei ihn die damals im Piemont vorherrschende Leidenschaft für die Resistenza- Texte der Pavese, Fenoglio oder Calvino - zumindest zunächst - nicht so sehr beeindruckt zu haben scheint. Er verfasst eine von Giovanni Mosca und Giovanni Guareschi inspirierte Vita illustrata di Euterpe Clips sowie Erzählungen im Stil des „magischen Realismus“ der Romane des - wie Eco selbst - von Alexandre Dumas gefesselten Massimo Bontempelli (1878-1960) und erinnert sich 1996, dass er lange Zeit an einer Novelle mit dem Titel Das Konzert gearbeitet hatte, die bis in das Foucaultsche Pendel von 1988 nachwirken sollte: Mario Tobia, ein erfolgloser Komponist, holt alle spiritistischen Medien der Welt zusammen, um sich von ihnen die großen Musiker der Vergangenheit in Form von Ektoplasmen aufs Podium produzieren zu lassen, zwecks Aufführung seiner Komposition Konradin von Schwaben. Beethoven als Dirigent, Liszt am Flügel, Paganini an der Geige etc. Ein einziger Zeitgenosse, der schwarze Jazzer Louis Robertson, an der Posaune. Dann aber gelingt es den Medien nicht länger, ihre Kreaturen am Leben zu erhalten, so daß die Großen der Vergangenheit sich nach und nach auflösten, unter dem dissonanten Miauen und Krächzen ersterbender Instrumente, bis allein auf dem Podium, hoch, magisch, unangefochten, Robertsons Posaune ertönt (BP 309-310). Dass dies alles auch eine poetische Dimension hatte, zeigt sich in den „Cosmicomics“, von denen er 1996 spricht: stellare Liebesgeschichten mit dem Titel Uralte Geschichten vom jungen Universum, deren Protagonisten die Erde und die anderen Planeten kurz nach der Entstehung des Kosmos waren, erfüllt von wechselseitigen Eifersüchten und Leidenschaften (BP 310), und deren Redaktion seiner Entdeckung Chopins und der zeitgenössischen lyrischen Dichtung vorausgeht. Und auch hier waren es nicht die antifaschistischen Poeten wie Umberto Saba oder Montale, die ihn faszinierten, sondern die sogenannten Hermetiker um Vicenzo Cardarelli, die sich - weltanschaulich konservativ, ja profaschistisch - von 1919 bis 1923 um die von Eco in <?page no="41"?> 23 Don Bosco oder das große Trauma Erinnerung gerufene Zeitschrift La Ronda gruppiert hatten und die ihn bei eigener lyrischer Produktion inspirieren, in der er seiner ersten großen - und wie im Fall seines Doppel-Ichs Bodoni uneingestandenen und platonischen - Jugendliebe Ausdruck verleiht. Doch wenn er auch erklärt, dass diese Lyrik denselben funktionalen Ursprung und dieselbe formale Konfiguration wie die Pubertätsakne hatte, ist keineswegs auszuschließen, dass er sie als Jugendprodukte Bodonis in die Königin Loana geschmuggelt und damit einem Millionenpublikum vorgesetzt hat: Der Tag wird kommen, heißt es dort (446), daß meine Feder einen / schrillen Kratzer tun wird / … und dann werde ich sterben. Don Bosco oder das große Trauma Etwas anderes als eine Vorliebe des jugendlichen Eco für eher konservative Strömungen der zeitgenössischen Literatur hätte an ein Wunder gegrenzt, und die Episode mit dem Vittorioso lässt vermuten, dass er bereits früh eine religiöse Berufung verspürt hatte und dass seine Abwendung von der aufgezwungenen faschistischen Ideologie auch dieser kindlichen Frömmigkeit zu danken ist. Das zumindest legt der Streichholzbrief ‚Meine Schulaufsätze über den Duce‘ aus dem Jahr 1993 nahe, in dem Eco sich an die Gefühle erinnert, die ihn beim Abfassen seiner heroischen Balilla-Aufsätze bewegten: Tatsächlich habe ich noch in Erinnerung, wie ich mich beim Schreiben fragte, ob man mir wohl glauben würde. Ich erinnere mich, daß ich mir die Frage vorlegte: ‚Aber liebe ich den Duce wahrhaftig? Wieso erwähne ich ihn dann nicht wirklich in meinen Gebeten? […]‘ Trotzdem habe ich diese Aufsätze geschrieben […] weil Kinder kleine Luder sind. Sie machen Lausbübereien; aber sie übernehmen die hehren Prinzipien, die ihnen die Umwelt eintrichtert, und bekennen sich zu ihnen (Derrick 70). Ganz offenkundig standen sich damals bereits zwei Gefühlsebenen unvermittelbar gegenüber: die faschistische Ideologie vermochte nicht in das religiöse Empfinden einzudringen, und während seines Aufenthaltes in Nizza Monferrato, auf der Flucht vor den Bomben, bringt ihn ein Freund zum dort 1907 eingerichteten Oratorium der Salesianer, einer 1857 von Giovanni Bosco gegründeten Priesterkongregation, die seit 1941 von Don Giuseppe Celi geleitet wurde. Bei den Salesianern habe ich […] zum ersten Mal an Laientheater-Aufführungen teilgenommen, erinnert sich Eco 2002. Auch Flöte habe er bei ihnen spielen gelernt und sei Mitglied einer Blaskapelle des Oratoriums geworden, in der er freilich ein anderes Instrument zu spielen hatte, ein genis, ein Waldhorn, das er nicht sonderlich geschätzt hat. Das dümmste Instru- <?page no="42"?> 24 Erweckung zum Lesen und religiöse Erziehung ment in der ganzen Kapelle, lässt er später seine Romangestalt Belbo im Foucaultschen Pendel sagen, in das seine Initiation Einzug halten wird: Das Salesianer-Oratorium […] war für mich jedenfalls eine wichtige Erfahrung; dort habe ich auch erstmals eine vertiefte religiöse Erziehung erhalten. Nach Mussolinis Tod, vom dem er aus dem Radio erfuhr, nach Alessandria zurückgekehrt, wollte er nicht mehr auf katholische Jugendaktivitäten verzichten und wurde von einem Mönch an den Jugendclub der Kapuziner in der Via Urbano Rattazzi verwiesen: Nicht nur konnte ich wieder Theater spielen, sondern es gab dort auch Filmvorführungen; bei den Kapuzinern habe ich außerdem […] erstmals organisatorische Aufgaben in einer katholischen Jugendorganisation übernommen (G 121). 1946, als sich Italien eine Regierung gab, die den Zusammenschluss aller antifaschistischen Kräfte fortzusetzen schien, wurde Eco mit der Leitung einer Jugendgruppe beauftragt, und ein wenig später wurde ihm in der Diözese des für Alessandria zuständigen Bischofs […] die Koordination des gesamten Jugendbereichs übertragen. Aufgestiegen in der Kirchenhierarchie, wurde er 1952, während des Studiums in Turin, in die nationale Leitung der ‚Gioventù Italiana di Azione Cattolica‘, der katholischen Jugendorganisation, berufen (G 121), die damals ungefähr zwei Millionen Mitglieder hatte und in der Eco bis 1954 mit Büro in Turin und Rom (auch publizistisch) tätig war. Inzwischen aber war die antifaschistische Einheitsfront auseinandergebrochen, und bei den Parlamentswahlen 1948 war die Democrazia Cristiana (DC), unterstützt von der Azione cattolica, als alleiniger Sieger hervorgegangen, und die alten ideologischen Kämpfe fingen wieder an, nun im Zeichen des Kalten Krieges. Das hatte natürlich auch Auswirkungen auf die Azione Cattolica, deren Vorsitz 1950 Luigi Gedda übernahm, ein Reaktionär und Kommunistenfresser, von dem - wie Eco 2002 meint-- selbst ein heutiger Spezialist für Public Relations wie Berlusconi noch einiges lernen könnte. Zu Beginn der 50er Jahre, so Eco, hätten die studentischen Mitglieder der Gioventù Italiana, immer noch getragen vom antifaschistischen Impetus der ersten Nachkriegszeit, zunehmend progressive Haltungen eingenommen, Gramsci gelesen und sich für Probleme der Arbeiterschaft und der Dritten Welt interessiert. Daraus ergaben sich Spannungen zwischen der - vom progressiven Mario Rossi geleiteten - männlichen Jugendorganisation, die immerhin Unterstützung vonseiten des Päpstlichen Sekretärs Montini, dem späteren Papst Paul- VI., erhielt, und der konservativen kirchlichen Hierarchie unter Papst Pius-XII., dem ehemaligen Kardinal Pacelli, sowie dem Vorsitzenden der Azione Cattolica Gedda: Nach längeren Strei- <?page no="43"?> 25 Don Bosco oder das große Trauma tigkeiten, berichtet Eco, kam es schließlich zum ‚Showdown‘, und am 18.-April 1954 wurde Mario Rossi von Pius- XII. auf autoritäre Weise seines Amtes enthoben: Dies führte zu einer innerhalb der Kirchenhierarchie bis dahin niemals gekannten Rücktrittswelle von weiteren nationalen und regionalen Leitern der ‚Gioventù di Azione Cattolica‘ wie dem späteren Philosophen Gianni Vattimo und Umberto Eco selbst, für den dieses Erlebnis nach eigenem Bekunden eine sowohl religiöse als auch politische Neuorientierung einleitete, die ihn tief bewegte: Bei mir ging der Abschied vom Katholizismus nicht so rasch vonstatten, bekennt Eco gegenüber Stauder: Ich habe dazu acht Jahre benötigt, während derer ich mich nicht mehr öffentlich zu gesellschaftlichen Fragen äußerte; mit der Unterzeichnung eines von [Elio] Vittorini formulierten Manifests im Jahr 1962 meldete ich mich erstmals von einer politisch ‚linken‘, d. h. sozialistischen Haltung aus öffentlich zu Wort. (G 125) <?page no="44"?> Studium und Promotion an der Universität Turin Zwischen Theologie und Lebenslust oder vom Nutzen des Fußballspiels - Vom Heiligen Thomas zu Thomas von Aquin oder Abkehr von Schleiermacher - Kunst und Schönheit im Mittelalter - Das ist kein Mittelalter mehr Zwischen Theologie und Lebenslust oder vom Nutzen des Fußballspiels Ob der Auslöser für Ecos Abkehr vom katholischen Glauben tatsächlich ein Fußballspiel gewesen ist, das er als Jugendlicher in Alessandria gesehen hatte und in dem er blitzartig ein sinnloses Welttheater erkannte, wie er am 19. Juni 1978 in einer Glosse über die Fußballweltmeisterschaft in L’Espresso schreibt (GW 194), eine Erfahrung, die er auch Bodoni zuteilwerden lässt, kann nicht mit Gewissheit festgestellt werden, wäre aber im Licht des Eco’schen Witzes nicht unwahrscheinlich. Denn da nach christlichem Glauben auf Erden nichts geschieht, was nicht von Gott vorausgesehen und gewollt ist, müsste ja auch der billionste alberne Fehlpass ein Produkt göttlicher Vorsehung sein, und das könnte in der Tat Anlass sein, sich zu fragen, ob der Herr da oben nichts Besseres zu tun habe, und sich Sinnvollerem zuzuwenden. Wahrscheinlicher ist freilich, dass eine Fülle von Überlegungen Eco veranlassten, sich vom Glauben ab- und der Wissenschaft zuzuwenden, wobei ihm mit Sicherheit seine lustvolle Hingabe ans reale Sein gute Dienste geleistet hat. Das Vergnügen am Sinnlichen dürfte Eco auch davor bewahrt haben, 1950 ein Theologiestudium zu beginnen oder Priester zu werden, obwohl er seine vom Fußball ausgelöste erste religiöse Krise um rund ein Jahrzehnt verschoben hatte und er sich damals noch in der Hochphase religiöser Begeisterung befand und beinahe ein Studium an der Università Cattolica von Mailand begonnen hätte. Zum Entsetzen seines Vaters, der seinem Sohn rät, etwas Vernünftiges wie Jura zu studieren, entscheidet er sich dann aber für Literatur und Philosophie, und da er den Eltern nicht auf der Tasche liegen will, bewirbt er sich erfolgreich um ein Stipendium am Collegio Universitario von Turin: Ich hatte ein Zimmer für mich allein und zweimal pro Tag warme Mahlzeiten, berichtet er: Es gab dort einen Lesesaal mit Zeitungen, wo ich mich mit Studenten anderer Fachrichtungen unterhalten konnte; ich <?page no="45"?> 27 Zwischen Theologie und Lebenslust oder vom Nutzen des Fußballspiels erinnere mich an nächtelange Diskussionen zwischen Katholiken und Kommunisten, es herrschte dort also eine durchaus intellektuell anregende Atmosphäre (G 127). Genauso anregend war das Studium selbst für den jugendlichen Eco, der 1952 das erste Mal nach Paris reist, sich für die Europa-Idee begeistert und Nervals Sylvie entdeckt, ein Text, der 1853 zum ersten Mal erschienen war und der Eco nie wieder loslassen wird. Beim immer eleganten, streng katholischen Giovanni Getto, Verfasser zahlreicher Studien zu Dante, Boccaccio und Torquato Tasso, hört er Vorlesungen zur italienischen Literatur und Vorlesungen zur Philosophie bei Nicola Abbagnano, einem der ersten italienischen Existenzialisten, der seine Studenten mit Kierkegaard, Jaspers, Heidegger und Sartre vertraut machte und eine - von Eco als eine Art von moderner Aufklärungsphilosophie definierte - philosophische Strömung begründete, die er neoilluminismo naturalista nannte und die ihn zur Annäherung an die naturwissenschaftliche Denkweise des amerikanischen Pragmatikers John Dewey führte, sowie bei Augusto Guzzo, einem von Giovanni Gentile beeinflussten Katholiken, der sich selbst freilich eher in der Nachfolge des Kirchenvaters Augustinus sah: Guzzos eigene Ideen haben wohl bei keinem der damaligen Studenten einen bleibenden Eindruck hinterlassen, urteilt Eco 2002 (G- 127-129) und erklärt, dass er bei Abbagnano vor allem eine skeptische Grundhaltung und ein Misstrauen vor jeder Form von Dogmatismus gelernt habe. In jener Zeit trat zu Ecos Faszination für den katholischen Glauben, die seine Hinwendung zum Mittelalter und speziell zum großen, 1323 heilig gesprochenen und 1567 unter die Kirchenlehrer erhobenen Theologen und Philosophen Thomas von Aquin (1225-1274) entscheidend mitbedingte, das wachsende Interesse an der Geschichte der Ästhetik, was ihn beides früh in Opposition zu Benedetto Croce und dessen Adepten wie Curtius führen sollte, hatten diese doch behauptet, dass weder das Mittelalter noch Thomas von Aquin ein besonderes Interesse am Schönen an sich gehabt oder dieses gar zu einem denkerischsystematischen Problem gemacht hätten, da Schönes vom Mittelalter nur als „intelligible Schönheit“ oder unzulänglicher Widerschein der moralischen Perfektion Gottes in den Dingen und somit nur als übersinnlicher Gegenstand von Kontemplation hätte konzipiert werden können. Provoziert von Croces Behauptung, dass es daher auch sinnlos sei, über eine Ästhetik Thomas von Aquins und anderer mittelalterlicher Philosophen nachzudenken (PE 15), entscheidet sich Eco, gerade dies zum Gegenstand seiner „tesi di laurea“, der italienischen Doktorarbeit zu machen, und bittet den Turiner Mediävisten Carlo Mazzan- <?page no="46"?> 28 Studium und Promotion an der Universität Turin tini um Betreuung. Als Mazzantini ablehnt, wendet sich Eco an den Philosophen Luigi Pareyson, bei dem er Vorlesungen zur Ästhetik gehört hat und der die Betreuung tatsächlich übernimmt. Natürlich hat mich Pareysons Denken stark beeinflusst, erinnert sich Eco, der 1954 promovieren wird, seine Vorlesungen über Ästhetik hatten einen streng systematischen Aufbau, der mich damals beeindruckte, und wenn ich mich noch heute im Rahmen der Semiotik mit Fragen der Interpretation beschäftige, so beruht dies im Prinzip auf Pareysons damaligen Überlegungen. Die Doktorarbeit jedoch habe Pareyson nur in methodischer Hinsicht betreuen können, da die Scholastik nicht gerade seine Stärke war; dafür ließ er mir jedoch weitgehende Freiheit, das zu schreiben, was ich wollte (G 130-131). Diese Freiheit erlaubt Eco, sich neben Croce vor allem mit Curtius zu messen, hatte dieser doch im Fahrwasser der „genialen Forschertätigkeit“ des Österreichers Josef Nadler (1884-1963), der in seiner völkisch-rassistischen Literaturgeschichte der deutschen Stämme (1912-1918) den Nachweis erbringen wollte, dass aus der „biologisch-geistigen Vereinigung der Germanen und Römer“ die deutsche Kultur entstanden sei, von 1938 bis 1945 - als „Kampfansage“ an die marxistisch-soziologische Kultur- und Literaturgeschichte - eine Sammlung „rekurrierender oder konstanter Phänomene der Literaturbiologie“ veröffentlicht, die als Beitrag zur Kulturkonzeption des italienischen Faschismus gedacht war und - nach dessen Ende - von Curtius 1948 unter dem nun zeitgemäßeren Titel Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter erneut auf den Markt gebracht wurde. Die Ironie der Geschichte wollte, dass diese faschistisch inspirierte, positivistisch-ahistorische Sammlung von - topoi genannten - Themen und Redefiguren für Nachkriegs-Westdeutschland zusammen mit der genauso ahistorischen post-idealistischen Immanenzästhetik nicht nur zur Grundlage der akademisch-geisteswissenschaftlichen „Erneuerung“ wurde, sondern auch der Literaturkritik in der Presse, deren Feuilletons von der Zeit bis zur FAZ von Curtius-Schülern geleitet bzw. von Beiträgen aus der Curtius-Schule überschwemmt wurden und Curtius’ Abendland- und Mittelalterkonzeptionen verbreiteten, die Eco zufolge nicht viel wert waren. Ob Eco damals schon ahnte, dass er damit das deutsche Feuilleton in die Schranken forderte, das ihm diese Keckheit später mit geradezu wütigen Verrissen seiner Romane heimzahlen sollte, muss dahingestellt bleiben. In offener Herausforderung von Croce und Curtius erklärt Eco jedenfalls zu Beginn seiner Dissertation, dass in Sachen Ästhetik das Mittelalter eine viel umfassendere Perspektive gehabt habe <?page no="47"?> 29 Vom Heiligen Thomas zu Thomas von Aquin oder Abkehr von Schleiermacher als die sogenannte Moderne. Während diese sich auf die sinnliche Wahrnehmung der Natur- und Kunstschönheit beschränke, schreibt er, die Argumentation von Croce und Curtius aufgreifend und ad absurdum führend, besäße das Mittelalter sowohl diese als auch jene andere moralisch-metaphysische Vorstellung vom Schönen als Widerschein Gottes und könne beide zu einer Einheit verbinden: Paradoxerweise ist es nicht das Mittelalter, dass keine Ästhetik hatte, formuliert er kühn, sondern es ist die moderne Welt, die eine zu einseitig-enge Ästhetik besitzt (PE 22). Diese These verführt Eco zum Glück nicht, Thomas von Aquins Ideen vom Schönen nun als moderne Ästhetik oder dieser „überlegen“ auszugeben, sondern er versucht, Spezifik und Grenzen dieser dualistischen Schönheitskonzeption im Werk des Aquinaten offenzulegen, wobei er sich an seinem Doktorvater Pareyson für den systematischen Aufbau ein Vorbild nimmt. Methodologisch rigoros schreitet er von der Bestandsaufnahme üblicher Vorurteile hinsichtlich des an Kunstschönheit als solcher vorgeblich desinteressierten Mittelalters zur Realität der Texte Thomas von Aquins, um diese selbst dialektisch auf unbestreitbare Akzeptierung des Schönen als besonderen Wertes und damit als Vorstufen zu Positionen modernen Ästhetikverständnisses zu befragen und vorzustellen. Er versucht, sowohl die Terminologie jener Zeit aus ihrer Fehldeutung zu befreien als auch die Emanzipation der mittelalterlichen Schönheitskategorien integritas, proportio und claritas vom Bereich des ausschließlich metaphysisch Schönen in ihrem Übergang zur Erfassung des Partikularschönen in den realen Dingen bei Thomas selbst herauszuarbeiten, wobei er speziell dem für das Pareysonsche Denken zentralen Form- Begriff auch im Werk von Thomas besondere Bedeutung zuweist. Die thomistische Ästhetik spricht zu uns von einer Schönheit, die ihre Wurzeln in die Tiefen des Seins senkt und die nicht aus einer schlichten psychologischen Projektion oder aus einer phantasievollen Transfiguration (oder Erschaffung) des Objektes resultiert, fasst er am Ende seiner Arbeit zusammen, die 1956 mit dem Titel Il problema estetico in San Tommasso (Das Ästhetikproblem im Werk des Heiligen Thomas) erscheint: Deshalb ist die intellektuelle Arbeit notwendigerweise Vorstufe zur Erkenntnis des Schönen (PE 240). Vom Heiligen Thomas zu Thomas von Aquin oder Abkehr von Schleiermacher Man kann die Bedeutung von Ecos gleichzeitiger Begegnung mit Thomas von Aquin und Luigi Pareyson nicht überschätzen, waren doch <?page no="48"?> 30 Studium und Promotion an der Universität Turin Pareysons Theorien zur Interpretation zutiefst von der Hermeneutik des deutschen Idealismus und speziell von Friedrich Schleiermachers Vorstellungen vom angemessenen Interpretieren eines bedeutenden literarischen Textes geprägt. Davon ausgehend, dass es zur Anfertigung eines solchen Textes eines Genies bedürfe, das sich - nach Ansicht von Immanuel Kant - seine Regeln selbst setzt, war Schleiermacher (1768- 1834) zu der Überzeugung gelangt, dass auch aufseiten des Interpreten eine derartige geistige Disposition vonnöten sei, die er „Kongenialität“ nannte und die der Interpret dazu nützen müsse, sich „divinatorisch“, also subjektiv-intuitiv und über alle Zeitbarrieren hinweg kraft psychologischer Einfühlung „in die ganze Verfassung des Schriftstellers“ hineinzuversetzen. Diese Theorie der Interpretation wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Wilhelm Dilthey (1833-1911) dahingehend radikalisiert, dass „die Auslegung“ „ein Werk der persönlichen Kunst“ sei, deren vollkommenste Handhabung“ „durch die Genialität des Auslegers“ garantiert sei und „auf Verwandtschaft gesteigert durch ein eingehendes Leben mit dem Autor“ beruhe.* Pareyson hatte sich diese postromantischen Ideen rückhaltlos zu eigen gemacht und verkündete sie seinen Turiner Studenten in Vorlesungen zur Ästhetik, die er 1954 mit dem Titel Estetica. Teoria della formatività** veröffentlichte. An den grundsätzlichen Theoremen festhaltend, die er durch Handlungsanweisungen zu exemplifizieren sucht, widmet er sich Themen (wie „infinità dell’opera“; „fedeltà e libertà dell’interpretazione“; „molteplice interpretabilità dell’opera d’arte“ oder dem im Prinzip unendlichen Dialog mit dem zu interpretierenden Werk), die Eco noch lange beschäftigen sollten, und vertieft vor allem den Aspekt der „Kongenialität“, die er für „angeboren“ hält. Aber obwohl durch diese „congenialità“ zwar gesichert sei, wie Pareyson befindet, dass die Auswahl der Texte durch den Interpreten weitgehend „instinktiv“ richtig verliefe, was Interpretationserfolge garantiere, sei doch ebenfalls gewiss, „dass sich das Verstehen im Verkehr mit den bevorzugten Autoren“ schärfe und dass die größte Kenntnis in dem Maße erreicht würde, in dem sich die Selbsterkenntnis des Interpreten vertiefe: „es stellt sich so eine Kommunikation her, in der es mir umso mehr gelingt, das Werk, das mir kongenial ist, wiederzugeben und zu beleben, je mehr ich durch dieses Werk für mich selbst erhelle und präzisiere, warum es mir gefiel und warum mich dieses Gefallen dieses Werk bevorzugen und verstehen ließ.“ Dass derartige Theoreme einen zutiefst gläubigen jungen Menschen wie Eco, der sich vorgenommen hatte, die Schriften eines der bedeutendsten, ja sogar heiliggesprochenen Theologen zu interpretieren, <?page no="49"?> 31 Vom Heiligen Thomas zu Thomas von Aquin oder Abkehr von Schleiermacher beim Versuch, sich „kongenial“ in seinen Autor zu versetzen, auf die schlimmsten mystisch-sektiererischen Abwege hätten führen können, liegt auf der Hand. Es ist daher mit Sicherheit ein glücklicher Zufall, dass Eco, der Pareysons Estetica 1955 sogar ausführlich bespricht,* just zu diesem Zeitpunkt in die Konflikte mit der Gioventù italiana stürzt, die ihn in kritische Distanz zur katholischen Kirche führen. Sie dürften auch für sein Verhältnis zu Thomas von Aquin, zu Pareyson und zum Problem der Interpretation entscheidend gewesen sein, wie man dem Vorwort entnehmen kann, das Eco der zweiten Ausgabe seiner Dissertation voranstellt, die 1970 mit einem neuen Titel erscheint: aus dem Ästhetikproblem im Werk des Heiligen Thomas ist bezeichnenderweise Das Ästhetikproblem im Werk des Thomas von Aquin geworden. Genauso verständlich wie diese Änderung des Titels ist die Zufriedenheit, mit der Eco in diesem Vorwort feststellt, dass seine Arbeit aus den 50er Jahren wissenschaftlich immer noch Bestand habe. Denn er hätte sie zwar 1952 im Geist der Hingebung an das religiöse Universum Thomas von Aquins begonnen, inzwischen aber habe er schon lange [s]eine Probleme mit der thomistischen Metaphysik und der religiösen Weltanschauung geregelt. Das Kuriose aber sei, schreibt Eco, dass diese Abrechnung ausgerechnet über die Erforschung der thomistischen Ästhetik erfolgte. Das heißt, dass dieses Buch als Erforschung eines Territoriums begonnen wurde, das ich noch für zeitgenössisch hielt, und dass sich dieses Territorium dann in dem Maße, in dem die Untersuchung Fortschritte machte, als eine weit zurückliegende Vergangenheit herausstellte, die ich zwar mit Begeisterung und Hingabe rekonstruierte, aber doch so wie man die Korrespondenz eines sehr geliebten und respektierten Verstorbenen ordnet. Und dieses Resultat leitete sich vom historiographischen Ansatz her, den ich noch heute für richtig halte und dem entsprechend ich nach und nach entschieden habe, jeden Begriff und jedes Konzept, die in den Texten begegneten, im Licht des historischen Kontextes zu erläutern, in denen sie entstanden waren. Um Thomas wirklich getreu zu sein, um seine Worte nicht auf Grund des Schleiers zu verfälschen, der von Tausenden von Interpreten gewebt worden war, die eigene Interessen verfolgt hatten, habe ich Thomas in seine Zeit zurückversetzt. Auf diese Weise habe ich ihn in seiner tatsächlichen Gestalt wiederentdeckt, in seiner ‚Wahrheit‘, nur dass seine Wahrheit nicht länger mehr die meine war (PE 6). <?page no="50"?> 32 Studium und Promotion an der Universität Turin Kunst und Schönheit im Mittelalter Ohne Zweifel: dies ist eine der wichtigsten Etappen in Ecos geistiger Entwicklung. Der Verlust des Glaubens kündigt sich an und wird in vielfacher Hinsicht produktiv. Er lässt ihn ahistorisches Denken idealistisch-croceanischer Observanz aufgeben zugunsten authentischen, auf die Erforschung gesellschaftlicher Verhältnisse gründenden geschichtlichen Denkens und veranlasst ihn, sich mit dem Mittelalter im Allgemeinen, mit mittelalterlicher Kunst im Speziellen in dieser geschichtlichen Perspektive auseinanderzusetzen. Das wiederum führt ihn zum vertieften Nachdenken über Interpretation und Kommunikation und damit zum Nachdenken über das Dekodieren von Zeichen, kurz: zur Semiotik, die für Eco - bei aller notwendigen Abstraktion im Herausarbeiten von Elementen und Funktionsweisen - von nun an grundsätzlich außerhalb einer geschichtlichen Perspektive undenkbar sein wird. Ein kurzer Ausblick am Ende seiner Dissertation zeigt den Weg an, den Eco einschlagen wird. Wer eine Geschichte der mittelalterlichen Theorie der Kunst verfassen will, schreibt er, darf sich nicht zu lange mit den thomistischen Schriften abgeben (PE 223). Nicht, dass man sie ignorieren müsse, sondern dass man sie in relativierende Korrelation zur ästhetischen Praxis des Mittelalters zu stellen habe, ist das Entscheidende, und so plädiert Eco denn auch für eine Neukonzeption der mittelalterlichen Ästhetik, die Kleidung, Schmuck, Waffen oder Architektur genauso wenig außer Betracht lassen dürfe wie die Handwerksbücher, in denen - wie in den Schedula Diversarum Artium des Theophilus Presbyter (um 1100) - Anweisungen zum Gebrauch von Farben, zur Glasmalerei oder Metallverarbeitung gegeben werden, oder die Beobachtungen der Rhetoriker, die Schriften der Mystiker, der Kunstsammler, der Pädagogen, der Enzyklopädisten, der Interpreten der Heiligen Schriften sowie die literarisch-poetischen Werke, unter denen Eco die epischen Dichtungen Chrétien de Troyes besonders hervorhebt (PE 225). Ist Eco bereits von Arnold Hauser inspiriert, als er diese Zeilen schreibt? 1955, als er seine Dissertation zum Druck vorbereitet, veröffentlicht er jedenfalls eine ebenso brillante wie enthusiastische Besprechung von Hausers Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, der man u. a. entnehmen kann, dass er damals nicht nur bereits mit Francesco De Sanctis prä-soziologischen Studien zur Geschichte der Literatur sowie Hippolyte Taines Milieu-Theorie vertraut ist, sondern auch begonnen hat, Marx und Engels zu studieren und sich für Georg Lukács’ Engagement gegen den Vulgär-Marxismus und vor allem für Antonio <?page no="51"?> 33 Kunst und Schönheit im Mittelalter Gramscis undogmatisch-marxistische Kultur- und Kunstkonzeption zu interessieren. Was ihn an Gramsci und Hauser fasziniert, ist die Tatsache, dass sie bei aller historisch-soziologischen Reflexion über den gesellschaftlichen Kontext, in dem ein Kunstwerk entsteht, diesem eine aus der Künstlerindividualität resultierende autonomia oder Eigengesetzlichkeit einräumen, die im Extremfall bewirken kann, dass nicht nur - seit Antike und Mittelalter - individuelle Kunstwerke in formal-inhaltlicher Opposition zu kollektiven Kulturstrukturen, sondern selbst kollektive Kunstproduktionen - wie im Fall der mesopotamischen Kultur - im formalen Widerspruch zu historischsoziologischer Kulturlogik stehen können. Bei aller historisch-gesellschaftlichen Determiniertheit der Kunst- und Literaturproduktion gehorcht diese selbst, nach Ecos (von Gramsci und Hauser bestärkter) Überzeugung, doch objektiv-immanenten Strukturgesetzen, die vom künstlerischen Individuum im Sinn der von Pareyson definierten und von Eco beschworenen formatività oder Formgebung schöpferisch bis hin zur absoluten Unabhängigkeit von gesellschaftlichem Erwartungszwang umgesetzt werden.* Dass dieses Plädoyer für eine Symbiose marxistisch-soziologischer Forschung und idealistischer Ästhetik Pareysonscher Prägung dazu beiträgt, Distanz zwischen ihm und seinem Doktorvater aufzubauen, war zwar mit Sicherheit von Eco nicht gewollt, ist aber objektiv umso unvermeidlicher, als Pareyson gerade in jener Zeit in religiöse Mystik abdriftet, während Eco sich immer weiter vom katholischen Glauben ab- und wissenschaftlichem Rationalismus zuwendet. 1959 legt er das Resultat seiner - aus der Arbeit über Thomas von Aquin erwachsenen - Recherchen über die Kunst des Mittelalters unter dem Titel Die Entwicklung der mittelalterlichen Ästhetik** vor, ein Titel, den er für nachfolgende Ausgaben abwandeln wird in Kunst und Schönheit in der mittelalterlichen Ästhetik. Dies ist, so beginnt seine Untersuchung, eine zusammenfassende historische Darstellung der von der lateinischen Kultur des Mittelalters vom 6. bis zum 15. Jahrhundert erarbeiteten ästhetischen Theorien (KSM 9). Doch Eco erläutert auch, dass nur deshalb von lateinischer Kultur die Rede sei, weil sich theoretische - politische oder theologische - Abhandlungen im Mittelalter des Lateinischen bedienten. Man habe aber auch in den damals entstehenden modernen Sprachen Europas gedacht, auch wenn er selbst in seiner Arbeit ästhetische Vorstellungen, die sich u. a. in den Texten der provenzalischen Troubadour-Dichter, bei den italienischen Stil-Novisti, bei Dante, Petrarca und Boccaccio fänden, nur am Rande berühre. Darüber hinaus stellt Eco (im Geiste Hausers) fest, dass der Begriff Mittelalter zur Be- <?page no="52"?> 34 Studium und Promotion an der Universität Turin zeichnung der Zeit vom Ende des Römischen Reiches bis zum 15. Jahrhundert so falsch sei wie die Behauptung, dass diese zehn Jahrhunderte, die man ohne Rücksicht auf ihre Verschiedenheit in eine Schublade werfe, der ästhetischen Sensibilität ermangelt hätten (KSM 12-13). Diese damals dank Croce und Curtius gängige Vorstellung eines Mittelalters ohne eigenes ästhetisches Interesse weist der jugendliche Eco - gestützt vor allem auf die bahnbrechenden Arbeiten von Hans H. Glunz und Edgar De Bruyne* - in scharfer Polemik gegen Curtius zurück, der dem Mittelalter nur das Konzept der intelligiblen Schönheit konzedierte. Wenn die Scholastik von Schönheit spricht, so ist damit ein Attribut Gottes gemeint, hatte Curtius behauptet: Schönheitsmetaphysik […] und Kunsttheorie haben nicht das Geringste miteinander zu tun. […] Hier ist eine Schönheit gemeint, von der die Ästhetik nichts weiß. Als Antwort insistiert Eco auf der Bedeutung der metaphysischen Schönheitskonzeption als realer Gegebenheit der geistigen Erfahrung des Menschen der Epoche und auf der Tatsache, dass diese Erfahrung per Analogieschluss auch auf das sinnlich wahrnehmbare Schöne, die Schönheit der Natur- und Kunstgegenstände ausgedehnt worden sei: Die Ansicht, das Mittelalter habe das sinnlich erfaßbare Schöne moralistisch abgelehnt, verrät außer einer oberflächlichen Kenntnis der Texte ein fundamentales Unverständnis der mittelalterlichen Mentalität (KSM 18). Das ist kein Mittelalter mehr Auch wenn die methodologischen Prämissen noch nicht mit letzter Präzision definiert sein mögen, die grundsätzliche Entscheidung ist gefallen: die Reflexion über das Schöne und die Kunst im Mittelalter wird von Eco, der sich 1961 mit einem Essay gegen die neuthomistische, spekulativ-historisierende Mittelalterkonzeption Jacques Maritains definitiv von seinen religiös gefärbten Anfängen verabschiedet,** aus soziologisch-mentalitätsgeschichtlicher, praxisbezogen-handwerklicher, kommunikationstheoretischer Perspektive erfolgen, ohne dass dies Verzicht auf die Berücksichtigung der theologisch-philosophisch übergeordneten Dimension der intelligiblen Schönheit oder der individuellen Qualität der einzelnen Kunst- und Literaturproduktion bedeuten sollte, womit Eco dem mittelalterlichen Vorgehen selbst entspricht. Es fällt heute schwer, jene Unterscheidung zwischen Schönheit und Nützlichkeit, Schönheit und Gutem, pulchrum und aptum, decorum und honestum nachzuvollziehen, schreibt er in Kunst und Schönheit im Mittelalter: Die Theoretiker bemühen sich oft, diese Kategorien zu unterscheiden […] Doch in der Praxis zeigt die Einstellung zur Kunst <?page no="53"?> 35 Das ist kein Mittelalter mehr eher eine Vermischung als eine Unterscheidung der Aspekte (KSM 32). Eco weist diese dialektisch-komplementäre Dimension des Nachdenkens über Kunst und Schönheit für die verschiedensten Bereiche ästhetischer Produktion des Mittelalters nach und folgert: Es hat ein spezifisch mittelalterliches ästhetisches Denken gegeben […] Dieses Denken war nicht monolithisch und hat sich im Lauf der Zeit vielfältig differenziert. Die Entwicklung ging von einer pythagoräischen Ästhetik der Zahl […] bis zu einer humanistischen Ästhetik, die die Werte der Kunst und den Schatz der aus der Antike überkommenen Schönheiten betont und ein Ausdruck der karolingischen Welt ist. Indem sie dann, auf der Grundlage einer stabilen politischen Ordnung, das System einer theologischen Ordnung der Welt ausarbeitet, wird die Ästhetik, nach Überwindung der Krise um das Jahr Tausend […], zu einer Philosophie der kosmischen Ordnung. Während Europa sich mit einem weißen Mantel von Kirchen bedeckt […], während die Kreuzzüge das provinzielle Leben des mittelalterlichen Menschen aufwühlen, während die Auseinandersetzungen in den Städten ein neues bürgerliches Bewußtsein in ihm entwickeln, öffnet die Philosophie sich für den Mythos der Natur, zunächst für den konkreten Sinn der Naturdinge; später wird auch das Schöne nicht mehr Attribut der abstrakten Ordnung, sondern der Einzeldinge (KSM 222-223). In dem Maße aber, in dem die mittelalterliche Kultur, für das Schöne wie für jeden anderen Wert, die bleibende Essenz der Dinge in einer klaren und umfassenden Formel zu fixieren sucht, gerät diese philosophische Bemühung in Rückstand zur wissenschaftlichtechnologischen Entwicklung der sozialen Wirklichkeit Europas: Die systematisierende Theorie […] vollendet das ästhetische Bild der politischen und der theologischen ordo erst zu einer Zeit, da diese von vielen Seiten her bereits unterminiert wurde: [von dem] Nationalbewußtsein, den Volkssprachen, den neuen Technologien, einem neuen mystischen Empfinden, der sozialen Umwälzung, dem theoretischen Zweifel. An einem bestimmten Punkt muß die Scholastik, die Lehre eines universellen katholischen Staates, dessen Verfassung die [theologisch-wissenschaftlichen] Summen, dessen Enzyklopädien die Kathedralen sind und dessen Hauptstadt Paris ist, sich mit der Dichtung in den Volkssprachen auseinandersetzen […], mit der neuen experimentellen und quantitativen Wissenschaft, mit andersartigen Auffassungen von Individuum und der Gesellschaft […] und folglich, zwangsläufig, auch vom Schönen, vom Häßlichen und von der Kunst (KSM 223-224). Mit diesen Überlegungen zur Ästhetik des Mittelalters, die heute (so wie Ecos Untersuchung zu Thomas von Aquin) von der interna- <?page no="54"?> 36 Studium und Promotion an der Universität Turin tionalen Forschung voll akzeptiert sind,* schließt sich der Kreis der Reflexionen, die durch seine Doktorarbeit über Thomas von Aquin ausgelöst wurden, und öffnet sich der Horizont für weitere Überlegungen über Europa und seine Kunst, Geschichte und Gegenwart, Kontemplation und politisches Engagement, die Ecos Kritiker bisweilen perplex ließen, konnten sie doch u. a. aus mangelnder geschichtlicher Einsicht seine Relativierung von Postmoderne-Thesen als eines rekurrenten Phänomens nicht wirklich nachvollziehen. In Wahrheit ist die Position Ecos ebenso klar wie überzeugend**: Angesichts der Tatsache, dass sich in jener Zeit, die wir das Mittelalter zu nennen pflegen, in Europa die modernen Staaten herausbilden, die grosso modo noch heute Bestand haben, bzw. dieses selbe Europa sich mit seinen Städten, Märkten und Verkehrsverbindungen die Strukturen gibt, die ebenfalls grosso modo noch heute funktionieren, ist es höchst problematisch, diese Zeit nicht als zu unserer eigenen gehörig zu begreifen. Als Thomas [von Aquin] anno 1225 geboren wird, schreibt Eco 1974 in seiner Laudatio auf Thomas von Aquin aus Anlass des 700.-Todestages, ist es fünfzig Jahre her, daß die lombardischen Städte die Schlacht von Legnano gegen das Reich gewannen. Seit zehn Jahren hat England die Magna Charta. In Frankreich ist gerade die Herrschaft Philipp Augusts zu Ende gegangen. Das Reich liegt in Agonie. Fünf Jahre später gründen die See- und Handelsstädte des Nordens die Hanse. Die florentinische Wirtschaft floriert […] Fibonacci hat die doppelte Buchführung schon erfunden. Seit einem Jahrhundert blühen die Medizinschule von Salerno und die Rechtsschule von Bologna. Die Kreuzzüge sind in fortgeschrittenem Stadium. Mit anderen Worten, die Kontakte zum Orient sind in voller Entwicklung. Andererseits faszinieren die Araber in Spanien die christliche Welt mit ihren Entdeckungen in Naturwissenschaft und Philosophie. Die Technik erlebt einen mächtigen Aufschwung, verändert hat sich die Art und Weise, wie man die Pferde beschlägt, die Mühlen betreibt, die Schiffe steuert, die Zugtiere vor die Karren und Pflüge spannt. Nationalmonarchien im Norden und freie Stadtrepubliken im Süden. Kurzum, dies ist nicht mehr Mittelalter, jedenfalls nicht, wie man es gemeinhin versteht (GW 285-286). <?page no="55"?> Zwischen Wissenschaft, Fernsehen, Verlagsarbeit und Kunst Die Arbeit bei der RAI und die Begegnung mit Luciano Berio - Auf dem Weg zum offenen Kunstwerk - Schicksalsjahr 62 oder Opera aperta und die Poetiken des James Joyce - Apokalyptiker und Integrierte Die Arbeit bei der RAI und die Begegnung mit Luciano Berio Kein Zweifel kann daran bestehen, dass Ecos wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Mittelalter von entscheidender Bedeutung für sein Gesamtwerk und speziell für seine Romanproduktion gewesen ist, auch wenn seine berufliche Entwicklung zunächst in eine ganz andere Richtung zu verlaufen schien. Nach einer Universitätskarriere in Philosophiegeschichte oder Mediävistik sah es - nicht zuletzt wegen des wissenschaftlichen und religiösen Zerwürfnisses mit seinem Doktorvater Pareyson - jedenfalls nicht unbedingt aus, auch wenn er nicht aufhören wird, an wissenschaftlichen Zeitschriften wie der von Pareyson edierten Rivista di Estetica, der traditionsreichen Rivista di filosofia oder den von Vittore Branca und Giovanni Getto betreuten Lettere italiane mitzuarbeiten. Vorsichtshalber lässt er sich zum Mitarbeiter bei der RAI (damals noch Radio Audizione Italiana) ausbilden, als diese am 3. Januar 1954 verkündet, regelmäßig Fernsehsendungen ausstrahlen zu wollen. Eco wird eingestellt und bis 1958 beim Fernsehen bleiben. Viel zu tun hatte er nach eigener Aussage nicht. Man hörte ihn sogar bisweilen auf den Fluren der Mailänder Fernsehanstalt Flöte spielen, und von anderen Dingen - wie einer kurzfristigen Verlobung mit der (später sehr bekannten) Fernsehmoderatorin Enza Sampò - abgesehen, vertrieb er sich die Zeit mit der Lektüre von James Joyce, zu dem er über Thomas von Aquin gelangt war, hatte sich Joyce doch seinerseits von der thomistischen Schönheitskonzeption nach den drei Kriterien der proportio, integritas und claritas inspirieren lassen (PE 128-129). Und so wie Thomas von Aquin Joyce nie wieder losgelassen hatte, wird Joyce Eco nie wieder loslassen. Dass er sich in dieser Pionierzeit des Fernsehens mit Technik, Sendestrategien und journalistischer Arbeit vertraut machen konnte, liegt auf der Hand. Alles war in Direkt, und der Zuschauer musste den <?page no="56"?> 38 Zwischen Wissenschaft, Fernsehen, Verlagsarbeit und Kunst Eindruck haben, es sei wirklich, erinnert er sich 1989 und evoziert die Tricks von Kulissen- und Kameraführung, mit denen bei Studio-Aufnahmen der Eindruck von life-Sendungen „vor Ort“ erzeugt wurde. Nach zweijährigem Praktikum wird er für das Kulturprogramm eingesetzt, das laut Eco für alles außer Sport, Politik und Gesellschaftsereignisse zuständig war: Sendungen über Kunst, Modeschauen, Kochkünste, Sendungen für Kinder […], Religiöses […], Buchbesprechungen, historische Gedenksendungen, Sendungen also, die im damaligen Kontext des Rudimentären und Improvisierten auch Spielraum boten für kreative Produktionen. So ist Eco, der bei der RAI einer Fülle bedeutender Schriftsteller, Künstler und Komponisten von Bert Brecht über Italo Calvino und Luciano Erba bis zu Pierre Boulez, André Boucourechliev, Bruno Maderna, Henri Pousseur, Karlheinz Stockhausen und Igor Strawinsky begegnet, ständiger Gast beim Komponisten Luciano Berio, dessen (zusammen mit Maderna geleitetes) Studio di fonologia musicale sich zwei Stockwerke über dem seinen befindet: Ich erzählte Berio von Joyce - den in Italien damals noch kaum jemand kannte - und zeigte ihm insbesondere das berühmte Sirenen-Kapitel aus dem Ulysses, das Joyce nach dem musikalischen Prinzip einer ‚fuga per canonem‘ konstruiert hatte. Das war der Ausgangspunkt für unser Radio-Experiment, bei dem verschiedene Sprecher abwechselnd laut aus Joyce vorlasen. Als wir hiermit schon begonnen hatten, erfuhren wir, dass bei Mondadori eine italienische Übersetzung des Ulysses erscheinen sollte; es gelang uns, vom Verleger das Manuskript des obenerwähnten Kapitels zu erhalten. Damit waren die Voraussetzungen für eine mehrsprachige Joyce-Lektüre gegeben: Cathy Berberian trug den englischen Text vor; ich selbst deklamierte die französische Version […]; mein Freund Furio Colombo und ein Schauspieler namens Ruggero De Daninos trugen den italienischen Text vor. Berio arrangierte die Tonbandaufnahmen dann gemäß der Struktur einer Fuge und verfremdete die Sprache zusätzlich noch auf elektronischem Wege; das Ergebnis war seine Platte Omaggio a Joyce (G 134). Auf dem Weg zum offenen Kunstwerk Wahrscheinlich dürfte auch jugendlicher Leichtsinn im Spiel gewesen sein, als der ausgewiesene Mediävist Eco Mitte der 50er Jahre anfing, sowohl seine Hinwendung zur modernen Avantgarde-Kunst und -Literatur als auch seine Erfahrung im Umgang mit dem neuen Massenmedium in wissenschaftliche Publikationen einfließen zu lassen. Denn wie Eco 1984 erinnert, galt es damals im akademischen Milieu <?page no="57"?> 39 Auf dem Weg zum offenen Kunstwerk durchaus noch als unseriös, sich mit Television statt mit Goethe zu befassen (AI 10). 1958 jedenfalls hält er auf dem 12. Internationalen Philosophenkongress in Venedig den in vieler Hinsicht entscheidenden Vortrag über Das Problem des offenen Kunstwerks, der im selben Maß von seiner Erfahrung im Umgang mit Thomas von Aquin, Joyce sowie der Avantgarde-Musik und -Kunst bestimmt ist. Zwar ginge man gemeinhin davon aus, erklärt er, dass der Autor oder Kunstproduzent stets die Anfertigung eines - seinen Absichten entsprechenden - in sich vollendeten und abgeschlossenen Objektes anstrebe, das so angelegt sei, dass die Rezeption* so verläuft, wie der Autor dies gedacht und gewünscht habe. Dennoch sei klar, dass das Kunstwerk von vielen verschiedenen Individuen rezipiert würde, die alle eigene Charaktereigenschaften besäßen und eigene soziale und kulturelle Schulungen durchlaufen hätten. Daraus ergäben sich individuelle Ausprägungen der Sensibilität, die der jeweiligen historischen und soziokulturellen Situation geschuldet seien. So sehr sich also auch der Rezipient mühe, das Objekt der Absicht des Produzenten gemäß zu verstehen, sei doch jede Rezeption unvermeidbar individuell und würde somit das Objekt unter entsprechenden Aspekten erscheinen lassen. Das wüsste der Produzent des jeweiligen Objektes und produziere dementsprechend das Werk auch als „apertura“ / „Offenheit“, selbst wenn er versuche, die Rezeption so zu orientieren, dass sie - trotz aller Verschiedenheit - seinen Intentionen entspräche: Diese Dialektik von ‚definitezza‘ / ‚Endgültigkeit‘, ‚Abgeschlossenheit‘ und ‚apertura‘ / ‚Offenheit‘, erklärt Eco immer noch im Anschluss an Interpretations-Theorien von Pareyson, scheint uns wesentlich für ein Verständnis von Kunst als kommunikativer Handlung und zwischenmenschlichem Dialog zu sein. Den Grad der „Offenheit“ innerhalb dieser unaufhebbaren Dialektik von Autorintention und „Abgeschlossenheit“ des Werkes einerseits und Rezeptionskompetenz bzw. Autonomie der Interpretation andererseits bestimmten, so Eco, die - von ihm unbeirrbar aristotelisch Poetiken genannten - ästhetischen Systeme der Autoren, die ihrerseits geschichtlich-gesellschaftlich bedingt seien. Zwar läge in antiken Auffassungen der Akzent implizit auf dem Pol der ‚Abgeschlossenheit‘ des Werkes, dennoch könne man auch einem Werk wie Dantes Göttlicher Komödie Offenheit für Rezeption nicht absprechen, auch wenn diese - konzipiert für eine vierfache Deutung nach sensus litteralis oder historicus (Buchstabensinn), sensus allegoricus oder symbolicus (metaphorisch-symbolische Bedeutung), sensus moralis (Sinn der Heilslehre) und sensus anagogicus (geoffenbarter Sinn)** - enger vorstrukturiert sei. Die moderne Literatur freilich ziele, laut Eco, spätestens <?page no="58"?> 40 Zwischen Wissenschaft, Fernsehen, Verlagsarbeit und Kunst seit dem französischen Symbolismus immer mehr auf Freisetzung der Interpretation durch den Leser innerhalb eines immer weiter gesteckten Vorgaberahmens. Diese Tendenz würde in Werken wie denen von Kafka unübersehbar, die im Gegensatz zur klassischen Allegorie einen offenen Symbolismus praktizierten, der vor allem Kommunikation des Unendlichen und Mehrdeutig-Polyvalenten anstrebe, eine Tendenz, die aber nicht nur auf orphisch-symbolische oder irrationale Poetiken beschränkt sei, sondern sich auch in rationalistischen Poetiken wie der von Brecht Bahn breche: Obwohl dieser Autor in seinen […] Theaterstücken auf Vermittlung einer ganz bestimmten Ideologie abzielt, will er doch […], dass seine Stücke keine expliziten theoretischen Schlussfolgerungen anbieten: die dramaturgische Umsetzung der ‚epischen Spielweise‘ zielt vielmehr darauf ab, den Zuschauer nicht emotional zu beeinflussen, sondern mittels des Verfremdungseffektes zu selbständigem und kritischem Urteil über die gesellschaftliche Wirklichkeit anzustacheln, die der Autor ihm präsentiert, und ihm so die Freiheit einzuräumen, zu selbständigen Entscheidungen hinsichtlich der ‚Beweise‘ zu gelangen, die ihm vorgelegt werden. Diesen Werken, die dem Rezipienten bereits - auf die eine oder die andere Weise - sehr freie interpretatorische Reaktionen einräumen, fügt Eco in seinem Vortrag von 1958 noch Typen von Kunstwerken hinzu, die sich dem Betrachter unentwegt in nie vollendeter und damit unaufhebbar offener Form darbieten wie die Mobiles von Alexander Calder oder jene literarischen Werke, die mit der Komplexität ihrer Strukturen […], Erzählebenen, linguistischen Reichtümer, semantischen Verbindungen […] der Absicht ihrer Autoren entsprechend [… ] ununterbrochen ihre eigenen Signifikate erneuern und sich unerschöpflichen Lektüremöglichkeiten öffnen wie z. B. Joyces Finnegans Wake, ein Werk, das tatsächlich mit einem riesigen elektronischen Gehirn gleichgesetzt werden könne, wie Eco lange vor dem Beginn der Computer-Ära feststellt. Alle diese von ihm diagnostizierten Offenheiten hätten sich laut Eco nicht nur in der Kunst- und Literaturwirklichkeit fest etabliert, sondern bestimmten auch die post-weberianische Musikproduktion der Stockhausen und Pousseur sowie die moderne Architektur, ja sogar die Möbelproduktion des art design, eine Feststellung, die von grundsätzlicher Bedeutung sei. Denn die von den Möbelproduzenten und Architekten in den gesellschaftlichen Gebrauch integrierte formale Offenheit ihrer Produkte würde die von konservativen Kunst- und Literaturkritikern praktizierte Denunziation der offenen Werke der modernen Avantgarde als dekadent immer deutlicher ad absurdum führen, zumal es laut Eco Zeit sei, zu erkennen, dass das <?page no="59"?> 41 Schicksalsjahr 62 oder Opera aperta und die Poetiken des James Joyce ‚offene Kunstwerk‘ neuen Typs unter soziologisch günstigen Umständen auch einen Beitrag zur ästhetischen Erziehung des breiten Publikums liefern könne. Schicksalsjahr 62 oder Opera aperta und die Poetiken des James Joyce Im selben Jahr 1958 muss Eco tun, was er - wegen seines Studiums-- lange hatte hinausschieben können: den Militärdienst absolvieren. Zuerst in Como stationiert, gelingt es ihm, sich nach Mailand versetzen zu lassen, wo er noch seine Studentenbude hat. Und - wie er am 4.-Januar 2007 der Zeit eingesteht - er ist kein wirklich militärisch engagierter Rekrut: Meistens arbeitete ich bis 14 Uhr in der Kaserne, ging dann in die Stadt, übernachtete unerlaubterweise in meinem Zimmer und kam erst am nächsten Morgen zurück. Es waren Friedenszeiten, du konntest in der Armee praktisch machen, was du wolltest. Aber trotz des Wohlwollens, das ich genoss, waren diese Ausflüge mit einem gewissen Risiko verbunden. Jedenfalls hatte ich immer Angst, dass ich irgendwann auffliegen und es einen Rieseneklat geben würde. Was zum Glück nie passiert ist. Aber er hat noch mehr Glück: 1959 findet er eine Anstellung beim Bompiani Verlag in Mailand, wo er als (sehr erfolgreicher) Sachbuchlektor arbeiten und eine schöne Deutsche kennenlernen wird, die dort als Grafikerin tätig ist: die spätere Dozentin für Kommunikation und Design Renate Ramge. Erinnert sie ihn an jene andere Deutsche, Uta von Naumburg, die er - wie er wiederum einer deutschen Gazette, dem Magazin der Süddeutschen Zeitung am 16. April 2004 beichten wird - noch in fortgeschrittenem Alter (neben Leonardos Dame mit dem Hermelin) als schönstes weibliches Geschöpf aus der Kunstgeschichte verehren wird? Wie auch immer: Renate Ramge gestaltet u. a. zusammen mit Bruno Munari den Band Storia figurata delle invenzioni, der 1961 erscheint, für den Eco und Giambattista Zorzoli, Dozent am Polytechnikum von Mailand, den Text verfassen, und der tiefe Spuren in Ecos Werken hinterlassen wird.* Im selben Jahr erhält er an der Universität Turin die Lehrbefugnis als Privatdozent für Ästhetik und beginnt, ab 1962 dort und ab 1964 auch an der Architekturfakultät der Universität Mailand mit Lehrveranstaltungen. Und 1962 heiraten Renate Ramge und Umberto Eco. Stefano, ihr erstes Kind wird ein Jahr später geboren. 1962 veröffentlicht Eco aber auch unter dem Titel Opera aperta. Forma e indeterminazione nelle poetiche contemporanee** die Summe seiner - aus der Begegnung mit den neuen Medien und speziell dem <?page no="60"?> 42 Zwischen Wissenschaft, Fernsehen, Verlagsarbeit und Kunst Fernsehen, der expressionistisch-atonalen Zwölfton-Musik Schönbergs, die dieser zum Beispiel in Ein Überlebender von Warschau verwendet habe, weil er (OKW 269) mit dem herkömmlichen tonalen System die ganze Entrüstung […] über die nazistische Barbarei nicht hätte ausdrücken können, der seriellen und elektronischen Musik und den Sprach-Ton-Experimenten der Berio, Maderna, Pousseur und Stockhausen sowie der modernen Literatur speziell eines Joyce, aber auch des nouveau roman eines Robbe-Grillet hervorgegangenen - Reflexionen über die Auslegung von Kunstwerken. Diese, so Eco in Vertiefung seiner Überlegungen von 1958, besäßen grundsätzlich Offenheit für jeweils divergierend-individuelle Interpretationen, die durchaus gegen die Intention des Autors/ Produzenten (selbst des abgeschlossensten mittelalterlichen Werkes) vom Rezipienten genutzt werden könne (und sei es, indem er das Werk gegen den Strich lese).* Diese Offenheit habe sich seit der Renaissance und auf Grund der sukzessiven Preisgabe rhetorisch-interpretatorischer Leseanweisungen ständig vergrößert, um im modernen Avantgarde-Werk den Höhepunkt zu erreichen. In diesem sei die Offenheit (für Rezeption und Interpretation) Bestandteil der Werkkonzeption selbst, wodurch der Rezipient intentional in die Rolle eines Mitproduzenten von Sinn versetzt würde, ja, ihm bliebe sogar bisweilen - wie in der seriellen Musik oder in der surrealistischen Literatur - die Realisierung des Werk-Endes überlassen. Dass ihre intentionale und nie überwundene bzw. nie in Bedeutungsfixierung überführbare Polysemie die Auseinandersetzung mit diesen modernsten und auf exegetische Offenheit angelegten Kunstwerken weder überflüssig macht, noch kunstliquidatorisch ist, sondern geschichtliches Bewusstsein auf allen Ebenen voraussetzt und in der Auseinandersetzung mit den offensten Kunstwerken zu Erkenntnisgewinn hinsichtlich der Situation des Menschen in der modernen Gesellschaft führt, deren Strukturen mindestens so labyrinthisch und vieldeutig (oder desorientierend) sind wie die der Avantgarde-Kunst, weist Eco in der nun ausführlich-systematischen Analyse der Werke von Joyce nach, der seine Romangestalten unentwegt so viel über Poetik und Ästhetik sprechen ließe, daß sie ein Modell impliziter Poetik repräsentieren, das den inneren Aufbau des Werkes bestimmt. So sei Finnegans Wake zum Beispiel eine Abhandlung über Poetik, ein beständiges Definieren des Universums und des Werkes, das für dieses Universum steht, und Eco folgert: bei Joyce […] muß man, wenn man die Entwicklung seiner Poetik verstehen will, stets seine geistige Entwicklung, oder besser die Entwicklung jener Gestalt, die im immensen autobiographischen Fresko der […] Werke ständig wiederkehrt, ob sie <?page no="61"?> 43 Schicksalsjahr 62 oder Opera aperta und die Poetiken des James Joyce sich nun Stephen Daedalus, Bloom oder H. C. Earwicker nenne, in Rechnung stellen. Hier wird deutlich, daß Joyces Poetik nicht etwas ist wie ein Standpunkt außerhalb des Werkes, den man einnehmen kann, um von ihm aus das Werk zu verstehen, sondern ein integraler Teil des Werkes, und daß sie vom Werk selbst in seinen verschiedenen Entwicklungsphasen erläutert und erklärt wird (OKW 295-296). Ausgehend von dieser Prämisse untersucht Eco die Hauptphasen von Joyces geistiger Biographie von der jesuitischen College-Erziehung über die Auseinandersetzung mit Thomas von Aquin, die Entdeckung des Märtyrertods, den Giordano Bruno für sein Bekenntnis zur wissenschaftlichen Weltbetrachtung hatte erleiden müssen, das Studium des Aristoteles, der ihm helfen wird, das jeweils Neue zu ordnen und in eigenes Denken zu integrieren, die Begegnung mit dem Geschichtsphilosophen Giambattista Vico, bis hin zum Studium der Verlaine, Huysmans, Flaubert, D’Annunzio, Fogazzaro, Ibsen, Walter Pater, Oscar Wilde, Baudelaire, Mallarmé und der Verwendung ihrer Arbeit in seiner Textproduktion. Dies alles erzeuge eine Kopräsenz gegensätzlicher Poetiken, zu denen nach Eco u. a. auch die des Querschnitts durch das Alltagsleben, des inneren Monologs oder des Kalauers gehören und die Joyce als ästhetisch-philosophische Komplementarität benötige, um die Erfahrung einer Übergangsperiode zu artikulieren, in der Wissenschaft und Entwicklung der sozialen Beziehungen den modernen Menschen mit einem Weltbild konfrontieren, das nicht mehr den Schemata vergangener, mehr in sich ruhender […] Epochen entspräche, und um paradoxerweise die neue Welt dadurch zu bestimmen, daß [Joyce] eine chaotische und schwindelerregende Enzyklopädie der alten zusammenstellt, in der sich alle jene Erklärungen verschränken, die sich einst gegenseitig ausschlossen, während man jetzt bemerkt, daß sie in einer Entgegensetzung koexistieren könnten, aus der etwas Neues entstehen muß (OKW 352-353; 377; 431-432). Das ist nicht etwa als optimistische Botschaft zu verstehen, sondern als Einladung zu realistischer Bilanzierung der Situation des Menschen in dieser (modernen) labyrinthischen Welt, wie Eco mit Bezug auf Finnegans Wake abschließend konstatiert. Mit ihm zeige Joyce, daß am Anfang das Chaos war: Er löst einen Kosmos auf, der uns nicht mehr Modell sein kann, und beseitigt das Missverständnis der Schemata, die wir nicht mehr verwenden können. Er läßt uns […] frei und verantwortlich gegenüber der Provokation durch das Chaos und seine Möglichkeiten (OKW 442). Evokation, Verwendung und gleichzeitige Destruktion sämtlicher formaler Mittel zur Darstellung der Welt, die ihre traditionellen Strukturen verloren hat, ist das eine. Das andere die Einsicht, dass Joyces <?page no="62"?> 44 Zwischen Wissenschaft, Fernsehen, Verlagsarbeit und Kunst Werke eine unaufhebbare dialektische Einheit von philosophischer Welterkenntnis und formal-innovatorischer Gestaltung dieser Erkenntnis darstellen und damit absurderweise aus dem Bereich der poetischen Produktion ausgegrenzt werden müssten, wendete man auf sie die Kategorien an, die Croce in seiner post-idealistischen Ästhetik für die Definition des Poetischen mobilisiert hatte und bei der an die Stelle ästhetischer Reflexion ein suggestiver Verbalismus tritt (OKW-62), der die Probleme der künstlerischen Produktion aus der Reflexion über die Dichtung verbannte.* Was aber tun, um sich einem Joyce adäquat zu nähern, dessen Texte auf Grund der dialektischen Einheit von Form und Botschaft ästhetisch-philosophische Reflexion verlangen? ** Da selbst Pareyson, den Eco auch für das Offene Kunstwerk als Autorität anruft, hierfür kein ausreichendes begriffliches Instrumentarium liefert,*** wendet sich Eco Dewey zu, einem Vertreter des von Charles S. Peirce begründeten amerikanischen Pragmatismus bzw. der vom zweckmäßigen Handeln determinierten Wahrheitsphilosophie, die die Wirklichkeit als ein in ständiger Wandlung und Entwicklung befindliches, komplexes Beziehungsgeflecht versteht, dem der Mensch durch Erfahrung näher kommt. Es gäbe, so Eco (OKW 64), in Deweys Traktat Art as Experience (Kunst als Erfahrung) von 1934 eine transaktive Konzeption der Erkenntnis, die […] fruchtbar wird, wenn man sie zusammenbringt mit seinem Begriff des ästhetischen Gegenstands als dem Ergebnis einer organisierenden Erfahrung, in dem persönliche Erfahrungen, Fakten, Werte, Bedeutungen sich in einem gegebenen Material verkörpern und ganz mit ihm verschmelzen […] Nun besteht die Bedingung dafür, daß ein Kunstwerk für den, der es perzipiert, ausdrucksvoll wird‚ ‚im Vorhandensein von Bedeutungen und Werten, die aus früheren Erfahrungen stammen und in der Weise verwurzelt sind, daß sie mit den unmittelbar vom Kunstwerk dargebotenen Qualitäten verschmelzen.‘ […] Folglich kennzeichnet das Form-Haben ‚eine Art, die erfahrene Materie so zu betrachten, zu erfühlen und darzustellen, daß sie sehr rasch und wirksam zum Material für die Erarbeitung einer adäquaten Erfahrung bei denen wird, die weniger begabt sind als der ursprüngliche Schöpfer‘. Eco fügt hinzu, dass man Deweys Konzept der wechselseitigen Welterkenntnis im künstlerischen Prozess noch um psychologische Erklärungen ergänzen und im Fahrwasser der Ferdinand de Saussure, Charles William Morris, Ivor A. Richards/ L. K. Ogden, L. Hjelmslev, Roman Jacobson und Roland Barthes auf die Analyse der Sprache als dem Mittel konzentrieren müsse, das jede Kommunikation begründet und die eigentliche Grundlage der Kultur sei. Damit stellt Eco die Weichen für eine (strukturalistisch-semio- <?page no="63"?> 45 Apokalyptiker und Integrierte tische) Theorie der Welterkenntnis, die auf (geschichtlicher) Lebenserfahrung und ihrer interaktiven Kommunikation in allen Bereichen des Seins gründet und bei der die Sprache zwar im Mittelpunkt steht, die aber logischerweise auch alle anderen Mittel der Kommunikation, kurz alles, was als Zeichen dienen kann, mitbedenkt und benutzt und damit Grundlage für eine auf sozialer Praxis beruhende Ästhetik und Hermeneutik sein kann und in Ecos Werk auch sein wird. Apokalyptiker und Integrierte Die Diskussion, die Eco mit Opera aperta und seinem Bekenntnis zu Joyce auslöst, ist enorm und kontrovers,* was nicht überrascht, wenn man bedenkt, dass der Ulysses erst 1960 ins Italienische übersetzt wurde (Eco wird deshalb bereits 1965 als einem der Pioniere der italienischen Joyce-Rezeption die Ehre zuteil, in den Vorstand der James Joyce-Society aufgenommen zu werden). Der Beifall zu Opera aperta kommt denn auch vor allem aus dem Lager der „Avantgardisten“ wie Eugenio Battisti, Angelo Guglielmi, Lamberto Pignotti, Bruno Zevi, Renato Barilli, der besonders begrüßt, dass von Eco der Akzent wieder von der endlosen Diskussion über Tiefempfunden-Geistiges auf Fragen der Form verlagert wird, Elio Pagliarani, den speziell der Aspekt der aktiven Beteiligung des Lesers als „coautore“ interessiert, oder Zorzoli, der in Auseinandersetzung mit dem Philosophen Emilio Garroni vor allem Ecos Recht auf Verbindung von Informationstheorie und Ästhetik verteidigt. Die Reaktion aber schäumt, und zwar sowohl die rechte als auch die linke, beide zum Teil noch tief im Croceanismus verankert. Für die einen hat Eco die Seiten gewechselt: aus einem „krypto-thomistischen“ Gläubigen, heißt es zum Beispiel im Osservatore Romano, sei ein „krypto-kommunistischer“ Befürworter einer Kunst geworden, die „auf alten marxistischen Geschichtskonzeptionen“ gründe und „Offenheit“ im Sinne „revolutionärer Pädagogik“ intendiere. Ecos Beschäftigung mit Joyce sei daher eine indirekte Aufarbeitung seiner eigenen „geistigen Biographie“. Er gäbe - vor allem mit der These von der impliziten oder expliziten „Offenheit“ des Kunstwerks, die übrigens auch von Lévi-Strauss 1965 noch entschieden zurückgewiesen wird** - die ästhetischen Kriterien preis, die bislang die Kunstproduktion bestimmt hätten, propagiere bedenkenlos alle Innovationen der historischen Avantgarde und ihrer Nachfolger im Namen eines formalistischen „anything goes“, ersetze die Literatur durch Informationen aus Wissenschaft und Technik, mache die Kunst zur Unterhaltungsware ohne kritischen Anspruch, vermische <?page no="64"?> 46 Zwischen Wissenschaft, Fernsehen, Verlagsarbeit und Kunst unzulänglich Literatur, bildende Kunst und Musik, riskiere, im Namen einer von Wissenschaft und Technik bestimmten Gesellschaft die natürlich-traditionellen Beziehungen zu zerstören, missbrauche philosophische Autoritäten bei der Analyse banalster Massenprodukte - in der Tat hatte Eco gewagt, sogar Aristoteles als Autorität in der Diskussion über Fernseh-Live-Sendungen anzurufen (OKW 194)- - und insgesamt sei sein Traktat nichts anderes als ein Manual zur Herstellung „literarischer Ingenieurskunst“ und hielte die Autoren an, zu schreiben, ohne sich um ästhetische Vollendung zu bemühen. Für die anderen (speziell aus dem Lager des sozialistischen Realismus) ist Eco nichts weniger als „die schöne Seele“ des „Mailänder Neokapitalismus“, die von der „Entfremdung der Arbeiterklasse“ nichts kapiert habe und die für „permanente metaphysische Entfremdung“ bzw. für die Akzeptierung der „fundamentalen Irrationalität“ in der kapitalistischen Gesellschaft eintrete. Eco plädiere mit seiner „banalen Prosa“ für Kunst als „Mittel der Unterhaltung“ statt für Kunst als „Mittel der Erkenntnis“. Die „Offenheit“, von der er spreche, sei Ausdruck der Dekadenz: er untersage den Autoren, sich mit politischen und sozialen Themen auseinanderzusetzen und ersetze den historischen Materialismus durch Husserls Phänomenologie, ja, ein damals noch relativ unbekannter französischer Philosoph namens Louis Althusser verurteilt sogar Ecos erste Versuche in Opera aperta, Marxismus und Strukturalismus miteinander zu verbinden. Das sei, so meint er, neokapitalistisch-reaktionäre Manipulation. Eco weicht keinen Schritt zurück. In Rinascita, der Kulturzeitschrift der Kommunistischen Partei Italiens (des Partito Comunista Italiano-- PCI), wirft er 1963 der linken Kulturpolitik vor, noch ganz dem croceanischen Idealismus verhaftet zu sein, und insistiert auf der Notwendigkeit, beim Nachdenken über Kulturproduktion die Probleme einer Gesellschaft der Massenkommunikation zu berücksichtigen und dabei historische Aufarbeitung und Erkenntnisse der Geisteswissenschaften und speziell des Strukturalismus miteinander zu verbinden.* Dass Ecos Intervention vom Herausgeber von Rinascita, dem Literarhistoriker Alberto Asor Rosa, im Rückblick 1975 als Wendepunkt in der Kulturpolitik des PCI betrachtet wird, zeugt sowohl von der Aktualität der Eco’schen Arbeiten als auch von der Orientierungslosigkeit der linken Kulturpolitik, stimmte diese doch z. B. in der undifferenzierten Ablehnung der Massenkultur in der westlich-kapitalistischen Gesellschaft mit der reaktionärsten Kritik von rechts überein, wie Eco unter anderem am Beispiel des Münchner Kunsthistorikers Hans Sedlmayr klarmacht. Der vormalige Nazi-Mitläufer Sedlmayr** <?page no="65"?> 47 Apokalyptiker und Integrierte hatte 1948 Verlust der Mitte veröffentlicht, ein Pamphlet gegen die gottlos-moderne Technik-Welt, das ganz Nachkriegs-Westdeutschland entzückt hatte und das Eco 1967 in Gegenüberstellung mit Marshall McLuhans Traktat Understanding Media (wie diesen) unter dem durchaus programmatischen Titel Vom Cogito interruptus als philosophisch-theologisch ahnungslosen und pseudo-historischen Nonsens oder - mit Ecos Worten - lachhafte Philosophie und Lektüre aus dem Kaffeesatz verurteilt: Zeitlich bereits recht fern von den Tagen […], als man die Werke der ‚entarteten Kunst‘ verbrannte, bewahrt […] sich [Verlust der Mitte] davon gleichwohl noch […] einen flackernden Widerschein […] Von der Anbetung Gottes zur Anbetung der Natur, vom Kult der ästhetischen Form zum Kult der Technik: soweit Sedlmayrs Beschreibung einer ‚Abfolge‘. Doch kaum definiert er dann diese ‚Abfolge‘ als eine ‚absteigende‘, drängt sich bereits die Diagnose in die Beschreibung: Der Mensch stürzt abwärts, denn er hat die Mitte verloren […] Die Mitte ist das Verhältnis des Menschen zu Gott [und] Kunstwerke, in denen Gott nicht vorkommt [sind] gottlose Kunstwerke […]. An diesem Punkt vergeuden sich die petitiones principii: Wenn Gott ‚räumlich oben‘ ist, dann ist ein Kunstwerk, das sich auch verkehrt herum betrachten läßt (siehe Kandinsky), atheistisch (GW 247-249). Natürlich kann Eco derartige Verdammungen der modernen Kunst und Massenmedien, die an mittelalterliche Bilderstürmereien gemahnen, nicht akzeptieren, was keineswegs heißt, dass er je entgegengesetzt-dogmatische Positionen eingenommen hätte. Denn wenn er durch seine Mittelalterstudien auch zur Erkenntnis gelangt, dass ästhetische Kompetenz nicht nur aus philosophischen Traktaten und der Kunstproduktion selbst ablesbar ist, sondern sich auch in Handwerk, Gebrauchsgegenständen und Architektur manifestiert, eine Erkenntnis, die zu seiner Unvoreingenommenheit gegenüber dem Fernsehen beiträgt, so heißt dies natürlich nicht, dass er nicht auch - bei seiner Arbeit in den Studios der RAI - kritische Distanz zu diesem Medium gewonnen hätte.* Das erklärt, wieso Eco nicht nur all jene kritisiert und spöttisch Apokalyptiker nennt, die - ob aus konservativer Gesinnung wie Sedlmayr, Ortega y Gasset und Günther Anders, oder von links wie Marcuse, Adorno und Horkheimer, deren Thesen Eco im Rückgriff auf die Heilige Familie von Engels und Marx übrigens als pseudomarxistisch einstuft - die Massenmedien und die von diesen verbreitete Kultur aprioristisch-apodiktisch verdammen, sondern auch all jene, die - von Eco spöttisch als die „Integrierten“ bezeichnet - den Massenmedien (wie McLuhan) vorbehaltlos positiv gegenüberstehen. Einerseits war ich konfrontiert mit den Autoren <?page no="66"?> 48 Zwischen Wissenschaft, Fernsehen, Verlagsarbeit und Kunst der ‚Frankfurter Schule‘ […], die uns das Modell eines Intellektuellen vor Augen führten, der auf die Vulgarität der Welt mit entschiedener Ablehnung antwortete; andererseits mit vielen amerikanischen Soziologen, welche die Merkmale und Wirkungen der Massenkultur studierten, ohne ideologische Zweifel anzumelden - sie akzeptierten die Welt, wie sie war. Das erklärt meinen Versuch, eine ‚mittlere‘ Lösung zu finden […] (AI 11). Für diese mittlere Lösung, die sich u. a. an Ernst Bloch und Walter Benjamin orientiert, plädiert Eco in seiner Essay-Sammlung Apokalyptiker und Integrierte von 1964, dem Jahr, in dem Renate und Umberto Ecos Tochter Carlotta zur Welt kommt. Es ist die zweite große Bilanzierung seiner Begegnung mit der Mittelalterforschung, der Massenkultur und der Avantgardekunst, aber sie ist auch trotzige und bisweilen durchaus polemische Reaktion auf die Kritik an Opera aperta. Seinen Kritikern (speziell von links) wirft er Untätigkeit in Bezug auf die vermeintlich repressive Medienkultur vor und unterstreicht die Dringlichkeit aktiver Eingriffe auf dem Gebiet der Massenkommunikation, was seine eigene Auseinandersetzung mit den Massenmedien als notwendige Voraussetzung rechtfertigt. Schweigen sei ebenso Komplizenschaft wie die Weigerung, sich mit der Materie vertraut zu machen: Damit der Eingriff erfolgreich sein kann, muß er auf genauer Kenntnis des Materials beruhen […] Viele von uns haben die Massenmedien nie einer wissenschaftlichen Betrachtung […] für wert befunden. Aber wer es getan hat, stellte Veränderungen fest. Das Beispiel des Fernsehens ist hier symptomatisch: Niemand kann bestreiten, daß durch eine schlüssige Kulturkritik […] Teile der Programme verbessert werden konnten. So gesehen beeinflußt die Kulturkritik den Markt und bietet den Produzenten Orientierungshilfen an […] Damit ist freilich nicht gesagt, die Massenkultur sei […] eine von den Massen produzierte Kultur […] Worauf es […] ankommt, ist, das Verhältnis zwischen Produzenten und Benutzern von einem paternalistischen in ein dialektisches zu verwandeln-- die einen interpretieren die Forderungen und Ansprüche der anderen (AI 50-51). Gewiss wird Eco einige Jahre später eine weniger optimistische Bilanz ziehen (AI 11), aber auf diesem Hintergrund sind seine damaligen (u. a. von Roman Jakobson, Barthes, Pierre Bourdieu, Gillo Dorfles, Emilio Garroni, Lévi-Strauss, Edgar Morin, Evelyne Sullerot inspirierten) semantisch-strukturalistischen Untersuchungen zu Themen wie Die Struktur des schlechten Geschmacks (ein Essay, der auch eine Auseinandersetzung mit Walter Killys Deutscher Kitsch aus dem Jahr 1962 ist), Milton Caniffs Comic-Serie Steve Canyon, Der Mythos von <?page no="67"?> 49 Apokalyptiker und Integrierte Superman oder Die Welt von Charlie Brown zu verstehen, die er in Apokalyptiker und Integrierte behandelt und zu denen auch Essays wie Eugène Sue: Sozialismus und Trost oder Die erzählerischen Strukturen im Werk Ian Flemings gehören, die er 1976 in Der Superman fürs Massenpublikum veröffentlicht*. Eco jedenfalls zögert nicht, unentwegt die Grenzen zwischen den Disziplinen einzureißen** und damit die Diskussion über die akademisch verpönte „Interdisziplinarität“ anzuheizen,*** um im Sturmlauf gegen alle (croceanisch-apokalyptischen) Kriterien der „hohen“ Literatur und Kunst den geschichtlichen Nachweis zu führen, dass es nie undurchlässige Grenzen zwischen „niederer“ und „hoher“ Kultur (oder - wie er in Auseinandersetzung mit Dwight MacDonalds Against the American Grain von 1962 schreibt (AI 39-41) - zwischen high-, middle- und lowbrow-culture) gegeben hat, sondern dass alle Kulturbereiche stets in dialektischem Miteinander gestanden haben, was u. a. bewirkte, dass „hohe Kunst“ immer wieder in populär-massenmediale Bereiche absteigen, populäre aber in die Gefilde innovatorischer Avantgarde-Kunst der jeweiligen Epochen aufsteigen konnte. An dieser 1962 formulierten Überzeugung wird Eco so wenig Abstriche vornehmen, wie er aufhören wird, sich in Essays, Glossen und größeren Untersuchungen mit den neuen Medien und der Massenkultur, speziell dem Film, dem Fernsehen und der sogenannten Trivialliteratur wie den Comics oder dem Abenteuer- und dem Kriminalroman auseinanderzusetzen. Doch wenn er zu Beginn der sechziger Jahre noch hoffte (oder hoffen wollte),**** den Konsumenten der massenmedial verbreiteten kulturellen und ideologischen Botschaften zu befähigen, mit den Mitteln der sprachlich-formalen bzw. semiologischen Analyse die Botschaften richtig zu lesen, so wird er 1983 in Die Multiplizierung der Medien diagnostizieren, dass dies auch ein Traum von Achtundsechzig gewesen sei: Was heute Radio und Fernsehen sind, wissen wir: unkontrollierbare Pluralitäten von Botschaften, die jeder benutzt, um sich auf den Tasten der Fernbedienung ein eigenes ‚Programm‘ zusammenzustellen. Die Freiheit des Benutzers ist damit nicht größer geworden, aber gewiß hat sich die Art und Weise verändert, wie man ihm beibringt, frei und bewußt zu sein. Damit müssten die Antworten überdacht werden, die man damals zu finden glaubte, wenn man weder den Apokalyptikern, noch den Integrierten folgen wolle, was aber keineswegs als Resignation zu verstehen sei: Gut, das alles ist nun vorbei. Wir müssen noch einmal ganz von vorne anfangen, uns zu fragen, was läuft (GW 160, 162). <?page no="68"?> Eco und die Avantgarde Ein Philosoph in freier Wildbahn - Umberto Eco und die Avantgarde-Zeitschriften Il Menabò und Il Verri - Nonita oder Parodie als Avantgarde-Text Ein Philosoph in freier Wildbahn Die Tatsache, dass die gesamte italienische Presse Opera aperta und Apocalittici e integrati als Manifeste der italienischen Avantgarde- Kunst und Literatur verstanden hat, sollte Anlass sein, mit einem (vom deutschen Feuilleton verbreiteten) Vorurteil aufzuräumen, demzufolge der literarisch-poetisch unausgewiesene Semiotik-Professor Eco Ende der siebziger Jahre (aus unterstellt pekuniären Gründen) beschlossen habe, einen Roman zu schreiben, den Namen der Rose, und zu akzeptieren, was Eco bisweilen in Interviews anmerkt: Er habe als Schriftsteller angefangen, diese Karriere aber zugunsten wissenschaftlicher Arbeiten unterbrochen, um erst mit Ende vierzig zu seinen Anfängen zurückzukehren. Eco hat, wie wir sahen, wirklich und wahrhaftig als Kind bereits mit literarischer Produktion begonnen und als Jugendlicher sowohl Erzählungen als auch Comics und Poesie verfasst, und selbst wenn er seit den 50er Jahren wissenschaftliche Publikationen vorgelegt hat, die ihm weltweit Anerkennung verschafften, so hat er doch die künstlerische Produktion nie aufgegeben und die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gattungen umso weniger abbrechen lassen, als der eigentliche Gegenstand seiner wissenschaftlichen Arbeit - in steter Vertiefung der Pareysonschen Impulse- - in letzter Konsequenz immer das Nachdenken über die Formung der ästhetisch-künstlerischen Botschaft gewesen ist. Es ist daher absolut ernst, was Eco beim Kolloquium sagt, das 1990 an der Universität Cambridge über Fragen der Interpretation und Überinterpretation stattfindet und sein eigenes Werk zum Gegenstand hat: Nach gängiger Meinung habe ich einige Texte geschrieben, die man als ‚wissenschaftlich‘ (akademisch, theoretisch) bezeichnen kann, während andere als ‚kreativ‘ gelten. Ich selber glaube aber nicht an eine derart saubere Trennung. Ich meine, daß Aristoteles ebenso kreativ war wie Sophokles und Kant ebenso kreativ wie Goethe. Es gibt keine mysteriöse „ontologische Differenz“ zwischen diesen beiden Schreibarten […] <?page no="69"?> 51 Ein Philosoph in freier Wildbahn Die Differenzen liegen vor allem in der thematischen Orientierung der Schriftsteller; da diese sich aber in aller Regel durch textliche Mittel äußert, wird sie zur thematischen Orientierung der Texte selber. Wenn es eines Beweises bedürfte, dass Eco seit Beginn seines schriftstellerischen Wirkens in der Öffentlichkeit tatsächlich wissenschaftliches und poetisches Schaffen nicht als unvermittelbare Dimensionen des Schreibaktes versteht, dann ist dies seine parallel zur Arbeit über Thomas von Aquin und die Ästhetik des Mittelalters entstandene Geschichte der abendländischen Philosophie von den Präsokratikern bis zu den Existenzialisten. Sie erscheint - in gereimten Versen unterschiedlicher Länge und in vielfältiger klassischer Strophenform sowie mit Zeichnungen aus Ecos eigener Werkstatt - 1958 als Comic mit dem Titel Filosofi in libertà (auf Deutsch etwa: Philosophen in freier Wildbahn). Denn obwohl sie nicht für den Buchhandel bestimmt und als ihr Verfasser ein joyceanischer „Dedalus“ angegeben ist, handelte es sich keineswegs um eine geheime Veröffentlichung, hat Eco seine Verse doch beim Philosophenkongress in Venedig zum Besten gegeben, und man darf davon ausgehen, dass die Teilnehmer von den tief empfundenen Versen gerührt waren, mit denen Ecos Geschichte der Philosophie beginnt: Als die Argiver in fernen Zeiten glücklich lebten und durch die weiten Wälder und Wiesen rannten, wurde von ein paar markanten Klugscheißern darüber nachgedacht: „Woraus ist diese Welt gemacht? “ Ganz heiter sagte da einer (genannt Thales der Mileter) „Weiß das von Euch wirklich keiner? na gut, dann beweis ich Euch später, dass die Welt allein aus ganz nasser Materie entstand, nämlich Wasser.“* Natürlich könnten sauertöpfische Literaturkritiker diese in Eugen Roth-Manier verfasste Philosophiegeschichte für nichts als einen jugendlichen Jux halten, wenn der Verfasser nicht Umberto Eco wäre, der damals bereits ein hochqualifizierter Wissenschaftler war und der solchen Späßen auch noch in fortgeschrittenem Alter zugetan sein wird, und wenn er es nicht verstanden hätte, in seinem emblematischen Philosophie-Comic die wichtigsten Lehrsätze der von ihm versammelten Philosophen von Thales und Aristoteles über Anselm von Aosta im Piemont (auch Anselm von Canterbury genannt), Thomas von Aquin, Roger Bacon, Descartes, Pascal, Vico, Kant, Hegel, <?page no="70"?> 52 Eco und die Avantgarde Marx, Croce bis hin zu Heidegger und Sartre so adäquat auf einen kalauernden Reim … oder auch (für die, denen keine Verse gewidmet sind wie Abaelard, Nikolaus von Kues, Spinoza, Schopenhauer, Kant, Nietzsche, Gentile, Bergson, Husserl und Dewey) in ein Comic-Bild zu bringen, dass manch italienischer Schüler sich mit Filosofi in libertà erfolgreich auf das Abitur vorbereiten konnte, worauf Eco selbst noch Jahrzehnte später durchaus stolz sein sollte. Umberto Eco und die Avantgarde-Zeitschriften Il Menabò und Il Verri Um die historischen und philosophisch-ideologischen Voraussetzungen für Ecos Konzeption des Schreibaktes verständlich zu machen, sei daran erinnert, dass sich Deutschland und Italien nach der Niederlage des Faschismus 1945 in einer vergleichbaren Situation der Bilanzierung kulturellen Scheiterns befanden. Diese kreiste unvermeidlich auch um die Frage der Missbrauchbarkeit von Literatur beziehungsweise um die Frage nach der Möglichkeit, gegenüber ideologischem Missbrauch sprachlich und formal resistente Werke zu produzieren. Diese Diskussion führte zur Bildung von Foren und Schriftstellergruppierungen, deren berühmteste in Deutschland-West ohne Zweifel die durch Hans Werner Richter ins Leben gerufene Gruppe-47 gewesen ist, an der sich in Öffnung zur internationalen Avantgarde Autoren beteiligten wie Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Günter Grass, Peter Weiss, aber auch dichtende Wissenschaftler wie Walter Jens oder Walter Höllerer, der 1953 zusammen mit Hans Bender zunächst Akzente und 1961 Sprache im Technischen Zeitalter gründete, zwei der bedeutendsten literarisch-theoretischen Zeitschriften der BRD. Es gab aber durchaus noch andere (mehr oder weniger lose) Gruppierungen, in denen Wissenschaftler und Künstler zusammenarbeiteten, wie die der Konkreten Poesie, zu der Eugen Gomringer, Helmut Heissenbüttel, Franz Mon - und aus der Distanz - Arno Schmidt gehörten und die von dem Mathematiker und Physiker Max Bense fundamentale Impulse erhielt, der nach 1945 Schriften zur Neubegründung der Ästhetik unter Berücksichtigung der Informatik, der entstehenden Computertechnik, der Kybernetik und der Semiotik vorgelegt hatte, die in vielem Ecos Überlegungen präludierten. Auch in Deutschland-Ost, wo sich fast alle bedeutenden Exil-Autoren niedergelassen hatten, gab es nach 1945 lebhafte Diskussionen über Sprach- und Formerneuerungen. Zeitschriften wie Aufbau und Sinn und Form öffneten zunächst durchaus den Blick auf die europäi- <?page no="71"?> 53 Umberto Eco und die Avantgarde-Zeitschriften Il Menabò und Il Verri schen Avantgarden, und der Dialog zwischen Gesellschafts- und Geisteswissenschaften sowie Künstlern und Schriftstellern wurde - unter anderem durch die 1950 gegründete Akademie der Künste - intensiv geführt. Kalter Krieg, die Gründung von BRD und DDR sowie der verhängnisvolle Mauerbau bewirkten freilich, dass in beiden Staaten die innovatorisch-avantgardistischen Bewegungen und entsprechende Theoriebildung als lästige oder verdächtige Unruhefaktoren (im Westen) ins Abseits oder (im Osten) in die Verbotszone gedrängt wurden und sich die hauptsächlichen ästhetischen Strömungen in ideologischer Konkurrenz vor allem auf mittlere Prosa-Kanones - im Westen Richtung trivialisierter Thomas Mann und erneute Innerlichkeit, im Osten nach dem Umweg über Bitterfeld Richtung „sozialistischer Realismus“ - einpendelten und Verbindungen von Wissenschaft und Kunstproduktion wieder von herkömmlichen Vorurteilen behindert wurden. In den 60er Jahren führten dann neue Formen unterschiedlicher Politisierungen im Osten - wie in der Lyrik-Debatte um Wolf Biermann, Volker Braun, Günther Kunert, Sarah Kirsch - zu erneuten Abgrenzungen von westlichen Avantgarde-Tendenzen, aber auch zu neuem Exodus von Künstlern und Schriftstellern, und im Westen (nicht zuletzt unter Einfluss der Frankfurter Schule um Adorno, Habermas, Horkheimer, Marcuse) zu institutionellen und kulturellen Krisen, auf die unter anderem die Autoren um Günter Wallraff mit der in Dortmund gegründeten Gruppe 61, die sich der literarischkünstlerischen Auseinandersetzung mit der „industriellen Arbeitswelt“ widmen wollte, sowie seit 1965 Enzensberger mit seinem Kursbuch reagierten, und die nach den Studentenunruhen von 1968 nicht nur in der BRD, sondern in ganz Westeuropa nach einer kurzen Periode künstlerisch-bohemienhafter Belebung eine neue und eher kunstfeindliche Qualität erhielten. In Italien und speziell jenseits der „lombardischen Grenze“, in den kulturellen Hochburgen Turin und Mailand, wurden nach 1945 im Prinzip die gleichen Konflikte ausgetragen. Das Fehlen der tragischen Dimension, die sich in Deutschland aus der Spaltung der Nation ergab, und damit das tägliche Nebeneinander der unterschiedlichsten kulturellen und politischen Strömungen ermöglichte freilich trotz aller- - im katholischen Italien mit seiner mächtigen kommunistischen Partei - unvermeidbaren Antagonismen eine im Vergleich zu Deutschland- Ost und West unbefangenere Atmosphäre intellektueller Auseinandersetzungen, die aus dieser italienischen Provinz, die nach 1945 so bedeutende Autoren wie Beppe Fenoglio, Carlo Levi, Primo Levi, Pier Paolo Pasolini, Cesare Pavese und Umberto Saba hervorbrach- <?page no="72"?> 54 Eco und die Avantgarde te, eines der Zentren der Weltkultur machten. Natürlich standen die Fragen nach den Gründen für das Versagen von Künstlern und Intellektuellen in der Zeit des Faschismus, nach dem Beitrag, den dazu die post-idealistische Ästhetikkonzeption der Gentile und Croce geleistet hatte, sowie nach den Möglichkeiten für die kulturelle und moralische Erneuerung der vom Faschismus befreiten italienischen Gesellschaft im Mittelpunkt der Debatten. An ihnen beteiligten sich logischerweise nicht nur Künstler und Schriftsteller, von denen übrigens sehr viele selbst Lehrer und Professoren waren, sondern auch Vertreter von Wissenschaft und Technik, ging es doch um unauflöslich miteinander verbundene politische, soziale, moralische, philosophische und kulturelle Probleme, ganz davon abgesehen, dass in Italien - wie Eco betont-- spätestens seit Dante poetisch-künstlerische Produktion und gesellschaftliches Engagement stets eine konfliktreich-produktive Einheit gebildet hatten. Genauso selbstverständlich war angesichts des Versagens der katholischen Kirche unter Mussolini und des moralischen Ansehens, das die Kommunisten in der Resistenza erworben hatten, dass sich immer mehr Künstler und Intellektuelle nach links orientierten, so dass - vor allem, nachdem der Traum von der Fortdauer der antifaschistischen Einheitsfront, der zunächst eine demokratische Regierung, zusammengesetzt aus Democrazia Cristiana, Sozialisten und Kommunisten, hervorgebracht hatte, bereits 1947 an den Konflikten des Kalten Krieges gescheitert war und die Christdemokraten 1948 zur alleinregierenden Partei aufgestiegen waren - in den Debatten über die geistige Erneuerung Italiens der PCI stets als moralische Instanz präsent war. Das erwies sich auf die Dauer als problematisch, da sich der PCI mit seiner eigenen Kulturpolitik zum einen zwar an der undogmatisch-marxistischen Kulturkonzeption des 1937 an den Folgen der faschistischen Haft verstorbenen Antonio Gramsci, zum anderen aber an der dogmatisch-unmarxistischen Kulturpolitik der Sowjetunion orientierte, was zu immer neuen Konflikten sowohl innerhalb der Partei als auch im Ringen um die kulturelle Erneuerung Italiens insgesamt führen musste. Beispielhaft für das - bisweilen tragisch anmutende - Engagement der (nord)italienischen Intellektuellen in diesen kontroversen Debatten der Nachkriegszeit ist das Wirken Elio Vittorinis. Der 1908 geborene Romancier, der sich zu Beginn der 40er Jahre dem verbotenen PCI annäherte und 1945 kurzfristig die Mailänder Redaktion seiner Tageszeitung Unità leitete, gründet 1945 eine Kulturzeitschrift, der er in Erinnerung an die 1839 von Carlo Cattaneo, einem Mailänder <?page no="73"?> 55 Umberto Eco und die Avantgarde-Zeitschriften Il Menabò und Il Verri Spätaufklärer, gegründete Monatsschrift denselben programmatischen, die Vermittlung von Politik, Technik, Philosophie und Kultur evozierenden Namen gibt: Il Politecnico. Die von Albe Steiner im Geist des sowjetischen Konstruktivismus und des Bauhauses, aber auch schon in Anwendung von Photomontage und Comic-Techniken graphisch gestaltete Zeitschrift, die sich mit Literatur, Poesie, Theater, Musik und Film auseinandersetzt, gerät nicht zuletzt - so wie wenig später Peter Huchel als Herausgeber von Sinn und Form - wegen Vittorinis Postulat von der Notwendigkeit intellektueller Unabhängigkeit der Künstler und Schriftsteller in Konflikt mit dem PCI und stellt Ende 1947 ihr Erscheinen ein. Vittorini tritt 1951 aus der Partei aus und gründet 1959 - nach Verlagstätigkeit für Einaudi und schriftstellerischer Arbeit, die ihn (nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo) zunehmend in Distanz zu seinen eigenen neorealistischen Anfängen und in immer größere Faszination durch industriellen Fortschritt bringt - zusammen mit Italo Calvino die zwischen Literaturtheorie, Avantgardekunst und Soziologie angesiedelte Zeitschrift Il Menabò (Das Layout). Sie wird von Bompiani verlegt, macht das italienische Publikum mit Autoren und Theoretikern der internationalen Avantgarde wie Roland Barthes oder Enzensberger bekannt und versucht, neue Perspektiven für die Literatur im Industriezeitalter aufzuzeigen, eine Aufgabe, an der sich 1962 auch Eco mit einem Essay beteiligen wird, der - später integriert in Opera aperta - in die Annalen der italienischen Literaturgeschichte eingehen sollte: Del modo di formare come impegno sulla realtà - Künstlerische Formgebung als Engagement in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zwischen dem Ende von Politecnico und der Gründung von Menabò erblickt eine andere Zeitschrift das Licht der Welt: die u. a. von Pier Paolo Pasolini 1955 gegründete Officina, die bis 1959 erscheint. In ihr wird über neue Aufgaben der Dichtung nachgedacht, der angesichts ihres moralischen Versagens die Pflicht zur radikalen Wirklichkeitserkenntnis und zur Offenheit gegenüber jedem dafür notwendigen sprachlich-formalen Mittel auferlegt wird. Dabei soll freilich eine Grenze nicht überschritten werden: die der Kommunizierbarkeit, für die unter anderem Sabas Sprachhygiene zum Vorbild erhoben wird. Diese selbstauferlegte Zurückhaltung in der Poetik-Konzeption erklärt die Feindseligkeit, mit der Officina auf die Sprach- und Formexperimente der sogenannten Neoavanguardia reagiert, die in der 1956 von Luciano Anceschi, Literaturtheoretiker, Essayist und später Professor für Ästhetik an der Universität Bologna, gegründeten und nach dem Mailänder Aufklärer Pietro Verri (1728-1797) benannten Zeitschrift <?page no="74"?> 56 Eco und die Avantgarde Il Verri ihr Sprachrohr findet. Tatsächlich räumt Il Verri den Formexperimenten der Neoavantgardisten wie Nanni Balestrini, einem der ersten Computer-Poeten, Elio Pagliarani, Vertreter der „polyphonen“ Dichtung, Antonio Porta, Vertreter der „visuellen“ (von Graphik und Layout mitbestimmten) Poesie, Edoardo Sanguineti, dem vielleicht bedeutendsten dieser jungen Literaten, Poet, Romancier und marxistischer Literaturtheoretiker, sowie Alfredo Giuliani, Poet und Herausgeber der berühmten Anthologie I novissimi. Poesie per gli anni ’60, in der alle zuvor Genannten vertreten sind, breiten Raum ein. Dass alle diese Poeten studierte Leute sind und zum Teil - wie Sanguineti, der mit Eco zusammen bei Getto studiert hat und 1965 zum Professor für moderne italienische und zeitgenössische Literatur an die Universität Turin berufen wird - an in- und ausländischen Universitäten unterrichten, ist bezeichnend. Il Verri wird in kürzester Frist zum zentralen Forum sowohl der Rückbesinnung auf die historische europäische Avantgardebewegung insgesamt als auch der philosophischen Überwindung des postromantischen Neo-Idealismus, der seinen unheilvollen Beitrag zum Weg Italiens in den Faschismus geleistet hatte, und trägt damit zur Erneuerung des Dialogs mit den Denkern und Wissenschaftlern bei, die durch Croces Lehrautorität und Gentiles Schulreform aus dem Horizont der italienischen Bildungsinteressen ausgegrenzt worden waren, wie Eco, der ab 1957 regelmäßig an Il Verri mitarbeitet, 1984 schreibt. Man solle, resümiert Eco (in Die Gruppe 63: experimentelle und avantgardistische Kunst) die geistigen Auseinandersetzungen der Epoche, das Todesjahr Croces, 1952, als emblematische Jahreszahl betrachten, so wie 1520 in den Manualen der Kunstgeschichte den Übergang von der Renaissance zum Manierismus markiere: seit den 50er Jahren setzt sich […] das Modell der nordeuropäischen Aufklärung durch, man entdeckt das Erbe des Positivismus wieder, man ‚realisiert‘, daß die italienische Kultur einen [Giuseppe] Peano, einen [Giovanni] Vailato, einen [Vilfredo] Pareto* hervorgebracht hat, die von der Philosophie des Geistes ins Purgatorium der Pseudobegriffe verbannt worden waren, man macht sich an das Studium der historischen Avantgarden und der angelsächsischen Dichtung (Pound und Eliot voran) … Es ist […] das Klima der von Antonio Banfi inspirierten Buchreihe ‚Idee Nuove‘ bei Bompiani, der ‚Edizioni Einaudi‘ […] gegen die alten Jugendstil-Einbände des von Croce beherrschten Verlages Laterza, [das Klima], in dem das Interesse für die Soziologie explodiert, in dem man sich [dem] Strukturalismus [zuwendet], in dem man Sartre, Wittgenstein, Husserl oder Merleau-Ponty liest […], in dem die Welt […] sich mit neuer und wissenschaftlicher <?page no="75"?> 57 Nonita oder Parodie als Avantgarde-Text Neugier dem Universum der Massenmedien annähert [und] in dem […] man […] jetzt [Carlo Emilio] Gadda und [Italo] Svevo liest und sich langsam aufmacht, nicht die Psychoanalyse zu entdecken, sondern zu begreifen, daß genau in dieser Region diejenigen lebten und schrieben, die sie in aller Stille längst entdeckt hatten … Dies war das Klima, und Il Verri wie später die Gruppe 63 gaben ihm Ausdruck […] (ÜS 139-140). Nonita oder Parodie als Avantgarde-Text Wenn auch für viele der Texte in Il Verri die Beanstandungen von Officina durchaus nicht unbegründet sind, treffen sie doch in keinem Fall für Ecos Beiträge zu. Im Gegensatz nämlich zu seinen avantgardistischen Freunden, die sich sprachlichen Experimenten der sprachlichen Experimente wegen widmen, oder auch im Gegensatz zu Max Bense oder zu Arno Schmidt, dem genialen Verfasser „offener Texte“, hat Umberto Eco - bei aller grundsätzlichen Akzeptierung experimenteller Formen - nie die Überzeugung von der Notwendigkeit eines kommunikativen Rückbezugs auf die „normale“ Sprache und einer damit verbundenen Weiterverwendung literarisch-poetischer Formen, die der Kommunikation dienen, preisgegeben. Gewiss, in vielen seiner wissenschaftlichen Arbeiten wird Eco nicht nur Fachterminologie benutzen, sondern diese auch erweitern und entwickeln. Aber er tut dies - bei gleichzeitigem (und bisweilen ironischem) Rekurs auf die Fachterminologie der Abaelard, Aristoteles, Augustinus, Beda Venerabilis, Boethius, Cicero, Leibniz, Porphyrios, Quintilian, Raimundus Lullus, Platon, Tesauro oder Thomas von Aquin - so wie ein Arzt, der seinem Patienten erklärt, dass der Probleme mit dem Knie hat, weil die Seitenbänder ausgeleiert sind, dem Kollegen aber mitteilt, dass der Schaden beim ligamentum collaterale fibulare und nicht tibiale liege, weil es zur Behandlung einer Präzision bedarf, die in der Kommunikation mit dem Patienten nicht notwendig ist. Das aber wiederum heißt keineswegs, dass der Patient nicht verstünde, um was es geht. Und da Eco nicht nur für Fachkollegen schreibt, sondern für ein ebenso breites wie verständiges Publikum, verwendet er Fachterminologie grundsätzlich mit der Mäßigung, die der Scholastiker Wilhelm von Ockham bereits im 14. Jahrhundert empfohlen hatte: „non sunt multiplicanda entia praeter necessitatem“ (S 15). Kurz, wie Eco 1987 in dem Essay über Das Irrationale gestern und heute anmerkt: Ein Weg zum Verständnis der philosophischen Begriffe ist oft der Rekurs auf die Alltagssprache (ÜS 9). Wenn aber die Alltagssprache zur Kommunikation über philosophische Probleme ausreichen kann und benötigt wird, <?page no="76"?> 58 Eco und die Avantgarde liegt auf der Hand, dass sie - bei aller Notwendigkeit sprachlicher und formaler Experimente - ganz ähnliche Grundlagenfunktion in der literarischen Produktion und -rezeption auszuüben hat und dass der Verzicht auf sie auch Verzicht auf Darstellungs- und Kommunikationsmöglichkeit bedeuten würde. Der Verzicht auf diese aber wäre umso törichter, als die Verwendung von poetisch-literarisch geformter Alltagssprache sogar philosophische Texte ergänzen kann, um diese transparenter zu machen, wie Eco 1997 zur Erklärung der Integration von Katzen- und Mäuse-Parabeln in seinem philosophischen Traktat über Kant und das Schnabeltier ausführt, wobei er nicht vergisst, hinzuzufügen: Vielleicht wissen manche, daß ich, wenn ich den Drang zum Geschichtenerzählen verspürte, ihn anderweitig befriedigt habe, und daß meine Entscheidung, Geschichten [in philosophisch-wissenschaftliche Texte] einzuflechten, nicht auf das Bedürfnis zurückgeht, eine unterdrückte Berufung zu realisieren […] (KS 14). Nein, an diesem (unbefriedigten) Bedürfnis hat Eco mit Sicherheit nie gelitten, und sein Drang, auch in philosophisch-wissenschaftlichen Texten Geschichten zu erzählen, hat mit der Überzeugung zu tun, dass es keine ontologische Differenz zwischen „kreativem“ und „wissenschaftlichem“ Schreibakt gibt. Um es anders zu formulieren: wie Aristoteles, dessen Überlegungen zur Poesie in allem, was Eco zur Literatur sagt, präsent sind, ist er davon überzeugt, dass der Poet/ Literat in seinen Texten so wie der Philosoph Wahrheiten über die Welt und das (menschliche) Sein in der Welt formuliert. Und diese Überzeugung hatte er schon, als er über Thomas von Aquin arbeitete, denn vergessen wir nicht: Eco, der sich in jener Zeit ausdrücklich als Philosoph versteht und präsentiert,* ist 1957, als er anfängt, an Il Verri mitzuarbeiten, gerade fünfundzwanzig Jahre alt, und seine ersten Beiträge sind philosophisch-literaturtheoretischer Art. Zwei Jahre später freilich wird er beginnen, literarische Beiträge für diese Avantgardezeitschrift zu verfassen und eine monatliche Kolumne unter dem Titel Diario Minimo (etwa: Mini-Journal) mit Glossen über den Zeitgeist, Betrachtungen über die Sitten und Bräuche, Moralia und literarischen Parodien zu füllen (PSL 165). Und damit setzt er genau die literarische Produktion fort, die er bereits als Jugendlicher mit Parodien auf die Divina Commedia sowie die Mythologie begonnen und mit Filosofi in libertà während seines Studiums fortgeführt hatte. Er plant für Il Verri sogar eine Serie, die unter dem Titel Schriftsteller in Freiheit an die Filosofi in libertà anknüpfen soll, veröffentlicht dafür 1961 zwei erste Parodien, die eine auf Proust, die andere auf Thomas Mann,** und sollten Bedenken hinsichtlich der Seriosität einer solchen Produk- <?page no="77"?> 59 Nonita oder Parodie als Avantgarde-Text tion bestehen, so sei in Erinnerung gerufen, dass sich bereits Homer mit dem Froschmäusekrieg eine parodistische Replik auf seine großen Epen hatte gefallen lassen müssen, Aristophanes mit seinen feministisch-protokommunistischen Parodien des Euripides die Geschichte des Theaters komödiantisch bereichert hatte und dass spätestens seit Cervantes’ Persiflage der Ritterromane, dem Don Quijote, die Parodie und ihre Varianten wie das pasticcio oder die Travestie titre de noblesse als literarische Gattung erhalten hatten, von modernen Parodien und pasticci aus der Feder großer Autoren wie Goethe, Heine, Proust, Thomas Mann, Brecht oder Borges ganz zu schweigen. In der Tat hatte 1962 Renato Poggioli, dessen Überlegungen zur Avantgarde Eco noch 1984 als die klarsichtigsten bezeichnen wird (ÜS 133), in seiner Theorie der Avantgarde der Parodie eine wichtige Funktion in der Dekonstruktion literarischer Gattungen eingeräumt, und Eco selbst betont im Rückblick, dass es einen tieferen Grund gegeben habe, in jener Zeit Parodien und Satiren zu verfassen: Wenn die Operation der Neo-Avantgarde darin bestand, die Sprachen des Alltagslebens und der Literatur aufzubrechen und durcheinanderzuwirbeln, dann mußten das Komische und Groteske eine der Modalitäten dieses Programms sein. Außerdem war die Tradition des Pastiche - die in Frankreich so illustre Repräsentanten wie Proust gehabt hatte und in jenen Jahren von Raymond Queneau und dem OuLiPo* zu hoher Blüte getrieben wurde - in Italien nur mit zwei Autoren von großer Komik vertreten, Luciano Folgore und Paolo Vita-Finzi (PSL 166). Eco nahm also in Italien eine in diesem Genre durchaus prominente Stellung ein, und niemand kam auf die Idee, seine Parodien für literarisch irrelevant zu halten oder aus der Avantgarde-Produktion auszugrenzen, was umso bemerkenswerter ist, als er sich keineswegs scheute, Werke der Avantgarde selbst vorzuführen: Von der Ecke bis zum Tisch sind es sechs Schritte, beginnt 1961 Le nouveau chat, seine Persiflage des nouveau roman à la Robbe-Grillet, der mit minutiös Distanz schaffenden Beschreibungen den an psychologisch motivierten Realismus gewöhnten Romanleser aus seiner Lese-Routine aufzuscheuchen suchte: Vom Tisch bis zur hinteren Wand sind es fünf Schritte. Gegenüber dem Tisch öffnet sich eine Tür […] Wenn Ihr geradeaus seht, so daß Euer Blick das Zimmer diagonal in Richtung der gegenüberliegenden Ecke durchquert, während Ihr zusammengekauert in der Ecke hockt, die Schnauze ins Zimmer gerichtet, den Schwanz geringelt […], so seht Ihr sechs Schritte hinter Euch in Höhe Eurer Augen eine zylindrische Form […] Ihr seid eine Katze, vermutlich, und Ihr bleibt ein Objekt der Situation […] Ihr wollt eine Veränderung der Situation, aber es könnte Eure Veränderung <?page no="78"?> 60 Eco und die Avantgarde sein. Ihr könntet jedoch eine Katze nicht ändern. Dies ist Eure Welt. Das, woran Ihr denkt, ist eine Menschenwelt, von der Ihr nichts wißt, so wie die Menschen nichts von der Euren wissen. Gleichwohl reizt Euch die Idee (PSL 30; 35). Berühmter noch als diese Parodie, die mit der Beteuerung endet, dass die Katzen diese Geschichte nie schreiben werden, weil man sie sonst des Avantgardismus zeihen würde, und die Eco nicht nur Sympathie vonseiten der nouveaux romanciers eingetragen hat, wurde Ecos Parodie auf Vladimir Nabokovs Roman Lolita, der 1955 in Paris erschienen war und große Skandale auslöste, erzählt er doch die Geschichte eines vierzigjährigen amerikanischen Hauslehrers namens Humbert Humbert, der sich in die zwölfjährige Dolores Haze genannt „Lolita“ verliebt. Er heiratet die Mutter, um der begehrten Nymphe nahe sein zu können. Diese aber brennt mit einem Nebenbuhler durch, und als Humbert Humbert sie wiederfindet, ist sie verheiratet, schwanger, und hat ihr kindliches Wesen verloren, was Humbert Humbert dazu bringt, ihren Entführer/ Verführer zu ermorden. Vier Jahre später erscheint Ecos Parodie in Il Verri mit dem Titel Nonita. Die Geschichte ist in den Piemont verlegt, und aus dem erwachsenen Humbert Humbert ist ein jugendlicher Umberto Umberto geworden, dessen Geschichte als Manuskript von einem Oberaufseher aus einem kommunalen Gefängnis geschmuggelt wird. Umberto Umberto hat sich im Gegensatz zu Humbert Humbert in eine uralte Dame, ein Großmütterchen, italienisch „non[n]ita“ verliebt: Nonita, Blume meiner Jugend […] Als die Sache geschah, unterlag ich glühend dem Sieg der Jugend […] Ich liebte, geneigter Leser […] jene, die du mit zerstreuter Fühllosigkeit ‚die Alten‘ nennen würdest. Ich begehrte aus tiefster Tiefe meiner blutjungen Fasern jene Geschöpfe, die schon gezeichnet sind von der Strenge eines unerbittlichen Alters, gebeugt vom schicksalsschweren Gewicht ihrer achtzig Jahre, grausig ausgehöhlt vom begehrenswerten Gespenst der Vergreisung. Natürlich wird die alte Dame in dieser Geschichte, die den pädophil-sentimentalen Schwulst der Nabokovschen Vorlage adäquat persifliert, von einem Nebenbuhler entführt, der Nonita Verjüngungskuren verpasst, und als Umberto Umberto sie so verjüngt wiederfindet, besorgt er sich eine Flinte, um den Nebenbuhler zu erschießen. Doch er trifft so oft daneben, dass er von zwei Priestern mit schwarzen Baskenmützen und Lederjacken festgehalten werden kann: In flagranti ertappt, wird er zu sechs Monaten Haft wegen unbefugten Waffentragens und Jagens außerhalb der Saison verurteilt (PSL 7; 8; 14). <?page no="79"?> Lachen und rationales Engagement: Gruppe 63 und Mai 68 Eco animal ridens - Politische Satire oder Frantis vernichtendes Lachen - Modus ponens oder das Bekenntnis zum Rationalen - Form als Engagement - Gruppe 63 oder experimentelle Kunst statt Avantgarde - Mai 68 oder Quindici und das Ende der Gruppe 63 Eco animal ridens Die (literarische) Parodie, schreibt Eco 1990, sei wie das Komische überhaupt, ein zeit- und raumgebundenes Genre, bedürfe daher oft historischer und kultureller Zusatzinformationen,* um begriffen zu werden, und ließe sich im Übrigen, wie sein Nouveau chat, in bestimmten Fällen auch als Hommage verstehen (PSL 166-167). Daraus lässt sich zunächst einmal folgern, dass die Parodie für Eco grundsätzlich zum Bereich des Komischen gehört und daher der Lust ihres Verfassers auf Lachen entspringt und somit selbst - den Gegenstand der Parodie in seinen Wesenszügen treffende (und wie Eco hinzufügt: übertreibende)- - Artikulation seiner (von diesem Gegenstand ausgelösten) Heiterkeit sein muss. Die Motivation für das Lachen des Parodierenden und damit die parodistische Artikulation seiner Heiterkeit ist kontextgebunden bzw. der materiellen und/ oder geistigen Situation geschuldet und muss im parodistischen Text selbst oder über zusätzliche (historische und kulturelle) Informationen so vermittelt werden, dass der Leser die Motivation des Parodierenden begreift, um die Parodie als Parodie erkennen und mitlachen zu können. Ecos Feststellung, dass eine literarische Parodie sich auch als Hommage verstehen könne, ist weiterhin zu entnehmen, dass Parodien sich normalerweise nicht als Hommage verstehen, was logischerweise voraussetzt, dass für eine parodistische Hommage die (historischen und kulturellen) Rezeptionsinformationen so deutlich sein müssen, dass der Hommage- Charakter keinen Zweifel aufkommen lässt. Das ist noch evidenter, wenn es sich - wie im Fall Nabokov oder Robbe-Grillet - um Parodien von Texten noch lebender Autoren handelt, über die der Leser (und damit logischerweise auch der parodierte Autor selbst) zwar lachen soll, denen aber gleichzeitig zu entnehmen sein muss, dass es sich um Hommagen handelt. Gut, Lachen ist anste- <?page no="80"?> 62 Lachen und rationales Engagement: Gruppe 63 und Mai 68 ckend, sagt das Sprichwort, aber es sagt auch, dass einem das Lachen vergehen oder im Hals stecken bleiben kann. Und in der Tat, wenn der Verfasser eines parodierten Textes noch unter den Lebenden weilt, könnte man sich durchaus vorstellen, dass er gegenüber der Parodie-- sollte diese keine klar erkenntliche Hommage sein - nicht wirklich Heiterkeit verspürt, sondern eher Zorn, selbst wenn dieser sich in einem müden Lächeln oder einem gequälten Lachen manifestieren sollte, was wohl auch erklärt, warum Eco gegen seine Gewohnheit seiner Parodie des nouveau roman bzw. Robbe-Grillets noch den Kommentar Hommage anhängt. Sollte Eco mit seinem Spott im Fall des Nouveau chat über das Ziel hinausgeschossen sein? Gut möglich, denn wenn auch - mit Ausnahme Zarathustras, der Plinius zufolge bereits lachend zur Welt kam- - jedes menschliche Wesen ungefähr einen Monat nach der Geburt beginnt, die angeborene Fähigkeit zum Lachen auszuüben, ist doch das Bedürfnis nach Heiterkeit und Lachen im weiteren Leben unterschiedlich ausgeprägt und bei einigen Individuen sogar gering. Das von Eco aber ist - seit der Kindheit - nachweislich enorm und hat auch im Alter nicht abgenommen, wie unter anderem seine Bustine di Minerva (oder Streichholzbriefe) genannten Kommentare zu Gott, der Welt, der Dummheit ganz allgemein und speziell der (italienischen) Tagespolitik beweisen, die er seit 1985 im Nachrichtenmagazin L’Espresso veröffentlicht. Und da er die Angewohnheit hat, über das Leben in seinen wichtigsten Manifestationen, zu denen das Lachen gehört, nachzudenken, befindet er sich in derselben prekären Situation, in der sich die Philosophen spätestens seit Platons Theaitetos befinden. Platon nämlich lässt Sokrates von der berühmten thrakischen Magd berichten, die in Lachen ausbrach, als sie sah, wie Thales von Milet beim Beobachten des Sternenhimmels in einen Brunnen stürzte, den er mit wissenschaftlich aufwärts gerichtetem Blick vor seinen Füßen übersehen hatte. Warum hat nun diese Magd gelacht? Vor Schreck? Aus stupidem Vergnügen an der Situationskomik? Oder weil sie ahnte, dass ihre Begegnung mit Thales als ewigwährendes Gleichnis für alle „Spannungen und Unverständnisse zwischen Lebenswelt und Theorie“ oder - wie Sokrates sagt - als Beweis dafür, dass der Philosoph zwar über das Wesen des Menschen nachdenke, von „seinem Nächsten und Nachbarn“ aber nichts wisse, in die Philosophiegeschichte eingehen würde? Da die Frage nicht einfach zu beantworten ist, haben die Philosophen seit Platon nicht aufgehört, über Wesen und Funktion des Lachens sowie seine Beziehung zum Humor und zum Komischen im <?page no="81"?> 63 Eco animal ridens Speziellen und im Allgemeinen nachzudenken, wie Eco 1969 in seinem Essay über Pirandello ridens in Erinnerung ruft, wobei er konstatiert, dass diejenigen, die über das Komische und damit über das Lachen geschrieben haben, selbst keine Verfasser komischer Texte waren: Statt dessen jedoch: a) ein ernster Denker wie Aristoteles, und zwar gerade am Ende seiner Abhandlung über das Tragische. Durch ein Mißgeschick ist der Teil seiner Poetik, in dem er sich über das Komische äußert, verlorengegangen. Zufall? Erlauben wir uns eine ‚humoristische‘ Hypothese: Aristoteles war luzide genug zu beschließen, einen Text zu verlieren, in dem es ihm nicht gelungen war, so luzide wie sonst zu sein; b) ein strenger Pietist wie Kant; c) ein weiterer, ebenso strenger - wenn auch zum Sarkasmus neigender - Philosoph wie Hegel; d) ein spätromantischer, spleeniger Dichter wie Baudelaire; e) ein wenig fröhlicher, existentiell besorgter Denker wie Kierkegaard; f) ein nicht sehr lustiger Psychologe wie Lipps; g) [der] metaphysische Bergson […]; h) schließlich Freud, derselbe, der unsere Todestriebe enthüllt hat (ÜS 245). Dass Eco auch die anderen Autoritäten kennt, die von Homer und Horaz über den Lach-Gegner Hobbes sowie den Lach-Befürworter Shaftesbury oder Jean Paul bis hin zu Helmuth Plessner über Komik, Humor und Lachen nachgedacht haben, liegt auf der Hand, und dass er am Ende dieses Essays Nietzsche evoziert, ist kein Zufall. Nietzsche nämlich - überzeugt, dass auch die Götter lachen und dass Hobbes nur ein humorloser Brite war - hatte den lachenden Philosophen nicht nur den höchsten Rang eingeräumt, sondern sogar die Vermutung geäußert, dass sie selbst das Lachen erfunden hätten, weil sie - als am tiefsten an „Menschen-Liebe“ und „Menschen-Verachtung“ Leidende - nur so das Elend des Seins ertragen konnten. Damit knüpft Nietzsche auf seine Weise an die dualistische Interpretation des Lachens an, die ihre Ursprünge in der Antike hat. Denn während Platon Homers poetische Aussagen zum Lachen der Götter als pietätlos empfand und sich dafür aussprach, das Lachen als unwürdig aus der Polis der Gebildeten zu verbannen, plädierte Aristoteles - seiner auf Vernunft gründenden Ethik entsprechend - für einen von mesotes bestimmten, also maßvollen Gebrauch des Lachens: der Weise müsse zurückhaltend lachen und nicht grölend wie ein Blödian. „Der Weise lacht nur zitternd“, erinnert Baudelaire denn auch ganz aristotelisch. Aber er lacht. Denn nach Aristoteles ist der Mensch zwar ein Tier, oder genauer genommen: ein zoon, ein Lebewesen wie das Tier, und zwar ein politikon, eins, das in Gesellschaft lebt, aber dieses zoon ist ein animal rationale, ein vernunftbegabtes Lebewesen, und darüber hinaus - wie Aristoteles in Über die Teile der Tiere ausführt - das einzige animal ridens, das <?page no="82"?> 64 Lachen und rationales Engagement: Gruppe 63 und Mai 68 einzige Lebewesen, das auch lachen kann. In der Auseinandersetzung mit Luigi Pirandello, der im Gegensatz zu Aristoteles überzeugt war, dass der Mensch ein nicht-rationales Tier sei, gleichzeitig aber - wie der von Pirandello zitierte Rabelais (oder eben Aristoteles) - das Lachen für ein Wesensmerkmal des Menschen hielt, zieht Eco den für ihn typischen dialektischen Schluss, dass Pirandello sich irre, denn das eine schlösse das andere aus (ÜS 255). Kurz: Vernunft und Lachen gehören- - laut Aristoteles und Eco - zum menschlichen Wesen, und da dieses - ebenfalls laut Aristoteles - über sittsames Leben zur Glückseligkeit gelangen soll, die sowohl sein physisch-animalisches als auch menschlich-rationales Sein umfasst, sieht Eco auch keinen Grund, auf das ihm angeborene Lachen zu verzichten. Im Gegenteil. Er widmet sich theoretisch und praktisch dem Lachen in der gesamten Bandbreite des Möglich-Komischen vom wissenschaftlich-philosophischen Traktat über das literarische Exerzitium oder den politischen Kommentar bis hin zum Wortwitz. Dass sich in diesem Lachen, das man als humanistisch-menschenfreundlich und durchaus rational bezeichnen kann, auch alle Dimensionen des Möglich-Komischen verbinden können, ist evident und lässt sich zum Beispiel an der Schopenhauer-Präsentation in Ecos Comic-Geschichte der Philosophie ablesen. Tatsächlich lässt sich in dieser emblematischen Artikulation philosophischen Lachens nichts erkennen, was gegen ihre Interpretation als Hommage Schopenhauers bzw. einen parodischen Scherz ohne jede kritische oder gar verletzende Absicht spräche. Dasselbe gilt grundsätzlich auch für die Späße, die Eco - in Gesellschaft von Freunden wie Luciano Berio, Omar Calabrese, Furio Colombo, Paolo Fabbri-- mit Schriftstellernamen und Buchtiteln treibt und bei denen herauskommen kann „Agatha Cristo: Zwölf kleine Apostel“, oder „Arthur Rambo: Ein Sylvester in der Hölle“, „Fred Asterix: De ballo gallico“, „Gustave Flaubrecht: Madame Courage“, „Robert Mus: Die Maus ohne Eigenschaften“, „Walter Benjamin Franklin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner elektrischen Reproduzierbarkeit“ und - warum nicht? - „Mike Jaggermeister: Bitter satisfaction.“ Und es gilt auch für die Autoren-Präsentationen, die Eco mit den gleichen Kumpanen verfasst und bei denen nur Worte mit dem Anfangsbuchstaben der Namen verwendet werden dürfen wie Nietzsche. Nicht normaler neuropathetischer Nomade, Negationist natürlicher Normen […] Nichts! Nirwana! […] Nibelungen-Not! oder Faust. Ferweile! Fantastisch! <?page no="83"?> 65 Politische Satire oder Frantis vernichtendes Lachen Politische Satire oder Frantis vernichtendes Lachen Das Ganze aber erhält eine andere Dimension, wenn es im selben Spiel plötzlich heißt: Heidegger. Ho habitat, humus: Heimat. Happening? Handicap. Heil Hitler! Scherz schlägt da um in Schauder,* und das Lachen wird zu der scharfen Waffe, die die Komödienautoren von Aristophanes bis Molière und Brecht eingesetzt haben und von der Nietzsche in Also sprach Zarathustra „den häßlichsten Menschen“ sagen lässt: „‚Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man‘ - so sprachst Du einst. O Zarathustra, du Verborgener, du Vernichter ohne Zorn, du gefährlicher Heiliger; - du bist ein Schelm.“ Ohne Zweifel: auch Eco ist ein Schelm, und er, der so viel und gerne lacht, setzt dieses vernichtende Lachen ohne Zorn und Eifer da ein, wo es ihm aus moralischen und politischen Gründen geboten scheint. Solch Lachen konnte schon in der Antike politisch Missliebigen zum Verhängnis werden, vom Schicksal mancher Kabarettisten oder einfacher Witzereißer in modernen Diktaturen wie der Nazi-Deutschlands ganz zu schweigen, und wenn Eco auch immer wieder betont, wie vergleichsweise ungefährlich die Situation sei, in der heute in Italien Opposition betrieben werden könne oder müsse, ist doch die vermeintliche Heiterkeit, die seine politischen Satiren bestimmt (Derrick 8), Ausdruck desselben kritisch-vernichtenden Lachens über die ewig-gleiche Dummheit, die sich in immer neuen Kriegen manifestiert, in Fundamentalismen, Rassismus, Antisemitismus, (Neo-)Faschismus und in Demokratie- Feindlichkeit jedweder Art, ob bei der Lega Nord des Umberto Bossi oder der Forza Italia des Silvio Berlusconi. Es sei dahingestellt, ob manche dieser - aristotelisch auf kathartisches Lachen zielenden - Stellungnahmen (zumal seit Beginn des unaufhaltsamen Aufstiegs Berlusconis) bereits als Widerstandsakte definiert werden können. Dass sie es der Tendenz nach sind, ist freilich so sicher wie die Tatsache, dass Eco schon als Kind im faschistischen Italien begriffen hatte, dass Lachen über etwas de facto und bisweilen ohne entsprechende Absicht des Lachenden durchaus in widerständiges Lachen gegen etwas umschlagen kann. Auf diesen Tatbestand machte der immer noch jugendliche, wenn auch schon als Wissenschaftler, Literat und Avantgarde-Theoretiker anerkannte Eco in jenem entscheidenden Jahr 1962 in Il Verri mit einem Essay über Edmondo de Amicis Roman Il cuore (Das Herz) aus dem Jahr 1886 aufmerksam. De Amicis, hatte Karl Vossler 1900 geschrieben, sei „ein gemäßigter, nützlicher, ungemein wohlwollender und bescheidener, bürgerlicher Erzieher zur sozialen Gesinnung“, der „mit den berühm- <?page no="84"?> 66 Lachen und rationales Engagement: Gruppe 63 und Mai 68 ten […] Schülerbriefen aus der Volksschule [Il cuore] der meistgelesene Schriftsteller Italiens“ geworden sei und es in seiner „gutmütigen Art“ verstünde, „alle Gegensätze“ zwischen Reichen und Armen „auszugleichen“ „und diesen den Haß gegen jene auszureden.“ Und Giuseppe Petronio bestätigt ein knappes Jahrhundert später diesen Befund, erklärt, dass Il cuore „ein Italien ‚en miniature‘ zeige, in dem alle Regionen und Gesellschaftsschichten vertreten“ seien, und eine große „Sensibilität für die sozialen Probleme mit dem Wunsch“ verbinde, diese „durch Erziehung zur Arbeit und mit gutem Willen zu lösen“: „Vaterlandsliebe, Erziehung zur Arbeit, Opferbereitschaft, Achtung des Menschen, Anerkennnung der Mühen und Leiden des niederen Volkes - dies ist die Botschaft, die De Amicis seinen großen und kleinen Lesern verkündet.“ So oder ähnlich lautet das Urteil der Literaturkritik von damals bis heute, und es lässt sich leicht vorstellen, wie dissonant 1962 Ecos Interpretation von Il cuore gewirkt haben muss, die er Das Lob Frantis betitelte und der eine Zitaten-Montage aus Baudelaires Essay über Das Wesen des Lachens (1855-1863) vorangestellt ist, der mit einem Lob Rabelais’ beginnt. Baudelaire zufolge resultiert das Lachen, dessen allgemeines Verständnis mit „dem Unfall eines antiken Sturzes“ verbunden sei, aus dem Wissen um die mögliche geistige Größe des Menschen und aus der Verzweiflung über seine tatsächliche Erbärmlichkeit. „Das Lachen ist satanisch, also zutiefst menschlich,“ sagt Baudelaire und erläutert, dass Lachen das Zeichen der Bewusstwerdung dieser Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz sei, einer Bewusstwerdung, die nicht aufseiten des Belachten, sondern auf der des Lachenden läge. Dieser Prämisse entsprechend stellt Eco die einzige von De Amicis ausschließlich negativ gezeichnete Gestalt des Romans in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen, den kleinen Franti, der von seinem Mitschüler Enrico Bottini als der Kerl mit der bösen und hinterlistigen Visage bezeichnet wird. Musterschüler Bottini, dessen Vater verzückt Tugend und Größe des Heeres sowie die glorreiche Möglichkeit bejubelt, dass sich die italienische Jugend eines Tages auf dem Schlachtfeld für das Vaterland opfern könne, sowie Enricos Kumpane Garrone und Derossi, aber auch alle anderen auf bürgerlich-positive Moral eingeschworenen Gestalten von Il cuore hassen und verachten Franti, der aus armseligem Milieu stammt und sich in nichts einfügen kann oder will. Ja, schlimmer noch: im Gegensatz zu all den anderen, moralisch befriedigenden Gestalten des Textes bzw. den Repräsentanten der ernsthaften bürgerlichen Gesellschaft der Epoche feixt und lacht Franti ununterbrochen. Selbst über die Prügel, die er bezieht. <?page no="85"?> 67 Politische Satire oder Frantis vernichtendes Lachen Über alles. Mit jenem infamen Grinsen, das er nicht einmal abstellt, wenn Grabreden auf den König verlesen werden oder wenn er kranke Alte, verletzte Arbeiter, weinende Mütter oder weißhaarige Lehrer sieht. Ja, während alle anderen Schulkameraden ehrfürchtig salutieren, lacht Franti sogar beim Vorbeizug eines Regiments über einen hinkenden Soldaten! Kurz, er lacht, weil er - wie Enrico Bottini weiß - einfach schlecht ist und alles verachtet, was dieser Gesellschaft heilig ist. Eco freilich vermag diese allgemeine Verachtung für den lachenden Außenseiter so wenig zu teilen wie die moralische Zufriedenheit der literarischen Kritik über die bürgerliche Ordnung, die Il cuore verherrlicht, und noch bevor Bachtins Studien zu Rabelais und der karnevalistischen Lachkultur in Westeuropa bekannt werden, erinnert er daran, dass es bereits in der Renaissance einen Roman-Zyklus gegeben habe, in dem ein Franti vergleichbares, lachend-anarchisches Element die (feudale) Ordnung der Epoche sprengen hilft. Das ist Panurge, der destruktiv-konstruktive Erzschelm, Saufkumpan, Studienkollege und Kampfgefährte des Riesen Pantagruel, der neben diesem in drei der fünf Romane Rabelais’ (1532-1564) die Hauptrolle einnimmt, ein Element, das - wie Eco befindet - sich in einer bestehenden Ordnung einquartiert und diese von innen untergräbt, um ihre Erscheinungsform mit Akten ikonoklastischer Freiheit zu entstellen. Begleiter Panurges bei diesem Unternehmen ist das Lachen. Auch der ruchlose Panurge lacht. Kurz: Panurge lacht wie Franti, und auch wenn dieser eine ohne Zweifel weniger komplexe Gestalt ist, so ist doch auch sein Lachen korrosiv. Das erklärt, dass Enrico Bottini es verabscheut, denn es gilt der gesellschaftlichen Ordnung, die von Bottini für die Verkörperung von Moral und Rechtschaffenheit gehalten wird: „il Bene“, wie De Amicis anständige Bürger es nennen, „das Gute“. Enrico denkt, dass Franti lacht, weil er schlecht ist, tatsächlich aber scheint er nur schlecht zu sein, weil er lacht, schreibt Eco und gestattet sich, in Erinnerung zu bringen, dass es die von Franti verlachte bürgerliche Gesellschaft war, die ein Vierteljahrhundert später - unter Mobilisierung all jener patriotischen Werte, die Enricos Vater verherrlicht und die Franti verlacht - den Faschismus hervorbringen und mit all jenen, damals von Franti verlachten, nun aber fanatisierten, schwarzbehemdeten Bottini, Garrone und Derossi Mussolini zur Macht putschen sollte. Hatte De Amicis dies selbst gespürt und deshalb Franti aus dem Roman eliminiert, bevor sein Lachen die Widersprüchlichkeit des Belachten als politisch-moralisch fragwürdig erkenntlich und begreif bar machen konnte? Franti ist […] ein Entwurf möglicher Komik geblieben, diagnostiziert Eco, aber diese Möglichkeit, die von Frantis Lachen reprä- <?page no="86"?> 68 Lachen und rationales Engagement: Gruppe 63 und Mai 68 sentiert wird, ist als Negation der perversen Ideale einer präfaschistischen Gesellschaft die einzige tatsächlich positive Botschaft, die von Il cuore ausgeht: Wenn es irgendein Zeichen gesellschaftlicher Weisheit in De Amicis Roman gibt, dann ist es Frantis Lachen, und es stößt als potentiell vernichtendes Lachen auf Ecos Zustimmung. Modus ponens oder das Bekenntnis zum Rationalen Fragte man nach den Kriterien, die diesen Wissenschaftler und Schriftsteller veranlassen, die Welt und ihre literarischen Interpretationen als sinnvoll oder verfehlt, ernst und wertvoll oder komisch und verdammenswert zu betrachten bzw. als reif, per Parodie verspottet oder per Satire verhöhnt und verurteilt zu werden, so wäre man gut beraten, nicht nach einem in sich geschlossenen, systematischen Wertekanon oder gar nach einem Parteiprogramm Ausschau zu halten. Die Überwindung des Katholizismus hatte bei Eco ein für allemal die Ablehnung jeglichen Glaubens und damit jeglichen Dogmas bewirkt, und wollte man unbedingt so etwas wie ein einigermaßen definierbares Verhaltensraster benennen, das - auf allen Ebenen - sein Denken und Handeln bestimmt, so wäre dies zweifellos das Einfache, das so schwer zu definieren ist, dass Eco selbst es nur ex negativo versucht hat: die Ratio oder Vernunft. 1987 hält er auf der Frankfurter Buchmesse einen Vortrag über Das Irrationale gestern und heute, bei dem er auf eine Polemik gegen die damals inflationär ausufernde Mode, allenthalben vom Triumph des Irrationalen über das Rationale zu künden, zurückgreift, die er 1980 mit dem Titel Über die Krise der Krise der Vernunft in Italien veröffentlich hatte*. Schwierig sei es, so Eco in Frankfurt, den Irrationalismus zu definieren, ohne einen philosophischen Begriff der Ratio zu haben (ÜS 9), auf den man sich beziehen und von dem man das Irrationale abheben könne. Typisch für den Peirce/ Dewey-Anhänger Eco: nach einem kurzen Blick auf die semantischen Begriffsfelder, die im Deutschen, Italienischen und Englischen „irrational“ oder das Gegenteil umreißen, geht er auf dem Umweg über „moderateness“, das englische Antonym zu „unreasonabless“, auf dessen lateinisches Etymon modus (Grenze, Maß) ein und greift resolut auf das griechischlateinische Modell der Rationalität als pragmatisch-heuristische Ausgangsposition und historische Folie für seinen Abriss des Irrationalen in der Geschichte zurück: Das Wort ‚modus‘, sagt Eco (ÜS 10), ruft uns zwei Regeln in Erinnerung, die wir von der griechisch-lateinischen Kultur geerbt haben: das logische Prinzip des modus ponens und das von Horaz formulierte ethische Prinzip: Est modus in rebus, sunt certi <?page no="87"?> 69 Modus ponens oder das Bekenntnis zum Rationalen denique fines quos ultra citraque nequit consistere rectum. [Satiren I, 1, 106-107: Es ist ein Maß in den Dingen, es gibt bestimmte Grenzen, jenseits und diesseits derer das Recht nicht zu bestehen vermag.]“ Noch einfacher gesagt: von der Antike haben wir das Prinzip des logischen Denkens und Folgerns gelernt, das (ÜS 12) u. a. noch heute die Mathematik, die Logik, die Naturwissenschaft und die Computerprogrammierung beherrscht, wie Eco ausführt, und das maßvoll-gesittete Verhalten in der von praktischer Vernunft geregelten Gesellschaft. Kurz (ÜS 18): die Antike hatte Lebensregeln ausgearbeitet, die bei aller Unterschiedlichkeit in der konkreten, von den geschichtlich sich verändernden sozialen Bedingungen bestimmten Gesellschaftspraxis Anwendung fanden, und diese Lebensregeln überdauerten trotz ihrer Relativierung bis hin zum vermeintlichen Verschwinden in Epochen der Vorherrschaft irrationalen Glaubens und religiöser Fanatismen, die das Praktisch-Beherrschbare der Ordnung des Universums, wie sie vom griechischen Rationalismus beschrieben worden war, hinter vorgeblich unergründbar-göttlichem Willen oder hinter der Vorherrschaft hermetischen Irrationalismus unter Einschluss rassistischer Theorien und Verfolgungszwänge zum Verschwinden brachten. Oder zum Verschwinden gebracht zu haben schienen. Wie auch immer: am Ende seines Parcours’ durch die Geschichte des Irrationalen kommt Eco auf die Prämissen seiner Überlegungen zurück, um sich - vermeintlich ironisch - zu den Prinzipien seines eigenen Denkens und Handelns zu bekennen: zur Logik à la Aristoteles (neben dem er 1980 auch Hegel, Marx und Kant aufruft) und zu dem à la Horaz maßvollgesitteten, von praktischer Vernunft bestimmten Verhalten innerhalb der von Gesetzen geregelten Gesellschaft (ÜS 24): Ich wollte zeigen, daß wir Kinder unserer Geschichte sind und daß wir, wenn wir die Erscheinungsformen des gegenwärtigen Irrationalismus erkennen wollen, zunächst seine Wurzeln identifizieren müssen. Vielleicht ist schon dieser Ansatz, etwas zu ‚identifizieren‘, um es von etwas anderem zu unterscheiden, manchen zu rationalistisch erschienen. Verzeihen Sie mir: ich glaube noch immer, daß das Identitätsprinzip und der modus ponens Instrumente sind, die zu gebrauchen manchmal der Mühe lohnt. Anders und unironisch formuliert: aus dem ehemals tiefgläubigen Katholiken ist ein gesellschaftlich-geschichtlich und pragmatisch denkender und handelnder Philosoph, Wissenschaftler und Schriftsteller geworden, der sich der europäischen Kultur mit ihrem antiken Erbe, den Prinzipien wissenschaftlicher Logik mit ihrem unverzichtbaren Werkzeug des dialektischen Denkens und den von der Aufklärung verkündeten Menschenrechten verpflichtet fühlt. <?page no="88"?> 70 Lachen und rationales Engagement: Gruppe 63 und Mai 68 Form als Engagement Maßvoll-vernünftig, aufgeklärt links (in der Öffentlichkeit) zu denken und zu handeln, das ist in Italien gegen Ende der 50er und in den 60er Jahren eher schwierig. Das Parteienspektrum ist weit gefächert und zum Teil - bis hin zu Parteispaltungen wie im Fall des PSI, von dem sich 1964 der Partito Socialista Italiano di Unità Proletaria abtrennt - zerstritten. Der PCI ist mächtig, bleibt aber im Zeitalter des Kalten Krieges innenpolitisch isoliert und kann sich an den ununterbrochenen Regierungsneubildungen nicht beteiligen, die bisweilen - wie die unter dem Christdemokraten Aldo Moro Ende 1963 mit dem PSI gebildete Regierung - nur wenige Monate Bestand haben. Und die extreme Rechte, gebildet von Monarchisten und Neofaschisten, spielt auf allen Ebenen Zünglein an der Waage und kungelt - bis in Staatsstreichdimensionen - mit Hardlinern aus dem Lager der Christdemokraten. Vor diesem Hintergrund wird die wachsende Bedeutung außerparlamentarisch-linker Splittergruppen verständlich, die zum Teil von ehemaligen Mitgliedern des PCI oder des PSI gebildet werden und die unter anderem seit 1960 in den Quaderni Rossi, seit 1966 in Classe operaia und seit 1969 auch in Il Manifesto ihre theoretischen Organe besitzen, sich dann aber auch seit Mitte der 60er Jahre aus Gruppierungen revoltierender Studenten rekrutieren. Obwohl es in Italien auch zu konkreter Zusammenarbeit mit Arbeitermassen und Gewerkschaften kommt, ist klar, dass der hauptsächliche Beitrag jener Splittergruppen und Studenten auf der marxistisch-analytischen Theorie-Arbeit beruht und nicht auf maßvoll-vernünftige Praxis orientiert ist. Dabei steht für die (mehrheitlich links orientierten) Intellektuellen in Italien (wie im Rest der Welt) die Theorie der „Entfremdung“, die ihnen vor allem aus den Schriften der Frankfurter Schule um Adorno, Horkheimer und Marcuse bekannt ist, im Mittelpunkt der Gesellschaftskritik, derzufolge die Existenz des Menschen im Allgemeinen und die des Proletariats im Besonderen in der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft auf Grund der Trennung von Besitz der Produktionsmittel und Entscheidung über die hergestellten Produkte auf der einen sowie von produktiver Arbeit auf der anderen Seite, kurz auf Grund der Scheidung der Menschheit in Kapitalisten und in arbeitende Bevölkerung entfremdet und damit unauthentisch ist. Während die einen aus diesem Grund klassisch marxistisch-leninistisch für die Beseitigung des Privatbesitzes an den Produktionsmitteln auf revolutionärem Weg sind, plädieren die anderen (auch zur Erzeugung „revolutionären Bewusstseins“) für die Erneuerung menschlichen Seins <?page no="89"?> 71 Form als Engagement durch Beseitigung vermeintlich unauthentisch-bourgeoiser Sprach-, Kunst- und Lebensformen, eine Forderung, die bei studentischen Manifestationen bisweilen Vandalismus zeitigt und Anfang der 70er-Jahre in Deutschland auf die griffige Formel gebracht wird: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht.“ Für Eco sind derartige Träume von einer Rückkehr zur „natura incontaminata“ des Menschen nichts als Torheiten linker Reaktionäre.* Doch da sie in Kreisen progressiver Schriftsteller und Künstler auf großes Echo stoßen und alle möglichen Sprach- und Formexperimente nach sich ziehen, die von der Befreiung aus bürgerlich-kapitalistischer Entfremdung und von der Rückkehr zu authentisch menschlichem Sein zeugen sollen, in Wahrheit aber meist nichts anderes als unverständliche Rhetorik sind, erlaubt er sich seiner wissenschaftlichen bzw. vernünftig-logischen Überzeugung gemäß, in dem Essay über Künstlerische Formgebung als Engagement in der gesellschaftlichen Wirklichkeit** in Elio Vittorinis Menabò zunächst einmal die Texte vorzustellen, auf die sich die meisten Intellektuellen jener Zeit nur mittels Quellen aus dritter Hand berufen. Dabei kann er sich den ironischen Kommentar nicht verkneifen, dass die missverstandene „Entfremdung“ selbst im bürgerlichen Feuilleton zum Modethema verkommen ist, weshalb es umso geratener sei, zunächst einmal in Erinnerung zu bringen, was Hegel und Marx, die den Begriff der „Entfremdung“ in das philosophische Denken eingebracht hätten, mit diesem tatsächlich hatten bezeichnen wollen. Dafür sei es notwendig, zu wissen, dass Marx Hegel vorgeworfen habe, nicht zwischen „Entäußerung“ und „Entfremdung“ zu unterscheiden. „Entäußerung“ nämlich sei die unaufhebbare Bedingung des Menschen, sich in der Welt zu „verdinglichen“: er drückt sich durch seine Arbeit in der Natur aus und schafft eine Welt, in der er sich engagieren muß. Diese „Entäußerung“, die die Voraussetzung des Menschseins überhaupt ist, wird (OKW 238) zur „Entfremdung“, wenn der [vom Menschen geschaffene] Mechanismus dieser Welt die Oberhand über den Menschen gewinnt, der dann unfähig wird, sie als sein eigenes Werk zu erkennen, [und] wenn es dem Menschen nicht mehr gelingt, die Dinge, die er produziert hat, für seine Zwecke zu gebrauchen, sondern [wenn er] in gewissem Sinne zum Sklaven dieser Dinge (und damit oft anderer Menschen) wird: Während die Entäußerung für Marx also ein wesentlich positiver und unvermeidlicher Vorgang ist, besteht die Entfremdung zwar faktisch, aber nicht zu Recht: und dieses Faktum, das historisch war, erscheint ihm als überwindbar durch eine historische Lösung, den Kommunismus. Da der Prozess der „Entäußerung“ also Voraussetzung für Existenz und Ent- <?page no="90"?> 72 Lachen und rationales Engagement: Gruppe 63 und Mai 68 wicklung des Menschen ist, erläutert Eco, kann er auch nicht einfach beendet werden, so dass es über die „Entäußerungen“ immer wieder zu mehr oder weniger langen Phasen der „Entfremdung“ im gesellschaftlichen Miteinander der Menschen kommen muss (OKW 243): So verstanden wird die Entfremdung jedoch zu etwas, das wohl beseitigt werden kann, und zwar beseitigt durch eine Bewußtwerdung und ein Handeln, niemals aber beseitigt für immer. Und selbst wenn dieser stets zu erneuernde Prozess der Bewusstwerdung und Überwindung der „Entfremdung“ im Kommunismus eine andere (nicht klassenantagonistische) Qualität haben sollte als im Kapitalismus, würde die Dialektik von „Entäußerung“, „Entfremdung“ und Überwindung der Entfremdung unabhängig von der Gesellschaftsverfassung andauern, solange der Mensch existiert und sich - existierend - verändert (OKW 247-248): Hegel paraphrasierend kann man sagen, daß der Mensch nicht im Tempel seiner Innerlichkeit in sich verschlossen bleiben darf: er muß sich veräußerlichen im Werk und entfremdet sich damit an es. Wenn er dies aber nicht tut und seine Reinheit und absolute spirituelle Unabhängigkeit kultiviert, so rettet er sich nicht, sondern löscht sich selbst aus. Die entfremdende Situation wird nicht überwunden durch die Weigerung, auf die objektive Situation, die durch unser Werk entstanden ist, einzugehen, denn diese Situation ist die einzige Bedingung unseres Menschseins. Damit ergibt sich freilich, dass es absurd wäre, die gesellschaftliche „Entäußerung“ des Menschen beseitigen zu wollen, um so im Rückzug auf die Kontemplation der Tabula rasa zu einem vormenschlichen Naturwesen in einer von Zivilisation gereinigten Welt zurückzukehren. Kunst- und Literaturproduktion müssten vielmehr dazu beitragen, den jeweiligen Zustand der „Entfremdung“ in der Summe der „Entäußerungen“ zu überwinden, was angesichts des Geschichts- und Entwicklungsprozesses von der Logik her besagt, dass dies nur in der Dialektik von funktionalem Einsatz vertrauter Sprache und herkömmlicher Formen sowie notwendiger Innovation zur Benennung und Identifizierung des Neuen geschehen könne, ein Prozess, bei dem der Einsatz pragmatischer Logik à la Dewey von großem Nutzen sein könne (dass Eco seine Argumente mit dem Nachdenken über den sinnvollen Gebrauch des Automobils abstützt, sei angemerkt). In diesem Sinne, schreibt Eco (OKW 265), tut der Künstler, der sich gegen die Formen auflehnt, ein Zweifaches: er lehnt ein System von Formen ab, das er indes bei dieser Ablehnung nicht annulliert, sondern von innen her weiterentwickelt (er folgt nur bestimmten Auflösungstendenzen, die sich schon als zwingend herausprofilierten), und das er darum, um sich <?page no="91"?> 73 Form als Engagement ihm zu entziehen und es zu verändern, sich in es hinein entfremdend, teilweise akzeptiert, seinen inneren Tendenzen nach anerkennt; andrerseits akzeptiert er durch die Verwendung einer neuen Grammatik, die weniger aus Ordnungsmodellen als aus einem permanenten Programm der Unordnung besteht, die Welt, in der er lebt, unter dem Gesichtspunkt der Krise, in der sie sich befindet. Er hat sich also aufs neue mit der Welt, in der er lebt, eingelassen, wenn er eine Sprache spricht, die er als Künstler erfunden zu haben glaubt, während sie ihm durch die Situation suggeriert worden ist; und doch war das die einzige Wahl, die ihm blieb, denn es gehörte gerade zu den negativen Tendenzen dieser Situation, daß man versuchte, über die Krise hinwegzusehen und sie ständig gemäß jenen verbrauchten Ordnungsmodellen, aus deren Unangemessenheit die Krise entstanden war, neu zu bestimmen. An dieser Stelle kommt Eco auf seine Überlegungen zur Offenheit moderner Kunstwerke zurück und macht u. a. anhand von Werken von Schönberg, Joyce, Calvino, Robbe-Grillet und Sanguineti klar, dass (OKW 292) selbst die Kunst, die bestrebt ist, dem, was als Unordnung, Ungeformtheit, Dissoziation, Fehlen aller Beziehungen erscheinen kann, eine Form zu geben, […] immer noch Anwendung einer Vernunft ist, die versucht, die Dinge zu diskursiver Klarheit zurückzuführen; und wenn ihre Rede dunkel scheint, so darum, weil die Dinge selbst und unser Verhältnis zu ihnen immer noch sehr im Dunkeln liegen. Kurz: Kunst darf bis zur Unverständlichkeit artikulieren oder formen, wenn sie Unverständlichkeit darstellen, das Unverständliche vor Augen führen, das Nachdenken über das Unverständliche provozieren will, denn dann hat diese Artikulation oder Formung eine ästhetisch-kommunikative Funktion (OKW 271-272): Der eigentliche Inhalt des Kunstwerks wird somit seine Art, die Welt zu sehen und zu beurteilen, ausgedrückt in einem Gestaltungsmodus, und auf dieser Ebene muß dann auch die Untersuchung der Beziehung zwischen Kunst und Welt geführt werden. Die Kunst erkennt die Welt durch die Strukturen ihres Gestaltens (die darum nicht formal, sondern ihr eigentlicher Inhalt sind): die Literatur organisiert Wörter, die Aspekte der Welt bezeichnen, doch das literarische Werk deutet auf die Welt hin durch die Art, wie diese Wörter angeordnet werden, auch wenn sie, für sich genommen, Sinnloses bedeuten, oder Ereignisse und Beziehungen zwischen Ereignissen, die mit der Welt scheinbar nichts zu tun haben. <?page no="92"?> 74 Lachen und rationales Engagement: Gruppe 63 und Mai 68 Gruppe 63 oder experimentelle Kunst statt Avantgarde Mit dem Essay über Form als Engagement sind Ecos Positionen grundsätzlich abgesteckt: Er steht jeglicher künstlerischen und literarischen Innovation vorbehaltlos gegenüber, vorausgesetzt dass diese eine kommunikative Funktion in der Auseinandersetzung mit der sich verändernden Welt und damit in der (punktuellen) Überwindung der (unaufhebbaren, aber stets sich erneuernden) „Entfremdung“ besitzt. Damit freilich ist auch gesagt, dass neue und innovativ determinierte Kontexte selbst der „normalen Sprache“ und den „traditionellen Formen“ neue und damit ebenfalls innovatorische Funktionen geben können. Das garantiert nicht nur die Kommunikation mit den Rezipienten, und zwar über die aktuelle Zeit hinaus, sondern hat vor allem Konsequenzen für die Aufarbeitung des sich verändernden menschlichen Seins in der Geschichte und liefert im Übrigen auch der Verwendung anderer und speziell vergangener Sprachen wie des Griechischen, Lateinischen, Altfranzösischen oder Althochdeutschen, aber auch von Dialekten wie dem Piemontesischen in modernen Texten die theoretische Rechtfertigung. Eco wird dies in seinen Romanen voll ausschöpfen. 1962 aber macht ihn dieser Text zusammen mit einem Essay über Experimentelle Kunst und Avantgarde*, in dem er - unter Berufung auf Schönberg, Joyce, Borges und Brecht - den dialektischen Umgang mit vertrautem Material und experimentaler Innovation zur Voraussetzung von Kunstproduktion erhebt, die gesellschaftlich etwas bewirken will (was sollte ein revolutionärer Akt in nie gekannter neuer Formensprache, wenn niemand diese versteht? ), aber auch zusammen mit Opera aperta und Apocalittici e integrati zu einem der führenden Köpfe der jüngeren Schriftstellergeneration, die ein Jahr zuvor in der Anthologie I Novissimi vorgestellt worden war. Es kann daher nicht überraschen, dass Eco, der 1963 mit Dorfles und anderen die Zeitschrift Marcatre gründet, die bis 1970 eines der wichtigsten Foren für Architektur, Bildende Künste, Musik und Literatur sein wird, zusammen mit Alberto Arbasino, Luciano Anceschi, Balestrini, Barilli, Angelo Guglielmi, Pagliarani, Porta und Sanguineti zu den Gründungsmitgliedern des Schriftstellerzirkels gehört, der sich 1963 in Palermo konstituiert und sich als Hommage an die deutsche Gruppe 47 den Namen Gruppo 63 gibt. Genauso wenig überrascht, dass Eco in vieler Hinsicht den Ton angibt und u. a. klarstellt, warum diese Gruppe keine wirkliche Avantgarde sei.** Die historische Avantgarde, so Eco, sei von gesellschaftlichen Außenseitern gebildet worden, einer explosiv-vulkanischen <?page no="93"?> 75 Gruppe 63 oder experimentelle Kunst statt Avantgarde Generation, die mit ihrer künstlerischen Produktion die bürgerliche Gesellschaft provoziert und ihre Kultur bekämpft habe. Inzwischen jedoch seien die Kunstwerke der Avantgarde als Bestandteil der kulturellen Tradition anerkannt, in Kunsthandel, Galerien und Museen integriert, ja, wer in ihrer Nachfolge wirke, arbeite unmittelbar für den Kunstmarkt und könne mit seinen Werken nicht länger épater le bourgeois-Effekte erzielen. Was sollte der Pistolenschuss in der Straße, mit dem DADA noch hatte erschrecken können, im Zeitalter der Atombombe bewirken? Es sei daher an der Zeit, sich einzugestehen, dass man einer Generation angehöre, die nicht mehr vulkanischengagiert Neues erschaffe, sondern reflektiert mit kühlem Verstande experimentiere - Eco tauft sie Neptun-Generation -, was im Übrigen keineswegs die Produktion großer Kunstwerke ausschließe, sei doch jedes große Kunstwerk in der Geschichte der Menschheit ein experimentelles, aber nicht notwendigerweise ein avantgardistisches Kunstwerk gewesen. Die Neptun-Generation setze sich im Übrigen aus Intellektuellen zusammen, die alle bereits beruflich-gesellschaftlich reüssiert hätten: in Verlagen, Zeitungs- oder Zeitschriftenredaktionen, Radio- oder Fernsehanstalten, Akademien und Universitäten. Darum wäre auch revoluzzerhaftes Gehabe nicht sonderlich glaubwürdig, zumal bestimmte, der Avantgarde entlehnte Formensprachen nicht länger politischen Lagern und damit links oder rechts zugeordnet werden könnten. Darüber hinaus sei Opposition gegen die bürgerlich-kapitalistische Ordnung aus derselben Ordnung heraus nicht möglich, was auch die Ablehnung des ästhetischen Kanons des sozialistischen Realismus impliziere, der im Übrigen auch Werke hervorbringe, die objektiv konservativ-reaktionärer Formensprache gehorchten. Das alles mache notwendig, den gesto rivoluzionario durch lenta ricerca und die rivoltà durch filologia zu ersetzen, so Eco in La generazione Nettuno: Der neptunische Verstand arbeitet so: langsam und unterirdisch, und er taucht nur nach langen Intervallen auf (CC 272). Die Bedeutung der Treffen des Gruppo 63 läge daher im Austausch über die unterschiedlichen Sprach- und Formexperimente seiner Mitglieder und die Akzeptierung einer Massenkultur, die nicht paternalistisch sein dürfe und über die Benjamin, Bloch und Gramsci nachgedacht hätten, nicht aber in der Produktion von bestimmten Kunstwerken. Der Gruppo 63, folgert Eco, könne sich allenfalls als Nachfolge- oder Neoavantgarde verstehen, die Repräsentanten einer Generation vereine, die versucht, die Werkzeuge zu liefern, mit denen der Mensch sich, unaufhaltsam und gemäß seiner Menschheitsvision, verwirklichen kann, nichts ande- <?page no="94"?> 76 Lachen und rationales Engagement: Gruppe 63 und Mai 68 res: die Taktiken, die Techniken, die gemeinsame Auseinandersetzung, die Theoriediskussion, die die Erfindung erschwert und keine Resultate zeitigt, sondern nur den Humus liefert. Sie säßen gemeinsam am Tisch und zeigten sich wechselseitig die Bestandteile eines Mosaiks: In Umrissen, natürlich: noch fügt sich nichts zusammen (CC 274). Mai 68 oder Quindici und das Ende der Gruppe 63 Natürlich gibt es auch Gemeinsamkeiten, die - über die grundsätzlich tolerante Aufmerksamkeit gegenüber den individuellen Poetiken ihrer Mitglieder hinaus - die Gruppe 63, die im Übrigen wie die Gruppe-47 weder Programm noch Statuten besitzt, zusammenschweißt. Dazu gehört neben dem Bekenntnis zum Experiment sowohl die Ablehnung der zur Norm gewordenen croceanisch-idealistischen Kunstkonzeption als auch die der postromantischen Dichtung der Innerlichkeit und des neorealistischen Romans. Diese Übereinstimmungen bewirken, dass man trotz aller Dispute im Anschluss an Lesungen und Diskussionen in aller Freundschaft tafelt und Gesänge wie Ecos - musikalisch dem Schlager Arrividerci angepasstes - Spottlied über die Alienazione, die Entfremdung, anstimmt: Alienaziooone / è rinunciare al problema / ed arrendersi / solo al sistema / non possedersi più / ma solo attendere …*: Entfrehehehehemdung Heißt Kneifen vor Konflikten und nichts als Unterwerfung Vorm großen Kapital Du bist nicht mehr Dein Eigen Und wartest und musst schweigen Die Industrie versklavt Dich Ganz sachte im System Du wähnst Dich noch in Freiheit Und kriegst doch keinen Stich mehr In diesem falschen Spiel Entfremdung Heißt sich selber Verliern im Mechanismus Der ins Verderben führt Vielleicht jedoch kann Revolution Dir Freiheit bringen … Doch wenn die Technik weiter herrscht Bleibt Freiheit nur ein frommer Traum Und mehr zu sagen bleibt Dir kaum Als Entfrehehehemdung! <?page no="95"?> 77 Mai 68 oder Quindici und das Ende der Gruppe 63 Aber alles ist nicht so heiter, und das Echo auf die Aktivitäten des Gruppo 63 ist - trotz Beistands von Elio Vittorini und Italo Calvino-- durchaus kritisch. Vor allem nach Gründung der Zeitschrift Quindici im Jahr 1967, dem Forum für die innovatorischen Aktivitäten der Gruppe, deren „Schockwirkung“ laut Balestrini „ausreichen“ sollte, „um alle älteren Autoren an Herzinfarkt sterben zu lassen“ (G 141). Das tun sie offenkundig nicht. Die Gruppe 63 sieht sich vielmehr heftigen Angriffen von konservativ links und rechts ausgesetzt. Was ihre Gegner am meisten stört, ist die von Eco früh vermerkte Tatsache, dass die Mitglieder des Gruppo 63 keine gesellschaftlichen Außenseiter sind, sondern dass sie die Kulturinstitutionen aus deren Innerem heraus angreifen. Das ändert sich freilich, als der Versuch unternommen wird, aus dem intellektuellen und experimentellen Zirkel des Gruppo 63, der seine Pflicht zur aktiven Opposition als eine kulturelle Aufgabe betrachtet hatte, die im Laboratorium der Sprache gelöst werden müsse, eine Nachfolgebewegung der historischen Avantgarde zu machen und danach zu trachten, sich wie diese ‚im Leben‘ durchzusetzen und alltägliche Praxis zu werden (ÜS 130-131). Und eben das ist es, woran die Gruppe zerbrechen wird, denn die eher verspätete Gründung ihrer theoretischen Zeitschrift fällt mit den ersten studentischen Unruhen zusammen, die mit dem Pariser Mai 1968 ihren dramatischen Höhepunkt erreichen sollten. Zwar habe es auch im Gruppo 63 etwas gegeben, was in kleineren Dimensionen die Protestbewegung von Achtundsechzig antizipierte, schreibt Eco, reduziert dies aber vor allem auf eine neue Umgangsform und ein freies Reden jenseits der Rituale, obschon man wohl auch die Ablehnung der bürgerlichen Kultur dazu rechnen müsste, die Eco selbst 1969 in Quindici unter dem ironischen Titel Pesci rossi e tigri di carta (Rote Fische/ Goldfische und Papiertiger) in Erinnerung ruft. Aber die Mitglieder des Gruppo 63 sind in der Tat im Unterschied zu den Achtundsechzigern keine Jugendlichen, die auf ihre Eingliederung in den Produktionskreislauf warteten oder sich der Integration zu verweigern suchten, wie Eco (ÜS 130) schreibt, sondern beruflich erfolgreiche Intellektuelle und verhalten sich, als die Studentenbewegung aufkam, insgesamt eher widersprüchlich und […] fragend. Einer, der sich von der revolutionären Stimmung anstecken lässt, ist Nanni Balestrini, der - zumal als verantwortlicher Herausgeber seit 1968 - dafür sorgt, dass sich Quindici nach und nach in eine Tribüne für die Studentenbewegung und speziell für die „revolutionäre“ Gruppe verwandelt, die seit 1967 als Potere operaio (zusammen mit Lotta Continua) in die Annalen des linken Radikalismus (und der Vorläuferbewegung für die terroristischen Brigate Rosse, die Roten Brigaden) <?page no="96"?> 78 Lachen und rationales Engagement: Gruppe 63 und Mai 68 eingehen sollte. Natürlich kann dies nicht ohne Kontroversen innerhalb des Gruppo 63 vor sich gehen, und Eco, der - seit 1966 Dozent für Visuelle Kommunikation an der Architekturfakultät der Universität Florenz - direkt mit studentischen Aktivitäten konfrontiert ist und im Übrigen mit seiner Frau Renate bei einem Urlaub in Prag erleben muss, wie die sowjetischen Panzer den Prager Frühling niederwalzen, macht von seinem Recht auf abweichende Meinung engagiert Gebrauch. So erklärt er 1968 u. a. (gegen Guido Davico Bonino und Sanguineti) sein Unverständnis für Boykotte von Kunstausstellungen oder Filmfestivals wie der Biennale von Venedig durch die dort vertretenen Künstler selbst, nicht weil er diesen politisches Engagement untersagen will, sondern weil er die Aktionen für peinliche Imitationen studentischer Proteste oder gar proletarischer Streiks hält und in ihnen nur den Versuch erblicken kann, an Luxus-Schauplätzen, die für revolutionäre Besetzungen oder Streiks nicht geeignet sind, aus Reklamegründen pseudo-avantgardistisch die Medien auf sich aufmerksam zu machen. Das sei, so vermerkt er, umso geschmackloser, als man in Prag Kulturschaffende tatsächlich im Kampf für Freiheit von Kunst und Meinungsäußerungen gegen die sowjetischen Panzer gesehen habe.* Konsequenterweise hält er die Anbiederung an die studentische Bewegung insgesamt für deplatziert, lehnt es ab, von der Diskussion über Literatur und Kultur zu Bauanleitungen für Molotow-Cocktails überzugehen, und verurteilt die Aufrufe zur Enthaltung bei den allgemeinen Wahlen, die damals in Italien stattfinden. Eco, der sich bereits 1963 öffentlich zum PSI bekannt hatte, in dem er damals ein Bollwerk gegen sozialdemokratische Vereinnahmungen der Linken durch das Kapital zu sehen vermeinte (und weil er die Kulturpolitik des PCI für verfehlt hielt), erklärt im Mai 68 in Quindici zusammen mit Zorzoli, warum er, bei allem Respekt vor proletarischen Kämpfen (bzw. den Splittergruppen der extremen Linken, die zur Wahlenthaltung aufrufen), wählen wird, und zwar den PSIUP, weil dieser seit seiner Abspaltung vom PSI praktisch-konkrete Universitätspolitik betrieben habe, ohne seine linken Positionen preiszugeben. Trotz der politisch-weltanschaulichen Krise innerhalb des Gruppo 63 versucht Eco also auch weiterhin rational-pragmatisch zu argumentieren und zu handeln. Noch 1968 vereint er seine wichtigsten und vom Bekenntnis zur praktischen Vernunft geprägten Positionen zu Kunst, Literatur, Musik und neuen Medien in einem Band mit dem selbstbewussten Titel Die Definition der Kunst**, und 1969 besteht er in Pesci rossi e tigri di carta darauf, dass Quindici zwar ein Ort für Debatten über Kultur ganz allgemein und die - „Kultura“ genannte-- <?page no="97"?> 79 Mai 68 oder Quindici und das Ende der Gruppe 63 der herrschenden Klasse im Besonderen sei, aber keine Tribüne für Klassenkampfparolen oder gar eine Waffe im Klassenkampf selbst: Der Protest gegen eine Klassenherrschaft ist zweifellos eine Sache revolutionärer Praxis, aber der Protest gegen die spezifische Form der Herrschaft, die von der ‚Kultura‘ ausgeübt wird, benötigt auch den Diskurs über die Kultur, oder an der Seite der Kultur […] Alles das sind politische Probleme. Und das ist die Aufgabe einer Kulturzeitschrift. Natürlich ist unerheblich, ob Quindici dieses Problem löst oder nicht. Eine Zeitschrift kann so sterben, wie sie geboren wurde. Aber wir können das Problem nicht außen vor lassen und verdrängen, dass unsere Zeitschrift auch zu dem wurde, was sie heute ist, weil unser Diskurs von gestern dazu beigetragen hat, dass die Dinge sich zugespitzt haben (CC 331). Doch der Appell zur Besinnung kommt zu spät: Trotz steigender Auflage stellte Quindici sein Erscheinen ein, denn - wie Eco schreibt - im Streit um die Zeitschrift suchten die Angehörigen der Gruppe […] nach einer Neubestimmung ihrer Rolle als mittlere Generation, zwischen der älteren und der ganz jungen. Und dabei entdeckten sie, daß sie keine Gruppe mehr waren. Die Gruppe 63, fügt Eco 1984 aus Anlass des zwanzigsten Gründungstages hinzu, konnte als experimentelle Gruppe gefeiert werden, weil sie sich 1969 als Avantgardegruppe mit luzider und stoischer Geste selbst liquidiert hatte (ÜS 142). <?page no="98"?> Journalismus und Kinderbücher Il costume di casa oder Ecos Aleph ist der Piemont - Franti strikes again oder keine Gnade für Adriano Sofri - Wie und warum man Kindern beibringt, dass man Atombomben entschärfen und Rassismus bekämpfen muss Il costume di casa oder Ecos Aleph ist der Piemont Tatsächlich lag für Eco die historische Bedeutung der Gruppe 63 im experimentellen Zusammenwirken von künstlerischer Produktion und theoretisch-wissenschaftlicher Reflexion, zumal dies eine ganz spezifische Öffnung zum internationalen Dialog und zum konkreten politischen Engagement ermöglichte. Zum einen, schreibt er (ÜS-136), habe die Gruppe Angehörige der ersten Nachkriegsgeneration versammelt, für die Europa keine Grenzen hatte, und zum anderen habe sie sich mit einem Riesenkonvolut neuen wissenschaftlichen Denkens wie Linguistik, Strukturalismus, Soziologie der Massenkommunikation, Semiotik, etc. auseinandergesetzt und damit wenigstens Norditalien vom geistigen Provinzialismus befreit, in den der Faschismus Italien insgesamt gestürzt hatte. Zwar könne man auch dem Sarden Gramsci und dem Sizilianer Vittorini Verdienste nicht absprechen, räumt Eco humorvoll-großzügig ein, aber die Gruppe 63 habe wesentlich dazu beigetragen, den Anschluss an die lombardische Aufklärung wiederherzustellen und an der Renaissance der seit Pietro Verri unternommenen Versuche mitzuwirken, Italien gegen Katholizismus und Idealismus das Licht der Aufklärung zu bringen. An dieser Renaissance aber waren Vertreter von Kunst und Wissenschaft beteiligt, die in beiden Bereichen arbeiteten (ÜS 141): Die norditalienische Aufklärung war experimentell, weil ‚wissenschaftlich‘ und rationalistisch (und sie glaubte nicht an den Bruch zwischen den ‚zwei Kulturen‘); die Gruppe- 63 mag experimentell und ‚technologisch‘ gewesen sein, aber dank ihrer avantgardistischen Komponente wirkte sie wie ein Resonanzboden der akademischsten norditalienischen Aufklärung. Eco integriert sich ebenso selbstbewusst wie ironisch in diese Tradition und wird so mit seinem literarischen Werk wohl die internationalste und bedeutendste „Heimatdichtung“ produzieren, die die Menschheit je gekannt hat: Von Nonita bis zur Königin Loana wird <?page no="99"?> 81 Il costume di casa oder Ecos Aleph ist der Piemont seine literarische Produktion im Piemont und in der Lombardei verankert sein und diese Provinzen (zumindest in der Fiktion) zum Mittelpunkt der Welt machen. Dass sich dies mit Ecos Lachen verbindet, ist klar, zumal er ja zunächst einmal den Blick der Welt auf die Po- Ebene lenken musste, was er 1964 in einem parodistischen Rückblick aus der Zukunft anthropologischer Forschung zuwege bringt, dem er den Titel Industrie und sexuelle Repression in einer norditalienischen Gesellschaft gibt. Ein Mitarbeiter von Professor Korao Paliau vom Anthropologischen Institut der Admiralsinseln, unterstützt von der Aboriginal Foundation of Tasmania und dem Anthropological Documentation Center of Samoa, entscheidet sich, eines jener Forschungsvorhaben über primitive Völker durchzuführen, wie sie von europäischen und nordamerikanischen Anthropologen seit dem 19. Jahrhundert mit Vorliebe in Lateinamerika, Afrika, Asien, Australien und eben auch Neu-Guinea und Tasmanien durchgeführt wurden und werden. Das Objekt befindet sich diesmal freilich in einer anderen Weltgegend: Vorliegende Untersuchung wählt sich als Forschungsgebiet den Siedlungsraum Mailand im nördlichen Teil der italienischen Halbinsel, einem vatikanischen Protektorat der Mediterranen-Gruppe. Mailand liegt etwa 45 Breitengrade nördlich von Melanesien und etwa 35 Breitengrade südlich vom Nansen-Archipel im Arktischen Eismeer. Es liegt also annähernd in der Mitte zwischen den zivilisierten Weltgegenden, und obwohl leichter erreichbar als die Eskimopopulationen, ist es abseits der diversen ethnographischen Reiserouten geblieben (PSL 56). Die Forschungsmethoden und die entsprechende („wissenschaftliche“) Terminologie der Ruth Benedict, Alfred Kroeber, Claude Lévi-Strauss und Margaret Mead persiflierend, fertigt Eco ein Porträt Norditaliens und seiner Einwohner an, das sowohl ideologisch-philosophische Kritik an anthropologischer Forschung als auch politischkulturelle Kritik an Norditalien darstellt. Deren Höhepunkt ist mit dem Kapitel Kirche und Industrie (Versuch einer historisch-sozio-ökonomischen Interpretation) erreicht: Die gesellschaftliche und politische Bühne wird von zwei nahezu gleichstarken Kräften beherrscht, die sich gegenseitig die Kontrolle über die verschiedenen Teile der Halbinsel und ihre Bewohner streitig machen: die Industrie und die Kirche. Die Kirche ist, soweit wir aus den vor Ort gesammelten Aussagen entnehmen konnten, eine weltliche Macht, der es um die irdische Vorherrschaft geht, um den Erwerb von nutzbarem Bauland und den Zugang zu den politischen Schalthebeln; die Industrie ist eine geistige Macht, der es um die Vorherrschaft über die Seelen geht, um die Verbreitung eines mystischen Bewußtseins und einer asketischen Haltung […] Für den Forscher <?page no="100"?> 82 Journalismus und Kinderbücher ist klar, welche der beiden Mächte in Mailand die Oberhand errungen hat: die Industrie […] Allerdings wäre es irrig zu glauben, die Industrie regiere uneingeschränkt über die Eingeborenen und das Land. Die italienische Halbinsel, die Schauplatz so vieler stürmischer Ereignisse war […], ist ein allseits offenes Territorium, jederzeit zugänglich für die Invasion barbarischer Völker und die Immigration der südlichen Horden, die […] seine Raumstruktur ändern, sich an seinen Rändern niederlassen, sich in den öffentlichen Gebäuden drängen und jede Verwaltung lahmlegen. Angesichts dieses Drucks fremder Populationen sowie des verderblichen Treibens der Kirche, die unablässig versucht, die Seelen der Eingeborenen abzulenken […], versteht sich die Industrie als die letzte Bastion zur Bewahrung der ursprünglichen Kultur. Der Anthropologe hat nicht darüber zu befinden, ob diese Bewahrung etwas Positives ist, er muß nur feststellen, welche Rolle die Industrie spielt, die zu diesem Zweck weiße Klöster errichtet hat, in denen Dutzende und Aberdutzende von Mönchen […] schweigend in der unmenschlichen Reinheit ihrer Riten die Pläne zu perfekten Konstitutionen für künftige Gemeinwesen entwerfen […] (PSL 79; 82-83). Der fiktive Blick von außen wird durch den kritischen Blick von innen ergänzt, wie Eco ein Jahr später in seinem Essay Nichts los zwischen Bormida und Tànaro darlegt, in dem er seine sympathische Unfähigkeit, sich für Gestalten wie Mussolini oder Croce zu begeistern, mit seiner Herkunft aus Alessandria erklärt, gehörten die Alexandriner doch einer „Rasse“ an, die an tiefer Abneigung gegenüber geschwätziger Rhetorik, exaltierter Leidenschaftlichkeit und großartigen Heldentaten leide. Der Piemont sei nun einmal eine schrecklich nüchterne Gegend, wo man weder Hexen, noch Teufel, Feen, Kobolde, Zauberer, Monster, Phantasmen, Grotten, Labyrinthe oder verborgene Schätze kenne, und wenn sich auch manches historisch Wichtige in Alessandria zugetragen habe, hätte die Stadt doch niemals das Bedürfnis verspürt, anderen mit Waffengewalt eine Botschaft aufzunötigen oder sich sonstwie wichtig zu machen. Selbstbewusst wie ein Hanseat ruft Eco aus: Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie stolz man ist, wenn man entdeckt, Kind einer Stadt ohne Rhetorik und ohne Mythen, ohne Botschaften und absolute Wahrheit zu sein (CC 11), und legt damit die moralisch-erkenntniskritischen Prämissen für die massenmediale Aufklärungsarbeit offen, die er in den 60er Jahren in Presseorganen wie Il Corriere della sera, Il Giorno, La Stampa, L’Unità oder später Il Manifesto, aber auch (seit 1963) in Times Literary Supplement und vor allem (seit 1965) in L’Espresso beginnt und die bis heute andauern wird. Eco formuliert sie noch engagierter 1969 in L’Espresso aus Anlass <?page no="101"?> 83 Il costume di casa oder Ecos Aleph ist der Piemont einer von ihm ausgelösten Debatte über journalistische Objektivität, an der sich namhafte Journalisten wie Giorgio Botta von L’Europeo, Piero Ottone von Il Secolo, Eugenio Scalfari, der spätere Herausgeber von L’Espresso und Gründer von La Repubblica sowie der große alte Mann Indro Montanelli vom Corriere della sera beteiligen. Der Journalist, schreibt Eco unter dem Titel Die Illusion der Wahrheit und ganz im Sinn der alessandrinischen Ablehnung ewiger Wahrheiten, solle nicht so tun, als könne er „objektive Wahrheiten“ verkünden. Er habe vielmehr klar und deutlich zu dokumentieren, was er wisse, und aus Respekt vor dem Leser, der das Recht habe, sich eine eigene Meinung zu bilden, habe der Journalist genauso klar und deutlich zu sagen, was seine eigene Meinung dazu sei. Nicht deutlich zu machen, was Fakt sei und was Meinung des Journalisten, sei Indoktrinierung bzw. Produktion „falschen Bewusstseins“: Derartige Propaganda muss der Journalismus bekämpfen, wenn er demokratischer Journalismus sein will. Das ist - meines Erachtens - die Aufgabe des Journalisten, und statt zu versuchen, den Leser zu überzeugen, dass er ‚die Wahrheit‘ verkünde, hat der Journalist deutlich zu machen, dass er ‚seine‘ Wahrheit dazugibt. Und dass abweichende Meinungen möglich sind. Der Journalist, der den Leser respektiert, muss ihm stets das Bewusstsein der möglichen Alternative lassen (CC 18). Diesen Prinzipien wird Eco nie untreu werden. Stets wird er das Faktum in seiner relativen Objektivität wiedergeben, seinen eigenen Standpunkt deutlich machen und es dem Leser überlassen, Pro und Contra abzuwägen und selbst über das zu urteilen, was ihm dieser Spectateur du Nord neuen Typs aus seiner norditalienischen Perspektive über lokale und internationale Ereignisse berichtet. Diese Perspektive kann der aufklärerischen Dialektik entsprechend sowohl die eines konvexen oder konkaven Spiegels als auch die eines Teleskops oder Fernglases sein, ja, wenn nötig, kann sie sogar beides miteinander verbinden, um von dem einen Punkt aus, dem Norden Italiens, die Totalität des Nahen und Fernen, kurz der Welt zu betrachten. Deshalb zögert Eco auch nicht, sich (wie schon vor ihm Joyce oder Borges) zu eigen zu machen, was Nietzsche in Also sprach Zarathustra gesagt hat, selbst wenn dieser ein großer Reaktionär gewesen sein sollte: „In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“ Die „Mitte“ in Umberto Ecos Universum, oder um es mit Borges-Eco zu sagen: sein magisches Aleph, jener Punkt, der das ganze Universum enthält* und für den die Bibliothek als Metapher steht, ist der Piemont, und noch genauer Alessandria, und Il costume di casa, die Häuslichen <?page no="102"?> 84 Journalismus und Kinderbücher Sitten und Gebräuche mit dem Untertitel Evidentes und Mysteriöses in der italienischen Weltanschauung ist Ecos journalistisches Bekenntnis zu diesem seinem Aleph. In ihm versammelte er 1973 seine (vor allem in L’Espresso) erschienenen Aufsätze zur geistigen Lage Italiens, die er humorvoll-ironisch und kämpferisch-engagiert aus seiner Bibliothek im Norden Italiens beobachtet und seziert: den Immobilismus der italienischen Politik, offengelegt in der Rhetorik der Politiker; die Manipulation der öffentlichen Meinung durch Fernsehen und Presse samt Ratschlägen, wie man ihr entgegensteuern könnte; die inflationäre Abfolge intellektueller Moden und ihre ebenso unnütz-arroganten Verabschiedungen (verdeutlicht am Beispiel der „Entfremdung“ und des „Strukturalismus“); die schamlose Wunderheilungs-Industrie, die im Namen der Heiligen von der Katholischen Kirche betrieben wird; die Wiederbelebung des Teufels-Glaubens durch Papst Paul-VI. (dem Eco spöttisch applaudiert: wer an Gott glaube, der müsse eben auch an den Teufel glauben und dürfe nicht - wie fortschrittliche Theologen - behaupten, das Böse stecke in uns selbst oder in Claudia Cardinale); die immer ungeniertere Rückkehr der Rechtsextremen und Faschisten wie Giorgio Almirante, denen Intellektuelle wie Giuseppe Prezzolini, Armando Plebe und Rodolfo Quadrelli revisionistisch zuarbeiten; die Indoktrinierung der Massen mit faschistischer Weltanschauung über Comics; die Verkitschung der Kunst in Museen, die nur noch auf Marktwerte der ausgestellten Werke abheben, und in Kirchen, die ihre Funktion verloren haben und für den Tourismus aufgeputzt werden; die Verschluderung der italienischen Sprache (und damit die Verhinderung kritischer Weltsicht) in der Presse und in der Warenreklame; den Verlust menschlicher Identität in der Eco speziell verhassten Sport- und vor allem Fußball-Industrie (mit der der Gipfelpunkt der Konsumgesellschaft erreicht sei); den täglichen Machismus, demzufolge Frauen kein politisches Mandat haben dürften, weil sie zu geschwätzig seien, eine These, der Eco historisch unwiderlegbar entgegenhält, dass Männer noch geschwätziger sind … und dies speziell als Politiker in der Öffentlichkeit. Kurz: das alles ist zwar lustig zu lesen, aber die Essays, die in der Anfangsphase bisweilen an Barthes’ ideologiekritische Mythen des Alltags (1954-1956) erinnern und von denen einige sogar mit dem Titel Die Zeichen und die Mythen erscheinen, denen Eco aber eine neue politische und literarische Qualität verleiht und die bis heute aus der italienischen Medienlandschaft nicht mehr wegzudenken sind, sind nicht wirklich heiter. Es sind Texte, schreibt er, die aus meinem theoretischen Interesse für die Probleme der Kommunikation Impulse für eine leicht missionarische Neugier schöpften, <?page no="103"?> 85 Franti strikes again oder keine Gnade für Adriano Sofri die von der Praxis der Meinungsmache in Zeitungen und anderen Massenmedien geschürt wurde. Und von den politischen Alltagskonflikten rührt der Impuls her, auf die Dinge einzuwirken, die mir - alles in allem- - vertrauter sind. Deshalb habe ich eine Art Tagebuch des Misstrauens angefertigt, in dem die anscheinend harmlosen und gut funktionierenden Mechanismen [der Manipulation] offengelegt werden, um zu zeigen, warum man nichts glauben darf. Die Briefe, die ich - nach jedem dieser Zeitungsartikel […] - erhalte und die zeigen, wie von einem kritischen Kommentar, von einer Empfehlung, nachzudenken, Impulse ausgehen für eigene Recherchen oder eigenes Engagement, haben mich davon überzeugt, dass auch das politische Handlung ist (CC 5). Franti strikes again oder keine Gnade für Adriano Sofri Dass die Häuslichen Sitten und Gebräuche, die im Übrigen auch Ecos wichtigste Aufsätze über die Gruppe 63 enthalten, politische Handlung sind, wird da besonders deutlich, wo Eco offen selbst Stellung bezieht und zum Beispiel das Engagement des Pianisten Maurizio Pollini gegen den US-amerikanischen Angriff auf Vietnam unterstützt* oder Justizskandale anprangert wie in Franti strikes again aus dem Jahr 1973 und in der Dokumentation Unter dem Vorwand des Hörigmachens,** die 1969 zunächst in einem gleichnamigen Band mit Beiträgen von Alberto Moravia, Adolfo Gatti, Mario Gozzano, Cesare Musatti und Ginevra Bompiani erschienen war. In ihr analysiert Eco den Fall des ehemaligen Widerstandskämpfers Aldo Braibanti, der nach 1945 kurzzeitig dem Zentralkomitee des PCI angehört hatte, sich dann aber der Malerei und Plastik zuwandte, Filme drehte und Theaterstücke verfasste. Schlimmer noch: Braibanti ist homosexuell. Das wäre an sich nach italienischem Recht nicht straf bar, aber Braibanti hatte die unglückliche Idee gehabt, seine Wohnung mit zwei jungen Männern im Alter von 18 und 19 Jahren zu teilen, und der (konservativ-katholische) Vater eines dieser Jungen hat Anzeige wegen Verführung eines (nach damaliger Rechtsprechung noch) Minderjährigen erstattet. Es hilft nichts, dass dieser Jugendliche in Wahrheit das Elternhaus aus Protest gegen dessen bürgerlichen Mief verlassen hatte und vor Gericht - im Gegensatz zum anderen jungen Mann - jegliche sexuelle Beziehung zu Braibanti abstreitet und erklärt, von diesem allein intellektuell fasziniert gewesen zu sein: Er wird von den Eltern nach Abschluss des Prozesses mit Hilfe ärztlicher Expertisen in ein Irrenhaus gesteckt, während Braibanti - allein auf Grund von vagen Vermutungen und ideologischen Vorurteilen, die Eco minutiös analysiert - erst <?page no="104"?> 86 Journalismus und Kinderbücher zu neun, dann zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wird, ein Urteil, das damals mutige Intellektuelle unterschiedlichster Weltanschauung wie Moravia, Eco oder Elsa Morante auf die Barrikaden brachte. Und tatsächlich waren auch hier jene Mechanismen am Werk, die als faschistoid-bürgerliche Moral den von De Amicis erschaffenen Franti zum gesellschaftlichen Außenseiter gemacht hatten. Vier Jahre später ruft Eco denn auch in Erinnerung, dass er diese Mechanismen bereits ein Jahrzehnt zuvor in seinem Lob Frantis analysiert und verurteilt hatte. Der Anlass ist wiederum von trister Aktualität. Am 12. Dezember 1969 war an der Piazza Fontana in Mailand eine Bombe explodiert und hatte 16 Menschen getötet. Von der bürgerlichen Empörung gegen anarchisch-studentische Aktionen beflügelt, die von den Massenmedien angeheizt wird, gelingt es der Polizei im Handumdrehen, zwei Verdächtige zu verhaften: den anarchistisch engagierten Bahnangestellten Giuseppe Pinelli und den ebenfalls anarchistisch orientierten Tänzer Pietro Valpreda. Während Pinelli unter ungeklärten Umständen bei einem Verhör durch den Kommissar Luigi Calabresi durch einen Fenstersturz ums Leben kommt,* wird Valpreda vor Gericht gestellt und - trotz absoluten Mangels an Beweisen - zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Die italienische Bourgeoisie hat es geschafft, sich einen neuen Franti nach Maß zu schaffen, schreibt Eco: der neue Franti ist spindeldürr und hat einen scheelen Blick […]; er wird zutiefst von einer zersaust-grauhaarigen Mutter und einer weinerlichen Tante geliebt: ein anarchistischer Draufgänger, der zwar nicht mit Schneebällen schmeißt, sondern den Tänzer abgibt, was schlimmer ist. Er kommt ins Gefängnis: Italien ist von ihm befreit, und Cuore hat einmal mehr triumphiert (CC 90). Natürlich hatte Valpreda mit dem Bombenattentat nichts zu tun gehabt. Er wird 1972, in dem Jahr, da Calabresi einem Mordanschlag zum Opfer fällt, entlassen und 1979 definitiv freigesprochen, während Braibanti erst 2006 Wiedergutmachung erfährt: die italienische Regierung unter Romano Prodi entschuldigt sich für das an ihm begangene Unrecht und gewährt ihm finanzielle Entschädigung, was Eco mit Genugtuung erfüllt haben dürfte. Die Genugtuung über Valpredas Freispruch aber kann nicht lange gedauert haben, denn 1988 werden der Mitbegründer von Lotta continua und Mitarbeiter an der gleichnamigen Zeitschrift Adriano Sofri sowie zwei weitere Lotta continua-Mitglieder, Ovidio Bompressi und Giorgio Petrostefani, alle drei denunziert von einem Ex-Mitglied namens Leonardo Marino, angeklagt, für den Mord an Calabresi verantwortlich zu sein. Die Angeklagten leugnen, die Beweislage ist dürftig und konfus, und es bedarf mehrerer Prozes- <?page no="105"?> 87 Wie und warum man Kindern beibringt, dass man Atombomben entschärfen muss se, bevor dann die drei Angeklagten 1997 zu 22 Jahren Haft verurteilt werden, was Proteste auslöst und auch Eco veranlasst, sich in dem 1986 gegründeten, linksliberalen Magazin MicroMega zu Worte zu melden. Zwar lässt er keinen Zweifel daran, dass er sich nicht zur Sache äußern will, weil er dazu nicht genug Informationen besitzt und weil nicht begründete Plädoyers zu Lasten der Angeklagten zu gehen pflegen. Aber er plädiert unter dem Titel Revision im Namen des Common sense: Der Prozess Sofri muß neu aufgerollt werden für eine Wiederaufnahme des Verfahrens, weil der bon sens nahelege, dass die Angeklagten und speziell Sofri bzw. Lotta continua und die Propaganda in ihrem Presse- Organ an einem lebenden und schuldigen Calabresi Interesse gehabt hätten, nicht aber an einem Mordopfer Calabresi: Gewiß kann niemand eine Wahnsinnstat ausschließen, aber bisher hatte ich nicht den Eindruck, daß im Prozeß Sofri eine Geisteskrankheit aufs Tapet gebracht worden wäre […] Sicher gibt es im Leben auch inkohärente Geschichten. Aber der Verdacht auf Inkohärenz scheint mir ein guter Grund, die Geschichte noch einmal neu zu lesen. Denn so, wie sie uns erzählt worden ist, kommt sie mir ziemlich zusammengestoppelt vor (Derrick 46-47). Viele andere Intellektuelle sind derselben Meinung. Darunter Dario Fo und Antonio Tabucchi, der mit Eco in Sachen Adriano Sofri noch einen öffentlichen Disput beginnt, der aber rasch beigelegt wird: Die Bitten um Begnadigung Sofris freilich werden abgelehnt, auch wenn Sofri, der keinen Straferlass erbittet und der seiner journalistischen Tätigkeit auch im Gefängnis weiter nachgeht, seit 2005 in offenem Strafvollzug ist und seit 2006 nur noch unter Hausarrest steht: Mai 68 hat tiefe Spuren in Italien hinterlassen. Auch im Werk von Umberto Eco. Wie und warum man Kindern beibringt, dass man Atombomben entschärfen und Rassismus bekämpfen muss Es ist ein bewegendes Detail, das anzeigt, welche enorme Bedeutung Eco Il costume di casa beimisst: Er, der äußerst selten Auskünfte über sein Privatleben und seine Empfindungen erteilt, vermerkt am Ende des Vorwortes: da diese Texte alle in jenem Jahrzehnt erschienen, in dem meine Eltern verschwunden sind, möchte ich ihnen diese Sammlung als eine Art nicht zu feierliches Totengrundbuch widmen. Die Widmung sei daher: ‚Für meinen Vater, der mir beigebracht hat, nichts zu glauben, und für meine Mutter, die mir beigebracht hat, das auch zu sagen‘ (CC 6). Gefühlsbekundungen dieser Art sind selten bei Eco, der es vorzieht, sie verfremdend Gestalten seiner Erzählungen in den Mund zu legen, und es ist bezeichnend, dass wir eine dieser seltenen Äußerungen in <?page no="106"?> 88 Journalismus und Kinderbücher einem Text finden, der ebenfalls einem Mitglied seiner Familie gewidmet ist: Stefano, im Brief an meinen Sohn.* An der Authentizität der in diesem Brief enthaltenen Erinnerungen an Ecos eigene Kindheit dürfte nicht zu zweifeln sein. Sie war, sagt er (PSL 48-49), fast ausschließlich kriegerisch gewesen: Ich schoß mit selbstgebastelten Blasrohren in die Büsche […] ich führte mit blanker Waffe Attacken und verlor mich in blutigen Schlachten. Zu Hause Bleisoldaten, ganze Armeen, involviert […] in nicht enden wollenden Feldzügen, für die ich noch die Reste der Teddybären und die Puppen der Schwester mobilisierte. Ich gründete Räuber- und Abenteurerbanden, ließ mich von einer Handvoll Getreuer ‚Schrecken der Piazza Genova‘ nennen […]. Ins Monferrat evakuiert, wurde ich zum Eintritt in die ‚Bande des Gäßchens‘ gezwungen und erduldete eine Initiationszeremonie, bestehend aus einhundert Fußtritten in den Hintern plus dreistündiger Gefangenschaft in einem Hühnerstall; wir kämpften gegen die Bande vom Rio Nizza, es waren dreckige und gemeine Kerle, das erste Mal kriegte ich Angst und lief weg, das zweite Mal traf mich ein Stein an der Lippe, ich habe noch heute ein Knötchen innen im Mund […] (Später kam dann der richtige Krieg, die Partisanen ließen uns ein paar Sekunden lang ihre Sten halten, und wir sahen auch ein paar Freunde daliegen mit einem Loch in der Stirn […]). Eco berichtet dies alles seinem Sohn, weil aus dieser Orgie von Kriegsspielen […] ein Mann hervorgegangen ist […], der sich mit allerlei Ruchlosigkeiten befleckt hat, nicht aber mit dem tristen Delikt der Waffenliebe und des Glaubens an den heiligen Wert und die wirkende Kraft des Krieges, kurz: ein Pazifist, der weiß, dass er [s]einen tiefen, systematischen, kultivierten und dokumentierten Widerwillen gegen den Krieg ebenjenen gesunden, unschuldigen, platonisch blutigen Ausschweifungen [s]einer Kindheit verdankt, und der darum seinem Sohn kein pseudo-pazifistisches, nach pädagogischen Kriterien industriell produziertes Spielzeug schenken will, weil durch dieses nur ein falsches Bild von der Welt vermittelt und keine aristotelisch-kathartische Wirkung ausgelöst würde. Stefano, seinem Sohn, werde er daher Gewehre schenken, erklärt Eco, denn durch das Kriegsspiel würde er Wut und Komplexe abreagieren und frei werden für andere Botschaften, die weder Tod noch Zerstörung betreffen. Und damit dies sinnvolle Botschaften seien, würde er ihm verbieten, mit seinen Colts einfach wild in der Gegend herumzuballern, und dafür sorgen, dass über das Spiel mit den Waffen ethische Werte vermittelt würden (PSL 52-53): Vor allem werde ich dich nicht lehren, auf die Indianer zu schießen. Ich werde dir beibringen, auf die Schnaps- und Waffenhändler zu schießen, die den Indianern die Widerstandskräfte zerstören […] Und auf die Sklavenhal- <?page no="107"?> 89 Wie und warum man Kindern beibringt, dass man Atombomben entschärfen muss ter […] Ich werde dir nicht beibringen auf die Kannibalen im Kongo zu schießen, sondern auf die Elfenbeinhändler […] Wir werden auf seiten der Araber gegen Lawrence kämpfen […] und wenn wir Römer spielen, stehen wir auf seiten der Gallier, die ja Kelten waren wie wir Piemontesen, und sauberer als jener Julius Cäsar, den du schon früh mit Mißtrauen zu betrachten lernen solltest […] Oh, das werden herrliche Spiele sein, und denk nur, wir werden sie gemeinsam spielen. Gewiss, das ist Provokation des Lesers durch Umberto Eco. Und zwar vor allem des friedlich-zivilisierten Lesers. Provokation zum Nachdenken. Und Sie, mein Herr, ruft Eco ihm zu (PSL 54-55), der Sie doch sozusagen ein geborener Antifaschist sind, haben Sie je mit Ihrem Sohn Partisanen gespielt? Sich hinters Bett geduckt und gerufen, als wären Sie beim Maquis in den Bergen: ‚Achtung, Schwarzbrigadisten von rechts, voll draufhalten, Feuer frei auf die Nazis! ‘ - Nein, Sie schenken Ihrem Sohn lieber bunte Bauklötzchen […]. Mit anderen Worten: der friedlich-zivilisierte Leser gaukelt seinem Kind mit „pädagogisch korrektem“ Spielzeug eine heile Welt vor und entlässt es damit wehrlos in eine grundsätzlich antagonistisch-feindliche Welt, während der Verfasser des Briefes an seinen Sohn versucht, diesem beizubringen, sich-- misstrauisch und strategisch geschult - kritisch in der Wirklichkeit zu bewegen. Dass es aber auch sinnvoll sein kann, Misstrauen zu überwinden, möchte Eco zusammen mit dem Maler Eugenio Carmi 1966 in I tre cosmonauti* allen Kindern dieser Welt beibringen. In Text und Bild geben sie zunächst einen Abriss der Geschichte der Raumfahrt, um dann zu erzählen, wie drei Kosmonauten, ein Amerikaner, ein Russe und ein Chinese zeitgleich, aber getrennt in eigenen Raketen zum Mars fliegen, wo sie eine wunderschöne, aber beunruhigende Landschaft mit blauen Bäumen und noch nie zuvor gesehenen Vögeln entdecken: Die Kosmonauten […] sahen sich gegenseitig an, und da sie einander mißtrauten, stand jeder auf einem anderen Fleck. Und als die Nacht hereinbricht, fühlen sie sich einsam und verloren, rufen - jeder in seiner Sprache - nach ihren Müttern Mommy, Mama, Ma-ma, und begreifen, daß sie das gleiche sagten und die gleichen Gefühle empfanden. Sie lächelten einander an […] zündeten gemeinsam ein helles Feuer an, und jeder sang die Lieder seines Landes. Und das Zusammengehörigkeitsgefühl wird noch größer, als ein Marsmensch auf sie zukommt, der wirklich furchtbar anzusehen war: Sein Körper war grün, und er hatte zwei Antennen anstelle der Ohren, einen Rüssel und sechs Arme […] Er war einfach zu häßlich, und die Menschen dachten, wer häßlich sei, sei auch böse. Also beschlossen sie, ihn zu töten. Doch bevor sie <?page no="108"?> 90 Journalismus und Kinderbücher diesen Plan ausführen können, fällt in der eisigen Kälte des Morgens ein Marsvögelchen, das vor Kälte und Furcht zitterte, auf den Boden und bringt mit seinem verzweifelten Piepsen die drei Kosmonauten zum Weinen. Auch der Marsmensch weint, wenngleich bei ihm nicht Tränen aus den Augen, sondern Rauch aus dem Rüssel kommt. Er hebt das Vögelchen auf und versucht, es zu wärmen, worauf der Chinese die anderen beiden Kosmonauten fragt, ob man den Marsmenschen wirklich noch töten wolle: Aber davon konnte keine Rede mehr sein. / Die Menschen hatten inzwischen verstanden: / Zwei Geschöpfe, die verschieden sind, / müssen deshalb noch lange keine Feinde sein. / Sie gingen zu dem Marsmenschen hin und gaben ihm die Hand. / Und weil er sechs Hände hatte, / konnte er ihnen allen dreien gleichzeitig die Hand schütteln / und hatte noch drei Hände frei, um ihnen zuzuwinken. Im selben Jahr 1966 veröffentlichen Carmi und Eco noch La bomba e il generale,* ein Kindermärchen, das ganz klassisch, aber auch sehr verfremdend komisch beginnt: Es war einmal ein Atom. Und es war einmal / ein General mit einer Uniform / voller glitzernder Orden. Und darauf folgt eine kind- und erwachsenengerechte Erläuterung dessen, was Atome sind, dass diese Voraussetzung für das Leben überhaupt seien, dass jeder Mensch aus Atomen bestehe, auch die Mütter, und dass das Leben auf dem harmonischen Miteinander der Atome beruhe. Furchtbar hingegen sei es, wenn sich Atome spalteten und alles explodieren ließen, denn dann müssten alle sterben, weswegen das eingangs genannte Atom so traurig sei, habe man es doch gegen seinen Willen zwecks späterer Spaltung und Explosion mit anderen Atomen in eine Bombe gesteckt. Und über diese und viele andere Atombomben verfügt ein General, der sie zum Krieg einsetzen will, um seine Macht zu vergrößern: Die in der Atombombe eingeschlossenen Atome / waren sehr traurig […] Also beschlossen sie, / gegen den General zu rebellieren. Und eines Nachts / verließen sie mucksmäuschenstill / die Bomben / und versteckten sich im Keller. Als nun der General seinen finsteren Plan verwirklichen will und die Menschen rund um den Globus vor lauter Angst fast wahnsinnig werden lässt, da waren die Bomben leer, und als sie herunterfielen, explodierten sie nicht. Da entdeckten die Menschen, daß das Leben ohne Bomben schöner war: Also beschlossen sie, / keine Kriege mehr zu führen. / Die Mütter waren froh darüber, / aber auch die Väter. / Ja, eigentlich alle. / Und der General? Jetzt, da es keine Kriege mehr gab, / wurde er entlassen. / Um seine Uniform mit den vielen Orden / noch verwenden zu können, / wurde er Portier in einem Hotel. Dort kann er noch vor Zorn und Scham rot anlaufen. Mehr aber nicht: Denn jetzt hatte er nichts mehr zu sagen. <?page no="109"?> Zwischen Philosophie und Belletristik oder Mut zur Vernunft in blutiger Zeit Abkehr vom Strukturalismus - Enzyklopädie oder für eine semiotische Philosophie - Erfolg des Wissenschaftlers und Triumph des Erzählers - Auf dem Weg in ein neues Mittelalter - Wunschbefriedigung in bleierner Zeit - Die Tragödie von Bologna Abkehr vom Strukturalismus Als die Gruppe 63 auseinanderbricht, ist Eco Mitte dreißig und ein in Italien bekannter und geschätzter Verlagslektor, politisch-engagierter Kommentator von Sitten und Gebräuchen in Tageszeitungen und Magazinen, Medienkritiker, Mitbegründer der bekanntesten literarischen Neoavantgarde-Bewegung und - in diesem Kontext - Verfasser von Comics, Parodien, Pastiches und Satiren, aber auch von Kinderbüchern, Literaturkritiker und -theoretiker. Es ist also klar, daß er - spätestens seit Opera aperta - seiner Bejahung experimenteller Kunst umso mehr Gewicht verleihen kann, als seine Argumente mit enormem historischen Wissen begründet werden, wie die Auswahl seiner ästhetisch-philosophischen, musik-, kunst- und literaturtheoretischen Essays zeigt, die von 1955 bis 1964 erschienen waren und die er im Krisenjahr-68 unter dem Titel Die Definition der Kunst veröffentlicht. Sie kreisen um die Frage, ob man die (von Adorno bis Sedlmayr inspirierten) zeitgenössischen Aussagen zum Tod der Kunst fatalistisch zu akzeptieren habe oder ob man sie nicht doch als apokalyptisch-resignative Haltung zum unaufhebbaren Prozess des Absterbens und Neuentstehens ästhetischer Formen historisch relativieren müsse, und sie münden in ein grundsätzliches Bekenntnis sowohl zur Akzeptierung experimentaler Formen als auch zur Transformation und Reaktivierung traditioneller Kunst- und Erzählformen, das durchaus Ecos eigenen großen literarischen Experimenten präludiert.* Kann da noch Zeit für Wissenschaft bleiben? Sie bleibt, was umso erstaunlicher ist, als sich Eco mit der religiösen auch in einer wissenschaftlich-philosophischen Krise befindet. Aber wie immer versteht er, sie fruchtbar werden zu lassen. Erinnern wir uns: Zu Beginn der fünfziger Jahre beginnt Eco seine Auseinandersetzung mit Thomas von Aquin in der idealistischen Gewissheit, durch subjektives Sich- <?page no="110"?> 92 Zwischen Philosophie und Belletristik Versenken in ihre Texte einen überzeitlich-unmittelbaren, auf Kongenialität gründenden Dialog mit den Autoren der Vergangenheit und eben auch Thomas von Aquin beginnen zu können. Doch dann die Erkenntnis: Zum adäquaten Verstehen künstlerischer, literarischer, aber auch philosophischer Werke der Vergangenheit bedarf es der Bewusstwerdung ihres Andersseins über die historische Distanzierung, denn nur wenn „das Andere“ in seiner grundsätzlichen Alterität respektiert wird, kann es wieder lebendig und aktuell werden, wie Eco 1961 in einem Essay über den Neuthomisten Jacques Maritain vermerkt. Eco begibt sich also auf die Suche nach Kriterien für solch einen geschichtlich-hermeneutischen Umgang mit den Werken der Vergangenheit, in dem - laut Eco - zunächst die Alterität des Objektes in einer authentischen historiographischen Dimension erkannt werden müsse, bevor man sich ihm zwecks Interpretation zu nähern habe. In dieser Perspektive sind Maritains Arbeiten Eco zufolge geradezu exemplarisch für einen verfälschenden Umgang mit den Werken der Vergangenheit und speziell denen Thomas von Aquins, projiziere Maritain doch die von ihm für richtig und als ewig gültig erachteten Ästhetik- Konzepte - konkret: die ästhetischen Überzeugungen der Romantik und des Symbolismus - per pseudo-rationalem Analogieschluss in die mittelalterliche Begrifflichkeit, die in Wahrheit von ganz anderen philosophischen und ästhetischen Kriterien bestimmt gewesen sei. Kurz: Maritains Ausführungen zur mittelalterlichen Ästhetik gehen von falschen historischen Prämissen aus, was freilich - angesichts der Qualität seiner (laut Eco) streckenweise durchaus faszinierenden Ausführungen - auch Fragen hinsichtlich der Mechanismen aufwirft, die in Maritains prätendiert „kongenialer“ Interpretation mittelalterlicher Texte am Werke waren.* Um derartigen ahistorischen Kurzschlüssen auszuweichen, sucht Eco, der von da an den Rekurs auf das Kongenialitäts-Rezept grundsätzlich ad acta legen wird, nach anderen methodologischen Verfahren, die zwischen Erforschung der realen Geschichte der jeweiligen Gesellschaft und historisch-korrekter Interpretation des von ihr produzierten geistig-kulturellen Überbaus vermitteln können bzw. gestatten, literarische Texte und künstlerische Produktion bei gleichzeitiger Respektierung ihrer geschichtlichen Alterität korrekt zu verstehen und damit aktuell werden zu lassen. Das führt ihn logischerweise sowohl zur positivistischen kultursoziologischen Forschung seit Taine oder De Sanctis als auch zum historisch-dialektischen Materialismus von Marx und Engels bis zu Lukács, Gramsci, Benjamin, der Frankfurter Schule und Arnold Hauser. Dass sich bei dem skizzierten Erkenntnis- <?page no="111"?> 93 Abkehr vom Strukturalismus anspruch die Suche nach dem Sinn von (literarischen und philosophischen) Texten bzw. von Kunstwerken unter der Hand in eine Suche nach dem Sinn der Welt insgesamt verwandelt bzw. die Interpretation des Textes oder Kunstwerks nur ein Teil der Gesamtinterpretation des gesellschaftlich-geschichtlichen Seins sein kann, ist ebenso evident wie die Tatsache, dass Eco alle philosophischen Betrachtungen zur Frage der spezifischen Formung von Text und Kunstwerk auf ihre methodologische Brauchbarkeit für seinen „totalitären“ Erkenntnis- und Interpretationsanspruch abklopft: von Kant, Hegel und Goethe zur Gestalttheorie oder zur Phänomenologie und vor allem zum russischen und zum Prager Formalismus um Roman Jakobson. Ausgehend von der Sprachwissenschaft und speziell der Linguistik-Konzeption Ferdinand de Saussures, der bereits 1916 in seiner Vorlesung über allgemeine Sprachwissenschaft die Begründung einer von ihm (nach griechisch sem = kleinste Einheit eines sprachlichen Zeichens) Semiologie getauften Wissenschaft gefordert hatte, „die das Leben der Zeichen im Inneren des gesellschaftlichen Lebens“ zu erforschen habe und deren Gesetzmäßigkeiten auch für die Linguistik gelten müssten, die „nur ein Teil dieser [noch ] nicht existierenden allgemeinen Wissenschaft“ sein könne,* hatte Jakobson die Grundlagen für eine Wissenschaft von den Zeichen und damit der Kommunikation ausgearbeitet, deren Arbeitskonzept zunächst die Analyse sprachlicher, narrativer, kultureller Strukturen war und die in kürzester Zeit unter dem Namen „Strukturalismus“ (vor allem in ihrer Hochburg Paris) alle Bereiche der Geistes- und Sozialwissenschaften von der Anthropologie über die Linguistik zur Philosophie eroberte, wie u. a. die Arbeiten von Barthes, Greimas, Merleau-Ponty und Lévi-Strauss ausweisen. Eco muss umso faszinierter sein, als sich diese strukturalistische Semiologie, deren Systematik Barthes 1965 in den Eléments de sémiologie zu definieren sucht, offenbar auf jede Art kultureller Produktion anwenden lässt, wie Barthes selbst in einer Fülle brillanter Essays über hohe und triviale Literatur, Theater, Film und Kino, Photographie, Spielzeug, Essgewohnheiten, Architektur, Autobau, Music-Hall, Reklame, Urbanistik oder Striptease deutlich macht. Doch - vielleicht auch durch Thomas von Aquin, bestimmt aber durch Aristoteles - an Stringenz der Denksysteme gewöhnt, die er durch dialektisches Befragen unentwegt auf Widerspruchsfreiheit prüft, muss Eco bei den Versuchen, seinen eigenen Annäherungen an das kulturelle Artefakt eine methodisch-widerspruchfreie Basis zu geben,** feststellen, dass hinsichtlich des offenkundig so effizienten „Strukturalismus“ theoretisch gesehen das reinste Chaos herrscht. Eco hat alles gelesen und <?page no="112"?> 94 Zwischen Philosophie und Belletristik gegeneinander abgewogen, als er 1968 in La struttura assente (Die fehlende Struktur*) die Bilanz des „Strukturalismus“ präsentiert, wobei er fairerweise davon ausgeht, dass es im Strukturalismus zumindest einen minimalen Konsens darüber geben müsse, was eine „Struktur“ bzw. ein gewisses System organischer Strukturen ist, ‚où tout se tient‘.** Wenn dem aber so sei, müsse festgestellt werden, dass diese strukturalistische Gegebenheit nichts wirklich Neues sei, sondern (LSA 254-255) die gesamte Geschichte der Philosophie bestimme, zumindest seit dem aristotelischen Substanz-Konzept (und in der Poetik, seit dem Konzept des dramatischen Organismus als ‚großem Tier‘), und zwar von den verschiedenen Formen biologistischer Organismen sowie, selbstverständlich, auch von den verschiedenen mittelalterlichen Theorien der Form bis hin zu den philosophischen Organismus-Konzepten der Aufklärung: Kurz, man könnte […] sagen, dass die Vorstellung von einem strukturierten Ensemble im philosophischen Denken aller Jahrhunderte anzutreffen ist… Entscheidender sei daher, zu wissen, was man unter diesem strukturierten Ensemble zu verstehen habe (LSA 257): ist die Struktur ein Objekt, weil dieses strukturiert ist, fragt er, oder ist sie das Ensemble der Beziehungen, die das Objekt strukturieren, die aber von diesem Objekt getrennt betrachtet bzw. als abstraktes Konzept betrachtet werden können? Nach Aristoteles, bei dem sich laut Eco drei Begriffe fänden, mit denen man Form definieren könne, morfé (Gestalt, Erscheinung), eidos (Begriff, Vorstellung, Idee) und ousia (Dasein, Wirklichkeit), sei eidos zwar das, was man als Idee bezeichnen könne, diese Idee freilich sei (im Gegensatz zu Platons Vorstellungen) nicht außerhalb oder unabhängig von dem konkreten Objekt anzutreffen, sondern realisiere sich in der ousia: in seiner Formung, in seiner materiellen Existenz: Sie existiert mit und in der Substanz: es ist die intelligible Struktur einer Substanz. Diese Vorstellung der Idee im Geformten ließe sich dann natürlich auch in einem weiteren Schritt als formales Modell betrachten, nie aber habe dieses (geformt-existente) Modell bei Aristoteles die Funktion einer dem Geformt-Existierenden vorausgehenden abstrakten Seinsqualität oder ontologischen Struktur. Auf diesem Hintergrund stellt Eco - ohne jede Polemik - die Struktur-Konzepte der verschiedenen modernen Strukturalismen von Saussure bis Lévi-Strauss, von Barthes bis Jean Piaget und Lucien Goldmann, von Cesare Segre bis Giulio Carlo Argan, von Jakobson bis Propp, von Genette bis Derrida, Lacan, Foucault (usw.) einander gegenüber, und muss feststellen, dass die eine Strukturalismus-Konzeption der anderen widerspricht. Eco plädiert daher - ganz aristotelisch-- für <?page no="113"?> 95 Abkehr vom Strukturalismus eine Struktur-Konzeption als (stets vorläufiger) Definition von funktionalen Zusammenhängen im realen Objekt (oder als Modell) und lehnt das Jonglieren mit ontologischen Strukturkonzeptionen, die in verschiedensten Strukturalismus-Richtungen (wie z. B. bei Lévi- Strauss) die Oberhand gewonnen haben und die sich in letzter Konsequenz grundsätzlich in nichts von den Konzept-Thesen Maritains unterscheiden, als Spekulationen über eine ontologische Struktur ab, die es in Wahrheit gar nicht gäbe und die er deshalb struttura assente nennt. Das Skelett zum Beispiel sei eine Struktur des menschlichen Körpers, die man in diesem erkannt und als abstrakte Vorstellung von ihm abgeleitet habe, aber der menschliche Körper sei nicht die Verwirklichung der abstrakten (ontologischen) Struktur-Vorstellung vom Skelett, und er entspräche auch nicht nur dieser einen Struktur, sondern er sei ein unendliches Ensemble verschiedenster Strukturen, die voneinander abhingen und sich wechselseitig bedingten, ganz davon abgesehen, dass der Mensch ununterbrochen neue Dimensionen des menschlichen Körpers und damit neue strukturelle Beziehungen entdecke (LSA 48): Die Struktur ist ein Modus, den ich erarbeite, um auf homogene Weise verschiedene Dinge zu benennen. Kurz: so sinnvoll die Verwendung des Begriffs „Struktur“ als von der Realität abgeleitete, heuristische Kategorie und der Umgang mit ihr „als jeweils vorläufiges operationales Verfahren“ oder „Modus“ sein könne, so unsinnig sei der Begriff, wolle man mit ihm „das Wesen“ eines Gegenstandes und schon gar eines Artefaktes definieren. Natürlich sei denkbar, alle Kriminalromane auf dieselben Erzählstrategien abzufragen, aus dem derart aufgestellten Inventar aber Wesensbestimmungen für den Kriminalroman abzuleiten, erweise seine Unsinnigkeit bereits, wenn man sich fragen würde, wie denn der Verfasser des ersten Kriminalromans habe wissen können, welcher ontologisch-abtrakten Struktur sein Text zu entsprechen habe, ganz abgesehen davon, dass dieses Inventar alle Innovationen und damit Abweichungen von dieser vermeintlich ontologischen Struktur als unwesentlich rubrizieren müsse. Ein solches Verfahren ließe sich allenfalls für industrielle Massenware und bestimmte Textsorten wie zum Beispiel Comics in Betracht ziehen, aber alles individuell Wichtige ginge in dieser Betrachtungsweise verloren. Anders gesagt: Strukturalismus-Konzepte, die von der Annahme ontologischer Strukturen ausgingen, seien so problematisch wie die aprioristischen Thesen der Scholastik oder der Neuthomisten à la Maritain. Viele Probleme des modernen Strukturalismus könnten, wenn schon nicht behoben, so doch erhellt oder sogar vermieden werden, wenn man ihre Ursprünge in den beispielhaften Modellen des scholastischen <?page no="114"?> 96 Zwischen Philosophie und Belletristik Denkens erkennen würde, erklärt Eco 1970 in der Schlussbetrachtung zur Neuausgabe seiner Dissertation über das Problem der Ästhetik bei Thomas von Aquin (PE 262), mit der er auch einen Schlussstrich unter seine Annäherung an bestimmte Formen des Strukturalismus ziehen sollte. Enzyklopädie oder für eine semiotische Philosophie Auch La struttura assente stößt auf größtes Interesse. Namhafte italienische Linguisten und Semiotiker, aber auch Dichter, Schriftsteller, Kunst- und Literaturkritiker besprechen sie unter zum Teil bezeichnenden Titeln: Alberto Arbasino (Dem strukturalistischen Chaos Einhalt gebieten); Renato Barilli; Maria Corti; Ermanno Migliorini (Unter der Last der Totalität); Bernard Pingaud, Tullio De Mauro oder Cesare Segre, der mit dem Titel Eine fünfte Kolonne im ‚System‘ adäquat zum Ausdruck bringt, was manche Strukturalisten damals empfinden mussten. Eco war damit aber noch längst nicht am Ende seines methodologischen Kreuzzugs angelangt. 1971 legt er - in Vertiefung vorhergehender Schriften wie Form als Engagement - einen neuen Traktat zur Semiologie vor, die er seit der Gründung der International Association for Semiotic Studies im Jahr 1969 nur noch Semiotik nennen wird*: Die Formen des Inhalts.** In ihm fügt er der Abkehr vom „ontologischen“ Strukturalismus noch die Abkehr von der linguistisch orientierten Zeichenkonzeption hinzu, die damals in der Semiotik vorherrschte (und die noch Jahrzehnte später als einzig existente - oder doch als wichtigste - von deutscher Lexikographie angegeben wird): „Zeichen […]: etwas, was für etwas anderes steht. Ein materieller Gegenstand oder Vorgang, das Bezeichnende (Signifikant), steht für eine nicht materiell erscheinende Bedeutung, das Bezeichnete (Signifikat). Die Zuordnung zwischen beiden ist arbiträr […], d. h. von Kommunikationspartnern frei vereinbart u[nd] nicht von der Natur des Bezeichneten vorgeschrieben. Ein Zeichen muss sich nicht auf real Existierendes beziehen. Die reichsten Zeichensysteme sind die natürl[ichen] Sprachen mit den Lauten als Signifikanten u[nd] den Bedeutungen als Signifikaten.“ Eco, der zwar selbst dafür plädiert, ‚alles‘ Zeichen zu nennen, was aufgrund einer vorher festgelegten sozialen Konvention als etwas aufgefaßt werden kann, ‚das für etwas anderes steht‘ (S 38), erkennt jedoch zu Recht, dass diese saussurianische Zeichen-Konzeption mit ihrem tendenziell statischen Dualismus Signifikant-Signifikat und ihrer grundsätzlichen Verankerung im Repertoire der lexikalisch de- <?page no="115"?> 97 Enzyklopädie oder für eine semiotische Philosophie terminierten (bzw. von den Codes strukturierten) sprachlichen „Bedeutungen“ (kurz: in den Wörterbüchern) Saussures eigenem Traum von einer Semiologie, die - über die Linguistik hinausgehend - „das Leben“ aller (und damit auch aller nichtsprachlichen) „Zeichen im Inneren des gesellschaftlichen Lebens“ erfassen sollte, im Wege steht: Gibt es vielleicht nicht die ‚Zoosemiotik‘, welche die Übermittlung von Informationen bei den Tieren untersucht, wobei es schwierig wäre, von Übertragung von ‚Signifikaten‘ zu sprechen? , fragt Eco: Untersucht etwa die Semiotik nicht die musikalische Notierung und die Musik im allgemeinen, die aber gerade das Beispiel für eine Rede ohne semantische Dichte […] ist und wo man folglich erst bestimmen muß, was man unter ‚Zeichen‘ verstehen soll? * Doch nicht nur, dass sich in diesen Zeichenbereichen der Rückgriff auf die Semantik oder das Wörterbuch von selbst ad absurdum führen würde. Die Kommunikationskonzeption, die dem linguistischen Zeichenbegriff zugrunde liegt, arbeitet mit hypothetischen Annahmen, die der Wirklichkeit von Kommunikation nicht entsprechen, ist doch durchaus nicht anzunehmen, dass B, der von A eine Botschaft mittels eines Zeichens erhält, dieses automatisch dem richtigen Signifikat zuordnet, und zwar umso weniger, als Kommunikationsvorgänge sich normalerweise nicht auf einen Signifikanten für ein Signifikat beschränken und genauso wenig mit singulärer Emission und ebenso singulärer Rezeption abgeschlossen, sondern auf Grund ihrer (kontextuell unterschiedlichen) Komplexität für tendenziell unendlich viele Deutungen offen und damit grundsätzlich unabschließbar sind. Kurz: die Zeichen sind vieldeutig und vieldeutbar, und der Empfänger eines Zeichens muss dieses gemäß zeitlich-räumlich-ideologischkulturellem Kontext seiner Empfangsdisposition zuordnen bzw. interpretieren, was über die mehr oder weniger punktuell-statische Konsultation eines Wörterbuchs hinauszugehen und in einem Interpretations- und Denkprozess zu erfolgen pflegt, der von dem (bzw. den) Zeichen ausgelöst und getragen wird und den die Semiotik heute als Semiose bezeichnet. In dieser Hinsicht erweise sich Peirces Zeichen- und Semiotik-Konzept im Vergleich mit dem de Saussures als umfassender und […] fruchtbarer, schreibt Eco 1971 und zitiert Peirce: „Ich bin […] ein Pionier […] bei dem Unternehmen, das, was ich Semiotik nenne, d. h. die Lehre von der wesenhaften Natur und den fundamentalen Verschiedenartigkeiten möglicher Semiose, zu klären und zu erschließen […] Mit ‚Semiose‘ […] meine ich […] eine Aktion oder einen Einfluß der aus einer Kooperation dreier Objekte besteht oder diese einschließt, wie z. B. ein Zeichen, sein Objekt und sein Interpre- <?page no="116"?> 98 Zwischen Philosophie und Belletristik tant, wobei dieser tri-relative Einfluß auf keinerlei Weise in Aktionen zwischen je zwei Objekten aufgelöst werden kann“ (S 37). Das Zeichen in diesem triadischen Konzept, das von Peirce auch Repräsentamen genannt wird, entspricht dem Signifikanten in Saussures dyadischem Konzept (also dem Zeichen, das ich gebe), das einen Gegenstand hat (das Objekt der Vorstellung = den Inhalt = die Idee), der wiederum auf der Rezipientenseite auf den „Interpretanten“ stößt, den Eco als eine weitere Vorstellung identifiziert, die sich auf denselben ‚Gegenstand‘ bezieht: ich sage „Haus“ (ein sprachliches Zeichen), der Inhalt meines Zeichens (das Objekt) ist „Haus“, der Rezipient hört oder liest „Haus“, ein Zeichen, das er seinen Vorstellungen von „Haus“ assoziiert, und da er nicht sicher ist, das seine und meine „Haus“-Konzeptionen übereinstimmen, wird er andere Zeichen mobilisieren, um meiner „Haus“-Vorstellung näher zu kommen bzw. diese „richtig“ zu verstehen oder zu interpretieren: Anders ausgedrückt, heißt es bei Eco, um festzulegen, was der Interpretant eines Zeichens ist, muß man ihn durch ein anderes Zeichen benennen, dessen Interpretant wiederum durch ein weiteres Zeichen benannt wird und so weiter. An diesem Punkt beginnt ein Prozeß unbegrenzter Semiose, der, so paradox das auch sein mag, den einzigen Garanten für die Begründung eines semiotischen Systems darstellt, das fähig ist, sich allein durch eigene Mittel zu kontrollieren (S 102). Das mag sich kompliziert anhören, ist aber im Prinzip einfach und logisch und entspricht der von Peirce begründeten Philosophie des Pragmatismus, die - für das soziale Leben sowie für die Human- und Sozialwissenschaften (in Abgrenzung von den Naturwissenschaften) - auf abstrakt-absolute Wahrheiten verzichtet: „Wahrheit wird [vom Pragmatismus] als Verifikation […] verstanden: sie geschieht durch Handlungen. Sind die Handlungen lebensfördernd, von prak[tischer] Bedeutung, zu neuen Ergebnissen führend, so sind die Ausgangsvorstellungen u[nd] -gedanken wahr.“ Wahrheitsfindung oder genauer das Herausfinden des Richtigen für das menschliche Leben auf dieser Erde geschieht also im kollektiven Zusammenwirken und damit logischerweise auch im kollektiven Gedankenaustausch oder Kommunikationsprozess, dessen Semiose zwar von der Art, Zahl und Konfiguration der Zeichen bestimmt ist, was ihr aber nichts von der Unendlichkeit nimmt, da ihr Gegenstand die „Totalität“ dieser Welt ist. Darum kann grundsätzlich auch der am besten diese Totalität interpretieren, dem die meisten und besten, von Codes und semantischen Feldern gespeisten „Repräsentamen“ zur Verfügung stehen, denn wer viel weiß, kann auch viel Wissen für Kommunikation, Interpretation und Verstehen mobilisieren. Das wie- <?page no="117"?> 99 Enzyklopädie oder für eine semiotische Philosophie derum ändert aber nichts daran, dass auch die beste Erkenntnis oder kohärenteste Schlussfolgerung, die aus solch einer Semiose resultiert, im Gegensatz zu naturwissenschaftlicher Erkenntis mit ihren Deduktionen nie etwas anderes sein kann als eine vorläufige Schlussfolgerung, die Peirce- - zwecks Abgrenzung von der Deduktion - Abduktion nennt. Natürlich ist Wissen immer relativ, und wichtiger als seine Quantität ist die Fähigkeit, es sinnvoll einzusetzen, was sich - wäre der Referenzbezug das Wörterbuch - durchaus in der begrifflichen Kombinatorik und der damit ermöglichten Zeichenbzw. Weltinterpretation auswirken würde. Das heißt, dass sich Volumen und Pertinenz der Zeichen- und Weltinterpretation erhöhen würden, wenn sich mit den Wörterbuch-Eintragungen systematisches Wissen verbände, weswegen Eco bereits Anfang der siebziger Jahre beginnt, für einen Ersatz (bzw. eine Ergänzung) der (symbolischen) Wörterbuch-Referenz in der Semiotik durch eine Enzyklopädie-Referenz zu plädieren. Das ist umso plausibler, als jedes menschliche Wesen - von pathologischen Sonderfällen abgesehen - über derart enzyklopädisches Wissen verfügt, und sei es auch nur rudimentär. Damit ist aber auch klar, dass es sich nicht etwa um ein Plädoyer für die Aktivierung vermeintlich kohärenten oder wissenschaftlich-systematischen Denkens handelt, wie Eco 1984 in seinem Buch Semiotik und Philosophie der Sprache darlegt, in dem er Konzeptionen des universalen Wissens als kohärente Systeme von Porphyrios’ Baumgleichnis bis zu D’Alembert-Diderots Idee vom „arbre encyclopédique“ (bzw. vom „système figuré des connoissances humaines“) als utopisch einstuft und der pflanzlichen Metapher des Rhizoms als einem Gewirr von Knollen und Knoten zustimmt, die Deleuze-Guattari in die Diskussion eingebracht hatten. Eco übernimmt die labyrinthische Rhizom-Metaphorik für die Enzyklopädie-Referenz in seiner Semiotik, weil sie der alphabetisch-willkürlichen Strukturierung des Wissens in Enzyklopädien, die diese mit den inhaltsarmen Wörterbüchern teilen, ebenso gerecht wird wie dem jeweils anderen fragmentarischen Wissen der Individuen. Kurz, es ist realistischer, die Dekodierungskompetenz der Individuen und damit ihre (fragmentarische) Semiose- und Kommunikationskompetenz auf die labyrinthische Enzyklopädie-Metapher zu beziehen, statt auf die des Wörterbuchs: Wenn ein Wörterbuch eine verkleidete Enzyklopädie ist, dann gibt es nur eine einzige mögliche Darstellung des Inhalts einer gegebenen lexikalischen Einheit, nämlich die enzyklopädische, erläutert Eco: Wenn die sogenannten Universalia oder metatheoretischen Konstrukte, die als semantische Merkmale innerhalb einer wörter- <?page no="118"?> 100 Zwischen Philosophie und Belletristik buchartigen Darstellung fungieren, bloße sprachliche Etiketten sind, die synthetischere Eigenschaften abdecken, setzt eine enzyklopädieartige Darstellung voraus, daß die Repräsentation des Inhalts nur mit Hilfe von Interpretanten stattfindet, in einem Prozeß der unbegrenzten Semiose. Zu Beginn der fünfziger Jahre zum überzeitlich-kongenialen Dialog mit dem Heiligen Thomas aufgebrochen, hatte Eco entdeckt, dass er geschichtliche Distanz zu Thomas von Aquin auf bauen musste, um dessen Texte verstehen und interpretieren zu können, was erhebliche methodologische Aufarbeitung notwendig machte. Mit seinem Entwurf einer Semiotik, die alle sprachlichen und nicht sprachlichen Zeichen umfasst, die diese Zeichen als geschichtlichen Prozess von Bedeutungsschöpfung und Weltgestaltung auffasst, als Semiose, und die endlich den Rückgriff auf enzyklopädisches Wissen zur größtmöglichen Welterkenntnis im Ganzen und im Detail zur Voraussetzung macht, hat Eco sich nun nicht nur ein form-analytisches Instrumentarium zur Erforschung der (künstlerischen) Kommunikation in ihrer geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung geschaffen, sondern ganz allgemein ein Instrumentarium für die philosophische Erkenntnis der Welt, die notwendigerweise alle von ihm für entscheidend erachteten methodologischen Schritte impliziert, ohne dass es nötig wäre, diesen jeweils ein entsprechendes Etikett aufzukleben. Denn wie Eco in Vertiefung Peircescher Gedanken 1971 schreibt, wenn man die Regeln der Zeichen sucht, dann versucht man nichts anderes, als die sogenannten ‚geistigen‘ Phänomene nach sozio-kulturellen Kategorien zu erklären. Wenn er also - wie bereits 1934 vom Prager Strukturalisten Jan Mukařovskỳ (allerdings noch ohne ausreichendes philosophischmethodologisches Konzept) gefordert - Kunst als semiologisches Faktum betrachtet und zu diesem Zweck gemäß seiner eigenen methodologischen Prämissen die partikulare Gestalt eines Kunstwerkes definieren (oder interpretieren) will, muss er notgedrungen enzyklopädische Semiose und damit (zum Beispiel und ohne dies besonders auszuweisen) auch historisch-materialistische Kultursoziologie betreiben, wie er es bei Marx, Gramsci und Hauser gelernt hat. Seine Semiotik-Konzeption setzt dies voraus: im Namen aristotelischer Vernunft. Denn was Eco mit seiner Semiotik ausgearbeitet hat, ist ein undogmatisch historisch-materialistisches Konzept des philosophischen Nachdenkens über die sich entwickelnde Welt in ihrer geschichtlichen Realität.* <?page no="119"?> 101 Erfolg des Wissenschaftlers und Triumph des Erzählers Erfolg des Wissenschaftlers und Triumph des Erzählers Mit La struttura assente, Le forme del contenuto, Zeichen und A Theory of Semiotics von 1976 ist Eco definitiv zu einer internationalen Autorität in der Zeichenwissenschaft geworden. Selbst in Deutschland, wo sowohl der Mediävist Eco (dessen Dissertation über Thomas von Aquin nie, Kunst und Schönheit im Mittelalter erst 1991 übersetzt wurde) als auch der Schriftsteller und Journalist unbekannt geblieben waren (das Offene Kunstwerk erschien erst 1973 und wurde nicht der Neoavantgarde, sondern der Strukturalismus-Debatte zugerechnet), begann man nun Eco zu entdecken. Als Spezialist für Semiotik, die nach Ecos Bestandsaufnahme 1972 folgende Forschungsgebiete umfasste: Zoosemiotik; Kommunikation per Geruch oder Berühren; Geschmackscodes […]; Paralinguistik; Stimmtypen; Parasprache; Medizinische Semiotik; „Gestensprache“; Musikalische Codes; Formalisierte Sprachen […]; Geschriebene Sprachen, unbekannte Alphabete, Geheimcodes; Natürliche Sprachen; Visuelle Kommunikationen (von den „Phänomenen in den Massenmedien […], der Reklame bis zu den Comic Strips; den Systemen des Papiergeldes, den Spielkarten […] und allen Spielen […] bis hin zur visuellen Erforschung des architektonischen Projekts […], der choreographischen Notierung und der geographischen und topographischen Karten“); Systeme von Objekten; Strukturen der Intrige (mit ihrer „Untersuchung primitiver Mythologien“ und „von Spielen und volkstümlichen Erzählungen […] bis zum Kriminal- […] und zum Trivialroman“); Kulturelle Codes („Verhaltens- und Wertesysteme“); Ästhetische Codes und Botschaften; Massenkommunikationen sowie die Rhetorik „Von Aristoteles bis Quintilian, von den Theoretikern des Mittelalters bis zu [Chaïm] Perelman [1912-1984].“* Klar, dass das Spektrum dieser Forschungsgebiete konservative Geisteswissenschaftler abschrecken muss, und zwar umso mehr, als Eco auch noch schriftstellerisch tätig ist. Dante, wird er 1979 ironisch über die Berufungspraxis an italienischen Universitäten notieren, würde keinen Lehrstuhl erhalten, weil seine Arbeiten zwar interessant und brillant, aber doch ein Mischmasch von wissenschaftlicher Abhandlung und literarischer Produktion seien. So gewiss Eco dabei an sich selbst gedacht haben dürfte, so gewiss dürfte dies erklären, warum seine akademische Karriere in Italien zunächst dem internationalen Erfolg hinterherhinkt. Schon 1969 jedenfalls gehört er in Paris zusammen mit Barthes, Emile Benveniste, Greimas, Jakobson, Julia Kristeva, Jurij Lotman, Thomas A. Sebeok und anderen zu den Gründungsmitgliedern der International Association for Semiotic Studies, deren Gene- <?page no="120"?> 102 Zwischen Philosophie und Belletristik ralsekretär er 1972 wird. Ebenfalls 1969 erhält er eine Gastprofessur an der New York Unversity. 1970 unterrichtet er in Argentinien, doch erst 1971 erhält er eine Dozentur als außerplanmäßiger Professor für Semiotik am DAMS, dem neu eingerichteten, bald darauf aber - nicht zuletzt dank Eco - weltberühmten Fachbereich D[iscipline delle] A[rti, della] M[usica e dello] S[pettacolo]* an der Universität Bologna. Im selben Jahr gründet Eco die Fachzeitschrift Versus, an der alle, die in der Semiotik Rang und Namen haben, mitarbeiten werden, und nachdem er in Mailand 1974 den ersten Internationalen Kongress für Semiotik auf italienischem Boden organisiert hat, wird er endlich 1975 in Bologna zum ordentlichen Professor für diese wesentlich von ihm in Italien begründete Wissenschaft berufen. Er wird den Lehrstuhl bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2007 innehaben und seine Tätigkeit in Bologna nur für Vorträge rund um den Globus und für Gastprofessuren an renommierten ausländischen Universitäten wie Yale, Columbia oder Harvard in USA, Cambridge und Oxford in England, oder am Collège de France und an der Ecole Normale Supérieure in Frankreich unterbrechen. Mit der Rufannahme in Bologna endet seine Tätigkeit als Sachbuchlektor beim Bompiani Verlag, dem er aber als Autor die Treue halten wird. Und auch der literarischen Produktion wird er nicht untreu werden, zumal sie bei ihm stets auch in der wissenschaftlichen präsent ist, wie man z. B. dem ebenso humoristischen wie wissenschaftlichernsthaften Kapitel über Die Erzeugung von ästhetischen Botschaften in einer paradiesischen Sprache aus Die Formen des Inhalts von 1971 entnehmen kann, das er 1985 einer überarbeiteten italienischen Version von Opera aperta hinzufügt.** In ihm erzählt und analysiert Eco gleichzeitig die Situation von Adam und Eva, als sie ihre Sprache aus einem Repertoire von Tönen entwickeln und ihr unverzüglich eine poetische Dimension verleihen, erwachsen aus der Verwendung von Metaphern und aus dem freudigen Schauder über die Schönheit der Artikulation strukturierter Zeichen: Die Botschaft ist mehrdeutig sowohl hinsichtlich der Form des Inhalts […] als auch der Form des Ausdrucks, und auf diese Weise wird sie embryonal autoreflexiv. Kurz: Erschaffung der Sprache und ästhetische Strukturierung der ersten Elemente fallen in eins (immerhin ging es um Verführung) und haben (unter anderem) zur Folge, dass Adam den Apfel isst, weil ihn Eva mit Entfaltung sprachlicher Kompetenz (die laut Ecos Code ungefähr wie folgt klingt „ABBA / / ABBBBA / / ABBBBBA / / ABBBA“) überzeugen konnte. Und noch kürzer: Adam ist aus dem Paradies geflogen, als er zum ersten Mal, noch ganz schüchtern, die Sprache manipuliert hat. Und Eva mit ihm. <?page no="121"?> 103 Erfolg des Wissenschaftlers und Triumph des Erzählers Wenn auch nicht alle seine Texte zur Semiotik eine derart zur Kunstwerksautonomie tendierende Gestaltung besitzen, ist der Bezug zum literarischen Text jedoch überall präsent. Das überrascht nicht wirklich, konzediert Eco doch im Kapitel über den Ursprung der Sprachen bereits den ersten Artikulationen Adams bzw. der Menschheit nicht nur die Potenz, sinnliches Vergnügen beim Sender und Empfänger der binnen kurzem gereimten und rhythmisierten Botschaften auszulösen, sondern geht auch davon aus, dass diese den Status der Autoreflexivität erreichen könnten. Die Botschaft hat eine ästhetische Funktion, wird er ein Jahr später spezifizieren, wenn sie sich als zweideutig strukturiert darstellt und wenn sie als sich auf sich selbst beziehend (autoreflexiv) erscheint, d. h. wenn sie die Aufmerksamkeit des Empfängers vor allem auf ihre eigene Form lenken will. Will sie das ausschließlich als l’art pour l’art, versagt ihr Eco freilich - wie den absoluten Formexperimenten der Neoavantgarde - die Aufmerksamkeit, da hier das eigentliche Faszinosum der partikularen Artikulation von Botschaften bzw. der kommunikativen Funktion ihrer Form und damit der Notwendigkeit ihrer Dekodierung oder Interpretation in Wegfall kommt und durch reinen Dekorationswert bzw. (schlimmstenfalls) durch prätendiert künstlerische Kitschdimension ersetzt wird. Es ist aber gerade das Nachdenken über die (historisch) korrekte Interpretation von (literarischen) Texten, von der seine semiotische Arbeit in der Auseinandersetzung mit Thomas von Aquin ausgegangen war, und dieses Nachdenken über die möglichst korrekte Interpretation hat stets explizit oder implizit im Mittelpunkt seines Nachdenkens über die Dekodierung von Zeichen insgesamt gestanden, auch wenn er - wie er selbst unterstreicht - erst 1979 mit Lector in fabula eine ausschließlich der Dekodierung schriftlicher Botschaften durch den Empfänger gewidmete Untersuchung vorlegt. Da wir uns entschlossen haben, uns in diesem Buch ausschließlich mit schriftlichen Texten zu befassen, erklärt er (LF 61), um zu präzisieren, dass es sich dabei vor allem um erzählerische Texte handelt, werden wir von nun an nicht mehr Empfänger, sondern ‚Leser‘ sagen, - so wie wir unterschiedslos Sender oder Autor gebrauchen werden, um den Produzenten des Textes zu umschreiben. Nach der Erläuterung einiger Grundbegriffe wie Text, Enzyklopädie und Semem präsentiert Eco noch einmal ausführlich das Peircesche Semiotik-Modell, wobei die Vorstellung vom „finalen Interpretanten“ als dem Prozess in der Semiose im Mittelpunkt steht, an dem diese als Gewissheit oder als Gewohnheit zu (relativem) Stillstand und damit (wie Eco am Beispiel des „Makro-Zeichens“ Rot und Schwarz von Stendhal darlegt) in Bezug auf literarische Texte <?page no="122"?> 104 Zwischen Philosophie und Belletristik an den Punkt gelangt, an dem die Rezeption des Textes umschlägt in ein Wissen oder Empfinden dessen (LF 59), was getan werden müsse, um Gewohnheiten anzunehmen, die auf Handlungen, auf Veränderungen der Welt zielen. Eine solche Entscheidung aber setzt voraus, dass der zur Diskussion stehende Text einigermaßen korrekt verstanden wird, was gerade da problematisch ist, wo das hauptsächliche Merkmal des Textes die von Eco selbst postulierte grundsätzliche (und in modernen Texten geradezu absolute) Offenheit ist: im poetisch-literarischen Text. Ecos Interpretationsanweisung für zufriedenstellenden Umgang auch und gerade mit (offenen) literarischen Texten resultiert aus der vom Leser im Leseakt geleisteten Aktualisierung des Textes, wobei für Eco dieser Leser nicht etwa der empirische Leser ist, und schon gar nicht ein Leser, der den Text als direkte Botschaft eines empirischen Autor-Individuums (etwa mittels biographischer oder gar - von Eco verabscheuter- - psychoanalytischer Informationen) zu entschlüsseln sucht, sondern der vom „Modell-Autor“ (dem fiktiven Erzähler bzw. der intentio operis) über „Textstrategie“ (bzw. bestimmte Daten und Strukturen) als im Werk selbst eingeschriebene „Ideal-“ oder „Modell-Leser“. Einfacher formuliert: der Erzähler narrativer Texte ist das fiktive Konstrukt eines empirischen, aber für das Textverständnis als solches irrelevanten Individuums, und dieser fiktive Erzähler verleiht dem Text eine intentio operis, auf die er seinen „Modell-Leser“ mittels bestimmter Daten, Informationen, Strukturen strategisch hinweist bzw. mit der er ihn lenkt. Dabei setzt der „Modell-Autor“ voraus, dass der „Ideal-Leser“ über Fähigkeiten und Kenntnisse verfügt, diese Strategie zu erkennen, oder im Akt des Lesens erwirbt, um die intentio operis des Textes zu begreifen (LF 67): Um die eigene Textstrategie vorzubereiten und durchzuführen, muß der Autor sich an eine Reihe von Kompetenzen […] wenden, welche den Ausdrücken, derer er sich bedient, Inhalte zuweisen. Er muß dabei voraussetzen, daß die Gesamtheit von Kompetenzen, auf die er sich bezieht, dieselbe ist, auf die sich auch der Leser beziehen wird. Allerdings wird er einen Modell- Leser voraussetzen, der in der Lage ist, an der Aktualisierung des Textes so mitzuwirken, wie es sich der Autor gedacht hat, und sich in seiner Interpretation fortzubewegen, wie jener seine [strategischen Schach-] Züge bei der Hervorbringung des Werkes gesetzt hat. Das Buch konstruiert seinen eigenen Modell-Leser, präzisiert Eco (LF 72) am Beispiel von Joyces Finnegans Wake, indem es sprachliche Schwierigkeitsgrade und eine Vielzahl von Bezügen herstellt, indem es in dem Text Verweise, Aufschlüsse, Möglichkeiten von durchaus verschiedenen und sich durch- <?page no="123"?> 105 Erfolg des Wissenschaftlers und Triumph des Erzählers kreuzenden Lektüren einfügt. Der Modell-Leser von Finnegans Wake ist jener Operator, der in der Lage ist, die größtmögliche Anzahl dieser sich überlagernden Lektüren zur gleichen Zeit zu erfassen. Der empirische Leser hingegen, der jene Verweise, Aufschlüsse, Möglichkeiten, die vom „Modell-Autor“ in den Text eingeschrieben wurden, nicht beachtet und somit nicht versucht, zum „Modell-Leser“ zu werden (bzw. sich diesem wenigstens anzunähern), interpretiert Eco zufolge den Text nicht wirklich, sondern unterwirft ihn „freiem Gebrauch“, der im schlechtestem Fall zu totalem Missverständnis bzw. Missbrauch, im besten Fall zu produktiver Weiterverwendung des mehr oder weniger verstandenen Textes führt, wobei das Risiko des verfehlten „Gebrauchs“ bei „offenen Texten“ größer ist als bei „geschlossenen“. Ohne diese Thesen hier zu diskutieren, die in Deutschland auf umso größeres Interesse stießen, als Forscher der Universität Konstanz um Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser in den 60er Jahren versuchten, die traditionelle Literaturwissenschaft durch eine „Rezeptionsästhetik“ zu ersetzen, in deren Mittelpunkt das von Iser ausgearbeitete und in mancher Hinsicht mit Ecos „Modell-Leser“ vergleichbare Konzept des „impliziten Lesers“ stand, die im Übrigen aber auch manchen Widerspruch herausforderten,* sei nur festgestellt, dass - akzeptiert man die Prämissen - sich aus Ecos Postulat einer (von der „intentio operis“ bzw. vom „Modell-Autor“) gesteuerten Interpretation nach semiotischer Logik ableiten ließe, dass sich bei abduktiver Übereinstimmung in der hermeneutischen Semiose eine (nahezu) total „richtige Interpretation“ erreichen lassen kann. Derartige Interpretationen aber würden eigentlich weitere Diskussionen über den jeweiligen Text obsolet machen, zumal sie in letzter (absurder) Konsequenz sogar erlauben würden, den zu interpretierenden Text Wort für Wort neu zu schreiben, wie es - zu Ecos Entzücken - der von Borges erfundene Pierre Menard mit dem Don Quijote gemacht hat. Das aber könnte durchaus der Grund dafür sein, dass es traditionelle Interpretationen literarischer Texte aus Ecos Feder so gut wie gar nicht gibt, sind doch seine Interpretationsbeispiele - von Lector in fabula mit dem Beginn von Cyrus A. Sulzbergers Roman Der Zahnhändler und Alphonse Allais’ Le chat noir bis zu Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur von 1994 (und danach) - genau genommen aus den Texten (bzw. der von Eco jeweils definierten „intentio operis“ dieser Texte) abgeleitete Nachzeichnungen des Produktionsvorgangs der jeweiligen Autoren und Erläuterungen ihrer unterstellten Absichten. Anders formuliert: diese Interpretationsbeispiele stehen auf der Kippe zu - stets erneut auf Aristoteles verweisenden - Poetik-Entwürfen für narrative <?page no="124"?> 106 Zwischen Philosophie und Belletristik Texte, so wie er sie grundsätzlich bereits 1971 in L’ industria aristotelica, dem einleitenden Essay zur Anthologie populärer und experimentaler Romankapitel aus hundert Jahren, im Zeichen der Wiederentdeckung des Erzählens ins Auge gefasst hatte: die abstrakten Modelle des historischen Romans wie die des Unterhaltungsromans, wie übrigens auch die des philosophischen Romans und der Schnulze, sind genau das: Modelle. Nämlich für neue Romane jedweder Art. Auf dem Weg in ein neues Mittelalter Gewiss, der Blick auf Ecos im engeren Sinn akademische Publikationen der siebziger Jahre könnte den Eindruck erwecken, dies sei eine friedliche Zeit gewesen. Neben den erwähnten Schriften zu Semiotik und Interpretation erscheint 1973 eine Mittelalterstudie, die dem allegorischen Kommentar des asturischen Mönchs Beato de Liébana (gest. 798) zum letzten Buch der Bibel, der Apokalypse oder Offenbarung des sogenannten Johannes, gewidmet ist und einen Reprint* mozarabischer Miniaturen begleitet, die - Mitte des 11. Jahrhunderts für den kastilischen König Fernando I. von Facundus nach dem Kommentar des Beato de Liébana angefertigt - über die Kirchenmalerei längs der Pilgerwege nach Santiago de Compostela massenhafte Verbreitung und enorme Bedeutung für die Entwicklung der mittelalterlichen Kunst bzw. die (visuelle) Auslegung sakraler Texte gemäß der Lehre vom vierfachen Sinn erlangt hatten: dem buchstäblichen, dem allegorischen, dem symbolisch-moralischen und dem heilsgeschichtlich-anagogischen.** 1976 vereint Eco in Der Übermensch für die Massen Studien, in denen er im Geist Gramscis vertieft, was er 1971 über die dialektische (positive und negative) Funktion des Unterhaltungsromans in seinem Traktat über die aristotelische Industrie provokativthesenhaft vorgetragen hatte.*** Und 1977 veröffentlicht er sein Manual Wie man eine wissenschafliche Abschlußarbeit schreibt, das Ecos eigene Vorarbeit zur tesi di laurea über Thomas von Aquin didaktisch offenlegt, um vor allem Studenten zu helfen, die - aus bescheidenen Verhältnissen stammend - an der modernen, von der Elitezur Masseninstitution mutierten Universität mit ihren übervollen Hörsälen, an der sich die Dozenten nicht mehr um jeden Einzelnen kümmern können, verzweifeln und resignieren. Gerade dieses Manual aber zeugt davon, dass die Zeiten gar nicht friedlich waren, erreichen doch die studentischen Unruhen in Italien und gerade in Bologna 1977 - aus eben jenen sozialen und psychologischen Gründen, die Eco zu seiner Veröffentlichung bewegen - ihren <?page no="125"?> 107 Auf dem Weg in ein neues Mittelalter Höhepunkt. Auf ihrem Hintergrund erweist sich das Manual als ein weiteres, geradezu trotziges Plädoyer für den Einsatz aristotelischpraktischer Vernunft in einem Italien, das von Arbeitslosigkeit, Finanz- und Regierungkrisen sowie von pausenlosen Terrorakten erschüttert wird und in dem Eco keineswegs zögert, sich politisch einzumischen. Dass er selbst die wachsende Unordnung als Bedrohung empfindet, legt er 1972 in seinen für L’Espresso verfassten Anmerkungen Auf dem Weg zu einem Neuen Mittelalter dar,* mit denen er auf Roberto Vaccas Mittelalter in naher Zukunft antwortet. Eco erläutert zunächst, warum es sinnvoller ist, nur die Zeit vor Karl dem Großen als Mittelalter, die Zeit danach aber als Beginn der Renaissance zu bezeichnen, um dann die politischen, sozialen, kulturellen und mentalen Gegebenheiten jenes tatsächlichen Mittelalters mit denen der Gegenwart bzw. den Zerfall des römischen Reiches mit dem der (nordamerikanischen) Pax Americana sowie die Krisen der aus dem römischen Reich hervorgegangenen europäischen Mächte mit denen Europas im Zeitalter des Kalten Krieges und unter dem Gesichtspunkt der Vietnamisierung des Territoriums in analogen Bezug zu setzen und zu konstatieren, dass in dieser modernsten Gesellschaft stabilisierende Faktoren tatsächlich schwer auszumachen sind. Natürlich ist auch diese Analyse von Ecos Humor geprägt, was deutlich wird, wenn er erklärt, dass die Barbaren der späten Römerzeit und des Mittelalters heute nicht nur die Chinesen oder die Völker der Dritten Welt seien, sondern in einem Land wie Italien auch die Immigranten aus dem Mezzogiorno, die in Turin ein neues Piemont erzeugen, das niemals zuvor existiert hat. Aber die Diagnose vom Zerfall der staatlichen Ordnung mit Städten, die unter Wasserknappheit, krisenanfälliger Stromversorgung und Verkehrsverstopfungen leiden und deren Ernährungsindustrie sich immer mehr in Produktion von vergifteten und krebserzeugenden Lebensmitteln verkehre, ist ernst und ergänzt die Diagnose vom Verfall der Ordnungsstrukturen auf geopolitischer Ebene. Auch die Krise der Universitäten, so Eco, entspringe dieser Unsicherheit und habe ihre Entsprechung in den Krisen der mittelalterlichen Lehranstalten: die Sehnsucht der Intellektuellen des Mittelalters nach renovatio imperii, der Erneuerung des Heiligen Römischen Reiches entspräche dem modernen Traum von Revolution und hätte schon damals zu ideologischen Auseinandersetzungen verschiedenster Gruppierungen (wie Franziskanern und Dominikanern) geführt, die den Disputen zwischen den Trotzkisten und Stalinisten geähnelt und in der Suche nach heiligen Texten gegipfelt hätten, mit deren Hilfe man gehofft habe, die Ordnung wiederherstellen zu können. <?page no="126"?> 108 Zwischen Philosophie und Belletristik Es drohe daher tatsächlich ein noch schlimmeres Neues Mittelalter, denn wenn die Intellektuellen der frühen Renaissance zur Behebung ihrer Probleme die Universitäten erfunden hätten, in denen man im Zeichen aristotelischer Vernunft nach wissenschaftlichen Lösungen geforscht habe, hätten die fahrenden Kleriker unserer Tage vor, die Universitäten im Namen neuer Heilsbotschaften zu zerstören: Niemand behauptet, schließt Eco seine Betrachtung, die Aussicht auf ein Neues Mittelalter sei rundum erfreulich. Wunschbefriedigung in bleierner Zeit Sie ist es umso weniger, als sich im Italien jener Jahre, die von manchen Historikern die „bleiernen“ genannt werden, der Streit um den richtigen Weg zur renovatio imperii bzw. zur „Revolution“ aus der scholastischen Disputation der Vollversammlungen linker Studenten in eine immer problematischere Praxis außerparlamentarischer Gruppierungen verlegt, deren Aktivismus zum Teil auch von neofaschistischen Terrorhandlungen provoziert wird. Sie glauben, an den traditionellen Arbeiterparteien wie dem (als revisionistisch abgestempelten) PCI oder dem PSI sowie an den Gewerkschaften vorbei den direkten Kontakt zur Arbeiterklasse herstellen und diese ideologisch von der Notwendigkeit der revolutionären Beseitigung des kapitalistischen Systems überzeugen zu können. Da dies trotz des politischen Aufsehens, das einige Formationen wie Potere operaio oder Lotta continua vorübergehend erregen, keine großen Erfolge zeitigt, versuchen etliche, in den Untergrund abgetauchte Gruppierungen, unter denen sich vor allem die (der westdeutschen RAF vergleichbaren) Brigate Rosse hervortun, mit terroristischen Aktionen die revolutionäre Situation vorzubereiten, in der die Arbeiterklasse dann die Revolution vollbringen soll. Welch absurde Dimensionen solch Aktivismus erreichen kann, wird am terroristischen Engagement des Mailänder Verlegers Giangiacomo Feltrinelli offenbar, der ganz ernsthaft glaubt, mit dem (geplanten) Kampf seiner Gruppi d’Azione partigiana gegen das kapitalistische System bzw. den italienischen Staat an den Widerstand gegen Nazis und Faschisten anzuknüpfen. Er stirbt am 14. März 1972, als er bei Mailand einen Hochspannungsmast sprengen will. Doch sein sinnloser Tod trägt kaum zur Besinnung bei. Italien wird zunehmend von linkem und rechtem Terror erschüttert: Bomben explodieren allenthalben, mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten werden entführt oder getötet, Aktivisten von rechts und links massakrieren sich gegenseitig, ermorden dabei auch Unbeteiligte, und die Tatsache, dass <?page no="127"?> 109 Wunschbefriedigung in bleierner Zeit bei rechtsradikalen Terrorakten bisweilen italienische und amerikanische Geheimdienste ihre Hand im Spiel haben, heizt das politische Klima ebenso an wie die (zumindest gelegentliche) Komplizenschaft rechter Terroristen mit Politikern und Teilen der Justiz, vom industriellen und parlamentarischen Filz und seiner Verquickung mit der Mafia ganz zu schweigen. Die Situation verschärft sich, als die DC angesichts der Wahlerfolge von PSI und PCI sowie der Tatsache, dass parlamentarische Bündnisse mit anderen rechten Gruppierungen und speziell dem faschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) innen- und außenpolitisch nicht machbar sind, Anfang der siebziger Jahre beginnt, sich moderat nach links zu öffnen und auch dem PCI einen Platz im sogenannten „arco costituzionale“, dem Kreis der verfassungstreuen Parteien einzuräumen. Diese Phase parlamentarischen Ausgleichs, die als „compromesso storico“ in die Annalen eingehen sollte und während derer sich auch der PCI vorsichtig in Richtung „Eurokommunismus“ und auf Distanz zu Moskau begibt, hat jedoch nicht nur positive Konsequenzen, zu denen das parlamentarische Zusammenwirken von links und rechts bei der Einführung der (vom Vatikan bekämpften) zivilen Ehescheidung gehört. Sie schürt auch den Antikommunismus in den linksradikalen Gruppierungen, die im parlamentarischen Engagement des PCI den Beweis dafür erblicken, dass dieser definitiv eine Formation im Dienst des internationalen Kapitalismus und der Bourgeoisie geworden ist. Dass Eco, der die Ereignisse im Corriere della sera und in L’Espresso, aber auch in anderen Presseorganen wie z. B. der von ihm 1979 mitbegründeten Zeitschrift Alfabeta kommentiert, den wachsenden Einfluss der linken Parteien unter Einschluss des PCI auf die italienische Politik grundsätzlich begrüßt, ist logisch. Genauso logisch, dass er, der dem PCI selbst distanziert gegenübersteht, mit Sorge beobachtet, wie die studentischen Bewegungen immer mehr in antikommunistisches Fahrwasser gelenkt werden, wozu philosophische Trends aus Paris und speziell aus der Feder der sogenannten „nouveaux philosophes“* beitragen. Zu den Texten, die ihm problematisch vorkommen, zählen auch Arbeiten von Gilles Deleuze und Félix Guattari, die in ihrem gemeinsam verfassten Anti-Ödipus von 1972 für die Überwindung der Thesen bezüglich ödipaler Zwänge, wie sie die klassische Psychoanalyse von Freud bis Lacan definiert und für die Konstitution des Individuums als essentiell erachtet hatte, und für die Freisetzung des Unbewussten plädieren. Das Unbewusste, so Deleuze- Guattari, sei ein „maschinelles Aggregat“ zur Befriedigung der Triebe, das zur „Wunschmaschine“ zu erheben sei, damit sich der Mensch in <?page no="128"?> 110 Zwischen Philosophie und Belletristik unbeschränkter Befriedigung der „Begierde“, des désir oder (italienisch) desiderio, frei entfalten könne.* Natürlich steht die studentische Jugend, die bereits 1968 den Strand unter dem Pflaster von Paris entdeckt und die Befreiung des Individuums von allen entfremdenden Zwängen gefordert hatte, diesem neuen „revolutionären“ Postulat aufgeschlossen gegenüber. Und ebenso natürlich hat Eco gegen die Entdeckung der Sinnlichkeit und die sexuelle Emanzipation so wenig einzuwenden wie gegen die feministische Bewegung, die diese Tendenzen für sich in tatsächlich gesellschaftsverändernde Praxis umsetzt. Bedenklich wird es für Eco da, wo die Forderung nach sexueller Befreiung im logischen Kurzschluss zur politischen Forderung der Priorität des Sinnlichen über das Rationale erhoben wird und sich der vermeintlich anti-bourgeoise Umgang mit der Sexualität sowie die Forderung nach diesbezüglicher Selbstverwirklichung mit der Forderung nach gesellschaftlichem Umsturz per revolutionärem Terror verbindet. Die Ironie der Geschichte aber will, dass sich die Forderung nach Befriedigung des desiderio im Sinn von Deleuze-Guattari gerade in der autonomen Szene Bolognas mit den terroristischen Postulaten des „movimento“, der außerparlamentarischen Opposition, verbindet und hochschaukelt. Das hat zunächst einen eher harmlosen Anstrich. 1976 beginnt in Bologna ein Radiosender der „autonomen Szene“ mit Ausstrahlung, der seine ideologische Verankerung in der Philosophie von Deleuze-Guattari offen bekundet und dessen Name Radio Alice sich auf die Prämissen bezieht, die Deleuze 1969 seiner Logique du sens vorangestellt hatte und die zwischen Lewis Carrolls Alice im Wunderland als Vorwegnahme des Surrealismus und den antiken Stoikern angesiedelt sind.** Wenig später stellt ein Arbeitskreis um die 1975 vom Potere operaio-Mitglied Franco Berardi, genannt „Bifo“, der bei Anceschi promoviert hatte und zu den Mitbegründern von Radio Alice gehört, herausgegebene Zeitschrift A/ traverso in einem Buch mit dem programmatischen Titel Alice ist der Teufel - Auf Majakowskis Spuren: Anleitungen für eine subversive Kommunikation das Programm des Senders vor, das neben Musiksendungen von Jimi Hendrix bis zu den Beatles Kulturkommentare, Prosatexte und Verse aus der linken Szene sowie politische Nachrichten und Kommentare umfasst und die bürgerliche Öffentlichkeit erregt. Am 25. Februar 1977 setzt Eco sich im Corriere della sera mit diesem Manifest auseinander und bekennt, dass er versucht sei, in der Zeitschrift A/ traverso und in Radio Alice eines der letzten Kapitel der Avantgarde zu erblicken, in dem versucht würde, neue Ausdrucksmit- <?page no="129"?> 111 Wunschbefriedigung in bleierner Zeit tel für das zu realisieren, was es - in derart ‚kreativer‘ Form - in den experimentellen Gedichtbänden und Romanen nicht mehr gäbe: eine ideologische Grundlage für die neue Wirklichkeit der jugendlichen Revolte, die sich u. a. in Straßenfesten Ausdruck verschaffe und mit der Bejahung des desiderio zu erreichen suche, was die Generationen vor und nach 68 nicht geschafft hätten. Deshalb wolle Eco das Kollektiv um Radio Alice auch von den vorhergehenden Generationen unterscheiden, zumal es ihm tatsächlich gelänge, Massen in seinen Bann zu ziehen, und da 1977 weniger 1968 neun sei, beschließt er, diese Generation generazione dell’Anno Nove zu nennen, die Generation des Jahres Neun. Dass Eco diesen Jungen um „Bifo“ mit Sympathie begegnet, ist unübersehbar, zumal er sie auch gegen den Vorwurf in Schutz nimmt, sie wären mit ihren agressiven Publikationen und Radiosendungen für Explosionen jugendlichen Zorns und Störungen der öffentlichen Ordnung verantwortlich, was nach Eco eine Verwechslung von Ursache und Wirkung ist. Aber genauso unübersehbar ist auch, dass Eco der Philosophie des Jahres Neun misstraut, derzufolge die neue revolutionäre Aufgabe darin bestünde, als aufgeklärte Avantgarde mit den Mitteln der „subversiven Kommunikation“ dem desiderio, der Begierde oder Lust der unaufgeklärten Masse und speziell den „jungen Proletariern“ als spontanes Sprachrohr zu dienen, damit auch diese zur „Freiheit für den desiderio“ gelangten, die darin bestünde, sich „der Vernunft, dem Verstand, der Moral, der Politik“ zu widersetzen. Derartige pseudo-nietzscheanische Ideen, merkt Eco an, hätten bereits die Futuristen und die Avantgarde vom Beginn des 20. Jahrhunderts vertreten, die zum Teil in faschistisches Fahrwasser abgedriftet waren. Die Vertreter von Radio Alice und A/ traverso müssten auch zur Kenntnis nehmen, dass die Botschaft der Deleuze und Guattari, die von Radio Alice und A/ traverso verbreitet würde und derzufolge es darauf ankäme, die „Wunschmaschine“ von den „großen paranoischen Strukturen“ zu befreien, mit denen die Menschheit im Verlauf der Geschichte immer wieder versucht hätte, „Ordnung“ zu schaffen und „Gesetze“ zu verabschieden, in Frankreich keinen Einfluss auf die praktische Politik der Masse besäße. Sie habe sich in Frankreich vielmehr auf eine ausschließlich theoretische Ebene zurückgezogen, während die Generation des Jahres Neun noch glaube, sich mit derartigen Ideen in revolutionärer Opposition zum „repressiven Staatsapparat“ zu befinden. Da Eco selbst historisch gesehen zur paranoischen Generation gehöre, gestatte er sich, der Generation des Jahres Neun zu empfehlen, die neue Ideologie des ‚desiderio‘ selbst analytischer Kritik zu unterziehen, um die Natur der gesellschaftlichen Phänomene zu erken- <?page no="130"?> 112 Zwischen Philosophie und Belletristik nen, die diese verherrliche, und auch die Zeitschrift A/ traverso wäre gut beraten, über die akademischen Grundlagen ihrer „wilden Praxis“ nachzudenken, damit man ihr nicht mit dem von ihnen verehrten Baudelaire ironisch nachsagen müsse: Du schreibender Heuchler, mein Ebenbild, mein Bruder. Was Eco hier freundschaftlich zu verstehen gibt, ist, dass jede These, und sei es die von der Notwendigkeit radikaler Freisetzung der Triebnatur des Menschen, zur dogmatischen Praxis erhoben, umschlagen muss in Unfreiheit und Faschismus, was alle positiven Aspekte der desiderio-Träume von sexueller Freiheit zunichte machen würde. Mit anderen Worten: auch die Bewahrung der positiven Aspekte der desiderio-Philosophie setze praktische Vernunft und soziale Regeln voraus*, die freilich von denen unterschieden seien, die sich studentische Vollversammlungen zu geben pflegten und die eher an absurde Rituale gemahnten.** Wie sie wirklich beschaffen seien, könne hingegen aus der geschichtlich-methodologischen Analyse der eigenen politisch-philosophischen Positionen abgeleitet werden, was von der Erkenntnis ausgehen müsse, dass die Philosophie von Radio Alice und A/ traverso keineswegs (nur) spontan-jugendlichem Empfinden, einer rabbia giovanile, entspringe, sondern (auch) das Ergebnis langer kulturgeschichtlicher Prozesse und akademischer Reflexionen sei. Die Tragödie von Bologna Kann Eco 1977 tatsächlich noch hoffen, mit seinen Appellen an die Vernunft Gehör zu finden? Das seit 1945 vom PCI verwaltete Bologna jedenfalls wird zum Theater tragischer Ereignisse, die Eco tief bewegen. Am 11. März hält die 1969 aus der Azione Cattolica hervorgegangene ultrarechte studentische Organisation Comunione e Liberazione (CL), die sich u. a. gegen das Recht auf Abtreibung engagierte, an der Universität Bologna eine Versammlung ab. Einige Linke versuchen, zu stören, werden aber manu militari von den Ordnungskräften der CL vertrieben. Es kommt zu Tätlichkeiten, die den Rektor der Universität veranlassen, polizeiliche Hilfe anzufordern. Das löst Tumulte aus, die sich über den Campus hinaus in die Stadt ausweiten. Molotowcocktails fliegen. Die Polizei beginnt, Warnschüsse abzugeben, doch ein Karabiniere zielt in die Menge und erschießt den Studenten Francesco Lorusso, Mitglied von Lotta continua. Die Nachricht verbreitet sich wie Lauffeuer, wobei Radio Alice eine entscheidende Rolle spielt. Die Ausschreitungen greifen nach Rom über. Der christdemokratische Innenminister Francesco Cossiga entsendet Panzer nach Bologna, um <?page no="131"?> 113 Die Tragödie von Bologna die Ordnung wiederherzustellen. Radio Alice wird wegen Anstiftung zum Aufruhr von der Polizei besetzt und seine Redakteure werden vorübergehend verhaftet. Was die außerparlamentarische Linke erhofft hatte, tritt allerdings nicht ein: die linken Parteien und die Gewerkschaften solidarisieren sich nicht mit den studentischen Randalierern. Im Gegenteil: am 16. März kommt es in Bologna zu Demonstrationen gegen die Aktionen der außerparlamentarischen Linken, die nicht nur vom PCI mit dem Bürgermeister von Bologna, Renato Zangheri, an der Spitze und den Gewerkschaften getragen werden, sondern an denen sich auch die DC beteiligt. Eco glaubt noch an Missverständnisse zwischen den ‚neuen Barbaren‘ des Jahres Neun, die die Kunstsprache der historischen Avantgarden zu ihrer eigenen täglichen Umgangssprache gemacht hätten, und der Arbeiterklasse, die auf die jungen Intellektuellen, die nun Straßen und Plätze zum Schauplatz ihrer avantgardistischen Aktivitäten machten, mit demselben realistischen Unverständnis reagierten wie einst die Bourgeoisie auf die Produkte der historischen Avantgarde.* Aber seine zur Beruhigung der Situation verfassten Kommentare stoßen auf linken und rechten Unmut, und unter denen, die ihn besonders heftig attackieren, ist „Bifo“, dem Eco zu nahe an den Institutionen ist: zu nahe am PCI Bolognas, zu nahe an Zangheri und seiner Ordnung oder zu nahe an Lenin und zu weit entfernt von revolutionärer Spontaneität, von Majakowski, vom Wunsch nach jener freien Welt, in die nach seiner Überzeugung Deleuze-Guattari den Weg weisen. Eco, der am 22. April unter Berufung auf John Lockes Brief über Toleranz von 1689 in L’Espresso ein Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie abgelegt hatte, zu der sowohl der Zustand der ewigen Unvollkommenheit (bzw. der permanenten Verbesserungsmöglichkeit) und der Respekt der demokratischen Institutionen als auch das Nachdenken über die Grenzen der Toleranz gegenüber Demokratiefeinden gehörten,** antwortet am 1. Mai, redet „Bifo“ ironisch, aber korrekt mit dottor Berardi an und denunziert dessen spontan-revolutionären Elan als anti-demokratisch-rhetorisch-weltfremden Aktionismus- ohne Verankerung in tatsächlich revolutionärer Praxis. Das sei zynisch, denn dottor Berardi verheimliche, dass seine Theoreme nichts mit Spontaneität zu tun hätten, sondern Konstrukte bestimmter Ideologen wie, vor allem, Deleuze und Guattari seien. „Bifos“ Rhetorik, so Eco, sei umso unverantwortlicher, als völlig ungeklärt sei, welche gesellschaftliche Verfassung sich denn eine nach den Prämissen des Anti-Oedipus befreite Menschheit geben würde oder könne, und das bedeute in letzter Konsequenz, dass eine „Ideologie der Wunsch- <?page no="132"?> 114 Zwischen Philosophie und Belletristik befriedigung“, die sich um ihre Realisierungsmöglichkeit nicht schere, logischerweise eine Ideologie des desiderio sei, in der der Todestrieb pulsiere. Kurz: publizistische Aktivitäten wie die von „Bifo“ würden unvermeidlich auch die Frage nach den Grenzen der Toleranz bzw. der juridischen Mitverantwortung an Terrorakten aufwerfen: Die Klugheit der Demokratien besteht darin, ohne Anspruch auf absolute Wahrheiten vernünftige Grenzen zu ziehen, selbst wenn diese nur vorläufig sein sollten. Doch der Aktivismus des Bologneser „movimento“ lässt sich durch Aufrufe zur Vernunft nicht mehr aufhalten. Seine Vertreter rufen Paris zur Hilfe, und am 5. Juli veröffentlicht Lotta continua einen Aufruf Félix Guattaris zur Verteidigung der Meinungs- und Pressefreiheit in Italien, die dort von den Vertretern des „compromesso storico“ unterdrückt würde, wovon vor allem „revolutionäre Arbeiterorganisationen“ und Kritiker des historischen Kompromisses betroffen seien. Natürlich unterschreibt Eco diesen Aufruf, der u. a. von Barthes, Simone de Beauvoir, Deleuze, Foucault und Sartre gezeichnet wird, nicht und legt seine Gründe am 31. Juli in L’Espresso offen. Er hätte nichts dagegen, schreibt er, einen Protest gegen die Durchsuchungen der Verlage zu unterzeichnen, die Texte von Radio Alice veröffentlicht hatten. Aber Guattaris Aufruf enthalte das Katastrophen-Szenario von einem Italien, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun habe und sich lese wie eine Aufforderung an die USA, gegen den kommunistischen Staatsstreich in Italien zu intervenieren. Man solle doch die Kirche im Dorf lassen: Italien ist nicht die UdSSR […] Es gibt keinen Gulag in Italien […] Guattari ist nach Bologna gekommen und hat mit dem PCI streiten können, ohne ausgewiesen zu werden. Gewiss sei auch er über bestimmte Reaktionen der Regierung besorgt, aber müsse man nicht feststellen, dass es für diese durchaus Erklärungen gäbe? Den Gegner zu diffamieren, gefangenzunehmen oder zu erschießen, seien schließlich keine sonderlich sinnvollen Handlungen, und die Brigate Rosse müssten es sich schon gefallen lassen, nach ihren Motivationen befragt zu werden. Gewiss, die Studenten hätten recht, darüber zu klagen, dass nur wenige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gegen die Schließung von Radio Alice und die Verlagsdurchsuchungen protestiert hätten, aber das könnte durchaus auch daran liegen, dass manch einer fürchte, man könne ihn für einen Verbündeten jener halten, die anderen in die Beine (oder in den Kopf) schießen. Und wer von den Studenten meine, das sei genau, was der christdemokratische Cossiga oder die kommunistische Unità zu suggerieren suchten, der müsse sich fragen lassen, ob die Verantwortung dafür nicht auch auf <?page no="133"?> 115 Die Tragödie von Bologna seiner Seite läge: Schaut Euch diese Mauer in der Universität an. Auf der einen Seite lese ich: ‚Mao Dada‘ und ‚Freiheit für Alice‘. Auf der anderen aber: ‚Polizistenschwein: wir schießen Dir ins Maul! ‘ Natürlich weiß ich genau, dass diese Inschriften nicht von derselben Hand stammen. Aber die für alle geltende Verteidigung der wilden Kreativität während der Universitätsbesetzung ist die Eure. Und jetzt verlangt Ihr, dass die öffentliche Meinung […] subtile Unterscheidungen vornehmen soll? Natürlich müsse das Recht auf Meinungsfreiheit verteidigt werden, aber noch würden auch in Italien die Gerichte dieses Recht nicht streitig machen. Und habe man nicht gerade vom Marxismus gelernt, dass es eine unaufhebbare Verbindung von Theorie und Praxis gäbe? Wenn das richtig sei, dann hieße dies logischerweise: Auch wer theoretisiert, handelt politisch. Unter diesem Gesichtspunkt, folgert Eco, könne und müsse auch die Anstiftung zum Terrorakt als Terrorakt betrachtet werden, was eine Neudefinition der Meinungsfreiheit notwendig mache, selbst wenn diese Diskussion außerhalb der Betrachtung der „nouveaux philosophes“ läge, weil für diese „der Widerspruch zur Gesellschaft“ lediglich mystisch, metaphysisch, engelhaft, geistig und platonisch sei. Die tatsächliche Diskussion jedoch sei „aristotelisch“praktisch, verweise auf die Erde, würde aber von „Barbaren“ geführt, deren Antlitz notwendigerweise ein wenig unmenschlich sei. Unmenschlich und obendrein abstrus waren Theorie und Praxis der Brigate Rosse, wie Eco in L’Espresso vom 23. März 1978 darlegt. Eine Woche zuvor hatten sie den Vorsitzenden der DC, Aldo Moro, entführt, der behutsam die Politik des „historischen Kompromisses“ zu realisieren suchte. Sollte diese Entführung etwa der „Stoß ins Herz des Staates“ sein, den die BR unentwegt zur Rechtfertigung ihrer terroristischen Anschläge evoziert hatten, fragt Eco und konstatiert, dass die Erklärung, warum die BR Aldo Moro entführt hatten, dazu im Widerspruch stehe, denn die beginne mit der Feststellung, dass die (westliche) Welt von den multinationalen Konzernen beherrscht würde. Diesem Befund, sagt Eco, stimme er durchaus zu, frage sich dann aber, was lokaler Terror wie der der BR bzw. die Entführung eines Politikers in einem solch globalen System bewirken solle, seien doch dort ganz andere Faktoren am Werk, um die Ordnung aufrecht zu halten. Wenn die Multinationalen irgendetwas störe, so seien dies politische Veränderungen, die ihren Profit schmälern könnten, wie das z. B. bei einem Wahlsieg der kommunistischen Partei in Frankreich der Fall wäre. Oder eben bei der direkten oder indirekten Einflussnahme des PCI über den (von Moro unterstützten) „historischen Kompromiss“ auf die Politik der italienischen Regierung. Terrorakte wie die der BR <?page no="134"?> 116 Zwischen Philosophie und Belletristik hingegen lieferten den politischen Statthaltern der Multinationalen nur Alibis für ihre Ordnungspolitik. Die BR müssten daher erkennen, dass sie selbst ein natürliches und eingeplantes Element im Herrschaftssystem der Multis seien und nach einem Drehbuch handelten, das in Wahrheit von ihren vorgeblichen Gegnern geschrieben sei. Mit ihren Terrorakten, so Eco, täten die BR nichts anderes, als dem Kalkül der Multis noch Kapitelchen im Geist der Heldenschmonzetten des 19.-Jahrhunderts hinzuzufügen: „ins Herz“ träfen sie nur ihre eigenen, für die Multis irrelevanten Opfer.* Auch dieser Appell an die Vernunft verhallt ungehört. Am 9. Mai 1978 wird in Rom Aldo Moros Leiche im Kofferraum eines Pkw entdeckt, der von den BR symbolträchtig auf halbem Weg zwischen den Parteizentralen von DC und PCI abgestellt wurde. Damit ist, historisch gesehen, der Höhepunkt des Terrors überschritten, auch wenn das Morden von links und rechts zunächst weitergeht und Eco nicht nachlässt, sich gegen den politischen Wahnsinn zu engagieren. Dass ihn der Terror der linken Splittergruppen nicht von seinem Glauben an die Notwendigkeit einer pragmatisch-vernünftigen linken Politik abbringt, spricht für Eco, der mit Abscheu notiert, dass viele seiner Zeitgenossen, die noch kurz zuvor in der 68er-Szene revolutionäre Reden geschwungen hatten, nun, da der Wind sich dreht, tun, als hätten sie mit all dem nie etwas zu tun gehabt. Seinen engagierten Stellungnahmen aus den „bleiernen Jahren“, die er 1983 unter dem Titel Sieben Jahre Wunschtraum herausgibt, stellt er denn auch trotzig einen Text voran, der 1980 in L’Espresso erschien und den Waisenkindern der 70er Jahre gewidmet war. Es gehe nicht an, schreibt er, zu erklären, man sei nicht dabei gewesen, oder man habe von Anfang an gewusst, dass alles radikal falsch, korrupt, blutgetränkt gewesen sei oder ausgehen musste. Wir waren alle dabei. Auch ich, der ich dies nicht mehr als Student, sondern als Professor erlebt habe, bekennt Eco und fordert, den Mut und die Abgeklärtheit aufzubringen, um herauszufinden, was diese Epoche permanenter Erregung an Neuem, Positivem, Rationalem hervorgebracht habe. <?page no="135"?> Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort Der Plot - Das Mittelalter ist unsere Kindheit - William von Baskerville oder ein Weiser, der weiß, dass er nichts weiß - Nominalistische Logik, irdische Verfügungsgewalt und das Problem der Armut-- Bettelorden und Universitäten oder die Geburtswehen des modernen Buchwesens - Jorge, der Apokalyptiker, oder die Verachtung der visuellen Massenmedien - Mutato nomine de te fabula narratur oder Wahrheit aus dem Windelband - Von Zahlensymbolik oder der Name des Mädchens - Und Rose hat sie gelebt, was Rosen leben oder das Hohe Lied Der Plot Ausgerechnet in jenen ebenso arbeitsreichen wie politisch wilden Jahren gelingt es Eco, umzusetzen, was er seit frühester Jugend geplant, geübt und in vielen theoretischen Abhandlungen vorbereitet hatte. Im März 1978 beginnt er mit der Redaktion eines Romans, der im Oktober 1980 erscheint und den bekannten Semiotiker als Schriftsteller weltberühmt machen wird: Der Name der Rose. Protagonisten dieses Textes, den Eco selbst als historischen Roman in der Nachfolge von Manzonis Die Verlobten (1821-1842) und des englischen Krimis à la Conan Doyle versteht,* sind der etwa fünfzigjährige Franziskaner und ehemalige Inquisitor William von Baskerville aus England und dessen Gehilfe, der bisweilen naive Benediktiner-Novize Adso(n) aus dem Klosterstift zu Melk in Österreich, der die Ereignisse im hohen Alter niederschreibt. Sie treffen Ende November 1327 in einer Benediktiner- Abtei im norditalienischen Apennin ein. Dort soll Baskerville im Auftrag König Ludwigs des Bayern (1314-1347), der sich im Jahr danach von den ghibellinischen Verbündeten in Rom zum Kaiser krönen lässt, bei einem Treffen zwischen Vertretern des Franziskanerordens und einer Legation des Papstes Johannes XXII. (1316-1334), eines ebenso korrupten wie fanatischen Ketzerverfolgers, der in Avignon im freiwilligen Exil residiert und Ludwig befehdet, zwischen der Kurie und des Ketzertums verdächtigten franziskanischen Randgruppen vermitteln. Doch noch bevor er mit dieser Arbeit beginnen kann, wird Baskerville, der unmittelbar bei der Ankunft im Kloster seine Fähigkeit <?page no="136"?> 118 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort unter Beweis gestellt hat, geradezu kriminologisch Zeichen (bzw. Spuren und Indizien) zu deuten, vom Abt des Klosters, Abbone von Fossanova, gebeten, einen Todesfall aufzuklären. Baskerville möchte sofort mit der Spurensuche beginnen, stößt aber auf ein überraschendes Hindernis: Der Zugang zum vermutlichen Tatort, dem Obergeschoss des Hauptgebäudes der Abtei, ist verboten. Fossanova begründet dies damit, dass sich dort die Klosterbibliothek befinde, die so labyrinthisch angelegt sei, dass sich nur der Bibliothekar und sein Gehilfe in ihr zurechtfänden. Zudem sei es aus religiösen Gründen verboten, die Bibliothek zu betreten, stünden dort doch auch Lügenbücher von Magiern, Juden, heidnischen Dichtern und anderen Ungläubigen, die als Teil des göttlichen Plans zwar auch einen Abglanz der göttlichen Weisheit enthielten und darum auf bewahrt werden müssten, Unkundigen aber zum Schutz ihres Seelenheils nicht zugänglich sein dürften. Damit sind die Handlungskoordinaten abgesteckt. Baskerville und Adson werden während ihres siebentägigen Aufenthaltes im Kloster, in dessen Verlauf sich noch weitere Morde ereignen, heimlich die Bibliothek erforschen, zumal deutlich wird, dass die Verbrechen etwas mit einer geheimnisvollen griechischen Handschrift zu tun haben müssen, die dort auf bewahrt wird. Die Morde lasten auch auf der Begegnung zwischen den Franziskanern, unter Leitung ihres Ordensgenerals Michael von Cesena, und der päpstlichen Legation aus Avignon, unter Leitung der Inquisitoren Bernard Gui vom Dominikanerorden und Kardinal Bertrand del Poggetto, die beide am vierten Tag im Kloster eintreffen, an dem sich wieder ein Mord ereignet, was auch die Inquisitoren kriminalistisch tätig werden lässt. Sie verhaften Salvatore, einen etwas närrischen Mönch, der in seiner Jugend den Dolcinianern, einer inzwischen als Ketzer verdammten Bettlersekte angehört hatte, und ein armes Bauernmädchen, mit dem Adson zuvor eine höchst erotische Begegnung gehabt hatte und das um Nahrung bettelnd ins Kloster gekommen war, wo es von den Inquisitoren zur Hexe erklärt wird. Am folgenden Tag nehmen sie noch Remigius fest, den Kellermeister, den sie bezichtigen, einen der Morde begangen zu haben, was er nach Androhung von Folter auch zugibt. Da die Verhandlung zwischen den Franziskanern und der Legation aus Avignon zuvor schon in die vom Papst gewünschte Feindseligkeit umgeschlagen und damit gescheitert war, verlassen die päpstlichen Abgesandten die Benediktiner-Abtei bereits am 6. Tag und nehmen als Ausweis ihrer Kompetenz das Mädchen, Salvatore und Remigius mit nach Avignon, wo der Scheiterhaufen auf sie wartet. Während die Franziskaner ebenfalls (und zum Teil in wilder Flucht) die Ab- <?page no="137"?> 119 Das Mittelalter ist unsere Kindheit tei verlassen, ermitteln Baskerville und Adson weiter und erkennen, dass alle Indizien auf Jorge von Burgos deuten, einen uralten, blinden Mönch aus Spanien, dem sie bereits bei ihrer Suche begegnet waren und der unentwegt gegen jede Form von Heiterkeit und Lachen zu eifern pflegt. Sie finden ihn am Ende des sechsten Tages im Finis Africae, dem geheimsten aller Räume der Bibliothek, wo Jorge zuvor den Abt umgebracht hat und nun vor einem Folianten auf Baskerville wartet. Er sei, so berichtet Jorge, einst selbst in der Abtei als Bibliothekar tätig gewesen und habe seitdem als ihr heimlicher Herrscher darüber gewacht, dass das gefährlichste aller Bücher niemandem zugänglich war, weil es vom Lachen handle: das zweite Buch der Poetik des Aristoteles, das der Komödie gewidmet war und das Jorge einst selbst - zusammen mit Apokalypse-Darstellungen - in Spanien erworben hatte. Auf Baskervilles Einwand, dass Lachen doch naturgegeben und auch durch Wegschluss der Poetik nicht aus der Welt zu schaffen sei, erläutert Jorge, dass die Rechtfertigung des Lachens durch Aristoteles jede Autorität untergraben und damit auch die gottgewollte Ordnung des Universums zum Einsturz bringen würde. Baskerville, so Jorge, der die Seiten des Folianten mit Gift getränkt hat, an dem einige seiner Opfer zugrunde gingen, möge den Text konsultieren und sich selbst davon überzeugen. Doch als er hört, dass Baskerville die List durchschaut und Handschuhe angezogen hat, um die Seiten umzublättern, reißt er die Poetik wieder an sich, beginnt, sie zu verschlingen, und setzt im Handgemenge die Bibliothek in einen Brand, der die gesamte Abtei vernichtet. Baskerville und Adson flüchten zu Ludwig dem Bayern nach München, wo sich ihre Wege trennen, und während Baskerville im Nirgendwo verschwindet, kehrt Adson nach Melk zurück, um dort am Ende seines Lebens zu notieren: Ich gehe und hinterlasse dies Schreiben, ich weiß nicht für wen, ich weiß auch nicht mehr, worüber: Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus’. [Die Rose von einst steht nur noch als Name, uns bleiben nur nackte Namen (NdR 635)]. Das Mittelalter ist unsere Kindheit Das Interesse der italienischen Medien am Namen der Rose ist überwältigend. Im ersten halben Jahr erscheinen mehr als fünfzig Besprechungen,* und wenn darunter auch - vor allem von katholischer und croceanischer Seite - einige Verrisse sind, so überwiegt doch das Vergnügen am Formexperiment, die Freude über einen spannenden Text, die Bewunderung einer philosophisch-historischen Gelehrsamkeit und der Respekt vor Ecos politischem Engagement, das für nahezu <?page no="138"?> 120 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort alle italienischen Rezensenten außer Zweifel steht, auch wenn nur wenige es so kategorisch zuspitzen wie Laura Lilli in La Repubblica vom 15. Oktober 1980. Das Mittelalter in Ecos Text, befindet sie, gleiche „einer Allegorie des heutigen Italien“, und sie zögert nicht, die im Roman erwähnten „Ketzer“ oder Sekten wie die Dolcinianer mit den BR zu identifizieren, die Franziskaner und Baskerville mit den Eurokommunisten des PCI bzw. der Gruppe um Il Manifesto, und den Papst samt reichen Dominikaner- und Benediktinerorden, die sich um jeden Preis wie dem der inquisitorischen Repression die Macht mit den politischen Instanzen teilen wollen, mit den multinationalen Trusts. Doch abgesehen davon, dass die von Eco evozierten oder geschaffenen Romangestalten individuell zu verschieden sind, um einheitlich-modernen „Parteikonzepten“ zugerechnet werden zu können, was u. a. daraus erhellt, dass der Franziskanergruppe, mit der Baskerville verbündet ist, auch Bischof Hieronymus von Kaffa, ein (NdR 75) Idiot, und der sympathische, aber ausgesprochen chaotisch-reaktionäre Ubertin von Casale angehören, und dass es sowohl der historischen Wirklichkeit als auch Ecos Romanintention zuwiderläuft, Dominikaner und Benediktiner in eins zu setzen, ist auch der Begriff der „Allegorie“ missverständlich. Denn es geht Eco, wie er klarstellt, keineswegs darum, das (mehr oder weniger abstrakte) Eigentliche im Anderen darzustellen, was das Wesen der Allegorie ausmacht, sondern darum, seinen Leser mit dem durchaus nicht fiktiven, sondern geschichtlich realen Anderen, dem sogenannten Mittelalter, als Vorstufe zum Eigentlichen, nämlich dem ebenso geschichtlich realen Heute bzw. der eigenen sozialen, politischen, kulturellen und mentalen Wirklichkeit bekannt zu machen, um ihm ein besseres Verständnis seiner selbst zu ermöglichen. Närrisch aber wäre es, zu leugnen, dass Eco gerade auf Grund dieser geschichtsdeterminierten Gegenwartskonzeption ein besonderes Gespür für die vor allem von Fernand Braudel erforschten „Phänomene langer Dauer“ entwickelt hat, die sich in strukturellen Ähnlichkeiten manifestieren, auf die er selbst immer wieder hingewiesen hatte. Müßig zu sagen, daß alle Probleme des modernen Europa, wie wir sie heute kennen, im Mittelalter entstanden sind, von der kommunalen Demokratie bis zum Bankwesen, von den Städten bis zu den Nationalstaaten, von den neuen Technologien bis zu den Revolten der Armen, erklärt Eco denn auch 1983 anknüpfend an seine früheren Mittelalterarbeiten in der Diskussion über den Namen der Rose und folgert: Das Mittelalter ist unsere Kindheit, zu der wir immer wieder zurückkehren müssen, um unsere Anamnese zu machen (Ns 85-86). <?page no="139"?> 121 Das Mittelalter ist unsere Kindheit Eben dieser Anamnese wegen hat Eco den Namen der Rose verfasst und sich dabei den Roman des ebenfalls politisch engagierten, wenn auch katholisch-konservativen Manzoni zum Vorbild genommen, der seine Verlobten in die Lombardei des 17. Jahrhunderts verlegt hatte: Das Handeln und Denken der Romanpersonen dient zum besseren Verständnis der Geschichte. Ereignisse und Personen sind erfunden, doch sie sagen uns über das Italien jener Zeit Dinge, die uns von den Geschichtsbüchern niemals so klar gesagt worden waren (Ns 87-88). In eben diesem Sinne habe er einen Roman schreiben wollen, der nicht deshalb historisch sei, weil diese oder jene Person, die in ihm auftrete, wirklich existiert und dieses oder jenes gesagt habe, sondern weil alles, was fiktive Personen wie William sagen, in jener Epoche sagbar sein sollte. Das stellt Eco da vor besondere Schwierigkeiten, wo in seinem Roman fiktive Gestalten auftreten, die für das Geschehen unbedeutender zu sein scheinen oder nur als Repräsentanten der anonymen Volksmasse evoziert werden. Denn da wir kaum über mittelalterliche Dokumente alltäglicher Rede bzw. über - wie er selbst sagt - Dialoge (Ns 40) verfügen, musste Eco bei der Konzeption dessen, was diese fiktiven Nebenfiguren sagen, sowohl auf plausible anthropologischmentale Konstanten (wie Liebe, Hass, Angst, Hunger) als auch auf verbürgte sozial- und mentalitätsgeschichtliche Daten zurückgreifen, um kontextuell wahrscheinlich zu machen, was sie sagen. Dazu bedarf es narrativer „Tricks“. So werden in diesem Roman, dessen Hauptgestalten Intellektuelle sind, die über nationale Ursprünge und Grenzen hinweg auf Latein miteinander kommunizieren, die damaligen Volkssprachen oder Dialekte (vor allem aus dem norditalienischen Umkreis der Abtei) meist nur als - für die Hauptgestalten (und damit den Leser) - kaum verständlicher Sprachhintergrund oder aber, über die Gestalt des Salvatore, in einer andeutungsweise pathologisch begründeten Sonderform evoziert, spricht Salvatore doch ein groteskes lateinisch-multivolkssprachliches Volapük, mit dem Eco historisch korrekt in Erinnerung bringt, dass im damaligen Europa mit rudimentärem Latein so kauderwelschend kommuniziert wurde wie heute mit rudimentärem Englisch. Mit umgekehrten Vorzeichen gelten die Schwierigkeiten auch für die Diskurse der fiktiven Hauptgestalten, da diese - wie Baskerville, Adson oder Jorge - auf allen Ebenen des fiktiven Geschehens von der Notdurft bis zur philosophischen Reflexion Kohärentes von sich geben müssen, ohne gegen die historische Plausibilität zu verstoßen. Also muss Eco aus Gründen der historischen Wahrscheinlichkeit für die einen wie für die anderen auf Texte des Mittelalters oder früherer <?page no="140"?> 122 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort Zeiten zurückgreifen, die - ob aus der griechisch-römischen oder der jüdisch-christlichen Tradition - das mittelalterliche Denken strukturiert haben und die von Funktion und Form (als religiöse Texte sowie theologische oder wissenschaftliche Traktate) grundsätzlich nicht für dialogische Kommunikation oder Artikulation intimer Empfindungen vorgesehen waren. Diese Aufgabe, die Eco sich gestellt hatte, war enorm, galt es doch - um nur diese Beispiele zu nennen - unter anderem im Dienst der historischen Wahrscheinlichkeit nicht nur die fanatischen Reden des vom Hass auf das Lachen getriebenen greisen Jorge von Burgos aus Bibel-Zitaten, speziell der Apokalypse des Pseudo-Johannes, aus Kommentaren der Kirchenväter oder den Klosterregeln des Heiligen Benedikt von Nursia zu komponieren, sondern auch für den (weltanschaulich noch neutralen) Jugendlichen Adson von Melk und dessen Entwicklung hin zum skeptischen Greis mit ähnlichen Dokumenten (wie der Bibel bzw. dem Hohen Lied, Texten von Dionysius Aeropagita, Thomas von Aquin, Beda Venerabilis, Hildegard von Bingen oder der anonymen Coena Cypriani aus dem frühen Mittelalter usw.) Sprach-und Denkkompetenz bereitzustellen, die der fiktiven Gestalt historisch korrekte sinnlich-intellektuelle Welterfahrung und -benennung ermöglichte. Darum aber geht es Eco. Er will mit den Mitteln des historischen Romans anschaulich und verständlich machen, wie die Menschen der Epoche mit den Kategorien, Figuren, Formen des damaligen Denkens und Empfindens die Geburt unseres modernen Europa mit seinen bis heute im Wesentlichen unveränderten geopolitischen Strukturen ebenso individuell wie exemplarisch erfahren und interpretiert haben. Er will zeigen, wie sie die Entstehung der modernen Staaten mit ihren Nationalkulturen und -sprachen realisierten: die Entwicklung der Städte und der kapitalistischen Manufakturen und Handelsunternehmen, die auf internationalem Warenhandel und modernem Bankwesen gründen und technologische Inventionen und naturwissenschaftliche Erkenntnisse (von der Schiffsbau- und Marinetechnik bis zur Kartographie) fördern; die sozialen Veränderungen, die daraus resultieren und einerseits zu politischen Machtverschiebungen weg vom kleinen Feudaladel hin zu Allianzen von Stadtbürgertum, Großadel, Königen, Kaiser und Kirche sowie den nationalen und internationalen Auseinandersetzungen, andererseits aber auch zu bis dahin unbekannten sozialen Konflikten durch massenhafte Verarmung großer Teile zuvor autonomer, handwerklich oder landwirtschaftlich tätiger Bevölkerung führen. Mit anderen Worten: wie sie als Zeitzeugen die Entstehung der modernen kapitalistischen Gesellschaft erlebt haben, <?page no="141"?> 123 William von Baskerville oder ein Weiser, der weiß, dass er nichts weiß die - wie Eco darlegt - u. a. auch von den Konflikten zwischen katholischer Kirche und den von ihr je nach politischer Opportunität als reformatorische Mönchsorden integrierten oder als Ketzer verfolgten Laienbewegungen oder klerikalen Fraktionen begleitet wird, die dem wachsenden Reichtum der Kirche und ihrer Verstrickung in weltliche Machtpolitik seit Ende des 12. Jahrhunderts ihr Bekenntnis zur Armut entgegensetzen. Kurz: es ist die gesellschaftliche Wirklichkeit der Epoche, die von Eco romanhaft mittels fiktivem und historischem Personal in Szene gesetzt wird. Dabei verwendet er Textmaterial, das von den historischen Gestalten wie Ubertin von Casale oder Michael von Cesena auf der franziskanischen oder Bertrand del Poggetto und Bernard Gui auf der päpstlichen Seite tatsächlich produziert wurde, oder aber er unterstellt den fiktiven Gestalten historische Kenntnisse, die entweder aus zeitgenössischen Quellen oder aber aus der neuesten Geschichtsschreibung unserer Tage stammen: aus den Arbeiten der Georges Duby, Emmanuel Le Roy Ladurie, Jacques Le Goff und anderen. Das erlaubt Eco, die fiktiven und historischen Gestalten des Romans, ihre Handlungen, ihre Reden, ihre Empfindungen noch überzeugender in den geschichtlichen Kontext einzubetten, der als „fiktive Gegenwartsvorgeschichte“ - mit wenigen Einschränkungen - von der Mittelalterforschung selbst, die nicht zögert, den historischen Erkenntniswert des Namens der Rose mit Huizingas Herbst des Mittelalters und Barbara Tuchmanns Der ferne Spiegel gleichzusetzen, als so überzeugend eingestuft wird, dass sie - wie Horst Fuhrmann, Präsident der Monumenta Germaniae Historica - ernsthaft erwägen konnte, ob der Name der Rose „nicht Veranlassung geben müsse, methodische Ansätze und Ziele der Mittelalter-Forschung zu verändern.“ Das erklärt, wieso Alexander Patschovsky, Spezialist für die Geschichte der Ketzerbewegungen, schreiben konnte, dass „Ecos Überlegungen zum Ketzerphänomen [im Namen der Rose] mit zum Profundesten gehören, was über dieses Thema in den letzten Jahrzehnten gedacht und geschrieben worden ist“, und ein anderer Mediävist, Bernhard Schimmelpfenning, ergänzt: „der Name der Rose [beeindruckt] als glaubhaft fiktive Imagination des 14. J[ahr]h[undert]s, er macht mittelalterliche Geschichte wieder ‚lebendig‘.“ William von Baskerville oder ein Weiser, der weiß, dass er nichts weiß Mit dem Namen der Rose will Eco in unserer „Kindheit“, dem „Mittelalter“, die „Ursachen dessen […] aufspüren, was in der Folge entstan- <?page no="142"?> 124 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort den ist“, erkennt Max Kerner und registriert bewundernd, dass Eco zu diesem Zweck nicht nur Zitate aus mittelalterlichen Texten in seinen Roman einbaut, die aus unserer Zeit stammen könnten, sondern dass er sogar „moderne Texte“ wie Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus von 1918 „in das Mittelalter“ zurückprojiziert, ohne damit die historische Wahrscheinlichkeit seines Textes zu beeinträchtigen. Wieso das möglich ist, macht Eco gleich zu Beginn des Romans klar, lässt er doch durch den (fiktiven) Baskerville daran erinnern, dass der von ihm als Meister verehrte (und absolut reale) Franziskaner, Naturwissenschaftler und Mathematiker Roger Bacon (ca. 1214-ca. 1292) davon überzeugt war, man könne den göttlichen Plan (der Errichtung des Paradieses auf Erden) durch die Wissenschaft der Maschinen realisieren. Diese nämlich würde den Bau von Schiffen ermöglichen, die dank Navigationsinstrumenten schneller als Segelschiffe auf den Meeren kreuzen, von Wagen, die aus eigener Kraft fahren, und von winzigen Instrumenten, die ungeheure Gewichte heben könnten. Das alles, erläutert Baskerville dem jungen Adson, seien Weiterentwicklungen von Maschinen, die bereits seit der Antike existierten, wohingegen die Flugmaschinen, deren Konstruktion Bacon ebenfalls voraussähe, der Menschheit bislang unbekannt geblieben seien. Das freilich hindert Baskerville nicht, an ihre Produktion zu glauben, was er (NdR 26) damit begründet, dass Gott wolle, daß sie existieren und dass sie deshalb gewiss längst schon in seinem Geist existierten. Natürlich weiß Baskerville, dass diese Erklärung im Widerspruch steht zur philosophischen Überzeugung seines (ebenfalls nicht fiktiven) franziskanischen Mitbruders William von Ockham (1285/ 95- 1349/ 50), mit dem ihn seit Oxforder Studienzeiten tiefe Freundschaft verbindet und der solch eine Existenzweise der Ideen negiert. Und damit sind wir mitten in jener Kontroverse, die seit Aristoteles’ logischmethodologischer Antwort auf Platons Ideenlehre das philosophische Denken bestimmt, der man für das „Mittelalter“ den Namen des „Universalienstreits“ gab und die mutatis mutandis in der Auseinandersetzung von Idealismus und Materialismus ihre Fortsetzung in der Neuzeit besitzt. Grosso modo ging es für die Philosophen des „Mittelalters“ darum, zu entscheiden, ob Gattungsbegriffe oder universalia (wie „der Mensch“) den individuellen Ausprägungen („den einzelnen Menschen“) bzw. den konkreten Dingen als das Wahre-Eigentliche vorausgehen (universalia ante rem), eine Auffassung, die von den sogenannten „Realisten“ wie Anselm von Canterbury (1033-1109) oder Wilhelm von Champeaux (†1121) vertreten wurde (also von denjenigen, die - platonisch inspiriert - die universalia für das eigentlich <?page no="143"?> 125 William von Baskerville oder ein Weiser, der weiß, dass er nichts weiß Wirkliche oder Reale hielten), oder ob die universalia nicht im Sinne der aristotelischen Entelechie als den Dingen innewohnende Entwicklungsmöglichkeit (bzw. universalia in rebus) zu verstehen seien, eine Position, die von Pierre Abaelard (1079-1142) und ein Jahrhundert später von den Thomisten eingenommen wurde, oder aber ob es sich bei den universalia nicht um termini oder voces bzw. Wörter, Zeichen, nomines oder Namen handelt, die die Menschen erschaffen hatten, um die bereits existierenden Dinge zu benennen (universalia post rem), wie die sogenannten „Nominalisten“ meinten, die man als die Phalanx der empirisch orientierten Moderne betrachten kann. Der Streit zwischen „Realisten“ und „Nominalisten“, der fundamentale Konsequenzen für das Nachdenken über Gott und die Schöpfungsgeschichte hatte, steckt den philosophischen Rahmen des Namens der Rose ab, in dem sich die historischen und fiktiven Hauptgestalten bei aller grundsätzlichen Positionierung im Lager der „Realisten“ oder „Nominalisten“ der historischen Wirklichkeit entsprechend jeweils individuell-differenziert artikulieren, was durchaus Irrtümer, Widersprüchlichkeiten oder Kompromisse einschließt. Das erklärt, wieso Baskerville dem von ihm als Naturwissenschaftler und vor allem als Optik-Spezialist bewunderten Bacon, dem er - im Roman- - auch die Augengläser verdankt, ohne die er kaum noch lesen kann, auch einmal eine „realistische“ Reverenz erweist,* selbst wenn Adson dies noch im Greisenalter missbilligt und nur (26) mit den finsteren Zeiten entschuldigen kann, die auch einen klugen Mann gezwungen hätten, Dinge zu denken, die zueinander im Widerspruch standen. Und in der Tat scheint Baskerville vorwiegend im nominalistischen, der wissenschaftlich-experimentellen Erforschung der Wirklichkeit zugewandten, von den konservativen Fraktionen der Kirche als Häretiker bekämpften Lager engagiert zu sein. Das aber wird vom doctor invincibilis und venerabilis inceptor, dem „unbezwingbaren Gelehrten“ und „verehrenswerten Pionier“ William von Ockham angeführt, dem Freund des ebenfalls nicht fiktiven Michael von Cesena, der (als Ordensgeneral) auch zur Franziskaner-Delegation im Namen der Rose gehört und der zusammen mit Ockham - wie der erzkatholische Louis Moréri (1643-1680) säuerlich vermerkt - die „närrische Diskussion“ vom Zaun gebrochen hatte, die man „das Brot der Franziskaner“ genannt habe und die um die Frage kreiste, ob die Geistlichkeit die Konsumgüter („wie das Brot und den Wein“) nur „benutze“ oder de facto besäße, eine Debatte, die im Namen der Rose fröhliche Urstände feiert und in der historischen Wirklichkeit absolut nichts Närrisches an sich hatte. <?page no="144"?> 126 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort Ockham übernimmt von Duns Scotus (ca. 1265-1308) - voll Respekt vor dem unergründbaren Willen Gottes und nach dem Prinzip des credo quia absurdum - die Forderung nach Trennung von Theologie und Philosophie bzw. wissenschaftlicher Welterkenntnis, die mit der sinnlichen Wahrnehmung (der „cognitio“ oder „intelligentia intuitiva“) der Natur in ihren zufällig-individuellen Ausformungen beginnt und dem Menschen Vorstellungen („Konzepte“) von der Welt ermöglicht, die ihm als Zeichen (signum-signa) für den Verweis auf diese Welt in ihren Erscheinungsformen dienen, ohne diesen abbildhaft ähnlich zu sein, und die im Erkenntnisprozess erst ihre reale (dingbezogene) und rationale (systemische) Validität erweisen müssen. Unter dem Einfluss der aristotelischen Erkenntnislehre gelangt Ockham zu der Überzeugung, dass das Wirkliche nur das empirisch fassbare Einzelwesen, das Allgemeine hingegen nur das Produkt des vergleichenden Denkens sein kann, in dem abstrakte Begriffe (suppositiones) die Verständigung über die „Summe der Einzeldinge“ ermöglichen und dessen Logik in eins fällt mit der Zeichenlehre, was sowohl die empirische („reale“) als auch die abstrakte („rationale“) Reflexion und Kommunikation ermöglicht. Kurz: Ockhams nominalistische via moderna signalisiert das Ende des scholastischen Dogmas von der Einheit von Glauben und Wissen, begründet in nuce die moderne empirisch-rationale Welterkenntnis und erneuert die Semiotik oder Zeichenlehre*, und Baskerville wird - wenn auch immer wieder irregeleitet auf Grund spekulativer Ausrutscher, die aus der platonischsymbolischen bzw. „realistischen“ Denktradition stammen - sowohl in seiner kriminologischen Arbeit als auch in seiner Funktion als kaiserlicher Vermittler im Streit zwischen Kurie und Franziskanern diese Positionen vertreten bzw. zur Grundlage seines Handelns machen, wobei sein gelegentliches Schwanken zwischen realistischen und nominalistischen Positionen adäquater Ausdruck seines (264) sokratischen Bekenntnisses zur docta ignorantia und damit auch zu Toleranz und Offenheit für noch unbekannte, zukünftige Lösungen ist. Gerade dieses Schwanken ist bezeichnend für die - historischer Wirklichkeit entsprechende - Vielfalt von Positionen in der Ideen- Werkstatt jener Intellektuellen, die sich in der Auseinandersetzung zwischen einem auf Besitz und Macht fixierten bzw. von der Bekämpfung wissenschaftlich-laizistischer Welterkenntnis besessenen Papstum und kaiserlich-irdischer Macht um Ludwig von Bayern geschart hatten. Zu ihnen gehörte neben den Franziskanern wie William von Ockham, Michael von Cesena und (der fiktive) Baskerville auch der ehemalige Rektor der Pariser Universität und geniale Staatstheoretiker <?page no="145"?> 127 William von Baskerville oder ein Weiser, der weiß, dass er nichts weiß Marsilius von Padua (ca. 1275-1342/ 43), dessen (vielleicht zusammen mit Jean de Jandun verfasster) Defensor pacis (Verteidiger des Friedens) von 1324 zu den wichtigsten - Dantes De Monarchia vergleichbaren-- Traktaten zum Verhältnis von Mensch/ Volk und politischer bzw. geistlicher Macht in der beginnenden Neuzeit zählt. Von Aristoteles inspiriert, den Averroës (1126-1198), der große arabische Philosoph aus Córdoba, wiederentdeckt und bekanntgemacht hatte, geht Marsilius davon aus, dass der Mensch als zoon politikon von Natur aus gesellschaftlich organisiert leben müsse, wozu er des friedlichen Umgangs mit seinesgleichen bedürfe. Zu diesem Zweck müsse sich das Volk als prima causa efficiens über die Mehrheit seiner mündigen Bürger (zu der nach griechischem Vorbild Frauen, Kinder, Sklaven und Fremde nicht gehören) per Abstimmung eine staatliche Verfassung geben, die auf dem durch Gesetze geregelten Zusammenspiel der gesellschaftlichen Stände gründe und zu der auch die Delegierung der politischen Verwaltung des Staates an einen, von den Bürgern gewählten Herrscher gehöre. Dieser aber bliebe vom Willen des Volkes abhängig und sei im Prinzip bei Versagen abwählbar, so wie im Übrigen auch die Geistlichkeit - verstanden als einer unter vielen gesellschaftlichen Ständen - von der Gesamtheit der christlichen Bürger für Unterricht, Predigt und geistliche Fürsorge eingesetzt sei, den Bürgern aber in irdisch-gesellschaftlichen Dingen Rechenschaft schulde. Sie bleibt daher in Marsilius’ Entwurf auch von politischer Machtausübung ausgespart, und der Kaiser bedarf in letzter Konsequenz auch nicht der Weihe durch die Geistlichkeit bzw. den Papst. Dass dieser auf Volkssouveränität, Gewaltenteilung und Laizität orientierte Traktat als eines der frühesten Bekenntnisse zu modernem Demokratieverständnis auf den Zorn der Kurie stoßen musste, die den Verfasser des Defensor pacis 1327 als Ketzer verurteilte und in Bann tat, ist so logisch, wie es kühn ist, dass Baskerville sich in seiner Rede vor den Delegationen der Kurie und der Franziskaner als Vertreter des Kaisers offen auf seinen Freund Marsilius sowie Jean de Jandun beruft, auch wenn er deren Thesen vorsichtshalber (451) als eine lose Sammlung verstreuter Gedanken bezeichnet, die sich beileibe nicht als eine Glaubenswahrheit aufzwingen wolle. Sie tut dies freilich umso mehr, als Baskerville die Postulate seiner Freunde mit Kommentaren versieht, die Eco dazu dienen, dialektisch Perspektiven für die Zukunft zu eröffnen. So ergänzt er Marsilius’ Thesen zur Volkssouveränität zum einen durch den Verweis auf die Verfügungsgewalt über die irdischen Dinge, die Gott Adam und seinen Nachkommen und nicht etwa der Kirche gegeben habe, zum anderen durch die Relati- <?page no="146"?> 128 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort vierung des Ausschlusses der Frauen, Kinder, Sklaven und Fremden aus der Gesamtheit der stimmberechtigten Erdenbürger, stellt Baskerville doch fest (452): da man unter den Erdenbürgern auch die Kinder, die Toren, die Missetäter und die Frauen bedenken müsse, könne man sich vielleicht vernünftigerweise auf eine Definition des Volkes als dem besten Teil der Erdenbürger einigen - ohne daß es hier angebracht sei, sich darüber auszulassen, wer nun effektiv zu diesem Teil gehöre. Da undenkbar ist, dass Baskerville Toren und Missetäter in den Teil der Erdenbürger aufnehmen möchte, der als bester Verfügungsgewalt über die irdischen Dinge haben soll, ergibt sich, dass der Leser des Namens der Rose Baskervilles Modifikation des noch von Marsilius akzeptierten Ausschlusses von Kindern, Frauen, Sklaven und Fremden aus der universitas civium als das betrachten muss, was sie - da Kinder logischerweise noch nicht mitentscheiden können - ebenso logischerweise ist: ein Plädoyer für die Gleichberechtigung der Frau. Nominalistische Logik, irdische Verfügungsgewalt und das Problem der Armut Natürlich sind Baskervilles Thesen unannehmbar für die Vertreter der Kurie, aber sie sind so gut begründet, dass sie kaum widerlegbar sind, im Namen der Rose auch nicht widerlegt werden und in der historischen Wirklichkeit von der Kirche auch nur per Exkommunikation und Inquisition beantwortet werden konnten. Dass dabei - philosophisch gesehen - der Nominalismus triumphieren muss, macht Eco durch Baskervilles Rede klar, denn was könnte unwiderlegbarer sein, als die Schöpfungsgeschichte aus dem Ersten Buch Mose: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, und erst als die Erde mit „webenden und lebendigen Tieren, und mit Gevögel“, Fischen, „Vieh“ und „Gewürm“ besiedelt war, schuf er Adam. Dem brachte der Herr - noch bevor er Eva aus Adams Rippe holte - „allerlei Tiere“ vom Felde und „Vögel“ vom Himmel, „dass er sähe, wie er sie nennete; denn wie der Mensch allerlei lebendige Tiere nennen würde, so sollten sie heißen. Und der Mensch gab einem jeglichen Vieh, und Vogel unter dem Himmel, und Tier auf dem Felde seinen Namen.“ Kurz: wie Baskerville vor den Legationen in Erinnerung ruft, existierten die Tiere und Pflanzen bereits, als Adam erschaffen wurde und der Herr ihn aufforderte, ihnen Namen zu geben, und nicht etwa, ihr Wesen zu definieren. Doch selbst, wenn Adam dies versucht haben sollte, so (453) ändert das nichts an der Tatsache, daß er beim Ersinnen der Namen in der von ihm geschaffenen Sprache eine Art souveränes Recht ausübte, <?page no="147"?> 129 Nominalistische Logik, irdische Verfügungsgewalt und das Problem der Armut was daraus erhellt, dass die Namen, mit denen die Menschen, für die ja alle die gleiche Schöpfungsgeschichte gilt (und die somit alle Kinder von Adam und Eva sind), die Begriffe bezeichnen, in den verschiedenen Ländern sehr verschieden sind und die verschiedenen Sprachen nur darin übereinstimmen, dass die von den Menschen aufgrund freier und gemeinsamer Übereinkunft ersonnenen Begriffe keine Abbildung der Dinge sind, sondern Zeichen, die auf die Dinge verweisen. Ganz außer Zweifel aber stünde angesichts der Schöpfungsgeschichte, dass Gott vor dem Menschen gesprochen habe, seine Sprache also von der des Menschen verschieden sei, denn dieser habe ja seine eigene selbst erfinden müssen, was wiederum bedeute, daß die Bestimmung über die Angelegenheiten der irdischen Welt nichts zu tun habe mit der Bewahrung und Verwaltung des Verbum Dei, jenen unveräußerlichen Privilegien der kirchlichen Hierarchie. Natürlich sei bedauerlich, dass die nicht christlichen Menschen dieser Erde nicht über die exegetische Instanz der Kirche und damit die richtige Auslegung von Gottes Wort verfügten. Aber auch dies entspräche ja dem göttlichen Willen, und da auch die nicht christlichen Völker sich nach eben diesem göttlichen Willen staatliche Verfassungen und Gesetze gegeben hätten, könne man daraus ableiten, dass Gott dem Menschen die Sprachkompetenz gegeben habe, damit er sein Leben auf Erden regeln könne. Dadurch (454) sei bewiesen, daß die weltliche Herrschaft und die irdische Jurisdiktion nichts mit der Kirche und den Gesetzen Jesu Christi zu tun haben, sondern vielmehr von Gott gesetzt worden sind, außerhalb jeder kirchlichen Approbation und lange bevor überhaupt unsere heilige Religion entstanden ist. Diese seine Deduktionen, so Baskerville, würden durch das Vorbild Jesu bekräftigt, sei dieser doch bekanntlich nicht in die Welt gekommen, um zu befehlen, sondern habe sich den Gesetzen des Kaisers gebeugt und auch nicht verlangt, dass die Apostel jeder weltlichen Zwangsgewalt enthoben würden. Logische Konsequenz: wenn Jesus und die Apostel nicht irdische Gewalt hatten ausüben wollen, mit welchem evangelischen Recht könnten ihre Nachfolger, der Papst, die Bischöfe und die Priester, diesen Anspruch erheben, ein Anspruch, der umso absurder sei, als Gott die Entscheidung zum christlichen Seelenheil (455) in den freien Willen des Einzelnen gestellt habe! Dies alles sei keineswegs eine Beschränkung der Macht des obersten Pontifex, sondern im Gegenteil eine Erhöhung seiner Mission, die nicht darin bestünde, irdische Macht auszuüben, zumal es besonders absurd wäre, wenn der Papst zwar Jurisdiktion über die Angelegenheiten des Kaiserreichs hätte, nicht aber über die Angelegenheiten der übrigen Reiche auf Erden. Die Kirche von <?page no="148"?> 130 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort Avignon (456) täte gegenüber der ganzen Menschheit Unrecht, wenn sie behaupten wollte, es käme ihr zu, die Wahl des römischen Kaisers zu billigen oder für ungültig zu erklären […] Eine solche Abhängigkeit des Kaisers vom göttlichen Segen ergebe sich weder aus göttlichem Recht […], noch aus dem Recht der Völker […] Natürlich sind alle diese Überlegungen vom Defensor Pacis (und von der dialektischen Logik Ecos) inspiriert, und Baskerville krönt sie denn auch mit dem Bekenntnis, er habe zusammen mit Jandun und Marsilius von Padua aus den - in seiner Rede unterbreiteten Argumenten- - auch bescheidene Denkanstöße für die Armutsfrage abgeleitet. Denn wenn auch umstritten, weil biblisch unbelegbar bliebe, welche Haltung Christus gegenüber Reichtum und Armut eingenommen habe, könne doch niemand behaupten, Jesus habe für sich oder seine Jünger eine weltliche Jurisdiktion beansprucht, so dass man in dieser Distanz Unseres Herren zu den weltlichen Dingen ein hinreichendes Indiz für die Annahme sehen könne, daß Jesus im gleichen Maße der Armut zugetan war. Bettelorden und Universitäten oder die Geburtswehen des modernen Buchwesens Gewiss, das alles ist Fiktion. Das Treffen zwischen Franziskanern und päpstlicher Legation im norditalienischen Kloster, die Leitung des Treffens durch einen Vertreter des Kaisers sowie dessen Rede. Nicht fiktiv aber sind die in dieser Rede vorgetragenen Thesen, die Querelen zwischen Papst und Kaiser und die Flucht der Bonagratia von Bergamo, Ubertin von Casale, Jean de Jandun, Marsilius von Padua, Michael von Cesena und William von Ockham an den Hof Ludwig des Bayern, nach München. Auch die Bettelorden und die Armut, die im Streit zwischen weltlicher und geistlicher Macht Konstellationen ergeben, in denen die Ausarbeitung sozialer Thesen wie der von Marsilius von Padua oder Ockham möglich werden, sind nicht fiktiv. Wie dokumentiert, hatte Eco bereits 1974 in seiner Laudatio auf Thomas von Aquin die Lage Europas im 13. Jahrhundert bilanziert und angesichts der Entwicklung der Städte, der Industrialisierung, des Handels sowie der Finanz- und Bankwirtschaft konstatiert, dass dies alles nicht mehr „Mittelalter“ sei. Im Übergang zum 14. Jahrhundert, in dem sich u. a. die nationalsprachlichen Literaturen definitiv durchsetzen, radikalisiert sich diese Entwicklung, was entsprechende Folgen hat, die Eco im Namen der Rose ins Bewusstsein ruft. Zu diesen gehört auch, dass (255) immer breitere Volksschichten verarmen, worauf die Stadtbürger zum einen mit christlich-karitativen Maßnamen, zum an- <?page no="149"?> 131 Bettelorden und Universitäten oder die Geburtswehen des modernen Buchwesens deren aber auch mit Kontrolle des Bettelwesens und Verfolgung derer reagieren, die man als Betrüger betrachtet. Ganz ähnlich verhält sich der Klerus, der wie - der im Vergleich mit den Papstanhängern noch moderate - Fossanova in der Hinwendung ganzer Volksschichten zu Laienpredigern oder neuen Orden, die das Bekenntnis zur Armut als christliches Lebensprinzip fordern, nichts anderes sieht, als Unzucht und Häresie, begangen von (193) Sündern, die meinen, sie könnten ungestraft tun, was sie wollen, und der sie alle, ob Dolcianer, Fratizellen, Minoriten, Patarener oder Waldenser und Katharer als Ketzer verdammt. Dem stehen die vom Papsttum zunächst begrüßten Bettelorden wie Franziskaner, Dominikaner oder Augustiner entgegen, die von Rom gegen den säkularen Klerus mit seinem Bischofswesen bzw. gegen das mit ihm verbundene Stadtbürgertum ausgespielt werden, bevor der Kampf zwischen geistlicher und weltlicher Macht zu jenen Konstellationen führt, die den historischen Hintergrund des Namens der Rose bilden und zu denen u. a. auch der Gesinnungswandel der Dominikaner zählt, die von der Propagierung des Armutsgelübdes zu seiner Bekämpfung umschwenken und zu treuen Dienern des Papsttums werden, für das sie nach und nach exklusiv die Drecksarbeit der Inquisition übernehmen. Dies alles erklärt, warum Baskerville (77-78; 87-88) zum Skeptiker wurde, der gelernt hat, die religiösen Differenzen zwischen vermeintlich Rechtgläubigen und angeblichen Ketzern als analoge Dogmatisierungen zu relativieren, was ihn veranlasste, von seinem Inquisitorenamt zurückzutreten. Er erkennt die sozialen Ursachen für die vorgeblich religiösen Antagonismen und schließt aus ihnen auf die tatsächlichen Motivationen und Interessen, die die streitenden Gruppierungen unterscheiden. Der pauschalen Verdammung der Laienprediger und Bettelorden durch Fossanova setzt er daher eine differenzierte Beurteilung entgegen. Das Leben der einfachen Leute, sagt er (194), sei durchzogen von Krankheit, Armut und Unwissenheit und das Mitlaufen in einer Ketzergruppe für viele von ihnen nur eine Art, die eigene Verzweiflung hinauszuschreien. Dabei würden sie immer wieder Opfer jener Gruppen, die vorgeben, aus religiösen Gründen zu handeln, in Wahrheit jedoch weltliche Ziele verfolgen (195): Das einfache Volk war immer nur Schlachtvieh und Werkzeug, sagt Baskerville, der weiß, dass der Aufstieg der Stadt auch negative Folgen gezeitigt hat (194): sie ist der Ort des Skandals, wo der reiche Prälat dem hungernden Volk die Armut predigt. Diese Verurteilung der Stadt ist, was Fossanova und Baskerville verbindet, auch wenn sie bei beiden ganz verschieden motiviert ist. <?page no="150"?> 132 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort Denn wenn Baskerville die Stadt anprangert, so nicht, weil er deren gesellschaftliche Entwicklung rückgängig machen möchte, sondern weil sie ihm nicht fortschrittlich genug ist. Dafür macht er religiöse Borniertheit und kirchliche Denkverbote verantwortlich, die von der Inquisition durchgepeitscht werden, weil die Kirche fürchtet, den Kampf um die Städte bzw. die seit dem 12. Jahrhundert gegründeten Universitäten gegen das Bürgertum, den Nominalismus und die Erforschung der Natur zu verlieren. Das erklärt auch die Kehrtwende der Kurie in Sachen Bettelorden, hatte sie diese doch zuerst als religiöse Speerspitze gegen das Bürgertum und die mit diesem verbündete Weltgeistlichkeit unterstützt, die bis dahin an den Latein- und Domschulen und im 12. und beginnenden 13. Jahrhundert auch noch an den Universitäten dominiert hatte, wo sie die sieben artes liberales, eingeteilt in Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) sowie Theologie, Recht und Medizin unterrichtet hatte. Dabei war Rom so erfolgreich, dass binnen kurzem die Universitäten von Bettelorden erobert wurden, was sich freilich als Bumerang für die Kirche erwies. Denn nicht nur, dass es dadurch zur Herausbildung von Massenunversitäten kam, was erhebliche Folgen für die Stadtkultur hatte*: mit den Bettelorden zog erst aristotelisches, dann nominalistisches Denken, das inzwischen die Orden erobert hatte, und damit die Forderung nach moderner Naturwissenschaft in die Universitäten ein und untergrub die Vormachtstellung der „Realisten“, das Postulat der Einheit von Wissenschaft und Theologie und damit - auf Dauer - das Mitspracherecht der Kirche in Sachen Wissenschaft. Fossanova belügt sich also selbst, wenn er sagt, er wolle sich mit Baskerville gegen die päpstliche Legation verbünden, weil (195-196) der Kaiser die Ordnung garantiere, in der das Gottesvolk zu leben habe, und den Papst bekämpfen, weil der dabei sei, die geistliche Macht den Stadtbischöfen zu übertragen, die sich mit den Kaufleuten und Zünften verbünden und diese Ordnung nicht mehr zu wahren vermögen. Denn das ist längst Vergangenheit, wie Fossanova selbst zugibt, wenn er (51- 52) sagt, dass viele der Abteien, die noch vor zweihundert Jahren blühende Zentren der Größe und Heiligkeit und Hort des Wissens waren, inzwischen zu Zufluchtstätten für Faulpelze verkommen seien. Mächtig, so meint er, sei der Benediktinerorden zwar immer noch, doch der Gestank der Städte kreist unsere heiligen Stätten mehr und mehr ein, das Volk Gottes ist heute dem Handel zugetan […] Drunten in den dicht besiedelten Ebenen […], spricht man nicht nur die Volkssprache […], sondern man schreibt sie bereits! Möge nie eins dieser Bücher in unsere <?page no="151"?> 133 Bettelorden und Universitäten oder die Geburtswehen des modernen Buchwesens Mauern gelangen […] Mundus senescit, die Welt vergreist! Wenn Gott unserem Orden noch einen Auftrag gegeben, so ist es heute der […], den Schatz des Wissens […] zu wahren, zu hüten und zu verteidigen […] und das Wort Gottes zu hüten, wie er es den Propheten und Aposteln offenbarte, wie es die Väter getreu wiederholten, ohne ein Jota zu ändern, und wie es in den Schulen ausgelegt wurde […] Damit ist ein weiteres Thema angeschnitten, das Ecos Roman strukturiert: der Funktionsverlust der Abteien, deren Bibliotheken seit Karl dem Großen die Aufgabe der Bewahrung und Weitergabe des Wissens wahrnehmen sollten. Um das deutlich zu machen, hat Eco seine fiktive Abtei mit der größten aller Bibliotheken ausgestattet*, deren Reichtum an seltenen Büchern bewirkt, dass diese Abtei neben der Stadtkultur noch eine Schattenexistenz besitzt. Diese Konstruktion ermöglicht Eco, sowohl ihre ehemalige Funktion, als auch ihren Niedergang zu verdeutlichen und auf diesem Hintergrund den Beginn jener Revolution zu evozieren, deren Bedeutung er 1961 in der Illustrierten Geschichte der Erfindungen mit der Erfindung der Schrift gleichgesetzt hatte, die Entstehung des Buchdrucks: Die moderne Zivilisation wurde geboren aus den Experimenten einiger Drucker, die nur daran dachten, ein technisches Problem zu lösen, in Wirklichkeit aber einem in ihrer Zeit dringlich gewordenen Bedürfnis entsprachen, Worte und Ideen zu verbreiten (ZN 113). Zur Zeit der Hochblüte jener Klosterbibliotheken, von der die namenlose des Romans noch Zeugnis ablegt, existierten Bücher nur als Manuskripte. Die Texte wurden per Hand auf ungegerbte, mit Kalk gebeizte und dünn geschabte Tierhäute, die sogenannten Pergamente geschrieben. Das war ein aufwändiges Verfahren, das von der Herstellung des Pergaments bis zur Niederschrift des Textes, die in den Werkstätten oder Skriptorien der Klöster erfolgte, eine Vielzahl von Stadien durchlief, wofür eine Reihe hochspezialisierter Handwerker benötigt wurde. Natürlich war die Fabrikation derartiger Manuskripte auf wenige Exemplare limitiert, und die Formate der zu - Codices genannten- - Folianten gebundenen Blätter waren riesig, zumal man schon früh begonnen hatte, die kostbaren Bücher in Schönschrift zu verfassen, mit Vignetten zu versehen und mit Miniaturmalerei zu „illuminieren“. Dass diese Manuskripte extrem teuer waren - das Pergament vermeintlich nicht mehr benötigter Manuskripte schabte man daher wieder ab und verwendete es als „Palimpseste“ für andere Texte weiter-- und dass darum als Käufer nur kirchliche Instanzen oder reiche Adlige in Frage kamen, die sich in jener, von Analphabetismus geprägten Zeit auch Vorleser leisten konnten, liegt auf der Hand. In den <?page no="152"?> 134 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort Städten mit ihren Universitäten aber entstehen neue Informations- und Lesebedürfnisse, die zur Marginalisierung der Klöster führen, was für diese ruinöse Folgen hat. Er wisse, sagt Baskerville bei der ersten Begegnung mit Fossanova (50), daß selbst ein so ruhmreiches Kloster wie Murbach in unseren traurigen Zeiten keinen einzigen Schreiber mehr hat und daß in Sankt Gallen nur noch wenige Mönche leben, die des Schreibens kundig sind, denn heutzutage sind es die Städte, in denen sich Zünfte und Gilden ausbreiten, bestehend aus weltlichen Schreibern, die im Dienst und Auftrag der Universitäten arbeiten. „Aber das Buch der Universität“, so Jacques Le Goff, „unterscheidet sich grundlegend vom Buch des Hochmittelalters. Es gehört in einen ganz neuen technischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext, ist Ausdruck einer anderen Zivilisation.“ Das Buchformat wird studentischen Bedürfnissen gemäß reduziert, die Schrift wird kleiner und nimmt über Kürzel bisweilen den Charakter von Stenografie an, damit mehr auf die Seite geht. Die Letter wird einfacher, damit schneller produziert werden kann, die Feder ersetzt das Schilfrohr, die „Verzierung der Bücher nimmt ab: Zierbuchstaben und Miniaturen werden serienmäßig hergestellt“: „Eine erste Revolution hat stattgefunden: Das Buch ist nicht länger ein Luxusgegenstand, es ist zum Instrument“ und damit „zum industriellen Produkt und zum Handelsgegenstand geworden“: „Das ist eher eine Geburt als eine Wiedergeburt vor der Einführung des Buchdrucks,“ folgert Le Goff, und Adson ergänzt in Erinnerung an die Morde im Kloster (233): Längst schon kopierten die Domschulen, Universitäten und städtischen Zünfte ebenfalls Bücher, mehr und besser womöglich als wir, und sie produzierten neue Bücher - und das war vielleicht überhaupt der Grund für all dieses Unheil. Adson hat recht. Zwar verfügt die Klosterbibliothek in ihrem Skriptorium noch über das gesamte Werkzeug, dessen die Kopisten, Rubrikatoren, Restauratoren oder Miniaturisten bei ihrer Arbeit bedürfen: Tintenfässer mit entsprechenden Farben und Substanzen, feine Federn, winzige Messerchen, Bimssteine, Lineale usw. Doch die Arbeitstische sind nicht mehr alle besetzt, und wer in der Bibliothek arbeitet, kommt selten aus Italien, was heißt, dass das Kloster in keinem vitalen Bezug zur italienischen Stadtkultur steht. Man kopiert Manuskripte zur Vervollständigung von Beständen anderer Bibliotheken, leiht an Sammler aus, benutzt Manuskripte auch schon mal für Tauschgeschäfte (z. B. wenn das Kloster Wein benötigt) und macht sie nach und nach zum Gegenstand eines Kults, den man durchaus als Bibliophilie bezeichnen kann. Dies macht zum einen, dass der Gebrauch von Büchern zum Wissenserwerb - wegen der Abnützung der Bücher - als <?page no="153"?> 135 Bettelorden und Universitäten oder die Geburtswehen des modernen Buchwesens Wertverlust, zum anderen das Teilen des Wissens als Verlust eines privilegierten Status empfunden wird. Denn, so Adson, würde sich das Wissen aus den Büchern in der Welt ausbreiten, so würde sich dieser heilige Ort in nichts mehr von einer Domschule oder städtischen Bibliothek unterscheiden. Daher, so erkennt er, glaube die Klosterbibliothek, die sich als Hort des Wissens verstanden hatte, dieses Wissen nur unversehrt erhalten zu können, wenn sie verhindert, daß es jedem Beliebigen zugänglich wird, und er folgert, Wissen sei eben nicht wie das Geld, das noch die schändlichsten Tauschhandel physisch unversehrt überstehe: Das Wissen gleicht eher einem kostbaren Kleid, das durch Gebrauch und stolzes Vorzeigen abgenutzt wird. Und gilt nicht dasselbe auch für den Träger des Wissens, das Buch? Sollte man also aufhören, zu lesen, und Bücher (234) nur noch pfleglich bewahren, wie sich Adson verwirrt fragt? Darauf erteilt Baskerville wenig später eine kategorische Antwort, die (506) nahezu wörtlich Gedanken aufgreift, die Eco in der mit Munari, Renate Ramge und Zorzoli 1961 edierten Illustrierten Geschichte der Erfindungen formuliert hatte (ZN 113): Das Wohl eines Buches besteht darin, gelesen zu werden. Bücher sind aus Zeichen gemacht, die von anderen Zeichen reden, die ihrerseits von den wirklichen Dingen reden. Ohne ein Auge, das sie liest, enthalten sie nur sterile Zeichen, die keine Begriffe hervorbringen, und bleiben stumm. Vielleicht ist diese Bibliothek einst entstanden, um die Bücher, die sie enthält, zu schützen. Aber nun lebt sie, um die Bücher in sich zu begraben. Zwar steht Baskerville der Idee des ironischen Aymarus von Alessandria, der zur geheimen Opposition in Fossanovas Abtei gehört, skeptisch gegenüber, das Skriptorium in eine Manufaktur umzufunktionieren, in der man (159) schöne Bücher herstellen müsse, um mit ihnen Handel zu treiben, aber er lässt keinen Zweifel daran, dass es (118) ein großes Übel wäre, würde man die Quellen der Wissenschaft unter Verschluß halten, statt (260-262) die Biblioteken zum Ort der allgemeinen Wissensvermittlung zu machen. Für diese müssten auch Bücher in den neuen, bisweilen (259) vom Bürgertum gegen den Klerus geförderten Volkssprachen von den Bibliotheken erworben werden, zumal Baskerville nicht glaubt, dass der Klerus das Privileg des Lesens, Nachdenkens und Lehrens bewahren könne (262): heute gibt es Gelehrte außerhalb der Klöster und Kathedralen, ja sogar außerhalb der Universitäten. Zum Beispiel hier in Italien: Der größte Philosoph, den unser Jahrhundert bislang hervorgebracht hat, war kein Mönch, sondern ein Privatgelehrter. Natürlich meint Baskerville Dante. Aber für die Klosterbibliothek kann weder Dante, der als Dichter auf Italienisch, als Wissenschaft- <?page no="154"?> 136 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort ler und Philosoph aber auf Latein schreibt, noch irgendein anderer Rettung bringen. Sie wurde aus Angst vor der modernen Welt total abgeschottet. Ein altes, absurdes Katalogsystem verhindert Einblick in den Bestand, eine Ausleih-Zensur macht sie so gut wie unzugänglich, und seit Jahrzehnten wurden keine neuen (und schon gar volkssprachlichen) Bücher mehr angeschafft. Und dennoch hat das Neue Einzug gehalten und wird dazu beitragen, mit seiner Sprengkraft die alte Institution von innen heraus zu vernichten. Dazu gehört das unglaublich kleine, handflächengroße Büchlein, eine Art von Comic mit Tiergrotesken, das Adelmus von Otranto, der Miniaturenmaler, angefertigt hatte, der erste Tote in jener Serie geheimnisvoller Mordfälle, die Baskerville und Adson aufzuklären suchen. Denn wenn auch der Tod des Adelmus letztlich nur indirekt mit der Bibliothek zu tun hat, sein Büchlein ist der Absicht Fossanovas und seiner Bibliothekare, die Weitergabe von Wissen zu verhindern, diametral entgegengesetzt, zielt doch das kleine Format auf leichtere Zirkulation der Ware Buch und ihre allenthalben mögliche Konsultation ab. Und noch ein anderes Buch in der Klosterbibliothek ist - eine Pioniertat! - von der Fertigung her für schnellere Produktion und Divulgation konzipiert. Es ist das vermutlich einzige Buch dieser Bibliothek, das nicht auf Pergament geschrieben wurde, sondern auf dem „besten und wohlfeilsten Druckmaterial“, das zusammen mit „der Ölfarbe und der Schraubenpresse“ dem modernen Buchdruck präludiert, dessen Anfänge sich bis zu den breve-Druckern am Beginn des 13. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen. Arabischen Ursprungs, war dieses Material im 12.-Jahrhundert zuerst in der Gegend um Valencia produziert worden und hatte sich von da über Italien nach ganz Europa ausgebreitet, um dann nach Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern mit diesem zusammen die Produktion von Büchern in grundsätzlich unbegrenzter Stückzahl zu erschwinglichen Preisen zu ermöglichen. Kein Wunder also, dass dieses Vorausexemplar des revolutionierten Buchwesens das Herz des hellsichtigsten Reaktionärs in jener norditalienischen Abtei, des blinden Jorge, mit Abscheu erfüllen muss, und natürlich handelt es sich um jenes Buch, dessentwegen die Morde geschehen: den zweiten Teil der Poetik des Aristoteles. Den hatte der Bibliotheksgehilfe Benno von Uppsala kurz in der Hand gehabt, und er hatte ihn überrascht, war doch (564) das Pergament […] weicher als sonst Pergamente und sah eher aus wie Stoff, aber ganz dünner. Da fällt bei Baskerville, der hinter diesem Buch her ist, der Groschen: ‚Charta lintea, oder wie die Spanier sagen, pergamino de paño‘, ruft er aus: Leinenpapier! Und er weiß jetzt, wer das Buch in die Abtei gebracht <?page no="155"?> 137 Jorge, der Apokalyptiker, oder die Verachtung der visuellen Massenmedien hat, denn als er begreift (598), daß dieses Buch aus Papier besteht, fällt ihm Silos ein. Im Kloster von Silos, in der Nähe von Burgos, Jorges Heimat, hatte man, als Jorge einst die spanischen Manuskripte für die norditalienische Abtei erwarb, für die Buchherstellung bereits Leinenpapier verwendet, das damals noch überaus selten war.* Das aber hat natürlich in einer Klosterbibliothek nichts zu suchen (oder muss dort zumindest versteckt werden), die allen Innovationen im Buchwesen feindlich gegenübersteht, weil diese die geistige Revolution ermöglichen, die auch die einfachen Menschen anspornt, lesen und schreiben zu lernen (ZN 113), bzw. mit den Worten der Fossanova und Jorge: weil diese Innovationen im Buchwesen (52) die Ankunft der ‚bestia immunda‘, die wir Antichrist nennen, besiegeln. Tiefer mit Gift getränkt als Pergament es sein könnte, wird das papierene Manuskript, an dem sich zuvor noch drei andere Mönche vergiftet hatten, am Ende von Jorge verschlungen, und das, was Jorge nicht mehr schlucken kann, verbrennt in der Feuersbrunst, der die Klosterbibliothek mit ihren pergamentenen Folianten als letztes Leuchtzeichen des Mittelalters zum Opfer fällt. Jorge, der Apokalyptiker, oder die Verachtung der visuellen Massenmedien Natürlich ist auch einiges von der Vorstellung des verehrungswürdigen blinden Alten, des Sehers wie Teiresias und des Sängers wie Homer, von der Antike in die frühchristliche Zeit hinübergelangt, und ebenso natürlich gehört Hilfe, die man blinden Alten erweist, auch-- und zumal nach Gründung der Hospitaliter- und der Bettlerorden - zum Gesamt der christlichen Barmherzigkeit. Aber genauso entscheidend für die christliche Bewertung von Blindheit ist, dass sie in Altem und Neuem Testament sowohl im konkreten Sinn als Gott gewollte Strafe oder von Jesus geheilte Behinderung, als auch im übertragenen als Hindernis auf dem Weg zum Glauben oder sogar als sündige Weigerung, die christliche Wahrheit zu erkennen, verstanden wird, was erklärt, dass z. B. in der mittelalterlichen Kunst das Volk Israel als Synagoge mit verbundenen Augen dargestellt wird. Dass sich dieses biblisch negative Verständnis von Blindheit im Zeitalter des Nominalismus und der Hinwendung zu Empirie und wissenschaftlichem Experiment mit ihrer metaphorischen Verwendung als Unfähigkeit, die reale Welt zu erkennen, verbindet und für die Renaissance geradezu emblematisch werden wird, ist logisch, und so kann denn auch Roger Bacon, zitiert von Eco in seiner Illustrierten Geschichte der Er- <?page no="156"?> 138 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort findungen, von der Optik als „Wissenschaft vom Sehen“ erklären (ZN 110): „ein Blinder kann, wie man weiß, nichts von der Welt erkennen.“ Im Namen der Rose stehen sich der mit zwei Brillen oder „sechs Augen“ bewehrte Baskerville als Repräsentant der Aufklärung und der blinde Greis Jorge de Burgos gegenüber. Der tut so - wie Adson (105) erinnert - als besitze er das innere Auge bzw. die Gabe der Prophetie. In Wahrheit aber ist Jorge, der von Fossanova ehrwürdig und weise genannte zweitälteste Mönch des Klosters, den die meisten Mönche voll Furcht und Schrecken verehren, ein religiöser Obskurantist, der sich (609) für die Hand Gottes hält und mit seinen apokalyptischen Prophezeiungen auch den Abt und die Bibliothekare manipuliert. Denn während diese die Bibliothek grundsätzlich aus soziokulturellen Gründen abschotten, wurzelt Jorges Hass auf Wissenserwerb und -weitergabe in unhinterfragbarem religiösen Fanatismus, mit dem er dem absurd-vergeblichen Kampf der Abtei gegen den sozialen Abstieg weltanschauliche Rechtfertigung verleiht. Es sei das Eigentliche des Wissens als einer menschlichen Sache, verkündet er (509), dass es in der Zeitspanne von der Weissagung der Propheten bis zu ihrer Deutung durch die Väter der Kirche vollendet worden sei: Es gibt keinen Fortschritt, es gibt keine epochale Revolution in der Geschichte des Wissens, es gibt nur fortdauernde und erhabene Rekapitulation. Kurz: mit der Bibel und den von der Kirche sanktionierten Kommentaren ist, so Jorge, alles gesagt gewesen. Hinzugefügt werden müsse nichts, und Aufgabe der Bibliotheken sei es, das Gesagte aufzubewahren, damit es - unzugänglich für Unbefugte - von kirchlichen Instanzen wieder und wieder überdacht werden könne. Jorge benutzt also die durchaus mögliche positiv-christliche Einstellung zur physischen Blindheit, um des blinden Glaubens zuliebe geistige Blindheit und somit Verzicht auf wissenschaftliche Welterkenntnis zu propagieren. Damit befindet er sich natürlich in Opposition zu allem, auf Welterkenntnis orientierten nominalistisch-wissenschaftlichen Streben der Epoche, das Jorge nicht (511) nur von den hochfahrenden Universitäten, sondern auch von den himmelstürmenden Domen repräsentiert sieht. Gemeint ist die moderne Baukunst mit ihrer, vom geometrischen, mathematischen Geist bestimmten, für alle Volksstände offenen Gliederung des Raums, mit ihrer linearen Aufwärtsbewegung und mit ihrer Aufhebung der Körperlichkeit durch das Licht der immer größeren Fenster, kurz: die Gotik, die Eco in der Illustrierten Geschichte der Erfindungen als Triumph des Rationalismus der von Franziskanern und Dominikanern geförderten scholastischen Theologie und Philosophie und der neuen Stadtkultur zuordnet (ZN <?page no="157"?> 139 Jorge, der Apokalyptiker, oder die Verachtung der visuellen Massenmedien 103): Die Kirchen wurden größer und größer, ihr Raum strebte mehr und mehr zur Gestalt einer hohen Halle, in der sich das Volk als Einheit empfinden […] konnte […] Diese Stadtkirchen dienten nicht nur dem Gebet […] sie waren auch die ersten bürgerlichen Parlamentsgebäude […] Die gotischen Stadtkirchen sind für eine demokratische Gesellschaft bestimmt, die in ihnen zu Massenversammmlungen sowohl religiösen wie politischen Charakters zusammenkommt. Der historischen Wirklichkeit entsprechend, in der die Benediktinerklöster die Hauptträger des romanischen Kirchenbaus waren, der den Idealen einer hierarchisch gegliederten, aristokratischen Gesellschaft entsprach, sind gotische Elemente im Kloster des Namens der Rose extrem rar, wie Adson feststellt. In der Kirche steht (66) eine steinerne Muttergottes, geformt im modernen Stil, und auch die Kirche hat man über dem Chor (56) in neuerer Zeit mit einem kühn zum Himmelsgewölbe emporweisenden Dachreiter verziert. Aber die Abteikirche selbst strebt nicht schwindelerregend gen Himmel wie die gotischen Kathedralen, sondern sie ist eine robuste romanische Kirche, wie unsere Vorfahren sie zu bauen pflegten […], fern den Kühnheiten und übertriebenen Schnörkeln des modernen Stils. Dass Adson dies noch am Ende des 14. Jahrhunderts, zur Zeit der Spätgotik, mit Wohlgefallen konstatiert, entspringt Ecos narrativer Strategie, ermöglicht doch Adsons altmodische (aber maßvolle) Kritik an (Übertreibungen) der damaligen Moderne, demselben Adson eine zum Teil enthusiastische Präsentation der romanischen Kunst in den Mund zu legen, die ergänzt wird durch die Begeisterung, mit der Nicolas von Morimond, der Glasermeister des Klosters, die Perfektion der romanischen und frühgotischen Kirchenfenster, aber auch der Reliquien preist, und mit der Fossanova von den herrlichen Kultgeräten seines Klosters sowie von den Edelsteinen seiner Amtsinsignien schwärmt. Dieser Begeisterung, die in Adsons Lob der (97) claritas gipfelt, des Lichts, der Quelle aller Schönheit und Weisheit, die zusammen mit der Unversehrtheit oder Vollendung und der maßvollen Proportion oder Harmonie die Vision vom Schönen, Friedlichen und Guten bewirke, steht Jorges Verdammung des ästhetischen Vergnügens insgesamt sowie der bildlichen Darstellung im Skulpturenornament der Sakralbauten, aber auch im Besonderen in den Illustrationen der Handschriften entgegen. Das ist zunächst umso erstaunlicher, als Jorge einst selbst jene mozarabischen, nach Beatus von Liébana benannten, illustrierten Kommentare zur Apokalypse erstanden hatte, zu deren Ankauf (388) der jugendliche Alinardus von Grottaferrata geraten hatte, um seine Qualifikation als Bibliothekar unter Beweis zu stellen. Er aber war von <?page no="158"?> 140 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort seinem Konkurrenten Jorge ausgestochen worden, der sich nach Silos hatte schicken lassen, von wo er mit so reicher Beute zurückkam, dass er zur Belohnung die Bibliothekarsstelle bekam. Durch ihn war also die norditalienische Klosterbibliothek in den Besitz der (402) vielleicht größten Sammlung von Abschriften der Apokalypse sowie einer Unzahl von Kommentaren des Heiligen Buches gelangt, unter denen sich auch voluminöse Folianten befanden, die dem Apokalypsenkommentar des Beatus von Liébana gewidmet waren: Der Text war jedesmal mehr oder weniger derselbe, schreibt Adson, aber wir fanden eine phantastische Vielfalt von Variationen in den Bildern, und William erkannte die Signaturen einiger Buchmaler, die […] zu den größten des Reiches Asturien zählten: Magius, Facundus und andere mehr.“ Natürlich ist dies auch eine Erinnerung an Ecos Beatus-Edition von 1973. Wichtiger freilich: ohne diese Geschichte des von Alinardus empfohlenen und von Jorge vollzogenen Erwerbs der illustrierten Apokalypse-Kommentare bliebe in letzter Konsequenz der gesamte Roman unverständlich. Sie allein erklärt, wieso Alinardus, der senile älteste Mönch des Klosters, Baskerville den Text der Apokalypse als Schlüssel für die Aufklärung der Morde empfiehlt, und sie erklärt, was in dem blinden Jorge tatsächlich vorgeht. Von der Apokalypse und ihren Illustrationen bzw. ganz allgemein von bildlichen Darstellungen dieser Art besessen, leidet Jorge unübersehbar an dem, was die moderne Psychoanalyse „Fixierung“ nennt und Adson korrekt diagnostiziert (108): ich bewunderte sein genaues Gedächtnis, hatte er doch, obwohl vielleicht schon seit Jahren erblindet, noch sämtliche Bilder im Kopf, deren Schändlichkeit er so lebhaft schilderte. Ja, mir kam der Verdacht, daß diese Bilder ihn seinerzeit sehr erregt haben mußten […] Doch es ging mir auch später in meinem Leben noch häufig so, daß ich die verführerischsten Schilderungen ausgerechnet in Texten jener höchst tugendsamen und standhaften Männer fand, die den Zauber ihrer verderblichen Wirkung am allerheftigsten brandmarkten. Mit anderen Worten: Jorge, der unentwegt gegen die bildliche Interpretation biblischer Texte eifert, tut dies, weil er unfähig ist, ihnen gegenüber Distanz aufzubauen. Das hat zweierlei Konsequenz. Zum einen erneuert er mit seiner Fixierung auf die spanischen, zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert im Anschluss an arabische Vorbilder entstandenen Apokalypse-Illustrationen den Bilderstreit, der - anknüpfend an das biblische Gebot, demzufolge der Mensch sich von Gott bzw. dem Himmel „kein Bildnis“ machen dürfe - die frühchristlichen Jahrhunderte erschüttert hatte, 843 jedoch mit der Akzeptierung der Bilderverehrung auf der Syno- <?page no="159"?> 141 Jorge, der Apokalyptiker, oder die Verachtung der visuellen Massenmedien de von Konstantinopel seinen Abschluss gefunden zu haben schien. Jorges Ikonoklasmus verweist also auf die Zeit noch vor der Romanik, deren Kunst von Adson gepriesen wird. Zum anderen radikalisiert er mit seiner Verteufelung der bildlichen Darstellung den Kampf gegen die Bildungschancen der Volksmassen, waren doch - wie Eco in der Geschichte der Erfindungen schreibt (ZN 113) - die Kirchen riesige Bibeln von Stein, in denen jede Statue, jede Säule, jedes Ornament und die Anordnung dieser Bauelemente eine bestimmte symbolische Bedeutung hatte. Kurz: die Skulpturen und Ornamente der sakralen Bauten waren wie diese selbst - auch als steinerne Umsetzung der bildlichen Interpretationen in den Manuskripten - das eigentliche Massenmedium der Epoche, das Eco auch unmissverständlich als Vorform der modernen audiovisuellen Massenmedien, des Rundfunks und des Fernsehens, versteht (ZN 315). Wie berechtigt diese Analogisierung ist, ergibt sich aus Adsons Begegnung mit dem Tympanon der Klosterkirche, dessen Beschreibung das Giebelfeld über dem Portal der Kirche von Moissac evoziert, welches nach Meinung des großen Kunsthistorikers Emile Mâle eine Übernahme mozarabischer Illustrationen der Apokalypse darstellt und den richtenden Herrn zeigt, umgeben von den vier Evangelisten in geflügelter Tiergestalt und den vierundzwanzig Alten (57): kaum daß meine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, schreibt Adson, traf mich wie ein Schlag die stumme Rede des bebilderten Steins, die den Augen und der Phantasie eines jeden verständlich ist (denn pictura est laicorum literatura), und stürzte mich tief in eine Vision, von der meine Zunge noch heute nur stammelnd zu berichten weiß. Pictura est laicorum literatura: das ist nicht etwa einer der Latein-Scherze, die Eco zu verbrechen liebt, sondern ein Zitat aus dem Traktat über die christliche Ikonographie, dem Rationale divinorum officiorum, dem bis in das 20. Jahrhundert gültigen Handbuch für die Liturgie von Wilhelm Durandus von Mende (ca. 1237-1296), und lautet in voller Länge: „Pictura et ornamenta in ecclesia sunt laicorum lectiones et scripturae“ - „Bilder und Ornamente in der Kirche dienen zur Unterrichtung und als Texte für die (analphabetischen) Laien“. Oder noch konkreter: „die Bilder und Ornamente in den Kirchen dienen als Unterrichts- und Lektüre-Ersatz für die des Lesens unkundigen Volksmassen.“ Gewiss, Eco weist am Beispiel des sensiblen Adson auch auf mögliche Gefahren im Umgang mit diesem visuellen Medium hin, verfällt doch Adson - unter Einfluss (221-222) unfreiwillig absorbierter, halluzinogener Substanzen, aber auch (539) berauscht vom Glanz der Reliquien und vom Chorgesang der Mönche, der (542) wie ein Betäubungsmittel <?page no="160"?> 142 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort wirkt - schon einmal in Trance oder Albträume (zu deren Darstellung Eco auf die der „verkehrten Welt“ in der mittelalterlichen Coena Cypriani zurückgreift). Aber es reicht (556) Baskervilles Hinweis auf die realen Erlebnisse, die den Traumvisionen zugrunde liegen, damit Adson zum kritisch-rationalen Umgang mit Texten und Bildern zurückfindet, für den der Traktakt des Durandus eine umso solidere Grundlage bildet, als er auch explizit auf die von Gregor dem Großen (ca. 540-604) aufgestellte und u. a. von Thomas von Aquin übernommene Unterscheidung zwischen Bild als Gegenstand inakzeptabler Vergötzung und als didaktisch-symbolischem Verweis auf das tatsächlich zu Verehrende zurückgreift: „Das eine ist es, ein Bild anzubeten, etwas anderes, durch […] das Thema des Bildes kennen zu lernen, was anzubeten ist, denn was den Lesenden die Schrift, das bietet den betrachtenden Ungebildeten die Malerei.“ Diese Bestrebung, über ästhetisches Vergnügen am Uneigentlichen zur Begegnung mit dem Eigentlichen gelangen zu lassen, liegt auch Baskervilles Überlegungen zugrunde, die er (106) Jorges Bilderhass entgegensetzt: Die Bilder auf den Rändern der Manuskripte reizen uns häufig zum Lachen, aber sie tun es nur zu erbaulichen Zwecken […] Wie man in Predigten vor dem Volk oft Exempla einführen muß, und nicht selten ergötzliche, um die Phantasie der frommen Zuhörer anzuregen, so muß auch die Rede der Bilder sich dieser Possen bedienen. Eco schreibt seinen Roman Ende der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, und manche seiner Kritiker meinten, dies alles ginge den modernen Leser gar nichts mehr an. Und in der Tat scheint die Schrift des Durandus nahezulegen, dass der Bilderstreit bereits im 13. Jahrhundert als historisches Ereignis ad acta gelegt war. Zwei Jahrhunderte später aber stand er wieder im Mittelpunkt weltgeschichtlicher Ereignisse: in den religiösen Disputen der Reformation, in denen nicht nur Katholiken und Protestanten z. T. unvereinbare Ansichten über die bildliche Ausstattung der Kirchen vertraten, sondern in denen sich auch innerhalb der reformatorischen Bewegung unüberbrückbare Divergenzen auftaten, die zu ihrer Spaltung beitrugen, wovon u. a. noch heute das Fehlen jeglichen Bildschmucks in den calvinistischen Kirchen zeugt. Und im 21. Jahrhundert bedroht der islamisch-fundamentalistische Bilderhass die gesamte Menschheit, die in der Zeit, von der Ecos Roman handelt, auch in Sachen visueller Kommunikation in eine Phase irreversibel-zivilisatorischen Fortschritts einzutreten schien. Denn natürlich ändert sich mit dem expandierenden Buchhandel, den neuen Produktionstechniken und vor allem mit dem Buchdruck auch der Status des Bildes, das zunächst <?page no="161"?> 143 Mutato nomine de te fabula narratur oder Wahrheit aus dem Windelband über den Holzschnitt, dann den Kupferstich, den Stahlstich, die Lithographie und die Photographie neue massenmediale Verbindungen mit dem Text einging, bevor über Laterna magica, Filmkamera und schließlich das Fernsehen die Ära des bewegten Bildes begann, die erneut zu einem prekär-instabilen Text-Bildverhältnis führte, dessen Gefahren von Eco keineswegs geleugnet werden (ZN 315), auf deren Dämonisierung durch moderne Bilderfeinde von rechts und von links (wie den Vertretern der Frankfurter Schule um Horkheimer und Adorno) er jedoch in seinen Schriften über Apokalyptiker und Integrierte mit derselben Empfehlung anwortet, wie Baskerville Jorge von Burgos: mit kritischem Verstand Positives und Negatives abzuwägen, statt (108) darüber zu lamentieren, dass die Zeitgenossen das Ergötzen an Bildern dem Studium der gelehrten Schriften vorziehen, und ihnen (mit Jorge) zuzurufen (108): Schande über die Gier eurer Augen und euer Gelächter! Mutato nomine de te fabula narratur oder Wahrheit aus dem Windelband Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.* Mit diesem veränderten Anfang des Johannes-Evangeliums beginnt Adson (17) seine Niederschrift, und die folgenden Worte des Evangeliums - Das selbige war im Anfang bei Gott - hinzusetzend, fährt er fort: und so wäre es Aufgabe eines jeden gläubigen Mönches, täglich das einzige eherne Faktum zu wiederholen, dessen unumstößliche Wahrheit feststeht. Doch videmus nunc per speculum in aenigmate,** die Wahrheit verbirgt sich im Rätsel, bevor sie sich uns von Angesicht zu Angesicht offenbart, und nur für kurze Augenblicke*** […] tritt sie hervor im Irrtum der Welt, weshalb wir ihre getreulichen Zeichen entziffern müssen, auch wo sie uns dunkel erscheinen und gleichsam durchwoben von einem gänzlich aufs Böse gerichteten Willen. Seinen ganzen Sinn enthüllt dieses Zitat samt Veränderung, wenn man es in Bezug setzt zu dem, was Baskerville den Legationen der Franziskaner und des Papstes (452-453) vorträgt: dass die Erschaffung von Himmel und Erde der Schöpfung Adams vorausging und dass Gott diesem befohlen hatte, den bereits existierenden Dingen Namen zu geben. Diese nomina sind daher zwar consequentia rerum, aber sie sind vom freien Willen Adams bestimmt und haben somit weder etwas mit Gottes Wort selbst, noch mit der Bewahrung und Verwaltung des Verbum Dei, jenen unveräußerlichen Privilegien der kirchlichen Hierarchie zu tun. Die Sprache, mit der Gott Adam die Befehle gab, ist also nicht die des <?page no="162"?> 144 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort Menschen, und die Worte des Menschen können nichts anderes sein als mehr oder weniger willkürliche Zeichen, die auf die Vorstellungen verweisen, die sich die Menschen von den von Gott geschaffenen Dingen machen, was erklärt, dass sie dem Menschen dunkel oder rätselhaft erscheinen. Mit anderen Worten: die Benennung der Welt durch Adam ist Produktion von Zeichen, die auf Konzepte verweisen und die von den Menschen mittels mehr oder weniger willkürlicher Konventionen erst „entziffert“ oder gedeutet werden müssen, was umso schwieriger ist, als Adams Nachkommen rund um den Globus eine Fülle verschiedener Sprachen bzw. Zeichen produziert haben, um sich mit Verweisen auf die Konzepte (oder Vorstellungen) von der Welt zu verständigen. Dieser von der Genesis (und vom bon sens) bekundete Tatbestand gibt grundsätzlich den Nominalisten recht, die sich denn auch auf die Topik des Aristoteles berufen konnten, aus der hervorgeht, dass der Mensch zum Erkennen der Welt zunächst induktiv-forschend das Individuell-Besondere wahrzunehmen hat, um aus dessen Erkenntnis allgemeine Gesetzmäßigkeiten ableiten zu können, mit deren Hilfe dann wiederum das Besondere bzw. die Einzeldinge besser erkannt und eingeordnet werden können. Aristoteles freilich hat ein sehr pragmatisches Verhältnis zum Sein in der Welt, was ihn befähigt, zu erkennen, dass diese Methode der Welterkenntnis immer nur für Anfangssituationen im Prozess des Erkennens gilt, dass aber der Mensch in der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, in die er hineingeboren wird, bereits über allgemeines Wissen verfügt, das ihm von der Gesellschaft zur Verfügung gestellt wird. Dieses gestattet ihm, wie Aristoteles in der Analytik darlegt, speziell mit Hilfe der Syllogistik, der „Schlusslehre“, „die besonderen Erscheinungen aus den allgemeinen Ursachen“ zu verstehen und zu begründen bzw. von „den allgemeinen Einsichten (der Begriffe)“ zu den „besonderen Einsichten (der Wahrnehmung)“ zu gelangen. Die Erkenntnis, dass dieses dialektische Zusammenwirken der Universalia und der (potentiell diese Universalia revolutionierenden) Erforschung des Konkret-Individuellen durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder neu bedacht wurde, führte den Neu-Kantianer Wilhelm Windelband (1848-1915) dazu, in seinem Lehrbuch der Geschichte der Philosophie von 1891 in einer Fußnote zum Universalienproblem in der Scholastik anzumerken, dass dieses „in der weiteren Entwicklung noch wesentlich neue Phasen durchlaufen“ habe und „gerade auf dem heutigen Stand der Wissenschaft nicht als endgültig gelöst angesehen werden“ könne: „Deshalb ist den Forschern von heute, welche den Universalienstreit als abgetan zum Ge- <?page no="163"?> 145 Mutato nomine de te fabula narratur oder Wahrheit aus dem Windelband rümpel werfen oder gar wie eine überwundene Kinderkrankheit […] behandeln möchten, […] noch immer zuzurufen: mutato nomine de te fabula narratur.“ Man kann diese Aussage auch, wie es der Neu-Kantianer Eco ebenfalls in einer Fußnote in seiner eigenen Geschichte der Semiotik, dem 1997 erschienenen Kant und das Schnabeltier tut, durch ein Zitat aus Ernst Cassirers Kants Leben und Lehre von 1918 ergänzen. Demzufolge gäbe es für Kant „kein ‚Einzelurteil‘“, „das nicht bereits auf irgendeine Form der ‚Allgemeinheit‘ Anspruch erhöbe; keinen ‚empirischen‘ Satz, der nicht eine ‚apriorische‘ Behauptung in sich schlösse; denn schon die Form des Urteils selbst schließt diese Forderung ‚objektiver Allgemeingültigkeit‘ ein.“ Und man kann dann, heißt man Eco, noch die Frage aufwerfen und sich so diskret über die Philosophengilde lustig machen, der im Namen der Rose nichts Windelbändiges aufgefallen war: Weshalb steht eine so bedeutsame Feststellung nur in einer Fußnote? Und man kann dann immer noch in derselben Fußnote die Antwort erteilen: Weil Cassirer es versteht, mittels gesundem Menschenverstand und aufgrund des Systemzusammenhangs eben das zu extrapolieren, was Kant explizit und unter Vermeidung jeder mehrdeutigen Formulierung hätte sagen müssen, aber nicht gesagt hat (KS 516). War Eco im Namen der Rose nicht deutlich genug? Gewiss, es ist - im Unterschied zu Kant und das Schnabeltier - kein Kaninchen, dass in seinem Roman per Indexikalität oder Attentionalität den Semioseprozeß in Gang setzt (KS 24), sondern ein Pferd, das wie omnis mundi creatura als Manifestation des Seins die Interpretationen Baskervilles auslöst, mit denen er unverzüglich in den „Zirkel“ des bereits Interpretierten eintritt (KS 33). Denn natürlich ist er nicht der erste, der die Spuren eines Pferdes erkennt oder der weiß, was ein Pferd ist (was dadurch bewiesen ist, dass sich dessen Spuren im konkreten Fall bis zu Voltaires Zadig zurückverfolgen lassen*), und, wie Eco sagt, spricht man, von wenigen Fällen abgesehen, stets schon eingefügt in das Allgemeine (KS 35) und muss notwendigerweise auf gesellschaftlich determinierte und bekannte semiotische Prozesse rekurrieren, auch wenn man Unbekanntes erfassen will (KS 75). Das alles lässt sich, wie Dieter Mersch - unter Berufung auf Eco - zu Recht feststellt, am besten in einem Kriminalroman darstellen, „entspricht doch die Logik der detektivischen Ermittlung dem spezifischen Verfahren des Semiotikers“. Sowohl der Semiotiker als auch der Detektiv, so Mersch, verstehen „die Welt als Zeichenuniversum und suchen in ihr Sinn aufzudecken“, was im Fall Baskerville besonders gut gelänge, weil dieser von Eco „als <?page no="164"?> 146 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort kühler Rationalist“ (also im aristotelischen Sinn als induktiv verfahrender Forscher) und „weniger“ als „Logiker“ (bzw. als Deduktionist) präsentiert würde. Kurz: Baskerville befindet sich - aus Lebenserfahrung und nominalistisch-philosophischer Klugheit - auf einer experimentalen Stufe der Welterkenntnis, die dem von Jorge de Burgos verabscheuten „Forschen“ entspricht. Dieses aber setzt zunächst einmal „intelligentia intuitiva“ voraus* und leitet im täglichen Leben mittels jener ‚Kunst‘ der Konjektur, die Eco in Die Grenzen der Interpretation preist und in der Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘ das Abenteuer der Mutmaßung bzw. das Wagnis der Aufstellung von Hypothesen nennt und mit wissenschaftlicher Forschung und ärztlicher Diagnose in eins setzt, zur „situativen Klugheit, der phronesis, wie sie Aristoteles im Feld der praktischen Vernunft aufgewiesen hat und die sich ans Konkrete hält.“ Baskerville ist dieser dialektische Erkenntnisprozess durchaus bekannt, doch er selbst stellt sein - sowohl von der induktiven als auch der deduktiven Methodik abgegrenztes - kriminologisches Vorgehen philosophiegeschichtlich ganz in die Tradition der stoisch-epikureischen Forderung nach Hypothesenbildung zwecks Wahrheitsfindung durch „Augenscheinlichkeit oder Evidenz“ und damit in den (von Eco so definierten) Kontext der gleichzeitig semiotischen, kognitiven und metaphysischen Theorie der Wahrnehmung von Peirce (KS 23-24). Das Aufklären eines Geheimnisses ist nicht dasselbe wie das Deduzieren aus festen Grundprinzipien, belehrt er Adson (389-391): Es gleicht nicht einmal dem Sammeln von soundsovielen Einzeldaten, um aus ihnen dann auf ein allgemeines Gesetz zu schließen. Es ist eher so, daß man vor einer Anzahl von Tatsachen steht, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben, und nun versuchen muß, sie sich als ebenso viele Einzelfälle eines allgemeinen Gesetzes vorzustellen, […] das man nicht kennt und das womöglich noch nie formuliert worden ist […] Angesichts einiger unerklärlicher Tatsachen mußt du dir viele allgemeine Gesetze vorzustellen versuchen, ohne daß du ihren Zusammenhang mit den Tatsachen, die dich beschäftigen, gleich zu erkennen vermagst. Auf einmal, wenn sich unversehens ein Zusammenhang zwischen einem Ergebnis, einem Fall und einem Gesetz abzeichnet, nimmt ein Gedankengang in dir Gestalt an, der dir überzeugender als die anderen erscheint. Du versuchst, ihn auf alle ähnlichen Fälle anzuwenden, Prognosen daraus abzuleiten, und erkennst schließlich, daß du richtig geraten hast […] Und genau in dieser Weise gehe ich vor, um das Geheimnis der Abtei zu lüften. Ich betrachte eine Anzahl unzusammenhängender Elemente und entwickele Hypothesen […] Ich habe inzwischen viele schöne Hy- <?page no="165"?> 147 Mutato nomine de te fabula narratur oder Wahrheit aus dem Windelband pothesen, aber bisher noch kein evidentes Faktum, das mir zu sagen gestattet, welche die richtige ist. Adson ist zwar durchaus bereit, sich die intuitiv-empirischen Erkenntniskriterien Baskervilles zu eigen zu machen, doch stürzt ihn dessen methodologischer Rigorismus in umso größere Ratlosigkeit, als Baskerville auch (336-337) die Validität der Syllogistik relativiert, die Adson für das Wesentliche der Logik selbst hält und die er in seiner eigenen Lebenspraxis durchaus mit Erfolg anwendet, womit wir zu Windelband zurückkehren können, der in seiner verblüffenden Fußnote die berühmten Verse des Horaz zitiert Mutato nomine de te fabula narratur: „Auch wenn sich der Name geändert haben mag: von Dir berichtet die Geschichte“. Adson jedenfalls akzeptiert ganz naiv die aristotelische Überzeugung, dass der Mensch, der die Welt erforscht, auch Universalia gebraucht und zur (Selbst)erkenntnis einsetzt, wenn diese erst einmal geschaffen wurden und zum Bestand des allgemeinen Wissens gehören. Verwirrt vom (310) fieberhaften Durcheilen der gespenstischen Klosterbibliothek, begreift Adson z. B., dass die Bücher, die ihn dort in Panik versetzen, seine eigene Geschichte erzählen: ‚De te fabula narratur‘, murmelte ich beklommen und fragte mich, ob diese Seiten etwa auch schon den weiteren Fortgang meiner Geschichte enthielten. Noch deutlicher wird, was gemeint ist, als Adson nach der Begegnung mit einem unbekannten Wesen, einer jungen Frau, bis dato unbekannten Liebeskummer empfindet, den er für ein Krankheitssymptom hält. Er stürzt sich daher auf den Speculum amoris aus der Feder eines Massimo da Bologna, ruft sich (413) erneut zu: De te fabula narratur, und empfindet denn auch Freude, seine Lage so zutreffend und lebendig beschrieben zu sehen, obwohl es sich natürlich um einen psychologischen Traktat handelt, der allgemeine Einsichten verschiedenster Autoren zusammenfasst. Aber, so schreibt Adson, mir schien geradezu, als hätten die zitierten Autoren niemand anderen als mich zum Modell ihrer Deskriptionen gewählt. Was Eco hier über Adson in Erinnerung bringt, ist die Tatsache, dass Welterkenntnis sich in abstrakter Verallgemeinerung der Ursachen, Phänomene, Auswirkungen artikulieren muss, um sowohl praktisches Verhalten in der Welt als auch wissenschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen, was im Rekurs auf medizinische Traktate besonders evident wird. Baskerville könnte also durchaus auch bei Adson lernen, zumal sein (nominalistischer) Radikalismus nur rhetorischer Natur sein kann, denn selbstverständlich muss auch er auf gesellschaftliches Wissen zurückgreifen. Die Tatsache, dass er versäumt, die logischen Prämissen und die induktive Praxis seines Handels mit seinem sto- <?page no="166"?> 148 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort isch-epikuräisch-peirceschen Credo in Einklang zu bringen, führt zu seinen Fehlern bei der Aufklärung der Todesfälle in der Abtei, gleitet er doch zum einen in Spekulationen über mathematisch-geometrische Wirklichkeitsstrukturierung (speziell der Architektur der Klosterbibliothek) und zum anderen in apokalyptische Phantastereien aus, die ihm der greise Alinardus suggeriert. Er sei ein Dummkopf gewesen, meint Baskerville denn auch (597), wegen eines Satzes von Alinardus angenommen zu haben, daß die Serie der Verbrechen dem Rhythmus der sieben Posaunen in der Apokalypse folge: für Adelmus der Hagel, dabei war es Selbstmord; für Venantius das Blut, dabei war es eine verrückte Idee von Berengar; für Berengar selbst das Wasser, dabei war es ein Zufall; für Severin der dritte Teil des Himmelsgewölbes […]; und schließlich für Malachias die Skorpione […]. Aber Baskerville übertreibt, denn in Wahrheit war er der Lösung des Falls sehr nahe gekommen, und seine Irrtümer waren nicht auf die empirisch-detektivisch-semiotische Methode, sondern auf ihre Hypostasierung zurückzuführen, was Adson durchaus berechtigt, gegen diese Selbstkritik Widerspruch einzulegen und Baskervilles Erfolge aufzuzählen (625): Ich könnte die Liste der wahren Dinge, die Ihr mit Eurer Wissenschaft aufgedeckt habt, noch lange fortsetzen, sagt er, und Baskerville gibt zu: Ich habe nie an der Wahrheit der Zeichen gezweifelt, Adson, sie sind das einzige, was der Mensch hat, um sich in der Welt zurechtzufinden. Was ich nicht verstanden hatte, war die Wechselbeziehung zwischen den Zeichen […] Ich bin wie ein Besessener hinter einem Anschein von Ordnung hergelaufen, während ich doch hätte wissen müssen, daß es in der Welt keine Ordnung gibt. Dass er damit auch die Existenz einer göttlichen Ordnung in Zweifel zieht, ist ebenso logisch wie die Feststellung, dass Wissenschaftskonzeptionen nicht ewigkeitsbeständig sind, sondern sich mit fortschreitender Erkenntnis verändern, was erklärt, warum Baskerville fordert, der Mensch müsse, sei er am Ziel einer Erkenntnis angelangt, die Leiter, die zu ihr geführt habe, wegwerfen, denn Er muoz gelîchesame die leiter abewerfen, sô er an ir ufgestigen …, um eine neue Leiter zu anderer, vertiefter Erkenntnis zu besteigen. Dass die Interpreten des Namens der Rose entdeckt haben, dass dies ein typischer Eco-Witz ist und der ins Mittelhochdeutsche übersetzte Spruch in Wahrheit von Wittgenstein stammt, soll ebenso angemerkt sein, wie die Tatsache, dass ein anderes witziges Bekenntnis zur Kontinuität des Denkens, in die sich Eco einordnet, unentdeckt blieb, obwohl Eco - nicht zuletzt über Baskervilles Eingeständnis, das Objekt seiner kriminologischen Recherche nicht erkannt zu haben- - <?page no="167"?> 149 Mutato nomine de te fabula narratur oder Wahrheit aus dem Windelband den Leser bis zu diesem Objekt führt, damit dieser es selbst genau betrachten und einordnen kann. Es handelt sich um das Manuskript des zweiten Bandes der Poetik des Aristoteles, das Baskerville, Adson und Eco gemeinsam in unterschiedlicher Perspektive betrachten, um so dem Leser zu ermöglichen, selbst die Zeichen zu deuten, um deren Verständnis sich die Protagonisten mühen. Und zu diesen Zeichen gehört, dass der Text mit anderen zusammengebunden ist, wie wir in der Sexta des Sechsten Tages erfahren (559): Unter einer gemeinsamen Signatur („finis Africae“! ) standen vier Titel, berichtet Adson über die Entdeckung des von Baskerville gesuchten Buches im Katalog der Bibliothek, fügt hinzu: es handelte sich ganz offensichtlich um einen Band mit verschiedenen Texten, und liest vor: I. ar. de dictis cujusdam stulti / / II. syr. Libellus alchemicus aegypt. / / III. Expositio Magistri Alcofribae de coena beati Cypriani Cartaginensis Episcopi / / IV. Liber acephalus de stupris virginum et meretricum amoribus Wenig später erfahren Baskerville, Adson und der Leser des Romans durch Benno, den Aushilfsbibliothekar, dass es sich um je ein arabisches, ein syrisches und ein lateinisches Manuskript sowie den gesuchten griechischen Traktat des Aristoteles handelt, vier Texte, die sich - wie Eco betont - in un solo volume, einem einzigen Band befinden und eine Art Anthologie des Lachens bzw. des Komischen bilden, die auf die geschichtlichen Ursprünge der europäischen Philosophie verweist. Und an diesem Band ist besonders auffällig, dass der Text des Aristoteles als einziger nicht auf Pergament geschrieben ist, sondern auf charta lintea, also auf jenem Papier aus „linum“, aus „Leinen“, das für die moderne Buchproduktion mitentscheidend gewesen ist. Das hat aber noch eine andere und dem Kontext entsprechend komische Dimension, denn „linum“ kann auch Synonym von „incunabula“, die „Windel“ sein. Und „incunabula“ bezeichnet darüber hinaus auch den Ursprung, den Geburtsort, die (geistigen) Anfänge sowie den „Wiegendruck“, der wie das „Leinenpapier“ die Buchproduktion revolutioniert hat. Natürlich ist das ein typischer Studentenscherz, wie man ihn in der Zeit des Alcofribas Naso (oder Rabelais) liebte: in der Scholastik. Bewegend bleibt dennoch, dass der Neu-Kantianer Umberto Eco dem Neu-Kantianer „linteus volumen“ oder „Windelband“ (aber auch seiner Übersetzerin Cecilia Dentice D’Accadia, die als erste Frau in Italien eine ordentliche Professur für Philosophie erhielt) mit einer kleinen Anthologie des Lachens in seinem großen Roman über das Lachen Dank abstattet: Er war - wie jeder italienische Philosophiestudent - von Windelband mit dem 1910 zum ersten und 1921 (von <?page no="168"?> 150 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort Cecilia Dentice) zum zweiten Mal ins Italienische übersetzten Lehrbuch in die Geschichte der Philosophie eingeführt worden. Und dass Ecos Roman mit Bernard de Morlas Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus - Die Rose von einst besteht nur dem Namen nach; wir bewahren lediglich die nackten Namen endet, mit dem Bekentnis zum Zeichen, dürfte ohne Windelbands Fußnote, derzufolge das Universalienproblem bis heute nicht abgeschlossen sei, weil mutato nomine de te fabula narratur, ebenfalls nicht denkbar sein: Sie hat tiefe Spuren hinterlassen. Von der Zahlensymbolik oder der Name des Mädchens Über kaum etwas anderes haben die Rezensenten so viel gerätselt wie über das, was mit der Rose im Titel des Romans gemeint sein könnte, und kaum jemand sonst hat die vielen Bedeutungs- und Bezeichnungsmöglichkeiten so kompetent resümiert wie Frank-Rutger Hausmann. Der Leser, sagt er, habe „die Wahl zwischen einer erotischen, einer mystisch-religiösen und einer esoterischen Deutung“: „Die Rose evoziert die Passion Christi […], dann aber auch die weibliche Sinnlichkeit […] Die Rosenkreuzer sind […] Anhänger der […] Geheimlehre, die als Symbol ein Kreuz mit mehreren Rosen verbinden, um die materielle mit der spirituellen Welt zu verbinden. Dieses Symbol hat eine alte Tradition, da bereits Apulejus […] die Verjüngungskraft der Rose bezeugt […] In allen Sprachen lassen sich mit dem Wort ‚Rose‘ Anagramme bilden […] Das Mittelalter fand Gefallen am SATOR- AREPO-Quadrat und deutete es wie folgt: PETRO ET REO PATET ROSA SARONA (‚Auch wenn Petrus unschuldig ist, steht ihm die Rose von Sarona [= das gnadenreiche Blut des Herrn] offen‘).“ Doch trotz dieser vielen Möglichkeiten, die Rose mit einer Sache oder Bedeutung in Beziehung zu setzen, wozu auch gehöre, dass „manche Interpreten“ glaubten, „dass Adsons namenloses Mädchen, wenn es einen Namen gehabt hätte, Rose geheißen hätte“, kommt Hausmann-- unter Berufung auf Borges’ Die gelbe Rose und Der rätselhafte Spiegel- - zu einem anderen, metaphorisch-offenen Schluss: „Der Roman trägt den Titel Der Name der Rose, denn am Ende ist vom Kloster, von der Bibliothek mit ihren Schätzen, den Mönchen, nichts mehr als die Erinnerung Adsons geblieben.“ Die Rose bezeichne den mittelalterlichen Kosmos: „alles, was wir darüber wissen, sind Fragmente, wie die geretteten Pergamentfetzen, sind ‚disiecta membra‘ (633), die die Phantasie zu einem Gebilde von Namen zusammengesetzt hat.“ <?page no="169"?> 151 Von der Zahlensymbolik oder der Name des Mädchens Angesichts dieser von der Exegetik angebotenen Vielfalt von Assoziationsmöglichkeiten ist es ratsam, Ecos Text genauer zu betrachten, der mit dem Bibel-Zitat beginnt, demzufolge am Anfang das Wort gewesen sei, und der mit Bernard de Morlas Satz endet, demzufolge das Wort übrigbleibe, das die Sache - die Rose - bezeichnete, wenn diese bereits vergangen ist. Kurz: nach Auskunft Adsons bzw. des Beginns und des Endes seiner Niederschrift ist das Wort am Anfang und am Ende. Dem steht aber Baskervilles Aussage entgegen, dass Gott zunächst Himmel und Erde erschaffen habe, diese also vor dem Wort waren und logischerweise auch nach dem Wort sein werden. Das wird von Adson selbst bekräftigt, wenn er mit Horaz auf die Beliebigkeit der Benennung bzw. des Wortes verweist und damit den Primat des Objektes bezeugt, das existiert, auch wenn es nicht oder nur beliebig benannt werden kann, weil es keinen Namen hat. Damit sind wir natürlich wieder mitten im Universalienstreit, dessen Aktualität Windelband unterstrichen hatte, der aber im Roman noch eine andere Dimension besitzt, die von jenen Interpreten gespürt wurde, die - wie Hausmann berichtet - die Rose mit dem Mädchen assoziieren, auch wenn verwunderlich ist, dass sie vermuten, dieses Mädchen hätte Rose „geheißen“, „wenn es einen Namen gehabt hätte.“ Das Wesentliche an dieser Frauengestalt im Namen der Rose ist aber nicht nur, dass dieser Mensch keinen Namen hat, sondern dass er keinen Namen haben kann, weil sich zum einen gerade in dieser Namenlosigkeit seine biologisch-ontologische und kulturgeschichtlich-soziale Bedeutung, zum anderen aber auch die Rückständigkeit der (damaligen) Gesellschaft erweist. Denn obwohl er als einzige handelnde Person in dieser Geschichte keinen Namen hat, muss doch die Geschichte, die fabula, von diesem Menschen erzählen, weil ohne ihn überhaupt gar keine Geschichte denkbar wäre. Aus diesem Grund stellt Eco ihn auch in den Mittelpunkt des Namens der Rose, was er versucht, durch die Zahlensymbolik noch deutlicher zu machen, die seinen Text strukturiert: zum einen über die Gliederung nach den Gebetsstunden, den 7 Horen, die den klösterlichen Tagesablauf von Laudes oder Matutin über Prima, Tertia, Sexta, Nona, Vesper und Komplet regeln, sowie über die Zahl der sieben Wochentage, zum anderen aber auch und vor allem über die gesamte christlich-numerische Symbolik (wie z. B. die 3 = Vater, Sohn und Heiliger Geist, die 3 Marien oder der dreifache Schriftsinn; die 4 Evangelisten, Jahreszeiten, Himmelsrichtungen, aber auch die 4 Posaunen der Apokalypse, oder die von 3 + 4 gebildete 7, die die Schöpfungsgeschichte, die Weltalter, den Ruhetag, die Drachen der Apokalypse symbolisiert, oder die 10 als <?page no="170"?> 152 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort Zahl der Gebote und der Vollkommenheit, die alle anderen Zahlen in sich einschließt). Diese Zahlensymbolik wäre nur für den Leser funktionslos-überflüssig, der nicht verstünde, dass die symbolische Strukturierung der Welt wesentlicher Bestandteil der christlich-europäischen Kultur und damit unserer geschichtlichen Identität ist und bleiben wird, selbst wenn wir inzwischen unseren Umgang mit Zahlen rationalisiert haben und sie heute für die mathematische Welterklärung, aber auch die ästhetische Strukturierung unserer modernen Kultur verwenden, wie aus dem Dialog zwischen Fossanova und Baskerville hervorgeht. Herrliches Bauwerk! , ruft der Abt, der noch ganz der christlichen Zahlensymbolik verhaftet ist, beim Anblick des Aedificiums aus, um sich in endlose religiöse Deutungen seiner Architektur zu stürzen (566- 567): Seht, wie es in seinen Proportionen die Goldene Regel aufnimmt, die einst den Bau der Arche beherrschte. Drei Stockwerke übereinander, denn drei ist die Zahl der Dreifaltigkeit, drei Engel besuchten Abraham, drei Tage verbrachte Jonas im Bauche des Wals, drei Tage lang lag Jesus im Grabe […] Drei an der Zahl sind die theologalen Tugenden, drei die heiligen Sprachen […] Baskerville unterbricht ihn: Wunderbarer Einklang so vieler mystischer Entsprechungen! Aber Fossanova lässt sich nicht aufhalten: auch der quadratische Grundriß […] ist reich an geistigen Lehren. Vier an der Zahl sind die Himmelsrichtungen, die Jahreszeiten, die Elemente, die Temperamente […], und William pflichtet bei: Und drei plus vier ergibt sieben, eine mystische Zahl wie keine andere, und drei mal vier ergibt zwölf, die Zahl der Apostel, und zwölf mal zwölf ergibt einhundertvierundvierzig, die Zahl der Erwählten. Und Rose hat sie gelebt, was Rosen leben oder das Hohe Lied Gewiss, das ist hier ironisch gemeint, denn Baskerville möchte von etwas anderem sprechen. Aber es zeigt dem Leser, dass Baskerville sich nicht nur in den Baconschen Gefilden des mathematischen Kalküls auskennt, sondern auch mit der christlichen Zahlensymbolik vertraut ist, was er auch mit anderen Zahlen - z. B. den 24 Alten aus der Apokalypse, die ihn immer wieder beschäftigen - hätte belegen können. Kurz: die beiden Rationalisten Baskerville und Eco kennen sich perfekt aus in christlicher Zahlensymbolik, und so wissen sie denn auch, dass laut dem Buch der Weisheit Salomos (Vers 21 im Kapitel 7) die Weisheit 21 Eigenschaften besitzt und daher 3 × 7 = 21 die Vollkommenheit symbolisiert.* Es wäre also ein unchristliches Wunder, wenn der Zufall wollte, dass just im 21. Kapitel des Namens der Rose das namenlose <?page no="171"?> 153 Und Rose hat sie gelebt, was Rosen leben oder das Hohe Lied Weib auftaucht und Adson zur Erkenntnis der höchsten Seligkeit verhilft. Und dies trotz der apokalyptischen Warnungen vor dem Weib, die ihm kurz zuvor und im selben Kapitel 21, das im Übrigen das längste Kapitel des Romans ist, zuteil werden. Dort begegnet er nämlich dem greisen Franziskaner Ubertin von Casale, der im Weib nur Verführung zur Sünde und in der körperlichen Vereinigung von Mann und Frau nur Hurerei zu sehen vermag, was sich potenziert, wenn solch ein Weib (287) auch noch einen Anflug von Intelligenz zeigt, ja, schlimmer noch, Neigung zu seelsorgerischer Tätigkeit verspürt. Ubertin, der im religiösen Eifer nur das Weib akzeptiert, das als körperlose Heilige verehrt werden kann und dem er (295) sogar konzediert, zierliche Brüste haben zu dürfen wie die Jungfrau Maria, ermahnt denn auch Adson, sich ausschließlich der unbefleckten Liebe zuzuwenden: Siehe, in der Jung frau Maria hat sich die Weiblichkeit sublimiert, und darum kannst du von ihr auch sagen, daß sie schön ist wie die Geliebte im Canticum Canticorum! Ja wahrlich an ihr […] wird die Anmut des irdischen Körpers zum Zeichen der himmlischen Schönheit, und daher hat der Bildhauer sie auch zu Recht mit allen weiblichen Reizen versehen. Das Vertrackte ist nur, dass selbst bildliche Darstellungen wie die Madonnenskulptur, von der Ubertin spricht, aber auch und vor allem die Darstellungen der mit der Sonne bekleideten Jungfrau oder gar der großen babylonischen Hure in den Apokalypse-Illustrationen, die Adson unmittelbar nach der Begegnung mit Ubertin in der Bibliothek betrachtet, die Sinne des jungen Mannes anstacheln, so dass unvermeidlich am Ende dieses sechsten Kapitels des Dritten Tages geschieht, was natürlich ist. Beim Verlassen des Skriptoriums begegnet ihm im Dunkeln der Klosterküche eine junge Frau, die ihm (283) schön wie die Morgenröte erscheint. Er weiß nicht, wie sie heißt. Er kann sie nicht ansprechen, denn sie verstehen ihrer beider Sprachen nicht, aber sie können über Zeichen, Gesten, Körperberührungen miteinander kommunizieren und entbrennen in tiefer Liebe zueinander. Das Mädchen, heimlich und natürlich verbotenerweise ins Kloster gekommen, um Nahrung zu erbetteln, gibt sich Adson spontan hin, der das Weib erkennt und seine Schönheit (315) in der Sprache besingt, die er gelernt hat: * die des erotischen Hymnus des Salomon, genannt das Hohe Lied oder Canticum canticorum (ergänzt durch Einschübe aus Texten von Bernard de Clairvaux, Jean de Fécamp und Hildegard von Bingen**): stolz erhob sich ihr Kopf auf einem weißen Hals, der wie aus Elfenbein war, ihre Augen leuchteten hell wie die Teiche zu Hesbon, ihre Nase war wie ein Turm auf dem Libanon, ihr Haar wie der Purpur des Königs in Falten gebunden. Und Adson, dessen Körper ganz und <?page no="172"?> 154 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort gar Auge geworden ist, um (317) die Schönheit dieser Morgenröte zu erschauen, sinkt in glücklicher Trance fast entseelt auf den Körper, mit dem er sich vereinte, und er, der noch im hohen Alter meint, in diesem Augenblick die überirdische Glückseligkeit des Paradieses verspürt zu haben, nennt sich (321) selig, weil es ihm vergönnt war, solch eine wunderbare Erfahrung zu machen. Als er erwacht, ist das Mädchen verschwunden, und Adson, von Reue geplagt, beichtet Baskerville zu Beginn des Kapitels 7 des 3. Tages seinen Fehltritt und stößt … auf väterlich-gütiges Verständnis. Zwar habe Adson gegen die Novizenpflichten verstoßen, und in der Tat gäbe es auch eine Reihe von Verdammungen des sündhaften Weibes in der Bibel. Aber Baskerville fügt (325-326) auch hinzu, er könne sich nicht vorstellen, daß Gott ein so ruchloses Wesen in seine Schöpfung eingeführt haben sollte, ohne ihm nicht auch ein paar Tugenden mitzugeben, und ironisch führt Baskerville - die Bibel wiederum beim Wort nehmend - die Verdammungstopoi ad absurdum. Einiges, so Baskerville, spräche nämlich unwiderlegbar zugunsten des Weibes: Erstens schuf [Gott] bekanntlich den Mann in dieser niederen Welt und aus einem Erdenkloß, das Weib aber in einem zweiten Schöpfungsakt unmittelbar im Paradies und aus edlem menschlichen Stoff […] Zweitens hätte sich der Allmächtige sicherlich auch direkt in einem Manne verkörpern können, doch er zog es vor, im Bauch einer Frau zu wohnen, ein Zeichen dafür, daß sie nicht so ruchlos gewesen sein konnte. Und als er sich zeigte nach seiner Auferstehung, zeigte er sich einer Frau. Drittens schließlich wird in den Gefilden des Himmels kein Mann als König herrschen, sondern vielmehr als Königin eine Frau […] Wenn also schon Unser Himmlischer Vater so große Aufmerksamkeit für Eva und ihre Töchter hatte, ist es dann so abnorm, daß auch wir uns angezogen fühlen von ihrer Anmut und edlen Schönheit? Adson solle sich zwar nicht wieder mit Frauen einlassen, aber das Mädchen hätte sich ihm mit Sicherheit nur aus Liebe hingegeben. Denn ins Kloster sei sie gekommen, um durch Prostitution von Mönchen Nahrung für ihre hungerleidende Familie zu erhalten, Adson aber habe sie sich ohne Gegenleistung hingegeben. Diese Erklärung erfüllt Adson (327) mit zärtlichem Stolz, denn jene armselige, schmutzbefleckte und schamlose Kreatur war gleichwohl etwas Wunderbares und Herrliches. Sein Entsetzen ist daher groß, als das Mädchen von den Häschern der Inquisition im Kloster entdeckt wird. Die fanciulla schreit um Hilfe, aber da (423) niemand ihre Bauernsprache versteht, ist es, als wäre sie stumm, was der historischen Wahrheit entspricht, denn die Frau hatte keine Stimme.* Sie wird denn auch sofort, ohne weitere Diskussion - und zur großen Freude selbst <?page no="173"?> 155 Und Rose hat sie gelebt, was Rosen leben oder das Hohe Lied eines Ubertin, dessen Jubel auf Adsons Ekel und Baskervilles Zorn stößt - verurteilt, als Hexe verbrannt zu werden. Adson ist verzweifelt, denn jede Hilfe ist schon aus sozialen Gründen unmöglich, wie Baskerville erklärt, denn sie ist (519) einfach ein Bauernmädchen, das nicht zählt, und noch im Alter erinnert er sich, wie er wimmernd und wortlos in seiner Zelle lag, denn es war ihm nicht einmal vergönnt, seiner Klage Ausdruck zu geben […] durch Anrufung des Namens der Geliebten: Von der einzigen irdischen Liebe in meinem Leben kannte ich nicht - und erfuhr ich nie - den Namen. Adson kann dieses Mädchen nicht vergessen, das schön war wie die Morgenröte, das er am Beginn eines Morgens lieben durfte, und das am selben Morgen noch zum Tode verurteilt wurde. Es wird so im Zentrum seiner Lebenserfahrung bleiben, wie es im Zentrum dieser Klostergeschichte begegnet, um in der 7. Stunde des 3. Tages von Baskerville den weiblichen Heiligen assoziiert zu werden: den von Gott geliebten Frauen. Denn die sind so sehr Zentrum des Lebens, dass es selbst Gott der Herr in Gestalt des Heilands vorzieht, aus ihrem Bauch zu kommen. Es kam mir so vor, schreibt der greise Adson (356), als spräche das ganze Universum, das zweifellos wie ein Buch von Gottes eigener Hand ist, in welchem alles von der unendlichen Güte des Schöpfers kündet, in welchem jedes Geschöpf gleichsam Schrift und Spiegel des Lebens und Sterbens ist, so daß noch die geringste Rose zu einer Glosse unseres irdischen Daseins werden kann - als spräche, mit einem Wort, alles nur immerfort von jenem lieblichen Antlitz, das ich schemenhaft wahrgenommen im duftgeschwängerten Zwielicht der nächtlichen Küche. Wenn einerseits die ganze Schöpfung von der Güte und Macht und Weisheit des Schöpfers kündete, fügt er hinzu, und wenn andererseits alles an jenem Morgen in meinen Augen und Ohren allein von ihr sprach, von ihr, die doch (wenngleich als Sünderin) immerhin auch ein Kapitel im großen Buche der Schöpfung war, ein winziger Vers im gewaltigen Psalm des Kosmos, dann […] konnte auch jener nächtliche Zwischenfall letztlich nichts anderes sein als ein Teil der göttlichen Vorsehung: ein Wunder von Harmonie und Zusammenklang. Hatte Borges Ecos Aufmerksamkeit auf den winzigen Vers im gewaltigen Psalm des Kosmos gelenkt? Die Gleichsetzung von Frauen und Blumen ist eine […] Ewigkeit oder Trivialität, schreibt Ersterer in seinem Essay über Die Metapher, und unter den vielen Beispielen, die er nennt, befindet sich auch das Fragment jener berühmten Verse, die Malherbe Ende des 16. Jahrhunderts für seinen Freund Du Périer verfasste, der seine Tochter mit dem Blumennamen „Marguerite“ verloren hatte: Et, rose, elle a vécu ce que vivent les roses. Borges zitiert <?page no="174"?> 156 Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort auf Französisch. Eco übersetzt es ins Italienische und bietet es in der Nachschrift als möglichen Ansatz für das Verständnis seines Textes an: e rosa ha vissuto quel che vivono le rose. Kein Zweifel: indem er dasselbe Fragment zitiert, verweist Eco auf Borges. Aber natürlich verweist er auch auf Malherbes Verse, die in gesamter Länge lauten: Et rose elle a vécu ce que vivent les roses / L’espace d’un matin. Ausgeschlossen, dass Eco nicht beide Verse kannte, und man darf auch davon ausgehen, dass er wusste, dass Malherbe diese Verse in einer ersten Version in einem Trauergedicht für einen anderen Vater benutzt hatte, der ebenfalls seine Tochter verloren hatte, die auch einen Blumennamen hatte: „Rosette“ - „Röslein“! * Wie auch immer: mit dem Namen der Rose, in dessen Mittelpunkt - und umso monumentaler, als namenlos, also für alle Frauen - das Mädchen steht, der Mensch, aus dem alles menschliche Leben hervorgeht, hat Eco die Trauerbotschaft Malherbes in einen ebenso monumentalen Prosatext umgesetzt: Und Rose hat sie gelebt, was Rosen leben / die Frist eines Morgens. In der Konfrontation Ubertin, Adson, Baskerville ist es Eco darüber hinaus gelungen, alle Dimensionen der Symbolik zu evozieren, die die Rose in der europäischen Kultur für die Frau besessen hat: von der Rose als Symbol der Aphrodite/ Venus über den Rosenkontext, in dem sich Adam und Eva im Paradies bewegten, und die mystische Verherrlichung Mariens in der Rosensymbolik eines Heinrich Seuse (1295-1366) bis zur surrealistischen Apotheose der Marcel Duchamp, Man Ray, Francis Picabia und Robert Desnos mit ihrem anagrammatischen Spiel um Rose Sélavy - Rose c’est la vie (Rose ist das Leben) - la vie c’est Eros (Eros ist das Leben). <?page no="175"?> Wie das deutsche Feuilleton einen Aristoteliker „aus dem Bauch heraus“ bekämpft Ein Krimi oder nicht doch ein aristotelisches Trauerspiel? - Wie die deutsche Feuilletonkritik ganz idealistisch gegen den Baum der Erkenntnis fuhr - Don Quijote oder Die aristotelische ‚Poetik‘ und wir - Littérature engagée oder das Lachen der Vernunft - Doctor honoris causa und die Verfilmung des Namens der Rose Ein Krimi oder nicht doch ein aristotelisches Trauerspiel? Dass Der Name der Rose eine Hommage an die Frau insgesamt ist, kann nicht bezweifelt werden. Und genauso evident ist, dass er darüber hinaus als Hommage an eine ganz bestimmte Frau verstanden werden muss, war doch die geliebte Person, auf die jener Verfasser von Apokalyptiker und Integrierte 1968 in Prag wartete, niemand anders als Renate Ramge, mit der Umberto Eco dort den Einmarsch der sowjetischen Truppen erleben musste. Es gibt aber ebenfalls (und vielleicht sogar deswegen) gute Gründe, den Roman auch als Hommage an die positiven (und wie Ulrich Wyss zu Recht anmerkt: * kaum bekannten) Aspekte deutscher Geschichte, repräsentiert vom München Ludwig des Bayern, der Fluchtburg jener Aufklärer um Ockham und Marsilius von Padua, und an die deutsche Philosophiegeschichte zu verstehen. Und damit hätte es noch lange kein Ende mit den historischen, kulturellen und mentalen Dimensionen, die der Roman (auch in andere Himmelsrichtungen) eröffnet. Aber man muss beileibe kein Historiker oder Philosoph sein, um ihn mit Genuss lesen zu können, denn der Name der Rose ist auch und zunächst einmal ein Krimi, der-- allein schon mit der Namenswahl für seine Protagonisten William von Baskerville und Adson von Melk - auf seine Vorbilder im Werk Conan Doyles und vieler seiner narrativen oder filmischen Vorgänger oder Nachfolger von Poe, Sue und Ponson du Terrail über Chesterton und Agatha Christie zu Dashiell Hammett, Ian Fleming oder Columbo verweist. Denn tatsächlich hat vieles den vertrauten Anschein üblicher Kriminalgeschichten: geheimnisvolle Todesfälle, konspirative Handlungen, mysteriös-labyrinthische Orte, an denen Orientierung schwerfällt, verdächtige Individuen, das klassische Paar des Detektivs und seines Assistenten, das versucht, Spuren zu lesen bzw. Indizien zu <?page no="176"?> 158 Wie das deutsche Feuilleton einen Aristoteliker „aus dem Bauch heraus“ bekämpft interpretieren, Schuldige zu überführen und den Verbrechen ein Ende zu setzen. Der Text ist auf diesem Niveau, das durchaus für sich allein bestehen kann und ausreichend Lesemotivation anbietet, das, was Eco für das Eigentliche des Kriminalromans hält, eine Konjektur-Geschichte, bei der der Leser zum gleichberechtigten Zeichendeuter wird und in der es um das Abenteuer der Mutmaßung geht, um das Wagnis der Aufstellung von Hypothesen angesichts eines scheinbar unerklärlichen Tatbestandes, eines dunklen Sachverhalts oder mysteriösen Befundes (Ns 63.) Aber er beschränkt sich nicht darauf, sondern leitet ganz natürlich über zu Wissenschaft, Semiotik, Philosophie: wie in einer ärztlichen Diagnose, einer wissenschaftlichen Forschung oder auch einer metaphysischen Fragestellung. Er selbst, teilt Eco (nicht ganz der Wahrheit entsprechend) mit, habe sich z. B. bei der Niederschrift seines Romans weder an S. S. Van Dinens zwanzig Regeln zum Verfassen von Krimis aus dem Jahr 1928, noch an Heissenbüttels topographische Spielregeln des Kriminalromans aus dem Jahr 1963, sondern nur an die der Poetik des Aristoteles und der Indizientheorie des Quintilian gehalten.* Das klingt lustig, wie manches andere, was Eco zur Produktion seines Romans in der Nachschrift zum Besten gibt, ist aber ernst gemeint und hat durchaus provokatorische Dimension, zwingt doch die Redaktion eines Krimis notwendigerweise zum Nachdenken über das, was die italienische Neoavantgarde um die Gruppe 63 zunächst für überwunden gehalten, dann aber 1965 auf ihrer Tagung in Palermo wieder rehabilitiert hatte: die Handlung, griechisch pragma, lateinisch fabula, italienisch intreccio, den ‚Plot‘ oder das, was man früher ‚Intrige‘ nannte, und was bereits bei den antiken Theoretikern und speziell in der Poetik des Aristoteles im Mittelpunkt der Überlegungen gestanden hatte. In der Diskussion über den Namen der Rose hält Eco daher einigen Weggefährten von damals, die ihm - wie z. B. Sanguineti - vorwerfen, mit der Rückkehr zur Romanhandlung Grundprinzipien der Avantgarde preisgegeben zu haben, entgegen, dass u. a. Barilli damals gesagt hatte, man habe bisher die ‚Abkehr von der Intrige‘ privilegiert […] und den ‚Stillstand der Handlung im Aufschein und Rausch der Materie‘ (exemplarisch in Robbe-Grillets La jalousie). Aber daß nun eine ‚neue Phase der erzählenden Kunst‘ beginne mit einer ‚Wiederaufwertung der Handlung,‘ (Ns 72) und Eco fügt hinzu, dass dieses Plädoyer für die Rückkehr zur Handlung verbunden gewesen sei mit der Wiederzulassung des Vergnügens am künstlerischen Artefakt, die er selbst 1965 mit seinem Plädoyer für ein versöhntes Zurück zu neuen <?page no="177"?> 159 Ein Krimi oder nicht doch ein aristotelisches Trauerspiel? Formen von Akzeptablem und Vergnüglichem (Ns 73) propagiert habe, ohne auf Widerspruch zu stoßen. Mit dem Namen der Rose legt Eco also fünfzehn Jahre nach Palermo seine praktische Umsetzung der damals von der Gruppe 63 vertretenen theoretischen Überlegungen vor und radikalisiert seine eigene Position. Er habe, schreibt Eco, der mit Wittgenstein die Überzeugung teilt, „daß man über das, worüber man nicht theoretisieren kann, erzählen“ müsse, den Drang verspürt, sein Wissen über das Mittelalter literarisch mit dem von ihm dafür konzipierten „Idealleser“ zu teilen, was ohne Plot nicht möglich gewesen sei. Es sei ihm deshalb gar nichts anderes übriggeblieben, als unter den Handlungsmustern das metaphysischste und philosophischste auszuwählen, nämlich den Kriminalroman (Ns 60). Das mag zunächst überraschend klingen, ist aber durchaus plausibel, handelt der Kriminalroman doch unausweichlich vom konkreten Sein des Menschen in der Welt, was ebenso unausweichlich dessen Qualität als zoon politikon voraussetzt, als gesellschaftliches Wesen, und damit ebenso notwendigerweise Handeln in der Gesellschaft und Kommunikation mit anderen Menschen auf allen denkbar-möglichen (Zeichen-)Ebenen von der Ethik bis zur Praxis des täglichen Lebens mit allen seinen komischen oder tragischen Varianten unter Einschluss der schwierigsten: des (gewaltsamen) Todes. Der Kriminalroman muss also die literarische Form sein, die potentiell dies alles unterhaltend - und gegebenenfalls auch erzieherisch-belehrend - darstellen kann. Das heißt natürlich nicht, dass der Kriminalroman dies tatsächlich in allen seinen Varianten - und schon gar denen des ausschließlich für Unterhaltung als Massenware produzierten Krimis - tut. Aber es heißt genauso wenig, dass die Unterhaltungsdimension, die dem Kriminalroman innewohnt, seinen anderen Möglichkeiten Abbruch täte. Eco selbst stellt dies im Namen der Rose unter Beweis, steht dieser Roman doch nicht nur - und ganz demonstrativ über den Namen eines weiteren Protagonisten, des blinden Jorge de Burgos - im Dialog mit dem Werk des im Alter erblindeten Jorge Luis Borges, der selbst hochliterarische Krimis verfasst hat und von dem Eco sich vor allem durch die Novelle über die Bibliothek von Babel mit ihrer labyrinthischen Unendlichkeitsmetaphorik für die Bibliotheks- und Labyrinth-Thematik sowie die Spiegel- und Löwen-Metaphorik inspirieren lässt, sondern stellt ein einziges Feuerwerk an literarischen Bezügen, Zitaten und Collagen dar: von Homer bis Joyce, von der Bibel über den Heiligen Benedikt oder Isidor von Sevilla bis Thomas von Aquin oder Ockham, von Dante und Boccaccio über Rabelais, Diderot und Manzoni bis Thomas Mann. Damit <?page no="178"?> 160 Wie das deutsche Feuilleton einen Aristoteliker „aus dem Bauch heraus“ bekämpft bietet dieser Krimi eine im Wortsinn unendliche intertextuelle Fülle an Semiose- oder Interpretationsmöglichkeiten, die ihn zu einem absolut offenen Kunstwerk macht, „das man“, wie Hausmann feststellt, „als spannende Abenteuergeschichte, als historischen Mönchs- und Bibliotheksroman, als ‚speculum‘ mittelalterlichen Wissens, als ‚summa‘ von Monachismus, Ketzerbewegungen, kurialer und imperialer Weltpolitik, Architektur, Medizin, Hortikultur, als Poetik des Autors, als ein Stück erzählter Semiotik, dann aber aber auch als Parallele zu Gegenwartsereignissen wie der Affäre Moro und den Roten Brigaden lesen kann.“ Um das hier nur an einem, aber besonders wichtigen Beispiel deutlich zu machen, auf das Eco selbst mit dem ironischen Titel Natürlich eine alte Handschrift im Vorspann des Romans hinweist: Der Text des Herausgebers und Übersetzers der Niederschrift Adsons, der Eco selber ist, wie man der Tatsache entnehmen darf, dass er von sich als dem Verfasser von Apokalyptiker und Integrierte spricht, gelangt auf einem-- natürlich - fiktiv-abenteuerlichen Weg zum Druck und damit zum Leser, fiel er doch dem Herausgeber am 16. August 1968, sechs Tage vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag, in Form eines Buches aus der Feder eines gewissen Abbé Vallet als französische Übersetzung, gedruckt 1842 in Paris unter dem Titel Le manuscript de Dom Adson de Melk, in die Hände. Er flieht mit dem Buch nach Wien, wo er sich mit einer teuren Person triff, auf die er in Prag gewartet hatte, und fertigt, fasziniert vom Text, auf der Weiterreise nach Melk und dann nach Salzburg gleichsam aus dem Stand eine Rohübersetzung ins Italienische an. Noch vor Salzburg trennt sich das Paar aus ungenannten Gründen, und die geliebte Person entschwindet mit dem Buch, so dass dem Herausgeber, also Eco, lediglich eine Anzahl vollgeschriebener Quarthefte und eine große Leere im Herzen blieb. So unglaublich diese Übersetzungsgeschichte ist, der man zumindest entnehmen müsste, dass er sich auf der Fahrt von Wien nach Salzburg höchst wenig um die teure Person gekümmert haben kann, so unglaublich ist der folgende Bericht über die Bemühungen des Herausgebers, Auskünfte über jenen Adson von Melk zu erlangen. Ja, man kann sagen, dass nur eine einzige Angabe glaubwürdig ist: in Buenos Aires will er in einem Text von Milo Temesvar, den er in einem Antiquariat aufstöbert, ausführliche Zitate aus der Handschrift des Adson gefunden haben, eine Auskunft, an der nicht gezweifelt werden kann, handelt es sich doch um eine von Eco erfundene Gestalt. Der geneigte Leser möge bedenken, schreibt er (10) zusammenfassend: was er vor sich hat, ist die deutsche Übersetzung meiner italienischen Fassung einer obskuren neugotisch- <?page no="179"?> 161 Ein Krimi oder nicht doch ein aristotelisches Trauerspiel? französischen Version einer im 17. Jahrhundert gedruckten Ausgabe eines im 14. Jahrhundert von einem deutschen Mönch auf Lateinisch verfassten Textes. Natürlich haben viele Interpreten des Namens der Rose über diese Editionsgeschichte nachgedacht und darauf hingewiesen, dass die Strategie, sich „hinter der Autorität eines fremden Manuskriptes zu verstecken und sich selber nur als ‚Herausgeber‘ und ‚Bearbeiter‘“ auszugeben, spätestens seit den Romanen Chrétien de Troyes’ zur Tradition des Romanschreibens gehört, an der sich unter vielen anderen Manzoni mit den Verlobten beteiligt hatte, dessen Bedeutung für den Namen der Rose außer Zweifel steht. Genauso außer Zweifel steht aber auch die Bedeutung des Don Quijote, auf den Eco nachdrücklich hinweist: Alle Bücher sprechen immer von anderen Büchern, und jede Geschichte erzählt eine längst schon erzählte Geschichte. Das wußte Homer, das wußte Ariost, zu schweigen von Rabelais und Cervantes … Ergo konnte meine Geschichte nur mit der wiedergefundenen Handschrift beginnen, und auch das wäre dann (natürlich) nur ein Zitat. So schrieb ich zunächst das Vorwort … (Ns 28). Dieser Hinweis ist umso wichtiger, als Cervantes nicht nur vorgibt, dass die Geschichte von Don Quijote, obwohl ausdrücklich in der Gegenwart angesiedelt, in verschiedenen Archiven auf alten Pergamenten auf bewahrt und von einem arabischen Chronisten namens Cide Hamete Benengeli aufgeschrieben worden sei, womit Cervantes Ecos Verweise auf die arabischen Ursprünge der modernen europäischen Kultur, die sich im Namen der Rose finden, vorwegnimmt, sondern weil Don Quijote und sein Assistent Sancho Pansa mutatis mutandis ganz ähnliche Detektivfunktionen (unter Einschluss des Spurenlesens und der versuchten Überführung von Missetätern) ausüben wie Baskerville und Adson. Dass auch im Don Quijote ein Pferd eine entscheidende Rolle spielt, und zwar Rocinante, der wohl berühmteste Gaul der Weltliteratur, sei ebenso angemerkt wie die Tatsache, dass der Don Quijote, der so viele Leser zum Lachen gebracht hat, im Grunde ein tieftrauriger Roman ist, an dessen Ende denn auch alle weinend am Sterbebett des Protagonisten stehen, der an seinem Versuch gescheitert ist, vernünftige Ordnung in eine unmoralische Welt zu bringen. Und genau diese tragische Dimension besitzt auch der Name der Rose, in dessen Mittelpunkt die Suche nach dem Komödientraktat des Aristoteles und das Nachdenken über das Lachen steht. Aber tatsächlich zu lachen gibt es sehr wenig in diesem Roman, den Eco selbst ein tragikomisches Melodram nennt, für das er sich wie Cervantes oder Don Quijote u. a. auch in mittelalterlichen Romanen bzw. höfischen Ritterepen inspiriert (Ns 40). <?page no="180"?> 162 Wie das deutsche Feuilleton einen Aristoteliker „aus dem Bauch heraus“ bekämpft Wie die deutsche Feuilletonkritik ganz idealistisch gegen den Baum der Erkenntnis fuhr 1982 erscheint die deutsche Übersetzung des Namens der Rose, und es beginnt ein geradezu gespenstisches Kapitel des deutschen Feuilletons. Denn dem Respekt und der Bewunderung, mit denen die namhaftesten deutschen Literatur- und Kulturwissenschaftler Ecos Romane interpretieren, und der Begeisterung, die ihm - wie die Auflagenhöhen zeigen - das deutsche Lesepublikum insgesamt entgegenbringt, steht die mehrheitlich von Hohn, ja, von Hass triefende Kritik dieses Feuilletons gegenüber, das nicht müde wird, Ecos Romane als „oberlehrerhafte“ Produkte eines zu künstlerischer Produktion unfähigen Professors (sprachkompetent auch immer wieder „il Professore“ genannt) zu denunzieren.* Eine kleine Blütenlese: Der Name der Rose ist für Die Zeit vom 08. 10. 1982 „mit jedem Satz ein Professorenroman, reich an angelesenen und ergrübelten Einsichten, arm an Lebenserfahrungen. Es ist im wörtlichen Sinne Sekundärliteratur.“, und für die FAZ vom 09. 10. 1982, ein „geschwätzige[s] und spitzfindige[s] Konglomerat“, das - nach „triviale[n] Erzählschablonen“ in einer „mit Fremdwörtern gespickte[n] Journalisten-Umgangssprache“ verfasst - „nicht mehr [ist] als ein ambitiöser Gelehrtenscherz“. Nach Auskunft der Neuen Frankfurter Presse vom 04. 11. 1982 „holpert“ dieser „Mittelalter-Thriller […] wie ein asthmatischer Personenzug durch eine Landschaft erlesener Künstlichkeit“ und „all der Ballast sekundärwissenschaftlicher Analysen [und] das Fußnotengedächtnis des Philologen“ machen seine Lektüre zu einer Tortur. Laut Rheinischem Merkur vom 03. 12. 1982 sind die Protagonisten des Romans „keine [wirklichen] Menschen“, so dass sich auch „keine Atmosphäre“ bilden kann. Damit sind die Eckdaten des deutschen Feuilletondiskurses für das folgende Vierteljahrhundert festgeschrieben, und Die Welt vom 06. 10. 1982 komplettiert dieses Panorama feuilletonistischer Highlights mit der Unterstellung, dass der gemeine Leser zu ungebildet sei, den Text zu kapieren.** Kurz, es ist durchaus nicht übertrieben, festzustellen, dass allein Der Spiegel ein wenig die Ehre des deutschen Feuilletons rettet, veröffentlicht er doch eine begeisterte Besprechung, in der es heißt, dass Der Name der Rose „das klügste und zugleich lustigste Buch“ sei, das der Rezensent „seit Jahren gelesen habe“. Das trug gewiss auch zum Erfolg des Romans in Deutschland bei, obwohl man diesen Rezensenten eigentlich nicht ganz ernst nehmen konnte, handelte es sich doch um einen Schweden: den Romanautor Lars Gustafsson, den offensichtlich nicht <?page no="181"?> 163 Wie die deutsche Feuilletonkritik gegen den Baum der Erkenntnis fuhr einmal störte, dass sein Kollege Universitätsprofessor war, ein für das deutsche Feuilleton ganz unverzeihlicher Makel. Vielleicht war das auch der Grund, warum Der Spiegel der Besprechung noch ein Porträt des in Deutschland bis dahin eher unbekannten Eco in der üblich ironischen Spiegel-Tonart beifügte.* Aber selbst der anonyme Verfasser dieses Textes konzediert, dass es dem „Semiotik-Professor“ gelungen sei, „auf brillante Weise“ die Methoden semiotischen und detektivischen Spurenlesens „zur Deckung“ zu bringen und den „delikaten“ „Sündenfall des Novizen Adson mit einem Bauernmädchen“ „im Rhythmus des Bumsens“ aus „Texten vom Hohenlied Salomonis“ und „Worten der heiligen Birgitta“ zu „collagieren“. Das war insofern bemerkenswert, als diese Feststellung nicht nur im Widerspruch steht zum Urteil der anderen Feuilletonkritiker, die unisono die professorale Armut der Eco’schen Sprache anprangerten, was angesichts der vorzüglichen Übersetzung von Burkhart Kroeber besonders geistreich war, sondern auch Ecos erzählerische Inkompetenz unterstrichen. Dabei entging ihnen im Gegensatz zum Spiegel oft, dass der Roman zum Teil eine immense Collage anderer Texte ist, so dass sie in Wahrheit auf Dante, Boccaccio, Joyce oder Thomas Mann einprügelten, wenn sie Ecos „Journalisten-Umgangssprache“ oder „Professoren-Prosa“ rügten, was Eco - wie er in der Nachschrift sagt - durchaus amüsierte, waren die inkriminierten Stellen doch genau und ausschließlich jene Passagen, die er wortwörtlich aus Texten anderer Autoren zu seinem eigenen Text verschweißt hatte. Um zu verstehen, worum es geht, muss man sich erinnern, dass die europäische Literaturproduktion seit der Renaissance im Zeichen des um 1490 wiederentdeckten Traktats über die Dichtkunst von Aristoteles gestanden hatte, dem von seinen Kommentatoren in jener Zeit weitgehend normativ-poetologische Intentionen zugewiesen wurden, obwohl er diese so ohne weiteres gar nicht besaß, sondern durchaus ontologisch konzipiert war. Diese normative Umwidmung aber geriet Ende des 17. Jahrhunderts in eine fundamentale Krise, als Fortschrittsgläubige und Antikeverehrer darüber zu streiten begannen, wer denn nun bedeutender sei, die Antike oder die - mit der Monarchie Ludwig des XIV. gleichgesetzte - Moderne, wobei man vergleichend auf die artes (oder arts) einging, was damals sowohl die Bildende Kunst als auch Handwerk und Technologie bedeutete. Dieser Streit fand im Versailles der Epoche seine aristokratisch-salomonische Lösung, indem man sich darauf einigte, dass die Bewertung von Kunstwerken nicht nach Kriterien des Fortschritts vorgenommen werden könne und deshalb unentschieden bleiben müsse, ob die Kunstwerke der Al- <?page no="182"?> 164 Wie das deutsche Feuilleton einen Aristoteliker „aus dem Bauch heraus“ bekämpft ten bedeutender seien als die der Modernen, dass aber hinsichtlich des technologischen Fortschritts der Vorrang unleugbar den Modernen gebühre, da dieser objektiv-messbar und damit unwiderlegbar sei. Diese Splittung des Urteils über die artes bewirkte, dass im Nachdenken über Schönheit und Kunst neue Kriterien erarbeitet wurden, mit denen u. a. das Problem der künstlerischen Originalität in den Blickpunkt geriet, was zu einem Infragestellen des missverstandenen Aristoteles wie in Giambattista Vicos Scienza Nuova von 1725 führte, mit der laut Eco das Tor zu einer Philosophie und einer Sprachwissenschaft und einer Ästhetik der unvorhersehbaren Freiheit des Geistes aufgestoßen wurde, wie er in Die aristotelische Poetik und wir schreibt (BP- 238). 1750-1758 legte dann Baumgarten seine Aesthetica vor, in der mit der cognitio sensitiva, der „Sinnenerkenntnis“, die der rationalen Interpretation der Welt vorausgehe, die alles verändernde Kategorie in die ästhetische Reflexion des deutschen Idealismus eingeführt wurde, die mit Kants Kritik der Urteilskraft ihre Ausfaltung und Freisetzung im Konzept des sinnlichen und von Nutzdenken freien, „uninteressierten Wohlgefallens“ finden sollte. Die als Manual für Textproduktion missverstandene Poetik des Aristoteles wurde in Deutschland jedenfalls nach Kant ad acta gelegt und ersetzt durch „die Ästhetik“, eine Entwicklung, die gefördert wurde durch den künstlich geschürten Hass auf den französischen Nachbarn, den vermeintlich patriotische Intellektuelle seit den napoleonischen Kriegen zum „Erbfeind“ ernannt hatten und dessen neo-aristotelischer Klassizismus mit dem genialen Molière an der Spitze (speziell von Fichte in den Reden an die deutsche Nation von 1807/ 1808) zur - germanischem Geist und Empfinden wesensfremden - Unkunst erklärt wurde. Die Erkenntnis und Akzeptierung des freien, uninteressierten Wohlgefallens als Konstituente der sinnlichen Wahrnehmung des Seins hatte aber zum einen logischerweise Konsequenzen für die Konzeption der Kunstproduktion selbst, deren Gesetzen u. a. Schiller, Schelling und Hegel mit seiner Metaphysik des Schönen auf die Spur zu kommen suchten, zum anderen aber auch für die Einschätzung der Beurteilung und Bewertung von Kunst durch den Rezipienten. In dem Maße nämlich, in dem sich die Einschätzung der Kunstproduktion als eines prä- oder überrationalen Vorgangs in den Bereich des Genialisch-Unzugänglichen und Einzigartig-Originalen verlagerte, entzog sich auch die Bewertung der Kunstproduktion der Kompetenz des Individuums, das nicht über die genialische „cognitio sensitiva“ für das Schöne und seine Verwandlung in Kunst verfügte. <?page no="183"?> 165 Wie die deutsche Feuilletonkritik gegen den Baum der Erkenntnis fuhr Anders gesagt: je dezidierter der Kunst- und Literaturtheoretiker die Kunst- und Literaturproduktion in den Bereich des Regelfrei-Genialischen verlagerte, desto dezidierter relegierte er sich selbst in den Kreis der Individuen, die - als sinnlich-genialisch Minderbegabte - logischerweise der Kunst- und Literaturproduktion relativ verständnis- und empfindungslos gegenüberstehen mussten. Das war umso misslicher, als das aufstrebende Bürgertum informiert und unterhalten werden wollte, wozu auch gehörte, dass es wünschte, zu erfahren, was es denn tunlichst lesen sollte. Mit anderen Worten: just zu dem Zeitpunkt, da immer zahlreichere Zeitungen und Magazine Literaturkritiker benötigten, um Buchbesprechungen zu verfassen und Lese- Empfehlungen zu erteilen, wurde diesen de facto die Kompetenz dazu abgesprochen. Man hielt daher nach Rechtfertigungen für Literaturkritik Ausschau und wurde u. a. bei Schleiermacher fündig, konnte man doch seinen Schriften zur Ästhetik und Hermeneutik entnehmen, dass es einem „Ausleger“ oder Interpreten möglich sei, sich zum Verständnis eines Textes „kongenial“ „divinatorisch“ „in die ganze Verfassung“ eines „Schriftstellers“ „hineinzuversetzen.“ Damit war selbst dem unbedeutendsten Interpreten die Möglichkeit eingeräumt, seine Interpretation eines Textes als diesem „kongenial“ auszugeben. Ja, mehr noch als „kongenial“, hielt es Schleiermacher doch für nötig und damit möglich, dass die Interpreten von Texten genialer Autoren diese besser verstünden als ihre Autoren selbst.* Diese These wurde von Dilthey noch um die Konzeption des Kunstwerks als psychologisch erfassbarer Manifestation seelischen Empfindens ergänzt, derzufolge es die „Lebenserfahrung“ dem Interpreten ermögliche, „kongenial“ „divinatorisch“ durch Versenken in die „schriftlich fixierten Lebensäußerungen“ des Dichters oder Schriftstellers zu deren adäquater „Auslegung“ zu gelangen: „Die Auslegung ist ein Werk der persönlichen Kunst“, erklärte Dilthey, „und ihre vollkommenste Handhabung ist durch die Genialität des Auslegers bedingt; und zwar beruht sie auf Verwandtschaft gesteigert durch eingehendes Leben mit dem Autor, [und] best[ändiges] Studium […] Hierauf beruht das Divinatorische in der Auslegung.“ Dass eine derartige Hermeneutik-Konzeption dem Interpreten allenfalls hinsichtlich psychologisch-realistischer Texte das Gefühl vermitteln konnte, diese als „Lebensäußerung“ angemessen verstehen zu können, dafür aber u. a. vor jedem nach rhetorisch-poetischen Regeln verfassten Text versagen muss, der in der Antike oder seit dem Mittelalter unter Beachtung der drei Bedeutungsebenen und unter Verwendung des entsprechenden Figurenmaterials verfasst wurde, <?page no="184"?> 166 Wie das deutsche Feuilleton einen Aristoteliker „aus dem Bauch heraus“ bekämpft liegt auf der Hand, hat jedoch nicht verhindert, dass die idealistische Hermeneutik-Konzeption, bereichert um Varianten und Nuancierungen aus Phänomenologie sowie Lebens- und Existenzphilosophie von Nietzsche über Husserl zu Heidegger es dem deutschen Feuilletonisten ermöglicht hat, als den Dichtern kongenialer Textdeuter die Literaturkritik immer mehr von literaturgeschichtlicher, philosophischer und handwerklicher Kenntnis zu entfernen und mittels „subjektiver“ „Versenkung in den Text“, per „Intuition“, „Empfinden“ (oder „Nachempfinden“), „Lebenserfahrung“ und „Seelentiefe“ an den psychologischen Baum zu fahren. Von dort aus hält er denn auch im monotonen Lobpreis des „aus-dem-Bauch-heraus“-Geschriebenen nach „Gestalten aus Fleisch und Blut“ Ausschau, denn nichts anderes vermag ihm ästhetischen Trost zu spenden. Dass er aus dieser Warte auch Schwierigkeiten mit allen formalen Experimenten der Moderne haben muss, ist klar, und wenn ein Formexperimentator wie Eco sein Können auch noch dazu benutzt, philosophisch-kohärent über unsere geschichtlich-gesellschaftliche Identität nachzudenken, und zu diesem Zweck ironisch-virtuos mit der Dialektik von psychologischer Einfühlung und historischer Distanzierung spielt, dann brechen alle „kongenial-divinatorischen“ Bezugssysteme des Feuilletonisten zusammen und es bleibt nichts anderes übrig, als mit Christ und Welt (03. 12. 1982) festzustellen: „Hier sind keine Menschen, und es bildet sich keine Atmosphäre.“ Denn da hilft nicht einmal die vom Spiegel angerufene Heilige Birgitta. Das Problem ist nur, dass es die aufgeklärte Menschheit mehrheitlich vorzuziehen scheint, sich eher rational in der Welt zurechtzufinden, statt die Kommunikation mit ihr über „kongeniale Divination“ „aus dem Bauch heraus“ zu suchen. Das dürfte übrigens u. a. auch den Massenerfolg des Kriminalromans erklären, ganz davon abgesehen, dass Eco bereits während der Arbeit an seiner Dissertation entdeckt hatte, dass der Weg des „kongenial-divinatorischen“ Sich-Hineinversetzens in den Heiligen Thomas, den ihm die idealistische Hermeneutik der Schleiermacher und Dilthey wies, ein Irrweg war, und dass es der historischen Distanzierung bedurfte, um sich Thomas von Aquin zu nähern. Diese Erkenntnis, die u. a. mit seiner Abkehr vom katholischen Glauben einherging, trug dazu bei, dass er sich der Erforschung des Erkenntnisprozesses bzw. der Semiotik zuwandte, was auch mit intensiver Lebenserfahrung (z. B. in der Auseinandersetzung mit der Medienwirklichkeit als Mitarbeiter der RAI und Lektor bei Bompiani) verbunden war und - im Gegensatz zu dem, was deutsche Feuilletonisten meinten - durchaus Eingang in den Namen der Rose <?page no="185"?> 167 Don Quijote oder Die aristotelische ‚Poetik ‘ und wir gefunden hat. Womit Eco freilich nicht gerechnet haben dürfte, war, wie sehr die Literaturkritik des deutschen Feuilletons immer noch jenen idealistischen Positionen verhaftet war und ist, die er dreißig Jahre zuvor als nicht länger brauchbar erkannt und verlassen hatte. Und dieses Feuilleton verlangt nach „Bauchgefühl“, was immer das sein mag. Don Quijote oder Die aristotelische ‚Poetik‘ und wir Zu den kuriosesten Aspekten im Umgang der deutschen Feuilletonkritik mit Eco gehört, dass sie nicht müde wird, seiner vorgeblich armseligen Gelehrtenprosa das Beispiel von Autoren entgegenzuhalten, denen das Kunststück bauchfühligen Erzählens meisterhaft gelungen sei. Zu ihnen gehören für fast alle Feuilletonkritiker Joyce und Thomas Mann und für ausnahmslos alle Cervantes mit seinem Don Quijote. Das freilich ist umso absurder, als die Anrufung von Cervantes als eines urwüchsig-spontanen, um Theorie und Regeln unbekümmerten Erzählers schlicht ins Reich der Legendenbildung gehört, die ihre Ursprünge - wie die gesamte Einfühlungsideologie - in der deutschen Romantik hat. In Wahrheit ist Cervantes nicht nur ein studierter Mann,* er ist der bedeutendste aristotelische Autor, den das Spanische Goldene Zeitalter (und vielleicht die gesamte moderne Weltliteratur) hervorgebracht hat, was im Übrigen sein Zerwürfnis mit dem von ihm - bis hinein in lange Abhandlungen im Don Quijote selbst - als Verderber des spanischen Theaters verurteilten, anti-aristotelischen, populistischen (aber trotz allem genialen) Lope de Vega erklärt. Verfasser ebenso rigoros aristotelischer wie grandioser Schauspiele, als deren Höhepunkt die Belagerung von Numantia (ca. 1580) betrachtet werden kann, die Tragödie vom Widerstand des iberischen Volkes gegen den römischen Okkupanten, der im kollektiven Selbstmord der Einwohner von Numantia endet, hat Cervantes das Glück, einen Zeitgenossen zu haben, der zu den genialsten Aristoteles-Exegeten aller Zeiten gehört. Während nämlich so gut wie alle anderen Theoretiker der Renaissance Aristoteles’ Traktat über die Dichtkunst als Regelbuch für die Anfertigung poetischer Texte missverstehen und mit der auf praktische Anwendung zielenden Epistula ad Pisones des Horaz in eins setzen, unterstreicht Alonso López Pinciano (†1627), der von den Zeitgenossen voll Respekt El Pinciano genannt wird, die philosophische Dimension des aristotelischen Nachdenkens über die Dichtkunst bereits im Titel seiner 1596 erschienenen und nach platonischem Vorbild dialogisch konzipierten Filosofia Antigua Poética: der <?page no="186"?> 168 Wie das deutsche Feuilleton einen Aristoteliker „aus dem Bauch heraus“ bekämpft Antiken Dichtungsphilosophie. Für Pinciano geht es daher auch nicht darum, modellhafte Texte zur Norm poetischen Schreibens zu erheben. Er und seine Dialogpartner denken vielmehr darüber nach, welchen gesellschaftlich-philosophischen Bedürfnissen welche Art des Schreibens entsprechen könnte, und sie gelangen in Sachen „Epik“ zu einer absolut vorurteilslosen Akzeptierung erzählerischer Formen in Vers oder Prosa mit tragischen oder heiteren Sujets, kurz: von Homers Epen bis zur zeitgenössischen Prosa, zu der u. a. auch die Ritterromane gehören, die Don Quijotes Verstand verwirren und ihm die tragische Kompetenz geben, die Welt in komischen Begegnungen zu entlarven. Der Sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha jedenfalls ist das Werk eines unendlich belesenen und philosophisch geschulten Autors, der natürlich auch El Pinciano kennt, und er ist ein mindestens ebenso dichtes, kunstvoll-narratologisches und - wenn man will- - artifizielles Feuerwerk wie Der Name der Rose, wobei hier gar nicht zur Debatte steht, welcher der beiden Romane „besser“, „größer“, „genialer“ oder was auch immer sein mag. Viel wichtiger ist, dass es in jener Zeit, da die weltbeherrschende Großmacht Spanien in durchaus unaristotelischem Größenwahn und religiösem Fanatismus dem politischen Untergang im Dreißigjährigen Krieg entgegentaumelt und ihre feudalaristokratische Ordnung in eine kulturelle Krise geraten ist, in der auch literarische Kommunikation immer problematischer wird, Cervantes gelingt, im Rückgriff auf traditionelle erzählerische Formen wie Chroniken, episch-höfische Dichtung, Ritterromane, Farcen, aber auch modernste Formen des Erzählens wie die bürgerliche Novelle im Gefolge Boccaccios und den 1554 mit dem Lazarillo de Tormes geborenen autobiographisch-pikaresken Roman, mit dem Don Quijote das von El Pinciano für möglich gehaltene aristotelische Prosa-Epos vorzulegen, das eine schier unendliche Fülle narrativer Möglichkeiten zur Darstellung der Verlorenheit des Menschen auf dieser Erde eröffnet. Knapp vierhundert Jahre später, in der Hochzeit des Kalten Krieges, war erzählerisches Nachdenken über die Welt wieder in eine abgrundtiefe Krise geraten, wie man den (durchaus nicht unbegründeten) avantgardistischen Todesanzeigen für traditionelle Erzählformen in der westlichen Welt entnehmen konnte. Und zwar nicht nur in Italien, wie der Blick auf den nouveau roman in Frankreich zeigt, der die Unmöglichkeit erzählerischer Verständigung über die Welt zu seinem Gegenstand gemacht hatte, während man in der sowjetisch dominierten Welt versuchte, diese Verständigung in der Form des sozialistisch-realistischen Romans parteiamtlich am Leben zu halten. In <?page no="187"?> 169 Don Quijote oder Die aristotelische ‚Poetik ‘ und wir dieser Situation, und als im terrorgeschüttelten Italien jegliche gesellschaftliche Ordnung zusammenzubrechen schien, hielt ein junger Intellektueller namens Eco den resignativen und (selbst)zerstörerischen Kräften jedweder Orientierung sein Plädoyer für die erzählerische Rückbesinnung auf die Geschichte im Allgemeinen, auf die antike Philosophie und auf Aristoteles im Speziellen entgegen und legte im Rückgriff auf die - vom deutschen Idealismus und seinen italienischen Nachfolgern - für tot erklärte Poetik des Aristoteles, aber auch und vor allem im Rückgriff auf den Don Quijote einen Roman vor, der wie der Don Quijote mit allen narrativen Möglichkeiten von der mittelalterlichen Epik bis zu Joyce und Thomas Mann spielt und den historisch gesehen zweiten aristotelisch-monumentalen Appell zur Rückkehr zur erzählerisch-kommunikativen Vernunft darstellt. Gewiss, das ist ein literarisch so verrücktes Unternehmen wie Don Quijotes, zum Zweck der Weltverbesserung unternommener Auszug aus seiner Bibliothek, an dessen Gelingen nur Sancho Pansa, der Repräsentant des einfachen Volkes, aber keiner der um Don Quijote alias Alonso Quijano versammelten Kritiker glaubt: weder die Haushälterin, noch die Nichte oder der Barbier, und der Dorfpriester, der Domherr von Toledo und der Bakkalaureus Sansón Carrasco schon gar nicht. Auch der deutsche Feuilletonkritiker glaubt nicht daran und erklärt deshalb für unmöglich, dass Umberto Eco sein gelehrtes Wissen und seine philosophischen Botschaften erzählerisch an den ungebildeten Leser bringen kann. Doch als er dies mit unanfechtbarer Kritikerkompetenz verkündet, sind in Italien schon hunderttausende Exemplare dieses unmöglichen Romans verkauft. Da aber nicht sein kann, was nicht sein darf, reicht das Feuilleton eilends eine Erklärung nach: das muss an der Reklame liegen, am Marketing. Doch dann melden sich die Gelehrten und sind begeistert! Na klar, erklärt das Feuilleton, diese „akademischen Fachleute“ ergötzen sich daran, „die Probleme ihrer Disziplinen (knapp unter dem Stand der Forschung) wiederzufinden.“ Ja, und als dann auch in Deutschland der Roman massenhaft Absatz findet und die Auflagen rund um die Welt in die Millionenränge steigen, da fällt dem deutschen Feuilletonkritiker auch dafür eine Erklärung ein: der „einfache Leser“ kauft so was zwar, liest es aber in Wahrheit gar nicht, oder aber er „liest es nicht zuende“ wie Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett ergänzt, denn dazu ist der „einfache Leser“ gar nicht fähig, weil offenkundig zu blöd und ungebildet. Natürlich ist so viel Sicherheit im Urteil der deutschen Feuilletonkritik beeindruckend, auch wenn man angesichts der Tatsache, <?page no="188"?> 170 Wie das deutsche Feuilleton einen Aristoteliker „aus dem Bauch heraus“ bekämpft dass der Name der Rose bis 2007 in über dreißig Sprachen übersetzt und 26 Millionen mal verkauft wurde, dagegen halten könnte, dass die Einfühlungskritiker vom deutschen und ihre post-croceanischen Kollegen vom italienischen Feuilleton, die den Roman erzählerisch missraten und unverständlich finden, eine prozentual relativ kleine Minderheit innerhalb derselben Lesergemeinde darstellen, denn es dürfte davon auszugehen sein, dass die von ihnen verspotteten Eco- Leser zu einem großen Teil auch die Leser des Feuilletons sind. Selbst wenn man also davon ausginge, dass nur 10 % der Käufer des Romans diesen auch gelesen, einigermaßen verstanden und gemocht haben, so wäre es dem Verfasser des Romans immerhin gelungen, den vom deutschen Feuilleton für ungenießbar gehaltenen „Bildungsballast“ literarisch so zu gestalten, dass er für Millionen von Lesern, die auch Feuilletonkritik zu lesen in der Lage sind, aber auch und vor allem für die nichtdeutschen Literaturkritiker im Rest der Welt angenehm lesbar und verdaulich ist.* Dass ihm darüber hinaus renommierte Preise wie 1981 der Premio Strega und 1982 der Prix Medicis verliehen wurden, ist daran gemessen eher anekdotisch. Das literarhistorische Ereignis, dessen Konsequenzen noch längst nicht absehbar sind, ist jedenfalls die Tatsache, dass 1980 ein Prosa- Werk in der Nachfolge des Don Quijote veröffentlicht wurde, das - von allem anderen abgesehen - wie der Don Quijote selbst ein philosophisches Bekenntnis zu Aristoteles und seiner Poetik darstellt und das nicht nur (wie der Don Quijote) von Millionen gelesen wurde, sondern - immer noch: wie der Don Quijote - auch die Romanproduktion in der gesamten Welt maßgeblich beeinflusst und verändert hat, weswegen ihm hier ausführlichere Darstellung gebührt, unbeschadet der Frage, ob nicht die Romane, die Eco später schrieb, darstellerisch gelungener seien als der Name der Rose. Literaturgeschichtlich können sie nicht an die Bedeutung des Namens der Rose reichen, bleiben sie doch auf den erzählerischen Gleisen dieses Romans, dessen poetologische Dimension sie weiter vertiefen, sublimieren, ausbauen, so wie Eco grundsätzlich im Fahrwasser des Aristoteles verbleibt, dessen dichtungsphilosophische Botschaft er 1990 noch einmal in einem Text mit dem bezeichnenden Titel Die aristotelische ‚Poetik‘ und wir radikalisieren und ein knappes Vierteljahrhundert nach Erscheinen des Namens der Rose als philosophische und ästhetische Herausforderung in seine Sammlung literaturtheoretischer Essays aufnehmen wird, die in der deutschen Übersetzung Die Bücher und das Paradies benannt ist. Eco erinnert in diesem Essay daran, dass die ersten großen Aristoteles-Kommentare zwar in der italienischen Renaissance verfasst wur- <?page no="189"?> 171 Don Quijote oder Die aristotelische ‚Poetik ‘ und wir den, die aristotelische Dichtungstheorie in Italien aber seit Vico in die Krise geriet, um in der Epoche des Idealismus der italienischen Kultur weitgehend verlustig zu gehen: Die wenigen Seiten, die Croce über Aristoteles geschrieben hat, vermerkt Eco ironisch-melancholisch, bezeugen unausrottbare Vorurteile, die einen formal unangreifbaren Syllogismus gebären: (a) Die Ästhetik entsteht mit Baumgarten und seiner Idee einer scientia cognitionis sensitivae, gnoseologia inferior, (b) Aristoteles hat Baumgarten nicht lesen können, (c) ergo hat Aristoteles nichts über die Ästhetik zu sagen (BP 239). Natürlich hatte Aristoteles unendlich viel über Ästhetik zu sagen, und seine Verbannung aus der modernen Literaturtheorie, die (wie Eco betont) von der anglo-amerikanischen Kritik grundsätzlich gar nicht, von der französischen erst nach dem Zweiten Weltkrieg von mehr oder weniger (deutsch-idealistisch inspirierten) Modetrends vorgenommen wurde, korrespondiert dem von Eco seit seiner Auseinandersetzung mit Thomas von Aquin als falsch angeprangerten und mit Erfolg bekämpften Irrglauben, „das Mittelalter“ habe keine „Ästhetik“ bzw. keine ästhetischen Bedürfnisse und Konzepte besessen. Provokativ verweist er denn auch auf die Tatsache, dass man ohne Kenntnis des Aristoteles von den ästhetischen Ideen eines Joyce nichts begreifen könne, und er bekennt (BP 240), dass seine eigene entscheidende aristotelische Erfahrung Poes Essay Philosophy of Composition gewesen sei, in dem er Wort für Wort und Struktur für Struktur die Entstehung, die Technik und die Motivation seines berühmten Gedichtes The Raven analysiert: In diesem Essay wird Aristoteles zwar nie erwähnt, aber als Vorbild ist er allgegenwärtig, auch im Gebrauch einiger Schlüsselbegriffe. Kurz: der Traktat über die Dichtkunst von Aristoteles ist nicht nur für das Verständnis jedweder Literatur- und Kunstproduktion und damit auch der Moderne unter Einschluss der Massenmedien und unseres Verlangens nach Weltinterpretation über Erzählungen als philosophische oder wissenschaftliche Texte grundlegend, eine These, die - wie Eco (257) schreibt - sich durchaus auch als Grundlage für eine moderne Erkenntnistheorie nutzen ließe. Dass Eco auf diesem Hintergrund sein Urteil über den Kriminalroman als der philosophischsten Literaturgattung aufrecht erhält und verschärft, kann nicht überraschen (248): Denn der Kriminalroman ist nichts anderes als die aristotelische Poetik, reduziert auf ihre wesentlichen Elemente: eine Folge von Geschehnissen (pragmata), deren Fäden sich verwirrt und verloren haben, und der Plot (mythos) erzählt, wie der Detektiv sie findet und wieder zusammenfügt. <?page no="190"?> 172 Wie das deutsche Feuilleton einen Aristoteliker „aus dem Bauch heraus“ bekämpft Littérature engagée oder das Lachen der Vernunft Es dürfte an mangelnder Einsicht in dieses aristotelische Literaturverständnis liegen, dass ein Teil der Kritik (nicht nur des Feuilletons) meinte, mit dem Namen der Rose habe Eco eine Abkehr vom politischen Engagement vollzogen, wobei sich die Kritiker auf jenen Passus im Vorwort des Herausgebers der Handschrift des Adson von Melk beziehen, in dem er berichtet, dass er (NdR 12) seine Rohübersetzung, die als solche natürlich gar nicht existiert, ohne Präokkupation um Fragen der Aktualität bearbeitet habe. 1968, als er den Text entdeckt habe, hätte zwar die Überzeugung geherrscht, daß man nur schreiben dürfe aus Engagement für die Gegenwart und im Bestreben, die Welt zu verändern. Inzwischen aber, mehr als zehn Jahre danach, habe das Erwachen der Vernunft all jene Monster vertrieben, die ihr Schlaf einst zeugte. Man dürfe daher wieder schreiben aus reiner Liebe zum Schreiben, und so erzähle er denn auch aus schierer Lust am Fabulieren die Geschichte des Adson von Melk, die unendlich fern in der Zeit liege und herrlich frei von allen Bezügen zur Gegenwart sei. Hätte es nicht genügt, sich daran zu erinnern, dass Goyas Radierung vom Schlaf der Vernunft, die Monster gebiert aus dem Jahr 1799 stammt, dem zehnten Jahr nach dem Triumph der Vernunft, wie die Aufklärer hofften, um zu begreifen, dass dies ironisch gemeint war? Dass die Vernunft - schon gar im Italien der Roten Brigaden - noch immer nicht triumphierte und dass Eco schon deshalb nicht ernsthaft meinen konnte, die Geschichte, die er da erzähle, sei frei von allen Bezügen zur Gegenwart, ganz davon abgesehen, dass er klar und deutlich bekundet hatte, der Name der Rose sei eine Anamnese unserer Zeit und ihrer fortwirkenden Ursprünge? Das hatte offenkundig bei einigen Interpreten nichts bewirkt, und so zürnt denn Hans-Jürgen Bachorski z. B. 1984 über den Namen der Rose als „klägliche Allegorie der Ohnmacht“ und ordnet Eco den Intellektuellen zu, die sich - enttäuscht von 1968 - der eigenen Ohnmacht bewusst geworden seien und entschieden hätten, „alles Geschehen von der Warte der unbeteiligten Überlegenheit zu kommentieren.“ „In William und Adson hat dieses neue Lebensgefühl der Achtziger Jahre seine historischen Helden“, schreibt Bachorski und beklagt, dass Eco mit diesem „Profil seiner Helden“ nicht etwa Kritik am „modernen Intellektuellen in historischem Gewande“ habe üben wollen, sondern „die Haltung von William und Adson als nachahmenswert“ empfehle, obwohl eine solche Haltung bestimmt sei „durch praktische Passivität und theoretischen Relativismus“ und - wie er mit Worten von Christoph Hein <?page no="191"?> 173 Littérature engagée oder das Lachen der Vernunft beteuert - „in unserer bedrohlich gefährdeten Welt unser aller Tod befördern“ würde. Im Ton weniger dramatisch, in der Sache aber ähnlich tadelt Ulrich Wyss Umberto Eco, weil dieser dem „Bösen“, das Jorge von Burgos verkörpere, in Baskerville „ein Ethos des Gelächters“ entgegensetze, „den universalen Karneval, in dem Oben und Unten, Wahr und Falsch, Gut und Böse, immer wieder ineinander verkehrt“ würden. „Die Wahrheit zu verlachen, ist das wirklich der Weg ins Freie? “, fragt Wyss und erklärt, eine „Kultur des Lachens“ sei „immer resignativ“: „Die Metaphysik des Gelächters kultiviert das Idol einer Regression, vor welchem der Prozeß der Aufklärung immer wieder zusammenbricht.“ Deshalb, schließt Wyss, schiene ihm „Ecos Axiom“ „verdächtig“, „daß Erzählen die Theorie abzulösen habe“: „Gerade traumatische Situationen wie die Affäre Moro sollten den Denkenden dazu verpflichten, zu denken statt zu erzählen.“ Abgesehen davon, dass es ein wenig frivol anmutet, in Sachen Aldo Moro ausgerechnet Umberto Eco zum Nachdenken aufzufordern, und auch davon, dass Eco nirgends fordert, theoretisches Denken durch „Erzählen“ „abzulösen“ und endlich dass Baskerville an keiner Stelle des Namens der Rose „ein Ethos des Gelächters“ vertritt, sondern für den therapeutisch-weisen Gebrauch des Lachens plädiert, das laut Aristoteles zum unaufhebbaren Wesen des Menschen gehört, die Kritik von Bachorski und Wyss kann allein damit erklärt werden, dass sie weder Ecos Ansichten zur Poetik des Aristoteles kennen, noch die Konzeption des Namens der Rose als eines aristotelischen Erzählwerks begriffen haben. Für Aristoteles und damit für Eco aber steht nicht nur fest, dass der Mensch ein zoon politikon ist, sondern dass er als solches in allen seinen Handlungen und Äußerungen unaufhebbar gesellschaftlich tätig ist. Ecos Bekenntnis zur aristotelischen Literaturkonzeption ist daher unausweichlich ein Bekenntnis zur littérature engagée, auch wenn diese sich am Ende des 20. Jahrhunderts notwendigerweise inhaltlich und formal (z. B. als Kriminalroman) von der der Antike unterscheiden muss. Für Aristoteles ist die Dichtkunst jedenfalls in den Kontext gesellschaftlicher Aktivität eingebunden, ja, wie er am Beispiel der Tragödie darlegt, besteht ihr eigentlicher Sinn sogar darin, dem Menschen Wahrheiten über das Sein zu vermitteln und auf ihn - über die partikulare Formung des mythos, der Intrige - zum Zweck von Besserung und Tätigwerden einzuwirken: Grundlegendes Element der Tragödie ist die Intrige (im Sinne von Handlungsgang oder Plot), schreibt Eco über Aristoteles, und die Intrige ist Nachahmung einer Handlung, <?page no="192"?> 174 Wie das deutsche Feuilleton einen Aristoteliker „aus dem Bauch heraus“ bekämpft deren Ziel, das Telos, der von ihr produzierte Effekt, das Ergon ist. Und dieses Ergon ist die Katharsis. Schön oder gut gelungen ist diejenige Tragödie, die eine Reinigung von den Leidenschaften zu bewirken vermag. Daher ist der kathartische Effekt eine Art Krönung des tragischen Werks, und er hat seinen Sitz nicht in der Tragödie als geschriebenem oder rezitiertem Diskurs, sondern in der Tragödie als rezipiertem Diskurs (BP 244). Ob es sich bei der Katharsis im aristotelischen Verständnis nun um einen therapeutischen Effekt handelt, eine Befreiung des Zuschauers durch Identifikation mit den Leidenschaften der Personen des Dramas, oder um einen allopathischen Effekt im Sinn einer ästhetisch gelungenen und damit besonders klaren Darstellung der Leidenschaften, die dem Zuschauer ermöglicht, diese kritisch-distanziert wahrzunehmen und zu bewerten, wie Eco erläuternd ausführt, mag dahingestellt bleiben, zumal die Diskussion darüber bereits einige Jahrhunderte andauert, wie man in Deutschland zumindest seit Lessings Hamburgischer Dramaturgie wissen konnte.* Entscheidend ist, dass die Dichtkunst nach Aristoteles etwas auf der Rezipientenseite bewirken soll. Seine Poetik ist eine Wirkungspoetik, die den Zuschauer (oder Leser) verändern oder zum Verändern bringen soll, was seit der Renaissance zu engagierten Diskussionen darüber geführt hatte, ob es zur Erzielung des intendierten Zwecks sinnvoller sei, die Tragödie mit einem positiven Ende (wie z. B. der Bestrafung der Bösen) zu versehen, oder mit einem negativen, das noch mehr erschüttere und dadurch agitatorisch-größere Wirkung erziele. Bachorski knüpft (offenbar ohne sich dessen bewusst zu sein) an diese Diskussion an und verlangt ganz naiv nach einem „positiven“ Ende, das Baskerville und Adson logischerweise als Intellektuelle zu zeigen hätte, die sich für eine bessere Welt engagieren oder wegen ihres Verzichts auf Engagement (von Eco) verurteilt werden müssten. Das ist umso kurioser, als Baskerville durchaus als ein (u. a. für religiöse Toleranz, wissenschaftliche Welterkenntnis, Abschaffung von Tortur und Scheiterhaufen, Rechte der Armen und Emanzipation der Frau) engagierter Intellektueller präsentiert wird, die Forderung, ihn nach dem Brand des Klosters aber weiterhin für die gute Sache engagiert zu zeigen, ihre Absurdität erwiese, fragte man, welches denn nach 1327 die gute Sache gewesen wäre, auf die man sich heute noch berufen müsste, weil sie uns die bessere Welt beschert habe. Die gute Sache, für die sich Baskerville engagiert hatte, von der religiösen Toleranz bis zur Emanzipation der Frau, wird von ihm nie preisgegeben, auch wenn er die Stätte des Unheils flieht, als die Bibliothek verbrannt ist. <?page no="193"?> 175 Littérature engagée oder das Lachen der Vernunft Denn genau das wollte Eco in dieser Anamnese unserer Zeit zeigen: dass der Kampf für diese bessere Welt 1327 noch nicht zu Ende war, sondern - wie die Analogien zeigen - auch (1968 bzw.) 1980 andauert und immer wieder an Fanatismen und Dogmatismen aller Art scheitert, die zu Terror und Blutvergießen führen. Am Morgen des 2.-August 1980, zwei Monate vor Erscheinen des Namens der Rose, zünden Neofaschisten im Wartesaal des Hauptbahnhofs von Bologna eine Bombe, die 85 Menschen in den sinnlosen Tod reißt. Das historisch begründete, negative und damit für die Zukunft offene Ende in Ecos Roman hat also die gleiche Funktion wie das offene Ende im epischen Theater Brechts, dem Ecos Literaturkonzeption sehr nahesteht* und dessen Strategie, mittels des Verfremdungseffektes den Zuschauer zu selbständigem und kritischem Urteil über die gesellschaftliche Wirklichkeit anzustacheln, Eco bereits 1958 als bahnbrechend begrüßt hatte. Gerade darin liegt die Erklärung dafür, dass im Mittelpunkt des Romans der Kampf um den zweiten Teil der Poetik des Aristoteles steht, der von der Komödie und damit vom Lachen handelt und der verloren ging, den aber die Philosophen und Literaturtheoretiker von der Renaissance bis zur Aufklärung so zu rekonstruieren suchten, wie es Eco (595) im Namen der Rose versucht. Dabei hatten sie - immerhin- - so viel Erfolg, dass auf der Grundlage jener Rekonstruktionen u. a. das gigantische Werk Molières entstehen konnte, dessen Stücke noch heute rund um die Welt auf den Programmen der Schauspieltruppen stehen. Für Molière aber und alle anderen Theaterautoren jener Epoche stand außer Zweifel, dass die Komödie ganz ähnliche erzieherisch-zivilisatorische Ziele verfolgte wie die Tragödie. Jedoch nicht mittels Furcht und Schrecken, sondern durch die Präsentation der Komik falschen Sozialverhaltens (das in den Komödien Molières auch durchaus tragische Dimensionen erreichen kann) und durch das - mittels dieser Komik ausgelöste - Lachen. Es handelt sich daher durchaus nicht um sinnlos-zügelloses Gelächter, das durch die Komödie ausgelöst werden soll, sondern um Ausdrucksformen des Empfindens (wie der Erleichterung) oder des Begreifens (wie der Erkenntnis negativer Folgen falscher gesellschaftlicher Konventionen), die dem Individum erlauben, auf höhere Stufen menschlichen Seins bzw. zu adäquateren Formen sozialen Verhaltens zu gelangen. Das Ersinnen des Komischen für die Bühne und die mit ihm angestrebten Wirkungen im Schauspiel waren also durchaus gesellschaftspolitische Strategien, die sich ebensogut auf den individuellen Verstoß gegen sinnvolle Normen wie auf fragwürdige Normen selbst beziehen und damit z. B. - wie Panurges (oder Frantis) Lachen - fragwürdiges Han- <?page no="194"?> 176 Wie das deutsche Feuilleton einen Aristoteliker „aus dem Bauch heraus“ bekämpft deln sowie fragwürdige Ordnungen und Autoritäten in Frage stellen sollten oder konnten. Da Lachen ein komplexer kontext-bestimmter Akt ist, der mit der ganzen Spannbreite kommunikativen Handelns verbunden ist und gerade nicht auf „Gelächter“ reduziert werden kann, dem grundsätzlich eher die Dimension des Blödsinnig-Destruktiven eignet, ist seit der Antike über Lachen nachgedacht worden. Dabei wurden Bewertungen vorgenommen, die von Kriterien bestimmt waren, die unterschiedlichen Interessen gehorchten und im christlich-religiösen Kontext vor allem das Klosterleben betrafen. Je nach der Art des Lachens und seines Kontextes hielten sich pro und contra in dieser Debatte die Waage, und grundsätzliche Lachverbote für den Christen, wie sie - zur Unterdrückung vermeintlich ungebührlichen Verhaltens gegenüber Gott - seit Basileios von Caesarea (ca. 330-379) immer mal wieder ausgesprochen wurden, waren eher rar, zumal die Kirche es meist vorzog, sich zur Entschärfung sozialer Konflikte der volkstümlichen Lachkultur zu bedienen. Ein so radikaler Lachgegner wie Jorge von Burgos, der im Namen der Rose alle von Michail Bachtin (aber nicht nur von Bachtin, sondern historisch gesehen auch von den verschiedensten kirchlichen Instanzen) als positiv eingestuften Varianten volkstümlicher Lachkultur verdammt, ist also eher eine Rarität, von Eco erschaffen, um den im wahrsten Sinne des Wortes blinden und lebensfeindlichen, religiös-fanatischen Dogmatismus zu verkörpern. Ihm steht mit Baskerville der Vertreter der lebensfreundlichen Weisheit gegenüber, der ganz aristotelisch Lachen als Wesensmerkmal des Menschen akzeptiert, Lachverbote oder -unterdrückungen wie die Jorges als widernatürlich und im Fall Jorges auch als verlogen einstuft, und der mit maßvollem Lachen Konflikte zu entschärfen und Dogmatismen zu überwinden sucht und nie in (blödsinniges) Gelächter ausgleitet. Das hingegen tut (611) Jorge gegen sein eigenes Lachverbot, als er beginnt, den Komödientraktat des Aristoteles zu vernichten, ohne daß die Lippen Freude ausstrahlten, und es klang fast wie ein Schluchzen. Denn hier vernichtet Fanatismus die Heiterkeit des Lebens im Namen einer Lüge, die sich als göttliche Wahrheit ausgibt, so wie Jahrhunderte später in Italien Terroristen (von links und rechts) im Namen politischer Wahrheiten, die sich als dogmatische Lügen erweisen, sinnlos Menschenleben vernichten. Ihnen ruft Eco 1980, zwei Jahre nach Aldo Moros Ermordung, über Baskerville zu (624), dass es nur eins zu tun gäbe, wenn man die Menschen liebt: sie über die Wahrheit zum Lachen bringen, die Wahrheit zum Lachen bringen, denn die einzige Wahrheit heißt: lernen, sich von der krankhaften Leidenschaft für die Wahrheit zu befreien. <?page no="195"?> 177 Doctor honoris causa und die Verfilmung des Namens der Rose In der Tat, wenn die Menschheit im Lauf ihrer Geschichte eines lernen konnte, so war das die Gewissheit, dass unser Wissen vorläufig ist, was seinen Wahrheitsanspruch so weit relativiert, dass selbst die Vertreter des fortgeschrittensten Wissens dieses nicht als ewige Wahrheit oder Dogma verkünden könnten, ohne zu lachen. Ewige Wahrheiten sind tödlich und dulden kein Lachen, und Menschenleben sind wertvoller als ewige Wahrheiten, die nichts mehr fürchten als das Lachen der Vernunft, das ihnen den Ewigkeits- und Wahrheitsnimbus nimmt und das Jorge deshalb ausmerzen möchte. Auf ewig. Du bist der Teufel, ruft Baskerville ihm zu (607) und bekennt, welche Freude er empfinden würde, könnte er den finsteren Propheten mit ein paar Hahnenfedern im Hintern und das Gesicht bemalt wie ein Narr und Hanswurst über den Jahrmarkt scheuchen, damit alle im Lachen ihre Furcht vor ihm verlören: Ja, es würde mir Spaß machen […] laut zu rufen: Seht her, ihr Leute, dieser verkündete euch die Wahrheit und sagte, die Wahrheit schmecke nach Tod, und es waren nicht seine Worte, an die ihr geglaubt, sondern sein finsteres Wesen. Doctor honoris causa und die Verfilmung des Namens der Rose Dass Eco seinen Vortrag über Die aristotelische ‚Poetik‘ und wir als Hauptreferat auf dem Kongress über Die Strategien der zeitgenössischen Antike-Rezeption gehalten hat, der 1990 an der Sorbonne stattfand, ist nicht unerheblich. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits elf Mal den Titel eines Ehrendoktors erhalten, und zwar an der 1425 gegründeten Katholischen Universität von Löwen, der die Ehre gebührt, als erste erkannt zu haben, dass Eco eine derartige Auszeichnung verdiente, der Universität von Odense, der Loyola University of Chicago, der State University of New York, dem Royal College of Arts in London, der Brown University von Providence, der Sorbonne Nouvelle, der Universitäten von Lüttich, von Sofia, von Glasgow und endlich an der Complutense von Madrid. Der Verweis auf Zeit und Ort des Vortrags ist deshalb wichtig, weil Ecos Analyse der Poetik, die nicht nur deren philosophische Bedeutung im Gesamtwerk des Aristoteles, sondern auch in der für die europäische Kultur grundlegenden Wirkungsgeschichte zum Gegenstand hatte, auf keinen Widerspruch vonseiten der an der Sorbonne versammelten Fachwissenschaftler stieß, obwohl das, was er vortrug, durchaus nicht im Modetrend lag. Denn dass der international anerkannte Mediävist, Philosoph, Semiotiker bei dieser Gelegenheit auf der Tatsache insistierte, dass das dritte und vierte Buch des Organons von Aristoteles, auch genannt die <?page no="196"?> 178 Wie das deutsche Feuilleton einen Aristoteliker „aus dem Bauch heraus“ bekämpft Analytiken (deren erste dem Syllogismus, die zweite der Lehre vom wissenschaftlichen Beweis gewidmet ist) noch heute in den Kontext „moderner Erkenntnistheorie“ gehörten, und nahezulegen, auch der Poetik und der Rhetorik des Aristoteles diesen Status zuzuerkennen (BP 257), war nichts Geringeres als ein Plädoyer für die Rückkehr zur aristotelischen Dichtungskonzeption. Der Dichtung aber hatte Aristoteles einen hohen Rang in der Welterkenntnis eingeräumt, einen höheren z. B. als der Geschichtsschreibung. Während diese mit Fakten umzugehen habe und sich nicht über diese erheben dürfe, ist es nach Aristoteles „nicht Aufgabe des Dichters mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“, ein Prinzip, das Eco ausdrücklich in der Nachschrift für seine eigene Arbeit am Namen der Rose geltend macht. Gemessen an dieser ontologischen Qualität der Dichtkunst haben für Aristoteles alle Fragen hinsichtlich ihrer partikularen Gestaltung (ob in Vers oder Prosa z. B.) untergeordnete Bedeutung, und die Zuweisung der Dichtkunst zum Bereich des Erkundens von Möglichem und damit zum Schließen auf Gründe, Zusammenhänge und Konsequenzen oder - wie Eco sagen würde - zum Konjekturellen (bzw. zur Abduktion) macht, dass Aristoteles die Dichtung der Philosophie assoziiert. Die Dichtung, sagt Aristoteles, sei „etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.“ Das schließt keineswegs aus, dass sich die Dichtkunst zur Produktion des Wahrscheinlichen und zur Erkundung des Möglichen auf geschichtliche Fakten bezieht, wie Aristoteles an der Verwendung historischen Materials in der Tragödienproduktion deutlich macht und wie Eco es im Namen der Rose praktiziert. Viel wichtiger noch: Eco weist mit seiner Rückkehr zu Aristoteles in Theorie und Praxis dem literarischen Werk bzw. der Dichtkunst wieder die philosophisch-allgemeine und damit gesellschaftlich-politische Bedeutung zu, die sie zum einen in der Verabsolutierung des Subjektiv-Privaten, das nur noch per Einfühlung zugänglich ist, zum anderen aber in der l’art pour l’art- Doktrin der modernen Avantgarde, die notwendigerweise in der Verabsolutierung des Kommunikationslos-Handwerklichen kulminieren muss, weitgehend eingebüßt hatte. Eco assoziiert die Dichtkunst wieder ganz aristotelisch der Philosophie und damit dem Bedürfnis des Menschen, im Durchspielen des Möglichen und Gestalten des Wahrscheinlichen Perspektiven für gesellschaftlich-kathartisches Handeln zu eröffnen. Dass dies auch eine Einladung an seine eigenen Leser ist, <?page no="197"?> 179 Doctor honoris causa und die Verfilmung des Namens der Rose mit seinen Texten weiterzuarbeiten, ist evident und wird von ihm 1983 in der Nachschrift humorvoll formuliert: Der Autor müßte das Zeitliche segnen, nachdem er geschrieben hat. Damit er die Eigenbewegung des Textes nicht stört (Ns 14). Eco tut zum Glück beides nicht, aber er hält sich an die Maxime, und als sein Roman verfilmt wird, steht er zwar (zusammen mit Sohn Stefano, der als Regieassistent mitwirkt) dem Cinéasten Jean-Jacques Annaud beratend zur Seite, lässt diesem aber volle gestalterische Freiheit bei der Verfilmung des von den Drehbuchautoren Andrew Birkin, Gérard Brach, Howard Franklin und Alain Godard für die Leinwand „überarbeiteten“ Namens der Rose. Dieser von Bernd Eichinger produzierte Film, der mit einem Riesenaufgebot namhafter Schauspieler-- wie Sean Connery in der Rolle des Baskerville, Michael Lonsdale als Abbone von Fossanova und Helmut Qualtinger als Remigius von Varagine - gedreht wird, ist als spannender Mittelalter-Krimi in seiner Art durchaus bemerkenswert, auch wenn von der aristotelischen Essenz des Romans und seiner historisch-philosophischen Botschaft kaum etwas übrig bleibt. Was den Filmemachern gelingt, ist die Präsentation der labyrinthischen Architektur (des Klosters Ebersbach im hessischen Eltville) und das klösterlich-gespenstische Hell-Dunkel der Szenenbeleuchtung, das die Handlung in ein geheimnisvolles Licht taucht, kurz: ein spannender Unterhaltungsfilm mit insofern glücklichem (Komödien-)Ende, als das junge Mädchen, das Adson in einer langen Szene verführt, in extremis gerettet wird. Denn als-- auch dies abweichend vom Roman - die drei von der Inquisition verurteilten Salvatore, Remigius und das Mädchen, noch im Kloster auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden sollen und Volk aus der Umgebung zum tristen Schauspiel heranschleicht, bricht das Feuer im Kloster aus. Zwar brennen bereits die Scheiterhaufen von Remigius und Salvatore, aber das Mädchen entkommt dem Flammentod, während Bernard Gui, verfolgt von Adson, in einer Kutsche die Flucht ergreift, jedoch kurz hinter dem Klostertor steckenbleibt und von der aufgebrachten Menge in eine Schlucht gestürzt und dort aufgespießt wird. Als Baskerville und Adson das Kloster verlassen, steht das Mädchen am Wegesrand. Es kommt noch einmal zum Austausch stummer Liebeserklärungen. Das Mädchen küsst Adsons Hand. Dann ziehen Baskerville und Adson von dannen und verschwinden in weiter Ferne, während Publikum und Mädchen ihnen nachschauen. Ein melancholisches, um nicht zu sagen kitschiges Happy-End, das begleitet wird vom Kommentar des greisen Adson, der bekennt, auf Erden nie jemand anderen so geliebt zu haben wie dieses Mädchen, dessen Namen <?page no="198"?> 180 Wie das deutsche Feuilleton einen Aristoteliker „aus dem Bauch heraus“ bekämpft er nicht wisse, worauf jenes stat rosa pristina nomine, nomina tenemus eingeblendet wird, das im Roman auch philosophische Bedeutung besitzt und auf Universalienstreit und Semiotik verweist. Ob der Film, der die Kinokassen füllte und auch einige Auszeichnungen erhielt, den Absatz des Buches gesteigert hat, wie verschiedene Kritiker behauptet haben, oder ob nicht eher der Roman den Erfolg des Films bewirkte, mag dahingestellt bleiben,* ist doch der Roman bereits in knapp zwanzig Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft, als der Film am 24. September 1986 in den USA und knapp einen Monat später in Italien Premiere hat. Seine eher bescheidene filmische Bedeutung Eco oder seinem Roman zum Vorwurf zu machen, wäre freilich so geistreich, wie Cervantes vorzuwerfen, dass der Don Quijote, den auch große und größte Künstler wie Hogarth, Goya, Chodowiecki, Fragonard, Doré, Johannot, Daumier, Picasso, Dalí oder Antonio Saura visuell interpretiert haben, bisweilen auch bescheidener oder sogar indiskutabel illustriert worden ist. Der Erfolg des Romans auf allen Ebenen außer der des deutschen Feuilletons kann jedenfalls mit Annauds Film nicht erklärt werden, zumal er auch knapp dreißig Jahre nach Ersterscheinen unvermindert anhält: dieser Text, der historisch-philosophisch so anspruchsvoll ist, dass die deutsche Feuilletonkritik ihn zum ungenießbaren Professorenelaborat erklärte, muss ein ästhetisch-spielerisches Potential besitzen, das ihn zu einem Jahrhundertwerk macht.** <?page no="199"?> Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont Warum Umberto Eco Freimaurer wurde - Minervas Briefchen-- Mailand nach 68 oder in Pilades Bar der allgemeinen Orientierungslosigkeit - Drei Piemontesen auf der Jagd nach dem punto fijo-- Die Fiktion bleibt hinter der Wirklichkeit zurück oder was ist ein Roman über Templer gegen die P2? - Die vier, die fünf sind - Cecilia - Lia oder Fehlinterpretationen und verpasste puntos fijos Warum Umberto Eco Freimaurer wurde Noch während der Dreharbeiten am Film widerfährt Eco die Ehre, mit einem bedeutenden französischen Orden ausgezeichnet zu werden: dem des Commandeur de l’Ordre des Arts et des Lettres. Es sollten noch andere hinzukommen, darunter gleich zweimal die Ehrenlegion: als Chevalier 1993 und als Officier 2003. Das alles sah nach ruhigem Honoratiorenleben aus oder frühzeitigem Ruhestand. Aber für Ausruhen auf errungenen Lorbeeren hat sich Eco nie die Zeit genommen, zumal diese auch tatsächlich nicht danach war, ging es doch weiter drunter und drüber in dieser Welt und speziell in Italien. Mit Aldo Moros Ermordung ist nicht nur die bis dahin politisch bedeutendste konservative Partei, die DC, auch und vor allem wegen der mehr als zögerlichen Versuche der von Giulio Andreotti geführten christdemokratischen Regierung, das Leben ihres Vorsitzenden zu retten, in eine profunde Krise geraten, die mit dem Verlust ihres Ansehens in der Öffentlichkeit einhergeht und nicht nur den Untergang der Partei einläutet, sondern den des gesamten damaligen Parteiensystems. Zwar ist bis heute ungeklärt, wer welche Drähte gezogen hatte, aber Ecos Diagnose, dass die Terrorakte der BR vor allem den politischen Kräften schaden würden, die sich im konservativen wie im progressiven Lager um den „compromesso storico“ bemühten, geht voll in Erfüllung. Der PCI, der drauf und dran war, zur DC aufzuschließen, die seit 1946 alle Regierungen in Italien gestellt hatte, ja, diese sogar zu überholen, erleidet bei den Kommunalwahlen unmittelbar nach Moros Ermordung drastische Einbußen, was mit Sicherheit auch darauf zurückzuführen ist, dass ein Teil der Wählerschaft Kommunismus linkem Terror assoziiert, obwohl der PCI an seiner Verurteilung der Attentate keinen <?page no="200"?> 182 Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont Zweifel lässt und eine Reihe seiner Mitglieder sogar selbst dem Terror zum Opfer fallen. Aber die Elemente in der DC, die den „compromesso storico“ ablehnen, nutzen in dieser Situation Moros Ermordung, um 1980 auf dem Kongress ihrer Partei durchzusetzen, dass die DC erneut jegliche Zusammenarbeit mit dem PCI ausschließt. Nachdem man nach Moros Verschwinden zunächst unter dem Regierungschef Andreotti und danach unter Cossiga versucht, christdemokratisch weiterzumachen, als sei nichts gewesen, hofft man 1981 über eine Mitte-Links Allianz von fünf Parteien, den sogenannten Pentapartito oder „Fünferblock“, Stabilität in die Regierungsgeschäfte zu bringen. Der Pentapartito, der aus DC, Partito Liberale Italiano (PLI), Partito Repubblicano Italiano (PRI), dem Partito Socialista Italiano (PSI), der 1978 unter seinem Sekretär Bettino Craxi Marx zugunsten von Proudhon preisgegeben hatte, und dem Partito Socialista Democratico Italiano (PSDI) besteht und den neben Antikommunismus vor allem Filz und Bestechlichkeit eint, kann in den ersten Jahren seiner Existenz dadurch eine gewisse Reputierlichkeit erlangen, dass seine Regierungen von einem moralisch untadeligen Staatspräsidenten vereidigt werden, dem allseits geachteten Alessandro Pertini, Sozialist und ehemaliger Widerstandskämpfer, der das Amt von 1978 bis 1985 bekleidet. Der Pentapartito bedarf dieser moralischen Absegnung umso mehr, als nicht nur hinter vorgehaltener Hand, sondern in aller Öffentlichkeit über die Verstrickung vieler seiner Mitglieder in schmutzige Geschäfte mit ebenso dubiosen Partnern unter Einschluss von Mafia, Camorra und Cosa Nostra, ja sogar über Verstrickungen in die linke und rechte Terrorszene spekuliert und diskutiert wird, was sogar die Schöpfung eines eigenen Namens für diese Debatte nach sich zieht, den der dietrologia, der Wissenschaft, von dem, was dahintersteckt. Und dass da hinter den Kulissen Strippen gezogen werden, lassen nicht nur die ununterbrochenen Ermittlungspannen, die Einstellung von Verfahren, ja, schlimmer noch die Strafversetzungen erfolgreicher Ermittler, Richter und Polizeibeamter vermuten, die obendrein auch noch mit schöner Regelmäßigkeit auf offener Straße ermordet werden wie z. B. der Richter Emilio Alessandrini, der in Sachen neofaschistische Terrorgruppen und Bankskandale ermittelte und 1979 einem Mordanschlag in Mailand zum Opfer fällt. Oder der Präfekt und Carabinieri-General Carlo Alberto Dalla Chiesa, der sowohl hinsichtlich der Terroranschläge als auch der Moro-Affäre wichtige Erkenntnisse erzielt hatte und der am 3. September 1982 zusammen mit seiner Frau in Palermo erschossen wird. Zu Beginn der 80er Jahre ermitteln dann die Richter Gherardo Colombo und Giuliano Turone <?page no="201"?> 183 Warum Umberto Eco Freimaurer wurde in Sachen Michele Sindona, einem hochstapelnden Banker, der auch für den Vatikan „gearbeitet“ hatte, und stoßen dabei auf die Unterlagen einer Freimaurer-Loge, die sich Propaganda Due oder auch kurz P2 nennt und der eine ebenso zwielichtige, aber voll im gesellschaftlichen Rampenlicht stehende Figur namens Licio Gelli vorsteht, die im Übrigen auch Mitglied des Malteserordens ist. Der ehemalige Faschist Gelli, geboren 1919, hat die von ihm für die - mit unzähligen Institutionen rund um den Globus verbandelte - P2 geworbenen Mitglieder sorgfältig auf Listen geführt, die der staunenden Öffentlichkeit ein Netz von Verbindungen illustrer Persönlichkeiten präsentieren, zu denen Parlamentarier, Industrielle, Journalisten, aber auch Militärs und Schauspieler gehören. Dass sich unter den möglichen Kandidaten für eine Aufnahme in die Loge nicht nur Andreotti und Craxi, sondern auch ein gewisser Silvio Berlusconi befinden, rundet das Bild dieser Epoche ab, die in den 80er Jahren beginnt und von den Historikern die Zweite Republik genannt wird, ihre Wurzeln aber fest in der Korruptionsgeschichte Italiens bis zurück ins 19. Jahrhundert besitzt. Natürlich ist die Eile groß, mit der man versucht, alles zu vertuschen, was wahrscheinlich nur deshalb gelingt, weil die P2-Affäre nur eine unter vielen ist, auch wenn sie den italienischen Staat schwer erschüttert. Dazu trägt die Tatsache bei, dass Gellis Unterlagen nicht nur Verstrickungen der Loge in Mafia-, Zeitungs-, Fernseh- und Verlagsaffären belegen, sondern dass Gelli neben vielem anderen auch wegen Beseitigung von Beweismaterial im Zusammenhang mit dem Zug-Attentat von Bologna im Jahr 1980 vor Gericht muss und verurteilt wird.* Das alles lässt verständlich werden, wieso Eco auf die P2-Affäre beinahe nur noch resignativ einzugehen vermag. Als ich der PP2 beitrat heißt sein satirischer Kommentar, der am 12. Juli 1981 in L’Espresso erscheint und in dem er berichtet, wie er von einem Großmeister der Freimaurerloge PP2 namens Gellio Lici mit der frommen Botschaft angeworben wurde: Sie müssen nichts anderes tun, als Ihren Nächsten wie sich selbst zu lieben, und natürlich den ein bißchen mehr, der Ihnen noch näher steht. Dies sei in der Tat ein christliches Prinzip, staunt Eco, doch als Lici behauptet, Christus sei sogar der erste Freimaurer gewesen, erlaubt er sich immerhin die Frage, ob man Christus nicht doch korrekterweise einen Sozialisten nennen müsse. Gelli aber versichert, dass Christus wegen seiner wohltätigen Taten automatisch Mitglied im Club geworden sei, auch wenn man darüber nicht sprechen dürfe. Dass Ecos Leser diese ironischen Anspielungen auf CD und PSI missverstehen konnten, ist nicht sehr wahrscheinlich, und die Be- <?page no="202"?> 184 Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont schreibung des Funktionierens der Loge, in der die eine Hand (natürlich interesselos) die andere wäscht, dürfte Ecos Leser so erheitert bzw. deprimiert haben, wie der von seinem Gellio Lici ins Auge gefasste Staatsstreich, für den bereits ein Geisterkabinett aufgestellt ist, in dem der kriminelle Bankier Michele Sindona das Finanzministerium übernehmen soll, der Journalist Roberto Gervaso, der tatsächlich die Aufgabe gehabt hatte, Berlusconi für die Loge zu werben, das Unterrichtsministerium, der Szenarist Alfredo Giannetti das der Verteidigung, der Christdemokrat Pier Ferdinando Casini aus Bologna, später Parlamentspräsident unter Berlusconi, das Gesundheitsministerium, und der Komiker Beppe Grillo (vielleicht) das Außenministerium. Überzeugt von so vielen guten Argumenten gibt Eco, der ja nicht doof ist, seine Zustimmung zur Aufnahme in die Loge PP2, zumal ihm der Angstschweiß ausbricht, als Lici aufzählt, welche Folgen Ungehorsam gegenüber der Loge nach sich ziehen könnte. Zwei Tage später wird er von einem Carabiniere-General abgeholt und in einer Versammlung von neunhundert hochdekorierten Kapuzenmännern aus der High Society, auf die man vertrauen kann und die bei Befragung korrekt abstreiten, Freimaurer zu sein, in die Loge aufgenommen. Minervas Briefchen Nachdem Pertini bereits 1981 die erste nicht christdemokratische Regierung der Nachkriegszeit unter dem Republikaner Giovanni Spadolini hatte vereidigen können, gelingt 1983 mit Bettino Craxi auch dem ersten Sozialisten die Regierungsbildung. Zunächst für drei Jahre. Dann, 1986, noch einmal für achteinhalb Monate. Geordneter - oder aristotelisch gesprochen: vernünftiger - geht es in Italien dennoch nicht zu. Davon zeugen nicht nur neue Attentate, die von (wahrscheinlich ferngesteuerten) Extremisten begangen werden und von denen das vom 23. Dezember 1984 auf den Schnellzug 904 bei Bologna das verheerendste ist: es verletzt 260 Menschen und tötet 17. Aber es gibt noch andere Horrorgeschichten: 1982 findet man in London, aufgehängt unter einer Themse-Brücke, Roberto Calvi, Chef der mit dem Vatikan verbandelten Ambrosianischen Bank in Venedig, die nach unsauberen Geschäften Pleite gegangen war. Auch er war - von Sindona empfohlen - Mitglied der P2. Man möchte die Sache schnell vertuschen und als Selbstmord behandeln. Das geht aber nicht: Die Londoner Polizei schließt auf Mord, ohne dass man je erfahren wird, wer die Mörder waren. Und auch das passt ins Bild, denn integre Polizeibeamte und Richter, die es auch in Italien gibt, enthüllen immer <?page no="203"?> 185 Minervas Briefchen mehr schmutzige Geschäfte und Finanzskandale, in die meist auch die Mafia verwickelt ist, und müssen dafür mit dem Leben bezahlen wie der Richter Rocco Chinnici am 29. Juli 1983 in Palermo. Zu diesem Zeitpunkt beginnt eine Gruppe anderer Richter, der „Anti-Mafia- Pool“, zu dem u. a. Paolo Borsellino und Giovanni Falcone gehören, bei der Aufdeckung von Mafia-Verbrechen einen Durchbruch zu erzielen. 1984 jedenfalls gelingt es Falcone, im Krieg der Mafia-Clans von Corleone, denen Totò Riina vorsteht, und von Parma, die von Tomasso Buscetta angeführt werden, Letzteren zum Singen zu bringen, was u. a. 1986 zu einem Prozess führt, der als Maxiprocesso in die Annalen eingehen wird. Mehr als 400 Mitglieder der Cosa Nostra stehen vor Gericht. 360 werden verknackt. Falcone aber, auf den 1989 in Gegenwart der Schweizer Richterin Carla Del Ponte ein erster Anschlag verübt wird, fällt im Juni 1992 mit seiner Frau einem Bombenattentat zum Opfer. Einen Monat später erleidet Borsellino dasselbe Schicksal. Das ist nur ein winziges Resümee der Kollisionen und Verbindungen zwischen einer geheimen und weitgehend kriminellen Parallelwelt und der Welt des von Gesetzen geregelten, demokratisch-staatsbürgerlichen Zusammenlebens, aber es wirft ein notwendiges Licht auf Ecos unermüdliche Offenlegung sinnvoller Ordnungsstrukturen für rationale Welterkenntnis und vernünftiges Handeln des zoon politikon. Das ist keine akademische Marotte, sondern das politische Engagement eines Philosophen, Sprachwissenschaftlers, Schriftstellers und Journalisten, der an Vernunft glaubt und begriffen hat, dass es seine moralische Pflicht ist, den Mitbürgern das von ihm erworbene Wissen als Anreiz zu eigenem, von Vernunft bestimmtem Urteilen und Handeln zur Verfügung zu stellen. Das schließt - ganz aristotelisch - Vergnügen an dieser durchaus didaktischen Tätigkeit keineswegs aus, zumal wenn diese Humor und Lachen als Instrumente und Waffen der Aufklärung einsetzen kann. Und so beginnt Eco denn auch, seine Kommentare zu Ereignissen, die uns alle tangieren, aus dem bis dahin Aleatorisch-Zufälligen gelegentlicher Stellungnahmen in der Presse in eine regelmäßige publizistische Tätigkeit umzuwandeln: seine Bustine di Minerva, die er seit 1985 (zunächst wöchentlich, ab 1998 vierzehntäglich) in L’Espresso veröffentlicht. Es sind Kommentare zu Ereignissen, die oft des Aufhebens nicht wert zu sein scheinen, deren Analyse aber zum einen den kritischen Verstand des Lesers schärfen soll, zum anderen - im Ergebnis der Analyse - Irrtümer und Vorurteile offenlegt oder Missstände anprangert, die vom Leser überwunden oder bekämpft werden und ihn so zu eigenem Engagement in der Gesellschaft veranlassen sollen, ohne dass dazu die übliche Agitationsstra- <?page no="204"?> 186 Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont tegie, Propaganda oder Rhetorik politischer oder religiöser Instanzen bemüht wird. Ich habe einen Brief bekommen, schreibt Eco in der Bustina Wie man Malteserritter wird aus dem Jahr 1986: Absender ist laut Briefkopf der Ordre Souverain Militaire de Saint-Jean de Jérusalem - Chevaliers de Malte - Prieuré Œcuménique de la Trinité de Villedieu - Quartier Général de la Vallette - Prieuré de Québec, und er bietet mir an, ein Malteserritter zu werden. Dass es sich um ein höchst aktuelles Thema handelt, beweist nicht nur der P2-Skandal mit seinen Verflechtungen in Freimaurerei und Malteser-Folklore, und Eco legt offen, welche psychologischen Mechanismen bei Parvenus der High Society am Werke sind, die sich - aus Macht- und Geldgier und Protzsucht- - in Machenschaften der Parallelwelt verstricken. Denn immerhin bekommt ja nicht jeder solch eine ehrenvolle Einladung ins Haus geschickt: Ich hätte zwar ein Billett von Karl dem Großen vorgezogen, fährt er fort und deutet damit schon erste Skepsis an, aber ich habe die Sache gleichwohl sofort meinen Kindern erzählt, damit sie wissen, was für einen Vater sie haben. Doch die Skepsis überwiegt, und so konsultiert denn (der fiktive) Eco erst einmal einschlägige Literatur über den Malteserorden, erfährt, dass der einzige und authentische in Rom residiert, aber dass es neben diesem noch sechzehn weitere Malteserorden gibt, die alle Phantasie- und Schwindelunternehmen sind. Weiser geworden, resümiert er, nach dieser impliziten Empfehlung, sich erst sachkundig zu machen und nachzudenken, bevor man Entscheidungen trifft: Ich habe das Buch wieder ins Regal gestellt. Es enthält vielleicht ebenfalls falsche Informationen. Aber ich habe begriffen, daß man zu irgendeinem Verein gehören muß, um sich nicht als fünftes Rad am Wagen vorzukommen. Die Freimaurerloge P2 ist aufgelöst, dem Opus Dei fehlt es an Exklusivität, und am Ende ist man in jedermanns Mund. So fiel meine Wahl auf die Italienische Blockflötengesellschaft. Die Einzige, Wahre, Alte und [allgemein Akzeptierte]. Das alles mag sich harmlos anhören, ist es aber nicht in einem Staat, der wegen eben dieser, vom Streben nach Macht und Kapital inspirierten Pseudo-Kultur von Geheimgesellschaften gerade bis in die Grundfesten erschüttert wurde, ganz davon abgesehen, dass Ecos Text die Mitglieder dieser Gesellschaften auch noch als kulturelle Kretins an den Pranger stellt und dem normalen Staatsbürger signalisiert, dass er sich von diesen Figuren nichts vormachen lassen soll und dass selbst das Mitglied eines Kleingartenvereins genug Verstand besitzt, um solchen Schwindel zu durchschauen. Damit gibt Eco auch einer der ältesten literarischen Gattungen ihre Würde zurück, die sie im Zeitalter der <?page no="205"?> 187 Minervas Briefchen elektronischen Medien zu verlieren droht: der bustina, dem Brief, und zwar unter Betonung einer ihrer wesentlichsten Qualitäten, der Kürze, was in Deutschland besonders leicht zu verstehen sein müsste, ist doch das Wort Brief vom lateinischen brevis („kurz“) abgeleitet. Gewiss, wie Eco selbst mitteilt, der Begriff Bustina di Minerva ist der italienischen Warenwelt entlehnt, wird er doch von der Firma Minerva benutzt, um deren Streichholzhefte zu bezeichnen, was z. B. die deutschen Übersetzer und Verleger Kroeber und Hanser völlig zu Recht bewogen hat, die Texte, von denen sie Auswahlbände ediert haben, Streichholzbriefe zu nennen. Aber natürlich wäre Eco nicht Eco, würde er mit dem Namen Bustina di Minerva nicht Bedeutungsspielchen treiben, für welche die Firma Minerva bereits die witzige Vorlage geliefert hatte, bedeutet doch bustina, ein Wort unsicherer Herkunft (vielleicht abgeleitet aus mittellateinisch buxida = Schachtel, Arzneibüchse, später kleines Heft und kleiner Umschlag), in der Tat auch „Briefchen“ und minerva „Flachholz“, was - beides zusammengefügt als Bustina di Minerva - geradezu ideal sowohl auf die Sache Streichholzheft als auch auf die Firma Minerva verweist. Aber natürlich ist Minerva auch der Name der römischen Göttin der Weisheit, und in der modernen europäischen Kultur wurde seit der Renaissance der Name der Minerva emblematisch für Klugheit und Weisheit verwendet, ja, von Rabelais wurde er sogar auf die Sache übertragen, so dass minerve schlicht „Weisheit“, aber auch „explication“, d. h. Erklärung bedeuten und damit auf die Welterkenntnis insgesamt verweisen konnte. Es kann nicht überraschen, dass Eco von diesen Bedeutungsassoziationen im Namen der Streichholzhefte angetan ist, als er beschließt, ihn für seine eigenen Briefchen zu verwenden, die dem unbekannten (italienischen) Leser in finsteren Zeiten ein bescheidenes, kleines Licht aufstecken sollen, was der Funktion des Briefes entspricht, wie er von Cicero, Horaz oder Sallust über die Renaissance-Autoren wie Petrarca oder Erasmus und die der Aufklärung wie Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Diderot, Lessing, Schiller und viele andere bis ins Zwanzigste Jahrhundert verwendet wurde, um im Zeitalter der E-Mails und SMS seine Bedeutung zu verlieren. Eco leistet Widerstand, indem er die Funktion des Briefes durch seine Verwendung als Medium aktuellen Nachdenkens über unsere gesellschaftliche Wirklichkeit im modernen Massenmedium erneuert, was seiner aristotelischen Literaturkonzeption durchaus entspricht, sind Briefe ohne Inhalt bzw. ohne Kommunikation doch ein Widerspruch in sich selbst. Und diese literarische Gattung ist a priori für die Behandlung jedweden Themas geeignet, was besonders deutlich wird, wenn ein Philosoph und Artist <?page no="206"?> 188 Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont wie Eco seine stilistisch-narratologischen Waffen einsetzt, zu denen auch und vor allem das ad absurdum-Führen einer absurden Welt, in der eine Freimaurer-Loge wie die P2 einen modernen Staat an den Rand des Abgrunds treiben kann, durch ihr vorgebliches Ernstnehmen gehört. Das stellt Eco u. a. 1986 in seiner Bustina unter Beweis, die der den Universitäten - nicht nur in Italien - aufgezwungenen Formalisierung aller Aktivitäten gewidmet ist. Dort nämlich müssen neuerdings jede Tätigkeit und jeder Gegenstand inventarisiert werden, damit sie als existent und damit als notwendig und der Finanzierung wert anerkannt werden. Dadurch, so Eco, liefe ein Wissenschaftler z. B. Gefahr, Lehrveranstaltung über „Phlogiston“ zu halten, selbst wenn er entdeckt habe, dass „Phlogiston“ - im Gegensatz zu dem, was man geglaubt hatte - gar nicht existiere. Denn sei der Begriff erst einmal in die ministeriellen Listen gelangt, könne er nur noch geändert werden um den Preis langwieriger Verhandlungen zwischen sämtlichen Hochschulen des ganzen Landes, dem Obersten Wissenschaftsrat, dem Ministerium und einigen anderen Behörden, deren Namen mir entfallen sind. Dieser bürokratische Aufwand erstrecke sich auf alles, auch auf die Beschaffung von Klopapier, denn wenn dies im Inventar vergessen und darum nicht vorgesehen sei, könne es nur per Umwidmung über andere Inventare angeschafft werden: Das Dumme ist nur, schließt er: Um diese Lösung zu finden, habe ich illustre Wissenschaftler tagelang von gemeinnützigen Forschungen abhalten müssen, habe öffentliche Gelder in Form von Zeit des lehrenden und nicht lehrenden Personals, von Telefonaten und Portokosten vergeudet. Aber niemand wird der Veruntreuung von Staatsgeldern bezichtigt, wenn alles nach dem Buchstaben des Gesetzes verläuft. Mailand nach 68 oder in Pilades Bar der allgemeinen Orientierungslosigkeit Die Bustina über die zunehmende Bürokratisierung des akademischen Lebens in Italien dürfte erklären, wieso Eco mit Begeisterung an der Gründung der privaten Forschungsuniversität von San Marino mitwirkt, die 1989 den Betrieb aufnimmt, wenige Jahre später aber bereits ganz ähnliche Probleme kennen wird, wie die italienischen Universitäten. Dass Ecos erste Bustine bei aller Kritik an der Gesellschaft grundsätzlich heiter gehalten sind, was man von denen späterer Jahre nicht ohne weiteres behaupten kann, mag daran liegen, dass er in jener Zeit, in der Renate Ramge zusammen mit Renato Giovannoli an einer grundlegenden Arbeit zur Museumsdidaktik sitzt, die 1986 mit <?page no="207"?> 189 Mailand nach 68 oder in Pilades Bar der allgemeinen Orientierungslosigkeit dem Titel A scuola col Museo von Bompiani ediert wird, seinen ganzen Ernst in Das Foucaultsche Pendel investiert, das 1988 erscheint und bereits 1989 in deutscher Übersetzung vorliegt. Auch das Pendel missfällt dem deutschen Feuilleton, dem Willi Winkler am 25. 12. 1989 im Spiegel den Weg weist: das sei ein „sterbenslangweiliges, mit einem ungeheuren, aber gänzlich überflüssigen Wissensballast befrachtetes Buch“, ein „unverdauter Romanbrei“, ein „Geisteskrampf “, ein „kleines intellektuelles Kreuzworträtsel“ für „berufsmäßige Zeichendeuter“, kurz: ein „Klumpatsch“. Andreas Kilb, der meint, man könne diesen Roman nicht verfilmen, weil er als „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“ schon existiere, befindet in der Zeit vom 08. 12. 89 im selben Sinne, Eco erzähle „von magischen Dingen; ein magischer Erzähler“ aber sei er nicht. Sigrid Löffler erklärt am 12. 02. 1990 im Literarischen Quartett, der Text sei „ein Kompendium der esoterischen Geheimlehren“, das sie zwar „in einem Zug“ gelesen habe, aber nur, weil das Buch „so tue“, als habe es „einen aufklärerischen Anspruch“ und wolle „die Geheimlehren“ entlarven, in Wahrheit aber selbst „auf dieses falsche Denken“ hereinfalle.* Nur das mache es „überhaupt erst so spannend“: „Daß jemand, der eigentlich als Aufklärer antritt, dann […] in den Dienst der Gegenaufklärung tritt.“ Hellmuth Karasek, der Eco im Übrigen abspricht, Kenntnisse über Deutschland zu besitzen, kann selbst diese Spannung nicht nachempfinden und nennt den Text „ein ganz entsetzliches Buch“, weil es zuviel „Ballaststoffe“ enthielte, wie man sie sonst nur brauche, „damit der Darmtrakt besser arbeitet“, und weil Karasek „von einem Roman“ „irgendeine Widerspiegelung der Realität“ verlange, die Ecos Roman nicht biete, denn die „Weltverschwörung“ von der er handle, sei „grotesk und absurd“ und stamme aus „dunklen, idiotischen Quellen“. Marcel Reich-Ranicki outet sich ebenfalls als „ein Opfer dieses Buches“, wird aber - wie alle anderen - übertroffen von Jurek Becker, der das Buch zwar nicht gelesen hat, dafür aber genau weiß, dass es sich „um ein kalkuliertes Industrieprojekt handelt“, mit dem einem vorgeblichen „Bedürfnis“ nach „Okkultismus“ abgeholfen werde, und der Reich-Ranicki sogar vorwirft, dieses Buch überhaupt in der Sendung diskutieren zu lassen. Tatsächlich verblüfft an der Diskussion über Ecos Roman in Deutschland, wie viele Kritiker so wie Löffler oder Becker unterstellen, es ginge Eco - aufklärend oder nicht - um Vermittlung von Wissen über Geheimlehren. Exemplarisch dafür Gustav Seibt, der in der FAZ vom 16. 12. 1989 unter der Überschrift Trivialroman für gelehrte Leser erklärt, das „über weite Strecken ungemein langweilige“, stilistisch „platte“ und „für die Literatur-Fachbereiche zwischen New Ha- <?page no="208"?> 190 Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont ven, Paris, Konstanz und Bologna verfasste“ Foucaultsche Pendel sei „zu zwei Dritteln“ „eine gewaltige, oft mühsam dialogisierte Aufzählung, ein historisch-kritischer Katalog der Wahnsysteme aller Zeiten und Völker“, was schlicht falsch ist. Gerade Seibt hätte es eigentlich besser wissen müssen, bemerkt er doch selber, dass Ecos Roman vom Mailand der Jahre nach 1968 erzählt und dass die anni di piombo „der präzise gezeichnete Hintergrund von Ecos Roman“ sind: „Es ist nicht nur die Zeit der ‚Roten Brigaden‘ und der Moro-Entführung,“ schreibt er völlig korrekt, „sondern auch der Politiker-Loge P2, rechtsradikaler Putschpläne und jenes riflusso, den man auf Deutsch ‚Trendwende‘ nannte.“ Mit dieser Feststellung kommt Seibt dem Text tatsächlich näher, als alle jene Interpreten, die neuere und neueste Forschung bemüht haben,* um Eco Irrtümer bei der Verwendung historischer Quellen durch seine Romangestalten Belbo, Casaubon und Diotallevi nachzuweisen, obwohl diese erklärtermaßen aus Jux und Tollerei beginnen, per Textmontagen und mit Hilfe eines Computers namens Abulafia eine fiktive Geschichte des geheimen Überlebens des Templerordens zu konstruieren. Dass sie dabei nach und nach durchdrehen, macht die Frage, ob ihre Montage wissenschaftlichen Kriterien standhalten kann, nicht sinnvoller, zeigt aber, wie leicht selbst Wissenschaftler in empathische Textbetrachtung ausgleiten können, denn ihre Kritik an der Montage von Belbo, Casaubon und Diotallevi unterscheidet sich kaum von der Montage selbst. Sinn macht die Überprüfung der historischen Korrektheit des im Roman über den Templerorden Gesagten jedenfalls - wenn überhaupt - nur für knapp 30 der 754- Seiten der deutschen Übersetzung, denn auf diesen resümiert Casaubon (in den Kapiteln 13 und 14) als Doktorand der Mediävistik die Geschichte des Templerordens und seines Untergangs, womit der Leser übrigens erneut in die Zeit des Namens der Rose versetzt wird. Die übrigen 724- Seiten sind keine historisch-kritische Dokumentation „esoterischer Geheimlehren“ oder „okkulten Denkens“, sondern eine Diagnose des politischen, mentalen und kulturellen Zustands Italiens, vorgenommen an einem Ausschnitt aus dem intellektuellen Leben im Mailand der Zeit nach 1968, der bis auf den Tag genau historisch bestimmt ist: der Roman endet in der Nacht vom 25. zum 26. Juni 1984. Begonnen hat diese Geschichte, die den Text strukturiert, zwölf Jahre zuvor. 1972 trifft der zwanzigjährige Mailänder Student Casaubon, der von seiner späteren Lebensgefährtin Lia „Pim“ genannt wird, in (FP 66) Pilades Bar am Rande der Mailänder Altstadt […] wo man den Aktivisten der Studentenbewegung beim Kartenspiel sehen konnte, <?page no="209"?> 191 Mailand nach 68 oder in Pilades Bar der allgemeinen Orientierungslosigkeit am selben Tisch mit dem Journalisten der bourgeoisen Zeitung, der sich nach Redaktionsschluß einen genehmigte, während die ersten Lastwagen schon unterwegs waren, um die Zeitungen auszuliefern, die die Lügen des Systems verbreiteten, den 1932 in einer piemontesischen Provinzhauptstadt geborenen Sachbuchlektor Jacopo Belbo vom kleinen, aber seriösen Garamond Verlag und ein wenig später dessen Kollegen Diotallevi, der - ungefähr dreißig Jahre alt - sich für einen Italiener jüdischer Abkunft hält (was Belbo bezweifelt) und sich für Hebräisch, Thora und Kabbala interessiert. Belbo und Casaubon geraten ins Gespräch, und Casaubon berichtet, dass er 1970 begonnen habe, an der relativ ruhigen Universität Mailand Philologie zu studieren, zufällig zur Mediävistik gestoßen sei und nun an einer Dissertation über den Templerorden säße, was Belbo eher entsetzt, meint er doch, dass es fast immer nur Irre seien, die sich für dieses Thema interessierten. Auf Belbos Drängen resümiert Casaubon an einem (97) Abend, an dem man spürte, daß die Revolution nicht nur gemacht werden, sondern auch vom Unternehmerverband gesponsert sein würde, die Geschichte des Templerordens, wie sie von seriösen Historikern erforscht worden ist: Entstehung, Funktion, Ausbreitung und Bedeutung (z. B. für die Entwicklung des modernen Bankenwesens), Denunziation (als Häretiker oder Sodomiten) durch Neider, ihre politische Verfolgung durch Philippe le Bel, König von Frankreich, und den Untergang nach inquisitorischen Verhören und manipulierten Prozessen im Jahr 1312, als Papst Clemens V. die Auflösung des Ordens verfügte. Auf die Frage von Belbo und Diotallevi erklärt Casaubon, dass es zwar viele Gerüchte über ein geheimes Weiterleben des Ordens gegeben habe, diese aber alle ins Reich der Legende gehörten. Kurz darauf treffen sich Belbo und Casaubon (129) bei einer großen Demonstration gegen die neofaschistischen Putschkomplotte, flüchten gemeinsam vor der Polizei, wobei Belbo Casaubon beibringt, wie man durch enge Gassen flieht, was er selbst als Kind in der Partisanenzeit gelernt habe, trennen sich dann und verlieren sich für rund ein Jahr aus den Augen, was daran liegt, dass sich Casaubon in eine marxistisch engagierte brasilianische Studentin namens Amparo verliebt, die Pilades Bar nicht mag, und dass er intensiv an seiner Dissertation arbeitet. Per Zufall begegnen sie sich wieder vor dem Verlag, wo Belbo mit einem Oberst Ardenti verabredet ist, der Garamond ein Buch über die Templer anbietet. Belbo bittet Casaubon, als Templer-Spezialist mitanzuhören, was dieser ehemalige Offizier der faschistischen Armee und angebliche Geheimdienstler zu erzählen habe. Ardenti überlässt Belbo eine Dokumentation, in der sich auch ein angeblich <?page no="210"?> 192 Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont authentischer, in Geheimcode verfasster Konspirationsplan der Templer bzw. Freimaurer befindet, den man in Provins gefunden habe und dem laut Ardenti zu entnehmen sei, dass die untergetauchten Templer den Großen Plan beschlossen hätten, sich alle 120 Jahre zu treffen, um 1944 den Orden neu zu begründen und - im Besitz des Wissens über eine große Energiequelle im Erdmittelpunkt, die identisch sei mit dem Gral bzw. der Geheimwaffe, von der Hitler noch beim Untergang des Nazi-Reiches gekündet hatte - die Macht über die Welt zu übernehmen, was freilich daran gescheitert sei, dass die Einführung des gregorianischen Kalenders die Zeitrechnung durcheinander gebracht habe. Natürlich finden Belbo, Casaubon und Diotallevi die Thesen Ardentis verrückt, müssen aber verblüfft zur Kenntnis nehmen, dass sie am folgenden Tag von einem Polizeikommissar namens De Angelis um Auskünfte über Ardenti gebeten werden, von dem man wisse, dass er mit ihnen zusammengetroffen sei, denn Ardenti sei wahrscheinlich in seinem Hotel ermordet worden. Der Concierge glaube jedenfalls, seine Leiche entdeckt zu haben, diese aber sei spurlos verschwunden, bevor die Polizei eintraf. Belbo, Casaubon und Diotallevi sind - wegen der damaligen 68er-Gesinnung und wegen des Verlagsgeheimnisses-- zurückhaltend mit Auskunft, und De Angelis scheint die Spur zum Verlag auch nicht weiterzuverfolgen. Wenig später, als Casaubon seine Dissertation abschließt und in Mailand die ersten Studenten zu schießen beginnen und damit, wie Casaubon (184-189) notiert, das Ende der Massendemonstrationen einläuten, folgt er Amparo nach Brasilien, wo er an einer Universität in Rio ein Italienisch-Lektorat übernimmt und wo ihn wenig später Nachrichten erreichen, dass (206) einige seiner „einstigen Genossen“ als Miglieder der Roten Brigaden Andersgesinnte mit Genickschüssen erledigten, um die Leute zu bewegen, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollten. Neben der Arbeit interessiert er sich weiter für Templer und Rosenkreuzer (unter Einschluss ihrer Ableger in Brasilien), lernt einen reichen Privatgelehrten namens Agliè kennen, der sich auch als Graf von Saint-Germain ausgibt und der vorzüglich über Geheimbünde und Esoterik im Allgemeinen, Templer und Rosenkreuzer im Besonderen Bescheid weiß und Amparo und Casaubon auch mit Ritualen des brasilianischen Synkretismus vertraut macht, was negative Folgen bei Amparo auslöst: Sie trennt sich von Casaubon, der kurz nach Aldo Moros Ermordung nach Mailand zurückkehrt, wo sich wenig später auch Agliè niederlassen wird. Mailand hat sich während seiner Abwesenheit so verändert, dass Casaubon nicht mehr weiß, wo er selbst hingehört. Auch bei Pilade, <?page no="211"?> 193 Mailand nach 68 oder in Pilades Bar der allgemeinen Orientierungslosigkeit wo inzwischen (259-260) der Flipper durch Automaten mit blinkenden Bildschirmen ersetzt wurde, findet er keine Orientierung mehr, erfährt aber, dass etliche der ehemaligen Revoluzzer, die dort ein- und ausgingen, inzwischen Schulen für transzendentale Meditation und makrobiotische Restaurants eröffnet haben, Bücher über (262) Kräuterkunde, Buddhismus und Astrologie vertreiben statt - wie zuvor - Texte von Che Guevara, oder in Werbeagenturen oder als Steuerberater arbeiten. Esoterik und Okkultismus sind in und finden in den psychoanalytischen Studien der Guattari und Deleuze ihre Rechtfertigung (er möge sich vorstellen, wird die rationalistische Lia [625-626] später Casaubon empfehlen, um ihn zur Raison zurückzubringen, ein Wiener Spaßvogel habe sich aus Jux und Dollerei die ganze Geschichte mit dem Es und dem Ich und dem Über-Ich ausgedacht, und das mit dem Ödipus dazu, und habe damit bewirkt, dass Millionen von Menschen im Ernst neurotisch geworden seien, um von Tausenden von Psychiatern ausgebeutet zu werden): Als ich wiederkam, resümiert Casaubon (259), kapierte ich nicht mehr, wer wohin gehörte. Man sprach nicht mehr von Revolution, man redete von den Wünschen und vom Begehren, wer sich links nannte, zitierte Nietzsche und Céline, die Publikationen der Rechten feierten die Revolution der Dritten Welt. In diesem allgemeinen weltanschaulichen Chaos, das damals unter Einschluss des Esoterik-Deliriums nicht nur in Italien, sondern auch in Frankreich und im Deutschland der „Roten Armee Fraktion“ und des Berufsverbotes herrschte, entdeckt Casaubon, dass an der Uni die inzwischen neu ernannten und z. T. didaktisch unerfahrenen Professoren (speziell) die Studenten (höherer Semester) nur schlecht zum Abfassen von Abschlussarbeiten anleiten, so dass diese - im Gegensatz zu Casaubon - nicht einmal Bibliographien anfertigen können. Also gründet er (263) eine Agentur für Bildungsauskünfte, und sein Geschäft läuft gut, als er am 16. Juli 1981 Lia kennenlernt. Kurz darauf trifft er erneut Belbo, der ihn diesmal für die Redaktion einer illustrierten Geschichte der Metallverarbeitung anheuert, die eine Stahlfirma beim Garamond Verlag in Auftrag gegeben hat. Die Zusammenarbeit beginnt just zu dem Zeitpunkt, da Belbo einen Textverarbeitungs-Computer installieren lässt, dem man - als humorige Hommage an den großen Kabbala-Mystiker aus dem 13. Jahrhundert- - Abulafia tauft. Belbo informiert Casaubon, dass für die Geschichte der Metalle noch viel Archiv- und Forschungsarbeit zu leisten sei, die auch Besuche des Deutschen Museums in München und des Conservatoire des Arts et Métiers nötig mache, welch Letzteres als Triumph der Maschine in der ehemaligen gotischen Kirche Saint-Martin-des-Champs in Paris un- <?page no="212"?> 194 Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont tergebracht sei, wo auch das berühmte Pendel hänge, mit dem Léon Foucault 1851 die Erdrotation nachgewiesen hatte. Es sei vielleicht die Atmosphäre der Kirche, sagt Belbo, aber man sei schon innerlich bewegt, wenn man davor stünde (277-278): Der Gedanke, daß alles fließt und nur dort oben der einzige feste Punkt des Universums existiert … Für einen der keinen Glauben hat, ist das eine Art, zu Gott zurückzufinden, ohne dabei die eigene Ungläubigkeit in Frage zu stellen, denn es handelt sich um einen Nullpol. Und er fügt hinzu: Wissen Sie, für Leute meiner Generation, die Enttäuschungen mittags und abends gefressen haben, kann das tröstlich sein. Drei Piemontesen auf der Jagd nach dem punto fijo Die Suche nach dem festen Punkt im Universum, von der Belbo spricht, ist nicht etwa von Eco erfunden worden. Wie er im Kapitel Die begehrte Wissenschaft von den Längengraden in der Insel des vorigen Tages historisch korrekt berichtet, war eine genaue Festlegung neu entdeckter Kontinente oder Inseln auf der südlichen Hemisphäre außerordentlich schwierig, weil man als Folge ungenauer Zeitmessung die Längengrade (im Gegensatz zu den Breitengraden) nicht bestimmen konnte, was tatsächlich dazu geführt hat, dass bisweilen eine entdeckte Insel für lange Zeit wieder verloren ging. Man hoffte daher, einen kosmischen Fixpunkt ausfindig zu machen, um über diesen zur Festlegung der Längengrade zu gelangen, und Felipe II., König von Spanien, hatte demjenigen ein Vermögen geboten, der es verstünde, zu Zwecken der Kartographie und der Stabilisierung der spanischen Weltherrschaft, diesen Punkt zu bestimmen. 1613 hatte Cervantes daraus eine Allegorie des Wahnsinns gemacht. Im zweiten Teil der Doppelnovelle, mit der seine Exemplarischen Novellen enden, belauschen die Hunde Cipión und Berganza im Hospital der Auferstehung von Valladolid das Gespräch von vier Irren über den Sinn der Welt. Unter ihnen ist ein Mathematiker, der erklärt: „Zweiundzwanzig Jahre bin ich hinter dem festen Punkt im Raum her; hier lasse ich ihn fahren und dort nehme ich ihn, und wenn es mir scheint, ich hätte ihn gefunden und er könnte mir nun unter keinen Umständen mehr entgehen, so bin ich, wenn ich nur ein klein wenig unachtsam bin, so weit von ihm entfernt, daß ich nur noch zu staunen vermag.“ Vierhundert Jahre danach lässt Eco Belbo bekennen (280): Ich weiß nicht, vielleicht sind wir ständig auf der Suche nach dem richtigen Punkt und vielleicht ist er uns ganz nahe, aber wir erkennen ihn nicht, und um ihn zu erkennen, müßten wir glauben … <?page no="213"?> 195 Drei Piemontesen auf der Jagd nach dem punto fijo Das kann Belbo nicht mehr, leidet er doch noch immer daran, dass er den Glauben verloren und sein Theologiestudium aufgegeben hatte. 1932 in einer Provinzhauptstadt des Piemont geboren, flieht er 1943 vor den Bombenangriffen mit seiner Mutter zu einem Onkel Carlo in ein piemontesisches Städtchen, das zwischen dem Monferrat und den Nordhängen des ligurischen Apennins liegt, im Text aber nur mit- *** bezeichnet wird. Es ist von den sanften Hügeln eines Weinanbaugebietes umgeben, deren höchster der Bricco ist, und durch den Ort fließt ein Flüsschen, das so heißt, wie Jacobo selbst: Belbo. In diesem Städtchen gibt es ein Oratorium, das den Salesianern Don Boscos gehört, und Belbo, der sich den Jugendlichen des Ortes anschließt, die in zwei Banden eingeteilt sind, wird Mitglied in der Blaskapelle, die ein Don Tico gegründet hat und dirigiert. Auch vom Kriegsgeschehen, der deutschen Besatzung und den Partisanen bekommen die Kinder und Jugendlichen in *** etwas mit, zumal einige schon ganz jung zu den Partisanen gehen, während andere - wie Belbo selbst - sich noch damit begnügen, den Deutschen Streiche zu spielen und ihnen z. B. Munition zu klauen. Und genau darunter leidet Belbo, wie viele leiden, die Faschismus und Nazismus als Heranwachsende erleben mussten: 1943 war ich elf Jahre alt, am Ende des Krieges gerade dreizehn, erklärt er Casaubon (133): Zu jung, um aktiv teilzunehmen, alt genug, um alles genau zu verfolgen […] Aber was konnte ich tun? Nur hingehen und gucken. Und weglaufen, so wie heute. Denn genau das ist es: Belbo meint, damals die Gelegenheit verpasst zu haben, sich mutig zu zeigen, und das habe sein ganzes Leben geprägt. Ängstlich sei er allem ausgewichen, und als Casaubon ihm rät, darüber zu schreiben, meint er, dass er selbst dafür zu spät geboren sei, denn das hätten die Pavese, Fenoglio, Calvino ja schon alles besorgt (134): Wissen Sie, daß man sein Leben lang von Gewissensbissen geplagt sein kann, nicht weil man die falsche Seite gewählt hat - das könnte man ja wenigstens noch bereuen--, sondern weil man außerstande war, sich selbst zu beweisen, daß man nicht die falsche Seite gewählt hätte. Aus diesem Grund hatte Belbo, wie er Casaubon an dem Tag berichtet, da dieser mit der Arbeit an der Illustrierten Geschichte der Metalle beginnt, 1968 begrüßt und ist nun davon angewidert, wie die Jungen, die damals die Internationale gesungen hatten, inzwischen ihre einstigen Ideale preisgegeben haben. Für euch war’s nur eine Saison, klagt er (278) Casaubon an, um sich kurz danach zu entschuldigen, weil er nicht ihn persönlich gemeint habe: Für uns ist es anders gewesen. Erst der Faschismus, auch wenn wir ihn nur als Kinder erlebt hatten, wie einen Abenteuerroman, aber die Unsterblichen Schicksale waren ein fes- <?page no="214"?> 196 Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont ter Punkt […] Dann für einige Gott und für andere die Arbeiterklasse, und für viele beides zugleich. Es war tröstlich für einen Intellektuellen, zu denken, es gäbe da noch die Arbeiter, schön, gesund, stark und bereit, die neue Welt zu schaffen. Und auf einmal […] waren die Arbeiter zwar noch da, aber die Klasse nicht mehr. Muß wohl in Ungarn umgebracht worden sein. Dann aber kam Mai 68, und seine Generation habe Hoffnung geschöpft: Wir hatten versagt, und da kamt ihr mit eurem Enthusiasmus, eurem Mut, eurer Bereitschaft zur Selbstkritik. Für uns, die damals Mitte Dreißig oder Anfang Vierzig waren, war es eine Hoffnung … Und so habe man sich denn revolutionär angezogen, manchmal sogar die Arbeit quittiert, um nicht mehr den Kapitalisten zu dienen, oder man habe sich für ein paar Piepen bei Garamond verdingt, und dann dieser Einbruch, diese Trendwende: Die 68er seien von Marx und Mao zur neuen Kreativität gewechselt und hätten aus dem schönen Ernst des Lebens eine dreckige Schmonzette gemacht (279): Ihr habt uns das Gefühl gegeben, wir wären elende Feiglinge, weil wir nicht den Mut hatten, mit offenem Visier den Bullen entgegenzutreten, und dann habt ihr irgendwelchen Passanten, die gerade vorbeikamen, in den Rücken geschossen. Und nicht nur das: statt für diese Taten wenigstens einzustehen, hätten die Rotbrigadisten auch noch ihre Mittäter verpfiffen. Darum, so Belbo, sei er nun froh mit Abulafia, dem Computer, arbeiten zu können, denn der glaube nichts und mache nichts glauben, sondern tue, was man ihm sage: Das ist ein ehrliches Verhältnis. Natürlich, Belbo ist verbittert, aber er weiß, dass auch Casaubon wie er selbst oder Diotallevi nach jenem winzigen festen Punkt für ein Leben sucht, dass eine einigermaßen sinnvolle Arbeit und ein wenig Selbstrespekt ermöglicht, und dabei hilft die Erkenntnis, dass das Foucaultsche Pendel, von dem auch in der Geschichte der Metalle zu berichten sei, zwar das Unendliche verspräche, gleichzeitig aber dem Einzelnen die Verantwortung dafür überließe, wo das Pendel aufzuhängen sei. Und damit brechen sie auf zum ersten gemeinsamen Arbeitsgespräch mit Signor Garamond, dem Verleger. Die Fiktion bleibt hinter der Wirklichkeit zurück oder was ist ein Roman über Templer gegen die P2? Mit der Präsentation Garamonds und seines Verlages knüpft Eco an ein zentrales Thema des Namens der Rose an, lässt er uns doch erneut Einblick nehmen in Buchproduktion und Verlagsstrategie, diesmal am Ende des 20. Jahrhunderts, und wieder oder immer noch stehen sich Aufklärer und Obskurantisten gegenüber. Signor Garamond ist nicht <?page no="215"?> 197 Die Fiktion bleibt hinter der Wirklichkeit zurück sehr gebildet. Was ihn interessiert, ist Geschäftemachen. Zu diesem Zweck fährt er sein Unternehmen auf zwei Gleisen: Aus Gründen des Renommees lässt er seriöse Fachliteratur, zu der auch die Geschichte der Metalle gehören soll, im Verlag, der seinen Namen (und den des Renaissance-Druckers) Garamond trägt, in unauffällig-bescheidener Ausstattung erscheinen. Von dieser heben sich die protzig aufgemachten Produkte ab, die von einem Parallel-Verlag herausgegeben werden, der zynischerweise nach Aldo Manuzio benannt ist, dem anderen großen Drucker der Renaissance. Der Manuzio Verlag vertreibt mehr oder weniger gleichgültige, unseriöse oder kitschige AEK-Bücher, also Texte, die von Autoren, welche z. T. der High Society angehören und aus Eitelkeit etwas publizieren wollen, Auf deren Eigene Kosten gedruckt werden.* Belbo ist sowohl für Garamond als auch für Manuzio zuständig, und wenige Tage, nachdem er die Arbeit für Garamond aufgenommen hat, erfährt Casaubon, dass Signor Garamond, der auch ihn drängt, (308) einen Schuß Alchimie in die Geschichte der Metalle zu schmuggeln, die Esoterik-Mode ausnutzen und ein sogenanntes Hermes-Projekt für okkulte Wissenschaften mit dem Namen Die entschleierte Isis auf den Markt bringen will, für dessen Mitarbeit oder als dessen Käufer (310) alle zur Zeit in der Welt existierenden Geheimgesellschaften in Betracht gezogen werden. Nach einer entsprechenden Publicity-Kampagne stapeln sich binnen kurzem okkultistische Manuskripte in Belbos Büro, von denen einige selbst auf Distanz neofaschistisch stinken. Die Begutachtung macht die Hinzuziehung eines Experten für Esoterik notwendig. Casaubon schlägt Agliè alias Graf Saint-Germain vor, der einwilligt, ohne nach Bezahlung zu fragen, und binnen kurzem zur grauen Eminenz im Verlag des Signor Garamond wird, mit dem ihn ebenso rasch enge Freundschaft zu verbinden scheint. Belbo, Casaubon und Diotallevi aber beginnen, um dem Stress zu entkommen und um sich über die esoterischen Texte lustig zu machen, mit denen sie permanent konfrontiert sind, im Rückgriff auf die Dokumente des verschwundenen Oberst Ardenti die Geheimgeschichte vom geplanten Wiederaufstieg des Templerordens, von ihnen scherzhaft der Große Plan genannt, zu konstruieren. Dafür ziehen sie die verschiedensten Dokumente über Rosenkreuzer, Freimaurer und andere Dinge wie die Protokolle der Weisen von Zion heran, jene Fälschungen aus dem Jahr 1903, die - u. a. von Hitler in Mein Kampf bejubelt - entscheidend zur Entwicklung des mörderischen Antisemitismus im 20. Jahrhundert beigetragen haben. Dabei stehen sie rasch vor dem Dilemma, wie sie Irrationales als Rationales ausgeben können, was nur über romanhafte Fiktion <?page no="216"?> 198 Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont und Anwendung vorgeblicher Geheimlogik in verschlüsselter Form möglich zu sein scheint, wofür ihnen vor allem Diotallevi mit kabbalistischen Kenntnissen und mit Zahlensymbolik das Instrumentarium liefert, mit dem dann Belbo als Schriftführer und Protokollant und mit Hilfe Abulafias das chaotische Gemenge in eine vermeintlich sinnvolle Strukturierung bringt, die von den zehn Sefiroth der Kabbala bestimmt ist und genau 120 Kapitel umfasst. Die drei Kumpane lassen sich dann freilich von ihren Recherchen mitreißen und verlieren immer mehr die ironische Distanz zum eigenen Phantasieprodukt, so dass nicht einmal Lia ihren Casaubon vom kollektiven Spiel mit der Geschichte des Irrationalen abbringen kann, obwohl sie - in Rückbesinnung auf Ockhams (bzw. Baskervilles) Maxime, dass die einfachste Erklärung in der Regel die richtigste ist (G 39)-- den unwiderlegbaren Nachweis erbringt, dass jenes geheimnisvolle Dokument aus Provins, das ihnen von Oberst Ardenti als die kodierte Kurzfassung des Großen Plans überreicht worden war, nichts anderes ist als die Warenliste eines Wäschehändlers. Dies alles freilich wäre eine folgenlose Spielerei der drei Freunde geblieben, wenn Belbo nicht in einem Anfall von Eifersucht dem von ihnen selbst in den Verlag geholten Experten Agliè, der Belbos Geliebten Lorenza den Kopf zu verdrehen scheint, am 12. Juni 1984 von Ardentis Dokumenten und der daraus von ihnen zusammengebastelten Geschichte des Großen Plans erzählt hätte. Um ihn zu ärgern. Denn als Agliè, wie von Belbo erwartet, um Einsicht in diese Dokumente bittet, sagt ihm Belbo, dies ginge leider nicht, da er aus Angst, als Geheimnisträger von konspirativen Kreisen bedroht zu werden, die Dokumente, die er freilich tief in sein Gedächtnis eingegraben habe, vernichtet hätte. Von da an geht alles in atemberaubender Geschwindigkeit. Agliè, der weiß, dass Belbo eine Dienstreise nach Bologna antreten muss und dafür den Zug benutzen will, reserviert ihm einen Sitzplatz und bittet ihn, als kleine Gegenleistung einen Koffer mit antiquarischen Büchern für einen Freund in Florenz mit auf die Reise zu nehmen und hinter Bologna im Zug zu lassen, damit der Geschäftsfreund ihn in Florenz in Empfang nehmen könne. Belbo willigt ein, nimmt am 13. Juni, dem Tag der Beerdigung des Generalsekretärs der PCI Enrico Berlinguer, an der Hunderttausende teilnehmen, seinen Platz im Zug ein, deponiert den Koffer im Netz und will sich in Zeitungslektüre vertiefen. Daran aber wird er von einem geschwätzigen Mitreisenden gehindert, der versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, nach seiner Kleidung fragt, nach seiner Lektüre, seiner Tätigkeit, und damit auch die Aufmerksamkeit anderer Mitreisender auf sich zieht. Als Belbo dann beim <?page no="217"?> 199 Die Fiktion bleibt hinter der Wirklichkeit zurück Aussteigen den Koffer stehen lässt, macht ihn der lästige Nachbar auch darauf aufmerksam und lässt sich erklären, warum Belbo den Koffer im Zug zurücklässt. Bei seiner Rückkehr noch am selben Tage erfährt Belbo aus den Abendnachrichten, dass die Polizei, alarmiert von jenem Mitreisenden, der danach spurlos verschwunden sei, den Koffer im Zug hinter Bologna kontrolliert und eine Bombe gefunden habe: Belbo wird mittels einer durchaus gelungenen Fahndungszeichnung gesucht. Am nächsten Morgen erreicht ihn ein anonymer Anruf: Eine männliche Stimme bedauert Belbo, weil er da in eine üble Angelegenheit geraten sei, und empfiehlt ihm, sich am 20. Juni unter einer bestimmten Adresse in Paris einzufinden. Belbo gerät in Panik und versucht, Agliè zu erreichen, um die Sache aufzuklären. Aber Agliè ist spurlos aus Mailand verschwunden. Der Vermieter kann nicht weiterhelfen, war die Wohnung doch über Mittelsmänner angemietet worden. Belbo ruft Kommissar De Angelis an und bittet um ein Treffen, denn er habe wichtige Dinge in Sachen Ardenti mitzuteilen. De Angelis unterbricht ihn, bittet, ihm nichts weiter zu sagen, weil er abgehört würde, im Übrigen aber auch nichts mehr wissen wolle, habe er doch um Entbindung von diesem Fall und Versetzung nach Sardinien gebeten. Ihm sei nämlich mit Ermordung gedroht worden, und im Wagen seiner Frau sei schon eine Bombe hochgegangen. Zudem habe er auch noch zwei kleine Kinder. Es täte ihm leid, aber Frau und Kinder seien ihm wichtiger als Belbos Enthüllungen, die er vielleicht früher hätte machen müssen. Belbo eilt zu Garamond, um ihn zu bitten, bei Agliè zu intervenieren. Doch Garamond meint, das klinge alles eher nach einem Roman: Belbo solle zum Rendez-vous nach Paris fahren und sich mit Agliè aussprechen: der sei doch ein Gentleman. Belbo verlässt Garamonds Büro, sieht im leeren Vorzimmer, dass Garamond telephoniert, hört mit und muss erfahren, wie Garamond Agliè mitteilt, er habe Belbo überzeugt, nach Paris zu fahren, denn das sei doch seine, Garamonds Pflicht gewesen (661): Wir gehören doch nicht umsonst zur selben spirituellen Ritterschaft. Wenig später wird Belbo alle jene Mitglieder der Mailänder High Society, denen er in Garamonds Büro begegnet war, so wie Garamond selbst und Oberst Ardenti, in der okkultistischen Versammlung im Conservatoire des Arts et Métiers wiedersehen. Wie sagte Karasek im Literarischen Quartett? Mit Wirklichkeit habe Das Foucaultsche Pendel nichts zu tun und die „Weltverschwörung“, von der es handle, sei „grotesk und absurd“ und stamme aus „idiotischen Quellen“! 1981 war Gelli verhaftet worden, jener Maestro Venerabile der Freimaurer- <?page no="218"?> 200 Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont loge P2, Mitglied des Grande Oriente d’Italia. Er hatte der parlamentarischen Untersuchungskommission zufolge Beziehungen zur Geheimpolizei, und seine Loge hatte sich zum Ziel gesetzt, das Parlament zu infiltrieren und u. a. dazu beizutragen, die Presse unter private Kontrolle zu bringen und das Fernsehen der staatlichen Kontrolle zu entziehen: „In Gellis Mitgliederlisten […] standen 962 Namen, darunter vier Bankdirektoren, sechsunddreißig Universitätsprofessoren, und im übrigen Militärs und Politiker […] Aus den Reihen der DC fanden sich auf den Listen drei Minister, aus denen der Sozialisten prominente Köpfe der Verwaltung und aus denen der Sozialdemokraten sogar deren Parteivorsitzender Pietro Longo.“ Später wurde Gelli noch wegen Beseitigung von Beweismaterial im Zusammenhang mit dem Zug-Attentat von Bologna im Jahr 1980, das 85 Menschen das Leben gekostet hatte, rechtsgültig verurteilt. Belbo wird am 13. Juni 1984, am Tag der Beerdigung Berlinguers, eine Bombe untergeschoben, die er ahnungslos im Zug nach Bologna deponiert. Die wird zwar entdeckt, reißt ihn aber in die konspirative Welt desselben Terrors, dem sechs Monate später jene dreihundert Menschen zum Opfer fallen werden, die von einer Bombe im D-Zug von Neapel nach Mailand in der Nähe von Bologna schwer verletzt oder getötet werden. Sollte Eco den Belbo untergeschobenen Attentatsversuch im Zug von Bologna nach Florenz wirklich beschrieben haben, ohne an die tatsächlichen Attentate erinnern zu wollen? Das wäre umso verwunderlicher, als Belbo nicht nur Inspektor De Angelis über den Vorfall informieren will, sondern derselbe De Angelis zuvor ausführlich mit Casaubon über die Verrückten gesprochen hat, die im Namen krauser Ideologien Bomben in Zügen detonieren lassen. Und das ist nicht alles. In Sachen Bombenanschlag in Bologna, der mit dem P2-Aktivisten Gelli zu tun hat, ermittelt ein Inspektor, der auch zur Loge P2 Verbindungen aufnimmt, um in sie eingeschleust zu werden. Der heißt zwar nicht De Angelis/ Von den Engeln, aber Dalla Chiesa/ Von der Kirche. Und auch Dalla Chiesa war versetzt worden, weil er anscheinend lästig geworden war. Aber er hatte nicht so viel Glück wie der fiktive De Angelis, der Angst um seine Frau und seine Kinder hat: Der reale Dalla Chiesa wurde am 3. Oktober 1982 zusammen mit seiner Frau ermordet. Kurz: das, was im Pendel wie ein Beziehungsgeflecht anmutet, das blühender Phantasie entsprungen ist, wird in Italien tagtäglich von einer Wirklichkeit übertroffen, in der die Loge P2 nur eines von vielen tristen Kapiteln ist. Und um das anzuprangern, hat Eco seinen Roman verfasst, und nicht, weil er mit einem „historisch-kritischen Katalog der Wahnsysteme aller Zeiten und Völker“ ein „Bedürfnis“ <?page no="219"?> 201 Die vier, die fünf sind nach „Okkultismus“ befriedigen wollte, dass nach Ansicht des deutschen Feuilletons in den „Literatur-Fachbereichen“ „zwischen New Haven, Paris, Konstanz und Bologna“ herrschte. Die vier, die fünf sind Natürlich sind die Verweise auf Ecos eigenes Leben im Foucaultschen Pendel zu dicht, als dass die Exegese sie hätte übersehen können*: Belbo ist 1932 geboren wie Eco, seine Mutter flieht mit ihm vor den Bomben in ein kleines Provinznest am Belbo und am Fuß des Bricco, das so wie Nizza Monferrato ein Oratorium der Salesianer besitzt, und ein Instrument hat Eco in seinem Nest ebenfalls in jener Blaskapelle gespielt, die Don Giuseppe Celi leitete,** und nebenher hatte er begonnen, wie Belbo Gedichte und Erzählungen zu schreiben. Wie Eco hat auch Belbo den Glauben verloren und eine tiefe religiöse Krise durchlebt, und wie Eco ist Belbo Sachbuchlektor in einem Mailänder Verlag geworden. Das alles erlaubt keinen Zweifel: Eco hat im Foucaultschen Pendel eigene Lebenserfahrungen verarbeitet. Aber kann man es deshalb autobiographisch nennen, ja, noch präziser: Ist es gestattet, in Belbo die Verkörperung von Umberto Eco selbst zu erblicken? Nichts wäre absurder als das, selbst wenn sich noch das eine oder andere hinzuaddieren ließe. Aber ganz davon abgesehen, dass sich im Roman Belbo (und ein bisschen wohl auch Eco) sogar (734) gegen „Memoirenliteratur“ als die „letzte Zuflucht der Canaillen“ ausspricht: selbst wenn sich zwischen dem zwanzig Jahre jüngeren Casaubon und Eco nicht ganz so viele Ähnlichkeiten konstatieren lassen, so reichen die restlichen doch noch immer, um jegliche Identifikation Belbos mit dem realen Eco ad absurdum zu führen. So teilt Casaubon mit Eco u. a. das frühkindliche Gefallen an Comics, den Wunsch, der Vater möge deshalb eine bestimmte Zeitschrift abonnieren, und (61) den genauso irrelevanten Anlass, ungläubig zu werden. Doch das ist immer noch nicht alles, und dass Casaubon wie Eco Geisteswissenschaften und speziell Mediävistik studiert, ja sogar über ein Thema jener Epoche promoviert, die auch Gegenstand der Promotion von Eco gewesen ist, ist genauso wenig unerheblich, wie die Tatsache, dass Casaubons Agentur für Examenskandidaten humorvoll Ecos Anleitung zum Verfassen einer Abschlussarbeit evoziert und dass Casaubon in seinem Verlag mit der Herausgabe einer Illustrierten Geschichte des Metallbaus beauftragt wird, gehörte doch die von Eco zusammen mit Zorzoli, Munari und Renate Ramge herausgegebene illustrierte Enzyklopädie der Erfindungen zu den ersten Editionspro- <?page no="220"?> 202 Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont jekten, mit denen Bompiani seinen jungen Sachbuchlektor beauftragt hatte. Und das ist ebenfalls nicht alles. Im Gegensatz zu Belbo teilt Casaubon mit Eco die wahrscheinlich fundamentalste Erfahrung eines intelligenten Menschen überhaupt: mit einem anderen, hier der Enzyklopädie-Spezialistin Lia, ein Kind in die Welt zu setzen, den Knaben Giulio, der den Namen von Ecos Vater trägt. Damit aber nicht genug. Gewiss ist der Abstinenzler Diotallevi weniger fassbar, erfahren wir doch so gut wie gar nichts über sein Privatleben. Aber auch er hat mit Eco nicht nur die ebenfalls fundamentale Gemeinsamkeit eines Namens, wie er normalerweise den Findlingen gegeben wurde (G 49), sondern er teilt mit Eco auch die Faszination für Geheimsprachen sowie die Lust an der Entschlüsselung von Codes und an jeder Art von Wortspielen und speziell Anagrammen. Kurz: alle drei verweisen auf Eco, mit dem sie noch eine andere Eigenschaft teilen: Sie sind Verlagslektoren, und da sie darüber hinaus auch einen Text gemeinsam schreiben, die Geheimgeschichte des Templerordens, dürfte man - wenn man schon nach Möglichkeiten sucht, den Roman als geheime Autobiographie zu lesen - feststellen, dass alle drei Verkörperungen ihres Erschaffers sind: Eco Selbdritt. Aber auch das stimmt nicht ganz, obwohl es der Sache schon näher kommt, sind es doch in Wahrheit vier, die den Text schreiben und eine Einheit bilden: Belbo, Diotallevi, Casaubon und ein Computer, der Textkombinationen produziert und nicht umsonst einen Namen hat. Deswegen seien sie auch noch einmal in der richtigen Reihenfolge genannt: Abulafia, Belbo, Casaubon und Diotallevi: A, B, C, D, eine Einheit von VIER wie die Buchstaben des einen und ersten Menschen, der die Sprache erfunden hat: ADAM. Oder vier wie die Evangelisten. Vier wie die großen Propheten. Vier wie die Jahreszeiten und vier wie die Lebenszeitalter: Belbo der Älteste, Diotallevi der Zweitälteste, Casaubon der Drittälteste und Abulafia, der Jüngste. Vor allem anderen aber sind A, B, C und D Laute, die zum Alphabet gehören und aus denen das Wort wird, das am Anfang war und aus dem alles entstand, entsteht, oder doch entstehen kann, wie Eco, der von der Kabbala so fasziniert ist wie Diotallevi, 1993 in seiner Geschichte der Suche nach der vollkommenen Sprache darlegt, in der jener Abraham Abulafia (1240-ca. 1291), nach dem Belbos Computer benannt ist, eine entscheidende Rolle spielt.* Für den Kabbalisten, so Eco, ist der Text der Torah, des 1. bis 5. Buches Mose oder des Pentateuchs, ein symbolischer Apparat, den man mit drei grundlegenden Techniken bedient, um ihn zum Sprechen über die zehn Sefiroth als zehn Hypostasen der Gottheit bzw. die mystischen und metaphysischen <?page no="221"?> 203 Cecilia - Lia oder Fehlinterpretationen und verpasste puntos fijos Wirklichkeiten zu bringen, und im Roman beherrscht Diotallevi diese drei Techniken: das Notarikon, die Gematria und vor allem die Temurah genannte Kunst der Permutation, des Umstellens oder Vertauschens von Buchstaben, also des Anagramms. Diese Kunst der Temurah, die bereits explizit im Sefer Jezirah oder Buch der Schöpfung aus der Zeit zwischen dem zweiten und vierten Jahrhundert formuliert ist, erlaubt mit ihren Kombinationsmöglichkeiten dem Kabbalisten, sich der Erkenntnis von Gottes bzw. Jahwes Willen zu nähern, hat dieser doch - dem Sefer Jezirah zufolge - die Welt mit den 32 Steinen geschaffen, die von den 10 Sefiroth und den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets gebildet werden, dessen erster Buchstabe A wie Aleph lautet: Zweiundzwanzig elementare Lettern legte [Jahwe] zu einem Rad, als wären sie Mauern, zitiert Eco. Wie kombinierte und vertauschte er sie? Aleph mit allen Alephs, Bet mit allen Bets […] und es ergab sich, daß alles Geschaffene und alles Gesagte aus einem einzigen Namen hervorging […] Zwei Steine erbauen zwei Häuser, drei Steine erbauen sechs Häuser, vier Steine erbauen vierundzwanzig Häuser, fünf Steine erbauen einhundertzwanzig Häuser […]. 120 Häuser, gebaut aus den 5-ersten „Steinen“ des Alphabets, das und nichts anderes erklärt, wieso das Foucaultsche Pendel 120 Kapitel umfasst, denn vier ihrer Verfasser heißen Abulafia, Belbo, Casaubon, Diotallevi, und zu diesen gesellt sich unaufhebbar der fünfte, der Eco heißt: A, B, C, D, E, die 5 ersten Buchstaben des Alphabets, oder die Steine, aus denen die 120 Häuser oder Kapitel sind, und die wiederum sind eingeteilt in die 10 Sefiroth, oder anders gesagt: in die zehn Kanäle oder Stufen, über welche die Seele zu Gott zurückkehren kann. Cecilia - Lia oder Fehlinterpretationen und verpasste puntos fijos Auch hier gilt es, den Sprachhistoriker und Kabbala-Spezialisten Eco, der - wie das Foucaultsche Pendel beweist - bereits Ende der achtziger Jahre in den Vorarbeiten zur Suche nach der vollkommenen Sprache steckte, nicht mit seinen Romangestalten zu verwechseln. Während er mit den kabbalistischen Prinzipien spielt, um den Text inhaltlich und formal zu strukturieren und damit den Leser anzuhalten, auch über diesen Aspekt der Menschheitsgeschichte nachzudenken, geraten seine Gestalten auf mystisch-spekulative Irrwege, die sie - verzweifelt über den Verlust an Lebenssinn wie Belbo, aus Freude am Sprachspiel wie Diotallevi oder aus Interesse an der Geistesgeschichte wie Casaubon - betreten hatten, um die noia zu vertreiben, den Lebensüberdruss, dem Moravia 1960 seinen großen Roman gewidmet hatte. <?page no="222"?> 204 Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont Natürlich will Eco dem Leser seines Romans nicht mit Kabbala und Sefiroth den Weg zurück zu einem Gott weisen, an den er selbst seit jener Zeit nicht mehr glaubt, sondern ihn anhalten, darüber nachzudenken, wie man - auch und gerade in Zeiten geistiger Orientierungslosigkeit wie den anni di piombo - den punto fijo finden kann, dessen der Mensch zur Regulierung seines Daseins bedarf. Das setzt Ernsthaftigkeit bei der Deutung von Texten voraus, wie Diotallevi auf dem Sterbebett selbstkritisch erkennt, denn da, wo die Torah-Auslegung bzw. die Sinn-Deutung des Daseins in dieser Welt von der kritischen Temurah-Technik, die beim Befragen des Textes alles Unernst-Spekulative ausscheide, umschlage in ein beliebiges (oder dekonstruktivistisches) Spiel mit dem Text, so wie sie es mit der Geschichte des Templer-Ordens getrieben hätten, widerspreche dies seiner organischen Logik und zerstöre das Leben, von dem der Text zeuge. Dieser aber sterbe, wenn man beim Interpretieren glaube (666), daß es keine Regel gibt, daß man aus jedem Text machen kann, was man will (665): Es muß einen richtigen Sinn geben, der sich von den falschen unterscheidet. Wir, ruft er Belbo zu, und mit uns jeder, der einen verborgenen Sinn hinter den Buchstaben sucht, wir sind übergeschnappt und verrückt geworden. Für ihn selbst, so Diotallevi, käme diese Erkenntnis zu spät, Belbo jedoch könne noch - durch korrektes Weltverständnis und entsprechendes Handeln - Ordnung in seine Existenz bringen. Aber auch Belbos Scheitern ist von Eco vorprogrammiert, gehören doch auch Selbstbescheidung und Akzeptierung dessen, was nebensächlich oder unbedeutend anmuten mag, zur Regulierung des menschlichen Daseins im Zeichen des punto fijo. Diese Selbstbescheidung aber geht sowohl Belbo als auch Casaubon ab, wie Eco zeigt, wobei er auf eigene Erfahrung zurückgreift, wohl wissend, dass es auch des Zufalls bedarf, den richtigen Augenblick zu erkennen und die günstige Gelegenheit zu ergreifen. Diese aber verpassen Belbo und Casaubon, oder sie glauben doch, die Gelegenheit nicht gehabt, den richtigen Augenblick versäumt oder die richtige Entscheidung nicht oder zu spät getroffen zu haben. Ich hatte keine Gelegenheit, sagt Belbo, führt das auf seine zu frühe und zu späte Geburt, aber auch auf seine Feigheit zurück und trauert ein Leben lang, in *** einer gewissen Cecilia,* die ein halbes Jahr älter war als er, nicht gesagt zu haben, dass er sie liebte, nicht Trompete gespielt und sich - dreizehnjährig - nicht der Resistenza angeschlossen zu haben. Casaubon aber begreift beim Lesen der Dateien, die Belbo mit Hilfe von Abulafia verfasst hat, dass Belbo sich irrt, hat dieser doch 1945, als die Resistenza siegreich nach-*** zurückkam, bei der Beerdigung zweier Widerstandskämpfer <?page no="223"?> 205 Cecilia - Lia oder Fehlinterpretationen und verpasste puntos fijos das Habt-acht und das Rührt-euch blasen dürfen, war dabei über sich hinausgewachsen und hatte die Trompete selbst dann noch nicht abgesetzt, als die Ehrensalve abgefeuert war (743): Jacopo fuhr fort, diesen Hauch von Ton zu blasen, da er spürte, daß er in diesem Augenblick einen Faden ausspann, der die Sonne festhielt. Das Gestirn war stehengeblieben in seinem Lauf, fixiert in einem Mittag, der eine Ewigkeit hätte andauern können. Es sei klar, kommentiert Casaubon, dass Belbo in jenem Moment Cecilia besaß, doch er meint, dass Belbo nie begriffen hatte (744), daß er in jenem Augenblick ein für allemal seine chymische Hochzeit feierte - mit Cecilia, mit Lorenza, mit Sophia, mit der Erde und mit dem Himmel. Als einziger vielleicht unter den Sterblichen war er im Begriff, endlich das Große Werk zu vollenden. Niemand aber habe Belbo je gesagt, daß der Gral ein Kelch, aber auch ein Speer ist und dass seine Trompete ein Pfeil war, der zum Himmel flog und die Erde mit dem Mystischen Pol verband. Mit dem einzigen Festen Punkt, den das Universum je gehabt hatte: dem, den er, nur für diesen Augenblick, mit seinem Atem erschuf. Wie könne es nur sein, fragt Casaubon, dass man wie Belbo ein Leben lang nach der GELEGENHEIT suche, ohne zu merken, daß der entscheidende Augenblick, derjenige, der Geburt und Tod rechtfertigt, schon vorbei sei: An jenem Tag hatte Jacopo Belbo der Wahrheit ins Auge gesehen. Der einzigen, die ihm jemals vergönnt sein sollte, denn die Wahrheit, die er damals erfuhr, war, daß die Wahrheit sehr kurz ist (hinterher ist alles nur Kommentar). Noch tragischer freilich ist, dass auch Casaubon nicht in der Lage ist, sein Leben nach jenem punto fijo auszurichten, obwohl er in der mediävistischen Schule der Mailänder Universität den sozialgeschichtlich kritischen Umgang mit Dokumenten gelernt hatte, und obwohl auch Lia ihm noch einmal den richtigen Weg zur Text- und damit Weltdeutung weist. Aber das Kollektivprojekt der Geschichte der Templer hat ihn zu den irrationalen Positionen der idealistischen Hermeneutik zurückkehren lassen. Ich versuchte, mich in die mentalen Prozesse Belbos hineinzuversetzen, erklärt er, als er (41) dabei ist, dessen Computer-Texte zu entschlüsseln, und da er meint, dass er dazu in einen Gemütszustand jenseits normaler Vernunft eintauchen müsse, betrinkt er sich, wie Belbo es zu tun pflegte. Nicht überraschend also, dass er Lias Verweis auf den einzigen punto fijo, der für sie beide wesentlich wäre, nicht in seiner vollen Bedeutung begreift. Ich hab was vergessen, sagt sie (427), nachdem sie ihm soziologisch-anthropologisch-rational erläutert hat, wie es zur Zahlensymbolik in den verschiedenen Kulturen gekommen ist: Ich bin schwanger. Hätte ich nur auf Lia gehört! , wird Casaubon später ausrufen und erkennen, dass er <?page no="224"?> 206 Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont - benebelt von kabbalistischen Spekulationen - keine Geduld zum Zuhören und Nachdenken gehabt hat, obwohl ihm zwischendurch dämmert (513): Das Kleine Ding da in Lias Bauch, das war etwas Wahres, Echtes, das durch seine Geburt allem Unsinn der Diaboliker Sinn geben würde. Arme Diaboliker, die ihre Nächte damit verbrachten, sich chymische Hochzeiten auszudenken und sich zu fragen […], ob der Stein der Weisen der lapis exillis wäre, ein kläglicher Gral aus Steingut-- während mein Gral hier in Lias Bauch war. Ja, Casaubon erkennt, dass es nicht nötig ist, nach dem Mysterium der Mysterien zu suchen, weil die Lektüre des Lebens keinen geheimen Sinn verbirgt und alles schon da ist in den Bäuchen aller Lias der Welt. Doch als er definitiv begriffen hat, dass es noch etwas anderes, Sinnvolleres als mystische Botschaften gibt, wofür er (732) den Beweis hat - Giulio, seinen Sohn - da scheint es zu spät zu sein, glaubt er doch, dass die Mörder aus jener obskurantistischen Templervereinigung hinter ihm her sind und dass er Frau und Kind nie wiedersehen wird. Es schmerzt mich, zu denken, sagt er, nach *** geflohen, um da endlich in Belbos Papieren Antwort auf alle Geheimnisse zu finden (753), daß ich Lia nicht wiedersehen werde, und das Kind, das Ding, Giulio, meinen Stein der Weisen. Aber die Steine überleben von selbst. Vielleicht erlebt er jetzt seine GELEGENHEIT. Das könne, so denkt Casaubon, ein Ball sein, eine Ameise, ein Grashalm, eben jener punto fijo, den er selbst in dieser chaotischen Welt nicht hatte erkennen wollen. Und so wartet er, den Blick auf die Hügel um *** gerichtet, auf seine Mörder, ohne dass wir Leser des Foucaultschen Pendels je erfahren werden, ob wirklich jemand kommt. Denn einmal mehr hat Eco ganz aristotelisch oder brechtianisch das Ende des Textes offen gehalten. Für eine Rückkehr zur aristotelischen Vernunft z. B. und für staatsbürgerliches Engagement gegen geheime Gesellschaften wie die Loge P2 und die Mafia. <?page no="225"?> Der Sumpf aus dem Berlusconi kam Tangentopoli - Denken ist ständige Wachsamkeit oder Warnung vor dem Urfaschismus - Für unendliche Semiosen im Endlichen oder vernünftig unterwegs auf vielen Wegen Tangentopoli Dass Eco ebenfalls aus eigener Erfahrung weiß, was es bedeutet, der Begegnung mit jenen puntos fijos eingedenk zu sein, die über unser Leben entscheiden, darf als gewiss gelten, errichtet er doch jenem Augenblick, da er die GELEGENHEIT beim Schopf ergriffen hatte, als Sachbuch-Lektor bei Bompiani zu arbeiten, um dort u. a. zusammen mit Renate Ramge jene Illustrierte Geschichte der Erfindungen herauszugeben, in der natürlich auch das Pendel vorgestellt wird, mit dem Léon Foucault 1852 im Pariser Panthéon nachgewiesen hatte, dass sich die Erde dreht, mit dem Foucaultschen Pendel sein Denkmal für die Ewigkeit. Und genauso gewiss ist, dass er nicht ohne Grund die Mühe aufgewandt hat, mit absoluter Präzision mitzuteilen an welchem Tag und um welche Uhrzeit Belbo zunächst den Zug nach Bologna besteigt und dann im Panthéon vor den Augen des entsetzten Casaubon am Foucaultschen Pendel erhängt wird. Tatsächlich handelt es sich um wichtige Daten in der Nachkriegsgeschichte der europäischen Linken. Die Beerdigung Berlinguers, an der am 13. Juni 1984 auch der tief bewegte Sandro Pertini teilnahm, läutete das Ende des PCI ein, der damals neben der DC noch die bedeutendste politische Kraft in Italien zu sein schien, und die von Rechtsaußen und speziell dem Front National angezettelten Demonstrationen gegen die geplanten Unterrichtsreformen, in die Casaubon am 24. Juni in Paris gerät, stürzen die Regierung des Sozialisten Pierre Mauroy, der auch vier Kommunisten angehören, in eine so tiefe Krise, dass sie am 17. Juli zurücktreten muss: Sie wird von Staatspräsident Mitterrand durch eine Übergangsregierung ersetzt, der keine Kommunisten mehr angehören. Diese wird ihrerseits 1986 abgelöst durch eine rechte Regierung, der Jacques Chirac vorsteht und die - mit Mitterrand als Präsident der Republik - die Ära der sogenannten „Cohabitation“ eröffnet. Während sich in Frankreich jedoch, nach einer Phase des vermeintlich unaufhaltsamen Aufstiegs des Front National, die konser- <?page no="226"?> 208 Der Sumpf aus dem Berlusconi kam vative Rechte (auch durch Anbiederung bei den Wählern von Extrem- Rechts) konsolidieren kann und nur die Linke auf Dauer in Krisen gerät, die bis heute andauern und u. a. eine geradezu dramatische Marginalisierung der FKP zur Folge hatten, steuern in Italien sowohl die parlamentarische Linke, angeführt vom PCI, als auch die konservative Rechte, angeführt von der DC, in Verfalls- und Auflösungsprozesse, die zu neuen und bisweilen extrem kurzlebigen Konstellationen führen und die politische Landschaft total verändern. Diese Entwicklung, die in den späten 80er Jahren, als Das Foucaultsche Pendel erschien, kaum jemand so genau vorausgeahnt hatte wie Eco, der bei aller Distanz zum PCI dessen Untergang, der durch den Fall der Mauer und das Ende des Sowjetsystems beschleunigt und irreversibel gemacht wurde, durchaus als ein Verhängnis betrachtete, wie man der Präsentation rechter Konspiration auf dem historisch genau datierten Hintergrund linker Begräbnisstimmung im Foucaultschen Pendel entnehmen kann. Den makabren Höhepunkt dieser Krise, durch die Italien unter den kurzlebigen Regierungen des Pentapartito torkelt, der als eine seiner verhängnisvollsten Erbschaften eine Neuordnung der Medienlandschaft hinterlässt, die 1988 „dem großen Craxi-Freund Silvio Berlusconi auf den Leib geschneidert“ wurde, stellt 1992 die Aufdeckung eines weiteren Skandals dar, der u. a. die siebte Regierung Andreottis aus dem Sattel wirft und den sich wohl auch Belbo, Casaubon und Diotallevi nicht hätten ausdenken können, der aber alle zuvor umlaufenden Gerüchte hinsichtlich des Pentapartito bestätigen und als Tangentopoli oder „Schmiergeldstaat“ in die Annalen eingehen wird. Und wieder ist es eine Gruppe mutiger Beamter unter Leitung des Mailänder Staatsanwaltes Antonio Di Pietro, die mit ihrer Mani pulite („Saubere Hände“) genannten Aktion das unglaubliche und zunächst gegen jede Evidenz von Politikern wie Craxi lauthals geleugnete Korruptionskomplott aufdeckt und publik macht. „Für alle Aufträge der Öffentlichen Hand,“ schreibt Friederike Hausmann, „vom Klo-Putzen in einem Altenheim bis zum Bau von Mega-Stadien zahlten die Firmen zehn Prozent der Auftragssumme als Schmiergeld, das nach einem […] genau festgelegten Satz unter den herrrschenden Parteien aufgeteilt wurde. Den Löwenanteil steckten DC und PSI ein, die Brosamen wurden unter die kleinen Partner […] verteilt. Bis zum Frühjahr 1994 stieg die Zahl der Personen, die in Ermittlungen verwickelt waren, auf 6059“, und betroffen waren „Politiker aller alten Parteien“ unter Einschluss des PCI. Das gesamte traditionelle Parteiensystem bricht zusammen. Zwar versucht man noch einmal, weiterzuwursteln, aber <?page no="227"?> 209 Tangentopoli die Wahlen vom 5. April 1992 sind nicht nur ein Fiasko für den Pentapartito, sondern auch für den PCI, der sich - als Konsequenz aus dem Konkurs des Sowjetsystems - in mehrere Strömungen auflöst und mit diesen neuen Organisationen auf das Niveau von Splittergruppen hinabsinkt. Zwei Jahre später werden PSI und DC seinem Beispiel folgen. Ein Vakuum ist entstanden, in das politische Kräfte - vor allem aus der rechtsextremen oder offen neofaschistischen Ecke - Einzug halten, die bis dahin eher marginalisiert waren: der MSI, die Nachfolgepartei des Partito Fascista Mussolinis, die seit 1985 von Gianfranco Fini geführt wurde und in der auch Mussolinis Enkelin Alessandra, die 1992 ins Parlament gewählt wird, eine entscheidende Rolle spielte, und die rechtsradikale Lega Nord des Umberto Bossi, die bis heute für die politische Unabhängigkeit Norditaliens eintritt. Dass diese Entwicklung einer moralischen Erneuerung Italiens, wie sie nach dem Tangentopoli-Skandal nötig gewesen wäre, im Wege steht, liegt auf der Hand. Fast alle Prozesse - wie gegen Andreotti, der sich 1993 wegen seiner Beziehungen zur Mafia vor Gericht verantworten muss - verlaufen im Sande, und ein Berlusconi kann es sich leisten, dem Beispiel des (immerhin später zu acht Jahren Gefängnis verurteilten) Craxi (der nach Tunis fliehen und nie wieder nach Italien zurückkommen wird) zu folgen und sich wie dieser als Saubermann aufzuspielen, obwohl unzählige Prozesse gegen ihn laufen. Die Krise der Sozialistischen Partei und der Exkommunisten und der Christdemokraten entsetzt Eco so wie die neue Internationalisierung einer Mafia und die Lega Nord, die für ihn eine Blüte auf den Trümmern dieses Zusammenbruchs ist. Der Gewinner des Desasters aber ist Berlusconi, den Eco in seinem Secondo Diario Minimo noch eher scherzhaft Silvio Pellusconi nennt, Silvio Pellicos Memoiren Le mie prigioni (Meine Gefängniszeit) aus dem Jahr 1832 in Le mie televisioni verballhornend. Zwei Jahre später wird dieser „Pellusconi“ mit der von ihm gegründeten Partei Forza Italia (Vorwärts Italien) im Bündnis mit dem 1995 in Alleanza Nazionale umgetauften MSI, der Lega Nord, dem Centro Cristiano Democratico, einer Absplitterung aus der Restmasse der DC, der Unione di Centro sowie der Fondazione Liberaldemocratica, zwei Gruppierungen, die wenig später in Forza Italia aufgehen, zum ersten Mal Ministerpräsident werden. Gewiss, diese Regierung scheitert bereits im Januar 1995 am Zwist mit der Lega Nord. Doch Eco weiß, dass dies nur eine Etappe auf Berlusconis Marsch nach Rom ist. Seit dem ersten Wahlerfolg dieses rechtskonservativ-neofaschistischen Bündnisses um die Forza Italia wird er jedenfalls nicht mehr aufhören, vor Berlusconi zu warnen und zur Wahl der linken Opposition aufzuru- <?page no="228"?> 210 Der Sumpf aus dem Berlusconi kam fen, wobei er immer wieder auf die Gefährlichkeit dieses neuen Typs von Politiker hinweist, der mit seiner Medienmacht die Demokratie mit allen ihren Institutionen und speziell der Justiz aushöhlt und in ihr Gegenteil verkehrt. Denken ist ständige Wachsamkeit oder Warnung vor dem Urfaschismus Wer meinte, diese Stellungnahmen gehörten zu den üblichen Ritualen intellektueller Beckmesserei in demokratischen Staaten, bewiese nur, dass er von der Horrorgeschichte Nachkriegsitaliens keine Ahnung hat. Staatsanwalt Di Pietro jedenfalls hält den Pressionen, denen er seit der Aufdeckung von Tangentopoli ausgesetzt ist, nicht lange stand. 1994, kurz bevor es zum ersten (und natürlich eingestellten) Korruptionsprozess gegen Berlusconi kommt, gibt er sein Amt auf, tritt aber klugerweise die Flucht nach vorn an und engagiert sich politisch. Er wird 1996 Minister in der ersten Regierung der Mitte-Links-Sammlung l’Ulivo (Der Olivenbaum) unter Romano Prodi, und 2000 wird er seine eigene Partei gründen, Italia dei Valori (Das Italien der Werte), die heute zum Spektrum der Oppositionsparteien um den aus L’Ulivo hervorgegangenen Partito Democratico Walter Veltronis gehört, der selbstverständlich von Umberto Eco unterstützt wird. Eco selbst wird 1992 in das Internationale Beratergremium der UNESCO und als ständiges Mitglied in die von Elie Wiesel in Paris gegründete Académie Universelle des Cultures berufen, die seitdem regelmäßig internationale Kolloquien zu Fragen des Fremdenhasses, der ethnischen und sexistischen Diskriminierung, der Intoleranz, des Rassismus und des Antisemitismus abhält und der u. a. angehör(t)en Maurice Béjart, Bronisŀaw Geremek, Jacques Le Goff, André Miquel, Octavio Paz, Yehudi Menuhin, Paul Ricoeur, Jorge Semprún und Mario Vargas Llosa. Am 13. Juli 1993 dann veröffentlichen vierzig Intellektuelle, unter ihnen neben Umberto Eco Pierre Bourdieu, Georges Duby, Yves Hersant, Maurice Olender, Paul Virilio und (als einziger Deutscher) Lothar Baier in Le Monde einen Aufruf zur Wachsamkeit gegen das Wiederaufleben rechtsextremen Denkens in Europa, womit natürlich speziell der Aufstieg des Front National in Frankreich, aber auch das Erstarken der neofaschistischen Tendenzen in Italien gemeint sind. Die Autoren des Manifests stellen fest, dass unter dem - in Frankreich vor allem von Alain de Benoist verbreiteten - Vorwand, es gäbe keine wesentlichen Unterschiede mehr zwischen links und rechts, immer mehr rechte Ideologen vorgäben, den Dialog mit Andersden- <?page no="229"?> 211 Denken ist ständige Wachsamkeit oder Warnung vor dem Urfaschismus kenden zu wollen, in Wahrheit aber nur unverdächtige Tribünen für ihre antidemokratischen Positionen suchten: „Durch diese ungewollte Komplizenschaft, so fürchten wir, werden in unserem geistigen Leben bald Diskurse alltäglich werden, die bekämpft werden müssen, weil sie gleichermaßen die Demokratie und das Leben der Menschen bedrohen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Worte der extremen Rechten nicht bloße Ideen unter anderen sind, sondern den Anreiz zu Ausschluß, Gewalt und Verbrechen enthalten.“ Man habe daher ein Komitee der Wachsamkeit gegründet, das alle diesbezüglichen Informationen sammeln wolle und im Übrigen jegliche Zusammenarbeit mit Personen ablehne, „deren Verbindungen mit der extremen Rechten sich bestätigen sollte.“ Der Aufruf, der auf Deutsch in den Blättern für deutsche und internationale Politik und in der Frankfurter Rundschau vom 23. Juli 1993 erscheint, löst wilde Polemiken aufseiten der rechten Pariser Ideologen, aber auch aufseiten einiger jener linken Intellektuellen aus, die sich auf das im Manifest angeprangerte Spielchen eingelassen hatten und sich mit Recht getroffen fühlen.* Das veranlasst Die Zeit, am 6. August zunächst Bernard Henri Lévy und am 3. November Eco das Wort zu überlassen. Lévy gibt den Unterzeichnern des Manifests zwar grundsätzlich recht, versucht aber die Sache runterzuspielen und spricht von überzogener Panik von Leuten, die auf der Suche nach einem verlorenen Ich seien: das ganze sei eher Aufregung in einem „Dorf “ im „nördlichsten Norden von Norditalien.“ Eco, der zufälligerweise als einziger Unterzeichner des Manifests aus einem norditalienischen Dorf stammt, geht in seiner Stellungnahme, die zunächst in Le Monde erscheint, ebenso energisch wie differenziert auf die Anschuldigung ein, die Ablehnung von Zusammenarbeit mit Rechtsextremen sei eine Art von McCarthyismus. Das sei Unsinn. In Wahrheit gehe es darum, zu erkennen, dass es kein wert- und standortloses Dialogisieren mit anderen gäbe, sondern dass alles, was man sage, kontext-determiniert sei. Würde man nicht darauf achten, mit wem man wo über was rede, liefe man Gefahr, vereinnahmt zu werden, so dass das, was man sage, als das Gegenteil von dem benutzt und rezipiert werden könne, was man gemeint hatte. Sei es z. B. durchaus statthaft, als Historiker festzustellen, daß der nationalsozialistische Völkermord an den Juden nicht sechs Millionen Menschenleben vernichtet habe, sondern sechseinhalb oder fünfeinhalb, könne eine solche Forschungsarbeit, vorgetragen in falschem Kontext (z. B. auf einem Revisionistenkongress) verfälscht werden zu der nicht hinnehmbaren These: wenn ein paar Juden weniger umgebracht wurden, war es also kein Verbrechen. Um Andersden- <?page no="230"?> 212 Der Sumpf aus dem Berlusconi kam kenden gegenüber tolerant zu sein, befindet Eco daher, muß man die Grenzen dessen, was nicht tolerierbar ist, festlegen. Anders gewendet: man kann gegenüber der Intoleranz nicht tolerant sein, und diese gegenüber Faschismus und Nazismus intransigente Haltung wird Eco wenig später erneut als nicht diskutierbare Maxime aufgeklärt-demokratischen Handelns bekräftigen. Am 24. April 1995 hält er an der Columbia University einen Vortrag zum 50. Jahrestag der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus, den Die Zeit in ihrer Ausgabe vom 7. Juli abdruckt. Tatsächlich handelt es sich um die Entfaltung eines Gedankens, den Eco bereits in der Zeit vom 5.- November 1993 geäußert hatte und demzufolge es keine qualitativen, sondern nur quantitative Unterschiede im Umsetzen von Dummheit und Neigung zum Bösen zwischen Nazis und Neonazis gäbe. Der einzige Unterschied sei, dass die Nazis Millionen von Menschen ermordet, ihre Nachkommen aber erst einige Dutzend niedergeknüppelt hätten. In seinem Urfaschismus* betitelten Vortrag, in dem er zunächst seine eigenen Kindheitserfahrungen mit der brutalen Menschenverachtung des Faschismus resümiert und seinem Stolz Ausdruck gibt, dass es in Italien auch eine machtvolle Resistenza gegeben habe, betont er, dass es intellektuelle Pflicht sei, sich an diese Vergangenheit zu erinnern und alles zu tun, damit die Faschisten keine Chance mehr bekommen. Er legt die Wesenszüge offen, die - wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung - allen Formen des Faschismus zugrunde liegen, selbst wenn sie sich in ihren historischen Ausprägungen unterschieden. Diese von ihm von 1 bis 14 durchnummerierten Wesensmerkmale würden das Phänomen ausmachen, das er „Urfaschismus“ nennt und das in allen seinen Formen zu bekämpfen sei: 1. der Traditionskult, der nicht verwechselt werden dürfe mit Rückbesinnung auf die Geschichte, sondern eine Mischung sei aus traditionalistischen, synkretistischen, okkulten Elementen; 2. die Ablehnung der Moderne bzw. die Akzeptierung des (technologischen) Fortschritts als des zwar Notwendigen, aber Uneigentlichen gemessen an pseudomythischen Werten wie Blut und Boden; 3. Mißtrauen gegenüber der Welt des Intellekts und daraus resultierender Irrationalismus; 4. Wissenschaftsfeindlichkeit; 5.-Angst vor Unterschieden und der daraus resultierende Rassismus; 6. Appelle an eine frustrierte Mittelklasse, die sich vor dem Druck sozialer Klassen von unten fürchte; 7. Die Glorifizierung der Zugehörigkeit zu einer Nation als Privileg des Auserwählten: Dies ist der Ursprung des Nationalismus. Außerdem bezieht eine Nation ihre Identität nur aus ihren Feinden. Und die sind natürlich gegen die Urfaschisten verschworen; 8. Die Feinde sind - wie die Juden - reich, mächtig, ge- <?page no="231"?> 213 Für unendliche Semiosen im Endlichen heimbündnerisch vernetzt und demütigen so die Urfaschisten; 9. Das Leben ist nur des Kampfes willen da; 10. Der Urfaschismus hat ein besonderes Elitedenken: Jeder Bürger gehört dem besten Volke der Welt an, und die besten Bürger sind die Mitglieder der Partei, und da sie einzeln schwach und dem Feind ausgeliefert sind, brauchen sie Führer und Unterführer; 11. Erziehung zum Heldentum ist Pflicht, und das schließt natürlich Todesbereitschaft ein; 12. Da sowohl endloser Krieg als auch Heroismus recht schwierige Spiele sind, überträgt der Urfaschist seinen Willen zur Macht auf die Sexualität. Deshalb muss er - um seine Überlegenheit zu beweisen - die Frau unterjochen und ungewöhnliche Sexualgewohnheiten verachten; 13. Für den Urfaschismus […] haben die Individuen als Individuen keinerlei Rechte, das Volk dagegen wird als eine Qualität begriffen, als monolithische Einheit, die den Willen aller zum Ausdruck bringt. Diesen Willen deutet ihr Führer; 14. Der Urfaschismus hat Probleme mit Sprachkompetenz: Alle faschistischen Schulbücher bedienten sich eines verarmten Vokabulars und einer elementaren Syntax, um die Instrumente komplexen und kritischen Denkens im Keim zu ersticken. Fazit jenes Dörflers aus dem „nördlichsten Norden von Norditalien“: Wir müssen wachsam bleiben: Der Urfaschismus ist immer noch um uns, manchmal sehr unscheinbar gewandet. Es wäre für uns so viel leichter, träte jemand vor und verkündete: ‚Ich will ein zweites Auschwitz, ich will, daß die Schwarzhemden wieder über Italiens Plätze paradieren.‘ Das Leben ist nicht so einfach. Der Urfaschismus kann in der unschuldigsten Verkleidung wieder auftreten. Wir haben die Pflicht, ihn zu entlarven […] Freiheit und Befreiung sind eine niemals endende Aufgabe. Für unendliche Semiosen im Endlichen oder vernünftig unterwegs auf vielen Wegen Kein Zweifel, spätestens zu Beginn der 90er Jahre ist Eco zu einer internationalen Moralinstanz geworden, die nicht müde wird, von den humorvollen Bustine über grundlegende Abhandlungen (über Gewalt und Krieg, Toleranz, Migrationen und Integration) bis zu politischen Stellungnahmen wie dem Essay über den Urfaschismus warnend die Stimme zu erheben. Wie viel Zeit bleibt da noch für wissenschaftliche Publikationen? So unglaublich es angesichts des Arbeitsvolumens anmuten mag: Eco steckt auch auf diesem Gebiet nicht zurück, wobei ihm zweierlei zu Hilfe kommt. Zum einen besitzt er eine phänomenale Fähigkeit, von ihm angeschnittene Themen wieder aufzugreifen, um sie zu vertiefen, weil ihm die zuvor erreichten Forschungsergeb- <?page no="232"?> 214 Der Sumpf aus dem Berlusconi kam nisse - auch und gerade nach Anhörung abweichender oder konträrer Ansichten - nicht genügen und ergänzungsbedürftig erscheinen, was aber nie zu sterilen Repetitionen, sondern zu neuen - und oft mit ganz anderem Material vorgenommenen - Ausleuchtungen der angeschnitten Problematik führt. Zum anderen aber realisiert er in seiner vielseitigen Schreibpraxis das, was er lange zuvor schon als wesentliches Merkmal des Schreibaktes definiert hatte: Wissenschaft und Literatur sind und bleiben für ihn ganz aristotelisch zwei Seiten ein- und desselben Nachdenkens über das Sein des Menschen in dieser Welt, auch Philosophie genannt. Es ist daher durchaus kein Scherz, wenn Eco erklärt, sein Hauptwerk zur Textexegese, das 1992 mit dem Titel Die Grenzen der Interpretation erscheint und die Arbeit von Lector in fabula vertieft, sei nichts anderes als die zeichen- und literaturtheoretische Behandlung desselben Themas, das im Foucaultschen Pendel fiktional-erzählerisch im Mittelpunkt gestanden habe: die Frage nach der Richtigkeit von Text-Interpretationen. Aktueller Hintergrund für diese Arbeit auf den zwei Werkbänken desselben Ateliers: Ecos - von Peirce inspirierte - Thesen zur unbegrenzten Semiose waren von verschiedensten sprach- und literaturwissenschaftlichen Strömungen und speziell dem in Frankreich (von Derrida) und in USA (von Paul de Man) auf den Weg gebrachten „Dekonstruktivismus“ begeistert als Rechtfertigung eigener Theorien aufgegriffen und in der Weiterverwendung ad absurdum geführt worden. Dabei geht der Dekonstruktivismus durchaus richtig davon aus, dass literarische Kunstwerke nicht nur von vieldimensionalen und durchaus widersprüchlichen Strukturen determiniert sind, die so wenig auf einen einzigen Nenner reduzierbar seien wie die unendliche Sinnvielfalt der Welt selbst. Doch die Konsequenzen, die er daraus ableitet, sind absurd, erklärt er doch nicht nur die traditionellen Interpretationsverfahren für obsolet, da sie mit ihrer Sinnsuche für den Gesamttext die wesensmäßige Sinnvielfalt des literarischen Textes und damit diesen selbst zerstören würden, sondern plädiert darüber hinaus auch dafür, mittels „Dekonstruktion“ (oder „Demontage“ bzw. „Sezierung“) der das Kunstwerk bestimmenden Strukturen diese in ihrer Widersprüchlichkeit erkenntlich zu machen und dafür auf die vermeintlich verfälschende Definition eines Sinnzusammenhangs des Gesamtkunstwerkes zu verzichten. Denn - so wird argumentiert - wenn die Semiose abhänge von Erfahrung und Belesenheit des jeweiligen Lesers, dann müsse auch aus der jeweiligen Auseinandersetzung mit der in sich widersprüchlichoffenen Sinnvielfalt eines Textes ein jeweils anderes Sinnverständ- <?page no="233"?> 215 Für unendliche Semiosen im Endlichen nis resultieren, was jede Interpretation ins Reich der Beliebigkeit verwiese. Analog zur Kongenialität idealistischer Urstände begannen daher immer mehr Dekonstruktivisten - unter Berufung auf Eco - die Auseinandersetzung mit Texten, die sie nicht mehr interpretieren wollten, als Vorwand für die Produktion eigener (literarischer) Texte zu benutzen, die nur den Nachteil hatten, mehrheitlich uninteressant zu sein. Mit den Grenzen der Interpretation und dem Foucaultschen Pendel entzieht sich Eco dieser liebevollen Umklammerung durch die Dekonstruktivisten, die im Grunde Texte produzieren wie das Quartett Abulafia, Belbo, Casaubon, Diotallevi, und distanziert sich immer deutlicher vom Verzicht auf Textinterpretation, was zu engagierten Diskussionen* und bisweilen auch zu wütenden Angriffen auf Eco führt, der des Verrats an seinen eigenen Positionen geziehen wird. In Wahrheit braucht Eco gar nichts zu verraten und gibt auch sein Konzept der unendlichen Semiose keineswegs preis, holt dies aber zurück in den rationalen Kontext der Exegetik, den er selbst nie verlassen hatte und den im Foucaultschen Pendel die Enzyklopädie-Spezialistin Lia und der Sprachanalysator Diotallevi als Grundlage des Weltverständnisses einklagen. Denn wenn auch unstrittig ist, dass jeder Leser eines Textes diesen auf Grund seiner individuellen Lebenserfahrung, Bildung und psychischen Beschaffenheit anders liest und versteht als jeder andere und dadurch die Möglichkeiten der Semiosebildungen ebenso logisch wie unvermeidlich unendlich sind, so heißt dies doch keineswegs, dass sie damit beliebig und bezugslos wären, haben doch alle diese Semiosebildungen ein- und denselben Ausgangs-, Bezugs- und Ordnungspunkt, den punto fijo der Interpretation, und das ist der Text selbst, den sie alle lesen und von dem man nicht sprechen kann, ohne sich auf ihn zu beziehen. Die unbegrenzte Semiose, von der Eco spricht, ist also eine begrenzte unendliche Semiose, was absolut kein Widerspruch in sich selbst ist. Denn so wie die Rede über „den Menschen“ unendliche Möglichkeiten von Differenzen ermöglicht, so setzt ihr doch die reale Beschaffenheit des Menschen eine Grenze, die überschritten wäre, wenn ich sagte, dass der Mensch auf vier Säulen wandle, zwei Meter hoch und vier Meter lang sei, einen Rüssel habe und mit diesem Trompetentöne von sich gäbe. Denn dann spräche ich von einem Elefanten.** Das gleiche gilt für Texte, denn ich kann z. B. alles und unendlich vieles Mögliche über Thomas Manns Zauberberg sagen, nur nicht, dass seine Protagonisten Max und Moritz oder Winnetou und Old Shatterhand heißen, weil dem die Realität des Textes entgegensteht.*** Respektiere ich die- <?page no="234"?> 216 Der Sumpf aus dem Berlusconi kam se, kann ich auch über Texte und ihren Sinn mit anderen sprechen, selbst wenn dies den Regeln der Semiose entsprechend nur in pragmatischer Annäherung geschieht: Jede Gemeinschaft von Interpreten eines bestimmten Textes, schreibt Eco, muß - damit sie die Gemeinschaft der Interpreten dieses Textes sei - in irgendeiner Weise zu einer (wenngleich nicht definitiven und durchaus auch fehlbaren) Übereinstimmung hinsichtlich der Art des semiotischen Objekts bzw. des Textes gelangen, mit dem sie sich befaßt. Natürlich sei es dem Menschen möglich und gestattet, auch Reden über Texte zu halten, die sich nicht um deren Bedeutung oder deren Sinn scheren, doch dann - so Eco mit vollem Recht - würde man diese Texte nicht interpretieren, sondern - wofür auch immer - benutzen. Und auch das wurde - trotz seiner Evidenz - heftig und kontrovers diskutiert, während Eco zunehmend von der abstrakt-theoretischen Diskussion zur Argumentation per (methodologisch begründeter) Darlegung von Interpretationen im Sinne der Rekonstruktion der intentio operis bzw. der jeweiligen „Poetiken“ überging wie z. B. in seinen Norton Lectures an der Harvard University aus den Jahren 1992-93, die in Deutschland 1994 unter dem Titel Im Wald der Fiktionen erscheinen und in denen er sich mit Texten unterschiedlichster Autoren von Agatha Christie bis Nerval und Proust auseinandersetzt. Diese Argumentation mittels eigenem interpretatorischen Umgang mit Texten wird er nie wieder preisgeben, wie die Aufsätze über Manzoni beweisen, dessen Verlobte unter dem Gesichtspunkt der Strategien der Lüge, des Mißbrauchs der Sprache und der Umkehrung dieses Mißbrauchs durch Ironie von Eco mit Cagliostro/ Dumas, Nerval sowie Achille Campanile in Bezug gesetzt werden,* und vor allem die großen Essays aus den Jahren 1997 bis 2000 über Dante, Cervantes, Oscar Wilde, Borges und immer wieder Nerval mit seiner Sylvie, die in dem Band Sulla Letteratura (Die Bücher und das Paradies) aus dem Jahr 2002 zusammengestellt sind. <?page no="235"?> Die Insel des vorigen Tages oder ein Buch von vielen Autoren über die Ordnung des Universums Von der Vollkommenen Sprache oder wieso das Deutsche „gruntza con lo Schwaino“ - Die Insel oder das Feuilleton diagnostiziert „Trivialbarock pur“ - Ecos poetische Weltall-Visionen „aus dem Bauch heraus“ und seine „Ars Magna aus Fleisch und Blut“ - Ein Protagonist, der „nicht eben viel erlebt“ hat, oder ewig-neue Lilia und alter punto fijo - Die Vernunft gebiert Träume metaphysischen Erschreckens oder Die Insel ist ein psychologisch-realistischer Roman - Vierzig oder wie man einen experimentellen Roman strukturieren kann - Der Vater, der Sohn und der (un)heilige Geist oder der Verlust des Ichs - Ein Zeitalter dreht durch - Todesfuge oder danteske Höllenvisionen - Eins, zwei, drei, vier, fünf oder Ecologie Von der Vollkommenen Sprache oder wieso das Deutsche „gruntza con lo Schwaino“ 1993 und 1994 erscheinen als Produkte der parallelen Arbeit auf den verschiedenen Werkbänken des Eco’schen Ateliers Die Suche nach der vollkommenen Sprache, deren Entstehung bereits auf das Foucaultsche Pendel eingewirkt hatte, und Die Insel des vorigen Tages, Ecos dritter großer Roman, in den wiederum Erinnerungen an die Illustrierte Geschichte der Erfindungen (des Segelschiff baus und vor allem der nautischen Instrumente und der Bestimmung der Längengrade sowie der dazu notwendigen Uhrwerke, aber auch der Taucherglocken und U-Boot-Entwürfe) einfließen. Doch auch Die Suche nach der vollkommenen Sprache, in der Eco meisterhaft die Geschichte der seit biblischer (und vorbiblischer) Zeit bis hin zu unserer eigenen Esperanto- und Computer-Ära unentwegt neu unternommenen Versuche darlegt, durch Wiederentdeckung oder Erfindung einer allen Menschen gemeinsamen Sprache, die Sprachverwirrung bzw. das Problem der Kommunikation zwischen Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, aber auch zwischen Menschen und anderen Bewohnern dieser Erde zu beheben, findet Eingang in diese neue Arbeit auf Ecos literarischer Werkbank, die im 17. Jahrhundert angesiedelt ist. In ihr debattieren u. a. der Würzburger Jesuitenpater Caspar Wanderdrossel und der piemontesische Adlige Roberto de la Grive unter Mobilisierung aller ih- <?page no="236"?> 218 Die Insel des vorigen Tages rer sprachlichen Kompetenzen, zu denen neben Deutsch, Italienisch, Französisch, Piemontesisch auch das „Gelehrtenlatein“ der Epoche gehört, über eben jene Sprachverwirrung, die bereits vor der Sintflut geherrscht habe, von Noah und seiner Familie jedoch kurzfristig überwunden worden sei. Diese nämlich hätten in der Arche zurückgefunden zur Ursprache, die Adam im Paradiese gesprochen und die seine Kinder nach der Vertreibung aus demselben vergessen hatten und die auch die Nachkommen Noahs fast alle wieder verlieren sollten am Tage der großen Verwirrung zu Babel. Alle, mit Ausnahme eben der Erben Gomers, des dritten Sohns Noahs und Stammvaters der kleinasiatischen Völker, aber auch der Gallier. Diese hätten die Ursprache in den Wäldern des Nordens aufbewahrt und an das Volk der Teutschen weitergereicht, wie Pater Caspar weiß (IT 271): Einzig die teutsche Sprache rede noch immer mit der Zungen der Natur, indem sie alles Getön und was nur einen Laut, Hall oder Schall von sich giebet, wol vernehmlich ausdrucket, denn sie donnert mit dem Himmel, blitzet mit den schnellen Wolken, stralet mit dem Hagel, sauset mit den Winden, brauset mit den Wellen, brüllet wie der Löw, plerret wie der Ochs […], gruntzet wie das Schwein, muffet wie der Hund […], mauet wie die Katz, schnattert wie die Gans […], summet wie die Hummel […], klappert wie der Storch und silket wie der Sperling. Kurz: nur im Deutschen habe die von Adam geschaffene Sprache überlebt, lässt Eco den Jesuitenpater in der Insel des vorigen Tages verkünden und löst damit selbst bei Elisabeth Endres, einer der wenigen wohlwollenden Kritikerinnen des deutschen Feuilletons, so viel Skepsis aus, dass sie Kroebers Übersetzung mit der italienischen Version vergleicht. Als sie da tatsächlich findet, dass Eco seinen Pater behaupten lässt, das Deutsche sei so natürlich, dass es sich im Stil aller Tiere artikuliere und sogar con lo Schwaino gruntza und con il Katzo maua, bricht sie ihre Rezension mit dem Titel Im Meer der Poesie in der Süddeutschen Zeitung vom 06. 03. 1995 amüsiert, aber skeptisch ab mit der Frage: „Wirklich? “ Die Insel oder das Feuilleton diagnostiziert „Trivialbarock pur“ Die Skepsis war unbegründet: der Text über die Teutsche Sprache als Weiterentwicklung der adamitischen stammt aus der Feder des großen Poeten und Dichtungstheoretikers Georg Philipp Harsdörffer (1607- 1658), dessen Thesen - modifiziert zwar, aber durchaus eindrucksvoll-- noch von einem Mathematiker und Philosophen namens Leibniz (1646-1716) vertreten wurden, wie man der Suche nach der vollkom- <?page no="237"?> 219 Die Insel oder das Feuilleton diagnostiziert „Trivialbarock pur“ menen Sprache entnehmen kann. Eco baut ihn in das Universalwissen seines Caspar Wanderdrossel ein, in dem der Würzburger Theologe und Mathematiker Caspar Schott (1608-1666) weiterlebt, der u. a. mit dem Jesuiten und Naturwissenschaftler Athanasius Kircher (1601- 1680), ebenfalls Professor in Würzburg, in Rom zusammengearbeitet hatte.* Aber gerade dieser Umgang mit authentischen Dokumenten provoziert den Zorn vieler Kritiker des deutschen Feuilletons,** die im Gegensatz zu Elisabeth Endres durchaus nicht eingestehen wollen, die von Eco zitierten Autoren gar nicht zu kennen, auch wenn dies ja eigentlich Anlass zur Beschäftigung mit der eigenen (Literatur-) Geschichte hätte sein können.*** Also tut man, als fühle man sich von Eco geradezu belästigt und gelangweilt, weil der den Text vollgestopft habe mit allzu Bekanntem, was man strategisch noch verfeinert, indem man unterstellt, Eco habe nicht einmal richtig verstanden oder „verdaut“, was er da von sich gebe. So erklärt Reinhard Tschapke in Die Welt vom 04. 03. 95, dass sich Ecos erzählerisches „Verfahren“ aus der (nicht weiter präzisierten) „klassischen Rhetorik“ herleite, dennoch aber - wie er ironisch anmerkt - nicht einfach als „Schaumschlägerei“ bezeichnet werden dürfe, obwohl es darin bestünde, den „Umfang“ des Textes so „auszudehnen“, wie man „eine Zitrone ausquetscht“. Und da „böse Zungen“ „vermuteten“, „die Bücher des Professors aus Bologna würden nur von professionellen Übersetzern zu Ende gelesen“, wolle er, Tschapke, noch hinzufügen, „dass auch Rezensenten durchhalten“ müssten, womit „dieses Buch mehr Leser“ habe, „als es verdiene“: „Im Übrigen steht der zentrale Satz auf Seite 469: ‚Das Ganze setzt sich aus lauter Nichts zusammen.‘“ Ganz ähnlich befindet Ulrich Baron am 17. 03. 95 im Rheinischen Merkur unter dem witzig gemeinten Titel Ein Buch, das man sich schenken kann, dass „Abseitiges und Absonderliches“ Die Insel fülle, die von Eco in offenkundiger Unkenntnis der Barockliteratur verfasst sei. Denn wer, wie (anscheinend) Baron, „die Epik und die Reisebeschreibungen dieser Epoche gelesen“ habe, wisse, „dass deren Charme, diese Mischung aus Derbheit und erzählerischen Manierismen, nur schwerlich nachzuahmen“ sei, ja, dass „im Barockroman“ eben nicht „alles erlaubt“ sei, was „dünne Geschichten“ wie Die Insel „zu dicken Büchern aufquellen“ ließe. Ecos Texte seien nichts als „eine gigantische Akkumulation“ „literarisch unbewältigter Bildungsgüter, die ein gelegentliches Aufflackern erzählerischen Esprits gnadenlos“ erstickten. Herausgekommen sei darum auch nur „Scheiße“, denn was „uns da geboten“ würde, erklärt dieser Kenner der Barockliteratur, sei das, „was die Franzosen als merde, die Italiener als merda, die eigen- <?page no="238"?> 220 Die Insel des vorigen Tages sinnigen Amerikaner als bullshit, wir Deutschen aber als großen Mist bezeichnen.“ Wer glaubte, dass damit die negative Reaktion des deutschen Feuilletons ihren Höhepunkt erreicht habe, muss sich von Andreas Kilb in Die Zeit vom 17. 03. 95 eines Besseren belehren lassen. Der Erzähler der Insel, schreibt Kilb, sei zwar „ein wackerer und erfindungsreicher story-teller“, der seine Geschichte sogar „in durchaus verbessertem Manierismus“ und „in einem kostbaren, nervösen, gelegentlich auch verkrampften Stil“ vortrage. Dieser aber „ströme“ leider „nicht ganz so breit dahin“, „wie er wohl gerne möchte,“ sondern verkomme zu „geschwätziger Prosa.“ Das liege offenkundig daran, dass nicht nur „der Erzähler“, sondern auch die Gestalten des Romans wie Roberto und Pater Wanderdrossel „in extenso und ad nauseam“ über Dinge reden müssen, die sie zwar nicht kennen, über die sie aber „in jenem wüsten Barockdeutsch“ reden müssten, „mit dem Ecos cleverer Komplize Burkhart Kroeber das Teutonenitalienisch der Originalfassung übersetzt“ habe, denn „hinter den sieben Ozeanen“ säße eben Eco, und der wisse (Kilb zufolge) „alles tausendmal besser als sie.“ Mit diesem Wissen habe es aber so seine Bewandnis, umfasse es doch „vornehmlich“ „Dichter und Denker“ „aus der zweiten Garde des Geistes, von den Hinterbänken des Parnaß, die von Nachruhm nur mehr schwach beschienen sind“, wie den „Epikuräer und Atomisten Pierre Gassendi“, Athanasius Kircher und dessen Schüler Caspar Schott, statt Descartes, Kepler und Galilei, oder Giambattista Marino, John Donne und den „Spanier Baltasar Gracián, der für Philipp IV. allegorische Erbauungsbüchlein“ geschrieben habe, statt Tasso, Shakespeare und Calderón. „Alle diese Klein- und Mittelgeister samt Anhang und Entourage“ würden von „Professor Dr. Umbertus Ecus“ in seiner „erhabenen Prosa-Ruine“ zitiert, „dazu der unvermeidliche Dante, Cervantes, Defoe, Balzac, Manzoni, Sue, Dumas père et fils und viele andere mehr.“ „Wer zu dem Privilegio verdammt ist, diesen Roman zu lesen, sollte den Brockhaus immer in Reichweite haben“, stöhnt Kilb und suggeriert, der „eher bemühte als begnadete Erzähler“ Eco, „der sich gerne hinter pompösen Konstruktionen und erlesenen Sprechblasen“ verberge, habe nichts anderes im Sinn, als mit nutzlosem Wissen anzugeben: „Bei Eco wird das Erhabene banal, weil er ihm angestrengt hinterherläuft, statt es beiläufig zu erwischen“, teilt Kilb mit. „Das große Spiel mit Raum und Zeit“, das der Roman sich vornehme, käme „nie wirklich in Gang, weil jeder Anlauf zum Erzählen sofort in einem Meer von Zitaten“ unterginge: „Die absurde Robinson-Situation, in der sich Roberto von Anfang bis zum Ende der Geschichte befindet, ist <?page no="239"?> 221 Die Insel oder das Feuilleton diagnostiziert „Trivialbarock pur“ auch die Tragödie seines alter ego Umberto: schiff brüchig zu stranden in einer ausweglosen Fiktion.“ Kilbs Verriss legt offen, warum ihm und vielen seiner Feuilleton- Kollegen Ecos Romane im Allgemeinen, Die Insel im Besonderen quer im Magen liegen: Man muss bei ihrer Lektüre nachdenken, was dem Prinzip vom intuitiv-kongenialen „Sich-Versenken“ in das Erleben des Anderen entgegensteht. Diese Entdeckung erklärt auch den Zorn, mit dem Sigrid Löffler am 10. 03. 95 im Wiener Literaturmagazin Falter Ecos Appell an den Leser, Die Insel entsprechend dem aristotelischen Verständnis der poetischen Wahrheit, die der historischen überlegen sei, zu lesen und zu bewerten, als einen „hysterischen Appell an den goodwill und die Geduld des Lesers“ denunziert. Der Anlass ist harmlos, der Verlust des bon sens auf Seiten der Kritikerin erschreckend, hatte Eco bzw. der Erzähler seines Romans doch (262) lediglich angemerkt, dass es für die Romanhandlung irrelevant sei, ob Roberto und sein Gefährte Wanderdrossel sich „wirklich“ mit ihrem gestrandeten Schiff auf dem „hundertachtzigsten Meridian“ befänden, denn für das Verständnis der Geschichte käme es nur darauf an, als wahrscheinlich zu akzeptieren, dass beide glaubten, dort zu sein. Da Literatur seit der Antike nach diesem Prinzip gestaltet wurde und wird, legt seine Disqualifikation als „hysterisch“ nahe, Sigrid Löffler, die Emanuele Tesauros Cannocchiale Aristotelico (1655), mit dem metaphorisches Denken zum Instrument poetisch-philosophischer Welterkenntnis erhoben wurde, sowie Graciáns Aphorismen zur Weltklugkeit aus dem Jahr 1647, die in ganz Europa Verbreitung gefunden hatten, 1831 von Schopenhauer mit dem Titel Handorakel übersetzt wurden und in der Tat zusammen mit dem Cannocchiale eine entscheidende Rolle in der Insel spielen, „als abwegigste Barock- Traktate“ bezeichnet, obwohl ihnen geschichtlich mindestens so viel Bedeutung zukommt wie Bretons Manifeste du Surréalisme, nicht wirklich ernstzunehmen, wenn sie befindet: „Der Roman ist so horrend unglaubwürdig und manipuliert seinen blödsinnigen Plot so tolldreist mit den hanebüchensten Zufällen, dass der gutwillige Leser zunächst nur vermuten kann, der Autor habe Parodistisches im Sinn.“ Dass dies offenbar nicht so ist, frustriert die Rezensentin umso mehr, als ihrer Meinung nach auch die „Lebensgeschichte“ des Protagonisten Roberto de la Grive nichts hergibt, weil dieser „nicht eben viel erlebt“ habe. Seine „Biographie“ erweise sich laut Löffler „als Patchwork diversester literarischer Genres des Barock“, und nachdem sich dann auch noch Wanderdrossel hinzugesellt habe, nähmen „die gelehrten Exkurse“ „endgültig überhand“: „Umberto Eco und sein Erzähler kennen da <?page no="240"?> 222 Die Insel des vorigen Tages keine Gnade. Rücksichtslos werden wir in die barocken Geheimnisse der Längengrade eingeweiht und mit einer Ikonographie und Symbolik der Taube behelligt […], müssen barocke Astronomie mit allen zeitgenössischen Irrtümern und Irrwegen sowie allerhand Phantastereien und Spekulationen über uns ergehen lassen und werden mit allerlei abwegigen Maschinen und Apparaten dieser automatensüchtigen Epoche bekannt gemacht.“ Die „albernsten Zeitsprünge ins Gestern“ würden „aufgetischt“, klagt Löffler, verkündet ihrem Leser: „Entkräftet siecht der Plot dahin, dem völligen Verlöschen entgegen.“, fragt verzweifelt: „Was sollte diesem verkorksten Konstrukt noch aufhelfen können? “, und erkennt endlich, dass Eco seinen Roman „immer hoffnungsloser in seinen Stoff-Fluten“ ersaufen lässt: „So erweist sich Die Insel des vorigen Tages als veritabler literarischer Schiff bruch. Die Hoffnung auf parodistische Intentionen hat der Leser längst aufgeben müssen: zu humorlos dunstet ihm aus jeder Romanpore der akademische Belehrungseifer des Professore Eco entgegen, der sich mit dem ganzen Enthusiasmus eines Sekundärliteraten der manieristischen Klitterung abstrusester barocker Vorlagen hingibt.“ Auch mit dieser Bravourleistung von Sigrid Löffler ist der Höhepunkt der Eco-Schelte noch nicht erreicht, denn mit welchem Zorn das deutsche Feuilleton auf Eco und seine Romane reagiert, lässt sich am eindrucksvollsten an der „Besprechung“ der Insel durch Johannes Saltzwedel in der Novemberausgabe 1995 des Spiegels ablesen. Noch bevor der Rezensent selbst etwas von sich gibt, tritt er zunächst einmal nach jener überaus seltenen, weil positiven Besprechung des Romans durch Elisabeth Endres, der Saltzwedel unterstellt, vom Hanser Verlag manipuliert worden zu sein. Der gleiche Vorwurf trifft den Übersetzer Kroeber, den auch Saltzwedel als Ecos „Komplizen“ apostrophiert, hatte sich dieser doch zusammen mit Stephan Sattler unterstanden, Eco in der Zeitschrift Focus einige Fragen zum Text und zu seiner Entstehung zu stellen, was Saltzwedel als „besseren Klappentext“ rubriziert. Doch dann legt der Spiegel-Rezensent selbst los. Die „Mär vom schiff brüchigen Piemontesen“ biete „das gewohnte Muster“: „In fetten Häppchen werden Alchemie, Allegorie und Allotria serviert, Stile, Sentenzen und Sinnbilder durchgehechelt, bis das Panoptikum des Grotesken komplett“ sei. „Es ist, natürlich, das Leben eines Weltmanns von enzyklopädischer Halbbildung: Davon gab es manche im Barock, und Eco möchte zu gern als einer ihrer Nachfolger gelten.“ Wen Saltzwedel als „Weltmann“ mit Vollbildung vor Augen hat, sagt er zwar nicht, aber der Spiegel-Leser erfährt, dass „Universalplauderer“ Eco voller „Angeberei“ „alles“ verwerte, „was nur irgenwie ba- <?page no="241"?> 223 Ecos poetische Weltall-Visionen „aus dem Bauch heraus“ rock aussehen könnte“, um mit diesen „Klischees“ „Trivialbarock pur“ zu produzieren, der „ziemlich langweilig“ sei, obwohl „Alleswisser Eco die Bildungsostereier“ „gegen Ende des Wälzers“ „nicht einmal mehr“ verstecke: „Autobiographisch verschmitzt und ohne Scheu vor Eitelkeit, läßt der Mailänder Faktenhuber seinen Helden aus italienischen Kriegswirren nach Paris enteilen, wo er, wie sollte es anders sein, den Großen des damaligen Europa begegnen darf “: „Für Porträts der Herrschaften“, nach denen sich der Rezensent zu sehnen scheint, bliebe „allerdings keine Zeit“, denn die brauche „Roberto, Umberto Ecos Alter ego, fürs eigene Weltbild - und für seine Hirngespinste“: „Da in der abstrusen Robinsonade echte Gegenspieler oder gar eine Frau aus Fleisch und Blut nicht erscheinen, muß der Schiff brüchige doch zumindest im Geist die Signora, deren Bild er zeitlebens nachjagte, beschwören.“ Kurz: „etwas viel Kopfarbeit.“ Ecos poetische Weltall-Visionen „aus dem Bauch heraus“ und seine „Ars Magna aus Fleisch und Blut“ Obwohl die Versuchung groß ist, darf man diesen monotonen Feuilleton-Singsang nicht ignorieren, ist doch das deutsch-italienische Verhältnis nicht nur konstitutiv für Ecos Gesamtwerk, sondern dessen Rezeption in Deutschland auch ein wichtiges Kapitel in der europäischen Kulturgeschichte. Um das zu verdeutlichen, sei zunächst festgestellt, dass die nahezu einstimmig negative Reaktion des deutschen Feuilletons auf Ecos Romane einmalig in der Welt ist. Sie lässt sich nicht einmal mit den durchaus zu vermeldenden Verrissen in Italien gleichsetzen, sind diese doch weitgehend politisch-weltanschaulich motiviert, kommen mehrheitlich von rechts bis rechtsradikal und werden durch eine katholisch-theologische Polemik gegen den gefährlichen Atheisten Eco ergänzt, die nach dem Namen der Rose begonnen hatte und 1993 mit dem Buch über Mensch, Teufel und Gott in der zeitgenössischen Literatur des Jesuiten Guido Sommavilla ihren Höhepunkt erreichen sollte*. Die deutschsprachige Feuilletonkritik hingegen ist nicht (oder zumindest nicht offen) politisch motiviert, sondern präsentiert sich als rein ästhetisch-literarische Wertung. Als solche aber steht sie sowohl hinsichtlich ihrer Radikalität als auch ihrer institutionellen Geschlossenheit isoliert da. In Frankreich z. B., wo die Übersetzung der Insel ein Jahr nach der deutschen erscheint, ist auch nicht eine einzige Rezension zu vermelden, die vergleichbar negativ wäre, von der hasserfüllten Tonart ganz <?page no="242"?> 224 Die Insel des vorigen Tages zu schweigen. Im Gegenteil: die französischen Kritiken sind positiv bis enthusiastisch.* Da aber anzunehmen ist, dass die französischen (oder spanischen, englischen, skandinavischen, asiatischen, amerikanischen) Literaturkritiker weder weniger intelligent, gebildet, sensibel, noch intelligenter, gebildeter und sensibler sind als ihre deutschen Kollegen, muss diese abgrundtiefe Differenz zwischen der internationalen und der deutschen Kritik logischerweise auf Wertungskriterien zurückzuführen sein, die nur vom deutschen Feuilleton vertreten werden, zumal weder die deutschen Geisteswissenschaftler, noch das breite deutsche Lesepublikum mit der Feuilletonkritik übereinstimmen. Während die einen ihrer Begeisterung offen Ausdruck verleihen,** stimmen die anderen über den Buchhandel ab: Auch Die Insel des vorigen Tages findet reißenden Absatz. Dass das Feuilleton darauf mit Polemik gegen die Wissenschaftler und Pöbeleien gegen die anonymen Leser reagiert, rundet das Bild ab: Die Wissenschaftler haben - laut Feuilleton - auf Grund mangelnder Lebenserfahrung sowieso keinen (kongenialen) Zugang zur Literatur, und die Millionen von Lesern, die das Feuilleton „einfach“ zu nennen pflegt und als deren Repräsentantin Dorothea von Törne z. B. in der Wochenpost vom 09. 03. 1995 ihre „Tante Amalie“ vorführt, sind zwar zu blöd, den Text zu verstehen, kaufen ihn aber dennoch, weil sie „bildungsbeflissen“ sind (oder weil sie gesellschaftlich mithalten wollen), und stellen ihn ungelesen ins Buchregal. Kein Zweifel: die deutschen Feuilletonkritiker stellen in Sachen Eco und speziell Insel des vorigen Tages eine radikale Minderheit dar, was umso frappierender ist, als ihre Kritik expliziter- und impliziterweise ein ebenso radikales Plädoyer für das darstellt, was man gemeinhin Trivialliteratur nennt. Der Roman sei zu schwierig, böte keinen spannenden plot, ließe sich nicht nachempfinden und entbehre dessen, was man laut Dieter Lenhard (Die Presse 25. 03. 1995) „im schönsten Wortsinn“ „romanhaft“ nennen könne: „das frische, spannende, originelle und anspruchsvolle Draufloserzählen.“ Dass diese Art Literaturkritik in der Konfrontation mit Ecos Werken nicht nur an ihre ebenso karikaturale Grenze, sondern wahrscheinlich langfristig sogar an ihr Ende gelangte, ist die eine, kulturgeschichtlich durchaus bedeutende Seite. Die andere sind die Gründe für dieses einzigartige Phänomen, die in der Existenz zweier deutscher Staaten nach 1948 zu suchen sein dürften. Ganz offensichtlich hatte das Postulat des sozialistischen Realismus, das seit Lukács mit einem Bekenntnis zur Narrativik nach dem Vorbild Balzacs, in der parteiamtlichen Version aber auch mit der dogmatischen Verurteilung der experimentellen Avantgarde als bourgeois und dekadent verbunden war,*** die westdeutsche Litera- <?page no="243"?> 225 Ecos poetische Weltall-Visionen „aus dem Bauch heraus“ turkritik derart unter Druck gesetzt, dass sie vor allem nach 1968-- aus Angst, jene Avantgarde-Literatur, die in der BRD von Heissenbüttel und Arno Schmidt bis Enzensberger und Michael Krüger vertreten wurde und 68 eine wichtige Rolle gespielt hatte, würde auch im Westen als unseriös-unbrauchbar in der Auseinandersetzung mit dem Ostblock eingestuft werden - ihr Heil in der Wiederbelebung der Trivialpositionen des Geniekults und im Bekenntnis zum bürgerlichrealistischen, psychoanalytisch „modernisierten“ Roman gesucht hat, einer Literaturkonzeption, die sich mit der Hinwendung zum nordamerikanischen Roman der Nachkriegszeit verband, nach 1968 in das gesamte (west)deutsche Feuilleton einzog und seit Beginn der siebziger Jahre in Marcel Reich-Ranicki ihren Propheten hatte. Für die Vertreter einer derartigen Literaturkonzeption müssen Ecos Texte schlicht Nicht-Literatur sein, und eine Literaturbewegung wie der 1960 von Queneau gegründete OuLiPo oder Ou(vroir de) li(ttérature) po(tentielle / Werkstatt für mögliche Literatur) kann von ihnen so wenig ernst genommen werden wie Queneaus (von Eco übersetzte) Exercices de style von 1947*, Georges Pérecs „lipogrammatischer“ Roman La disparition ohne den Buchstaben e von 1969, Jacques Roubauds nach mathematischen Formeln verfasste Märchen oder aber auch in letzter Konsequenz die Romane jenes anderen OuLiPo-Mitglieds Italo Calvino. Der französischen Kritik aber, die u. a. dank Louis Aragon nie einen unüberbrückbaren Gegensatz von traditioneller Narrativik und experimenteller Avantgarde gekannt hat, ist die Synthese des Kontradiktorischen absolut vertraut, was erklärt, wieso Kritiker wie Michel David (in La Quinzaine littéraire, 1.-15. 03. 1996), Alain Rey (in Le Nouvel Observateur, 14.-20. 03. 1996), aber auch ein Historiker wie Jacques Le Goff (Le magazine littéraire, März 1996) in der Insel sofort die Spuren Queneaus und Pérecs sowie die Affinität zum OuLiPo insgesamt erkannten. Darauf von Raphaël Sorin (L’Express, 15. 02. 96) und Fabio Gambaro (Le Monde, 16. 02. 1996) angesprochen, bestätigt Eco, dass sein Roman natürlich auch auf der Werkbank der Gruppe 63 geschmiedet wurde, und verweist auf dessen experimentelle Aspekte wie die Beziehung von Autor und Erzähler innerhalb des Textes oder die Idee eines Romans, den der Erzähler nicht zusammenkriegt und an dem der Protagonist mitschreibt. Tatsächlich ist die Insel wenn nicht der kühnste, so doch ohne Zweifel der erfolgreichste Versuch eines Mitglieds der Gruppe 63, poetische Innovation mit traditioneller Erzählstrategie zu verbinden, ein Experiment, mit dem Eco u. a. auch die deutsche neo- oder uralt-idealistische und damit auch die croceanische Literaturkritik provozieren <?page no="244"?> 226 Die Insel des vorigen Tages wollte: ein Roman und Anti-Roman in einem, ein ironisch-ernsthaftes Prosa-Epos mit V-Effekt, was u. a. bedeutet, dass die vom Spiegel denunzierte Elisabeth Endres völlig zu Recht von einem „Meer der Poesie“ gesprochen hat. Das Feuilleton aber merkt nicht einmal, dass Eco sich ganz offen über seine schnulzig-sentimentale Romankonzeption lustig macht und stolpert in jede Falle, die er ihm stellt. Denn dass es sich nur um eine Persiflage der Schleiermacher’schen Forderung handeln kann, sich mit Hilfe seiner Lebenserfahrung divinatorisch in den anderen zu versetzen, um diesen (bzw. seine Texte) kongenial verstehen zu können, wenn Eco über den Erzähler bzw. den fiktiven Redakteur des Textes (IT 273) jeden - also auch jeden deutschen Feuilletonisten - herausfordert, sich einsam auf einem verlassenen Schiff zu befinden, zwischen Himmel und Meer in einem fernen entlegenen Raum, und dann nicht davon zu träumen, daß es ihm in diesem großen Unglück nicht wenigstens beschieden sei, ins Zentrum der Zeit zu geraten, ist umso evidenter, wenn man bedenkt, dass Roberto de la Grive - gleich zu Beginn des Buches - mit dem Satz zitiert wird (7): Ich glaube, ich bin seit Menschengedenken das einzige Wesen unserer Gattung, das schiffbrüchig ward geworfen auf ein verlassenes Schiff. Statt darüber nachzudenken, warum diese de facto unrealisierbare Einladung ausgesprochen wird, hat es das Feuilleton vorgezogen, Eco zu tadeln, weil es unglaubwürdig sei, seinen Protagonisten nach einem Schiff bruch auf einem Schiff landen zu lassen, das ebenfalls gestrandet sei. Daher triumphiert der Spiegel-Kritiker denn auch, als er zu entdecken meint, dass Eco im - Kolophon überschriebenen - letzten Kapitel nun endlich „kleinlaut“ zugäbe, was ihm, dem Kritiker selbst, schon lange zuvor aufgegangen sei: dass (508) die Geschichte von Roberto de la Grive kein erzählenswertes Ende habe und damit den Leser unbefriedigt lasse, der nach einer moralischen Lehre Ausschau halte, weil sie zu wenig böte, um daraus eine Geschichte mit einem Anfang und einem Ende zu machen, zumal dem Erzähler oder Redakteur des Textes das tatsächliche Ende selbst nicht bekannt sei. Der Gedanke, dass Eco hier ironisch die Notwendigkeit unterstreichen könnte, auch diese opera ganz aperta zu belassen, kommt dem Kritiker nicht, und dass Eco befindet, dass es (433) keine schöne Art sei, mit dem Bauch zu argumentieren, wird ebenfalls nicht als Ironie wahrgenommen, vielleicht weil das Feuilleton in diesem Fall ausnahmsweise wenigstens den Kontext für „realistisch“ hält, lässt Eco seinen Roberto doch im Fieberwahn ein Universum erschauen, das die Form jenes Gebäcks aus Gemüse, Eiern und Schinken besitzt, das seine Mutter in Griva anzufertigen pflegte, wobei sie sich von der deutschen Obsttorte inspirieren <?page no="245"?> 227 Ein Protagonist, der „nicht eben viel erlebt“ hat ließ. Aber obwohl Eco damit den Beweis erbringt, dass Deutschland auch wesentlich an der Erfindung der Pizza beteiligt gewesen ist, lässt sich die deutsche Feuilletonkritik weder dadurch noch durch Ecos wirklich extremstes Zugeständnis an ihre eigene Romankonzeption dazu bewegen, seinen Roman positiv zu bewerten. Umsonst also mobilisiert auch Eco - (307-308) endlich! - die für korrektes Literaturverständnis unverzichtbare Kategorie des Schaffens aus „Fleisch und Blut“, wenn auch - vielleicht dadurch in die Irre geführt, dass die damaligen Naturwissenschaftler und speziell die Zoologen und Mediziner gern die Metapher der „Maschine“ für die Erforschung und Erklärung des Funktionierens von tierischen und menschlichen Körpern benutzten, wie Roberto de la Griva bereits als Jugendlichem (122-123) von einem Franzosen namens Saint-Savin beigebracht wird - nicht ganz im Sinn des Feuilletons. Der Apparat, mit dem Pater Caspar die Welt erforschen wollte und den er Specula Melitensis nannte, schreibt der Erzähler, müsse (307) tatsächlich eine Ars Magna in Fleisch und Blut gewesen sein, und er fügt hinzu: soll heißen in Holz, Eisen, Leinwand und anderen Materialien, eine Art Mega-Horologium, ein Liber Animatum oder Beseeltes Buch, das alle Geheimnisse des Universums aufzunehmen vermochte. Ein Protagonist, der „nicht eben viel erlebt“ hat, oder ewig-neue Lilia und alter punto fijo Ein Beseeltes Buch kann die Insel nach Ansicht mancher Kritiker schon deshalb nicht sein, weil Eco selbst bzw. der Erzähler ganz am Ende der Insel sagt (509): Was den Inhalt betrifft, nach dem wenigen, was ich habe entziffern können, sind es manieristische Stilübungen. Sie wissen ja, wie man damals schrieb … Das waren Leute ohne Seele. Und natürlich, wer mit den Regeln der Ironie nicht vertraut ist, der kann da auch einfach nicht vermuten, dass Eco seinen Erzähler das Gegenteil von dem sagen lässt, was er selbst meint, und im Übrigen ist auch kein Leser gezwungen, darüber nachzudenken, wieso die Leute um 1650 keine Seele hatten bzw. welche Wahrheiten wohl von Stereotypen garantiert werden und ob ein Sie wissen ja nicht gerade Aufforderung sein könnte, über das logische Gegenteil nachzudenken. Es kann also nicht wirklich was los sein mit diesem „blödsinnigen Spot“ und seinen Gestalten ohne „Fleisch und Blut“, auch wenn Aussagen wie die von Sigrid Löffler überraschen, der zufolge Roberto de la Grives „Lebensgeschichte“ mit zu „langem Atem“ vorgetragen sei, weil er „nicht eben viel erlebt“ habe. Um 1617 als Sohn des Landadligen Pozzo de <?page no="246"?> 228 Die Insel des vorigen Tages la Griva in der Nähe von Ecos Geburtsort Alessandria im Piemont geboren, lernt Roberto bereits als Kind Französisch, Italienisch und Piemontesisch, vertreibt sich die Zeit mit der Lektüre von Romanen und Ritterepen, muckt schüchtern gegen den autoritären Vater auf und reitet - auf Grund eines ebenso historischen wie grotesk-verwickelten Erbstreits um Mantua und die Markgrafschaft Monferrat, in dem spanische, französische und italienische Interessen aufeinanderstoßen und in den sich Pozzo einmischen will - mit diesem nach Casale, das von den Spaniern belagert wird und wo die militärische Lage so undurchsichtig ist wie der Erbschaftsstreit, der sich zu einem Unterkapitel des Dreißigjährigen Krieges ausgeweitet hat. Die Truppen bekämpfen sich, fraternisieren, bekämpfen sich wieder, leiden Hunger, plündern, morden Bürger, vergewaltigen Frauen, schießen mit Arkebusen und Kanonen oder lassen es sein, und der verängstigte Roberto kapiert, (59) daß die ganze Belagerung selbst nichts anderes ist, als ein Kapitel in einer sinnlosen Geschichte. Während er versucht, den Gefahren auszuweichen, gibt sich sein Vater heldenhaft-blöd und wird von einer Kugel mitten in die Stirn getroffen. Roberto kommt mit einer Augenverletzung davon, und während er die auszukurieren sucht, führt er Gespräche mit anderen Teilnehmern an der Belagerung bzw. Verteidigung, speziell mit jenem Saint-Savin, der ihm das mit den menschlichen und tierischen Maschinen erklärt hat, ein atheistischer Freigeist, in dem die Interpreten der Insel natürlich Savinien de Cyrano de Bergerac (1619-1655) erkannt haben. Er erteilt Roberto auch Fechtstunden, führt ihn in die Theorie des Romans nach dem Vorbild Pierre-Daniel Huets (1630-1721) ein, wobei der Figur des Doppelgängers besondere Bedeutung zukommt, und er erklärt ihm darüber hinaus, wieso in der Natur kein Grund zu finden sei, an Gott zu glauben, zumal auch die Existenz der unendlichen Zahl von Welten, die von der Astronomie garantiert würde und die man durch das Fernrohr betrachten könne, eine solche Existenz ausschlösse. Saint-Savin gerät darüber mit einem französischen Priester aneinander, der versucht, die Erkenntnis von der Vielfalt der Welt mit der Existenz Gottes in Einklang zu bringen, und als Saint-Savin ihn (141) höhnisch fragt, warum der Papst denn dann keine Missionare auf den Mond schicke, um den Mondkindern geistlichen Beistand zu gewähren, gerät der Abbé in derartigen Zorn, dass er (144) beim Bauch Gottes und bei allen verfluchten Heiligen des Paradieses schwört, Saint- Savin abstechen zu wollen. Das schafft er zwar nicht, Saint-Savin aber muss dennoch das Zeitliche segnen, trifft ihn doch der Fehlschuss eines Spaniers, was Roberto tief betrübt, da er dringend philosophische <?page no="247"?> 229 Ein Protagonist, der „nicht eben viel erlebt“ hat Welterklärungen benötigt. Denn inzwischen haben auch andere dazu beigetragen, Chaos in seine jugendliche Weltsicht zu bringen, so dass er der ruhigen Mitte des Seins verlustig ging, und zu diesen gehört Pater Emanuele, der als Schüler Pierre Gassendis (1592-1655) wie dieser den Lehren Demokrits und Epikurs über die Zusammensetzung der Welt aus unvergänglichen Partikeln oder Atomen anhängt und versucht, diese - in der Textproduktion - wie Gassendi (104) mit der Idee einer Gottheit zu versöhnen, die diese Atome nach Maßgabe der Vernunft zusammenfüge. Zu diesem Zweck hat Pater Emanuele wie sein historisches Vorbild Emanuele Tesauro (1592-1675) eine Textmaschine konstruiert, die er - Galilei und Aristoteles zu Ehren - das Aristotelische Fernrohr nennt, weil er mit ihr (im übertragenen Sinn) die Verknüpfung von Worten und Scharfsinnigen Ideen nach den Regeln der Kunstvollen Eloquentia bzw. (94) die Art & Weise, wie wir die Welt erkennen, so ergründen will, wie Galilei mit seinem Fernrohr die Zusammenhänge des Universums. Aristoteles nämlich, so Pater Emanuele, habe gelehrt (98), Ingenium sei nichts anderes als das Vermögen, die Objecta unter Zehn Kategorien zu durchdringen, als da wären Substantia, Quantitas, Qualitas, Relatio, Actio, Passio, Situs, Tempus, Locus & Habitus. Um diese Kategorien metaphorisch in Verbindung zu bringen, hat Pater Emanuele eine Kommode gebaut, in deren Vorderseite- - neben der Schublade A für die Substantia, von der immer auszugehen sei - einundachtzig Schubladen eingelassen sind: neun waagrechte Reihen auf neun senkrechte, jede Reihe oben und an der Seite, wie bei einem Schachbrett, beschriftet mit einem Buchstaben in der Abfolge BCDEFGHIK. Diese würden (100) per Walzen und Fortuna bzw. Zufall in Beziehung gesetzt und produzierten so Assoziationen aller unter den entsprechenden Buchstaben erfassten Kategorien von der Quantitas bis zum Habitus. Da Roberto just in Casale ein Bauernmädchen über den Weg läuft, in das er sich verliebt, das er aber nicht anzusprechen wagt, ja, das er sogar (130) verlegen nur nach dem Weg fragt, als er sich doch einmal erkühnt, das Wort an das Mädchen zu richten, bringen Saint-Savin und Pater Emanuele - mit philosophischem und stilistischem Rat - Roberto bei, Texte und speziell Liebesbriefe zu verfassen. Sie werden in dieser Erziehungsbemühung unterstützt durch den Spanier Salazar, der in der Realität als Baltasar Gracián firmiert und Roberto in einem Blitzkurs über Weltklugheit beibringt, dass es für einen Edelmann in dieser modernen Zeit, in der alle Kriege durch Maschinen entschieden werden, darauf ankäme, die Kunst des Dissimulierens zu erlernen, die nicht etwa lehre, vorzutäuschen, dass man eine Heldentat began- <?page no="248"?> 230 Die Insel des vorigen Tages gen, sondern zu verbergen, dass man sie nicht begangen habe. Dissimulierung hieße, kommentiert (118) ein weiterer adliger Gönner die Lektion von Salazar, dem Wahren ein wenig Ruhe zu geben, und Salazar ergänzt (119): Wenn Euer Schicksal und Euer Glück sich nicht auf dem Schlachtfeld entscheiden, sondern in den Salons bei Hofe, wird Euch ein guter Punkt im Gespräch mehr einbringen als ein guter Sturmangriff in der Schlacht. Roberto wird später versuchen, diese Ratschläge in Paris zu beherzigen, hat aber zunächst die Erkenntnis zu verdauen, dass das Universum ein Gewirr von Rätseln sei, hinter dem es keinen Urheber gäbe, und als (150) die feindlichen Armeen unter Austausch von Geschenken und Freundschaftsbekundungen abziehen, während in der Stadt die Leichen der Pestopfer in der Sonne verfaulten, die Witwen weinten und einige Bürger sich bereichert sahen, sowohl um klingende Münze wie um die Französische Krankheit, ohne anderen beigelegen zu haben als ihren eigenen Frauen, kehrt er zunächst einmal nach La Griva zurück und kümmert sich (158) um Aussaat und Ernte und seine Mutter. Erst als diese stirbt, bricht er über Aix, wo er Gassendi begegnet, auf nach Paris, um dort die Salons der honnêtes gens und der Preziösen, aber auch Gelehrten-Kabinette wie das der Brüder Pierre und Jacques Dupuy zu frequentieren und mit verschiedensten philosophischen Strömungen von Descartes bis Pascal sowie mit Literaten von Claude Emmanuel Chapelle (1626-1686) bis zum damals noch unbekannten Jean-Baptiste Poquelin (1622-1673), später Molière genannt, Bekanntschaft zu schließen. Aber auch mit einem seltsamen „Herrn d’Igby“, der in Wahrheit Kenelm Digby (1603-1665) hieß und der tatsächlich einen Traktat über das unguentum armarium oder das „sympathetische Pulver“ verfasst hat, ein Alchemie-Mittel, mit dem man auf Distanz Schmerzen stillen und Wunden heilen, aber auch verstärken zu können glaubte, indem man die Waffen, die verletzt hatten, damit bestrich. Denn - so erläutert Digby (170-176) - das Universum bestünde aus Korpuskeln, die alle Dinge miteinander in Allsympathie verbänden, so dass, wer das Pulver besitze, mit diesem auch auf andere Wesen einwirken könne. Um einer jungen Dame zu imponieren, die natürlich (wieder) Lilia heißt und die er in den Salons kennengelernt hat, der er sich aber wiederum nicht zu offenbaren wagt, hält Roberto in ihrer Gegenwart einen Vortrag über dieses Pulver, so als seien diese Theorien von ihm. Der Vorfall wird Mazarin zugetragen, der Roberto verhaften lässt, weil er ihn für einen Alchemisten hält und weil vor allem die These zirkuliert, man könne mit Hilfe dieses Pulvers den von allen Seefahrt- <?page no="249"?> 231 Ein Protagonist, der „nicht eben viel erlebt“ hat nationen der Epoche zwecks Bestimmung der Längengrade gesuchten punto fijo festlegen. Dazu, so glaubte man, müsse man nur einen verwundeten Hund an Bord eines Schiffes mitnehmen, um dessen Wunden zu einer bestimmten Uhrzeit täglich vom Festland aus per unguentum armarium zu reizen, so dass der Hund an Bord jaulen würde und man dort wüsste, wie spät es sei. So könne man die Koordinaten für die Fixierung des punto fijo bzw. der 360 Längengrade festlegen, in die man den Globus aufteilen wollte und im 19. Jahrhundert dann auch (wenngleich ohne jaulende Hunde) aufgeteilt hat, um zu einer, in der gesamten Welt gültigen Zeiteinteilung zu gelangen. Diese Einteilung gilt noch heute, wobei die Zeitgrenze, von der aus man den jeweiligen Tag festlegen kann, auf den 180. Längengrad festgelegt wurde, der die Welt in zwei Hälften teilt, von der die östlich vom 180. Grad gelegene der Zeitmessung nach tatsächlich zum vorigen Tag, die westliche Hälfte aber zum neuen Tag gehört. Ohne hier zu vertiefen, auf welches Verfahren man sich zur Erlangung einer gemeinsamen Weltzeit geeinigt hat, sei nur vermerkt, dass einige deutsche Kritiker zwar die in der Insel berichtete Suche des punto fijo mittels „sympathetischem Pulver“ und jaulendem Hund albern fanden, diese aber den Vor- oder Nachteil hat, geschichtlich authentisch zu sein. Für das Verständnis von Ecos Roman ist es daher nötig, zur Kenntnis zu nehmen, dass die nahe der Fidschi-Gruppe oder den Salomonen in Reichweite einer unbewohnten Insel gestrandete Daphne westlich des 180. Längengrades, also im Heute, die Insel selbst aber östlich davon, also im gestrigen Tag liegt. Auf diese Daphne nun wird 1643 Roberto gespült, als dort auch die Amarilli sinkt, auf die er von Mazarin und Colbert als Spion eingeschleust worden war, um herauszufinden, welche Methoden die Engländer anwandten, um den punto fijo festzulegen: Er wird die Daphne aber nicht mehr verlassen können, da er Nichtschwimmer ist. Gewiss, es geschieht nach Aussage des Textes noch mehr im Leben des Roberto de la Grive, der laut Feuilleton „nicht eben viel erlebt“ hat. Das zu hören dürfte alle deutschen Leser der Insel erfreut haben, die bei Erscheinen der Übersetzung so um die sechzig waren, hatten sie doch als Kinder in Hamburg, Köln, Berlin, Dresden oder Danzig - so wie Roberto - erleben dürfen, wie Städte bombardiert, Menschen ermordet und Frauen vergewaltigt wurden, hatten wie Roberto gehungert, hatten irrational-rassistisches Zeug verdauen müssen, hatten vielleicht sogar noch wie Roberto das Privilegio gehabt, Soldat spielen zu dürfen, um dann endlich, als der (so wie in Casale) sinnlose Krieg vorbei war, wie Roberto über die Heimatgrenzen hinausschauen zu <?page no="250"?> 232 Die Insel des vorigen Tages können, andere Weltinterpretationen - von Heidegger bis Sartre oder Marx, von Einstein über Freud bis Weizsäcker - kennenzulernen, Romane zu lesen und über Literatur- und Kunsttheorien - von Benjamin oder Lukács bis Adorno - nachzudenken und in München, Berlin, aber auch in Düsseldorf und vor allem in Paris, wo sich die Avantgarde traf und man Arp, Hartung oder Picasso bestaunen, mit Beckett auf Godot warten oder gar Queneaus Textmaschine bewundern konnte, die aus (natürlich) zehn Sonetten bestand, deren Verse streifenartig-separat gedruckt waren, und aus der man durch entsprechendes Umklappen der Versstreifen wie mit Pater Emanueles Aristotelischem Fernrohr unendlich viele Texte oder genauer Hunderttausend Milliarden Gedichte erzeugen konnte, alle möglichen Kunst-, Musik- und Textexperimente kennenzulernen. Kurz, das war wie damals im 17. Jahrhundert einfach keine Zeit, viel zu erleben. Die Vernunft gebiert Träume metaphysischen Erschreckens oder Die Insel ist ein psychologisch-realistischer Roman Genauer betrachtet, hat Roberto also viel erlebt in jenem religiös verbrämten Machtpoker des Dreißigjährigen Krieges, vor dem Cervantes 1617 mit seinem Roman von Persiles und Sigismunda, in dem eine nach stellarer Logik zusammengefügte katholisch-protestantische Freundesschar vom punto fijo der universalen Vernunft aus in riesiger Pendelbewegung von Skandinavien nach Rom und zurück den europäischen Wahnsinn inspiziert, umsonst gewarnt hatte und der Millionen Menschen das Leben kosten sollte. Und natürlich hat, was Eco ihn in La Griva, Casale, Paris und an Bord der Amarilli erleiden ließ, tiefe Spuren in seiner Seele hinterlassen, worauf der letzte Satz der Insel geradezu beschwörend verweist. Denn selbstverständlich hatte Eco beim Verfassen der Insel seine Überzeugung von der anthropologischen Identität des menschlichen Individuums von der Antike (und davor) über das Mittelalter zur Moderne, die seine Schriften zur Ästhetik des Mittelalters so bestimmen wie den Namen der Rose, nicht preisgegeben, zumal es sich bei den Menschen des Barock nicht wirklich um Prä-Neandertaler handelte. Die Anmerkung des Erzählers, dass die manieristischen Stilübungen der Epoche zeigten, dass die Leute damals keine Seele hatten, kann also nur ironisch gemeint sein, was u. a. noch dadurch unterstrichen wird, dass Eco der Insel Verse aus Giambattista Marinos Gedichtband Eco voranstellt, in denen sich die Verzweiflung einer einsamen Seele artikuliert, die niemandem ihr Leid mitteilen kann: „Tor! Zu wem spreche ich? Elender! Was versuche ich? / Ich er- <?page no="251"?> 233 Die Vernunft gebiert Träume metaphysischen Erschreckens zähle mein Leid / der gefühllosen Küste / dem stummen Stein, dem tauben Wind … / Ach, und es antwortet nichts / als das Murmeln der Wellen! “ Dergleichen haben andere und modernste Dichter auch zu sagen versucht. Haben sie ihr Seelenleid besser ausgedrückt? Mit anderen Worten: so wie die Menschheit über ästhetische Konzeptionen verfügte, bevor Baumgarten „die Ästhetik“ als Wissenschaftsdisziplin begründete, was Eco in seinen Arbeiten von Kunst und Schönheit im Mittelalter bis zum Namen der Rose unter Beweis stellt, so besaß sie natürlich auch, was die Griechen Psyche nannten. Eco nun stellt sich in der Insel die Aufgabe, auf die er den Leser mit den ersten und den letzten Zeilen des Romans verweist, ein Psychogramm jener Zeit zu erstellen, die wir Barock, aber auch Zeitalter des Rationalismus nennen, und die Anamnese der Jugend unserer Gesellschaft fortzusetzen, um die Traumata, Neurosen und Obsessionen besser verstehen und vielleicht sogar mit aristotelischer Vernunft besser ertragen und verwalten zu können, die unsere Gesellschaft heute schütteln, zumal sie sich - sollte Freud recht haben - auf Grund der anderen gesellschaftlichen Bedingungen zwar anders artikuliert haben, ihrem Wesen nach aber identisch gewesen sein müssen. Mit anderen Worten: sollten die Erkenntnisse der Psychoanalyse zutreffen, müsste die von ihr behauptete oder nachgewiesene Beschaffenheit der menschlichen Seele auch für die Psyche des Barockmenschen gelten. Die Frage ist also nicht, ob Menschen jener Epoche unter Zwangsneurosen litten oder nicht, sondern wie sie derartige Seelenzustände vor der Begründung der Psychoanalyse interpretiert und benannt haben. Genau das ist die Aufgabe, die sich Eco u. a. in der Insel des vorigen Tages stellt, und zwar nicht aus archivalischen Gründen, bibliophiler Besessenheit oder Angeberei, wie das deutsche Feuilleton unterstellt, sondern um unserer modernen Gesellschaft Möglichkeiten zu eröffnen, aus der Vergangenheit zu lernen. Und da der Philosoph, Historiker, Semiotiker und Literaturtheoretiker Eco aus diesem Grund gar kein Bedürfnis verspürt, unsere heutige Weltsicht unter Einschluss der Psychoanalyse zur Fabrikation von Historienromanen à la Walter Scott zu benutzen, auch wenn er sich deren narrative Techniken - von Manzoni über Alexandre Dumas fils und vor allem père bis Michel Tournier - zu eigen macht, wo sie seinen Zwecken dienlich sind, greift er für die Insel zu dem radikalen Mittel, so gut wie alles, was er die handelnden Personen seines Textes denken und sagen lässt, aus Dokumenten der Epoche beizubringen. Der „wahre Protagonist des fiktiven Geschehens“, schreibt Furio Colombo zu Recht über die Insel, ist „das <?page no="252"?> 234 Die Insel des vorigen Tages gesamte Wissen des 17. Jahrhunderts“, und Pierre Lepape ergänzt (Le Monde vom 16. 02. 1996), die Insel sei ein neuer Typ Historienroman, der von der Kulturgeschichte ausgehe, und nicht mehr von „politischen Tragödien und fürstlichen Bettgeschichten“. Dieses historische Material verwebt Eco mit Techniken und Strategien, die er in der Auseinandersetzung mit traditioneller Narrativik und experimenteller Textproduktion der verschiedensten Epochen kennengelernt und sich angeeignet, aber auch in der Werkstatt der Gruppe 63 selbst erarbeitet hatte, zu einem Gesamttext, der die Geschichtsschreibung um die Dimensionen ergänzt, die jene Anamnese ermöglicht, über die in der Insel Saint-Savin und Roberto in den Kategorien ihrer Zeit nachdenken. Gerade das aber hat ihm das deutsche Feuilleton als unoriginelle Zitatenhuberei angekreidet und ließ sich auch von Ecos Erkenntnis nicht beirren, dass jeder Text Palimpsest und der Glaube an eine jeweilige poetische Urschöpfung aus dem Nichts (oder dem Bauch), in der sich Originalität manifestiere, so irrational ist wie der Glaube an die creatio ex nihilo einer Universalsprache. Ecos Überzeugung, dass Originalität nichts anderes sein könne, als experimentelle Neustrukturierung existenten Sprach- und Formmaterials zwecks Ausweitung des Nachdenkens über das Sein, ist und bleibt für dieses Feuilleton unverständlich. Diese Überzeugung aber ist es, die Ecos experimentelle Textarbeit bestimmt, mit der er einen der realistischsten psychologischen Geschichtsromane aller Zeiten produziert, gelingt ihm in der Insel doch mit seiner Technik die plausible Gestaltung eines Individuums der Epoche, das natürlich auch von der Lebenserfahrung des Piemontesen Eco profitiert, das aber vor allem über eine historisch-wahrscheinliche Psyche verfügt, die absolut repräsentativ ist für die Empfindungs-, Denk- und Wissensstrukturen der Epoche. Dazu greift Eco auf Strategien des Denkens und Handelns zurück, die ihm von Dokumenten der Zeit und speziell von der Romantechnik des 17. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des Doppelgängermotivs geliefert werden und mit denen er auch jene seelischen Probleme durchspielt, die von der Psychoanalyse als konstante Strukturen und pathologische Erscheinungen diagnostiziert und rubriziert worden sind und die im Roman u. a. (87-89) von Saint-Savin bei der Erläuterung, was ein Roman zu behandeln habe, vorgestellt werden. Vom Ödipuskomplex über Bewusstseinsspaltung, Fehlleistung, Psychose, Hysterie und Abwehr-Neurose, ja bis hin zur Schizophrenie werden in der Gestaltung des krankhaft-schüchternen Protagonisten Roberto de la Grive, der unter dem Vater leidet und sich (wie Saint-Savin diagnostiziert) zum unbewussten Transfer von Schuldgefühlen bereits als Kind ein <?page no="253"?> 235 Die Vernunft gebiert Träume metaphysischen Erschreckens Doppel-Ich in der Gestalt eines Bruders namens Ferrante erfindet, zentrale Themen der Psychoanalyse einbezogen, und zwar nicht, wie bei Bewunderern dieser Wissenschaft üblich und von psychoanalytisch inspirierten Romanciers unentwegt praktiziert, um diese Phänomene als bedeutend vorzustellen oder um sich als kompetenten Seelenkundler auszuweisen, sondern um zu zeigen, dass die Leute jener Epoche durchaus in der Lage waren, mit den Denkfiguren, die ihnen zur Verfügung standen, auch die psychischen Dimensionen menschlichen Seins zu benennen, zu erforschen und gegebenenfalls sogar mit Mitteln der Epoche wie (211) dem Erzählen von Geschichten zu therapieren, obwohl die Psychoanalyse noch nicht begründet war. Doch auch das ist kein Selbstzweck. Der auf genauester Geschichtskenntnis gründende Roman will nicht die Biographie eines fiktiven und als solches eher uninteressanten Individuums liefern, um „Lesefutter“ anzufertigen und zur „Identifikation“ mit dem „Helden“ einzuladen, sondern er benutzt die Konstruktion dieser exemplarischen Individual-Vita, um über diese und zwecks Anamnese unserer eigenen Geschichte den Blick auf die Geistes- und Mentalgeschichte der gesamten Epoche zu eröffnen, die in gleichem Maße von Rationalismus und Irrationalismus determiniert war. Das macht es notwendig, wie Lepape ebenfalls richtig diagnostiziert, den Blick gerade auf jene Theologen, Philosophen, Wissenschaftler und Literaten zu werfen, die heute in Vergessenheit geraten sind, damals aber das gesellschaftliche Denken und Empfinden gleichberechtigt, wenn nicht gar majoritär mitbestimmten. Wenn die deutsche Feuilletonkritik darüber spottet, dass Eco sich mit den „Hinterbänklern“ der „zweiten Garde“ abgibt, statt die großen Gestalten wie Kepler, Galilei, Descartes oder Spinoza vorzustellen, dann übersieht sie nicht nur die Tatsache, dass deren Werke, weil bekannt, kaum der Vermittlung über Romane bedürfen, sondern unterstreicht auch noch in dieser Hinsicht ihr Missverständnis der Eco’schen Romane, plädiert sie doch für die traditionelle und nach Eco einseitige bis falsche Geschichtsschreibung aus der „Siegerperspektive“, die sich mit dem begnügt, was ihr heute als bedeutend erscheint oder was ihren eigenen Kriterien von logischer Menschheitsentwicklung entspricht. Gewiss, da gab es Colbert und die von ihm kontrollierte rationale Staatsverwaltung, den Ausbau von Straßen, Kanälen, Manufakturen, die Förderung von Technik und Maschinenbau, kurz all das, was die Intellektuellen um Charles Perrault als Beweis für die Überlegenheit der Modernen über die Alten betrachteten. Aber es gab auch die Aufkündigung des von Henri Quatre errrungenen Religionsfriedens, die <?page no="254"?> 236 Die Insel des vorigen Tages Vertreibung der Hugenotten, die Scheiterhaufen, auf denen Ketzer, Hexen, Philosophen und Wissenschaftler wie Giordano Bruno brannten, ein Schicksal, dem Galilei 1633 nur durch Abschwören entging, und es gab jenen Weltkrieg, der dreißig Jahre währte und mit der Implosion des Spanischen Imperiums endete und mit der Zersplitterung und Verelendung der deutschen Nation, deren Folgen bis in unsere Gegenwart reichen. „Rien n’est encore joué“, kommentiert Lepape, und tatsächlich: Noch war in diesem Chaos nichts entschieden, noch war alles offen wie das Ende dieses Romans, und ob das, was danach kam, in allem der Weisheit letzter Schluss war, sollte mit Blick auf den Wahnsinn beantwortet werden, den die Welt von damals bis heute erleiden musste. Die Geschichtsschreibung jedenfalls, die sich auf das heute als wichtig oder richtig Verstandene beschränkt, betreibt Geschichtsfälschung, der Eco den Blick auf die historische Wirklichkeit entgegensetzt, wie der Bochumer Philosophiegeschichtler Kurt Flasch konstatiert. In einer brillanten Besprechung der Insel, für die ihm die FAZ am 18. 03. 1995 zwei Seiten einräumt und damit in Sachen Insel des vorigen Tages die Ehre des deutschen Feuilletons rettet, ruft er in Erinnerung, dass die Erde „seit Kopernikus ihr eindeutiges Oben und Unten verloren“ hatte und „aus dem Zentrum des Universums gerollt“ war: „Das Zeitalter der Vernunft sucht einen definitiven Halt und gerät dabei an die Ränder seiner Welt und seines Denkens. Die Vernunft, soeben von Galilei und Descartes zum Triumph über alte Vorurteile geführt, gebiert am Tage danach utopische Visionen und Träume metaphysischen Erschreckens. Sie erfährt, wie zufällig diese Welt und damit sie selbst ist.“ Das alles zeige Ecos Roman, der, wie Flasch dankenswerterweise feststellt, „nicht aus dem Bauch geschrieben“ sei, „sondern mit dem Kopf und dem Computer“, und der mit seinem vorgeblichen „Nihilismus“ den Zorn der „neuen italienischen Rechten“ ausgelöst habe. Doch wenn dieser Roman auch „von der Zerstörung der ‚klassischen Vernunft‘“ handle, so Flasch, feiere er doch „keineswegs das Ende aller Vernunft“: „sie gewinnt sich zurück als Zweifeln, als ständiges Zurückgehen hinter anerkannte Prämissen.“ Vierzig oder wie man einen experimentellen Roman strukturieren kann Auf der Erde, die nicht mehr der Mittelpunkt des Universums sein kann, weil wissenschaftlich erwiesen ist, dass es in diesem unendlich viele Welten gibt, ist spätestens in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, das laut Philosophiegeschichte den Rationalismus triumphieren <?page no="255"?> 237 Vierzig oder wie man einen experimentellen Roman strukturieren kann sieht, ein Zeitalter angebrochen, das zwischen den Polen des unbeirrbaren Gottesglaubens und der wissenschaftlichen und tendenziell skeptischen bis atheistischen Welterkenntnis, zwischen religiösem Fanatismus und Zusammenbruch der christlichen Welt oszilliert. Ecos Text zeigt, wie sich dieses Chaos in Verstand und Seele eines Individuums widerspiegelt, das bemüht ist, Ordnung in der Unordnung zu entdecken, das aber letzlich auch mit seinem Versuch, über die Liebe zwischen Mann und Frau und deren Sublimierung im poetischen Schreibakt den Sinn des Seins wiederzufinden, scheitert und in der Ratlosigkeit untergeht, die zum Wahnsinn auswuchert, welcher am Ende eindeutig nicht mehr als individueller, sondern als gesamtgesellschaftlicher Befund ausgewiesen ist. Natürlich könnte man sagen, dass dies alles literarisch gar nicht darstellbar sei, obschon nicht ganz ersichtlich wäre, wer aus welchen Gründen und nach welchen Kriterien solch eine normative Ausgrenzung vornehmen dürfte, hatte doch Apuleius bereits im 2. Jahrhundert n. Chr. mit seinen Metamorphosen einen Roman verfasst, der die vom blinden Zufall namens Fortuna beherrschte Totalität der damaligen irdischen Welt mit Ausblicken auf die der Götter verbindet und der darüber hinaus auch noch von einem Esel erzählt wird. Richtig aber ist, dass ein so komplexes Thema nicht unbedingt für das vom Feuilleton erwünschte „Draufloserzählen“ „aus dem Bauch heraus“ geeignet ist, sondern Erproben und Einsatz neuer Erzählformen notwendig macht, eine Erfahrung, die auch Apuleius hatte machen müssen und die vom Manzoni-, Nerval-, Joyce-, Queneau-Spezialisten Eco auch keineswegs auf die leichte Schulter genommen wurde. Jacques Le Goff spricht denn auch im magazine littéraire mit vollem Recht von einem „virtuosen Spiel“, und Kurt Flasch erkennt im Gegensatz zum Feuilleton, dass die Insel „ein komplexes System von Erzählungen“ sei. Nebem dem Vorbild des Bildungsromans entdeckt er das des Polit- Thrillers, der Abenteuerromane und Seefahrergeschichten, aber auch des philosophischen Romans à la Candide, um dann völlig korrekt zu befinden, dass „dieses Buch nicht nach seinen Vorgängern“, „sondern nach seinem eigenen theoretischen Gehalt und seiner künstlerischen Form“ zu bewerten sei, weil das erwähnte „komplexe System von Erzählungen“ „genau betrachtet“ „ein Anti-System von Erzählungen“ ist, was nur den Schluss zulässt, dass dieser Roman den traditionellen Erzählformen gleichermaßen entspricht und widerspricht, womit Flasch präzise das Ziel der Romanexperimente der Gruppe 63 benennt. Das Verblüffende ist, dass Eco den Leser geradezu demonstrativ auf eine der wichtigsten Techniken hinweist, mit der er seinen Text <?page no="256"?> 238 Die Insel des vorigen Tages komponiert: die Zahlensymbolik, die zwar in allen Kulturen eine Rolle spielt, in der christlichen aber geradezu konstitutiv ist für die Weltbenennnung und -deutung, aber auch für (sakrale) architektonische und künstlerische Gestaltung, und die im Barock geradezu schwindelerregend alle Bereiche des religiösen und nichtreligiösen Denkens durchdringt. Nicht nur, dass Pater Emanueles Denkmaschine, das Aristotelische Fernrohr, die Zahl ZEHN zum Prinzip ihrer Kategorien-Kombinatorik erhebt. Auch die mysteriöse Specula Melitensis, das Maltesische Observatorium, das auf den punto fijo des Denkens verweist und dessen Mitte von einem Kubus gebildet wird, ist von der Zahlensymbolik determiniert, wie Pater Caspar (IT 307-310) begeistert darzulegen sucht. Er gleitet dabei jedoch in so viele Detailauskünfte ab, dass der Erzähler, der Pater Caspars Beschreibung der Seiten EINS, ZWEI, DREI des Kubus referiert und dabei vor allem die DRIT- TE wiedergibt, die in SIEBEN Rädern die Gesamtheit der Astrologie enthalte, nur noch die Seite VIER des Kubus meldet, die alle Wunder der Medizin botanischer, spagirischer, chemischer und hermetischer Art anzeige, und eine Pyramide beschreibt, die ebenfalls zur Specula Melitensis gehöre und deren VIER Seiten die vier Weltgegenden darstellen sollten und für jede von ihnen die Schriften und Sprachen der dort lebenden Völker enthielten, einschließlich der Adamitischen Ursprache, dann aber resigniert. Schon von der Seite FÜNF kann er nur noch vage berichten, sie könne so etwas wie das Dach des Kubus sein. Doch damit sind auch bereits die für den Text der Insel entscheidenden Zahlen genannt, die im Übrigen auch die wichtigsten der christlichen Zahlensymbolik sind, zumal sie in Addition und Multiplikation alle anderen Zahlen bilden können, wie man aus DREI und VIER ableiten kann, welche die gerade erwähnte SIEBEN ergeben, mit der natürlich (u. a.) der Tag bezeichnet wird, an dem Gott nach der Schöpfung ausruhte. Dass die EINS allein Gott repräsentiert, die ZWEI „die zwei Naturen in Christo“, das Alte und das Neue Testament, „Kirche und Synagoge“, „Diesseits und Jenseits“, „vita activa und contemplativa“, „Sonne und Mond“ sowie „die Brüste der Braut im Hohenlied“, gehörte noch bis vor kurzem ebenso zum Allgemeinwissen eines kultivierten Europäers* wie die Bedeutung der heiligen Zahl DREI, des „Symbols des dreieinigen Gottes“, Vater, Sohn und Heiliger Geist, aber auch der „Söhne Noes“, der „Marien der biblischen Geschichte, der Magier und ihrer Geschenke“, der „drei theologischen Tugenden“, der „drei Weltteile (Asia, Africa, Europa)“, der „dreifachen Zeit der göttlichen Heilsordnung (tempus ante legem, sub lege, sub gratia)“, oder endlich die Zahl VIER, die auf die vier Evangelisten verweist, auf die <?page no="257"?> 239 Vierzig oder wie man einen experimentellen Roman strukturieren kann vier Weltgegenden, die Pater Casper erwähnt, aber auch auf ADAM, die vier Jahreszeiten, die Lebensalter, die Tageszeiten oder die Kardinaltugenden. Das vielleicht Frappierendste an der VIER freilich ist, dass die Quersumme ihrer Bestandteile, also die Summe von 1, 2, 3, und 4 wiederum die Zahl ZEHN ergibt, die - Pater Emanuele hätte das genauso gewusst wie Raymond Queneau - „alle anderen Zahlen in sich“ einschließt, für die Produktion von Texten geeignet ist und im Übrigen für die Zehn Gebote steht. VIER mal ZEHN aber, die Multiplikation dieser Zahlen, ergibt VIERZIG, und dass diese Zahl für den Text tatsächlich besonders wichtig ist, zeigt ein Blick in das Inhaltsverzeichnis, umfasst dieses doch sorgfältig durchnummerierte VIERZIG Kapitel, was angesichts der Kapitel-Symbolik des Namens der Rose und des Foucaultschen Pendels nicht ohne Bedeutung sein kann. Gott ließ es vierzig Tage und vierzig Nächte lang auf die Erde regnen, sagt die Bibel, heißt es denn auch im Kapitel 21 der Insel, in dem auch mitgeteilt wird, dass die Daphne tatsächlich in der Nähe der Salomonen am 180.-Längengrad gestrandet ist, und die Wasser, so heißt es weiter (263), stiegen auf der Erde, bis sie die höchsten Berge bedeckten, und sie gingen sogar noch fünfzehn Ellen über die höchsten Berge, und so bedeckten sie die Erde hundert und fünfzig Tage lang. So weit so gut, fügt der Erzähler hinzu, das Problem sei nur, dass Pater Caspar empirisch erfahren habe, wieviel Wasser vom Himmel komme, wenn es mal einen Tag und eine Nacht hindurch regne, und dass diese Menge mal VIERZIG multipliziert nie und nimmer die gantze Erden bis zu den höchsten Bergen vollregnen kann. Das klingt lustig, ist aber ernst gemeint, kommt in dieser Anekdote doch der Konflikt zwischen religiösem Glauben und wissenschaftlicher Welterkenntnis zum Tragen, der die Epoche erschüttert und den der epikureische Atomist und christliche Theologe Gassendi dadurch aufzulösen sucht, dass er Gott zum Schöpfer und ordnenden Prinzip auch der Atomwirbel befördert, aus denen Gassendis Überzeugung nach das Weltall besteht. Und genau diese Aufhebung der Dichotomie versucht der Mann der Kirche, Pater Caspar, als Schüler Gassendis an Hand der Sintflut zu beweisen, denn (263) als Mann der Wissenschaft wollte er das Wort der Heiligen Schrift mit den Forschungsergebnissen seiner Zeit in Einklang bringen, und dabei kommt ihm der 180. Längengrad zu Hilfe. Pater Caspar begreift plötzlich, wie Gott das mit der Sintflut geschafft hat: Der Herr hat sich ganz einfach auf eben jene Linea begeben und - um die Erde nach biblischem Maß zu überfluten - zusätzlich zum Regen das Meerwasser (268) von gestern auf die Welt von heute gegossen, und <?page no="258"?> 240 Die Insel des vorigen Tages das vierzig Tage lang: Sine miraculo, naturaliter! Und naturaliter hat er sie dann auch wieder trocken gekriegt (269): Als es nit mehr regnete, schien die Sonne, und ergo ist das Wasser mählich verdampffet. Dieses und anderes mehr bewegt Kurt Flasch dazu, festzustellen, dass der Roman „in Wirklichkeit nicht auf dem 180. Längengrad, sondern auf der Oszillationslinie zwischen Gassendi und Pascal“ oder zwischen Glauben und Vernunft spiele, was zwar richtig, aber nicht alles ist. Die Zahlensymbolik nämlich erlaubt es Eco, seinen experimentellen Text über die Weltsicht der Individuen des Barock so zu strukturieren, dass Pater Caspar und Roberto nicht nur über den 180. Längengrad bzw. die Datumsgrenze sprechen. Eco teilt vielmehr das Universum seines Textes so ein, dass dieser - wie andere experimentelle Texte des Barock oder des 20. Jahrhunderts - auch mit seiner Form ausdrückt, was die Worte sagen: Die Diskussion zwischen Pater Caspar und Roberto über den 180. Längengrad findet nach Auskunft des Erzählers am 180. Längengrad statt, weswegen er sie in das 21.-Kapitel bzw. in die Gegend knapp westlich des Meridians platziert, der seinen Text in die östliche Halbkugel der Kapitel 1 bis 20 und in die westliche der Kapitel 21 bis 40 teilt. Während Roberto in Kapitel 1 aus den Wassern des Pazifiks aufersteht, um von da bis zur Datumsgrenze zwischen dem Ende des Kapitels 20 und dem Beginn des Kapitels 21 mit der Erzählung seiner Vita noch einmal das Gestern zu durchqueren, wird er nach Überschreiten der Datumsgrenze definitiv - zum Westen oder Abend hin - dem Totenreich entgegengleiten. Jeder Leser kann das sehen. Der Vater, der Sohn und der (un)heilige Geist oder der Verlust des Ichs Die Beachtung der Zahlensymbolik, mit der Eco auch humorvoll auf Galileis Überzeugung verweist, dass das „gigantische Buch“ der Philosophie, das vom Universum gebildet würde, „in mathematischer Sprache“ geschrieben sei, und über die - falls nötig - eine Fülle leicht zugänglicher Manuale informiert, erleichtert das Verständnis der Insel erheblich. Und da davon auszugehen ist, dass Europäer mit normaler Schulbildung schon einmal etwas von der Dreifaltigkeit Gottes gehört haben, sollte man vielleicht mit dieser beginnen, zumal man dazu ja nur bis DREI zu zählen braucht. Es hat darüber hinaus noch den Vorteil, lustig zu sein, wie man z. B. am Namen des Herrn Pozzo di San Patrizio ablesen kann, der sich nach seiner Besitzung im Piemont auch della Griva oder - da er dreisprachig ist - auch französisch de la Grive nennt. Eine italienische Version ist nicht bekannt, was lo- <?page no="259"?> 241 Der Vater, der Sohn und der (un)heilige Geist oder der Verlust des Ichs gisch ist, denn piemontesisch griva und französisch grive bezeichnen einen Vogel, der auf Italienisch tordo heißt, womit nichts anzufangen wäre. Oder doch nur insoweit, als tordo (lateinisch turdus) die gesamte Vogelfamilie bezeichnet, zu der auch der französische merle bzw. der italienisch-piemontesische merlo gehört, womit der Vogel gemeint ist, den man auf deutsch Amsel nennt, während griva oder grive die Drossel bezeichnet. Oder umgekehrt. Oder beides durcheinander. Denn wie man - wenn man will - ornithologischen Handbüchern entnehmen kann, geben selbst Vogelkundler zu, dass es problematisch ist, die eine Turdus-Sorte von der anderen zu unterscheiden, was der französische Volksmund dadurch ausdrückt, dass er sagt: „faute de grives, on mange des merles“ - „wenn man keine Drosseln hat, isst man Amseln.“ Der Volksmund weiß übrigens auch, dass dieser Vogel sich gern an Beeren berauscht, so dass er in Frankreich von Leuten, die einen über den Durst getrunken haben, sagt, der sei besoffen wie eine Drossel, während er in Deutschland von einer Schnapsdrossel zu sprechen pflegt. Diese Volksweisheit erklärt auch, warum sich an Bord der Daphne so viele Branntweinfässer befinden, erlauben diese doch Roberto, seinen französischen Drosselruf zu bestätigen und so viel von diesem Getränk zu konsumieren, dass er besoffen wie eine deutsche Schnapsdrossel die Todesängste und -visionen an Bord der Daphne leichter erträgt. Aber das ist vielleicht nicht ganz so wichtig wie die Tatsache, dass Roberto, der Sohn des Pozzo, an Bord der Daphne - man weiß zunächst nicht genau, ob im Schnapsdelirium oder realiter - jenen älteren Herrn trifft, der sich als Theologe und Universalgelehrter aus Würzburg vorstellt, Caspar mit Vornamen heißt, und - ein Zufall mehr in dieser von Zufällen bestimmten Welt - im Übrigen denselben Familiennamen hat wie Roberto, nur auf Deutsch, nämlich Wanderdrossel oder van bzw. von der Drossel, eben de la Grive oder della Griva. Ein noch größerer Zufall dann endlich, dass noch eine dritte Gestalt an Bord der Daphne bzw. in den Todesvisionen des Roberto erscheint, die della Griva oder von der Drossel heißt, nämlich der von Roberto als Kind (438) aus Groll über eine in Wahrheit nie erlittene Beleidigung erfundene Bruder Ferrante, der logischerweise körperlos und damit das sein müsste, was man im Deutschen ein Gespinst oder Gespenst nennt. Kurz: ein Trugbild, auch einfach Geist genannt, welch letzteres Wort laut Johann August Lehningers Neuem Deutsch-Italienischen Wörterbuch im Italienischen folgende Bedeutungen hätte: „spirito, der heilige Geist, lo spirito santo, der böse Geist, il demonio, diavolo, spirito maligno, ein Geist oder Gespenst, spirito, spettro“. Das italienische spi- <?page no="260"?> 242 Die Insel des vorigen Tages rito hingegen macht nach Auskunft des vom selben Lehninger edierten und übersetzten Nuovo Dizzionario Italiano-Tedesco von Annibale Antonini folgende Erläuterungen nötig: „ Geist, der böse Geist, Teufel […] das Gemüth, Seele […] Verstand, Witz, Athem […] das Leben, die Sinne, Lebensgeister […] Complexion, natürliche Beschaffenheit, Fähigkeit […] Spiritus, Essenz.“ Darüber hinaus kann spirito je nach Kontext oder Adjektiven „ein Mensch überhaupt“ sein mit folgenden Präzisierungen: „ein boshafter Mensch […] ein eifersüchtiger Mensch […] ein Widersprecher, Habrecht“, der folgende, immer noch spirito genannte Eigenschaften besitzen oder ausüben kann: „Anreizung, Einblasen, Eingeben […] den bösen Geist der Eifersucht, Offenbarung […] durch Eingebung zukünftige Sachen wissen, Frömmigkeit, geistliches Wesen […] sich dem geistlichen Leben, Uebungen ergeben […] entzückt seyn, in Entzückung gerathen, eine Inspiration haben“, aber auch - und damit ist es natürlich aus wie im Roman - „render lo spirito, sterben.“ Man könnte fast vermuten, Eco habe diesen Dizzionario konsultiert, als er die Insel schrieb, liest sich die Beschreibung des spirito- Begriffsfelds doch wie eine Kurzcharakteristik der beiden feindlichen von der Drossel-Brüder, zu denen sich noch der dritte gesellt, jener Caspar della Griva. Das ist insofern logisch, als das bekannte französische Sprichwort - wahrscheinlich als sakrale Humoreske - besagt: „jamais deux sans trois“, was im deutschen Pendant etwas heuchlerisch „auf einem Bein kann man nicht stehen“ lautet und womit (zwar nicht nur, aber vor allem) zum Konsum von spiritus vini oder Weingeist bzw. Schnaps aufgefordert wird. Damit aber der Leser der Insel nicht glaubt, es ginge nur um Wortwitze führt Eco eine unmissverständliche Präzisierung ein, denn Caspar von der Drossel ist Pater, was auf Deutsch - jeder Katholik müsste dies auch heute noch wissen - Vater heißt. Wir haben also mit Caspar von der Drossel oder de la Grive einen VATER, mit Roberto de la Grive oder von der Drossel einen geradezu exemplarischen SOHN, der nicht aufhört, über sein Sohnsein nachzudenken bzw. unter ihm zu leiden, und mit Ferrante della Griva einen ebenso exemplarischen (bösen) GEIST, auch wenn beide Robertos Imagination entspringen, wie er selbst in lichten Augenblicken ahnt oder begreift, lässt er sich - immer weiter vom Leben abdriftend, immer tiefer in Agonie versinkend - doch von Ferrante bestätigen, dass dieser (456) nie jemand anderen als Vater und Mutter gehabt habe, als Robertos kranken Geist, und (448) erkennt er doch während einer Nacht voll wüster Träume, dass auch Pater Caspar niemand anderes ist, als er selbst, um zu begreifen, dass seine Projektionen, von denen er Erleich- <?page no="261"?> 243 Ein Zeitalter dreht durch terung erhofft hatte, umschlagen in ewige Höllenqualen. Dreimal zu leben, ruft ein mumifizierter Alter (441) auf einer weiteren imaginären Insel zwischen Diesseits und Jenseits seinem Doppel-Ich Ferrante zu, um erst das Doppelte und dann das Dreifache seiner selbst zu werden, bereite große Kümmernisse, und am Ende wisse man nicht mehr, wer man sei. Mehr noch: die gleichen Leiden dreimal zu erleben, sei eine Strafe, aber eine große Strafe sei es auch, die gleichen Freuden abermals zu erleben. Die Freude am Leben komme aus dem Gefühl, daß sowohl Lust wie Trauer jeweils nur kurz andauern, und wehe uns, wenn wir wüssten, daß uns eine ewige Glückseligkeit beschieden wäre. Ein Zeitalter dreht durch Die Zahlensymbolik und speziell die säkularisierte Dreifaltigkeits- Metaphorik dient Eco nicht nur dazu, offenzulegen, was man seit der Bibel wusste und was u. a. Racine zur Komposition seiner Klage eines Christen über die Widersprüche, die er in seinem Innersten verspürt (1694) veranlasste, dass nämlich (mindestens) zwei Seelen in der Brust des Menschen wohnen, sondern mit den unbegrenzten Ramifikationen, die diese Metaphorik in die Vergangenheit (mittels Vater- Komplex) und in die Gegenwart und damit auch die Zukunft (mittels Projektion oder Doppelgänger-Motiv) ermöglicht, den Blick über das Individuum hinaus auf die gesamte Gesellschaft zu richten. Denn dass ein Individuum krank ist, mag tragisch sein: die Katastrophen der Menschheit resultieren jedoch aus kollektivem Wahn. Diesen darzustellen gelingt Eco mit seiner kühnen Erzählstrategie, zu der auch und vor allem die Schnapsidee gehört, den schiff brüchigen Roberto bewusstlos an die Daphne treiben zu lassen, auf die er sich zwar noch hinaufquälen kann, weil (8) ein Sterbender in einem Moment der Hoffnung noch einmal zu einem Herkules werden kann, auf der er aber wenig später in Fieberwahn verfällt und in Agonie hinübergleiten wird. Denn was so viele Kritiker zu ironischen Kommentaren veranlasst hat, besitzt eine durchaus erkenntniskritische Funktion. Zum einen nämlich isoliert diese Situation den Nichtschwimmer Roberto von störenden Kontakten mit anderen Individuen, die sein Psychogramm unscharf machen könnten. Zum anderen unterstreicht das angesichts der Reichtümer auf dem Schiff absolut unwahrscheinliche Fehlen einer Bord-Bibliothek die Tatsache, dass das, was Roberto in dieser kurzen Zeit und auf diesem engen und total von der Welt abgetrennten Raum denkt, erträumt, phantasiert, ausschließlich und allein seinem eigenen Empfinden und Denken entspricht, was beides - wie <?page no="262"?> 244 Die Insel des vorigen Tages Roberto (469) konstatiert - eine untrennbare Einheit bildet, die (448) Descartes’ rationalistisches cogito ergo sum als irrationales Dogma entlarvt. Diese kontradiktorische Einheit von Empfinden und Denken aber ist bei aller Individualität zugleich gesellschaftlich, hat Roberto doch während seiner Existenz in der Welt des gestrigen Tages (273) alles Wissen, dem er begegnete, wie ein Schwamm in sich aufgesogen, ohne allzusehr darauf bedacht zu sein, keine widersprüchlichen Wahrheiten zu glauben, und vielleicht nicht aus mangelndem Sinn für Systematik, sondern weil er es so wollte, oder mit anderen Worten, weil er zu diesem Eklektizimus auch psychisch prädisponiert ist. Gerade dieses von Zufall und von - stets unterschiedlich geprägten, insgesamt aber (laut Freud) allen menschlichen Individuen gemeinsamen - psychischen Prädispositionen determinierte Wissen macht Robertos geistige Beschaffenheit zu einem adäquaten Spiegel der sozialen Psyche seiner Epoche. Dies wäre unmöglich, würden er bzw. die anderen Individuen seiner Zeit jeweils ausschließlich in Konzepten und Kategorien der philosophischen oder theologisch-mystischen Systeme eines Bacon, Descartes, Hobbes, Leibniz, Fontenelle, Böhme, Arnaud, Pascal, Spinoza, Gassendi oder Molinos denken. Im Gegenteil: Fähigkeit zu eklektizistischem Denken ist sogar Voraussetzung für Kommunikation, was bedeutet, dass gesellschaftliches Denken notwendigerweise immer fragmentarisch, widersprüchlich sowie kohärent und systematisch zugleich ist, so wie alles Wissen jedes real existierenden Menschen von Adam bis heute. Eco zeigt dies ebenso ingeniös wie unmissverständlich in Robertos Nachdenken, das durch die riesige Sammlung modernster Technologie von der Optik bis zur Zeitmessung sowie die ebenso eindrucksvolle Sammlung von Tieren, Tierpräparaten und Pflanzen ausgelöst wird, die sich an Bord der Daphne befinden und all das repräsentieren, was Naturwissenschaftler, Mathematiker und Techniker jener Zeit in - „Spiegel“ (specula) oder „Theater“ - genannten Enzyklopädien zusammengetragen hatten. Sein fragmentarisch-vielfältiges Wissen erlaubt Roberto, diese Objekte auch und vor allem zunächst in den (imaginären) Dialogen mit Pater Caspar auf ihre Funktionen in Zeit und Raum bzw. auf ihren Bezug zur Welt zu befragen. So evoziert er nach und nach alle Dimensionen des Seins im Umbruch von christlich-religiöser zu naturwissenschaftlicher Weltsicht, bevor Einsamkeit, Fieberschübe, Agonie diese vielfältigen Interpretationen crescendoartig in vielstimmig-gespenstische Radikalisierungen der jeweiligen philosophischen Theoreme und Systeme aus den unterschiedlichsten Quellen <?page no="263"?> 245 Todesfuge oder danteske Höllenvisionen umschlagen lassen, in denen die offenen oder latenten Gefahren der Dogmen manifest werden, die als kollektiver Wahn das gesellschaftliche Denken und Handeln der Epoche (mit)bestimmen. Todesfuge oder danteske Höllenvisionen Dieser vielstimmig-visionäre Dialog über alle Bereiche des Diesseits und des Jenseits, der sich aus unterschiedlichsten theologischen, philosophischen, naturwissenschaftlichen und poetischen Quellen der Epoche speist, ist von Eco in Erinnerung an Joyces Ulysses und Hermann Brochs nach musikalischen Prinzipien konzipiertem Tod des Vergil mit seinen vier Stationen vom Wasser (der Ankunft auf dem Schiff) über das Feuer, die Erde und den Äther in Fortführung der kompositorischen Arbeiten im Tonstudio der RAI - wie von Luciano Berio vermerkt und von Claudia Miranda brillant nachgewiesen*- - wie eine Fuge komponiert. Diese entwickelt sich über die Stimmen des dux Roberto und des comes Pater Caspar zu einer majestätischen Tripelfuge, die (234-236) auf der Riesenflöte, der Fleute, dem Schiff mit dem Namen Daphne, das (236-238) mit einer riesigen, automatischen Wasserorgel ausgestattet ist, ertönt und - in Evozierung tatsächlicher Kompositionen der Epoche wie der Tweeden Daphne, der Amarilli mia bella, der Pavane Lacryme sowie der Deerde, Doen Daphne d’over des Jacob van Eyck (ca. 1590-1657) - zu einem kosmischen Dauerakkord anschwillt. Der bricht im 38. Kapitel mit dem Titel Über Natur und Hölle mit dem apokalyptischen Blick auf die erstarrten, gehäuteten und verwesenden Leichen im Land der Toten ab, das nach dem genialen Andreas Vesalius (1514-1564), der mit seiner (u. a. von Tizian illustrierten) De humani corporis fabrica die moderne Anatomie begründete, die Isola vesalia genannt wird. Ganz im Sinne Brochs, demzufolge die Dichtung dem Leben durch die Erkenntnis des Todes neue Dimensionen eröffnen müsse, zumal der Tod zum Leben gehöre und - wie Roberto sagt (463) - nur wenige den Tod kennen, ergründet Eco im Eintauchen in die letzten Gedanken eines Sterbenden die vom Menschen erdachten Möglichkeiten einer Weiterexistenz im Jenseits. Wozu hätte ich soviel Zeit mit Gesprächen über Philosophie verbracht, lässt er Roberto (464) ausrufen, wenn ich jetzt nicht imstande wäre, meinen Tod zum Meisterwerk meines Lebens zu machen? , und Eco lässt Roberto entdecken, dass Gott sich nirgends grausam-unbarmherziger erweise als in der möglichen Verurteilung des Menschen zum ewigen Leben im Jenseits und dass das größte Glück des menschlichen Seins darin bestünde, nach dem Tod ins materielle und geistige Nichts über- <?page no="264"?> 246 Die Insel des vorigen Tages zugehen. „Hier wird die Erinnerung an Dante wachgerufen,“, schreibt Jacques Le Goff: „Der Roman endet als Divina Commedia. Der Garten Eden der Korallenriffe verwandelt sich in die Hölle und endet als ekstatischer Pilgerweg zum Himmel.“ „In diesem Kontext klingt das Lachen Gottes grauenvoll“, schließt Le Goff, der die Insel als Pioniertat eines neuen philosophischen Romans einstuft,: „es ist das Lachen eines grausamen Gottes, der über die Menschen lacht.“ Eins, zwei, drei, vier, fünf oder Ecologie Ohne Zweifel, das ist kein heiterer Roman, auch wenn Eco bisweilen durchaus humorvoll-menschenfreundliche Zeichen setzt. So wenn Roberto della Griva oder von der Drossel, gerade an Bord der Daphne wieder zu Kräften gekommen, zur Insel des vorigen Tages hinüberhorcht und dort unter den vielen Stimmen der Vögel auch die eines nur einmal im Text genannten merlo vernimmt und als solche identifiziert, worin unschwer Ecos Hommage an Robert Merle zu erkennen ist, dessen Roman Die Insel aus dem Jahr 1962 mit einer Evozierung der Meuterei auf der Bounty beginnt, während Ecos Insel mit der Evozierung dieser Meuterei endet. Und auch das gehört zu den Scherzen, die Eco in seine ernsten Text einflicht, und auch gleichzeitig wieder zur experimentellen Arbeit am Text, der - dem 40. Kapitel oder Kolophon zufolge - zurückgeht auf verklebte Reste der von Roberto auf der Daphne hinterlassenen Aufzeichnungen, die kaum mehr zu entziffern sind. Aber immerhin erfahren wir dort, dass Roberto der erste Autor dieses Textes ist, als dessen zweiten wir Pater Casper betrachten müssen, dessen direkte Rede aus den Dialogen unter Einschluss seiner Vita Eingang findet in die Erzählung. Ähnliches gilt auch vom dritten Mitautor an den verklebten Seiten, Ferrante della Griva, was bedeutet, dass der anonyme Erzähler wieder einmal als vierter figuriert, wobei im Übrigen - die Sache ist eben verklebt - im Verlauf des Romans nie genau zu erkennen ist, wer nun eigentlich erzählt; der vierte oder die drei anderen, so dass der Erzähler bisweilen ein sagte oder schrieb Roberto (oder Caspar oder Ferrante) einfügt. Diese drei, die alle Grive oder Drossel heißen, haben aber neben dem Erzähler oder Redakteur des Textes noch einen anderen Mitautor, den fünften, der das Pyramidendach in der Specula Melitensis bildet und sozusagen das Ganze zusammenhält. Und das ist so logisch, wie das im Deutschen unübersetzbare* „Ecco“, mit dem der Kolophon beginnt, in dem der Erzähler mit romantheoretischen Anmerkungen noch einmal die geleistete Schreibarbeit mit einem Echo versieht. Es ist sogar im wahrsten <?page no="265"?> 247 Eins, zwei, drei, vier, fünf oder Ecologie Sinne des Wortes eco-logisch, denn die zoologischen und botanischen Kenntnisse des 17. Jahrhunderts, die Roberto an Bord der Daphne hinzugewinnt, werden ergänzt durch neue Erkenntnisse zur Botanik und zur Welt der Fische aus der Gegend im Pazifik irgendwo bei den Salomonen oder den Fidschi-Inseln am 180. Längengrad: Umberto Eco hat sie selbst tauchend und schwimmend gesammelt und enzyklopädisch beigebracht. <?page no="266"?> Umberto Eco - politisch-moralische Instanz Was Du nicht willst, das man Dir tu oder daran glaubt, wer nicht glaubt - Linker Aufschub oder in Italien kämpfen Parteiflügel gegen andere Flügel derselben Partei Was Du nicht willst, das man Dir tu oder daran glaubt, wer nicht glaubt Während das deutsche Feuilleton in der „Prosa-Ruine“ der Insel nur „Sprechblasen“, merde oder schlicht „Nichts“ erkennen kann, erblickt die katholische Kritik in dem Roman eine so bedeutende Auseinandersetzung mit zentralen Problemen menschlicher Existenz,* dass der Vatikan über den Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini mit Eco sogar in einen bemerkenswerten Dialog tritt, der 1995-1996 von der Zeitschrift liberal veröffentlicht wird, je vier Briefe von Martini und Eco umfasst, dem noch sechs Stellungnahmen italienischer Intellektueller sowie ein Schlusswort von Martini folgen und der in Buchform 1996 in Rom und 1998 mit dem Titel Woran glaubt, wer nicht glaubt? in deutscher Übersetzung in Wien erscheint. Die Ehre und - wie er sagt - auch die Bürde, den Dialog zu beginnen, hat Eco. Er eliminiert vorab die institutionelle Ungleichheit, die aus der Kardinalswürde seines Gesprächspartners resultieren könnte, indem er sich ebenso höflich wie dezidiert in den außerkirchlichen Kontext titelloser Gleichrangigkeit begibt und den Kardinal mit „lieber Carlo Maria Martini“ anredet, um unverzüglich - und für den aufmerksamen Leser der Insel nicht überraschend - mit der Evozierung der ökologischen Katastrophe zu beginnen, der die Menschheit entgegentorkelt (Wg 24): den längst unkontrollierten und nicht mehr kontrollierbaren nuklearen Lagern und dem sauren Regen und dem verschwindenden Regenwald und dem Ozonloch und den Migrationen entwurzelter und vertriebener Horden, die heraufziehen, um an die Pforten des Wohlstands zu klopfen, nicht selten mit Gewalt, und dem endemischen Hunger ganzer Kontinente und neuen unheilbaren Pestilenzen und der Verseuchung des Bodens und der Klimaveränderung und den schmelzenden Polkappen und der Genmanipulation, die unsere Klone erzeugt. An die apokalyptischen Prophezeiungen in der Offenbarung des Johannes erinnernd, die einst zum rechten Glauben bewegen sollten, wirft Eco die Frage auf, ob es angesichts der realen Apokalypse, die die Menschheit sich <?page no="267"?> 249 Was Du nicht willst, das man Dir tu oder daran glaubt, wer nicht glaubt selbst bereite, heute nicht gerade die bibelkonform Gottgläubigen seien, die ihr aus eschatologischer Heilsgewissheit am gleichgültigsten und damit unverantwortlichsten gegenüberstünden. Er wage die Behauptung, schreibt Eco (25), daß der Gedanke an ein Ende der Zeiten heute typischer für die Welt der Nichtgläubigen als für die der Christen sei, die sich so verhielten, als ließe sich entsprechendes Nachdenken in eine Dimension projizieren, die nicht mit Kalendern zu messen sei, während die Nichtgläubigen, die vom Christentum die Idee der Geschichte als Vorwärtsbewegung oder Fortschritt (in Richtung Apokalypse) übernommen hätten, immer noch von Hoffnung auf Besserung der irdischen Welt als dem Ziel ihres Handelns ausgingen und zu diesem Zweck versuchten, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen: Wenn es diese Hoffnung nicht gibt, so Eco (28), wäre es gerechtfertigt, daß wir, auch ohne ans Ende zu denken, sein Nahen hinnehmen, uns vor die Mattscheiben setzen […] und warten, daß uns jemand unterhält, während die Dinge laufen, wie sie laufen. Und zum Teufel mit denen, die nach uns kommen. Das zweite Problem, das Eco anschneidet, ist das der Schwangerschaftsunterbrechung bzw. ihres Verbotes durch die Katholische Kirche, die sich auf den uneinschränkbaren Wert des (von Gott gewollten und geschaffenen) Lebens beruft: Eco unterstreicht (37), dass er selber einer Frau, mit der er ein Kind gezeugt hätte, in jedem Fall geraten hätte, das Kind zur Welt zu bringen, was immer der Preis gewesen wäre, den sie beide hätten bezahlen müssen, weil er grundsätzlich denke, daß die Geburt eines Kindes etwas Wunderbares sei. Davon freilich wage er nicht, Entscheidungen über Schwangerschaftsunterbrechungen abhängig zu machen, zumal es für Frauen schreckliche Momente gäbe, von denen wir Männer sehr wenig wissen, und im Übrigen die Festlegung des Momentes, von dem an nach der Empfängnis von menschlichem Leben die Rede sein könne, durchaus schwierig sei. Natürlich sei heute in der gesamten zivilisierten Welt unstrittig, dass (40) ein Neugeborenes bereits als ein menschliches Wesen zu betrachten sei, auch wenn es noch an der Nabelschnur hänge. Dennoch sei unklar, wie weit man bei der Festlegung des Punktes, von dem an die Fusion von Samen und Ei als menschliches Wesen zu betrachten sei, vor die Geburt zurückgehen dürfe, könne oder müsse. Eco gestattet sich, am Beispiel von Thomas von Aquin daran zu erinnern, dass die entsprechenden Wahrheiten, die in dieser Sache im Laufe der Geschichte von der Kirche verkündet worden seien, durchaus widersprüchlich waren. Zwar wolle er nicht (41) die langen Debatten heraufbeschwören, die sich über die Frage entwickelt haben, in welcher Phase der Schwan- <?page no="268"?> 250 Umberto Eco - politisch-moralische Instanz gerschaft diese endgültige ‚Humanisierung‘ eintritt, aber im Innern der christlichen Theologie selbst habe sich das Problem jener (extrem dünnen) Grenzlinie gestellt, nach welcher das, was vorher nur […] ein dunkles Sich-Regen von Leben war […] von einem bestimmten Punkt an als „animal rationale“ oder menschliches Wesen zu betrachten sei, ein Problem, das sich auch dem Nichtgläubigen stelle und auf das bislang selbst Wissenschaftler keine definitive Antwort geben können, weswegen wir vielleicht dazu verurteilt seien, nur zu wissen, daß es einen Prozeß gibt, an dessen Ende das Wunder des Neugeborenen stehe, ohne entscheiden zu können, bis zu welchem Punkt man das Recht habe, in diesen Prozeß einzugreifen. Aus diesem Grund, so Eco, solle man die Entscheidung über Schwangerschaftsunterbrechung vielleicht besser der Mutter überlassen, die diese allein vor Gott oder vor ihrem eigenen Gewissen und dem der Menschheit zu verantworten habe. Die dritte und letzte Frage, die Eco aufwirft, ist, warum die Frau in der Katholischen Kirche von der Priesterweihe ausgeschlossen sei. Seine Position ist unmissverständlich (54): Es ist mir nicht gelungen, in der kirchlichen Lehre überzeugende Gründe dafür zu finden, warum den Frauen das Priesteramt verwehrt bleiben muß […] In der Bibel finde ich keine Gründe. Und auch der Kardinal vermag keinen überzeugenden Grund zu nennen, ist doch alles, was ihm (70) einfällt, festzustellen, dass Christus eben nur Männer zu Aposteln bestimmt habe, und dass man die „Praxis der Kirche“ respektieren müsse, „die zutiefst in der Tradition verwurzelt“ sei „und von der es in ihrer zweitausendjährigen Geschichte keine wirklichen Ausnahmen gegeben“ habe, woraus man schließen müsse, dass diese Tradition göttlichem Willen entspreche und die Nichtberufung von Frauen ins Priesteramt damit zur „Heilstatsache“ geworden sei. Im Übrigen wisse „die Kirche“ natürlich auch, dass sie „noch nicht zur Fülle des Verstehens gelangt“ sei, kurz, dass vielleicht eines Tages die „Heilstatsache“ aufhören könne, eine solche zu sein, eine Auskunft, die so eindrucksvoll ist wie die Frage, die der Kardinal in vereinbarter Umkehrung der Dialogabfolge an Eco richtet und der die Überzeugung des Kardinals zugrundeliegt, dass er aufhören würde, ethisch korrekt zu handeln, wenn er den Glauben verlöre. Er, so der Kardinal (79), könne „nur schwer sehen, wie ein Leben“, dass sich an ethischen Werten wie „Altruismus, Redlichkeit, Gerechtigkeit, Solidarität, Vergebung“ orientiere, „über lange Zeit und unter allen Umständen durchzuhalten sein soll, wenn der absolute Wert der moralischen Norm nicht in metaphysischen Prinzipien oder in einem personalen Gott begründet werden kann.“ Worauf Eco leicht ironisch u. a. Tobias 4, 16 zitiert, demzufolge man einem anderen nicht antun <?page no="269"?> 251 Linker Aufschub oder in Italien kämpfen Parteiflügel gegen andere Flügel solle, was man selbst nicht erleiden möchte, und diesen Gedanken damit erläutert, dass sich seines Erachtens - und wie man aus der Entwicklung der menschlichen Bewohner dieser Erde ableiten könne- - ethisch determiniertes Handeln aus der gesellschaftlichen Existenz des Menschen ergäbe (85-86): wie lernt das noch ganz aus Staunen und Wildheit bestehende Adam (oder Eva-) Tier, fragt er den Kardinal, nicht nur zu begreifen, daß es bestimmte Dinge will und von anderen nicht möchte, daß sie ihm angetan werden, sondern auch, daß es den anderen nicht antun darf, was es sich selbst nicht angetan haben möchte? Dadurch, daß sich der Garten Eden zum Glück rasch bevölkert. Die ethische Dimension beginnt, wenn der andere ins Spiel kommt. Jedes Gesetz, ob moralischer oder juridischer Art, regelt interpersonale Beziehungen einschließlich derjenigen zu einem Großen Anderen, der es auferlegt. Linker Aufschub oder in Italien kämpfen Parteiflügel gegen andere Flügel derselben Partei Dieser Dialog zwischen Eco und dem Kardinal, den Der Spiegel am 01. 10. 1998 immerhin „spannend“ findet und - festgemacht am Beispiel Enzensberger und „Kardinal Joseph Ratzinger“ - für in Deutschland undenkbar hält, ist eine kleine Begleitmusik zum politischen Wunder, das sich nach dem Ende der ersten Regierung Berlusconi in Italien ereignet. Staatspräsident Scalfaro ernennt im Januar 1995 den Finanzexperten Lamberto Dini zum Chef einer Übergangsregierung, die es schafft, den Staatshaushalt wenn nicht zu sanieren, so doch aus dem Chaos zu führen, in das ihn die Vorgängerregierungen gestürzt hatten. Als Dini im Mai 1996 aus Anlass der Neuwahlen zurücktritt, scheint sich die politische Situation so weit normalisiert zu haben, dass der Sieg der Mitte-Links-Sammlung des Ulivo gegen Berlusconi und das rechtsradikale Spektrum, das er um sich gesammelt hat, nicht wirklich überrascht. Ecos Bologneser Kollege Prodi wird zum Ministerpräsidenten, der ehemalige Kommunist Walter Veltroni, inzwischen führendes Mitglied des Partito democratico della Sinistra (PDS), der aus dem aufgelösten PCI hervorgegangen war, zu seinem Stellvertreter ernannt. Doch im Oktober 1998 scheitert Prodis Regierung an der Opposition eines anderen Ablegers des ehemaligen PCI, der sogenannten Rifondazione Comunista unter Führung von Fausto Bertinotti, was zu einer Spaltung der Rifondazione führt. Geradezu mirakulös daher, dass in den neuen Turbulenzen, die auf der Linken u. a. auch den Wandel des PDS in Democratici di Sinistra (DS) bewir- <?page no="270"?> 252 Umberto Eco - politisch-moralische Instanz ken, ausgerechnet dank der Hilfe eines - in Opposition zu Berlusconi stehenden- - Ablegers der verflossenen DC, der Unione democratica della Repubblica (UDR), eine neue Mitte-Links-Regierung zustande kommt, der zum ersten Mal in der italienischen Geschichte sogar ein (ehemaliger) Kommunist als Ministerpräsident vorsteht: Am 21.- Oktober 1998 wird Massimo D’Alema, bis dahin Generalsekretär des PDS, von Scalfaro als Chef einer Regierung vereidigt, der neben der neuen DS und dem Ulivo noch sieben andere Parteien angehören und die unter Mitarbeit von Dini dessen Haushaltspolitik fortzusetzen sucht und europäische Integrationspolitik betreibt. „Als hätte die erste Regierung unter Führung eines ehemaligen Kommunisten eine Art Reifeprüfung für ihre Treue zum Westen zu bestehen, setzt D’Alema mit eiserner Entschlossenheit die Beteiligung Italiens am Kosovo-Einsatz der Nato durch“, schreibt Friederike Hausmann und hält fest, dass „Norditalien“ als „Basis für die Luftangriffe gegen Serbien“ dient. D’Alema wird - mit einer kurzen Unterbrechung, aber grundsätzlich mit derselben politischen Koalition - bis zum 19. April 2000 im Amt bleiben, um nach Regionalwahlen, die (speziell in Norditalien) einen dramatischen Rechtsruck auslösen, zurückzutreten und dem Sozialisten Giuliano Amato Platz zu machen, der einer ähnlichen Koalition mit L’Ulivo als stärkstem Partner präsidiert und bis Juni 2001 Italiens Geschicke zu lenken versucht. Dann steht erneut Berlusconi vor der Tür. Zum Entsetzen Ecos, der immer wieder vor der Konzentration der Medienmacht in Berlusconis Hand gewarnt hatte und noch hoffte, dass das Referendum vom Juni 1995 über die Frage, ob Berlusconis Fernsehmacht eingeschränkt werden solle, und das von 57 % der Teilnehmer negativ beantwortet wurde, anders ausgefallen wäre, hätte man die Frage etwa so gestellt: Hätten Sie es lieber, daß die privaten Fernsehsender einem einzigen gehören, oder daß sie die Standpunkte verschiedener Besitzer ausdrücken? Dann, so Eco, hätte vielleicht auch der italienische Bürger begriffen, dass Fernsehen nicht nur die Unterhaltungsmaschine ist, deren zunehmende Vulgarität* Eco - frühere Hoffnungen begrabend - ebenso beklagt wie die wachsende Niveaulosigkeit der Medien insgesamt.** Natürlich weiß er, dass diese Niveaulosigkeit nicht nur das Privileg des Privatfernsehens bzw. Berlusconis und der mit ihm verbündeten Rechten ist, wie sein ironischer Befund von 1997 ausweist, demzufolge in Italien Parteiflügel gegen andere Flügel derselben Partei, dann Region gegen Region und schließlich Regierung gegen Justiz, Justiz gegen ökonomische Macht, öffentlich-rechtliches Fernsehen gegen privates Fernsehen, Koalitionspartner gegen Partner derselben Koalition, Abteilung gegen Abteilung, <?page no="271"?> 253 Linker Aufschub oder in Italien kämpfen Parteiflügel gegen andere Flügel Zeitung gegen Zeitung kämpfen. Er lässt auch keinen Zweifel daran, dass er keineswegs mit allen Entscheidungen der Mitte-Links-Regierungen einverstanden ist, wie man u. a. seiner Verurteilung ihrer Kosovo-Politik entnehmen kann, was keineswegs Sympathie mit Milosevic bedeutet, gegen dessen Verbrechen eingeschritten werden müsse. Aber Krieg, meint Eco, sei eine stumpfe Waffe, die auch die falschen treffe. Das alles - und auch seine wachsende Skepsis hinsichtlich der Möglichkeiten, die einem Intellektuellen offenstehen, auf politisches Geschehen einzuwirken* - ändert nichts an seinem Engagement für Demokratie, Aufklärung und humanitäre Werte, wie seine Stellungnahmen - vor allem in den meist gar nicht mehr heiteren Bustine- - zeigen, mit denen er u. a. die Hinrichtungs-Justiz in USA anprangert, das Umschlagen der US-amerikanischen political correctness in Zensur und Intoleranz,** aber auch und vor allem die Gefahren, die Italien innenpolitisch vom ständigen Anwachsen rechter Gesinnung drohen, die von Berlusconis Medien verbreitet wird und sich in der Pseudo- Distanzierung vom Mussolini-Faschismus bzw. in dessen Banalisierung, Verdrängung oder gar Glorifizierung sowie in der Verleumdung der Resistenza oder aber in der fremdenfeindlichen Autonomie-Propaganda der Lega Nord des Umberto Bossi manifestiert.*** <?page no="272"?> Baudolino oder vom piemontesischen Nebel über Paris und Deutschland, Zentrum des Universums, in das gelobte Land des Presbyters Johannes Kant und das Schnabeltier - Von der Krise des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation oder Begegnung in der Po-Ebene - Wie man poetisch Geschichte gestaltet - Eine „geschwätzige Aneinanderreihung von Abenteuern, Allegorien und Allotria“ - Baudolino und der Holocaust oder vom „Filmriss im deutschen Bewusstsein“ - Die Pflicht zur historischen Wachsamkeit Kant und das Schnabeltier 1996 schließt Carlotta Eco ihr Architekturstudium in Mailand mit dem Staatsexamen ab: Sie wird 1999 promovieren, als Architektin staatlich zugelassen werden und sich auch als Architektur-Kritikerin in der Internetzeitschrift Archinfo einen Namen machen. 1996 nimmt Eco u. a. eine Professur an der Ecole Normale Supérieure in Paris wahr, und immer noch im selben Jahr 1996, in dem Eco auch das Große Verdienstkreuz der Italienischen Republik verliehen wird, gründet er zusammen mit Gianni Riotta und Danco Singer Golem l’Indispensabile, Den Unersetzlichen Golem, das erste italienische Internet-Kulturmagazin, das bis 2002 unregelmäßig und von da an zehnmal im Jahr von einem Redaktionskomitee, das als Rheda Zione firmiert und dem neben Eco Carlo Bertelli, Gherardo Colombo, Renato Mannheimer und Carlo Singer angehören, ins Netz gestellt wird, pro Nummer einen Leitartikel enthält, bisweilen um Ecos Arbeiten kreist, insgesamt jedoch zu den unterschiedlichsten (kultur)politischen, aber auch wissenschaftlichen Themen Stellung bezieht, und an dem Hunderte bekannter und (noch) unbekannter Intellektueller mitarbeiten werden. 1997 erhält Eco aus Anlass eines Kolloquiums über sein Verhältnis zu Borges den Ehrendoktor der Universität Castilla-La Mancha. Das veranlasst ihn, im Gedenken an den Verfasser des Don Quijote, aber auch an Ramón Llull, Rabelais, Harsdörffer, Christoph Clavius, Mersenne, John Wilkins, Jonathan Swift und Joyce in seinem Vortrag Zwischen La Mancha und Babel ein Bekenntnis zum experimentellen Schreibakt insgesamt, zu Borges im Besonderen abzulegen, der es in Erkenntnis der Unmöglichkeit, das Universum mit einer Universal- <?page no="273"?> 255 Kant und das Schnabeltier sprache neu zu benennen, vorgezogen habe, es als Tanz von Atomen zu feiern. Das käme der Katalogisierung von Bibliotheken gleich, die nie nach einem definitiv ordnung-stiftenden Prinzip angelegt seien, weil es dieses nicht gäbe, die es dem Benutzer aber dennoch ermögliche, sich zurechtzufinden. Nur im Licht dieses Borgesschen Experimentierens, schließt Eco, versteht man die Poetik des Aleph, jenes Punktes, von dem aus man mit einem Schlag all die unzähligen und zusammenhanglosen Dinge sieht, aus denen sich das Universum zusammensetzt. Man muß alles auf einmal sehen können, und dann muß man das Kriterium der Zusammenballung verändern und anderes sehen, indem man jedesmal einen anderen Himmlischen Wortschatz wählt. An diesem Punkt wird die Frage, ob die Bibliothek unendlich oder von unbegrenzter Weite ist und ob die Zahl der in ihr beherbergten Bücher endlich oder unbegrenzt und periodisch ist, sekundär. Der wahre Held der Bibliothek von Babel ist nicht die Bibliothek selbst, sondern ihr Leser, ein neuer Don Quijote, mobil, abenteuerlustig, unerschöpflich, erfindungsreich, bereit zu alchimistischen Kombinationen, fähig zur Beherrschung der Windmühlen, die er unentwegt rotieren läßt (BP 125). 1997 veröffentlicht Eco auch sein Buch über das Erkennen bzw. das Bezeichnen der Welt mit dem Titel Kant und das Schnabeltier, der wegen des - von Eco gleich zu Beginn selbst unterstrichenen - Zusammenwerfens scheinbar nicht zusammenpassender Begriffe im Heimatland Kants Befremden ausgelöst hat, obwohl Eco erklärt, dass es sich bei diesem Titel (KS 9) um eine Huldigung an die uralte Enzyklopädie Borgesschen Angedenkens handle. Das mag daran liegen, dass Ecos in der Denkpraxis erworbene und von Wittgenstein inspirierte Überzeugung, die Erzählung habe dort einzusetzen, wo die Theorie an ihre Grenzen stößt, in bestimmten Bereichen des deutschen akademischen Denkens noch immer Skepsis hervorruft, obwohl im konkreten Fall der Ausgangspunkt eigentlich klar ist. Angesichts der Unmöglichkeit, herauszufinden, wie Adam von der Sprachlosigkeit zur Benennung der Welt gelangte, versucht Eco am Beispiel eines unbekannten Objektes, das plötzlich - wie der Marsbewohner in I tre cosmonauti - ganz wirklich vor dem Menschen auftaucht, zu zeigen, wie der entsprechende Erkenntnis- und Benennungsprozess vonstatten geht, obwohl dem Menschen die Kriterien für seine Erkenntnis und damit die Kategorien fürs Bezeichnen fehlen. Denn Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt man in Australien jenes eierlegende Säugetier, das die Wissenschaftler auf Jahrzehnte in Verlegenheit stürzt, weil es allen bekannten Kriterien der Zoologie widerspricht und keinem anderen Tier zugeordnet werden kann, und dem man nach ebenso langer wie kontroverser Dis- <?page no="274"?> 256 Baudolino oder vom piemontesischen Nebel über Paris und Deutschland kussion den Namen Ornithorhynchus anatinus verpasst, der genauso unzulänglich ist wie seine deutsche Bezeichnung als Schnabeltier. Dabei hatten die Zoologen und Biologen es trotz allem entschieden leichter als Adam, verfügten sie doch bereits über komplette und komplexe Sprachsysteme, mit denen sie umgangssprachlich und wissenschaftlich die Welt bezeichnen und zumindest (Un-)Ähnlichkeiten benennen konnten. Dennoch taten (und tun) sie sich sehr schwer mit dem Tier, das laut Eco (15) deshalb gerade wie geschaffen ist, um eine Theorie der Erkenntnis zu prüfen. Dafür sei das Gedankengebäude Kants umso repräsentativer, als (16) viele Zeitgenossen Neu-Kantianismus betrieben, ohne es zu wissen, ganz davon abgesehen, dass Eco mit seinem Buch in Sachen Kant und Schnabeltier auch einen, für sich selber unterschriebenen Wechsel einzulösen habe, der noch aus der Zeit seines Studiums stamme, als er sich eine Menge Notizen über den ‚verheerenden‘ kantianischen Begriff des Schemas gemacht habe.* Was Eco meint, ist sein - am Benennungsprozess des Schnabeltiers ganz windelbandianisch neu entflammtes - Interesse für Kants Überzeugung, dass jede Erkenntnis auf der dialektischen Wechselwirkung von sinnlicher, durch Raum und Zeit strukturierter Erfahrung und urteilender Anwendung der - von ihm schematisierten - Kategorien des Verstandes beruhe, durch welche die aus dem „räumlich-zeitlichen Verhältnis von Empfindungen für das individuelle Bewusstsein“ gewonnenen „Wahrnehmungsurteile“ umschlagen in „Erfahrungsurteile, d. h. solche, in denen ein derartiges Verhältnis als objektiv behauptet“ und in der Kommunikation über die Welt respektiert wird. Und genau darum geht es in seinem Buch. Anhand der (von ihm in den Kategorien der Abduktion bedachten) Dialektik des Erkenntnisprozesses legt Eco in den Kapiteln über Das Schnabeltier und Die wahre Geschichte vom Schnabeltier dar, wie (112) in den nachfolgenden Jahrhunderten nach und nach die falschen ontologischen Anfangs-Urteile über das nicht klassifizierbare Tier durch die sukzessiven Beobachtungen seiner konkreten Beschaffenheit revidiert wurden bzw. zu (bis heute nicht abgeschlossenen) neuen Definitionen des seltsamen Wesens führten. Diese Revision von Welterkenntnis und -benennung durch empirische Erfahrung bzw. deren Rückwirkung auf die ersten „Erfahrungsurteile“ über das Schnabeltier waren in Kants Konzeption der Welterkenntnis zwar nicht ausgeschlossen, aber doch so marginalisiert wie in Ecos früheren Schriften zur Semiotik und speziell in seinem Entwurf einer Theorie der Zeichen von 1975 das Verhältnis von Zeichen und außersemiotischer Wirklichkeit. Das hatte - wie in Sachen Interpretation <?page no="275"?> 257 Von der Krise des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und unendliche Semiose - zu Missverständnissen geführt, die Eco in Kant und das Schnabeltier (384-407) als mitverschuldet zugibt und ausgehend vom Benennungsprozess des Ornithorhynchus anatinus mit der relecture von Kant auszuräumen sucht, um dem Zeichen und seiner Deutung als konkreter, pragmatisch-abduktionistischer Form des Nachdenkens über die reale Welt wieder mehr Gewicht zu verleihen, was logischerweise zu einer Aufwertung der Inhalte des Bezeichneten (oder die Ikonizität) für das Verständnis der Zeichenbildung und -deutung führt.* Von der Krise des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation oder Begegnung in der Po-Ebene Am deutschen Feuilleton kann es nicht gelegen haben, dass Eco 1998 neben der Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin der Orden pour le Mérite für Wissenschaften und Künste verliehen wurde,** denn selten dürfte ein bedeutender Autor in einem demokratischen Staat mit freier Presse von dieser kollektiv so niedergemacht worden sein wie Eco. Er dürfte sich aber mit der Anerkennung getröstet haben, die ihm in allen anderen Ländern dieser Welt entgegengebracht wurde und von der u. a. die Preise zeugen, die ihm 2000 von der 1980 gegründeten Stiftung Príncipe de Asturias (die u. a. auch Carlos Fuentes, Günter Grass, Doris Lessing, Claudio Magris, Susan Sontag und Mario Vargas Llosa ausgezeichnet hat) und von der 1997 gegründeten Dagmar und Václav Havel-Stiftung in Prag ausdrücklich wegen der Bedeutung sowohl seines literarischen, als auch seines wissenschaftlichen Werkes verliehen wurden. Die Hartnäckigkeit, mit der das deutsche Feuilleton Ecos literarische Werke verriss, ist freilich durchaus tragisch, weil nach der kulturellen Katastrophe, die Deutschland von 1933 bis 1945 erlitten hatte, aber auch angesichts der Schwierigkeiten, die erst das geteilte und dann das wiedervereinte Deutschland mit der Rekonstruktion seiner kulturellen Identität hatte und immer noch hat, der Dialog mit bedeutenden Schriftstellern anderer Nationen, die gleichzeitig auch noch ausgewiesene Deutschlandexperten sind und von denen Italien mit Claudio Magris und Umberto Eco gleich zwei besitzt, durchaus im Interesse der deutschen Nation gelegen hätte und immer noch liegt. Sie ist darüber hinaus aber auch umso absurder, als sich die deutsche Presse von der FAZ über den Spiegel bis zur Zeit seit spätestens 1980 geradezu darum reißt, (kultur)politische Stellungnahmen, Essays und Glossen von Eco zu publizieren oder mit ihm Interviews zu veranstalten. Die Gründe dafür aber sind ohne Zweifel in <?page no="276"?> 258 Baudolino oder vom piemontesischen Nebel über Paris und Deutschland seinem literarischen Werk zu suchen, denn die Semiotik, die Eco als Wissenschaftler vertritt, war und ist ihr ebenfalls so gut wie immer nur Anlass zu Hohn und Spott. Dass Eco über den Dingen stand und die zum Teil ohne jede Kompetenz massenmedial geschürte Polemik gegen seine Werke an sich abprallen ließ, dürfte eines Tages als einer der größten Glücksfälle der deutschen Nachkriegskultur in die Geschichtsbücher eingehen. Eco jedenfalls ließ sich von ihr im Bemühen, seine europäische und speziell italo-franko-deutsche kulturelle Identität in ebenso philosophisch wie politisch engagierte Kunstwerke umzusetzen, nicht beeinträchtigen. So veröffentlicht er in immer noch demselben Jahr 2000, pünktlich zur Jahrtausendwende und zur Geburt seines ersten Enkelkindes Emanuele, seinen vierten, Emanuele gewidmeten Roman Baudolino, mit dem er in die Zeit von Friedrich Barbarossa (1122-1190) zurückgeht. Dem begegnet um 1150 im dichten, von Eco immer wieder konkret und metaphorisch für das Irren im (gleichermaßen beängstigenden wie mutterschößlich-bergenden) Dunkeln, aber auch für den Denk- und Reifungsprozess evozierten Nebel der Po-Ebene,* in die sich Barbarossa verirrt hat, ein etwa vierzehnjähriger Junge, der so sprachbegabt ist, dass er sich mit dem deutschen König auf Italienisch, Piemontesisch, Latein und sogar auf Deutsch, das er von Landsknechten gelernt hat, verständigen kann. Der Junge, der wie Eco aus Alessandria stammt und nach dem Lokalheiligen Sankt Baudolino benannt ist, führt Barbarossa zur Hütte seiner Eltern, wo ihn sein jähzorniger Vater Gagliaudo zunächst beschimpft, bevor er - nach erstem Misstrauen und gegen klingende Münze - den hohen Herrn bei sich übernachten lässt. Baudolino führt Barbarossa am nächsten Tag zu dessen Heer zurück, beeindruckt ihn dabei mit erfundenen bzw. erlogenen Geschichten und einer für den König günstigen Prophezeiung und wird von Barbarossa, der ihn später adoptieren wird, über Rom, wo sich Barbarossa zum Kaiser krönen lässt, nach Deutschland mitgenommen, oder wie Baudolino im hohen Alter sagen wird: ins Zentrum des Universums, nach Würzburg, Köln, Trier und vor allem Regensburg. Dort wird sich Barbarossas Oheim, der Bischof Otto von Freising um seine geistige Bildung kümmern, die ganz im Zeichen aristotelischpoetischer Wahrheitsfindung steht. Baudolino soll, wie Otto auf dem Sterbebett verlangt, nach Paris gehen und dort auch (B 71) ein wenig Theologie, vor allem aber Rhetorik studieren und die Dichter lesen. Denn: Rhetorik ist die Kunst, auf elegante Weise etwas zu sagen, von dem man nicht sicher weiß, ob es wahr ist, und die Dichter haben die <?page no="277"?> 259 Von der Krise des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation Pflicht, schöne Lügen zu erfinden. Der müsse auch Baudolino nachkommen, wenn er (57) einmal Historien schreiben wolle, denn dann müsse er lügen und Geschichten erfinden können, sonst würde seine Historia langweilig: Die Welt verurteilt die Lügner, die nichts als Lügen erzählen, selbst über die geringsten Dinge, und sie preist die Poeten, die nur Lügen über die allergrößten Dinge erzählen. Das alles soll Baudolino - in Paris - erlernen, denn Otto, der Baudolinos Lügenpotenz erkannt hat, möchte, dass dieser sie einsetzt, um eine Fälschung anzufertigen, mit welcher der Kaiser seine Macht als Herrscher über das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das seit Karl dem Großen bestünde, konsolidieren könne. Dieses sei in eine profunde Krise geraten, weil der Papst und ein großer Teil der italienischen Städte dank ihrer ökonomischen Macht eigene und der kaiserlichen Macht entgegengesetzte Interessen verfolgten, könnte aber wieder ins Lot geraten, wenn (60-61) Barbarossa zu seiner Würde als Imperator Imperii Romani noch die des Herrschers über ein christliches Reich im Osten von Jerusalem und dem Lande der Ungläubigen erlangen würde, das von dem sogenannten Presbyter Johannes, einem christlichen König, wenn auch Anhänger der nestorianischen Häresie und angeblich Nachfahre der Weisen aus dem Morgenland, beherrscht würde. Von diesem hatte man in der Tat in der ersten Hälfte des 12.-Jahrhunderts sprechen hören, und Otto von Freising berichtet von ihm in seiner Chronica sive historia de duabus civitatibus. 1165 war dann auch ein vermeintliches Schreiben dieses Johannes aufgetaucht, in dem er sein Reich vorstellte, das der Beschreibung nach so immens war, dass es die Phantasie der europäischen Zeitgenossen beschäftigte und sogar mit Sorgen erfüllte, was Barbarossas Gegner, Papst Alexander III., dazu bewegte, mit diesem ominösen Herrscher über ein zweites Christenreich Kontakt aufzunehmen, ein Versuch, dem noch viele andere folgen sollten. Ohne Erfolg, natürlich, denn das Dokument war eine Fälschung, von der man bis heute nicht weiß, wer sie angefertigt hat. Oder wenn man in Ecos literarisches Spiel eintreten will: von der man bis 2000 nicht wusste, wer sie angefertigt hatte, enthüllt Eco doch in seinem Roman, dass Otto von Freising mit seinem letzten Atemzug Baudolino anfleht, aus den genannten Gründen dieses Dokument anzufertigen (71): wenn Du keine anderen Nachrichten über jenes Reich hast, erfinde welche. Merk dir, ich bitte dich nicht zu bezeugen, was du für falsch hältst - das wäre Sünde -, sondern falsch zu bezeugen, was du für richtig hältst. Das ist ein gutes Werk, denn es behebt den Mangel an Beweisen für etwas, das zweifellos existiert […] Dränge Friedrich <?page no="278"?> 260 Baudolino oder vom piemontesischen Nebel über Paris und Deutschland nach Osten, denn von dort kommt das Licht, das ihn beleuchten wird als den größten aller Könige … Zieh den Kaiser aus jenem Sumpf, der sich zwischen Mailand und Rom erstreckt […] Er muß sich fernhalten von einem Reich, in dem auch ein Papst befiehlt. Sonst ist er immer nur zur Hälfte Kaiser. Denk daran Baudolino … Der Priester Johannes … Der Weg nach Osten … Wie man poetisch Geschichte gestaltet Baudolino wird diese Fälschung - vollgekifft - zusammen mit seinen Kommilitonen in Paris anfertigen, was Ecos Romankonzeption als ästhetischem Spiel und ernsthafter geschichtlich-philosophischer Reflexion zugleich entspricht, mit der eine neue Dimension aristotelischer Literaturgestaltung erreicht ist. Denn nach Aristoteles (und eigentlich auch nach allgemeiner Ansicht) sind Geschichtsschreibung und Dichtkunst Denkprozesse, die sich grundsätzlich in Ziel und Methode unterscheiden, kann und will sich doch z. B. Geschichtsschreibung nicht dazu äußern, was einzelne Individuen, über deren Denken, Empfinden, Handeln keine Dokumente vorliegen, zu bestimmten Zeiten empfunden, gedacht, gesagt, getan haben. Die Historiographie äußert sich dazu allein approximativ-statistisch, was die Individuen notwendigerweise in Abstrakta verwandelt, als welche sie in der Wirklichkeit nicht existiert haben. Daher unternimmt die Geschichtsschreibung aus Einsicht in ihre methodischen Grenzen gar nicht erst den Versuch, (anonyme) Individuen in deren genannter geschichtlicher Komplexität vorzustellen, sondern überlässt diese Aufgabe seit der Antike der Dichtkunst, die in den verschiedensten Formen versucht hat, exemplarisch jene andere nicht dokumentierte, trotzdem aber geschichtlich-reale Dimension des menschlichen Seins darzustellen. Dass die Dichtkunst dabei - speziell in der Epik und in den Tragödien - implizit oder explizit auf Fakten zurückgriff, die von der Historiographie geliefert wurden, um ihre poetische Darstellung des Seins möglichst plausibel oder wahrscheinlich zu machen, ändert nichts daran, dass die Dichtungstheoretiker und allen voran Aristoteles in dieser vom Streben nach Wahrscheinlichkeit determinierten poetischen Darstellung des menschlichen Seins größere Möglichkeiten sahen, der Wahrheit über das Wesen des Menschen näherzukommen als in der von Zufall und Statistik bestimmten Historiographie, weswegen sie der Dichtkunst auch größere Nähe zur Philosophie einräumten als der Geschichtsschreibung. Genau von dieser Dichtungskonzeption gingen die Urväter und -mütter des historischen Romans aus, auf die sich Eco bei seinem Ro- <?page no="279"?> 261 Wie man poetisch Geschichte gestaltet manschaffen immer wieder beruft.* Denn wenn er auch nicht länger naiv von der Möglichkeit träumt, durch Sich-Versenken in vergangene Zeiten so etwas wie einen historischen Roman à la Walter Scott produzieren zu können, hält er doch grundsätzlich an der Möglichkeit fest, geschichtlicher Wahrheit über den Roman nahezukommen, obschon er diesem bescheiden-pragmatisch nicht mehr als eine Komplementärfunktion zur Geschichtsschreibung einräumt. Dafür aber ist das Kriterium der Wahrscheinlichkeit nach wie vor unverzichtbar, das Eco - der wissenschaftlichen Erkenntnis eingedenk, dass sich jeder Denk-, Sprech- und Schreibakt in präexistentem und tendenziell unendlich oft wiederverwendetem Material realisiert - dahingehend radikalisiert, dass er das Material für die Artikulation des Empfindens, Denkens, Redens und Schreibens seiner Romangestalten grundsätzlich authentischen historischen Dokumenten entnimmt und nicht mehr - wie einst Scott oder Manzoni - der eigenen Phantasie, worauf die Kritik reagierte, indem sie (wie zum Beispiel Jacques Le Goff) Ecos Texte positiv als geniale Schöpfung eines neuen Typs „historischer Roman“ oder aber (wie das deutsche Feuilleton) negativ als unkreative Bastelei und akademische Zitatenmontage einstufte. Dass dieses negative Urteil besonders kurios ist, ergibt sich aus dem Riesenerfolg der Romane Ecos, dem es - zum Verdruss seiner Kritiker, die nur Texte gelten lassen, die „aus dem Bauch heraus“ geschrieben sind - gelingt, trotz seiner extrem im präexistent-geschichtlichen Material verankerten Erzählstrategie, die durchaus Affinitäten mit der modernsten Doku-Fiktion des Films und Fernsehens aufweist, seine Leser zu faszinieren. Das aber wäre schlicht unmöglich, verstünde er es nicht, dieses Material formal so neu zu gestalten und zu verbinden, dass es Spannung beim Leser und Empathie bis hin zur Identifikation mit den Gestalten der Texte erzeugen würde. Das ist nicht nur bemerkenswert, weil das von ihm benutzte Material zeitgeschichtlich-dokumentarischer Natur ist, sondern weil Ecos Romane sich darüber hinaus im Gegensatz zur Doku-Fiktion durch eine totale Poetisierung auszeichnen: eine Restrukturierung dieses Materials, in die wesentliche rhetorisch-poetologische Experimente seit der Antike und speziell des Romans seit Chrétien, Boccaccio, Cervantes, Diderot, Balzac, Dumas, Sue, Nerval oder Poe, aber auch des literarischen Schaffens der jüngsten Moderne von den Krimis und Comics bis zu den formalen Experimenten der Dadaisten, Surrealisten, der Joyce, Borges, Calvino bzw. der Gruppe 63 eingegangen sind und die Suche nach philosophisch-geschichtlicher Wahrheit in der literarischen bzw. romanesken Fiktion bis hin zum ironischen Verfremdungs-Effekt <?page no="280"?> 262 Baudolino oder vom piemontesischen Nebel über Paris und Deutschland radikalisieren. Denn Eco schreckt keineswegs davor zurück, das zur Erzeugung von Spannung und Möglichkeit des Einfühlens benötigte Prinzip der Wahrscheinlichkeit immer wieder demonstrativ-ironisch aufzuheben, um den Leser ganz brechtianisch auf die Fiktionalität seiner Erzählung und deren experimentelle Offenheit aufmerksam zu machen, damit dieser nicht die zum Nachdenken notwendige Distanz zum Text verliert. Um es konkret zu sagen: Natürlich hat Baudolino nicht wirklich existiert, aber es hat das Dokument des Presbyters Johannes gegeben,* und ein Individuum oder mehrere Individuen müssen diese Fälschung aus ganz bestimmten Gründen hergestellt haben, und diese Gründe könnten den historischen Gegebenheiten entsprechend durchaus so beschaffen gewesen sein, wie die des fiktiven Baudolino und seiner ebenso fiktiven Kumpane. Was Ecos Baudolino tut, ist also nicht historisch wahr, aber es wäre denkbar und möglich gewesen, dass ein Baudolino existiert und so gehandelt hätte wie der fiktive Baudolino, dessen mögliche Motive Eco in seiner Darstellung der historisch-politischen, sozialen, kulturellen und mentalen Beschaffenheit der europäischen Gesellschaft bzw. ihres Zentrums und damit des „Zentrums der Welt“ anbietet. Und in dieser mit authentischen Materialien auf historische Wahrscheinlichkeit angelegten Perspektive verfasst Eco den Roman Baudolino, der uns ein absolut realistisches Bild der damaligen Gesellschaft liefert, dem eine kleine - in piemontesischem Dialekt vom jugendlichen Baudolino auf einem (von ihm notdürftig abgeschabten Pergament-Palimpsest) niedergeschriebene- - Vita vorangestellt ist. Der Roman zeigt uns u. a. die Leiden und Konflikte der armen Leute in der - von ebenso realen wie absurden Kämpfen zwischen den kaiserlichen Truppen und den (von eigenen oder päpstlichen Interessen geleiteten) Städten verwüsteten - Po-Ebene, das Leben in den kaiserlichen Heerlagern und am Hof in Deutschland sowie das von Wein, Drogen und erotischen Abenteuern geprägte (Nacht)leben der intellektuellen Bohème in Paris, das bereits damals absolut international geprägt war, wie die Freundesgruppe beweist, die Baudolino um sich schart. Zu ihr gehören Abdul, ein provenzalischer Dichter, dessen Gedichte in Wahrheit der Feder Jaufré Rudels entstammen, des großen Dichters der „fernen Liebe“, der 1147-1149 am zweiten Kreuzzug teilgenommen hat; ein deutscher Faulenzer, Protégé des Kölner Bischofs Rainald von Dassel, der behauptet, ebenfalls Dichter zu sein und deswegen „der Poet“ genannt wird, in Wahrheit jedoch unfähig ist, Verse zu produzieren, so dass der hochtalentierte Baudolino für <?page no="281"?> 263 Wie man poetisch Geschichte gestaltet ihn jene lateinischen Gedichte verfasst, mit denen der anonyme Kölner unter dem Namen des Archipoeta als einer der bedeutendsten Vagantendichter und Barbarossa-Apologeten in die Annalen eingehen wird, sowie ein gelehrter französischer Scholar und Saufaus namens Boron, mit dem die Erinnerung an Robert de Boron wachgerufen wird, der am vierten Kreuzzug teilnahm und eine Dichtung verfasste, in der über den Kelch des Gral und seine Transmission eine Verbindung zwischen Jerusalem und dem Reich des Königs Artus hergestellt wird. Zu dieser Gruppe werden noch zwei weitere junge Intellektuelle kooptiert, da man ihrer Kenntnisse für die Redaktion des Briefs vom Priester Johannes bedarf: Kyot, der sagenumwobene und eventuell von Wolfram von Eschenbach erfundene Poet, dem Wolfram die Ehre einräumt, die Vorlage für seinen Parzival geliefert und ihn mit den Geheimnissen des Grals vertraut gemacht zu haben, die er in Baudolino an die Freundesgruppe weiterreicht, und Rabbi Solomon von Geronin, der den Freunden erläutert, wie der Tempel des Priesters Johannes beschaffen sein müsste. Nach dem Studium in Paris nimmt Baudolino seine Freunde mit an den kaiserlichen Hof, wo die Freundesschar nach und nach anwachsen und Baudolino als dienstadliger Berater tätig sein wird, seine Heimatstadt Alessandria vor der Zerstörung rettet und zusammen mit Rainald von Dassel und seinen Pariser Freunden die vermeintlichen Leichname der Heiligen Drei Könige, die er im zerstörten Mailand findet, nach Köln überführen lässt, wo sie noch heute im Dom auf bewahrt werden. Er trägt ferner dazu bei, dass an der Universität Bologna die Freiheit von Lehre und Forschung eingeführt wird, sorgt dafür, dass Karl der Große als deutscher Kaiser 1165 heiliggesprochen wird, und trägt dazu bei, dass Alexander III und Barbarossa 1177 in Venedig Frieden schließen und Barbarossa zwölf Jahre später zum dritten Kreuzzug auf bricht, bei dem ihn Baudolino und die Freunde begleiten, Barbarossa aber auf dem Umweg über Kleinasien ertrinken wird. Auch daran ist Baudolino auf tragische Art beteiligt, weiß dies zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht, und so beschließt er, mit seinen Freunden weiter nach Osten, ins Reich des Priesters Johannes zu ziehen. Das gibt Eco Gelegenheit, den Leser des Baudolino mit den Phantasmen vertraut zu machen, die damals ganz wirklich in den Köpfen der Europäer das Bild der unbekannten Welt Asiens prägten, und es gibt ihm ferner Gelegenheit, Baudolinos seelischen Reifungsprozess in drei unglücklichen Liebeserfahrungen vorzustellen. Diese pendeln zwischen amor de lonh, der unerreichbar fernen Liebe, wie der zu Bea- <?page no="282"?> 264 Baudolino oder vom piemontesischen Nebel über Paris und Deutschland trix, der Gattin Barbarossas, und der konkreten Liebe zu Colandrina, die er nach der Schlacht von Legnano geheiratet hatte, die aber kurz darauf an einer Fehlgeburt gestorben war, bevor sie in der Begegnung mit der schönen Hypatia, die (506) vom Bauch an ziegengestaltig war, im fernen Land der Skiapoden (logischerweise in der Akzeptierung der physischen Alterität bzw. in der Überwindung jeglichen Rassismus) ihre geistige und körperliche Vollendung finden. Das alles erzählt Baudolino dem byzantinischen Historiker Niketas Choniates (um 1150 - um 1215), dem er nach seiner Flucht aus dem Land der Skiapoden 1204 in dem von christlichen Söldnern barbarisch verwüsteten Konstantinopel das Leben gerettet hat. Von der grausamen Gegenwart machen sie gemeinsam erzählerische Exkursionen in die Vergangenheit, die von den Ereignissen der Realgeschichte strukturiert ist, aber auch in die ungewisse Zukunft, aus der unsere moderne Welt erstehen wird und in die Baudolino, nachdem er Niketas sein Leben erzählt hat, noch einmal in Richtung Reich des Presbyters Johannes auf bricht, in der Hoffnung, seine ziegenbeinige Geliebte wiederzufinden, deren Name die Erinnerung an jene andere, von fanatischen Christen 415 ermordete neuplatonische Philosophin Hypatia wachhält. Dieser vom barocken Schelmenroman inspirierte Baudolino, der wahrscheinlich und trotz der immensen Textarbeit, die Eco in ihn investiert hat, der beschwingteste und trotz seiner Tragik heiterste aller Eco’schen Romane ist, bleibt so unabgeschlossen offen wie die Geschichte der Menschheit selbst. Eine „geschwätzige Aneinanderreihung von Abenteuern, Allegorien und Allotria“ Im deutschsprachigen Feuilleton deutet sich ein Wandel an. Zwar überwiegen immer noch die Verrisse, aber es werden neuerdings (vor allem in der Regionalpresse und im österreichischen Feuilleton) auch nachdenklichere Töne angeschlagen, und einige wenige Rezensionen sind sogar schon uneingeschränkt positiv.* Das größte Wunder: in diesem Jahr 2001, in dem Eco übrigens den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur erhält, setzt eine von Fritz Rumler, Hans-Jürgen Schlamp und Rainer Traub gebildete Equipe mit der respektvollen Präsentation des Baudolino am 13. 08. 2001 der geistlosen Repetition immer derselben Anti-Eco-Stereotypen im Spiegel ein Ende und kehrt zum ebenso respektvollen (schwedischen) Anfang der Eco- Rezeption in Augsteins Magazin durch Lars Gustaffson zurück! Und noch ein Novum ist zu vermerken: Ganz plötzlich loben nahezu alle <?page no="283"?> 265 Eine „geschwätzige Aneinanderreihung von Abenteuern, Allegorien und Allotria“ Rezensenten den Namen der Rose, den man zuvor unisono verrissen hatte, was freilich da besonders makaber wirkt, wo dieses Lob dazu dient, Baudolino (und Ecos andere Romane) als im Vergleich misslungen zu verreißen. Spornt das Bröckeln der Anti-Eco-Front den Zorn der übrigen Rezensenten an? Man könnte es beinahe vermuten, denn deren Ton wird immer schärfer und die Mobilisierung der Stereotypen immer peinlicher. Die platten Scherze mit „Eco - alter ego“ oder „alter Eco“ und „Eco“ gleich „Echo“ lassen sich kaum noch zählen, und die Feststellung, dass es „zum guten Ton“ gehöre, einen ungelesenen „Eco im Regal stehen zu haben“, gehört ebenso zum Standard-Repertoire wie die altbekannten Behauptungen, dass Eco - im Gegensatz zu (Basler Zeitung, 01/ 02. 09. 01; Stuttgarter Zeitung, 31. 08. 01; Falter Nr. 35, 31. 08./ 06. 09. 2001) Walter Moers mit seinem Käpt’n Blaubär und (Der Stern, 13. 09. 01) John Tolkien mit dem Herrn der Ringe - (Frankfurter Rundschau, 13. 08. 01) kein „genuiner“, sondern allenfalls (Süddeutsche Zeitung, 01/ 02. 09. 01) „ein biederer Erzähler“ sei. „So sehr sich Baudolino Mühe gibt, als saftig-sinnlicher Mittelalter-Roman daherzukommen,“ verkündet Eckhard Fuhr in Die Welt vom 01. 08. 2001 stellvertretend für die Mehrheit seiner Kollegen, „so ist er doch zuallererst eine höchst artifizielle Gedankenspielerei,“ ja, „ein intellektueller Scherzartikel“, was nur allzu logisch ist, denn Eco ist und bleibt nun mal ein (Berliner Zeitung, 01./ 02. 09. 01) von „professioneller Eitelkeit“ geschüttelter Professor, der (Facts, 16. 08. 01) zwar „aus vielen Quellen“ schöpft, damit aber (Tages-Anzeiger/ Zürich, 01. 09. 01) nur „eine mechanische, oft auch geschwätzige Aneinanderreihung von Abenteuern, Allegorien und Allotria“ bzw. eine ebenso „langweilige“ wie „oberlehrerhafte“ „Aufzählung“ vom Niveau einer (FAZ, 20. 12. 00) „geduldigen Einführung für Erstsemester“ zustande bringt, in der (Der Tagesspiegel, 01. 09. 01) „selbst leichte Landmädchen“ „so schwergewichtig“ reden, wie „sonst nur erotisierte Kulturwissenschaftler.“ Kurz (Die Woche, 05. 10. 01): „Die Erzählung aus dem frühen Mittelalter bleibt provinziell, obwohl sie die ganze damals bekannte Welt und alle Kulturkreise erfassen will. Denn sie kennt nur den engen Blickwinkel des Professors, der sich hinter Papierstapeln verschanzt hat.“ Und Dirk Schümer setzt noch einen drauf und befindet in der FAZ vom 20. 12. 00: „zu viel an diesem Buch ist zu arg konstruiert, um mitzureißen, und zu arg fabuliert, um als intellektuelle Denksportaufgabe zu überzeugen. Wie in manchen postmodernen Fabeln Calvinos erscheinen die Personen - der Titelheld voran - als Helden in Anführungszeichen - wobei die Frage, wofür sie denn die geistvolle Allegorie <?page no="284"?> 266 Baudolino oder vom piemontesischen Nebel über Paris und Deutschland zu spielen haben, offen bleiben muss. Für einen drall pikaresken oder […] donquichottesken Roman nach Art eines Grimmelshausen […] fehlt es dem Werk an echter Sinnlichkeit, oder, krass gesagt, an Brutalität.“ Das ist natürlich bedauerlich, denn immerhin hat der „erotisierte Kulturwissenschaftler“ Eco die Brutalität besessen, „Karl May mit Irmtraud Morgner“ zu verkuppeln, wie Fritz J. Raddatz unter dem Titel Herr Professor fährt Riesenrad in der Zeit vom 04. 10. 2001 verkündet. Aber das „Prosakind“, das aus dieser „Ehe“ hervorging, ist nichts anderes als ein „literarischer Versace“, der langatmig scheitert, weil seine „zirzensische Apparatur“ von Eco „überlastet“ wurde und darum „knarzt und knirscht“, was (Tages-Anzeiger/ Zürich, 01. 09. 01) bei „einer [sic! ] ausufernden Candide“, die man auch einen „Historienschinken“ nennt, wegen des Fettgehalts überrascht. Auf diesen verweist Lothar Müller (Süddeutsche Zeitung 01/ 02. 09. 2001) in einer Orgie an Schinken-Metaphorik, die Wie man ein Schwein zu Tode füttert überschrieben ist und derzufolge Baudolino „ein armes Schwein“ ist, „das hastig in sich hineinfressen muss, womit sein Autor es mästet“. Das sei „nicht eben wenig“, teilt Müller seinem Leser mit, denn „dieser Schinken“ sei für „den internationalen Markt“ bestimmt: „Aus den Reportagen über den europäischen Agrarmarkt kennen wir die Schweine, die quer durch Europa gekarrt werden, kaum je auf eigenen Beinen stehen dürfen und schließlich schon vor der Schlachtung aus Schwäche zu sterben drohen. Aus der Welt dieser hypermodernen Monstren stammt dieser norditalienische Exportschinken.“ Wie sagt Raddatz? „Das Ding ist zu dick.“ Baudolino und der Holocaust oder vom „Filmriss im deutschen Bewusstsein“ Kein Zweifel, Baudolino, der italienische Roman, der die Welt des 12.-Jahrhunderts zeigt und hauptsächlich im damaligen Zentrum des Universums, dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation spielt, ist auch und vor allem ein deutsches Ereignis, an dem am meisten überrascht, wie das deutsche Feuilleton auf die Gestaltung der eigenen Nationalgeschichte reagiert. Sieht man von manifesten Absurditäten ab, wie sie z. B. von Georg Klein (Berliner Zeitung, 01./ 02. 09. 01) verbreitet werden, der im Baudolino eine „zeitgenössische Respektlosigkeit vor den fernen Toten“ erkennt und in dieser „Respektlosigkeit“ wiederum die „vielleicht“ „sicherste Methode“, „sich die Vergangenheit, das Staunen vor ihrer Fremdheit wie vor ihrer Vertrautheit weit vom Leibe zu <?page no="285"?> 267 Baudolino und der Holocaust oder vom „Filmriss im deutschen Bewusstsein“ halten“, lässt sich eine gewisse Verärgerung darüber feststellen, dass es ein italienischer Professor gewagt hat, bedeutende Ereignisse der deutschen Nationalgeschichte romanhaft-wahrscheinlich zu gestalten, die in Deutschland (und Österreich) in Vergessenheit geraten waren. Reaktionen wie das Abstempeln der von Eco wiederbelebten Geschichte als (Falter, 31. 08.-06. 09. 01) „geschichtliche Basisinformation“ bzw. als (FAZ, 20. 12. 2000) Andocken an die „offen zutage liegende Welthistorie des zwölften Jahrhunderts“, die zum „Proseminar“-Wissen gehöre, lassen sich jedenfalls kaum anders erklären. Klein aber gibt offen zu, dass „es nicht gut um unsere historische Kultur“ stehe und dass es „längst keine Schande mehr“ zu sein scheine, „wenig von der Vergangenheit zu wissen“, und Raddatz (Die Zeit, 04. 10. 01) bedankt sich immerhin bei Eco dafür, dass er - „wohl wissend, dass kaum ein Leser sich in den diversen Italien-Feldzügen, Mailand- Belagerungen, Zügen nach Jerusalem oder Siegen bei Marengo auskennt“ - „seinem epischen Mäander einige Erläuterungen“ beigefügt habe. „Es ist noch immer wie ein Filmriss in unserem Bewusstsein.“, versucht Peter von Becker (Der Tagesspiegel, 01. 08. 01) die Unkenntnis zu erklären: „Zwischen dem in Dramen, Mythen und Mosaiken, in Tempeln, Pyramiden, Skulpturen weiterlebenden Bild der Antike und ihrem stolzen Widerschein in der Renaissance klafft ein Loch. Ein ziemlich dunkles. Das Mittelalter.“ Dieser Befund wird von dem Historiker Horst Fuhrmann, Spezialist für die Fälschungsgeschichte, bestätigt und gleichzeitig dahingehend korrigiert, dass dieser „Filmriss“ keineswegs auf das Mittelalter beschränkt sei, gibt er doch Karl Heinz Bohrer recht, der kurz vor Erscheinen des Baudolino in einem Vortrag an der Universität Heidelberg moniert habe, dass die Deutschen „keine gefühlsstarke Beziehung mehr zu ihrer nationalen ‚Fernvergangenheit‘, also der Geschichte vor dem Dritten Reich samt dessen Ursprüngen“ hätten. Dies sei ein in Europa einzigartiges Phänomen, für das Bohrer neben der „phantasietötenden Dominanz einer sozialwissenschaftlichen Schule in der deutschen Geschichtswissenschaft“, die er Habermas und Hans Ulrich Wehler anlaste, vor allem „die das ganze historische Interesse aufsaugende Befassung mit dem Holocaust“ verantwortlich mache: Beides verhindere, dass die Deutschen heute ihre Identität auch aus der eigenen nicht nazistischen Geschichte ableiteten. Bohrers Vortrag, der mit dem Titel Erinnerungslosigkeit am 16. 06. 2001 in der Frankfurter Rundschau erschien,* löste erregte Diskussionen aus, die bis heute andauern und in der, wie Fuhrmann konstatiert, auch Baudolino als Beleg dafür herangezogen wurde, dass das <?page no="286"?> 268 Baudolino oder vom piemontesischen Nebel über Paris und Deutschland Interesse der Deutschen „am Mittelalter zwar lebhaft, aber nicht historisch gewichtet, sondern ethnologisch-exotisch“ sei: „Die „neben dem Titelhelden“ „zentrale Figur“ des Romans, „der deutsche Kaiser Friedrich Barbarossa“, sei zwar „in der italienischen Erinnerung gegenwärtig“, nicht aber in der deutschen: „Die Partei Lega Nord des Umberto Bossi nimmt die gegen Friedrich Barbarossa zusammengeschlossene Lombardische Liga in ihrem Namen auf, und auf dem Marktplatz des Schlachtenortes Legnano steht das Denkmal des Siegers über Barbarossa Alberto da Giussano. Die Deutschen rechnen Barbarossa nicht sich zu; er ist ihnen eine Romanfigur aus einer anderen Welt.“ In der Tat bestätigt die Reaktion des deutschen Feuilletons auf Ecos Baudolino diesen Befund, wie nicht nur die Eingeständnisse der Klein, Raddatz und von Becker beweisen. Statt die politisch engagierte, gegen die rechtsradikal-nationalistische Regionalpolitik der Lega Nord und damit gegen Berlusconi und für ein demokratisch-geeintes, aufgeklärtlinkes Europa gerichtete Wiederbelebung der deutschen Geschichte im Baudolino zu begrüßen, wird sie ins Lächerliche gezogen und (FAZ, 09. 10. 01) mit Polemik gegen die „Baedekerei“ „des Professors Eco“ bedacht, der seine „Wissensschätze zu handlichen Paketen“ bündele, um damit - auch als „schwerfällige Hommage an Hollywood und die Spielbergsche Welt von ‚Indiana Jones‘“ - „all die Löcher“ zu stopfen, „welche die Chronisten des zwölften Jahrhunderts nicht schließen konnten.“ Auf diesem Hintergrund kann nicht überraschen, dass Eco - wie zur Bestätigung der Bohrerschen Thesen - auch noch ausdrücklich wegen seines Versuchs angegriffen wird, im Rückgriff auf die deutsche Geschichte deutlich zu machen, dass der Antisemitismus, der im Nazismus seine schrecklichste Ausprägung finden sollte, nicht notwendig in der deutschen Nationalgeschichte begründet war. Natürlich hatte es auch in früheren Jahrhunderten Antisemitismus in Deutschland gegeben, aber den gab es in ganz Europa (wie u. a. die grausamen Zwangskonversionen und Vertreibungen der Juden im Spanien der Katholischen Könige beweisen), und ebenso natürlich hatte Deutschland - wie alle anderen Nationen - auch Epochen des friedlichen kulturell-religiösen Miteinanders gekannt, was Eco - als damalige Möglichkeit für eine andere geschichtliche Entwicklung - im internationalen Freundschaftsbund des Deutsch-Italieners Baudolino verdeutlicht, dem auch Rabbi Solomon von Geronin angehört, der Barbarossa so große Dienste erweist, dass dieser (B 352) im Namen [s]eines Volkes schwört, die Teutonen würden auch in den kommenden Jahrhunderten - wie schon in der Vergangenheit - die Angehörigen <?page no="287"?> 269 Die Pflicht zur historischen Wachsamkeit von Solomons Rasse schützen. Dieser Schwur lässt „den deutschen Leser“ Roland H. Wiegenstein - der immerhin bekennt, es lohne, Baudolino zu lesen, weil man in ihm „vom Mittelalter mehr erfahren“ könne, „als in unseren Schulbüchern steht“ - in der Frankfurter Rundschau vom 13. 09. 01 „zusammenzucken“, denn - wie er ironisch vermerkt - diesen Schwur müsse das deutsche Volk „gründlich vergessen haben, nachdem es den Alten in den Kyffhäuser verbannte.“ Und ein anderer deutscher Leser, Dirk Schümer, erklärt in der FAZ vom 20. 12. 00, Eco schildere „wohl wider besseres Historienwissen“ „die Deutschen des zwölften Jahrhunderts als besondere Beschützer der Juden, auf dass den heutigen, von der Geschichte eines Schlechteren belehrten Lesern ein Licht aufgehe.“ Von welcher Geschichte Schümer da spricht, wird von ihm nicht präzisiert, auch wenn wahrscheinlich ist, dass er die des Nazismus und des Holocaust meint, denn dass er mit seiner Kritik an Eco eine Kontinuität der deutschen Schuld vom 12. Jahrhundert bis 1933 suggerieren wollte, welche logischerweise die Nazis diskulpieren würde, sollte ihm nicht unterstellt werden. Gewiss aber ist, dass er mit seinem Kommentar voll und ganz Bohrers Thesen bestätigt und dass ihm auch nicht entfernt der Gedanke kommt, dass es einem Italiener, der durch die Erfahrung des Faschismus zum engagierten Demokraten wurde und der sich deutsche Kultur und Philosophie so zu eigen gemacht hat wie kaum ein anderer Intellektueller unserer Epoche, der darüber hinaus mit einer Deutschen verheiratet und Vater zweier deutsch-italienischer Kinder ist, ein intellektuelles und moralisches Bedürfnis sein könnte, die reale Geschichte des nicht nazistischen deutschen Volkes artistisch-wirksam in Erinnerung zu rufen, um auf diese Weise dazu beizutragen, dass sich die Menschheit den humanistisch-aufgeklärten Prinzipien entsprechend weiter entwickelt, deren geschichtliche Existenz, verpasste Entwicklung und ethische Notwendigkeit er in seinen Werken unter Einschluss des Baudolino aufzuzeigen versucht. Die Pflicht zur historischen Wachsamkeit Baudolino macht deutlich, welch erschreckende Dimension das Versagen der deutschen Literaturkritik vor diesem auf Italienisch schreibenden franko-germano-piemontesischen Autor hat, der - und sei es auch nur als kulturhistorisches Phänomen mit speziellem Deutschland-Bezug - unbestreibar zu den wichtigsten Schriftstellern unserer Epoche zählt. Gewiss, es mag mildernde Umstände geben, zu denen gehört, dass (noch) nicht alle Texte Ecos ins Deutsche übersetzt sind <?page no="288"?> 270 Baudolino oder vom piemontesischen Nebel über Paris und Deutschland und einige in problematischen Editionen vorliegen. Aber haben wir nicht multimediale Möglichkeiten, uns sachkundig zu machen? Und haben wir auf Grund unserer Vergangenheit und unserer angeschlagenen kulturellen Identität nicht die Pflicht, den Dialog, der uns im vereinten Europa angeboten wird, aufzugreifen und darüber hinaus dem, der ihn nicht zuletzt auch anbietet, um auf vergleichbar schwierige Probleme in seinem eigenen Land aufmerksam zu machen, mit dem Ernstnehmen seiner Texte zu Hilfe zu eilen, statt von oben herab, und wenn überhaupt, wie Roland H. Wiegenstein auf die politischen Dimensionen seiner Texte einzugehen und - wie im Fall Baudolino - zu erklären „die mittelalterlichen Streitigkeiten zwischen Alessandria, Lodi, Mailand, Genua, Cremona, Pavia eignen sich als Beispiele für Bossi und Genossen nur bedingt.“ Was, so könnte man fragen, würde sich denn dann in einem Roman über Norditalien zur Zeit Kaiser Barbarossas „unbedingt“ dazu eignen, geschichtlich-kritisches Licht auf die offenbar erfolgreiche propagandistische Verwertung eben dieser Epoche durch die rechtsradikale Lega Nord des Umberto Bossi zu werfen? Kein Zweifel, Bohrer kann nicht unrecht haben: Deutschland- - oder doch zumindest sein Feuilleton - scheint im (literarischen) Rekurs auf Geschichte keinen sinnstiftenden Bezug mehr für das Sein der Menschen in unserer Zeit zu erkennen. Das allein kann Anmerkungen wie die von Wiegenstein erklären, wobei diesem die Ehre zukommt, überhaupt auf die politische Dimension des Eco’schen Romans einzugehen, die von den meisten Rezensenten so gut wie gar nicht wahrgenommen wird. So entgeht ihnen - mit ganz wenigen Ausnahmen -, dass es Eco keineswegs darum geht, mit Baudolino „die Löcher“ zu stopfen, „welche die Chronisten des zwölften Jahrhunderts nicht schließen konnten“, eine Unterstellung, die schon deshalb absurd ist, weil Eco - beanstandet von vielen Kritikern wie Georg Klein in der Berliner Zeitung, der deshalb beim Lesen Baudolinos „Sehnsucht nach einem echten Historienschinken“ bekommt - „in diesem Buch fast alles schlau ironisiert“, um die zum Nachdenken nötige Distanz herzustellen, was da, wo es ausnahmsweise einmal erkannt wird wie von Klaus Nüchtern im Falter, sofort wieder Agressivität auslöst: „Alle Geschichtsschreibung ist Lüge, Fiktion, zurechtgebogene Wahrheit - so lautet die nicht übermäßig kühne Grundthese des Buches.“ Auch wenn sich Eco auf Grund seines Nachdenkens über die semiotische Funktion der Lüge diese „nicht übermäßig kühne Grundthese“ kaum zu eigen gemacht haben dürfte, verweist Nüchtern doch zumindest auf eine weitere geschichtskritische Dimension des Baudolino, der sich - Ecos Konzeption des historischen Romans entspre- <?page no="289"?> 271 Die Pflicht zur historischen Wachsamkeit chend - als fiktiv-realistische Ergänzung zur Historiographie versteht: die Fehlbarkeit der Geschichtsschreibung und die Notwendigkeit ihrer kritischen Hinterfragung. Eco versucht, dies am Beispiel des Briefs des Priesters Johannes deutlich zu machen, und das ist durchaus kein alberner „Gelehrtenscherz“, sondern verweist auf die unheilvolle Rolle, die derartige Fälschungen für die reale Menschheitsgeschichte und damit auch für die Historiographie, die auf sie hereinfiel oder mit ihr weiterfälschte, besessen hat und - wie der Krieg im Irak beweist - noch immer besitzt: Von der Urkunde aus dem 8. Jahrhundert, derzufolge Kaiser Konstantin I. (um 280-337) dem Papst Silvester I. den Vorrang der römischen Kirche über alle anderen Kirchen sowie die Herrschaft über Rom und die westliche Hälfte des Römischen Reiches unter Einschluss von Italien übertragen hatte und die als Konstantinische Schenkung in die Annalen eingehen und Auswirkungen bis in unsere Gegenwart haben sollte, obwohl sie bereits 1440 von Lorenzo Valla als Fälschung entlarvt wurde, bis hin zu den sogenannten Protokollen der Weisen von Zion, die u. a. von Hitler, Himmler, Rosenberg benutzt wurden, um ihre antisemitischen Verbrechen zu rechtfertigen. Eco hat diese Fälschungsgeschichte sorgfältig analysiert, was jeder Kritiker, der seine diesbezüglichen wissenschaftlichen Texte nicht zur Kenntnis nehmen wollte oder konnte*, zumindest aus dem Foucaultschen Pendel hätte entnehmen können, um - z. B. - zu erkennen, dass der Brief des Priesters Johannes im Baudolino exemplarisch auch auf diesen Kontext verweist, aus dem Eco 1995 in Die Kraft des Falschen die Ermahnung ableitete, die Erkenntnis, daß unsere Geschichte von vielen Erzählungen bewegt worden ist, die wir heute als falsch erachten, müsse uns wachsam machen und befähigen, unermüdlich gerade diejenigen Erzählungen in Frage zu stellen, die wir heute für wahr halten, denn das Kriterium der Weisheit einer Gemeinschaft beruht auf der ständigen Wachsamkeit gegenüber der Fehlbarkeit unseres Wissens (BP 304). <?page no="290"?> Ecos Aufruf zu einem moralischen Referendum und später Beginn eines langsamen Umdenkens im deutschen Feuilleton Libertà e Giustizia oder ist das etwa kein Regime? - Das deutsche Feuilleton „dankt“ plötzlich „Gott“ für Ecos Romane - Quasi dasselbe mit anderen Worten oder von Ecos Einbürgerung in die deutsche Literatur Libertà e Giustizia oder ist das etwa kein Regime? Als im Frühjahr 2001 Giuliano Amatos mehr oder weniger ad hoc zusammengebastelte Mitte-Links-Regierung platzt, steht Berlusconi bereits mit einer neuen, um seine Forza Italia versammelten und zynisch Casa delle libertà (Haus der Freiheiten) genannten Koalition von konservativen und neofaschistischen Parteien wie der Alleanza Nazionale und der Lega Nord zum Wahlkampf bereit, in dem auch Eco wieder warnend seine Stimme erhebt. Am 4. Mai veröffentlicht er in Golem einen Appell für ein moralisches Referendum, der von La Repubblica und auf Deutsch am 12. 05. 01 von der Süddeutschen Zeitung übernommen wird. Niemandem würde es gefallen, schreibt er, eines Morgens aufzuwachen und zu entdecken, daß alle Zeitungen, vom Corriere della sera bis zum Manifesto, alle Wochen- und Monatszeitschriften, vom Espresso bis Novella 2000, und sogar alle Online-Magazine ein und demselben Eigentümer gehören und daher schicksalhaft, ob sie wollen oder nicht, dessen Meinungen widerspiegeln. Wir würden uns weniger frei fühlen. Genau das ist es aber, was bei einem Sieg von Berlusconis sogenanntem ‚Pol der Freiheiten‘ geschehen würde, zumal Berlusconi darüber hinaus noch Fernsehanstalten besäße und - einmal gewählt- - durch politische Kontrolle die Macht über die staatlichen TV-Sender erringen würde, die für die öffentliche Meinungsbildung wichtiger seien als alle Zeitungen zusammen: In Kürze hätten wir ein De-facto-Regime, erklärt Eco unter Anspielung auf Mussolini und fordert auf, gegen die Errichtung dieses De-facto-Regimes, gegen die Ideologie des Spektakels und für die Bewahrung der Informationsvielfalt in Italien einzutreten: Betrachten wir die anstehenden Wahlen als ein moralisches Referendum, dem sich niemand entziehen darf. <?page no="291"?> 273 Libertà e Giustizia oder ist das etwa kein Regime? Aber es sind viele, die sich dieser moralischen Pflicht entziehen: Berlusconi gewinnt die Wahlen am 13. Mai 2001. Das veranlasst 2002 eine Gruppe engagierter Intellektueller, zu der die Architektin Gae Aulenti, der Physiker Giovanni Bachelet, die Abgeordnete Sandra Bonsanti, der Journalist Enzo Biagi, der Jurist Alessandro Galante Garrone, Claudio Magris, der Wirtschaftsjurist Guido Rossi, der Mediziner Umberto Veronesi und natürlich Umberto Eco gehören, aus tiefer Sorge um Italien ein Bürgerforum zu gründen, das sich zu Ehren von Giustizia e Libertà, der antifaschistischen Emigranten-Bewegung, Libertà e Giustizia (Freiheit und Gerechtigkeit) nennen und der demokratischen Opposition die Möglichkeit geben wird, sich Gehör zu verschaffen. Eco selbst wird nicht müde, in diesem Forum, aber auch im Golem, in MicroMega und in seinen Bustine immer offener und dezidierter gegen den Rechtskurs Italiens unter Berlusconi Stellung zu beziehen, was ihm - als vergleichsweise harmlose Reaktion in einem Land, in dem die Ermordung missliebiger Journalisten, Staatsanwälte und Richter zum politischen Alltag gehört(e) - entsprechende Polemik in den rechten Massenmedien einträgt, in denen immer unverhohlener die öffentliche Meinung gegen diesen unsympathischen Querulanten angeheizt wird, der den sympathischen Berlusconi unentwegt grundlos attackiere. Ich habe so oft unter dem Vorwurf gelitten, ich wolle um jeden Preis sympathisch erscheinen, kontert Eco ironisch, daß es mich nun mit Stolz und tugendhafter Genugtuung erfüllt, mich als unsympathisch zu entdecken. Und er fügt hinzu, der Vorwurf, für Berlusconi keine Sympathie zu zeigen, sei kurios, habe man doch - si parva licet componere magnis bzw. falls der unbescheidene Vergleich gestattet sei - den Mussolini-Gegnern Rosselli, Gobetti, Salvemini, Gramsci, um nicht von Matteotti zu sprechen, auch nicht den Vorwurf gemacht, sie seien nicht genügend verständnis- und respektvoll mit ihrem Gegner umgegangen. Kurz: Eco lässt sich nicht einschüchtern, wie u. a. sein Resümee der „Politik“ Berlusconis ausweist, das er im September 2003 in Micro- Mega vorlegt und dass in Deutschland auszugsweise von der Süddeutschen Zeitung am 24. 10. 03 übernommen wird: 1. Berlusconi ist mit dem alleinigen Ziel in die Politik gegangen, Prozesse abzublocken oder abzuwenden, die ihn ins Gefängnis bringen konnten. 2. Berlusconi ist dabei, ein autoritäres System nach Konzernherrenart zu errichten […] 3. Berlusconi betreibt sein Projekt, indem er sich auf eine unbestreitbare Wählerzustimmung stützt […] 4. Gestützt auf diese Wählerzustimmung läßt Berlusconi Gesetze verabschieden, die allein in seinem persönlichen Interesse liegen und nicht in dem des Landes […]. Aus all <?page no="292"?> 274 Ecos Aufruf zu einem moralischen Referendum diesen Gründen, schließt Eco, verhielte sich Berlusconi nicht wie ein Staatsmann sich zu verhalten habe, sondern täusche die Bevölkerung mit demokratischem Gehabe, was gefährlicher sei als das Vorgehen von Diktaturen alten Stils, gaukle es doch vor, mit den Prinzipien eines demokratischen Staates vereinbar zu sein. Ergebnis all dieser evidenten und dokumentierten Beobachtungen: Berlusconi hat die Phase des Interessenkonfliktes überwunden, um sich jeden Tag etwas mehr der absoluten Interessenkonvergenz zu nähern, soll heißen, dem Land den Gedanken akzeptabel zu machen, daß seine persönlichen Interessen mit denen der ganzen Nation zusammenfallen. Zwar scheint Eco gleichzeitig einen Rückzieher zu machen, wenn er zugibt, dass es in der Tat unangebracht sei, Berlusconis Regierung mit dem faschistischen Regime Mussolinis gleichzusetzen, denn man müsse ehrlicherweise zugeben, daß Berlusconi im Gegensatz zu Mussolini nicht die Pressefreiheit abgeschafft, nicht das Parlament gleichgeschaltet und keine Dissidenten in die Verbannung geschickt habe. In Wahrheit aber benutzt Eco nur einen rhetorischen Trick, um dem Leser noch deutlicher vor Augen zu führen, dass Berlusconi mit Hilfe der von ihm Zug um Zug in Besitz genommenen Medien im Bewusstsein der Massen die Gleichsetzung seiner Partei, des Landes und des Staates mit seinen eigenen Geschäftsinteressen plausibel und so die Abschaffung der Pressefreiheit bzw. die Gleichschaltung des Parlaments überflüssig gemacht und damit elegant die Errrichtung einer autoritären Regierungsform in die Wege geleitet habe. Darum könne man Berlusconis Regierung trotzdem ein Regime nennen, hakt Eco 2004 in La Repubblica nach, denn das sei eine Regierungsform, die nicht notwendig faschistisch sein müsse: Der Faschismus schaffte die Pressefreiheit ab, das mediale Regime Berlusconis ist nicht so grob und antiquiert. Es weiß, daß man Konsens organisiert, indem man die Informationsmittel mit der größten Breitenwirkung, und das heißt: speziell das Fernsehen, kontrolliert, wobei das Überlassen einer Mini-Quote an die Opposition den Eindruck erweckt, als herrsche - im Gegensatz zum Italien Mussolinis, wo die oppositionellen Medien verboten waren - Informationsfreiheit und Medienvielfalt: Wenn über ein bestimmtes Gesetz diskutiert wird, stellt man es kurz vor und erteilt dann sogleich der Opposition das Wort, die alle Einwände vorbringt. Danach folgen die Vertreter der Regierung, die diese Einwände widerlegen. Das überzeugende Ergebnis ist vorprogrammiert: Recht hat, wer zuletzt spricht. <?page no="293"?> 275 Das deutsche Feuilleton „dankt“ plötzlich „Gott“ für Ecos Romane Das deutsche Feuilleton „dankt“ plötzlich „Gott“ für Ecos Romane Natürlich muss Berlusconi das alles ebenso auf die Nerven gehen, wie der Dokumentarfilm Citizen Berlusconi von Suzan Gray, dessen italienische Version u. a. von Stefano Eco vertrieben und dessen Präsentation beim European Documentary Festival 2003 in Oslo auf Betreiben der italienischen Botschaft unterbunden wird.* Aber beim Namen Eco ist trotz allem Zurückhaltung geboten, zumal die internationale Presse von Europa bis USA, von El Pais über Le Monde bis zur Los Angeles Times inzwischen alle wichtigen Stellungnahmen Umberto Ecos dokumentiert. Auch in Deutschland erscheinen sie, wo sich neben dem Spiegel vor allem Die Zeit, die FAZ und die Süddeutsche Zeitung entsprechende Verdienste erwerben. Das alles steigert den Verdruss der rechten Regierungsallianz in Italien, macht ihr aber deutlich, dass sie diese Kritik hinnehmen muss, um in der europäischen Liga mitspielen zu dürfen, zumal Ecos Renommee als Wissenschaftler, moralische Instanz und großer Schriftsteller universelle Dimensionen angenommen hat. Das wird 2002 besonders deutlich, erscheinen doch rund um den Globus Huldigungen aus Anlass seines siebzigsten Geburtstages. Auch in Deutschland, wo Dirk Schümer in der FAZ vom 5. Januar 2002 die vermutlich enthusiastischste Hymne auf den Romancier Eco anstimmt und „Gott“ dafür dankt, dass sich Eco „aufs Romanschreiben“ verlegt und - laut Schümer: auf dem Niveau von Grimmelshausen, Thackeray, Raabe, Thomas Mann, Joyce und Borges - „den großen Roman wieder in der Geschichte“ verankert „und aus dem Elfenbeinturm der mit sich selbst beschäftigten Sprachspieler“ herausgeholt habe. Dass Schümer dies mit der Behauptung verbindet, „die Linguisten, die Kunsthistoriker, die Mediävisten, die Musikforscher und die Literaturwissenschaftler“ hätten sich erst „mit der gehörigen Expertenverspätung und dem anfänglichen Degout der Vernagelten“ dem Eco’schen Opus genähert, ohne doch je den „intellektuellen Lesegenuss“ „erklären“ oder „zerstören“ zu können, stellt jedoch einen weiteren Höhepunkt deutschen Feuilleton-Nonsens’ in Sachen Eco dar und wird von Gustav Seibt in seiner Geburtstags-Adresse vom 5.-6. Januar 2002 in der Süddeutschen Zeitung denn auch korrekt (und durchaus selbstkritisch) dementiert: „Die Literaturkritik hat sich beim Namen der Rose, dem Foucaultschen Pendel und auch der Insel des vorigen Tages oft ostentativ gemopst; die Leser ergriffen jedoch vor allem dankbar einen Stoff, und dass bei Umberto Ecos letztem, ziemlich einhellig verrissenen Roman Baudolino, der das Leben von Kaiser Barbarossa aufgreift, sich gerade das deutsche Publikum als besonders treu erwies, spricht Bände.“ <?page no="294"?> 276 Ecos Aufruf zu einem moralischen Referendum Seibt hat recht: an der Rezeption der - auch als Beitrag zum geschichtlich-philosophischen Dialog mit seiner zweiten oder dritten geistigen Heimat konzipierten - Romane Ecos in Deutschland hat das Feuilleton, das noch 2002 in der Lage ist, vom Namen der Rose als (Die Zeit 44) von einem „Bastard“ zu sprechen, den „die Sehnsucht des Elitemenschen nach Popularität“ hervorgebracht habe, so gut wie überhaupt keinen Anteil. Zum Teil geradezu blindwütig - wie Schümer selbst noch ein Jahr zuvor in seiner Baudolino-Besprechung, in der er sogar gefragt hatte, ob Eco vielleicht den Roman wegen seines „Erstsemester“-Niveaus seinem gerade geborenen Enkel gewidmet habe - mit immer wieder denselben stereotypen Argumenten „aus dem Bauch heraus“ auf Ecos Texte einprügelnd, hat das Feuilleton - im Gegensatz zu den deutschen Geisteswissenschaftlern, die vom ersten Augenblick an von Ecos Romanen fasziniert bis begeistert waren, aber auch im Gegensatz zur internationalen Literaturkritik und später sogar im Gegensatz zu den für Politik zuständigen Zeitungsredaktionen - auf geradezu pathologische Art versucht, die Rezeption von Ecos Romanen zu verhindern. Ja, diejenigen, denen - neben und vor den Geisteswissenschaftlern - vor allem zu danken ist, dass Ecos geniales Angebot zum deutsch-italienischen Dialog über Geschichte, nationale Identität, gemeinsame Traumata, künstlerisch-humanistisches Erbe und notwendiges demokratisches Engagement nicht ganz verloren ging, die anonymen Leser, die Seibt zu Recht ehrt, sind von der Feuilletonkritik geradezu verhöhnt und beleidigt worden. Umso verdienstvoller die frühe Entscheidung des Hanser Verlages, die literarischen Werke von Eco ins Programm aufzunehmen, und ganz besonders verdienstvoll die Arbeit der Übersetzer, allen voran Burkhart Kroeber, dem es gelungen ist, Ecos Werke bisweilen durchaus „kongenial“ ins Deutsche zu übertragen und so auch in der deutschen Literaturgeschichte zu verankern. Ihm gebührte - im Namen des deutschen Volkes - dafür durchaus das Bundesverdienstkreuz, denn wie Seibt richtig erkennt: „Einen demokratischeren Intellektuellen als Eco kann man sich nicht denken.“ Und den auch in Deutschland bekannt gemacht zu haben, ist schon ein großes Verdienst. Quasi dasselbe mit anderen Worten oder von Ecos Einbürgerung in die deutsche Literatur Dass Übersetzungen von Texten, die - wie Ecos Romane - Sprachspiel an Sprachspiel reihen sowie Montagen von Zitaten aus unterschiedlichen Epochen integrieren, wobei Material aus verschiedensten Spra- <?page no="295"?> 277 Quasi dasselbe mit anderen Worten chen wie Griechisch, Latein, Französisch, Spanisch, Englisch, Deutsch oder Piemontesisch Verwendung findet, für die Übersetzer enorme Probleme aufwerfen müssen, liegt auf der Hand. Genauso logisch, dass diese Übersetzungen für den Verfasser der zu übersetzenden Texte selbst Anreiz zum Nachdenken über die Metamorphose sein müssen, denen seine Texte unterworfen werden, zumal wenn dieser Verfasser auch noch Linguist, Semiotiker, Poet und Erzähler in einem ist, einige dieser Sprachen selber beherrscht und infolgedessen von den Übersetzern in diese anderen Sprachen bei Unklarheiten konsultiert werden kann. Das Ergebnis dieser Begegnungen - vor allem mit William Weaver, Burkhart Kroeber, Jean-Noël Schifano und Helena Lozano, seinen Übersetzern ins Englische, Deutsche, Französische und Spanische - sowie der Arbeit an seinen eigenen Übersetzungen von Queneaus Exercices de style und Nervals Sylvie erschien 2003 mit dem Titel Dire quasi la stessa cosa. Esperienze di traduzione bzw. - übersetzt von Kroeber, der es mit zusätzlichen eigenen Anmerkungen versieht, die Licht auf seine Übersetzungen ins Deutsche werfen - 2006 mit dem Titel Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen. Diese Studie, so Eco, versuche darzulegen, dass Übersetzen heiße, das innere System einer Sprache und die Struktur eines in dieser Sprache gegebenen Textes [zu] verstehen und dann ein Double des Textsystems [zu] schaffen, welches […] beim Leser ähnliche Wirkungen […] sowohl auf der semantischen und syntaktischen Ebene wie auf der stilistischen, metrischen, lautsymbolischen und in den Gefühlsregungen, die der Originaltext hervorrufen wollte, erzeugen könne. Doch obwohl Eco darauf insistiert, dass sich dieses Buch nicht als eine Theorie der Übersetzung verstehe, allein schon, weil es zahllose übersetzungstheoretische Probleme offen ließe, und obwohl dem Text in der Tat so etwas wie ein Wechselspiel von abduktionistischem Interpretationsprozess und poetischer Invention zugrunde liegt, was vielleicht erklärt, warum Eco das Bedürfnis verspürt hat, die Materie wie einen wissenschaftlichen Text numerisch-rigoros zu strukturieren, entfernt sich dieser Essay über das Übersetzen literarischer Texte von diesen in Richtung sprachwissenschaftliche Systematik, was seine Einordnung in Ecos Gesamtwerk nicht erleichtert. Dennoch steht außer Frage, dass Eco dieses Buch auch verfasste, um seine Übersetzer zu ehren, und die deutsch-italienische Dimension seines Werkes macht Ecos manifeste Zufriedenheit mit seiner „Einbürgerung“ durch Burkhart Kroeber verständlich. Unter all meinen Übersetzern ist Kroeber vielleicht derjenige, der sich das Problem der Einbürgerung (oder, als guter Nachfahre Luthers, der Verdeutschung) am klarsten gestellt hat, <?page no="296"?> 278 Ecos Aufruf zu einem moralischen Referendum schreibt er und fügt hinzu, dass sich Kroeber im Licht des von ihm über die Notwendigkeit Gesagten, jenseits des Wörtlichen auch die Wirkung eines Textes wiederzugeben, […], an einen nicht oberflächlichen Begriff von Treue der Übersetzung gehalten hat. <?page no="297"?> Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana oder das Buch vom Tod Eine saublöd-geniale Geschichte um Lila - Das fünfte Buch des Pentateuch - Vom Schönen und vom Hässlichen in der Kunst Eine saublöd-geniale Geschichte um Lila 2004 führt Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana aus dem Zwischenreich der Übersetzung zurück in das der epischen Produktion, wobei der Untertitel des Textes, Illustrierter Roman, eine neue Dimension Ecoscher Narrativik anzeigt bzw. auf den Beginn seiner kindlichen Romanproduktion der vierziger Jahre zurückverweist. In der Tat wird der Roman durch Bilder strukturiert, die in einem dialogisch-illustrativen Verhältnis zum Text stehen, der in drei Teile unterschiedlicher Länge gegliedert ist. Der erste ist Der Unfall überschrieben und wird von vier Kapiteln gebildet, der zweite, zehn Kapitel lang, Ein Gedächtnis aus Papier, und der dritte, wiederum nur vier Kapitel lang, ΟΙ ΝΟΣΤΟΙ (Heimkehren). Während der erste Teil zunächst ohne Bilder beginnt und neben einer Zeichnung des Protagonisten (bzw. Umberto Ecos selbst) erst in der Mitte des vierten Kapitels drei Bilder aus einem Mickey-Mouse-Comic von 1937 präsentiert, beginnt der zweite Teil recht schnell mit Illustrationen, die sich - bis auf wenige Unterbrechungen - mit dem Text die Waage halten, im dritten Teil dann zunächst erst rarer werden, bevor sie zum Ende hin crescendoartig an Format zunehmen und immer dichter aufeinander folgen und den Text in kleinere Fragmente sprengen, bevor dieser sich wieder zusammenfügt und nach einigen bildlosen Seiten abrupt endet. Als der von seinen Freunden Yambo genannte Mailänder Antiquar Giambattista Bodoni - nach einem Schlaganfall oder einer Herzattacke - am 25. April 1991 aus tiefer Bewusstlosigkeit im Krankenhaus aufwacht, erfährt er von Gratarolo, dem behandelnden Arzt, den er zunächst nur mühsam wie durch dichten Nebel erblickt, dass sein Unfall Konsequenzen hat, die noch nicht abzuschätzen seien und ebenso rasch verschwinden wie dauerhaft-unheilbar bleiben könnten. Tatsächlich hat Bodoni sein episodisches oder autobiographisches Gedächtnis verloren, weiß also nicht mehr, wer er ist. Dafür aber hat er sein semantisches Gedächtnis behalten (KL 17) kraft dessen man weiß, <?page no="298"?> 280 Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana oder das Buch vom Tod daß eine Schwalbe ein Vogel ist und daß die Vögel fliegen […] oder auch, daß Napoleon […] gestorben ist. Kurz, Bodoni hat das Gedächtnis für all sein (immenses) historisch-kulturelles Wissen bewahrt, kann sich dafür aber weder an sich selbst und sein eigenes Leben, noch an seine Frau Paola, eine Psychologin, seine zwei Töchter und seine drei Enkelkinder erinnern, auch wenn er durchaus mit seiner Umwelt über Zitate aus seinem Bildungsschatz und speziell aus Romanen und Gedichten kommunizieren kann. In der Hoffnung, dass die Begegnung mit den Orten seiner Kindheit sein episodisches Gedächtnis wieder in Gang setzt, beschließt Paola, den vier Tage nach dem Erwachen aus dem Krankenhaus entlassenen Bodoni nach Solara, dem Dorf in den Langhe, zu bringen, damit er dort im Haus des Großvaters im Kontakt mit der Umwelt und speziell den Büchern, die er in seiner Kindheit gelesen hatte, aber auch im Gespräch mit Amalia, der alten Haushälterin, die Erinnerung an die Zeit zurückgewinnt, die er dort in den dreißiger Jahren zunächst in den Sommerferien und dann - mit Mutter und Schwester aufs Land geflüchtet, um den Bombardierungen seines Heimatortes zu entgehen - ohne Unterbrechung von 1943 bis 1945 verbracht hatte. Denn bei diesem Versuch, die Erinnerung an die Kindheit wiederzugewinnen, kann ihm seine Familie nicht wirklich helfen, hat er ihr doch so gut wie nichts von seiner Kindheit erzählt. Selbst Paolas Erinnerung an den jungen Bodoni beschränkt sich auf die gemeinsame Studienzeit an der Universität Turin. Dort hatte Bodoni Geisteswissenschaften studiert und über Horapollos Hypnerotomachia promoviert, was auch erklärt, warum er (neben dem als Kind bereits erlernten Französischen) so gute Kenntnisse des Deutschen besitzt, denn wie Bodoni von Paola erfährt (bzw. wie Eco einmal mehr als Hommage an Windelband einfließen lässt), hat er zum Studium deutsche manuali benutzt, e tu, sagt ihm Paoloa, dei manuali sai tutto: von den Lehrbüchern weißt Du alles.* Bodonis Aufenthalt in Solara, der Belbos Wiederbegegnung mit der Bibliothek in der alten Residenz seines Onkels im Turiner Hügelland in Erinnerung ruft, erlaubt es Eco, über Bodonis Konsultation der dort vom Großvater (aber auch von ihm selbst) angehäuften Dokumente und Erinnerungsstücke ein rezeptionsgeschichtlich meisterhaftes, aus der Perspektive einer Kindheit im faschistischen Italien verfasstes Psychogramm der Mussolini-Zeit vorzulegen. Ecos analytisch-narrativer Blick umfasst Dokumente vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Faschismus: vom Bilderbuch und Bilderbogen über Modejournale, Enzyklopädien, Kaffeedosen, Teebüchsen, Briefmarken, Zigarren- und Zigarettenschachteln bis zu Schulbüchern und faschistisch-rassistischen <?page no="299"?> 281 Eine saublöd-geniale Geschichte um Lila Comics und Filmplakaten. Das alles wird vertieft und angereichert durch Bildmaterial von Illustrationen aus Romanen bis zu Familien- und Kinderfotos, ein Material, das nur da in den Hintergrund tritt, wo Eco/ Bodoni sich über das Abhören von Grammophonplatten auf akustische Erinnerungssuche begibt und wo Filmmusik, italienische, aber auch amerikanische oder europäische Schlager sowie faschistische Triumph- und Balillagesänge evoziert werden. Dabei durchzuckt Bodoni von Zeit zu Zeit der vage Anflug der einen oder anderen Erinnerung, speziell die unklare Vision einer geheimnisvollen Flamme, und er entdeckt denn auch das illustrierte Album der Misteriosa fiamma della regina Loana, einer (280) saublöden Geschichte, die in ihm die Ahnung aufsteigen lässt, dass sie bestimmend für sein weiteres Leben gewesen sein könnte. Aber auch die Befragung von Amalia bringt nichts, und erst als Bodoni eigene Liebesgedichte aus seiner Jugend aufstöbert, dehnt er seine Befragung aus, lässt seinen Jugendfreund Gianni Laivelli, der sich ihm nach dem Krankenhausaufenthalt wieder vorgestellt hatte, nach Solara kommen und erfährt von diesem, dass er einst unsterblich in eine Schulgefährtin verliebt gewesen war, die er Lila Saba nannte, die aber in Wirklichkeit ganz anders geheißen habe. Zu irgendeiner Beziehung sei es jedoch nicht gekommen, da Bodoni - wie Roberto della Griva in Alessandria - zu schüchtern gewesen sei, die von ihm angehimmelte Lila anzusprechen, diese im Übrigen mit ihren Eltern nach Lateinamerika ausgewandert und dort ganz jung verstorben sei. Enttäuscht, trotz seiner intensiven Dokumentenanalyse keinen Zugang zu seinem verschütteten Ich gefunden zu haben, sondern immer wieder im Nebeldunkel der Erinnerungslosigkeit zu versinken, entschließt sich Bodoni, nach Mailand zurückzukehren. Da entdeckt er plötzlich in einem der Kartons die (288) unauffindbare und unermesslich kostbare Folioausgabe der Shakespeareschen Werke von 1623, die den Antiquar in Trance versetzt (332): Mit diesem Folioband erlebe ich einen Roman, notiert Bodoni, der nach der Entlassung aus dem Krankenhaus begonnen hatte, aus therapeutischen Gründen Tagebuch zu führen, einen Roman, der sehr viel aufregender ist als alle Geheimnisse des einsamen Schlosses, die ich in den Mauern von Solara durchlebt habe, während fast dreier Monate hohen Blutdrucks. Die Erregung verwirrt mir die Gedanken, Hitzewellen steigen mir ins Gesicht. Kein Zweifel, dies ist der große Wendepunkt meines Lebens. <?page no="300"?> 282 Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana oder das Buch vom Tod Das fünfte Buch des Pentateuch Insofern der Tod Bestandteil des Lebens ist, stellt Bodonis Entdeckung der Shakespeare-Ausgabe tatsächlich den großen, ja, größten Wendepunkt seines Lebens dar: Er erleidet einen neuen Infarkt oder Schlaganfall und stürzt in Agonie, aus der er nicht wieder erwachen wird. Und auch das ist logisch, denn die Königin Loana ist Ecos fünfter Roman, und Eco wäre nicht Eco, wenn er nicht mit der biblischen Symbolik des fünften Buches spielen bzw. arbeiten würde. Auf diese biblische Symbolik, aber auch den Beginn seines ersten Romans, des Namens der Rose, verweist er denn auch mit den ersten Worten der Königin Loana, die den Beginn des Johannesevangeliums evozieren: Am Anfang war das Wort in der Finsternis, doch die Finsternis hat es nicht begriffen (7): ‚Und wie heißen Sie? ‘ ‚Warten Sie, ich hab’s auf der Zunge‘. So hatte das Ganze angefangen. Ich war wie aus einem langen Schlaf erwacht, aber um mich herum lag alles noch in einem milchigen Grau. Oder ich war gar nicht wach, ich träumte. Es war ein seltsamer Traum: ohne Bilder, nur Töne. Als ob ich nichts sah, nur Stimmen hörte, die mir erzählten, was ich sehen sollte. Doch dann taucht er auf, einer der Götter in Weiß, der Neurologe Gratarolo, und verkündet Bodoni dessen Resurrektion, die Wiederauferstehung. Nachdem, was ich selber weiß, wird Bodoni später in Solara sagen (111), bin ich im April dieses Jahres geboren, mit sechzig, in einem Klinikzimmer, und zwar so wie es sich gehört in Gegenwart dreier Frauen: Paola und der zwei Töchter Carla und Nicoletta und, gewiss, auch der drei Enkelsöhnchen. Aber Anspielungen auf die Bibel sind nun mal nicht die Bibel selbst, und deswegen ist wiederum logisch, dass Bodoni der Erkenntnis seiner Wiederauferstehung noch hinzufügt, er müsse sich in Solara nun an die Wiedergewinnung seiner Personenstandsdaten machen, per poter morire in fasce vedendo alfine il volto della mia mamma - um wenigstens in fasce sterben zu können und endlich das Gesicht meiner Mutter zu sehen, was heißt, dass er bei der Rekonstruktion seiner Identität wenigstens bis zu den fasce gelangen möchte, bevor er stirbt. Das ist verständlich, heißt fascia doch nichts anderes als Windel und Band*, und da man sich gemeinhin nicht an die Zeit zu erinnern pflegt, da man noch als Baby in den realen Windeln lag, dürfte es sich um einen logischen Verweis auf die fünfziger Jahre handeln. Und tatsächlich war Bodoni nach Solara gekommen, um die Erinnerung an diesen Zeitraum von 1932 bis ca. 1955 wiederzugewinnen, denn von da an konnte Paolas Gedächtnis dem seinen wieder auf die Sprünge helfen. Wie auch immer: selbst wenn die Anspielungen auf <?page no="301"?> 283 Das fünfte Buch des Pentateuch die Bibel nicht immer wortwörtlich zu nehmen sind, müssen sie bei Eco doch genau beachtet werden, was natürlich auch für die Symbolik der Fünf Bücher Mose gilt; deren erstes beginnt wie das Johannesevangelium: mit der Schöpfungsgeschichte, deren letztes aber, das fünfte, berichtet von Moses Tod. So wie Ecos fünftes Buch vom Tod des Yambo, der so heißt, wie einer der berümtesten Buchdrucker aller Zeiten, Giambattista Bodoni (1740-1813), was präjudizierend für unseren Yambo sein musste, der nur diesen punto fijo zu seiner Lebensschnur erheben konnte (137): den Tag, an dem Gutenberg in Mainz die erste Bibel gedruckt hatte, denn: Da weiß man doch wenigstens, daß es vorher nichts gab, oder jedenfalls nur etwas anderes, und daß man hier haltmachen kann. Gerade das aber untersagt ihm der Arzt, der ihn zum Leben erweckt hat und ihn dazu anhält, die Geschichte vor seiner Wiederauferstehung zu erkunden, und der ebenfalls einen berühmten Namen trägt: den des Renaissance-Mediziners und Neurologen Guglielmo Gratarolo (1516-1558). Damit ist von Anfang an klar, dass wir in Ecos Roman einem ganzen Feuerwerk von kultur- und literaturgeschichtlichen Bezügen ausgesetzt sein werden, in deren Mittelpunkt die mise en abyme oder das Spiel mit dem „Buch meiner Erinnerung“ - dem „libro de la mia memoria“ steht, dem großartigen, in provenzalischstilnovistischer Manier verfassten Gedichtband Vita nuova, den Dante 1293/ 1295 seiner Jugendliebe Beatrice gewidmet hatte. In dieser „Minne-Autobiographie“, „die ein Sprechen auf zwei Ebenen auszeichnet“, tritt der Poet „nicht nur als gegenwärtiger Liebender in den eingeblendeten Gedichten (24 Sonetten, 4 Kanzonen, 1 Ballata, 1 Stanza) auf, sondern auch als zurückschauender selbstreflektierender Kommentator“, der von seiner Liebe zu Beatrice berichtet, die er nur zweimal hatte erblicken dürfen, mit neun Jahren, als Beatrice ihm rot, und mit achtzehn, als sie ihm weiß gewandet erscheint, die Dante aber nicht wagt, direkt anzusprechen, die ihm den Gruß verweigert und die 1290 stirbt, deren Verehrung jedoch zum Leuchtstern (oder punto fijo) für Dantes gesamtes Leben wird und im Convivio von 1304/ 1307 in der Gleichsetzung von verehrter und dank der Vita nuova, des Neuen Lebens, ewig junger Frau und Philosophie bzw. in der Apotheose platonischer Liebe die Vollendung erreicht. Die Parallelen zur Begegnung zwischen dem jugendlichen Bodoni und der unerreichbaren und früh verstorbenen Lila Saba sind so unübersehbar wie die symbolisch-philosophische Dimension der Wiederentdeckung seiner Gedichte in Solara, auch wenn Eco sie - wie könnte er anders, wenn er sie 2004 in den Mittelpunkt dieser neuen <?page no="302"?> 284 Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana oder das Buch vom Tod Vita nuova stellen will? - als lyrische Ergüsse, als Troubadourverse mit reichlich machistischer Überheblichkeit, ja, als Ejakulationen aus der Gänsefeder eines jugendlichen Paschas bezeichnet, obwohl er rasch hinzufügt (313) Was aber, wenn [Lila] real gewesen wäre und tatsächlich nicht gewußt hätte, daß sie in meinen Versen lebte? Und er entdeckt, dass er diese Gedichte, in denen (314) auch ein farbiges Kleid, eine gelbe Jacke erwähnt wird, als handle es sich um die Vision des Engels der sechsten Posaune, drei Jahre hindurch einer fernen Geliebten geschrieben hatte, die er verloren haben muss, als (315) seine Eltern gestorben waren und er nach Turin ging, um nie wieder nach Solara zurückzukehren. Jetzt aber, in Solara auf der Suche nach dem verlorenen Ich, werden für Bodoni/ Eco die zwei Zeitebenen der Jugend und des Alters so bedeutend wie für Dante in der Vita nuova. Sie geben die Bezugspunkte ab, von denen her ihr Leben rekonstruiert wird: die Jahre von Bodonis/ Ecos Schul- und Studienzeit von ca. 1935 bis ca. 1955, und die der erzählten Gegenwart im Übergang von 1990 zu 1991, über die Bodoni u. a. die Zeitung unterrichtet, die er bei der Ankunft in Solara auf Amalias Küchentisch findet (96-97): Seit Ende November hatten die Vereinten Nationen die gewaltsame Befreiung Kuweits von den Irakern autorisiert, die ersten amerikanischen Verbände waren aus Saudi-Arabien aufgebrochen, man sprach von einem letzten Versuch der USA, in Genf mit Saddams Ministern zu verhandeln, um ihn zum Rücktritt zu bewegen. Die Zeitung half mir, einige Geschehnisse zu rekonstruieren […] Um diese Geschehnisse einordnen zu können, reicht es Bodoni jedoch nicht, von Paola zu erfahren, dass ihn die Bomben auf Bagdad (wie Eco) tief erschüttert hatten, weil er (wie Eco) schon immer ein überzeugter Pazifist gewesen sei, sondern er will und muss wissen, wieso er, Giambattista Bodoni, nach einer Kindheit, die er im ebenso faschistischen wie katholischen Italien unter Mussolini verbracht hatte, zum überzeugten Pazifisten geworden war. Denn wie sonst sollte er die Botschaft weitergeben? Und ganz plötzlich liegt klar und deutlich vor ihm, was er weder seiner Frau noch seinen Töchtern je erzählt hatte: seine Kindheit und Jugend in Solara, das Theaterspiel an der Schule, die Begegnungen im Oratorium des liberalen Don Cognasso, die Begegnung mit dem anarchistischen Hilfslehrer Gragnola, der für die Resistenza arbeitet und ihm von De Amicis sympathischem Anarchisten Franti und dem vorzüglichen Jules Verne erzählt, Yambo rudimentär mit der Philosophiegeschichte bekannt macht und der mit ihm - auf anderer, jugendlich-italienischer Ebene der Resistenza- Zeit- - dieselben, weil ewigen Fragen über Prädestination und freien <?page no="303"?> 285 Das fünfte Buch des Pentateuch Willen und ob Gott ein böser Gott ist (was Gragnola für gewiss erachtet) und Jesus ein guter Mensch war (was Gragnola ebenfalls für gesichert hält) diskutiert, die Roberto della Griva, Caspar Wanderdrossel und Ferrante della Griva auf der Daphne aufgeworfen hatten. Dann aber auch die Prügeleien mit den Flegeln aus dem Nachbardorf in San Martino im Nebel des Vallone, den Widerstandsakt der Mutter gegen die Miliz-Offiziere, und das schreckliche Erlebnis mit den zwei gefangenen Deutschen, die von Gragnola liquidiert werden, woran Bodoni sich mitschuldig fühlt. Gragnolas Selbstmord, die Nachrichten von der Befreiung Italiens, der Hinrichtung des Duce, von Hitlers Tod und dem Nürnberger Prozess. Die ersten sexuellen Impulse und religiösen Ängste, die von seinem Beichtvater, einem flammenden Kapuziner, geschürt werden, der dem Jugendlichen sexuelle Enthaltsamkeit predigt. Dann die Erleuchtung beim Fußballspiel: Gott gibt es gar nicht! Die ersten Hollywood-Filme und besonders Casablanca. Und endlich die unerfüllte Liebe zu Lila, der er Gedichte widmet und deren Antlitz, das er sein Leben lang gesucht hatte, er jetzt ganz klar erkennt in dem Licht, das die Nebel verscheucht und ihn Dinge sehen lässt, die über menschlichen Verstand hinausgehen. Alles das hat Bodoni wiedergefunden, und er hat auch begriffen, dass es die Traumata der Jugendzeit und speziell die unglückliche Liebe zu Lila gewesen waren, die dazu geführt hatten, dass er nicht einmal Paola und seinen Kindern von der Zeit in Solara erzählt, sondern alles verdrängt hatte. Nun stünde dem Bericht nichts mehr entgegen. Aber er wird niemandem mehr etwas erzählen, denn ein leichter Nebeldunst legt sich plötzlich vor seine Augen (495): Ich spüre einen kalten Hauch, ich hebe die Augen, ruft er entsetzt und fragt: Warum wird die Sonne auf einmal so schwarz? Dann ist es aus. Und Umberto Eco hat seinem Leser die schwierigste aller literarischen Fragen gestellt: Was weißt du nach der Lektüre dieses Romans von mir? Was wird Bodonis Frau, was werden Bodonis Töchter von ihrem Mann, ihrem Vater wissen, der ihnen das alles nicht mehr erzählen kann? Werden sie die Arbeit auf sich nehmen, die Bodoni in Solara, die Eco in der Königin Loana auf sich nahm, um herauszufinden, wer dieser Mann, wer dieser Vater wirklich war? Würden sie, falls sie es täten, weiterkommen als Bodoni, solange er noch kommunizieren konnte? Einen Monat lang hatte er nach seiner Resurrektion im Krankenhaus und während der ersten Rekonvaleszenz in der Mailänder Wohnung umsonst in sich hineingehorcht, drei Monate lang hatte er in Solara geforscht: vier vergebliche Monate! Und dann fiel ihm all das, was er selbst von sich wissen wollte und den anderen <?page no="304"?> 286 Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana oder das Buch vom Tod nie gesagt hatte, (450) in den Sekunden ein, in denen er in Agonie dem Exitus entgegenglitt. Unaufhaltsam. Memoirenliteratur sei die letzte Zuflucht der Canaillen, lässt Eco (FP 734) Casaubon im Foucaultschen Pendel sagen, und das macht wenig Hoffnung, eines Tages etwas anderes als dantesk-poetisch verfremdete Erinnerungen aus Ecos „Gänsefeder“ lesen zu dürfen. Spätestens aber mit der Geheimnisvollen Flamme der Königin Loana ist definitiv aktenkundig, was Eco eigentlich auch nie verborgen hatte: dieser Piemontese mit dem Findelkindnamen Eco hat seit frühester Jugend nichts anderes im Sinn gehabt, als an Dante anzuknüpfen, ja, von einem bestimmten Zeitpunkt an, den man auf die Redaktion des Namens der Rose festlegen könnte, ein zweiter Dante zu werden. Das mag vermessen anmuten, angesichts der unendlichen Menge an Wissen, die Eco in seinen literarischen Texte verarbeitet hat, angesichts seiner poetisch-rhetorischen und narrativen Meisterschaft und der philosophischen Dimension seines Werkes sollte man jedoch zurückhaltend mit solchem Urteil sein, zumal alle diese Qualitäten von der Literaturkritik rund um den Globus bestätigt worden sind. Auch von der ihm feindlichen, speziell in Deutschland, die Eco bescheinigte, dass dies alles nicht machbar sei und er deswegen erzählerischen „Schiff bruch“ erlitten habe. Auf den aber haben ihn Millionen und Abermillionen begeisterter Leser begleitet, was seinem Werk für alle Zeiten einen absolut singulären Platz in der Literaturgeschichte einräumen dürfte. Vom Schönen und vom Hässlichen in der Kunst Ob Eco neben seinen anderen Projekten und neben dem breitgefächerten journalistisch-staatsbürgerlichen Engagement überhaupt Zeit hätte, Memoiren zu verfassen oder Tagebücher zu edieren, muss die Zukunft zeigen. Immerhin hat er aber eine Reihe von Glossen, Essays und Kommentaren zu seiner Jugend und - vor allem in seinen Bustine - kursorisch explizit oder implizit auch zu späteren Phasen seines Lebens vorgelegt, die die romanesken Darstellungen in seinen Pastiches und Romanen bestätigen oder relativieren. Die vier Kapitel von ΟΙ ΝΟΣΤΟΙ gehören zu dem Ergreifendsten, was er distanziertverfremdend über Kindheit und Jugend im Piemont zur Zeit des Faschismus und Nachkriegsitaliens verfasst hat und die Autobiographie seiner Generation nennt. In ihr spielt Eco noch einmal das Thema des Sich-Erinnerns und der philosophischen Bilanzierung des Seins im Moment des Sterbens durch, das er im Dialog mit Proust, Thomas Mann und Broch bereits in der Insel des vorigen Tages gestaltet hatte. <?page no="305"?> 287 Vom Schönen und vom Hässlichen in der Kunst Die Elemente der ré-écriture von der Wiederauferstehung (aus dem Meer der eine, aus der Bewusstlosigkeit der andere) über die Rekonstruktion der Vita bis zu den Todesvisionen und dem Erlöschen im Jenseits sind jedenfalls unübersehbar, auch wenn sie der (deutschsprachigen) Kritik, die die Königin Loana - mit wenigen Ausnahmen*- - zurückhaltender oder sogar positiv** beurteilt, entgangen sind. Zeit hat er diesmal kaum, über diese Kritik lange nachzudenken. Noch im selben Jahr 2004 gibt Eco zusammen mit Girolamo de Michele Die Geschichte der Schönheit heraus, eine Art Enzyklopädie der europäischen Schönheitsideale von der Antike bis in die massenmediale Gegenwart. Sie präsentiert die visuellen Interpretationen der individuellen Schönheitsvorstellungen - in Form von Skulpturen, Malerei, Architektur, Fenster-Lichtquellen, Palästen, Gärten, Maschinen - mit reichem Bildmaterial, eingebettet in den erläuternden oder widersprüchlichen Kontext theoretisch-philosophischer Schönheitskonzeptionen der jeweiligen Entstehungszeiten von Platon über Thomas von Aquin, Kant und Burke bis zu Nietzsche und danach. Von Ecos Seite fließen dabei vor allem seine Erkenntnisse über die Ästhetik des Mittelalters, der Aufklärung, des Symbolismus, aber auch - immer noch in Vertiefung seiner für die Illustrierte Geschichte der Erfindungen zu Beginn der sechziger Jahre mit Zorzoli, Munari und Renate Ramge geleisteten Arbeit - seine Überlegungen zur Maschinenästhetik von der Antike bis zum zwanzigsten Jahrhundert, zur avantgardistischen Provokation traditioneller und speziell klassizistischer und neo-klassizistischer Schönheitsideale und zur Warenästhetik ein. Dass dem Buch nachgesagt wurde, die in der Einführung von Eco bekundete Absicht, mit Hilfe des Text-Bild-Materials Anleitung zur geschichtlich-relativierenden Akzeptierung wechselnder Schönheitskonzeptionen zu geben, würde wegen Überfülle des Materials und/ oder wegen seiner unzureichenden optischen und theoretischen Präsentation umschlagen in resignative Gleichgültigkeit,*** ist nicht völlig unverständlich, befindet Eco doch am Ende dieses Werkes, der Erforscher der Zukunft würde das von den Massenmedien des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus verbreitete ästhetische Ideal nicht mehr identifizieren können: Vor der Orgie der Toleranz, vor dem breiten Synkretismus, vor dem absoluten und unaufhaltsamen Polytheismus der Schönheit wird er kapitulieren müssen. In der Geschichte der Schönheit von de Michele/ Eco wird er jedoch auch gleichermaßen Einsicht in die Kontinuität von Schönheitskonzeptionen (z. B. der Präsentation des erotischen Körpers oder der Strukturierung des ästhetischen Objektes nach mathematisch-geometrischen Gesetzen) und in die ten- <?page no="306"?> 288 Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana oder das Buch vom Tod denziell unendliche Diversifikation ihrer kollektiven und individuellen Interpretationen sowie in die Notwendigkeit der Erziehung zur (ästhetischen) Toleranz gelernt haben, die auch Vorbehalte gegenüber außereuropäischen Schönheitsvorstellungen abbaut. Dennoch muss eingestanden sein, dass der von Eco allein verfassten Geschichte der Häßlichkeit, die drei Jahre später erscheint, allein schon deshalb größere Bedeutung zukommen dürfte, weil dem Häßlichen fast nie ausführliche Behandlungen gewidmet worden sind. Zwar war das Hässliche nicht nur als Negation des Schönen seit je (bewusst oder unbewusst) im Schönen mitbedacht, sondern auch als Gegenstand oder Thema im Kunstwerk (in Form von Monstern in der bildenden Kunst oder in der Gestalt verabscheuungswürdiger Menschen in der Tragödie) offen dargestellt worden, doch wurde damit zugleich ein bis heute ungelöstes Problem für seine ästhetische Bewertung aufgeworfen: Wird das Hässliche in der künstlerischen Darstellung nicht selbst zum Kunstschönen? Die Antike und die nachfolgenden Jahrhunderte jedenfalls blendeten - bis hin zur Romantik und vor allem bis zur Ästhetik des Häßlichen von Karl Rosenkranz (1853) - das Hässliche aus der ästhetischen Reflexion aus oder behandelten es - in der Tradition der aristotelischen Poetik - als dem Bösen assoziiert unter dem Gesichtspunkt der Leidenschaften, von denen die Literatur kathartisch zu reinigen habe. Während eine Geschichte der Schönheit sich […] auf eine Fülle von theoretischen Quellen stützen kann, vermerkt Eco daher, muß eine Geschichte der Häßlichkeit ihre Quellen meist aus der bildlichen oder schriftlichen Darstellung von Dingen oder Menschen suchen, die in irgendeiner Hinsicht als häßlich verstanden wurden. Damit öffnet sich wiederum der circulus vitiosus, der Eco dazu veranlasst, seinen Leser darauf aufmerksam zu machen, dass eine Vorstellung dessen, was in einer bestimmten Kultur als das Häßliche an sich und das formal Häßliche empfunden wurde, nur auf Grund der Belege der künstlerischen Darstellung gewonnen werden kann. Dass diese Ausgangslage prekär ist, liegt auf der Hand, das Material aber, das Eco nach Klärung der Prämissen vorlegt, ist umso eindrucksvoller, als er seinen weltanschaulichen Überzeugungen gemäß das Postulat der historischen Distanz und Relativierung auch auf das Kriterium der moralischen Bewertung von Hässlichkeit ausweitet, der sich z. B. alle krankhaft-körperliche Missbildung entzieht, wie er an einem Text von Italo Calvino deutlich macht, im Übrigen aber auch an seinem eigenen Text über Die drei Kosmonauten hätte deutlich machen können. Ecos Geschichte der Häßlichkeit jedenfalls schließt mit dem aufklärerischen Appell, das nicht bösartig Hässliche mitfühlend zu respektieren. <?page no="307"?> Vom Hässlichen in der italienischen Politik oder la sua lotta continua Im Krebsgang voran oder Neues aus dem Vatikan - Damit man nicht sagen kann, es habe niemand den Mund aufgetan Im Krebsgang voran oder Neues aus dem Vatikan Dem aus seiner Sicht Hässlichen in der Politik verweigert Eco jedoch jeglichen Respekt. 2006 muss Berlusconi zurücktreten, und um dazu beizutragen, dass er nicht wiedergewählt wird, veröffentlicht Eco seine wichtigsten politischen Essays aus den Jahren 2000 bis 2005 in einem Sammelband mit dem Titel Im Krebsgang voran. Heiße Kriege und medialer Populismus: Der Zeitraum ist schicksalsträchtig, schreibt Eco, der davon überzeugt ist, dass die gesellschaftliche Entwicklung innnerhalb und außerhalb Italiens in dieser Zeit in die falsche Richtung „zurück“ gelaufen ist: er beginnt mit den Ängsten vor dem neuen Millennium, trumpft auf mit dem 11. September, gefolgt von den beiden Kriegen in Afghanistan und im Irak, und in Italien beschert er uns Silvio Berlusconis Aufstieg zur Macht. Und um gar nicht erst Zweifel aufkommen zu lassen, fügt er wenig später hinzu, dass er gerade deshalb die Auswahl seiner Stellungnahmen gegen Berlusconi mit dem Appell eröffne, den er zur Wahl im Frühjahr 2001 geschrieben hatte. Am 7. April 2006 dann lanciert er einen Aufruf, der von der gesamten internationalen Presse aufgegriffen und in Deutschland von der Süddeutschen Zeitung verbreitet wird: Wir stehen vor einer dramatischen Entscheidung. Zwischen 2001 und heute ist Italien auf erschreckende Weise verkommen, wenn man an die Gesetzgebung zur Verfassung, die wirtschaftliche Lage oder das Ansehen im Ausland denkt. Sollten wir für weitere fünf Jahre eine rechte Regierung bekommen, wäre der Niedergang unseres Landes unaufhaltsam, und vielleicht würden wir dann nie wieder auf die Beine kommen. Was die anstehende Wahl von den vorherigen unterscheide, sei der Verlust der Demokratie: Zuvor ging es darum, zu entscheiden, wer regieren soll, ohne dass man den Verdacht haben musste, dass ein Regierungswechsel alle demokratischen Einrichtungen aufs Spiel setzen würde. Dagegen geht es heute darum, diese Einrichtungen zu retten […] Diesmal könnte das Schiff untergehen. Und tatsächlich scheint Ecos Wunsch, das italienische Volk möge endlich <?page no="308"?> 290 Vom Hässlichen in der italienischen Politik oder la sua lotta continua aufwachen und gegen Berlusconi stimmen, in Erfüllung zu gehen. Romano Prodi geht im Mai mit seinem Mitte-Links-Bündnis als Sieger aus den Wahlen hervor. Aber es ist, wie so oft in Italien, nur eine kurze Besinnungspause, die Italien durch den Sieg der republikanischen Linken eingeräumt wird. Eco nutzt sie, um 2006 in einer bibliophilen Edition bei Rovello seine wichtigsten Aufsätze zur Bibliophilie vorzulegen: La memoria vegetale e altri scritti di bibliofilia. Sie wird begleitet von der Publikation eines Bändchens mit dem Titel Sator arepo eccetera bei den edizioni nottetempo, das (leider unübersetzbare) Wortspiele wie das folgende zur Bibliophilie enthält: Ein Bibliothekar fand eines Tages ein Volumen / mit einem äußerst seltenen Volumen / er maß drum Umfang und Volumen / und fragte dann, wo Licht zum Lesen sei, wo Lumen. 2007, im Jahr seiner Emeritierung, da ihm rund um den Globus zum fünfundsiebzigsten Geburtstag gratuliert wird, veröffentlicht er dann bei Bompiani Aufsätze zur Geschichte der Sprachphilosophie, zusammengestellt in Dall’albero all labirinto. Studi storici sul segno e l’ interpretazione, und er bleibt - natürlich - weiter engagiert für das republikanische Italien, das aus den Trümmern des faschistischen Italien erstanden war und vom bröckligen Mitte-Links-Bündnis nur prekären Schutz erfährt. Seine Bustine haben kaum noch etwas von der ursprünglichen Heiterkeit. Am 25. Mai 2007 z. B. nutzt er das Erscheinen von Alice Oxmans Italien unter Berlusconi, um mit einigen Zitaten aus diesem bitter-luziden Tagebuch einer Amerikanerin in Rom eine Bilanz der zweiten Regierung Berlusconis zu ziehen, die er eine der trübsten und groteskesten Perioden unserer Geschichte nennt.* 2001 etwa hatte der damalige Staatsskretär im Justizministerium, der Mafia-Anwalt Carlo Taormina, Mitglied in Berlusconis Forza Italia, erklärt, es sei nötig, „das Land vom Auswuchs an Justiz zu befreien.“ 2002 hatte Berlusconi gejubelt: „In Süditalien folgen sie mir singend wie Heiligen in einer Prozession.“ 2003 befand der vom PCI zu Forza Italia gewechselte und von Berlusconi zum Minister für Kulturelle Angelegenheiten ernannte Sandro Bondi, Berlusconi sei „ein echter Liberaler“, der „so außergewöhnlich gütig“ sei, dass man ihn „wegen seiner Reinheit und seiner Genialität“ „mit Mozart“ gleichsetzen müsse, und Umberto Bossi fragte entsetzt „und ohne zu scherzen“, ob man sein „Haus wirklich dem ersten besten Bingo Bongo überlassen müsse“, der da nach Italien einwandere. Taormina wurde 2004 wieder aktenkundig, als er erklärte, „die Richter seien alle verfluchte Kommunisten“, und 2005 meldet sich Berlusconi wieder selbst zu Wort. Zunächst in La Stampa mit „Aus meiner Villa habe ich Ausblick auf <?page no="309"?> 291 Im Krebsgang voran oder Neues aus dem Vatikan ein schönes Panorama. Auch dieses Jahr sehe ich da viele Schiffe. Das sind Schiffe, die Reichen gehören, und das heißt, dass es viele davon gibt. Die Gehälter wachsen schneller als die Inflation, und der Reichtum unserer Familien kennt nichts Vergleichbares in Europa.“ Und dann 2006 im Fernsehen: „Alles in Butter. Gestern bin ich mit ein paar Freunden ins Restaurant gegangen, und kein Tisch war frei. Am Ende mussten sie mitteilen, wer ich war, und dann haben sie ein paar Leute von den Tischen vertrieben.“ Ecos Bedauern darüber, dass Alice Oxman ihr Tagebuch 2006 abbricht, ist umso verständlicher, als Berlusconis Italien 2005 noch eine fundamentale geistige Bereicherung erfährt: Papst Benedikt- XVI., vormals Joseph Alois Ratzinger, zieht in den Vatikan ein, um von dort aus mit gehaltvollen Reden das intellektuelle Niveau der katholischen Welt zu heben. Zum Beispiel mit christlichen Breitseiten gegen die Atheisten in der Enzyklika Spe salvi facti sumus (Römer 8, 24: Auf Hoffnung hin sind wir gerettet) vom 30. November 2007. Gewiss, kommentiert Eco in der Bustina vom 7. Dezember 2007, man müsse nicht unbedingt José Saramagos Meinung teilen, dass die Menschen nur in einer atheistischen Welt in Frieden leben könnten, weil „die Religionen, ohne Ausnahme, niemals dazu beitragen werden, die Mensch einander näher zu bringen und zu versöhnen“ und - wie in der Vergangenheit - immer nur Anlass zu „monströsen physischen und geistigen Gewalttaten“ geben würden. Wenn freilich Papst Ratzinger erkläre, dass der Atheismus des 19. und 20. Jahrhunderts Anlass für die größten Grausamkeiten und Rechtsbrüche gewesen sei, dann müsse man wohl Bedenken anmelden. Natürlich könne es sein, dass Ratzinger an jene gottlosen Lenin und Stalin gedacht habe, aber er habe wohl vergessen dass auf den Nazifahnen Gott mit uns stand und dass ganze Heerscharen von Militärgeistlichen die faschistischen Standarten gesegnet haben, dass der Massenmörder Francisco Franco von den allerreligiösesten Prinzipien geleitet war […] dass sich Katholiken und Protestanten Jahr für Jahr fröhlich massakriert hatten, dass sowohl die Kreuzzügler als auch ihre Feinde von religiösen Motiven angetrieben wurden, dass man Christen von Löwen hatte fressen lassen, um die römische Religion zu verteidigen […] dass die islamischen Fundamentalisten und die Attentäter gegen die Twin Towers und Osama bin Laden und die Taliban, die die Buddhas gesprengt haben, zutiefst religiös sind, dass sich Pakistan und Indien aus religiösen Gründen feindlich gegenüberstehen und dass - schließlich - Bush God bless America gerufen habe, als er in Irak einmarschierte. <?page no="310"?> 292 Vom Hässlichen in der italienischen Politik oder la sua lotta continua Damit man nicht sagen kann, es habe niemand den Mund aufgetan Das reaktionäre und mit deutsch-päpstlicher Hilfe in seinen religiösen Grundfesten konsolidierte Italien lässt sich von derartigen Kleinigkeiten nicht irre machen: Ein Jahr nach Ecos Überlegungen zum Verhältnis von Religion und irdischer Grausamkeit geht Berlusconi einmal mehr mit seiner konservativ-neofaschistischen Koalition, nun gar Popolo della Libertà (Volk der Freiheit) getauft, in den Wahlkampf, als Romano Prodi zurücktreten muss, weil eine Splittergruppe das Regierungsbündnis verlässt. Im Namen von Libertà e Giustizia rufen Aulenti, Bachelet, Bonsanti, Magris, der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichtes Gustavo Zagrebelsky und Umberto Eco am 9.-April 2008 dazu auf, für das neue, von Walter Veltroni angeführte Mitte-Links-Bündnis zu stimmen: Die Macht, die Silvio Berlusconi nun schon seit fünfzehn Jahren über Politik und öffentliche Meinung in Italien ausübt, zeichnet sich aus durch schlimme Unregelmäßigkeiten, persönliche Bereicherung und Herrschaft über die Medien, erworben und vergrößert mit skrupellosen Mitteln und einer Unzahl von Interessenkonflikten, die in keinem anderen modernen Staat geduldet würden. Libertà e Giustizia ist davon überzeugt, dass eine neue Regierung Silvio Berlusconi der Wirtschaft und der rechtstaatlichen Verfassung irreparable Schäden zufügen würde. Berlusconi gewinnt die Wahlen und tritt am 8. Mai zum vierten Mal die Regierungsgeschäfte in Italien an. Mit Glanz und Gloria: die Gerichtsverfahren, die sich gegen ihn stapelten wie wenig später dank der Mafia die Müllberge in Neapel, werden niedergeschlagen wie Regierungsgegner bei Demonstrationen, und die peinlichen Entgleisungen der Vergangenheit werden um neue bereichert: Bei einem Besuch in Moskau macht Berlusconi Witzchen über den „sonnengebräunten“ neuen Präsidenten der USA „Wir schämen uns, von solch einer Person im Ausland vertreten zu werden,“ erklärt Libertà e Giustizia in einem Kommuniqué am 6. November 2008. Eco hatte sich bereits am 2. Juli 2008 mit einer Erklärung im Forum von Libertà e Giustizia gegen jegliche Resignation gewandt: 1) Demokratie bedeutet nicht, dass die Mehrheit recht hat. Es bedeutet, dass die Mehrheit das Recht hat, zu regieren. 2) Demokratie heißt also nicht, dass die Minderheit unrecht hat. Es heißt, dass sie zwar die Regierung der Mehrheit respektiert, sich aber jedes Mal, wenn sie meint, dass die Mehrheit unrecht hat (oder ganz schlicht gesetzwidrig, unmoralisch und demokratiefeindlich handelt), mit lauter Stimme Gehör verschafft. Und das muss sie mit allergrößter Energie tun, denn darin besteht das <?page no="311"?> 293 Damit man nicht sagen kann, es habe niemand den Mund aufgetan Mandat, dass sie von den Bürgern erhalten hat. Wenn die Mehrheit behauptet, immer recht zu haben, und die Minderheit nicht wagt, zu reagieren, dann ist die Demokratie in Gefahr. Das aber ist sie nach Ecos Überzeugung, und deshalb gibt er in Sachen Berlusconi keinen Fuß breit nach, wobei er in seinem Kampf immer dezidierter die Waffe der Ironie einsetzt. So gibt er nach Berlusconis rassistischer Entgleisung gegen Barack Obama in einer Glosse mit dem Titel Wer? Ich? Rassist? Der da ist doch der Neger! in L’Espresso vom 14. November* vor, Berlusconi verteidigen zu wollen, indem er ihn ungebildeten Mailänder Zeitgenossen assoziiert, die ihren Rassimus selber nicht einmal realisieren. Berlusconi habe es nun mal nicht besser gelernt, sagt Eco, was- - wollte man es übersetzen - nichts anderes heißt, als dass Berlusconi ein ungebildeter rassistischer Flegel ist und dementsprechend auch nichts für seine sprachlichen Entgleisungen kann, die er für witzig hält und deren rassistische Dimension ihm nicht einmal klar ist.** Dieselbe rhetorische Strategie verwendet Eco ein Jahr später, am 9.- Juli 2009, in einer Glosse mit dem Titel Pressefeind in L’Espresso, wenn er darlegt, dass Berlusconi eigentlich gar nicht dafür verantwortlich gemacht werden könne, als Medienunternehmer mit der Monopolisierung des Nachrichten- und Informationsangebotes die Presse- und Informationsfreiheit abzuschaffen, denn das sei nun mal sein Beruf. Die tatsächlich Schuldigen seien die Italiener, denen Presse- und Informationsfreiheit und damit Grundbedingungen einer modernen Demokratie so gleichgültig seien, dass sie ihn gewählt hätten und ihm somit - trotz der Erfahrung, die man von der Antike bis zu Mussolini mit diktatorischen Abenteurern gemacht habe - ermöglichten, die italienische Demokratie auszuhöhlen. Angesichts dieser Tatsache, so Eco, lohne es eigentlich gar nicht, der Bitte von L’Espresso nachzukommen, sich für Presse- und Informationsfreiheit einzusetzen. Denn da Berlusconi gar nicht realisiere, welch gefährliches Spiel er da treibe, und der Mehrheit der italienischen Wähler das Abdriften von der Demokratie offenkundig so gleichgültig sei wie nach Mussolinis Machtergreifung, sei wahrscheinlich doch alles vergeblich. Doch er entschließt sich anders: 1931 hatte der Faschismus die Universitätsprofessoren genötigt, dem Regime Treue zu schwören, schreibt Eco. Sie seien damals 1200 gewesen. Nur 12 - ein Prozent! - hätten die Unterschrift verweigert und dadurch ihr Amt verloren. Alle anderen 1188 hätten - wie Benedetto Croce und selbst Palmiro Togliatti ihnen geraten hatten - unterschrieben. Was hatte es also gebracht, dass jene zwölf den Gehorsam verweigerten? Nichts, sagt Eco, aber sie haben die <?page no="312"?> 294 Vom Hässlichen in der italienischen Politik oder la sua lotta continua Ehre der Universität gerettet und damit letztendlich die Ehre des Landes. Aus diesem Grunde habe er, Eco, sich dann doch entschieden, Stellung zu nehmen, auch wenn es - pessimistisch gesehen - nichts nutzt. Aber man kann dann wenigstens eines Tages sagen, dass man etwas gesagt hat. <?page no="313"?> Epilog Mit Franz von Assisi gegen Berlusconi und Benedikt XVI. - Wie man Ordnung in Enzyklopädien bringt oder das Buch hat Zukunft-- Die schwindelerregend-unendliche Liste oder eine andere Art Kulturgeschichte - Einundzwanzig oder Rückkehr zum Buch der Weisheit - Eco im Louvre oder Opera aperta und der Triumph von Aristoteles und Gruppe 63 Mit Franz von Assisi gegen Berlusconi und Benedikt XVI. Wie weit opportunistische Depraviertheit im Zusammenspiel von kirchlich-katholischer und politischer Reaktion im Land von Berlusconi, der den Opfern des Erdbebens in den Abbruzzen am 8. April 2009 einfühlsam rät, sie mögen nach dem Verlust ihrer Häuser (und ihrer Angehörigen und Freunde) den Aufenthalt in den Notunterkünften oder im Freien wie ein „Camping-Wochenende“ verleben, gehen konnte bzw. gehen kann, lässt sich wohl an nichts besser ablesen als an der tragischen Geschichte der 1970 geborenen Eluarda Englaro. Sie war 1992 nach einem Autounfall ins Wachkoma gestürzt, aus dem sie - wie die Ärzte wenig später erkannten - nicht wieder erwachen konnte. Seit 1999 versuchten daher ihre Eltern, die gerichtliche Genehmigung zu erlangen, ihre Tochter von der künstlichen Ernährung und Beatmung abschalten und sterben zu lassen, was nach Artikel 32 der italienischen Verfassung durchaus möglich war, sieht er doch vor, dass lebenserhaltende Maßnahmen „auf keinen Fall die Grenzen überschreiten“ dürften, „die der Respekt vor dem menschlichen Individuum zieht.“ Nach jahrelangem Hin und Her entscheidet das Mailänder Berufungsgericht, dass die Familie Englaro recht hat und die Geräte abgeschaltet werden können. Doch die Mailänder Staatsanwaltschaft legt Widerspruch ein, und auch der Vatikan meldet sich zu Wort und erhebt sein Veto gegen die Abschaltung der Apparaturen, weil nach Gottes Willen das Leben unbedingt zu erhalten und die von den Eltern ersehnte Beendigung des Leidens ihrer Tochter daher Mord sei. Im Januar 2009 freilich - und nach entsprechender Intervention des Europäischen Gerichtshofes - wird der Einspruch der Staatsanwaltschaft abgelehnt, und die Familie lässt den Körper der Tochter am <?page no="314"?> 296 Epilog 3.-Februar 2009 in eine Klinik in Udine überführen, wo die Apparate nach und nach abgeschaltet werden sollen. Und plötzlich stürzt sich die italienische Regierung unter Führung ihres Ministerpräsidenten Berlusconi in hektische Aktivitäten, um die Abschaltung der Geräte zu verhindern. Auf seiner Sitzung vom 6. Februar, in der Berlusconi u. a. erklärt, die (inzwischen unförmig-leblose) Eluana sei immer noch schön, habe noch ihre Menstruationen und könne also noch ein Kind bekommen, beschließt der Ministerrat zum Fall Englaro, der nicht auf der Tagesordnung steht, ein Eil-Gesetz, demzufolge das Abschalten von Beatmungsgeräten und das Abbrechen künstlicher Ernährung verboten seien und das Staatspräsident Giorgio Napolitano unmittelbar danach zur Unterschrift vorgelegt wird. Napolitano lehnt die Unterschrift aus verfassungsrechtlichen Bedenken ab, und nach weiteren Versuchen vonseiten Berlusconis bzw. der Regierung, die Abschaltung der Geräte doch noch zu verhindern, was freilich misslingt, darf Eluana Englaro nach achtzehnjähriger Manipulation an ihrem Körper aus dem Wachkoma erlöst werden und endlich sterben. Das veranlasst nun auch Eco, das Wort zu ergreifen. Am 12. Februar veröffentlicht er in La Repubblica seine Stellungnahme Warum ich das Recht habe, selbst zu bestimmen, wie ich sterben möchte, in der er Berlusconis unappetitliche Entgleisungen nur nebenher erwähnt, dafür aber klar und deutlich seine Versuche verurteilt, die Verfassung zu brechen. Wie im Fall Sofri will Eco nicht auf die konkreten Ereignisse eingehen, besteht aber darauf, das Recht zu haben, sich grundsätzlich zum Problem des selbstbestimmten Sterbens zu äußern, denn mit dieser tragischen Problematik habe er sich intensiv auseinandergesetzt, wie die Geheimnisvolle Flamme der Königin Loana bewiese. Natürlich wisse auch er (wie alle anderen) nichts Präzises darüber, was ein - wie Bodoni bzw. Eluana Englaro - im Koma liegender Mensch denke oder doch noch denken könne, auch wenn er selbst in gewisser Weise an ein vorübergehendes Überleben des Komakranken bis zum Ende der letzten Körperfunktionen glaube oder dieses doch für möglich halte. Auch deswegen fühle er sich veranlasst, darüber nachzudenken, was der komakranke Mensch wie Bodoni oder Eluana von den Überlebenden erhoffe, um zu wissen, wie er, Eco selbst, sich entscheiden würde. Dazu sei es notwendig, die drei möglichen Situationen zu definieren, in denen sich der Komakranke befinden könne. Die erste Möglichkeit sei, dass er wie ein Gemüse daläge, ohne noch irgendein Ich-Bewusstsein zu besitzen. In diesem Fall brauche man sich nicht allzu viele Gedanken zu machen, denn dann wäre er ja auch <?page no="315"?> 297 Mit Franz von Assisi gegen Berlusconi und Benedikt XVI. nicht mehr er. Die zweite Möglichkeit sei die Situation, in der sich Bodoni in der Königin Loana befände: in der Imagination in die Kindheit zurückzukehren, Visionen zu haben und alles zu realisieren, was wir im Leben gewünscht und begehrt hatten, kurz: [die Verwirklichung] eines paradiesischen Traumes: Die dritte Möglichkeit ist die beängstigendste. Sie besteht darin, dass man sich in diesem unterbrochenen Leben frage, was unsere Liebsten von uns denken und was sie mit uns machen werden, dass man diese letzten Augenblick des Bewusstseins in Todesangst verbringe, dass man sich graue vor dem schrecklichen Schicksal, das uns erwarte […] Ja, dass man vielleicht sogar noch begreife, dass die liebenden Angehörigen Schuldgefühle entwickeln würden, weil sie nicht gewusst hatten, wie sie sich verhalten sollten, worunter sie - wie seine eigene Mutter - den Rest ihres Lebens leiden würden. Das wäre die Hölle … Es sei nur wenig Verstand nötig, sagt Eco, um zu erkennen, dass nur eine dieser drei Möglichkeiten angenehm sei, und da das Ganze ohnehin nicht lange andauern könne, wäre er - um den Angehörigen Verzweiflung, falsche Hoffnungen, Traumata und […] immense Kosten zu ersparen, dafür, dass man ihm nicht erst lange vermeintlich lebenserhaltende Maßnahmen aufzwänge: Denn wer bin ich schon, dass ich das Leben von ein, zwei, drei oder mehr Personen kaputtmache, weil die vage Möglichkeit einiger Augenblicke oder Jahre eines virtuellen Paradieses besteht? Und da man ihm beigebracht habe, dass Menschen, die - wie zum Beispiel Mitglieder der Resistenza oder andere Heilige-- zur Rettung Anderer ihr eigenes Leben geopfert haben, besonderer Verehrung würdig seien, frage er sich, wieso er nicht das Recht haben dürfe, sich für den Fall, dass er in solch ein Koma fiele, für die rasche Unterbrechung lebenserhaltender Maßnahmen zugunsten seiner Lieben entscheiden dürfe: Ja, wo bleibt denn da die Moral, die ihr mir beigebracht habt? Und zwar sowohl die heroische, als auch die, die das Heilige auszeichnet? Eco, der sich aus Erschütterung zum Fall Eluana nicht geäußert habe, die von niemandem mehr geliebt worden sei, als von ihren Eltern (und nicht etwa von Berlusconi, der finstere Fantasmen über ihre Menstruationen von sich gegeben habe), gestatte sich nun, zu erklären, was er zu seinem eigenen Tod zu sagen habe, der eine Liebeserklärung für die Trauernden sein müsse.* Und das, was er zu sagen hat, ist das erste große Gedicht der italienischen Literatur, Il Cantico di Frate Sole, „Der Sonnengesang“, und es stammt aus der Feder Franz von Assisis,** womit er seine allergrößte Bewunderung für die Autorität Franz von Assisis sowie die Eltern der Eluana Englaro und seine Verachtung <?page no="316"?> 298 Epilog für Berlusconi und dessen Regierung sowie Benedikt XVI. und dessen Vatikan zum Ausdruck bringt. Denn einem Franz von Assisi kann selbst Benedikt XVI. nicht widersprechen, von Berlusconi ganz zu schweigen: Laudato s’mi Signore, per sora nostra Morte corporale, / de la quale nullu homo vivente pò skappare: / guai a quelli ke morrano ne le peccata mortali; / beati quelli ke trovarà ne le Tue sanctissime voluntati, / ka la morte secunda no’ l farrà male.* Wie man Ordnung in Enzyklopädien bringt oder das Buch hat Zukunft Mit dem Tod hat auch der Dialog zwischen dem Romancier und Cinéasten Jean-Claude Carrière und Umberto Eco zu tun, der - in Paris und Monte Cerignone, Ecos Landsitz, aufgenommen und mit einem Vorwort versehen vom Journalisten Jean-Philippe de Tonnac - 2009 mit dem Titel Glaubt nur nicht, dass Ihr Euch der Bücher entledigen könnt** erscheint. Und zwar nicht nur, weil am Ende der Diskussion die Frage aufgeworfen wird, was mit einer (bedeutenden, ja - wie im Fall Eco - riesigen) Privatbibliothek nach dem Tod ihres Besitzers zu geschehen habe. Nein, der Tod ist allgegenwärtig in diesem Dialog über das Schreiben bzw. das Auf bewahren von Geschriebenem: der Tod der Autoren und der Tod der Leser, die des von ihnen Geschriebenen oder der von ihnen auf bewahrten Texte verlustig gehen, sei es als einzelne Individuen, sei es als gesellschaftliche Kollektive, Gruppen, Völker, Nationen, von der Antike bis in die Gegenwart. Der Ausgangspunkt ist so aktuell wie (eher) unoriginell, geht es doch um die eigentlich allenthalben (und laut Eco vor allem von Journalisten) aufgeworfene Frage, ob das Internet und alle mit diesem gegebenen Möglichkeiten des a priori unbegrenzten Weiterreichens von (schriftlichen) Dokumenten und damit der ebenso unbegrenzten Konsultationsmöglichkeit aller je gedruckten und nun eingescannten Texte bzw. aller Bibliotheken die Existenz des Buches bedrohen bzw. den gedruckten Text als solchen und damit auch die Bibliotheken überflüssig machen. Carrière und Eco mobilisieren denn auch zunächst die inzwischen üblichen Einwände gegen diese Möglichkeit wie z. B. die der ungewissen Sicherheit bzw. der Verfallsdauer der neuen, elektronischen Datenträger, erinnern an das blitzartige Aufkommen und Verschwinden der CD-Rom, machen auf die Abhängigkeit der Apparaturen von Energiequellen aufmerksam, die ihre Benutzbarkeit beeinträchtigen können, konstatieren die Geschwindigkeit, mit der die elektronischen Apparaturen sich entwickeln und damit in <?page no="317"?> 299 Wie man Ordnung in Enzyklopädien bringt oder das Buch hat Zukunft den aktuellen Versionen selbst liquidieren, erinnern daran, dass man früher bereits prophezeit hatte, dass Radio, Film und Fernsehen der Gutenberg-Galaxis ein Ende setzen würden, was sich als falsch erwies, und setzen diesem allen die - komfortabel-praktische - Benutzbarkeit des Buches sowie die - zur Unendlichkeit tendierende - Langlebigkeit früherer Datenträger entgegen, was zum einen Definitionen des Buches voraussetzt - hatten antike Inschriften auf Steinen oder die romanische und gotische Architektur Buchfunktion? - und zum anderen auch Relativierungen notwendig macht, denn immerhin war nicht jedes Buchpapier von großer Lebensdauer wie Eco am Beispiel der zerbröselnden Bücher der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts deutlich macht. Ohne hier auf die Mäander der Diskussion insgesamt und auf die Ratschläge im Besonderen einzugehen, die von Carrière und Eco zur Rettung des Buches erteilt werden und die vonseiten Ecos, der darauf hinweist, dass zumindest die Schrift als solche und damit das Lesen durch das Internet gesichert seien, von nicht allzu großer Besorgnis hinsichtlich des Überlebens des Buches getragen werden, seien zwei ihrer Aspekte besonders hervorgehoben. Zum einen nämlich gestattet die Diskussion Eco, seine eigene, jahrzehntelange Auseinandersetzung mit der Geschichte des geschriebenen Wortes und speziell des Buches von der Mittelalterforschung und der Arbeit bei der RAI über die Geschichte des Buchdrucks, der Bibliotheken, des Buchhandels, der Verlagstätigkeit und der Antiquariatsbzw. Sammlertätigkeit, bei der seine und Carrières durchaus unterschiedlich motivierte bibliophile Leidenschaft ausgiebig erörtert wird, vom Namen der Rose bis zur Königin Loana in Erinnerung und - vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Computer und Internet - in das ebenso historische wie aktuelle rechte Licht zu rücken. Zum anderen aber, und wichtiger noch: im Interesse eines realistischen Herangehens an die Frage, wie es dem Menschen heute und in der Zukunft möglich sein soll, sich in dem Ozean der Informationen, die Computer und Internet zur Verfügung stellen und deren Volumen sich nach Eco inzwischen auf das ca. Sechsmilliardenfache einer traditionellen Encyclopédie à la D’Alembert und Diderot beläuft, zurechtzufinden, geht Eco ebenso schockierend wie überzeugend auf die Herausbildung dessen ein, was wir in Bezug auf ethisch-kulturelle und speziell literarische Werte in Deutschland bis vor kurzem unter dem Begriff der Kanonbildung zu subsumieren pflegten, mit dem wir die Vorstellung einer nach Qualitätsmerkmalen logisch-sinnvoll strukturierten Auswahl verbanden, eine Vorstellung, der Eco die „rhizom“-artige Realität kultureller For- <?page no="318"?> 300 Epilog mationen insgesamt und die literarischer Entwicklungen im Speziellen entgegensetzt. Das Vertrackte ist, dass Ecos Konzeption die nachprüf bare Wirklichkeit auf ihrer Seite hat: vom Verlust von Kulturdenkmalen im Allgemeinen und von Texten im Besonderen auf Grund ihrer materiellen Vergänglichkeit, ihrer Vernichtung durch Naturkatastrophen, durch Kriege oder durch Feuersbrünste, die ganze Bibliotheken wie die von Alexandria vernichteten, bis zu der selektiven Büchervernichtung vom Mittelalter bis in die Neuzeit, der Verhinderung von Textproduktion oder -verbreitung durch Zensur, Lektorats-Fehler in den Verlagen, aber auch durch die immer weiter anschwellenden Textmassen, die vom Leser individuell nicht mehr bewältigt werden können und von klassifizierenden Instanzen als unwichtig ausgesondert werden, bieten uns Kultur- und Literaturgeschichten kohärente Darstellungen von in Wahrheit Chaotisch-Fragmentarischem, dessen Struktur von ideologisch-assoziativen Wertvorstellungen und der Dialektik von Zufall und (bruchstückhafter) Systematik bestimmt werden. Dieser Befund der streckenweise anarchischen Dialektik von institutionell-gesellschaftlicher Bewahrung oder Vernichtung von Kulturdenkmalen und/ oder Texten wird von Eco durch den Blick auf die Aleatorik des individuellen Lesens ergänzt. Dabei wird Eco ganz konkret, berichtet von seinen eigenen Lese-Erfahrungen und gibt zu, viele bedeutende Bücher nicht nur vorläufig, sondern für lange Zeit oder gar für immer per Kinderbuchversionen ad usum delphini, andere über Auszüge in Anthologien, wieder andere nur aus Resümees kennengelernt zu haben, und fragt provozierend (Nesp 265-266), wer denn von jenen, die vom Kâmasụtra, von Tausendundeiner Nacht oder von Finnegans Wake und der Bibel sprächen, diese Texte in voller Länge gelesen habe. Kurz: die Welt sei voller Bücher, die wir nicht gelesen haben, über die wir aber fast alles wissen, und Eco, der immer wieder das Beispiel der Tragödien anführt, von denen wir durch die Poetik des Aristoteles wissen, obwohl sie verschollen sind,* folgert (264-265): Wir sind also zutiefst beeinflusst von Büchern, die wir nicht gelesen haben, die wir aus Zeitmangel nicht haben lesen können. Dieses vermeintlich chaotische Zusammenspiel von komplexerem und fragmentarischem Wissen, ja, sogar von Nicht-Wissen sei nun nicht etwa eine Katastrophe, sondern im Gegenteil Voraussetzung und Basis für die Herausarbeitung größerer kultureller Zusammenhänge, ja, der Kultur insgesamt. Das gelte natürlich auch für den Umgang mit Büchern, der auf dem produktiven Gleichgewicht tatsächlicher und möglicher Kenntnisse im Kontext von überlebensnotwendigem <?page no="319"?> 301 Wie man Ordnung in Enzyklopädien bringt oder das Buch hat Zukunft Unwissen, Ausgrenzen und Vergessen gründe, kurz auf der mémoire, verstanden sowohl als individuelles Erinnerungsvermögen als auch als gesellschaftliches Wissen um die Vergangenheit. Die mémoire - und zwar sowohl die individuelle als auch die kollektive mémoire oder Kultur - hat eine doppelte Funktion, sagt Eco (Nesp 71): Zum einen muss sie in der Tat bestimmte Daten aufbewahren, zum anderen muss sie die Informationen, die wir nicht brauchen und die unsere Gehirne nur unnütz belasten würden, durch filtrage oder Aussieben-Auswählen ins Vergessen delegieren. Eine Kultur, die nicht auszuwählen vermöchte, was wir als Erbe der vergangenen Jahrhunderte bewahren müssen, gliche der Gestalt des [Ireneo] Funes, den Borges in Funes el memorioso erfunden hat, und der die Fähigkeit besizt, sich an alles zu erinnern. Was genau genommen das Gegenteil von Kultur ist. Es wäre Wahnsinn, natürlich, und das weiß auch Jean-Claude Carrière, dem diese Auskunft und die daraus abzuleitende Prognose für den künftigen Umgang mit dem per Computer und Internet ins Unendliche erweiterten Wissen und seinen Konsequenzen für Buch und Literatur dennoch nicht reicht. Daran gewöhnt, Literaturgeschichte in homogenen Zusammenhängen wie „die Pléiade“, „die (von ihm mit und seit Boileau verabscheute) französische Klassik“, „die (von ihm ebenfalls perhorreszierte) Kunst und Literatur der napoleonischen Zeit“, der er als positives Beispiel „den Sturm und Drang“ entgegenstellt, „die Surrealisten“, aber auch „die spanische Literatur“ von der Inquisition bis ins 19. Jahrhundert zu denken, wirft er (104) die Frage auf, warum „eine Epoche eine künstlerische Sprache unter Ausschluss aller anderen wähle“ bzw. wer wie und nach welchen Kriterien jene kulturellen „Selektionen“ bzw. jene „filtrages“ vornähme, von denen Eco spreche und die „für die künftigen Generationen“ vorbildhaft seien würden. Kurz: wie das herausfiltern, was sich zur mémoire oder Kultur zusammenfüge, wenn doch - wie Eco sage - „alles ohne jede Ordnung, ohne Wertehierarchie, ohne Vorauswahl aus unseren Computern“ ströme? Mit anderen Worten (73): „wie sollen wir unter diesen Umständen unsere mémoire erschaffen, wenn wir doch wissen, dass diese mémoire eine Frage von Auswahl, Vorlieben, Aussonderungen bzw. willkürlichen und unwillkürlichen Versäumnissen ist? “ Eco kann ihm darauf keine Antworten geben, weil ein Produzieren von Denk-Malen bzw. von (literarischen) Kunstwerken nach feststehenden Kriterien bzw. normativen Produktionsvorgaben seiner Überzeugung von der Offenheit der (künstlerischen) Produktion im unendlich vielfältig gesellschaftlich, aber auch tendenziell genauso vielfältig individuell bestimmten Handlungskontext widersprechen <?page no="320"?> 302 Epilog würde bzw. jede zu Imitaten bzw. Stereotypen mutierte Formensprache auf sein ästhetisches Desinteresse stieße, das er bereits in seinen frühen Schriften zur Ästhetik unmissverständlich bekundet hatte.* Die Erklärungen, nach denen Carrière verlangt und auf die Eco - Carrière selbst das Wort überlassend - meist ausweichend reagiert,** können also kaum aus einer (auch noch normativ konzipierten) Produktionsperspektive heraus gegeben werden, und da Eco den von objektivem und subjektivem filtrage bestimmten Prozess der historischen mémoire-Bildung oder Kulturproduktion in seiner Dialektik von Bewahren und Verdrängen/ Vergessen evoziert hat, um die Mechanismen zu verdeutlichen, die auch für einen innovativ-produktiven Umgang mit den neuen Massenmedien und speziell dem enzyklopädisch-unendlichen Informationsfluss des Internets gelten und somit auch dem alten Medium Buch zugute kommen müssten, versucht Eco die Diskussion immer wieder in diese Richtung zu lenken. Genau das erklärt, wieso Eco vor allem (69-70; 224) auf der Bedeutung eines allgemeinbildenden Abiturs samt Schulung in geschichtlichem und speziell (96-97) philosophiegeschichtlichem Basiswissen insistiert, weil dieses dem Individuum für den unaufhaltsam-innovativen Prozess der mémoire- oder Kulturproduktion eine gewisse intellektuelle Autonomie verleihe, die zur Urteilsbildung und damit zum nutzbringenden Umgang mit den neuen Instrumenten befähige und damit auch den Zugang zu den Büchern garantiere. Denn wenn diese auch in der Internet-Enzyklopädie oder Bibliothek auf bewahrt seien, so müsse doch gelernt werden, wie man den Zugang zu ihnen und dem gesamten dort versammelten Wissen finde. Das nämlich ließe sich (77-78) nicht an einen maschinellen „vérificateur“ delegieren, sondern sei Aufgabe des menschlichen Individuums, das seine geistigen Fähigkeiten einsetzen müsse, um über gemeinsames enzyklopädisches Wissen in den Dialog mit den anderen treten zu können, für den das Allgemeinwissen die Basis liefere und für dessen Nutzung unter Einschluss des Abgleichs von Quellen (zur Ermittlung des Richtigen und zur Eliminierung des Falschen) immer noch dieselben Regeln ihre Gültigkeit hätten, die Eco bereits 1977 in seinem Wie man eine wissenschaftliche Abschlussarbeit schreibt vorgestellt habe. Kurz: während Jean-Claude Carrière vor allem nach Modellen und Normen in der Kulturproduktion Ausschau hält, deren Projektion in die unbekannte Internet-Zukunft denkbar oder wünschenswert wäre, bilanziert und definiert Eco Verfahrensweisen in der Kulturproduktion der Vergangenheit (und in der Gegenwart), deren Weiterverwendung samt Schrift und Buch nach Logik und Plausibilität auch in der Internet-Zukunft <?page no="321"?> 303 Die schwindelerregend-unendliche Liste oder eine andere Art Kulturgeschichte unverzichtbar sein müssten,* ohne damit der Kulturproduktion normative Richtungen zu weisen: Wie diese aussehen wird, bleibt - bei allem, was Eco selbst erhoffen mag - undogmatisch offen. Die schwindelerregend-unendliche Liste oder eine andere Art Kulturgeschichte Dass Ecos Zurückhaltung in Sachen ästhetischer Vorbildhaftigkeit oder normativer Kanonbildung keineswegs bedeutet, dass er keine ästhetischen oder weltanschaulichen Vorlieben habe oder sich zu diesen nicht bekenne, bedarf keiner Erläuterung: Kaum je hat ein Schriftsteller und Gelehrter seine ästhetischen Vorlieben so enzyklopädischexhaustiv vorgestellt wie Eco (unter anderem) in seiner Geschichte der Schönheit, und kaum ein anderer Schriftsteller hat sich so offen zu seinen Vorbildern bekannt wie Eco mit seinen ununterbrochenen Verweisen auf alle, die ihn inspiriert haben und inspirieren von Dante über Rabelais, Shakespeare, Cervantes oder Manzoni bis zu Queneau und - immer wieder - Borges oder James Joyce. Was ihn von Jean-Claude Carrière unterscheidet, ist die Tatsache, dass er nicht von aprioristischen Positionen bzw. von ästhetischen und ideologischen Systemen, kurz von Vor-Urteilen zur Bewertung und Beurteilung der konkreten Praxis der Menschheit in ihrer realen Geschichte vorgeht, sondern umgekehrt aus der Analyse dieser konkreten menschlichen Praxis in der Geschichte unter Einschluss der Kunstproduktion zu ihrer Erklärung und - vergleichend-relativierenden - Bewertung gelangt. Es dürfte daher schwierig sein, im Gesamtwerk Ecos exaltierte Bewertungen einzelner - und dann auch noch als Norm empfohlener- - Kunstwerke anzutreffen, wie Carrière sie abzugeben pflegt**, oder unhinterfragte Übernahmen von Urteilen ebenso unhinterfragter Autoritäten.*** Besonders dramatisch wird dieser Unterschied in der Herangehensweise an Kulturzusammenhänge und Artefakte zwischen Carrière und Eco in weltanschaulicher Hinsicht, ist Carrière doch ein geradezu fanatischer Antikommunist, der nicht nur bedenkenlos Kommunismus mit Nazismus sondern auch Nazismus mit Marxismus gleichsetzt: „von 1933, dem Datum von Hitlers Machtergreifung, bis zu Stalins Tod, zwanzig Jahre danach, haben wir auf unserem Planeten ungefähr hundert Millionen einen gewaltsamen Tod sterben sehen“, entgegnet er Eco, der gewagt hatte, vom wissenschaftlichen Obskurantismus der katholischen Kirche und ihren neuerlichen Angriffen auf den Darwinismus zu sprechen, und hält ihm entgegen, dass Obskurantismus <?page no="322"?> 304 Epilog nicht nur eine Sache des religiösen Glaubens sei: „Das sind vielleicht mehr Tote als in allen anderen Kriegen in der Weltgeschichte. Aber Nazismus und Marxismus sind zwei atheistische Monster. Als die entsetzte Welt erwacht, wird es als ganz und gar normal empfunden, dass man zu religiösen Praktiken zurückkehrt“ (Nesp 132). Eco antwortet darauf mit demselben Argument, das er bereits 2007 gegen „Papst Ratzingers“ Enzyklika Spe salvi facti sumus vorgebracht hatte, dass nämlich die Nazis „Gott mit uns“ geschrien und keineswegs atheistische Welterkenntnis angestrebt, sondern eine Art „heidnische Religiosität“ praktiziert hätten. In der Sowjetunion hingegen habe Atheismus geherrscht, sei aber aus machtpolitischen Gründen pervertiert worden: Wenn der Atheismus zur Staatsreligion erhoben wird wie in der Sowjetunion, gibt es keinen Unterschied mehr zwischen einem Gläubigen und einem Atheisten. Alle beide können Fundamentalisten werden wie die Taliban. Ich habe einst geschrieben, es träfe nicht zu, dass die Religion das Opium für das Volk war, wie Marx geschrieben hatte. Das Opium hätte es neutralisiert, betäubt, eingeschläfert. Nein, die Religion ist das Kokain für das Volk. Sie fanatisiert die Massen (Nesp 192). Doch Ecos Einwand bleibt wirkungslos. Carrière räumt zwar ein, dass man vielleicht in Sachen Religion von „einer Mischung aus Opium und Kokain“ sprechen könne, und dass es tatsächlich den Anschein habe, „dass der muselmanische Integrismus die Fackel des militanten Atheismus“ weitertrage und „dass wir in der Rückblende den Marxismus und den Nazismus als zwei merkwürdige heidnische Religionen betrachten“ könnten. „Doch“, so fügt er hinzu: „was für Massaker“ (Nesp 192). Tatsächlich, Carrière hat nicht zugehört und dementsprechend auch nichts verstanden, denn weder hat Eco in diesem Gedankenaustausch in Bezug auf die Sowjetunion von „Kommunismus“ gesprochen, noch schon gar von „Marxismus“, sondern von „Atheismus“. Das ist absolut nicht belanglos, denn Eco würde nie in die monotone Litanei des gleichmacherischen Antikommunismus einstimmen,* zumal die Mehrheit der bedeutenden Philosophen, Künstler und Schriftsteller Italiens seit der Gründung der Kommunistischen Partei Italiens und - nicht zuletzt auf Grund ihres Beitrags zur Resistenza gegen deutschen und italienischen Faschismus - besonders nach 1945 mit dieser verbunden gewesen waren, selbst wenn sie später Abstand zu ihr gewinnen sollten oder mit ihr - wie Eco selbst (vor allem in der Zeit des geplanten „compromesso storico“) - nur sympathisiert hatten: von Gramsci und Ignazio Silone, Mitbegründer des PCI, über Galvano della Volpe, Vittorini, Pavese, Leonardo Sciascia, Pasolini, Calvino bis zu <?page no="323"?> 305 Die schwindelerregend-unendliche Liste oder eine andere Art Kulturgeschichte Rossana Rossanda, der Mitbegründerin von Il Manifesto, oder Edoardo Sanguineti. Aber selbst wenn sie sich parteipolitisch nicht oder - in anderen Formationen wie dem PSI oder dem PSIUP und - nach dem Zusammenbruch des Parteiensystems in den 90er- Jahren - wie Eco selbst oder Gianni Vattimo - für die linken Nachfolgeorganisationen wie L’Ulivo, den Partito Democratico oder L’Italia dei Valori engagieren sollten, einen dumpfen Antikommunismus wie den Carrières hat es in Italien nur auf reaktionär katholischer, konservativer und neofaschistischer Seite, kaum aber bei namhaften Intellektuellen im Italien der Nachkriegszeit gegeben. Zweifel an der positiven Bedeutung des PCI für das demokratische Italien der Nachkriegszeit dürften unvoreingenommene Historiker so wenig haben wie einigermaßen intelligente Kritiker an der künstlerischen Bedeutung von Malern, Bildhauern, Komponisten, Cineasten oder Schriftstellern, weil diese sich im linken Spektrum ganz allgemein oder in dem des PCI im Besonderen engagiert hatten. Um nur ein Beispiel unter Hunderten zu nennen: Von 1984 bis 1988 saß Alberto Moravia, der ein politisches Engagement links für selbstverständlich hielt,* für den PCI als Abgeordneter im Europäischen Parlament. Die Auslassungen Carrières aber sind - vor allem mit seinen Gleichsetzungen von sowjetischem Kommunismus mit Nazismus und absurderweise auch noch mit „Marxismus“ - trotz allem erstaunlich, hat Eco doch seine Bejahung des historisch-dialektischen Materialismus, wie er von Marx und Engels ausgearbeitet und von Gramsci, Benjamin, Bloch oder Arnold Hauser angewandt und in der Anwendung vertieft und verfeinert worden war, seit seinen ersten kulturgeschichtlichen Untersuchungen offen bekundet, marxistische Vorarbeiten und Methodik in seinen eigenen soziologischen Untersuchungen verwendet, mit seinen übrigen philosophischen und wissenschaftlichen Überzeugungen in der semiotisch-philosophischen Arbeit verbunden und auch in seinem Spätwerk nie preisgegeben. Wahrscheinlich aber kann dies selbst Intellektuellen wie Carrière entgehen, weil Eco - wie N’espérez pas vous débarrasser des livres zeigt - seine Auseinandersetzungen mit der Welt nie mit dogmatischen Prämissen und Zielsetzungen beginnt, sondern stets ohne theoretisch-philosophische Apriori in genau der von ihm vorgeschlagenen (kantianischen) Weise der Kombination seiner Beobachtungen des Objektes mit (konzeptuellem) Vorwissen und der von der praktischen Auseinandersetzung mit der konkreten Realität geforderten Methodik an die Beantwortung der von ihm aufgeworfenen Fragen herangeht. Das geschieht - sieht man von seinen semiotischen Arbeiten im engeren Sinn ab - weitgehend <?page no="324"?> 306 Epilog ohne Einsatz aufwändiger Fachterminologie, dafür jedoch immer unter Berücksichtigung von Logik und praktischer Zielsetzung, so wie er es auch zur Bewältigung der neuen Aufgaben empfiehlt, die aus der Entwicklung der Computer- und Internet-Technik resultieren. Die Logik ist es auch, die ihm auferlegt, all sein partikulares Nachdenken über die Welt als kleinen Beitrag zum allgemeinen Prozess des Wissenserwerbs über die Welt und damit als ein Element eines geschichtlichen Prozesses zu verstehen, dem unendlich viele Phasen und Stufen der Welterkenntnis vorangehen, die er - soweit möglich-- zu berücksichtigen und weiterzuverwenden sucht. Damit aber stellt er sich in bewussten Gegensatz zu gängigem Fortschrittsdenken in der Wissenschaft: Die Wissenschaft ist mörderisch, sagt er (96-97) in der Diskussion mit Carrière: Sie tötet die vorhergehende Idee, wenn diese durch eine nachfolgende Entdeckung überholt wird […] Die derart preisgegebene [Idee] wird damit Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte. Leider hat die analytische Philosophie in den Vereinigten Staaten in ihrem unerfüllten Streben, der Wissenschaft zu ähneln, denselben Standpunkt eingenommen. Vor einigen Jahrzehnten konnte man daher im Philosophie-Departement der Universität Princeton lesen: ‚Zugang verboten für Philosophiegeschichtler.‘ Aber das Gegenteil ist richtig: die Geisteswissenschaften können ihre Geschichte nicht vergessen. Ein analytischer Philosoph hat mich einmal gefragt, warum er sich mit diesem und jenem abgeben solle, was die Stoiker gesagt hatten. Denn entweder sei es eine Dummheit gewesen, und dann interessiere sie uns nicht mehr. Oder es handle sich um eine brauchbare Idee, und dann sei wahrscheinlich, dass irgendeiner von uns sie früher oder später auch haben würde. Ich habe ihm geantwortet, dass die Stoiker vielleicht interessante Probleme behandelt hätten, die man seitdem liegengelassen habe, die wir aber unverzüglich wiederentdecken müssten. Wenn sie nämlich recht gehabt hätten, dann wüsste ich nicht, warum wir darauf warten sollten, dass irgendein amerikanisches Genie diese sehr alte Idee wieder entdeckt, zumal wenn jeder europäische Idiot sie bereits kenne. Falls aber die Entwicklung dieser damals ventilierten Idee in eine Sackgasse geführt habe, dann sei angebracht, dies zu wissen, damit man nicht noch einmal den Weg durchlaufe, der zu nichts geführt hat. Diese Anekdote umreißt korrekt, die - stets geschichtlich konzipierte - Erkenntnisposition Umberto Ecos, die man als die eines neokantianisch-marxistisch-pragmatisch-peirceanischen Aristotelikers bezeichnen kann, dessen von bon sens und praktischer Suche nach Lösung der Probleme gesteuerter Methodik unvoreingenommen auch andere Positionen der Welterkenntnis funktional hinzugefügt <?page no="325"?> 307 Die schwindelerregend-unendliche Liste oder eine andere Art Kulturgeschichte werden können, und zwar von der Antike über Thomas von Aquin und Descartes oder Gassendi und Diderot bis zu Taine, De Sanctis oder Guattari-Deleuze. Und während er noch mit Carrière diskutiert, sitzt er als derart geschulter Philosoph und Wissenschaftler bereits an der Aufgabe, die Notwendigkeit einer solchen Weltsicht in einer Kulturgeschichte der Menschheit offenzulegen, die gleichzeitig Programm für eine gewaltige Ausstellung in dem wahrscheinlich berühmtesten aller Museen dieser Welt sein soll, dem Louvre in Paris. Sie erscheint auf Italienisch, Französisch und Deutsch am 28. Oktober 2009, pünktlich zur Eröffnung der Ausstellung, die vom 2. November bis zum 11. Dezember dauern wird, in Gestalt einer von Eco zusammengestellten, reich illustrierten und von ihm kommentierten Anthologie von Texten mit dem Titel Vertigine della lista, Vertige de la liste, Die schwindelerregende Liste* und erregt Staunen, Bewunderung, aber auch Unverständnis und sogar Spott: Le bric-à-brac d’Eco, lautet die Besprechung im Nouvel Observateur vom 15. Oktober 2009, was - je nach Belieben, aber immer negativ - heißt: vom Zufall zusammengewürfelter Plunder, alter Trödelkram, Gerümpel, Gelumpe. Das Miss- oder genauer: Unverständnis könnte nicht größer sein. Denn es geht in Vertigine della lista bzw. in der Veranstaltung im Louvre keineswegs um zufällig Zusammengewürfeltes, sondern um Ordnung bzw. geordnete Zusammenstellung, ein Problem, das Eco von allem Anfang an - als Grundproblem der menschlichen Existenz, der Welterkenntnis und der Strukturierung des gesellschaftlichen Daseins - beschäftigt hatte und das auch in seinem Dialog mit Jean- Claude Carrière im Mittelpunkt steht: Wie können wir Ordnung in die unendliche Flut an Informationen bringen, die die Unendlichkeit des Universums spiegeln und im Internet das sechsmilliardenfache Volumen der Encyclopédie von Diderot und D’Alembert erreichen? Ohne Zweifel, dies ist eine schwindelerregende Aufgabe, vor der - wie Eco und Carrière zu Recht befinden - jeder steht, der auch nur eine Bibliothek nach Ordnungskriterien einrichten will: Leibniz hatte sich diesem selben Problem gestellt, sagt Eco (Nesp 305), Und für ihn war dieses Problem identisch mit der Organisation von Wissen. Ganz in diesem Sinn des Versuchs, Wissen zu organisieren bzw. funktional zu strukturieren, aber auch ganz im Sinn der Einbeziehung früheren Denkens in aktuelles Nachdenken über die Welt bzw. ganz im Sinn geschichtlicher Aufarbeitung geht Eco daher zu der logischen Urform des Organisierens von Wissen über die Welt zurück: zum (Ab)zählen. Eins, zwei, drei und so weiter. Und da dieses Abzählen von Adam und Eva im Paradies bzw. vom Steinzeitmenschen bis heute das erste <?page no="326"?> 308 Epilog und fundamentalste Ordnungsprinzip war und (weil unverzichtbar) geblieben ist und sich auf einer ersten abstrakten Stufe zu einer Liste formt, zieht er gleich seine dynamisch-funktionelle Ausweitung mit in Betracht: Als der Louvre mit dem Angebot an mich herantrat, schreibt er im Vorwort zu Vertigine della lista, im November 2009 den ganzen Monat hindurch eine Reihe von Vorträgen, Ausstellungen, Lesungen, Konzerten, Vorführungen usw. über ein Thema meiner Wahl zu veranstalten, habe ich keinen Augenblick gezögert und sofort die ‚Liste‘ oder das ‚Verzeichnis‘ vorgeschlagen (man könnte auch von ‚Katalog‘ oder ‚Aufzählung‘ sprechen […] Sagen wir es unmissverständlich: Ab- oder Aufzählen ist das erste Verfahren, Ordnung in das Wissen über die Welt zu bringen, und es ist bis heute das Basisverfahren für die Erstellung von Ordnung geblieben, womit wir zunächst einmal eine systemische Konstante in der Welterkenntnis festmachen können, die uns mit unseren Artgenossen seit der Prähistorie verbindet.* Gleichzeitig ist logisch, dass sich mit der Entwicklung des Menschen in der Geschichte das Wissen über die Welt und damit seine Strukturierung oder Organisation verändert. Die Listen werden länger, verbinden sich mit anderen Koordinaten, können unterteilt werden, kurz: sie mutieren zu Verzeichnissen, Katalogen, Aufzählungen, womit bereits kultureller und funktionaler Wandel des Auflistens angezeigt ist. Mit anderen Worten: die Betrachtung der künstlerisch-literarischen Gestaltung des Auflistens im Verlauf der Menschheitsgeschichte gestattet uns, an einem grundlegenden und in seiner ursprünglichen Funktion gleichbleibenden Prozess der Organisierung unseres Wissens über die Welt mittels seiner formalen Evolutionen die Veränderung unserer Weltsicht abzulesen. Und zu dieser Veränderung der Weltsicht gehört logischerweise auch, was Adam oder der Steinzeitmensch so noch nicht denken konnten, da es ihnen zunächst darum gehen musste, einen Bestand zu erfassen (ich, Frau, Kind z. B.): die Erkenntnis des einerseits Limitiert-Unzulänglichen in der Erfassung der Welt und damit unserer Endlichkeit und der Endlichkeit unseres Erkennens und Handelns sowie andererseits die Erkenntnis der grundsätzlichen Offenheit oder Unabschließbarkeit der Listenbildung bzw. die Erkenntnis der Unendlichkeit dieser Welt. Dennoch muss man sich, wie Eco nachweist, davor hüten, eine lineare Entwicklung von primitiv-einfacher Liste zu kompliziert-artistischer und damit fortgeschrittener Formung zu unterstellen, die im Heute ihren Höhepunkt fände.** Der Mensch muss bereits früh die Fähigkeit entwickelt haben, neben einfachem Rubrizieren auf einer <?page no="327"?> 309 Die schwindelerregend-unendliche Liste oder eine andere Art Kulturgeschichte Liste auch komplexe Systeme in artistischer Formung zu erfassen: Auf den ersten Blick könnte man meinen, die Form sei kennzeichnend für hochentwickelte Kulturen, die die sie umgebende Welt erkundet, deren Ordnung anerkannt und definiert haben. Im Gegensatz dazu wäre die Liste typisch für primitive Kulturen, die eine noch ungenaue Vorstellung vom Universum haben und sich darauf beschränken, die vielen Eigenschaften, die sie zu benennen wissen, aufzuzählen, ohne sie in eine hierarchische Ordnung zu bringen. Doch die erste Annahme trügt: Scheinbar schwankt […] schon Homer zwischen einer Poetik des „das war alles“ und einer Poetik des „und weiter so.“ Und während Homer also bereits formale Mittel einsetzt, die über die einfache Liste hinausgehen, um das Fortwährende, das Nicht-Endende und damit letztlich die Unendlichkeit, die über das Wissen hinausgeht, zu evozieren, kehrt die Liste im Mittelalter wieder (nachdem die großen theologischen und enzyklopädischen Summae den Anspruch erhoben hatten, das materielle und geistige Universum in eine endgültige Form zu bringen), ebenso in der Renaissance und im Barock, wo sich das neue astronomische Weltbild durchsetzt, besonders aber in der Postmoderne - Zeichen dafür, daß die Liste aus mannig fachen und sehr unterschiedlichen Gründen einen unwiderstehlichen Zauber ausübt. Entdeckungen dieser Art sind auch dazu angetan, unsere (Post-) Moderne-Arroganz abzubauen und uns der Tatsache bewusst zu machen, dass unsere frères humains, die früher lebten, durchaus empfinden wie wir sowie mit den unseren identische Denkkapazitäten hatten, auch wenn sie ihr Empfinden und Denken anders artikulierten, und uns klar zu machen, dass aus diesem Grund der Dialog mit ihnen so lebendig und spannend sein kann, wie der mit unseren eigenen Zeitgenossen. Voraussetzung dafür ist freilich, dass es uns - so wie Eco - gelingt, das Gemeinsame in der geschichtlichen Verschiedenheit zu erkennen und damit zu überwinden. Und tatsächlich hat Eco es in Vertigine della lista geschafft, mit der Denkfigur der Liste in ihren geschichtlich-individuellen Varianten eine Text-Bild-Präsentation des Organisierens von Wissen über Endliches und Unendliches zu realisieren, die diesen Dialog ermöglicht. Illustriert im etymologischen Sinn des Wortes durch visuelle Artikulationen des Denkens von den Wandmalereien in Pompeji über die Kunstproduktion vom Mittelalter über Renaissance, Barock und Moderne bis hin zu Bob Lescaux, Raymond Depardon und Donald Jacot, zeigen Texte von (unter anderen) Homer, Hesiod und Vergil über die Carmina Burana, Isidor von Sevilla, Dante, Villon, Rabelais, Shakespeare, Grimmelshausen, Marino, Goethe, Hugo, Poe, Rimbaud bis zu Döblin, Eluard, Thomas <?page no="328"?> 310 Epilog Mann, Paul Valéry, Calvino, Montale, Pablo Neruda, Pérec, Prévert, Queneau, Patrick Süskind, Wisława Szymborska und immer wieder Borges und Joyce die enzyklopädische Fülle der mögliche Ordnung stiftenden oder Unordnung signalisierenden Aufzählungen, Listen, Kataloge in ihrem Gebrauch durch die Jahrhunderte: sie dienten dazu, alle (damals bzw. jeweils) denkbaren raum-zeitlichen Koordinaten des menschlichen Seins zu umfassen, auszuloten oder doch zumindest anzudeuten. Einundzwanzig oder Rückkehr zum Buch der Weisheit Dass diese ikonotextuelle Enzyklopädie 21 Kapitel umfasst, ist natürlich kein Zufall. So wie im Namen der Rose lenkt Eco, der wahrscheinlich größte Experte für Zahlensymbolik, die Aufmerksamkeit auf die Zahl, die „in der Bibel die Zahl der Perfektion par excellence ist (3- × 7): die Zahl der 21 Attribute der Weisheit […]“, wie sie in Salomos Buch der Weisheit (VII 1-23) auf der Liste der Listen aufgelistet werden. „Ich bin auch ein sterblicher Mensch“, sagt Salomo, „und bin in den Windeln auferzogen mit Sorgen […] und mir kam der Geist der Weisheit […] Ich hatte sie lieber, denn gesunden und schönen Leib, und erwählte sie mir zum Licht […] Ich war in allen Dingen fröhlich. Das macht, die Weisheit ging mir in denselbigen vor […] Denn sie ist den Menschen ein unendlicher Schatz […] Gott hat mir gegeben, weislich zu reden, und nach solcher Gabe der Weisheit recht gedenken […] Denn er hat mir gegeben gewisse Erkenntniß alles Dinges, daß ich weiß, wie die Welt gemacht ist, und die Kraft der Elemente […] Der Zeit Anfang, Ende und Mittel; wie der Tag zu- und abnimmt, wie die Zeit des Jahres sich ändert […] Und wie das Jahr herum läuft; wie die Sterne stehen […] Die Art der zahmen und der wilden Thiere; wie der Wind so stürmet; und was die Leute im Sinn haben; mancherlei Art der Pflanzen und Kraft der Wurzeln […] Ich weiß Alles, was heimlich und verborgen ist; denn die Weisheit, so aller Kunst Meister ist, lehret mich’s. Denn es ist in ihr der Geist, der verständig ist, heilig, einig, mannigfaltig, scharf, behend, beredt, rein, klar, sanft, freundlich, ernstlich, frei, wohltätig. […] Leutselig, fest, gewiß, sicher; vermag Alles, siehet Alles, und gehet durch alle Geister, wie verständig, lauter, scharf sie sind. […] Denn die Weisheit ist das Allerbehendeste; sie fährt und gehet durch Alles, so gar lauter ist sie.“ In diesem symbolträchtigen Kapitel 21, mit dem Eco auch einmal mehr eine Hommage an Windelband vorlegt,* kehrt Eco ein letztes Mal zu Borges und dessen Essay über Die analytische Sprache des John <?page no="329"?> 311 Einundzwanzig oder Rückkehr zum Buch der Weisheit Wilkins zurück, in dem sich eine Auflistung von zahmen und wilden Tieren befindet, die unausweichlich auf Salomos Text antwortet und somit eigentlich selbst Ausdruck der Weisheit sein müsste. Nach Eco ist sie aber geradezu das Gegenteil, nämlich eine Herausforderung für jedes Kriterium der Mengenlehre. Mit ihr erreiche die Poetik der Liste den Gipfel der Häresie und spräche jeder vorgegebenen logischen Ordnung Hohn. Ist sie damit aber Zeugnis fehlender Weisheit? Oder verweist sie - mit ihrem Verstoß gegen die Kriterien der Mengenlehre und gegen alle Regeln logischer Ordnung - nicht gerade auf die Grenzen des menschlichen Verstandes und Wissens und deutet damit-- in burlesker Form - Dimensionen des Noch-Nicht-Erschauten und des Noch-Unbekannten bzw. die Fragwürdigkeit menschlicher Ordnung an? Das Ordnung stiftende Auflisten jedenfalls schlägt hier- - poetisch-rational - in sein Gegenteil um und enthüllt - Gipfel der Weisheit - Grenzen menschlichen Wissens, Grenzen des Sagbaren, die man - vielleicht - überschreitet im Augenblick der Agonie wie Bodoni in der Königin Loana. Oder das dichtende Ich in Guillaume Apollinaires La jolie rousse - Die hübsche Rothaarige, von dem Eco die folgenden Verse als letzte Aussage in seiner Unendlichen Liste zitiert: „Ihr deren Mund gemacht ist nach dem Bild des Mundes Gottes / Des Mundes der die Ordnung selbst ist / Seid nachsichtig wenn ihr uns denen vergleichet / Die die Vollendung der Ordnung waren / Wir die wir überall das Abenteuer suchen / / Wir sind nicht eure Feinde / Wir wollen uns weite und seltsame Reiche geben / Wo das Geheimnis in Blumen sich jedem darbietet der es pflücken will / Es gibt da neue Feuer nie gesehene Farben / Tausend unwägbare Phantasmen / Denen man Wirklichkeit geben muss / […] / Mitleid für uns die wir immer an den Grenzen kämpfen / Des Unbegrenzten und der Zukunft / Mitleid für unsere Irrtümer für unsere Sünden / […] Denn es gibt so viele Dinge die ich [euch] nicht sagen darf / So viele Dinge die ihr mich nicht sagen lassen würdet / Habet Mitleid mit mir.“ Dass dieses poetische Testament Apollinaires, das im Jahr seines Todes 1918 veröffentlicht wurde, durch seine Verwendung als Schlusswort im salomonischen 21. Kapitel der unendlichen oder schwindelerregenden Liste auch zu Ecos poetischem Testament wird, ist evident, und da wir bei ihm den Umgang mit Texten gelernt haben und wissen, dass das Gesagte auch vom Nicht-Gesagten und Ungelesenen mitbestimmt wird, sei hier der Beginn des Gedichtes zitiert, das an dieser Stelle, dem Ende des Vertigine della lista stehen müsste und - par défaut - auch steht und zu dessen Lektüre uns Umberto Eco zwar implizit, aber unmissverständlich auffordert: <?page no="330"?> 312 Epilog Me voici devant tous un homme plein de sens Connaissant la vie et de la mort ce qu’un vivant peut connaître Ayant éprouvé les douleurs et les joies de l’amour Ayant su quelquefois imposer ses idées Connaissant plusieurs langages Ayant pas mal voyagé Ayant vu la guerre dans l’Artillerie et l’Infanterie Blessé à la tête trépané sous le chloroforme Ayant perdu ses meilleurs amis dans l’effroyable lutte Je sais d’ancien et de nouveau autant qu’un homme seul pourrait des deux savoir Et sans m’inquiéter aujourd’hui de cette guerre Entre nous et pour nous mes amis Je juge cette longue querelle de la tradition et de l’invention De l’Ordre et de l’Aventure* Eco im Louvre oder Opera aperta und der Triumph von Aristoteles und Gruppe 63 Vertigine della lista ist freilich kein - resignatives - Testament, sondern durchaus kämpferische Bilanzierung eines überaus produktiven Lebens und Einladung zu wissenschaftlich-künstlerischer Weiterarbeit. Um es präzise zu sagen: Die schwindelerregende Liste ist eine anthologische Kunst- und Literaturgeschichte, in der die poetischen Texte und die Kunstwerke ausgewählt wurden nach der Bedeutung und Originalität, mit der sie ihren Beitrag geleistet haben und immer noch leisten zur ästhetischen Artikulation des Nachdenkens über die Welt, und nicht etwa nach Kriterien eines vagen ästhetischen Empfindens oder einer kongenialen Versenkung in Kunstwerke oder Texte, die „aus dem Bauch heraus“ geschaffen wurden, wie das deutsche Feuilleton es verlangt, um ihm das Qualitäts-Zertifikat „aus Fleisch und Blut“ ausstellen zu können. Nein, Eco hat diese Geschichte der reflexiven Kunstproduktion voll und ganz im Sinn der aristotelischen Poetik verfasst, derzufolge die Dichtkunst eine besondere Art der Welterkenntnis und als solche der Geschichtsschreibung überlegen (Eco würde sagen: komplementär) ist und der Philosophie nahesteht. Dass er sich dabei - als philosophische Ouvertüre - gleich zu Beginn zu Kant und dessen logischer Dialektik von sinnlich-empirischer Welterkenntnis und apriorisch-begrifflicher Weltbenennung bekennt und damit auch den Rekurs auf die Liste begründet,** liegt ebenso auf der Hand wie seine impliziten und expliziten Bekenntnisse zur (pragmatischen) Semiotik***, der das gesamte Werk zu danken ist, aber auch sein offenes Bekenntnis zu Marx und Walter Benjamin im Kontext der Analyse von Massenmedien und Warenästhetik. Das alles aber bedeutet keinewegs, dass er die Hilfe irgendeiner anderen philosophisch-wissen- <?page no="331"?> 313 Eco im Louvre schaftlichen Instanz zurückwiese, die ihm beim philosophisch-semiotischen Nachdenken über den künstlerisch geformten Denkakt und seine Entstehungsbedingungen und -gründe sowie seine Funktion in der Menschheitsgeschichte nützlich sein könnten*. Kurz: so wie für sein gesamtes Werk insistiert Eco bei der Konzeption von Vertigine della lista und der entsprechenden Louvre- Ausstellung auf der unaufhebbaren Dialektik von (künstlerischer) Gestaltung und Formgebung und (philosophisch-wissenschaftlicher) Welterkenntnis, was natürlich für den kompetenten deutschen Kunst- und Literaturkritiker völlig unmöglich ist. Denn wie dieser spätestens seit Fichtes Reden an die deutsche Nation weiß, ist die aristotelische Poetik keinen Schuss Pulver (oder vielmehr: nur einen Schuss Pulver) wert, hatte diese doch den „Erbfeind“ Frankreich für dessen klassizistische Un-Kunst à la Molière inspiriert,** der man in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts und speziell nach den Abwehrschlachten gegen Napoleon - zu Goethes Entsetzen - die geniale Produktion „aus dem Bauch heraus“ entgegenzusetzen begann, der sich dann auch der deutsche Kunst- und Literaturkritiker - dank Schleiermacher und Dilthey - kongenial durch „Sich-Hineinversenken“ nähern durfte und bis heute zu nähern pflegt. Und dessen Urteil war und ist- - mit wenigen Ausnahmen - klar und einheitlich: Ecos Romane sind professorale Gedankenspiele, intellektuelle Quälerein für den Kritiker und-- in Ermangelung von „Fleisch und Blut“ - ohne irgendeine sinnlich-beschauliche Versenkungstiefe, kurz: miserable und langweilige Unkunst. Dass diese Meinung von den deutschen Philosophen, Historikern, Geisteswissenschaftlern, vor allem aber von den Millionen „einfacher“ deutscher Leser nicht geteilt wird, beweist nur, was man schon immer wusste: der „geniale Dichter“ ist in seiner Schöpfungsarbeit einsam und allein, und darum ist nur folgerichtig, dass sein „kongenialer“ Feuilletonpartner diese kreative Einsamkeit teilt. Dass die internationale Feuilletonkritik - mit wenigen Ausnahmen, und unter diesen vor allem die katholisch-reaktionäre in Italien - das vernichtende Urteil der deutschen nicht teilt, beweist also allenfalls, dass die Welt immer noch am deutschen Wesen genesen sollte. Ja, dass die französische Literaturkritik Eco sogar begeistert feiert, bestätigt nur, was der „kongenial“ operierende deutsche Kritiker seit Fichte wusste: Die Franzosen haben einfach keinen Sinn für Kunst und Literatur. Auf diesem Hintergrund kann denn auch kaum überraschen, dass eine französische Unkunst-Instanz wie der Louvre dem Nicht-Künstler und langweilig-geschwätzigen Semiotiker Eco die Ehre einräumt, <?page no="332"?> 314 Epilog nicht nur in seinen Räumen eine Ausstellung nach seinen kümmerlichen ästhetischen Kriterien zu organisieren, sondern auch noch parallel dazu ein Kolloquium zu veranstalten. Tatsächlich kann es daran keinen Zweifel geben, dass sowohl Die unendliche Liste, in der durchaus auch - und wie bei dem Italiener Eco, der in seinen Arbeiten die deutsche Philosophie in ihren besten Aspekten vertritt und weiterschreibt und in dessen Romanwerk deutsche Geschichte und deutsche Literatur einen zentralen Platz einnehmen, nicht weiter verwunderlich - deutsche Texte von den Carmina burana bis zu Süskinds Parfum Aufnahme gefunden haben, als auch die Ausstellung im Louvre und das sie begleitende Kolloquium de facto und von Ecos Seite natürlich völlig ungewollt hinsichtlich des deutschen Feuilletons das sind, was der amusische Franzose einen „bras d’honneur“ zu nennen pflegt. Denn die gesamte Konzeption von Buch, Ausstellung und Kolloquium steht nicht nur im Zeichen der künstlerischen Formung von Welterkenntnis, sondern auch im Zeichen der für diese künstlerische Welterkenntnis notwendigen Offenheit der Formen und ihrer experimentellen Veränderungen, Innovationen und Anwendungen, kurz des künstlerisch-literarischen Experimentes. Das aber ist in Westdeutschland von der Literaturkritik seit den sechziger Jahren und nach der Wiedervereinigung in Gesamtdeutschland zugunsten des bürgerlich-realistischen Romans auch und vor allem nach dem Vorbild Thomas Manns, des - nach Reich-Ranicki - „größten Prosa-Autors in der ganzen Geschichte der deutschen Literatur“, für überholt und uninteressant erklärt worden. Und es lässt sich kaum bestreiten: Literarische Form-Experimente eignen sich tatsächlich nicht zum „aus dem Bauch heraus“-Schreiben und können durchaus auch auf Ablehnung durch ein breites Publikum stoßen. Sie müssen dies aber nicht unbedingt, wie Die unendliche Liste zeigt, zeichnen sich doch alle in diesem Band vereinten Kunstwerke und Texte durch formal-experimentelle Innovationen aus, was viele von ihnen - von Homers Ilias über Dantes Divina Commedia, Rabelais’ Gargantua und Pantagruel, Cervantes’ Don Quijote oder Victor Hugos, Mark Twains und Emile Zolas Romane bis zu dem (von Eco keineswegs ausgeblendeten) Thomas Mann mit seinem Doktor Faustus, Proust mit Du côté de chez Swann, aber auch Joyce mit seinem Ulysses oder Finnegans Wake - nicht gehindert hat, durchaus Lesermassen zu begeistern. Und genau diese Frage hatte im Mittelpunkt der Diskussionen gestanden, die von der neoavantgardistischen Gruppe 63 geführt worden waren und für die deren Mitbegründer Umberto Eco maßgebliche theoretische Abhandlungen wie Opera aperta vor- <?page no="333"?> 315 Eco im Louvre gelegt hatte. Dass er damals bereits die These vertrat, künstlerischexperimentelles Schreiben und Lesbarkeit bzw. Nachdenken und Unterhaltung, ja sogar wissenschaftliche Welterkenntnis und spannende Fiktion müssten sich keineswegs wechselseitig ausschließen, eine Ansicht, die durchaus auch von anderen Mitgliedern der Gruppe 63 wie Renato Barilli vertreten wurde, hatte Eco bereits in der Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘ in Erinnerung gebracht und darauf insistiert, dass der Name der Rose aus eben diesen Diskussionen hervorgegangen war. Das war von der Kritik im deutschen Feuilleton - im Gegensatz etwa zur französischen Kritik - so gut wie unbeachtet geblieben und spielte auch in ihren Verrissen der nachfolgenden Romane aus Ecos Feder, die ebenfalls alle Welterfolge waren, keine Rolle, suchte sie doch nach „frischem Draufloserzählen“ mit „echter Sinnlichkeit und Brutalität“, eben „aus dem Bauch heraus“, und nicht etwa nach kunstvollexperimentell artikulierter Welterkenntnis. Die aber musste und muss die Millionen fasziniert haben, die Ecos Romane (und auch die anderen Schriften) gelesen haben und zu denen nicht nur die vom deutschen Feuilleton diskriminierten „einfachen“ oder „anonymen Leser“ gehörten oder die als akademisch-lebensfremd eingestuften deutschen Philosophen, Historiker und Literaturwissenschaftler, sondern die Mehrheit der Literaturkritiker in der restlichen Welt und speziell in Frankreich. Das erklärt auch, wieso der Louvre nicht nur auf die Idee kommen konnte, Umberto Eco seine Ausstellungsräume zur Verfügung zu stellen und ihm unter anderem zu gestatten, Luciano Berio - mit dem zusammen er einst den Omaggio a Joyce erarbeitet hatte - zur musikalischen Begleitung einzuladen, sondern mit dieser Ausstellung auf den Entstehungskontext und die aristotelisch-partikulare, vom Ausgleich von erzählerischem Experiment und spannend-eingängiger Narrativik getragene Ästhetik-Konzeption des Eco’schen Werkes aufmerksam zu machen. Am 14. November 2009 begann denn auch im Louvre - unter Beteiligung von Mitgliedern des OuLiPo wie Marcel Bénabou und Jacques Roubaud, aber auch von Nanni Balestrini und von Giovanni Anceschi, des Sohns von Luciano Anceschi, und Omar Calabrese, wie Luciano Anceschi Dozent an der von Eco gegründeten DAMS - das Kolloquium zum Thema „Œuvres ouvertes“: Umberto Eco et la scène italienne des années 1960. Denn aus dieser „italienischen Szene der 1960er Jahre“ kamen tatsächlich alle Werke Ecos unter Einschluss seines - vorerst - letzten großen Buches, Vertigine della lista, in dem er nicht nur Texte von Alberto Arbasino und Nanni Balestrini, wie er Mitglieder der Gruppe 63, neben Texte anderer italie- <?page no="334"?> 316 Epilog nischer Form-Experimentatoren wie Calvino und Gadda stellt, sondern auch-- im Kapitel Der kohärente Exzess und in Gesellschaft von Grimmelshausen/ Jacques Callot; Goethe/ Hans Baldung Grien; Emile Zola/ Maximilian Lenz; Pérec/ Jean Dubuffet sowie Döblin und anderen - zwei lange Ausschnitte aus dem Namen der Rose (im Dialog mit einem Hieronymus Bosch-verwandten Bild aus der flämischen Schule des 17. Jahrhunderts) sowie aus Baudolino (im Dialog mit Yves Tanguys Multiplikation der Bögen von 1954 aus dem Museum of Modern Art in New York) präsentiert: stolz, selbstbewusst und mit Recht. <?page no="335"?> Zitatnachweis und Anmerkungen Kindheit im faschistischen Italien Seite 3/ 4 in das lebendige Gefüge … mit Neid zu betrachten | Manifest der faschistischen Intellektuellen, in: Ernst Nolte (Hrsg.): Theorien über den Faschismus, S. 112-117. 4 inkohärentes und bizarres Gemisch … Ordnungen und Methoden | Antwort auf das ‚Manifest der faschistischen Intellektuellen‘, in: Ernst Nolte (Hrsg.): Theorien über den Faschismus, S. 138-140. 6 *Vgl. Brunello Mantelli: Kurze Geschichte, S. 87. 6 Im faschistischen Staat … verteidigt und geschützt | Die Lehre des Faschismus, in: Ernst Nolte (Hrsg.): Theorien über den Faschismus, S. 205-220, 219. 6 **Vgl. Lynn Picknett et alii: War of the Windsors, S. 78. 6 starke Zuströme germanischen Blutes … Deutschland und Italien auf | Ernst Robert Curtius: Deutscher Geist in Gefahr, S. 9-50; 85-86. 8 heroisch jugendlichen … geschaffen hat | zitiert in Katia Colombo: La pedagogia filosofica di Giovanni Gentile, S. 162. 9 *vgl. Daniela Adorni: ‚Il furbismo giudeo‘: legislazione razziale e propaganda nella scuola fascista, in: 1938. I bambini e le leggi razziali in Italia, S. 35-64, 46. 14 *Die Frecce Nere („Schwarze Pfeile“) waren eines der ersten Bataillone, die am 3.- Januar 1936 von Mussolini nach Spanien geschickt wurden, um dort aufseiten der falangistischen Putschisten gegen die demokratische Republik zu kämpfen. 14 **die republikanischen Regierungstruppen. 14 ***Ob für die Königin Loana überarbeitet oder nicht, sei dahingestellt, aber Eco erwähnt diesen Text bereits 1996, also lange bevor er die Königin Loana schrieb, und so etwas lässt sich nicht erfinden (vgl. Umberto Eco: Die Bücher und das Paradies, S.-308). Erweckung zum Lesen und religiöse Erziehung Seite 19 Wenn ich damals … den Zeilen stand | zit. nach Karl Otto Conrady: Deutsche Literaturwissenschaft und Drittes Reich, S. 78. Studium und Promotion an der Universität Turin Seite 28 genialen Forschertätigkeit … Kampfansage | Ernst Robert Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, S. 22. 28 rekurrierender … Literaturbiologie | Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 9. 30 *Vgl. zu Schleiermacher, Dilthey und dem Gesamtkontext (mit großem Vorbehalt) Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. 30 **Luigi Pareyson: Ästhetik Theorie der Formgebung (nicht ins Deutsche übersetzt). Die Pareysonsche Idee der „formatività“ hinterlässt tiefe Spuren im Denken von Umberto Eco, was für den deutschen Leser gewisse Probleme aufwerfen muss, da der Begriff- - trotz offenkundiger Affinität zur „Gestalttheorie“ - nur schwer übersetzbar ist und deshalb unterschiedlich bzw. missverständlich wiedergegeben <?page no="336"?> 318 Zitatnachweis und Anmerkungen wird. Gemeint ist der Akt der Formung eines Gedankens bzw. eines Kunstwerks, weshalb ich „Formgebung“ vorschlage. 30 infinità dell’opera … bevorzugen und verstehen ließ | Luigi Pareyson: Estetica. Teoria della formatività, [1954, 3. Aufl.], S. 244. 31 *Vgl. Eco: L’estetica della formatività e il concetto di interpretazione, in: La definizione dell’arte, S. 9-31. 33 *Umberto Eco, Funzioni e limiti di una sociologia dell’arte, in: La definizione dell’arte, S. 32-43. 33 **Umberto Eco, Sviluppo dell’estetica medievale, in: Momenti e problemi di storia dell’estetica, Milano 1959, Marzorati, 4 Bde., I. 34 *Vgl. Hans H. Glunz, Die Literarästhetik des europäischen Mittelalters [1937], Frankfurt/ Main 1963. Vgl. Michael Nerlich: Umberto Eco, E. R. Curtius, H. H. Glunz, oder noch ein Anfang, den wir verpasst haben, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 1994, XVIII, 1-2, S. 44-70 und Edgar de Bruyne, Etudes d’esthétique médiévale, Brügge 1946; L’esthétique du moyen âge, Louvain 1947. 34 Wenn die Scholastik … Ästhetik nichts weiß | Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 231. Hier zitiert Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter, S. 17. 34 **Umberto Eco: Storiografia medievale ed estetica teorica, in: La definizione dell’arte, S.-102-128. 36 *Vgl. u. a. den Artikel Beau in: Claude Gauvard/ Alain de Libera/ Michel Zink: Dictionnaire du Moyen Âge, S. 141-143. 36 **Zu Eco als Mittelalter-Historiker vgl. Jacques Le Goff: Umberto Eco et Le Moyen Âge, in: Jean Petitot/ Paolo Fabbri (Hrsg.): Au nom du Sens autour de l’œuvre d’Umberto Eco, S. 235-246. Zwischen Wissenschaft, Fernsehen, Verlagsarbeit und Kunst Seite 37/ 38 Alles war in Direkt … Gedenksendungen | Francesca Pansa/ Anna Vinci: Effetto Eco, S. 43. 39 *Eco verwendet noch das Vokabular von „fruire, fruitore, fruizione“ (genießen, Konsument, Genuss). 39 Diese Dialektik … Dialog zu sein | Umberto Eco: Il problema dell’opera aperta, in: La definizione dell’arte, S. 163-170, 164. 39 **Vgl. Ecos Ausführung zur vierfachen Bedeutung nach Dantes Epistola a Cangrande della Scala in: Kunst und Schönheit im Mittelalter, S. 179-181. 40 Kommunikation des Unendlichen … vorgelegt werden | Umberto Eco: Il problema dell’opera aperta, in: La definizione dell’arte, S. 165. 40/ 41 auf die eine oder die andere Weise … liefern könne | Umberto Eco: Il problema dell’opera aperta, in: La definizione dell’arte, S.-170. 41 *Die dt. Übers. des eindrucksvollen Bandes, der manchem als Lebenswerk ausgereicht hätte, erschien mit dem Titel Zum Nutzen des Menschen. Die großen Erfindungen im Bild der Geschichte 1963 bei Scherz in Bern, Stuttgart, Wien. Da Eco außerhalb Italiens damals noch ganz unbekannt war, werden er und Zorzoli nur ganz beiläufig erwähnt und verschwinden hinter dem Vorwort, das von zwei deutschen Verfassern zu einem Plädoyer für die Verbesserung des Patentrechts für Erfinder benutzt wird. 41 **Die dt. Übers. erschien - unter Wegfall des Untertitels Form und Unbestimmtheit in den zeitgenössischen Poetiken - als Das offene Kunstwerk 1973 im Suhrkamp Verlag. Das ist umso problematischer, als Eco das Werk zunächst allein mit dem <?page no="337"?> 319 Zitatnachweis und Anmerkungen Titel, der dann Untertitel werden sollte, veröffentlichen wollte, davon jedoch von seinem Verleger Valentino Bompiani abgebracht wurde, der für Opera aperta war, ein Titel der eigentlich im Deutschen mit „Die Offenheit des Kunstwerks“ wiedergegeben werden müsste (vgl. zu all dem: Opera aperta. Forma e indeterminazione nelle poetiche contemporanee, Milano 1993, Bompiani, Saggi Tascabili 21, S. v-vi). Der Vorteil der deutschen Edition zu den heute in Italien vertriebenen Editionen: sie enthält auch den zweiten Teil Die Poetiken von Joyce, die ursprünglich auch in der ersten italienischen Edition enthalten waren, dann aber gesondert ediert wurden. Umso unverständlicher, dass in der deutschen Edition das Vorwort zur ersten italienischen Ausgabe fehlt. 42 * Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, S. 60: „Jedes Kunstwerk, von den Felsmalereien bis zu I promessi sposi, bietet sich dar als ein unendlich vielen Arten der Rezeption offener Gegenstand.“ 44 *Vgl. Umberto Eco: Un consuntivo metodologico [1963], in: La definizione dell’arte, S. 288-295. 44 **1963 vermerkt Eco (ebd. S. 290-291) ironisch, dass für Croce und seine Schüler selbst Dantes Divina Comedia nichts weiter als eine Anthologie nach ihren Kriterien lyrisch satisfaktionsfähiger Fragmente sein konnte, da sie den „Rest“ als irrelevant betrachtet hätten: die theologische Struktur, die Kanones einer allegorischen Kunst des Mittelalters, das Repertoire an Stilfiguren und Konzetti, die aus einer langen geschichtlichen Tradition und aus kulturellem Kontext stammten. 44 ***Vgl. Umberto Eco: Lector in fabula, S. 5. 45 *Ein kurzer Überblick findet sich im Vorwort Opera aperta: il tempo, la società, in: Opera Aperta. Forma e indeterminazione nelle poetiche contemporanee, S. V- XXIII, IX-XVIII. 45 **Vgl. Umberto Eco: Lector in fabula, S. 6-9. 46 *Umberto Eco: Opera aperta, S. XVI. 46 **Eco zögert 1972 nicht, den im frühen Nachkriegs-Westdeutschland tonangebenden Sedlmayr kurz und bündig einen „Nazi-Denker“ zu nennen (L’ industria della cultura di destra, in: Il costume di casa, S. 175-181, 177). 47 *Es dürfte sogar ein besonders kritischer Essay gewesen sein, der Eco 1961 einem breiteren Publikum bekannt machte. Er erschien in der Zeitschrift Il Verri und war Michael Bongiorno, genannt „Mike Bongiorno“ gewidmet, einem - Peter Frankenfeld vergleichbaren - Quizmaster des italienischen Fernsehens (auf Deutsch in Umberto Eco: Platon im Striptease-Lokal, S. 21-29). 49 *Was für den Leser, der auf die deutschen Übersetzungen angewiesen ist, die Auseinandersetzung mit Eco enorm erschwert, ist die Tatsache, dass nicht nur eine Reihe seiner - für seine geistige Entwicklung entscheidenden - Werke (wie sein Buch über Thomas von Aquin) nie ins Deutsche übersetzt wurde, sondern dass viele seiner - von ihm präzise konzipierten - Essay-Sammlungen nur verstümmelt oder zu mehr oder weniger problematischen Sammelwerken eklektisch zusammengestellt wurden. So fehlen in der deutschen Edition von Apokalyptiker und Integrierte die Hälfte der Aufsätze aus der italienischen, und Il superuomo di massa ist auf Deutsch nie erschienen, sondern zwei der Essays aus diesem Band wurden Apokalyptiker und Integrierte hinzugefügt. Dass dies nicht so sein müsste, ergibt sich aus der Tatsache, dass bei Übersetzungen in andere Sprachen anders vorgegangen wurde (so erschien z. B. sein Buch über Thomas von Aquin u. a. auf Englisch und Französisch). 49 **Vgl. Umberto Eco: Cinema e letteratura. La struttura dell’ intreccio, in: La definizione dell’arte, S. 201-208. <?page no="338"?> 320 Zitatnachweis und Anmerkungen 49 ***Vgl. Umberto Eco: La ricerca interdisciplinare, in: Il mondo di domani, S. 361- 366. 49 ****Vgl. Umberto Eco: Für eine semiologische Guerilla [1967], in: Über Gott und die Welt, S.-146-156. Eco und die Avantgarde Seite 50/ 51 Nach gängiger Meinung … der Texte selber | Umberto Eco: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation, S. 150-151. 51 *Filosofi in libertà, hier zitiert nach der späteren Edition in Il secondo diario minimo (1992, S. 201-243, 203: eine deutsche Übersetzung gibt es nicht): „Nei dì che gli Argivi / vivevan beati / correndo giulivi / per boschi e per prati / alcuni messeri / con tono profondo / si chiesero seri: / ‚Di che è fatto il mondo? ‘ / / Un tal di Mileto / chiamato Talete / con tono faceto: / ‚Se non lo sapete / vi mostrerò tosto / - si mise a affermare - che il mondo è composto / con l’acqua del mare‘! “ 56 *Giuseppe Peano: Mathematiker und Sprachwissenschaftler (1848-1923), Giovanni Vailato: Philosoph, Mathematiker, Wissenschaftshistoriker (1863-1909), Vilfredo Pareto: Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe (1848-1923). 58 *Es müsse gleich eingangs festgestellt sein, erklärt er z. B. 1962 in einem Essay über Experiment und Avantgarde in der modernen elektronischen Musik, dass der, der da Stellung nähme, „weder Musiker noch Musikkritiker“ sei, „sondern nur ein Philosoph, der sich für die verschiedenen Musiksysteme unserer Zeit“ interessiere (Sperimentalismo e avanguardia, in: La definizione dell’arte, S. 237-258, 237). 58 **Scrittori in libertà, abgedruckt in Il secondo diario minimo, S. 244-247. Dass er noch als bekannter Autor, nach dem Namen der Rose also, an derartiger Textproduktion festhält und den Proust- und Mann-Texten eine Joyce-Parodie hinzufügt, sei angemerkt (vgl. ebd. S. 202; 248-254). 59 *Ou[vroir de] Li[ttérature] Po[tentielle] = Werkbank möglicher Literatur. 1960 von Queneau und anderen gegründete Avantgarde-Bewegung, in der sich später auch Georges Pérec, Jacques Roubaud und Italo Calvino engagierten. Lachen und rationales Engagement: Gruppe 63 und Mai 68 Seite 61 *Vgl. dazu auch Umberto Eco: Il comico e la regola, in: Sette anni, S. 253-260, 253. 62 Spannungen … Theorie | Hans Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin, S. 11. 62 seinem Nächsten und Nachbarn | Platon: Sämtliche Werke, IV, S. 140-141. 63 Menschen-Liebe, Menschen-Verachtung | Friedrich Nietzsche: Werke, III, S. 467. 63 Der Weise lacht nur zitternd | Charles Baudelaire: De l’essence du rire, in: Œuvres complètes, II, S. 526. 64 Agatha Cristo … Bitter satisfaction | Umberto Eco: Il secondo diario minimo, S.-296-303. 64 Nietzsche … Fantastisch | Umberto Eco: Iniziali, in: Il secondo diario minimo, S.-282-287. 65 *Dass der marxistisch-peirceanische Aristoteliker Eco Martin Heidegger nicht sonderlich schätzt, vermag vielleicht nicht wirklich zu überraschen. Vgl. seine ironischen Kommentare zur Unverständlichkeit der Texte des Freiburger Philosophen in Jean-Claude Carrière/ Umberto Eco: N’espérez pas, S. 184: „lorsque Russell dit une bêtise, il la dit d’une façon claire, tandis que Heidegger, même s’il dit un truisme, nous avons du mal à nous en apercevoir.“ Vgl. auch ebd. S. 196. <?page no="339"?> 321 Zitatnachweis und Anmerkungen 65 den häßlichsten Menschen … ein Schelm | Friedrich Nietzsche: Werke, II, S.-550. 65/ 66 ein gemäßigter … gegen jene auszureden | Karl Vossler: Italienische Literaturgeschichte, S.-138. 66 ein Italien … Lesern verkündet | Giuseppe Petronio: Geschichte der italienischen Literatur, III, S. 36. 66 dem Unfall … zutiefst menschlich | Charles Baudelaire: De l’essence du rire, in: Œuvres complètes, S. 527-528; 531; 532. 67 kranke Alte … einfach schlecht | Umberto Eco: Elogio di Franti, in: Diario Minimo [1963], S. 86. 67 sich in einer bestehenden … Panurge lacht | Umberto Eco: Elogio di Franti, in: Diario Minimo [1963], S. 81-92, 89. 67 Enrico denkt … Komik geblieben | Umberto Eco: Elogio di Franti, in: Diario Minimo [1963], S. 86; 91. 68 *Umberto Eco: Sulla crisi della crisi della ragione, in: Sette anni, S. 34-39. 71 *Umberto Eco: I reazionari di sinistra, in: Il costume di casa, S. 194-196, 194. 71 **Umberto Eco: Del modo di formare come impegno sulla realtà, auf Deutsch (und überarbeitet) unter dem Titel Form als Engagement in Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, S. 237-292. 74 *Umberto Eco: Sperimentalismo e avanguardia, La Biennale, Nr. 44-45, 1962 (wieder in La definizione dell’arte, S. 237-258). 74 **Zum Folgenden vor allem neben Umberto Eco: Die Gruppe 63: experimentelle und avantgardistische Kunst, in: Über Spiegel, S. 128-142, 130-131 sowie Stauder: Gespräche, S. 138-146: Umberto Eco: La generazione Nettuno (1964); Neocapitalismo e letteratura (1964); Per una guerriglia semiologica (1967); Il gioco dell’occupazione (1968); Vietando s’ impara (1968); Pesci rossi e tigri di carta (1969), in: Il costume di casa, S. 267-332. 76 *Zitiert nach Nanni Balestrini: Gruppo 63, http: / / www.nannibalestrini.it/ gruppo63/ prefazione.htm. 78 *Umberto Eco: Vietando s’ impara, in: Il costume di casa, S. 303-316, 314-315. 78 **Umberto Eco: La definizione dell’arte (die meisten der dort versammelten Essays wurden nicht ins Deutsche übersetzt). Journalismus und Kinderbücher Seite 83 In jedem Nu … Ewigkeit | Friedrich Nietzsche: Werke, II, S. 463. 83 *Umberto Eco: Fiktive Protokolle, in: Im Wald der Fiktionen, S. 155-184, 173. Vgl. auch Die unendliche Liste, S. 82. 85 *Umberto Eco: La bistecca e la politica, in: Il costume di casa, S. 85-88. 85 **Umberto Eco: Sotto il nome di plagio, in: Il costume di casa, S. 92-153. 86 *Im Juni 1971 veröffentlichte L’Espresso ein Manifest gegen Calabresi, in dem Aufklärung des Fenstersturzes und strafrechtliche Verfolgung der Schuldigen gefordert wurde: Es wurde von Hunderten italienischer Intellektueller wie Furio Colombo, Dorfles, Fellini, Renato Guttuso, Primo Levi, Moravia, Luigi Nono, Pasolini, Eugenio Scalfari und Umberto Eco unterschrieben, hatte aber keine Konsequenzen mehr: Am 17. Mai 1972 wurde Calabresi ermordet. 88 *Die italienischen Editionen geben Lettera a mio figlio, während die deutsche Übersetzung Brief an meinen dreijährigen Sohn lautet (Platon im Striptease-Lokal, S.-45-55). Da der Brief tatsächlich an Stefano adressiert ist, der 1963 geboren wurde, belasse ich es bei Brief an meinen Sohn. Zu Ecos Kinderbüchern vgl. vor allem Stauder: Umberto Eco als Kinderbuch-Autor, Zibaldone 44, 2007, S. 64-82. <?page no="340"?> 322 Zitatnachweis und Anmerkungen 89 *Umberto Eco: Die drei Kosmonauten, o. S. (die folgenden Zitate aus dieser Übersetzung). 90 *Umberto Eco: Die Bombe und der General, o. S. (die folgenden Zitate aus dieser Übersetzung). Zwischen Philosophie und Belletristik oder Mut zur Vernunft in blutiger Zeit Seite 91 *Vgl. vor allem Umberto Eco: Due ipotesi sulla morte dell’arte, in: La definizione dell’arte, S. 259-277. 92 *Vgl. Umberto Eco: Storiografia medievale ed estetica teorica, in: La definizione dell’arte, S. 102-128. 93 *Vgl. Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, S. 28-29. 93 **Vgl. u. a. Umberto Eco: Cinema e letteratura: la struttura dell’ intreccio, in: La definizione dell’arte, S. 201-208. 94 *Die unter dem Titel Einführung in die Semiotik von Jürgen Trabant ins Deutsche übersetzte und 1972 im Münchener Wilhelm Fink Verlag herausgegebene Version von Struttura assente ist mit der ersten nicht mehr identisch und weicht sogar in mancher Hinsicht entscheidend von ihr ab. 94 ** Umberto Eco: La struttura assente, S. 254 (französisch im Text: „die alle miteinander zusammenhängen“). 95 als jeweils … Verfahren | Winfried Nöth: Umberto Ecos Beitrag zur Semiotik, in: Zibaldone N° 33, 2002, S. 40-54, 51. 96 *Vgl. Umberto Eco: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, S. 21. 96 **Le forme del contenuto: in dieser ursprünglichen Version nicht auf Deutsch. Auf Deutsch erschien 1972 beim Wilhelm Fink Verlag eine „völlig überarbeitete“ Fassung der italienischen Ausgabe unter dem Titel Einführung in die Semiotik, die in dieser Form ihrerseits nicht auf Italienisch publiziert wurde. Da Teile von Le forme del contenuto in die mehr oder weniger definitive Version dieser und der nachfolgenden Studien in Ecos A Theory of Semiotics aus dem Jahr 1976 aufgenommen wurden, zitiere ich aus dieser in der deutschen Übersetzung Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987, Wilhelm Fink Verlag. 96 Zeichen … als Signifikaten | DTV-Lexikon, Bd. XXIV, 24, S. 238. 97 *Umberto Eco: Le forme del contenuto, S. 16, aufgenommen in Einführung in die Semiotik, S. 29. In Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen ist dieser Passus ausgelassen, und Eco räumt Saussures Zeichen-Konzeption - seine harsche Position aus Le forme del contenuto abmildernd - eine größere semiotische Offenheit ein, zumal er sich nun auch daran erinnert, dass Saussure (Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, S. 37) selbst bereits militärische Signale, Etikettenregeln und visuelle Alphabete in sein Zeichen-Repertoire aufgenommen hatte, also ganz im Sinn seiner Semiotik-Utopie über die natürlichen Sprachen hinausgegangen war: Ecos Polemik von 1971 hatte ihre strategische Funktion verloren (was sich übrigens auch an seinem wachsend positiven Urteil über andere Linguisten wie Louis Hjelmslev ablesen lässt). 98 Wahrheit … -gedanken wahr | DTV-Lexikon, Bd. 17, S. 239-240. 99/ 100 Wenn ein Wörterbuch … der unbegrenzten Semiose | Umberto Eco: Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 107-108. 100 wenn man die Regeln … Kategorien zu erklären | Umberto Eco: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, S. 165. 100 *Dies ist m. E. am besten dargelegt worden von Dieter Mersch: Umberto Eco zur Einführung, S. 75-145. <?page no="341"?> 323 Zitatnachweis und Anmerkungen 101 *Resümee von Ecos Bestandsaufnahme in: Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, S. 20-26. 101 interessant und brillant … literarischer Produktion | Umberto Eco: Avremmo mandato Dante in cattedra? , in: Sette anni, S. 277-284, 280. 102 *Kunst-, Musik- und Theaterwissenschaften. Zum DAMS vgl. Benedetto Marzullo; Omar Calabrese, in: Francesca Pansa/ Anna Vinci: Effetto Eco, S. 107-112. 102 **Der Text erschien 1971 zunächst mit dem Titel Sulla possibilità di generare messaggi estetici in una lingua edenica in der Zeitschrift Strumenti Critici, wurde von Eco dann in seine erste, im strengeren Sinn semiotische Arbeit Le forme del contenuto (S. 127-144) aufgenommen und seit 1985 der 4. Edition von Opera aperta (S.-291-306) hinzugefügt. 102 Repertoire von Tönen … embryonal autoreflexiv | Umberto Eco: Le forme del contenuto, S. 136. 102 Adam … manipuliert hat | Umberto Eco: Le forme del contenuto, S. 143. 103 Die Botschaft hat … Form lenken will | Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, S. 145-146. 105 *Vgl. Hans-Harald Müller: Eco zwischen Autor und Text. Eine Kritik von Umberto Ecos Interpretationstheorie, in: Tom Kindt/ Hans-Harald Müller (Hrsg.): Ecos Echos, S. 135-148. 106 die abstrakten Modelle … Modelle | Umberto Eco: L’ industria aristotelica, in: Cent’anni dopo. Il ritorno dell’ intreccio, S. 5-11, 11. 106 *Umberto Eco: Beato di Liébana: Miniature del Beato de Fernando I y Sancha (Codice B. N. Madrid Vit. 14-2). Introduzione e note bibliografiche di Luis Vázquez de Parga Iglesias. Testo e commenti alle tavole di Umberto Eco, Parma 1973, F. M. Ricci. Ecos Text ist wieder abgedruckt unter dem Titel Noterelle su Beato in: Umberto Eco: Dall’albero al laberinto, S. 227-259. 106 **Vgl. Umberto Eco: Noterelle su Beato, in: Dall’albero al laberinto, S. 229. 106 ***Il superuomo di massa: zwei der Aufsätze aus diesem Buch (über Eugène Sue und Ian Fleming) sind in die deutsche Auswahl-Edition von Apokalyptiker und Integrierte (S. 233-312) aufgenommen worden. 107 Umberto Eco: *Verso un nuovo medioevo, in: Dalla periferia dell’ impero, S. 187-211. 107 die Chinesen … zuvor existiert hat | Umberto Eco: Auf dem Weg zu einem neuen Mittelalter, in: Über Gott und die Welt, S. 7-33, 13-14; 19; 24. 108 Niemand behauptet … rundum erfreulich | Umberto Eco: Auf dem Weg zu einem neuen Mittelalter, in: Über Gott und die Welt, S 33. 109 *Umberto Eco: I nuovi filosofi [Corriere della sera vom 27. 07. 1977), in: Sette anni, S. 30-33. 110 *Vgl. bes. Ecos Kommentar in: Sono seduto a un caffè e piango [L’Espresso vom 01. 05. 1977], in: Sette anni, S.-83-90. 110 **Vgl. Umberto Eco: Sono seduto a un caffè e piango, in: Sette anni, S. 83. 111/ 112 generazione dell’Anno Nove … mein Bruder | Umberto Eco: Anno Nove, in: Sette anni, S.-59-63, 61-63. 112 *Vgl. Umberto Eco: Il laboratorio in piazza [L’Espresso vom 10. 04. 1977], in: Sette anni, S. 64-67. 112 **Vgl. Umberto Eco: L’assamblea desiderante [L’Espresso vom 25. 12. 1977], in: Sette anni, S. 68-77. 113 * Vgl. Umberto Eco: Il laboratorio in piazza [L’Espresso vom 10. 04. 1977], in: Sette anni, S. 64-67. 113 **Vgl. Umberto Eco: Sul 7 aprile, in: Sette anni, S. 91-95. 114 Ideologie des … Todestrieb pulsiere | Umberto Eco: Sono seduto a un caffè e piango in: Sette anni, S. 83-90, 90. <?page no="342"?> 324 Zitatnachweis und Anmerkungen 114 Die Klugheit … vorläufig sein sollten | Umberto Eco: Sul 7 aprile, in: Sette anni, S.-95. 114/ 115 gegen den kommunistischen … ein wenig unmenschlich | Umberto Eco: Conversazione tra Barbari, in: Sette anni, S. 78-82, 78; 80; 82. 116 *Colpire quale cuore? , ebd., S. 109-113; Den Staat ins Herz treffen? , in: Über Gott und die Welt, S. 126-132. 116 radikal falsch, korrupt … Positivem, Rationalem | Umberto Eco: Sette anni, S. 11-12. Der Name der Rose oder Am Anfang und am Ende: das Wort Seite 117 *Vgl. Umberto Eco: Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘, S. 85-89; 63-66. 119 *Zur Rezeption Thomas Stauder: Umberto Ecos ‚Der Name der Rose‘, S. 163-254; Margherita Ganeri: Il ‚caso‘ Eco, S. 179-208. 123 fiktive Gegenwartsvorgeschichte | Peter von Moos: Umberto Ecos offenes Mittelalter. Meditationen über die Historik des Romans, in: Max Kerner (Hrsg.): „… eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? , S. 128-168, 158. 123 nicht Veranlassung geben … zu verändern | Horst Fuhrmann: Umberto Eco und sein Roman ‚Der Name der Rose‘, in: Max Kerner (Hrsg.): „… eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? , S. 1-20, 2. 123 Ecos Überlegungen … geschrieben worden ist | Alexander Patschovsky: Was sind Ketzer? Über den geschichtlichen Ort der Häresien im Mittelalter, in: Max Kerner (Hrsg.): „… eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? , S. 169-190, 169. 123 der Name der Rose … wieder ‚lebendig‘ | Bernhard Schimmelpfenning: Intoleranz und Repression. Die Inquisition, Bernard Gui und William von Baskerville, in: Max Kerner (Hrsg.): „… eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? , S.- 191-213, 211. 123/ 124 Kindheit … in das Mittelalter | Max Kerner: Zeitbezug und Mittelalterverständnis in Umberto Ecos ‚Der Name der Rose‘, in: Ders. (Hrsg.): „… eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? , S. 53-80, 60. 125 *Vgl. Jacques Le Goff: Das Hochmittelalter, S. 263-264: „Der Franziskaner Roger Bacon […] ist eine merkwürdige Figur. Einerseits ist er Traditionalist, der die Wissenschaft ganz der Theologie unterstellt, andererseits ist er kühn und erfinderisch.“ 125 närrische Diskussion … benutze | Louis Moréri: Le Grand Dictionnaire historique, IV, S. 45. 126 *Vgl. Umberto Eco: Über die Denotation [1989/ 1997], in: Kant und das Schnabeltier, S. 453 ff. 132 *Paris ist Ende des 13. Jahrhunderts in drei Fraktionen aufgeteilt: „erstens die Kaufleute, die Handwerker und das gemeine Volk, die sogenannte große Stadt; zweitens die Adligen um den Königshof und die Kathedrale, die sogenannte Cité; drittens die Studenten und Kollegien, die sogenannte Universität.“ (Jacques Le Goff: Die Intellektuellen im Mittelalter, S. 81). 133 *Einige Mediävisten haben denn auch empört erklärt, dass es eine so große Klosterbibliothek nie gegeben habe (vgl. vor allem Rolf Köhn: „Unsere Bibliothek ist nicht wie die anderen …“, in: Max Kerner (Hrsg.): „… eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? , S. 81-114). 134 Aber das Buch … Einführung des Buchdrucks | Jacques Le Goff: Die Intellektuellen im Mittelalter, S. 93-96, 93. 136 besten und wohlfeilsten … Schraubenpresse | [Brockhaus]: Allgemeine deutsche Real = Encyclopädie für die gebildeten Stände, Leipzig 1851-1855, 15 Bde., III, S. -83. <?page no="343"?> 325 Zitatnachweis und Anmerkungen 137 *Dieser Einschätzung stimmt sogar Rolf Köhn zu („Unsere Bibliothek ist nicht wie die anderen …“ in: Max Kerner (Hrsg.): „… eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? , S. 103). 142 Das eine ist … Malerei | Zit. in: Wilhelm Durandus von Mende: Bilder und Schmuck in der Kirche sind der Laien Lesung und Schrift, in: Arwed Arnulf (Hrsg.): Kunstliteratur in Antike und Mittelalter, S. 103. Ebd. S. 99 auch der Text Gregors. 143 *Der italien. Text des Names der Rose sagt in der Tat - abweichend von Johannes 1.1 - „e il Verbo era Dio“, „und das Wort war Gott“. In Quasi dasselbe mit anderen Worten (S. 295-296) geht Eco auf eine Untersuchung von Johann Drumbl ein, der diesen Passus und seine Übersetzungen ins Deutsche, Englische, Französische vergleicht, um festzustellen, dass nur die französische Übersetzung die Abweichung beibehält, während die Übersetzer ins Deutsche und Englische die Ecosche Variation des Bibeltextes nicht berücksichtigt, sondern durch den korrekten Bibeltext („das Wort war bei Gott“) ersetzt haben. Eco verteidigt solidarisch beide Übersetzer, gibt aber zu verstehen, dass seine Variante in der Tat beabsichtigt gewesen war. 143 **1 Korinther 13, 12. Die deutsche Übersetzung vom Namen der Rose gibt S. 639: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem Rätsel“. Luther hatte noch übersetzt: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort.“ 143 ***Das italien. Wort „tratti“ ist vieldeutig und kann u. a. - wie Kroeber korrekt meint - zeitlich gemeint sein (also „Augenblicke“), oder aber auch räumlich (z. B. „Teile“ eines Textes), was hier gemeint sein könnte. 144 die besonderen Erscheinungen … (der Wahrnehmung) | Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, S. 114-117. 144/ 145 in der weiteren Entwicklung … fabula narratur | Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, S. 256 145 *Vgl. u. a. Manfred Hausmann: Umberto Ecos ‚Il Nome della Rosa‘ - ein mittelalterlicher Kriminalroman? , in: Max Kerner (Hrsg.): „… eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“, S. 21-52, 47; Max Kerner: Zeitbezug und Mittelalterverständnis, ebd., S. 53-80, 62-63. Vgl. auch Umberto Eco: Hörner, Hufe, Sohlen, in: Der Zirkel oder Im Zeichen der Drei, S. 288-320. 145 entspricht doch … des Semiotikers | Dieter Mersch: Umberto Eco zur Einführung, S. 53-54. 146 *Mersch mobilisiert Ernst Blochs „präzise Intuition“, um diese verständlich zu machen (Umberto Eco zur Einführung, S. 61). 146 situativen Klugheit … Konkrete hält | Dieter Mersch: Umberto Eco zur Einführung, S. 63. 146 Augenscheinlichkeit oder Evidenz | Vgl. Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, S. 174. 150 die Wahl zwischen … Namen zusammengesetzt hat | Frank-Rutger Hausmann: ‚Il Nome della Rosa‘ - ein mittelalterlicher Kriminalroman? , S. 32-35. Dass Eco tatsächlich an diesen Wortspielen Gefallen findet, weiß man spätestens seit der Veröffentlichung seines Secondo Diario Minimo von 1992. 152 *Vgl. Jean Chevalier/ Alain Gheerbrant: Dictionnaire des symboles, S. 1018-1019. 153 *Vgl. Jörn Grube: Spiel-Arten der Intertextualität im „Namen der Rose“, in: Alfred Haverkamp/ Alfred Heit (Hrsg.): Ecos Rosenroman. Ein Kolloquium, S. 60-96, 75-85. 153 **Vgl. Umberto Eco: Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘, S. 51. 154 *Vgl. Georges Duby: Die Frau ohne Stimme. Liebe und Ehe im Mittelalter, Frankfurt am Main, Fischer, 1993. <?page no="344"?> 326 Zitatnachweis und Anmerkungen 155 Et, rose, elle a vécu ce que vivent les roses | J. L. Borges: Geschichte der Ewigkeit, S.-146-150, 148. 156 e rosa ha vissuto quel che vivono le rose | Postille a „Il nome della rosa“ 1983, in: Il nome della rosa, Milano 1990, Bompiani, S. 505-533, 508. 156 Et rose elle a vécu … d’un matin | François de Malherbe: Œuvres, S. 41. 156 *Vgl. Francois de Malherbe: Œuvres, S. 794. Wie das deutsche Feuilleton einen Aristoteliker „aus dem Bauch heraus“ bekämpft Seite 157 *Ulrich Wyss: Die Urgeschichte der Intellektualität und das Gelächter, in: Burkhart Kroeber (Hrsg.): Zeichen in Umberto Ecos Roman ‚Der Name der Rose‘, S.-85- 106, 86. 158 *Vgl. Horst Fuhrmann: Umberto Eco und sein Roman ‚Der Name der Rose‘. Eine Kritische Einführung, in: Max Kerner (Hrsg.): „… eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? , S. 4. 159 daß man über das, … erzählen | Peter von Moos: Umberto Ecos offenes Mittelalter. Meditationen über die Historik des Romans, in: Max Kerner (Hrsg.): „… eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? , S. 135. 160 das man … Brigaden lesen kann | Frank-Rutger Hausmann: ‚Il Nome della Rosa‘-- ein mittelalterlicher Kriminalroman? , S. 24. Vgl. zum Namen der Rose als Krimi u. a. auch Ulrich Wyss: Die Urgeschichte der Intellektualität und das Gelächter, in: Burkhart Kroeber (Hrsg.): Zeichen in Umberto Ecos Roman ‚Der Name der Rose‘, S. 85-106; Hermann Kleber: Der Autor und sein Roman, in: Alfred Haverkamp/ Alfred Heit: Ecos Rosenroman. Ein Kolloquium, S. 19-59, 44-47. 161 hinter der Autorität … und ‚Bearbeiter‘ | Frank-Rutger Hausmann: ‚Il Nome della Rosa‘ - ein mittelalterlicher Kriminalroman? , S. 36. 162 *Auf Carrières Frage, in welchem Land Ecos Texte die höchsten Auflagen erreicht haben, antwortet Eco 2009, dass dies wohl Deutschland sei (N’espérez pas, S.-273). Daraus lässt sich logischerweise ableiten, dass entweder das deutsche Feuilleton unendlich viel klüger und/ oder ästhetisch empfindsamer ist als die Millionen deutscher Leser oder dass diese Millionen deutscher Leser unter Einschluss der Historiker, Geisteswissenschaftler und Straßenbahnschaffner andere intellektuelle und ästhetische Lesebedürfnisse haben als die Feuilletonisten. 162 **Ein exhaustives kommentiertes Inventar der Rezensionen des Namens der Rose findet sich in Stauder: Umberto Ecos „Der Name der Rose“: ein Forschungsbericht und Interpretation, S. 184-254. 162 das klügste … gelesen habe | Bruder Humor, Schwester Toleranz, Der Spiegel, Heft 49, 1982, S. 217-218. 163 *Sherlock in der Kutte, Der Spiegel, Heft 49, 1982, S. 212-214. 165 Ausleger … hineinzuversetzen | Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 318. 165 *Selbst Dilthey hielt (bisweilen) diese These für „kühn“, meinte aber, dass psychologisch gesehen, in „dieser Paradoxie“ „eine Wahrheit“ stecke (Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 268). 165 Lebenserfahrung … in der Auslegung | Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik-Zusätze aus den Handschriften, I, S. 55-68, 60. In diesen Texten macht sich Dilthey den „kühnen Satz“ von Schleiermacher (zumindest für die Interpretation von „Dichtung“) uneingeschränkt zu eigen (cf. ib. 64). 167 *Vgl. dazu als letzte große Bilanzierung die Untersuchung von José Luis Abellán: Los secretos de Cervantes y el exilio de don Quijote. <?page no="345"?> 327 Zitatnachweis und Anmerkungen 169 akademischen Fachleute … wiederzufinden | Frankfurter Rundschau, 21. 03. 1995 in einer Besprechung der Insel des vorigen Tages. 169 einfache Leser … nicht zuende | Das literarische Quartett, I, S. 61; 225-230. 170 *Alfred Heit (in Alfred Haverkamp/ Alfred Heit (Hrsg.): Ecos Rosenroman. Ein Kolloquium, S. 11-18, 12) berichtet, dass statistischen Erhebungen zufolge 63 % der Käufer den Namen der Rose auch gelesen haben. Abgesehen davon, dass man zur Einschätzung dieser Zahl auch wissen müsste, wie viele Käufer anderer Bücher diese tatsächlich zu lesen pflegen, ergäbe die Anwendung der Prozentzahl auf die Gesamtsumme der verkauften Exemplare bis 2007 immerhin noch 16 380 000 Leser. 172/ 173 klägliche Allegorie … Tod befördern | Hans-Jürgen Bachorski: Diese klägliche Allegorie der Ohnmacht. William als Vorbild? , in: Burkhart Kroeber (Hrsg.): Zeichen in Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“, S. 231-258, 253-255. 173 Bösen … statt zu erzählen | Ulrich Wyss: Die Urgeschichte der Intellektualität und das Gelächter, in: Burkhart Kroeber (Hrsg.): Zeichen in Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“, S. 85-106, 103-104. 174 *Vgl. zur aristotelischen Katharsislehre und ihrer Rezeption Manfred Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike, S. 101-110. 175 *Es gehört zu den tragischen Aspekten der deutschen (Nicht-)Auseinandersetzung mit Aristoteles seit dem Idealismus, dass der junge Brecht seinem Theater, das in Wahrheit gegen die Gefühlsästhetik des Idealismus gerichtet war, in (später eingestandener) Unkenntnis den Namen „anti-aristotelisches Theater“ verpasst hatte, ein Begriff, den er dann durch den des „epischen Theaters“ ersetzt hat. Der Irrtum aber hat zur Aristoteles-Konfusion in Deutschland noch beigetragen (vgl. u. a. Werner Mittenzwei: Brechts Verhältnis zur Tradition, S. 96-99). 175 den Zuschauer … anzustacheln | Umberto Eco: Il problema dell’opera aperta [1958], in: La definizione dell’arte, S. 163-170, 165. 178 nicht Aufgabe des Dichters … das Besondere mit | Aristoteles: Poetik, übers. u. hg. M. Fuhrmann, S. 29. 180 *Vgl. Michael Schaudig: Das Dunkel im Labyrinth von Wissen und Wahrheit belichtet, in: Tom Kindt/ Hans-Harald Müller (Hrsg.): Ecos Echos, S. 52-78, 54. 180 **Am 23. Oktober 2008 präsentierte Ravensburger auf der internationalen Spielemesse in Essen eine Spiel-Adaptation des Namens der Rose durch Stefan Feld, deren erneut millionenfacher Erfolg voraussehbar ist. Das Foucaultsche Pendel oder ein Buch vom Auszug aus dem Piemont Seite 183 *Noch 2009 insistiert Eco auf dem Zusammenhang zwischen Interessen politischer Macht und Manipulation der öffentlichen Meinung auch mittels Bombenattentaten in Zügen und Bahnhöfen (Carrière/ Eco: N’espérez pas, S. 233): „Si je suis un homme d’Etat sachant que doit paraître le lendemains une nouvelle très embarrassante pour moi, susceptible de faire la une des médias, je fais mettre une bombe à la gare centrale dans la nuit. Le lendemain, les journaux auront changé leurs gros titres.“ 183/ 184 Sie müssen nichts … man vertrauen kann | Umberto Eco: Quando entrai nella PP2, in: Sette anni, S. 287-290. 186 Ich habe einen Brief … [allgemein Akzeptierte] | Umberto Eco: Wie man Malteserritter wird, in: Wie man mit einem Lachs verreist, S. 112-114, 112, 114. 188 der Begriff erst einmal … Gesetzes verläuft | Umberto Eco: Wie man ein Inventar erstellt, in: Wie man mit einem Lachs verreist, S. 100-102, 100; 102. <?page no="346"?> 328 Zitatnachweis und Anmerkungen 189 *Vgl. Ecos Kommentare zu den einfältigen Lesern, die die kritische Dimension seines Umgangs mit okkultistischen Texten (speziell im Foucaultschen Pendel) nicht kapieren, in Jean-Claude Carrière/ Umberto Eco: N’espérez pas, S. 217-218. 189 ein Kompendium der esoterischen … Okkultismus | Das literarische Quartett, I, S.-225-230. 190 *Vgl. u. a. Max Kerner/ Beate Wunsch (Hrsg.): Welt als Rätsel und Geheimnis? Studien und Materialien zu Umberto Ecos ‚Foucaultschem Pendel‘. 194 Zweiundzwanzig Jahre … zu staunen vermag | Miguel de Cervantes: Gesamtausgabe, I, 681-682. 197 *Vgl. zu dieser Art Bücher und ihrem Absatz Ecos Anmerkungen in N’espérez pas, S. 199-202. 200 In Gellis Mitgliederlisten … Pietro Longo | Friederike Hausmann: Kleine Geschichte Italiens, S. 120. 201 *Vgl. u. a. Thomas Stauder: Das Foucaultsche Pendel: Umberto Ecos heimliche Autobiographie, in: Max Kerner/ Beate Wunsch (Hrsg.): Welt als Rätsel und Geheimnis? , S. 126-139. 201 **Nach dem Erscheinen des Foucaultschen Pendels hat der im Roman „Don Tico“ genannte Don Celi Eco das von ihm verabscheute Blasinstrument geschenkt (nach Thomas Stauder ein Bombardon: vgl. Gespräche, S. 37). 202 *Vgl. Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, S. 38-46. 202/ 203 Text der Torah … zu Gott zurückkehren kann […] | Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, S. 41. 204 *Ihr tatsächlicher Name war Cesira, wird Eco Stauder anvertrauen, und sie sei später Bürgermeisterin von *** (also Nizza Monferrato) geworden (Gespräche, S.- 37), aber es ist möglich, dass Eco hier noch einem anderen weiblichen Wesen Ehre erweist: der bereits erwähnten Übersetzerin von Windelbands Geschichte der Philosophie Cecilia Dentice D’Accadia, ganz davon abgesehen, dass noch eine andere Cecilia in Ecos geistig-erotischem Leben eine Rolle gespielt hat: die Protagonistin aus Elémire Zollas Roman Cecilia o la disattenzione von 1961, der Eco in OKW 248-251 ein Denkmal errichtet hat. Der Sumpf aus dem Berlusconi kam Seite 208 dem großen Craxi-Freund … Leib geschneidert | Friedrike Hausmann: Kleine Geschichte Italiens, S. 141. 208 Für alle Aufträge … aller alten Parteien | Friedrike Hausmann: Kleine Geschichte Italiens, S. 152-153. 209 Krise der Sozialistischen … dieses Zusammenbruchs | Umberto Eco: Was kostet der Zusammenbruch eines Imperiums? , in: Derrick, S. 21-23, 23. 209 Silvio Pellusconi … Le mie televisioni | Umberto Eco: Il secondo diario minimo, S.-302. 211 *Vgl. Iris Radisch: Nicht gesellschaftsfähig, Die Zeit, 06. 08. 1993; Lothar Baier: Stasi von rechtsaußen, Die Zeit, 29. 10. 1993. 212 *Vgl. die exaktere Übersetzung durch Kroeber: Der immerwährende Faschismus, in: Vier moralische Schriften, S. 37-69. 215 *Vgl. Umbert Eco: Streit der Interpretationen; Zwischen Autor und Text. 215 **Vgl. Entretiens sur la fin des temps, hg. Catherine David u. a., S. 272-273. 215 ***Und zwar als unverrückbar-objektive und damit in dieser Hinsicht jeder anderen überlegene Wahrheit (cf. dazu den bereits zitierten Essay in La Repubblica vom 30. 06. 2009: „La verità? È solo nella finzione“). <?page no="347"?> 329 Zitatnachweis und Anmerkungen 216 Jede Gemeinschaft … sich befaßt | Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation, S. 440. 216 *Vgl. Umberto Eco: Lüge und Ironie. Vier Lesarten zwischen Klassik und Comic, S. XX. Die Insel des vorigen Tages oder ein Buch von vielen Autoren über die Ordnung des Universums Seite 219 *Vgl. Eco zu Athanasius Kircher in Jean-Claude Carrière/ Umberto Eco: N’espérez pas, S. 136-142. 219 **Vgl. die sehr gute, wenn auch eher noch zurückhaltende Bilanzierung von Günter Berger: Vom Schiffbruch der Kritik: die Insel im Zerrspiegel der deutschen Medien, in: Ders.: Annäherungen an die Insel, S. 8-12. 219 ***Vgl. zum Verlust der Barock-Literatur durch „filtrage“ die Diskussion Carrière/ Eco in: N’espérez pas, S. 88-96. 223 *Guido Sommavilla: Uomo, diavolo e Dio nella letteratura contemporanea, Milano 1993, Edizioni Paoline. 224 *Vgl. u. a. Alain Bosquet, Le Figaro, 22. 02. 1996; André Clavel, L’Express, 15. 02. 1996; Michel David, La Quinzaine littéraire Nr. 688, 1.-15. 03. 1996; Fabio Gambaro, Le Monde diplomatique, Januar 1996 und Le Monde, 16. 02. 1996; Jacques Le Goff, Le magazine littéraire, Nr. 341, März 1996; Pierre Lepape, Le Monde, 16. 02. 1996; Vittorio Messori, Le Figaro Magazine Nr. 44, 10. 02. 1996; Alain Rey, Le Nouvel Observateur, Nr. 1636, 14.-20. 03. 1996. 224 **Vgl. neben Günter Berger: Annäherungen an die Insel den von Stauder vorzüglich edierten Sammelband mit Essays zur Insel des vorigen Tages: „Staunen über das Sein“, Darmstadt 1997. 224 ***Vgl. Manfred Berger et al.: Kulturpolitisches Wörterbuch, S. 67-68. 225 *Raymond Queneau: Esercizi di stile, Torino 1983, Einaudi. 233/ 234 wahre Protagonist … des 17. Jahrhunderts | Furio Colombo: Umberto Eco: Kultur und Natur, in: Thomas Stauder (Hrsg.): „Staunen über das Sein“, S. 78-93, 86. Vgl. dazu auch Susanne Kleinert: Geschichte und Möglichkeitsdimension in „L’ isola del giorno prima“, ebd., S. 180-206. 238 *Mit Nachdruck sei auf die immer noch grundlegende Arbeit von Joseph Sauer: Symbolik des Kirchengebäudes sowie (u. a.) auf Hans Biedermann: Knaurs Lexikon der Symbole hingewiesen. 241/ 242 spirito … render lo spirito, sterben | Annibale Antonini/ Johann August Lehninger: Nuovo Dizzionario italiano-tedesco - Neues Deutsch-Italienisches Wörterbuch, 1763, I, Spalten 1404-1405; II, Spalte 264. 245 *Vgl. Luciano Berio: Die Zeit der Insel, in: Thomas Stauder (Hrsg.): „Staunen über das Sein“, S. 44-47 und Claudia Miranda: Das Schiff der Theorie im Meer der Schrift, in: ebd., S. 218-252, 235-239. 246 Hier wird die Erinnerung … über die Menschen lacht | Jacques Le Goff: Umberto Eco, l’Histoire réinventée, Le magazine littéraire, 1996, N° 341, S. 74-76, 76. 246 *„Das war’s“, übersetzt Burkhart Kroeber korrekt: es geht nicht anders, und selbst im Französischen müsste man sich mit einem „voilà“ begnügen, weil in keiner Sprache der Verweis auf Eco übersetzbar wäre. <?page no="348"?> 330 Zitatnachweis und Anmerkungen Umberto Eco - politisch-moralische Instanz Seite 248 *Vgl. Ferdinando Castelli: Su ‚L’Isola del giorno prima‘ di Umberto Eco il nichilismo danza con la morte, La civiltà cattolica, 21. 01. 1995; Vittorio Messori: Umberto Eco est-il un mystificateur de génie? , Le Figaro Magazine, 44, 10. 02. 1996. 252 Als hätte die erste Regierung … gegen Serbien | Friederike Haußmann: Kleine Geschichte Italiens, S. 184. 252 die Frage ob … Besitzer ausdrücken | Umberto Eco: Chopin contra Derrick? Versuchen wir das Unmögliche, in: Derrick, S. 179-182, 179. 252 *Vgl. Eine TV-Show als Spiegel des Landes, in: Umberto Eco: Derrick, S. 73-74. 252 **Die Zeitungen werden immer infantiler; Eine Umfrage zum Thema Umfragen, in: Umberto Eco: Derrick, S. 143-152. 252/ 253 Parteiflügel gegen andere … Zeitung gegen Zeitung | Umberto Eco: Welche Schande, wir haben keine Feinde! , in: Mein verrücktes Italien, Berlin 2001, Wagenbach, S.-7-10, 10. 253 Verbrechen … eine stumpfe Waffe | Umberto Eco: Kosovo, in: Derrick, S. 48-56, 56. 253 *Umberto Eco: Die erste Pflicht der Intellektuellen: zu schweigen; wenn sie zu nichts nützen, in: Derrick, S. 164-167. 253 **Umberto Eco: Hinrichtung live, zum Abendessen; New York, New York, what a beautiful town, in: Derrick, S. 24-29. und: Politisch korrekt oder intolerant? , in: ebd., S. 30-33. 253 ***Umberto Eco: Die verschwindenden Ränder der Resistenza, in: Derrick, S. 66- 68 und Wer waren die Kelten? ; Bossi ist kein Gallier wie ich, in: Derrick, S. 79-86. Baudolino oder vom piemontesischen Nebel über Paris und Deutschland, Zentrum des Universums, in das gelobte Land des Presbyters Johannes Seite 256 *Vgl. Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, S. 467-473. 256 räumlich-zeitlichen Verhältnis … als objektiv behauptet | Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, S. 467. 257 *Das deutsche Feuilleton nimmt von Kant und das Schnabeltier kaum Notiz. In der Zeit vom 26. 10. 2000 erklärt Martin Seel, das Buch sei “entschieden zu dick“, was auf Ecos schlechtes Gewissen zurückzuführen sei, habe dieser doch in früheren Schriften zur Semiotik „‚die falsche Vorstellung in die Welt gesetzt‘, auf das Problem der Bezugnahme komme es in der Theorie der Zeichen nicht weiter an.“ Das sei falsch, denn die Interpretationen von Zeichen und Zeichensystemen fänden „eine ‚Grenze‘ an den Objekten, auf die sie sich beziehen“, und „von dieser Grenze“ handle nun Ecos „neues Buch.“ Es litte aber an einem „Schlingerkurs“, weil Eco „das eigentlich plausible Ziel immer wieder aus dem Blick zu geraten“ drohe. Das bestünde darin, den „semiotischen Konstruktivismus mit einem zusätzlichen Realismus auszustatten“, wobei Eco sich an Kant orientiere, „der ja ebenfalls Konstruktivist und Realist zu sein versuchte.“ Etwas freundlicher ist die Besprechung durch Albert von Schirnding (Süddeutsche Zeitung, 22. 03. 2000), auch wenn er die Semiotik nur als „eindrucksvolle artistische Nummer“ der „Kognitionswissenschaft“ betrachten könne. Immerhin macht er Eco nicht zum Vorwurf, Positionen aus früheren Zeiten ergänzen und korrigieren zu wollen, findet offenbar auch an der Kritik Gefallen, die Eco an Heideggers „Sein“ und „Seiendes“ übt, protestiert auch nicht gegen seinen Boykott der Psychoanalyse und akzeptiert Ecos Versuch, Kants Kategorienschema praktikabler zu machen. Kurz: angesichts <?page no="349"?> 331 Zitatnachweis und Anmerkungen der Tonart, die das deutsche Feuilleton sonst gegenüber Eco anzuschlagen pflegt, nimmt sich Schirndings Kritik ausgesprochen urban aus. Noch interessanter freilich die Besprechung, die Reinhardt Brandt am 24. 03. 1998 in der FAZ von der italienischen Version des Buches veröffentlicht und in der der Kantianer Brandt bei allem Vorbehalt gegenüber Ecos Versuch, „die präsemiotischen Gegebenheiten“ „im Namen des sensus communis“ „gegen die reine Semiotik“ zu retten und damit die Semiotik fester in der Pragmatik zu verankern, Eco als neukantianischen Transzendentalphilosophen würdigt und sein Buch als Gewinn an enzyklopädischem Wissen begrüßt. 257 **Vgl. Jürgen Trabant (Hrsg.): Umberto Eco, die Freie Universität und das Schnabeltier, Berlin 1998, FUB. 258 *Vgl. Ecos Text von 1981: Das Wunder von San Baudolino (Den Nebel verstehen), in: Wie man mit einem Lachs verreist, S. 173-187, 185-186 (wieder abgedruckt in: Mein verrücktes Italien, S. 53-54). Vgl. auch: Ich bin ein Vernebelungs-Philosoph, Der Spiegel 33, 2001, S. 174-176. 261 *Diese Überzeugung, die alle (wissenschaftliche oder „objektive“) Wahrheit relativiert und damit jegliches Wissen als vorläufiges versteht und jeden Dogmatismus unmöglich macht, liegt allem Denken und damit auch allem literarischen Schaffen Umberto Ecos zugrunde, wie er nicht müde wird, zu erläutern (vgl. seinen Essay La verità? È solo nella finzione, La Repubblica, 30. 06. 2009, aufgenommen in das Internet-Forum von libertà e giustizia). 262 *Vgl. u. a. Horst Fuhrmann: Das Mittelalter in der Literatur. Umberto Eco und sein Roman ‚Baudolino‘, S. 22-24. 264 *Besonders hervorzuheben: Rupert Ascher, Die Presse, 08. 09. 01; Hellmut Butterweck, Die Furche, 25. 10. 01; Simone Dattenberger, Münchner Merkur, 29. 08. 01; Mario Scalla, Der Freitag, 07. 12. 01; Manfred Schneider, Literaturen, 09. 11. 01; Verena Weidenbach, Abendzeitung, 27. 08. 01. 267 keine gefühlsstarke Beziehung … mit dem Holocaust | Horst Fuhrmann: Das Mittelalter in der Literatur, S. 5. 267 *Vgl. Karl Heinz Bohrer: Ekstasen der Zeit, S. 10-29. 268 am Mittelalter zwar lebhaft … aus einer anderen Welt | Horst Fuhrmann: Das Mittelalter in der Literatur, S. 5-6. 271 *Vgl. Umberto Eco: Nachahmungen und Fälschungen, in: Die Grenzen der Interpretation, S. 217-255; Fiktive Protokolle, S. 155-184, in: Im Wald der Fiktionen und Umberto Eco: Tipologia della falsificazione, in: Fälschungen im Mittelalter, Monumenta Germaniae Historica, Bd. 34, 1986, überarbeitet wieder abgedruckt in: Dall’albero al laberinto, S. 203-226. Ecos Aufruf zu einem moralischen Referendum und später Beginn eines langsamen Umdenkens im deutschen Feuilleton Seite 272 Niemandem würde es gefallen … sich niemand entziehen darf | Umberto Eco: Wem die Stunde schlägt. Appell zu einem moralischen Referendum, in: Im Krebsgang voran, S. 99-105, 99; 104. 273 Ich habe so oft … mit ihrem Gegner umgegangen | Umberto Eco: Die Fortschritte des Krebses, in: Im Krebsgang voran, S. 9-15, 14. 273/ 274 1. Berlusconi ist … ganzen Nation zusammenfallen | Umberto Eco: Berlusconi dämonisieren? in: Im Krebsgang voran, S. 117-129, 119. 274 ehrlicherweise zugeben … autoritären Regierungsform | Umberto Eco: Berlusconi dämonisieren? in: Im Krebsgang voran, S. 117-129, 118. <?page no="350"?> 332 Zitatnachweis und Anmerkungen 274 Der Faschismus schaffte … wer zuletzt spricht | Umberto Eco: Die Augen des Duce, in: Im Krebsgang voran, S. 129-134, 131; 133. 275 *Vgl. auch das Interview mit Stefano Eco über die von ihm produzierte und vom Gruppo Espresso edierte Dokumentation Toghe Sporche (Schmutzige Roben) über Justizskandale (Golem L’ indispensabile, 01. 05. 2003). 277 das innere System … Originaltext hervorrufen wollte | Umberto Eco: Quasi dasselbe mit anderen Worten, S.-18. 277 sich dieses Buch … Probleme offen | Umberto Eco: Quasi dasselbe mit anderen Worten, S. 16. 277/ 278 Unter all meinen Übersetzern … gehalten hat | Umberto Eco: Quasi dasselbe mit anderen Worten, S. 213-214. Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana oder das Buch vom Tod Seite 280 *Es dürfte durchaus kein Zufall sein, sondern von der Bedeutung zeugen, die Windelband für die italienischen Geisteswissenschaften besessen hat und z. T. noch besitzt, dass man in dem vom Lexikographischen Institut Sansoni unter Leitung von V. Macchi edierten Großwörterbuch Italienisch-Deutsch/ Deutsch-Italienisch ( Bd. I, S. 414) als einziger Präzisierung für manuale - Handbuch - Lehrbuch liest: „[manuale] di filosofia“. Umberto Eco selbst kommt 2009 noch einmal auf Windelbands Lehrbuch - oder was sonst? es war über Jahrzehnte und bis in die allerjüngste Zeit das einzige! - zurück, wenn er den Einfluss des „deutschen idealistischen Historismus“ auf die Vermittlung von Kenntnissen der Philosophie- Geschichte in den italienischen Schulen lobt und sein Entsetzen über den Verlust vergleichbaren Unterrichts an deutschen Gymnasien bekundet: „Il est incroyable que dans le pays le plus philosophique du monde, l’Allemagne, on n’enseigne pas la philosophie au lycée. En Italie, en revanche, sous l’influence de l’historicisme idéaliste allemand, nous avons une initiation à l’histoire de la philosophie qui dure trois ans […] Je crois qu’il n’est pas inutile de savoir quelque chose de ce que pensaient les philosophes des présocratiques jusqu’à nos jours. Le seul risque pour l’étudiant naïf est de croire que celui qui pense en dernier a raison.“ (Jean-Claude Carrière/ Umberto Eco: N’espérez pas, S. 224). 282 *Langenscheidts Großwörterbuch Italienisch, Bd. I, S. 259. 283 Minne-Autobiographie … selbstreflektierender Kommentator | Frank-Rutger Hausmann, in: Volker Kapp (Hrsg.): Italienische Literaturgeschichte, S. 19. 287 *Schlimmstes Beispiel des Fortschreibens der Versatzstücke: Hannes Hintermeier, FAZ-Literaturbeilage, 06. 10. 2004. 287 **Vgl. Maike Albath (Neue Zürcher Zeitung, 12. 10. 2004); Daniel Binswanger (Weltwoche Nr. 39, 2004); Jobst-Ulrich Brandt (Focus, Nr. 50, 2004); Claus Philipp (Der Standard, 09. 10. 04); Christian Semler (Die Tageszeitung, 30./ 31. 10. 04). 287 ***Vgl. die nuancierten Besprechungen durch Dirk Schümer, FAZ, 06. 10. 2004; Claudia Schmölders, Literaturen 09. 11. 2004 sowie den geradezu wütigen Verriss durch Bazon Brock, Die Zeit, 07. 10. 2004. 287 Erforscher der Zukunft … kapitulieren müssen | Umberto Eco: Die Geschichte der Schönheit, S. 428. 288 dem Häßlichen fast nie ausführliche Behandlungen gewidmet | Umberto Eco: Die Geschichte der Häßlichkeit, S. 8. 288 Während eine Geschichte … der künstlerischen Darstellung | Umberto Eco: Die Geschichte der Häßlichkeit, S. 20. <?page no="351"?> 333 Zitatnachweis und Anmerkungen Vom Hässlichen in der italienischen Politik oder la sua lotta continua Seite 289 Der Zeitraum ist … zur Macht | Umberto Eco: Im Krebsgang voran, S. 9. 290 *Eco bringt die folgenden Zitate aus Oxmans Buch alle in der Bustina vom 25. 05. 2007 unter http: / / espresso.repubblica.it/ dettaglio/ / 1623227/ 18&print-true. 292 Die Macht … Schäden zufügen würde | Http: / / libertaegiustizia.it/ primopiano/ pp_leggi_articolo 293 *Umberto Eco: „Rasista mi? Ma se l’ è lü che l’ è negher! “: aufgenommen in das Internet-Forum von libertà e giustizia. 293 **Nach Ecos Definition in Jean-Claude Carrière/ Umberto Eco (N’espérez pas, S. 210), ist Berlusconi somit das, was der Franzose einen imbécile, der Italiener einen imbecille nennen würde, also ein „Dummkopf “, „Blödmann“ oder „Vollidiot“ „L’imbécile est celui qui va dire ce qu’il ne devrait pas dire à un moment déterminé. Il est l’auteur de gaffes involontaires.“ 293/ 294 1931 hatte der Faschismus … dass man etwas gesagt hat | Umberto Eco: Il nemico della stampa: aufgenommen in das Internet-Forum von libertà e giustizia. Epilog Seite 297 *Perchè ho il diritto di scegliere la mia morte: aufgenommen in das Internet-Forum von libertà e giustizia. 297 **Vgl. Frank-Rutger Hausmanns Einschätzung des Gedichtes in der von Volker Kapp herausgegebenen Italienischen Literaturgeschichte, S. 8-10, 8: „Der Cantico […] steht am Beginn einer mächtigen religiösen Lyrik […], die in der Folgezeit Hunderte von Texten umfassen wird und eine der wenigen wirklich vom Volk getragenen literarischen Bewegungen darstellt, die den Namen ‚Volksliteratur‘ oder ‚Volkslieder‘ zu Recht verdient.“ 298 *„Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, den leiblichen Tod; / ihm kann kein Mensch lebend entrinnen. / Wehe jenen, die in schwerer Sünde sterben. / Selig jene, die sich in deinem heiligsten Willen finden, / denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid tun.“ Natürlich konnte diese Übersetzung, die http: / / www.franziskaner.de/ FRANZISKANISCHE-SCHRIFTEN.17.0.html entnommen ist, die sprachliche Schwierigkeit nicht überwinden, die daraus resultiert, dass Sonne in den romanischen Sprachen männlich (also „unser Bruder, der leibliche Tod“), im Deutschen aber feminin ist. 298 **Der italienische Titel ist Non sperate liberarvi dei libri, der französische N’espérez pas vous débarrasser des livres. Eine deutsche Übersetzung liegt noch nicht vor, und da der Dialog wahrscheinlich auf Französisch stattfand (oder auf Französisch und Italienisch), liegt hier die französische Ausgabe zugrunde. 300 *Vgl. u. a. Jean-Claude Carrière/ Umberto Eco: N’espérez pas, S. 164-165. 302 *Solche „genres littéraires ou picturaux“, wie sie Carrière als epochale Strukturen interessieren, sind für Eco als Produkte, die par imitation et influence zustande kommen, weitgehend nur von soziologischem Interesse, wie er am Beispiel eines originellen historischen Romans deutlich macht, der als Produkt, das sich gut verkaufen lässt, sofort Nachahmer findet (dass Eco dabei auch an den Namen der Rose dachte, ist zu vermuten). Prenons un exemple, schreibt er (ebd. S. 101-102): Un écrivain commence, le premier, à composer un bon roman historique qui connaît un certain succès: il se trouve immédiatement plagié. Si je découvre qu’en écrivant un roman d’amour il est possible de gagner de l’argent, je ne vais pas me priver d’essayer à mon tour […] Le roman bourgeois est né dans le contexte d’une économie marchande et s’adresse essentiellement à des femmes. Et lorsqu’on découvre que monsieur <?page no="352"?> 334 Zitatnachweis und Anmerkungen Richardson racontant l’ histoire d’une femme de chambre gagne de l’argent, il y a aussitôt d’autres prétendants au trône qui se présentent. 302 **Carrière insistiert geradezu schwerfällig (ebd. 97: „Je vous citais nos grands poètes français méconnus. Parlez-moi des auteurs italiens oubliés. Injustement oubliés.“), um Eco zu neuer Kanon-Bildung in der italienischen Literatur zu bewegen, und Eco weicht wiederum aus, indem er (97-99) zwar einige Autoren von Marino bis zu Giovanni Verga und den „Scapigliati“, der Bohème des ausgehenden 19. Jahrhunderts, nennt, aber diese Auswahl sofort dadurch relativiert, dass die genannten Autoren vielleicht nur in Frankreich unbekannt und deshalb dort neu zu entdecken, in Italien aber bekannt seien. 303 *Vgl. Ecos Ausführungen im Interview mit Susanne Bayer/ Lothar Gorris (Unwiderstehlicher Zauber, Der Spiegel 45, 2009, S. 164-165, 165): Bildung muss wieder so sein wie in den Werkstätten der Renaissance, in denen der Meister seinen Schülern vielleicht nicht unbedingt theoretisch erklären konnte, wodurch ein Gemälde gut wird, aber auf praktische Weise […] So muss es in der Schule mit dem Internet gehen. Nimm dir ein Thema, muss der Lehrer sagen, sei es die deutsche Geschichte, sei es das Leben von Ameisen. Guck nach 25 unterschiedlichen Seiten, und versuche, durch Vergleich herauszufinden, was gut ist. 303 **Ein besonders eindrucksvolles Beispiel der Enthusiasmus, mit dem Carrière von dem 15minütigen Regard de Michelangelo Antonionis aus dem Jahr 2000 als „einem der schönsten Filme der Welt“ spricht (Jean-Claude Carrière/ Umberto Eco: N’espérez pas, S. 112). 303 ***Ebenso sympathischer wie kurioser Dissens: Carrière verkündet stolz, André Bretons Rat in Sachen Alain-Fournier befolgt zu haben, was ihm „erspart habe, Le Grand Meaulnes zu lesen“, worauf Umberto Eco antwortet: „Was? Sie haben Le Grand Meaulnes nicht gelesen. Also wirklich, Sie hätten niemals auf Breton hören dürfen. Das Buch ist wunderbar.“ (Jean-Claude Carrière/ Umberto Eco: N’espérez pas, S. 278) 304 *Carrière nivelliert alles: Kommunismus ist gleich Marxismus, Marxismus ist gleich Nazismus, und am Ende (ebd. S. 245; 254) setzt er auch noch die Bücherverbrennung durch die Nazis mit der Kulturzerstörung im indianischen Lateinamerika durch die katholischen Missionare und Kolonisatoren gleich, ja, er befindet sogar, dass die Kreuzzügler und die Spanier sowie die Mongolen noch schlimmer gewesen seien, als die Nazis, denen er auch noch Napoleon und Bush assoziiert. Dass dies alles (N’espérez pas, S. 243-245; 252; 254) auf Ecos historisch begründeten Einspruch stößt, der jedes Mal versucht, die Debatte wieder auf rationale Gleise zu lenken, liegt auf der Hand. 305 *Vgl. das Interview mit Moravia in Der Spiegel 25, 1976. 307 *Die tatsächlich vom Hanser Verlag gewählte Übersetzung des Titels lautet Die unendliche Liste. Das ist eine durchaus plausible, aber doch auch unzulängliche (Not-)Lösung, weil das italienische vertigine bzw. das französische vertige wegen der unaufhebbar-misslichen Doppeldeutigkeit des deutschen Wortes Schwindel („Taumel“ und „Betrug“) nicht verwendbar ist. Die Übersetzerin Barbara Kleiner hat das Problem für den Titel des 19. Kapitels Listes des vertiges vorzüglich mit Schwindelerregende Listen gelöst. 308 Als der Louvre … ‚Aufzählung‘ sprechen […] | Umberto Eco: Die unendliche Liste, S. 6. 308 *Vgl. Ecos Ausführungen in Unwiderstehlicher Zauber (Der Spiegel 45, 2009, S.-164): Die Liste, das ist ein Ursprung der Kultur, sie ist ein Teil der Kunst- und Literaturgeschichte. Was will die Kultur? Die Unendlichkeit fassbar machen. Und wie begegnet man als Mensch der Unendlichkeit? Wie versucht man, das Unbegreifliche zu fassen? Durch Listen, durch Kataloge, durch Sammlungen in Museen, durch Enzyklopädien und Wörterbücher. <?page no="353"?> 335 Zitatnachweis und Anmerkungen 308 **Vgl. Eco in Der Spiegel 45, 2009, S. 164: Zuerst denkt man […] eine Liste sei primitiv, sie sei typisch für sehr frühe Kulturen, die noch keine Vorstellung vom Universum hatten und sich daher darauf beschränken, die Eigenschaften, die sie benennen können, aufzuzählen. Doch die Liste setzt sich durch. Sie ist also keineswegs nur Ausdruck primitiver Kulturen […] Sie übt einen unwiderstehlichen Zauber aus. 309 Auf den ersten Blick … Zauber ausübt | Umberto Eco: Die unendliche Liste, S. 18. 310 in der Bibel … Attribute der Weisheit | Jean Chevalier/ Alain Gheerbrant: Dictionnaire des symboles, S. 1018. 310 *„in den Windeln“ (Vulgata: „in involumentis“) zur Weisheit „auferzogen“. 311 eine Herausforderung … Hohn | Umberto Eco: Die unendliche Liste, S. 395-396. 311 Ihr deren Mund … Mitleid mit mir | Übersetzung von Fritz Usinger (Apollinaire: Dichtungen, Wiesbaden 1953, Limes), hier zitiert in Umberto Eco: Die unendliche Liste, S. 399. 312 *Apollinaire: Œuvres poétiques, hg. Marcel Adéma / Michel Décaudin, Paris 1959, Gallimard - La Pléiade, S. 313. Übersetzung von Fritz Usinger: „Vor allen bin ich ein Mann voll Vernunft / der das Leben kennt und von dem Tode das was ein Lebender kennen kann / Nachdem er die Schmerzen und die Freuden der Liebe gefühlt hat / Der mehrere Sprachen kennt / Nachdem er nicht wenig gereist ist / Nachdem er den Krieg in der Artillerie und der Infanterie gesehen hat / Verwundet am Kopf trepaniert unter Chloroform / Nachdem er seine besten Freunde in dem schrecklichen Kampf verloren hat / Ich weiß von Altem und Neuem so viel wie ein einzelner Mann von beidem wissen kann / Und ohne mich heute über diesen Krieg aufzuregen / Unter uns und für uns meine Freunde / Rechne ich diesen langen Streit der Überlieferung und der Erfindung / Der Ordnung und des Abenteuers“. 312 **Umberto Eco: Die unendliche Liste, S. 15-16: Das Unendliche in der Ästhetik ist das subjektive Gefühl von etwas, das uns übersteigt, es ist ein Gefühlszustand; das Unendliche, von dem wir hier sprechen, ist ein faktisches Unendliches, es besteht aus zählbaren Dingen, die wir aber nicht zu zählen vermögen - und wir fürchten, daß ihre Zählung (und Aufzählung) nie an ein Ende kommt. Wenn Kant beim Betrachten des bestirnten Himmels über sich das Gefühl verspürt, hat er das (subjektive) Gefühl, daß das, was er sieht, sein Wahrnehmungsvermögen übersteigt, und daher nimmt er ein Unendliches an, das nicht nur unsere Sinne nicht zu begreifen vermögen, sondern das nicht einmal unsere Vorstellungskraft in einer einzigen Idee zu umfassen vermag […] Die Unendlichkeit der Empfindung bei Kant ist also eine Gemütsbewegung (und wäre ästhetisch auch durch Nennung oder Abbildung eines einzigen Sterns darzustellen); die Unzählbarkeit der Sterne hingegen ist ein Unendliches, das wir objektiv nennen würden (die Sterne wären unendlich viele, auch wenn wir nicht existierten). Der Künstler, der [auf einer Liste, MN] eine sei es auch nur partielle Aufzählung sämtlicher Sterne des Universums unternimmt, will in gewisser Weise an dieses objektive Unendliche erinnern. Es ist absolut bezeichnend, dass Eco es schafft, sogar noch in der Kürze eines Spiegel-Interviews sein Bekenntnis zu Aristoteles und Kant unterzubringen: vgl. Unwiderstehlicher Zauber, Der Spiegel 45, 2009, S. 165. 312 ***Vgl. neben den Ausführungen zu Rhetorik, Semantik, Taxonomie, Wörterbuch, Enzyklopädie usw. den diskreten Verweis auf seine eigenen semiotischen Arbeiten, Umberto Eco: Die unendliche Liste, S. 287. 313 *Vgl. u. a. seinen Rekurs auf das Rhizom-Konzept von Deleuze-Guattari in: Umberto Eco: Die unendliche Liste, S.-238-240. 313 **Vgl. Michael Nerlich: Romanistik: Von der wissenschaftlichen Kriegsmaschine gegen Frankreich zur komparatistischen Konsolidierung der Frankreichforschung, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 1996, XX 3/ 4, S. 396-436. <?page no="354"?> Bibliographie (Auswahl) I. Werke (benutzte italienische Editionen und deutsche Übersetzungen) Il problema estetico in Tommasso d’Aquino [1956], überarb. Version, Milano 1970, Bompiani (keine dt. 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Suhrkamp taschenbuch wissenschaft 222, Frankfurt 1977) Diario Minimo [1963], überarb. Version, Milano 1975, Bompiani (benutzte Ausg. „I Grandi Tascabili“, Milano 1992, Bompiani) [auswahlweise in: Platon im Striptease-Lokal. Parodien und Travestien, übers. Burkhart Kroeber, München 1990, Hanser] Apocalittici e integrati [1964], überarb. Version, Milano 1977, Bompiani [auswahlweise zusammen mit zwei Essays aus Il superuomo di massa in]: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, übers. Max Looser, Frankfurt 1984, Fischer La ricerca interdisciplinare, in: Il mondo di domani, hg. Pietro Prini, Roma 1964, Edizione Abete, S. 361-366 Le poetiche di Joyce [1962], überarb. Version, Milano 1965, Bompiani [mit Oreste del Buono]: Il caso Bond, Milano 1965, Bompiani Der Fall James Bond. 007 - ein Phänomen unserer Zeit, München 1966, dtv [mit Eugenio Carmi]: La bomba e il generale, Milano 1966, Bompiani Die Bombe und der General, übers. Elise Dinkelmann, Stuttgart Wien 1990, Thienemann <?page no="355"?> 337 Bibliographie (Auswahl) [mit Eugenio Carmi]: I tre cosmonauti, Milano 1966, Bompiani Die drei Kosmonauten, übers. Elise Dinkelmann, Stuttgart Wien 1989, Thienemann La struttura assente, Milano 1968, Bompiani [in überarbeiteter Version in] Einführung in die Semiotik, übers. Jürgen Trabant, München 1972, Wilhelm Fink La definizione dell’arte [1968], Milano, Mursia 1990, Bompiani Le forme del contenuto, Milano 1971, Bompiani Il segno, in: Enciclopedia Filosofica Isedi, Milano 1971, Istituto Editoriale Internazionale Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, übers. Günter Memmert, Frankfurt 1977, Suhrkamp [mit Cesare Sughi]: Cent’anni dopo. Il ritorno dell’ intreccio, Milano 1972, Bompiani Il costume di casa. Evidenze e misteri dell’ ideologia italiana, Milano 1973, Bompiani [auswahlweise in]: Über Gott und die Welt. Essays und Glossen, übers. 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Burkhart Kroeber, München 1984, Hanser Sette anni di desiderio, Milano 1983, Bompiani [auswahlweise in]: Über Gott und die Welt, München 1985, Hanser [zusammen mit Thomas A. Sebeok]: The Sign of Three. Dupin, Holmes, Peirce, Bloomington 1983, Indiana University Press Der Zirkel oder Im Zeichen der Drei. Dupin, Holmes, Peirce, übers. Christiane Spelsberg, Roger Willemsen, München 1985, Wilhelm Fink [übersetzt von Umberto Eco]: Raymond Queneau: Esercizi di stile, Torino 1983, Einaudi Semiotica e filosofia del linguaggio, Torino 1984, Einaudi Semiotik und Philosophie der Sprache, übers. Christiane Trabant-Rommel, Jürgen Trabant, München 1985, Wilhelm Fink La bustina di Minerva, in: L’Espresso (seit 1985) [auswahlweise in]: Streichholzbriefe, übers. Burkhart Kroeber, München 1990, Hanser [auswahlweise in]: Das alte Buch und das Meer. Neue Streichholzbriefe, übers. Burkhart Kroeber, München 1995, Hanser [auswahlweise in]: Gesammelte Streichholzbriefe, übers. 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Burkhart Kroeber, München Wien 1995, Hanser [mit Carlo Maria Martini]: In cosa crede chi non crede? , Roma 1996, Atlantide Editoriale Woran glaubt, wer nicht glaubt? , übers. Burkhart Kroeber/ Karl Pichler, Wien 1998, Paul Zsolnay Cinque scritti morali, Milano 1997, Bompiani Vier moralische Schriften, übers. Burkhart Kroeber, München Wien 1998, Hanser <?page no="358"?> 340 Bibliographie (Auswahl) Kant e l’ornitorinco, Milano 1997, Bompiani Kant und das Schnabeltier, übers. Frank Herrmann, München Wien 2000, Hanser [mit Jean-Claude Carrière, Jean Delumeau, Stephen Jay Gould]: Entretiens sur la fin des temps, hg. Catherine David, Frédéric Lenoir, Jean-Philippe de Tonnac, Paris 1998, Fayard Tra menzogna e ironia, Milano 1998, Bompiani Lüge und Ironie. Vier Lesarten zwischen Klassik und Comic, übers. Burkhart Kroeber, München 1999, Hanser Baudolino, Milano 2000, Bompiani Baudolino, übers. Burkhart Kroeber, München 2001, Hanser Sulla letteratura, Milano 2002, Bompiani Die Bücher und das Paradies. Über die Literatur, übers. Burkhart Kroeber, München Wien 2003, Hanser Dire quasi la stessa cosa, Milano 2003, Bompiani Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen, übers. Burkhart Kroeber, München Wien 2006, Hanser La misteriosa fiamma della regina Loana. Romanzo illustrato, Milano 2004, Bompiani Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana. Illustrierter Roman, übers. Burkhart Kroeber, München 2004, Hanser (benutzte Ausg. München 2006, dtv) [mit Girolamo de Michele]: Storia della bellezza, Milano 2004, Bompiani Die Geschichte der Schönheit, übers. Friederike Hausmann/ Martin Pfeiffer, München Wien 2004, Hanser (benutzte Ausg. München 2006, dtv) A passo di gambero. Guerre calde e populismo mediatico, Milano 2006, Bompiani Im Krebsgang voran. Heiße Kriege und medialer Populismus, übers. Burkhart Kroeber, München 2007, Hanser Sator arepo eccetera, Roma 2006, edizioni nottetempo La memoria vegetale e altri scritti di bibliofilia, Milano 2006, Rovello Die Kunst des Bücherliebens, übers. Burkhart Kroeber, München Wien 2009, Hanser Dall’albero al laberinto. Studi storici sul segno e l’ interpretazione, Milano 2007, Bompiani Storia della brutezza, Milano 2007, Bompiani Die Geschichte der Häßlichkeit, übers. Friederike Hausmann/ Petra Kaiser/ Sigrid Vagt, München 2007, Hanser [mit Jean-Claude Carrière]: N’espérez pas vous débarasser des livres. Entretiens menés par Jean-Philippe de Tonnac, Paris 2009, Bernard Grasset <?page no="359"?> 341 Bibliographie (Auswahl) [mit Jean-Claude Carrière]: Non sperate di liberarvi dei libri, Milano 2009, Bompiani Vertigine della lista, Milano 2009, Bompiani Die unendliche Liste, übers. Barbara Kleiner, München 2009, Hanser II. Texte von Eco als Hörbücher Folgende Texte sind als „Hörbücher“ im Hörverlag (München) erschienen: 1. Der Name der Rose (bearbeitet von Richard Hey); 2. Das Foucaultsche Pendel (bearbeitet von Richard Hey); 3. Baudolino (Bearbeitet von Leonhardt Koppelmann); 4. Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana; 5. Wie man mit einem Lachs verreist (eingerichtet von Burkhart Kroeber); 6. Platon im Striptease-Lokal III. Bibliographische Angaben sowie laufende Editionen/ Zeitschriften im Internet - Website der Universität Bologna über akademische Karriere, Auszeichnungen und Editionen: http: / / www.ssub.unibo.it/ pagine_principali/ curriculum_eco.htm - die in L’Espresso veröffentlichten Bustine di Minerva: http: / / espresso.repubblica.it/ lista/ opinioni/ umbertoeco - die von Eco gegründete Internet-Kulturzeitschrift Golem L’ indispensabile: http: / / www.golemindispensabile.it/ index - das Bürgerforum von Libertà e giustizia: http: / / www.libertaegiustizia.it - Online-Forum für Theorie und Geschichte der Semiotik, besonders zu Umberto Eco, ins Netz gestellt von Helge Schalk: www.eco-online.de/ - sehr zu empfehlen die Eco-Beiträge im deutschen wikipedia, zu denen man vom Zentraleintrag gelangt: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Umberto_Eco IV. Biographische Daten/ Interviews 1) Sammelwerke Francesca Pansa/ Anna Vinci: Effetto Eco, Roma 1990, Nuova Edizioni del Gallo Laura Lilli: Voci dall’alfabeto. Interviste con Leonardo Sciascia, Alberto Moravia, Umberto Eco nei decenni Settanta e Ottanta, Roma 1995, Minimum Fax Thomas Stauder: Gespräche mit Umberto Eco, Münster 2004, LIT Verlag 2) Einzel-Interviews Jean-Jacques Brochier/ Mario Fusco: De l’Œuvre ouverte au ‚Pendule de Foucault‘, magazine littéraire 262, 1989, S. 16-55 Marie-Françoise Leclère in: Le Point 17. 02. 2002 <?page no="360"?> 342 Bibliographie (Auswahl) Catherine David, Entretiens sur la fin des temps, in: Nouvel Observateur, 10. 09. 2003, S. 96-98 Lars Reichardt in: Süddeutsche Zeitung Magazin 16. 04. 2004 Thomas Stauder in: Italienisch, XXVIII, 2006/ 1, S. 2-14 Martin Scholz: Ecos Albträume, Die Zeit, 04. 01. 2007 Alberto Sinigaglia in: La Stampa, 05. 05. 2007 Susanne Beyer/ Lothar Gorris: Unwiderstehlicher Zauber, Der Spiegel 45, 2009, S. 164-16 V. Untersuchungen zu Eco Anonym: Einlesebuch zu Umberto Eco: Die Insel des vorigen Tages, München Wien 1992, Hanser Bachorski, Hans-Jürgen (Hrsg.): Lektüren - Aufsätze zu Umberto Ecos ‚Der Name der Rose‘, Göppingen 1985, Kümmerle Bachorski: Diese klägliche Allegorie der Ohnmacht. William als Vorbild? , in BurkhartKroeber: Zeichenin Umberto Ecos Roman ‚DerName der Rose‘, S. 231-258 Bauco, Luigi/ Milloca, Francesco: Das Geheimnis des Pendels entschlüsselt. Zu Umberto Ecos neuem Weltbestseller ‚Das Foucaultsche Pendel‘, München 1989, Heyne Baumann, Hans D./ Sahihi, Arman: Der Film: ‚Der Name der Rose‘. Eine Dokumentation, Weinheim Basel 1986, Beltz Berger, Günter: Annäherungen an die Insel. Lektüren von Umberto Ecos ‚Die Insel des vorigen Tages‘, Bielefeld 1999, Aisthesis Verlag Berio, Luciano: Die Zeit der Insel, in Thomas Stauder (Hrsg.): „Staunen über das Sein“, S. 44-47 Burckhardt, Armin/ Rohse, Eberhardt: Umberto Eco - Zwischen Literatur und Semiotik, Braunschweig 1991, Ars & Scientia Caesar, Michael: Umberto Eco. Philosophy, Semiotics and the Work of Fiction, Cambridge 1999, Polity Calvo Montoro, María José/ Capozzi, Rocco: Relaciones literarias entre Jorge Luis Borges y Umberto Eco, Cuenca 1999, Ediciones de la Universidad de Castilla - La Mancha Coletti, Theresa: Naming the Rose. Eco Medieval Signs, and Modern Theory, Ithaca London, Cornell University Press, 1988 Colombo, Furio: Umberto Eco: Kultur und Natur, in Thomas Stauder (Hrsg.): „Staunen über das Sein“, S. 78-93 Cotroneo, Roberto: Eco: due o tre cose che so di lui, Milano 2001, Bompiani De Lauretis, Teresa: Umberto Eco, Firenze 1981, La nuova Italia Forchetti, Franco: Il segno e la rosa. I segreti della narrativa di Umberto Eco, Roma 2005, Castelvecchi Fuhrmann, Horst: Umberto Eco und sein Roman ‚Der Name der Rose‘. Eine kritische Einführung, in Max Kerner (Hrsg.): „… eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? , S. 1-20 Fuhrmann, Horst: Das Mittelalter in der Literatur. Umberto Eco und sein Roman ‚Baudolino‘, Eichstätter Universitätsreden, Band 110, Katholische Universität Eichstädt-Ingolstadt 2003 Ganeri, Margherita: Il „caso“ Eco, Palermo 1991, Palumbo <?page no="361"?> 343 Bibliographie (Auswahl) Giovannoli, Renato: Saggi su Il nome della Rosa, Milano 1985, Bompiani Grube, Jörn: Spiel-Arten der Intertextualität im „Namen der Rose“, in Alfred Haverkamp/ Alfred Heit (Hrsg.): Ecos Rosenroman. Ein Kolloquium, S.-60-96, 75-85. Gubatz, Thorsten: Umberto Eco und sein Lehrer Luigi Pareyson. 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Studien und Materialien zu Umberto Ecos ‚Foucaultschem Pendel‘, Frankfurt/ Main u. a. 1996, Peter Lang Verlag Kindt, Tom/ Müller, Hans-Harald (Hrsg.): Ecos Echos. Das Werk Umberto Ecos: Dimensionen, Rezeptionen, Kritiken, München 2000, Wilhelm Fink Verlag Kleber, Hermann: Der Autor und sein Roman. Hinführung zu Umberto Ecos ‚Der Name der Rose‘, in Alfred Haverkamp/ Alfred Heit: Ecos Rosenroman. Ein Kolloquium, S. 19-59 Kleinert, Susanne: Geschichte und Möglichkeitsdimension in „L’ isola del giorno prima“, in Thomas Stauder (Hrsg.): „Staunen über das Sein“, S.-180-206. Köhn, Rolf: „Unsere Bibliothek ist nicht wie die anderen …“, in Max Kerner (Hrsg.): „… eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? , S. 81-114 Kroeber, Burkhart (Hrsg.): Zeichen in Umberto Ecos Roman ‚Der Name der Rose‘, München Wien 1987, Hanser Kuhangel, Sabine: Der labyrinthische Text. 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Eine Kritik von Umberto Ecos Interpretationstheorie, in Tom Kindt/ Hans-Harald Müller (Hrsg.): Ecos Echos, S. 135-148 Nerlich, Michael: Apollon et Dionysos ou la science incertaine des signes, Marburg 1989, Hitzeroth Nerlich, Michael: Umberto Eco, E. R. Curtius, H. H. Glunz, oder noch ein Anfang, den wir verpasst haben, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 1994, XVIII, 1-2, S. 44-70 Nerlich, Michael: Aufstieg zum Inferno. Zu Umberto Ecos ‚Isola del giorno prima‘, [Lettre international, 1995, Heft 28, S. 84-87], in Thomas Stauder (Hrsg.): „Staunen über das Sein“, S. 253-275 Nöth, Winfried: Umberto Ecos Beitrag zur Semiotik, in Thomas Stauder (Hrsg.), Siebzig Jahre Umberto Eco, S. 40-54 Patschovsky, Alexander: Was sind Ketzer? Über den geschichtlichen Ort der Häresien im Mittelalter, in Max Kerner (Hrsg.): „… eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? , S. 169-190 Petitot, Jean/ Fabbri, Paolo: Au nom du Sens autour de l’œuvre d’Umberto Eco, Paris 2000, Grasset (ital. 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Internationale Beiträge zu Umberto Ecos ‚Insel des vorigen Tages‘, Darmstadt 1997, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Stauder, Thomas: Siebzig Jahre Umberto Eco, Zibaldone, n° 33, 2002 Stauder, Thomas: Umberto Eco als Kinderbuch-Autor, Zibaldone, n° 44, 2007, S. 64-82 Talamo, Manilo: Das Rätsel des Foucaultschen Pendels, München 1992, Heyne Trabant, Jürgen (Hrsg.): Umberto Eco, die Freie Universität und das Schnabeltier, Berlin 1998, FUB Wyss, Ulrich: Die Urgeschichte der Intellektualität und das Gelächter, in Burkhart Kroeber (Hrsg.): Zeichen in Umberto Ecos Roman ‚Der Name der Rose‘, S. 85-106 <?page no="363"?> 345 Bibliographie (Auswahl) VI. Besprechungen von Ecos Texten im Feuilleton 1. Besprechungen des Namens der Rose Stauder, Thomas: Umberto Ecos „Der Name der Rose“: ein Forschungsbericht und Interpretation, S. 184-254 (exhaustives kommentiertes Inventar der Rezensionen des Namens der Rose) Das literarische Quartett. Gesamtausgabe aller 77 Sendungen von 1988-2001, hg. Peter Just/ Pascal Pfitzenmaier/ Nicola Uther, Berlin 2006, Directmedia, 3 Bde.; 1. Bd.: 25. März 1988-18. März 1993; 2. Bd.: 13. Mai 1993- 14. August 1997; 3. Bd.: 10. Oktober 1997-14. Dezember 2001 [Anonym]: Sherlock in der Kutte, Der Spiegel 49, 1982, S. 212-214; Bondy (François), Rheinischer Merkur, 03. 12. 1982; Gustafsson (Lars): Bruder Humor, Schwester Toleranz, Der Spiegel 49, 1982, S. 217-218; Isani (Claudio), Neue Frankfurter Presse, 04. 11. 1982; Krämer-Badoni (Rudolf), Die Welt, 06. 10. 1982; Vollenweider (Alice), FAZ, 09. 10. 1982; Zimmer (Dieter-E.), Die Zeit, 08. 10. 1982 2. Besprechungen des Foucaultschen Pendels Das literarische Quartett (12. 02. 1990), I, S. 225-230 [Dossier] Umberto Eco, hg. Jean-Jacques Brochier (Beiträge von Eco, Jean- Jacques Brochier, Rita Cirio, Paolo Fabbri, Mario Fusco, Gérard Genette, Jacques Le Goff, Jean-Paul Mangarano, Jacques Meunier), magazine littéraire, N° 262, 02. 02.1989, S. 16-55 Kilb (Andreas), Die Zeit, 08. 12. 1989; Seibt (Gustav), FAZ, 16. 12. 1989; Winkler (Willi), Der Spiegel 52, 1989, S. 133-136 3. Diskussionen zu Urfaschismus Baier (Lothar): Stasi von rechtsaußen, Die Zeit, 29. 10. 1993; Radisch (Iris): Nicht gesellschaftsfähig, Die Zeit, 06. 08. 1993 4. Besprechungen der Insel des vorigen Tages a) aus deutscher Feder: Einen kurzen Überblick über einige Besprechungen gibt Günter Berger: Vom Schiffbruch der Kritik: die Insel im Zerrspiegel der deutschen Medien, in: Annäherungen an die Insel. Lektüren von Umberto Ecos ‚Die Insel des vorigen Tages‘, Bielefeld 1999, Aisthesis Verlag, S. 8-12 Baron (Ulrich), Rheinischer Merkur, 17. 03. 1995; Endres (Elisabeth), Süddeutsche Zeitung, 06. 03. 1995; Flasch (Kurt), FAZ, 18. 03. 1995; Kilb (Andreas), Die Zeit, 17. 03. 1995; Lenhard (Dieter), Die Presse, 25. 03. 1995; Löffler (Sigrid), Falter, 10. 03. 1995; Die Woche, 10. 03. 1995; Saltzwedel (Johannes), Der Spiegel 11, 1995, S. 228-230; Törne (Dorothea von), Wochenpost, 09. 03. 1995; Tschapke (Reinhard), Die Welt, 04. 03. 1995 b) aus italienischer Feder: Berio (Luciano): Die Zeit der Insel, in: „Staunen über das Sein“, S. 44-47; Castelli (Ferdinando): Su ‚L’Isola del giorno prima‘ di Umberto Eco il nichilismo <?page no="364"?> 346 Bibliographie (Auswahl) danza con la morte, La civiltà cattolica, 21. 01. 1995; Colombo (Furio): Umberto Eco: Kultur und Natur, in: „Staunen über das Sein“, S. 78-93; Messori (Vittorio): Umberto Eco est-il un mystificateur de génie? , Le Figaro Magazine, 44, 10. 02. 1996; Miranda (Claudia): Das Schiff der Theorie im Meer der Schrift, in: „Staunen über das Sein“, S. 218-252 c) aus französischer Feder: Bosquet (Alain), Le Figaro, 22. 02. 1996; Clavel (André), L’Express, 15. 02. 1996; David (Michel), La Quinzaine littéraire, Nr. 688, 1.-15. 03. 1996; Gambaro (Fabio), Le Monde, 16. 02. 1996; Le Monde diplomatique, Januar 1996; Le Goff (Jacques): Umberto Eco, l’Histoire réinventée, Le magazine littéraire, Nr.-341, März 1996, S. 74-76; Lepape (Pierre), Le Monde, 16. 02. 1996; Rey (Alain), Le Nouvel Observateur, Nr. 1636, 14.-20. 03. 1996; Sorin (Raphaël), L’Express, 15. 02. 96 5. Besprechungen von Woran glaubt, wer nicht glaubt? Der Spiegel, 01. 10. 1998 6. Besprechungen von Kant und das Schnabeltier Brandt (Reinhardt), FAZ, 24. 03. 1998, S. L26; Schirnding (Albert von), Süddeutsche Zeitung, 22. 03. 2000; Seel (Martin), Die Zeit, 26. 10. 2000 7. Besprechungen von Baudolino Ascher (Rupert), Die Presse 08. 09. 2001; Becker (Peter von), Der Tagesspiegel, 01. 09. 2001; Berger (Michael), Die Woche, 05. 10. 01; Butterweck (Hellmut), Die Furche, 25. 10. 2001; Dattenberger (Simone), Münchner Merkur, 29. 08. 2001; Ebel (Martin), Stuttgarter Zeitung 31. 08. 2001; Financial Times Deutschland, 31. 08. 2001; Basler Zeitung, 01/ 02. 09. 2001; Fuhr (Eckhard), Die Welt, 01. 08. 2001; Gless (Florian), Der Stern, 13. 09. 2001; Halter (Martin), Tages- Anzeiger, 01. 09. 2001; Kilb (Andreas), FAZ (Literatur-Beilage), 09. 10. 2001; Klein (Georg), Berliner Zeitung, 01/ 02. 09. 2001; Müller (Lothar), Süddeutsche Zeitung, 01/ 02. 09. 2001; Nüchtern (Klaus), Falter Nr. 35, 31.08/ 06. 09. 2001; Raddatz (Fritz J.), Die Zeit, 04. 10. 2001; Rumler (Fritz)/ Schlamp (Hans- Jürgen)/ Traub (Rainer) [Interview]: Ich bin ein Vernebelungs-Philosoph, Der Spiegel 33.2001, S. 174-176; Scalla (Mario), Der Freitag, 07. 12. 2001; Schneider (Manfred), Literaturen, 09. 11. 2001; Schümer (Dirk), FAZ, 20. 12. 2000; Weidenbach (Verena), Abendzeitung, 27. 08. 2001; Widmer (Thomas), Facts, 16. 08. 2001; Wiegenstein (Roland H.), Frankfurter Rundschau, 13. 09. 2001 8. Besprechungen der Königin Loana Albath (Maike), Neue Zürcher Zeitung, 12. 10. 2004; Binswanger (Daniel), Weltwoche Nr. 39, 2004; Brandt (Jobst-Ulrich), Focus, Nr. 50, 2004; Hintermeier (Hannes), FAZ (Literaturbeilage), 06. 10. 2004; Philipp (Claus), Der Standard, 09. 10. 2004; Semler (Christian), TAZ, 30./ 31. 10. 2004 <?page no="365"?> 347 Bibliographie (Auswahl) 9. Besprechungen von der Geschichte des Schönen Brock (Bazon), Die Zeit, 07. 10. 2004; Schmölders (Claudia), Literaturen, 09. 11. 2004; Schümer (Dirk), FAZ, 06. 10. 2004 10. Besprechungen von Die unendliche Liste Beyer (Susanne)/ Gorris (Lothar): Unwiderstehlicher Zauber [Interview], Der Spiegel 45, 2009, S. 164-165; Leménager (Grégoire)/ Géniès (Bernard): Le bricà-brac d’Eco, Le Nouvel Observateur, N° 2345, 15.-21. 10. 2009, S.-106-107 VII. Geburtstags-Adressen Schümer (Dirk), FAZ, 05. 01. 2002; Seibt (Gustav), Süddeutsche Zeitung, 5.-6.-Januar 2002 VIII. Andere zitierte Werke Abellán, José Luis: Los secretos de Cervantes y el exilio de don Quijote, Alcalá de Henares 2006, Centro de Estudios Cervantinos Adorni, Daniela: ‚Il furbismo giudeo‘: legislazione razziale e propaganda nella scuola fascista, in: 1938. I bambini e le leggi razziali in Italia, hg. Bruno Maida, Firenze, 1999, La Giuntina, S. 35-64 Antonini, Annibale/ Lehninger, Johann August: Nuovo Dizzionario italianotedesco - Neues Deutsch=Italienisches Wörterbuch, Leipzig 1763, Caspar Fritschische Handlung, 2 Bde. Apollinaire, Guillaume: Œuvres poétiques, hg. Marcel Adéma/ Michel Décaudin, Paris 1959, La Pléiade Aristoteles: Poetik, übers. u. hg. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, Reclam Universal-Bibliothek Arnulf, Arwed (Hrsg.): Kunstliteratur in Antike und Mittelalter, Darmstadt 2008, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Baudelaire, Charles: Œuvres complètes, hg. Claude Pichois, Paris 1975-76, La Pléiade, 2 Bde. Berger, Manfred et alii: Kulturpolitisches Wörterbuch, 2. 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Della Torre in Piero Bargellini, Il libro della IV classe elementare, Rom, Libreria dello Stato, Anno XVIII, aus: Umberto Eco, Die Königin Loana, München/ Wien 2004, Hanser, S.-202 Abb. 2: lllustration von Enrico Pinochi in Maria Zanetti, Libro della prima classe elementare, Rom Libreria dello Stato, Anno XVI, aus: Umberto Eco, Die Königin Loana, München/ Wien 2004, Hanser, S. 201 Abb. 3-7: Karikaturen von Eco, aus: Umberto Eco, Il secondo diario minimo, Milano 1992, Bompiani, S. 231, 241, 222, 227, 208 Abb. 8: Uta von Naumburg, Statue im Naumburger Dom, Foto: Linsengericht Abb. 9: Leonardo da Vinci, Die Dame mit dem Hermelin (Krakau, Czartoryski Muzeum), Foto: Josef Lehmkuhl Abb. 10: Illustration von Eugenio Carmi aus: Eugenio Carmi/ Umberto Eco, Die drei Kosmonauten [Bompiani 1989], Stuttgart/ Wien, Thienemann, 1990, o. S. Abb. 11 + 12: Illustration von Eugenio Carmi aus: Eugenio Carmi/ Umberto Eco, Die Bombe und der General [Bompiani 1988], Stuttgart/ Wien, Thienemann, 1990, o. S. Abb. 13: aus: Codex Ferdinand I und Doña Sancha (um 1047), Madrid, Biblioteca Nacional. Abb. 14 aus: Ars demonstrativa, 13. Jahrhundert, Bergamo, Biblioteca Civica (abgebildet in: Umberto Eco, Die Geschichte der Schönheit, S. 83) Abb. 15: Auvergnatischer Block; Zeichner: Welleschik Abb. 16: Architekturzeichnung von Hill Abb. 17: abgebildet in: Umberto Eco, Geschichte der Schönheit, S.-71 Abb. 18: aus: Codex Ferdinand I und Doña Sancha (um 1047), Madrid, Biblioteca Nacional (abgebildet in: Umberto Eco, Geschichte der Schönheit, S.-101) Abb. 19: abgebildet in: Umberto Eco, Geschichte der Hässlichkeit, S. 93 Abb. 20: aus: Codex Ferdinand I und Doña Sancha (um 1047), Madrid, Biblioteca Nacional (abgebildet in: Umberto Eco, Geschichte der Schönheit, S.-132) Abb. 21: Ausschnitt aus einem Freskenzyklus mit Szenen aus dem Leben des Hl. Franziskus von Giotto in der Bardi-Kapelle der Basilica Santa Croce in Florenz Abb. 22: zeitgenössische Radierung aus L’Illustration (abgebildet in: Umberto Eco, Zum Nutzen des Menschen, S. 159) Abb. 23: Miniatur aus einer Handschrift von 1188, Biblioteca Apostolica Vaticana, Rom Abb. 24: Collage mit anonymem Heiligenbild von Umberto Eco aus: Umberto Eco, Die Königin Loana, München/ Wien 2004, Hanser, S. 491 Abb. 25: Gustav Doré, Illustration für den Don Quijote von Miguel de Cervantes, 1863 (abgebildet in: Umberto Eco, Die unendliche Liste, S. 385) Abb. 26: Ruinen im Val Germanasca, Piemont Abb. 27: Blick vom Weiler Borgo, Crissolo, Piemont Abb. 28: Piazza della Libertà und Glockenturm des Doms in Alessandria