Theater und Fest in Europa
Perspektiven von Identität und Gemeinschaft
0118
2012
978-3-7720-5355-9
978-3-7720-8355-6
A. Francke Verlag
Erika Fischer-Lichte
Matthias Warstat
Anna Littmann
Theater und Fest in Europa stellt in Fallstudien zu Antike, Mittelalter, Früher Neuzeit, Moderne und Gegenwart neueste Forschungsergebnisse zum gemeinschaftsbildenden Zusammenwirken von Theater und Fest vor: Ein breites und vielschichtiges Spektrum festlich-theatraler Inszenierungen werden auf ihre ästhetischen und politischen Potenziale für die Konstruktion, aber auch die Reflexion und Infragestellung kultureller Identität hin befragt. Im Zentrum steht dabei Europa als politische Vorstellung, kultureller Bezugspunkt sowie geographischer Kommunikations- und Erfahrungsraum.
<?page no="0"?> T H E A T R A L I T Ä T Theater und Fest in Europa Perspektiven von Identität und Gemeinschaft herausgegeben von Erika Fischer-Lichte, Matthias Warstat und Anna Littmann T H E A T R A L I T Ä T <?page no="1"?> T H E AT R A L I T ÄT Herausgegeben von Erika Fischer-Lichte Band 11 · 2012 <?page no="3"?> Theater und Fest in Europa Perspektiven von Identität und Gemeinschaft herausgegeben von Erika Fischer-Lichte, Matthias Warstat und Anna Littmann A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnd.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung, Entwurf: Stefanie Lamm Diese Publikation wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Kennzeichen 01GWS050 gefördert. Mitarbeit Lektorat: Laura Ameln, Rafael Ugarte Chácon, Kristin Flade, Anne Gnausch, Frederick Jenkins, Marianne Seidig © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Informationsdesgin D. Fratzke, Kirchentellinsfurt Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 1617-2604 ISBN 978-3-7720-8355-6 <?page no="5"?> Inhalt Erika Fischer-Lichte Einleitung: Theater und Fest in Europa. Perspektiven von Identität und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I. Her- und Darstellungen von Identitäten in theatralen Aufführungen der griechischen und römischen Antike Almut-Barbara Renger Einführung: Europa: Königstochter, Kontinent, Kulturraum. Fundamente politisch-religiöser und kultureller Identitätsbildung in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Peter von Möllendorff Wie man kein Bürger wird. Fest und politische Identität in Aristophanes’ Acharnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Susanne Gödde Identität und Entgrenzung: Modelle von Gemeinschaft bei den Großen Dionysien im antiken Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Fabian Meinel Sympotische und ästhetische Gemeinschaft in Euripides’ Zyklopen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Therese Fuhrer Triumph und Theater im Text. Literarische Inszenierungen imperialer Repräsentation in Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Almut-Barbara Renger Europa gynäkomorph: Mythos, Kontinent, Politikum. Zur Inszenierung von Geographie und Geschlecht in figürlicher Körperlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 <?page no="6"?> 6 inhalt II. Theater und Fest in mittelalterlichen Städten Katrin Kröll Einführung: Die mittelalterliche Stadt als Schmelztiegel klerikaler, höfischer und urbaner Fest- und Theaterpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Nancy Freeman Regalado Festbeschreibungen in Paris und Metz im frühen 14. Jahrhundert Unterweisung - Ansehen - Identität - Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . 161 Meg Twycross Der Prinz des Friedens und die Mummers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Wim Hüsken Wohlstand und Macht, Religion und Unterhaltung. Spätmittelalterliches Theater in Mecheln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 III. Die Visualität politisch-sozialer Ordnungen in der frühneuzeitlichen Festkultur Klaus Krüger/ Elke Anna Werner Einführung: Zur visuellen und theatralen Inszenierung von Gemeinschaft in der Festkultur der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . 221 Helen Watanabe O’Kelly Fürstenbraut oder Opfer von Gewalt: Inszenierungen von Europa in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Elke Anna Werner Mediale Entgrenzungen. Visuelle Strategien performativer Teilhabe bei der Ehrenpforte und dem Triumphzug Kaiser Maximilians I. . . . 240 Barbara Marx Fest-Ordnung und Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Martina Papiro Die Florentiner Festbilder Stefano della Bellas und ihre Rezeption am Wiener Hof 1667 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Christian Quaeitzsch Die Divertissements des Sonnenkönigs: Dokumentation und Rezeption ephemerer Festkunst am Hofe Ludwigs XIV. . . . . . . . . . . 280 <?page no="7"?> inhalt 7 IV. Fest - Fest/ Spiel - Festival. Perspektiven des europäischen Theaters Paul Nolte Einführung: Nach der Revolution - Europäisches Theater im demokratischen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Peter Jelavich Nietzsches „guter“ (und antitheatralischer) Europäer . . . . . . . . . . . . 305 Udo Bermbach Die Bayreuther Festspiele: Idee - Ideologie - Identität - historische Einbindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Anna Littmann Inszenierte Gemeinschaft. Die Kaiserfestspiele in Wiesbaden . . . . . . 336 Johanna Niedbalski Fest, Spiel und Theater im Vergnügungspark. Attraktionen und ihr Transfer um 1900. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Tobias Becker Londoner Theater in Berlin. Deutsch-britische Kulturtransfers und die Anfänge auswärtiger Kulturpolitik vor dem Ersten Weltkrieg . . . 377 Pia Janke Provinzieller Fluchtraum oder „Herz vom Herzen Europas“? Zur Gründungsidee der Salzburger Festspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Matthias Warstat Entgrenzung und Spaltung. Zur Inszenierung von Arbeiterfesten in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Marcus Merkel Vergemeinschaftung als Programm. Ein Beitrag zur Analyse von Theaterfestivals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Heiner Remmert „Wie erkläre ich den Wagner einem Himba? “ Christoph Schlingensiefs Wagner-Rezeption zwischen Ritualkritik und Fest-Spiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 <?page no="8"?> 8 inhalt Mark Schachtsiek Opernliebhaber Europas vereinigt Euch! ? Stefan Herheims szenische Reflexionen über Oper und Gemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 Der Bildteil befindet sich zwischen S. 129 und S. 160. <?page no="9"?> Einleitung: Theater und Fest in Europa. Perspektiven von Identität und Gemeinschaft Erika Fischer-Lichte (Berlin) Bei der Entwicklung seiner Festspielidee bezog Richard Wagner sich ausdrücklich auf die griechische Festkultur. In seiner frühen theoretischen Schrift Die Kunst und die Revolution (1849) beschreibt er die enge Verbindung von Theater und Fest, wie sie bei den Aufführungen von Tragödien im Rahmen des bedeutendsten Festes der Polis Athen, der Großen Dionysien, gegeben war, als Modell: […] dieses Volk strömte von der Staatsversammlung, vom Gerichtsmarkte, vom Lande, von den Schiffen, aus dem Kriegslager, aus fernsten Gegenden, zusammen, um die tiefsinnigste aller Tragödien, den Prometheus, aufführen zu sehen, um sich vor dem gewaltigsten Kunstwerke zu sammeln, sich selbst zu erfassen, seine eigene Tätigkeit zu begreifen, mit seinem Wesen, seiner Genossenschaft, seinem Gotte sich in die innigste Einheit zu verschmelzen und so in edelster, tiefster Ruhe Das wieder zu sein, was es vor wenigen Stunden in rastlosester Aufregung und gesondertster Individualität ebenfalls gewesen war. […] Denn in der Tragödie fand er sich ja selbst wieder, und zwar das edelste Theil seines Wesens, vereinigt mit den edelsten Theilen des Gesamtwesens der ganzen Nation. 1 In Richard Wagners Werken erscheint die für die Großen Dionysien konstitutive unauflösliche Verbindung von Theater und Fest geradezu als fundamental mit Blick auf die Erfahrung einer politischen und religiösen Gemeinschaft sowie für die Erkenntnis der eigenen Identität - als eines Individuums ebenso wie als eines Mitglieds dieser Gemeinschaft. Mit dieser Auffassung sowie generell mit seinem Rekurs auf das antike Festmodell stellte Wagner sich in eine lange Tradition. Denn die Berufung auf die antike Festkultur hatte bereits bei der Transformation der europäischen 1 Wagner, R.: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 1-10. Leipzig 2 1887/ 88. Bd. 3, S. 11-12. <?page no="10"?> 10 erika fischer-lichte Festkulturen in der Frühen Neuzeit eine wichtige Rolle gespielt. Wagner führte diese Tradition jedoch dadurch fort, dass er dieses für das Modell grundlegende Verhältnis von Theater und Fest umkehrte. In einem Brief an seinen Dresdner Freund Theodor Uhlig schrieb Wagner wenig später: An eine Aufführung kann ich erst nach der Revolution denken, erst die Revolution kann mir die Künstler und Zuhörer zuführen, die nächste Revolution muß notwendig unserer ganzen Theaterwirtschaft das Ende bringen: sie müssen und werden alle zusammenbrechen, dies ist unausbleiblich. Aus den Trümmern rufe ich dann zusammen, was ich brauche: ich werde, was ich bedarf, dann finden. Am Rheine schlage ich dann ein Theater auf und lade zu einem großen dramatischen Fest ein: nach einem Jahr Vorbereitung führe ich dann im Laufe von vier Tagen mein ganzes Werk auf. Mit ihm gebe ich den Menschen der Revolution dann die Bedeutung dieser Revolution nach ihrem edelsten Sinne zu erkennen. Dieses Publikum wird mich verstehen; das jetzige kann es nicht. 2 Während in der Antike ebenso wie in der Frühen Neuzeit, die sich auf sie berief, - und auch im Mittelalter - das politische und/ oder religiöse Fest den Anlass und den Rahmen für eine Theateraufführung bot, Theater also ins Fest eingebettet war, sollte es bei den von Wagner geplanten Festspielen umgekehrt sein: Die viertägige Aufführung seiner Musikdramen sollte ihrerseits das Fest begründen. In diesem Fall war es das Theater, das unter ganz besonderen Bedingungen aus sich heraus Festlichkeit generieren, die Aufführungen selbst zum Fest werden lassen sollte. Seit der Verwirklichung von Wagners Festspielidee mit der Eröffnung der ersten Bayreuther Festspiele im Jahre 1876 werden in Europa zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten verfolgt, Theater und Fest miteinander zu verbinden. Zum einen finden wie seit den Tagen der Antike Theateraufführungen im Rahmen von Festen statt. Von dieser Möglichkeit machte zum Beispiel die junge Sowjetunion Gebrauch, als nach dem Entwurf eines neuen Festkalenders im Jahre 1920 in der bereits transformierten, in Petrograd umbenannten Stadt die neuen Festtage mit Massenspektakeln auf öffentlichen Plätzen begangen wurden - der Jahrestag der Abdankung des Zaren mit Der Sturz der Selbstherrschaft, der Maifeiertag mit dem Mysterium der befreien Arbeit, die Abhaltung der Dritten Internationale mit Für eine Weltkommune und der Jahrestag der Oktoberrevolution, der 7. November, mit der Erstürmung des Winterpalais. Diese Art der Verbindung von Theater und Fest dominierte in der Zwischenkriegszeit in Europa. In unterschiedlichen Festen bis hin zu Sport-, Schul- und Betriebsfesten ist dieses alte Modell bis heute lebendig. 2 Zit. n. Gregor-Dellin, M.: Richard Wagner - die Revolution als Oper. München 1973, S. 56-57. (Brief an Theodor Uhlig vom 12. 11. 1851). <?page no="11"?> einleitung: theater und fest in europa 11 Die zweite, von Wagner begründete Traditionslinie wurde bereits um 1900 mit den Darmstädter Festspielen (Peter Behrens und Georg Fuchs) und zehn Jahre später den Münchner Volksfestspielen in der Musik-Festhalle auf der Theresienwiese (Georg Fuchs) weitergeführt, für die Max Reinhardt seine ersten Masseninszenierungen schuf. Max Reinhardt kommt für diese Tradition nicht nur deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil er mit seinen Inszenierungen Fuchs’ Festspielidee zu realisieren half und später maßgeblich an der Gründung der Salzburger Festspiele beteiligt war, die erst nach dem Ersten Weltkrieg verwirklicht werden konnten. Er hat darüber hinaus das von Wagner begründete Modell weiter radikalisiert: Reinhardt sprach jeder einzelnen Theateraufführung die Möglichkeit zu, aus sich heraus zum Fest zu werden, da es die „eigentliche Bestimmung“ des Theaters sei, sich als „festliches Spiel“ zu verwirklichen. 3 Die von Wagner begründete Traditionslinie setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit neuen Festspielgründungen zum Beispiel in Recklinghausen, Edinburgh, Avignon oder Epidaurus fort und wirkt bis heute in den großen Internationalen Festivals weiter, die in und außerhalb Europas - wie in Toga/ Japan, Shanghai oder Sao Paulo - stattfinden. Auch für diese Traditionslinie ist der Bezug auf Identität und Gemeinschaft zentral. In dem Brief an Uhlig spricht Wagner davon, dass er mit den Aufführungen „den Menschen der Revolution […] die Bedeutung dieser Revolution nach ihrem edelsten Sinne zu erkennen“ geben werde. Durch die Teilnahme an den Aufführungen würden die Zuschauer sich erst ihrer Identität als Menschen der Revolution und als Teil einer neuen Gemeinschaft bewusst werden, die sich als „freie, schöne Öffentlichkeit“ konstituieren sollte. 4 Während hier durchaus noch von einer politischen Gemeinschaft die Rede ist, wie sie von „den Menschen der Revolution“ gebildet wird, lassen sich die Gemeinschaften, die Fuchs und Reinhardt anstrebten, eher als ästhetische oder theatrale Gemeinschaft beschreiben - das heißt, als Gemeinschaften, die aus Akteuren und Zuschauern oder auch nur zwischen den Zuschauern im Verlauf der Aufführung als Folge spezifischer ästhetischer Erfahrungen entstehen und sich nach ihrem Ende wieder auflösen. Wohl kann von einer politischen Dimension gesprochen werden, wenn eine Erlebnisgemeinschaft von Menschen zustande kommt, die den unterschiedlichsten sozialen Ständen, Schichten, Klassen und Milieus zugehören, wie dies den Kritiken zufolge in Reinhards Masseninszenie- 3 1902, zit. n. Kahane, A.: Tagebuch des Dramaturgen. Berlin 1928, S. 199-200. 4 Wagner 2 1887/ 88. Bd. 3, S. 29. <?page no="12"?> 12 erika fischer-lichte rungen des König Ödipus (1910) und der Orestie (1911) zunächst in der Münchner Musik-Festhalle und dann im Berliner Zirkus Schumann der Fall war. Eine politische Dimension ist auch der neuen Aufteilung des Raumes nicht abzusprechen, die eine Partizipation der Zuschauer nicht nur erlaubte, sondern geradezu nahelegte. Die so entstehenden Gemeinschaften wurden jedoch insofern nicht als politische, sondern als ästhetische erfahren, als sie durch spezifische ästhetische Mittel wie neue Räume oder neue Aufteilung von Räumen, Atmosphäre, Rhythmus, den Einsatz energetischer und dynamischer Körper und Ähnliches geschaffen wurden, ohne auf gemeinsame politische, religiöse, ideologische oder weltanschauliche Überzeugungen zurückzugreifen. Diese Art einer theatralen Gemeinschaft konnte sich zwischen Akteuren und Zuschauern oder auch nur zwischen Gruppen von Zuschauern für eine begrenzte Zeit während der Aufführung bilden. Eine Zugehörigkeit zu ihr war nicht zwingend, ein Ausschluss aus ihr durch andere letztlich nicht zu realisieren. Sie stellte weder eine Verpflichtung dar, noch war sie imstande, „Abweichler“ oder „Abtrünnige“ mit Sanktionen zu belegen. Ehe in der Zwischenkriegszeit sozialistische beziehungsweise kommunistische Kollektive oder „Volksgemeinschaften“ in Festen beschworen wurden, die hinsichtlich Inklusion und Exklusion über klare ideologisch begründete Kriterien verfügten, 5 war in Reinhardts festlichem Theater bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein Modell von Gemeinschaft geschaffen, das sich für eine demokratische, diversifizierte Gesellschaft geradezu anbietet. In allen hier angesprochenen Fällen wird die jeweilige Liaison von Theater und Fest ganz selbstverständlich mit Prozessen der Gemeinschafts- und Identitätsbildung in Zusammenhang gebracht, ohne dass die Frage gestellt, geschweige denn beantwortet würde, wieso gerade dieser Verbindung ein entsprechendes Potential eignen soll. Eine entsprechende Annahme scheint auf eigenem ebenso wie auf überliefertem Erfahrungswissen zu basieren. Gleichwohl ist sie genauer zu überprüfen. Um dies sinnvoll tun zu können, bedarf es zunächst einer Klärung der vier zentralen Begriffe: Identität, Gemeinschaft, Fest und Theater. Wie ein Rekurs auf entsprechende Begriffsgeschichten zeigt, lässt sich für keinen von ihnen eine für alle Zeiten in Europa gültige Definition finden. Es wird daher mit einer offenen Begrifflichkeit zu arbeiten sein. So kann Identität in diesem Sinne als ein Bewusstsein von sozialer Zugehörigkeit, innerer Stimmigkeit und biografischer Kontinuität definiert werden, um dann für unterschiedliche Kontexte spezifischer beschrieben 5 Vgl. Fischer-Lichte, E.: Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre. London/ New York 2005, insb.: S. 97-196. <?page no="13"?> einleitung: theater und fest in europa 13 zu werden. Eine ähnliche Historisierung erfordert auch der Gemeinschaftsbegriff. Vor allem gilt es, seinen strukturell imaginären Charakter zu berücksichtigen. In Anlehnung an das Konzept der imagined communities sollen Gemeinschaften als artifizielle Konstrukte aufgefasst werden, die auf ihre (stets instabile) Realisierung auf Imaginationen, Vorstellungen, Wünsche und nicht zuletzt theatrale Inszenierungen angewiesen sind. Das heißt allerdings nicht, dass die Inszenierungen auf eine Affirmation oder gar Verherrlichung von Identitäten und Gemeinschaftsbindungen hinauslaufen müssten. Vielmehr kann die Funktion von Theateraufführungen im Fest oder als Fest gerade darin bestehen, überkommene Identitäten und Bindungen zu hinterfragen und einen Reflexionsraum zu eröffnen, von dem ein Identitätswandel und eine Emanzipation aus tradierten Bindungen ausgehen kann. Beide Möglichkeiten können in der Liaison von Theater und Fest verwirklicht sein. Feste lassen sich ganz allgemein durch ein doppeltes Paradox kennzeichnen - durch das Paradox von Liminalität und Periodizität einerseits sowie dasjenige von Regelhaftigkeit und Transgression andererseits. Der erste Gegensatz betrifft die Zeitverhältnisse: Zwar sind Feste in die Routinen der Alltagszeit eingebettet, da sie sich regelmäßig wiederholen, gleichwohl konstituieren sie eine eigene Zeit, die die jeweils eingespielte Zeitgestaltung unterbricht und insofern eine liminale Zeit, eine Schwellensituation herstellt. Der zweite Gegensatz betrifft das Handeln im Fest: Einerseits unterliegt es einem festen Reglement, andererseits besteht die Quintessenz festlichen Handelns gerade darin, bestimmte Regeln, die für die Beschränkungen des Alltags verantwortlich sind, außer Kraft zu setzen und zu überschreiten. 6 Da in historischer und linguistischer Perspektive unter dem Begriff Theater und seinen „Äquivalenten“ vor allem das verstanden wurde, was die Menschen in ihrem jeweiligen kulturellen Zusammenhang zu einer bestimmten Zeit mit ihm verbanden - sei dies ein Schauplatz, auf dem etwas Wissenswertes gezeigt wurde, ein Saal für anatomische Sektionen, ein illustriertes Lehrbuch oder ein Gebäude für bestimmte Arten von Aufführungen oder die Aufführungen selbst -, lässt sich auch für diesen Begriff keine allgemein gültige Definition geben. Da es sich bei der Verbindung von Theater und Fest in beiden Traditionslinien stets um Aufführungen handelt, die entweder im Rahmen eines Festes stattfanden oder selbst zum Fest erklärt wurden, sollen hier unter Theater bestimmte Arten von Aufführungen gefasst werden. Aufführungen sind durch die 6 Vgl. Köpping, K.-P.: „Fest“. In: Wulf, C. (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/ Basel 1997, S. 1048-1065. <?page no="14"?> 14 erika fischer-lichte leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern gekennzeichnet, die durchaus ihre Rollen wechseln können. Aufführungen bringen kein von ihnen gesondertes Produkt hervor, sondern erschöpfen sich in ihrem Vollzug. Insofern sind Ephemerität und Transitorik für sie charakteristisch. 7 Aus diesen offenen, weit gefassten Bestimmungen von Fest und Theater geht hervor, dass beide gewisse Strukturähnlichkeiten aufweisen, die sich auf spezifische Wirkdimensionen beziehen lassen. So betont der für Feste typische Gegensatz zwischen Periodizität und Liminalität entsprechend eine liminale Dimension: die eigene Zeit, welche das Fest konstituiert, ist eine Zwischenzeit, eine Zeit des Übergangs, in die Alltagszeit und die historische Zeit eingelagert. Der Begriff des Liminalen ist von der Festforschung aus der Ritualtheorie entlehnt. Er wurde vom Ethnologen Victor Turner unter Rekurs auf die Arbeiten Arnold van Genneps geprägt. Dieser hatte in seiner Studie Les rites de passage an einer Fülle ethnologischen Materials dargelegt, dass Rituale mit einer in höchstem Maße symbolisch aufgeladenen Grenz- und Übergangserfahrung verknüpft sind. Übergangsriten gliedern sich in drei Phasen: 1. die Trennungsphase, in der der/ die zu Transformierende(n) aus ihrem Alltagsleben herausgelöst und ihrem sozialen Milieu entfremdet werden; 2. die Schwellen- oder Transformationsphase; in ihr wird/ werden der/ die zu Transformierende(n) in einen Zustand „zwischen“ allen möglichen Bereichen versetzt, der ihnen völlig neue, zum Teil verstörende Erfahrungen ermöglicht; 3. die Inkorporationsphase, in der die neu Transformierten wieder in die Gesellschaft aufgenommen und in ihrem neuen Status, ihrer veränderten Identität akzeptiert werden. Diese Struktur lässt sich nach van Gennep in den verschiedensten Kulturen beobachten. Sie wird erst in ihren Inhalten kulturspezifisch ausdifferenziert. 8 Victor Turner hat den Zustand, der in der Schwellenphase hergestellt wird, als Zustand der Liminalität (von lat. limen - die Schwelle) bezeichnet und genauer als Zustand einer labilen Zwischenexistenz „betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention and ceremonial“ bestimmt. 9 Er führt aus, dass und wie die Schwellen- 7 Zum Aufführungsbegriff vgl. Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2004. 8 Vgl. van Gennep, A.: Les rites de passage. Paris 1909, dt. Übersetzung Übergangsriten. Frankfurt a. M. 1986, S. 21-23. 9 Turner, T.: The Ritual Process - Structure and Anti-Structure. London 1969, S. 95. <?page no="15"?> einleitung: theater und fest in europa 15 phase kulturelle Spielräume für Experimente und Innovationen eröffnet, insofern „in liminality, new ways of acting, new combinations of symbols, are tried out, to be discarded or accepted“. 10 Die Veränderungen, zu denen die Schwellenphase führt, betreffen nach Turner in der Regel den gesellschaftlichen Status derer, die sich dem Ritual unterziehen, sowie die gesamte Gesellschaft. Auf die Individuen bezogen bedeutet dies, dass zum Beispiel Knaben zu Kriegern werden, eine unverheiratete Frau und ein Junggeselle zu einem Ehepaar oder ein Kranker zu einem Gesunden. Die gesamte Gesellschaft betreffend bestimmt Turner Rituale als Mittel zur Erneuerung und Etablierung von Gruppen als Gemeinschaften. Dabei sieht er vor allem zwei Mechanismen am Werk: erstens die in den Ritualen erzeugten Momente von communitas, die er als gesteigertes Gemeinschaftsgefühl beschreibt, das die Grenzen aufhebt, welche die einzelnen Individuen voneinander trennte; und zweitens eine spezifische Verwendung von Symbolen, die sie als verdichtete und mehrdeutige Bedeutungsträger erscheinen lässt und es allen Beteiligten ermöglicht, verschiedene Interpretationsrahmen zu setzen. Nun soll hier nicht die Behauptung aufgestellt werden, dass Feste generell als Rituale zu betrachten seien. Die besondere Zeitlichkeit von Festen weist jedoch unmissverständlich darauf hin, dass ihnen eine gewisse Ritualität eignet, auf die die liminale Wirkdimension zurückzuführen ist. Die eigene Zeitlichkeit des Festes setzt voraus, dass sich die Festteilnehmer aus ihrem Alltag herauslösen, in den sie nach dem Ende des Festes durch das in seiner Zeit als Übergangszeit Erlebte verwandelt zurückkehren - in einer spezifischen Identität bestärkt oder mit einer neuen Identität. Wie weit allerdings mögliche im Laufe des Festes übernommene und probeweise ausagierte Identitäten tatsächlich die Zeit des Festes überdauern, ist anders als bei Übergangsritualen nicht festgelegt und auch nicht immer zu überprüfen. Zwar ist anzunehmen, dass eine Stärkung des Gefühls der communitas wie im Ritual eintritt. Ob sie das Fest überdauert, hängt allerdings davon ab, ob es sich um eine bereits vorher etablierte Gemeinschaft handelt - wie die der Polisbürger in Athen oder der christlichen Gemeinde im Mittelalter oder der höfischen Gesellschaft im 17. Jahrhundert -, die sich durch das Fest in ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl und ihren Differenzen zu anderen Gemeinschaften bestätigt fühlt; oder ob die Gemeinschaft wie im Falle einer ästhetischen Gemeinschaft erst in der und durch die Aufführung entsteht. 10 Turner, V.: „Variations on a Theme of Liminality“. In: Moore, S. F./ Myerhoff, B. (Hrsg.): Secular Rites. Assen 1977, S. 36-57, S. 40. <?page no="16"?> 16 erika fischer-lichte Die liminale Wirkdimension des Festes wird durch weitere Wirkdimensionen unterstützt. Wenn die Festteilnehmer aus dem Zustand des Zwischen, aus der Übergangszeit mit einer neuen Identität oder einer Stärkung ihrer bisherigen hervorgehen, so ist dies auf eine transformative Wirkdimension zurückzuführen, die eng auf die liminale bezogen ist und von dieser ermöglicht wird. Aus dem zweiten Gegensatz, der kennzeichnend für Feste ist, lässt sich zunächst eine konventionelle Dimension ableiten. Es ist die Regelhaftigkeit von Festen, welche bestimmte Interaktionsrituale, wie der Soziologe Erving Goffman sie nennt, zwingend vorschreibt. 11 Die für das Fest geltenden Verhaltensregeln können sich soweit von den Regeln unterscheiden, die das alltägliche Verhalten bestimmen, dass sie zur Entstehung einer liminalen Situation beitragen. Wenn im Fest die Beschränkungen des Alltags durchbrochen werden und die damit vollzogene Transgression sich in unterschiedlichen Exzessen äußert, wie zum Beispiel im Ausagieren von Gewalt oder im Anschauen von Gewaltdarstellungen, ist eine spezifische kathartische Dimension aufgerufen. Die Katharsis, die in diesem Fall bei den Festteilnehmern bewirkt wird, trägt in der Regel ihrerseits zur Ausbildung oder Bekräftigung von Identität und Gemeinschaftsgefühl bei. Diese vier Wirkdimensionen, die Feste in unterschiedlich starker Ausprägung bestimmen, lassen sich auch für Theateraufführungen nachweisen. Eine Aufführung ereignet sich in der und durch die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern. Damit sie zustande kommen kann, müssen zwei Gruppen von Personen, die als „Handelnde“ und „Zuschauende“ agieren - wobei die Zugehörigkeit zu den Gruppen im Laufe der Aufführung wechseln kann - sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort versammeln und dort eine Situation, eine Spanne Lebenszeit miteinander teilen. Die Aufführung entsteht aus ihren Begegnungen - aus ihrer Konfrontation, aus ihrer Interaktion. Was immer die Akteure tun, hat Auswirkungen auf die Zuschauer, und was immer die Zuschauer tun, hat Auswirkungen auf die Akteure und die anderen Zuschauer. In diesem Sinne entsteht die Aufführung immer erst in ihrem Verlauf. Sie erzeugt sich als eine autopoietische Feedbackschleife sozusagen selbst. Daher ist ihr Verlauf auch nicht vollständig planbar und vorhersagbar. Ihr eignet vielmehr ein hohes Maß an Kontingenz. Was in ihrem Verlauf in Erscheinung tritt, ist bei ihrem Beginn nicht vorauszusehen. Es ist häufig emergent. Bei allen Beteiligten handelt es sich um Mit-Erzeuger, die in 11 Vgl. Goffman, E.: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a. M. 1971. <?page no="17"?> einleitung: theater und fest in europa 17 unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlicher Weise an der Gestaltung der Aufführung mitwirken, ohne sie allein bestimmen zu können. Die Aufführung eröffnet so allen Beteiligten die Möglichkeit, sich im Verlauf der Aufführung als ein Subjekt zu erfahren, welches das Handeln und Verhalten anderer mitzubestimmen vermag und dessen eigenes Handeln und Verhalten ebenso von anderen mitbestimmt wird; als ein Subjekt, das weder autonom noch fremdbestimmt ist und das die Verantwortung auch für eine Situation übernimmt, die es nicht geschaffen hat, an der es jedoch Teil hat. Daraus erhellt, dass eine Theateraufführung sich immer auch zugleich als ein sozialer Prozess abspielt. In ihr treffen unterschiedliche Gruppen aufeinander, die ihre Beziehungen zueinander auf unterschiedliche Weise aushandeln und regeln können. Dieser soziale Prozess wird zu einem politischen, wenn in der Aufführung ein Machtkampf zwischen Akteuren und Zuschauern oder auch zwischen verschiedenen Zuschauern entbrennt, die einer dem anderen eine bestimmte Beziehungsdefinition, Ansichten, Werte, Überzeugungen, Verhaltensweisen et cetera aufzuzwingen suchen. Aus dieser Charakteristik ergibt sich unmittelbar, dass auch Theateraufführungen jene vier Wirkdimensionen zueigen sein können, die für Feste charakteristisch sind. Wenn Aufführungen sich sowohl als ein ästhetischer als auch als ein sozialer oder gar politischer Prozess vollziehen, die Teilnehmer sich als Subjekte erfahren, die sowohl den Gang der Aufführung mitbestimmen als auch sich von ihm bestimmen lassen, haben wir es zweifellos mit einer liminalen Situation zu tun, der ein transformatives Potential eignet. Die konventionelle Wirkdimension ist mit den Regeln gegeben, die jeweils für die Teilnahme an der Aufführung gelten. Sie können jedoch jedes Mal neu verhandelt und bis zu Gewaltaktionen hin überschritten werden. Dabei kann es sich wie bei manchen Theaterskandalen tatsächlich um den Vollzug von Gewaltaktionen wie Schlägereien oder Zertrümmern des Mobiliars handeln. Meist wird jedoch die kathartische Dimension durch das Anschauen von Gewaltdarstellungen und anderen Exzessen aktualisiert. Wenn Theateraufführungen im Rahmen von Festen stattfinden oder aus sich heraus Festlichkeit generieren, so ist anzunehmen, dass sich die Wirkdimensionen, die sowohl für Feste als auch für Theateraufführungen charakteristisch sind, gegenseitig potenzieren. Die Möglichkeit, dass durch die wie auch immer realisierte Verbindung von Theater und Fest die Herausbildung neuer oder die Bekräftigung bestehender Identitäten sowie die Affirmation einer gegebenen Gemeinschaft oder die Herausbildung einer neuen, einer ästhetischen Gemeinschaft tatsächlich eintreten kann, ist insofern auf die vier Wirkdimensionen zurückzuführen, die in <?page no="18"?> 18 erika fischer-lichte beiden effektiv sind. Keinesfalls jedoch vermögen sie die Verwirklichung dieser Möglichkeit zu garantieren. Denn da in jedem Fest und jeder Theateraufführung Emergenzen auftauchen können, die sich dem entgegenstellen, ist eine allzu mechanistische Auffassung der Wirkungsweise einer Liaison von Theater und Fest irreführend. Die Entstehung von Kohäsion, Zusammenhalt, Identität oder gar von Gemeinschaft im Theaterfest folgt nicht festgelegten, funktionstüchtigen Vorschriften, sondern ist einer Kontingenz unterworfen, die gerade das politisch-strategische Planen und Inszenieren von Festen erschwert. Sogar rein ästhetische Gemeinschaften lassen sich nicht mit Hilfe von andernorts bewährten Verfahren jederzeit erschaffen. Denn da deren Wirkung wesentlich von der Responsivität der Zuschauer abhängt und die Zusammensetzung des Publikums ebenso wie sein Verhalten während der Aufführung und seine Reaktionen auf spezifische Inszenierungsstrategien niemals voraussagbar sind, werden sich auch ästhetische Gemeinschaften nicht nach Plan herstellen lassen. Da die vier für die Fragestellung des Bandes zentralen Begriffe nicht nur in den verschiedenen europäischen Sprachen jeweils unterschiedlich definiert sind, sondern auch einem historischen Bedeutungswandel unterliegen, wird hier chronologisch vorgegangen. Während der erste Band Staging Festivity. Theater und Fest in Europa (2009) die Liaison von Theater und Fest in verschiedenen Zeiten und europäischen Kulturen unter den Aspekten Sakralität, Medialität und Öffentlichkeit untersuchte und entsprechend gegliedert war, folgt dieser Band der Chronologie der behandelten Zeiträume. Es ergeben sich so vier Sektionen, die jeweils mit einer eigenen Einleitung versehen sind, welche in die spezifischen historischen Bedingungen und Konzepte des gewählten Zeitraums einführt: „Her- und Darstellungen von Identitäten in theatralen Aufführungen der griechischen und römischen Antike“ (Almut-Barbara Renger); „Theater und Fest in mittelalterlichen Städten“ (Kathrin Kröll); „Die Visualität politisch-sozialer Ordnungen in der frühneuzeitlichen Festkultur“ (Klaus Krüger und Elke Anna Werner) und „Fest - Fest/ Spiel - Festival. Perspektiven des europäischen Theaters“ (Paul Nolte). Vor allem bei der letzten, auf die Moderne bezogenen Sektion hat sich herausgestellt, wie wichtig und lohnend es ist, auch ökonomische Fragen und Interessen in die geistes- und kulturwissenschaftliche Erforschung der Verbindung von Theater und Fest einzubeziehen. Denn wie sich gezeigt hat, sind in den modernen Gesellschaften die Dynamiken sogar politischer und ritueller Feste oftmals nur dann zu verstehen, wenn man die wirtschaftlichen Bedürfnislagen der Teilnehmer, Akteure und Organisatoren in Rechnung stellt. Bereits bei Wagner ergab sich der Widerspruch, dass die Festspiele aus Protest gegen den Warencharakter der Opernaufführungen als eine allen <?page no="19"?> einleitung: theater und fest in europa 19 „Söhnen Germaniens“ zugängliche Versammlung einer „freien, schönen Öffentlichkeit“ konzipiert waren, wobei mangelnde finanzielle Ressourcen jedoch die Festspiele selbst zu einer „Ware“ degenerieren ließen, die sich nur die Begüterten leisten konnten. Wie die Beiträge in den vier Sektionen nachweisen, ist in Europa die Verbindung von Theater und Fest immer wieder genutzt worden, um spezifische Identitäts- und Gemeinschaftsbildungen und -affirmationen zu erreichen. Während bei den Strategien (das heißt in den Organisations- und Inszenierungsformen) sich tatsächlich große Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen europäischen Kulturen feststellen lassen, sind auf semantischer und symbolischer Ebene vor allem seit Beginn der Moderne erhebliche Unterschiede zwischen den Festkulturen verschiedener europäischer Gesellschaften festzustellen. Ob beziehungsweise wieweit sich dies im Zuge der Ausweitung einer internationalen Festivalkultur ändern wird, bleibt abzuwarten. Von einer gemeinsamen europäischen Identitätsbildung zu sprechen, erscheint mit Blick auf die bisher realisierten Verbindungen von Theater und Fest allerdings kaum möglich. Festzuhalten bleibt jedoch, dass es in den hier untersuchten europäischen Kulturen ähnliche Wege, Suchbewegungen und Strategien auf dem Wege zu den sehr verschiedenen Identitäten gegeben hat. Zwar hat sich bei Festivals, die in der Tat von einem international zusammengesetzten Publikum besucht werden und Aufführungen aus unterschiedlichen Kulturen zeigen, herausgestellt, dass ein derartig heterogenes Publikum durchaus für die Dauer der Aufführung in Mitglieder einer ästhetischen beziehungsweise theatralen Gemeinschaft transformiert werden kann. Ob es jedoch jemals möglich sein wird, mit neu einzurichtenden europäischen Festtagen, an denen überall in Europa Aufführungen stattfinden, und durch Anwendung entsprechender Wirkungsästhetiken tatsächlich zur Ausbildung einer über die Dauer der Aufführungen hinausgehenden europäischen Identität und Gemeinschaft - neben den bereits bestehenden regionalen und nationalen Identitäten und Gemeinschaften - beizutragen, erscheint zumindest zum jetzigen Zeitpunkt zweifelhaft. <?page no="21"?> I. Her- und Darstellungen von Identitäten in theatralen Aufführungen der griechischen und römischen Antike <?page no="23"?> Einführung: Europa: Königstochter, Kontinent, Kulturraum. Fundamente politisch-religiöser und kultureller Identitätsbildung in der Antike Almut-Barbara Renger (Berlin, Cambridge/ Mass.) Identitätsbildung setzt ein oder mehrere Bezugsobjekte voraus, über die sich eine Selbst- und Fremdbeschreibung von Individuen und Kollektiven bildet. Je mehr Bezugsobjekte es gibt, desto in sich vielfältiger und aspektreicher ist die Identität beziehungsweise sind die Identitäten, die sich bilden, und die mit ihnen verbundenen Erwartungen und Verhaltensweisen der Individuen und Kollektive. Das trifft zumal auf die Identität beziehungsweise Identitäten Europas zu. Die Bezugsobjekte sind zahlreich, die Identitäten so vielfältig wie die sozialen, kulturellen und religiösen, politischen, ökonomischen und juristischen Aspekte, die Europa umfasst. Die Rede ist daher allenthalben von Europa als „Einheit in der Vielfalt“. Wir haben es gewissermaßen mit einem Singular, der plural ist, zu tun, salopp gesprochen, mit einem Europa im Plural. Oder handelt es sich um ein Kollektivum, das eine unbestimmte Anzahl von gleichartigen Dingen oder Sachverhalten zusammenfasst? Ist Europa, wie im Deutschen „Laub“, „Obst“, „Herde“, eine Ansammlung, ein Oberbegriff, eine Verbandsbezeichnung? Als gewiss darf gelten, dass Europa sich als Kulturraum und Staatenverbund, interregional und transnational, aus ungezählten Differenzen speist und die Summe historisch weit zurückreichender Prägungen gemeinsamer Erfahrungen ist. Das spiegelt auch der Wahlspruch der Europäischen Union „In varietate concordia“ wider. Er ist Reflex sowohl des Wunsches nach Eintracht als auch der Wertschätzung von Differenzen, von Variabilität und Heterogenität; und er ist daher auch tauglich für die Frage nach der Identität Europas, zumal nach der kulturellen Identität. Auch sie ist Summe historisch weit zurückreichender Prägungen identitätsstiftender regionaler und überregionaler, nationaler und transnationaler Erfahrungen. Diese gemeinsamen Erfahrungen führen nicht nur bis ins Mittelalter zurück, sondern bis in die Antike. Hier ist zunächst das Römische Reich <?page no="24"?> 24 almut-barbara renger zu nennen, das zur Zeit des Augustus erstmals das gesamte südliche Europa zusammen mit den anderen Küstenländern des Mittelmeerraums in einem Großreich vereinigte. Die Art und Weise, wie Rom seine Identität als Großreich durch eine Vielzahl von Gegenständen, sakral-rituellen Handlungen sowie Gesten und einem hohen Aufwand an Personal in einem „Theater der Macht“ inszenierte (vergleiche hierzu in dieser Sektion den Beitrag von Therese Fuhrer), hat im Kulturraum und politischen Gebilde Europa, wie es sich - unter Durchlaufen unterschiedlichster Europa- Vorstellungen, -Ideen und -Konzepte in Antike, Mittelalter und Neuzeit - sukzessive formte, bis in die Moderne vielfach nachgewirkt. Doch Zusammengehörigkeitsgefühle über einzelne Regionen hinaus entwickelten sich in der Antike nicht erst mit dem Entstehen des Römischen Reiches, sondern schon viel früher: in Griechenland. Bereits im 5. Jahrhundert vor Christus verstanden sich die Griechen als Entität; nicht nur, weil ihnen ihre Eigenheiten in der Auseinandersetzung mit den Persern als Vertretern einer anderen Kultur, im Zuge von Selbst- und Fremdbeobachtungen, bewusst geworden waren, sondern auch, weil sie ihre Ursprünge mythisch definiert hatten. Die Griechen pflegten ihre Familien genealogisch auf Götter und große Helden, herausragende Gestalten einer weit zurückliegenden Vergangenheit, zurückzuführen und erzählten sich in diesem Zusammenhang eine Vielzahl von Mythen. Mit ihnen spannen sie gleichsam ein Netz, das sie quer durch den Mittelmeerraum spannten. Es war dies ein Geflecht von Götter- und Heroenmythen, mit denen die Griechen verschiedenste Umstände ihrer Existenz, wie die Entstehung der Welt, der Gesellschaft und ihrer Institutionen erklärten. Dieser Erzählschatz wurde ebenso mündlich wie in verschiedenen Medien von Generation zu Generation weitergegeben - und inszeniert; in der archaischen Zeit zum Beispiel in kunstvoll komponierten epischen Gesängen, wie sie Homer, dem „blinden Sänger von Chios“, zugeschrieben wurden. Im 5. Jahrhundert vor Christus kam die attische Tragödie dazu. Wie das Epos, ihr Stofflieferant, handelt auch sie von Göttern und Helden, zugleich zentralen Gestalten des Kults, durch die sich die Menschen damals in ihrer existentiellen Lage als Mensch wesentlich bestimmt sahen. Über das Verhältnis von Epos, Drama und Kult in jener Zeit ist viel spekuliert worden. Sicher ist: Sie gehörten aufs Engste zusammen. Eine Trennung - wie in der Moderne - in säkulare Literatur und religiöse Sphäre anzunehmen, hieße die damalige Kultur und mit ihr auch die Theater- und Festkultur gründlich misszuverstehen. Mythos, Ritual und Kult waren gleichermaßen Manifestationen von Religion: von einer Religion, die mit der Lebenswelt und deren kulturellen Schöpfungen auf vielfäleinführung: <?page no="25"?> europa: königstochter, kontinent, kulturraum 25 tigste Weise interagierte. Die epische Mythendarstellung war hierbei von grundlegender Wichtigkeit. Zum einen formte sie das Bild der in ungezählten Kulten verehrten griechischen Götter und herausragenden Heroengestalten, auf die sich zu beziehen für die Griechen identitätsbildend und -stabilisierend war. Zum anderen lieferte sie den Dramatikern, vor allem den attischen Tragikern (vgl. hierzu in dieser Sektion den Beitrag von Susanne Gödde), das inhaltliche Material. Aufgabe der Tragödiendichter im Athen der klassischen Zeit war es, in ihren Tetralogien - vier inhaltlich zusammenhängenden Theaterstücken: drei Tragödien und einem Satyrspiel (vgl. hierzu in dieser Sektion den Beitrag von Fabian Meinel) - die alten Mythen innerhalb des durch die Polis bestimmten kultischen und agonalen Rahmens der Dionysosfeste für die Gegenwart glaubhaft umzusetzen. Qua Inszenierung von Göttern und Heroen auf der Bühne führten die Dichter ihre Mitbürger während mehrerer Aufführungstage an den drei Dionysien, die im Zeichen der dramatischen Bühne standen (Ländliche Dionysien, Lenäen, Große Dionysien), aus vertrauter Alltäglichkeit heraus in einen Raum außerhalb des Polisalltags. Es war dies ein Raum des Gottes Dionysos, dem zu Ehren die Theateraufführungen durch Opfer, Prozessionen und musikalische Veranstaltungen vorbereitet wurden, und der durch seine Statue bei den Vorführungen anwesend war. Dieser „Sonderraum“ besonderer Identitäts- und Gemeinschaftsbildung war vom dynamischen Wechselspiel von Theater und Fest auf spezifische Weise feierlich-sakral geprägt und zugleich - im weiteren Sinne von politikós (als „was die Polis Athen in all ihren Bereichen angeht“) - politisch bedeutsam. In und mit ihren Stücken thematisierten die Dichter der Tragödie wie der altattischen Komödie (vgl. hierzu in dieser Sektion den Beitrag von Peter von Möllendorff) Fragen, die das Polisleben betrafen. Die Tragiker suchten ihre Mitbürger seelisch heilsam zu erschüttern und zugleich politisch-sittlich-religiös zu belehren. Bei Aristophanes, einem der drei Hauptvertreter der alten Komödie, traten zwecks Kritik an Kultur und Politik zu sittlichem Ernst derbe Possenhaftigkeit und bissige Satire hinzu. So führte der Gang ins Theater zu gemeinsamem Nachdenken über altvertraute Werte und neue Perspektiven. Idealiter ergab sich hieraus, dass sich alle Beteiligten ihrer Identität als Polisbürger versicherten und durch das, was wir „geregelte Entroutinierung“ nennen können, aus dem alltagssuspendierenden Raum des Dionysos gestärkt in Alltag und Routine des Polislebens zurückkehrten. Einer der vielen identitätsstiftenden Mythen, die sich die Griechen erzählten und in verschiedenen Medien, auch auf der Bühne, inszenierten, ist die Geschichte der phönizischen Königstochter Europa, die der oberste olympische Gott Zeus in Stiergestalt entführte. Dieser Mythos ist zwar <?page no="26"?> 26 almut-barbara renger nicht, wie insbesondere außerhalb der Altertumswissenschaft immer wieder behauptet, der fundierende Mythos unseres heutigen Europas. Er gehört aber - vor allem in seiner Verknüpfung mit anderen Familienmitgliedern wie mit Europas Bruder Kadmos, dem Gründer Thebens und der Stadtburg „Kadmeia“, und mit Europas argivischer Ahnin Io, die über das „io“-nische Meer und Asien bis nach Ägypten kam - zu den großen antiken Gründungsmythen, die den Griechen helfen sollten, ihre Identität als Hellenen zu stabilisieren. Eine wichtige Rolle spielte hierbei die Namensgleichheit der Entführten und Europas als eines Erdteils, der von Asien und Afrika abgegrenzt wurde (griechisch „Eur ! " p # “, lateinisch „Europa“; die Etymologie ist umstritten). Hierzu sei Folgendes angemerkt: Um 500 ist die Welt nach Hekataios von Milet in Europa und Asien geteilt (Fragmente der Griechischen Historiker 1,36-37). Herodot führt in seinen Historien bereits einen dritten Erdteil auf: Libyen, das spätere Afrika; als Grenze zwischen Europa und Asien nördlich des Schwarzen Meeres gibt er den Rion oder den Don an (4,42-45). Genannt wird Europa zuerst im Homerischen Apollon- Hymnos (251, 291), bezeichnet aber nur Mittelgriechenland, während es bei Herodot häufig im Zusammenhang mit dem Hellespont vorkommt. Zudem bezeichnet es einen Teil Thrakiens. Der Geltungsbereich des Namens war mithin zunächst klein und nicht allgemeingültig festgelegt; er wurde sukzessive ausgeweitet, im Westen bis zum Atlantischen Meer, im Norden bis nach Skandinavien. Eine politische Idee von Europa im heutigen Sinne gab es im Altertum nicht. Allerdings lassen sich ab dem 5. und 4. Jahrhundert vor Christus Tendenzen einer ideologisierenden Operationalisierung des Europa-Begriffs unter anderem in Verbindung mit dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Griechen in Abgrenzung von den Barbaren beobachten. Wohl nicht zuletzt deshalb wurde die Namensgleichheit des Erdteils und der Königstochter - trotz aller Zweifel des Geschichtsschreibers Herodot an der Annahme, die beiden Namen stünden in einem ursächlichen Zusammenhang - im Verlaufe der Jahrhunderte regelrecht ausgeschlachtet. Es kam zu einer Stilisierung des Mythos, die den Kontinent als performatives Produkt einer Passage von Asien nach Westen erscheinen ließ. Zumal in Neuzeit und Moderne wurde dies in Europa zu politischen Zwecken phantasiereich ausgestaltet, etwa um kolonialistische Überlegenheitsansprüche gegenüber den anderen Kontinenten oder auch einzelner Herrscher innerhalb Europas zum Ausdruck zu bringen (vgl. hierzu in dieser Sektion den Beitrag von Almut-Barbara Renger). Funktionalisierungen dieser Art zur Darstellung und Vermittlung von Identität und Zusammengehörigkeit, Macht und Herrschaft waren keineswegs eine Erscheinung der Neuzeit. Europa und ihre Verwandten, die <?page no="27"?> einführung: europa: königstochter, kontinent, kulturraum 27 mythischer Überlieferung nach durchs Mittelmeer gereist und vielerorts wichtige Stätten (Städte, Tempel, Kultplätze et cetera) begründet hatten, wurden im Zuge der Hellenisierung des Mittelmeerraums von den Griechen als integraler Bestandteil ihrer von Mythos und Kult geprägten Frühgeschichte repräsentiert. Dies erfolgte unter anderem, wie in Pseudo-Apollodors Biblioth ! " k ! vorgeführt, durch systematischen Ausbau der Generationenabfolge und umfassende Vernetzung verschiedener Mythenstränge in komplexen, narrativ aufbereiteten genealogischen Stemmata, die bis zu den Göttern und Heroen zurückführten. So wurde mit Hilfe der polymigranten Europafamilie eine eigene Vergangenheit konstruiert, auf die man sich zwecks Behauptung und Inszenierung von Identität und Zusammengehörigkeit, Macht und Herrschaft verschiedentlich berufen konnte. Durch Hervorhebung ihrer geopolitischen, religiösen und kulturellen Bedeutung für unter anderem Kreta und Theben diente die riesige Familie zur Markierung wesentlicher Regionen der griechischen Welt und bildete Eckpunkte der Geschichte, Religion und Kultur der Hellenen. Werfen wir zum Abschluss einen Blick auf den Mythos der Entführung Europas. In Homers Ilias (14, 321-322) vorausgesetzt, findet er sich bereits mehrfach in der frühgriechischen Literatur. Was Epos und Drama angeht, ist die Überlieferung zwar nicht reich, vermittelt aber ganz gut einen Eindruck davon, wie Funktionalisierungen dieses Mythos verliefen. Der Literat Eumelos aus Korinth (Poetae epici graeci. Testimonia et fragmenta F 13) hat nach den Scholien zu Homers Ilias 6,131 ein Epos mit dem Titel Eur #" p ! oder Eur # pía geschrieben. Hiervon sind nur drei Fragmente bekannt; eines von ihnen enthält die Angabe des Verfassers. Besser ist die Überlieferungslage im Bereich der Tragödie. Hier seien zwei Beispiele angegeben. In dem einzigen substantiellen Fragment, das aus Aischylos’ Káres oder Eur #" p ! erhalten ist (Ausgabe Mette F 145), wartet Europa besorgt auf Nachricht von ihrem Sohn Sarpedon. Der Dramenausschnitt enthält im Wesentlichen eine - möglicherweise einem Chor der Karier gegenüber geäußerte - Klage der Europa, in der sie zunächst ihre Entführung durch Zeus, den Verlust ihrer Jungfräulichkeit und die Mühen des Gebärens ihrer Söhne Minos, Rhadamanthys und Sarpedon thematisiert. Sodann beklagt die dreifache Mutter die Ferne beziehungsweise - so, wie sie es sieht - den Verlust der Söhne. Das Fragment endet mit besorgten Äußerungen Europas zu Sarpedon, der nach Troja gezogen ist und dessen Tod auf dem Schlachtfeld sie fürchtet. Auch in Euripides’ Hypsip! l ! haben wir es mit einer leidtragenden Mutter, die in fremde Gefilde gekommen ist, zu tun; allerdings nicht mit Europa selbst, sondern mit der Titelfigur Hypsipyle, die einst ihren Vater gerettet hatte, als die <?page no="28"?> 28 almut-barbara renger Frauen von Lemnos ihre Männer töteten, und deshalb fliehen musste. Von Lemnos aufs griechische Festland geflüchtet, muss sie, dies ist ihre Situation im Drama, beim König Lykurg in Nemea als Sklavin dienen. Um sie mit dem Beispiel anderer berühmter Frauen über ihr bitteres Schicksal zu trösten, erinnert der Chor unter anderem an Europa, die über das Meer in fremdes Land gekommen sei (Ausgabe Collard/ Cropp/ Gibert II F 752g). Der Vergleich des Chors ist keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Hypsipyle teilt mit Aischylos’ Europa nicht nur das Los, aus Heimat und vertrauter Umgebung übers Meer in die Fremde gekommen zu sein. Sie hat auch die Gemeinschaft mit ihren Kindern, den Zwillingen Thoas und Euneos, verloren. Sie blieben auf Lemnos zurück und wurden von ihrem Vater, Jason, auf der „Argo“ mitgenommen. Es wäre hierzu und allgemein mit Blick auf Europas Rolle im Rahmen festlich-theatraler Inszenierungen von Identität und Gemeinschaft an dieser Stelle noch vieles zu sagen; gerade auch in Hinsicht auf das ästhetische und religiös-politische Potential Europas und ihrer Familie für die Reflexion und Konstruktion kultureller Identitäten. Doch sprengte das den Rahmen dieser knappen einführenden Bemerkungen. Nur so viel: Die in die Fremde gekommene Europa hat nicht nur in der griechischen Mythologie einen besonderen Rang als Migrationsfigur und Mutter von Migrationsfiguren. Sie hat auch in einem übertragenen Sinne einen besonderen Stellenwert als Mutter: in der europäischen Theatergeschichte. Überlieferter antiker Genealogie nach steht Europa am Beginn einer Ahnenkette tragischer Gestalten, die auf der europäischen Bühne der Weltliteratur von höchstem Rang sind. In direkter Linie folgen ihr unter anderem Sohn Minos sowie ihre Enkelinnen Ariadne und Phaidra. Ihr Bruder Kadmos, der Gründer von Theben, zeugt mit Harmonia Semele und diese mit Zeus Dionysos. Labdakos, der Enkel des Kadmos, ist der Großvater des Oidipus und damit Urgroßvater von Antigone und ihren Brüdern Eteokles und Polyneikes. Alle diese und weitere Figuren großer Werke der europäischen Theaterliteratur von der Antike bis heute verbindet ihre tragische Schicksalsverwobenheit und eine oft unbeachtete Blutsverwandtschaft. Kurz - und zugespitzt formuliert: Europa ist die Urmutter aller tragischen Heroen und Heroinnen, die es in die Fremde verschlagen hat. Viele ihrer Verwandten, ihrer Vor- und Nachfahren, verlassen die Heimat und durchmessen, tief in Leid verstrickt, in der Fremde weite Strecken. Die Räume und Orte ihres Handelns, ihres Leidens und Reisens, verweisen ebenso auf geographische Gegebenheiten wie auf Prozesse und Resultate der räumlichen und kulturellen Figuration Europas in seinen Mythen, wie sie unter anderem auf Theaterbühnen inszeniert werden. Sind auch viele Dramen - darauf verweist schon die Praxis, die alten Klassiker immer <?page no="29"?> einführung: europa: königstochter, kontinent, kulturraum 29 wieder aufzuführen - säkularisierte Bildungstradition geworden; weisen auch zahlreiche Rezeptionsstücke der Neuzeit christliche Inhalte auf: An der Wurzel der altüberlieferten Theaterfunktion, Gemeinschaft zu stiften, sitzt der Gott Dionysos. Er hat Europa entscheidend geprägt. <?page no="30"?> Wie man kein Bürger wird. Fest und politische Identität in Aristophanes’ Acharnern Peter von Möllendorff (Gießen) Im Januar des Jahres 425 vor Christus, am Dionysosfest der Lenäen, brachte der ungefähr 20jährige Aristophanes mit den Acharnern seine bereits dritte Komödie auf die Athener Bühne; Regie führte Kallistratos, und das Stück gewann den ersten Preis im dramatischen Wettbewerb. Der attische Bürger Dikaiopolis hat den bereits sechs Jahre währenden Krieg zwischen Athen und Sparta, der die Landbevölkerung in die Stadt getrieben hat, gründlich satt. In der Volksversammlung findet er für seinen Friedenswunsch allerdings keine Mehrheit, ja muss feststellen, dass Gesandte, die den persischen Großkönig als Vermittler bemühen sollten, sich mit dem Reisegeld ein schönes Leben gemacht haben; einem angeblichen persischen Boten vermag er die Maske herunterzureißen - darunter verbirgt sich ein Athener Mitbürger, der sich zur Täuschung der Versammlung verkleidet hat. Dikaiopolis beschließt enttäuscht und wütend, einen Privatfrieden mit Sparta zu schließen, was ihm auch gelingt: Sein Bote kehrt aus Sparta mit einem 30jährigen Friedenswein zurück, Dikaiopolis trinkt davon, und der Friede ist da. Dikaiopolis begeht ihn auf seinem Landgut durch die Feier eines Phallosumzuges zusammen mit seiner Familie und seinen Sklaven. Die kriegslüsternen Köhler aus dem attischen Demos Acharnai haben von Dikaiopolis’ Friedensdemarche Wind bekommen und sich in den Hinterhalt gelegt. Nun stürzen sie hervor, unterbrechen die rituelle Begehung und wollen Dikaiopolis steinigen. Der jedoch kann sie dadurch, dass er einen ihrer Kohlenkörbe als Geisel nimmt, davon überzeugen, sich zuerst noch seine Beweggründe näher anzuhören. Um überzeugender zu wirken, klopft er bei dem tragischen Dichter Euripides und leiht sich von ihm das Kostüm des Telephos aus. Jener mythische König war bei den ersten Übergriffen der Griechen auf das trojanische Festland von Achill verwundet worden; die Wunde wollte nicht heilen, weshalb er sich in der <?page no="31"?> wie man kein bürger wird 31 Verkleidung eines Bettlers nach Aulis begab, wo sich das griechische Heer zum Zug gegen Troja sammelte. Hier brachte er Agamemnons kleinen Sohn Orestes in seine Gewalt (der Kohlenkorb der acharnischen Köhler! ) und erpresste so die Heeresversammlung, Achill von der Notwendigkeit zu überzeugen, als Heiler der selbst geschlagenen Wunde Telephos gesunden zu lassen. Zum Dank verriet Telephos den Griechen den besten Weg nach Troja. Im Kostüm dieses Erpressers und Vaterlandsverräters trägt Dikaiopolis, den Kopf auf einen Hackklotz gelegt, dem erbosten Köhlerchor seine Friedensargumente vor. Der Chor schlägt sich nunmehr auf seine Seite, Dikaiopolis verkündet die Eröffnung eines privaten Marktes. Dessen Segnungen werden im zweiten Teil der Komödie dargestellt: Dikaiopolis profitiert von der Friedensware, achtet aber darauf, niemanden von seinem Friedenswein kosten zu lassen. Schließlich wird er von der Polis Athen offiziell zum Trinkwettbewerb des Kannenfestes im Rahmen des Frühlingsfestes der Anthesteria eingeladen, siegt und kehrt zum Chor zurück, wo er seinen Konkurrenten, den in einem Scharmützel verwundeten General Lamachos, verhöhnt, um schließlich im Triumphzug aus der Orchestra getragen zu werden. 1 Der Protagonist der Acharner beansprucht schon durch seinen provokativen Namen „Dikaiopolis“ geradezu die Verkörperung eines gerechten und rechtmäßigen Staatswesens zu sein. Und doch ist er entschieden alles andere als ein „guter Bürger“, alles andere auch als ein „Heilsbringer in schweren Kriegszeiten“. 2 Uns mag seine entschiedene Anti-Kriegshaltung auf den ersten Blick sympathisch sein: Hören wir aber aufmerksam auf seine Gründe, so beruht sein scheinbares Engagement nicht etwa auf einer Abneigung gegen Massensterben und imperialistisches Imponiergehabe und vaterländische Rhetorik, sondern in erster Linie darauf, dass er seine frühere wirtschaftliche Autarkie auf dem Lande, in seinem Demos, vermisst (Ach. 27-36). Entsprechend feiert er, als sein privater Friede gewon- 1 Grundlegend zu den Acharnern: Edmunds, L.: „Aristophanes’ Acharnians“. In: Yale Classical Studies 26 (1980), S. 1-41. Der jüngste Kommentar stammt von Olson, S. D.: Aristophanes’ Acharnians. Oxford 2002. Eine Übersicht zum Stück und seiner Deutungsgeschichte bei Möllendorff, P. v.: Aristophanes. Hildesheim 2002, S. 63-70. Übersetzungen folgen der Übersetzung von Ludwig Seeger (1845-48, zit. n. dem ND Zürich 1952). 2 Zur Negativität der Figur des Dikaiopolis vgl. etwa Bowie, A. M.: Aristophanes. Myth, Ritual and Comedy. Cambridge 1993, S. 33; Edmunds 1980; Grava, S.: „I mercanti in scena. Scene episodiche negli Acarnesi di Aristofane“. In: Patavium 13 (1999), S. 17-46. Die Forschung zur Ambivalenz der Figur ist breit referiert bei Brockmann, C.: „Der Friedensmann als selbstsüchtiger Hedonist? Überlegungen zur Figur des Dikaiopolis in der zweiten Hälfte der Acharner“. In: Ercolani, A. (Hrsg.): Spoudaiogeloion. Form und Funktion der Verspottung in der aristophanischen Komödie. Stuttgart u. a. 2002, S. 255-272. <?page no="32"?> 32 peter von möllendorff nen ist und er sich wieder in seinen Demos hat zurückbegeben können, die Möglichkeiten eines ungehemmten Wohllebens (Ach. 271-279). Dies ist ein Thema, das dann in der Antodé des Chores in der Parabase noch einmal mit deutlichen Worten aufgegriffen wird (Ach. 665-675). Dikaiopolis’ eigentliches Ziel, für das der Friedensschluss letztlich nur das Mittel zum Zweck darstellt, ist entsprechend die Etablierung eines von kriegsbedingten Wirtschaftssanktionen ungehemmten Marktes (Ach. 623-625). Die Gründe für Dikaiopolis’ pazifistisches Engagement sind also nicht ideologischer, sondern pragmatischer Natur, und seine Entlarvungsstrategien gegenüber betrügerischen Politikern in der Volksversammlung dienen vor allem diesem konkreten Zweck und sind nicht einem politischen Machtwollen geschuldet. Er will Wohlleben für sich, denn selbst wenn er zu Beginn noch den Niedergang der Polis insgesamt beklagt (Ach. 27-28), so ist doch, als er seinen Frieden gewonnen hat, von Solidarität mit den übrigen Bürgern keine Rede mehr. Zwar evoziert er, solange es um die Durchsetzung seiner Pläne geht, gemeinsame Interessen (Ach. 607-617). Vom Friedenswein anderen Notleidenden abgeben will er aber später denn doch nicht, sieht man von der (vielleicht eher der Möglichkeit eines obszönen Witzes geschuldeten) Ausnahme der Braut ab, die den Phallos ihres frischgebackenen Ehemanns nicht entbehren möchte und ein wenig vom Friedenswein abbekommt, weil sie „als Frau keine Schuld trägt am Krieg“ (1058-1066; 1062). 3 Aufs Ganze gesehen gilt: Der Friedenswein ist für Dikaiopolis, die anderen mögen sehen, wo sie bleiben. Ist Dikaiopolis, der sich so gegen die Mehrheitsverhältnisse seines Gemeinwesens wendet, der Verträge schließt, als ob er allein für sich ein eigenes Staatswesen wäre, und der zur Pflege einer Solidargemeinschaft entschieden nicht bereit ist, denn dann überhaupt noch ein Bürger? Ist er nicht eher, aus athenischer Sicht, ein a-polis, ein staatenloser Mensch? 4 Gegen eine solche Annahme spricht dreierlei. Erstens: Er setzt sich mit den acharnischen Köhlern nicht so auseinander, als habe er nichts mit ihnen zu tun, sondern in einer Art und Weise, die die basisdemokratischen Verfahren der Polis Athen geradezu ins Extrem treibt, denn er ist bereit, sich „mit dem Kopf auf dem Hackklotz“ auch dem radikalen Willen einer politischen Mehrheit zu beugen. Zweitens: Sein weiteres Handeln erscheint kultisch sanktioniert, denn er begeht als erste Friedenshandlung das Fest der Ländlichen Dionysien und nimmt gegen Ende des Stückes am Anthesterienfest teil. Teilhabe am Kult bedeutet in jener Zeit bekanntlich aber immer auch Teilhabe am politischen Leben; Kultausübung, also 3 Vgl. Brockmann 2002, S. 270. 4 Platon: Leges 12,955b8-c5 verlangt die Ahndung privater Friedensschlüsse mit der Todesstrafe. <?page no="33"?> wie man kein bürger wird 33 etwa das Opfer, ist integraler Bestandteil öffentlichen Lebensvollzuges. Nirgends wird dieser Sachverhalt so deutlich sichtbar wie bei den großen Götterfesten der Athenäen und der dionysischen Kultfeiern, den Lenäen und den Großen Dionysien, mit ihrer unauflöslichen Kombination von kultischen, politischen und künstlerischen Handlungen. Drittens sieht Dikaiopolis sich selbst keineswegs als apolis. Vielmehr antwortet er auf General Lamachos’ drohende Frage nach seiner Identität (Ach. 593-597), er sei kein Bettler, sondern ein 8 , ein „guter Bürger“, wobei das Attribut bereits im Sinne der dann folgenden Erklärungen ( , (deutsch etwa: braver Lanzenträger, kein Ämtchenjäger) impliziert, dass er sich um die Polis verdient gemacht hat, dass er sich in ihren Dienst gestellt hat. Und diese Eigenbestimmung wird nicht einmal von Lamachos in Frage gestellt. Andererseits ist klar, dass er zugleich auch kein Bürger mehr ist, jedenfalls nicht im eigentlichen, gewissermaßen staatsrechtlichen Sinne des Wortes. Den Kult der Ländlichen Dionysien begeht er allein oder doch nur im Kontext seines Oikos, wählt also eine zu kleine und damit inadäquate Kultgemeinschaft; man mag sogar zweifeln, ob hier das Postulat der Orthopraxie überhaupt noch erfüllt ist, aber dazu im Folgenden mehr. Des Weiteren eröffnet Dikaiopolis einen Markt und etabliert damit das Zentrum jedes antiken Gemeinwesens, aber er betreibt ihn allein (Ach. 719-728). Da er ihn im öffentlichen Raum abgrenzt und ihn auch wie einen solchen ausstattet, also nicht einfach privat betreibt, agiert er auch hier nicht „politisch“, also „wie ein Bürger“. Die Rechenschaft über seine Gründe schließlich legt er nicht unter seinem eigenen, bürgerlichen Namen ab, sondern unter Annahme der Identität des Königs Telephos, also mit Rekurs auf ein artenfremdes politisches System. Nimmt man all dies zusammen, so wird man sagen dürfen, dass Dikaiopolis durch seine singuläre Aktion Nicht-Bürger geworden und zugleich Bürger geblieben ist: kurz, ein Bürger in margine, ein Bürger auf der Grenze zum Nicht-Bürger. Und dies bleibt er bis zum Schluss. Denn die finale offizielle Einladung zum Polis-Fest der Anthesterien ergeht zunächst an das ganze Volk (Ach. 1000-1004), und Dikaiopolis fühlt sich, wie alle anderen Bürger, angesprochen; dann ergeht sie aber ein zweites Mal an Dikaiopolis allein, und nun in größerer Eindringlichkeit (Ach. 1085-1094). Er wird hier also einerseits als Bürger, andererseits aber erkennbar anders als die athenischen Bürger behandelt, so dass man seine Teilnahme am Fest der Polis nicht einfach als Reintegration des Aussteigers verstehen darf. Vielmehr hat Aristophanes das Anthesterienfest deshalb als Ambiente für das Finale seines Stückes gewählt, weil der zweite Festtag, das Kannenfest (Choen) - zu dessen Feier Dikaiopolis (Ach. 1000) geladen wird -, in <?page no="34"?> 34 peter von möllendorff eigentümlich gemeinschaftsverleugnender Weise begangen wurde: 5 Am Trinkwettbewerb nahm man mit seinem eigenen Trinkgeschirr teil, man saß allein an einem Tisch, es wurde nicht gescherzt, geredet und gesungen, kurz: An den Choen praktizierte die Polis eine Art zu feiern, wie sie zu anderen Festen und nicht zuletzt zum üblichen Ablauf eines Symposions, der institutionalisierten Trink- und Mahlgemeinschaft der männlichen Bevölkerung, in einem größeren Gegensatz nicht hätte stehen können. Aitiologisch begründete man diese Besonderheit des Kannenfestes aus dem Atridenmythos: Orest, der Sohn Agamemnons, sei zu seinem Prozess wegen Muttermordes vor dem Areopag nach Athen gekommen, die Polis habe ihn einerseits würdig empfangen wollen, sich andererseits aber vor der Berührung und Begegnung mit dem unreinen, noch nicht entsühnten Mörder gescheut, und die spezielle Art, das Fest zu begehen, sei genau dieser Ambivalenz der Frage nach dem politisch Gebotenen entsprungen. Wenn mit Dikaiopolis’ Einladung zum Kannenfest also auf jenen Orestes- Mythos angespielt war, so zeigt dies, dass das Finale weder einen mit der Polis versöhnten Bürger noch einfach einen ausländischen VIP vorführen sollte, sondern eine Figur, die ihre Randständigkeit beibehielt, eine (im doppelten Sinne des Wortes) „Exklusivität“, die durch Dikaiopolis’ Sieg beim Wetttrinken noch bestätigt wird. Diese Grenzbefindlichkeit der Protagonistenfigur wird nun noch dadurch unterstrichen, dass kein anderes Motiv im Stück so intensiv und umfangreich elaboriert wird wie das des Rollen- und Maskenwechsels, ja mehr noch: des Theaters. 6 Wenn auf Orestes nur implizit angespielt wird, so arbeitet Aristophanes demgegenüber Dikaiopolis’ Bezugnahme auf den Telephos-Mythos ausdrücklich und in aller Breite aus. Er lässt seinen Helden eigens in einem schnellen Ortswechsel von seinem Landgut zum Stadthaus des Tragikers Euripides gelangen (Ach. 201-202) und ihn sich in einer eigenen Szene mit Kostüm und Requisite der tragischen Figur ausstatten (Ach. 358-479). Schon die Anlage dieser Szene als solche streift in selbst für die Wahrscheinlichkeitsverhältnisse der Alten Komödie drastischer Art und Weise das Abstruse: Ein Bauer leiht sich vor den Augen und 5 Dies ist ausführlich dargelegt bei Fisher, N. R. E.: „Multiple Personalities and Dionysiac festivals: Dicaeopolis in Aristophanes’ Acharnians“. In: Greece & Rome 60 (1993), S. 31-47 (spez. 42-44). Vgl. zum Kannenfest weiterhin Burkert, W.: Homo Necans. Berkeley/ Los Angeles 1983, S. 218-223. Ausführlich wird die rituelle Anpassung des Kannenfestes referiert von Phanodemos, FGrHist 325 F 11; vgl. auch Euripides: Iph. Taur. V. 945-954. 6 Vgl. hierzu Foley, H. P.: „Tragedy and politics in Aristophanes’ Acharnians“. In: Journal of Hellenic Studies 108 (1983), S. 33-47; vor allem Goldhill, S.: The Poet’s Voice. Cambridge 1991, S. 186-201; Möllendorff, P. v.: Grundlagen einer Ästhetik der Alten Komödie. Aristophanes und Michail Bachtin. Tübingen 1995, S. 223-235. <?page no="35"?> wie man kein bürger wird 35 Ohren eines feindseligen Publikums, das er von der Lauterkeit seiner Absichten überzeugen will, die Maske eines Betrügers und Vaterlandsverräters, und das auch noch bei einem Dichter, der gerade für das sophistische Argumentieren seiner Figuren bekannt und partiell verschrien war. Fragt man nach dem Grund für eine solche provokative Anlage der Handlungsführung, fragt man also danach, warum gerade das Theaterhafte, der Inszenierungscharakter der folgenden Überredungsszenen so sehr hervorgehoben wird, so lässt sich nur folgende Antwort denken: Aristophanes muss daran gelegen gewesen sein, die schiere Tatsache des Theaterspielens, mehr noch: die Tatsache, dass gerade jetzt und hier Theater gespielt wird, den Zuschauern in aller Deutlichkeit, weit über bloße Assoziationen hinaus, vor Augen zu stellen. Und es ist auch von vornherein klar, um was für eine Art Theater es sich handelt: nämlich um Komödie, denn nicht nur lässt Dikaiopolis Euripides gegenüber alle fiktional an sich doch gebotene Höflichkeit vermissen, ja macht sich geradezu einen Spaß daraus, den Tragiker kräftig durch den Kakao zu ziehen, sondern gibt auch in seinen folgenden Reden jeden tragischen Duktus zur Gänze auf. Nun scheint die Feststellung, dass hier gezeigt wird, dass komisches Theater gespielt wird, einer gewissen Banalität zunächst nicht zu entbehren. Denkt man den Gedanken jedoch zu Ende, so wird die Beobachtung brisanter: Soll die Fokussierung des Metatheaters nämlich nicht selbstgenügsam sein und ihr Zweck nicht in bloßer lachenerregender Illusionsdurchbrechung aufgehen, sondern über sich selbst hinausweisen, so muss man annehmen, dass es hier womöglich weniger um die politische Frage nach Krieg und Frieden geht, als darum, das komische Spiel selbst zum eigentlichen Thema der Komödie zu machen. Nach dem Grund hierfür wird noch zu fragen sein. Geht es in den Acharnern in erster Linie um die Komödie, dann doch wohl vor allem um die Komödie des Aristophanes selbst. 7 Dies zeigt in aller Klarheit jene Rede, die Dikaiopolis im Anschluss an die Euripides- Szene mit dem Kopf auf dem Hackblock hält (Ach. 497-556). Sie beginnt wie folgt (Ach. 497-508): 8 7 Entsprechend ist in der Forschung bisweilen sogar angenommen worden, Aristophanes selbst habe die Rolle des Dikaiopolis gespielt, so etwa schon Bailey, C.: „Who played Dicaeopolis? “. In: Greek Poetry and life: essays presented to Gilbert Murray. Oxford 1936, S. 231-240; als communis opinio darf wohl weiterhin die Auffassung gelten, Dikaiopolis repräsentiere Aristophanes: vgl. zuletzt Ercolani, A.: „Dikaiopolis: Aristophanes oder Eupolis? “. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N. F. 27 (2003), S. 15-20 und Brockmann, C.: Aristophanes und die Freiheit der Komödie. München 2003, S. 156-174. 8 Ausführliche Analysen der Rede bei Goldhill 1991, S. 188-196; Möllendorff 1995, S. 223-235. <?page no="36"?> 36 peter von möllendorff 8 8 >? 8 8 8 ? 8 8 8 >8 8 8 8 8 8 ? 8 8 6 500 8 8 8 8 8 6 8 8 8 8 ? 8 8 6 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 6 8 8 8 8 8 >8 ? 505 8 8 @8 8 8 8 8 >8 8 8 8 8 @ >8 8 8 8 8 @ 8 8 8 8 8 8 6 9 In diesen ersten zwölf Versen klingt nur kurz die eben erst mühsam ergaunerte Rolle des Telephos an, wenn Dikaiopolis auf seine Bettlerverkleidung (498) hinweist. Aber anstelle des Telephos spricht nicht etwa der Protagonist selbst; vielmehr spricht hier zunächst ein komischer Schauspieler, der die „Zuschauer“ ( 8 : 497) anredet, dann anstatt auf die zuhörenden Köhler allgemein auf die Athener ( : 498) hinweist und zuletzt explizit gleich zweimal (499, 500) sagt, er spiele - in komischer Verballhornung des Gattungsbegriffs der - Trygödie, , also Komödie; mit dieser Formulierung - trygodía bedeutet etwa „Weinhefegesang“ - spielt die Komödie in ironischer Selbsterniedrigung auf ihren unernsten, niedrigen Charakter im Vergleich zur Tragödie an. Hier und im folgenden Vers (500, 501) kommt als weitere Stimme diejenige des Protagonisten Dikaiopolis selbst hinzu, der pointiert von der Gerechtigkeit - , - dessen spricht, was er zu sagen gedenkt, doch schon in den folgenden beiden Versen (502, 503) wechselt die Sprecherinstanz erneut: Jetzt beklagt sich „jemand“, er sei von dem führenden athenischen Politiker Kleon verleumdet worden, er mache die Polis in Anwesenheit von Fremden schlecht. Bedenken wir, dass Aristophanes im folgenden Jahr 424 die Ritter auf die Bühne brachte, in denen er über Kleon allen Spott ausgoss, dessen er fähig war, und dass er im Vorjahr 426 mit den Babyloniern bereits eine (erfolgreiche) erste Anti- Kleon-Komödie gegen dessen aggressive, bündnisfeindliche Außenpolitik verfasst hatte, so kann dieser Jemand wohl nur Aristophanes selbst sein, 9 Verargt mir nicht, ihr Männer von Athen/ Dort auf den Bänken, wenn ich armer Tropf’/ Von Staatsgeschäften sprech’ in der Komödie./ Wahrheit und Recht verficht auch die Komödie./ Und was ich sag’, ist Wahrheit, klingt’s auch hart,/ Selbst Kleon soll mich diesmal nicht verklagen,/ Daß ich die Republik vor Fremden schmähe; / Wir sind hier unter uns am heut’gen Fest./ Noch sind die Fremden, die Tribute, noch/ Sind die Verbündeten nicht eingetroffen./ Wir sind hier lauter attisch reines Korn,/ Ohn’ alle Spreu und alle Hintersassen. <?page no="37"?> wie man kein bürger wird 37 der sich gegen den Vorwurf wehrt, er kritisiere die Polis im Rahmen seiner Aufführungen beim wichtigsten Kultfest des Dionysos, den Großen Dionysien, an denen ebenfalls Theater gespielt wurde. Diesen Vorwurf nämlich, so Aristophanes, könne man ihm diesmal nicht machen, da man ja, so heißt es in v. 504, gerade die Lenäen begehe; im Januar war nämlich die Schifffahrtsaison noch nicht eröffnet, und somit frequentierte eher die einheimische Bevölkerung das Theater, und es waren weniger Fremde anwesend. Tatsächlich spricht aber Aristophanes mit eigener Stimme nicht erst hier, sondern schon vom ersten Vers der Rede an, nur eben in verschiedenen Masken. Erstens: Wenn der Protagonist Dikaiopolis in v. 499 behauptet, er „mache“ Komödie ( 8 ), dann rekurriert er damit terminologisch eindeutig auf den , den Komödien„macher“ beziehungsweise -dichter, und selbst wenn die Idee, hierbei auf Grund des Protagonistennamens Dikaiopolis an Aristophanes’ berühmten Konkurrenten Eupolis zu denken, auf den ersten Blick verlockend sein mag, so bliebe doch unklar, was der nun in so prominenter Funktion im Werk seines schärfsten Widersachers zu suchen hätte. 10 Zweitens: Den damit verbundenen Anspruch, trotz der mangelnden Seriosität der Gattung dennoch zu wissen und auch zu sagen, was richtig und gerecht sei (vv. 500, 501), greift er später noch einmal auf. So heißt es im ersten Epirrhemation der Parabase, also in jener Partie, in der der Chor häufig im Namen des Dichters das Publikum anspricht, Aristophanes werde von seinen Feinden verleumdet, dass er die Polis verspotte (Ach. 630-631): Dies aber entspricht genau dem Vorwurf Kleons in den Worten des Dikaiopolis zu Beginn der Hackklotzrede. Und am Ende des Epirrhemations sowie in der Ode behauptet der Chor, Aristophanes werde für seine Polis nur Gutes bewirken, weshalb sie zu ihm stehen solle; er sei kein Polis-Feind, das Gerechte stehe auf seiner Seite, ganz gleich, was Kleon behaupte (Ach. 655-664). Dabei verwendet er in v. 655 die schwer zu übersetzende Formulierung 8 8 , was sich einerseits so verstehen lässt, dass Aristophanes über das Gerechte spotte, andererseits aber auch besagt, dass er in seiner Komödie das Gerechte ausspreche, und zumindest diese letzte Behauptung, zusammen mit den Erwähnungen Kleons und der Polis in der Ode, übernimmt ebenfalls den Anspruch des Dikaiopolis vom Anfang der Hackklotzrede. Figuren- und explizite Dichterrede stimmen also sehr weitgehend überein, und so wird man Aristophanes nicht nur 10 So erstmals Bowie, E. L.: „Who is Dicaeopolis? “. In: Journal of Hellenic Studies 108 (1988), S. 183-185; ausführlich aufgearbeitet und meines Erachtens schlüssig widerlegt ist diese These bei Ercolani 2003. <?page no="38"?> 38 peter von möllendorff als den komischen Dichterkollegen des Euripides ansehen dürfen, der sich bei ihm unter Witzen und Spötteleien ein Kostüm ausleiht, sondern auch als denjenigen, der in der Hackklotzrede das Wort ergreift und sich gegen den Vorwurf mangelnder political correctness zur Wehr setzt. Die Figur des Dikaiopolis verkörpert alles Mögliche, aber in herausragender Weise auch den Dichter Aristophanes selbst. Ich möchte im Folgenden die These zur Diskussion stellen, dass die eben beschriebene Einholung der metapoetischen Spielebene schon vor der Euripides-Szene einsetzt, nämlich - diesem prominenten Text wende ich mich jetzt zu - im Zusammenhang mit der Feier des Phallosumzuges im Rahmen der Ländlichen Dionysien, die Dikaiopolis auf seinem Landgut begeht. Der Chor, auf der Suche nach dem verräterischen Friedensfreund, ist dem Haus des Dikaiopolis schon nahe gekommen; als er Dikaiopolis in Vorbereitung seiner kultischen Begehung herauskommen hört, versteckt er sich (Ach. 241-283): 8 A 6B8 ? 8 6 8 >8 8 8 8 ? 8 8 6 8 8 8 8 8 8 6 8 8 8 ? 8 8 ? 8 >8 6 8 A B 245 8 8 ? 8 8 8 8 ? 8 >8 8 8 8 6 8 A 6B8 8 8 8 >8 >68 8 8 ? 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 250 8 8 8 8 >8 8 ? 8 8 ? 8 8 8 8 8 8 8 8 6 8 >? 8 8 ? 8 8 8 8 8 8 8 8 68 8 255 8 8 >8 8 8 8 8 8 8 ? 8 8 8 6 8 ? 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 6 8 8 ? 8 8 >8 8 8 260 8 8 8 8 8 @ 8 8 >8 8 8 8 @ 8 8 >? 8 8 ? 8 8 >8 8 8 68 6 8 ? 8 8 ? 8 ? 8 0 265 8 ? 8 ? 8 ? 8 8 8 >8 8 8 <?page no="39"?> wie man kein bürger wird 39 8 8 8 8 ? 8 8 8 0 8 ? 8 8 8 8 270 8 8 8 6 8 8 8 >8 ? 8 8 8 ? 8 8 >8 8 ? 8 8 8 8 8 8 ? 8 8 >? 8 ? 8 0 275 8 8 6 8 8 ? 8 8 >8 8 ? 8 8 8 8 8 8 @ 8 8 >8 8 8 8 8 6 280 8 A 6B8 8 8 ? 8 @ 8 ? 8 ? 8 ? 8 ? 8 8 8 8 6 8 8 ? 8 8 ; 11 Dass wir in Dikaiopolis’ Umzug ein zumindest in weiten Zügen authentisches Ritual ausgespielt sehen, zeigt der Vergleich mit der Beschreibung einer Phallophorie, die uns (wahrscheinlich im ausgehenden 3. Jahrhundert vor Christus) bei dem Periegeten Semos von Delos gegeben wird: 12 11 (Dikaiopolis) Stille Andacht, stille Andacht! / Tritt mit dem Opferkorb da vor, und du/ Halt mir den Phallos aufrecht, Xanthias! / Stell ab den Korb, mein Kind; wir fangen an./ (Tochter) Gib mir den Löffel, Mutter, meinen Kuchen/ Muß ich mit Bohnenbrei erst überstreichen./ (Di) So, so! - Und nun, allmächt’ger Dionysos,/ Laß mir gefallen unsern frommen Gang/ Um den Altar und dies Familienopfer; / Laß mich mein Dionysosfest in Ruh’/ Hier auf dem Land begehn, erlöst vom Krieg,/ Und segne mir den dreißigjähr’gen Frieden! / Heb auf den Korb und trag ihn hübsch, du Hübsche; / Sieh drein, als hätt’st du Pfefferkraut im Mund,/ So! Glücklich ist der Mann, der einst dich kost,/ Daß du am Morgen duftest, wie ein Wiesel! / Geh nun und sieh dich im Gedränge vor,/ Daß sie dir nichts von deinem Goldschmuck mausen! / Den Phallos aufrecht, Xanthias! Ihr folgt/ Dem Mädchen mit dem Körbchen auf dem Fuß; / Ich singe hinterdrein das Phalloslied; / Frau, steige du aufs Dach und sieh uns nach! / Vorwärts! Phales, des Bakchos Spießgesell,/ Nachtschwärmer, lust’ger Zechkumpan,/ Eh’brecher, Knabenschänder! / Vergnügt zum ersten Male seit/ Sechs Jahren/ Grüß’ ich dich, ins Dorf/ Zurückgekehrt mit dem Traktat./ Juhe, an Krücken geht der Krieg,/ Und lahm ist selbst der Lamachos./ Denn zehnmal lust’ger ist’s doch, Phales, gelt? / Des Nachbars runde Thrakermagd beim Freveln/ Im Phelleuswäldchen zu erwischen und -/ Rundum um den Leib zu packen, zu heben,/ Ins Gras zu werfen, zu zücht’gen, ha,/ Phales, Phales! / Und willst du mit uns trinken, kriegst du morgen/ Ein Schlückchen Friedenswein im Katzenjammer,/ Und Schild und Spieß, die häng’ ich in den Rauch./ (Chor) Ja, er ist’s, er ist derselbe; / Steinigt, steinigt, steinigt, steinigt,/ Haut ihn, haut ihn, den Halunken,/ Ohne Gnad’, ohne Gnad’! 12 Semos v. Delos, ap. Athenaios: Deipnosophistai 14, 26 (622B -D) [= FGrHist 396 F 24, Z. 20-Ende]. <?page no="40"?> 40 peter von möllendorff C 8 8D8 8 8 8D8 8 8 8E F8 8 8 8 ? 8 8 8 8 8 ? 8 8 8 8 8 ? 8 8 8 8 8 8 @8 8 8 8 ? 8 8 8 8 ? 8 8 8 8 8 8 8 8 8 ? 8 8 @ 8 ? 8 ? 8 8 8 ? 8 8 8 8 8 ? 8 ? 8 ? 8 8 8 8 8 8 ? 8 >8 8 8 8 6 8 8 ? 8 8 8 ? 8 8 8 @8 8 8 8 8 8 8 . 13 Semos unterscheidet hier mit Autokabdaloi, Ithyphalloi und Phallophoroi drei dionysische Kultgruppen, deren Auftreten, 14 Kostüme, Masken und Lieder in der Forschung verschiedentlich mit den Ursprüngen der Komödie in Verbindung gebracht worden sind, wobei der berüchtigte Passus aus der Aristotelischen Poetik (1449a9-14), wonach die Komödie aus Stegreifdarbietungen der Anstimmer der Phallos-Kultlieder, der 8 8 , hervorgegangen sei, den entscheidenden Impuls lieferte: Das Theater als Ort der Performance, Publikumsspott, Verwendung des iambischen Metrums, der Einsatz von Masken, die prominente Rolle des Phallos, der Wechsel von chorischer Bewegung und chorischem Stand, schließlich aber auch der Anspruch auf Einmaligkeit und Originalität der Darbietung sprechen in der Tat für eine solche Verbindung. 15 13 „Die Autokabdaloi … Die Ithyphalloi … Die Phallophoroi tragen keine Masken, legen jedoch eine Art Visier aus Quendel und Paideros („Knabenschön“) an und setzen einen rauhen Kranz obendrauf aus Veilchen und Efeu. In dicke Mäntel eingehüllt treten die einen aus der Parodos, die anderen mitten durch die Türen auf, wobei sie im Takt schreiten und sagen: Dir, Bakchos, zur Ehre singen wir dieses Musenlied, einen einfachen Rhythmus mit einer schnellen und [bunten Melodie mischend, ein neues, jungfräuliches, das alte Gesänge überhaupt nicht verwendet, sondern einen [unvermischten Hymnos beginnen wir. Dann stürmen sie nach vorn und necken diejenigen, die sie sich ausgesucht haben, und das machen sie im Stehen; der Phallosträger geht geradeaus weiter, mit Ruß beschmiert.“ 14 Argumente dafür, dass sich Semos’ Beschreibungen auf athenische Kultpraktiken beziehen, bei Sourvinou-Inwood, C.: Tragedy and Athenian Religion. Lanham 2003, S. 78. 15 Sourvinou-Inwood 2003, S. 174-176 nimmt an, dass zur Genese der Komödie alle drei von Semos genannten Kultgruppen beigetragen hätten. Bierl, A.: Der Chor in der Alten Komödie. Ritual und Performativität. München 2001, S. 319 und 323- 324 plädiert ebenfalls für eine solche Verbindung zwischen Ritual und Komödie. <?page no="41"?> wie man kein bürger wird 41 Dramaturgisch betrachtet, trägt es daher zur motivischen und kultischen Homogenität der Aufführung bei, dass Aristophanes seinen Protagonisten gerade ein phallophorisches Ritual durchführen lässt, das in einigen Details der Schilderung des Semos entspricht, ohne dem bei jenem beschriebenen Ritual vollständig zu korrespondieren. 16 Auch Dikaiopolis kommt - wie ein Teil der Phallophoren bei Semos - aus der Tür des Skenegebäudes, während der Chor, wie die übrigen Phallophoren, die Orchestra durch eine Parodos betritt. Dikaiopolis’ Lied ist wie das Lied der Phallophoren in iambischen Metren gehalten; und auch sein Lied richtet sich, wenigstens anfänglich, an Dionysos. 17 Schließlich wird in beiden Begehungen der kultische Phallos von einem einzelnen Träger getragen. Weitere Details der Phallophorie berichtet Plutarch (etwa: Mitführen des Korbes; Aufstellung des Phallosträgers), 18 und auch sie stimmen mit dem überein, was wir Aristophanes entnehmen können. Mit den Phallophoren des Semos hat Dikaiopolis’ Lied überdies die spöttische Tendenz gemeinsam: Wie sich der Spott der authentischen Phallophoren gegen Individuen aus dem Publikum richtet, so verspottet Dikaiopolis in v. 270 Lamachos, in v. 273 einen Strymodoros, schließlich in v. 279 - >8 8 8 8 8 8 / „Jedoch der Schild soll hängen im Rauchfang - global alle Anhänger des Krieges.“ Dies erst treibt die Provokation auf die Spitze und zwingt den Köhler- Chor zum Eingreifen, und genau an dieser Stelle wird der Unterschied zwischen der Aristophanischen und einer authentischen Phallophorie am deutlichsten sichtbar, nämlich in der zu einer Auseinandersetzung geratenden Differenzierung von Einzeldarbieter und Chor. Nehmen wir das erwähnte Aristoteles-Zeugnis ernst, so wurde das Phallikon wohl von einem Chor, der Refrains sang, und einem Vorsänger, eben dem , vorgetragen. In den Acharnern hingegen muss nicht nur Dikaiopolis den gesamten Gesang allein übernehmen, sondern der Chor tritt als sein Gegner auf. Genau dies stellt aber ja auch das Grundproblem aller Rekonstruktionen der Ursprünge der Komödie dar: Um nämlich von chorischen Spottliedern in phallischen Kontexten zur Komödie zu gelangen, bedarf es des wesentlichen Hinzutretens des komischen Schauspielers, 19 der sich 16 Vgl. so bereits Pickard-Cambridge, A.: Dithyramb, Tragedy and Comedy. Oxford 1 1927, 2 1962 (revised by T. B. L. Webster), S. 146-147. 17 Zu weiteren Ähnlichkeiten dieses Liedes mit erhaltenen Phallika-Resten vgl. Kugelmeier, C.: Reflexe früher und zeitgenössischer Lyrik in der alten attischen Komödie. Stuttgart u. a. 1996, S. 153-154 sowie zur Analyse der bei Semos überlieferten beiden Phallika Bierl 2001, S. 325-346. 18 Plutarch: De cupiditate divitiarum 527d. 19 Vgl. zur Entstehung der Komödie auch Möllendorff 2002, S. 40-44 sowie Pickard- Cambridge 1 1927, 2 1962, S. 186-187. <?page no="42"?> 42 peter von möllendorff nicht unmittelbar aus der Institution des Vorsängers ableiten lässt, 20 und gerade für ihn bietet uns Semos keinen Anhaltspunkt. Zur Plausibilisierung meiner Behauptung, Aristophanes ziehe jene später so evidente und weitflächige Ebene komischer Metapoetik schon an dieser Stelle ein, 21 fehlt also noch ein entscheidender Schritt. Zwei Details seiner Inszenierung der Phallos-Prozession lassen jedoch vielleicht aufhorchen. In den Versen 271 und 275, also zweimal, ruft Dikaiopolis den personifizierten Phallos mit den Worten 8 ( ) an. In 280 springt ihm der Chor entgegen, bewirft ihn mit Steinen, und die Choreuten ermutigen sich gegenseitig mit der ebenfalls zweimaligen Frage 8 . Tatsächlich sind diese beiden exponierten Formulierungen einander nicht nur metrisch gleich - es handelt sich in beiden Fällen um eine kretische Silbenfolge, sondern einander auch lautlich immens ähnlich, wenn man bedenkt, dass in der Epoche des Aristophanes noch als behauchter Plosiv und die Digraphie als geschlossenes langes [e] ausgesprochen wurde: Einander gegenüber standen dann [ $ b % l # s] und [ ! ph % l # s]. Wenn diese starke lautliche Ähnlichkeit vom Publikum wahrgenommen wurde, dann konnten die Zuhörer die Rufe des Chores womöglich als (im Augenblick noch feindselige) Antwort auf das Lied des „Vorsängers“ Dikaiopolis deuten. Ein solches Verständnis lässt sich noch durch eine weitere Beobachtung stützen. Semos von Delos berichtet ja, dass der Phallophoros 8 , mit Ruß eingeschmiert, einherschritt. Dabei wurde der Ruß kaum nur auf das Gesicht aufgetragen, es dürften vielmehr auch weitere Körperpartien entsprechend geschminkt gewesen sein. 22 Dann aber könnte die Tatsache, dass Aristophanes seinen Chor gerade aus Köhlern bestehen ließ und das Äußere der Chorsänger daher sicherlich entsprechend rußig gestaltet haben dürfte, eine unvermutete Relevanz gewinnen. Denn gleichgültig, ob Dikaiopolis’ Sklaven, die den Phallos getragen hatten, ebenfalls eingerußt waren oder nicht: Sie beide ebenso wie Dikaiopolis’ 20 Schwierig zu deuten ist in diesem Zusammenhang das Zeugnis des Philomnestos (FGrHist 527 F 2) bezüglich eines (pace Sourvinou-Inwood 2003, S. 174 kaum zu datierenden) Antheas von Lindos, der (auf Rhodos? ) sowohl Komödien als auch „viele andere Dichtungen dieser Art verfasste, die er als Vorsänger zwischen seinen Phallophoroi anstimmte.“ Hieraus muss man nicht ableiten, dass der Vorsänger mit dem komischen Schauspieler identisch war; Antheas mag durchaus sowohl frühe Formen der Komödie als auch dionysische Kultlieder verfasst haben: Der Begriff exarchon macht jedenfalls für die entwickelte Komödie nur Sinn, wenn man in ihm den - klassisch als koryphaîos bezeichneten - Chorführer sieht. 21 Sourvinou-Inwood 2003, S. 173 versteht die durchgehende Metatheatralizität der Archaia sogar als literarische Reminiszenz kultischer Durchmischung von Performern und Publikum in den rituellen kômoi der Großen Dionysien, aus denen sie die Protokomödie hervorgehen sieht. 22 Zur kultischen Bedeutung der schwarzen Farbe vgl. Bierl 2001, S. 324 A. 68. <?page no="43"?> wie man kein bürger wird 43 Tochter werden die Bühne beim Auftauchen der wütenden acharnischen Köhler schleunigst verlassen haben, und nun war Dikaiopolis umringt von einer Schar rußig-schwarzer Chorsänger. Die von ihm geschaffene private Welt war so in geradezu plakativer Weise eine verkehrte: In der „normalen“ Phallophorie trat der Chor geschmückt und herausgeputzt auf, während der einzelne Phallosträger eingerußt war; hingegen endet Dikaiopolis’ Phallosumzug mit der genau umgekehrten Verteilung von Putz und Ruß. Meine These ist also zweigeteilt. Zum einen meine ich, dass der Chor, der hier als Störenfried einzugreifen scheint, auf einer zweiten Ebene doch auch der zur Phallophorie gehörende Chor ist; und in der Tat wird sich sehr schnell zunächst eine Hälfte, dann bald auch der gesamte Chor auf Dikaiopolis’ Seite schlagen. Zu dieser These passt die von Semos berichtete performative Besonderheit, dass die Chorsänger in dem Augenblick, wo sie zur (wenngleich verbalen) Attacke übergehen, zu laufen beginnen, wie wir uns das ja auch für die Köhler vorzustellen haben, wenn sie Dikaiopolis angreifen. Zum anderen verunklart Aristophanes meiner Meinung nach, wie wir denn nun diese Phallophorie einschätzen sollen. Denn einerseits ist sie ein Ritual, dessen Durchführung offensichtlich suggeriert, dass der so ersehnte Friede tatsächlich Einzug gehalten hat. Andererseits wird dieses Ritual auf Grund der Tatsache, dass die zu seiner korrekten Durchführung notwendige „Gruppe“ von Kultausübenden fehlt, als defizitär charakterisiert. Mit dem Auftreten des Chores wird dann auf der einen Seite der durch das Ritual symbolisierte Friede und auch das Ritual selbst gestört; dabei ist sogar noch fraglich, wie stark man dieses Moment der Störung gewichten soll, ist doch etwa für die Ländlichen Dionysien im Bereich von Acharnai, also dem Herkunftsort des Köhlerchors, belegt, dass mehrere Performergruppen (kômoi) agonal gegeneinander an- und auftraten, 23 wenn auch die hier bezeugte Aggressivität und Gewalttätigkeit damit nicht wegerklärt werden kann und soll. Andererseits tritt durch die Störung überhaupt erst eine personelle Situation ein, die die korrekte Durchführung des Rituals ermöglichen würde. Dikaiopolis’ Phallophorie steht damit, wie der Protagonist selbst, auf der Grenze zwischen „richtig“ und „falsch“, zwischen gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion. Eine Vereindeutigung dieser ambivalenten Situation lässt Aristophanes erst am Ende seiner Komödie zu: Im Finale kehrt Dikaiopolis als Sieger vom Wetttrinken am Kannenfest zurück, offensichtlich mit zwei Hetären 23 Vgl. Deubner, L.: Attische Feste. Darmstadt 1962, S. 136 A. 4. Solche Agone dürften - ebd., S. 136 - bei Begehungen von Ländlichen Dionysien in attischen Demen häufiger gewesen sein, zum Teil wohl durchaus schon offizieller und mithin zu dokumentierender Natur: ebd., S. 137: nachweislich in Ikaria und Eleusis. <?page no="44"?> 44 peter von möllendorff im Arm, um vom Chor triumphal gefeiert aus der Orchestra zu ziehen. Der Text macht hier relativ deutlich, dass wir uns Dikaiopolis’ Kostümphallos dabei erigiert vorzustellen haben, fordert er doch die beiden Frauen auf, seinen Phallos in der Mitte zu fassen (1216) und sagt in 1220: 8 8 8 8 8 8 - „Ich will mit ihnen schlafen und habe einen stehen und will im Dunkeln bumsen.“ All dies weist meines Erachtens auf das Phales-Lied aus Dikaiopolis’ Phallophorie zurück: Dort hatte der Chor das Ritual als Gegner des Vorsängers unterbrochen, hier hingegen greift er die Selbstpreisungen und Spötteleien des Dikaiopolis gegen Lamachos sogar mit der zweimaligen Formulierung 8 und damit gleichsam wie mit einem Refrain auf und zieht hinter dem Protagonisten mit seinem erigierten Phallos wie in einer Prozession aus der Orchestra. Die Rückbezüglichkeit wird nicht zuletzt durch die Auffälligkeit unterstützt, dass es in der Phallophorieszene zwei Sklaven waren, die den Phallos trugen (v. 259), während es jetzt zwei Hetären sind, die Dikaiopolis und seinen Phallos stützen. 24 Gehen wir von diesem Ergebnis aus noch einen Schritt weiter. Wenn, wie eben erwähnt, Aristoteles die Entstehung der Komödie mit dem und seinen Sängern verbindet, so muss die Komödie als dramatische Handlung auch einen Handlungs-Ursprung gehabt haben. Sie konnte also nicht allein aus dem phallischen Kultlied hervorgehen, sondern nur aus dem Kultlied in Verbindung mit Aktionen der Sänger des Kultliedes. Tatsächlich beschreibt Semos von Delos aber ja genau eine solche Konstellation: Die Phallophoren singen in der Orchestra ein kultisches Lied und agieren dann den Zuschauern gegenüber mit Laufen, Stehenbleiben und Spotten. In den Acharnern treten die Kultbeteiligten - Dikaiopolis und der Chor der Köhler - darüber hinaus in Interaktion, in eine Auseinandersetzung zwischen Einzelnem und Gruppe, und erst aus ihr entspringt die eigentliche Handlung der Komödie: die Durchsetzung des zuvor wie von Zauberhand gewonnenen Friedens und seine Bewährung und Exemplifikation. Anders gesagt: Was in der kultischen Realität vereint ist - Vorsänger und Chor -, tritt in seiner dramatischen Repräsentation auseinander zu Protagonist und Chor, die erst zueinander finden müssen und tatsächlich dann auch erst am Ende der Komödie in einer Weise zusammengefunden haben, die offensichtlich wesentliche Motive des kultischen Vorgangs aufgreift und zum Abschluss bringt. Tatsächlich, so meine ich, inszeniert Aristophanes also mit der Phallophorie des Dikaiopolis mehr 24 Kugelmeier 1996, S. 151 sieht in der Tatsache, dass zum Tragen des Phallos statt des üblichen einen Trägers zwei Sklaven vonnöten sind, einen derben Witz; dessen obszöne Pointe würde dann ebenfalls durch das analoge Motiv der zwei Hetären, mit denen Dikaiopolis sich vergnügen will, wiederholt. <?page no="45"?> wie man kein bürger wird 45 als nur einfach einen ländlichen Ritus und seine Umgewichtungen sind auch nicht nur dramaturgischen Gründen geschuldet. 25 Vielmehr rekonstruiert er eine komödische Urszene mit Protagonisten und Chor als den elementaren Handlungsträgern der Alten Komödie. 26 Dies passt zu der alten Forschungsmeinung, dass der in den älteren Komödien noch häufige sogenannte „Agon nach der Parodos“ - die Auseinandersetzung zwischen Protagonist und Chor im Gegensatz zum späteren epirrhematischen Agon „in der Diallagé“ zwischen Protagonist und Antagonist 27 - eine Reminiszenz ursprünglicherer komischer Dramatik darstellt, die eben in einem Auseinandertreten von einer Gruppe (Chor) und einem Einzelnen (Protagonist) und ihrer späteren Wiedervereinigung bestand. 28 Das eindringliche und ausführlichst elaborierte Hervortreten der auktorialen Stimme im weiteren Verlauf des Stückes, wie ich sie im ersten Teil meiner Darlegungen beschrieben habe, wird also durch die Evokation quasi einer Geburtsszene des komischen Dramas eingeleitet. Diese wiederum wird am Ende des Stückes motivisch aufgegriffen und dort auch noch einmal metapoetisch aufgeladen, fordert Dikaiopolis in den letzten Versen doch, man solle ihn zu den Richtern und zum Archon Basileus hinaustragen, damit er dort den Weinschlauch als Siegespreis in Empfang nehmen könne: Dies dürfte sich gleichzeitig auf Dikaiopolis’ Sieg beim Wetttrinken, aber doch wohl auch, wie es ja für die Exodos nicht unüblich war, 29 auf den prognostizierten Sieg des Stückes im Komödienwettbewerb beziehen. Es geht offensichtlich also in den Acharnern mindestens ebenso um die Positionierung der Gattung Komödie wie um die Aushandlung der Frage nach Krieg und Frieden. Mehr noch: Das Auftreten des Dikaiopolis, sein Verdruss an der gesellschaftlichen Entwicklung, seine individuelle Ab- 25 Bierl 2001, S. 350-351. 26 Eine Proto-Komödie vermutet hier bereits Bierl 2001, S. 356-357, allerdings als „ein Hymnos mit mimischen Einlagen des , der hier freilich ohne Chor auftritt“, ebd., A. 137. Ein solches Verständnis versteht den Aristophanischen Text vielleicht zu sehr als authentisch dokumentarisch. Wir haben hier weniger eine Rekonstruktionsals vielmehr eine Konstruktionsleistung vor uns, die Schauspieler und Chor der voll entwickelten Komödie in ein kultisches Geschehen (rück)projiziert. 27 Zur Differenzierung dieser beiden Formen vgl. Gelzer, T.: Der epirrhematische Agon bei Aristophanes. München 1960, S. 37-72. 28 Vgl. Reckford, K.: Aristophanes’ Old-and-New Comedy. Chapel Hill/ London 1987, S. 441-498. 29 Vgl. Aristophanes: Friede 1353-1354, Ekklesiazusen 1168-1183. Vor und nach der Aufführung des Stückes trat auf einen Ruf des Herolds der Chor, wohl zusammen mit dem Choregen, in die Orchestra und trank Wein, der ihm eigens kredenzt wurde: Philochoros ap. Athenaios: Deipnosophistai 11, 464F (möglicherweise beziehen sich die dort verwendeten Begriffe für Aufbeziehungsweise Abtreten - und 8 - sogar auf die Parodos und die Exodos selbst). <?page no="46"?> 46 peter von möllendorff grenzung, seine Wendung zu Widerspruch und Kontroverse, schließlich seine Eroberung und Wahrung einer gesellschaftlichen Randposition, die einerseits als politisch desintegriert und auch integrationsunwillig auftritt, andererseits aber beansprucht - man denke allein noch einmal an den prätentiösen Namen des Protagonisten -, geradezu ein politisches Ideal zu verkörpern: All dies lässt sich, weit über den Anti-Kriegs-Plot einer einzelnen Komödie hinaus, genauso gut als konstitutive metapoetische Beschreibung der Stellung der Gattung Komödie in einem politischen Umfeld verstehen, in dem öffentliches Leben nicht nur die eigentlichen politischen Gremien, sondern auch jede künstlerische und kultische Aktivität umfasst. Denn diese Aktivitäten dürfen ja keinesfalls als private Rückzugsräume der athenischen Gesellschaft des 5. Jahrhunderts vor Christus angesehen werden, sondern stellen vielmehr elementare Betätigungsweisen im Leben der Polis-Gemeinschaft dar. Was Aristophanes mit den Acharnern leistet, ist, so betrachtet, die performative Entfaltung dessen, was Komödie für die Polis zu sein beansprucht: ein Artikulationsraum von Widerspruch gegen offizielle Politik, ein Schmelztiegel heterogener Rollen und widersprechender und widersprüchlicher Stimmen, ein Grenzort zwischen Konformismus und Opposition. Politische Identität, hier zu verstehen als Identität einer basisdemokratischen Polis-Gemeinschaft, bedeutet in komischer Sichtweise die Akzeptanz auch des Non-Konformismus. Dikaiopolis, die „gerechte Stadt“, steht für das Neben-, Mit- und Gegeneinander verschiedener Diskurse und Ansichten in der Polis, die nur dann als „gerecht“ bezeichnet werden kann, wenn sie diese Spannung auszuhalten vermag. Die Ambivalenz seines Charakters und seines Verhaltens gerät zum Symbol für die Meinungsvielfalt der demokratischen Polis, Kriegsgegner und Kriegsbefürworter existieren nebeneinander, und wer von beiden der Polis am meisten Nutzen bringt, bleibt offen: Die Rollen von ‚Gutmensch‘ und Bösewicht sind keineswegs eindeutig verteilt. Eingeschrieben in diese Polis ist schließlich auch die Komödie, die - so das Konzept des Aristophanes - weder ihr Ordnungszentrum bildet noch eine außerpolitische Instanz der moralischen Überlegenheit, der Kritik und der Belehrung darstellt, die nichtsdestoweniger aber den Anspruch zu erheben scheint, besser als jeder andere diskursive Teilraum der Polis gelungene politische Identitätsfindung zur Darstellung zu bringen und darüber hinaus in idealer, weniger argumentativer als vor allem performativer Art und Weise auch zu verwirklichen. Und diese Funktion von Komödie in der Polis ruht dann auch, so die Behauptung der Acharner, auf einem kultischen Fundament: Aus der rituellen Begehung der Phallophorie geht die Komödie ursächlich hervor, sie greift über in das Kannenfest der Anthesterien und mündet in den Triumph von Phallos und Weinschlauch. <?page no="47"?> Identität und Entgrenzung: Modelle von Gemeinschaft bei den Großen Dionysien im antiken Athen Susanne Gödde (München) Das Theater ist seit jeher ein kollektives Erlebnis, ein Theaterstück schaut man nicht alleine an, sondern als Teil einer größeren Gruppe, die sich je nach den historischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen anders zusammensetzt, größer oder kleiner ist, aus einander vertrauten oder aber aus grundsätzlich einander fremden Zuschauern besteht, aus Angehörigen einer einzigen privilegierten Gesellschaftsschicht oder eben aus solchen aller sozialen Gruppen einer Gesellschaft. Dabei wird wohl der einzelne Zuschauer, je nach Veranlagung und Bereitschaft, sich gegenüber dem Kollektiv zu öffnen, das auf der Bühne Gebotene in unterschiedlichen Graden als Individual- oder Gruppenerlebnis wahrnehmen, sich von den Regungen seiner Mitzuschauer mehr oder weniger affizieren und beeinflussen lassen. So divers und in sich heterogen aber diese Gruppe der Zuschauer auch sein mag, so wenig das Theatererlebnis an sich schon zu einer emotionalen und intellektuellen Gleichschaltung der Rezipienten führen kann, so sehr bringt dennoch der öffentliche und institutionalisierte Aufführungsort in fast allen Epochen der Theatergeschichte das Potential mit sich, das Theatererlebnis in höherem Maße zu einem Politikum, zu einem Ereignis der Öffentlichkeit werden zu lassen, als dies die Lektüre eines Romans sein kann. Die wechselvolle Geschichte dieser politischen Dimension des europäischen Theaters beginnt im Athen des sechsten Jahrhunderts vor Christus und erreicht ihren ersten Höhepunkt im Verlaufe des 5. Jahrhunderts, dem Jahrhundert der entstehenden Demokratie, in der öffentliche Verhandlungen an der Tagesordnung waren und Entscheidungen zunehmend dem Kollektiv überantwortet wurden. Der Sitzplatz in einer Volksversammlung oder in einem Gericht, der mit dieser aktiven Partizipation an den Belangen der Polis verbunden war, lässt sich mit der räumlichen Situation eines Theaters vergleichen, in dem die Zuschauer ebenfalls Zeugen <?page no="48"?> 48 susanne gödde von Konfrontationen zwischen streitenden Parteien wurden. Bis zu einem gewissen Punkt in der Entwicklung beider Institutionen fanden Volksversammlung und Theater sogar am selben Versammlungsort auf der Athener Agora statt. (Abb. 1) Wie stark war also die Kohäsionskraft des Theaters hinsichtlich der Erzeugung eines Gefühls aktiver und kollektiver Teilhabe an den Entscheidungen der Polis, und welche Parameter lassen sich anführen, die über den politischen Charakter des antiken Theaters genauer Aufschluss geben - „politisch“ dabei verstanden nicht im Sinne der Tagespolitik, sondern im Sinne der Schärfung eines politischen Bewusstseins und der Herausbildung einer aktiven Bürgerschaft? Und nicht zuletzt: Welchen Anteil an einem solchen potentiell politischen Verständnis von Theater hat der Umstand, dass die Dramen im Rahmen eines Dionysos-Festes zur Aufführung kamen? 1 Die Tatsache, dass das antike Theater innerhalb eines religiösen Kultes entsteht und fortlebt, hat in modernen Diskussionen eine große Sprengkraft entfaltet, scheint sie doch dem seit der Romantik prominenten Gedanken einer „Kunstreligion“ Vorschub zu leisten und der Kunst, in diesem Fall dem Theater, eine ganz eigene auratische Autorität zu verleihen. 2 Doch welche Spielart des Religiösen vertritt der Dionysos, unter dessen Patronat das antike Theaterfest stattfand? Und: Inwiefern macht sein Patronat das Fest auch zu einem politischen Ereignis im Sinne einer sich ausbildenden aktiven Kommunität? Die folgenden Überlegungen nähern sich der Frage nach der politischreligiösen Herstellung einer Theater-Gemeinschaft von drei Blickwinkeln aus: zunächst mit Blick auf die im Dionysos-Kult ausgebildeten Formen des Kollektiven; dann mit Hilfe einer knappen Rekonstruktion des Festablaufs und der Inszenierung von Bürgerschaft während des Festes; 1 Diese Frage wurde bereits eingehend behandelt von Anton Bierl, der in seiner Deutung des Dionysos vor allem die Verbindung zwischen Politik und Theater betont: Bierl, A.: Dionysos und die griechische Tragödie. Politische und metatheatralische Aspekte im Text. Tübingen 1991; zum Programm der Arbeit und der wichtigsten Forschungsliteratur siehe besonders S. 21-22 mit Anm. 61. 2 Der religiöse Charakter des antiken Theaters war etwa im 19. Jahrhundert insbesondere für Richard Wagner zentral. Dazu: Bremer, D.: „Kultspiel und Gesamtkunstwerk. Die Trilogie des Aischylos und Wagners Ring-Tetralogie“. In: Csobadi, P. u. a. (Hrsg.): Welttheater, Mysterienspiel, rituelles Theater. ‚Vom Himmel durch die Welt zur Hölle‘. Gesammelte Vorträge des Salzburger Symposiums 1991. Anif/ Salzburg 1992, S. 307-317; Meier, M.: Richard Wagners ‚Der Ring des Nibelungen‘ und die Griechische Antike. Zum Stand der Diskussion. Göttingen 2005; sowie Frank, M.: „Dionysos und die Renaissance des kultischen Dramas (Nietzsche, Wagner, Johst)“. In: ders.: Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt a. M. 1988, S. 9-104; grundsätzlich zum modernen Diskurs des Theaters als Fest siehe Primavesi, P.: Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800. Frankfurt a. M. 2008. <?page no="49"?> identität und entgrenzung 49 schließlich hinsichtlich der Verhandlungen von Zugehörigkeit zur und Ausschluss von der Gemeinschaft innerhalb der Dramen selbst, in diesem Falle der Tragödien. Dionysos - Gott der Gemeinschaft? Der Prozess der Entstehung des Dramas aus dem Dionysoskult lässt sich bekanntlich historisch nicht akkurat rekonstruieren. Im Jahr 536 vor Christus, als der Athener Tyrann Peisistratos das Fest der Großen Dionysien reformierte und zu einem großen Polis-Fest umgestaltete, 3 existierte die Verbindung von Tragödie, Komödie und Dionysoskult bereits seit geraumer Zeit. Aristoteles überliefert, dass den dramatischen Formen, wie wir sie kennen, Kultlieder für Dionysos vorausgingen, im Falle der Tragödie die Dithyramben, im Falle der Komödie sogenannte Phalloslieder. 4 Nach dem Namen der Gattung - tragôdia, wörtlich: „Bocksgesang“ - hat man als Urform entweder das Lied von bocksgestaltigen Männern (die man mit den Satyrn des Dionysos-Gefolges gleichsetzte) oder aber das Lied um den Preis eines Bocks postuliert, wobei die letztere Annahme den meisten Forschern heute als Indiz für eine enge Verbindung zwischen Tragödie und Bocksopfer, ja für die Entstehung der Tragödie aus dem - blutigen und gewaltsamen - Opfer, gilt. 5 3 Einen Überblick über den Ablauf der Großen Dionysien und die wichtigsten Zeugnisse geben: Pickard-Cambridge, A.: The Dramatic Festivals of Athens. Bearbeitet und ergänzt von Gould, J./ Lewis, D. M. Oxford 1988 [zuerst: 1953], S. 57-125; Lesky, A.: Die Tragische Dichtung der Hellenen. Göttingen 1972, S. 17-48; Blume, H.-D.: Einführung in das antike Theaterwesen. Darmstadt 3 1991 [1. Aufl. 1978], S. 17-26; Csapo, E./ Slater, W. J.: The Context of Ancient Drama. Ann Arbor 1994; sowie der Sammelband: Moraw, S./ Nölle, E. (Hrsg.): Die Geburt des Theaters in der griechischen Antike. Mainz 2002. Zu den politischen Aspekten des Festes: Rösler, W.: Polis und Tragödie: funktionsgeschichtliche Betrachtungen zu einer antiken Literaturgattung. Konstanz 1980; Goldhill, S.: „The Great Dionysia and Civic Ideology“. In: Winkler, J. J./ Zeitlin, F. I. (Hrsg.): Nothing to Do with Dionysos? Athenian Drama in Its Social Context. Princeton (NJ) 1990, S. 97-129. Eine zusammenfassende Darstellung findet sich in Gödde, S.: „Die Polis auf der Bühne. Die großen Dionysien im klassischen Athen“. In: Ausst.-Katalog: Dionysos - Verwandlung und Ekstase. Hrsg. von Schlesier, R./ Schwarzmaier, A. (Antikensammlung Berlin, 5. 11. 2008-21. 6. 2009). Regensburg 2008, S. 95-105. 4 Aristoteles: Poetik. Übers. und hrsg. von Fuhrmann, M. Stuttgart 1994 [1. Aufl. 1982], S. 14-15, 1449a19-24. Vgl. dazu Leonhardt, J.: Phalloslied und Dithyrambos. Aristoteles über den Ursprung des griechischen Dramas. Heidelberg 1991; Zimmermann, B.: Dithyrambos. Geschichte einer Gattung. 2., um ein Vorwort erweiterte Aufl., Berlin 2008 [1. Aufl., Göttingen 1992]. 5 Zu dieser Diskussion sei stellvertretend der wichtige Beitrag von Walter Burkert genannt, der auch ältere Positionen behandelt: Burkert, W.: „Griechische Tragödie und Opferritual“. In: Ders.: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den <?page no="50"?> 50 susanne gödde Ich möchte diesen Spekulationen über den Ursprung des Theaters keine weiteren hinzufügen und verweise für ihre Auswertung lediglich auf die angegebene Literatur. Das Patronat des Dionysos über das Theaterfest sollte jedoch für die vorliegende Fragestellung nach der theatralen Gemeinschaft für einen Moment in den Blick genommen werden. Der Gott Dionysos ist seit Nietzsches Aneignung dieses Themas zum Emblem einer Grenzen sprengenden und naturverbundenen Gemeinschaftserfahrung geworden, die sich, für Nietzsche, nicht zuletzt im Gesang und Tanz des Chors als der Keimzelle des Dramas manifestiert. 6 Inwieweit ein historischer Rekonstruktionsversuch tatsächlich erweisen kann, dass das Theatererlebnis nicht zuletzt auch durch den Ekstasegott Dionysos bestimmt war, inwiefern also die ekstatische Grenzüberschreitung Teil der allgemeinen Festerfahrung war oder aber vielmehr als Moment der Dramen selbst - sei es in struktureller, sei es in rezeptionsästhetischer Hinsicht - anzusetzen ist, das sind Fragen, die behutsam voneinander differenziert werden müssen. Wir haben es bei dem Versuch, die Rollenbilder des Dionysos auf das antike Theaterereignis und seine kollektive Dimension zu applizieren, mit Griechen. Berlin 1990 [zuerst englisch 1966]. Vgl. dazu auch: Gödde, S.: „Böcke, Satyrn, wilde Männer: Ursprungsmythen des antiken Theaters“. In: Dreyer, M./ Fischer-Lichte, E. (Hrsg.): Antike Tragödie Heute. Vorträge und Materialien zum Antiken-Projekt des Deutschen Theaters (= Blätter des Deutschen Theaters 6). Berlin 2007, S. 17-32; sowie dies.: „Unschuldskomödie oder Euphemismus: Burkerts Theorie des Opfers und die Tragödie“. In: Bierl, A./ Braungardt, W. (Hrsg.): Gewalt und Opfer. Im Dialog mit Walter Burkert (MythosEikonPoiesis 2). Berlin/ New York 2010, S. 215-245. 6 Der in diesem Zusammenhang immer wieder angeführte Passus aus der Geburt der Tragödie lautet: „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. […] Jetzt bei dem Evangelium der Weltenharmonie fühlt sich jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnisvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinschaft.“ (Nietzsche, F.: Die Geburt der Tragödie. In: Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Colli, G./ Montinari, M. München 2 1988. Bd. 1, S. 29-30; vgl. Frank 1988, S. 65). - Zur zentralen Rolle des Chors für die Aneignung des antiken Dramas im 18./ 19. Jahrhundert siehe Silk, M. S.: „‚Das Urproblem der Tragödie‘: Notions of the Chorus in Nineteenth Century“. In: Riemer, P./ Zimmermann, B. (Hrsg.): Der Chor im antiken und modernen Drama. Stuttgart/ Weimar 1998, S. 195-226; Meier, M.: „Chöre und Leitmotive in den Bühnenwerken Richard Wagners: Von der griechischen Tragödie zum Musikdrama“. In: Baumbach, M. (Hrsg.): Tradita et Inventa. Beiträge zur Rezeption der Antike. Heidelberg 2000, S. 389-406; sowie Olwitz, R.: „Der sprachlose Chor. Vom kultischen Drama zum Gesamtkunstwerk“. In: Lohse, G. (Hrsg.): Aktualisierung von Antike und Epochenbewußtsein. München/ Leipzig 2003, S. 351-372. <?page no="51"?> identität und entgrenzung 51 einer komplizierten Gemengelage zu tun. Die antiken Götter sind zum einen und vor allem Protagonisten verschiedener literarischer Erzählungen, zum anderen Empfänger von Opfern und Kulthymnen in ihnen eigens zugeeigneten architektonischen Bauten während der Feste zu ihren Ehren. Daraus ergibt sich eine Mehrfach-Determination dieser Götter, die sich uns in ganz unterschiedlichen Medien - Text, Bild, Architektur und Fest - präsentieren und sich keineswegs als theologische oder ontologische Prinzipien oder allegorische Figuren, die für etwas ganz Bestimmtes einstehen, fassen lassen. Die Frage, wo genau in diesem Material die Grenze zwischen literarischen Zeugnissen und religiösen Dokumenten zu ziehen ist und wo beides zusammenfällt, ist nahezu nicht zu beantworten. Jede moderne Rekonstruktion antiker religiöser Erfahrung ist also der Gefahr ausgesetzt, die verschiedenen Dispositionsebenen der einzelnen Zeugnisse zu missachten und aus den Splittern, die ganz unterschiedlichen Gattungs- und Epochen-Kontexten entstammen, ein Bild zusammenzusetzen, dessen Einheit trügerisch ist. Für die Frage nach einem dionysischen Festerlebnis lassen sich nun (mindestens) drei Formen kollektiver Erfahrung voneinander trennen. Sie können zeigen, wie sehr Dionysos ein Gott der kollektiven Teilhabe ist, aber sie müssen keineswegs alle in ihrer Spezifität auch für das Theaterfest geltend gemacht werden. Vielmehr sind sie als Anspielungshorizonte im Hintergrund der Theatererfahrung für die Analyse derselben zu betrachten. Erstens handelt es sich dabei um die - historisch nur sehr spärlich und für Attika gar nicht bezeugte - wohl vor allem aus verheirateten Frauen bestehende Gruppe von ‚Mainaden‘ (oder Thyiaden), die alle zwei Jahre zu ekstatischen Kultfeiern auf den Parnass bei Delphi zog. 7 Von diesem Ritual vermittelt uns vor allem die Vasenmalerei ein wenn auch überformtes Bild, zu dem das für den antiken Polytheismus durchaus singuläre Faktum gehört, dass Dionysos selbst als Mittänzer im Kreis der Mänaden und Satyrn abgebildet wird. Zwar wurden auch bei anderen Götterfesten die Götter als gegenwärtig gedacht, doch finden wir allein im Kontext dionysischer Ikonografie eine nahezu vollständige Symmetrie von Mensch und Gott - im Bild oft durch ein „inneres enface“ ausge- 7 Zum historischen Mänadismus: Henrichs, A.: „Greek Maenadism from Olympias to Messalina“. In: Harvard Studies in Classical Philology 82 (1978), S. 121-160; ders.: „Changing Dionysiac Identities“. In: Meyer, B. F./ Sanders, E. P. (Hrsg.): Jewish and Christian Self-Definition (Self-Definition in the Graeco Roman World III). London 1982/ Philadelphia 1983, S. 137-160 und S. 213-236, hier 143-147. Zum Phänomen der Ekstase: Schlesier, R.: „Dionysos als Ekstasegott“. In: Dies./ Schwarzmaier 2008, S. 28-41. <?page no="52"?> 52 susanne gödde drückt. 8 (Abb. 2) Dieselbe einzigartige Symmetrie dokumentiert auch der Umstand, dass in literarischen Zeugnissen der Gott und seine Anhänger durch denselben Kultnamen (bakchos/ bakchê) bezeichnet werden können, was für keinen anderen Götterkult der Griechen überliefert ist. Dass es sich bei dem Schwärmen in den Bergen nicht um eine individuelle beziehungsweise solitäre Erfahrung handelte, zeigt auch der Begriff Thiasos, der die Gruppe der Ritualteilnehmer bezeichnet. Das Wort evoziert eine schwärmende und tanzende, ausgelassen-ekstatische Bewegung in einem Kollektiv (Abb. 3) und wird in späterer Zeit zum terminus technicus des religiösen wie politischen Vereinswesens. 9 Die Aktivität eines solchen Thiasos, die dionysische Ekstase, ist also, was die historische Praxis betrifft, an ein kalendarisches und lokales Fest gebunden, das nur jedes zweite Jahr gefeiert wurde, und wir wissen wenig über ähnlich extreme Erfahrungen bei anderen Dionysos-Festen. 10 Im kulturellen Imaginären der Griechen, also in Literatur und Bildkunst, aber auch in der modernen Dionysos-Forschung, ist jedoch der Wahnsinn als Indiz einer dionysischen Erfahrung allgegenwärtig und wird nicht selten verabsolutiert. Gleichwohl ist daran zu erinnern, dass in unseren Quellen zum antiken Theaterfest das ausgelassene Rasen von Mänaden keinerlei Rolle spielt. Der zweite wichtige Bereich, in dem eine kollektive und entgrenzende emotionale Erfahrung unter den Auspizien des Gottes Dionysos rituell erzeugt wurde, sind die Bakchischen Mysterien, die seit dem 6. Jahrhundert vor Christus neben den berühmteren, weil institutionell und lokal stärker verankerten, Eleusinischen Mysterien existierten. 11 Diese Kulte verspra- 8 Zur Ikonografie des Dionysos siehe den Ausstellungs-Katalog 2008, zum „inneren enface“ insb. S. 82, Abb. 2. 9 Zum Thiasos: Schlesier, R.: „Die Seele im Thiasos. Zu Euripides, Bacchae 75“. In: Holzhausen, J. (Hrsg.): Psychê - Seele - anima. Festschrift für Karin Alt. Leipzig/ Stuttgart 1998, S. 37-72; zu den dionysischen Vereinen: Jaccottet, A.-F.: Choisir Dionysos: Les Associations dionysiaques ou la face cachée du dionysisme. 2 Bd. Zürich 2003. 10 Möglicherweise deutet der Name der dionysischen Lenäen, die jährlich im Monat Gamelion (Januar/ Februar) stattfanden, ebenfalls auf ekstatische Rituale hin. Die lênai waren, ähnlich wie die bakchai, rasende Frauen im Dienst des Dionysos. 11 Auf die Schwierigkeit einer genauen Differenzierung zwischen orphischen und bakchischen Mysterien kann hier nicht eingegangen werden. Zahlreiche Quellen in diesem Kontext lassen sich als eindeutig bakchisch deuten, so dass die hier skizzierte Erfahrung auf hinreichend historischen Zeugnissen basiert. Für einen Überblick siehe Burkert, W.: Antike Mysterien. Funktionen und Gehalt. München 3 1994 [zuerst: Cambridge, (Mass.)/ London 1987]; Cole, S. G.: „New Evidence for the Mysteries of Dionysos“. In: Greek, Roman and Byzantine Studies 21 (1980), S. 223-238; eine das Orphische starke einbeziehende Deutung findet sich in: Graf, F./ Iles Johnston, S.: Ritual Texts for the Afterlife. Orpheus and the Bacchic Gold Tablets. London/ New York 2007. <?page no="53"?> identität und entgrenzung 53 chen denjenigen Menschen, die sich einem vermutlich ebenfalls mit Tanz verbundenen transformatorischen Ritual unterzogen, ein glückliches Jenseits in einer bakchisch geprägten Unterweltslandschaft, in der die Feste des Diesseits, wie es vor allem Aristophanes in den Fröschen ausmalt, fortgesetzt würden. Dionysos ist als Patron dieser Institution ein Gott, der auf die Unterwelt verweist und in dessen Dienst Rituale vorgenommen werden, die den Einzuweihenden auf das Erlebnis des Todes vorbereiten. Diese Rituale, von denen uns die Texte der bakchischen Goldplättchen einen Eindruck vermitteln können, betrafen die Identität des Initianden als sterblicher Mensch, seine potentielle Neugeburt und Verwandlung in ein quasi-göttliches Wesen, dem ein Fortleben im Jenseits in Aussicht gestellt wird, sowie seine im Text performativ antizipierte Reise in die Unterwelt. 12 Ekstatische Erfahrung und Todeserfahrung sind in dieser Mysterienpraxis eng aneinander gekoppelt. Will man diesen beiden wichtigen Bereichen dionysischer Erfahrung als dritten das Theaterfest der Großen Dionysien an die Seite stellen, 13 so ist die Frage, ob die rituelle Dimension der Ekstase und die der Mysterien, und damit das beide verbindende Moment der Verwandlung und des Identitätsverlustes, 14 nun auf die Ebene der dramatischen Aufführungen und ihrer Rezeption transponiert werden, von gewisser Attraktivität und auch Plausibilität. 15 An der Oberfläche des Festablaufs hingegen sind 12 Siehe Schlesier, R.: „Dionysos in der Unterwelt. Zu den Jenseitskonstruktionen der Bakchischen Mysterien“. In: von den Hoff, R./ Schmidt, S. (Hrsg.): Konstruktionen von Wirklichkeit. Bilder im Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. Stuttgart 2001, S. 157-172. Die Texte der Goldplättchen sind leicht zugänglich in Graf/ Iles Johnston 2007. 13 Auf weitere Dionysosfeste, wie die Oschophorien, die Anthesterien mit ihrer Dramatisierung einer rituellen Hochzeit, die sehr alten Lenäen, die zunächst den Komödienaufführungen vorbehalten waren (vgl. zu diesem Fest auch oben Anm. 10), oder die Ländlichen Dionysien, kann hier im Einzelnen nicht eingegangen werden. Vgl. dazu Simon, E.: Festivals of Attica. An Archeological Commentary. Madison Wisconsin 1983, S. 89-104; Csapo/ Slater 1994, S. 103-138 und insbesondere zu den Anthesterien: Seaford, R.: Dionysos. London/ New York 2006, S. 18-22. 14 Die Frage, inwieweit auch die trieterische Oreibasia der Mänaden auf dem Parnass Einweihungsbeziehungsweise Mysteriencharakter hatte, ist bisher in der Forschung nicht hinreichend geklärt worden. Die Parodos der Euripideischen Bakchen, die die Evokation der schwärmenden Raserei in den Bergen mit zahlreichen Termini der Mysterien-Erfahrung kombiniert (dazu Schlesier 1998), legt dies nahe, ist aber eine literarische Konstruktion, von der wir nicht wissen, wie zuverlässig sie zeitgenössische Praxis abbildet. 15 Zur Interpretationsgeschichte der vor allem im 19. Jahrhundert virulenten Verbindung von Mysterien und Tragödie siehe Schlesier, R.: „Lust durch Leid: Aristoteles’ Tragödientheorie und die Mysterien. Eine interpretationsgeschichtliche Studie“. In: Eder, W. (Hrsg.): Die athenische Demokratie im 4. Jahrhundert v. Chr. - Vollendung oder Verfall einer Verfassungsform? . Stuttgart 1995, S. 389-415; einen <?page no="54"?> 54 susanne gödde Ekstase und Initiation nicht Teil des Geschehens - es sei den in einem „schwachen“ Sinne, nämlich insofern Ausgelassenheit und die Zugehörigkeit zur Gruppe der Feiernden, die immer auch etwas Exklusives hat, jedes Fest definieren. 16 Anders als bei den bisher genannten Kultpraktiken handelt es sich bei den Großen Dionysien um eines der größten öffentlichen Polis-Feste der Stadt Athen in klassischer Zeit, dessen genauer Ablauf und dessen soziale und politische Binnenstruktur im zweiten Abschnitt dieser Ausführungen skizziert werden sollen. Es wird deutlich werden, dass bei diesem Fest nicht so sehr das Schicksal und die individuelle beziehungsweise kollektive Erfahrung einer Gruppe von Kultanhängern auf dem Spiel steht, sondern vielmehr das Selbstverständnis einer Polis und deren politische Macht nach innen und außen. Mit dieser Institutionalisierung des Theaters durch den Tyrannen Peisistratos und mit der Erfolgsgeschichte dieses Festes durch das 5. Jahrhundert vor Christus hindurch erfährt der Gott Dionysos ohne Zweifel eine politische Dimension. Die befreiende, ekstatische Disposition, die er seinen Kultanhängern zu vermitteln vermag, wird hier in einen größeren Rahmen integriert und mit den Interessen der Polis verbunden. 17 Die Kulterfahrung der Polis-Bürger ist dabei nicht im engeren Sinne religiös und biografisch konnotiert, sondern sie trägt zur genetischen Zusammenhang zwischen Mysterien und Tragödie postuliert auch heute noch Richard Seaford, etwa in: Seaford, R.: „On the Origins of Satyric Drama“. In: Maia 28 (1976), S. 209-221; und ders. 2006, S. 94-98. 16 So gibt es in dem inschriftlichen Material zu den Dionysien etwa den Hinweis auf einen kômos, einen Umzug der Feiernden, der aber in den meisten Quellen nicht als eigener Programmpunkt aufgeführt wird: vgl. Goldhill 1990, S. 99. Zur möglichen initiatorischen Funktion der Großen Dionysien für die Epheben, die jungen Militärdienstleistenden, siehe unten die Anm. 25. 17 Diese Verbindung zwischen Dionysos-Kult und Politik lässt sich in zwei Richtungen ausformulieren: Entweder sieht man in der Institutionalisierung des Festes ein Mittel der Tyrannen, die Bevölkerung im Sinne der römischen Parole „Brot und Spiele“ gefügig zu machen, um Aufstände zu unterbinden (so zumindest denkbar für die Frühphase des Festes bis zum Sturz der Tyrannis im Jahre 510), oder aber man postuliert, wie dies Richard Seaford in einer gewissermaßen sozialromantischen Tendenz tut, das befreiende und somit in einem demokratischen Sinne politische Moment des dionysischen Kultes, der eine emphatische Loyalität gegenüber der Polis und eine anti-aristokratische Haltung einübe (Seaford 2007, S. 97). Als Fest der Befreiung von der Tyrannei versteht die Dionysien auch Connor, W. R.: „City Dionysia and Athenian Democracy“. In: Classica et Mediaevalia 40 (1989), S. 7-32. Kritisch dazu: Raaflaub, K. A.: „Zeus Eleutherios, Dionysos the Liberator, and the Athenian Tyrannicides. Anachronistic Uses of Fifth-Century Political Concepts“. In: Flensted-Jensen, P./ Nielsen, T. H./ Rubinstein, L. (Hrsg.): Polis and Politics. Studies in Ancient Greek History. Kopenhagen 2000, S. 249-276, der die Möglichkeit, dass der Beiname des Dionysos - Eleuthereus („der Befreier“) - bereits zur Zeit der Entstehung des Theaterfestes politisch konnotiert war, in Frage stellt. <?page no="55"?> identität und entgrenzung 55 Herstellung eines politischen Körpers bei, indem sie die teilnehmenden Bürger als Bürger definiert. 18 Potenziert wird das politische Erlebnis des Theaterfestes durch die Dramen selbst, die im Wettkampf dem kritischen Urteil von Schiedsrichtern, aber auch des Publikums (Abb. 4) unterzogen werden. Die Konflikte und Gewaltexzesse, die die Tragödie auf die Bühne bringt, beleuchten Naheverhältnisse, häufig von Angehörigen der mythischen Königshäuser, als Politikum und zeigen meist die Unmöglichkeit konsensuellen Miteinanders auf. Die Komödie gibt die Tagespolitik der Lächerlichkeit preis oder entwirft gesellschaftliche Utopien, in denen die herrschenden Verhältnisse in ihr Gegenteil verkehrt werden. Beide Gattungen vermitteln jedoch darüber hinaus starke Emotionen - die Tragödie das Pathos, die Komödie das Gelächter -, die, wenngleich auf einer anderen Ebene angesiedelt und vermittelt durch den Rezeptionsakt, durchaus mit den Grenzen sprengenden Erfahrungen der dionysischen Ekstase vergleichbar sind. So verbindet sich für den Besucher des Theaterfestes, wie im Folgenden genauer beleuchtet werden soll, die Einübung, aber auch Reflexion des Politischen mit einem dionysisch zu nennenden Kunsterlebnis. Demokratischer Imperialismus? 19 Der Ablauf des antiken Theaterfestes war auf den ersten Blick vor allem von politischen Ritualen geprägt, so dass die moderne These einer Sakralisierung der Kunst durch die Feststruktur zunächst kaum eine Bestätigung finden kann. Auch das oben rekonstruierte Moment der Ekstase lässt sich als unmittelbarer Teil der Festerfahrung nur schwerlich nachweisen. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Religion in der griechischen Antike nicht als von der sonstigen Kultur abgesonderter Bereich einer verinnerlichten Praxis oder eines ethisch bestimmten Glaubens aufgefasst wurde. Nahezu alle Lebens- und Tätigkeitsbereiche - die Familie, die Reisen und Geschäfte, das Gerichtswesen, die Politik, das Militär - waren von religiösen Vorstellungen und Ritualen flankiert, so dass eine strikte Trennung in einen profanen und einen sakralen Bereich nur eingeschränkt möglich ist - oder anders gesagt: Das Heilige war in 18 Vgl. Blok, J.: „Becoming Citizens. Some Notes on the Semantics of ‚Citizen‘ in Archaic Greece and Classical Athens“. In: Klio. Beiträge zur Alten Geschichte 87. Heft 1 (2005), S. 7-40. 19 Vgl. Flaig, E.: „Demokratischer Imperialismus. Der Modellfall Athen“. In: Faber, R. (Hrsg.): Imperialismus in Geschichte und Gegenwart. Würzburg 2005, S. 43- 57. <?page no="56"?> 56 susanne gödde einem gewissen Sinne ubiquitär und in mehrfache Grade ausdifferenziert, und ein antiker Grieche hätte den Besuch des Theaterfestes wohl schwerlich als einen ausschließlich religiösen Akt empfunden oder gar von einem „heiligen Theater“ gesprochen. So zeugt auch das Athener Theaterfest von fließenden Übergängen zwischen religiös-rituellen und politischen Ritualen, während die Dramen- Aufführungen selbst nicht ohne weiteres als Kultfeier oder rituelles Theater aufgefasst werden sollten. 20 Am Ablauf der Großen Dionysien, so wie sich für uns das Bild dieses Festes aus den unterschiedlichsten Quellen zusammensetzt, fällt zunächst einmal auf, dass dionysische Ausgelassenheit und festliche Stimmung auf der einen Seite und eine relativ rigide Ritualordnung und machtpolitische Interessen auf der anderen einander weitgehend die Waage zu halten scheinen. Ich möchte hier nicht alle Details des Ablaufs besprechen, sondern mich auf diejenigen Aspekte beschränken, die helfen können, die Zusammensetzung der Festgemeinschaft und ihr Festerlebnis zu veranschaulichen. 21 Obwohl das Fest noch unter dem Tyrannen Peisistratos im 6. Jahrhundert vor Christus reformiert wurde und seine weitgehend endgültige Form erhielt, erfahren wir vor der hellenistischen Zeit nichts über Politiker, die es etwa für ihre individuelle Selbstdarstellung missbrauchten. 22 Die Dionysien waren ein Fest, das, wenn auch von einem Tyrannen installiert, von Bürgern für Bürger ausgerichtet wurde, denen von der Polis sogar ihr jeweiliger Lohnausfall erstattet wurde, damit sie ohne finanziellen Verlust teilnehmen konnten. 23 Gleichwohl tritt dem demokratischen Aspekt ein 20 Formen eines rituellen Theaters werden untersucht in: Csapo, E./ Miller, M. C. (Hrsg.): The Origins of Theater in Ancient Greece and Beyond: From Ritual to Drama. Cambridge 2007. In archäologischer Hinsicht siehe Nielsen, I.: Cultic Theatres and Ritual Drama: A Study in Regional Development and Religious Interchange Between East and West in Antiquity. Aarhus 2002. 21 Am Vorabend des Festes fand die feierliche Einholung des Dionysosbildes vom Stadtrand zum Theater statt; der erste reguläre Festtag wurde eröffnet mit der Prozession durch die Stadt und fortgesetzt mit den politischen Ritualen im Theater; erst dann begannen die Aufführungen, und zwar zunächst die der insgesamt zehn Dithyramben-Chöre; es folgten fünf Komödien am zweiten Festtag, dann drei Tage mit je einer tragischen Tetralogie; vgl. die Übersicht bei Blume (1991), S. 25-26 und die Literatur oben Anm. 3. 22 Zu diesem Phänomen im Hellenismus siehe Rehm, R.: „Festivals and Audiences in Athens and Rome“. In: McDonald, M./ Walton, J. M. (Hrsg.): The Cambridge Companion to Greek and Roman Theatre. Cambridge 2007, S. 184-201, bes. S. 190-192. 23 Das sogenannte theorikon, das zur Zeit des Perikles eingeführt wurde. Dazu Blume 1991, S. 58. - Inwieweit allerdings bei diesem Bürger-Fest Nicht-Bürger, also Frauen und Sklaven, streng ausgeschlossen waren, ist in der Forschung immer noch umstritten: vgl. Henderson, J.: „Women and the Athenian Dramatic Festivals“. In: Transactions of the American Philological Association 121 (1991), S. 133-148. <?page no="57"?> identität und entgrenzung 57 imperialer gegenüber, denn die Stadt Athen inszenierte sich nicht nur als Gemeinschaft freier und politisch aktiver Bürger, sondern darüber hinaus auch in ihrer Funktion als Führungsmacht in einem politischen Bündnis, dem delisch-attischen Seebund. 24 Die Gesellschaft, die sich während dieses fast einwöchigen Festes der Öffentlichkeit präsentierte, was in besonders eindrucksvoller Weise während der Prozession vom Stadtrand zum heiligen Bezirk des Dionysos am Südhang der Akropolis geschah, war keineswegs durch eine alle verbindende Gleichheit gekennzeichnet. Vielmehr spiegelte die Abfolge der beteiligten Gruppen, zum Teil auch ihre Kennzeichnung durch unterschiedliche Kleidung, die soziale Struktur der Polis wieder: Einheimische waren von Fremden getrennt, Männer von Frauen, Junge von Alten, wobei den Epheben, den jungen Militärdienstleistenden, die besondere Rolle zukam, das Hauptopfer für Dionysos zum Altar zu geleiten. 25 Die Rituale, die die Zeremonien im Theater selbst eröffneten, dienten dazu, das politische und militärische System der Polis Athen in symbolischen Handlungen zur Aufführung zu bringen: Strategen übernahmen die Aufgabe der sonst den Priestern vorbehaltenen Libationen für Dionysos und demonstrierten so die militärische Präsenz der Polis; vor versammeltem Publikum stellte man in einem Gestus zufriedener Überlegenheit die Abgaben der zum Teil im Theater anwesenden Bündnispartner aus; Kriegswaisen erhielten von der Stadt eine Rüstung und wurden in den Status des Vollbürgers erhoben - ein Akt, mit dem die Stadt die für das Vaterland Gefallenen ehrte, zugleich aber auch deren Söhne darauf programmierte, ihren heroischen Vätern (in den Tod) nachzufolgen. Nach der Epheben-Parade erhielten Bürger, die sich um die Stadt verdient gemacht hatten, zur Ehrung einen Kranz. Der nächste Programmpunkt, die Dithyramben-Aufführungen, die den Dramen vorausgingen, kann nun in besonderer Weise erhellen, wie sehr Politik, Ritual und künstlerische Darbietung bei diesem Fest miteinander 24 Zu diesem Aspekt siehe den erwähnten Aufsatz von Flaig 2005 sowie Rhodes, P.J.: „Nothing to do with Democracy: Athenian Drama and Politics“. In: Journal of Hellenic Studies 123 (2003), S. 104-119 und Connor 1989. Während Rhodes die Entstehung der Dionysien unter den Tyrannen im sechsten Jahrhundert untersucht, plädiert Connor für eine rein demokratisch inspirierte Institutionalisierung des Festes ein Jahrzehnt nach dem Sturz der Tyrannis (vgl. oben Anm. 17). 25 Die Inschrift, die dies bezeugt, stammt aus dem 2. Jahrhundert vor Christus, der Brauch wird aber von einigen Forschern bereits für das fünfte Jahrhundert postuliert. - In dieser Hinsicht hätte das Theaterfest, ganz unabhängig von der Aufführung der Dramen, für die jungen Männer möglicherweise auch eine „initiatorische“ Bedeutung; siehe dazu Winkler, J. J.: „The Ephebes’ Song: Tragôdia and Polis“. In: Winkler/ Zeitlin 1990, S. 20-62; außerdem Goldhill 1990, S. 98-99, 112-113. <?page no="58"?> 58 susanne gödde verwoben waren. Zugleich lernen wir hier ein weiteres Modell einer kollektiven rituellen Praxis kennen, nämlich den von Tanz begleiteten Gesang eines Chores. Der Chor ist dasjenige Element, in dem vor allem moderne Autoren immer wieder meinten, den Nukleus dieses Festes, seine politischen wie seine kultischen Implikationen und vor allem seinen Öffentlichkeitscharakter erfassen zu können. 26 Der Chor stellt die Kontinuität her zwischen dem neuen Genre des Dramas und der alten musikalischen, aber auch pädagogisch-initiatorischen Tradition des Chortanzes - der choreia -, die seit archaischer Zeit im Zentrum eines jeden Götterfestes stand und insofern nicht als spezifisch dionysisch gelten muss, wenngleich die Verbindung zwischen dem Tanz und Dionysos immer wieder als besonders eng empfunden wurde. 27 Das Auftreten der Chöre bei den Großen Dionysien nun erhält seit dem ausgehenden 6. Jahrhundert eine ganz deutliche politische Dimension. Denn das Fest erfuhr im Jahre 509 nach der sogenannten Phylenreform des Kleisthenes, die in der Forschung auch als Demokratisierung gedeutet wird, eine deutliche Neustrukturierung. Durch diese Reform erhielt die Polis Athen eine neue Binnengliederung, in der die zehn neu geschaffenen Einheiten, die Phylen, die alten Adelsverbände ersetzen sollten. Die großen Gremien der Polis, wie Ratsversammlung, Geschworenengericht oder die Gruppe der Archonten, setzten sich von nun an gleichmäßig aus Vertretern der einzelnen Phylen zusammen. Eine gewisse Einebnung alter Hierarchien sowie die Möglichkeit zu eigener Verwaltung der Phylen ging offenbar einher mit einer andererseits strafferen, häufig auch als zentralistisch bezeichneten Organisation der Polis. Diese neue politische Struktur bildete sich nun in zweifacher Hinsicht unmittelbar in den Großen Dionysien ab: Zum einen entsandten die zehn Phylen zum Agon der Dithyramben, der seit 509 vor Christus den künstlerischen Teil des Festes eröffnete, je einen Männer- und einen Kna- 26 Vgl. die Literatur oben Anm. 6. 27 Zur Kontinuität und Transformation des Chors zwischen der archaischen und klassischen Zeit: Calame, C.: Choruses of Young Women in Ancient Greece: Their Morphology, Religious Role and Social Functions. Oxford 2001 (französisches Original: Les chœurs de jeunes filles en Grèce archaïque. I: Morphologie, fonction religieuse et sociale; II: Alcman. Rom 1977); ders.: „From Choral Poetry to Tragic Stasimon“. In: Arion 3. Serie, 3.1 (1994/ 95), S. 136-154; ders.: „Performative Aspects of the Choral Voice in Greek Tragedy: Civic Identity in Performance“. In: Goldhill, S./ Osborne, R. (Hrsg.): Performance Culture and Athenian Democracy. Cambridge 1999, S. 125-153; Goldhill, S.: „Collectivity and Otherness - The Authority of the Tragic Chorus: Response to Gould“. In: Silk, M. S. (Hrsg.): Tragedy and the Tragic. Greek Theatre and Beyond. Oxford 1996, S. 347-369, hier besonders S. 250. Zum Chor in der Komödie: Bierl, A.: Der Chor in der Alten Komödie. Ritual und Performativität. München 2001. <?page no="59"?> identität und entgrenzung 59 benchor - insgesamt also 20 Chöre à 50 Sängern und damit eine Menge von 1000 Choreuten -, ein Ereignis, dass die aktive Beteiligung der Bürgerschaft an diesem Fest besonders eindrücklich demonstrierte, wobei Egalität und Agon einander, wie so oft in der griechischen Kultur, nicht ausschlossen. Zum anderen gab die Zugehörigkeit zu den Phylen die Sitzordnung im Theater vor. (Abb. 5) Beides diente ganz gewiss einer Einübung und Habitualisierung der neuen politischen Mitgliedschaft. Peter Wilson vermutet in seinem Buch über die Choregie sogar, dass die Formation der Dithyramben-Chöre, die explizit als kyklioi choroi, also als kreisförmig und nicht tetragonisch auftretende Chöre, bezeichnet wurden, dem Kreis als einem Symbol der neuen Kleisthenischen Organisation entsprechen sollte. 28 Wahrscheinlicher ist hingegen, dass die Dithyramben-Chöre diesen Namen erhielten, um sie von den Chören der Tragödie und Komödie zu unterscheiden, die von dieser Kreisform abwichen und in rechteckiger Formation, also in fünf oder sechs hintereinander aufgestellten Reihen von je drei oder vier Choreuten auftraten. Ähnlich wie in den rituellen Mustern des Dionysos-Kultes haben wir es also auch beim Chor mit einem traditionellen Modell kollektiver Praxis zu tun, das, wie die Einbindung in die Phylenreform zeigt, in einem neuen Sinne politisch funktionalisiert wurde. 29 Diese Beobachtung betrifft jedoch vor allem die institutionelle Rolle des Chors, nicht so sehr seine dramatische. In den Tragödien etwa bleiben die Kommentare des Chors meist auf die narrative Rückbindung an die mythologische Vorzeit, die distanzierte Reflexion des Geschehens oder aber die weitgehend inaktive Zeugenschaft beschränkt, eine vorrangig politische Rolle wird dabei nicht zwingend nahe gelegt. Richtig ist hingegen, dass der Chor sich aus freien Bürgern der Polis Athen zusammensetzte, die den politischen Alltag ihrer Stadt in den Volksversammlungen mitbestimmen durften und deren Teilnahme am großen Theaterfest für Dionysos zu ihren Aufgaben als Bürger gehörte. Eine genauere Bestimmung des dramatischen Chors hätte mindestens drei Ebenen zu berücksichtigen, die nicht immer derselben Botschaft verpflichtet sind: den Bürgerstatus seiner Darsteller, die eher narrativ-reflexive Dimension seiner dramatischen Rolle und schließlich die performativ-rituelle Funktion des Tanzens und Singens. Die Großen Dionysien arbeiten also in mehrfacher Hinsicht einem kollektiven politisch-rituellen Selbstbewusstsein der Athenischen Polis zu und sollten daher nicht - wie es viele moderne Festtheorien immer wieder 28 Wilson, P.: The Athenian Institution of Choregia. Cambridge 2000, S. 17. 29 Rush Rehm 2007, S. 191, erklärt den Verzicht auf den Chor im Drama der nachklassischen Zeit mit der nicht mehr existierenden Verbindung zwischen Theater und der Polis-Gemeinschaft. <?page no="60"?> 60 susanne gödde vorschlagen - als eine Phase des „in illo tempore“, als heilige und vom Alltag vollkommen losgelöste Zeit einer Gegenwelt aufgefasst werden. 30 Das Bewusstsein für das politische und patriotische Selbstverständnis, für die aktuellen Leistungen und Aufgaben der Polis war ein nicht zu übersehender Teil des Festprogramms, der es im Hier und Jetzt einer historischen Gegenwart verankerte. Doch haben wir den Hauptteil des Festes - die sich über vier Tage erstreckenden Aufführungen von Komödien und tragischen Tetralogien, die jeweils mit einem Satyrspiel abschlossen - noch nicht in die Betrachtung mit einbezogen. Exklusion und Inklusion - Verhandlungen von „Gemeinschaft“ in der Tragödie Wenn im Folgenden für die Frage nach der politischen Dimension des Festes vor allem die Tragödien in den Blick genommen werden, so soll damit den beiden anderen Gattungen diese Dimension keineswegs abgesprochen werden. 31 Die Tragödien waren nicht nur der zeitlich umfangreichste, sondern vermutlich auch der älteste Bestandteil des Festes, 32 zudem das Genre, das für die moderne Idee eines religiös überhöhten Gemeinschaftstheaters am ehesten Pate gestanden hat. Um jedoch die emotionale Erfahrung des gesamten Theaterfestes zu verstehen, ist freilich das Zusammenspiel der drei Gattungen - Komödie, Tragödie und Satyrspiel - zu berücksichtigen, möglicherweise aber auch eine Vorstufe der uns bekannten Tragödie, die, wie Aristoteles überliefert, aus dem Satyrhaften entstanden sei und somit zunächst, „bevor sie ernst wurde“, einem anderen affektiven Register angehört haben dürfte. 33 30 So insbesondere die Äußerungen zum Fest und zum Heiligen bei Eliade, M.: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt a. M. 1984, hier: S. 76-80 („Festzeit und Struktur der Feste“); für einen Überblick über Theorien des Festes siehe Köpping, K.-P.: s. v. „Fest“. In: Wulf, C. (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/ Basel 1997, S. 1048-1065, hier: S. 1048-1049, 1053; zur antiken Festkultur: Burkert, W.: „Die antike Stadt als Festgemeinschaft“. In: Hugger, P. u. a. (Hrsg.): Stadt und Fest. Zu Geschichte und Gegenwart europäischer Festkultur. Unterägeri/ Stuttgart 1987, S. 25-44; Meier, Ch.: „Zur Funktion der Feste in Athen im 5. Jahrhundert v. Chr.“. In: Haug, W./ Warning, R. (Hrsg.): Das Fest (= Poetik und Hermeneutik 14). München 1989, S. 569-591. 31 Zu Komödie und Satyrspiel vgl. die Beiträge von Peter von Möllendorff und Fabian Meinel in diesem Band. 32 Die Komödie war erst seit 486 vor Christus offizieller Bestandteil des Festprogramms. 33 Aristoteles 1994, S. 14-15, 1449a19-24. <?page no="61"?> identität und entgrenzung 61 Meine Untersuchung der tragischen Verhandlungen einer rituellen oder politischen „Gemeinschaft“ geht aus von Simon Goldhills viel beachteter, aber in der Klassischen Philologie nicht einmütig aufgenommener These, dass die Dramen selbst das in den, wie er es nennt, „pre-play ceremonies“ zur Schau gestellte Selbstbewusstsein der Polis Athen in radikaler Weise in Frage stellten. 34 Goldhill bespricht zur Erhärtung seiner These zwei Dramen des Sophokles, den Aias und den Philoktet, die in besonderer Weise dem patriotisch-militärischen Programm der Polis, das vor allem den jungen wehrtüchtigen Männern mit auf den Weg gegeben wird, widersprechen. Aias überschreitet die von den jungen Epheben geforderten Verhaltensweisen radikal, indem er aus verletzter Ehre Gewalt gegen seine Heeresgenossen anzuwenden droht und sich später der kollektiven Aufgabe durch Selbstmord entzieht. Dass all dies durch den von Athena verhängten Wahnsinn initiiert wird, mag für uns als Entschuldigung gelten, von den Figuren des Stücks wird es nicht als mildernder Umstand in Erwägung gezogen. Trotz dieser Grenzverletzung endet die Tragödie mit der Heroisierung des Aias 35 - ein Akt, der die zuvor im Theater proklamierte Werteordnung streng genommen nicht bestätigen kann, der aber als ritueller Akt - also jenseits einer ideellen oder ethischen Ordnung - durchaus innerhalb der dramatischen Handlung eine Gruppenidentität herzustellen vermag, die mit den kultischen Erfahrungen der Zuschauer korrespondiert. 36 Im Philoktet zeigt Sophokles, wie der junge Neoptolemos, der, wie die Epheben im Theater von Athen, seinem toten Vater Achill nacheifert, mit seinem Ehrenkodex an den Forderung des Troianischen Krieges scheitert. Er hat den Auftrag, zusammen mit Odysseus, der hier als kaltblütiger Politiker auftritt, Philoktet, der den Griechen wegen seiner Aussetzung auf der Insel Lemnos zürnt, zurückzugewinnen, da Troia ohne ihn und seinen Bogen nicht erobert werden kann. 37 Das militärische Unternehmen, das Herakles als deus ex machina am Ende fordert und durchsetzt, kollidiert massiv mit einer Ethik der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit, wie sie Neoptolemos vertritt. An diesen zwei Tragödien kann Simon Goldhill be- 34 Goldhill 1990. 35 Vgl. Henrichs, A.: „The Tomb of Aias and the Prospect of Hero Cult in Sophokles“. In: Classical Antiquity 12 (1993), S. 165-180. 36 Vgl. Segal, Ch.: „Catharsis, Audience, and Closure in Greek Tragedy“. In: Silk, M. S. (Hrsg.): Tragedy and the Tragic. Greek Theatre and Beyond. Oxford 1996, S. 149-172, hier 161. 37 Vgl. Hose, M.: „Philoktet: Von der Schwierigkeit der Wiedereingliederung“. In: Philologus 152 (2008), S. 27-39. Während Goldhill die Unvereinbarkeit zwischen der Figur des Neoptolemos und den an den Dionysien proklamierten Werten der Polis betont, befasst sich dieser Aufsatz mit dem Problem der Außenseiterposition des Philoktet. <?page no="62"?> 62 susanne gödde sonders eindringlich seine These verdeutlichen, dass die Propaganda des Festes in einem Spannungsverhältnis zu dem auf der Bühne Verhandelten stand. Neben dem Thema der militärischen Ideologie lässt sich noch ein zweites generelles Konfliktschema in den Tragödien ausmachen, mit dem ich auf die Frage der Konstitution von Gemeinschaft im Fest respektive Drama zurückkommen möchte. Eine ganze Reihe von Tragödien gelten in einem weiteren Sinne der Definition der Polis-Grenzen, die von einem „outlaw“, einer Transgression bedroht werden. Die Frage, wer dazu gehörte, wer als Polis-Bürger figurieren durfte und eine Stimme in der Öffentlichkeit besaß, war im Athen des fünften Jahrhunderts ein virulentes Thema. 38 Im Jahre 451 definierte das Bürgerrechtsgesetz des Perikles nur denjenigen als Vollbürger, der zwei athenische Eltern vorweisen konnte. Die Polis, die sich in ihren mythischen Ursprungslegenden als autochthon, als aus der Athener Erde selbst hervorgegangen, konstruierte, war auf die Erhaltung dieser „Reinheit“ und den Ausschluss alles Fremden bedacht. 39 Insbesondere die sogenannten Hikesie-Dramen, die die Integration eines rituell um Schutz Suchenden, eines Asylanten, dramatisierten, galten diesem Konflikt. 40 Zwar ist es ein topischer Teil der athenischen Gründungslegende, dass Athen sich in seiner heroischen Vergangenheit immer wieder als Retter der Schutzflehenden erwiesen hat, und das Asyl- Thema könnte so durchaus - ähnlich wie die politischen Festrituale - als Teil einer Athenischen Propaganda gefasst werden, doch akzentuieren die Tragödien vor allem die Widerstände, die einer solchen Integration der Fremden im Wege stehen. So beruft sich der argivische König Pelasgos in Aischylos’ Hiketiden angesichts des Asylgesuchs von 50 fremdartigen Ägypterinnen, den Danaos-Töchtern, auf die Reinheit seines Landes und seiner Grenzen und darauf, dass einst der mythische Arzt Apis jede Befleckung und alles Unheil aus dem Lande „herausgeschnitten“ und dieses dadurch gesäubert habe. 41 Eine solche „Mitwohnerschaft“ (xynoikia V. 267) von Fremden steht ihm 38 Vgl. Blok 2005. 39 Diese Problematik wird insbesondere in Euripides’ Ion verhandelt. 40 Siehe Gödde, S.: Das Drama der Hikesie. Ritual und Rhetorik in Aischylos’ Hiketiden. Münster 2000; Grethlein, J.: Asyl und Athen. Die Konstruktion kollektiver Identität in der griechischen Tragödie (= Beiträge zum antiken Drama und seiner Rezeption 21). Stuttgart/ Weimar 2003; Bernek, R.: Dramaturgie und Ideologie. Der politische Mythos in den Hikesiedramen des Aischylos, Sophokles und Euripides (= Beiträge zur Altertumskunde 188). München 2004. 41 Aischylos: Tragödien und Fragmente. Hrsg. und übers. von Werner, O. 3. verbesserte Aufl. München 1980 [zuerst: 1959], S. 504-507, V. 240-270. Im Folgenden wird auf diese Ausgabe im Haupttext durch Versangaben in Klammern verwiesen. <?page no="63"?> identität und entgrenzung 63 nun in Gestalt der Asyl suchenden Ägypterinnen erneut ins Haus, verheißt nichts Gutes und stürzt Pelasgos in eine tragische krisis, in der er sich nur falsch entscheiden kann (V. 407-417; 438-479). Als Pelasgos sich mit Hilfe der Volksversammlung schließlich durchgerungen hat, die Fremden gemäß den rituellen Gesetzen seines Landes aufzunehmen, bezeichnet er die Stadt, in die er die Verfolgten führt, als „von hohen Türmen umhegt und umschlossen“ (V. 955-956). Die Trilogie jedoch, deren zweites und drittes Stück nicht überliefert sind, wird erweisen, dass keine von Menschen gebaute Festung die Gefahr von 50 fremden Frauen abwehren kann: Es kommt zur im Mythos festgeschriebenen Bluthochzeit, und Pelasgos’ Stadt wird aufs Neue befleckt. Zumindest das erste Stück der Trilogie 42 debattiert den Konflikt des Pelasgos nicht in den Farben schwarz und weiß und in den Koordinaten von falsch und richtig. Weder erhalten wir die Botschaft, dass er die Fremden hätte ausweisen sollen, um dieses Unheil zu vermeiden, noch wird die drohende Gewalttat der Danaiden verurteilt. 43 Stattdessen wird das Ringen um die angemessene Grenze zwischen Fremden und Einheimischen vorgeführt, wird die Geschlossenheit einer ‚nationalen‘ Gruppe auf den Prüfstand gestellt und die Durchlässigkeit von kulturellen und politischen Grenzen ausgelotet. Während die ersten zwei Beispiele (Aias und Philoktet) die Frage der in den Dramen selbst gelingenden militärischen Propaganda aufwarfen, das dritte Beispiel (Hiketiden) die Grenzen und die bedrohte Reinheit der Polis thematisierte, wende ich mich nun abschließend jener Tragödie zu, die die Exklusions- und Inklusionskraft des dionysischen Festes selbst behandelt. Die Bakchen des Euripides verführen immer wieder zu grundsätzlichen allegorischen Deutungsversuchen hinsichtlich der Selbstreflexion des Theaters, 44 42 Einige Forscher halten die Hiketiden für das Mittelstück der Trilogie und lassen ein Stück vorausgehen, in dem durch ein Orakel erklärt wird, warum die Danaiden die Hochzeit mit ihren Cousins verweigern: Siehe Sicherl, M.: „Die Tragik der Danaiden“. In: Museum Helveticum 43 (1996), S. 81-110; Rösler, W.: „Der Schluß der Hiketiden und die Danaiden-Trilogie des Aischylos“. In: Rheinisches Museum 136 (1993), S. 1-22; sowie Hose, M.: „Vaticinium post eventum and the Position of the Supplices in the Danaid Trilogy“. In: Cairns, D./ Liapis, V. (Hrsg.): Dionysalexandros. Essays on Aeschylus and his Fellow Tragedians in Honour of Alexander F. Garvie. Swansea 2006, S. 91-98. - Diese Debatte ist für die vorliegende Frage nach dem Einbeziehungsweise Ausschlussverfahren der Polis Argos in den Hiketiden jedoch nicht relevant. 43 Die berühmte Unterweltsstrafe der Danaiden ist eine spätere Erfindung. 44 Vgl. Segal, Ch.: Dionysiac Poetics and Euripides’ Bacchae. Princeton (NJ) 2 1997; Bierl 1991, Kapitel 4 und 5; Kullmann, W.: „Die ‚Rolle‘ des euripideischen Pentheus. Haben die Bakchen eine metatheatralische Bedeutung? “ In: Most, G. W./ Petersmann, H./ Ritter, A. M. (Hrsg.): Philanthropia kai Eusebeia. Festschrift für Albrecht Dihle zum 70. Geburtstag. Göttingen 1993, S. 248-263; Radke, G.: Tragik und Metatragik. Euripides’ Bakchen und die moderne Literaturwissenschaft. Berlin 2003. <?page no="64"?> 64 susanne gödde seines dionysischen Kontextes und der theologischen Haltung des Dichters Euripides. 45 In dieser Ausnahmetragödie tritt Dionysos selbst als Mitspieler auf - auch jenseits der konventionellen Götterrolle in Prolog oder Exodus - und fungiert gewissermaßen als Regisseur der Handlung. Die Bakchen zeigen einen Konflikt, der paradigmatisch für die Mythen um den Theatergott Dionysos ist, nämlich die Auseinandersetzung zwischen dem Gott und einem Gegner seines Kultes, einem „Gotteskämpfer“, theomáchos, dessen Widerstand der Gott zu brechen hat, was meist, wie hier, in Form einer grausamen Bestrafung geschieht. Es bleibt eine strukturell schwierige und viel debattierte Frage, warum der Gott des Polis- Festes, in dessen Zeichen das Publikum im Theater zusammenkommt, zugleich auch der Gott ist, dessen Präsenz in der Polis auf der Ebene des mythologischen Imaginären, nicht jedoch im realen Kult, immer wieder auch abgewehrt und problematisiert worden ist. Lässt sich auch das Theater zu jenen „gefährlichen“ Errungenschaften zählen, die dem Dionysos zugeschrieben werden? Wie der Wein, die Sexualität und der Rausch? 46 Während im ersten Teil dieses Aufsatzes dionysische Kulterfahrungen vor allem hinsichtlich der gruppenbildenden Kraft selbst noch der Entgrenzung untersucht wurden, zeigt sich nun, dass das Gemeinschaftserlebnis, das Dionysos konstituiert, auch ein instabiles ist, das die Gefahr in sich birgt, in Aggression und Gewalt umzuschlagen. 47 In den Bakchen wird das Problem verhandelt, bis zu welcher Grenze jener teils beseligende, teils entfremdende Kontrollverlust, den Dionysos über seine Anhänger wie über seine Opfer verhängt, innerhalb der Polis tolerierbar ist, oder ob er, wie Pentheus glaubt, die Ordnung der Stadt bedroht. Dass Euripides in dieser Tragödie mit der Dialektik von Exklusion 45 Dazu: Henrichs, A.: „The ‚Death-Bed Conversion‘: Euripides’ Bacchae“. In: Greek, Roman and Byzantine Studies 27 (1986), S. 391-397. 46 Platon hat diese Frage wenige Jahrzehnte später bejaht und wollte die Tragödie deshalb aus seinem idealen Staat verbannen: siehe dazu Schlesier, R.: „Pathos und Wahrheit. Zur Rivalität zwischen Tragödie und Philosophie“. In: Huber, J./ Müller, A. M. (Hrsg.): „Kultur“ und „Gemeinsinn“. Basel/ Frankfurt a. M. 1994, S. 127- 148. 47 Zur negativen Tendenz des dionysischen Festes in der modernen Literatur siehe: Schmidt-Dengler, W.: „Traurige Dionysien. Feste in der Literatur der Jahrhundertwende“. In: Knoblauch, H.-J./ Koopmann, H. (Hrsg.): Fin de siècle - Fin du millénaire: Endzeitstimmungen in der deutschsprachigen Literatur. Tübingen 2001, S. 27-41. Auch für René Girards kulturtheoretische Lektüre der Bakchen spielt die Kategorie des Festes eine zentrale Rolle: Girard, R.: Das Heilige und die Gewalt. Zürich 1987, S. 177-210 [zuerst: Paris 1972]. Die Assoziation des Dionysos mit Erzählungen von Gewalt und Tod geht in diesen Deutungen eine Verbindung ein mit der vor allem in der Festtheorie einiger französischer Soziologen des 20. Jahrhunderts (etwa Caillois, Bataille) beliebten Definition des Festes als eines „gebotenen Exzesses“, die wiederum durch Sigmund Freud inspiriert ist. <?page no="65"?> identität und entgrenzung 65 und Inklusion spielt, ist deutlich: Wer sich dem Schwärmen des Dionysos widersetzt, wird scheitern, und dieses Scheitern wird exemplifiziert an Pentheus, der trotz seiner Ablehnung des Dionysoskultes unfreiwillig mitten in seinen Strudel hineingerät und dessen Macht als Eingeschlossener, aber eben nicht Eingeweihter erfährt. 48 Pentheus, der zu Beginn des Stücks als unbeugsamer Ordnungsfanatiker auftritt und Dionysos und seine Anhängerinnen verfolgt, wird am Ende in der Rolle des Voyeurs vom Verfolger zum Verfolgten. Damit er das Treiben der thebanischen Mänaden erspähen kann, setzt Dionysos ihn auf den Wipfel einer Fichte, wo er, wie sich dann herausstellt, besser gesehen wird, als dass er selber sieht, 49 so dass er zum Jagdwild der thebanischen Mänaden wird. Die Frauen wiederum, die unter der Führung von Pentheus’ Mutter Agaue später über diesen herfallen werden, sitzen zunächst im Rund eines Talkessels, 50 dessen Beschreibung durch den Boten auffällig an die Form der Cavea, der Zuschauerreihen, gemahnt, auf denen die Athenischen Zuschauer selbst sitzen, während sie dem Bericht über das von Dionysos inszenierte thebanische Schauspiel folgen. Diese komplexe Konstruktion des Plots als Drama des Sehens und Gesehenwerdens - Pentheus will die Mänaden sehen, diese beobachten ihn, und das Publikum sieht dem Boten auf der Bühne zu, der von diesen Sehakten berichtet - setzt das Sehen der Zuschauer in eine subtile Analogie nicht nur mit dem Blick der Thebanerinnen auf ihr Opfer, sondern auch mit dem Sehen des Pentheus und damit dem Anblick von etwas Verbotenem und Gefährlichem. Angesichts der Theatermetaphorik, mit der Euripides den tragischen Zerreißungstod des Pentheus vorbereitet, ergibt sich für die Zuschauer die - fatale - Möglichkeit, sich bald mit dem Zuschauer Pentheus, bald mit den im Talrund lauernden thebanischen Frauen zu identifizieren - beide Seiten werden für ihre Ablehnung des Dionysos bestraft. Dieses Verfahren einer perfiden Analogisierung von Zuschauern und Opfern erfährt eine Erweiterung in dem Umstand, dass Agaue und Pentheus vom Regisseur Dionysos jeweils eine „theatrale Rolle“ zugewiesen bekommen. Beide - Pentheus gar auf offener Bühne - werden erst in Mänaden verwandelt, bevor ihnen der mit diesem Kostüm einhergehende Wahnsinn zum Verhängnis wird. 51 Der Tyrann Pentheus, der den Gott 48 Vgl. Euripides: Bakchen. Übersetzung, Nachwort und Anmerkungen von Werner, O. Stuttgart 1968, hier 19-20 (V. 461-490). - Die Bakchen arbeiten deutlich mit der Spannung zwischen dem Dionysos-Kult als einem Geheimkult, in den man sich einweihen lassen muss, und einem Kult, an dem die ganze Polis teilnehmen soll. Zur Mysterien-Thematik in den Bakchen siehe Schlesier 1998. 49 Euripides (1968), S. 42/ V. 1075. 50 Ebd., S. 41/ V. 1051. 51 Ebd., S. 33/ V. 820-836. <?page no="66"?> 66 susanne gödde Dionysos ausschließen wollte und der als nicht Eingeweihter selbst von seinem Kult ausgeschlossen war, wird - ebenso wie die thebanischen Frauen - bestraft mittels einer erzwungenen Inklusion in den Kult, den sie nicht verstehen und zu dessen Opfern sie werden. Euripides zeigt also die Gegner des Dionysos im Kostüm seiner Anhänger und macht beide nahezu ununterscheidbar. Die Zuschauer, die an den Tagen vor der Aufführung der Bakchen noch dem feierlichen und ausgelassenen Ablauf des Dionysos-Festes beiwohnten, während dessen die Stadt Athen zum Stolze jedes einzelnen Bürgers ihre Erfolge präsentierte, werden nun Zeugen eines „verkehrten“ Dionysos-Festes auf der Bühne des Theaters. Zwei Formen rituellen Wahnsinns führt Euripides in den Bakchen vor, den „echten“ der asiatischen Bakchantinnen und den „falschen“ der thebanischen Frauen, den Dionysos ihnen zur Strafe aufzwingt. In ihrer Phänomenologie unterscheiden sich die Verhaltensweisen der beiden Frauengruppen auf den ersten Blick kaum. Der erste der zwei Botenberichte, der das Treiben der „falschen“ Mänaden auf dem Kithairon schildert, bevor die Katastrophe, der Mord an Pentheus, ausbricht, zeichnet die Bandbreite dionysischer Zustände subtil nach, indem er zeigt, wie die zunächst anmutig in der Natur lagernden Frauen sich plötzlich in wilde Tiere verwandeln, wie aus der vom Gott induzierten Seligkeit die Wut der Zerstörung wird. 52 Was sich hier vollzieht, ist die Auflösung eines zunächst in formaler Ordnung auftretenden „Chores“ 53 - und damit eines theatralen Modells - und die Transgression einer Feststimmung hin zur Gewalt. Auch der als Gruppe von Eingeweihten auftretende Chor der asiatischen Bakchen hatte in der Parodos der Tragödie das Ritual in den Bergen als einen durch die Schreie des Dionysos aufgereizten „Irrlauf“ 54 geschildert und von der dionysischen ômophagia, dem Durst nach dem „Blut des getöteten Böckleins“ und der „Lust an rohem Fleisch“ gesungen. 55 Welches Bild des Dionysos-Kultes sich hinter dieser gewagten Konstruktion verbirgt, die die „gute“, weil rituell legitimierte, dionysische Gewalt und ihre tragische Pervertierung so nahe aneinanderrückt, ist eine bis heute in der Forschung offene Frage. Es kann im Zusammenhang dieses Aufsatzes nicht um eine Gesamtinterpretation der Bakchen gehen, sondern nur um die Akzentuierung einer kritischen Reflexion des dionysischen Rausches und seiner zweifachen Dynamik in dieser Tragödie. Das dionysische Modell von Gemeinschaft birgt, das macht Euripides deut- 52 Ebd., S. 28-31/ V. 677-774. 53 Vgl. Ebd., S. 28/ V. 680. 54 Ebd., S. 9/ V. 158-159. 55 Ebd., S. 9/ V. 138-139. <?page no="67"?> identität und entgrenzung 67 lich, zumindest dort, wo es allzu sehr mit den Prinzipien von Kontrolle und Herrschaft kollidiert, das Potential zu Gewalt und Selbstzerstörung in sich. Nicht alle Tragödien lassen sich in dieser Weise als Kommentar zum Dionysos-Kult und damit zum Rahmen des Theaters selbst lesen. Festgehalten werden kann jedoch, dass viele Tragödien eben keineswegs so gut ausgingen wie das Fest der Großen Dionysien, das mit Siegerehrungen und Rechenschaftsberichten in der abschließenden Volksversammlung endete und die auf der Bühne vorgeführten Exzesse in den Rahmen einer politischen und bürokratischen Ordnung einfasste. Die politische Performanz des Festes und die politisch-religiösen Konflikte, die die Dramen verhandelten, stehen in der Tat, wie es Simon Goldhill formuliert hat, in einer deutlichen Spannung zueinander. Wenn Goldhill das Transgressive der Tragödie in der Folge der soziologischen Festtheorie als Kern der „heiligen Zeit“ des Festes, die immer von karnevalesker Inversion bestimmt sei, ausmacht, 56 dann ergibt sich die Schwierigkeit, mit derselben Festtheorie auch die nicht-transgressiven Züge der Großen Dionysien zu erklären. Die Spannung zwischen Norm und Transgression jedenfalls gilt Goldhill im Sinne der immer wieder - spätestens aber seit Euripides - beobachteten Ambivalenz dieses Gottes als genuin dionysisch: The tragic festival may at first sight have little to do with our expectations of the Dionysiac religion under whose name it takes place. But in the interplay of norm and transgression enacted in the festival which both lauds the polis and depicts the stresses and tensions of a polis society in conflict, the Great Dionysia seems to me an essentially Dionysiac event. 57 56 Goldhill 1990, S. 127. 57 Ebd., S. 128-129. Zur strukturellen Bedeutung des Dionysischen in der Tragödie siehe auch Schlesier, R.: „Mixtures of Masks: Maenads as Tragic Models“. In: Carpenter, Th. H./ Faraone, Ch. A. (Hrsg.): Masks of Dionysus. Ithaca/ London 1993, S. 89-114. <?page no="68"?> Sympotische und ästhetische Gemeinschaft in Euripides’ Zyklopen Fabian Meinel (Berlin) 8 8 8 8 8 8 8 8 88 8 8 @8 88 8 8 8 8 88 8 D Doch lasst uns noch weiter von der Trunkenheit im Allgemeinen reden; denn diese Gewohnheit ist keine kleine Angelegenheit… (Platon Gesetze 637d) Spätestens seit Nietzsche ist der Begriff der „Gemeinschaft“ aufs engste mit dem Namen des Gottes Dionysos verbunden: „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich … der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen“, heißt es in der Geburt der Tragödie. 1 Ganz Unrecht hatte Nietzsche wohl nicht. Tatsächlich war der dionysische Kult mit Riten und Praktiken assoziiert, die besonders geeignet scheinen, das principium individuationis außer Kraft zu setzen und das autarke Individuum der Gemeinschaft zuzuführen. Denn Dionysos vereinte im Exzess. In einer Polis wie Athen, deren Ideale gestrenge Schlagworte wie „Vernunft“ und „Selbstkontrolle“ umfassten, erlaubte dieser Gott Kontrollverlust. Unter seinem Banner fanden sich Gemeinschaften zusammen, die wesentlich vom Spiel mit der Grenze, der Erfahrung des Grenzwertigen, der Grenzüberschreitung geprägt waren: die also gekennzeichnet waren von dem für die moderne Anthropologie so wichtigen Aspekt der geteilten „Grenzerfahrung“ als gemeinschaftskonstituierendem Element. 1 Zit. n. Nietzsche, F.: Werke in drei Bänden. München 1965. Bd. 1, S. 24. <?page no="69"?> sympotische und ästhetische gemeinschaft 69 Eine dieser „grenzwertigen“ dionysischen Praktiken war das Trinkgelage. 2 In dieser durchaus traditionsreichen Form griechischer Gemeinschaft fanden sich die „Schwärmer des Dionysos“ zu einer Gruppe zusammen, die, wie die Vasenmalerei des fünften Jahrhunderts immer wieder zeigt, ihre Identität oft über die Figur des Satyrs verhandelte. 3 Es überrascht daher kaum, dass in einem Satyrspiel diese dionysischen Festgemeinschaften in den Mittelpunkt rücken. Es handelt sich dabei um Euripides’ Zyklopen, dem einzigen vollständig erhaltenen Beispiel dieser „dionysischsten“ der drei dramatischen Gattungen Athens. 4 Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist in diesem Stück die Exzessgemeinschaft des Trinkgelages aber nicht nur dionysisches Beiwerk, sondern eingeflochten in einen das Stück beherrschenden Diskurs über Gemeinschaftlichkeit und Exzess. Jedoch wirft Euripides’ Satyrspiel bei aller „satyrischen“ Ironie einen letztlich kritischen Blick auf eine Gemeinschaft, die Exzess physisch auslebt. Eine Analyse metatheatralischer Aspekte des Stückes wird dann zeigen, dass der Zyklop als Alternative anbietet, den physischen „Dionysos-Exzess“ durch einen ästhetisch sublimierten „Dionysos-Exzess“ zu ersetzen, der Gemeinschaft nicht mehr in der unmittelbar körperlich ausgelebten Grenzerfahrung konstituiert, sondern im gemeinsamen ästhetischen Genuss, der gemeinsamen und kontrollierten Grenzerfahrung im Theater des Dionysos. 2 Vgl. Murray, O. (Hrsg.): Sympotica. A symposion on the symposion. Oxford 1990; Lissarrague, F.: The aesthetics of the Greek banquet. Princeton (NJ) 1990. 3 Vgl. Lissarrague 1990. 4 Die erhaltenen Satyrspielfragmente sind erfasst und kommentiert in: Krumeich, R./ Pechstein, N./ Seidensticker, B. (Hrsg.): Das griechische Satyrspiel. Darmstadt 1999 (fortan KPS). Aufschlussreiche Einblicke in das Genre gewähren etwa: Easterling, P. E.: „A show for Dionysus“. In: dies. (Hrsg.): The Cambridge Companion to Greek Tragedy. Cambridge 1997, S. 36-53; Voelke, P.: Un théâtre de la marge. Aspects figuratifs et configurationnels du drame satyrique dans l’Athènes classique. Bari 2001; Griffith, M.: „Slaves of Dionysus. Satyrs, audience, and the end of the Oresteia“. In: Classical Antiquity 21 (2002), S. 195-258. Zu Euripides’ Zyklop vgl. zum Beispiel Arnott, P. D.: „The overworked playwright. A study in Euripides’ Cyclops“. In: Greece and Rome 8 (1961), S. 164-169 (eine recht vernichtende Kritik des Stückes); Konstan, D.: „An anthropology of Euripides’ Kyklops“. In: Winkler, J. J./ Zeitlin, F. I. (Hrsg.): Nothing to do with Dionysos: Athenian Drama in its social context. Princeton (NJ) 1990, S. 207-227; Katsouris, A. G.: „Euripides’ Cyclops and Homer’s Odyssey. An interpretative comparison“. In: Prometheus 23 (1997), S. 1-24 (eine sehr traditionelle vergleichende Analyse). Interessante neue Ansätze bietet Worman, N.: „Odysseus, ingestive rhetoric, and Euripides’ Cyclops“. In: Helios 29 (2002), S. 101-125. <?page no="70"?> 70 fabian meinel Auftakte: Physische Gemeinschaft in Euripides’ Zyklopen Die Gemeinschaft des Symposions nimmt in Euripides’ Zyklopen eine zentrale Rolle ein. Natürlich wird in einem Genre, dessen Konstante die trunksüchtigen und stets in der Gruppe auftretenden „Schwärmer des Dionysos“ sind, die dionysische Trinkgemeinschaft unterschwellig immer (mit)reflektiert. 5 Allerdings bot die Adaption der berühmten Zyklopenepisode im neunten Gesang der homerischen Odyssee, in der Odysseus und seine Gefährten Polyphem mit Hilfe des Weines überlisten, um schließlich aus seiner Höhle zu entkommen, reichlich Gelegenheit, die bereits der homerischen Episode eigene Zentralität des Weines auf einen Diskurs über die sympotische Gemeinschaft und deren Praktiken auszuweiten. Dies ist bei Euripides der Fall. Weingenuss wird hier, ganz wörtlich, „in Szene gesetzt“. In Anlehnung an die sympotische Praxis, in der das eigentliche Symposion in privaten Räumlichkeiten häufig in einen (beschwingten) Umzug durch die Straßen ( ) mündete, folgt bei Euripides auf Polyphems Alkoholgenuss innerhalb der Höhle (also jenseits der Bühne und nur durch Odysseus’ „Botenbericht“ wiedergegeben, nicht aber dargestellt) gleichsam als Herzstück des Dramas das inszenierte sympotische Treiben vor den Augen der Zuschauer (in der Fiktion des Stückes also außerhalb der Höhle). Diese zentrale Szene ist explizit als Einweisung Polyphems in die sympotische Praxis gefasst. 6 So singt der Chor eingangs der Szene begeistert: „Auf! Lasst uns den Uneingeweihten in die Kunst des Kômos einweisen“ ( 8 8 8 8 G 8 , V. 493-494). Was nun folgt, ist eine nach außen verlegte Symposionsszene (die Grenzen zwischen Kômos und eigentlichem Symposion sind hier fließend), in der Polyphem, ähnlich wie Philokleon in Aristophanes’ Wespen, in den Praktiken des Trinkgelages unterwiesen wird. Dass Becher um Becher des dionysischen Getränkes wesentlicher Bestandteil des Lehrinstrumentariums sind, versteht sich von selbst. In Euripides’ Bearbeitung des homerischen Stoffes rücken die Trinkgemeinschaft des Symposions und deren Praktiken also ins Zentrum des dramatischen Interesses. Wein ist nicht mehr bloß Mittel zum Zweck, sondern Ausgangspunkt eines Diskurses über Alkoholgenuss als Konstituente der physischen Genuss- 5 Symposiastische Szenen im engeren Sinne sind auch zu vermuten etwa im Falle von Euripides’ Syleus und Ions Omphale. Vgl. KPS, S. 457-473 (insb.: KPS F 691), 480-490. 6 Früheren Kritikern war diese Szene mitunter ein Dorn im Auge. Masqueray, P.: „Le Cyclope d’Euripide et celui d’Homère“. In: Revue des Études Anciennces 4 (1902), S. 179, kritisiert die Szene etwa als „peu motivée“. Eine positivere Einschätzung bietet Hamilton, R.: „Euripides’ Cyclopean Symposium“. In: Phoenix 33 (1979), S. 287-292. <?page no="71"?> sympotische und ästhetische gemeinschaft 71 gemeinschaft des Trinkgelages. Wie im Folgenden in aller Kürze skizziert werden soll, unterstreicht dieser Diskurs vor allem die Ambivalenz der Trinkgemeinschaft als Gemeinschaft der Grenzerfahrung und des einkalkulierten Exzesses. Zunächst erscheint Wein als Katalysator sympotischen Beisammenseins in durchaus positivem Licht. Wein „zivilisiert“. Denn er regt das autarke, nur auf sich bedachte Individuum zum teilenden Miteinander an. Wie bei Homer betritt auch der euripideische Polyphem als Antitypus des athenischen Bürgers die Bühne, als aggressiv autarker Einzelgänger. Euripides übernimmt also zunächst das homerische Bild der Zyklopen, die „weder Ratsversammlungen kennen noch Gesetze … noch sich gegenseitig Beachtung schenken“, 7 wenn er den Silen die Zyklopen folgendermaßen charakterisieren lässt: „Einzelgänger sind sie. Sie hören auf nichts und niemanden“ ( 8 8 >8 8 8 , V. 120). Anders als bei Homer allerdings zerbricht bei Euripides diese egoistische, antibürgerliche Autarkie unter dem Einfluss des Weines. Arm in Arm mit dem Silen kehrt Polyphem nach den ersten Bechern des dionysischen Getränkes aus seiner Höhle auf die Bühne zurück, im Begriff, zusammen mit seinen Brüdern, den anderen Zyklopen, den Kômos zu begehen. Auf einmal empfindet er es auch als angemessen, dies neu entdeckte Genussmittel brüderlich zu teilen, denn, so ein angeheiterter Polyphem, „ehrbarer ist’s, den Freunden davon abzugeben“ ( 8 8 8 8 , V. 533). Diese Aufgabe der Autarkie zugunsten eines bürgerlich vorbildhaften Gemeinschaftssinns ist begleitet von einer gleichzeitigen Reduktion zumindest einer bestimmten Form der Gewaltbereitschaft. Denn tödliche Gewalt geht vom Zyklopen nur im nüchternen Zustand aus. Als auf das „Mahl“ (das Verschlingen zweier Gefährten des Odysseus) der Weingenuss folgt, wird Polyphem recht zahm und friedfertig. Der Zyklop öffnet sich zum „Spielerischeren“ und „Unernsteren“ ( ), wie Sokrates in Xenophons Symposion den Effekt gemäßigten Weingenusses treffend beschreibt: 8 Der Genuss des Weines bewirkt eine Transformation des Ungeheuers in einen geselligen homo ludens. Kommt Dionysos hier also in Form des Weines an, tut er dies auch als Zivilisationsbringer, erscheint nicht zuletzt als der Gott des ersten Stasimons der Bakchen: als Patron des friedvollen Miteinanders im Rausch. 9 Im Rahmen eines Satyrspiels sicherlich nicht überraschend erweist sich die dionysische Intoxikation hier als eine gemeinschaftsbildende Erfahrung mit durchaus positiven Zügen. 7 Vgl. Homer, Odyssee 9.112-5. 8 Vgl. Xenophon, Symposion 2.26. 9 Vgl. Euripides, Bakchen, V. 417-423. <?page no="72"?> 72 fabian meinel Doch der Topos vom „guten Wein“ und fröhlich-satyrischer Heiterkeit hat im Zyklopen seine Grenzen, ähnlich wie in der Symposionsdichtung etwa eines Theognis, der in seinen elegischen Versen immer wieder den moralischen Zeigefinger des „Nichts im Übermaß! “ erhebt. 10 Denn ganz so harmlos gestaltet sich Dionysos’ Ankunft und die vergnügte Hingabe an den gemeinschaftsbildenden Rausch in diesem Stück wieder nicht. Zum einen ist da das abschreckende Beispiel des Zyklopen. Nicht nur, dass mit dem Alkoholverzehr seine Gewaltbereitschaft nicht vollständig eliminiert, sondern eben nur transformiert wird: ins Triebhaft-Animalische nämlich, so dass aus dem Menschenfresser ein (potentieller) Vergewaltiger wird, der bei seinem berauschten Abgang in die Höhle den Silen als Lustknaben mit sich zerrt, der nun seinerseits den vorher so heiß ersehnten Wein als Quelle seines gegenwärtigen Unglücks erkennen muss. 11 Entscheidender noch scheinen der mit dem Weingenuss einhergehende totale Autonomieverlust und dessen recht konkrete Folgen. Denn versichert Odysseus eingangs der Symposionsszene auch, dass Dionysos ein Gott sei, der „keinem Sterblichen schade“ ( 8 8 , V. 524), so schadet er Polyphem ganz bestimmt. Schließlich ist es der Wein, der bewirkt, dass Polyphem sich in Visionen der Trunkenheit verliert, sich gegen Odysseus und seine Gefährten nicht mehr zur Wehr setzen kann und traditionsgemäß geblendet wird. So legt gerade dieses Stück mit seinem so zentralen Diskurs über die Symposionsgemeinschaft und deren Praktiken nahe, die Blendung Polyphems als eine durch den Rausch herbeigeführte Verblendung zu fassen, also eine Handlung gewordene Metapher, die die negative Seite unmittelbaren dionysischen Rausches eindringlich zum Ausdruck bringt. Natürlich tritt Polyphem hier als unerfahrener Symposiast auf, der die elegischen Warnungen eines Theognis noch nicht vernommen und folglich das Spiel mit dem Exzess zu beherrschen noch nicht gelernt hat. Insofern ist der bedenkliche Kontrollverlust, der Polyphems „tragischen“ Fall einleitet, noch nicht symptomatisch für die Symposionsgruppe an sich. Die paradigmatische, vorbildhafte Symposionsgemeinschaft wird hier 10 Vgl. Theognis V. 477-496, 509-510, 837-840. Das „rechte Maß“ war Hauptelement des symposiastischen Diskurses und sollte durch gewisse Traditionen sichergestellt werden. So wurde etwa ein „Symposionsführer“ ernannt (siehe Ion of Chios fr. 26.14 W; Platon Leg. 640d), der unter anderem die Einhaltung des „Nichts im Übermaß“ zu überwachen hatte. Das gelang wohl nicht immer. Vgl. Pellizer, E.: „Outlines of a morphology of sympotic entertainment“. In: Murray 1990, S. 179: „[The symposion is] a deliberate, controlled, collective exploration of the universe of passions, not without anxieties about elements of contravention which can reveal themselves once passions have been unleashed by drunkenness.“ 11 Vgl. Euripides, Zyklop, V. 589. <?page no="73"?> sympotische und ästhetische gemeinschaft 73 vielmehr durch die Satyrn verkörpert, die den Zyklopen in die Kunst des Symposions „einweisen“. Damit werden aber gerade jene fabelhaften Wesen zu Vorbildern, die in der attischen Vasenmalerei und der Satyrspiel- Tradition immer wieder als unkontrolliert, volltrunken und „anders“ dargestellt werden, dem dionysischen Zecher ein alter ego und abschreckendes Beispiel zugleich, 12 und deren animalische Exzessivität im Übrigen auch in diesem Stück nur notdürftig hinter der Maske des anständig-bürgerlichen Lehrers verborgen werden kann (ihr Vorschlag, Helena zur Bestrafung ihrer Untreue einer Massenvergewaltigung preiszugeben, ist nur ein Beispiel). Das ist natürlich lustig. Aber es ist auch mehr als das. Denn durch diese Gegenüberstellung des volltrunkenen Ungeheuers mit ungewohnt vorbildlichen Satyrn wird die Frage nach dem richtigen Umgang mit Wein in einen Rahmen gefasst, der eine einfache Antwort verbietet. Die Ironie der bürgerlich-vorbildhaften Satyrn verweist schließlich vor allem darauf, dass auch das „bürgerliche“ Gelage als Form der Gemeinschaftsbildung, gerade weil es den Exzess mit einkalkuliert, ja geradezu darauf beruht, das „Andere“, die Perversion und zyklopische Verblendung, immer in sich trägt. Erscheint die Zusammenkunft im dionysischen Rausch auch als (im oben skizzierten Sinne) „zivilisierend“ und , impliziert das Stück also gleichzeitig, dass Gemeinschaftsbildung im Trinkgelage immer Gefahr birgt, die darauf zurückzuführen ist, dass zwischen kontrolliertem und unkontrolliertem Umgang mit der Grenzerfahrung des Rausches, auf der die Gemeinschaft beruht, kaum eine Trennlinie gezogen werden kann. Die Gefahr besteht, dass der Mensch zum Satyrn und „Anderen“ wird, zum „Sklaven des Dionysos“, so wie es die Satyrn laut Eigenaussage in diesem wie in anderen Satyrspielen immer sind. 13 So erscheinen Symposion und kômos im Zyklopen als Formen der Gemeinschaftsbildung als „grenzwertig“, als Grenzerfahrung, die, nicht zuletzt weil sie Grenzerfahrung ist, zwar Gemeinschaft stiften kann, dabei trotz ihres positiven Potentials aber jederzeit zu kippen droht. 12 Vgl. dazu insb. die Arbeiten von François Lissarrague: Lissarrague, F.: „The sexual life of satyrs“. In: Halperin, D. M./ Winkler, J. J./ Zeitlin, F. I. (Hrsg.): Before sexuality. The construction of erotic experience in the ancient Greek world. Princeton (NJ) 1990, S. 53-81; Ders.: „Why satyrs are good to represent“. In: Winkler/ Zeitlin 1990, S. 228-236; Ders.: „On the wildness of satyrs“. In: Carpenter, T. H./ Faraone, C. A. (Hrsg.): Masks of Dionysus. Ithaca/ London 1993, S. 207-220. 13 Euripides, Zyklop, V. 709: 8 8 8 („von nun an werden wir dem Dionysos Sklaven sein“). Die Metapher von den Satyrn als Sklaven des Dionysos ist ein allgegenwärtiges Motiv des Satyrspiels: siehe KPS F 78c 5-7, F 1130 7; vgl. Voelke 2001, S. 72: „La condition servile semble constitutive de la figure du satyre“. <?page no="74"?> 74 fabian meinel Dies alles entbehrt natürlich nicht der „satyrischen“ Brechung und man mag auch Simon Goldhill von ganzem Herzen zustimmen, wenn er davor warnt, antike Dramen auf ein Glückskeksmotto zu reduzieren. 14 Hält man’s in diesem Falle aber trotzdem mit Aristophanes’ Dikaiopolis und behauptet, dass auch das Satyrspiel „das Gerechte“ zu sagen weiß, 15 lässt man wohl am besten die Satyrn selbst sprechen, die die Handlung folgendermaßen zusammenfassen: 8 8 8 8 8 („gewaltig nämlich ist der Wein und schwer ist’s, es mit ihm aufzunehmen“, V. 678). Piu mosso: Ästhetische Gemeinschaft im Zyklopen Sicherlich muss man nicht gelehrte Bücher gewälzt haben, um zu solch einer Einsicht zu kommen. Doch das Stück bietet mehr als nur eine (satyrisch gebrochene) Form sympotischer Gemeinplätze über das „Nichts im Übermaß! “ und dessen Grenzen. Deutet das Stück nämlich auf inhaltlicher Ebene auf Sinn und Unsinn der dionysischen Genussgemeinschaft des Symposions/ kômos hin, wird ein solcher Exzess-Diskurs auf metatheatralischer Ebene weitergeführt. Das Satyrspiel verweist auf sich selbst in zweifacher Hinsicht als eine Grenzerfahrung, als eine alternative Form des dionysischen Exzesses. Doch zeigt sich diese Grenzerfahrung in beiden Fällen als kontrolliert, da der Exzess, auf dem sie beruht, bereits zum Kunstprodukt sublimiert ist. So stellt sich denn das Satyrspiel als andere Art des Exzesses dar, der nun aber nicht mehr eine physische, sondern eine ästhetische Genussgemeinschaft konstituiert. Grenzerfahrung ist das Satyrspiel zunächst, weil es „grenzwertiges“ dionysisches Treiben auf der Bühne zur Schau stellt und den Zuschauer mit einer Welt konfrontiert, die Körperlichkeit und körperlichen Exzess immer wieder in den Mittelpunkt rückt. Diese physische Exzessivität ist nicht zuletzt Resultat des Eindringens der Satyrn in einen ihnen fremden Mythos. 16 Mit ihnen bricht das Dionysische ein und dominiert die Handlung. Dieses Eindringen, diese dem Mythenstoff fremde Dominanz des 14 Vgl. Goldhill, S.: „Civic ideology and the problem of difference: the politics of Aeschylean tragedy, once again“. In: Journal of Hellenic Studies 120 (2000), S. 48: „The reduction of the Oresteia to a motto from a fortune cookie both depends on and justifies a highly teleological reading of the work“. 15 Vgl. Aristophanes, Acharner, V. 500: 8 8 8 8 8 8 („das Gerechte kennt auch die Trygodie“ [d. h. die Komödie]). 16 Aufgrund dieses Eindringens in einen den Satyrn fremden Mythos spricht Sutton von „Inkongruität“ als Genremerkmal des Satyrspiels: vgl. Sutton, D. F.: The Greek satyr play. Meisenheim a. Gl. 1980, S. 161. <?page no="75"?> sympotische und ästhetische gemeinschaft 75 dionysischen Elements, wird im Zyklopen besonders hervorgehoben, als Odysseus, ganz der homerische Held, das Zyklopenland (in diesem Fall Sizilien) betritt und beim Anblick der Satyrn überrascht ausruft: „Was ist denn hier los? Wir sind wohl in die Stadt des Bromios geraten! “ 17 Doch wird dieser Exzess auf der Bühne, der für den Zuschauer Grenzerfahrung bedeutet, als ästhetisch gebändigt ausgewiesen. Besonders deutlich verweist Euripides auf diese Kontrolle und damit auf den entscheidenden Unterschied zwischen sympotischer Grenzerfahrung und der im Kunstprodukt des Satyrspiels offerierten Grenzerfahrung in folgender Passage (V. 649-663): Odysseus: 8 8 8 8 >8 8 8 ? 650 8 8 >8 >8 68 8 >8 8 8 8 8 >8 68 8 >8 8 8 ? 8 >8 8 8 >? 8 8 8 8 8 8 8 6 (geht ab in die Höhle) Satyrchor: 8 8 > 8 8 8 8 6 655 8 8 >8 8 8 6 (singend) 8 8 8 >8 0 8 8 >? 8 8 8 8 8 8 6 8 >8 ? 8 >8 660 8 8 8 6 8 >8 ? 8 8 >8 8 8 8 8 6 Polyphem (von innen): 8 ? 8 >8 8 6 18 17 Vgl. Euripides, Zyklop, V. 99: 8 H8 8 8 8 . 18 (Odysseus) „Schon lange wusst’ ich, dass du von Natur aus so beschaffen bist: nun aber weiß ich’s besser. Dann ist’s nötig [wörtlich: besteht der Zwang], mich auf meine eigenen [„gewohnten“] Freunde zu stützen. Wenn du nun aber mit der Hand nichts vermagst, dann ruf’ uns wenigstens zu, damit wir uns mit Hilfe deiner Zurufe die Tapferkeit der Freunde erwerben.“ (Satyrn) „Das werd’ ich tun! So wird ein Geringerer die Gefahr für mich auf sich nehmen. Durch meine Zurufe soll der Zyklop in Rauch gehüllt werden. (Singend) Auf! Auf! Stoßt zu mit Heroengewalt! Eilt! Brennt ihm das Auge aus, dem gästeverschlingenden Ungetüm. Hüllt ihn in Rauch, brennt ihn, den Hirten des Ätna! Dreht und bohrt, dass er euch in seinem Schmerz nicht noch Verzweifeltes tue! “ (Polyphem) „Weh mir! Der Strahl meines Auges ist nun zu Asche gemacht! “. <?page no="76"?> 76 fabian meinel Odysseus hatte gerade mit den Satyrn deren Mitwirkung an der Blendung des Zyklopen besprochen. Dies wäre eine Neuerung gegenüber dem homerischen Vorbild, dem Mastertext, als dessen Abkömmling sich das euripideische Drama mit seinen unentwegten Verweisen auf die Odyssee immer wieder offenbart: 19 Es hieße, dass dem dionysischen „Eindringling“, dem Satyrchor, tatsächlich die Macht gegeben wäre, die Odyssee umzuschreiben und so die Ordnung des homerischen Masterplots umzuwerfen. Doch kommt es dazu nicht. Denn wie Odysseus feststellen muss, sind die Satyrn schließlich zu feige, sich an der Blendung direkt zu beteiligen. Odysseus’ Reaktion auf den Rückzug der Satyrn kann nun als Kommentar über die ästhetische Bändigung des dionysischen Satyrchores gelesen werden. In Zeile 650 spricht er davon, nun gezwungenermaßen doch auf seine „eigenen“ oder besser: „gewohnten“ Gefährten ( 8 ) zurückgreifen zu müssen. Die Formulierung macht deutlich, dass im Prozess der ästhetischen Einblendung des dionysisch-exzessiven Elements in die homerische Handlung letztlich der „gewohnte“ homerische Plot die Handlung determiniert und damit diesem exzessiven Element die Handlungsfreiheit nimmt: Die , der Zwang, von dem Odysseus spricht, ist geradezu der Zwang, den der Mastertext auf die Ausgestaltung des Dramas ausübt. Nicht minder aufschlussreich ist die vorangehende Aussage. Odysseus stellt fest, dass „er schon lange gewusst habe, dass die Satyrn von ihrer Natur her so [feige, F. M.] seien, dass er es nun aber noch besser wisse“ (V. 649-650). Eine metatheatralische Deutung dieser Aussage ist naheliegend angesichts der Tatsache, dass die Satyrn, so wie sie in sämtlichen erhaltenen Satyrspiel-Fragmenten erscheinen, tatsächlich immer feige sind: 20 Odysseus „kennt“ die Satyrn vor allem aus dem Genre des Satyrspiels und weiß von ihrer Feigheit, da sie Genrekonvention ist. Dies aber verweist wiederum auf die Gebundenheit des für den dionysischen Exzess stehenden Chores an die Regeln der Gattung. Indem nun auf den Prozess der Bändigung des dionysischen Anderen im Prozess seiner Kunstwerdung, seiner Einbindung in das Satyrdrama, verwiesen wird, wird dem Zuschauer schließlich nahegelegt, dass die Grenzerfahrung, die das auf der Bühne dargestellte Triebhaft-Animalische dem Zuschauer bietet, eben trotz seiner Exzessivität der ordnenden und bezwingenden 19 Zum Verhältnis des Zyklopen zur Odyssee vgl. Katsouris 1997. Die Odyssee wurde mitunter als „Mastertext“ des Satyrspielgenres insgesamt begriffen: vgl. Sutton, D. F.: „Satyr plays and the Odyssey“. In: Arethusa 7 (1974), 161-85. 20 In Aischylos’ Theoroi zum Beispiel verstecken sich die Satyrn vor ihrem Herren Dionysos und werden als „nicht aus Eisen“ bezeichnet; in Sophokles’ Ichneutai werfen sich die Satyrn vor Schreck auf den Boden, als die Lyra ertönt, und werden vom aufschneiderischen Silen wegen ihrer Feigheit gerügt (vgl. V. 127-8; 168, 170). <?page no="77"?> sympotische und ästhetische gemeinschaft 77 Gewalt der Kunst unterworfen und damit im Gegensatz zum Symposion/ Kômos kontrollierte Grenzerfahrung ist. So ist es nur angemessen, dass sich die Handlungsmacht der Satyrn als Text darstellt. Denn zwar beteiligen sich die Satyrn nicht aktiv an der Blendung, doch bieten sie an, durch orphische Magiegesänge die Blendung herbeizuführen: „durch unsere Zurufe ( 8 >8 ) soll der Zyklop in Rauch gehüllt werden“, so kündigt es der Chor an (V. 655). Und so geschieht es denn auch: Die Satyrn singen und beschreiben dabei die Blendung, die sich in der Fiktion des Stückes jenseits der Bühne vollzieht, nicht aber szenisch dargestellt wird. Die Blendung beruht also allein auf einem Akt sprachlicher Mimesis innerhalb der Mimesis der Theateraufführung. Text begründet hier Realität und ersetzt sie gleichzeitig. Da das realitätsbegründende Moment des Textes aber so deutlich gemacht und darüber hinaus noch mit Orpheus, dem paradigmatischen Dichter, in Verbindung gebracht wird, wird der ästhetische Rahmen des Satyrspiels selbst, in dem Realität eben auch nur „ersetzt“ und generiert wird, gleich mit reflektiert. Indem nun aber dem dionysischen Element in der Handlung, dem Satyrchor, nur eine textliche Handlungsmacht eingeräumt wird, die gleich eine Reflexion über das ästhetische Schaffen von Realität, damit aber auch über die Gebundenheit dieser generierten Realität an den künstlerischen Ordnungsprozess in sich trägt, wird ebenfalls die Gebundenheit dieses exzessiven Chores an das ästhetische Produkt bloßgestellt und also noch einmal die ästhetische Bändigung der Grenzerfahrung unterstrichen, die der Zuschauer beim Ansehen des dionysischen Treibens auf der Bühne durchlebt. Grenzerfahrung bietet das Satyrspiel aber auch in anderer Hinsicht, und auch diese wird im Zyklopen reflektiert. Von Belang ist hier insbesondere die Szene, in der Polyphem als exzessiver Symposiast auftritt und schließlich im völligen Rauschzustand zwischen Realität und Illusion zu unterscheiden nicht mehr imstande ist (V. 576-584): 8 8 8 8 8 8 6 8 >8 8 8 8 8 8 ? 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 6 8 8 >H8 8 8 8 6 8 8 >8 8 8 8 8 68 8 8 8 8 8 8 8 8 6 21 21 „Hoho! Lala! Kaum schwamm ich durch; das ist unvermischte Freude! Himmel und Erde scheinen mir ganz verschwommen, ja zusammen herumzutanzen; und <?page no="78"?> 78 fabian meinel Die Szene begreift in sich einen Vergleich zwischen Polyphems alkoholbedingter Vision und der Illusion, der sich der Zuschauer unterwirft. Polyphem benutzt das Vokabular des Scheins ( , 578) und des Sehens ( , 580) und lenkt damit die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Wahrnehmung und insbesondere die Veränderung der Wahrnehmung, die das Rauschmittel Wein bewirkt. 22 Diese veränderte Wahrnehmung zeigt sich nicht nur darin, dass er das Gefühl für Raum vollständig verliert. Entscheidend ist vor allem, dass er in seinem Rauschzustand den Satyrchor für Chariten und den Silen für den olympischen Mundschenk Ganymed hält. Die Diskrepanz zwischen Polyphems Vision und dem tatsächlich auf der Bühne Dargestellten könnte augenfälliger kaum sein, sieht der Zuschauer eben nur die weniger sublime Bühnenrealität des halb tierischen Satyrchors und des hässlichen, greisen Silens. Doch gerade diese Diskrepanz zwischen Illusion und Realität im Stück selbst impliziert einen Kommentar über Theaterillusion: So wie der Zyklop hier sieht, was nicht da ist, sehen auch die Zuschauer, mit der Illusion der dramatischen Aufführung konfrontiert, was nicht da ist, eine Präsenz, die eigentlich absent ist. Wie Polyphem hält der Zuschauer, zumindest zu einem gewissen Grade, Illusion für Realität, Schein für Sein, in diesem Fall also eine Truppe von Schauspielern für Satyrn, Silen, Polyphem und Odysseus. Wie für Polyphem im unmittelbaren physischen Exzess verschwimmen auch für den Zuschauer die Grenzen zwischen Realität und Illusion, und so wird das Erlebnis des Zuschauers in Parallele gesetzt zur Rauscherfahrung. Doch gerade durch diese Parallelisierung fallen die Unterschiede zwischen diesen beiden Arten des Realitätsverlustes ins Auge: Polyphem ist körperlich dem Rausch unterworfen, verliert ohne Sicherheitsnetz den Sinn für Raum und Zeit und wird zum Sklaven des Dionysos, als dieser in Form des Weines „ankommt“. Dieser körperliche Rausch kulminiert in Polyphems Blendung, seiner alkoholbedingten Verblendung. Beim Zuschauer kann von „Verblendung“ nur bedingt gesprochen werden. Denn bei ihm handelt es sich um „illusion“, nicht wie beim Zyklopen um unkontrollierte „delusion“: Auch beruht diese Illusion mitunter auf der Komplizenschaft des Zuschauers und wird so von ihm mitbestimmt. Der Unterschied ist droben seh’ ich den Thron des Zeus und die ganze heilige Schar der Götter. Nicht küssen soll ich? Die Chariten versuchen mich. Genug! Mit diesem Ganymed werd’ ich mich zu Bett begeben, es wird viel schöner sein als mit den Chariten. Denn ich erfreu’ mich an den Jünglingen wohl mehr als an den Mädchen.“ 22 Pentheus’ „dionysische“ Visionen in den Bakchen sind in eben dieses Vokabular gefasst. Zu den Bakchen als Metatragödie vgl. Segal, C. P.: „The Bacchae as metatragedy“. In: Burian, P. (Hrsg.): Directions in Euripidean Criticism. Durham 1985, 156-73; ders.: Dionysiac poetics and Euripides’ Bacchae. Princeton (NJ) ! 1997, S. 215-71. <?page no="79"?> sympotische und ästhetische gemeinschaft 79 also erstens, dass sich der Zuschauer zwar auch einer „domination of reality by appearance“ unterwirft, dass diese Art der „Unterwerfung“ aber freiwillig ist; 23 und zweitens, dass diese „Unterwerfung“ an Ort - das Dionysos-Theater am Südhang der Akropolis - und Zeit - die Dauer der Theateraufführung im Rahmen der Dionysien - zurückgebunden ist. Die metatheatralische Dimension der besprochenen Textstelle lädt also ein, den Theaterbesuch als „Ersatzrausch“ zu fassen, der zwar ebenfalls Grenzerfahrung, aber kontrollierte Grenzerfahrung ist. In gewisser Weise ist der Theaterbesuch ein „Ersatz-Gelage“. 24 Führt man diesen Gedanken aber gerade vor dem Hintergrund eines Stückes weiter, in dem die „satyrische“ Auseinandersetzung mit den Licht- und Schattenseiten der Gemeinschaft physischer Grenzerfahrung einen so zentralen Platz einnimmt, so impliziert Euripides’ Satyrdrama die Möglichkeit, die ästhetische Genussgemeinschaft im Zuschauerraum als Alternative zur sympotischen, unmittelbar physischen Genussgemeinschaft aufzufassen, die im Zyklopen in verschiedener Ausformung auf die Bühne gestellt ist. 23 Vgl. Segal 1997, S. 227: „we willingly and indeed eagerly submit to a domination of reality by appearance“. 24 Eine Parallelisierung von Symposion und Theater war Euripides’ Zeitgenossen nicht fremd: Kratinos fr. 182 etwa spricht von einem „Mahl von geistreichen Zuschauern“ ( 8 8 8 ). Umgekehrt aber bot auch das Symposion ein „Ersatz-Theater“: So bestaunt Sokrates in Xenophons Symposion verschiedene mimetische und „theatralische“ Darstellungen ( , 2.2 und 7.5). <?page no="80"?> Triumph und Theater im Text. Literarische Inszenierungen imperialer Repräsentation in Rom Therese Fuhrer (Berlin) Triumph, Triumphzug, Triumphieren sind Begriffe der Alltagssprache geworden, mit denen unspezifisch unterschiedliche Modi der Demonstration von Überlegenheit bezeichnet werden. Damit verbunden sind bestimmte Gesten, Reden, Prozessionen und so weiter, also unterschiedliche performative Prozesse, mit denen Exzellenz zur Schau gestellt und/ oder verbal begründet wird. Der Begriff „Triumph“ ist auch zum Markennamen geworden, der zumindest ursprünglich die Vorstellung evozieren sollte, dass ein bestimmtes Produkt den Benutzer/ die Benutzerin oder den Eigentümer/ die Eigentümerin dazu befähigt, sich anderen überlegen zu fühlen: so etwa im Auto „Triumph Spitfire“, auf dem Motorrad „Triumph Thunderbird“, mit der Schreibmaschine „Triumph Gabriele 2000“ oder in den Dessous der Marke „Triumph“. Die Botschaft, die diesen Markennamen zugrunde liegt, lässt sich - wenn auch auf Umwegen - auf die römische Praxis des Triumphzugs zurückführen, mit dem ein militärischer Sieg und damit die Überlegenheit des römischen Heeres im Krieg gefeiert wurde. Der militärische Triumph wurde bereits in der Antike immer wieder als allgemeine Chiffre für die Demonstration von Überlegenheit schlechthin benutzt und auf Alltagssituationen und zwischenmenschliche Beziehungen übertragen. Im Gegensatz zu den genannten modernen Markennamen blieb der antike, lateinische Begriff triumphus selbst bei metaphorischem Gebrauch mit der Vorstellung des performativen Akts verbunden, der in der Zeit von der frühen Republik bis in die Spätantike in Rom anlässlich von bedeutenden Siegen in den Straßen Roms aufgeführt wurde, der aber auch durch bildliche Darstellungen auf Monumenten sowie in literarischen Beschreibungen in der Wahrnehmung präsent war. Zur Form dieses als urrömisch geltenden Spektakels und seiner Bedeutung in der römischen Politik und Kultur sind in jüngster Zeit mehretriumph <?page no="81"?> und theater im text 81 re Arbeiten aus der Feder von Historiker/ -innen erschienen, so dass das Phänomen „römischer Triumph“ mit der damit verbundenen Problematik der (Nicht-)Rekonstruierbarkeit der Prozession als gut erforscht gelten kann. 1 Die grundsätzliche Schwierigkeit, die sich den an historischen und (kultur-)politischen Fragestellungen Interessierten stellt, ist in dem Umstand begründet, dass der größte Teil des Quellenmaterials literarische Texte sind, die bestimmte Triumphe und damit den Auftritt bestimmter Triumphatoren innerhalb einer Erzählung beschreiben. Solche Erzählsequenzen sind in der Regel Teil einer historiographischen Schrift, finden sich aber auch in poetischen Texten ohne jede dokumentarische Funktion. Wie zuletzt Tanja Itgenshorst und Mary Beard betonten, können diese Texte insofern nicht zuverlässige Quellen für die Rekonstruktion realer Triumphe sein, als sie in der Regel die Rituale ihrerseits strukturieren und schematisieren. Nach Itgenshorst handelt es sich selbst bei den Beschreibungen aus der Feder der Historiographen mehr um „Konstrukte gelehrter Antiquare und Historiker“ als um präzise Wiedergaben historischer Einzelfälle. Bestenfalls kann aufgrund der archäologischen und literarischen Testimonien ein Idealtypus des römischen Triumphs rekonstruiert werden, nicht jedoch die genaue Form der für jeden Sieg und jeden Triumphator je unterschiedlich gestalteten Triumphzüge. 2 Wenn im Folgenden die textuelle Inszenierung dieses römischen „Theaters der Macht“ 3 im Zentrum stehen wird, soll denn auch nicht nach der Relevanz dieser Texte für die Rekonstruktion der historischen Wirklichkeit gefragt werden. Vielmehr soll die Frage im Zentrum stehen, wie der Triumphzug als performativer Prozess im Medium Text beschrieben und mit Bedeutung versehen wird, im Besonderen auch die Frage, wie sich die Texte durch die Beschreibung und eine damit verbundene Bedeutungs- Zuschreibung in den Prozess der Kommunikation, der sich aus der Performance ergibt, einschreiben. 1 Künzl, E.: Der römische Triumph. Siegesfeiern im antiken Rom. München 1988; Östenberg, I.: Staging the world. Rome and the other in the triumphal procession. Lund 2003 = Staging the World. Spoils, Captives, and Representations in the Roman Triumphal Procession. Oxford 2009; Itgenshorst, T.: Tota illa pompa. Der Triumph in der römischen Republik. Göttingen 2005; Beard, M.: The Roman Triumph. Cambridge, (Mass.)/ London 2007. Vgl. auch noch Ehlers, W.: „Triumphus“. In: Paulys Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft 7A,1 (1939), S. 493-511. Für weitere Literatur vgl. Itgenshorst 2005, S. 31-41. 2 Den Begriff des „Idealtypus“ des römischen Triumphs hat Itgenshorst 2005, S. 22 und S. 30 nach Max Weber geprägt (Zitat S. 41). 3 Nach Hölkeskamp, K.-J.: „Pomp und Prozessionen. Rituale und Zeremonien in der politischen Kultur der römischen Republik“. In: Jahrbuch des historischen Kollegs (2006), S. 35-72, hier 38. <?page no="82"?> 82 therese fuhrer Nur kurz sei zunächst referiert, welche Grundform - nach Itgenshorst der „Idealtypus“ - des römischen Triumphs sich aus den Quellen erschließen lässt. 4 Triumphus ist die spezifische Bezeichnung für die Prozession, 5 mit der ein Feldherr in der Hauptstadt Rom einen oder mehrere militärische Siege dokumentiert, indem er diese Siege und damit die Überlegenheit seines, des römischen, Heeres über einen Gegner den Bewohner/ innen der Stadt Rom mit einem Umzug - einer pompa triumphalis - vor Augen führt und überhaupt bekannt macht. Die Prozession verlief nach einem bestimmten Skript, war also in hohem Maße choreographiert und in der Stadt Rom genau verortet. In mehr oder weniger genauer Abfolge zogen Wagen und Traggestelle mit der Beute und den Gefangenen am Publikum vorbei. Dann erst folgte der Wagen, auf dem der lorbeerbekränzte Triumphator stand, mit rot gefärbtem Gesicht, begleitet von rutenbündeltragenden Liktoren und von einem Staatssklaven, der ihm einen Eichenkranz übers Haupt hielt und - diese Information geben uns allerdings nur die späteren Quellen - ihn an sein Menschsein und an seine Sterblichkeit erinnerte. 6 Den Schluss des Zuges bildeten die Soldaten des siegreichen Heeres, die aber nun aus dem Kriegsdienst entlassen waren und Spottlieder auf ihren ehemaligen Feldherrn singen durften. Der Weg der Prozession 7 begann am Tempel der Bellona, wo der Senat dem Feldherrn die Erlaubnis zu triumphieren offiziell erteilte. Vor dem Überschreiten der alten Stadtgrenzen wandte sich der Feldherr mit einer letzten Rede an seine Soldaten; dann gab er seinen Oberbefehl über das Heer (das imperium) ab und legte das purpurne Triumphalgewand an. Der Weg führte über das Marsfeld, das Forum Boarium, durch den Circus Maximus um den Palatin herum und auf der Via Sacra über das Forum Romanum. Am Ausgang des Forums wurden die gefangenen Anführer in der Regel in den nahen Carcer Mamertinus/ Tullianus geführt und hingerichtet. Schließlich zog die Prozession hinauf zum Kapitol, wo die im Zug mitgeführten Rinder Jupiter geopfert und Teile der Beute in dessen Tempelbezirk aufgestellt wurden. 4 Im Folgenden stütze ich mich hauptsächlich auf die Ausführungen von Künzl, Östenberg, Itgenshorst (siehe oben Anmerkung 1) und Hölkeskamp (siehe oben Anmerkung 3); vgl. auch Flaig, E. Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom. Göttingen 2003, S. 32-48. Zum Begriff des Idealtypus siehe oben Anmerkung 2. 5 Zu Begriff und Herkunft vgl. Ehlers 1939, S. 493-494; Versnel, H. S.: Triumphus. An inquiry into the origin, development and meaning of the Roman triumph. Leiden 1970, S. 1-55, der den Begriff aus dem Dionysoskult herleitet. 6 Dazu Beard 2007, S. 85-92. 7 Vgl. die Karten bei Künzl 1988, S. 15; Hölkeskamp 2006, S. 63; Beard 2007, S. 335. <?page no="83"?> triumph und theater im text 83 Die Straßen, die Plätze und der Circus dienten somit als Bühne und Szenerie für dieses farbenprächtige Schauspiel, das von Trompetenstößen, Tiergeschrei und dem Klirren der mitgeführten erbeuteten Waffen begleitet wurde. Die Zuschauer säumten die Straßen oder saßen auf den Rängen des Circus und riefen zusammen mit den Soldaten des prozessierenden Heeres io triumphe, „Hurra, Triumph“. Syntax und Semantik der Prozession waren dem Publikum bekannt. Nicht allein das Ende der Gefahr und der glückliche Ausgang des Krieges, sondern auch die reiche Beute - die Kriegsbeute gehörte zu den wichtigsten Momenten der Kriegsführung -, die Demütigung der Besiegten, die Überlegenheit des römischen Heeres und die Verdienste des Feldherren wurden mit großem Aufwand in Szene gesetzt. 8 Das Ereignis war in der Regel auf eine Tagesspanne begrenzt. Wenn mehrere Siege hintereinander gefeiert wurden, konnte sich ein Fest entsprechend auf mehrere Tage erstrecken. Das Fest hatte jedenfalls ephemeren Charakter, fand also nicht an einem bestimmten Tag im Jahr statt, sondern war an einen bestimmten militärischen Sieg eines einzelnen Feldherrn gebunden: einen Sieg gegen einen bestimmten Feind, der in der Regel im Triumphzug mitgeführt wurde und klar identifizierbar war. 9 Choreographie, Topographie und Ritualsyntax waren jedoch in jedem Einzelfall gleich, so dass die bildlichen und auch die textuellen Repräsentationen stark konventionalisiert sind. 10 Einen Eindruck des Geschehens kann Flavius Josephus’ Schilderung des Triumphs des Kaisers Vespasian und seines Sohnes Titus im Jahr 71 nach der Eroberung Jerusalems vermitteln. 11 Der Autor war am Krieg beteiligt, folgte dann Vespasian nach Rom und war möglicherweise Augenzeuge der Prozession. 12 Der Text schildert der Reihe nach die schiere Masse der Beute und den Zug der Kriegsgefangenen, der von bildlichen Darstellungen der Schlachtenszenen begleitet wird, die zeigen sollen, wie der Gegner jeweils bezwungen wurde. Dann folgt der Triumphator Vespasian „hoch zu Ross“. Mit der Aufzählung der mitgeführten Gegenstände und Menschen sowie der wertenden Kommentierung versucht der 8 Zur Funktion der Zurschaustellung der mitgeführten Gegenstände und Gefangenen vgl. Östenberg 2003, passim. Zur Bedeutung der Beute vgl. besonders Flaig 2003, S. 38-48. 9 Dies im Unterschied zu modernen Militärparaden, die im Normalfall an bestimmte Termine gebunden sind und keine spezifischen und einmaligen Siegesfeiern sind. 10 Abweichungen vom Skript werden zwar in den Texten notiert; doch dadurch, dass sie durch den Vergleich mit den Standardsituationen als Abweichungen markiert werden, wird wiederum die Stereotypie des Vorgangs betont, die die Vergleichbarkeit ermöglicht. 11 Flavius Josephus: Bellum Iudaicum 7,4-6. 12 Vgl. dazu Itgenshorst 2005, S. 24-26; Beard 2007, S. 93-94. <?page no="84"?> 84 therese fuhrer Text, den Anblick der erbeuteten Reichtümer, der in prachtvolle Gewänder eingekleideten Gefangenen und auch die Wirkung auf die Zuschauer zu visualisieren. Die auf den Schlachtenbildern dargestellten Handlungen fügen sich im Kontext der Ereignisfolge des Triumphzugs zu einer Reihe von Narrativen zusammen. 13 Der Triumphzug wird stellenweise zum Theaterstück, dessen glücklicher Ausgang mit der Prozession von Beute, Kriegsgefangenen und Triumphator von Anfang an immer auch vor Augen geführt wird. Explizit wird auf das glückliche Ende zum Schluss hingewiesen. 14 Diese textuelle Umsetzung der Performance kann aber natürlicherweise nur einen verkürzten Eindruck des Spektakels erzeugen. Das antike Lesepublikum wird jedoch aufgrund von Autopsie, Erzählungen oder bildlichen Repräsentationen auf Bauten in der Lage gewesen sein, die Beschreibung mit eigenen Vorstellungen zu ergänzen. Den nachantiken Leser/ innen können die zahlreichen erhaltenen Reliefs mit Szenen aus Triumphzügen, die zu einem großen Teil von Triumphbögen stammen, dazu dienen, das imaginäre Potential des Textes zusätzlich zu aktivieren. 15 In einer Hinsicht bleiben wir jedoch ganz auf die Informationen der literarischen Quellen angewiesen. Jeder Triumphzug war in ein komplexes Kommunikationssystem eingebunden, in dem zwar einerseits die Botschaft von Kriegsende und Sieg des römischen Heeres vermittelt werden sollte, andererseits aber auch die Möglichkeit bestand, von diesem konkreten Ereignis unabhängige Intentionen zu kommunizieren. 16 Mit einem Triumphzug konnten durch die Präsentation der Beute neue Kriege motiviert werden, ebenso ließen sich hohe Verluste rechtfertigen, oder ein Triumphator konnte sich für höhere politische Ämter empfehlen. Auch das am Prozess der Kommunikation beteiligte Publikum war je nach außen- und innenpolitischer Lage unterschiedlich gestimmt. Die literarischen Zeugnisse berichten von bestimmten Reserven und von Mitleidsbekundungen für die Gefangenen von Seiten des Publikums. 17 Die performativen Prozesse ließen sich also offenbar nicht vollständig durch theatrale Zeichen lenken und bestimmen. Das Zusammenwirken der Akteure der 13 Zu diesen Schlachtentableaus vgl. Östenberg 2003, S. 245-261. 14 Kap. 7,6. 15 Die archäologischen Testimonien führt Östenberg an. Vgl. auch Holliday, P. J.: The origins of Roman historical commemoration in the visual arts. Cambridge 2002, S. 22-62. Zum imaginären Potential der Texte und ihrer visuellen Verankerung vgl. auch Brilliant, R. „,Let the Trumpets Roar! ‘ The Roman Triumph“. In: Bergmann, B. (Hrsg.): The art of ancient spectacle. New Haven 1999, S. 220-228. 16 Dazu Flaig 2003, S. 39-40.; Hölkeskamp 2006, S. 70-72. 17 Vgl. zum Beispiel Livius 5,23,4-6; Cassius Dio 34,19-20; Appian: Bellum civile 2,101-102; Plutarch: Aemilius Paullus 33-34 - Die Texte werden unten S. 87-88 besprochen. <?page no="85"?> triumph und theater im text 85 Prozession und der Zuschauer dynamisierte die Aufführungen und die intendierte Kommunikation konnte zumindest teilweise misslingen. Allerdings wurden in diesen Kommunikationsprozessen keine Positionen ausgehandelt, es fand nicht in dem Sinn ein Dialog zwischen dem Triumphator und dem römischen Volk statt, dass die Äußerungen des Publikums die Performance wesentlich hätten mitbestimmen können. Vielmehr wurde durch die Prozession von Beute, Gefangenen und Sieger die klare und eindeutige Botschaft performativ hergestellt. Die Regel war offenbar eine kollektive Akzeptanz durch die Zuschauer auf den Straßen Roms, die applaudierten und denen in den Texten öfter der erwähnte Ruf „io Triumphe“ in den Mund gelegt wird. 18 Die Idee und das Skript des römischen Triumphzugs scheinen sich jedenfalls bewährt zu haben. Sie blieben durch die Jahrhunderte unverändert, ebenso die Semantik der Inszenierung, die Mechanismen ihrer Kodierungen und die Möglichkeiten der Dekodierung durch das Publikum, die einerseits auf der Materialität des Schauspiels beruhten, das Wohlstand und innere Sicherheit versprach, andererseits auf dem durch die Jahrhunderte hindurch ausgebildeten sozialen und kulturellen Gedächtnis. Der Triumphzug hatte also - nicht zuletzt durch die ökonomische Komponente - eine Gemeinschaft stiftende und erhaltende Wirkung. 19 Wenn also die bildlichen und literarischen Testimonien, die uns eine Rekonstruktion des römischen Triumphzugs überhaupt erst ermöglichen, diesen stark schematisieren, so kann man ihnen zwar zu Recht eine Reduktion der Komplexität des Geschehens vorwerfen. Andererseits erfasst gerade ihre Schematisierung doch auch ein wichtiges Element des Phänomens „Triumphzug“: Die Stereotypie der bildlichen und literarischen Darstellungen verweist auf die intendierte Eindeutigkeit der durch die Aufführung vermittelten Botschaft. Dennoch bleibt das Problem bestehen, dass sich performative Prozesse wegen des statischen Charakters der bildlichen Darstellungen und der Textualität der schriftlichen Quellen eigentlich nicht abbilden lassen. Texte können sich zu einer Performance nur in irgendeiner Weise verhalten. Ein Text kommt ohne Fokussierung auf bestimmte Objekte oder Handlungssequenzen nicht aus und kann nicht alle sinnlich erfahrbaren Einzelheiten - wie Lärm, Geruch oder Gestank, Gedränge, Hitze - wiedergeben. 18 Vgl. zum Beispiel Liv. 21,62,2; Horaz: Carmen 4,2,49-52 (vgl. Epode 9,21-26); Tibull 2,5,118; Ovid: Amores 1,2,25 und 34; Metamorphoses 1,560-561; Tristia 4,2,51-52 Dazu Ehlers 1939, S. 502; Versnel 1970, S. 38-48. 19 Dazu Flaig 2003. Zur Geschichte des römischen Triumphzugs bis in die Spätantike immer noch am besten: Barini, C.: Triumphalia. Imprese ed onori militari durante l’impero romano. Turin u. a. 1952. <?page no="86"?> 86 therese fuhrer Im Unterschied zu den Bildmedien können Texte aber die Handlungen kommentieren und interpretieren, also bestimmten theatralen Zeichen in der Aufführung oder den Reaktionen der Zuschauer Bedeutungen zu- oder auch absprechen. Damit bietet sich dem Text die Möglichkeit, sich an dem Kommunikationsprozess zu beteiligen, in den ein performativer Prozess eingebunden ist oder den er erzeugt. Anders gesagt: Jeder Text, der einen Triumphzug beschreibt, schreibt sich nachträglich in den Kommunikationsprozess zwischen Akteuren und Rezipienten ein. Durch die Beschreibung - die literarische Inszenierung - von Pracht und Pomp des Festzugs, der Requisiten, Akteure und rituellen Handlungen führt er die klar konnotierten Zeichen und Symbole des Überlegenheitsdiskurses vor und reproduziert damit diese eindeutige Botschaft. Doch durch die „spezifische Auswahl, Organisation und Strukturierung von Material und Personen“, 20 durch das Arrangement der Objekte in Zeit und Raum wird die Wahrnehmung gelenkt. Die literarische Inszenierung der Mise-en-scène lädt die theatralen Zeichen mit mehr oder mit neuer Bedeutung auf. Dieser textuelle Kommentar kann affirmativ sein, wie beispielsweise in der Schilderung des Triumphs von Vespasian und Titus im Bellum Iudaicum des kaisertreuen Flavius Josephus, wo die Menge und Pracht der Beute hervorgehoben wird und am Ende auf die Bedeutung des Sieges für Rom explizit hingewiesen wird, oder in Plinius’ Panegyricus, wo ein potentieller Triumph Trajans über die Daker beschrieben wird, ihm also von vornherein die militärische Überlegenheit über äußere Feinde, deren Könige in der imaginären Inszenierung bereits als Gefangene in Ketten vorgestellt werden, und reiche Beute zugeschrieben werden. 21 Die Eindeutigkeit der für das Publikum sichtbaren Zeichenträger „Beute“ und „Gefangene“ wird in beiden Texten durch die Kommentierung verbal verstärkt. Ein Text kann aber auch auf die Mehrdeutigkeit der rituellen Handlungen oder der Erscheinung der Akteure und Objekte hinweisen. In Livius’ Erzählung von Camillus’ Schimmeltriumph nach einem Sieg gegen Veji zu Beginn des 4. Jahrhunderts vor Christus wird der Triumphator explizit in den Fokus der Blicke der Zuschauer gerückt: Sein Auftritt auf dem von 20 Fischer-Lichte, E.: „Inszenierung und Theatralität“. In: Willems, H./ Jurga, M. (Hrsg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Opladen/ Wiesbaden 1998, S. 81-90, hier 87. 21 Plinius minor: Panegyricus 17. - Für eine poetische Modellierung der panegyrischen Symbolik des Triumphzuges vgl. Krasser, H.: „Poeta triumphans, Römische Sieghaftigkeit und die Macht des Dichters im vierten Odenbuch des Horaz“. In: Arweiler, A. H./ Gauly, B. M. (Hrsg.): Machtfragen zur kulturellen Repräsentation und Konstruktion von Macht in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Stuttgart 2008, S. 127-148. <?page no="87"?> triumph und theater im text 87 weißen Pferden gezogenen Wagen beim Einzug in die Stadt wird aus dieser Perspektive als „Erhebung nicht nur über die Stufe des Bürgers, sondern auch über die eines Menschen“ gesehen, und der Triumph „erregte mehr Aufsehen als Zufriedenheit“. 22 Die Insignien der Überlegenheit werden als Anzeichen von Hybris gedeutet, die weiße Farbe der Pferde wird zum Signal einer Normüberschreitung. Livius’ Erzählung thematisiert - aus der Perspektive der augusteischen Zeit - das Gefahrenpotenzial, das die Inszenierung des Erfolgs einer Einzelperson mit sich bringt. 23 Die Beschreibung der Gefangenen, die in affirmativen Texten panegyrische Funktion hat, also der Inszenierung der Leistungen des römischen Heeres und des Triumphators dient, wird in einer Reihe von Texten dazu benutzt, um auf die Situation einzelner Persönlichkeiten hinzuweisen, die in einer zuvor herausragenden Position waren und nun die Schmach erleiden müssen, in Ketten durch die Straßen Roms geschleppt zu werden. Ein solcher Perspektivenwechsel wird durch die Darstellung der Reaktion aus den Reihen der Zuschauer erzwungen. In Cassius Dios Schilderung von Caesars Dreifachtriumph nach dem Bürgerkrieg wird - 300 Jahre nach dem historischen Ereignis - durch die Mitleidsbekundungen des Publikums für die gefangene ägyptische Königin Arsino & die Inszenierung des Sieges ebenfalls mit dem Makel der Normüberschreitung konnotiert: 24 Die öffentliche Zurschaustellung einer gefangenen Frau von königlichem Rang passt nicht in das Tableau einer Prozession, mit der die Überlegenheit des Siegers demonstriert werden soll. Einen ähnlichen Effekt beschreibt Plutarch in der Biografie des römischen Politikers und Feldherrn Aemilius Paullus: Als im Triumphzug gegen den König Perseus von Makedonien nach der Schlacht von Pydna im Jahr 168 vor Christus auch dessen Kinder vorgeführt wurden, die einen jämmerlichen Anblick boten, blieben die Sympathiebekundungen und Tränen der Zuschauer nicht aus. 25 Diese Publikumsreaktion wird am 22 Livius 5,23,4-6: „triumphusque omnem consuetum honorandi diei illius modum aliquantum excessit. maxime conspectus ipse est, curru equis albis iuncto urbem invectus, parumque id non civile modo sed humanum etiam visum. […] triumphusque ob eam unam maxime rem clarior quam gratior fuit.“ 23 Nach Itgenshorst 2005, S. 150-158 haben Livius’ Triumphschilderungen die Funktion eines Kommentars zur militärischen Kompetenz und damit auch allgemein zur Geschichte der römischen Republik („Triumph als Moment der Erfolgsgeschichte“). Vgl. auch Tränkle, H.: „Gebet und Schimmeltriumph des Camillus. Einige Überlegungen zum fünften Buch des Livius“. In: Wiener Studien 111 (1998), S. 145-165. 24 Cassius Dio 43,19-21. Dazu Östenberg 2003, S. 140-143. 25 Plutarch: Aemilius Paullus 32-36, besonders 33: „Dann endlich wurden … die Kinder des Königs als Gefangene einhergeführt und mit ihnen eine Menge ihrer Wärter, Lehrer und Erzieher, die tränenüberströmt selbst ihre Arme nach den Zuschauern ausstreckten und die Kinder ermahnten, ebenfalls zu bitten und zu flehen. Es waren zwei Knaben und ein Mädchen, wegen ihres zarten Alters noch nicht fähig, die <?page no="88"?> 88 therese fuhrer Ende kontrastiert mit der Haltung des Siegers, Aemilius Paullus’, der in dieser Situation seine Trauer über den Tod des eigenen Kindes unterdrücken muss. Vier Tage vor dem Triumph hatte dieser seinen vierzehnjährigen Sohn verloren, „und der Zwölfjährige folgte ihm drei Tage nach dem Triumph“. 26 Die Zurschaustellung der Kinder des besiegten Feindes hat in der Semantik des römischen Triumphzugs durchaus ihren Sinn: Damit wird die Überlegenheit des Siegers auch über die weiteren Generationen des Feindes dokumentiert. 27 Diese Botschaft wird in der literarischen Inszenierung - fast 300 Jahre nach dem historischen Triumph und von einem griechischen Autor - umkodiert und als pure Grausamkeit des Schicksals gedeutet, das auch den Sieger treffen kann. Die unerwartete Empathie für die Unterlegenen und das Mitleid für den Triumphator reduzieren den Effekt der Überhöhung des Siegers. Livius erzeugt eine vergleichbare Störung des Überlegenheitsdiskurses durch die Erzählung von der Flucht und der Selbsttötung des gefangenen ätolischen Feldherrn Damocritus, der sich damit der Zurschaustellung im ansonsten reich ausgestatteten Triumphzug des Manius Acilius Glabrio (190 vor Christus) entzog; daraufhin lässt Livius die Nachricht von einer Niederlage in Spanien folgen, die „die Freude über den Triumph minderte“. 28 Plutarch dämpft die Schilderung der Festfreude anlässlich von Marius’ Triumph gegen die Numider im Jahr 104 vor Christus, indem er anschließend erzählt, wie der gefangene Protagonist, Jugurtha, nach der Prozession im Kerker wahnsinnig wurde. 29 Kommentiert wird auch das Verhalten des Triumphators Marius nach dem Ereignis: Er legte das Triumphalgewand nicht ab und führte damit die Demonstration der Überlegenheit auch außerhalb des rituellen Handlungsrahmens und damit gegen die Norm weiter. Indem also der Text die Beschreibung des Triumphzugs in einen narrativen Kontext integriert, kann er auf dessen Voraussetzungen und Folgen verweisen, wodurch der Erfolg in der Regel relativiert wird. Appian weist - 200 Jahre nach dem historischen Ereignis - auf die Problematik der triumphalen Inszenierung von Caesars Sieg in den Bürgerkriegen hin: Da die mitgeführten Gefangenen zum größten Teil römische Größe des Unglücks zu ermessen. Umso erbarmungswürdiger war ihr Anblick […] So sehr hefteten die Römer voll Mitleid ihre Augen auf die unmündigen Kinder, vielen stürzten die Tränen aus den Augen, und für alle bedeutete der Anblick eine Mischung aus Schmerz und Freude, bis die Kinder vorüber waren.“ (Übers.: K. Ziegler). 26 Plutarch: Aemilius Paullus 36. 27 So lässt auch Plutarch die Zuschauer eine „Mischung aus Schmerz und Freude“ empfinden. Solche Szenen finden sich auch in bildlichen Darstellungen öfter; dazu Östenberg 2003, S. 137-140. 28 Livius 37,46: „huius triumphi minuit laetitiam nuntius ex Hispania tristis.“ 29 Plutarch: Marius 12. <?page no="89"?> triumph und theater im text 89 Bürger gewesen wären, wurden die Siege allein durch bildliche Repräsentationen dargestellt. Dennoch „seufzten“ die Zuschauer beim Anblick der Gemälde, auf denen die Selbsttötungen der besiegten Feldherrn aus dem eigenen Volk dargestellt waren. Dagegen evozierten die Bilder von Tod und Flucht der nicht-römischen Gegner beim Publikum Freudenbekundungen und Gelächter. Dadurch, dass Appian unmittelbar danach die auf den Triumph folgende Geldverteilung erwähnt, erscheint diese als Maßnahme Caesars, mit der die Feedbackschleife in der Reaktion der Römer unter Kontrolle gehalten werden sollte. 30 Der ökonomische Erfolg gibt dem Sieger auch im Bürgerkrieg Recht, so der Tenor dieser Darstellung. Explizit nennt ein Jahrhundert später Cassius Dio die Geldzuweisungen Oktavians nach den Siegen von Actium und Alexandria als Grund für das Gelingen des anschließenden Triumphs, in dem gefangene Römer nun tatsächlich mitgeführt wurden; man habe aber - als Reaktion auf Oktavians Geldspenden - so getan, als wären diese Gefangenen Fremde. 31 Ein militärischer Sieg bedeutet gemäß Dios Deutung auch ökonomische Überlegenheit und gibt dem Sieger die Definitionsmacht über die Identität der Besiegten, die in der Vorstellung von deren Mitbürgern für Geld auch zu Barbaren gemacht werden können. Cassius Dio weist zudem auf eine prominente Lücke im selben Triumphzug hin: Die Protagonistin Kleopatra konnte - neben ihren Kindern - nur als Bild mitgeführt werden, da sie sich nach ihrer Niederlage umgebracht hatte. 32 Das Bild der Feindin wird im Text zum Symbol der Überlegenheit der besiegten Frau über den Sieger in dieser einen Hinsicht: Sie konnte sich - im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester Arsino & in Caesars Triumphzug - der Demütigung entziehen. 33 Die Textbeispiele zeigen, wie am Symbolsystem „Triumphzug“ die Bedeutung der Symbole und die Gültigkeit der durch sie vermittelten Werteordnung diskutiert und in Frage gestellt werden können. Die intendierte Eindeutigkeit der Macht-Semantik wird aufgebrochen. Der Inszenierung 30 Appian: Bellum civile 2,101-102. 31 Cassius Dio 51,21,3-5: „Er [Oktavian] machte auch unter den Soldaten gewisse Geschenke und ließ unter dem Volk an jeden Einzelnen vierhundert Sesterzen verteilen […] Infolge dieser Maßnahmen […] vergaßen die Römer ihre sämtlichen unerfreulichen Erfahrungen mit ihm und schauten mit Vergnügen seinem Triumphe zu, gerade so, als wenn die Besiegten ausschließlich Fremde gewesen wären.“ (Übersetzung R. Häussler). 32 Cassius Dio 51,21,8. 33 Dies wird in Horaz: Carmen 1,37,29-32 deutlich ausgesprochen; vgl. auch Properz, 3,11, 53-54. Laut Sueton: Augustus 17 und Plutarch: Antonius 86 hätte Oktavian sie gerne lebend im Triumph mitgeführt. Vgl. zu dieser „Cleopatran solution“ Beard 2007, S. 114-117 und S. 143-147; Gurval, R. A.: Actium and Augustus. The Politics and Emotions of Civil War. Ann Arbor (Mich.) 1995, S. 28-29. <?page no="90"?> 90 therese fuhrer des Triumphzugs wird eine Polysemie unterlegt, die zumindest von der Regie nicht intendiert sein konnte. Mit seinem festen Skript und der auf Eindeutigkeit angelegten Semiotik bietet der Triumphzug somit eine ideale Folie für die Diskussion der Dialektik von Macht und Ohnmacht, Überlegenheit und Unterlegenheit, Überheblichkeit und Demütigung. In den historiographischen Texten werden die performativen Prozesse, die diesen Machtdiskurs unterstützen, aus der Erzählerperspektive wiedergegeben und kommentiert. Eine Reihe von poetischen Texten beschreibt dieselben Prozesse aus der Perspektive eines schreibenden Ichs, das sich entweder als anwesender Zuschauer oder in einem Fall auch als Akteur in der Prozession zu erkennen gibt. Durch diese interne Fokalisierung ergeben sich weitere Möglichkeiten, das altbekannte Theater der Macht zu kommentieren und zu interpretieren. Die literarische Gattung, in der die Thematik von Triumph, Macht und damit verbundener Ohnmacht mit Vorliebe aufgegriffen wird, ist die sogenannte subjektive römische Liebeselegie, in der sich ein poetisches Ich als Dichter inszeniert, der der Liebe zu einer Hetäre/ Kurtisane verfallen ist und sich dadurch außerhalb der bürgerlichen Normen bewegt. 34 In Properz’ Elegie 3,4 stellt sich das Dichter-Ich als Prophet dar, der dem geplanten Feldzug des Augustus gegen die Parther einen glücklichen Ausgang vorhersagt (V. 9, „omina fausta cano“). 35 Daraufhin wünscht er sich, dass er eines Tages den auf den Sieg folgenden Triumphzug als Zuschauer sehen könne (Vv. 13-14, „illa dies, qua videam …“ ), namentlich den mit Beute beladenen Triumphwagen Caesars (Augustus’), dessen Pferde durch den Lärm des Beifalls des Publikums aufgescheucht werden (Vv. 14-15). Dabei wird das Sprecher-Ich weiter identifiziert: Er ist der elegische Liebende, der, an den Busen seiner Geliebten geschmiegt, das Schauspiel betrachten will: die auf den Inschriften verzeichneten Namen der eroberten Städte, die Waffen der Besiegten und die unter den Siegestrophäen sitzenden feindlichen Führer (Vv. 15-20). Im letzten Distichon (Vv. 21-22) grenzt sich der Sprecher noch deutlicher von den Akteuren des Triumphzugs ab: Die Beute soll denen gehören, die sich im Krieg abgemüht haben, er wird sich damit begnügen, an der Via Sacra zu stehen und zu applaudieren. Der Dichter-Prophet ist zwar bereit, in seiner Rede 34 Ein Merkmal der römischen Liebeselegie besteht darin, dass das bürgerliche Normen- und Wertesystem immer wieder aufgerufen wird, so dass sich das elegische Ich jeweils explizit davon absetzen kann, öfter auch dadurch, dass das Dichter-Ich sich für unfähig erklärt, die politische Wertewelt zum Thema der eigenen Dichtung zu machen. 35 Zum historischen Kontext und der möglichen Datierung der Elegie in die Jahre 22-20 vor Christus vgl. Fedeli, P.: Il Terzo Libro delle Elegie di Sesto Properzio. Bari 1985, S. 156-157. <?page no="91"?> triumph und theater im text 91 die Verdienste des Siegers und die Unterwerfung des Feindes zu inszenieren, noch bevor die Prozession stattgefunden hat; doch wird das Schauspiel, in dem Sieger und Besiegte auftreten, nur deshalb imaginiert, um die eigene Position als applaudierender Zuschauer an der Seite einer Frau zu markieren, der nicht bereit ist, sich selbst an dem Machtdiskurs zu beteiligen. Der Triumphzug steht damit stellvertretend für ein Normensystem, aus dem sich die Liebenden ausschließen wollen und auch bereit sind, auf den Gewinn aus der Kriegsbeute zu verzichten. 36 Das Schauspiel von Sieg und Dominanz wird nicht kritisiert, jedoch zum Anlass für das Zusammensein mit der geliebten Frau umfunktioniert. Die Präsenz der beiden Zuschauer macht die Militärparade zu einem Fest der Liebe, deren Schutzgöttin Venus zwar explizit als Stammmutter der Familie des Triumphators angerufen wird (Vv. 19-20), womit aber gleichzeitig die Wertewelt der Liebenden auf dieselbe Höhe wie diejenige des triumphierenden Kaisers gestellt wird. 37 Eine ähnliche Rolle eines Außenstehenden entwirft rund zwei Jahrzehnte später Ovid in der Ars amatoria: Die Ansammlung der Zuschauer beim Triumphzug wird als Ort beschrieben, wo Männer Frauen „erobern“ können (1,217-228). 38 Auch hier wird das Fest nur imaginiert, gewissermaßen als Bühne für den männlichen Zuschauer, der der umworbenen Frau die Einzelheiten des Bühnengeschehens, des Triumphzugs, erklärt: Er nennt die Namen der dargestellten eroberten Landschaften und besiegten Fürsten, die im Triumphzug mitgeführt werden, selbst wenn er sie selbst nicht kennt; im Zweifelsfall soll er Herkunft und Namen der vorbeigeführten Objekte und gefangenen Fürsten erfinden, um die Frau zu beeindrucken. 39 In der Inszenierung der Überlegenheit des Triumphators spiegelt sich die Überlegenheit des männlichen Parts im Spiel der Liebeswerbung. Die Prozession wird vollends zum Schema, in dem - außer dem siegreichen Kaiser - die Akteure fast beliebig identifiziert werden können. Die für diese Zuschauer wichtigen performativen Prozesse finden am Rand des Triumphzugs statt; hier wird der Rand - ähnlich wie bei Properz in 3,4 - zum Zentrum des Geschehens. Die Feier des militäri- 36 Vgl. dazu Galinsky, K.: „Triumph Theme in the Augustan Elegy“. In: Wiener Studien 82 (1969), S. 75-107, hier 89-90. 37 So auch Fedeli 1985, S. 170. 38 Zu den Voraussetzungen dieses Spiels mit Imagination und Wirklichkeitsbezug vgl. Beard 2007, S. 183-185. 39 Ars amatoria 1,222: „et quae nescieris, ut bene nota refer“; Vv. 227-228: „et erunt quae nomina dicas,/ si poteris, vere, si minus apta tamen“ (auch was du nicht weißt, berichte, als wäre es dir wohlbekannt […] und dann magst du Namen nennen, die richtigen, wenn du sie weißt, andernfalls wenigstens passende; Übersetzung M. von Albrecht). <?page no="92"?> 92 therese fuhrer schen Siegs und die dafür aufgebotene Zuschauerkulisse werden zur Bühne für die Partnersuche. Die konventionelle Semantik des Triumphzugs wird entweder ignoriert oder neu funktionalisiert. In den Exilelegien greift Ovid diese Technik der Imagination eines Festzugs erneut auf. Das elegische Ich befindet sich nun selbst in einem fremden Land am Schwarzen Meer und stellt sich öfter Triumphzüge in den Straßen Roms mit allen dazu gehörenden Akteuren und Requisiten vor. Ovid nimmt jeweils konkret Bezug auf Siege des Prinzen Tiberius gegen die Germanen: Im Jahr 9 nach Christus wurde ihm ein Triumph bewilligt, den Ovid in Tristia 2,4 bereits im voraus Revue passieren lässt, der jedoch dann nicht stattfinden konnte. Ebenso malt er den Triumph des Jahres 12 nach Christus vor dem realen Ereignis detailreich aus (Epistula ex Ponto 2,1). 40 Ovids poetische Inszenierungen machen deutlich, dass sich der Triumphzug und die Festfreude völlig unabhängig von ihrem Schauplatz und von der Topographie Roms imaginieren lassen. In diesen Projektionen setzt sich das elegische Ich, der zu den Barbaren verbannte Dichter, implizit mit den gefangenen Barbarenfürsten gleich und wünscht sich dieselbe Begnadigung, die Tiberius den gefangenen Fürsten gewähren würde. 41 Die Vorschusslorbeeren für den Triumphator dienen somit der Rhetorik eines Gnadengesuchs des verbannten Dichters. In einer späteren Elegie beklagt das Dichter-Ich dann doch, dass er bei Tiberius’ nun tatsächlich abgehaltenen Triumphzug im Jahr 12 nach Christus nicht anwesend sein konnte (Epistula ex Ponto 3,4): Zwar würden die Berichte in ihm eine Vorstellung von den Beutestücken zu erzeugen vermögen, nicht mehr jedoch von den Stätten in Rom, von den beteiligten Personen und von der Festfreude. Das Fest, das tatsächlich stattgefunden hat, könne er also nicht beschreiben. Die leibliche Präsenz bei der Aufführung wird nun gerade für entscheidend erklärt, um das Schauspiel beschreiben zu können. 42 Damit wird die einmalige Wirkung des Performativen betont, die nicht losgelöst vom aktuellen Geschehen nachempfunden und beschrieben werden könne. Die Präsenz beim Fest kann aufgrund der bekannten Choreographie und Semantik zwar imagi- 40 Zu den Realien vgl. Helzle, M.: Ovids Epistulae ex Ponto, Buch I-II. Kommentar. Heidelberg 2003, S. 249-252. 41 Epistula ex Ponto 2,1,45-48. 42 Vgl. besonders Vv. 25-26: „sed loca, sed gentes formatae mille figuris / nutrissent carmen proeliaque ipsa meum“ (aber die Orte und Stämme, vertreten durch tausend Gestalten, und auch die Kämpfe an sich hätten genährt mein Gedicht; Übersetzung M. von Albrecht). Die Illokution der Aussage ist auch hier die Bitte um Begnadigung und um die Erlaubnis, nach Rom zurückkehren zu können (V. 38). Zu Ovids Technik der poetischen „Erzeugung von Präsenz“ bei der Beschreibung von „Imperial Shows“ vgl. Hardic, Ph. R.: Ovid’s Poetics of Illusion. Cambridge 2002, S. 307-315; vgl. auch Beard 2007, S. 178-185. <?page no="93"?> triumph und theater im text 93 niert werden, doch ersetzt sie nicht die persönliche Anwesenheit, die erst die synästhetische Wahrnehmung ermöglicht. 43 Der Triumph wird damit auch zur Chiffre für die römische Identität, die an die Stadt und die dort erfahrbare Festfreude gebunden ist. Den hier vorgestellten poetischen Texten ist eines gemeinsam: Sie verweisen auf einen in der Stadt Rom etablierten und stereotyp gestalteten Festakt, in dem den Einwohnern der Stadt und damit der Nation eindeutige Botschaften vermittelt werden sollten. Durch die Wiederholung des immer gleichen Schauspiels, der Parade von Beute, Besiegten und Sieger, wurde die Botschaft jedesmal überdeutlich formuliert. Die Wirkung dieser Inszenierungen war offenbar so erfolgreich, dass sie auch losgelöst vom konkreten Geschehen evoziert und beschrieben werden konnten. 44 Das durch den performativen Akt des Triumphzugs erworbene Wissen ist so fest im sozialen und kulturellen Gedächtnis verankert, dass mit wenigen Hinweisen auf stereotype Elemente dessen Präsenz imaginiert werden kann. Das Zeichensystem dieses Machttheaters lässt sich schließlich auch vollständig aus seinem ursprünglichen Kontext herauslösen. In Ovids Amores 1,2 findet sich zum ersten Mal in der Literatur eine allegorische Deutung des Triumphzugs. 45 Triumphator ist Cupido, die mitgeführten Gefangenen sind junge Männer und Frauen, in deren Zug sich das elegische Ich als „neue Beute“ einfügt. 46 Die Pointe dieser allegorischen Darstellung besteht darin, dass sich der Sprecher ohne Zwang der Macht des Eros unterwirft und sich dadurch von diesem Milde erhofft. 47 Durch die 43 Vgl. Vv. 27-30: „et regum vultus, certissima pignora mentis,/ iuvissent aliqua forsitan illus opus./ plusibus ex ipsis populi laetoque favore/ ingenium quodvis incaluisse potest“ (ja, der Könige Blick, das sicherste Zeichen der Denkart, hätte bei jenem Werk etwas geholfen vielleicht. Selbst an dem Beifall des Volkes und an seiner freudigen Stimmung kann zur Begeist’rung erglühn jeglicher schaffende Geist; Übersetzung M. von Albrecht). 44 Das „Theater der Macht“ lässt sich damit - zumindest in den poetischen Texten - als eine Art Commedia dell’Arte verstehen, ein Schauspiel mit festen Rollen und Requisiten, mit dem immer gleichen Schema der Demonstration von Über- und Unterlegenheit. 45 Als Bild bereits in Properz 2,8,40 (vgl. auch 2,1,9-12). Eine poetische Allegorie des triumphus Cupidinis findet sich erst wieder in dem Gedicht De concubitu Martis et Veneris des spätantiken Dichters Reposianus; vgl. auch den Verweis auf ein solches Gedicht bei Laktanz: Divinae Institutiones 1,11,1. Dazu McKeown, J. C.: Ovid: Amores. Text, Prolegomena and Commentary in Four Volumes, vol. II. Leeds 1989, S. 31. 46 Vv. 19: „tua sum nova praeda“, Cupido; 27: „ducentur capti iuvenes captaeque puellae …“ 29: „ipse ego, praeda recens.“ 47 Vv. 49-50: „ergo cum possim sacri pars esse triumphi,/ parce tuas in me perdere victor opes“ (Also, da ich ein Teil des heilg’en Triumphzuges sein kann, wolle du nicht deine Macht, Sieger, verschwenden an mich; Übersetzung M. von Albrecht). <?page no="94"?> 94 therese fuhrer freiwillige Unterordnung kann also ein Teil der Autonomie beibehalten werden. Das starre Bezugssystem zwischen Sieger und Besiegtem wird damit aufgebrochen. 48 Der römische Triumphzug wurde in der Folge in unterschiedlichsten Bedeutungszusammenhängen als allegorisches Verweissystem eingesetzt, insbesondere in der bildenden Kunst. Die Überlegenheit des Triumphators kann dabei sowohl negativ ausgelegt werden, also als brutaler Sieg, 49 oder auch positiv, als Sieg über das Fremde oder das Bedrohliche. 50 Eine Militärparade wird zum Symbol für den Sieg der Liebe, des Todes, der Kirche, der Natur, in der Historienmalerei auch für den Sieg des guten Herrschers. 51 Nicht zuletzt wurden auch in nachantiker Zeit immer wieder einzelne Elemente und seit dem 15. Jahrhundert das ganze Repertoire des römischen Triumphzugs auf die Zeremonie des Einzugs von Herrschern nach einem militärischen Sieg übertragen. 52 Die performative Kraft und damit die Symbolkraft des Triumphzugs in den Straßen Roms wirkte jahrhundertelang, auch noch nach mehr als 1000 Jahren, nachdem die Praxis aufgegeben worden war, so nachhaltig, dass das Schauspiel immer wieder neu inszeniert werden konnte und es auch weiterhin kann. 48 Wie in Properz 3,4, 19-20 (siehe oben S. 91) wird auch hier auf das Verwandtschaftsverhältnis zwischen der Familie des Prinzeps und - hier dem Sohn der - Venus hingewiesen (Vv. 51-52). Parodistische Züge erkennen hierin McKeown 1989, S. 33 und Miller, J. F.: „Reading Cupid’s Triumph“. In: Classical Journal 90 (1995), S. 287-294. 49 So in dem beliebten Bildmotiv Triumph des Todes; vgl. zum Beispiel Pieter Breughel d. Ä. (1560; Madrid, Prado). 50 So zum Beispiel in Peter Paul Rubens’ Triumph der Kirche über den Götzendienst (um 1626; Madrid, Prado) oder in Nicolas Poussins Triumph der Flora (1631; Paris, Louvre). 51 Vgl. dazu den Beitrag von Elke Anna Werner vorliegenden Band zum Triumphzug Kaiser Maximilians I. 52 Dazu Hölkeskamp, K.-J.: „Der Triumph - ,erinnere Dich, dass Du ein Mensch bist‘“. In: Hölkeskamp, K.-J./ Stein-Hölkeskamp, E. (Hrsg.): Erinnerungsorte der Antike. München 2006, S. 258-276, hier 270-274. <?page no="95"?> Europa gynäkomorph: Mythos, Kontinent, Politikum. Zur Inszenierung von Geographie und Geschlecht in figürlicher Körperlichkeit Almut-Barbara Renger (Berlin, Cambridge/ Mass.) „Die europäische Völkergemeinschaft sollte stolz darauf sein, den Namen der Frau zu tragen, die es gewagt hat, den mächtigsten aller Stiere zu betören.“ Mit diesem Satz eröffnet Reinhard Urbach 2007 in der Wiener Zeitung einen Artikel mit dem Titel „Europa, die Wellenreiterin“. 1 Der in Wien lebende Autor und Dramaturg präsentiert darin Gedanken zum antiken Mythos der Entführung der phönizischen Prinzessin Europa durch den griechischen Göttervater Zeus in Stiergestalt. Er greift einzelne literarische und bildkünstlerische Beispiele aus der Rezeptionsgeschichte des Mythos von der Antike bis in die Moderne auf und stellt Betrachtungen zum obersten Gott, zur geraubten Frau, zum Akt der Entführung und zum Verhältnis der Geschlechter an. Urbach schließt ähnlich, wie er begonnen hat: mit der Assoziation von Entführungsmythos und Erdteilnamen. Europa sei „Patin eines noch unentdeckten Kontinents“ geworden. „Die europäische Völkergemeinschaft“ solle „stolz darauf sein, den Namen einer Frau zu tragen, die sich was traut und mit einem der mächtigsten Tiere flüstert.“ Urbachs Artikel ist ein exemplarisches Zeugnis der longue durée der Verbindung des Europa-Mythos mit dem gleichnamigen Erdteil beziehungsweise mit Europa als Politikum, seit den 1990er Jahren namentlich mit dem politischen System der EU, wie es sich derzeit auf den Vertrag über die Europäische Union gründet, der am 1. November 1993 in Kraft trat und seither mehrfach überarbeitet wurde. 2 Die Verbindung findet sich wiederholt schon in Texten des Altertums. Sie kam nicht nur bei 1 Urbach, R.: „Europa, die Wellenreiterin“. In: Wiener Zeitung extra, Printausgabe vom Samstag, 13. 1. 2007, S. 1 und S. 4. 2 Überarbeitungen 1997 durch den Vertrag von Amsterdam und 2001 durch den Vertrag von Nizza. <?page no="96"?> 96 almut-barbara renger den Mythographen, sondern auch bei zahlreichen prominenten Dichtern vor, deren Darstellungen zwischen einem sich ängstigenden, klagenden Mädchen auf dem Rücken des Übermächtigen und einer den Gott wiederliebenden gefügigen Braut schwanken. Für die Überlieferung besonders wichtig waren Moschos (Europa-Epyllion), Horaz (Ode 3,27) und Ovid (zum Beispiel Fasti 5,603-620), welche die Herleitung der Kontinentbezeichnung vom Namen der Entführten - teils auf subtile, teils auf sehr direkte Weise - in ihre phantasievollen Dichtungen über Europa einflochten. 3 Unter anderem durch die Etymologien des einflussreichen Isidor von Sevilla (Origines 14,4,1) gelangte die Herleitung dann in die mittelalterlichen Schulbücher, wirkte zumal in Etymologien zur Erklärung der geographischen Bezeichnung „Europa“ fort und findet sich, mit erstaunlicher Häufigkeit, in vielen weiteren Medien bis heute. Herodots im vierten Jahrhundert vor Christus ausdrücklich und nachvollziehbar geäußerte Ansicht in seinen Historien (4,45,1-4), dass die Benennung des Kontinents mit dem Entführungsmythos nicht in einem ursächlichen Zusammenhang stehe, hat Denker, Literaten und Künstler nicht von Verknüpfungen und Verschmelzungen „der“ mit „dem“ Europa abgehalten. Bei wechselnden, sehr verschiedenen Europa-Vorstellungen im Altertum (antikes Erdteilverständnis), Mittelalter (respublica christiana) und Neuzeit (Europa der Nationen) wurde die Verbindung bis in Moderne und Gegenwart hinein kontinuierlich neu hergestellt und inszeniert. 4 Mit Beginn der Neuzeit wurden dabei beide - nicht nur „die“, sondern auch „das“ Europa - textuell und visuell vermehrt als weiblicher Körper codiert sowie Elemente und Merkmale des Mythos einerseits und des Kontinents beziehungsweise der politischen Einheit andererseits aufeinander übertragen. Häufig ging es dabei um die Thematisierung und Darstellung von Macht in oder über Europa und zugleich den weiblichen Körper. Diese gynäkomorphen Repräsentationen Europas wurden von männlichen Produzenten regelmäßig in Strukturen des Begehrens geformt und zur Schau gestellt. Zum Ausdruck kamen Wünsche, Ambitionen und Forderungen, die sowohl das Geschlechterverhältnis und die Rolle von 3 Ausgaben und Übersetzungen antiker Texte werden im Folgenden nicht gesondert angeführt; nach Autorennamen- und Werktitelnennung folgen jeweils Angaben wie Buch, Kapitel, Abschnitt, Vers(e) etc. Für einschlägige Lexika werden Abkürzungen verwendet: LIMC = Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae. Hrsg. v. Boardman, J. u. a. 1981-2009; RE = Paulys Real-Encyklopädie der classischen Altertumswissenschaft. Hrsg. v. Wissowa, G. u. a. 1893-1980; Roscher = Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Hrsg. v. Roscher, W. H. 1884-1937. 4 Ausführlich Renger, A.-B./ Ißler, R. A.: „Stier und Sternenkranz: Europa in Mythos und Geschichte. Ein Rundgang“. In: dies. (Hrsg.): Europa - Stier und Sternenkranz: Von der Union mit Zeus zum Staatenverbund. Göttingen 2009, S. 51-99. <?page no="97"?> europa gynäkomorph 97 Frauen als auch Europa-Vorstellungen wechselnder Aktualität im Rahmen von Regional-, Landes- und Weltpolitik betrafen. Um sie öffentlich zu präsentieren und zu inszenieren wurden verschiedenste breitenwirksame Medien - unter anderem Texte, Karten, Bild- und Baukunstwerke, Theateraufführungen - in Anspruch genommen. Der Umstand, dass seit dem ausgehenden Mittelalter die Antike neu entdeckt und für eine Vielzahl von Fragen zur Autorität erhoben wurde, erklärt, warum der Entführungsmythos zwecks Darstellung der genannten Wünsche und Interessen hinsichtlich Politik und Geschlechterverständnis als höchst geeignet wahrgenommen wurde. Zum einen war die Erzählung seit alters mit der Kontinentalbezeichnung verbunden worden. Zum anderen erscheint die Entführung in allen ausführlichen antiken Darstellungen als eine Bewegung von einem in anderes Land infolge männlichen Begehrens. Aus analogen Strukturen des Begehrens heraus hierauf zu referieren, bot sich unmittelbar an. Die Darstellung einer Europa in figürlicher Körperlichkeit mit dem Ziel der Inszenierung aktueller geographischer, politischer und gesellschaftlicher Vorstellungen, Ansprüche und Ziele bedeutete, sich auf die Antike als Autorität zu berufen und sich zugleich den veränderten Verhältnissen und Gegebenheiten der Zeit gemäß zu verhalten. Im vorliegenden Beitrag geht es im Wesentlichen hierum: die sexuierende Darstellung geopolitischer und gesellschaftlicher Bestrebungen mittels immer wieder neuer Inszenierungen Europas in weiblicher Gestalt, wie sie uns, nach Vorläufermodellen in der Antike, seit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit bis in Moderne und Gegenwart in zahlreichen Medien begegnen. Da dies kein Überblicksartikel ist, müssen einige wenige Text- und Bildbeispiele, in denen Interessen politischer Art und Wünsche nach Besitz eines weiblichen beziehungsweise als weiblich bestimmten Körpers zusammenlaufen, genügen. I. Antike: Wurzeln und Vorläufer Der Mythos der Entführung Europas in der Form, wie er, nach einem mehrere Jahrhunderte andauernden Kanonisierungsprozess, spätestens ab dem 4. Jahrhundert vor Christus kursiert sein dürfte, ist rasch erzählt. Schauplatz ist das Ufer der Küste von Tyros oder Sidon im heutigen Libanon, wo der griechische Göttervater Zeus (lateinisch: Iuppiter) die phönizische Königstochter erblickt und wieder einmal in sexuellem Begehren entbrennt. In einen Stier verwandelt, erscheint er Europa und trägt sie, nachdem sie auf seinen Rücken gestiegen ist, über das Meer nach Kreta. Dort zeugt er mit ihr (nach Homer) zwei oder (nach Hesiod) drei Söh- <?page no="98"?> 98 almut-barbara renger ne, Minos und Rhadamanthys sowie Sarpedon, die - wie Kadmos, (seit Hellanikos von Lesbos) Europas Bruder, der auszieht, seine Schwester zu suchen - an verschiedenen Orten im Mittelmeerraum zu bedeutenden Gründern werden. 5 Dieser Mythos von Europa und ihren Verwandten, der vermeintlich historische Erinnerung narrativ zur Schau stellt, ist eine Erzählung, wie sie in frühen Gesellschaften, die durch Familienverbände geprägt sind, häufig vorkommt. Er enthält Genealogie, mit der die Griechen die mythische Zeit, die sie als ihre Frühgeschichte begriffen, chronologisch zu ordnen und festzulegen suchten, wobei sie, um ein Wort Klaus Heinrichs zu zitieren, „die heilige Macht der Ursprünge auf das von ihnen Abstammende, aus ihnen Abgeleitete“ übertrugen. 6 Der hieros gamos mit dem obersten Gott der Griechen macht Europa zur Stammmutter eines neuen Geschlechts, das direkt auf den Göttervater zurückgeht und das, wie auch die Kernfamilie Europas und ihre Vorfahren, im Prozess der Besiedelung und Kulturbildung im Mittelmeerraum eine wichtige Rolle spielte. Europas Söhne verweisen auf bedeutende Anfänge griechischer beziehungsweise von den Griechen adaptierter Kultur: Minos als Herrscher von Knossos, nach dem die minoisch genannte bronzezeitliche Hochkultur Kretas benannt ist; 7 Rhadamanthys als Gesetzgeber auf Kreta und Beherrscher ägäischer Inseln, der in Mittelgriechenland sehr bedeutsam gewesen zu sein scheint; 8 Sarpedon als König der Lykier, der durch besonders tapfere Teilnahme am Trojanischen Krieg auffiel. 9 Europas Bruder Kadmos, als Einführer der Schrift und Kulturbringer gefeiert, steht durch seinen Aufbruch aus Phönizien, die Wanderung über Delphi und die Gründung des thebanischen Königshauses, für das ein bronzezeitlicher Hintergrund 5 Zu den antiken literarischen Zeugnissen vgl. Bühler, W.: Europa. Ein Überblick über die Zeugnisse des Mythos in der antiken Literatur und Kunst. München 1968; zur Genealogie siehe S. 7-9 und S. 19-21. Eine Zusammenstellung antiker Versionen des Europa-Mythos in deutscher Übersetzung findet sich in Renger, A.-B. (Hrsg.): Mythos Europa. Texte von Ovid bis Heiner Müller. Leipzig 2003, S. 19-59, S. 222-226. 6 Heinrich, K.: „Die Funktion der Genealogie im Mythos“. In: ders.: Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie. Frankfurt a. M. 1966, S. 9-28, hier 12. 7 Vgl. zu Minos zum Beispiel Helbig, W.: Art. „Minos“. In: Roscher 2.2 (1894- 1897), Sp. 2993-3004. Poland, F.: Art. „Minos“. In: RE XV.2 (1932), Sp. 1890- 1927; Ba"ant, J.: Art. „Minos I“. In: LIMC 6.1 (1992), S. 570-574. 8 Vgl. zu Rhadamanthys zum Beispiel Jessen, O.: Art. „Rhadamanthys“. In: Roscher 4 (1909-1915), Sp. 77-86; Xagorari, M.: Art. „Rhadamanthys“. In: LIMC 7.1 (1994), S. 626-628. 9 Vgl. zu Sarpedon zum Beispiel Immisch, O.: Art. „Sarpedon“. In: Roscher 4 (1909-1915), Sp. 389-413; von Bothmer, D. S.: Art. „ Sarpedon“. In: LIMC 7.1 (1994), S. 696-700. <?page no="99"?> europa gynäkomorph 99 angenommen wird, gleichfalls deutlich für die Ursprünge der griechischen Kultur. 10 Und Europas Vorfahren Phoinix (König von Sidon oder Tyros), Libye (autochthone Frau beziehungsweise Königstochter aus Ägypten) und insbesondere Io (Tochter des argolischen Königs Inachos) deuten zurück auf kulturelle Verflechtungen im Mittelmeerraum, die der auf Kreta entstandenen Dynastie vorausgingen. 11 Es ist signifikant, dass viele dieser Familienmitglieder und weitere Verwandte Europas, die im Laufe der Jahrhunderte in den immer weiter ausgebauten genealogischen Stemmata ihrer Familie einen Platz fanden, Migrationsfiguren mit Eponymenfunktion waren, an die identitätsstabilisierende Gründungsmythen geknüpft wurden. Ihre Wanderungen mit den hieraus resultierenden Niederlassungen, Errichtungen und Besiedelungen verschiedener Stätten (Tempel, Städte und anderes) umgriffen das Mittelmeer- und Schwarzmeergebiet. Es handelt sich also um den Raum, in dem Griechen sich im Verlauf der wechselvollen Migrations- und Expansionsprozesse der sogenannten Großen Kolonisation von Mitte des 8. Jahrhunderts bis etwa 550/ 500 vor Christus ansiedelten, 12 und durch den sie, während sie sukzessive ihre Identität als „Hellenes“ mit einer gemeinsamen Sprache und einem gemeinsamen Pantheon herausbildeten, zwecks „Vergangenheitsrepräsentation“, wie es Hans-Joachim Gehrke nennt, auch erzählerisch ein „Netz von Bewegungen und Beziehungen“ zogen. 13 Der Europa-Mythos ist für dieses durch die Jahrhunderte immer ausdifferenzierter gewordene narrative Geflecht, mit dem die Griechen ihre Ursprünge mythisch definierten und kulturelle Prozesse im Mittelmeer- und Schwarzmeergebiet durch Übersetzung in griechische Geschichten quasi hellenisierten, paradigmatisch: Es ist eine Geschichte der Bewegung - durch den Mittelmeerraum, qua Zeusbezug „geheiligt“, mittels genealogischer Ketten ins Griechische fest eingebunden. 10 Vgl. hierzu Kühr, A.: Als Kadmos nach Boiotien kam. Polis und Ethnos im Spiegel thebanischer Gründungsmythen. Stuttgart 2006, insb. S. 103-106. 11 Vgl. zu Io zum Beispiel Eitrem, S.: Art. „Io“. In: RE IX.2 (1916), Sp. 1732-1743; Yalouris, N.: Art. „Io I“. In: LIMC 5.1 (1990), S. 661-676. 12 In Aischylos’ Prometheus Desmothes wandert Io von Argos über Dodona erst zum Ionischen und dann zum Schwarzen Meer, begegnet Skythen und Amazonen und gelangt schließlich nach Ägypten; die Nachfahren kehren zum Teil nach Argos zurück. Kadmos soll unter anderem nach Thera, Rhodos, Milet, Priene, Lesbos, Thasos, Thrakien, Euboia, Sparta und Karthago gekommen sein; ausführlich Kühr 2006, insb. S. 102. Europa gelangte laut Herodot 4,45,5 von Phönizien nach Kreta, von dort nach Lykien. Unter ihren im Lauf der Überlieferung an Zahl zunehmenden Geschwistern sind als eponyme Heroen von Phönizien, Kilikien und der Insel Thasos Phoinix, der zuerst als Vater galt, Kilix und Thasos; vgl. die Testimonien bei Bühler 1968, S. 7-9. 13 Gehrke, H.-J.: „Vergangenheitsrepräsentation bei den Griechen“. In: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 7 (2008), S. 1-22, insb. S. 10. <?page no="100"?> 100 almut-barbara renger Reflektiert der Mythos zunächst den Kulturaustausch des Vorderen Orients mit der hellenischen Ägäis, spätestens nach den Perserkriegen auch den Konflikt der Griechen mit den „Barbaren“ und - was sich als „geopolitisches“ und/ oder „kulturelles Begehren“ fassen lässt: - Ansprüche auf Land und/ oder Kulturgut und -entwicklung, so erfuhr er später zahlreiche hiervon losgelöste Refunktionalisierungen und Umdeutungen. Spätantike christliche Schriftsteller zum Beispiel schlossen sich mit Vorliebe der Kritik der antiken Philosophie an Lüsternheit und Fehlverhalten der Götter an, um gegen das griechische Pantheon und für den eigenen Glauben, christliche Heilswahrheit und Tugendlehre zu argumentieren. 14 Indem sie die sexuelle Komponente der Geschichte, sich über sie empörend, in den Vordergrund stellten, reduzierten sie das sich in der Erzählung spiegelnde kulturell und politisch vielbedingte und -gestaltige Begehren auf sexuelles Begehren. Im Mittelalter erfuhr dieses dann, vermittels allegorischer Auslegung und christlicher Überformung des Mythos, eine Transformation in religiöses Begehren: Der Ovide Moralisé macht aus Europa, dem begehrten weiblichen Körper, die sich zu Gott hinwendende Seele und aus dem Göttervater beziehungsweise dem Stier Christus beziehungsweise Gott, der die Seele an ihr Ziel führt. 15 Mit dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit, als die Humanisten einen neuen Zugang zum Altertum erschlossen, lösten neue Lesarten und Darstellungen die in erster Linie verchristlichenden Zugriffe ab. Dies wirkte sich in der Dichtung und in den bildenden Künsten der Frühen Neuzeit dahingehend aus, dass die antiken Quellen - und so auch die altbewährte Verbindung von Erdteil und Phönizierin - mit wachsendem Erfindungsreichtum rezipiert wurden. Pflegten die antiken und mittelalterlichen Autoren in erster Linie den Namen der Königstochter und des Erdteils, da diese im Altgriechischen und Lateinischen gleich lauten, voneinander abzuleiten, kam es nun in verschiedensten Medien - jeweils mit dem Ziel, Europa nach eigenen Interessen und Bedürfnissen zu gestalten und zu definieren - zunehmend zu sinnreichen Überblendungen „der“ mit „dem“ Europa. Attribute, Eigenschaften und Charakteristika der beiden wurden hierbei wechselseitig aufeinander transferiert. Zurückzuführen ist 14 Unter den christlichen Autoren, die in der Spätantike an die kritische Sichtweise der Philosophen anknüpften, indem sie unter anderem Zeus’ Europa-Affäre monierten, waren Tertullian, Gregor von Nazianz, Prudenz und Augustinus. Für genaue Stellenangaben hierzu sowie weitere Beispiele zum Vorkommen des Mythos bei christlichen Autoren siehe Bühler 1968, S. 38-39 sowie Gommers, P. H.: Europe - What’s in a Name. Leuven 2001, S. 91-92; für eine deutsche Übersetzung ausgewählter Beispiele siehe Renger 2003, S. 55-58. 15 Vgl. hierzu zum Beispiel Schmale, W.: Geschichte Europas. Wien 2000, S. 33-35; Renger 2003, S. 66-68, dt. Übers.: Ovide Moralisé, S. 227-228. <?page no="101"?> europa gynäkomorph 101 dies unter anderem darauf, dass im und seit dem 16. Jahrhundert auch der Kontinent vermehrt als weibliche Personifikation dargestellt wurde - eine Repräsentationsweise, die ihre Wurzeln ebenfalls in der Antike hatte. 16 Die in der Frühen Neuzeit verbreitete politische Allegorie in weiblicher Form mit charakteristischen Attributen als Darstellungstyp für Regionen, Provinzen und Erdteile wurde entscheidend in der Zeit der römischen Expansion geformt, durch die Entwicklung einer eigenen Ikonografie von Stadt- und Provinzdarstellungen. Weibliche Darstellungen geographischer Größen gingen damals regelmäßig mit der Legitimierung und Huldigung politischer Herrschaft einher. Erinnert sei etwa an Darstellungen Roma- Minervas und Personifikationen Italiens, die mit Waffen und/ oder Szepter, Krone und weiteren Attributen, die Herrschaft und Überlegenheit anzeigen, in der Öffentlichkeit bildlich inszeniert wurden. 17 Diese politischen Bilder wirkten so lange nach, wie das Imperium Romanum fortbestand. Vorläuferformen solcher gynäkomorphen Geopolitika finden sich schon in Griechenland. Ein prominentes, für unser Thema einschlägiges Beispiel liefern die Perser des griechischen Tragikers Aischylos aus dem Jahr 472 vor Christus, die als Tragödie des Perserreiches komponiert sind. In den Versen 179-199 wird ein unheilverkündender Traum Atossas, der Gattin des Dareios, geschildert, in dem ihr zwei makellos schöne, an Größe gewaltige Frauen gleichen Stammes erschienen, eine in dorischem, die andere in persischem Gewand, die durch Los verschiedene Gebiete erhalten hatten, die eine das Griechen-, die andere das Barbarenland. Im Traumgeschehen geraten die beiden Frauen in Streit, den Atossas Sohn und Dareios’ Nachfolger, König Xerxes, zu beenden sucht, indem er ihnen jeweils ein Joch auflegt (wie er es am Hellespont, durch Brückenbau, mit Asien und Europa getan hatte). Während die eine sich dies gefallen lässt, bäumt sich die andere auf, so dass Xerxes stürzt. Die Botschaft des Traums im tragischen Geschehen ist die folgende: Dass Xerxes vereinen wollte, was, wenn auch verwandt, doch für sich bleiben sollte, wird bestraft, im Traum wie in der Wirklichkeit. Wohl auf diese beiden Personifikationen in Atossas Traum spielen noch die ersten 15 Verse von Moschos’ Epyllion Europa aus dem 2. Jahrhundert vor Christus an. Dort heißt es, Europa habe in der Nacht vor ihrer Entführung geträumt, dass sich zwei wie Frauen erscheinende Erdteile - Asia und der Asia gegenüberliegende Kontinent - um sie stritten. Während Erstere Europa fest an sich drückte, weil sie die Königstochter geboren und aufgezogen hatte, riss die ande- 16 Vgl. hierzu zum Beispiel Poeschel, S.: Studien zur Ikonographie der Erdteile in der Kunst des 16.-18. Jahrhunderts. München 1985, S. 6-14. 17 Vgl. Poeschel 1985, S. 11-12. <?page no="102"?> 102 almut-barbara renger re Frau Europa mit der Begründung, dies entspreche Zeus’ Willen, an sich. Es ließe sich zu beiden Darstellungen in Hinblick auf die Repräsentation und Funktionalisierung von Weiblichkeit im Zuge von Aussagen über Ethnien und Herrschaftsansprüche jeweils vieles, was über den hier gesteckten Rahmen hinausginge, sagen. Genügen soll dies: Sowohl bei Aischylos als auch bei Moschos sind die zwei im Traum erscheinenden Gestalten nicht etwa reale Frauen mit ethnischer oder geographischer Repräsentationsmacht. Vielmehr handelt es sich um metaphorische Übertragungen von Weiblichkeit auf außergeschlechtliche Bereiche, und dies in einer Form, die als uneigentlich gekennzeichnet ist: als Traumbilder. In beiden Texten eignet diesen Figuren der Übertragung das Potential, auf das lebenswirkliche Verhältnis der Rezipienten zum anderen Geschlecht zurückzuwirken, indem sie performativ bestätigen, dass Weiblichkeit aus männlicher Perspektive form- und bestimmbar ist. Beide Male sind es von männlichen Autoren inszenierte Frauengestalten (Atossa und Europa), deren weibliche Traumbildfiktionen historisch reale, von Ethnienangehörigkeit geprägte Räume repräsentieren, die von Männern regiert und in ihren Grenzen definiert werden. Beiden Autoren dienen die gewählten Figuren der Übertragung unter anderem zur Inszenierung griechischer Identität in Abgrenzung von Asien beziehungsweise den „Barbaren“. II. Moderne: A. Bildende Kunst und Karthographie Vergleichbare metaphorische Übertragungen von Weiblichkeit auf außergeschlechtliche Bereiche gibt es in der Neuzeit in großer Fülle. Im Umfeld der Entwicklungen des 16. und 17. Jahrhunderts wie der Entstehung des modernen Nationenbegriffs, des beginnenden Kolonialismus, der neuzeitlichen Wissenschaft und des Drangs nach empirischer Weltvermessung lebte die gynäkomorphe Darstellung von Geographie, wie sie schon in Griechenland und besonders Rom zumal im Zuge von Auseinandersetzungen um Land aufgetreten war, wieder auf. Für die häufige Darstellung von Erdteilen war die Entdeckung Amerikas von entscheidender Bedeutung; sie bescherte der vom Altertum her bekannten Trias der Kontinente einen weiteren hinzu. Europa erschien nun vermehrt, vor allem in Gruppierungen der vier Erdteile, in denen analog zu Europa mit Stier die Allegorien der anderen damals bekannten Kontinente mit fremdartigen Tieren, die das Andere unterstreichen sollten, dargestellt wurden. Entsprechend den vorderrangigen Kolonialinteressen der europäischen Großmächte an den anderen Erdteilen wurde dem eigenen Kontinent in eurozentristischer Manier hierbei stets die überlegene Rolle <?page no="103"?> europa gynäkomorph 103 zugewiesen. 18 Zum Ausdruck kam die Überlegenheit über die - oft in exotisch-sinnlich anmutender Weiblichkeit dargestellten - Kontinente zum Beispiel durch eine statisch-gravitätische Haltung oder durch geschlechtlich männlich codierte Beigaben. Während Darstellungen der Entführung Europas ohne politische Implikation zumeist erotisch aufgeladen und von heiter-amourösem Charakter waren, indem sie schwellende Muskeln, zartweiße Haut, verliebte Blicke und dramatische Gesten in Konstellation brachten, verströmten die Repräsentationen der stets ernsthaft wirkenden Kontinentalallegorie, ob mit oder ohne Stier, Distinktion, Vornehmheit und Herrscherwürde. 19 Eines der berühmtesten Beispiele einer allegorischen Darstellung der vier Erdteile in diesem Sinne ist Giambattista Tiepolos monumentales Deckenfresko von 1750-1753 in der Würzburger Residenz (Abb. 6). Das Fresko zeigt an den Seiten Europa auf einem Stier, Asien auf einem Elefanten, Afrika auf einem Kamel, Amerika auf einem Krokodil. Über der Europa präsentiert Fama, die Verkörperung des Ruhmes, ein Medaillon mit dem Porträt des Auftraggebers Fürstbischof Carl Philipp von Greiffenclau. Als eine der vier allegorisch dargestellten Kontinentverkörperungen thront Europa, wenn auch, wie alles in dieser Darstellung von großer Sinnlichkeit, mit ernsthaftem Gesichtsausdruck, Diadem und königlichem Gewand unmittelbar an der Seite eines hellen Stiers. Umringt wird sie von militärischen und christlichen Attributen und zumal solchen der Künste und Wissenschaften - Beigaben, wie sie Cesare Ripa in seiner Darstellung Europas als „prima, & principale parte del Mondo“ und „Regina di tutto il Mond“ in seiner einflussreichen iconologia (zuerst 1593; 1603 bebildert) vorgeschlagen hatte. 20 Diese Repräsentation Europas mit geschlechtlich maskulin konnotierten Attributen steht in starkem Kontrast zu den anderen drei Kontinenten, vor allem zu Amerika. Diese erscheint, dargestellt als barbusige Indianerin mit buntem Federschmuck auf dem Kopf, auf einem riesigen Krokodil sitzend, um sie herum eine tanzende, offenbar blutgierige Gesellschaft, als Inkorporation „unzivilisierten“ Le- 18 Vgl. Acidini Luchinat, C.: „Europa signora dei continenti, terra lacerata“. In: Ausst.-Katalog: Il mito di Europa da fanciulla rapita a continente. Hrsg. v. Pescio, C. (Florenz, Galleria degli Uffizi). Florenz 2002, S. 119-124. 19 Die Unterschiede werden deutlich in Poeschel, S.: „Primadonna Europa: Prinzessin und Königin“. In: Renger/ Ißler 2009, S. 261-274. 20 Ripa, C.: Iconologia overo Descrittione di diverse Imagini cauate dall’antichità, & di propria inuentione, Trovate, & dichiarate da Cesare Ripa Perugino, Cavaliere de Santi Mauritio, & Lazaro. Di nuouo reuista, & dal medesimo ampliata di 400. & più Imagini, Et di Figure d intaglio adornata. Opera non meno vtile che necessaria a Poeti, Pittori, Scultori, & altri, per rappresentare le Virtù, Vitij, Affetti, & Passioni humane. Rom 1603, S. 332. Vgl. zu Ripas Darstellung und ihrem Einfluss auch: Poeschel 2009, S. 261-274. <?page no="104"?> 104 almut-barbara renger bens, Europa dagegen als „kultivierte“ distinguierte Trägerin europäischer Künste und Wissenschaften. Die nicht erst bei Tiepolo, sondern schon ab dem 16. Jahrhundert gehäufte - und oft nicht nur sexuierende, sondern auch sexualisierende - Darstellung der Kontinente als weiblicher Körper war multikausal begründet und stark durch das Aufbrechen traditioneller abendländischer Kategorien in der Frühen Neuzeit bedingt. Eine besonders wichtige Rolle spielte das veränderte Konzept des Körpers (im biologischen wie politischen Sinn), in dem sich die Neuzeichnung der Welt abzeichnete. Gegenüber vorneuzeitlichen Vorstellungen änderten sich nicht nur die Kenntnisse der Anatomie des biologischen Körpers 21 und die Einstellung zum Körper, der in christlich-moralisierenden Perspektivierungen gegenüber der Seele (und deren Heil) zurückgesetzt worden war und nun in Literatur und Bildkunst vielfach unter Betonung sinnlicher Aspekte dargestellt wurde. Veränderungen war auch die Repräsentation von politischer Macht ausgesetzt, wie sie öffentlich mit dem realen Körper des Herrschers als politischem Körper inszeniert worden war. 22 Damit ging einher, dass in ganz Europa der symbolische Körper, jeweils national und international, weit mehr, als es vorher der Fall gewesen war, in seiner territorialen Bedeutung erschien: Nationen wurden vermehrt als Körper und ihre Grenzen als Körpergrenzen betrachtet. Diese Entwicklung führte, wie in der Frauen- und Geschlechterforschung mehrfach dargestellt, auf der Geschlechterebene zu vermehrter Feminisierung von Territorium und von dessen - durch männliche Akteure zu umschließenden, zu verteidigenden oder zu erstürmenden - Grenzen. 23 Mit anderen Worten, Geographie erfuhr eine nachhaltige Aufladung mit geschlechtlicher Bedeutung. Geopolitik und das Streben nach Expansion, Ent- und Ausgrenzung wurden eine Politik des Körperimaginären und des Begehrens, in deren Rahmen Eroberungen und Kolonisierungen als Vereinnahmungen und Unterwerfungen eines weiblichen Anderen erfolgten. 21 Genannt sei hier nur die Entdeckung des Blutkreislaufs durch William Harvey in den 1620er Jahren, nachdem 14 Jahrhunderte lang die Lehre Galens die medizinische Lehrmeinung bestimmt hatte. 22 Vgl. Kantorowicz, E. H.: The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology. Princeton (NJ) 1957. 23 Hierzu ist vor allem im angloamerikanischen Raum eine Vielzahl von Literatur erschienen; stellvertretend genannt sei hier: Schick, I. C.: The Erotic Margin: Sexuality and Spatiality in Alteritist Discourse. London/ New York 1999, worin sich am Ende eine umfangreiche Bibliografie zur behandelten Thematik befindet (S. 237-295). <?page no="105"?> europa gynäkomorph 105 Dass dieser Prozess geopolitischer Sexuierung seinen Niederschlag nicht zuletzt in der Kartographie jener Zeit fand, 24 überrascht nicht. Erstens sind Landkarten stets Repräsentationen und Inszenierungen von Macht, Wissen und Raum. Zweitens waren Kartenzeichner lange - und auch seinerzeit - Männer. Und drittens war die Feminisierung zumal fremder Länder in Illustrationen und Kartographien nichts Neues. Ingrid Baumgärtner hat gezeigt, dass letztere Praxis spätestens 1336 einsetzte, als der avignonesische Kleriker Opicinus de Canistris, der damals Schreiber an der päpstlichen Kurie war, einer mit 52 Tafeln ausgestatteten Bilderhandschrift 25 - an symbolischem Gehalt überreiche - Landkarten einfügte. In einigen dieser Entwürfe aus unverkennbar männlich-doktrinärer Perspektive hatte er Afrika in Gestalt einer Frau neben Europa als buckligem Mann gezeichnet, dessen Kopf Spanien repräsentierte und dessen Beine in Italien und Griechenland endeten. Dass sich das rechte Ohr des Mannes am geöffneten Mund der Frau befand, wurde als Verweis auf sinnliche Begierde und Sündhaftigkeit gedeutet. 25 Im 16. und 17. Jahrhundert setzten Kartographen dieses Verfahren der allegorisierenden Darstellung von Kontinenten als Körpern vorwiegend unter Repräsentation Europas als bekrönter weiblicher Gestalt fort. Durch bildhafte Verbindung von Karte und Körper, Geographie und Geschlecht mit dem Ziel, Bemächtigung des Raumes zu visibilisieren, stellten sie politische und gesellschaftliche Machtansprüche und Selbstverortungen von Herrschern, Regionen, Nationen und Kontinenten in der Topographie des Weltgefüges sichtbar zur Schau. Dass dabei Kontinent und Entführungsmythos weiterhin zusammengedacht wurden, zeigt eine Europakarte des Kupferstechers und Radierers Frans Hogenberg, der vor allem durch sein Städteansichtenbuch Civitates Orbis Terrarum von 1572 bekannt wurde. Auf der Karte, die 1588 in Michael Eytzingers De Europa virginis tauro insidentis topographica & historica descriptione liber in Köln herauskam, erscheint Europa gynäkomorph als „Königin Europa“. (Abb. 7) Einer auf dem Kopf stehenden kartierten Silhouette des Erdteils eingeschrieben, wirkt sie keineswegs wie eine hilflos Entführte. Vielmehr lenkt sie den Stier, auf dessen Rücken sie sitzt, in majestätisch-königlicher Pose, mit bekröntem Haupt und Reichsszepter, über den Kontinent. Die Krone fällt mit Hispania zusammen. In die beiden Körper von Frau und 24 Schick 1999, S. 105-106; Bruno, G.: Atlas of Emotion: Journeys in Art, Architecture, and Film. London/ New York 2002, insb. S. 210-213. 25 Baumgärtner, I.: „Biblische, mythische und fremde Frauen. Zur Konstruktion von Weiblichkeit in Text und Bild mittelalterlicher Weltkarten“. In: von Ertzdorff, X./ Giesemann, G. (Hrsg.): Erkundung und Beschreibung der Welt: Zur Poetik der Reise- und Länderberichte. Amsterdam 2003, S. 31-86. <?page no="106"?> 106 almut-barbara renger Stier sind unter anderem eingeschrieben: Gallia und Germania (Brust und Körpermitte Europas), Anglia, Scotia und Hibernia (linker Arm), Italia (rechter Arm mit Szepter), Graecia, Slavonia, Ungaria, Polonia, Bohemia, Constantinopoli (Hals und Brustkorb des Stiers) sowie Dania und Svedia (rechte Hinterflanke des Stiers). Oben links im Bildrund befindet sich jenseits des Mittelmeers der nicht ausdifferenziert kartierte Kontinent Afrika. Verbreiteter als diese Version der jungfräulichen „Königin Europa“ war eine ihr ähnliche ikonografische Konzeption, die 1537 von Johannes Bucius (Putsch), einem Geheimschreiber des habsburgischen Erzherzogs Ferdinand, inauguriert worden war. Auch in ihr sind weiblicher Körper und geographischer Raum auf subtile Weise überblendet. Wie die Europakarte Hogenbergs präsentiert auch diese gynäkomorphe Darstellung den Kontinent als Figur einer bekrönten Herrscherin. Und wie bei jenem bildet auch bei Putsch die Iberische Halbinsel den Kopf, hält Europa in den Händen Szepter und Reichsapfel, sind die diversen Länder - aber auch Landschaften mit herkömmlich weiblich konnotierten Formen (wie Bergen, Flüssen) - in den Körper eingeschrieben. 26 Beide Darstellungen bringen das feminisierte Europa keineswegs intentionslos auf die kartographisch inszenierte Bühne der Welt, im Gegenteil: Wie die Darstellungen bildender Künstler - etwa eines Tiepolo (siehe oben) -, die im Auftrag regional, national oder gar supranational einflussreicher Personen arbeiten, demonstrieren sie den Anspruch ihrer Zeichner und der hinter ihnen stehenden Herrscher auf Macht über die dargestellte Geographie. Es ist dies, so meine ich, der - in allen hier angeführten Text- und Bildbeispielen sich zeigende - männliche Anspruch auf Macht, den Körper Europas und zugleich den der Frau im Rahmen der eigenen Interessen und Bedürfnisse zu definieren und unter Verleihung bestimmter Charakteristika zu formen und zu besetzen. Für die häufige Verwendung der Putsch’schen Karte, die Europa ganz allgemein als respublica christiana abbildet und ansonsten einen weiten Interpretationsspielraum eröffnet, hat die Forschung verschiedene Begründungen gefunden. Angeführt wurde zum Beispiel die Tatsache, dass die Karte, die im allernächsten Umfeld der Habsburger entstand, durch vielfältige Implikationen und Assoziationen der Legitimation von deren universalem Herrschaftsanspruch zuarbeitete. Europas Gesicht trage in früheren Varianten die Züge der Gemahlin Karls V. und in späteren Va- 26 Zum Bildtypus, seiner Geschichte und Entwicklung siehe zum Beispiel Werner, E. A.: „Triumphierende Europa - Klagende Europa. Zur visuellen Konstruktion europäischer Selbstbilder in der Frühen Neuzeit“. In: Renger/ Ißler 2009, S. 241- 260, insb. 243-249. <?page no="107"?> europa gynäkomorph 107 rianten der Verlobten Rudolfs II. Zudem entspreche die Neigung ihres Hauptes den Darstellungskonventionen von Ehepaarbildnissen, bei denen die Frau üblicherweise dem Mann zugewandt gezeigt werde; die Geste ihrer Hand, mit der sie den Reichsapfel einem imaginären männlichen Pendant anzubieten scheine, unterstreiche diese Deutung. Zum Ausdruck gebracht worden sei so, dass es sich um die Darstellung einer Brautnahme durch die Habsburger handele, ja dass diese, wie Herrscher ihr Königreich, die christliche Republik zur Braut nähmen. 27 Diese Argumentation leuchtet ein. Bildliche Übertragungen von Weiblichkeit auf eigentlich außergeschlechtliche Bereiche wie Nation, geopolitische Einheit und Herrschaftsreich laufen in diesen Brautnahme-Repräsentationen zusammen mit real inszenierten Geschlechterverhältnissen auf höchster politischer Ebene. Hierum wird es weiter unten, im Zusammenhang mit Überlegungen zur Comédie héroïque Europe (1643) von Jean Desmarets de Saint-Sorlin gehen. Hinzugefügt sei an dieser Stelle, dass der Putsch’sche Europa-Bildtypus in späteren Jahren auch jenseits des habsburgisch-katholischen Lagers verwendet und in politischen Kontexten dem Modell der aktiven Reiterin, wie sie Hogenberg abbildete, vorgezogen wurde. Dies dürfte erstens daran gelegen haben, dass die Reiterin den „heidnischen“ Mythos mit all seinem „prekären“ Potential zur Anschauung bringt, während die Putsch’sche Darstellung nur indirekt auf ihn referiert und daher wohl als überzeugendere Verkörperung der christlichen Republik wahrgenommen wurde. Zweitens strahlt die Putsch’sche Europa in stärkerem Maß Würde und Majestät aus und wirkt nicht nur stattlicher, sondern auch statischer, das heißt aus männlicher Sicht weniger bedrohlich: Ihr Körper erscheint im Gegensatz zur aktiven Reiterin vollkommen passiv, entspricht mithin traditionellen Geschlechtercodierungen nach binäroppositionellem Schema (männlich: aktiv; weiblich: passiv). All dies mögen Gründe für die Beliebtheit des Putsch’schen Bildtypus gewesen sein. Er erscheint jedenfalls Ende der 1580er Jahre in zahlreichen Varianten; unter anderem in einer späten Auflage der Cosmographey Sebastian Münsters von 1588 (Abb. 8) und in verschiedenen Auflagen von Heinrich Büntings Itinerarium Sacrae Scripturae (zum Beispiel Wittenberg 1588 und Magdeburg 1589). 28 Zudem findet er bis ins 17. Jahrhundert hinein in zahlreichen Auflagen dieser beiden Werke über den ganzen Kontinent 27 Vgl. unter anderem Schmale 2000, S. 68; ders.: „Die politischen Seiten des Europamythos in der Neueren Geschichte“. In: Renger/ Ißler 2009, S. 395-413; Werner 2009, insb. S. 243-249. 28 Vgl. Schmale, W.: „Europa, Braut der Fürsten: Die politische Relevanz des Europamythos im 17. Jahrhundert“. In: Bußmann, K./ Werner, E. A. (Hrsg.): Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder. Stuttgart 2004, S. 241- 267, insb. S. 244-246. <?page no="108"?> 108 almut-barbara renger Verbreitung: in England, Dänemark und Schweden sowie im gesamten Heiligen Römischen Reich von den Niederlanden bis nach Ostmitteleuropa, wo Bünting 1592 ins Tschechische übersetzt wurde. 29 Dass Europa auf dem Stier auch hier als Politikum im Habsburger Umfeld funktionalisiert wurde, belegt eine in der Forschung bislang relativ unbekannte Skulptur aus den 1580er Jahren: eine prächtig gewandete Europa in Schloss Bu ' ovice (Butschowitz), die in triumphierend majestätischer Pose auf einem gleichfalls aufwendig geschmückten Stier sitzt. (Abb. 9) Das Schloss ist eines der seltenen Beispiele für die italienische Renaissance nördlich der Alpen. Der prunkvollste Raum ist der sogenannte Kaisersaal (Emperor’s Room). Mit Büsten römischer Kaiser und zudem manieristischen Arabesken und Stuckplastiken feiert und repräsentiert der Saal die Herrschaft der Habsburger. Neben Europa auf dem Stier sind zum Beispiel Diana, die jungfräuliche Göttin der Jagd, der grimmige Kriegsgott Mars und vor allem der Habsburger Karl V. als Ritter zu Pferd, einen überwundenen Türken zu Füßen, zu sehen. Es handelt sich mithin um ein Bildprogramm, das die erfolgreichen Bemühungen des Hauses Habsburg, Europa gegen die Türken zu verteidigen, visualisiert. Europa ist hier keinesfalls als sinnlich wirkendes Mädchen dargestellt, als das sie seit dem 16. Jahrhundert in vielen Entführungsdarstellungen in Erscheinung tritt. Vielmehr sitzt sie, eine stattliche Gestalt im Hofkleid, in einer Hand ein Szepter, in der anderen einen Lorbeerkranz, in herrschaftlichem Selbstbewusstsein würdevoll auf ihrem Prunkstier und betrachtet dabei den Türken, der vom Pferd Karls V. niedergestreckt wurde. Als für den künstlerischen und intellektuellen Zuschnitt dieses Hofprogramms - und auch für die Anfertigung der Stuckplastiken - gilt unter anderem Jakopo Strada verantwortlich, der seit dem Jahr 1558 30 Jahre lang den Habsburger Kaisern (Ferdinand I., Maximilian II. und Rudolf II.) als Ratgeber in allen künstlerischen und technischen Fragen diente und sich 1583/ 84 wohl im Zusammenhang mit der Innenausstattung des Schlosses in Bu ' ovice aufhielt. III. Moderne: B. Literatur und Theater Die Theaterliteratur zeigt, dass nicht nur Kartographen und bildende Künstler, sondern auch Schriftsteller sich die Macht nahmen, den Kontinent und die geopolitische Einheit Europa gynäkomorph, als weiblichen 29 Vgl. Schmale, W.: „Visualisierungen Europas: Ein historischer Überblick“. In: Öhner, V. u. a. (Hrsg.): Europa-Bilder. Innsbruck 2005, S. 13-34, insb. S. 19. <?page no="109"?> europa gynäkomorph 109 Körper zu formen und diesem, an bestimmten politischen Interessen orientiert, Charakteristika zu verleihen. Vor allem zwei Beispiele, ein französisches und ein deutsches Drama (von 1643 und 1915), mögen dies im Folgenden verdeutlichen. 1643 wird die Comédie héroïque Europe uraufgeführt, die Jean Desmarets de Saint-Sorlin während des Dreißigjährigen Kriegs, auf dem Höhepunkt des Kampfes zwischen Spanien und Frankreich im Auftrag Kardinal Richelieus verfasste. 30 Die Komödie ist zugleich frankreichloyales Politikdrama und theatralisch-bildlicher Ausdruck einer Perzeption von Geschlechterrollen, die sich im Rahmen der Herrschafts- und Heiratspolitik entwickelt hatte. In dem Stück werden Europa und die einzelnen Nationen als Allegorien in Szene gesetzt und metaphorisch sexuiert. Europa erscheint zugleich als Königin und personifizierte geographische Einheit, die Ziel der amourösen und politischen Eroberung für die von männlichen allegorischen Figuren dargestellten europäischen Nationen ist: Frankreich und Spanien wollen Europa als Braut heimführen. Ziel des Stückes war es, wie in der Forschung gezeigt, die Außenpolitik Frankreichs, die ein System kollektiver Sicherheit anstrebte, das den europäischen Staaten Souveränität und Freiheit, Unverletzlichkeit der Grenzen und friedliches Nebeneinander garantieren sollte, zuungunsten des in Opposition stehenden Hauses Habsburg, in allegorischer Form zu verherrlichen. 31 Europa wird als durch Intrigen um Macht und Einfluss in ihren verschiedenen Provinzen bedrängte begehrenswerte Europe in Szene gesetzt. Der stolze, eroberungswütige Ibère, der sie erst mit Liebesschwüren (wie „Je brûle pour Europe“, 1. Szene) und dann, als ihre Verführung nicht gelingt, mit 30 Desmarets de Saint-Sorlin, J.: Europe. Comédie héroïque attribuée à Armand Du Plessis, Cardinal de Richelieu, et Jean Desmarets, Sieur de Saint-Sorlin, préface par Alain-Gérard Slama, édition précédée par un essai de Sylvie Taussig. Turnhout 2006. 31 Vgl. zum Beispiel Hall, H. G.: „‚Europe‘. Allégorie théâtrale de propagande politique“. In: Mesnard, J./ Mousnier, R. (Hrsg.): L’âge d’or du mécénat. Paris 1985, S. 319-327. Felbinger, R.: „‚Europe, belle Europe, objet de mon amour…‘ Überlegungen zum frühneuzeitlichen Prozess einer europäischen Identitätsbildung zwischen staatspluralistischem und universalmonarchischem Denken“. In: Schmale, W. u. a.: Studien zur europäischen Identität im 17. Jahrhundert. Bochum 2004, S. 21-43; ders.: Quellenautopsie „Jean Desmarets de Saint-Sorlin (1643)“. In: Web- Projekt: Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert. Wolfgang Schmale (Dir.): http: / / www.univie.ac.at/ igl.geschichte/ europaquellen/ quellen17/ desmaretsdesaint-sorlin1643.htm [Zugriff 1. 9. 09]; Guthmüller, B.: „Zur Personifikation des Erdteils Europa in der Comédie héroïque ‚Europe‘ des Desmarets de Saint-Sorlin“. In: Renger/ Ißler 2009, S. 275-290. Zu Richelieus politischen Vorstellungen eines befriedeten Europas siehe Malettke, K.: „Richelieus Außenpolitik und sein Projekt kollektiver Sicherheit“. In: Krüger, P. (Hrsg.): Kontinuität und Wandel in der Staatenordnung der Neuzeit. Beiträge zur Geschichte des internationalen Systems. Marburg 1991, S. 47-68. <?page no="110"?> 110 almut-barbara renger Kriegsdrohungen überzieht, verkörpert ein machtgieriges, eitles Spanien, das eine tyrannische Herrschaft in ganz Europa anstrebt. Der schöne Francion dagegen repräsentiert ein ritterliches Frankreich, das die Freiheit Europes, also Europas, sogar gegen seine eigenen Interessen schützen will. Es ist nicht ganz deutlich, worauf sich Sylvie Taussig in ihrer Einleitung zur Neuausgabe der Europe bezieht, 32 wenn sie behauptet, das Drama weise keinerlei Referenz an die griechisch-römische Mythologie auf - der Entführungsmythos kann nicht gemeint sein. 33 Das Verhältnis Europes und Ibères innerhalb der sexuierenden Inszenierung von Politik und Geographie, die das Drama vornimmt, hat höchst augenfällige Ähnlichkeiten mit dem Verhältnis Europas und Zeus’ im Entführungsmythos, wie er einst über Jahrhunderte zu der oben umrissenen Fassung, die sich die Griechen erzählten, heranwuchs. In der mythischen Erzählung werden historische Ereignisse aus griechischer Perspektive sexuiert, nämlich die Beziehungen und Konflikte der Hellenen mit den „Barbaren“, zu denen auch die Phönizier zählten. Dass dies im griechischen Denken nicht selten und der Europamythos kein Einzelfall war, ist bekannt. Erinnert sei nur an die Gründe, die Herodot in seinen Historien (1,2,1) für den Krieg der Griechen mit den Barbaren anführt. Schuld an dem Konflikt, heißt es dort, seien phönizische Kauffahrer; sie hätten mit den Gewalttaten angefangen, indem sie die Königstochter Io aus Argos nach Ägypten entführt hätten; dies habe Europas Raub durch die Hellenen und in der Folge weitere Frauenraube (Medea, Helena) und schließlich den großen Krieg vor Troja provoziert. Über 2000 Jahre später, während des Dreißigjährigen Kriegs, werden in Desmarets’ Stück historische Ereignisse ebenfalls mit geschlechtlicher Bedeutung aufgeladen, diesmal aus französischer Perspektive mit dem konkreten Bezug des Jahres 1642, in Opposition gegen Spanien, ein Jahr vor der Entscheidungsschlacht von Rocroi am 19. 5. 1643. So radikal anders der soziohistorische Hintergrund ist - die Art und Weise der Sexuierung aus griechischer und französischer Sicht ist strukturell durchaus vergleichbar. Die Aktivität des Eroberns impliziert ein Agens, das als maskulin definiert ist (Ibère, der stolze Spanier; Zeus, der oberste Griechengott). Das Objekt der Eroberung wird feminisiert (Europe als Verkörperung einer politischen Ordnung des Kontinents, deren Leitideen Freiheit und Frieden sind; Europa als Repräsentantin Phöniziens und fremder „barbarischer“ Kultur). Ibères Handlung entspricht der des griechischen Zeus (männlich, aktiv). Europa beziehungsweise Europe ist jeweils Objekt der Tat (weiblich, passiv). Die Grundstruktur des je- 32 Desmarets 2006, S. 9, vgl. auch S. 134-135. 33 Vgl. hierzu auch Guthmüller 2009, S. 275-290, insb. 287-288. <?page no="111"?> europa gynäkomorph 111 weils Dargestellten ist durch Bewegung infolge von Begehren definiert. Wie dem Eroberungsdrang des Zeus ist der Bedrängung Europas durch Ibère eine Bewegung eingeschrieben, die aus dem Begehren zu besitzen resultiert: Land, Kultur, einen weiblichen Körper. Es ist dies ein Begehren, das viele Darstellungen des Europa-Mythos seit der Antike als immanenten Beweg-Grund des Erzählten markieren und das, unverkennbar, als männlich-aktiv vor- und dargestellt wird. Dass diese Analogien rein zufällig sind, ist auszuschließen. Eine meines Erachtens gewollte Pointe des Stücks besteht in der Verschiedenheit des Umgangs der antiken Europa und der modernen Europe mit Begehren und Eroberungswut. Europe lässt sich nicht rauben. Wie die griechische Europa ist auch sie gewaltsamen Bemächtigungsbestrebungen ausgesetzt, bleibt aber uneinnehmbar, unerobert und unvermählt: „Je suis et serai libre, et mon soin désormais/ Sera de maintenir tous mes peuples en paix“ (v. 139-140). Diese Pointe muss, da der Entführungsmythos in der Frühen Neuzeit überaus populär war und in einer Diversität von Medien, unter Betonung sinnlicher Momente, dargestellt wurde, beabsichtigt gewesen sein. Es ist undenkbar, dass Desmarets’ Europe nicht mit der von Zeus entführten mythischen Königstochter in Verbindung gebracht werden sollte. Beide waren - auch und gerade in Verbindung miteinander - im kulturellen Bewusstsein zu präsent, als dass sich eine Assoziation nicht aufgedrängt hätte, zumal in einem politischen Kontext wie diesem und angesichts des Leitmotivs des Stückes: der Herrscher, der sein Reich zur Braut nimmt. Gleichsam in der Nachfolge von Darstellungen, wie sie Moschos’ Europa (108-130 und 153-166), Lukians Dialogi Marini (15) und Nonnos’ Dionysiaka (1,46-137 und 321-361) geben, die den Raub als Brautnahme und die Meerfahrt als Hochzeitszug schildern, spielt Desmarets’ Stück mit der damals verbreiteten politischen Aneignung der Entführungsals Heiratsgeschichte. Europa erschien in diesen Funktionalisierungen als geschmückte Braut, umgeben von ihren Gespielinnen als Brautjungfern, mit dem schönen, gleichfalls geschmückten weißen Stier als Sinnbild für den erwartungsvollen Bräutigam. 34 Besonders zu nennen sind die Indienstnahmen Europas im Rahmen der Heiratspolitik der französischen Valois und Bourbonen, der Habsburger und der Oranier, die qua Heirat dynastische Verbindungen zwischen europäischen Herrscherhäusern zu schaffen suchten. In Rahmen dieser Heiraten erfuhr der My- 34 Vgl. für einzelne Beispiele etwa Ausst.-Katalog Il Mito di Europa 2002, S. 250- 278; etwa S. 251: van Balen, H./ Brueghel, J. (der Ältere): Europa auf dem Stier (um 1624), Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie; S. 257: Albani, F.: Ratto di Europa (um 1633-1635), Rom, Galleria Colonna; S. 277: Vouet, S.: L’Enlèvement d’Europe (um 1640), Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza. <?page no="112"?> 112 almut-barbara renger thos eine Indienstnahme in dem Sinn, dass mit der Brautnahme zugleich Europa gewissermaßen zur Braut genommen wurde. 35 Es ließen sich an dieser Stelle zahlreiche weitere Beispiele - aus der Literatur, bildenden Kunst, Kartographie, politischen Publizistik und anderen Bereichen - für die Verknüpfung oder Verschmelzung von Königstochter und Kontinent in der Frühen Neuzeit anführen; die Forschung hat (nicht nur für die ersten Jahrhunderte der Neuzeit, sondern auch für Moderne und Gegenwart) eine Fülle von Darstellungen zusammengetragen. 36 Doch müssen, da in diesem Rahmen nur begrenzt Raum zur Verfügung steht, wenige Beispiele genügen. Sie zeigen exemplarisch, dass mythische Königstochter und Kontinentalallegorie immer wieder miteinander assoziiert und zu einem weiblichen Körper amalgamiert wurden - zu einem Körper, der im Rahmen spezifischer politischer Interessen und Erwartungen an das Geschlechterverhalten aus männlicher Perspektive sprachlich und bildlich in verschiedensten öffentlichkeitswirksamen Medien geformt und besetzt wurde. Dabei wurde, mal mehr, mal weniger, entweder die mythische Prinzessin mit Merkmalen der eher herrschaftlich-stattlichen Kontinentaldarstellung versehen, oder diese erhielt Eigenschaften und Attribute der eher mädchenhaften, auf dem Stierrücken Entführten. In vielen Fällen war die Verbindung subtil und nur indirekt gegeben. 37 Zweifelsohne gab und gibt es auch zahlreiche Darstellungen ohne jedwede gewollte Übertragung der einen auf die andere Europa-Darstellung figürlicher Körperlichkeit. Doch das Potential der Assoziation war über den Namen stets vorhanden und wurde daher immer wieder ausgeschöpft, vor allem im Süden Europas, wo der Mythos der Entführung in der Frühen Neuzeit, infolge der starken Verbundenheit mit der griechisch-römischen Kultur, besonders populär war. An der Schwelle zur Moderne verschob sich der Schwerpunkt der gynäkomorphen Europa-Darstellung, wie sie im 16. und 17. Jahrhundert 35 Vgl. zum Beispiel Schmale 2009, S. 395-413. 36 Vgl. unter anderem Poeschel 1985; Wiebel, C.: „Mythos als Medium - Zur unterschiedlichen Deutbarkeit früher Europa-Darstellungen“. In: Salzmann, S. (Hrsg.): Mythos Europa. Europa und der Stier im Zeitalter der industriellen Zivilisation. Hamburg 1988, S. 38-55; Gommers 2001; Wattel-de Croizant, O. (Hrsg.): D’Europe à l’Europe III. La dimension politique et religieuse du mythe de l’Europe de l’Antiquité à nos jours, Actes du colloque tenu à l’ENS, Paris (29-30 novembre 2001). Tours 2002; Bußmann/ Werner 2004; Wintle, M.: Europe and the bull, Europe and European Studies. Amsterdam 2004; Schmale u. a. 2004; Montifroy, G. A./ Wattel-de Croizant, O. (Hrsg.): D’Europe à l’Europe IV. Europe entre Orient et Occident. Du mythe à la géopolitique, Actes du colloque tenu à l’ENS, Paris (8 juin 2006). Lausanne 2007. Eine Vielzahl von Informationen zur Thematik und Abbildungen bietet auch das Online-Projekt von W. Schmale auf http: / / www.univie.ac.at/ igl.geschichte/ europaquellen [Zugriff 1. 9. 09]. 37 Vgl. hierzu: Renger/ Ißler 2009, S. 51-99. <?page no="113"?> europa gynäkomorph 113 geprägt worden und traditionsgängig geworden war, weiter in den Norden Europas. Dies liegt vor allem daran, dass die spätere Europäische Union ihren Ausgang von Frankreich und Deutschland nahm. Im 20. Jahrhundert, als die europäischen Integrationsbestrebungen in der Folge der beiden von Deutschland ausgehenden Weltkriege immer mehr an Bedeutung gewannen, erreichte die Auseinandersetzung mit Europa in weiblicher Gestalt einen besonderen Gipfel. Insbesondere der Bau der Europäischen Einheit zog eine unübersehbare Fülle von Thematisierungen der Einigung Europas in politischer Publizistik und Karikatur nach sich. 38 Diese Entwicklung nahm im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ihren Anfang, als Europa - als Projekt, Vision und „Schicksalseinheit“ - ein in intellektuellen Zirkeln heiß diskutiertes Thema war. Thesen zu Europas Untergang - Band 1 von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes erschien 1918 - provozierten eine Vielzahl positiver Gegen-Utopien, von denen die 1923 veröffentlichte Paneuropa-Schrift von Coudenhove-Kalergi die prominenteste ist. Die seit der Romantik maßgeblich von Schriftstellern geführte „Europa-Debatte“ flammte mit und nach dem Ersten Weltkrieg wieder auf. Unter anderem Ferdinand Lion, Annette Kolb, Rudolf Borchardt, Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal und Heinrich Mann erörterten in Deutschland Europas hervorgehobene Position im Weltganzen, die Idee einer kulturellen und politischen Einheit sowie mögliche Formen einer Staaten-Allianz und Völkerverständigung. 39 In dieser Atmosphäre verfasste Georg Kaiser seine Europa, die 1915 herauskam und 1920 uraufgeführt wurde. 40 Das Stück, das in und mit der titelgebenden Hauptfigur die Verbindung von Mythos und Kontinentalbezeichnung inszeniert, entstand, wie so viele europäische Euro- 38 Vgl. hierzu unter anderem Soiné, K.: „Mythos als Karikatur. Europa und der Stier in der politischen Karikatur des 19. und 20. Jahrhunderts“. In: Salzmann, S. (Hrsg.): Mythos Europa. Europa und der Stier im Zeitalter der industriellen Zivilisation. Hamburg 1988, S. 76-83; Wintle 2004. 39 Lion, F.: Geist und Politik in Europa (1915); Kolb, A.: Briefe einer Deutsch-Französin (1915); Borchardt, R.: Gedanken über Schicksal und Aussicht des europäischen Begriffs am Ende des Weltkrieges. Schema (1917); Hesse, H.: Die Brüder Karamasoff oder Der Untergang Europas. Einfälle bei der Lektüre Dostojewskijs (1919); von Hofmannsthal, H.: Die Idee Europa. Notizen zu einer Rede (1917) und Blick auf den geistigen Zustand Europas (1922); Mann, H.: Der Europäer (1916) und VSE (Vereinigte Staaten von Europa) (1924); Haas, W.: Europäische Rundschau (1924). - Die genannten Beiträge sind wiederabgedruckt in: Lützeler, P. M. (Hrsg.): Plädoyers für Europa. Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller 1915-1949. Frankfurt a. M. 1987, S. 7-116; ders. (Hrsg.): Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger. Frankfurt a. M. 1994, S. 212- 271. 40 Kaiser, G.: Europa. Spiel und Tanz in fünf Auszügen. In: ders.: Werke. Bd. 1: Stücke (1895-1917). Hrsg. v. Huder, W. Frankfurt a. M. 1971, S. 585-651. <?page no="114"?> 114 almut-barbara renger painszenierungen in Bild und Text, vor dem Hintergrund „Krieg“: aus der allgemeinen Kriegsbegeisterung des Jahres 1914 heraus. Wie Desmartes’ in Kriegszeiten entstandene Europe ist auch Kaisers Europa eine modern transformierte, die sich nicht rauben lässt. Sie wird zwar, wie die antike Europa, ebenfalls von Zeus in Stiergestalt entführt, von ihm aber nicht zur Mutter dreier Söhne gemacht, sondern verlässt ihn und kehrt nach einer einzigen Nacht zurück. Anders als Desmarets’ Europe bleibt sie allerdings nicht unvermählt, sondern wählt sich, gegen den Wunsch ihres Vaters, einen Mann zum Gefährten. Er ist der Anführer von Kriegern, die sich als die mythischen „Sprossen“ von Europas Bruder Kadmos erweisen und laut Bühnenanweisung „mächtige Gestalten“ sind, „bärtig“ mit „gelbe[m] dickgewickelte[m] Haarschopf - Felle[n] auf der nackten Brust - raue[n] Beine[n] - und Waffen“ (641). Mit diesen nordischen „Rauhbeinen“, die am Tag nach der Entführung durch Zeus beim königlichen Palast von Europas Vater Agenor auftauchen, zieht die Protagonistin am Ende des Stückes aus, ein neues Land zu suchen, das ihren Namen tragen soll. Das Motiv der Brautnahme (siehe oben) wird mithin invertiert („Bräutigamnahme“), und die schöne Königstochter erhält, in selbstgewählter Gemeinschaft mit „germanisch-blonden Bestien“, aktive Gründer- und Eponymenfunktion. Übersetzt heißt das: Europa hält Hochzeit mit einem kriegerischen Deutschland und gründet mit ihm ein neues Reich und, wie gleich zu sehen sein wird, ein neues Geschlecht. 41 Auf den ersten Blick scheint Kaiser mit dieser Inszenierung - entgegen traditionellen Codierungen des Verhältnisses von Zeus und Europa - ein verändertes Verständnis von Geschlechterrollen zu inszenieren und der gegengeschlechtlichen Relation in üblicher binäroppositioneller Charakterisierung (männlich = aktiv, weiblich = passiv) die gegenläufige Möglichkeit weiblicher Tat- und Gründungskraft gegenüberstellen zu wollen. Immerhin handelt es sich um eine Frau, der nicht etwa wie bei Desmarets ein ritterliches Frankreich zu Hilfe eilen muss, um sie zu schützen. Vielmehr haben wir es mit einer Europa zu tun, die selbsttätig wählend und kraftvoll - durch Verlassen erst der personalisierten Männlichkeit des göttlichen Stiers und dann des irdischen Vaters und Königs ihres Landes - den nach ihr benannten Kontinent begründet. Bei genauerem Hinsehen jedoch leistet das Stück keine Entbindung aus tradierten Geschlechterrollen, sondern übt vor allem eine (auch von Nietzsche inspirierte) vitalisti- 41 Ausführlich Renger, A.-B.: „‚Ein Rudel blonder Raubthiere‘ (Nietzsche). Europas Aufbruch im Spiegel der Theaterkritik von 1920: Zu Text und Aufführung von Georg Kaisers ‚Europa‘, unter besonderer Berücksichtigung des Schlussaktes“. In: Oster, A. (Hrsg.): Europe en mouvement. Mobilisierungen von Europa-Konzepten im Spiegel der Technik. Berlin 2009, S. 165-187. <?page no="115"?> europa gynäkomorph 115 sche Dekadenzkritik. Es deutet zwar die Möglichkeit veränderter Territorialisierungspraktiken an, indem Weiblichkeit nicht länger gegenüber einem männlichen Agens als Gebärende und Mutter in einen symbolisch passiven Raum verwiesen wird, und bringt Prozesse der Verschiebung von Geschlechterdifferenzen zur Darstellung; aber es schreibt diese am Ende doch wieder neu fest. Insbesondere der Stückschluss, bei dem sich das gesamte Dramenpersonal kollektiv frohgemuter Aussicht auf Krieg überlässt, zeigt dies sehr deutlich. Die Frage, ob sie „aus diesem Europa“ wiederkämen, verneint der blonde Kriegeranführer, stellt aber in Aussicht, die nächste Generation würde „über die Grenzen“ Europas „fluten“ und Agenors Volk vernichten (650). Diese - übrigens angesichts der realen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs nachträglich umso erschreckendere - Perspektive wendet Agenors bisherige friedfertige in eine gleichfalls kriegerische Haltung: „Schafft mir Männer. Männer, die Waffen schwingen und dies Leben verteidigen, das unseren Schutz verlangt.“ Auf diesen Ruf hin vollzieht sich an den als „verweichlicht“ inszenierten Männern seines Landes ein Wandel: Sie raffen ihre Röcke, binden sich die langen Haare hoch und holen, nach Art eines gewaltsamen Frauenraubs, zwecks Zeugung von neuen Männern „kräftige“ „Mägde aus dem Hof“ (650). Agenor zeigt sich beim Anblick der sich in den Armen seiner Männer wehrenden Mägde erst überrascht, dann aber durchaus einverstanden: „Ich sehe eure Söhne. Flutendes Leben quillt auch hier.“ Mit dieser vitalistischen Vorstellung bricht sich seine Kriegsbereitschaft endgültig Bahn. Er fordert Kadmos’ Krieger zum Kampf mit dem „neuen Geschlecht“ auf: „Kommt später und messt euch mit diesem Geschlecht. Kämpft um das Leben […].“ (650-651). Dieser Appell wird allgemein kampfbegeistert aufgenommen. Agenor besiegelt daraufhin den „guten“ Ausgang - die Vision zweier neuer Generationen und deren Kampf zwecks Ermittlung des stärksten Geschlechtes - mit einem altbewährten Zeichen des Happy Ends: Er lässt für alle Hochzeitsfackeln entzünden. Dieses Ende bekräftigt das Geschlechterverhältnis, das im Verlauf des Stücks konstruiert wird, im Sinne binäroppositioneller Geschlechterstereotypen. Die Frau, Europa, „guckt sich“, leger formuliert, einen starken Mann „aus“; ihr „pazifistisch-verweichtlichter“ Vater findet aus seiner Dekadenz zu vitalistischer Kriegsbereitschaft; und die zuvor satirisch als androgyn dargestellten Männer seines Landes werden zu „echten“ Männern, die „in die Aktivität gehen“ und, wie schon Zeus, Mädchen rauben. Dass es damit seine Richtigkeit habe, bestätigt einer der finalen Wortwechsel des Stücks, in dem einer der Männer Agenors, „die nun nachgebende Magd vorführend“, zu seinem König sagt: „Die soll dir Männer <?page no="116"?> 116 almut-barbara renger geben“, und die übrigen Männer „mit den anderen Mädchen“ gemeinsam einstimmen: „Die Erde blüht - weil Europa endlich glüht“ (650-651). Demonstriert wird so, dass es neben den weiblichen feste männliche Geschlechtsrollen gibt, die den üblichen Stereotypen des Männlichen - Macht und Herrschaft, Stärke und Disziplin, Durchsetzungswille und Muskelkraft - 42 entsprechen. Zugleich wird das in vielen vorangegangenen Europa-Darstellungen angelegte und teilweise auch deutlich zum Ausdruck gebrachte Moment „Bewegung durch Begehren“ in dramatisch expressiver Zuspitzung auf die Bühne gebracht. Das Finale inszeniert die Wucht emotionaler, sinnlicher und auch politisch motivierter Bedürfnisse und Interessen als Grund für die Bewegung der Figuren zueinander sowie von einem Ort zum anderen. Dies erfolgt, gut expressionistisch, nicht im Sinne eines „staatsklugen“, konkret-politischen oder militärstrategischen Planes, sondern in Form eines visionären Aufrufs zur Erneuerung des Menschen. Aus dem finalen Jubel der Geschlechter erhebt sich die Vision umfassender Neuerung: „Man wird, um sich“, so ein Rezensent der Uraufführung, „in Kraft fortzupflanzen auf die Völkerwanderung gehen und ein neues Land suchen“: „Europa“. 43 Kaisers Stück fiel, als es 1920 uraufgeführt wurde, durch. 44 Schon damals war es durch seine Kriegsbegeisterung, die es zum Ausdruck bringt, obsolet - Dokument seiner Zeit und der Stimmung, in der es entstand. Es wurde seit jener Uraufführung nicht wieder auf die Bühne gebracht. Auch der eingangs zitierte Reinhard Urbach, Leiter der Dramaturgie des Burgtheaters unter Achim Benning und von 1988 bis 2002 Direktor des Theaters der Jugend, scheint sich der Europa nicht angenommen zu haben. Und dies, obwohl sein Schluss, „die europäische Völkergemeinschaft“ solle „stolz darauf sein, den Namen einer Frau zu tragen, die sich was traut und mit einem der mächtigsten Tiere flüstert“, wenn er auch andere Implikationen hat, fast von Georg Kaiser selbst hätte stammen können. 42 Erhart, W.: „Männlichkeitsforschung und das neue Unbehagen der Gender Studies“. In: Müller, S. L./ Schülting, S. (Hrsg.): Geschlechter-Revisionen. Zur Zukunft von Feminismus und Gender Studies in den Kultur- und Literaturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2006, S. 77-100, insb. 82. 43 Engel, F: „Georg Kaisers ‚Europa‘. Großes Schauspielhaus“. In: Berliner Tageblatt 6. 11. 1920, S. 3. 44 Ausführlich hierzu Renger 2009, S. 165-187. <?page no="117"?> II. Theater und Fest in mittelalterlichen Städten <?page no="119"?> Einführung: Die mittelalterliche Stadt als Schmelztiegel klerikaler, höfischer und urbaner Fest- und Theaterpraxis Katrin Kröll (Freiburg, Berlin) Die reichlich tausendjährige Epoche vom Zerfall des römischen Imperiums bis zum Anbruch der Neuzeit bezeichnet man in allen europäischen Sprachen als Middle Age, Moyen Ages, Medioevo, und dies geht auf die Gelehrten des 16. bis 18. Jahrhunderts zurück. Eine Kontinuität von der Antike bis in die eigene Gegenwart herauf beschwörend, vermochten sie in diesem „mittleren Alter“ europaweit nichts als Defizite zu erblicken: In dem immensum intervallum hätte, so Erasmus von Rotterdam, „crassissima barbaria“ geherrscht, 1 nach Goethe war es eine „traurige Lücke zwischen […] der alten und neuen Zeit“, 2 Thomas Hobbes setzte das medium aevum mit dem biblischen „kingdom of darkness“ gleich, 3 David Hume sah in ihm „a thick cloud of ignorance“, 4 für Voltaire dominierten „basses grossièretés“ in allen kulturellen Bereichen, 5 und nach Schiller wälzte sich in dieser Epoche „eine Nacht wilder Sitten […] vor den Eingang Europens hin“. 6 Angesichts dieser Epochenbestimmung als kulturelles Vakuum hat die Forschung lange bezweifelt, ob das Mittelalter überhaupt Theater hervorgebracht hat, gab es doch weder Amphitheater noch Guckkastenbühnen, 1 Zit. n. Varga, L.: Das Schlagwort vom ,finsteren Mittelalter‘. Neudruck der Ausgabe von 1932. Aalen 1978, S. 71. Varga gibt anhand zahlreicher Belege eine umfassende Darstellung der Genese des Mittelalterbildes vom Spätmittelalter bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. 2 Goethe, J. W.: „Materialien zur Geschichte der Farbenlehre“ (1808). In: Trunz, E. (Hrsg.): Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hamburg 1960. Bd. 14, S. 43. 3 Hobbes, T.: Leviathan (1677). Hrsg. v. Oakeshott, M. J., London/ New York 1962, S. 437; mit Bezug auf den Text der Apokalypse 16, 10. 4 Hume, D.: The History of England (1754). Boston 1858. Bd. 1, S. 322. 5 Voltaire: Essai sur les moeurs. Hrsg. v. Pomeau, R. Paris 1990. Bd. 1, S. 491-492. 6 Schiller, F.: „Über Völkerwanderung, Kreuzzüge und Mittelalter“ (1792). In: Schillers sämmtliche Werke in zwölf Bänden. Stuttgart 1860. Bd. 11, S. 8. <?page no="120"?> 120 katrin kröll weder Berufsschauspieler noch individuell herausragende Dramatiker, und gemessen an einer normativen Dramaturgie wirkten die überlieferten Spieltexte höchst unvollkommen. In Anlehnung an das Entwicklungsmodell vom Niederen zum Höheren betrachtete man die spätmittelalterlichen Passionsspiele lediglich als „Präludium“ zu Shakespeare oder Molière, die Aufführungen der hochmittelalterlichen Kleriker galten als deren „noch primitivere“ Vorläufer und was nicht zur vorgefassten Theaterdefinition passte, wurde als „unaufführbar“ beiseitegeschoben oder der „niederen Unterhaltung“ zugeordnet. 7 In den letzten Jahrzehnten allerdings hat fachübergreifend eine rege Erschließung neuer Quellen und quellenkritischer Methoden eingesetzt. Zu nennen sind hier vor allem die Publikationen der Société Internationale pour l’Étude du Théâtre Médiéval und das kanadisch-britische Projekt Records of Early English Drama, das bislang 25 Bände mit Quellen über theatrale Aktivitäten allein in England, Schottland und Wales veröffentlicht hat, was den Umfang empirischen Materials erahnen lässt, das es im übrigen Europa noch zu erschließen gilt. Die jüngsten Untersuchungen lassen erkennen, wie die ältere Forschung Quellen zurechtgebogen hat, um die eine oder andere Ursprungstheorie glaubhaft zu machen. Dagegen zeichnet sich jetzt immer deutlicher ab, dass Theater und Theatralität überall im mittelalterlichen Europa integrativer Bestandteil einer umfassenden und äußerst mannigfaltigen Festpraxis waren, die zahlreiche soziale Gruppen aus allen Bereichen der Gesellschaft als bevorzugtes Mittel der Selbstdarstellung und der kulturellen Kommunikation nutzten. An hohen Kirchenfesten wurden die symbolischen Akte der Gottesdienstfeiern verknüpft mit theatralen Darstellungen des biblischen Geschehens (lateinische Weihnachts-, Oster- und Mirakelspiele); in das Zeremoniell höfischer Feste (Fürsteneinzüge, Hoftage, Beilager, Turniere, Bälle) waren Auftritte von tableaux vivants, Kampf- und Maskenspiele eingebunden; städtische Frömmigkeitspraxis artikulierte sich in der Aufführung von Passions-, Fronleichnams- und Mysterienspielen, bei Prozessionen wurden auf Wagenbühnen Lebende Bilder vorgeführt, in den Umzügen bei Patronatsfesten traten Umgangsriesen als Stadtbeschützer auf, im Rahmen der Fastnachtsfeste führten Patrizier, Kaufleute und Handwerker 7 Meine im Rahmen des Forschungsverbundes Fest und Theater in Europa entstandene Untersuchung wird auf diese Aspekte der Wissenschaftsgeschichte ausführlich eingehen. Vorläufige Ergebnisse sind publiziert in Kröll, K.: „Theater- und Kulturgeschichtsschreibung für eine ‚germanische Zukunft Europas‘. Theorien und Methoden der Wiener Much-Schule und das Konstrukt eines ‚anderen‘ Mittelaltertheaters“. In: Theater/ Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Hulfeld, S./ Peter, B. In: Maske und Kothurn 1-2 (2009), S. 133-174. <?page no="121"?> einführung: die mittelalterliche stadt als schmelztiegel 121 Schautänze, Scherzturniere, Minneburgspiele und Farcen vor, auch auf Märkten und Messen sowie bei der Feier von Gesellenprüfungen und akademischen Examina wurde Theater gespielt, 8 und Spielleute führten ihre Künste bei höfischen und städtischen Festanlässen vor. Diese Symbiose von Fest und Theater ist als ein europäisches Phänomen zu sehen, das bei der Herausbildung einer gemeinsamen kulturellen Identität zweifellos eine bedeutsame Rolle spielte. Die derart verschiedenartigen Festanlässe und Festorte, die spezifischen Interessen der Festteilnehmer und deren jeweilige Bildungshorizonte ließen allerdings auch ein ungemein breites Spektrum theatraler Inhalte und Aufführungspraktiken entstehen, die nicht anhand vor- und nachmittelalterlicher Theatermodelle, sondern als Theater sui generis untersucht werden müssen. Für die Theaterhistoriographie erwächst hieraus eine neue, noch kaum ins Auge gefasste Forschungsperspektive, denn es wird zu fragen sein, inwieweit spezifische Feste auch spezifische Dramaturgien und Spielweisen hervorbrachten. Wie diese Fragestellung mittelalterliche Theaterproduktion erhellen kann, möchte ich zunächst unter Bezug auf mein aktuelles Forschungsprojekt über Weihnachtliche Feste und Theaterspiele junger Kleriker in der mittelalterlichen Westkirche kurz andeuten. Alle Theaterhistoriker kennen die mit aufwendigen Dekorationen ausgestatteten Simultanbühnen der spätmittelalterlichen Oster- und Passionsspiele, 9 weniger bekannt ist, dass simultane Darstellungen als theaterhistorisches Novum bereits in den Spielen der Kleriker des 11. und 12. Jahrhunderts entstanden. Ihre Aufführungen fanden allerdings im „nackten“ Kirchenraum statt, und wie sich aus 82 überlieferten Spieltexten ermitteln lässt, begnügten sie sich mit den nötigsten Requisiten, während Orts- und Szenenwechsel von den Darstellern „erspielt“ wurden - was den hochmittelalterlichen Klerikern eine beachtliche schauspielerische Kompetenz abverlangt haben muss. Woher diese Kompetenz kam, warum das Simultanprinzip entstand und weshalb es verschieden- 8 Die ungemeine Vielfalt theatraler Aktivitäten in der Stadt Luzern untersucht die kürzlich erschienene Arbeit von Greco-Kaufmann, H.: Zuo der Eere Gottes, vfferbuung dess mentschen vnd der statt Lucern lob. Theater und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bd. 1-2 (Theatrum Helveticum 11). Zürich 2009, mit zahlreichen ikonografischen Zeugnissen und einem separaten Quellenband. 9 Zu den bekanntesten Beispielen zählt das Passionsspiel von Valenciennes, siehe Konigson, E.: La représentation d’un mystère de la passion à Valenciennes en 1547. Paris 1969; Bildzeugnisse bei Molinari, C. (Hrsg.): Il teatro: repertorio dalle origini a oggi. Mailand 1982, S. 82-83. Analysen der Bühnenpläne und simultanen Aufführungspraxis der Luzerner Osterspiele des 15. und 16. Jahrhunderts bei Greco-Kaufmann 2009. Bd. 1, S. 157-181 und S. 433-483. <?page no="122"?> 122 katrin kröll artige Aufführungspraktiken hervorbrachte, wird erst verständlich, wenn man die Festkontexte heranzieht. Ich zeige dies zunächst an den - in die Gottesdienste der Kirchenfeste eingebetteten - hochmittelalterlichen Weihnachtsspielen, die in der Anfangsphase des klerikalen Theaters fast zwei Drittel des Repertoires ausmachten. Wenn diese Spiele dem antiken Prinzip der Einheit von Zeit, Ort und Handlung nicht folgten und alttestamentarische Propheten, die erythräische Sibylle, Johannes den Täufer, Augustinus und zuweilen auch den aktuellen Kinderbischof gleichzeitig auftreten ließen, dann korrespondiert dies mit ihrer liturgischen Festpraxis. Wie aus den Bestimmungen im Liber officialis des vielrezipierten Amalar von Metz aus dem Jahr 823 und aus zahlreichen weiteren liturgietheoretischen Schriften hervorgeht, sollten die Kleriker nämlich bei der Feier der Messe das Leben Christi, und beim Stundengebet die gesamte Zeit vom Anfang bis zum Ende der Welt durchlaufen. 10 Auch die schnellen, in nahezu filmisch kurzen Sequenzen vollzogenen Wechsel zwischen dem Hof des Herodes, der Krippe von Bethlehem und der Ankunft der Magier entsprangen der liturgischen Praxis, denn im Gottesdienst sollten die Geistlichen mit Hilfe von gestus, actus und motus allegorische figurae - zum Beispiel die Propheten, die Schriftgelehrten, die Frauen am Grab Christi - darstellen, 11 wobei der einzelne Kleriker im Ablauf des Gottesdienstes nicht eine, sondern wechselnde Rollen darzustellen hatte: Figura mutatur, sagt Papst Innozenz III., „hat der Diakon beim Introitus einen Propheten dargestellt, dann stellt er bei der Lesung den Evangelisten dar“, 12 und bemerkenswerterweise benutzen die Quellen die gleichen Verben - repraesentare, ostendere, personam gerere - zur Beschreibung liturgischer und theatraler Handlungen. 13 10 Nähere Erläuterung dieses Prinzips und zahlreiche Belege bei Suntrup, R.: Die Bedeutung der liturgischen Gebärden und Bewegungen in lateinischen und deutschen Auslegungen des 9. bis 13. Jahrhunderts (Münsterische Mittelalter-Schriften, Bd. 37). München 1978, S. 57-117. 11 So zum Beispiel Hugo von St. Victor in der Schrift De sacramentis christianae fidei (1. Hälfte des 12. Jahrhunderts). In: Migne, J. P. (Hrsg.): Patrologia Latina. Paris 1844-1865. Bd. 176, Sp. 326. 12 „Jam figura mutatur; nam diaconus, qui prius repraesentabat prophetam, modo repraesentat evangelistam.“ Innozenz III.: „De sacro altaris mysterio“ (Ende 12. Jahrhundert). In: Patrologia Latina. Bd. 217, Sp. 821 (Übers.: K. K.). 13 Siehe hierzu die lange Liste von Verben des Darstellens, die Suntrup, in den Schriften Amalars und anderer Liturgietheoretiker ermittelt hat. Suntrup 1978, S. 93-117. Der enge, aber noch nicht hinreichend erforschte Bezug zwischen liturgisch-rememorativer Gebärdensprache und schauspielerischem Darstellen zeigt sich unter anderem in Amalars Reflexionen über die sich gegenseitig steigernde Wechselwirkung von äußerer Haltung (motus corporis) und Affekt (motus animae), siehe seinen Liber officialis, III, 28, 5-7 und die Ausführungen von Suntrup 1978, S. 65-66. <?page no="123"?> einführung: die mittelalterliche stadt als schmelztiegel 123 Im Detail kann ich hier nicht ausführen, wie aus der von den Klerikern insbesondere bei den hohen Festen des Kirchenjahres praktizierten memorativen Allegorese eine theatrale Spielweise hervorging, die nicht auf make-believe, sondern auf eine hochartifizielle, die Fiktionalität von Theater herausstellende Spielweise setzte. Anhand der seit Mitte des 12. Jahrhunderts kreierten novae comoediae, in denen Kleriker eine Neubegründung antiker Komödienkunst zum Programm erhoben, sei dies aber zumindest angedeutet. 14 Die - vermutlich an Kloster- und Kathedralschulen entstandenen und dort bald auch zum Lehrstoff gehörenden - Bearbeitungen der Stücke von Plautus, Terenz und Menander parodierten unter anderem den aktuellen Wissenschaftsbetrieb der damals führenden Theologenschulen von Chartres und Paris. Vitalis von Blois zum Beispiel legte unverständigen Dienerfiguren eine geschwollene Gelehrtensprache in den Mund und verwandelte die plautinische Tragikomödie vom Feldherrn Amphitruo in eine Satire über einfältige Philosophen, die von der Dialektik um den Verstand gebracht werden. Die Aufführung der „neuen Komödien“ sollte, so Geoffroi de Vinsauf, in drei Sprachen erfolgen: „die erste durch den Mund, die zweite durch das Gesicht des Sprechers, und die dritte durch seine Gesten“, 15 Arnulf von Orléans hob saltationes und gesticulationes als zentrale Aufführungselemente hervor, 16 und wie in der gottesdienstlichen Praxis steht neben häufigem Rollenwechsel eine Unterbrechung der Dialoge durch narrative Passagen. Die novae comoediae sind daher nicht als „unaufführbare Literatur“ abzutun, 17 ihr durch Kommentare 14 Die auch als „elegische Komödien“ bezeichneten Texte entstanden vom Ende des 11. bis zum Anfang des 13. Jahrhunderts in Nordfrankreich, England, Italien und dem westlichen Deutschland. Die Texte sind zugänglich in der kritischen Ausgabe von Bertini, F. (Hrsg.): Commedie latine del XII e XIII secolo. Genua 1976-1998. Bd. 1-6 und in einer Auswahl-Editon von Suchomski, J.: Lateinische comediae des 12. Jahrhunderts (Texte zur Forschung 32). Darmstadt 1979 (mit deutschen Übersetzungen). 15 „In recitante sonent tres linguae: prima sit oris, altera rhetorici vultus, et tertia gestus.“ Geoffroi de Vinsauf: Poetria Nova (um 1210). In: Faral, E. (Hrsg.): Les arts poétiques du XII e et XIII e siècles. Paris 1958, S. 259 (Übers.: K. K.). 16 Arnulf von Orléans: Kommentar zu Ovids Remedia amoris (2. Hälfte des 12. Jahrhunderts), zit. n. Roy, B.: Arnulf of Orleans and the Latin „Comedy“. In: Speculum. Bd. 49 (1974), S. 260. 17 Die meisten Theatergeschichten gehen gar nicht auf die Elegienkomödien ein, kürzlich stellte Allegri zwar die Frage nach der Aufführungspraxis, kam aber ohne Umschweife zu dem Schluss, dass diese Tradition mit Theater nichts zu tun habe, sondern der „aerea della letterarietà“ zuzurechnen sei. Allegri, L: Teatro e spettacolo nel medioevo. Bari/ Rom 1995, S. 256. Eine kritische Auseinandersetzung mit der allgegenwärtigen Bewertung der novae comoediae als nicht-theatrales, „gattungspoetisches Paradoxon“ und Vorschläge zur Analyse der Aufführungspraxis finden sich bei Symes, C.: „The Performance and Preservation of Medieval Latin Comedy“. In: European Medieval Drama. Bd. 7 (2003), S. 29-50. <?page no="124"?> 124 katrin kröll unterbrochenes Spiel und die Darstellung mehrerer Figuren durch einen Spieler dürfen als Anfang einer schauspielerischen Tradition gelten, die unter anderem in frühneuzeitlichen Jahrmarktsspektakeln, bei den comici dell’arte, in Dario Fos - als Rekonstruktion mittelalterlicher Spielweise konzipierten - Mistero buffo oder in Philippe Caubères L’homme qui danse ou La vraie Danse du Diable weitergeführt wurde. 18 Nahm in hochmittelalterlicher Zeit die Verbindung zwischen klerikaler Festliturgie und Theaterspiel eine führende Rolle ein, so steht die Periode vom 13. bis 15. Jahrhundert im Zeichen der Entfaltung der Städte und ihrem Streben nach politischer Emanzipation, woraus sich erhebliche Änderungen in der Fest- und Theaterpraxis ergaben. Das Bemühen, stadtbürgerliche „Kulturfähigkeit“ sinnfällig zu machen, äußerte sich nicht zuletzt darin, dass die bislang verachteten artes mechanicae nun als Zeichen urbanen Selbstbewusstseins in den Kirchenfesten vieler europäischer Städte Einzug hielten. Dies geschah in Gestalt beweglicher Christusfiguren, die an Himmelfahrt durch ein Loch im Kirchendach entschwebten, 19 in Gestalt szenischer Auftritte von Automaten an astronomischen Uhren oder in Gestalt gestikulierender, oft als Stadtpatron dargestellter Holzfiguren an den Orgelkonsolen, die - wie zum Beispiel die Straßburger Roraffen - die Gesänge der Gemeinde komisch kommentierten. 20 Als mittelalterlicher Endpunkt solcher ostentativ vorgeführter mechanischer Künste darf Filippo Brunelleschis ausgeklügelte Theatermaschinerie gelten, die 1422 beim Himmelfahrtsfest in der Florentiner Karmelitenkirche Santa Maria del Carmine simultane Darstellungen der Stadt Jerusalem und des Ölbergs auf der knapp sieben Meter hohen Chorschranke, einen von Engeln umkreisten Herrgott im Dachstuhl sowie die 18 In beiden Aufführungen kreiert ein einzelner Schauspieler - ganz ohne Dekorationen und Kostüme - eine Vielzahl gleichzeitig auftretender Figuren: bei der Erweckung des Lazarus zum Beispiel spielte Fo nicht nur alle biblischen Personen, sondern auch die schaulustige Menge der Zuschauer; Caubère entwickelte nach seiner Zusammenarbeit mit Ariane Mnouchkine einen Zyklus von als „Maskenspiel ohne Maske“ konzipierten Vorstellungen, in denen er im Alleingang weit mehr als 200 Personen aus dem eigenen Leben (Großmutter, Eltern, Geschwister, Schulfreunde, das Personal des Thêatre du Soleil, Politiker, Künstlerkollegen - und den Herrgott) auftreten ließ. 19 Beispiele solcher Christusfiguren sind abgebildet bei Pochat, G.: Theater und bildende Kunst im Mittelalter und der Renaissance in Italien. Graz 1990, Abb. 10e und f, 43a und b, 44, 45 und 52a und b. 20 Die mit beweglichen Armen und herausstreckbarer Zunge ausgestatteten Straßburger Roraffen stammen von Ende des 14. Jahrhunderts und hatten ihren großen Auftritt beim Pfingstfest. Ähnliche mechanische Orgelfiguren sind unter anderem überliefert aus Nürnberg, Metz, Le Mans, Avenières, Perpignan und Salamanca. Meine Angaben stützen sich auf noch nicht publizierte eigene Recherchen zu diesem theaterhistorisch interessanten, aber noch kaum erforschten Phänomen. <?page no="125"?> einführung: die mittelalterliche stadt als schmelztiegel 125 Himmelfahrt eines lebendigen Christus-Darstellers zwischen auf- und abschwebenden Wolken mit begleitendem Theaterdonner zum Einsatz brachte. 21 In diesem Kontext betrachtet, lassen sich auch die aufwendigen Dekorationen der spätmittelalterlichen Passionsbühnen unschwer als festliche Zurschaustellung der Künste und Identitäten städtischer Handwerker erkennen. Eine weitere Spielart urbanen Theaters kam bei den in städtischer Regie abgehaltenen Prozessionen zur Entfaltung, bei denen es nicht zuletzt um eine Selbstdarstellung als eigenständige Sakralgemeinschaft ging, die sich von den klerikalen Gemeinschaften unterschied und eigene religiöse, literarische und theatrale Kompetenzen zum Tragen brachte. Insbesondere in den flandrischen Städten entstanden regelrechte Theaterfestivals, bei denen einzelne Stadtviertel oder Handwerkergilden um Preise wetteiferten. Ein Aufruf zum Theaterwettbewerb bei der Marienprozession in Lille von 1463 präzisiert die - für Dramaturgie und Spielweise höchst aufschlussreichen - Teilnahmebedingungen: Die auf Wägen, Karren oder tragbaren Bretterbühnen vorgeführten Spiele sollen während der Prozession par signes - also als pantomimische Lebende Bilder - und am Abend nochmals mit gesprochenen Texten aufgeführt werden. Den Darstellungen von Geschichten aus der Bibel, den Heiligenlegenden und römischen Chroniken muss ein Narrenspiel (jeu de folie) folgen, das seit mindestens 99 Jahren nicht aufgeführt wurde, und alle Texte müssen in einer „bonne et vraie retorique“ verfasst sein. Das beste Wagenspiel, die beste Dekoration und das unterhaltsamste Narrenspiel erhalten als Preis silberne Statuen, allerdings unter der Bedingung, dass die Truppe sowohl ein ernstes, als auch ein komisches Spiel vorgeführt hat. 22 Die Stadt Lille steuerte beträchtliche Summen für die Herstellung der Preise bei, die Herzöge von Burgund waren als Stadtherren bei deren Verteilung anwesend, und als Preisrichter traten die Narrenbischöfe mit ihrem Gefolge junger Kleriker auf, deren eigene, weihnachtliche Feste und Spiele in Lille seit 1306 bezeugt sind und die anscheinend als Theaterspezialisten galten, denn 1430 wurde der 21 Siehe hierzu Tripps, J.: Das handelnde Bildwerk in der Gotik. Forschungen zu den Bedeutungsschichten und der Funktion des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Hoch- und Spätgotik. Berlin 1999, S. 86-92 mit zeitgenössischen Berichten und einem Modell der Bühnenmaschinerie. 22 Ich beziehe mich auf ein Faksimile der Urkunde in den Archives Départementales du Nord, veröffentlicht bei Flammermont, J. (Hrsg.): Album paléogéographique de Nord de la France: chartes et documents historiques. Lille 1896, Abb. XLV, S. 163. In einer Wolfenbütteler Handschrift erhaltene, bei der Marienprozession von Lille aufgeführte Spieltexte werden zur Zeit ediert von Knight, A. E.: Les mystères de la procession de Lille. Bd. 1-4. Genf 2001-2007 (Bd. 5 in Vorbereitung). <?page no="126"?> 126 katrin kröll Narrenbischof auch für seine Ausgaben beim feierlichen Einzug Isabelles von Portugal entlohnt. 23 Ein besonders wichtiges Charakteristikum europäischer Stadtentwicklung besteht darin, dass in der spätmittelalterlich-urbanen Öffentlichkeit Fest und Theater des städtischen, höfischen und klerikalen Bereichs nebeneinander existierten, miteinander kooperierten und konkurrierten. Dieses Neben-, Mit- und Gegeneinander ließ spannungsreich-innovative Theatralitätsgefüge entstehen, deren soziokulturelle Kontexte unter Berücksichtigung jeweils konkreter politischer Konstellationen und der unterschiedlichen Typen von Stadtregiment analysiert werden müssen. Zu prüfen ist dabei, welche Rolle konkurrierende Selbstdarstellungen, Machtpartizipation und Konfliktmanagement bei der Entfaltung von Fest und Theater spielten und wie die Koexistenz gruppenspezifischer Identitäten zur wechselseitigen Übernahme performativer Traditionen, zu Migrationen und Transformationen festlich-theatraler Praktiken führten. Auf diese noch kaum erforschten Fragen suchte die Sektion Mittelalter erste Antworten zu finden. Drei Mediävisten, die führend an der Erschließung und Analyse der einschlägigen Quellen beteiligt sind, stellen in folgenden Studien ihre jüngsten Forschungsergebnisse vor. Nancy Freeman Regalado hat sich eingehend mit der Entfaltung von Performativität und Theatralität im Rahmen mittelalterlicher Feste befasst. Im vorliegenden Beitrag untersucht sie drei Feste des 13. und 14. Jahrhunderts: Zwei aristokratische Turniere im picardischen Le Hem (1278) und im lothringischen Chauvency (1285), in denen die Ritter unter anderem als Figuren der Artus-Legende auftraten, sowie ein einwöchentliches, von König Philipp dem Schönen anlässlich der Schwertleite seiner Söhne in Paris Pfingsten 1313 veranstaltetes Fest, an dem sich die Pariser Bürger mit einer eigenen Prozession und mit theatralen Darstellungen der Heilsgeschichte und des Roman de Renart beteiligten. 24 Methodologisch liegt der Schwerpunkt ihres Beitrags auf einer quellenkritischen Auseinandersetzung mit der - auch für die Einschätzung des Aussagevermögens späterer Festberichte hochrelevanten - Frage nach den Intentionen der Abfassung zeitgenössischer „Festbücher“, wobei sie anhand eines von Patriziern der Stadt Metz in Auftrag gegebenen Turnierberichts aufzeigen kann, wie Festbücher gewissermaßen zum „Transmissionsriemen“ 23 Rechnungsbücher der Stiftskirche St. Pierre in Lille, veröffentlicht bei Hautcœur, E.: Histoire de l’église collégiale et du chapitre de Saint-Pierre de Lille. Bd. 1-2. Lille 1896/ 1897. Bd. 2, S. 216. 24 Siehe hierzu die von Nancy Freeman Regalado im Anhang zu ihrem Beitrag veröffentlichte, für die frühe volkssprachliche Theaterentwicklung besonders aufschlussreiche Beschreibung der von den Pariser Bürgern 1313 aufgeführten Szenen. <?page no="127"?> einführung: die mittelalterliche stadt als schmelztiegel 127 der Aneignung aristokratischer Inszenierungen durch städtische Akteure wurden. Meg Twycross analysiert Maskenaufzüge von Londoner Bürgern und Ratsherren vor dem späteren König Richard II. und macht deutlich, dass es hierbei um alles andere als „folkloristischen Mummenschanz“ ging. Die politischen Hintergründe analysierend, zeigt Twycross auf, wie Bürger und Rat angesichts der mit der bevorstehenden Einsetzung eines kindlichen Herrschers verbundenen aristokratischen Machtkämpfe ihre verbrieften Freiheiten und das Selbstbestimmungsrecht der Stadt in Gefahr sahen. Sie untersucht, wie das populär-tradionelle Mumming umgeformt wurde, um dem künftigen Herrscher die Interessen der Bürgerschaft in festlich-theatraler Form vorzuführen und den bewährten Machtausgleich zwischen höfischer und städtischer Regierung einzufordern. Die Beiträge von Regalado und Twycross analysieren das Aufeinandertreffen höfischer und stadtbürgerlicher Feste und Theaterspiele in unterschiedlichen Großstädten mit Sitz einer königlichen Zentralregierung - Paris zählte Anfang des 13. Jahrhunderts circa 200.000 Einwohner, war vorwiegend Residenzstadt und wurde von einem königlichen Prevôt regiert; in London lebten in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts circa 40.000 Menschen, vorwiegend in Gilden und Zünften organisierte Kaufleute und Handwerker, die sich eine kommunale Stadtverfassung mit eigener Verwaltung und einer bürgerlichen Ratsregierung erstritten hatten. Wim Hüsken hingegen befasst sich mit festlich-theatralen Aktivitäten in der kleinen (damals flandrischen, heute belgischen) Stadt Mecheln, die im 14. Jahrhundert circa 15.000 Einwohner zählte, 25 und vor allem durch das Tuchgewerbe reich geworden war, gleichzeitig aber sukzessive von brabantischen, burgundischen und habsburgischen Herrschern als Residenz und regionales Verwaltungszentrum gewählt wurde. Es geht hier also um einen anderen, für die europäische Stadtentwicklung charakteristischen Typus urbaner Gemeinschaft, in der europäische Herrschaftspolitik und frühbürgerliches Selbstbewusstsein koexistierten. Am Beispiel Mechelns demonstriert Hüsken, wie sich in flandrischen Städten des Spätmittelalters eine beeindruckende Mannigfaltigkeit festlich-theatraler Traditionen herausbildete. Er zeigt auf, wie sich adlige Turniere zu städtischen Schützenfesten mit Theaterspielen wandelten, wie die Stadtregierungen „Theaterfestivals“ mit „Gastspielen“ in benachbarten Städten subventionierten, wie die Bürger für ihre Herrscher entrées joyeuses mit Wagenbühnen-Aufführungen organisierten, in denen Huldigung und po- 25 Alle Einwohnerzahlen nach Lexikon des Mittelalters. Stuttgart/ Weimar 1999. Bd. 5, Sp. 2105 sowie Bd. 6, Sp. 436 und Sp. 1711. <?page no="128"?> 128 katrin kröll litische Unterwerfung, gleichzeitig aber auch bürgerlicher Reichtum und die eigene kulturelle Identität zur Schau gestellt wurden. Er analysiert, wie städtische Behörden und aristokratische Regenten die Aufführungen und Theaterfestivals der Rederijkerskamers (Rhetorikergilden) gleichermaßen zu Repräsentationszwecken zu nutzen suchten und beschließt seinen historischen Abriss mit Zeugnissen über die Errichtung eines festen Theatergebäudes durch die Jesuiten, die eine neue Ära der Beziehungen von Theater und Fest einläutete. Wie die Beiträge dieser Sektion erkennen lassen, bildeten sich in mittelalterlichen Städten mit unterschiedlichen Typen von Stadtregiment unterschiedliche Typen von festlichen Inszenierungen heraus, die ein weites Studienfeld eröffnen. Methodologisch weisen die Autoren der künftigen Forschung einen Erkenntnisgewinn versprechenden Weg, indem sie aufzeigen, dass Struktur und tiefere Bedeutung dieser Inszenierungen nur im Kontext der jeweils unterschiedlichen politischen Konstellationen und Interessenlagen der Festakteure verstanden werden können. <?page no="129"?> bildteil 129 Abb. 1: Plan des alten Bouleuterions (Ort der Ratsversammlung) an der Agora. Abb. 2: Dionysos und zwei tanzende Mänaden, Amphore des Amasis- Malers, um 530 v. Chr. Paris, Cabinet des Médailles. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,*2 ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,*2 +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="130"?> 130 bildteil Abb. 3: Tanzende Mänaden, Attische Trinkschale. Abb. 4: Gestikulierendes Publikum. Sophilas-Vase. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; + ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; + +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="131"?> bildteil 131 Abb. 5: Plan eines Keils des Zuschauerraums des Dionysostheaters von Athen mit Markierungen und Beschriftungen der Sitzplätze (Zeichnung: W. Wurster). Abb. 6: G. B. Tiepolo, Apollo und die Kontinente, Detailaufnahme von Europa, 1750-53, Würzburger Residenz, Treppenhaus, Deckenfresko. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; , ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; , +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="132"?> 132 bildteil Abb. 7: F. Hogenberg, Europa quatuor orbis terrae praestantiss., Karte aus der Ausg.: M. Eytzinger: De Europa virginis tauro insidentis topographica & historica descriptione liber, Köln 1588, Kupferstich. Abb. 8: Anonymus: Europa Regina Karte, 1588, Holzschnitt. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; * ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; * +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="133"?> bildteil 133 Abb. 9: J. Strada und H. Mont (attrib.), Europa, um 1583/ 84. teilweise vergoldet, Kaisersaal, Schloss Bucˇovice (Moravie), Stuckplastik. Abb. 10: Le Roman de Fauvel, Fortuna führt Fauvel seine Braut Vaine Gloire (links) zu; der 1313 erneuerte königliche Palais in Paris (Mitte); Kleriker betrachten den Bootsverkehr auf der Seine (rechts) (Detail). ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; ; ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; ; +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="134"?> 134 bildteil Abb. 11: Le Roman de Fauvel, Fauvels Hochzeitsnacht (oben), Maskierte protestieren dagegen mit einem lärmenden Charivari (Mitte und unten) (Detail). Abb. 12: Le Roman de Fauvel, im Turnier zwischen Tugenden und Lastern besiegt die Enthaltsamkeit die Völlerei, das Emblem des Tyrannen. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; 1 ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; 1 +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="135"?> bildteil 135 Abb. 13: Raymond de Béziers, Kalila et Dimna, Rituelle Ereignisse während der Pariser Pfingstfeiern des Jahres 1313 und die Überreichung des Buches an Philipp IV. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; < ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; < +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="136"?> 136 bildteil Abb. 14: Raymond de Béziers, Kalila et Dimna, Rituelle Ereignisse während der Pariser Pfingstfeiern des Jahres 1313. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; 3 ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; 3 +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="137"?> bildteil 137 Abb. 15: Vor einer Tribüne mit Edelfrauen erkennt man Henri de Blâmont im Stechen mit dem Sire de Guimini beim Turnier von Chauvency (1285). Abb. 16: Vor den versammelten Rittern und Knappen führen beim Turnier von Chauvency (1285) zwei Damen den robardel auf. Abb. 17: Pageant der Société des bienfaisance (Wohlfahrtsgesellschaft) von Cambrai, nachgestellter Einzug von François I. in Cambrai 1529. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; = ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; = +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="138"?> 138 bildteil Abb. 18: A. Bretschneider und E. Rüdel, Europa Querula et vulnerata. Das ist/ Klage der Europen/ so an ihren Gliedern vnd gantzem Leibe verletzet/ und verwundet ist/ und nunmehr Trost und Hülffe begehret. 1631, Kupferstich. Abb. 19: Frontispiz zu: Europe. Comedie Heroïque/ attribuée à Armand du Plessis, Cardinal de Richelieu et Jean Desmarets, Sieur de Saint-Sorlin. Paris 1644. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; 9 ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; 9 +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="139"?> bildteil 139 Abb. 20: Frontispiz zu: Harsdörffer, G. Philipp, Japeta. Das ist Ein Heldengedicht: gesungen Jn dem Holsteinischen Parnasso Durch Die Musam Calliope. [Nürnberg] 1643, Textbuch. Abb. 21: A. Dürer, Ehrenpforte für Kaiser Maximilian, nach 1515, Wien Albertina, Holzschnitt. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; 2 ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,; 2 +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="140"?> 140 bildteil Abb. 23: C. A. Wortmann nach J. R. Fäsch, M. D. Pöppelmann (Architekt), Vúe du Palais de Hollande du Costé de la Ville avec les aisles, Dresden 1728/ 29, Kupferstich. Abb. 22: H. Burgkmair, Triumphzug, Der Wagen mit der Musica, Lauten und Rybeben, 1512/ 1518, Holzschnitt. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,1+ ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,1+ +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="141"?> bildteil 141 Abb. 24: Z. Longuelune, M. D. Pöppelmann: Elevation du Coté de la grande Cour du neauvaux Palais a vieux Dresden, Dresden 1727, Graphit, Feder in Schwarz. Abb. 25: J. A. Corvinus, Vue du Palais Roïal, ou de Hollande, et du Iardin; prise du coté de la riviére de l’Elbe, Dresden 1727, Kupferstich. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,1, ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,1, +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="142"?> 142 bildteil Abb. 27: A. M. Werner, Vue en perspective du Grand-Iardin Roïal illuminé. Sur le devant se présente le Temple de Venus, dans lequel le Bal a terminé la Fete du Jour, Dresden nach 1719, lavierte Zeichnung. Abb. 26: C. H. J. Fehling, Autre vúe en perspective du Parterre du Grand Iardin Roïal, prise de Façe du Coté de L’Entrée, Dresden nach 1726, Feder und Pinsel. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,1* ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,1* +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="143"?> bildteil 143 Abb. 28: C. H. J. Fehling, Couppe du Salon au Palais du Grand Iardin Roïal, ou l’on voit la Table du Roi, Dresden 18. Jahrhundert, Feder und Pinsel. Abb. 29: C. H. . Fehling, Tables, auxquelles ont soupé les societes des Nations, dans les Sales de l’Orangerie; chaque nation aiant sa Table, Dresden, nach 1719, Feder, Tusche laviert. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,1; ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,1; +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="144"?> 144 bildteil Abb. 31: C. H. J. Fehling, Façade latéral du temple de Saturne. Entrée des Mineurs, Dresden nach 1719, Kupferstich. Abb. 30: C. H. J. Fehling, Tables, auxquelles ont soupé les societes des Nations, dans les Sales de l’Orangerie; chaque nation aiant sa Table, Dresden nach 1719, Feder, Tusche laviert, (Detail). ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,11 ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,11 +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="145"?> bildteil 145 Abb. 32: C. H. J. Fehling, Chiffre du Roi illuminé et entouré des 7 Planètes, Dresden, nach 1719, Kupferstich. Abb. 33: Anonymus, Bergcomissionsrath Carlowitz vor dem Monument mit dem Monogramm König Augusts II., Gouache auf Papier. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,1< ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,1< +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="146"?> 146 bildteil Abb. 35: C. H. J. Fehling, Façade du Temple de Saturne, Dresden nach 1719, Kupferstich. Abb. 34: Anonymus, Große Stufe mit 7 Planeten, Uhrwerk und geschnitzten Bergleuten, Steiger mit Pyramiden und große Bergmaschine, Gouache auf Papier. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,13 ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,13 +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="147"?> bildteil 147 Abb. 36: C. H. J. Fehling, Grande table sous le Dome en forme d’A, Dresden nach 1719, Kupferstich. Abb. 37: S. della Bella, Comparsa del Ser.mo Principe …, 1. Radierung zum Reiterfest Il mondo festeggiante, Florenz 1661. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,1= ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,1= +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="148"?> 148 bildteil Abb. 38: S. della Bella, Ordinanza nella quale si fermarono il Ser.mo Princ.pe …, 2. Radierung zum Reiterfest Il mondo festeggiante, Florenz 166. Abb. 39: S. della Bella, Parte delle Figure della Battaglia e Balletto …, 3. Radierung zum Reiterfest Il mondo festeggiante, Florenz 1661. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,19 ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,19 +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="149"?> bildteil 149 Abb. 40: N. van Hoy, F. van den Stein, Comparsa die Caualieri, e loro seguito con le Macchine …, Radierung zum Reiterfest Sieg-Streit des Lufft und Wassers, Wien 1667. Abb. 41: N. van Hoy, J. van Ossenbeeck, Comparsa di Sua Msta Ces. a dal Tempio dell’Eternita …, Radierung zum Reiterfest Sieg-Streit des Lufft und Wassers, Wien 1667. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,12 ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,12 +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="150"?> 150 bildteil Abb. 42: N. van Hoy, J. van Ossenbeeck, 8 Blätter mit Figurationen der Schaukämpfe, Radierungen zum Reiterfest Sieg-Streit des Lufft und Wassers, Wien 1667. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<+ ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<+ +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="151"?> bildteil 151 Abb. 43: N. van Hoy, J. van Ossenbeeck, 1. bis 6. Blatt (von 13) mit Figurationen des Rossballetts, Radierungen zum Reiterfest Sieg-Streit des Lufft und Wassers, Wien 1667. Abb. 44: N. van Hoy, J. van Ossenbeeck, Retirata di S. M. C. Seguita da Capi Squadri …, Radierung zum Reiterfest Sieg-Streit des Lufft und Wassers, Wien 1667 ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<, ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<, +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="152"?> 152 bildteil Abb. 46: I. Sylvestre, Les Plaisirs de l’île enchantée, Palast der Alcine auf einer entworfenen Teichbühne von Carlo Vigarani im Park von Versailles im Jahre 1664, 1673, Kupferstich und Radierung. Abb. 45: F. Dietel, Angelica Vincitrice di Alcina, Ansicht des Proszeniums von Giuseppe Galli Bibiena, 1716, Kupferstich und Radierung. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<* ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<* +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="153"?> bildteil 153 Abb. 48: Kaiser Wilhelm II., Ankunft in Wiesbaden, Denkmaleinweihung und in der Theaterloge, Wiesbadener Festtage 1894 (Zeichnung: A. Wald). Abb. 47: J. Le Pautre, Salon für das Souper des Königs, entworfen von Henri Gissey für das Fest am 18. 7. 1668 im Park von Versailles, 1678, Kupferstich und Radierung. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<; ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<; +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="154"?> 154 bildteil Abb. 50: Ein Zimmer in der Burg zu Nürnberg, Entwurf Wilhelm II. für die Bühnendekoration von J. Lauffs Der Burggraf, ca. 1897. Abb. 49: Szenenfoto, II. Akt, Ein Zimmer in der Burg zu Nürnberg, J. Lauff, Der Burggraf, im Königlichen Theater Wiesbaden, ca. 1897. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<1 ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<1 +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="155"?> bildteil 155 Abb. 51: Werbeplakat für I. Kiralfy’s Theaterspektakel Venice. The Bride of the Sea, 1891/ 92 in London. Abb. 52: Gebirgsszeneriebahn des Lunaparks in Berlin-Halensee 1910-1914, Ansichtskarte. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<< ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<< +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="156"?> 156 bildteil Abb. 53: Gebirgsszeneriebahn des Lunaparks in Berlin-Halensee mit ‚kubistischer‘ Bemalung 1920, Ansichtskarte. Abb. 54: Das Gebäude der Johnstowns Flood in Coney Island 1903-1906. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<3 ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<3 +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="157"?> bildteil 157 Abb. 55: Souvenir des Besuchs von H. Beerbohm Tree und seiner His Majesty’s Theatre Company in Berlin, 1907. Abb. 56: Mr. Tree’s Besuch bei The Great Protector and Lover of Art. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<= ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<= +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="158"?> 158 bildteil Abb. 58: G. F. Händel, Giulio Cesare in Egitto, Den Norske Operaen Oslo 2005, I. Akt, 10. Szene, Robert Ogden als Nireno und Brigitte Christensen als Cleopatra. Abb. 57: G. F. Händel, Giulio Cesare in Egitto, Den Norske Operaen Oslo 2005, I. Akt, 1. Szene, Franco Fagioli als Cesare mit Chor. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<9 ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<9 +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="159"?> bildteil 159 Abb. 59: G. Verdi, La Forza del Destino, Deutsche Staatsoper Berlin 2005, III. Akt, 14. Szene, Tarantella als Kunst-Krieg, Ekaterina Semenchuk als Preziosilla mit Chor. Abb. 60: G. Verdi, La Forza del Destino, Deutsche Staatsoper Berlin 2005, III. Akt, 14. Szene, Rataplan, Ekaterina Semenchuk als Preziosilla mit Chor. Abb. 61: G. Verdi, La Forza del Destino, Deutsche Staatsoper Berlin 2005, IV. Akt, 2. Szene, „Qui, presto a me“ - „Hierher, schnell mir! “ Bruno di Simone als Fra Melitone und Kwanchul Youn als Padre Guardiano mit Chor. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<2 ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,<2 +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="160"?> 160 bildteil Abb. 63: R. Wagner: Parsifal, Bayreuther Festspiele 2008, I. Akt, Gralsburg. Abb. 64: R. Wagner, Parsifal, Bayreuther Festspiele 2008, I. Akt. Abb. 62: G. Verdi, La Forza del Destino, Deutsche Staatsoper Berlin 2005, Ouvertüre (IV. Akt, vor 4. Szene), Frank Poretta als Don Alvaro mit Chor. ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,3+ ! "-./ "-#++,01234516"7/ / 888,3+ +96,*6"888,+: " +96,*6"888,+: " <?page no="161"?> Festbeschreibungen in Paris und Metz im frühen 14. Jahrhundert. Unterweisung - Ansehen - Identität - Gedächtnis Nancy Freeman Regalado (New York) Was wir über die europäische Theater- und Festkultur des Mittelalters wissen, ist notgedrungen durch schriftliche Quellen gefiltert. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung für unser Verständnis der mittelalterlichen Festaufführungen, dass wir die schriftlichen Quellen, in denen sie überliefert sind, kritisch hinterfragen: Welche Interessen und Ziele verfolgten die Personen und Gruppen, die solche Festbeschreibungen in Auftrag gaben? Welche Umstände führten dazu, dass Schreiber und Künstler illustrierte Berichte über festliche Ereignisse schufen? An welchen Vorbildern orientierten sie sich bei ihren Beschreibungen? Welche Stellung nehmen die jeweiligen Quellen in der betreffenden Handschrift ein? Wie zirkulierten solche Berichte und wie wurden sie in einem städtischen Milieu rezipiert? Der vorliegende Beitrag befasst sich mit fünf Handschriften, die zu den frühesten narrativen und ikonografischen Berichten über historische Feste in Frankreich zählen. Wie und warum entstanden die ersten französischen Festbücher: Der Roman du Hem des Dichters Sarrasin, der ein 1278 in Le Hem (Picardie) veranstaltetes Turnier schildert, 1 und das Tournoi de Chauvency, in dem der Dichter Jacques Bretel über das 1285 veranstaltete Turnier im lothringischen Chauvency berichtet? 2 Wa- 1 Sarrasin: Le Roman du Hem. Hrsg. v. Henry, A. Brüssel 1939. Zu der Handschrift (Paris, BnF Fr. 1588, Fol. 115-143) und ihren Besitzern: de Remi, Ph.: Le Roman de la Manekine. Hrsg v. Middleton, R./ Sargent-Baur, B./ Stones, A. Amsterdam 1999, S. 42-68, und Busby, K.: Codex and Context: Reading Old French Verse Narrative in Manuscript. Amsterdam 2002. Bd. 2, S. 518-523 und S. 798-304. 2 Bretel, J.: Le Tournoi de Chauvency. Hrsg. v. Delbouille, M. Liège/ Paris 1932. Busby (2002, Bd. 2, S. 539-540) geht davon aus, dass Heinrich IV., Comte de Salm-en-Alsace, der in der Eröffnungsszene erscheint, V. 28-42 und 245-270, der Auftraggeber war. Zu den Handschriften (Mons, Bibliothèque de la ville, MS 330- 215, Fol. 82 r -105 v und Oxford, Bodleian, MS Douce 308, Fol. 107-139) Delbouille (Hrsg.) 1932, S. xi-xiii. <?page no="162"?> 162 nancy freeman regalado rum bestellten patrizische Leser der Freien Reichsstadt Metz 1312 zum eigenen Gebrauch eine prächtig illustrierte Kopie des Tournoi de Chauvency (Oxford, Boldeian, MS Douce 308), in der ein mehr als 25 Jahre zurückliegendes aristokratisches Fest geschildert wird? 3 Und wie kam es dazu, dass das große königliche Pfingstfest des Jahres 1313 in Paris nicht nur im ausführlichen Augenzeugenbericht der Chronique métrique (1316) niedergeschrieben, 4 sondern auch in sechs ikonografischen Darstellungen mit erzählenden Bildlegenden festgehalten wurde, die Raymond de Béziers in die Widmung zu seiner lateinischen Übersetzung von Kalila und Dimna, einer orientalischen Fabelsammlung (1313), 5 integriert hat? Die theatralen und rituellen Inszenierungen bei diesem Pfingstfest wurden zwar bereits eingehender untersucht, doch die Umstände, die dazu führten, dass diese Aufführungen schriftlich festgehalten wurden, fanden bislang nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit. Das 13. Jahrhundert ist bekanntlich die Epoche der großen Niederschriften volkssprachlicher Werke: In Chansonniers (Liederhandschriften) sammelte man die Liedtexte früherer Generationen; es entstanden Sammelhandschriften mit Ritterromanen in Vers und in Prosa, mit moralischen Handbüchern wie dem Miroir du monde (um 1270) sowie historischen Schriften wie den Grandes Chroniques de France (1274). Aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammen einige der ältesten bekannten Niederschriften französischer Theaterspiele. Dazu zählen Le Miracle de Théophile, das der Pariser Schriftsteller Rutebeuf um 1260 verfasste und von dem eine Kopie in der berühmten Pariser Sammelhandschrift BnF Fr. 837 erhalten ist, 6 sowie die Stücke aus Arras, die in einer Kopie 3 Eine kodikologische Beschreibung von Douce 308 in: Atchison, M. (Hrsg.): The Chansonnier of Oxford Bodleian MS Douce 308. Aldershot 2004; Aubrey, E./ Doss-Quinby, E./ Rosenberg, S. E. (Hrsg.): The Old French Ballette. Oxford Bodleian MS Douce 308. Genf 2006; Chazan, M./ Regalado, N. F. (Hrsg.): Lettres, musique et société en Lorraine médiévale: Le Tournoi de Chauvency (MS Oxford Bodleian Douce 308). (in Vorbereitung). 4 La Chronique métrique attribuée a Geffroy de Paris. Hrsg. v. Diverrès, A. Paris 1956. 5 Raymond de Béziers: „Kalila et Dimna“. In: Hervieux, L. (Hrsg.): Les Fabulistes latins. Bd. 5: Jean de Capoue et ses dérivés. Paris 1899, Neudruck New York 1965, S. 379-775. Die Bildlegenden wurden mit einer englischen Übersetzung nochmals publiziert in: Brown, E. A. R./ Regalado, N. F.: „Universitas et communitas: The Parade of the Parisians at the Pentecost Feast of 1313“. In: Ashley, K. (Hrsg.): Moving Subjects: Processional Performance in the Middle Ages and the Renaissance. Amsterdam 2001, S. 23-24. 6 Siehe Azzam, W.: „Un recueil dans le recueil: Rutebeuf dans le manuscrit BnF f. fr. 837“. In: Mikhaïlova, M. (Hrsg.): Mouvances et Jointures: Du manuscrit au texte médiéval. Orléans 2005, S. 193-201. <?page no="163"?> festbeschreibungen in paris und metz 163 vom Ende des 13. Jahrhunderts vorliegen (BnF Fr. 25566) und deren umfassende urbane Kontexte Carol Symes kürzlich analysiert hat. 7 Ebenfalls im 13. Jahrhundert entwickelt sich Buchbesitz zu einem mittelalterlichen Statussymbol, um die Formulierung von Brigitte Buettner aufzugreifen. 8 Neben Freigebigkeit, nobler Kleidung, eleganten Umgangsformen und aufwendigen Festlichkeiten werden nun auch Bücher zu einem Symbol aristokratischen Lebensstils. Und doch entstehen die ersten schriftlichen Berichte über ritterliche oder städtische Feste in Frankreich erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Der französische Festbericht in Buchform war eine neue Textsorte, die im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts entstand und die, wie die einschlägige Bibliografie von Helen Watanabe-O’Kelly eindrucksvoll belegt, 9 eine glänzende Zukunft haben sollte. Geraume Zeit vor der Abfassung erster eigenständiger Berichte über adlige und bürgerliche Festlichkeiten wie beispielsweise Turniere oder feierliche Einzüge (entrées solennelles) finden sich allerdings schon ausführliche Passagen über solche Ereignisse in fiktionalen höfischen Romanen. Hierzu gehören die Schilderungen von Turnieren in den Versromanen des Chrétien de Troyes aus dem 12. Jahrhundert und in Jean Renarts um 1220 verfassten Le Roman de la Rose ou de Guillaume de Dole. 10 Auch die fiktionale Beschreibung des großen königlichen Festeinzuges in dem von Beroul um 1180 verfassten Roman Tristan 11 entstand mehr als ein Jahrhundert früher als die erste Beschreibung einer tatsächlichen entrée solennelle im Jahr 1328. 12 Die Romane lieferten literarische Modelle, deren Motive später in die Beschreibung historischer Festlichkeiten einflossen: die Hervorhebung der jubelnden Menge, die Aufzählung der anwesenden Würdenträger, das Spektakel eines zeremoniellen Hoffestes, die Nennung von Einzelheiten der festlichen Kleidung, der Livreen und der 7 Symes, C.: A Common Stage: Theater and Public Life in Medieval Arras. Ithaca 2007. 8 Buettner, B.: „Profane Illuminations, Secular Illusions: Manuscripts in Late Medieval Courtly Society“. In: The Art Bulletin 74 (1992), S. 75-90. 9 Simon, A./ Watanabe-O’Kelly, H.: Festivals and Ceremonies: A Bibliography of Works relating to Court, Civic and Religious Festivals in Europe 1500 -1800. London 2000. 10 Baldwin, J.: „Chivalric Prowess“. In: Aristocratic Life in Medieval France. The Romances of Jean Renart and Gerbert de Montreuil, 1190 -1230. Baltimore 2000, S. 68-97, und derselbe: „Preface“. In: Chazan/ Regalado (Hrsg.) (in Vorbereitung). 11 Vers 2955-3009; siehe auch Jean Renarts Escoufle (um 1200-1202; V. 8768- 8864). Philippe Walter hat darauf hingewiesen, dass Beschreibungen von königlichen Festeinzügen in Romanen oft mit idealisierten Stadtlandschaften verbunden sind: Walter, P.: La Mémoire du temps: fêtes et calendriers de Chrétien de Troyes à La Mort Artu. Paris 1989, S. 374-380. 12 Guenée, B./ Lehoux, F. (Hrsg.): Les entrées royales françaises de 1328 à 1515. Paris 1968, S. 47. <?page no="164"?> 164 nancy freeman regalado heraldischen Ausstattung, die Pracht der städtischen Umzüge, die farbenprächtigen Tapisserien und Stoffbehänge, mit denen die Straßen der Stadt geschmückt waren, sowie die begeisterte Schilderung des Aufeinanderprallens gewappneter Ritter in den Turnier-Schranken. 13 Die Schilderungen in Romanen hatten zudem einen nicht unerheblichen Einfluss auf die realen Festlichkeiten, vor allem auf das Verhalten bei Ritterturnieren. Wie Larry Benson gezeigt hat, 14 wurde der im späten 12. Jahrhundert übliche, zum Beispiel in der Histoire de Guillaume le Maréchal beschriebene Typus des Turniers als wilde Schlacht in offener Landschaft im Laufe des 13. Jahrhunderts nach dem Vorbild der höfischen Romane gezähmt und in den uns bekannten Typ des wohlgeordneten Turniers mit einer Vielfalt von pageants und spektakulären Vorführungen von Tapferkeit umgeformt. Sie konnten jetzt innerhalb der Stadtmauern und sogar auf den Plätzen der Städte stattfinden, wie Evelyne van den Neste dies für Flandern gezeigt hat. 15 Realität, Fantasie und Lied wurden vereint in Ulrich von Liechtensteins lyrisch-narrativem Werk Frauendienst (1255), in dem der österreichische Dichter-Ritter über zwei Turnierreisen berichtet, bei denen er selbst die Rollen der Venus und des König Artus spielte. 16 Das früheste bekannte französische Festbuch, Le Roman du Hem, ist ein eigenständiger Bericht in Romanlänge. In 4624 Versen schildert das Buch ein Turnier, das 1278 tatsächlich im picardischen Le Hem stattfand, ein Ereignis, bei dem zahlreiche Ritter und hochstehende Persönlichkeiten versammelt waren, darunter der Herzog von Lothringen, Graf Robert von Artois sowie der Graf von Clermont, der sechste Sohn König Louis IX. 17 Der Dichter Sarrasin bezieht sich explizit auf das Vorbild der Romane von Chrétien de Troyes: 13 Siehe Walter 1989, S. 328. 14 Benson, L. D.: „The Tournament in the Romances of Chrétien de Troyes & ‚L’Histoire de Guillaume Le Maréchal‘. In: Benson, L. D./ Leyerle, J. (Hrsg.): Chivalric Literature: Essays on Relations between Literature & Life in the Later Middle Ages. Toronto 1980, S. 1-24. 15 Neste, E. van den: Tournois, joutes, pas d’armes dans les villes de Flandres à la fin du Moyen Age (1300-1486). Paris 1996. 16 Spechtler, F. V. (Hrsg.): Frauendienst (Ulrich von Liechtenstein). Klagenfurt 2000. Siehe Regalado, N. F.: „Performing Romance: Arthurian Interludes in Sarrasin’s ‚Le Roman du Hem‘ (1278)“. In: Lawrence, M./ Regalado, N. F./ Vitz, E. B. (Hrsg.): Performing Medieval Narrative. Cambridge (Mass.) 2005, S. 103-119, hier 115 und Anm. 26. 17 Zu den bei den Turnieren von Le Hem und Chauvency anwesenden Personen siehe Vale, J.: „The Late Thirteenth-Century Precedent: Chauvency, Le Hem, and Edward I“. In: Vale, J.: Edward III and Chivalry. Chivalric Society and its Context 1270-1350. Woodbury (Suffolk) 1982, S. 4-24 und Anhänge 1-9. <?page no="165"?> festbeschreibungen in paris und metz 165 Sarrazins dist en sa parole C’un rommant i vaurra estraire, Selonc çou qu’il en savra faire. Oï avés des Troïiens Et du remant que Crestiiens Trova si bel de Perceval, Des aventures du Graal, Ou il a maint mot delitable. De chiaus de la Rëonde Table Vous a on mainte fois conté Qu’il furent de si grant bonté Et de si grant chevalerie Qu’en toutes cours doit estre oïe La prouece et la vertu Qui fu u vaillant roi Artu Et es chevaliers de sa court. Et je dirai, sans plus atendre Or vous pri que cascuns s’atourt De biaus mos oïr et entendre De toute le plus bele emprise. Sarrasin sagt in seiner Rede, Er wolle einen Roman aus dem machen, Was der darüber [dies Fest] weiß. Von den Trojanern habt ihr gehört, Und von dem Roman, den Chrétien [de Troyes] So wunderbar von Parzival geschaffen, Von den Abenteuern der Gralssuche, Mit all den köstlichen Worten. Von denen der Tafelrunde Hat man oft euch schon erzählt, Von welchem großen Wert sie waren, In welchem Maße ritterlich. An allen Höfen soll man hören Die Tapferkeit und den Mut Des edlen Königs Artus Und der Ritter seines Hofes. Und unverzüglich sag’ ich euch Ein jeder mache sich bereit, Die wunderbare Kunde zu vernehmen Von diesem allerschönsten Unterfangen. 18 Wie Sarrasin zudem berichtet, war das gesamte Turnier in Le Hem von Motiven der Artus-Sage geprägt: Die Schwester eines der Organisatoren 18 Alle Zitate aus Sarrasin übersetzt von M. Müller und K. Kröll. <?page no="166"?> 166 nancy freeman regalado spielt die Rolle der Guinevere, Robert von Artois zieht in großem Auftritt als Chevalier au lion in die Turnier-Schranken und in Interludien wird das Arturianische Motiv der damsels in distress (Jungfrauen in Not) als Anlass zum Lanzenstechen dargestellt. Bis heute ist dies das einzige Arturianische Theater, das wir aus dem mittelalterlichen Frankreich kennen. 19 Wie wir wissen, beauftragten die Organisatoren des Turniers von Le Hem den Dichter, einen Festbericht zu verfassen. Dies geht aus Sarrasins hochinteressanter Mitteilung über den Vertrag hervor, den er mit seinen Auftraggebern schloss. Am Ende seiner Verserzählung heißt es, sie hätten ein „kleines Buch“ gewollt, in dem die „tapferen Stechen und wundervollen Abenteuer“ ihrer Veranstaltung festgehalten werden sollten: 20 4600 Sarrasins en un petit livre In einem kleinen Buch hat Sarrasin vereint, Mist les justes qu’il vit molt dures Die prächtigen Stechen, die er sah, Et si i mist les aventures Und auch die schönen Abenteuer, Dont vous avés oï de beles, Die ihr hörtet, 4604 Des chevaliers et des puceles Von Rittern und von Jungfrauen, Et du Chevalier au Lyon, Und auch vom Löwenritter, Qui bons est et de grant renon, Der gut ist und von großem Ruhm, Et tout l’afaire qui i fu. Und was dort alles noch geschah, 4608 Et la roïne qui la fu Und die Königin, die dort gewesen, Li commanda et si li dit Gab ihm den Auftrag, denn sie sprach, Que, s’il en faisoit un bel dit, Dass, mache er daraus ein schönes Lied, Qu’ele le paieroit si bien Sie ihn so gut bezahlen wollte, 4612 Qu’il ne s’en plainderoit de rien Dass er sich nicht beklagen werde, Et feroit a sa gent paiier. Und werde ihn entlohnen lassen. „Tu ne t’en dois mie esmaiier,“ „Du hast keinen Grund zur Sorge“, Dist li sires de Basentin. Sprach der Fürst von Basentin, 4616 „Je suis pleges, par Saint Martin, „Beim heiligen Martin verbürge ich, S’ele m’en prie tant ne quant.“ Was immer sie von mir verlangt.“ - „Sire, je m’en tieng bien a tant.“ [Spricht Sarrasin: ] „Ich bin damit, Sire, durchaus zufrieden.“ 19 Siehe Regalado 2005. 20 Siehe Regalado, N. F.: „A Contract for a Festival Book: Sarrasin’s Le Roman du Hem (1278)“. In: Postlewate, L. (Hrsg.): Acts and Texts: Performance and Ritual in the Middle Ages and Renaissance. Amsterdam 2007, S. 249-265. <?page no="167"?> festbeschreibungen in paris und metz 167 In seinem Tournoi de Chauvency greift Jacques Bretel auf ein anderes literarisches Vorbild zurück. Seine Schilderung eines 1285 von französisch- und deutschsprachigen Rittern und Fürsten in Lothringen veranstalteten adligen Turniers ist ein eigenständiges Gedicht in 4563 Versen und orientiert sich an der Form eines Romans mit lyrischen Einschüben. 21 Doch narrative Präsentation aristokratischer Identität ist die raison d’être beider Turnierbücher. Hunderte von namentlich genannten Rittern und Damen werden in Akten der Tapferkeit, aber auch in anmutigen Auftritten mit höfischem Gesang, Tanz und Konversation in Szene gesetzt, im Tournoi de Chauvency kommt noch die Heraldik mit ausführlichen Beschreibungen der Wappen und Schlachtrufe der Akteure hinzu. In diesen ältesten französischen Festbüchern finden sich jene vier Aspekte, die meines Erachtens von grundlegender Bedeutung für den Entschluss sind, ein festliches Ereignis schriftlich aufzuzeichnen: Unterweisung, Ansehen, Identität und Gedächtnis. Die beiden Turnierbücher unterweisen anhand der Schilderung von Beispielen in exemplarischem Verhalten. Diese Unterweisung ist verknüpft mit dem hohen Ansehen eines kostbaren Buches, das ein Ereignis im Gedächtnis festhält und die Identität der beteiligten Ritter und Damen mit Ruhm und Ehre umgibt. In beiden Werken werden die Dichter aufgefordert, die Teilnehmer von ihrer besten Seite darzustellen: In Le Hem erteilt die Zofe der Königin Sarrasin den Auftrag: „Di le bien et si lai le mal“ (Vers 3953, Künde das Gute, das Schlechte lass’ aus). 22 Die adligen Turniere in Le Hem und Chauvency waren Feste der Eliten, die Kampfplätze lagen weit entfernt von der großen Stadt Paris, wo der französische König solche Treffen verboten hatte. Die Festbücher waren zweifellos für Leser bestimmt, die den gleichen Eliten angehörten, die auch an solchen ritterlichen und höfischen Inszenierungen teilnahmen. Zu welchem Zweck und für welche Leser aber waren die schriftlichen Berichte bestimmt, die die frühen städtischen Festaufführungen ausführlich beschreiben? Zwei zeitgenössische Berichte schildern das große Pariser Pfingstfest des Jahres 1313, das eine ganze Woche dauerte und von König Philipp dem Schönen gemeinsam mit den Pariser Bürgern und Zünften organisiert wurde, um die Schwertleite der drei Söhne des Königs zu feiern und um Adligen und Bürgern das Kreuzzugsgelübde abzunehmen. 23 21 Siehe Boulton, M. B. Mc.: The Song in the Story: Lyric Insertions in French Narrative Fiction, 1200-1400. Philadelphia 1992, S. 92-95. 22 Sarrasin 1939, V. 3953. 23 Brown, E. A. R./ Regalado, N. F.: „La grant feste: Philip the Fair’s Celebration of the Knighting of His Sons in Paris at Pentecost of 1313“. In: Hanawalt, B. A./ <?page no="168"?> 168 nancy freeman regalado Eine umfassende Beschreibung dieses Pfingstfestes findet sich in der Chronique métrique (1316). Die Geoffroi de Paris zugeschriebene, volkssprachliche Verschronik behandelt die Geschichte Frankreichs zwischen 1300 und 1316 und ist in Form von Annalen aus der Sicht eines Pariser Klerikers verfasst, der zu den politischen Angelegenheiten des Königreichs moralische Ratschläge erteilt. Der Chronist gibt in 523 Versen, in denen er nicht mit Superlativen spart, einen ausführlichen Bericht über das Fest. Er schildert das Gedränge der prächtig gekleideten Angehörigen des hohen Adels (drei Könige, 23 Herzöge und Grafen sind namentlich genannt; Vers 4773-4797). La noblece ne le parage, Der Adel und die Hochgebornen, Qui toute autre feste sormonte: Sie übertrafen jedes andre Fest, 4829 Tant chastelain, tant duc, tant conte, So viele Herren, Herzöge, Grafen, […] […] Ce sont merveilles sanz pareilles, Es sind dort Wunder ohne Gleichen, Ne plus que l’en puet les esteilles Die wie die Sterne nicht Conter […] Zu zählen sind […] In seinem Bericht über die täglichen Bankette des Königs und die beeindruckende Zeremonie des Kreuzzugsgelübdes bestaunt der Chronist nicht nur die hohen Aufwendungen der königlichen Familie, sondern auch die Beiträge der Pariser Bürgerschaft und der Zünfte. Mehr als ein Drittel der Verse ist dem gewidmet, was er die „fünf Zeichen der Noblesse“ bei den Festlichkeiten der Bürger nennt: Et puis que j’ai fait remembrance Und wo ich in Erinnerung gerufen, Des nobles, ci en audience Die Adligen, die hier zugegen, Parler doi de la borgoisie, Muss ich noch von der Bürgerschaft berichten, 4930 Qui bele i vint et renvoisie. Die schön und freudig dorthin kam. Bürger und Handwerker bauten in nur zwei Tagen eine Pontonbrücke, um die Île de la Cité mit der Île Notre-Dame (der heutigen Île Saint-Louis) zu verbinden, denn dort fand das Kreuzzugsgelübde statt und dort sammelten sie sich zum großen städtischen Festumzug. Die Bürger finanzierten die Festdekoration in den Straßen, Livreen, die kostspielige Beleuchtung Reyerson, K. L. (Hrsg.): City and Spectacle in Medieval Europe. Minneapolis 1994, Sp. 56-86. <?page no="169"?> festbeschreibungen in paris und metz 169 mit Wachskerzen und einen Weinbrunnen, in dem drei Tage lang Wein sprudelte. Auf den Straßen der Stadt inszenierten sie Dutzende von Aufführungen, darunter mehr als zwanzig Lebende Bilder (tableaux vivants), bei denen sich religiöse Szenen mit Episoden aus dem Roman de Renart abwechselten. Die letzteren sind die ältesten aus Paris überlieferten Theateraufführungen. 24 Ausführlich schildert der Chronist auch den großen Umzug der Pariser am Donnerstag der Festwoche mit 50.000 Teilnehmern, davon 20.000 zu Pferde und 30.000 zu Fuß. 25 Kleidung, Fahnen und Prozessionsordnung ließen die jeweilige soziale Position der Teilnehmer im größeren Ganzen der städtischen Gemeinschaft erkennen. Der Zug überquerte die Pontonbrücke, führte durch die Île de la Cité zum königlichen Palast, der zu diesem Anlass erneuert worden war. 26 Hier defilierte der Umzug an den Königen von Frankreich, England und Navarra vorbei, bevor er auf das linke Seine-Ufer weiterzog, um in Saint-Germain-des-Prés dem englischen König nochmals den Reichtum und die große Zahl der Bürger vor Augen zu führen. Das Ansehen des Königs war untrennbar verbunden mit der kollektiven Identität der Pariser Bürger, deren zahlenstarke Manifestation die englischen Gäste zutiefst beeindruckte. 5070 Dont esbahi si grandement Darüber sehr erstaunt, Furent Anglois, plus c’onques mes Waren die Engländer, mehr als je, Car il ne cuidassent jamés Denn niemals hätten sie geglaubt, Que tant de gent riche et nobile Dass so viel edles und reiches Volk, Pouïst saillir de une ville. Aus einer Stadt kommen könnte. Der Chronist selbst erläutert, warum er diesen außergewöhnlichen Augenzeugenbericht niedergeschrieben hat: Er wünscht, dass das Fest für alle Zeiten im Gedächtnis bleibe. 24 Die theaterhistorisch aufschlussreiche Beschreibung der auf den tableaux vivants aufgeführten Szenen ist im Anhang abgedruckt. Eine Analyse der Aufführungspraktiken und der Bezüge der unterschiedlichen Aufführungselemente zu den höfischen Partien des Pariser Pfingstfestes bei Regalado, N. F.: „Staging the Roman de Renart: Medieval Theater and the Diffusion of Political Concerns into Popular Culture“. In: Mediævalia 18 (1995), S. 111-142. 25 Siehe Brown/ Regalado 2001. 26 Davis, M. T.: „Desespoir, Esperance, and Douce France: The New Palace, Paris, and the Royal State“. In: Bent, M./ Wathey, A. (Hrsg.): Fauvel Studies: Allegory, Chronicle, Music, and Image in Paris, Bibliothèque Nationale de France, MS français 146. Oxford 1998, S. 186-213. <?page no="170"?> 170 nancy freeman regalado De ceste feste ai dit l’istoire Von diesem Fest hab’ ich berichtet, Si qu’a touzjors en soit memoire Damit es immer in Erinnerung bleibe, 5095 Et que touz celz puissent savoir Und dass all jene Kenntnis haben, De ceste grant feste le voir Was bei diesem großen Fest geschah, Qui n’i furent et qui nestront, Die dort nicht waren, erst noch geboren werden, Qui apres nostre temps viendront. Die kommen werden nach unsrer Zeit. Der Bericht über das Pfingstfest von 1313 zählt zu den umfangreichsten Beschreibungen in der Chronique métrique; er macht etwa sieben Prozent des Gesamtumfangs aus. Er ist die längste zusammenhängende Schilderung eines einzelnen Ereignisses in der gesamten Chronik. Vor allem im Vergleich zu den knappen Bemerkungen über ein Dutzend andere rituelle Festlichkeiten in der Chronique métrique und andern historischen Quellen des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts zeigt sich, wie aufwendig diese Schilderung ist. Sie antizipiert die breit angelegten Festbeschreibungen in den späteren Chroniken des 14. Jahrhunderts, zum Beispiel Jean Froissarts Bericht über den Einzug Isabellas von Bayern in Paris im Jahre 1380. Das Ereignis im Gedächtnis zu halten, ist allerdings nur eines der Motive, die den Chronisten veranlassten, das Pfingstfest des Jahres 1313 in der Chronique métrique in solcher Länge und in solch hyperbolischer Weise festzuhalten. Die grande feste von 1313 ist auch zu verstehen als Beitrag zu einem Diskurs über Unterweisungen und Ratschläge für gute Regierungsführung - dem Hauptanliegen dieses moralisierenden Chronisten. Philipp der Schöne wird im Festbericht als ein idealer Herrscher dargestellt, von seinem Volk geliebt und voller Glanz in seinem Fest, das die Macht seines Hauses, sein frommes Engagement für die Sache des Kreuzzugs und seine Vorrangstellung unter allen Fürsten zum Ausdruck bringt. Mit seiner Schilderung der kostspieligen Festlichkeiten veranschaulicht der Chronist gleichzeitig das Prinzip königlicher Freigebigkeit. In annähernd hundert Versen, die im Manuskript auf der der Festbeschreibung gegenüberliegenden Seite angebracht sind, ermahnt der Autor Philipp zu dieser Tugend. 27 Die Chronik métrique ist nur in der Handschrift Paris, BnF Fr. 146, erhalten, die auch den berühmten Roman de Fauvel enthält, eine allegorische Satire, die davon erzählt, wie sich das Pferd-Biest Fauvel zum 27 La Chronique métrique 1956, S. 479, V. 4557-4648. Dies spielt an auf die ausbleibenden Soldzahlungen des Königs an die am Krieg in Flandern beteiligten Soldaten, die nun marodierend durchs Land zogen. <?page no="171"?> festbeschreibungen in paris und metz 171 Herrscher über eine in Gier und Korruption versinkende Welt erhebt. 28 In der Fauvel-Version der Handschrift BnF Fr. 146 ist diese Satire mit Illustrationen und musikalischen Interpolationen ergänzt. Zudem hat sich der Textumfang durch Einschübe (addicions) verdoppelt, in denen die Feierlichkeiten zur Hochzeit des boshaften Fauvel mit Vaine Gloire (Eitel Ruhm) beschrieben sind. 29 Ich habe aufgezeigt, wie die Kompilatoren der Handschrift Fr. 146 den Aspekt des Ratschlag-Erteilens steigerten, indem sie das moralische Gewicht des Pfingstfestes von 1313 ausnutzten, um das glänzende Fest des guten Königs Philipp und seiner treuen Pariser Bürger mit dem im Roman de Fauvel beschriebenen Hochzeitsfest der Bosheit kontrastierten. 30 Hinzu kommt, dass der Roman de Fauvel in der Handschrift Fr. 146 Miniaturen enthält, in denen die städtischen Festlichkeiten ausgiebig illustriert sind. Die Ähnlichkeit von Ort, Zeitpunkt und Festmotiven bedeutet, dass das Hochzeitsfest im Roman de Fauvel als Gegenstück zu den Beschreibungen des Pfingstfestes in der Chronique métrique angelegt ist, die sich in derselben Sammelhandschrift Fr. 146 befindet. Zugleich können die Fauvel-Miniaturen als Bildzeugnisse der performativen Pariser Festpraxis herangezogen werden. Drei Illustrationen am Anfang der addicions siedeln das Hochzeitsfest deutlich in einem Pariser Stadtdekor an (hierauf deutet auch die auf Fol. 30v und 31r ausgebreitete Lobrede auf die Stadt). Fauvel heiratet, heißt es, im gerade erneuerten Königspalast, der auf Fol. 30v als außergewöhnliches „Architekturporträt“ neben einer Uferszene abgebildet ist, die den lebhaften Bootsverkehr auf der Seine zeigt. (Abb. 10) Gerade zu dem Zeitpunkt, als Philipp und seine Söhne beim Pfingstfest 1313 täglich üppige Bankette abhalten, führt das böse Pferd Fauvel den Vorsitz bei einem allegorischen Hochzeitsfest, bei dem sich die trunkenen Laster gegen die höfische Etikette vergehen. Während in der Chronique métrique die königstreuen Pariser zu König Philipps Fest in edlen Gewändern und vornehmen Kostümen bei Tage in geregelter Prozessionsordnung einherschreiten, inszenieren die Städter im Roman de Fauvel ein lärmendes nächtliches Charivari, um Fauvels Hochzeitsnacht zu stören. Sie tragen bärtige Teufelsmasken, Frauenkleider und Tierhäute oder sind ganz nackt 28 Le Roman de Fauvel par Gervais du Bus. Hrsg. v. Långfors, A. Paris 1914-1919. 29 Der Text der addicions wurde von Långfors 1914-1919 ediert sowie von Dahnk, E. (Hrsg.): L’Hérésie de Fauvel. Leipzig 1935. Siehe auch Le Roman de Fauvel in the Edition of Mesire Chaillou de Pestain: A Reproduction in Facsimile of the Complete Manuscript. Hrsg. v. Avril, F./ Regalado, N. F./ Roesner, E. New York 1990. 30 Regalado, N. F.: „The Chronique métrique and the Moral Design of Paris, BNF MS Fr. 146: Feasts of Good and Evil“. In: Bent/ Wathey 1998, S. 467-494. <?page no="172"?> 172 nancy freeman regalado und schlagen auf Trommeln, Töpfe und Glocken. 31 (Abb. 11) Und während Philipp der Schöne das übliche Festturnier 1313 untersagt hatte, weil es von seinen Kreuzzugsbemühungen abgelenkt hätte, zeigen die Illustrationen zu Fauvels Fest ein prächtiges Turnier zwischen Tugenden und Lastern, bei dem die Keuschheit die Unzucht aus dem Sattel hebt und die Geduld den Hochmut bezwingt. Das Turnier endet mit dem Sieg der Enthaltsamkeit über die Völlerei, dem Emblem des Tyrannen. 32 (Abb. 12) Die Chronique métrique ist nicht illuminiert, aber die Handschrift BnF. Lat. 8504 (1313) enthält einen bemerkenswerten bebilderten Bericht über die rituellen Geschehnisse beim Pariser Pfingstfest des Jahres 1313. Diese früheste ikonografische Darstellung eines königlichen und städtischen Festes ist eingebettet in eine Widmung, 33 die ein Arzt namens Raymond de Béziers seiner lateinischen Übersetzung von Kalila und Dimna beifügte, ein Werk, das Königin Jeanne, die Gemahlin Philipps des Schönen kurz vor ihrem Tod im Jahre 1305 in Auftrag gegeben hatte. 34 Kalila et Dimna ist eine Sammlung von Fabeln über die Ausbildung von Prinzen für das Königsamt. Das Buch ist somit ganz als Unterweisung für den König und seine Kinder zu verstehen, die Raymond in seinem berühmten Frontispiz dargestellt hat: ein Familienporträt, reich an Mänteln in königlichen Farben, in dem Philipp zur Linken von seinem ältestem Sohn Louis, dem König von Navarra, und seinem Onkel Charles von Valois flankiert ist, während zu seiner Rechten seine Tochter Isabelle, die Königin von England, und seine beiden jüngeren Söhne zu sehen sind. 35 Mit diesem Frontispiz wollte Raymond an den dynastischen Stolz des Herrschers appellieren, dem er sein Werk darzubieten hoffte. Offensichtlich um die Aufmerksamkeit des Königs für seine Übersetzung zu gewinnen, brachte Raymond de Béziers sein Buch in Zusammenhang mit dem glanzvollen Höhepunkt der königlichen Festlichkeiten des 31 Regalado, N. F.: „Masques réels dans le monde de l’imaginaire. Le rite et l’écrit dans ‚le charivari du Roman de Fauvel‘, MS. BN. fr. 146“. In: Ollier, M.-L. (Hrsg.): Masques et déguisements au Moyen Âge. Montréal 1988, S. 111-126. 32 Regalado, N. F.: „Allegories of Power: The Tournament of Vices and Virtues in the Roman de Fauvel of MS BN Fr. 146“. In: Gesta 32/ 2 (1994), S. 135-146. 33 Siehe Brown/ Regalado 1994. 34 Siehe Regalado, N. F.: „,Kalila et Dimna, liber regius‘: The Tutorial Book of Raymond de Béziers (Paris, BNF MS Lat. 8504)“. In: Reale, N./ Sternglanz, R. (Hrsg.): Satura: Essays on Medieval Satire and Religion in Honor of Robert Raymo. Donington 2001, S. 103-123, und Regalado, N. F.: „Le Porcher au palais: ‚Kalila et Dimna, Le Roman de Fauvel‘, Machaut, et Boccace“. In: Etudes Littéraires 31 (1999). S. 119-132. 35 Farbabbildung in Gifford, P./ Tesnière, M.-H. (Hrsg.): Creating French Culture. Treasures from the Bibliothèque nationale de France. New Haven 1995, S. 54, Abb. 22. <?page no="173"?> festbeschreibungen in paris und metz 173 Jahres 1313, so dass er - wie er in seiner Widmung schreibt - zu guter Letzt noch von Philipp dem Schönen Anerkennung erfahren konnte: [C]um animaduertem quamplurimum me diu stetisse desolatum ac querulosum ante aulam regiam, per tempus et tempora et medium temporis, non habens accessum seu introitum me coram magestate [sic] regia presentari […] Et quia per notos amicos regios non poteram me proponentes coram regia magestate, saltim [sic] ualerem per uiam scientificam meum propositum adimplere et per consequense me coram facie regia apparere. (Als mir bewusst wurde, wie lange ich schon Mal um Mal verzweifelt und klagend vor dem Saal des Königs stand und doch keinen Zugang oder Einlass fand, um der königlichen Majestät vorgestellt zu werden […] Und da ich keine mit dem König bekannten Freunde finden konnte, die mich der königlichen Majestät vorgestellt hätten, gelangte ich schließlich auf den Pfad des Wissens darüber, wie ich mein Vorhaben ausführen und vor dem König erscheinen könne.) 36 Raymond fügte daher seinem Buch im letzten Moment noch zwei illuminierte Widmungsblätter hinzu und heftete sie vor die bereits fertige Abschrift seiner Fabeln. Eine Illumination zeigt, wie der königliche Kanzler Bischof Pierre de Latilly, Raymonds Förderer, dem König das Buch überreicht. Raymond selbst kniet am rechten Bildrand in respektvollem Abstand zur „liliengeschmückten königlichen Majestät“. Die Bildlegende lautet: „Eodem anno predicto de consilio, reuerendi in christo patris .P. dei gracia episcopi cathalensis cancellarii qui regii presens liber regius. per .R. phisicum supradictum fuit presentatus liliate regie maiestati“ (Im selben Jahr wurde dieses Buch auf Anraten des ehrwürdigen Paters in Christo, von Gottes Gnaden Bischof von Châlons-sur-Marne und königlicher Kanzler, von dem besagten Arzt Raymond Ihrer liliengeschmückten Majestät überreicht). (Abb. 13, Bildlegende, unten; Miniatur, Mitte) Doch Raymond begnügte sich nicht damit, in seiner Widmung die Überreichung des Buches darzustellen. Auf den gegenüberliegenden Folioseiten bv-1r fügte er fünf weitere Miniaturen mit Legenden ein, die von den drei theatral-rituellen Ereignissen des Pfingstfestes 1313 berichten: der Schwertleite, dem Kreuzzugsgelübde und dem Festumzug der Pariser Bürger. (Abb. 13, 14) Damit übereignet Raymond de Béziers dem König nicht nur sein Buch, er „gibt“ ihm gewissermaßen auch sein königliches Fest in der „tragbaren“ Form eines geschriebenen und bebilderten Festberichts an die Hand. 36 Paris, BnF. Lat. 8504, Fol. a. <?page no="174"?> 174 nancy freeman regalado Die Miniaturen wurden ausgeschnitten und auf die Seite neben die zugehörigen Bildlegenden geklebt, die in strahlend goldener, roter und oranger Tinte geschrieben sind. In der Eile wurden einige der Bilder in der falschen Reihenfolge eingeklebt, eines ist später leider herausgefallen. Das erste der dargestellten Ereignisse ist die Schwertleite von Louis, dem König von Navarra, am Pfingstsonntag. (Abb. 14, Legende und Miniatur, oben) Louis erhebt die gefalteten Hände zum Himmel, während sein Schwager Edward II. ihm den Rittergürtel anlegt und sein Vater Philipp der Schöne ihm den Ritterschlag erteilt, um sicherzustellen, dass der junge Ritter die Ehre seiner Erhebung in Erinnerung behalte. Hier und in den folgenden Miniaturen ist dem englischen König Edward - wie in der Chronique métrique - ein bedeutender Platz eingeräumt, eine Prominenz, die eher die politische Rivalität zwischen Frankreich und England zum Ausdruck bringt als ein modernes „Europa-Konzept“. Auf der zweiten Miniatur vollzieht Louis gemeinsam mit seinem Vater und Edward die Schwertleite seiner beiden jüngeren Brüder und etwa zweihundert weiterer Anwärter. (Abb. 14, Legende und Miniatur, Mitte) Als drittes folgt die figurenreiche Darstellung des Kreuzzugsgelübdes am Mittwoch. Sie fand auf der Île Notre-Dame statt, wo der Beichtvater des Königs, der Dominikaner Kardinal Nicolas de Fréauville, den drei jungen Rittern und weiteren Adligen, Bürgern und Frauen das Kreuz reichte. Die Unterschiede in Stand und gesellschaftlichem Status kommen in der Kleidung und der Position im Bildgefüge zum Ausdruck. (Abb. 14, Legende, unten; Abb. 13, Miniatur, unten) Leider handelt es sich bei der herausgefallenen Miniatur um die zur vierten Bildlegende gehörende Szene: „In illo die parisius gaudium si vmquam per quam plures extitit sine dubio finaliter celebratum“. (An diesem Tag schließlich wurde in Paris ein Freudenfest gefeiert, zweifellos mit so vielen [Teilnehmern] wie nie zuvor; Abb. 13, oben) Jedenfalls lässt sich feststellen, dass Raymond bürgerliche Festfreude interessanterweise für ebenso darstellungswürdig hielt wie jedes der anderen zeremoniellen Ereignisse. Als fünftes Bild folgt eine Darstellung des großen Festumzugs der Pariser am Donnerstag, auf der die drei Könige am Palasttor die vorbeiziehenden Scharen der Bürger - repräsentiert durch die Trompeter und Trommler an der Spitze des Zuges - in Augenschein nehmen. (Abb. 13, Bildlegende, Mitte; Abb. 14, Miniatur, unten) Auch hier wird der englische König als Teilnehmer und Zeuge des königlich-französischen Ruhmes dargestellt. Während Raymond Kalila et Dimna als Handbuch zur Unterweisung der Prinzen konzipiert hat, richtet sich sein Entschluss, die performativen Ereignisse des Pfingstfestes darzustellen, ganz auf das Ansehen der königfestbeschreibungen <?page no="175"?> in paris und metz 175 lichen Identität: Der König erscheint als Vater künftiger Herrschergenerationen, als Anführer eines von Adel und Bürgertum getragenen Kreuzzugs und als ein Monarch, der beim Volk seiner großen Stadt Paris beliebt ist. Das geschriebene Buch erinnert an die Weisheit und Größe des künftigen Besitzers, verstärkt durch das mit dem kostbaren Buch selbst verbundene Ansehen. Unterweisung, Prestige und Identität spielen somit eine zentrale Rolle bei Raymonds Entscheidung, das Pariser Fest von 1313 festzuhalten und diesen Bericht der für den König bestimmten Kopie der Handschrift von Kalila et Dimna beizugeben. Anders als im Zeitalter des Buchdrucks, in dem die Verbindung zwischen der Entstehung eines Buches und den Zwecken eines bestimmten Lesers auseinanderbrach, 37 bediente im Zeitalter der Handschriften jedes der kostspieligen Exemplare die besonderen Interessen des jeweiligen Auftraggebers. Wie die Bücher über die Turniere von Le Hem und Chauvency wurden auch die beiden schriftlichen Berichte über das Pfingstfest von 1313 für Augenzeugen und Teilnehmer zum glanzvollen Gedächtnis der selbst durchlebten Ereignisse angefertigt. Einmal niedergeschrieben, waren solche Festberichte nicht mehr an die Zeit und den Ort des spezifischen Ereignisses gebunden. Sie wurden gleichsam mobil, konnten kopiert werden und zirkulieren, um anderswo von neuen Besitzern und Lesern gelesen zu werden. Wie aber lässt sich der Umstand erklären, dass das Tournoi de Chauvency, das heißt der Bericht über ein 1285 veranstaltetes aristokratisches Turnier, mehr als 25 Jahre später, im Jahr 1312, für patrizische Leser der Freien Stadt Metz, einer prosperierenden Reichsstadt des Heiligen Römischen Reiches, kopiert und illustriert wurde? Die Besitzersiglen der Handschrift, in die das Tournoi de Chauvency 1312 kopiert wurde (heute Oxford, Bodleian, MS Douce 308), verraten viel darüber, warum gerade dieses spezielle Festbuch im frühen 14. Jahrhundert für in Metz lebende Leser einer späteren Generation noch einmal kopiert und neu geschrieben worden sein könnte. „C’est ay Fransois Gournaix“ (Fol. 3); „Cest au seigneur Renaulz de Gournoy“. (Fol. 106v) Renault, François und andere aus der Familie Le Gronnais signierten oder besaßen die Handschrift Douce 308 (und haben sie vielleicht auch in Auftrag gegeben). 38 Die Le Gronnais waren ein Patriziergeschlecht 37 Siehe Tompkins, J. P.: „The Reader in History: The Changing Shape of Literary Response“. In: Tompkins, J. P. (Hrsg.): Reader-Response Criticism from Formalism to Post-Structuralism. Baltimore 1980, S. 201-232. 38 Delbouille 1932, S. xiii, und Alison Stones, bei der ich mich herzlich für die Einsichtnahme in ihre noch nicht veröffentlichten Beschreibungen der Minitaturen in Douce 308 bedanke (sie erscheinen in: Gothic Manuscripts, 1260-1320. London demnächst). <?page no="176"?> 176 nancy freeman regalado wohlhabender Bankiers und Grundbesitzer, Mitglieder der Metzer paraiges, Vereinigungen der städtischen Elite, aus denen sich die Ratsbeamten und die die Stadt regierenden Maître-échevins (Bürgermeister) rekrutierten. 39 Der Besitz von Büchern war ein wichtiges Element des Lebensstils Metzer Patrizierfamilien wie zum Beispiel der Le Gronnais. 40 Durch Imitation sozialer Praktiken des hohen Adels suchten sie sich gegen die gemeinen Bürger der Stadt abzugrenzen. 41 Das Tournoi de Chauvency in der Handschrift Douce 308 war eines von mehreren, in unterschiedlichen Bänden für die Familie Le Gronnais kopierten Werken, die in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts von zwei gemeinsam arbeitenden Künstlern aus Metz illustriert wurden. 42 Viele neue Erkenntnisse über die Herstellung des Tournoi de Chauvency, seine Position in der erwähnten Handschrift und über die festlich-performative Praxis im mittelalterlichen Metz sind den Beiträgen von Kollegen zu verdanken, die sich 2007 an einer Tagung in Metz beteiligten, bei der das Tournoi de Chauvency und die Handschrift Douce 308 im Mittelpunkt standen, und deren Ergebnisse in dem Band Lettres, musique et société en Lorraine médiévale erscheinen werden. 43 Die heute in der Handschrift Douce 308 befindliche Kopie des Tournoi de Chauvency ist mit 15 Darstellungen ritterlicher Festlichkeiten üppig bebildert. Auf Fol. 117 findet sich beispielsweise die Darstellung eines Lanzenstechens zwischen Graf Henri de Blâmont, einem Vetter des mächtigen Grafen von Luxemburg, mit einem elsässischen Ritter vor einem Publikum von Edelfrauen, die sich oben auf der Burgmauer versammelt haben. 44 (Abb. 15) Die auf den Seitenrand ausgreifende Miniatur 39 Siehe Schneider, J.: La Ville de Metz aux XIII e et XIV e siècles. Nancy 1950, S. 114- 168. 40 Mireille Chazan beschreibt die Bibliotheken der Metzer Patrizier in „Littérature et histoire dans les bibliothèques des patriciens messins à la fin du Moyen Age“. In: Chazan/ Regalado (in Vorbereitung). 41 Mitglieder der Familie Le Gronnais erwarben adlige Lehen (siehe Klipffel, F. D. H.: Les paraiges messins: Etude de la Republique messine du treizième au seizième siècle. Metz 1863, S. 27). 42 Stones, A.: „Le contexte artistique du ‚Tournoi de Chauvency‘“. In: Chazan/ Regalado (in Vorbereitung). 43 Chazan/ Regalado (in Vorbereitung), darin siehe vor allem: Corti-Retenauer, C.: „Le Théatre a Metz à l’époque de François Le Gronnais“; Pegeot, P.: „Joutes messines“, Regalado, N. F.: „Les ailes des chevaliers et l’ordre de Oxford, Bodleian MS Douce 308“; Zink, M.: „‚On connaît la chanson‘“, über deutschsprachige Teilnehmer des Turniers von Chauvency. 44 Zur Idendität dieses Ritters, dessen Namen in Mons, BM, MS 330-215, V. 1771 als „Gevigny“, in Douce 308 aber als „Guimini“ angebenen ist, siehe Delbouille 1932, S. xcvi-xcvii. <?page no="177"?> festbeschreibungen in paris und metz 177 inszeniert ein komplettes Ritterschauspiel, zu dem die Wappen auf den Schilden der Ritter und an den Schabracken der Pferde ebenso gehören, 45 wie ein das Stechen mit seiner Trompete dirigierender Herold, Stallburschen und Knappen beider Parteien sowie die flatternden Banner an den abseits stehenden Zelten. Als die Metzer Patrizier ihre Kopie des Tournoi de Chauvency in Auftrag gaben, ging es ihnen nicht nur um hohes Ansehen als Bucheigentümer oder die Freuden verfeinerter Unterhaltung. Zweifellos sollte der Buchbesitz auch eine ruhmreiche Assoziation mit hochrangigen Adligen fördern, die aus der weiteren Umgebung, vom französischen Nordosten über das Elsass bis zu den rechtsrheinischen Gebieten stammten und 1285 am Turnier in Chauvency teilgenommen hatten: Der Graf von Luxemburg, die Söhne oder Vasallen der Herzöge von Bar und Lothringen, die Grafen des Hennegau, die Herren von Aspremont und Esch und so weiter. 46 Die Metzer Besitzer des Buches waren nachweislich an solchen aristokratischen Persönlichkeiten besonders interessiert, denn ihre Kopie des Tournoi de Chauvency wurde so umgeschrieben und bebildert, dass die adligen Persönlichkeiten stärker hervortraten. Der Originaltext wurde gekürzt, indem man die Zahl der Stechen von 17 auf 10 reduzierte, wohl vor allem, um nur Kämpfe mit namentlich bekannten Teilnehmern aufzunehmen. 47 Hinzu kommt, dass alle zehn Kämpfe bildlich dargestellt sind, wobei die Miniaturen die heraldischen Angaben im Text ergänzen beziehungsweise korrigieren. 48 Der Künstler malte außerdem zwei Szenen nach Jacques Bretels Beschreibungen von Festtänzen, von denen es im Text ausdrücklich heißt, sie seien Personen von Rang vorbehalten gewesen. Die eine Darstellung zeigt eine nach den Klängen einer Fidel tanzende Dame zwischen zwei Rittern (Fol. 113r), die andere illustriert die Beschreibung des robardel, eines pantomimischen Tanzspiels um einen gestohlenen Kuss, das von zwei Damen - Jeanette de Boinville und Agnès de Florenville - aufgeführt wird, die als Schäfer und Schäferin verkleidet sind. (Abb. 16) Die ausführlichen Schilderungen und Illuminationen sind (zusammen mit denen in Adam de la Halles Jeu de Robin et Marion in 45 Große, bis zu den Füssen der Pferde reichende, mit den Wappen der Ritter kunstvoll bemalte oder bestickte Satteltücher. 46 Siehe Vale 1982. 47 Siehe Regalado, N. F.: „Picturing the Story of Chivalry in Jacques Bretel’s ‚Tournoi de Chauvency‘“. In: Guest, G. B./ L’Engle, S. (Hrsg.): Tributes to Jonathan J. G. Alexander. London 2006, S. 341-352, und Atchison, M.: „Two Versions of the ‚Tournoi de Chauvency‘ and their Connections to the Chansonnier of Oxford Bodleian Ms Douce 308“. In: Chazan/ Regalado (in Vorbereitung). 48 Siehe Delbouille 1932, S. xxviii-xxix. <?page no="178"?> 178 nancy freeman regalado Aix-en-Provence, Bibliothèque Méjanes, MS 166) die frühesten Beschreibungen einer mittelalterlichen Tanzaufführung in Frankreich. 49 Wurden die sozialen Identitäten, die der Originaltext des Tournoi de Chauvency konstruiert, bis zu einem gewissen Maße beim Kopieren der Handschrift übertragen? Besitzt der Besitzer des Buches in diesem Sinne zugleich das Fest? Die Metzer Patrizier, denen das Exemplar in der Handschrift Douce 308 gehörte, gaben sich nicht einfach damit zufrieden, in ihrem Buch etwas über solche adligen Festveranstaltungen nachlesen zu können. Sie arrangierten auch selbst Turniere und Stechen in ihrer Stadt Metz, ähnlich wie Wim Hüsken dies für nordfranzösische und niederländische Städte aufgezeigt hat. 50 Ist eine festliche Inszenierung erst einmal schriftlich festgehalten, wie es bei den Turnieren von Le Hem und Chauvency oder beim Pfingstfest 1313 in Paris der Fall war, ist sie nicht mehr an konkrete Zeiten und Orte gebunden. Indem die Festbücher gelesen und kopiert wurden, konnten sie zum Vorbild für die Intentionen und die Festpraxis späterer Generationen werden. Das gilt nicht nur für die Patrizier von Metz, die ihre prächtige Abschrift des Tournoi de Chauvency lasen, um dann ihre eigenen stolzen Turniere zu veranstalten. Es gilt auch für die „mittelalterlichen“ Feste, die man im 19. Jahrhundert in einigen nordfranzösischen Städten wiederbelebte, etwa in Cambrai, wo 1837 der Einzug König Franz I. aus dem Jahr 1529 nachgestellt wurde. (Abb. 17) In seinem Buch The Pride of Place hat Stéphane Gerson aufgezeigt, wie in der Epoche nach der Französischen Revolution Gelehrte und städtische Beamte anhand von Archivmaterial in diesen Städten mittelalterliche Prozessionen und Einzüge rekonstruierten, um mit derart inszenierten Ereignissen Gefühle von Bürgerstolz und Nationalismus zu evozieren. 51 Man kann daher sagen, dass sich im Akt der Verschriftlichung des festlich performativen Ereignisses der Wunsch des Verfassers der Chronique métrique immer aufs Neue erfüllt: Er schreibe, so sagt er, „auf dass die 49 Siehe Regalado 2006 und Cruse, M./ Parussa, G./ Ragnard, I.: „The Aix Jeu de Robin et de Marion. Texte, image, musique“. In: Studies in Iconography 25 (2004), S. 1-46. 50 Hüsken, W.: „Politics and Drama. The City of Bruges as Organizer of Drama Festivals“. In: Knight, A. E. (Hrsg.): The Stage as Mirror. Civic Theater in Late Medieval Europe. Cambridge (Mass.) 1997. Zu Turnieren, die in niederländischen Städten veranstaltet wurden, siehe Barber, R./ Barker, J.: „The Tournament in North-West Europe to 1400“. In: Tournaments, Jousts, Chivalry and Pageants in the Middle Ages. New York 1989, S. 45-47, sowie Neste 1996. 51 Stéphane Gerson sei herzlich dafür gedankt, dass er mir die Illustration des Einzugs von Cambrai überlassen hat, abgebildet in Gerson, S.: The Pride of Place. Local Memories and Political Culture in Nineteenth-Century France. Ithaca 2003, S. 179-183, Abb. 17. <?page no="179"?> festbeschreibungen in paris und metz 179 Wahrheit über dieses große Fest all jenen bekannt werde, die nicht dort waren, die erst noch geboren werden und nach unserer Zeit kommen“. Anhang Die Faerie des Pariser Pfingstfestes von 1313 52 Et d’autre mainte faerie Und es ist nur billig, Est il bien droit que je vous die Dass ich von all den anderen Vergnügungen berichte, La vit on Dieu sa mere rire, Dort sah man Gott mit seiner Mutter lachend, Renart fisicien et mire. Renart als Arzt und Doktor, Et si virent lors mains preudommes Und die guten Leute sahen Nostre Seingnor mengier de pommes, Unseren Herrn Äpfel essen, Et Nostre Dame, sanz esloingne, Und unsere Liebe Frau blieb dort Ovec les trois roys de Couloingne, Bei den [heiligen] drei Königen aus Köln, Et les anges en paradis Und den Engeln im Paradies, Bien encor quatre vints er dis, Neunzig an der Zahl, Et les ames dedenz chanter. Und darin sangen die Seelen Et si vous puis bien crean tel’ Und ihr könnt mir glauben, Qu’ enfer i fu noir et puant: Da gab es eine finstere, stinkende Hölle, Les ames getant et ruant, In die die Seelen geworfen und gestürzt wurden, Dyables i ot plus de cent, Teufel gab es mehr als hundert, Qui tuit sailloient adjecent Die Seit’ an Seit’ hervorkamen, Por les ames a elz atrere, Die Seelen anzulocken, A cui faisoient maint contraire. Die sie recht grob behandelten. La les creut on tormenter Man vermeinte, sie würden dort gepeinigt, Et les veoit on dementer. Und sah sie jammern. Le mescredi un vent venta, Am Mittwoch wehte solch ein Wind, Qui les cortines adenta Dass er die Vorhänge herabriss Et derompi, mes redreciees Und sie zerfetzte, doch bald schon Furent tost et apareillees. Waren sie von neuem aufgehängt. Nostre Seingnor aujugement Unser Herrgott beim Gericht I fu, et Ie Susciternent. War dort, und die Auferstehung. La fu Ie tornai des enfanz, Es gab ein Turnier für Kinder, Dont chascun n’ot plus de dis anz. Von denen keines älter als zehn Jahre war. La vit on Dieu et ses apostres Gott sah man mit seinen Aposteln, 52 Diverrès 1956, S. 185-186, mit freundlicher Genehmigung der Presses Universitaires de l’Université de Strasbourg. <?page no="180"?> 180 nancy freeman regalado Qui disoient leurs patenostres, Die ihr Vaterunser beteten, Et la les Innocens oecire. Und dort der Kindermord zu Bethlehem. Et saintJehan metre a martire Und das Martyrium Johannes des Täufers Veoir pot on et decoler, Konnte man sehen und seine Enthauptung, Feu, or, argent aussi voler, Feuer, Gold, Silber flogen empor, Herode et Cayphas en mitre. Herodes und Kaiphas mit Mitra. Et Renart chanter une espitre Und Renart war zu sehen, La feu veu et evangile, Eine Epistel singend und das Evangelium, Crois et floz, et Hersent qui file, Kreuze und Federn, und Hersent beim Spinnen, Et d’autre part Adam et Eve, Und anderswo Adam und Eva, Et Pilate qui ses mains leve, Und Pilatus, der sich die Hände wäscht, Roys a feve, et homes sauvages Bohnenkönige und Wilde Männer, Qui menoient granz rigola[ge]s Die prächtige Späße trieben Entre joennes, viex et ferranz; Mit Jungen, Alten und Graubärten, Tout ce firent les tisseranz. All dies wurde von den Webern vorgeführt, Corroier aussi contrefirent Auch die Gürtelmacher inszenierten - Qui leur entente en ee bien mirent - - Was ihnen wohl gelang - La vie de Renart sanz faille, Das ganze Leben des Renart, Qui menjoit et poucins et paille. Der Kücken fraß und Hennen. Mestre Renart i fu evesque Als Bischof sah man Meister Renart, Veü et pape et arcevesque; Als Papst auch und als Erzbischof; Renart i fu en toute guise, Renart erschien in jeglicher Verkleidung, Si com sa vie Ie devise: Wie es in seinem Leben heißt, En biere, en crois et en cencier. Auf einer Bahre mit Kreuz und mit Rauchfass. Übersetzung: M. Müller <?page no="181"?> Der Prinz des Friedens und die Mummers Meg Twycross (Lancaster) Mein vorliegender Beitrag stellt eine Erweiterung der Materie dar, die Sarah Carpenter und ich in Masks and Masking schon kurz behandelt haben, 1 und zeigt, wie ein Volksbrauch so umgeformt werden kann, dass er vordergründig zu einem Mini-Drama und hintergründig zu einem Instrument politischer Verhandlungen wird. Am Sonntagabend des 25. Januar 1377 zog eine Kavalkade mit brennenden Fackeln durch die Londoner Innenstadt, passierte Cheapside und überquerte die London Bridge in Richtung Kennington. Der Umzug bestand aus 130 Berittenen, dégisement arrayés (die sich verkleidet hatten): Et en le premer comencement chivacherent xlviii come esquiers ount este, deux et deux ensemble, vestuz en cotes et cloches rouge de saye ou de sendelle et lour faces covertes od visers bien et avenablement faitz; et apres ces esquiers veindrent xlviii come chivalers ount este, bien arraiez en mesme la maner; et apres les chivalers vient une excellentment arraye et bien mounte come empereur ust este, et apres luy, par lespace de c pees vient une noblement arraie come une pape; et apres luy viendrent xxiiii come cardinalles/ arraiez et apres les cardinalles viendrent viii ou x arraiez ode visers nayrs come deblers nyent amyables, apparauntz come legates […]. 2 Am Anfang des Zuges ritten, jeweils zwei, und zwei 48 Personen, die wie Schildknappen aussahen. Sie trugen Jacken und Umhänge aus roter Seide oder Zendel (Seidentaft), und ihre Gesichter waren mit Masken bedeckt, die gut und ansehnlich gefertigt waren. Nach diesen Schildknappen kamen in gleicher Weise 48 wohlgekleidete Personen, die aussahen wie Ritter, und nach den Rittern kam hoch zu Ross einer, der fürstlich wie ein Kaiser gekleidet war; 1 Carpenter, S./ Twycross, M.: Masks and Masking in Medieval and Early Tudor England. Ashgate 2002, S. 151-158. Dort haben wir dieses Mumming mit den Ereignissen in Sir Gawain and the Green Knight verglichen. 2 Die Anonimalle Chronicle 1333 bis 1381, verfasst in der St Mary’s Abbey in York. Hrsg. v. Galbraith, V. H. Manchester 1970, S. 102-103. <?page no="182"?> 182 meg twycross und ihm folgte in einem Abstand von hundert Schritten einer, der vornehm als Papst gekleidet war, und dem folgten 24 als Kardinäle gekleidete Personen; und den Kardinälen folgten acht oder zehn Personen, die wie Teufel mit schwarzen Masken ausgestattet waren, nicht im Mindesten liebenswert wirkten und als päpstliche Legaten auftraten […]. Diese Prozession zog eine große Menge Zuschauer an und wurde lautstark begleitet von Spielleuten mit Trompeten und Kesselpauken, Hornpfeifen und Schalmeien, sowie einer großen Anzahl brennender Wachsfackeln. Der Zug war auf dem Weg zum Palast von Kennington, einer Residenz des gerade verstorbenen Black Prince, dem ältesten Sohn König Edward III. Dort hielt sich nun dessen Witwe Johanna von Kent mit ihrem zehn Jahre alten Sohn Richard auf. Die Mummers hatten eine Wegstrecke von fast drei Meilen (circa 4,5 km) vor sich, die nach Verlassen des Vorortes Southwark auf Landwegen in der Januar-Dunkelheit bewältigt werden musste. Der Kennington Palast wurde 1531 von Heinrich VIII. vollständig geschleift und das Baumaterial zur Errichtung von Whitehall verwendet. Allerdings fanden von 1965 bis 1968 Ausgrabungen statt, bei denen die Überreste der Gebäude sichtbar wurden, in denen das Mumming stattfand. Der Black Prince hatte eine Great Hall erbaut, die ungefähr 88 Fuß (27 m) lang und 53 Fuß (16 m) breit war und circa 6 Fuß (1,8 m) über dem Boden errichtet war. In der Größe entspricht dies etwa der von Johann von Gent 1390 in Kenilworth errichteten Great Hall. An der östlichen Seite der Halle schloss sich rechtwinklig ein zwei oder drei Etagen hohes, etwa 87 Fuß (26,5 m) langes und 34 Fuß (10,4 m) breites Gebäude an, nach Aktenlage vermutlich die Große Kammer oder Prinzenkammer, und eine Reihe von Privatgemächern, in die sich die Adligen zurückziehen konnten. 3 Prinzessin Johanna und ihr Sohn hatten in dieser Nacht Besuch von ihrem Schwager Johann von Gent, dem Herzog von Lancaster und jetzt ältestem überlebenden Sohn Edwards III. sowie „den Grafen von Cambridge, Hertford, Warwick und Suffolck, und vielen anderen Herren“: […] et quaunt ils furount venuz deinz le manoir, descenderent au pee et entrerent en la sale. Et tost apres le prince ovesque sa meir et les autres seignours viendrent hors de la chaumbre en la sale et les ditz mummers les saluerent, monstrauntz une payre des dys sur une table pur iuer ovesqe le prince, le queux 3 Der Ausgrabungsbericht mit Grundrissplänen ist veröffentlicht bei Dawson, G.: „The Black Prince’s Palace at Kennington, Surrey“. In: British Archaeological Reports, Bd. 26 (Oxford 1976). Ausführlichere Berichte bei Brown, R. A./ Colvin, H. M./ Taylor, A. J.: The History of the King’s Works, Bd. 1-2. London 1963, Bd. 2, S. 967-969 und bei Emery, A.: Greater Medieval Houses. 3 Bd. Cambridge 1996-2006, Bd. 3, S. 245-247. <?page no="183"?> der prinz des friedens und die MUMMERS 183 diz furount subtilement faitz issint qe come le prince ietast il deveroit gayner; et les ditz iuers et mummers metterount al prince troys iuels chescune apres autre, une pelit dor, une cupe dor et une anel dor; les queux le dit prince gayna a troys iettes come fust ordine; et apres ils metterount a la princes sa meir et al duk de Loncastre et as autres countz, a chescune de eux une anelle dore et la meir et les seignours les gaynerount. Et puis le prince fist porter le vine et beverount od graunt leeste, comaundauntz a les ministralles defair lour ministralcie; et comencerount de trumper et de naker et piper et le prince et les seignours dauncerount dun part et les mummers dautre part par longe tenps et puis beverount et pristrent conge et despartirent devers Loundres. 4 […] und als sie [die Mummers] zum Palast kamen, stiegen sie von den Pferden und betraten den Saal. Und kurz darauf kamen der Prinz und seine Mutter mit den anderen Herrschaften aus ihren Räumen in den Saal, und die besagten Mummers begrüßten sie und legten ein Paar Würfel auf einen Tisch, um mit dem Prinzen zu spielen. Diese Würfel waren subtilerweise so präpariert, dass der Prinz jeden Wurf gewinnen würde. Und die besagten Spieler und Mummers legten vor den Prinzen drei Juwelen, die er - wie im Voraus geplant - mit seinen drei Würfen einen nach dem anderen gewann. Der erste war ein goldener Ball, der zweite ein goldener Becher, der dritte ein goldener Ring. Und danach legten sie seiner Mutter der Prinzessin, dem Herzog von Lancaster und den anderen Grafen im Würfelspiel jeweils einen goldenen Ring vor, den die Mutter und die Herrschaften gewannen. Anschließend ließ der Prinz Wein bringen, den sie mit großem Vergnügen tranken. Sie befahlen den Spielleuten ihre Spielmannskünste vorzuführen und die Trompeten, Trommeln und Pfeifen begannen zu spielen usw. Und für eine lange Weile tanzten der Prinz und die hohen Herrschaften auf der einen, die Mummers auf der anderen Seite. Danach tranken sie, nahmen Abschied und begaben sich zurück nach London. Die geheimnisvollen Besucher waren „die Bürger von London“ und ihre Expedition geschah, „pur moummere ledit prince“ (um den besagten Prinzen eine Mummerei vorzuführen). Dies war, was man im spätmittelalterlichen England als Mumming bezeichnete, auch wenn es sich hier um eine sehr hochentwickelte Variante handelte. Ein Mumming ist nicht zu verwechseln ist mit den Mummers’ Plays, jenen Spielen vom Typ „Hier-komme-ich-St.-George“, einer Art von bäuerlichen Spielen, die frühestens im 18. Jahrhundert auftauchten. 5 Das Mumming hingegen war ein vorwiegend städtischer Mittwinterbrauch. Im Kern handelte es sich um einen Typus des Hausbesuchs, der den Briten eigentlich nicht mehr geläufig ist. Die Heische- und Verkleidungsbräuche 4 Anonimalle Chronicle 1970, S. 102-103. 5 Siehe Pettitt, Th.: „‚This Man is Pyramus‘: A Pre-history of the English Mummers’ Plays“. In: Medieval English Theatre. Bd. 22 (2000), S. 70-99. <?page no="184"?> 184 meg twycross des Halloween, der Scottish guisers, 6 und vielleicht der Christmas carollers (Weihnachtssänger) kommen dem Mumming am nächsten, doch gewöhnlich empfangen wir diese Besucher an der Türschwelle, lediglich in die eher öffentlichen, quasi-häuslichen Räumen der Pubs und Spitäler werden sie hereingebeten. Beim traditionellen Hausbesuch hingegen ist der Hausherr verpflichtet, den Besuchern freien Eintritt in sein Haus zu gewähren, sogar dann, wenn er nicht weiß, wer sie sind. Es wird von ihm erwartet, dass er den Gästen eine Erfrischung serviert und sie für ihr Erscheinen belohnt. Im Gegenzug sind die Mummers verpflichtet, dem Hausherrn Unterhaltung zu bieten und sich schließlich in geordneter Weise zurückzuziehen - wenngleich die Freiheiten der weihnachtlichen Festzeit eine recht großzügige Auslegung dieser letzten Regel vermuten lassen. 7 Mit dem Mumming verband sich ein weiterer charakteristischer und potentiell gefährlicher Aspekt: […] ne nul voise pur mummer ne nul autre jeu jeuer oue visure ne en nulle autre estrange gise par quelle il ne poet estre connue sur peine denprisonement. 8 […] Bei Strafe der Kerkerhaft soll niemand vermummt herumlaufen oder irgendwelche Spiele spielen und dabei eine Gesichtsmaske tragen oder auf irgendeine andere merkwürdige Weise dafür sorgen, dass man ihn nicht erkennen kann. Es handelt sich um ein Spiel, bei dem die Spieler ihre Identität verbergen. Dies geschieht auf unterschiedliche Weise: durch eine fremdartige und/ oder eine die Gestalt verbergende Kostümierung, durch Unkenntlichmachen des Gesichts mit Ruß, Mehl, Schuhschwärze oder einer Vollgesichtsmaske; durch Unkenntlichmachen der Stimme, entweder durch völliges Schweigen oder durch Verstellen der Stimme. Dem Wort mum wurde eine Vielzahl von etymologischen Deutungen zugeordnet. Im 14. und 15. Jahrhundert verbanden englische Sprecher to mum jedoch mit der Bedeutung „stumm (sein)“, wie zum Beispiel in dem Ausdruck „keep mum“ (den? Mund halten). 9 6 Siehe Carpenter/ Twycross 2002, S. 84-92 und die auf S. 98 dargestellte Maske. Eine Untersuchung der Mummings in mittelalterlicher Zeit verglichen mit aktuellen weihnachtlichen Maskenbräuchen in Edinburgh bei Carpenter, S.: „Scottish Guising: Medieval and Modern Theatre Games“. In: International Journal of Scottish Theatre Bd. 2, Nr. 2 (Dezember 2001), auch als Online Journal: http: / / www.arts.gla.ac.uk/ ScotLit/ ASLS/ ijost/ Volume2_no2/ 1_carpenter_s.htm [Zugriff: 15. 8. 2009]. 7 Carpenter/ Twycross 2002, Kapitel 4. 8 Guildhall Letter Book H, Fol. 224. Alle Zitate aus den Handschriften sind zusammengefasst bei Sharpe, R.: Calendar of Letter-Books Preserved among the Archives of the Corporation of the City of London at the Guildhall. 11 Bde. London 1899-1912. 9 Mayhew, A. L. (Hrsg.): Promptorium parvulorum. EETS ES 102 (1908), S. 296. <?page no="185"?> der prinz des friedens und die MUMMERS 185 Das davon abgeleitete mumble (murmeln) deutet auf eine Variante hin: das Murmeln mit gedämpfter Stimme unter einer Vollgesichtsmaske. Hieraus könnte man schließen, die Pointe des Spiels sei ursprünglich gewesen, die Person zu erraten, die sich hinter dem Mummer verbarg. Im London des 14. Jahrhunderts scheint dies jedoch nicht die Hauptsache gewesen zu sein. Vielmehr bezog sich das Mumming auf ein anderes traditionell-weihnachtliches Spiel. Eine sehr frühe Londoner Verordnung vom 14. Dezember 1334 zeigt, ohne allerdings das Wort mum zu benutzen, worum es sich handelte: […] nul homme ne aille en ceste feste de Noel oue compaignies desgisees ou fauvisages ou en autre maner as hostels des bons gentz de la citee pur juwer as dees mes chascun se face bien a ese en son hostel demeyne. 10 […] Niemand soll an diesem Weihnachtsfest in Gruppen von Leuten herumlaufen, die verkleidet sind, oder in anderer Weise die Häuser der guten Leute der Innenstadt zum Würfelspielen aufsuchen, vielmehr soll es sich jedermann in seinem eigenen Heim gemütlich machen. Trotz vieler ähnlicher Mandate und ungeachtet eines Parlamentsbeschlusses von 1511, 11 der diese Praxis expressis verbis untersagte, 12 war diese Art des Mumming 1616 noch so lebendig, dass in Ben Jonson’s Masque of Christmas eine Figur mit „a Visor“ (einer Gesichtsmaske) und „his boxe and his Dice“ (ihrem Kasten und ihrem Würfel) auftritt. Auch der Umstand, dass das gesamte weihnachtliche Begleitpersonal des Theaterstücks aus Londoner Handwerksgesellen besteht, legt nahe, dass das Mumming immer noch ein Brauch von ungebrochener Stärke war. 13 In England war das Würfelspiel insofern ein „Weihnachtsspiel“, als es - zumindest in der Theorie - zu anderen Jahreszeiten verboten war, und zwar insbesondere den Handwerksgesellen und Dienstboten. 10 Guildhall Letter Book E, Fol. 2r. 11 Solche Mandate sind aufgezeichnet in den Londoner Guildhall Letter Books für die Jahre 1352, 1372, 1376, 1380, 1383, 1404, 1405, 1417, 1418, 1437 und 1451 (und brechen dann unter mysteriösen Umständen ab); Smith, L. T. (Hrsg.): The Maire of Bristowe is Kalendar (Camden Society NS. Bd. 5). London 1872, S. 80-85; Anderson, J. J. (Hrsg.): Records of Early English Drama: Newcastle upon Tyne. Toronto 1982, S. 24-26; Clopper, L. (Hrsg.): Records of Early English Drama: Chester. 2 Bde. Toronto 1979. Bd. 1, S. 56. Siehe auch Lancashire, I.: Dramatic Texts and Records of Britain: a Chronological Topography to 1558. Cambridge 1984, Nr. 888, 890, 894, 897, 900, 903, 904, 909, 913, 915, 921, 922, 935 und 939. 12 The Statutes of the Realm printed by command of His Majesty King George the Third … from original records (1101-1713). Hrsg. v. France, J. u. a., 10 Bde. London 1810-1828, Bd. 3, S. 30. 13 Jonson, B.: „Christmas his Masque“. In: Works. Hrsg. v. Herford, C. H./ Simpson, E./ Simpson, P. 11 Bde. Oxford 1925-1952. Bd. 7, S. 218-21, Zeile 56-58. <?page no="186"?> 186 meg twycross Es würde zu weit führen, hier auf alle Spielarten des Brauches einzugehen, aber es dürfte klar sein, dass das Mumming gelegentlich entgleiste und vom Erregenden oder Spannenden ins äußerst Bedrohliche umschlagen konnte. Der Hausherr war gezwungen, eine Gruppe von Leuten in seine Privatsphäre einzulassen, über die er nichts wusste. In der Regel handelte es sich um junge Männer, die als Rotte herumzogen und unterwegs bereits eine Menge Alkohol zu sich genommen hatten. Draußen war es dunkel und drinnen gab es nur Kerzenlicht. Die Mummers waren maskiert und legten - anders als in anderen identitätsverbergenden Spielen - ihre Masken nicht ab. Sie verlangten Geld, auch wenn dies als Glücksspiel getarnt war: Jedermann wusste, dass die Würfel „gezinkt“ waren. Hausbesuchsbräuche waren stets Heischegänge (quêtes): „And we won’t go until we’ve got it“ (Und wir gehen nicht, bevor wir nichts bekommen haben.). Und dieser spezifische Heischebrauch verkehrte die normale Beziehung zwischen Hausherr und Besucher. Statt den Regeln des Gastgebers zu folgen, zwingen die Mummers den Hausbewohnern ihre Regeln auf. Die Spielregeln halten ein eher instabiles Gleichgewicht aufrecht, doch es handelt sich um ein Machtspiel mit einem unausgesprochenen Hang zur Aggression. Insofern war die Haltung der Behörden gerechtfertigt, die Mummings als eine mögliche Tarnung terroristischer Aktionen mit Misstrauen zu behandeln. Im Jahr 1400 beabsichtigte eine Gruppe Adliger „to falle on the kyng [Henry IV] sodeynly at Wyndesore undir the colour of mummeres in Cristmasse tyme“ (den König [Heinrich IV.] unter dem Deckmantel der weihnachtlichen Vermummung in Windsor plötzlich zu überfallen), 14 und 1415 wurden Lollarden angeklagt, in Eltham ein Mumming geplant zu haben, „and undyr coloure of the mommynge to have dystryte the kyng [Henry V] and Hooly Chyrche“ (und unter dem Deckmantel des Mummings den König [Heinrich V.] und die heilige Kirche zerstören zu wollen). 15 14 Lucas, P. J. (Hrsg.): John Capgrave’s Abbreviacion of Cronicles. EETS 285 (1983), S. 216. Capgrave stützt sich hier auf Walsingham, Th.: „Historia anglicana“. In: Rolls Series 28A (1863). Hrsg. v. Riley, H. J., Bd. 2, S. 243, der lediglich sagt: sub simulatione luodrum natalitiorum (unter dem Vorwand weihnachtlicher Spiele). Interessanterweise nimmt Hall (Union 16) an, dass dieser Vorwand nicht ein Mumming, sondern ein Turnier war, das auch zu den weihnachtlichen Spielen zählte und das zweite Spielfeld für die Realisierung imaginierter Gewalt. Holinshed bezieht sich sowohl auf die Version von Hall (das Turnier), als auch auf Walsinghams Interpretation als „maske or mummerie“, siehe Holinshed, R.: Holinshed’s Chronicles: Richard II 1398-1400, Henry IV and Henry V. Oxford 1923, Henry IV, S. 17-21. 15 So die im 15. Jahrhundert entstandene „Gregory’s Chronicle“. In: Gairdner, J. (Hrsg.): The Historical Collections of a Citizen of London in the Fifteenth Cender <?page no="187"?> prinz des friedens und die MUMMERS 187 Warum also bedienten sich die „Commons of London“ (Bürger von London) einer derart bedrohlichen Brauchform, um dem jungen Prinz Richard am Ende des Weihnachtsfestkreises einen Besuch abzustatten? „Commons“ bezieht sich hier natürlich eher auf den Bürgermeister, die Ratsherren und einflussreiche Geschäftsleute als auf die große Masse der Londoner. Im Nachhinein können wir feststellen, dass es sich hier um die erste von vielen schriftlich belegten Stilisierungen des traditionellen Mummings handelt, um einen Volksbrauch, der in eine künstlerische Form gebracht wurde. Die Stadt London scheint den Brauch aufgegriffen zu haben, weil er eher mit der Stadt als mit dem Hof verknüpft war, und bediente sich seiner als einer Form des zeremoniellen Besuchs und des Austauschs von Geschenken zwischen städtischen Zünften sowie zwischen der Stadt und dem Hof. Später adaptierte der Hof selbst die Mummings für seine eigenen Unterhaltungsveranstaltungen zu Weihnachten, wie zum Beispiel das berühmte Mumming, das Heinrich VIII. Ende der 1520er Jahre für Kardinal Wolsey veranstaltete. 16 Der Besuch bei Prinz Richard enthält alle traditionellen Elemente des volksbräuchlichen Mummings: Er findet in den Nächten des Weihnachtsfestkreises statt, allerdings nicht in den „Zwölfnächten“ zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag, sondern in dem erweiterten 40-Tage-Festkreis, der sich bis zum 2. Februar, dem Fest Mariae Reinigung erstreckte. Die Mummers sind verkleidet - dégisement arrayés - und maskiert. Es findet ein Hausbesuch statt, bei dem der Haushaltsvorstand und seine Gäste aufgefordert werden, aus den Privatgemächern herabzukommen, um die Besucher zu empfangen. Nach dem Tod seines Vaters, des Black Prince, im vorausgegangenen Sommer musste sich der zehnjährige Richard sicherlich trotz der wohlwollenden Unterstützung der Mutter tury (Camden Society Series 2, Bd. 17). London 1876, S. 108. Es handelt sich um die Verschwörung von Robert Acton. In früheren Chroniken ist keine Rede von Verkleidung oder vom Palast als Ort der Verschwörung, sondern nur davon, dass der König das Epiphanienfest in Eltham feierte. Die Verschwörer sammelten sich allerdings in London, siehe Roskell, J. S./ Taylor, F. (Hrsg.): Gesta Henrici Quinti. Oxford 1975, S. 6-7. Gregory scheint angenommen zu haben, dass die Festlichkeiten der Twelth Night (Dreikönig) der Anlass gewesen seien. Als Maskerade getarnte Mordversuche an einem König oder Herzog entwickeln sich später zu einem beliebten Motiv der Elisabethanischen und Jakobinischen Rachetragödie, siehe Ewbank, I.-S.: „These Pretty Devices“. In: A Book of Masques in Honour of Allardyce Nicoll. Cambridge 1967, S. 437-447. Supervacuo erklärt in The Revenger’s Tragedy „A masque is treason’s licence] Tis murder’s best face when a vizard’s on“ (eine Maske gehört zu den Freiheiten des Verrats […] Das beste Gesicht eines Mörders ist das mit einer Gesichtsmaske), 5. Akt, 1. Szene, Z. 196-197. 16 Carpenter/ Twycross 2002, S. 166-168. <?page no="188"?> 188 meg twycross erst noch in seiner Rolle als Haushaltsvorstand zurechtfinden. Vielleicht fühlte er sich aber zu diesem Zeitpunkt bereits völlig wohl mit dieser Aufgabe, denn sechs Monate sind im Leben eines Zehnjährigen eine lange Zeit. Die Mummers fordern ihn zum Würfelspiel heraus, doch dieses Mal sind die Würfel zum Vorteil des Hausherrn „gezinkt“, so dass „le prince ietast il deveroit gayner“ (der Prinz jeden Wurf gewinnen würde). Dies ist eine anmutige Art der Überreichung eines Neujahrsgeschenkes, indem sie stillschweigend andeutet, dass der Prinzenknabe Fortunas Liebling sei. Das Gaben-Überreichen wiederholt sich bei den übrigen einflussreichen Mitgliedern des Hofes: „a la princes sa meir et al duk de Loncastre et as autres countz“ (seiner Prinzessin-Mutter, dem Herzog von Lancaster und den übrigen Grafen), von denen jeder einen goldenen Ring „gewinnt“. Der Prinz kommt seiner Verpflichtung als Gastgeber nach und bestellt Wein, und sie „beverount od graunt leeste“ (tranken mit großem Vergnügen). Die Mummers haben in Gestalt der zum Tanz aufspielenden Musikanten zusätzliche Unterhaltung mitgebracht, „et le prince et les seignours dauncerount dun part et les mummers dautre part par longe tenps“ (und eine ganze Weile lang tanzten der Prinz und die Herrschaften auf der einen, und die Mummers auf der anderen Seite) in geteilter Harmonie, bevor die Mummers schließlich einen Toast ausbringen, und dann „pristrent conge et despartirent devers Loundres“ (ihren Abschied nehmen und nach London zurückzukehren). Was also ging hier vor und warum hielt der anonyme Chronist es für so bedeutsam, dass er es in seine Annalen aufnahm? Jedes größere theatrale Ereignis dieser Art trug auch eine „politische Fracht“. Um diese politischen Aspekte prüfen und identifizieren zu können, müssen wir einen Blick auf die Ereignisse des vorherigen Jahres werfen und darauf, wie diese Ereignisse alle Festteilnehmer beeinflussten: Richard, seine Mutter, seinen Onkel Johann von Gent und die Londoner selbst. Das Jahr 1376/ 77 war Ende und Anfang einer Ära. Es war das Jahr der Jubelfeier anlässlich der 50jährigen Regierungszeit König Edwards III. Doch seine Herrschaft war dabei in Unsicherheit, Misstrauen und politischen Unruhen zu zerfallen, und seine Krankheit trat deutlich sichtbar ins letzte Stadium. Sein Haushalt war korrupt. Das für Ende April 1376 einberufene Parlament verweigerte dem König weitere Hilfsgelder für den Krieg gegen Frankreich, 17 bevor er nicht seine Mätresse Alice Perrers und deren Klüngel vom Hof entfernt hätte. Dann starb am 8. Juni 1376 Edwards ältester Sohn und Thronanwärter, der Black Prince, und die Tagesordnung des derzeitigen Parlaments brach zusammen. Überdies wurde die 17 Für die Periode vom 28. 4. bis 6. 7. 1376. <?page no="189"?> der prinz des friedens und die MUMMERS 189 Thronfolge infrage gestellt: Richard von Bordeaux, der Sohn des Black Prince und Edwards Enkel, war nur neun Jahre alt. Dem Land stand bestenfalls eine lange Minderjährigkeitsregierung bevor, und wie die kluge Maus in Langlands Piers Plowman sagt, „#ere #e catte is a kitoun, #e courte is ful elyng - Vae terrae ubi puer rex est“ (Wo die Katze ein Katzenjunges ist, ist der Hof in ernsthaften Schwierigkeiten - Weh dir, Land, dessen König ein Kind ist). 18 Tatsächlicher Regent des Königreichs war nun Johann von Gent, 19 der älteste noch lebende Sohn des Königs. Und bei den Londonern herrschte Nervosität. Mehrere prominente Vertreter der städtischen Oberschicht waren im Parlament des Betrugs bezichtigt worden. In einem internen Machtkampf war gerade eine größere Reorganisation des Systems der städtischen Wahlen durchgesetzt worden. London war ein quasi-unabhängiges politisches Gebilde mit einem vertraglich abgesicherten, und eifersüchtig bewachten Recht auf Selbstbestimmung. Die Beziehungen zur Zentralregierung waren gespannt. Sie waren belastet durch die Befürchtung der Bürger, der König oder sein Stellvertreter Gent könnten inneren Dissens oder Unruhen zum Anlass nehmen, um ihre Rechte zu beschneiden und „die Regierung der Stadt an sich zu ziehen“. 20 Die Nervosität der Londoner konzentrierte sich auf Gent. Er war keine konziliante Persönlichkeit und neigte zu gewaltsamen Reaktionen, sobald er den Eindruck hatte, Ehre und Vorrechte der königlichen Familie - oder seine eigenen als deren Repräsentant - würden infrage gestellt. London und er lagen häufig im Streit miteinander. Hässliche Gerüchte kamen in der Stadt in Umlauf. Gent hätte Pläne, Prinz Richard zu vergiften und selbst den Thron zu besteigen. 21 Er selbst sei mitnichten königlichen Blutes, sondern Kind eines Fleischers aus Gent, den Königin Philippa vertauscht hätte, nachdem der tatsächliche Prinz von seiner Amme erstickt worden sei, „and that was why he favoured the Flemings two hundred times more than Englishmen“ (und deshalb begünstigte er die Flamen zweihundertmal öfter als die Engländer). 22 Auf den König wurde starker Druck ausgeübt, Prinz Richard anstelle seines Vaters zum Prince of Wales 18 Langland, W.: Piers Plowman, Prolog, Z. 190 - das (nicht ganz korrekte) Bibelzitat (Pred 10, 16) nach Langland. 19 „… qui usque ad obitum Regis stetit regni gubernator et rector“ (der bis zum Tod des Königs Verweser und Herrscher des Reiches blieb), Historia anglicana 1863, S. 322. 20 Bird, R.: The Turbulent London of Richard II. London 1949. 21 Thompson, E. M. (Hrsg.): Chronicon Angliae 1328-1388 (Rolls Series 64). London 1874, S. 92. Das Chronicon Angliae hegt schwere Vorurteile gegen Gent und erzählt genüsslich alle Gerüchte über ihn weiter. 22 Anonimalle Chronicle 1970, S. 104-105. <?page no="190"?> 190 meg twycross und zum Thronanwärter zu ernennen. Dies geschah dann schließlich im November 1376. 23 Gent machte sich daran, die jüngsten Parlamentsbeschlüsse aufzuheben und die Gerüchte über seine Untreue abzuwehren. Ein konservatives Parlament wurde für den Neujahrstag einberufen und eröffnete seine Sitzung am Dienstag, den 27. Januar 1376/ 67. 24 Der Prince of Wales, jetzt zehn Jahre alt, präsidierte auf dem Thron als Stellvertreter des Königs, und Gent gab sich erdenkliche Mühe, dem Sohn seines Bruders seine Loyalität ostentativ entgegenzubringen: Dux vero dominum principem plus aliis visus est honorare. Collocavit ergo eum in regia sede honorifice, et posuit verba sua in ore ejus. 25 Man sah, wie der Herzog dem Herrn Prinzen mehr Ehre erwies als allen anderen. Er setzte ihn nämlich feierlich auf den Königsthron und legte ihm seine Worte in den Mund. Ausnahmsweise landete er hiermit in der öffentlichen Meinung einen regelrechten Coup. Die Chronisten berichten von einer enormen allgemeinen Begeisterung für den goldenen Knaben, der dem Königreich bald einen Neuanfang bringen würde. 26 Das Parlament versammelte sich am Dienstag, den 27. Januar, und die Sitzung wurde am folgenden Tag eröffnet. 27 Als die Londoner am Sonntag, den 25. mit ihrem Mumming nach Kennington kamen, muss Richard sich gerade auf diese, seine erste größere öffentliche Aufgabe vorbereitet haben. Nun zum zweiten Teil meiner Ausführungen. Die von Adam Houghton, dem Kanzler und Bischof von St. David’s gehaltene Eröffnungsrede des Parlaments reflektiert die allgemeine Stimmung und kann einiges Licht auf die nonverbale Programmatik des Mummings werfen. 28 In gewisser Weise ist sie dessen Kehrseite: verbal, explizit, beschwörend. Als 23 Saul, N.: Richard II. London/ New Haven 1997, S. 17. 24 Strachey, J. (Hrsg.): Rotuli Parliamentorum. 6 Bde. London 1766/ 1777. Bd. 2, S. 361. 25 Chronicon Angliae 1874, S. 111. Gent selbst hatte in Vertretung seines kränkelnden Vaters die Präsidentschaft über das Good Parliament inne. 26 Später in diesem Jahr waren beim Krönungszug alle in weiß gekleidet, um Richards Unschuld zu unterstreichen: „Fuit igitur dies ille jocunditatis et laetitiae … dies diu expectatus renovationis pacis et legum patriae, quae jam diu exulaverant, desidia Regis senis et avaritia obsecundantium sibi servorum ejus“ (so wurde dies ein Tag der Fröhlichkeit und Freude … der lang erwartete Tag der Erneuerung des Friedens und der Landesgesetze, die durch die Trägheit des alten Königs und seine dem Geiz ergebenen Diener so lange verbannt gewesen waren). Historia anglicana 1863, S. 331. 27 Rotuli Parliamentorum. 1766/ 1777. Bd. 2, S. 361. 28 Die Rede ist im vollen Wortlaut wiedergegeben in ebd., S. 361-362. <?page no="191"?> der prinz des friedens und die MUMMERS 191 imagebildende Maßnahme war die Rede brillant, und auf den zehnjährigen Knaben, dem sie gewidmet war, muss sie einen nachhaltigen und möglicherweise psychologisch verhängnisvollen Eindruck gemacht haben. Die Ansprache des Kanzlers ist eine einzigartige Meisterleistung, denn sie versteht es, royale Ehrenbezeigung und parlamentarische Mittelbeschaffung mit biblischer und liturgischer Exegese zu verknüpfen. Ich kann hier nicht ins Detail gehen, aber die in der Art einer mittelalterlichen Predigt gehaltene Rede verknüpft verschiedene Themen miteinander. Richards Geburtstag hatte gerade am 6. Januar, dem Epiphanienfest (Dreikönigstag) stattgefunden. 29 Der Legende nach hatten sich die drei Könige von Navarra, Spanien und Portugal am Tag von Richards Geburt in Bordeaux aufgehalten und ihm Geschenke überreicht. Das Parlament selbst wird in den Chroniken mit dem Fest Mariae Reinigung am 2. Februar in Verbindung gebracht, das auf den folgenden Montag fiel. 30 Der Kanzler verbindet beide Ereignisse und stellt noch weitere Bezüge zur liturgischen Zeit her, um sich dann auf das Thema des Epiphanienfestes - der ersten Erscheinung des Herrn - zu konzentrieren. Dienstag, 6. Januar: Epiphanie Geburtstag Richards von Bordeaux Sonntag, 25. Januar: Bekehrung des heiligen Paulus Mumming der Londoner in Kennington 51. Regierungsjahr Edwards III. Dienstag, 27. Januar Offizielle Einberufung des Parlaments Mittwoch, 28. Januar Faktische Eröffnung der Parlamentssitzung: Rede des Kanzlers Montag, 2. Februar: Mariae Reinigung Letzter Tag der Festsaison Das Parlament tagt Bekanntlich hatte das liturgische Jahr eine eigene Tradition von Bibelerzählungen hervorgebracht, die für jede Woche und jeden Festtag die Lesung ganz bestimmter Evangelientexte festlegte. Darüber hinaus schrieben Messordnung und Brevier spezielle Lesungen, Psalmen, Gesänge und Gebete vor, die rund um die Thematik des einzelnen Festes ein Netz von Anspielungen und Metaphern entstehen ließen. Hieraus ergab sich eine Reihe von Schlussfolgerungen, die meist verständlich, manchmal aber auch merkwürdig sind. Beispielsweise wurden aus diesen Lesungen De- 29 Zu Richards Einstellung zum Epiphanienfest siehe Gordon, D.: Making and Meaning of the Wilton Diptych. London 1993, S. 57. 30 Historia anglicana 1863, S. 323. Der 2. Februar fiel auf den folgenden Dienstag. Houghtons etwas linkische Hinweise auf Edward III. in Verbindung mit dem Fest der Bekehrung des heiligen Paulus (am 25. Januar, dem Tag des Mumming) sind hier nicht so wichtig. <?page no="192"?> 192 meg twycross tailkenntnisse gewonnen, von denen viele heute zur ‚Allgemeinbildung‘ gehören. Warum glauben wir, dass die Magier Könige waren? Wegen der Offertoriumsgesänge des Epiphanientages: Offertorium: Reges Tharsis et insulæ munera offerent reges Arabum et Saba dona adducent. (Ps 71 [72],10) Die Könige von Tarsis und auf den Inseln sollen Geschenke bringen, die Könige aus Saba und Seba sollen Gaben senden. Woher wissen wir, dass sie auf Kamelen ritten? Aus der Lesung des Kapitels bei Jesaja, in der es heißt: Inundatio camelorum operiet te, dromedariae Madian et Efa, omnes de Saba venient, aurum et tus deferentes et laudem Domino adnuntiantes. (Jes 60,1-6) Denn die Menge (buchstäblich: die Flut) der Kamele wird dich bedecken, die jungen Kamele aus Midian und Efa. Sie werden aus Saba alle kommen, Gold und Weihrauch bringen und des Herrn Lob verkündigen. „Sie, lieber Leser und liebe Leserin, werden von Kamelen völlig überschwemmt? “ Merken Sie sich die Kamele, wir werden später noch einmal auf diese zurückkommen. Epiphanie bedeutet Erscheinung. Ursprünglich, in der östlichen Tradition, wurde das Fest am 6. Januar zu Ehren der Taufe Christi gefeiert, denn als Jesus getauft war, […] et ecce aperti sunt ei caeli et vidit spiritum dei descendentem sicut columbam venientem super se, et ecce vox de caelis dicens hic est Filius meus dilectus in quo mihi conplacui. (Mt 3,16-17) […] da tat sich ihm der Himmel auf, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabfahren und über sich kommen. Und siehe, eine Stimme vom Himmel herab sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. In der westlichen Tradition jedoch wurde dies ersetzt durch die Feier der ersten Erscheinung Christi vor den Heiden, das heißt den Magiern, und dies scheint eine ganze Kette von Epiphanien ausgelöst zu haben: am Sonntag nach dem Oktavtag berichtet der Evangelientext vom zwölfjährigen Christus im Tempel, am Sonntag darauf von der Hochzeit zu Kanaa, die auch als Bethphany oder „die Erscheinung im Haus“ bezeichnet wird. Anbetung der Magier Taufe Jesus und die Schriftgelehrten Hochzeit zu Kanaa Epiphanie Sonntag in der Oktave/ Oktave von Epiphanie Sonntag nach der Oktave von Epiphanie Zweiter Sonntag nach Epiphanie <?page no="193"?> der prinz des friedens und die MUMMERS 193 Man glaubte sogar, dass alle drei biblischen Ereignisse in unterschiedlichen Jahren, aber am gleichen Tag geschehen waren: The #retten day aftyr his bur#e, he was schewet by offryng of #re kynges; and #at same day, ix and xx ti wyntyr [and xiii dayes] aftyr, he was folowet (fulluht) yn #e watyr of flem Iordan. And #at same day, twelmo[n]#e aftyr, he turnet watyr ynto wyne at #e weddyng yn #e Cane of Galyle. 31 Am dreizehnten Tag nach seiner Geburt zeigte er sich durch die Gaben der drei Könige, und 29 Jahre [und 13 Tage] später wurde er am gleichen Tag im Wasser des Flusses Jordan getauft. Und am gleichen Tag ein Jahr danach verwandelte er bei der Hochzeit zu Kanaa in Galiläa Wasser in Wein. Epiphanien 1377: Anbetung der Magier Taufe Jesus & die Schriftgelehrten Christus im Tempel Epiphanie Sonntag in der Oktave/ Oktave von Epiphanie Sonntag nach der Oktave von Epiphanie Mariae Reinigung 6. Januar 11. und 13. Januar 18. Januar 2. Februar Auch das Fest Mariae Reinigung am 2. Februar war in gewisser Weise eine Epiphanie, bei dem Simeon das Christkind erkannte als „A light to lighten the Gentiles and the glory of thy people Israel“ (ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel, Luk 2,32). Das sich abzeichnende Leitmotiv muss für diese Eröffnung des Parlaments in geradezu mirakulöser Weise bedeutsam erschienen sein: die Offenbarung eines Wunderkindes und sein erstes aktives Auftreten in der Öffentlichkeit im Alter von zwölf Jahren (hier ein wenig vorweggenommen). Richard wird als nichts Geringeres dargestellt als eine vom König gesandte, jugendliche Christusgestalt. […] pur vous y conforter & joier de lui, par meisme la manere come l’Escripture y parole, Hic est filius meus dilectus (Luk 3, 17) Hic est desideratus cunctis gentibus (Hag 2, 8). […] um von ihm in gleicher Weise Trost und Freude zu empfangen, wie dies in der heiligen Schrift steht: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Er wird von allen Völkern herbeigewünscht. 32 31 Mirk, J.: „Festial“. In: Erbe, Th. (Hrsg.): Early English Text Society, Extra Series. Oxford 1905. Bd. 9, S. 48. 32 Die Matthäus-Lesung ist der Evangelientext für die Oktave von Epiphanie, und als Zeitpunkt der Taufe vermutete man die dreißigste Wiederkehr von Epiphanie, siehe Ludolphus de Saxonia: Vita Jesu Christi, Hrsg. v. Rigollot, L. M. 3 Bde. Brüssel/ Paris 1878, Bd. 1, S. 88. Johannes der Täufer wurde der Schutzheilige Richards, vgl. The Wilton Diptych, S. 55-57. Zum Einfluss dieses Teils der Liturgie auf die Royal Entries siehe auch weiter unten, Anm. 42. <?page no="194"?> 194 meg twycross Die Himmel haben sich geöffnet, und die Stimme Gottvaters spricht im Namen Edwards III. Also sollte das Parlament auch Richard durch Überreichung von Geschenken Ehre erweisen: […] par manere come les Paiens, c’est assavoir les trois Rois de Coloigne, firent al Filz Dieux, qar ils luy offrerent or, mirre, & encens. […] in der gleichen Weise wie die Heiden, das heißt so wie dies die drei Könige aus Köln gegenüber dem Gottessohn taten, indem sie ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe schenkten. Anschließend überträgt Bischof Houghton die biblischen Geschenke auf die Beziehungen zwischen Prinz und Parlament. 33 Bezüglich des Goldes: Et vous deivez entendre, que Loy Civil dit, que luy poeple en la venue de lour Prince pur signe de joie & de confort deivent espandre & jecter Moneie sur le people, q’ils le puissent coiller, & en partant estre joieuse, & avoir leesce en lours coers. Et si deivez vous faire, nemye soulement sur le poeple, mais doivez a luy doner & offrer or en signifiance de fait, pur luy faire riche […] Und Sie müssen verstehen, daß die Leute nach bürgerlichem Gesetz bei der Ankunft ihres Prinzen als Zeichen ihrer Freude und ihrer Unterstützung Geld unter’s Volk bringen und werfen sollten, auf dass die Leute es aufsammeln und beim Teilen frohen und vergnügten Herzens seien. Und so sollten Sie es nicht nur beim Volk halten, Sie sollten ihm Gold geben und schenken als Zeichen dafür, dass er reich werden soll […] Diese Erwartung scheint Richards gesamtes künftiges Verhalten bestimmt zu haben: es war die Pflicht seiner Untertanen, ihn reich zu machen. Normalerweise ist es der Herrscher, der seinen Untertanen largesse (Geldgeschenke) entgegenbringt, und dies scheint ein Charakteristikum höfischer Festlichkeiten in der Weihnachtszeit gewesen zu sein. Wie der Ritterroman Gawain and the Green Knight zeigt, schenkte man insbesondere am Neujahrstag, es könnte aber auch am, „Zwölften Abend“ also an Epiphanie geschehen sein. Hier aber sind es die Leute (die Bürger? ), die zu Ehren der Ankunft des Königs einer breiteren Öffentlichkeit Geld zuwerfen sollen. Interessanterweise zeigt die Anbetung der heiligen drei Könige im Stundenbuch von Hastings zwei Männer, anscheinend keine Herolde, die einer gemischten Gruppe von Leuten Geldgeschenke zuwerfen. 34 Bei königlichen Einzügen hingegen verhält sich die Sache umgekehrt, hier wird 33 Er legt alle drei Geschenke in traditioneller Weise moralisch aus, erläutert dann, dass er Gold und Myrrhe in Bezug zu Prinz und Parlament setzen will, aber: „de l’ences je voille lesser quant a present“ (den Weihrauch will ich jetzt einmal beiseite lassen). 34 Faksimile von The Hastings Hours, mit einem Vorwort und Kommentar von D.H. Turner. London 1983 und Historia anglicana 1863, S. 332. <?page no="195"?> der prinz des friedens und die MUMMERS 195 dem König Geld zugeworfen. Bei Richards späterem Krönungszug durch London bewarfen vier junge Mädchen den vorbeiziehenden jungen König und sein Paradepferd von ihrem pageant herab mit unechten Goldmünzen. Wie wir wissen, bestanden diese Münzen aus Rauschgold, denn sie erscheinen in den Rechnungsbüchern der Goldschmiedezunft, die für diesen pageant verantwortlich war. 35 Der spezifische Anlass ist hier allerdings eher pragmatischer Natur. Von einem bestimmten Standpunkt aus betrachtet ist Bischof Houghtons Rede lediglich eine raffinierte Art der erstmaligen Einführung einer Kopfsteuer, denn offiziell war das Parlament einberufen worden, damit es dem König - wie gewöhnlich - Gelder für die Kriegsführung bewilligen sollte. Houghtons Begründung für die benötigten Gelder erhellt gleichzeitig einige der merkwürdigen, im Mumming der Londoner Bürger auftretenden Figuren. Wie der Kanzler erläutert, habe der König auf persönliche Aufforderung des Papstes hin einem Waffenstillstand mit Frankreich zugestimmt, den die (wie üblich verräterischen) Franzosen insgeheim benutzt hätten, um sich für eine Wiederaufnahme der Feindseligkeiten zu rüsten. Dies impliziere, dass Papst Gregor XI., zuvor Pierre Roger de Beaufort, also selbst ein Franzose, den Waffenstillstand zu diesem speziellen Zweck eingefädelt habe. Das Parlament hegte seit langer Zeit andere Vorwürfe gegen den Papst, 36 und die Londoner waren, ebenso wie der Rest des Landes ausgesprochene Papstgegner. Es ist daher anzunehmen, dass die Mummers politisch Stellung bezogen. Allerdings wäre es unpassend gewesen, den Papst selbst zu verspotten, 37 die satirische Darstellung blieb also den durch schwarze, diabolische Masken karikierten päpstlichen Legaten als machiavellistischen Vermittlern eines falschen Friedens vorbehalten. 35 Historia anglicana 1863, S. 331-332: „florenos aureos, seu sophisticos, super eum et ejus dextrarium projecerunt“ (Sie warfen über ihn und sein Streitross echte oder unechte goldene Münzen); Jefferson, L. (Hrsg.): Wardens’ Accounts and Court Minute Books of the Goldsmiths’ Mistery of London 1334-1446. Woodbridge 2003, S. 178-179. 36 Im Mittelpunkt der Klagen stand das Monopol des Papstes auf Pfründenvergabe, die päpstlichen Provisionen, mit denen Geld aus dem Königreich abgeschöpft wurde. Gleich nach der Rede des Kanzlers trug der Kämmerer des Königs - als Vertreter der weltlichen Macht - diese Proteste vor, denn „they would not lie well in the mouth of a prelate, since they touched Our Holy Father the Pope“ (sie würden sich im Mund eines Prälaten nicht ziemen, da sie unseren heiligen Vater den Papst betreffen), Rotuli Parliamentorum. 1766/ 1777. Bd. 2, S. 363. Petitionen zu spezifischen Fragen wurden später eingereicht, ebd. S. 367. Für eine knappe Darstellung des Problems siehe McKisack, M.: The Fourteenth Century. Oxford 1959, S. 272-295. 37 Siehe Anm. 36. Das Grosse Abendländische Schisma war noch nicht eingetreten. Gregor XI. hatte sich in der vorherigen Woche von Avignon nach Rom begeben. Die Mehrheit der Kardinäle waren, wie der Papst, Franzosen, und wurden deshalb als potentielle Verbündete des Feindes betrachtet. <?page no="196"?> 196 meg twycross Wenn man von diesem Hieb gegen die Diplomatie des Papstes absieht, präsentiert sich das Mumming vordergründig als eine ganz und gar schmeichelhafte Fiktion: die beiden höchstrangigen Persönlichkeiten der Christenheit machen sich auf, um dem jungen Knaben, den die Umstände der Zeit plötzlich zu einer Schlüsselfigur gemacht haben, die Ehre zu erweisen. Der im Mumming dargestellte Kaiser scheint eine ganz und gar wohlwollende Person zu sein; es gibt keinen besonderen Grund, diese Figur mit dem derzeitigen Amtsinhaber, Karl IV. von Luxemburg (gest. 1378), zu identifizieren, dessen Tochter Anne im Januar 1382 mit Richard II. verheiratet werden sollte. 38 Oder ging es - da seine Gefolgsleute schöne Masken trugen - um die Kontrastierung eines guten Kaisers mit einem bösen Papst? In späteren Jahren hatte Richard selbst Ambitionen, Kaiser zu werden. Die bedeutungsträchtige Überreichung der drei Geschenke könnte sehr wohl eine charmante Anspielung auf seinen Geburtstag an Epiphanie sein. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich Prinzessin Johanna in der Rolle „seiner Mutter Maria“ vorzustellen. 39 Mein Versuch, die goldenen Geschenke in ein kohärentes System zu bringen, ist zwar gescheitert, 40 möglicherweise sollten aber die Geschenke, vermutlich Meisterstücke der Goldschmiedekunst, die königliche Freigebigkeit (largesse) darstellen, auf die die Rede des Kanzlers angespielt hatte - wir können es nicht entscheiden. Wie auch immer, durch die Geschenke der Magier stand Gold in Verbindung mit der Anerkennung eines Königs: Significatur enim in Christo regia potestas per aurum, quod regi solvitur in tributum: nam aurum propter sui nobilitatem munus est regale, et ideo ostendit puerum regem esse, et se illud decere. 41 38 In der ausführlichen Schilderung des Mumming werden sie ganz allgemein als ein Kaiser und ein Papst beschrieben. 39 Sie war bei den Londonern äußerst beliebt und intervenierte als Friedensstifterin, um die Bürger mit dem Herzog von Gent auszusöhnen, nachdem dieser versucht hatte, Wycliffe zu schützen, als dieser in die St. Paul’s Kathedrale vorgeladen worden war, um sich für den Vorwurf der Ketzerei zu verantworten. Gent versuchte zu intervenieren und bedrohte den Bischof von London mit physischer Gewalt. Die erzürnten Londoner versuchten, Gents Londoner Residenz, den Savoy Palast, zu plündern. Nur durch die Intervention des Bischofs wurde ein größerer Aufstand verhindert. Gent floh nach Kennington und suchte Zuflucht bei der Prinzessin von Wales, siehe Chronicon Angliae 1874, S. 118-124; Historia anglicana 1863, S. 325-326; Anonimalle Chronicle 1970, S. 103-104. 40 Es ist verlockend, den goldenen Ball als Reichsapfel zu deuten und den Becher als Myrrhe, aber der Einfallsreichtum versagt, wenn es darum geht, den goldenen Ring mit dem Weihrauch in Verbindung zu bringen. Auf der anderen Seite lassen der von Eduard dem Bekenner herrührende Ring und der Reichsapfel, nicht aber der Becher an das Krönungsritual denken. 41 Ludolphus de Saxonia: Vita Jesu Christi. Hrsg. v. Rigollot, L. M. Paris 1870. Bd. 1, S. 93. <?page no="197"?> der prinz des friedens und die MUMMERS 197 Die königliche Macht Christi zeigt sich nämlich im Gold, das man dem König als Tribut zahlt, denn seiner Noblesse wegen ist Gold ein königliches Geschenk und zeigt, dass der Knabe ein König ist und es sich für ihn ziemt. Und in diesem speziellen Kontext hat das Gold eine wichtige symbolische Funktion. Wenngleich als Neujahrsgeschenk „verkleidet“, scheint es die Zeremonien der Geschenküberreichung bei der Eröffnung eines königlichen Festeinzugs vorwegzunehmen. 42 Als Thronanwärter war Richard nur allzu offenkundig auf dem Wege, tatsächlich König zu werden, und die Londoner leisten ihm präventiv Gefolgschaft, wobei es kaum der Erwähnung bedarf, dass sie ein quid pro quo erwarteten. Die hauptsächliche politische Bedeutung des Mummings liegt daher aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in den augenfällig-oberflächlichen Anspielungen, sondern anderswo. Sarah Carpenter und ich haben in unserem Buch vorgeschlagen, dass die kommunikative Botschaft nicht im vordergründig topischen Detail, sondern in der narrativen Struktur der theatralen Form selbst zu finden sei. Hieraus ergibt sich ein ganz anderer und unverkennbar provokativer Blick auf die Dynamik des Machtspiels. Das traditionelle Mumming ist der Besuch einer autonomen Gruppe (der Mummers) bei einer anderen (dem Haushalt). 43 Mit seiner Prachtentfaltung und der Darstellung politischer Schlüsselfiguren lässt das Mumming der Londoner an den Staatsbesuch einer fremden Macht denken. Im folgenden Jahrhundert wurde dieses Szenario weiterentwickelt zu einer regelrechten Gesandtschaft mit einem Herold, einem „Dolmetscher“ 44 und der formellen Überreichung von Geschenken. Bezeichnenderweise verkannte der Historiker und Altertumsforscher John Stow, der die Hand- 42 Der erste schriftlich belegte königliche Einzug in England ist der Krönungszug Richards II. durch London, der nur wenige Monate später stattfand; siehe Kipling, G.: Enter the King. Oxford 1998, S. 117-124. Er zeigt (auf S. 116-125), wie eines der Adventus Themen ebenfalls auf diesen Teil der Liturgie - einschließlich der Taufe Christi und der Lesung aus Mat 13, 17 - Bezug nahm. War dies ein schon geläufiges Thema, oder gab die Rede des Kanzlers diesen phantasievollen Impuls für den Einzug? 43 Nach Thomas Pettitts Klassifikation würde diese Art von Mumming somit zu jenen Begegnungs-Bräuchen zählen, bei denen die Macht vom Initiator ausgeht, siehe Pettitt, Th.: „Protesting Inversions: Charivary as Folk Pageantry and Folk- Law“. In: Medieval English Theatre 21 (1999), S. 21-25. 44 Da das Mumming per Definition nonverbal ist, benötigt es eine spezielle Figur, deren Aufgabe darin besteht, Botschaften zu erläutern. Diese Figur ist häufig als ‚Dolmetscher‘ konzipiert, der als Vermittler zwischen fremden Potentaten agiert, die der englischen Sprache nicht mächtig sind. Zuweilen wird er auch als „truchman“ bezeichnet, was sich von „dragoman“ (arab. Dolmetscher) herleitet. Er erklärt nicht etwa die stummen Masken oder symbolischen Handlungen, sondern den Anlass und die Absicht der Botschaft. Die Figur steht in enger Verbindung mit dem in Royal Entries auftretenden ‚Dolmetschern‘, ist aber nicht mit ihnen identisch. <?page no="198"?> 198 meg twycross schrift besaß und die Beschreibung des Mumming in seinen 1598 erschienenen Survey of London aufnahm, die Bedeutung der päpstlichen Legaten. Er übersetzte, „as if they had been Legates from some forrain Princes“ (als ob sie Gesandte fremder Herrscher seien). 45 Indem sie diese Fiktion zur Darstellung bringen, erheben die Londoner - wissentlich oder unwissentlich - Anspruch auf ihre Unabhängigkeit. Sie bringen dem Prinzen aus eigenem freien Willen ihre Loyalität entgegen, auf ihn fällt die Wahl der Stadt London. Dies beinhaltet einen politischen Subtext, der weit mehr Unruhe stiftet, als der vordergündige und ungefährliche Angriff auf den Papst. 46 In Zeiten der Krise aufgrund der Erbfolgefrage beanspruchten die Londoner Bürger das - konstitutionell nicht völlig verankerte - Privileg, die Wahl des Königs, wenn schon nicht selbst zu treffen, so doch zumindest zu bestätigen. 47 Die Bekundung ihres Einverstännisses erfolgte offensichtlich im Namen der Bürger des ganzen Landes. Der Subtext geht vielleicht nicht so weit, wie Piers Plowman dies formuliert - „Mi ( t of #e comunes made hym to regne“ (durch die Bürger wurde seine königliche Autorität bestätigt), 48 - kommt dem aber nahe. 49 45 Stow, J.: Survey of London. Hrsg. v. Kingsford, Ch. 2 Bde. Oxford 1908 (Reprint 1971). Bd. 1, S. 96. Erstausgabe 1603. 46 Siehe hierzu Scott, J. C.: Domination and the Arts of Resistance: Hidden Transcripts. New Haven (Conn.)/ London 1990. In seiner Arbeit über lateinamerikanische Adoptionen und Adaptionen spanischer Volksbräuche hat Max Harris dieses Konzept auf das folk-drama übertragen, siehe Harris, M.: Festivals of Aztecs, Moors, and Christians: Dramatisations of Reconquest in Spain and Mexico. Austin 2000. 47 McKisack, M.: „London and the Succession to the Crown during the Middle Ages“. In: Studies in Medieval History presented to F.M. Powicke. Hrsg. v. Hunt, R. W. Oxford 1948, S. 76-89. 48 Piers Plowman B-Text, Prolog, Zeile 311. 49 In den folgenden Monaten gaben sich die Londoner alle erdenkliche Mühe, die besondere Beziehung zwischen ihnen und dem jungen König zu betonen. Dieser übernahm seinerseits begeistert die Rolle des Friedensprinzen und setzte die Versöhnung zwischen der Stadt und Johann von Gent durch. In Walsinghams Historia anglicana (S. 329) zieht am Sterbetag Edwards III. eine Deputation städtischer Würdenträger nach Kennington und bittet Richard: „[…] ex parte civium et civitatis Londoniensis, ut habeatis recommendatam erga vestram reverentiam, civitatem vestram, Cameram scilicet vestram, qui in proximo eritis noster Rex, quem solum Regem recognoscimus […]“ (im Namen der Bürger und der Stadt London, möge Eure Majestät Eurer Stadt und damit auch Eurer Schatzkammer eingedenk sein, wenn Ihr in Kürze unser König sein werdet, den wir als unseren einzigen König anerkennen). Der Verweis auf die Schatzkammer könnte darauf anspielen, dass die Stadt London eine einträgliche Quelle der königlichen Einkünfte war. In den Monaten nach dem Tod seines Großvaters drängen die Bürger Richard, nach London zu kommen und dort zu seinen Wohnsitz zu nehmen. Das Chronicon Angliae berichtet, dass die Anhänger Gents ironisch sagten, Richard sei nicht König von England, sondern „König der Londoner“, denn er sei eher vom gemeinen Volk und den Bürgern, denn vom Adel gewählt worden. (Chronicon Angliae 1874, S. 199-200). <?page no="199"?> der prinz des friedens und die MUMMERS 199 Möglicherweise suchten die Londoner nur einen unbefangenen Verbündeten gegen Johann von Gents hartnäckige Feindschaft und versicherten sich gegen den Kater, indem sie mit dem Katzenjungen Freundschaft schlossen. Aber der Umstand, dass das Mumming so detailliert in die Anonimalle Chronicle aufgenommen wurde, legt nahe, dass die an diesem Ort und in so auffälliger Weise vorgeführte Aktion als bedeutsam erachtet wurde. Das Mumming vor Richard II. ist das erste schriftlich belegte dieser Art. Allerdings wurde die Aktion von 1377 mindestens bei einer Gelegenheit wiederholt und von den Chronisten in einer Weise beschrieben, als handele es sich um mehr als um pure Unterhaltung. Nach dem dramatischen königlichen Versöhnungseinzug, dem eine noch schlimmere Krise vorausgegangen war, im Zuge derer Richard selbst „die Regierung der Stadt an sich gezogen“ hatte (weil diese ihm kein Geld mehr leihen wollte), scheinen die Londoner an Weihnachten 1392/ 93 einen ähnlich aufwendigen Versöhnungsbesuch inszeniert zu haben: Dominus rex tenuit suum Natale aput Eltham; ad quem circa festum Epiphanie venerunt Londonienses glorioso apparatu et presentarunt sibi unum dromedarium cum uno puero sedente super eum; presentaruntque eciam domine regine unam magnam avem et mirabilem, habentem guttur latissimum. 50 Der Herr König feierte sein Weihnachtsfest in Eltham, wo die Londoner am Epiphanientag in prächtiger Ausrüstung erschienen und ihm ein Dromedar darboten, auf dem ein Knabe saß; der Frau Königin überreichten sie einen großen, wundersamen Vogel, der einen riesigen Schlund hatte. Nach Abhaltung vieler Tänze und Unterhaltungen außergewöhnlichster Art bedankte sich der König bei den Bürgern und erließ ihnen die Hälfte des noch ausstehenden immensen Bußgeldes, das er für die Wiedererlangung seiner Gunst und ihrer Rechte gefordert hatte. Hier geht es also wiederum um ein politisches Programm, und die unterhaltsame Darbietung gibt dem König Gelegenheit zu einer großartigen Versöhnungsgeste mit nachhaltigen finanziellen Folgen. 51 Der Chronist macht zwar keine Angaben darüber, ob der Besuch eine spezielle Thematik hatte, aber es handelte sich mit Sicherheit um ein Mumming. Das Ausgabenbuch der Krämerzunft verzeichnet 1392/ 93: 50 The Westminster Chronicle 1381-1394. Hrsg. und übers. v. Harvey, B./ Hector, L. C. Oxford 1982, S. 510-511. Siehe Barron, C. M.: „The Quarrel of Richard II with London 1392-1397“. In: The Reign of Richard II. Hrsg. v. Barron, C. M./ du Boulay, F. R. H. London 1971, S. 173-201. 51 Siehe Barron 1971, S. 173-201. <?page no="200"?> 200 meg twycross Item paie par commune assent del mercerye a v persones del dite mercerie pur lour costages a vn mommyng ouesque le Roi a Eltham a chescun xij s, somme iij livres 52 Ferner, auf gemeinsamen Beschluss der Krämerzunft an fünf Mitglieder der besagten Krämerzunft für ihre Ausgaben bei einem Mumming für den König, an jeden 12 Schillinge gezahlt, Summe: 3 Pfund Die Krämer waren vermutlich nicht die einzige Zunft, die sich am Mumming in Eltham beteiligte, aber ich konnte in keiner der erhaltenen Quellen weitere Nachweise finden. Die mittelalterlichen Rechnungsbücher des Stadtkämmerers wurden beim Grossen Brand von London (1666) vernichtet. Allerdings verlieh Gilbert Maghfeld, ein Eisenhändler, Kaufmann und Bankier, der Anleihen an größere städtische Unternehmer vergab, einer ungenannten Person einen Betrag von 40 Schillingen für das Mumming in Eltham: Item appreste pur le momyng al Roy a Eltham al feste de Noell xl s 53 Ferner ausgeliehen für das Mumming für den König in Eltham beim Weihnachtsfest 40 Schillinge Die Anleihe wurde anscheinend nicht zurückgezahlt, aber Maghfeld wird dies wohl als einen vertretbaren Verlust betrachtet haben. Er hatte Verbindungen zum königlichen Hof (verlieh auch Geld an Chaucer und seinen Kreis), und als Richard 1392 die Regierung der Stadt an sich zog, ernannte er Maghfeld zum Sheriff, eine Stellung, die dieser auch behielt, als die Stadt wieder zur Selbstverwaltung überging. Er fungierte daher vermutlich auch als Ratgeber, als es darum ging, die königliche Gunst zurückzugewinnen, vielleicht hatte er das Mumming als eine Möglichkeit zur Erreichung dieses Ziels vorgeschlagen. Man fragt sich unweigerlich, ob die Geschenke eine symbolische Bedeutung hatten. Bedenkt man den saisonalen Zeitpunkt, dann könnte sich das Dromedar symbolisch auf die „Menge der Kamele […] aus Midian und Efa“ (Jes 60, 6) in der Lesung zum Epiphanienfest beziehen. Wie der Pelikan hierzu thematisch passt, ist schwer zu sagen, es sei denn, die Frömmigkeit des Pelikans sollte die Rolle der Königin bei der Versöhnung zwischen König und Stadt darstellen. 54 Falls dem so ist, haben es die 52 Mercers Company Account Book, Fol. 12r; siehe Jefferson, L. (Hrsg.): The Medieval Account Books of the Mercers of London; an edition and translation. Farnham 2009, S. 84-85. Sie übersetzt „un mommyng“ irreführenderweise mit „a mummers’ play“. 53 The National Archives, E 101/ 96/ 1: Gilbert Maghfeld’s Account Book, Fol. 35r. 54 Der Erlass der Hälfte des Bußgeldes erfolgte „ad instancian domine regine aliorumque procerum“ (auf dringendes Bitten der Frau Königin und anderer Fürsten). Westminster Chronicle, S. 510-511. <?page no="201"?> der prinz des friedens und die MUMMERS 201 Chronisten aber nicht verstanden. Ein echter Pelikan sieht allerdings auch nicht so aus wie die Pelikane in den Bestiarien, besonders dann nicht, wenn er seinen Schnabel aufreißt. Doch wie verhält es sich mit der Logistik? Ein bekannter Londoner Gelehrter schlägt vor, dass Kamel und Pelikan einfach „zwei ungewöhnliche Schmuckstücke“ gewesen seien. 55 Die königliche Patentbriefsammlung (Patent Rolls) verzeichnet indes am 5. Januar, dem Tag vor Epiphanie, eine Zuwendung an den königlichen Diener John Wynterbourne, derzufolge er das Kamel des Königs auf Lebenszeit halten und dafür einträgliche Rechte erhalten sollte. Pro Johanne Wyntirbourne Rex Omnibus ad quos etcetera salutem. Sciatis quod de gratia nostra speciali concessimus dilecto seruienti nostro Johanni Wyntirbourne pro bono seruicio quod ipse nobis impendit et impendet infuturo custodiam cameli nostri habendum durante vita sua cum proficuis custodie pertinentibus. In cuius etcetera Teste Rege apud manurium de Eltham quinto die Januarie per breue de priuato sigillo. 56 Zugunsten von Johannes Wyntirbourne: Der König [entbietet] allen, die usw.[seinen] Gruß. Kund und zu wissen, dass wir aus unserer besonderen Gnade unseren geliebten Diener John Wyntirboune für die guten Dienste, die er uns geleistet hat und in Zukunft leisten wird, die Pflege unseres Kamels einschließlich der mit der Pflege verbundenen Einkünfte für die Zeit seines Lebens übertragen haben. In dessen usw. Bezeugt durch den König im Eltham Palast am fünften Januar mit Brief und privatem Siegel. Bislang konnte ich John Winterbourne nirgends sonst finden. War er der offizielle Halter des Tieres, der jemand anderen mit der schmutzigen Arbeit betraute, oder war er derjenige, der das Kamel ursprünglich beschafft hatte? Woher hatten sie das Kamel bekommen und wie haben sie es nach Eltham transportiert? Führten sie es den ganzen Weg von London in Prozession nach Eltham, einer Strecke von 13,6 Kilometer? Gingen sie mit ihm den ganzen Weg zu Fuß? Brachten sie es vielleicht per Boot nach Greenwich oder hatten sie sich schon in London eingeschifft? Man sollte glauben, ein Kamel würde eine Spur auf dem Papier hinterlassen, aber es scheint sich mit Haut und Haar in Luft aufgelöst zu haben. Man sollte denken, es würde mit dem Rest der königlichen Menagerie im Londoner Tower landen, aber bislang habe ich nicht den geringsten Hinweis gefunden. Wie lange lebte es? Wieviel Erfahrung hatten sie mit echten Kamelen? 55 Siehe Barron 1971, S. 195. 56 The National Archives C 66/ 336 Teil II; Patent Roll Nr. 16, Richard II. (1392/ 93). <?page no="202"?> 202 meg twycross Die zweite Möglichkeit einer symbolischen Deutung besteht darin, dass das Kamel heraldisch gemeint war. Im 16. Jahrhundert führten zwei städtische Gilden ein Kamel in ihrem Wappen. Bei der Schneiderzunft (Merchant Taylors) hing dies vermutlich damit zusammen, dass der Patron ihrer Bruderschaft Johannes der Täufer war, der bekanntlich „ein Gewand aus Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Hüften“ trug (Mt 3, 4). 57 1556 engagierten sie eine Person, die in der Lord Mayor’s Show (dem mit der jährlichen Wahl des Bürgermeisters verbundenen Umzug) folgende Aufgabe übernahm: Item paid for Rose Water spent & occupied aboute the children & hym that rode upon the camyll iij s ij d. Item paid to Southwall for the kamyll hyer xx s 58 Ferner gezahlt für Rosenwasser, das verwendet und benutzt wurde für die Kinder und denjenigen, der auf dem Kamel ritt 3 Schillinge, 2 Pennies Ferner gezahlt an Southwall für die Miete des Kamels 0 Schillinge Das deodorisierende Rosenwasser beweist nicht zuletzt, dass es sich um ein echtes Kamel handelte. Die zweite Zunft, die ein Kamel in ihrem Wappen führte, und zwar relativ spät (1562), waren die Krämer. In ihrem Wappen trägt es Säcke mit Gewürzen. 59 Es trat auch in der Lord Mayor’s Show auf, und sogar in der außerordentlichen Parade zum hundertsten Geburtstag unserer jüngst verstorbenen Königinmutter. Es kann sein oder auch nicht sein, dass das Kamel von 1392 auf den Krämerhandel anspielte. Der Bürgermeister war in diesem Jahr ein Krämer. 60 In den Akten der Krämerzunft konnte ich nichts finden, was auf das Mumming hindeutet. Sollte es das Gewerbe symbolisieren, oder war es nur ein ungewöhnliches Geschenk, das zufällig gerade zur Hand war und möglicherweise einen Bezug zum Epiphanienfest herstellen sollte? War die Erinnerung an das Mumming und an das Kamel so stark, dass die Krämer es für ihr Wappen adoptierten und sich somit ein retrospektiver Symbolismus herausbildete? Die Krämer 57 Clode, C. M. (Hrsg.): Memorials of the Guild of Merchant Taylors Of the Fraternity of St. John the Baptist in the City of London. London 1875. Zitiert nach http: / / www.british-history.ac.uk/ source.aspx? pubid=562 Siehe auch http: / / www.heraldicmedia.com/ site/ info/ livery/ [Zugriff: 15. 5. 2009]. 58 Sayle, R. T. D.: Lord Mayors’ Pageants of the Merchant Taylors’ Company in the 15 th , 16 th & 17 th centuries. London 1931. 59 Siehe http: / / www.heraldicmedia.com/ site/ info/ livery/ unter dem Stichwort „Worshipful Company of Grocers“. 60 Bürgermeister war William Staundon, ein Krämer; die Sheriffs waren der Eisenhändler Gilbert Maghfeld und der Tuchhändler Thomas Newenton oder Newton. Alle drei waren Anhänger des Königs, die im Juli 1392 frühere Amtsinhaber abgelöst hatten. <?page no="203"?> der prinz des friedens und die MUMMERS 203 waren ursprünglich Pfefferhändler, doch auch nachdem sie Großhändler geworden waren, behielten sie die Verantwortung für die Qualitätskontrolle aller in London verkauften Gewürze. Die Gewürznelken auf ihrem Schild weisen darauf hin. Im darauf folgenden Jahr 1393 feierte der König das Weihnachtsfest in Westminster, und die Londoner erschienen wiederum diverso apparatu (mit verschiedenen Darbietungen), einige tanzend, andere singend, […] et quamplures alii venerunt ad eum in quadam navi conficta miro modo referta cum speciebus et aliis donariis pro rege et regina aliisque personis nobilibus largiendis. 61 […] und mehrere andere kamen in einem wunderbar erdachten Schiff, das mit Gewürzen und anderen Geschenken gefüllt war, die dem König, der Königin und anderen adligen Personen überreicht werden sollten. Wiederum war der derzeitige Londoner Bürgermeister ein Krämer. 62 Das Gewürzschiff könnte in geschickter Weise sowohl auf sein Gewerbe angespielt haben, als auch auf eine neue Art des „Reisens“ und auf die gabenbringenden Könige „von Tarsis und auf den Inseln […] die Könige aus Saba und Seba“ (Ps 71 [72], 10) aus der Liturgie des Epiphanienfestes. 63 Es lässt sich schwer entscheiden, ob die Chronisten diese Art von Unterhaltungen wegen der ihnen innewohnenden politischen Bedeutung auswählten, oder weil diese in einer politisch bedeutsamen Zeit stattfanden. Die Rechnungsbücher der Krämerzunft aus dem Jahr 1395/ 96 erwähnen noch ein weiteres Mumming, das in diesem Jahr vor dem König abgehalten wurde, aber in die Chroniken nicht eingegangen ist. 64 In die Chroniken aufgenommen wurde jedoch jenes Mumming, das 1400/ 1401 vor König Heinrich IV. in Eltham aufgeführt wurde, als Kaiser Manuel von Konstantinopel auf Staatsbesuch in England war. 65 Möglicherweise waren diese letztgenannten Mummings nicht so bedeutsam wie die früheren, die wir untersucht haben: das eine sollte König Richard gewogen halten, das andere sollte seinem Rivalen Heinrich IV. die Unterstützung der Bürger zusichern. Wenngleich diese theatralisierte 61 Westminster Chronicle, S. 516 (Übers.: M. T.). 62 Bürgermeister war John Hadlee, die Sheriffs waren der Goldschmied Drew (Drogo) Barentyn und der Tuchhändler Richard Whittington. 63 Siehe das Offertorium beim Epiphanienfest im Sarum Missale sowie das Weihnachtslied I saw three ships come sailing in. Eine Liste des köstlichen Warenangebots der Krämer ist veröffentlicht bei Hazlitt, W. C.: The Livery Companies of the City of London. London 1892, S. 189. 64 Jefferson, L. (Hrsg.): Medieval account books of the mercers of London. Bd. 1-2. Ashgate 2009, S. 110-111. 65 Ebd. S. 154-155. <?page no="204"?> 204 meg twycross Version des Mummings oberflächlich betrachtet eine dem Hof von der Stadt dargebotene Unterhaltung war, stellte sie doch gleichzeitig einen Rahmen bereit, in dem zwei unterschiedliche Schichten der Gesellschaft, oder in der Tat zwei unterschiedliche Machtzentren, sich darauf einlassen können, unter den Bedingungen des Festes - kein Ärgernis in der Welt - ernsthaft und auf Augenhöhe miteinander zu verhandeln. Übersetzung: M. Müller <?page no="205"?> Wohlstand und Macht, Religion und Unterhaltung. Spätmittelalterliches Theater in Mecheln Wim Hüsken (Mecheln) Die Bewohner von Mecheln (frz. Malines) dürfen zu Recht stolz auf ihre reiche Geschichte sein. Insbesondere an der Wende vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit nämlich hatten burgundische und habsburgische Dynastien die eher kleine, von Tuchgewerbe, Schiffbau und Handel geprägte Stadt zu ihrer Residenz erwählt, wodurch Mecheln sich zu einem Zentrum europäischer Herrschaftspolitik entwickelte, dessen Feste und theatrale Aktivitäten bislang noch nicht hinreichend erforscht sind. Die historischen Voraussetzungen Nachdem Karl der Kühne, Herzog von Burgund, am 5. Januar 1477 auf dem Schlachtfeld bei Nancy gefallen war, beschloss seine Witwe Margarethe von York, nach Mecheln zu ziehen. Grund für diese Entscheidung war der besondere Status der Stadt innerhalb des Herzogtums Burgund. Mecheln war 1369 durch die Heirat Philipps des Kühnen mit der Tochter des flämischen Herzogs in den wachsenden Verbund von Herzogtümern übergegangen, hatte aber ihre Unabhängigkeit behalten, da sie weder zur Grafschaft Flandern noch zum Herzogtum Brabant gehörte. Margarethe von York konnte daher in Mecheln herrschen, ohne einer übergeordneten Instanz Rechenschaft ablegen zu müssen. Erbin Karls des Kühnen war zunächst seine einzige Tochter Maria von Burgund, aus deren Ehe mit Maximilian von Österreich zwei Kinder, Margarethe und Philipp, hervorgegangen waren. Als Maria 1482 nach einem Reitunfall verstarb, wurden beide Kinder im Hause ihrer Großmutter, Margarethe von York, aufgezogen, und Maximilian übernahm die Rolle des Herrschers stellvertretend für seinen damals knapp vierjährigen Sohn, der als Philipp der Schöne erster Habsburger Herrscher der Nieder- <?page no="206"?> 206 wim hüsken lande werden sollte. 1496 heiratete Philipp Johanna von Kastilien, und 1500 wurde in Gent als ältestes der sechs Kinder des Paares der spätere Kaiser Karl V. geboren. Nach Philipps frühem Tod im Jahre 1506 wurde Maximilian von Österreich erneut gebeten, für seinen Enkel Karl, den späteren Herrscher der Niederlande, die Regierungsgeschäfte zu führen. Angesichts seiner Pflichten als Kaiser des Heiligen Römischen Reichs bat Maximilian seine Tochter Margarethe von Österreich, ihn als Regentin zu vertreten. Margarethe stimmte zu und beschloss, dorthin zurückzukehren, wo sie aufgewachsen war: nach Mecheln. Von 1507 bis zu ihrem Tod 1530 wurde Mecheln zur Hauptstadt der Niederlande, denn auch ihr Neffe Karl V. - inzwischen König von Spanien - hatte Margarethe als Statthalterin der Niederlande eingesetzt. Die Jahre zwischen 1477 und 1530 waren daher überaus wichtig für Mecheln. Die Bedeutung der Stadt nahm noch zu, als Philipp der Schöne sie 1504 zum Sitz des Großen Rats machte. Dieses oberste Gericht der Niederlande behandelte Streitfälle, über die an den Provinzgerichten kein Einvernehmen erzielt werden konnte. In der Folge siedelten sich zahlreiche Gelehrte und Adlige in Mecheln an, errichteten prachtvolle Residenzen und zögerten nicht, ihren Prunk und Reichtum vor den Augen der Einwohner zu entfalten. Im Ergebnis kam es zu einer Blüte des kulturellen Lebens in Mecheln, und neben anderen Repräsentationen erlesenen Geschmacks fanden vielfältige Theaterereignisse statt, die die besonderen Verhältnisse dieser Stadt in eigenständiger Weise reflektierten. Der früheste Nachweis eines Theaterspiels in Mecheln 1404 versammeln sich Bogenschützen aus den Provinzen Brabant, Flandern und Holland in Mecheln, um sich mit französischen Kollegen zu einem Turnier zu treffen. Teil dieser Veranstaltung ist ein Wettstreit, in dem esbatementen aufgeführt werden, ein der Farce verwandtes Genre von Spielen. Dieses Treffen in Mecheln ist der früheste Beleg für ein Zusammentreffen von Schauspieltruppen aus unterschiedlichen Regionen der Niederlande mit ausländischen Kollegen. 1 Nachweise für Theaterwettbewerbe aus anderen flämischen Städten sind in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts ebenfalls dünn gesät: Oudenaarde 1408, Ypres 1410. Abgesehen von etwa zehn Wettbewerben auf lokaler Ebene muss 1 Vgl. Coigneau, D.: „1 februari 1404: De Mechelse voetboogschutters schrijven een wedstrijd uit: Stedel ) ke toneelwedstrijden in de vijftiende en zestiende eeuw“. In: Erenstein, R. (Hrsg.): Een theatergeschiedenis der Nederlanden: tien eeuwen drama en theater in Nederland en Vlaanderen. Amsterdam 1996, S. 30-35. <?page no="207"?> wohlstand und macht, religion und unterhaltung 207 man bis 1429 warten, um ein weiteres Theatertreffen mit Truppen aus unterschiedlichen Regionen zu finden. Auch dieses wurde in Mecheln veranstaltet. Diesmal ist ein religiöses Thema vorgegeben, das von den gegeneinander antretenden Gruppen dargestellt wird. Die Stücke wurden anlässlich einer feierlichen Prozession zu Ehren Unserer Lieben Frau aufgeführt. Obwohl eine Aufführungspraxis im Vergleich zur Situation in Nachbarländern wie Frankreich, Deutschland und England hier recht spät erscheint, muss man berücksichtigen, dass der älteste erhaltene Nachweis einer Theateraufführung in den Niederlanden überhaupt nur zwölf Jahre früher datiert: im Jahr 1392 wurde in Dendermonde, einer kleinen Stadt westlich von Brüssel, ein Spiel über die Auferstehung Christi dargeboten. Die Rechnungsbücher von Mecheln geben natürlich kein vollständiges Bild der Theatergeschichte der Stadt. Sogar vor der Wende zum 15. Jahrhundert könnte es in Mecheln eine lebendige Tradition auf diesem Gebiet gegeben haben - nur fehlt es eben an tragenden Beweisen. Eine kurze Geschichte des Theaterspiels in den Niederlanden sollte natürlich mit dem liturgischen Theater beginnen, das als Anfang der mittelalterlichen Spieltradition gilt. Obwohl liturgische Spiele in Mecheln nicht aktenkundig wurden, lässt sich in anderen flämischen Städten die Existenz liturgischer Spiele zweifelsfrei bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen. Aus dieser Epoche ist in einem Evangeliar aus Maastricht ein Ludus Paschalis mit acht Personen überliefert: Christus (als Gärtner und Pilger), zwei Grabengel, die drei Marien und zwei Jünger. Das Stück fokussiert auf vier Szenen, die im liturgischen Theater traditionell aufgeführt wurden: ein Quem quaeritis-Tropus, die Hortulanus-Szene, eine Victimae Paschalis- und eine Peregrinus-Sequenz. Aus der gleichen Region, das heißt aus der Stadt Munsterbilsen, gibt es ein Officium Stellae, das auf ungefähr 1130 zu datieren ist. 2 Volkssprachliches religiöses Theater muss es in den Niederlanden bereits eine gute Zeit vor dem ersten Hinweis auf das Dendermonder Auferstehungsspiel gegeben haben, aber bis heute haben sich keine früheren Zeugnisse finden lassen. Eine umfassende - dem Projekt „Records of Early English Drama“ (REED) vergleichbare - Sichtung der verfügbaren archivalischen Quellen, insbesondere jener, die im Süden der Niederlande, dem 2 Diese Stücke wurden veröffentlicht bei Lipphardt, W. (Hrsg.): Lateinische Osterfeiern und Osterspiele. Berlin 1975-1990, Bd. 9, und Smits van Waesberghe, J. (Hrsg.): Het Grote Herodesspel of Driekoningenspel van Munsterbilzen. Hasselt 1987. Vgl. auch Hüsken, W.: „Civic Patronage of Early Fifteenth-Century Religious Drama in the Low Countries“. In: Johnston, A. F./ Hüsken, W. (Hrsg.): Civic Ritual and Drama. Amsterdam 1997, S. 107-123. <?page no="208"?> 208 wim hüsken heutigen Belgien, archiviert sind, wurde leider noch nicht in Angriff genommen. Damit erhielten sowohl niederländische als auch internationale Forscher ein sehr viel nuancierteres Bild von den extensiven niederländischen Festtraditionen, als sich dies gegenwärtig skizzieren lässt. Die zahlreichen Nachrichten aus jenen Städten, deren Archive (vor allem in Monografien aus dem 19. Jahrhundert) bereits gründlich untersucht wurden, lassen ahnen, zu welch außerordentlich beeindruckenden Ergebnissen ein solches Forschungsprojekt ohne allen Zweifel führen würde. Fußend auf den Monografien des 19. Jahrhunderts vermochte J. A. Worp, einer der Gründerväter der modernen niederländischen Theaterforschung, hunderte von Aufführungen religiöser und weltlicher Dramen in den Niederlanden des 15. und frühen 16. Jahrhunderts aufzulisten. In einigen Fällen ließen sich sogar die Titel der Spiele ermitteln. 1404 zum Beispiel wurde das Stück Die Gaben der heiligen drei Könige in Gistel (einer Stadt südlich von Ostende) aufgeführt, 1416 ein Spiel über Mariae Reinigung in Geraardsbergen. 3 Aus der Mitte des 15. Jahrhunderts sind zwei Stücke überliefert, die zum Zyklus der Sieben Freuden Mariae gehören. Beide vermitteln in einzigartiger Weise eine Brüsseler Festtradition, die bereits ein Jahrhundert vor Abfassung der Handschriften entstanden war. Die Texte über die erste und die siebente Freude sind erhalten. Ihre direkte Verbindung zu einer lokalen Festtradition ist offensichtlich, da die Stücke anlässlich der jährlichen Prozession (ommegang) aufgeführt wurden. Dieser Brauch lässt sich noch heute in nahezu allen flämischen Städten finden. Zu den berühmtesten Prozessionen zählt natürlich die „Blutsprozession“ in Brügge, die ursprünglich am 3. Mai, dem Tag der Kreuzesauffindung begangen wurde und heute an Himmelfahrt stattfindet. Andere Städte aber haben auch ihre eigenen Traditionen. Von gänzlich anderer Art ist zum Beispiel die kattenstoet (Katzenprozession) in Ieper, die alle drei Jahre stattfindet und deren Ursprung sich im Dunkel der Geschichte verliert. Sie geht in jedem Fall bis ins 15. Jahrhundert zurück, könnte aber auch noch viel älter sein. Wiederum wäre zusätzliche Archivforschung nötig, um ihre Wurzeln in der mittelalterlichen Festkultur aufzudecken. Die Beschäftigung mit der Kulturgeschichte einer Stadt wie Mecheln und ihrer Festtradition sollte sich daher nicht auf Dramentexte beschränken. Theaterspiele sind schließlich nur eine Form festlich-theatraler Aktivitäten; Prozessionen und pageants stellen andere Formen verbaler und visueller Kommunikation dar - und sie alle beeinflussen sich ständig gegenseitig. 3 Worp, J. A.: Geschiedenis van het drama en van het tooneel in Nederland. Bd. 1, Rotterdam 1903, S. 17-20. <?page no="209"?> wohlstand und macht, religion und unterhaltung 209 Festliche Einzüge Insbesondere generierten religiöse und politische Ereignisse unterschiedliche Formen von Theatralität und interessante Manifestationen populärer Kultur, die wir heute untersuchen können. Das mittelalterliche Flandern bietet sich hierfür als Idealfall an, und viele Quellen zur Rekonstruktion unserer kulturellen Vergangenheit schlummern noch in staubigen Archiven. Mecheln ist hier ein gutes Beispiel, aber es ist zu früh zu behaupten, andere Städte wie beispielsweise Brügge seien bereits besser erforscht. Möglicherweise hängt eines der besser bekannten Ereignisse in diesem Kontext mit der englischen Geschichte zusammen, nämlich die Hochzeit Karls des Kühnen mit Margarethe von York am 3. Juli 1468. Die Stadt Brügge organisierte zu Ehren der frisch Vermählten einen spektakulären Festeinzug. Zu diesem Zeitpunkt war ein solcher Empfang schon fast Routine, aber dieser Einzug muss außergewöhnlich schön gewesen sein - trotz des Umstands, dass es den ganzen Tag über regnete. Über ein halbes Jahrhundert später nannte Adrianus Barlandus das Ereignis immer noch eines der schönsten jemals in den Niederlanden, „dat de sonne noyt iets soo schoon en kostelyk in de wereldt heeft gesien“ (dass die Sonne niemals zuvor etwas so schönes und prachtvolles gesehen habe). 4 Olivier de la Marche, der den Festeinzug organisierte, 5 gibt uns später eine detaillierte Beschreibung der Festivitäten in Kapitel IV des zweiten Buchs seiner Mémoires. 6 Die Einwohner von Mecheln hießen Karl und Margarethe bereits ein Jahr vor deren Hochzeit willkommen. Zwischen dem 3. und 9. Juli wurden Feierlichkeiten und pageants an nicht weniger als 14 Orten innerhalb der Stadtmauern inszeniert. Außerhalb der sieben Stadttore von prominenten Repräsentanten des Mechelner Klerus begrüßt, sahen der Herzog und seine Verlobte die folgende Szene: ein wunderschönes junges Mädchen schwebte auf einer aufwendig hergestellten Wolke sitzend von oben herab. Hinter ihr befand sich ein Mechelner Wappen mit den drei Pfählen in roter Farbe auf gelbem Hintergrund. Die Maid von Mecheln hielt sieben vergoldete Schlüssel in ihrer rechten Hand, die für die sieben Tore der Stadt standen und die sie dem Fürsten übergab. In der linken Hand 4 Dieses aus dem Lateinischen übersetzte Zitat ist übernommen aus Nicolaes Despars’ Chronyke van Vlaenderen, Bd. 2, S. 397, von Andreas Wydts und Nicolaus Stryckwant zwischen 1726 und 1736 in einer zweibändigen Ausgabe veröffentlicht. 5 Vgl. Weightman, C.: Margaret of York. Duchess of Burgundy. 1446-1503. New York/ Stroud 2 1993, S. 54. 6 Dieser Text findet sich in: Petitot, M. (Hrsg.): Collection complète des mémoires relatifs à l’histoire de France […]. Paris 1820, Bd. 10, S. 299-391. <?page no="210"?> 210 wim hüsken hielt sie ein Zepter, auf dem gemäß dem Wahlspruch In trouwen vast (In Treue beständig) zwei gefaltete Hände zu sehen waren. Der symbolische Gehalt der Szene ist eindeutig: die Stadt Mecheln unterwirft sich dem Herzog, stellt aber gleichzeitig ihren Reichtum und ihre Macht zur Schau, während der Klerus, zweifelsohne in Begleitung einiger Stadträte, dem Geschehen wohlwollend zusieht. Der besondere Status, den Mecheln innerhalb der Niederlande als privates Herrschaftsgebiet verschiedener Adelsfamilien, wie insbesondere der Berthouts, innehatte, verlieh der Stadt zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine herausragende Stellung in Flandern. Bereits im Jahr 1313 gab es eine Art Festeinzug, nachdem am 21. Dezember Willem I., der Herzog von Hainault, die Rechte über Mecheln für fünf Jahre vom Lütticher Bischof erworben hatte. 7 Nebenbei bemerkt wird der Ausdruck entrée joyeuse oder blijde inkomst offiziell nicht vor 1356 verwendet. Streng genommen war dieses Ereignis von recht begrenzter Tragweite, da es sich auf die offizielle Anerkennung der unveräußerlichen Rechte der Bewohner eines Gebietes durch ihren Herrscher beschränkte. Im Gegenzug wurde er festlich in der Stadt empfangen. Am 3. Januar 1356 übergab also Johanna (eine zarte Frau auf dem Throne! ) als älteste Tochter Johanns III. mit ihrem Ehemann Wenzel von Luxemburg den Bewohnern der Provinz Brabant ihren Freibrief, der die Privilegien beschrieb, derer sie sich von nun an erfreuen sollten. Während der folgenden Monate besuchte das Herrscherpaar verschiedene Städte und bestätigte deren Rechte. Allerdings erklärte ihnen nur wenige Monate später, am 15. Juni, Johannas Schwager Lodewijk van Male den Krieg, und nachdem er Antwerpen und Mecheln besetzt hatte, verlor Johannas Freibrief seine allgemeine Gültigkeit. Spätere Amtseinführungen neuer Herrscher werden immer noch blijde inkomst genannt, aber da von nun an jede entrée joyeuse aus verschiedenen Artikeln besteht, die sich auf jeweils lokale Verhältnisse beziehen, wurde die ursprüngliche Intention, eine einzige Rechtsakte für ein ganzes Land zu schaffen - denn das war die Idee von Johannas und Wenzels blijde inkomst gewesen - faktisch aufgegeben. 8 So weit zu einer kurzen Geschichte 7 Mehr Details zu dem schnellen Wechsel des „Besitzes“ von Mecheln diskutiert Van Uytven, R.: „De Mechelse burgers tegenover hun politieke meesters“. In: Van Uytven, R. (Hrsg.): De geschiedenis van Mechelen: Van Heerlijkheid tot Stadsgewest. Gent 1991, S. 58-67. Coninckx, H.: „La Joyeuse Entrée des Seigneurs de Malines“. In: Bulletin du Cercle Archéologique, Littéraire et Artistique de Malines 6 (1985), S. 165-308, enthält auch Informationen zu Festeinzügen in Mecheln vor der Blijde Inkomst von Johanna und Wenzel im Jahr 1356. 8 Für eine relativ alte, aber immer noch verlässliche Analyse der Blijde Inkomsten in den südlichen Niederlanden siehe Poullet, E.: Histoire de la Joyeuse-Entrée et de ses origins. Brüssel 1863. Etwas jünger: Van Bragt, R.: De Blijde Inkomst van <?page no="211"?> wohlstand und macht, religion und unterhaltung 211 des interessanten Phänomens der Festeinzüge in den Niederlanden. Zurück zu Mecheln. Eine wachsende Tradition Es ist natürlich unmöglich, alle Schauspielaktivitäten in Mecheln zwischen 1313, dem Jahr des frühesten Nachweises eines Theaterereignisses, und dem 17. Jahrhundert, in dem eine praktisch ununterbrochene Tradition von Aufführungen unter freiem Himmel zu verschwinden beginnt, aufzuzählen. Mit der Zeit werden im Freien aufgeführte Stücke durch Aufführungen in geschlossenen Räumen ersetzt. Einige Ereignisse der reichen Geschichte von Theater und Drama in Mecheln sind interessanter zu beschreiben als andere. Ich werde hier nur kurz auf einige wenige eingehen. 1492 wohnte Philipp der Schöne der Aufführung eines geistlichen Spiels in Mecheln bei, das mehr als fünf Stunden dauerte. Obwohl derart lange Darbietungen in anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Deutschland und England keine Seltenheit waren, scheinen sie in den Niederlanden die Ausnahme gewesen zu sein, denn der Schreiber, der über die Aufführung berichtet, merkt ausdrücklich an, dass sich niemand langweilte oder das Ende ungeduldig erwartete. Belege für Schauspieltruppen aus Mecheln lassen sich häufig in anderen Städten finden. Ein Schauspielertrupp wurde 1432 auf Geheiß einer unbekannten Institution - einer Bruderschaft? dem Stadtrat? - nach Gent gesandt und erhielt dort einen ersten Preis in einem Theaterwettstreit, der anlässlich der Geburt von Joseph, dem zweiten Sohn Philipps des Guten veranstaltet wurde. 1441 nahm diese Gruppe in Antwerpen an einem Wettstreit teil und führte ein Spiel über die Beschneidung Jesu auf. Im darauf folgenden Jahr hielten sich ein gewisser Jan Scoenjans und seine ghesellen (Truppe) in Brügge auf und unterstützen die dort ansässigen Gruppen bei Feierlichkeiten. de hertogen van Brabant Johanna en Wenceslas. (Landen en Standen 13). Leuven 1956. Van Uytven, R.: „De rechtsgeldigheid van de Brabantse Blijde Inkomst van 3 januari 1356“. In: Tijdschrift voor Geschiedenis 82 (1969), S. 39-48, zeigt auf, wie kurz die Zeitspanne war, in der der Freibrief von 1356 berechtigterweise als nationales Dokument begriffen werden konnte, das die rechtlichen Verpflichtungen der Bewohner Brabants und ihrer Herrscher skizzierte. <?page no="212"?> 212 wim hüsken Die Rhetorikergilden Mecheln zählte mindestens drei, vielleicht vier Rederijkerskamers innerhalb seiner Grenzen. Diese Gilden für Dicht- und Vortragskunst entstanden in den südlichen Niederlanden während der ersten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts, obwohl einige von ihnen einen früheren Entstehungszeitpunkt für sich behaupteten. Über die Entstehung der Rhetorikergilden ist zu sagen, dass sie mehr als einen Ursprung hatten. Wir sahen schon früher, dass es bei Schützenfesten üblich war, Theaterspiele aufzuführen. Im Laufe der Zeit lösten sich einige Mitglieder der Schützenverbände aus ihren Vereinen und entwickelten sich zu Rhetorikergilden. Als zweiter Ursprung gelten religiöse Bruderschaften, die innerhalb der Kirche geistliche Schauspiele aufführten. Schließlich entstanden die Rederijkerskamers auch im Kontext von Narrenzünften, die alljährlich bei bestimmten städtischen Festen für die Zerstreuung der Einwohner sorgten. Diese Narrenzünfte waren Vereine, die in bestimmten Stadtvierteln tätig waren und in ihren Theaterspielen die Interessen der Bewohner des Viertels zum Tragen brachten. Wie es auch sei, Rederijkers entwickelten unterschiedliche Genres von Dichtkunst, die sie in eigenen Räumlichkeiten vortrugen, und mit ihren Aufführungen von Schauspielen auf den öffentlichen Plätzen der Stadt hatten sie gleichzeitig einen bedeutsamen Anteil an der städtischen Festkultur. In Mecheln wurde die älteste und prominenteste Rhetorikergilde, De Peoene (Pfingstrose), um 1472 von Karl dem Kühnen ins Leben gerufen. Dieses Datum ist im Vergleich zu den Gilden anderer Städte relativ spät. Über die ersten Spuren anderer Mechelner Rhetorikergilden ist nichts bekannt. Eine Gilde namens De Lisbloem (Schwertlilie) wird erstmals 1510 erwähnt, die Boonbloem - um welche Blume es sich hier handelt, ist nicht ganz klar - erscheint 1518 zum ersten Mal in den Büchern der Stadt. Die überall in den Niederlanden beliebten Blumennamen der Rhetorikergilden nahmen Bezug auf Christus und die Jungfrau Maria. 1478 finden wir einen Eintrag über eine Rhetorikergilde namens De Gheraepte Loeten. Hier bezieht sich der Name nicht auf ein religiöses Thema, sondern auf Narrheit; eine freie Übersetzung wäre Truppe der Schafsköpfe. Nach 1510 kommen die Gheraepte Loeten in den Akten nicht mehr vor. Vermutlich haben sie sich mit einer der anderen Gilden, möglicherweise der Lisbloem, zusammengeschlossen. Warum gab es vor 1472 keine Rhetorikergilden in Mecheln, obgleich doch das Interesse an Theater und Drama in Mecheln viel früher schon groß war? Jedes Jahr wurden ja zahlreiche Prozessionen und andere Ereignisse organisiert. Vielleicht brauchte man in dieser Stadt keine Rhetowohlstand <?page no="213"?> und macht, religion und unterhaltung 213 rikergilden, weil religiöse Bruderschaften sich mit großem Erfolg theatral betätigten und deren effektive Organisation die Einrichtung neuer Institutionen überflüssig erscheinen ließ. In anderen flämischen Städten sind die Rhetorikergilden früher als in Mecheln bezeugt: Brüssel 1401, Brügge 1442, Gent 1448, Leuven 1452, Ypres 1455. Ein anderer Grund für diese späte Entwicklung könnte darin liegen, dass in Mecheln eine (oder mehrere? ) Berufstheatergruppe(n) existierte(n), deren Zuschauer in den meisten Fällen Eintritt zu zahlen hatten. Die Ensembles waren somit nicht auf die finanzielle Unterstützung der städtischen Behörden angewiesen, und ihre Aktivitäten tauchen folglich nicht in den Rechnungsbüchern der Stadt auf. Es lässt sich daher schwer einschätzen, wie aktiv sie waren und in welchem Rahmen ihre Aufführungen stattfanden. Ihre Anwesenheit in der Stadt oder andernorts wurde nur aktenkundig im Fall von Schwierigkeiten, die sie entweder verschuldet hatten oder in die sie verstrickt waren. Zwischen 1441 und 1475 bezahlt die Stadt Lier einen gewissen Hendrik Bal von Mecheln und seine Truppe (ghesellen) für die Aufführung vom Spiel des heiligen Gummar. 1475 tagt der in Mecheln errichtete höchste Gerichtshof der Niederlande, das Mechelner Parlement, in einer besonders kuriosen Angelegenheit. Mathis Cricke, der Prinzipal einer anderen Theatergruppe aus Mecheln, beschuldigt Jan van Musene, eine seiner ehemaligen Schauspielerinnen verführt zu haben. Die Gerichtsakte beschreibt seine theatralen Aktivitäten wie folgt: „tout son temps il a acoustume de gaigner sa vie a jouer jeux de personnage en chambres et auec lui lesdites Coppin et Josse et autres, ses seruiteurs et seruiteresses“ (sein Leben lang pflegte er seinen Unterhalt damit zu verdienen, dass er - zusammen mit besagtem Coppin, Josse und anderen, die seine Diener und Dienerinnen waren - in (Rats-, Zunft-, Wirts-)Stuben Theaterspiele aufführte). 9 9 Dieser Fall wird untersucht bei Blockmans, W./ Neijzen, T.: „Functions of Fiction: Fighting Spouses around 1500“. In: Blockmans, W./ Janse, A. (Hrsg.): Showing Status: Representation of Social Positions in the Late Middle Ages. Turnhout 1999, S. 265-276. Zitiert nach Brinkman, H.: „Spelen om den brode. Het vroegste beroepstoneel in de Nederlanden“. In: Literatuur, tweemaandelijks tijdschrift over Nederlandse letterkunde. Bd. 17 (2000), S. 103, ohne Quellenangabe. Angaben zum Originaldokument bei Prevenier, W.: „Mechelen circa 1500. A Cosmopolitan Biotope for Social Elites and Non-conformists“. In: Eichberger, D. (Hrsg.): Women of Distinction. Margaret of York - Margaret of Austria. Leuven 2005, S. 41, Anm. 36. <?page no="214"?> 214 wim hüsken Zensur und Kontrolle Die Tatsache, dass der in Mecheln residierende burgundische Herzog Karl der Kühne die Initiative zur Gründung einer ersten Rhetorikergilde ergriff, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass er Mecheln nicht rückständig erscheinen lassen wollte. Sowohl die burgundischen als auch die habsburgischen Herzöge erkannten die Bedeutung der Dichter- und Schauspielergilden, und zwar nicht zuletzt hinsichtlich einer Einflussnahme auf politische und religiöse Fragen. Karls Enkel Philipp der Schöne versuchte, den wachsenden Einfluss der Rederijkers durch die Gründung einer „Ober- Gilde“ einzudämmen. Zu diesem Zweck rief er alle bereits bestehenden Gilden auf, am 1. Mai 1493 nach Mecheln zu kommen. Bei diesem Treffen sollte ein Theaterwettstreit stattfinden und die Gründung einer Gilde mit dem Namen Jesus mit der Balsam-Blume erfolgen. Es überrascht nicht, dass diese Einrichtung nie die Autorität erlangte, die ihr Gründer ihr zugedacht hatte. Kurz vor dem Tod Philipps am 15. September 1506 in Spanien ließ sich seine Gilde ausgerechnet in der Stadt Gent nieder, die unter den Städten der Niederlande für ihre anti-habsburgische Haltung bekannt war. Überall in den Niederlanden behielten die städtischen Behörden die Aktivitäten der Rhetoriker genau im Auge. Mecheln war sehr darum bemüht, gute Beziehungen zu den drei städtischen Gilden zu unterhalten. Fremde Theatertruppen, die sich auf städtischem Territorium etablieren wollten, wurden durch lokale Bestimmungen von der Bühne ferngehalten. Am 22. Juni 1534 erließ der Rat ein Mandat, das die Privilegien von De Peoene, De Lisbloem und De Boonbloem bestätigte. Jeder Person über 18 Jahren, die kein Mitglied einer dieser Gilden war, wurde die Aufführung von Spielen strengstens untersagt. Am 31. März 1549 wurde auf den Stufen des Rathauses ein ähnliches Mandat verlesen. Kindern unter 14 Jahren waren Aufführungen unter der Bedingung erlaubt, dass die Spieltexte von führenden Rhetorikern einer der drei offiziell anerkannten Gilden überprüft worden waren. Wer gegen diese Regeln verstieß, wurde bestraft, und Eltern mussten für die Regelverstöße ihrer Kinder finanziell aufkommen. Während des 16. Jahrhunderts wuchs die Macht der Rederijkers noch weiter. Dies führte dazu, dass sie schließlich bei der Verbreitung der lutherischen und calvinistischen Lehren und in der Revolte eine bedeutsame Rolle spielten. Die Behörden ließen nichts unversucht, um die Aktivitäten der Gilden unter Kontrolle zu halten. Einerseits begrenzten sie die Freiheit der Gilden so stark, wie es ihnen unter den gegebenen Umständen als nötig erschien, andererseits versuchten sie, durch die Rederijkers ihre eigenen Ideen einem breiten Publikum nahezubringen. Man <?page no="215"?> wohlstand und macht, religion und unterhaltung 215 entdeckte die Bühne als wichtiges Instrument in aktuellen politischen und religiösen Debatten, und da die meisten Aufführungen in den Niederlanden auf zentral gelegenen Marktplätzen stattfanden, waren die Aufführungen jedem zugänglich, der sich für sie interessierte - ein idealer Weg, die Öffentlichkeit anzusprechen. Das „Landjuweel“ Aus positiver Sicht halfen die Rederijkerskamers, jenes prachtvolle Bild zu entwerfen, das eine Stadt ihren Besuchern, vor allem den Adeligen und auswärtigen Händlern, darbieten wollte. Zu diesem Zweck wurde ein landjuweel, ein Wettstreit der Rhetorikergilden der gesamten Provinz Brabant erfunden. Dieser hatte ähnliche Wettkämpfe von Schützenvereinen zum Vorbild, bei denen ein Teil des Festes darin bestand, Theaterspiele aufzuführen. 1515 begann eine neue Serie von sieben landjuwelen in Mecheln. Die Idee dieser Form des Theaterwettstreits war nicht neu: bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hatte es eine Reihe ähnlicher Veranstaltungen gegeben, deren letzte Folge 1496 in Antwerpen stattfand. Nicht zufällig war Mecheln am 22. Juli 1515 Ausgangspunkt für die neue Serie von landjuwelen. Am 5. Januar dieses Jahres wurde Karl V. offiziell als Landesherr der Niederlande eingesetzt. Seit dem Tod seines Vaters Philipp des Schönen (1506) hatte Karl bei seiner Tante Margarethe von Österreich in Mecheln gelebt. Mit dem Auftakt des siebenteiligen Theaterwettstreits in Mecheln belohnte die Habsburger Dynastie die Stadt für ihre Loyalität. Durch das Aufkommen der Reformation in den Niederlanden und angesichts der politischen und religiösen Probleme in der Region kam die Serie der landjuwelen aber erst 1561 in Antwerpen zum Abschluss, allerdings mit der spektakulärsten aller Aufführungen. 1532 gewann die Mechelner Gilde De Peoene in Brüssel den vierten Wettbewerb. Leider sind nur einige wenige Spieltexte aus dieser Serie und keines der von Mechelner Schauspielern dargebotenen Spiele überliefert. 1561 gewannen sie den ersten Preis in der Kategorie des „schönsten Wappenschildes“ und drei 2. Preise. Einer davon war für den scoonst incommen (schönsten Einzug). Sie erschienen zu Pferde, 356 Mann stark, in Kleidern aus feinem rosafarbenen Stoff mit goldenen Besätzen. Außerdem trugen sie rote Hüte, Westen und Strümpfe, gelbe Federn, goldene Bordüren und schwarze Stiefel. Sie führten sieben gut ausgerüstete Pageant-Wagen in antikem Stil mit sich, auf denen verschiedene Figuren dargestellt waren. Einer zeigte den Evangelisten Lukas mit dem Ochsen, ein anderer den <?page no="216"?> 216 wim hüsken Evangelisten Johannes mit seinem Adler. Zu guter Letzt kamen 16 weitere schöne Wagen. Kein Wunder, dass der Antwerpener Einzug der 14 teilnehmenden Gilden mitsamt der für die Organisation verantwortlichen Gilde namens Violieren (Levkojen) einen ganzen Tag in Anspruch nahm. Der erste feste Theatersaal Mechelns Preis für den „schönsten Einzug“ spiegelt vielleicht den Glanz des kulturellen Lebens der Stadt wider, die immer noch pulsierte, obwohl ihre Pracht nach dem Tod Margarethes von Österreich 1530 nach und nach verblasste. Dennoch wurde am 12. Mai 1559 im religiösen Mecheln - nicht in Brüssel, Antwerpen oder Gent, die alle zu dieser Zeit wirtschaftlich und politisch einflussreichere Städte waren - eine Erzdiözese errichtet. Dies war das Ergebnis einer weitreichenden kirchlichen Neuordnung. Mecheln wurde Sitz eines Erzbischofs in den südlichen Niederlanden, Utrecht erhielt den gleichen Status im Norden. Einmal mehr dürfte die relative Unabhängigkeit als 17. Provinz der Niederlande ein entscheidender Grund für die Übertragung dieses hochrangigen Amtes an die Stadt Mecheln gewesen sein. Der älteste Theatersaal in den Niederlanden soll 1617 in Amsterdam eingerichtet worden sein, als Ende September - das genaue Datum ist unbekannt - die Nederduytse Academie der Öffentlichkeit ihre Türen öffnete. Bereits am 21. Juli desselben Jahres hatte der Gründer der Akademie, Dr. Samuel Coster, ein Grundstück neben der Keizersgracht angekauft. Er war vermutlich ein ehemaliges Mitglied der Rhetorikergilde De Eglentier, der auch die meisten der erfolgreichen Stückeschreiber wie Bredero, Hooft und Vondel angehört hatten. Bislang ließ sich in den Niederlanden keine früher errichtete Räumlichkeit nachweisen, die eigens zur Aufführung von Schauspielen bestimmt war. Dennoch gibt es in Mecheln womöglich ein Beispiel für ein Gebäude, in dem bereits etwas früher als in der Amsterdamer Akademie Dramen zur Aufführung gelangten. Vielleicht sollte es uns nicht überraschen, dass im römisch-katholischen Süden der Jesuitenorden die Initiative übernommen hatte, in einer Stadt wie Mecheln ein festes Theatergebäude zu errichten. 1611 hatten sie den leer stehenden Palast der Margarethe von York im Stadtzentrum erhalten, um darin ein Noviziat einzurichten. Die Übernahme des Gebäudes wurde von verschiedenen Seiten angefochten, so dass Carolus Scribani, der Provinzvorsteher des Ordens, erst am 25. Mai 1615 eine Übereinkunft mit den Ratsherren unterzeichnen konnte, die darauf hinauslief, in dem Gebäude eine Latein- und Griechischschule einzurichwohlstand <?page no="217"?> und macht, religion und unterhaltung 217 ten. Da Theaterspielen bei den Jesuiten als bewährte Methode der Unterweisung in klassischen Sprachen galt, bot sich die Wahl dieses Lehrmittels an. Am Ende des ersten Schuljahres fand am 15. Juli 1616 in einem hierfür speziell ausgestatteten Gebäude die erste Theatervorstellung statt. Das Stück wurde zweimal aufgeführt. Ein Dokument aus dem Jahr 1625 belegt, dass in dem Gebäude nicht nur ab und zu (zum Beispiel am Ende des Schuljahres), sondern regelmäßig Theater gespielt werden sollte, denn die Quelle führt ausdrücklich an, dass Aufführungen während der Fastenzeit verboten seien. Wichtige Anlässe neben den Abschlussfeierlichkeiten im Juli waren unter anderem der Festtag des heiligen Bavo am 1. Oktober. Es lässt sich darüber streiten, ob nun in Amsterdam oder Mecheln das erste öffentliche Theatergebäude entstand - die Aufführungen in Mecheln sprachen eindeutig ein sehr viel breiteres Publikum als nur die Schüler und ihre Lehrer an. Erst 1617 oder 1618 wurde eine feste Bühne gebaut. Bis zu diesem Zeitpunkt musste für jede Spielsaison eine provisorische Bühne errichtet werden. Die Stadt unterstützte die Schule in diesem Jahr beim Abriss einer Mauer, die den Saal in zwei Hälften teilte, sowie durch den Bau einer festen Bühne und einer Galerie für die Zuschauer. Obwohl Arbeiter aus der Stadt an diesen Bauarbeiten beteiligt waren, gibt es keine Eintragungen in den städtischen Rechnungsbüchern. Vielmehr fand ein ehemaliger Stadtarchivar im Staatsarchiv Brüssel im Jahresbericht der Mechelner Jesuiten einen Hinweis auf die Bauarbeiten im Noviziat. 10 Für das Jahr 1617 ist dort vermerkt: „Aula, qua declamationibus servit, intermedia macerie subruta, amplior est facta. Simul publico magistratus sumptibus perpetuo theatre et ex adverso orchestra pensile.“ (Der für Rezitationen genutzte Saal wurde durch den Abriss einer Mauer vergrößert. Mit öffentlichen Geldern hat der Stadtrat zugleich eine feste Bühne und gegenüberliegend eine Galerie errichtet). Die Jesuiten führten diese Tradition der Theateraufführungen fort, bis Papst Clemens XIV. den Orden 1773 auflöste. In Mecheln ist die heutige schouwburg immer noch im selben Gebäude untergebracht, in eben dem Saal, der vor 393 Jahren errichtet wurde. Mecheln kann stolz auf eine reiche Theatertradition zurückblicken, deren ganze Breite von Theaterhistorikern noch zu erforschen sein wird. Übersetzung: K. Lowis 10 Van Aerde, R.: „Het Schooldrama bij de P. P. Jezuïeten. Bijdrage tot de geschiedenis van het Tooneel te Mechelen“. In: Handelingen van de Koninklijke Kring voor Oudheidkunde, Letteren en Kunst van Mechelen 40 (1935), S. 44-126. <?page no="219"?> III. Die Visualität politisch-sozialer Ordnungen in der frühneuzeitlichen Festkultur <?page no="221"?> Einführung: Zur visuellen und theatralen Inszenierung von Gemeinschaft in der Festkultur der Frühen Neuzeit Klaus Krüger (Berlin), Elke Anna Werner (Berlin) Fasst man die vielfältigen Formen, Praktiken und Intentionen ins Auge, die für die Entfaltung von visuellen und theatralen Inszenierungen in der Festkultur der Frühen Neuzeit bestimmend waren, so rückt die zentrale Rolle in den Blick, die diesen Festen für die Selbstdarstellung und Selbstdeutung der Gesellschaft als einer Gemeinschaft zukam, ungeachtet der näher differenzierbaren Frage, ob es hierbei um die höfische, um die städtische oder um die kommunale Gesellschaft und ihren jeweils festlich inszenierten Gemeinschaftsausdruck geht. Leitend ist dabei die Ausgangsüberlegung, dass Theater und Fest maßgebliche, ja essentielle Medien der Hervorbringung, Bekräftigung und Festigung, aber auch der Reflexion und Ausdifferenzierung eines bestimmten kulturellen und sozialen Selbstbewusstseins und damit zugleich eines spezifischen Modells von Gemeinschaft sind. 1 In der herausgehobenen Sphäre dezidierter Außeralltäglichkeit inszeniert die Gemeinschaft im Fest Konzeptionen und Selbstbilder ihrer eigenen idealen Ordnung, sie entwirft, wenn man so will, ein hypostasiertes und symbolisches Bild von der eigenen - sei es sozialen, sei es politischen oder kulturellen-Kohärenz und zugleich von deren Sinnhaftigkeit. 2 1 Fischer-Lichte, E.: Die Ästhetik der Performativen. Frankfurt a. M. 2004, insb. S. 82-100; Meyer, T.: Politik als Theater. Die neue Macht der Darstellungskunst, Berlin 1998; Schlögl, R.: „Symbole in der Kommunikation. Zur Einführung“. In: Giesen, B./ Osterhammel, J./ Schlögl, R. (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften. Konstanz 2004, S. 9-38; für die Verbindung von Theater und Fest in der Frühen Neuzeit s. Meier, C./ Meyer, H./ Spanily, C. (Hrsg.): Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation. Münster 2004; Mulryne, J. R./ Shewring, M. (Hrsg.): Italian Renaissance Festivals and their European Influence. Lewiston 1992. 2 Zu den verschiedenen Festtheorien und den gesellschaftlichen beziehungsweise ästhetischen Funktionen von Festen s. Köpping, K.-P.: „Fest“. In: Wulf, C. (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/ Basel 1997, S. 1048-1065 und Haug, W./ Warning, R. (Hrsg.): Das Fest (= Poetik und Hermeneutik 14). München 1989. <?page no="222"?> 222 klaus krüger/ elke anna werner Dies gilt in besonderem Maß für die Frühe Neuzeit als einer Epoche, in der - als einer vorkonstitutionellen Phase - die politisch-soziale Ordnung und ihre juridisch verbindliche Kodifizierung noch nicht oder doch allenfalls erst rudimentär in abstrakter, schriftlicher Form fixiert waren und damit als eine festgeschriebene Norm jenseits ihrer je konkret erlebten Wirklichkeit nicht eigentlich vor Augen standen. 3 Eben dieses „vor Augen stellen“ aber vermochten Feste und theatrale Inszenierungen zu leisten, dergestalt, dass sie einen genuinen, gesellschaftlich institutionalisierten „Aktionsraum“ boten, einen Raum also, in dem die Normen und Werte eines Gemeinwesens symbolisch ausgehandelt und zugleich in sinnlich erlebbarer Form von den Beteiligten erfahren, ja von ihnen selbst regelrecht verkörpert werden konnten. Versteht man Feste und Theater als institutionalisierte Anlässe, die eine symbolische Kommunikation zwischen den gesellschaftlichen Gruppen ermöglichten, so lässt sich in Abkehr von einer eindimensionalen, immer noch häufig in der Forschung anzutreffenden Perspektive, die die Festprogramme nahezu ausschließlich als Instrumente herrschaftlicher Lenkung und Indoktrination interpretiert, ein differenzierter Einblick in die Identitätspolitiken und in die Gemeinschaftskonstruktionen der beteiligten gesellschaftlichen Gruppen geben. 4 Fasst man aus einer solchen, differenzierten Perspektive begrenzte beziehungsweise „selbstmarkierte“ Gemeinschaften - einer Stadt, eines Hofes, eines Staatsgebildes - ins Auge, so lassen sich gerade durch den Vergleich auf europäischer Ebene, wie er sich etwa bei den im 17. Jahrhundert europaweit veranstalteten Friedensfesten ohnedies ganz selbstverständlich ergibt, 5 wichtige Aufschlüsse über lokal beziehungsweise na- 3 Stollberg-Rilinger, B.: „Verfassung und Fest. Überlegungen zur festlichen Inszenierung vormoderner und moderner Verfassungen“. In: Becker, H.-J.: (Hrsg.): Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur (Der Staat, Beiheft 15). Berlin 2003, S. 7-49; Dies.: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. Frankfurt a. M. 2008; Melville, G.: Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Köln u. a. 2005; Michaels, A. (Hrsg.): Die neue Kraft der Rituale. Heidelberg 2007. 4 So etwa bei Pochat, G.: Theater und bildende Kunst im Mittelalter und in der Renaissance in Italien. Graz 1990; Möseneder, K.: Zeremoniell und monumentale Poesie. Die ‚ Entrée solennelle‘ Ludwigs XIV. 1660 in Paris. Berlin 1983; Cox- Rearick, J.: Dynasty and destiny in Medici art: Pontormo, Leo X and the two Cosimos. Princeton (NJ) 1984; Ciseri, I.: L’ingresso trionfale di Leone X in Firenze nel 1515. Florenz 1990; Wisch, B./ Scott Munshower, S. (Hrsg.): ‚All the world’s a stage …‘. Art and Pageantry in the Renaissance and Baroque. 2 Bde. Pennsylvania 1990; Casini, M.: I gesti del principe: la festa politica a Firenze. Rom 1996. 5 Stiglic, A.: ,Ganz Münster ein Freudental …‘ öffentliche Feierlichkeit als Machtdemonstration auf dem Münsterschen Friedenskongress. Münster 1998; Burkhardt, J./ Haberer, S. (Hrsg.): Das Friedensfest. Augsburg und die Entwicklung einer neuzeitlichen Toleranz-, Friedens- und Festkultur (Colloquia Augustana, <?page no="223"?> einführung: zur visuellen und theatralen inszenierung 223 tional differierende Identitätsbildungen einerseits und gemeinschaftliche europäische Bezüge oder mit ihnen verknüpfte Kohäsionsdynamiken und Identitätsentwürfe andererseits gewinnen. Vor diesem, hier zunächst ganz allgemein skizzierten Hintergrund der Formen, Motive und Dynamiken einer auf den Europa-Gedanken hin perspektivierten Inszenierung von Identität und Gemeinschaft in und durch Theater und Fest tritt die visuelle und theatrale Komplexität als ein bedeutsames Charakteristikum der frühneuzeitlichen Festkultur in den Blick. Besonderes Augenmerk gewinnt dabei die Frage, wie sich das Strukturprinzip von Theater, das in einer Doppelung der Ebenen von Handlung und Deutung durch verschiedene Formen und Medien der Aufführung besteht, in die visuelle und choreographische Organisation des gesamten Festes fügt und sich ihm formal, aber auch inhaltlich integriert. Die Fülle des Materials und der Beispiele, die sich dabei zur Untersuchung anbieten, ist hier nur anzudeuten. So werden etwa seit dem 16. Jahrhundert bei Festen immer häufiger ephemere Triumphbögen inszeniert, dergestalt dass sie den real existierenden Stadttoren und Fassaden vorgeblendet werden und damit eine imaginäre Stadt entwerfen, die gleich einer Maske der realen Stadt zum theatralen Bühnenbild und zum fiktiven Schauplatz einer sich selbst inszenierenden sozialen Gemeinschaft wird. 6 Ein anderes Beispiel bieten die großen Festeinzüge, die sich unverkennbar an literarischen und bildlichen Vorgaben orientieren, etwa an Petrarca’s Triomphi, oder an den Triumpheinzügen, wie sie auf antiken Reliefs, auf Andrea Mantegnas Trionfo di Cesare (1486-92) oder schließlich auf Albrecht Dürers Stichen zu den Triumphen Maximilians vor Augen standen. 7 Nicht das Ereignis selbst, sondern dessen visuelle Konstruktion im Medium des Fiktiven bildet hier also den Horizont, auf den man sich bei derartigen Festen bezieht, um sich von ihm her wieder selbst zu definieren und sich in Hinblick auf eine Gemeinschaftserfahrung identifikatorisch zu verständigen. Ein weiteres, prominentes Beispiel bieten die Hochzeitsfeierlichkeiten der Medici Bd. 13). Berlin 2000; Gantet, C.: La Paix de Westphalie. 1648. Une Historie sociale XVII e -XVIII e siécles. Paris 2003. 6 Zerner, H.: „Looking for the unknowable. The Visual Experience of Renaissance Festivals“. In: Mulryne, J. R./ Watanabe-O’Kelly, H./ Shewring, M.: Europa triumphans. Court and Civic Festivals in Early Modern Europe. Aldershot 2004, S. 75-98; Howe, N.: Ceremonial Culture in pre-modern Europe. Notre Dame (Ind.) 2007. 7 McGowan, M.: Renaissance Triumphs and Magnificenses. Amsterdam 1974; Helas, P.: Lebende Bilder in der italienischen Festkultur des 15. Jahrhunderts. Berlin 1999; Mulryne, J. R./ Goldring, E. (Hrsg.): Court Festivals of the European Renaissance: Art, Politics and Performance. Aldershot 2002; Johannek, P./ Lampen, A. (Hrsg.): Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt. Köln u. a. 2009. <?page no="224"?> 224 klaus krüger/ elke anna werner in Florenz von 1589. 8 Der feierliche Einzug war hier nur ein Teil der festlichen Ereignisse, allerdings derjenige mit dem größten Publikum, der alle Schichten der Bevölkerung einschloss, während andere Festteile wie die Hochzeit, das Turnier, die Theateraufführungen, die Bälle oder Bankette jeweils einem ausgewählten Kreis und damit einer anderen Öffentlichkeit vorbehalten waren, wodurch eine subtile Ausdifferenzierung und Distinktionsdynamik der Gemeinschaftserfahrung ins Werk gesetzt wurde. Was im Zuge dieser Entfaltung einer hohen Varietät visueller und theatraler Dispositive von Festinszenierungen generiert wird, sind darüber hinaus neue Visualisierungsformen einer zweiten Ordnung, wie sie vor allem im 17. Jahrhundert besonders mit graphischen Darstellungen von Festen entstehen, Darstellungen bei denen sich dokumentarische und fiktionale Ansprüche in vielfältiger Weise verbinden. 9 So stellen diese Graphiken mit dem Signum des Dokumentarischen vor Augen, wie die Feste in Abweichung vom faktischen Geschehen nach Wunsch der Organisatoren idealer Weise aussehen sollten, und sie überliefern der späteren Nachwelt als leibhaftiges Anschauungsbild das, was recht eigentlich als symbolische beziehungsweise politisch implizierte Bedeutung des Festereignisses verstanden oder imaginiert werden sollte. Fasst man diese Beispiele ins Auge und setzt sie in Bezug zu den durchaus heterogenen Voraussetzungen und Interessen des Publikums einerseits und zu ihren Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen andererseits, so kann man zu einer sozial und kulturell diversifizierten Analyse der jeweils vermittelten beziehungsweise rezipierten Leitvorstellungen und Wertebegriffe gelangen, und damit zu einer Skala, die diesbezüglich von der göttlichen Gerechtigkeit über politische und kommunale Ordnungsmodelle bis hin zur privaten Ethik reicht. 10 Und nicht zuletzt gehört in diesen Zusammenhang schließlich auch der Europa-Gedanke. Denn wurden die weitreichenden politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, die Europa im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts durchlebte, von den Zeitgenossen als Ausdruck einer Krise verstan- 8 Saslow, James M.: The Medici Wedding of 1589. Florentine Festival as Theatrum Mundi. New Haven 1996. 9 Zerner 2004, S. 93-94; Ausst.-Kat.: Stefano della Bella, ein Meister der Barockradierung. Hrsg. v. Mack-Andrick, J./ Schäfer, D. (Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, 4. 6.-21. 8. 2005). Karlsruhe 2005; Ausst.-Kat.: Theatrum Mundi: die Welt als Bühne. Hrsg. v. Küster, U. (Haus der Kunst, München, 24.5.-21. 9. 2003). Wolfratshausen 2003; Ternois, D. (Hrsg.): Jacques Callot (1592-1635). Actes du Colloque à Paris et à Nancy les 25, 26 et 27 juin 1992. Organisé par le Service Culturel du Musée du Louvre. Paris 1993. 10 Stollberg-Rilinger, B./ Weller, T. (Hrsg.): Wertekonflikte - Deutungskonflikte. Münster 2007. <?page no="225"?> einführung: zur visuellen und theatralen inszenierung 225 den, auf die sie mit Unsicherheit und mit Ängsten reagierten, so ist doch in dieser krisenhaften Phase der Geschichte Europas gleichzeitig auch eine Hochkonjunktur des Europa-Themas in der politischen Publizistik, Literatur, bildenden Kunst, aber auch in der Kartographie und anderen Bereichen zu konstatieren. 11 Allein in der bildenden Kunst findet sich in den verschiedenen europäischen Ländern im 16. und 17. Jahrhundert eine bis dahin ungekannte Fülle von Europa-Darstellungen, seien es mythologische Bilder der entführten Königstochter, seien es allegorische Repräsentationen des Erdteils, oder seien es kartographische Visualisierungen des Kontinents et cetera. 12 Wie zuletzt vor allem Wolfgang Schmale gezeigt hat, war der Europamythos aber auch Bestandteil zahlreicher frühneuzeitlicher Festprogramme; als charakteristisch erweist sich dabei, dass ein ikonografisch etablierter Darstellungsmodus, nämlich Europa in emblematischer Kürze (mit den Attributen von Szepter und Krone, Füllhorn, Waffen und Kirchenmodell sowie Symbolen für Wissenschaft und Kunst) zu repräsentieren, oftmals kombiniert wurde mit einem ganz anderen Modus, nämlich dem einer ausführlichen ‚Erzählung‘, in der typische ‚europäische‘ Eigenschaften mit einer Vielzahl von Allegorien etc. dem Publikum dargeboten werden. 13 Ein allegorischer Topos bei Fürstenhochzeiten ist die Vermählung Europas mit dem Fürsten, ein Bild, dessen Ableitung aus der Ovidschen Erzählung (vom Raub der Europa) sich offensichtlich als sinnfällig und eingängig für politische Hegemonialansprüche erwies. Aber auch für die politischen Ambitionen von Frauen, zum Beispiel den französischen Regentinnen, bot die Figur der Europa im Typus der Europa-Minerva vielfältige Identifikationspotentiale, die bei festlichen Inszenierungen genutzt wurden. Es war wohl vor allem die Vielzahl von Attributen der Personifikation Europas und die damit verbundene Varietät mehrschichtiger Bedeutungsebenen, die sich gerade bei Festen immer wieder für eine 11 Schmale, W.: Geschichte Europas. Wien 2000, bes. S. 72 ff.; s. a. Schulze, W.: „Europa in der Frühen Neuzeit - Begriffsgeschichtliche Befunde“. In: Duchhardt, H./ Kunz, A. (Hrsg.): ,Europäische Geschichte‘ als historiographisches Problem. Mainz 1997, S. 35-65. 12 Bußmann, K./ Werner, E. A.: Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder. Stuttgart 2004; Wintle, M.: Europe and the bull, Europe and European Studies. Amsterdam 2004 und die Ausstellungskataloge Mythos Europa. Europa und der Stier im Zeitalter der industriellen Zivilisation. Hrsg. v. Salzmann, S. (Kunsthalle Bremen, 29. 5.-7. 8. 1988) Bremen 1988; Il mito di Europa da fanciulla rapita a continente. Hrsg. v. Luchinat, C.A. (Galleria degli Uffizi, Florenz, 11. 6. 2002-6. 1. 2003). Florenz 2002; Plessen, M. L. v.: Idee Europa. Entwürfe zum Ewigen Frieden. Berlin 2003. 13 Schmale, W.: „Europa, Braut des Fürsten. Die politische Relevanz des Europamythos im 17. Jahrhundert“. In: Bußmann/ Werner 2004, S. 241-268. <?page no="226"?> 226 klaus krüger/ elke anna werner ausführliche, räumlich und zeitlich verteilte Inszenierung des Themas anbot. In der Festkultur der Frühen Neuzeit stand also ein breites Spektrum unterschiedlichster Ausdrucksformen zur Verfügung, mit denen das Selbstverständnis einer Gemeinschaft und ihre politischen Ansprüche und kulturellen Werte differenziert veranschaulicht werden konnten. Die Rezeption oder spezifische Ausprägung einzelner Elemente dieser Festkultur - wie Theater, Prozession oder Maskerade, Turnier, ephemere Architektur oder graphische Reproduktion - schufen Möglichkeiten der politischen Distinktion und der gesellschaftlichen Konstruktion von Gemeinschaft. Die folgenden Beiträge gehen aus unterschiedlicher Perspektive der Frage nach, wie diese multimedialen Inszenierungen als sinnliche, gemeinschaftlich erfahrbare und durch Festdokumentationen in textuellen oder visuellen Medien europaweit verbreiteten Ereignisse einen konkreten beziehungsweise imaginären Kommunikationsraum schufen, in dem Normen, Werte und Ordnungen im frühneuzeitlichen Europa verhandelt wurden. Der Beitrag „Fürstenbraut oder Opfer von Gewalt: Inszenierungen von Europa in der Frühen Neuzeit“ von Helen Watanabe-O’Kelly nimmt seinen Ausgang von unterschiedlichen Europa-Vorstellungen, die jedoch übereinstimmen in der integrierenden Vorstellung von Europa als Territorium und Frau zugleich. Auf besonders intensive Weise reflektiert wurde diese Auffassung von Europa im 17. Jahrhundert, als der Kontinent noch fließende Grenzen hatte und die Nationalstaaten sich gerade herauszubilden begannen. Dass die politischen Implikationen der Europa-Figur in Bezug auf den Standpunkt desjenigen, der über sie sprach, stark variieren konnten, zeigt Watanabe-O’Kelly exemplarisch anhand vier dramatischer Werke: Europe. Comédie héroique (1643) von Kardinal Richelieu und Jean Desmarets de Saint-Sorlin; Japeta, als deutsche Version des französischen Stücks aus dem gleichen Jahr von Georg Philipp Harsdörffer; Europe. Pastorale heroique, für den Hof in Celle von Samuel Chappuzeau 1689 geschrieben und The Rape of Europe by Jupiter von Pierre Antoine Motteux (London, 1694). In ihrem Beitrag zu den druckgraphischen Festdarstellungen des Florentiner Hofkünstlers Stefano della Bella und ihrer Rezeption am Wiener Hof kann Martina Papiro zeigen, dass die ästhetisch komplexen Radierungen nicht als bloße faktenorientierte Dokumentationen der aufwendigen Medici-Feste zu verstehen sind. Indem della Bella die Darstellung der vielfältigen Elemente des Festgeschehens einer spezifischen Bildordnung unterwirft, etwa einprägsamen ornamentalen Figurationen, deren Zentrum auf den Fürsten ausgerichtet ist, entwirft er mit visuellen Mitteln das Idealbild der höfischen Gesellschaftsordnung. Dass diese Visualisierungseinführung: <?page no="227"?> zur visuellen und theatralen inszenierung 227 strategie über den florentinischen Hof hinaus stilbildend wirkte, verdeutlicht Papiro mit Blick auf die Darstellungen des Wiener Hochzeitsfestes Kaiser Leopold I. von 1667. Elke Anna Werner beschäftigt sich mit dem Triumphzug und der Ehrenpforte Kaiser Maximilians I., die - neben einer jeweils gemalten Prachtfassung für das Kaiserhaus - in gedruckter Form publiziert und vor allem als Geschenke an die politische und gesellschaftliche Funktionselite des Reiches sowie an ausländische Höfe verteilt werden sollten. Bei diesen, unter der Beteiligung so prominenter Künstler wie Dürer, Burgkmair und Altdorfer sowie bedeutender Humanisten geschaffenen Werken handelt es sich nicht um Dokumentationen realer Ereignisse, sondern um fiktive Konstrukte, die auf das gemeinschaftsbildende Dispositiv der ephemeren Feste Bezug nehmen. Die monumentalen druckgraphischen Werke verstetigen nicht nur den Erfahrungshorizont realer Feste, indem sie deren Orts- und Zeitgebundenheit aufheben. Zugleich geht mit der medialen Verschiebung vom konkreten Geschehen hin zu den visuellen Artefakten eine thematische und semantische Verdichtung des ikonografischen Programms einher, mit dem Ziel, das „ewige Gedechtnus“ des Kaisers und seiner Dynastie so umfassend, dauerhaft und räumlich weitreichend wie möglich zu initiieren. Beschäftigen sich Martina Papiro und Elke Anna Werner mit der Frage nach der Demonstration fürstlicher beziehungsweise kaiserlicher Macht im Rahmen von Festen und Festdarstellungen, so geht es Christian Quaeitzsch in seinem Beitrag über die „Divertissements des Sonnenkönigs“ vor allem um deren Rezeption. An verschiedenen Beispielen gänzlich heterogener Reaktionen auf die prunkvolle Fest- und Theaterkultur Ludwigs XIV. in der ersten Hälfte seiner Regierungszeit kann Quaeitzsch zeigen, dass die Berichterstattung der verschiedenen Beobachter nicht in jedem Fall den Interessen des Königs unterlag. Ob die Feste als machtvolle Visualisierung absolutistischer Herrschaftsansprüche allgemein anerkannt wurden, ist - so Quaeitzsch - vor diesem Hintergrund in Frage zu stellen. Anknüpfend an die Fragestellungen der vorangegangenen Beiträge stellt Barbara Marx am Beispiel der Feste des Dresdner Hofs im 18. Jh. die absolutistische Verfügungsmacht des Herrschers über die Untertanen in der quasi-militärischen Formierung eines Gesellschaftskörpers im öffentlichen Raum dar. Darüber hinaus zeigt sie, wie sich der innere Kreis der höfischen Festgesellschaft im Innern der Festgebäude als Nukleus zivilisatorischer Selbstperfektionierung platziert, die sich um das königliche Zentrum von Innen nach Außen entfaltet. Die einzelnen Festgebäude werden dabei - Marx zufolge - im Bild selbst zu imaginären Räumen und Signaturen des Erhabenen, in denen sich die unsichtbare Macht verkörpert. <?page no="228"?> Fürstenbraut oder Opfer von Gewalt: Inszenierungen von Europa in der Frühen Neuzeit Helen Watanabe-O’Kelly (Oxford) Der Mythos von Europa erzählt die Geschichte einer Entführung und einer Vergewaltigung. 1 Jupiter sieht die schöne junge Europa, Tochter des phönizischen Königs Agenor, begehrt sie, tarnt sich als Stier und erscheint auf der Blumenwiese, wo sie mit ihren Kameradinnen spielt. Er nähert sich ihr allmählich und nimmt ihr die Furcht. Sie streichelt ihn, setzt sich auf seinen Rücken, worauf er ins Meer schreitet und sie nach Kreta entführt. Anschließend verwandelt sich der Gott in einen Mann, entjungfert und schwängert sie. Wie wird diese Geschichte von einer jungfräulichen und unschuldigen Frau, die von einem göttlichen und daher viel mächtigeren männlichen Wesen erobert wird, in der Frühen Neuzeit dargestellt und inszeniert? Im Mittelalter gelang es dem Benediktinermönch Petrus Berchorius in seinem Ovide moralisé, den Raub der Europa positiv auszulegen, indem er die Handlung allegorisch deutet. 2 Europa steht für die Seele, die von Gott geliebt wird, Jupiters Verwandlung in einen Stier und anschließend in einen Mann für die Menschwerdung Gottes. Berchorius interpretiert den Mythos zwar auch als moralische Allegorie und warnt die jungen Frauen vor ihrer angeborenen Sinnlichkeit. Ihm ist aber auch bewusst, dass es sich um eine Vergewaltigung handelt, wenn er ganz zum 1 Renger, A.-B.: „Europa“. In: Moog-Grünewald, M. (Hrsg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart/ Weimar 2008. S. 276-285. Die am weitesten verbreitete Version in der Frühen Neuzeit findet man in den Metamorphosen von Ovid (1/ 3-8 n. Chr. entstanden) am Ende des 2. und am Anfang des 3. Buches. Siehe auch Renger, A.-B. (Hrsg.): Mythos Europa. Texte von Ovid bis Heiner Müller. Leipzig 2003. 2 Petrus Berchorius (c. 1290-1362) wurde auch Pierre Berchoire/ Bercheure/ Bersuire genannt. Sein Ovide moralisé stammt aus den Jahren 1316-28. <?page no="229"?> fürstenbraut oder opfer von gewalt 229 Schluss einen Bogen zur Geschichte von Tamar im zweiten Buch Samuel schlägt, die von ihrem Halbbruder Amon vergewaltigt und anschließend verstoßen wird. In der Frühen Neuzeit setzte man Europa mit dem Erdteil gleich und imaginierte die Landkarte von diesem Kontinent als Frauenkörper. 34 Das erste bekannte Beispiel ist ein Holzschnitt aus dem Jahr 1537 von Johannes Putsch (1516-1542), Feldsekretär König Ferdinands I. Bekannter sind die Darstellung von Heinrich Bünting (1545-1606) 5 und die Europaallegorie, die ab 1588 in den Ausgaben von Sebastian Münsters Cosmographia erscheint. 6 Europa ist also Territorium und Frau zugleich, kann begehrt, besiegt und beherrscht werden, so dass es nahe liegt, sie als Fürstenbraut zu imaginieren. Als solche läuft sie wiederum Gefahr, vergewaltigt zu werden. Während des Dreißigjährigen Kriegs wird sie dann als geschundenes und lamentierendes Weib geschildert, etwa auf dem Einblattdruck Europa Querula et vulnerata von Andreas Bretschneider mit einem Gedicht von Elias Rüdel. 7 (Abb. 18) Das Bild zeigt eine bedrängte und verzweifelte Frau, die, von bösen Männern bedroht, nach einem Retter schreit. 8 In anderen Bildern erscheint Europa als mächtige Königin, die 3 Bußmann, K./ Werner, E. A. (Hrsg.): Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder. Stuttgart 2004. 4 Zum umstrittenen Begriff Erdteil oder Kontinent siehe Lewis, M./ Wigen, K. E.: The Myth of Continents. A Critique of Metageography. Berkeley/ Los Angeles 1997. Zur „Europa-Imago“ siehe Schmale, W.: „Europäische Identität und Europaikonografie im 17. Jahrhundert“. In: Schmale, u. a.: Studien zur europäischen Identität im 17. Jahrhundert. Bochum 2004, S. 73-115. Werner, E. A.: Triumphierende Europa - Klagende Europa. Zur visuellen Konstruktion europäischer Selbstbilder in der Frühen Neuzeit. In: Renger, A.-B./ Ißler, R. (Hrsg.): Europa - Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverbund. Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst. Göttingen/ Bonn 2009. Bd. 1, S. 241-260. 5 Bünting, H.: Itinerarium sacrae scripturae, das ist ein Reisebuch, uber die gantze heilige Schrifft/ in zwei Bücher getheilt […]. Helmstedt 1582. 6 Münster, S.: Cosmographey Oder beschreibung Aller Länder, herrschafftenn vnd fürnemesten Stetten des gantzen Erdbodens: sampt jhren Gelegenheiten, Eygenschafften, Religion, Gebreuchen, Geschichten vnnd Handthierungen, [et]c. Jetzt aber mit allerley Gedechtnuswirdigen Sachen biß in das M.D.LXXXVIII. gemehret, mit newen Landtafeln … so vber die alten herzukommen, gezieret. Basel 1588. 7 Bretschneider, A./ Rüdel, E.: Europa Querula et vulnerata. Das ist/ Klage der Europen/ so an ihren Gliedern vnd gantzem Leibe verletzet/ und verwundet ist/ und nunmehr Trost und Hülffe begehret. Kupferstich. 1631. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. 8 Andere Beispiele für diesen Typus sind: Peter Paul Rubens: Die Folgen des Kriegs 1637/ 8. Florenz Palazzo Pitti, und Pieter Valckenier: Das verwirrte Europa. Amsterdam 1677. <?page no="230"?> 230 helen watanabe-o’kelly als Verkörperung der respublica christiana, als Inbegriff von Kultur, 9 zur Vorherrschaft über die anderen Erdteile prädestiniert ist. 10 Auch in der Festkultur der Frühen Neuzeit, bei höfischen Festen und Balletten, findet die Gestalt der Europa immer wieder Verwendung. Bei fürstlichen Einzügen, Hochzeitsfesten und anderen Feierlichkeiten, vor allem auf Triumphbögen, erscheint Europa als Königin oder als Fürstenbraut. Sie steht entweder für den Sieg der Europäer über die Türken oder sie deutet an, dass der Veranstalter des Festes sich als Beschützer oder Herrscher Europas versteht. Solche Europa-Darstellungen findet man beim Einzug Philipps II. in Antwerpen 1549, bei der Hochzeit Karls II. von Innerösterreich mit Maria von Bayern 1571, beim Einzug der Elisabeth von Österreich als Braut Karls IX. von Frankreich in Paris im selben Jahr, bei der Feier für den Sieg in der Seeschlacht bei Lepanto in Venedig 1572, bei der Hochzeit von Francesco I. de’ Medici und Bianca Cappello in Florenz 1579, bei der Trauerfeier für Philipp III. In Mailand 1621 und beim Einzug des englischen Königs Wilhelms III. in Den Haag 1691. Wenn Europa als Bühnenfigur im Ballett erscheint, ist dies meist als Hinweis auf die internationale Bedeutung des jeweiligen Territoriums zu verstehen. Dies ist zum Beispiel der Fall in drei Dresdner Balletten aus dem 17. Jahrhundert. In David Schirmers Ballet des Atlas, aufgeführt 1655 anlässlich des doppelten Geburtstags von Johann Georg I. von Sachsen (1585-1656) und Georg von Hessen (1605-1661), wird gezeigt, dass Sachsen und Hessen zu Europa gehören und dass diese „Mutter der Helden“ über die anderen Erdteile herrscht. 11 Ein anderes Dresdner Ballett wurde 1668 unter dem gleichen Titel zur Taufe von Johann Georg IV. von Sachsen aufgeführt. 12 Es verherrlicht Europa, deren Haupt Germanien ist, und 9 Zum Beispiel auf den vier Erdteil-Allegorien von Jan van Kessel dem Älteren (1626-1679) in der Alten Pinakothek in München. 10 Siehe das Projekt „Europabegriffe und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert an der Universität Wien“ geleitet von Wolfgang Schmale, bei dem zahlreiche einschlägige Quellen untersucht und beschrieben wurden. http: / / www.univie.ac.at/ igl.geschichte/ europaquellen [Zugriff: 15. 8. 2011]. 11 Schirmer, D.: Entwurf Derer Chur- und Hoch-Fürstlichen Ergetzlichkeiten Welche an Denen Chur- und Hoch-Fürstlichen Ein- und Zusammenkunften Bey gleich mit eingefallenen höchstgewüntscheten … Herrn Johann Georgens/ Hertzogens zu Sachsen … ChurFürstens Vnd auch … Herrn Georgens/ LandGrafens zu Hessen … Geburts-Tagen … auf dem ChurFürstl. Schlosse zu Dreßden sind vorstellig gemachet/ ietzung aber … zusammen getragen/ und zum andern mal heraus gegeben worden. Dresden 1655. http: / / diglib.hab.de/ wdb.php? dir=drucke/ 238-4quod-4 [Zugriff: 10. 11. 2011]. 12 Cartel zu dem Ballet des Atlas von den vier Theilen der Welt. Welches Die Durchleuchtigste Fürstin und Frau/ Frau Anna Sophia, gebohrne Erb=Printzessin/ der Königreiche Dennemarck/ Norwegen &c. Vermählete Chur=Printzessin und Hertzogin zu Sachsen … Bey Dero Chur=Printzeßlichen Durchleuchtigkeit am <?page no="231"?> fürstenbraut oder opfer von gewalt 231 feiert Sachsen als Heimat von Germaniens Helden. In einem unbetitelten Ballett, das von Kurfürst Johann Georg III. und seiner Gemahlin Anna Sophia 1672 bei der sogenannten Fürstlichen Zusammenkunft in Dresden getanzt wurde, huldigt Europa, dargestellt von sechs Spaniern, „dem grosse[n] Sachsen-Held[en]“. 13 Das Ballet de la Paix, aufgeführt 1660 in Wolfenbüttel anlässlich des Besuchs von M. De Gravel, Botschafter der französischen Königin Mutter Anne d’Autriche, ist noch präziser auf die zeitgenössische europäische Politik bezogen. 14 Anne d’Autriche war die Patentante der kleinen Prinzessin Anna von Braunschweig-Lüneburg, die das Jahr zuvor, am 20. Oktober 1659, getauft worden war. Das Ballett feiert den Frieden, der durch die im gleichen Jahr geschlossene Heirat zwischen Ludwig XIV. und Maria Theresia von Spanien gewährleistet ist. Europa begrüßt diese Hochzeit ausdrücklich und preist das goldene Zeitalter, das jetzt angebrochen sei. In diesen Balletten an lutherischen deutschen Höfen ist Europa die respekteinflößende Verkörperung des Erdteils. Ganz anders beim Ballet Royal de la Naissance de Venus, das 1665 in Paris von Ludwig XIV. getanzt wurde. Dieses Werk kommt wieder auf den Raub und die Eroberung Europas zurück und streicht die erotische Komponente heraus: „Jupiter amoureux d’Europe/ Sous diuerse forme enuelope/ Sa coquete Diuinité/ Et pour tacher de plaire à la jeune Beauté/ Il 18. Octobr. 1668 neulichst gebohrnen und geliebten Jungen Printzens Herrn Johann Georgens des Vierdten/ dem 2. Hornungs=Tag in Dreßden angestelleter Hoch=Fürstlichen Einsegnung denen Keyser=Königl. Chur= und Hoch=Fürstl. Durcheuchtigkeiten und hochansehnlichen Anwesenden Herren Abgesandten und Gästen zu annehmlicher Ergetzlichkeit den 21. gedachten Hornungs 1669. Auf den Riesen-Saale/ in der Chur-Fürstl. Burg zu Dreßden vorstellig machen liesse. Gedruckt durch Melchior Bergens/ Churf. S. Hof-Buchdr. Sel. Witwe und Erben. 13 Cartel zum Ballete. Welches Der Durchlauchtigste Hochgebohrne Fürst und Herr Hr. Johann George der Dritte/ Chur=Printz/ und Hertzog zu Sachsen Jülich/ Cleve/ und Bergk/ etc. Benebenst Dessen Hertzvielgeliebtesten Gemahlin/ Ihre Hoheiten. Der Durchlauchtigsten Fürstin und Frauen/ Fr. Annen Sophien Gebohrner Erb=Prinzeßin der Köngigreiche Dennemarck und Norwegen etc. Hertzogein zu Sachsen/ Jülich/ Cleve und Berg. Etc. Denen Anwesenden Chur= und Hoch=Fürstlichen Durchlauchtigkeiten zu Sachsen etc. Zu sonderbahren Ehren und angenehmer Ergetzung in dem Chur=-Fürstl. Schlosse auff dem Riesen=Saale daselbst den 11. Februarii Anno 1672. Vorgestellet zu Dresden. Gedruckt durch Melchior Bergens/ Churfl. Sächs. Hof= Buchdr. Sel. Nachgelassene Witwe und Erben. 14 Ballet De La Paix: Representant sa douceur contre les incommodites de la gverre; Dansé l’an 1660. Pour l’arriveé de Mons. De Gravel, Consr. de sa Majeste tres Chrestienne en ses Conseils d’Estat & privé, son Deputé aux Estats de l’Empire assembleés à Francfort & Commissaire General de ses Armeès, Ambassadeur Extraordinaire de sa Majesté la Royne Mere, pour confirmer le nom de Baptesme à la Princesse Anne De Brounsvig & Lunebourg, Laqvelle nosquit le 29. Octobr. 1659 dans lâ Residence ducale de Wolfenbüttel [Wolffenbüttel] 1660. http: / / diglib.hab. de/ drucke/ textb-57/ start.htm [Zugriff: 15. 8. 2011]. <?page no="232"?> 232 helen watanabe-o’kelly en entreprend la conqueste/ Comme un Dieu, comme un Homme, & puit/ Comme une Beste“. 15 Das Augenzwinkern der Hofgesellschaft kann man sich vorstellen. Vier sehr verschiedene Bühnenwerke, die sich ausführlicher mit dem Thema Europa beschäftigen, verwenden die gerade geschilderten Deutungsmöglichkeiten, aber jeweils mit einer anderen Orientierung. Während zwei Werke Europa als Fürstenbraut präsentieren und das dritte sich enger an dem Mythos hält, stellt das vierte den Raub von Europa tatsächlich als Vergewaltigungsdrama dar. Die Reihe beginnt mit dem allegorischen Drama Europe. Comédie héroique (1643) von Kardinal Richelieu und Jean Desmarets de Saint-Sorlin. 16 Sylvie Taussig ist der Auffassung, dass es in der Konzeption auf Kardinal Armand du Plessis, duc de Richelieu (1585-1642), zurückgeht, auch wenn Jean Desmarets de Saint- Sorlin (1595-1676), einer der Gründer der Académie Française und enger Mitarbeiter von Richelieu, dem Stück seine endgültige Form gegeben hat. Taussig zitiert verschiedene Belege aus zeitgenössischen Briefen und Memoiren, die auf die geistige Urheberschaft Richelieus hindeuten. Dagegen betrachtet Rolf Felbinger Desmarets als alleinigen Verfasser. 17 Richelieu, der die Außenpolitik Frankreichs bestimmt und lenkt, konzipiert somit ein Werk (oder gibt es zumindest in Auftrag), das Frankreichs Außenpolitik darstellt und rechtfertigt. Er selber hat die Uraufführung nicht mehr erlebt. Angesichts seiner schweren Krankheit wurde das Stück am 18. November 1642 nur vorgelesen; der Kardinal starb am 4. Dezember. Das Stück wurde 1643 gedruckt, erlebte im gleichen Jahr zwei weitere Drucke und einen Raubdruck und wurde 1661 noch einmal aufgelegt. 18 Das Drama stellt die Außenpolitik Frankreichs in einer Allegorie zum Thema Europa als Fürstenbraut dar. (Abb. 19) Ibère (Spanien) ist ein skrupelloser Bösewicht, was auf dem Frontispiz an seiner übertrieben modischen Kleidung und an den Ketten ersichtlich ist, die er für Europa 15 Le Ballet Royal de la Naissance de Venus, Paris 1665. S. 36. „Jupiter, verliebt in Europa, tarnt seine liebeslüsterne Gottheit unter den verschiedensten Formen und, um der jungen Schönheit zu gefallen, unternimmt er ihre Eroberung wie ein Gott, wie ein Mann, und schließlich wie ein Tier.“ 16 Taussig, S. (Hrsg.): Europe. Comedie Heroïque/ attribuée à Armand du Plessis, Cardinal de Richelieu et Jean Desmarets, Sieur de Saint-Sorlin. Mit einer Einleitung von Sylvie Taussig. Turnhout 2006; siehe auch: Zittel, C./ Taussig, S.: Französischdeutsche kommentierte Parallel-Edition von Europe Comédie héroïque, attribuée à Armand du Plessis, cardinal de Richelieu et Jean Desmarets sieur de Saint- Sorlin und der Übersetzung Georg Philipp Harsdörffers Japeta, Turnhout 2009. 17 Felbinger, R.: „Jean Desmarets de Saint-Sorlin [1643]“. In: http: / / www.univie. ac.at/ igl.geschichte/ europaquellen/ quellen17/ desmaretsdesaint-sorlin1643.htm [Zugriff: 10. 11. 2011]. 18 Siehe Taussig 2006, S. 59. <?page no="233"?> fürstenbraut oder opfer von gewalt 233 bereithält. Er will sich der schönen Prinzessin Europa bemächtigen, die sich seiner erwehrt. Dass sie die christianitas verkörpert, erkennt man an dem Kreuz auf ihrer Krone. Ibère bittet seinen Vetter Germanique um Hilfe und Beistand. Germanique ist durch den Doppeladler auf seinem Kopf sowie durch seinen langen Bart als Deutschland kenntlich. Europas Verbündete ist Ausonie (Italien, die im Bild hinter ihr steht). Austrasie (Lothringen), die im Vordergrund neben Ibère kniet, ist wankelmütig und verräterisch und wechselt ständig die Seiten. Sie ist nach Ibère die Figur im Stück, die am negativsten erscheint. Ibère versucht, Europa durch List zu erobern, er entpuppt sich als skrupellos, intrigant und lasterhaft. Europa wird dann glücklicherweise von dem noblen Ritter Francion (Frankreich) gerettet. Bei dem Stück handelt es sich um ein drame à clef, und die Bezüge auf konkrete politisch-historische Ereignisse zwischen 1626 und 1642 werden in der Druckfassung entschlüsselt. Francion ist Ludwig XIII., Germanique ist Ferdinand II., die wankelmütige Austrasie ist Karl IV. von Lothringen, der permanent zwischen Spanien und Frankreich taktierte. Der Erbfolgestreit im Herzogtum Mantua ist ein zentraler Konflikt, auf den das Drama verschlüsselt hinweist, aber im Großen und Ganzen geht es darum, Frankreichs Handeln im Dreißigjährigen Krieg und sein Ringen um die Vorherrschaft in Europa zu rechtfertigen. Frankreichs Außenpolitik wird glorifiziert und Spanien als Tyrann entlarvt - dies alles, bevor die Schlacht von Rocroi im Mai 1643 die Rivalität zwischen den Großmächten zu Gunsten Frankreichs entschied Die politische Allegorie ist jedoch nur eine Ebene des Dramas. Das Stück ist vordergründig ein Liebesdrama, in dem es um den tugendhaften Umgang mit der Leidenschaft, um die wahre gottgewollte Liebe und um moralisches Handeln überhaupt geht. Ibère verkörpert die ungezügelte Leidenschaft, die andere Laster mit sich bringt - Lüge, Habgier, Rache, Zorn. Ibère kennt keine Skrupel, belügt und betrügt alle, und wenn ihm dies nicht genügt, wendet er Gewalt an. Europa hingegen verkörpert jungfräuliche Keuschheit. Sie möchte ledig bleiben - „je suis & serai libre“, 19 sagt sie, denn sie steht auch für die stoische Herrschaft über die Leidenschaft: „Et je vis sans désir, comme je vis sans crainte“. 20 Sie möchte keinen Liebhaber und auch keinen Ehemann haben, sondern einen ritterlichen Beschützer - „un chevalier“, 21 und diesen Ritter findet sie in Francion. Während Ibère das ganze Arsenal der petrarkischen Liebeslyrik anwen- 19 Ebd., S. 204. „Ich bin und bleibe frei.“ 20 Ebd., S. 203. „Ich lebe ohne Begierde, so wie ich ohne Furcht lebe.“ 21 Ebd., S. 208. „Ein Ritter“. <?page no="234"?> 234 helen watanabe-o’kelly det, beschreibt Francion seine Liebe in neuplatonischen Tönen. Irdische Liebe ist eine Stufe auf dem Weg zu Gott, und nur durch das Zügeln der irdischen Leidenschaft kann man zur wahren Liebe gelangen. Während Francion und Europa sich durch Beständigkeit, die wichtigste Tugend der Frühen Neuzeit, auszeichnen, schließt sich Austrasie - Lothringen - immer demjenigen an, der zuletzt mit ihr redet. Der weitere Kontext für das Drama ist der schreckliche europäische Krieg, der von der Figur des Friedens am Anfang beklagt wird. Am Ende des Stücks wird durch Europas Großmut tatsächlich Frieden geschlossen. Europa bleibt ledig, aber alle haben Platz in ihrem Herzen, auch Ibère, wenn er sich bessert: Je vous aimerai tous: vous etes tous mon sang. Ibère l’est aussi: s’il étouffe sa flame Je lui réserve encore une place en mon ame. 22 Europa verkörpert Versöhnung, moralische Stärke und Großmut, alles wichtige stoische Tugenden. Georg Philipp Harsdörffer nennt seine im Großen und Ganzen werkgetreue Übersetzung dieses Stücks Japeta. 23 (Abb. 20) Der Name Japeta bezieht sich auf Jafet, den Sohn Noahs, von dem die Europäer angeblich abstammen, und das Frontispiz stellt den Bezug zum Europa-Mythos her. Harsdörffer behält beide Ebenen des Dramas - die politische und die moralische - bei, die politische ist bei ihm aber viel allgemeiner gehalten. Schließlich ist Harsdörffer nicht daran interessiert, Frankreich zu verherrlichen. In der dritten Szene des vierten Aktes hält Europa zum Beispiel eine Rede, 24 die im französischen Originaltext auf Gustav Adolf Bernhard von Sachsen-Weimar und Heinrich von Nassau bezogen ist, und in der die französischen Bündnisse mit den Protestanten gelobt und gerechtfertigt werden. Die entsprechende Rede in der deutschen Übersetzung bezieht sich dagegen lediglich auf allgemeine Tugenden; zitiert werden Aristoteles, Seneca und Epiktet. Wenn die französische Vorlage vom „grand Roi“ spricht, ist Gustav Adolf gemeint. An der gleichen Stelle spricht die deutsche Übersetzung vom „bernfeste[n] Mann“ und meint Seneca. 25 Die Aufschlüsselung der Personen verdeutlicht den Unterschied zwischen beiden Werken. 22 Ebd., S. 297. „Ich liebe euch alle: Ihr seid alle von meinem Blut. Ibère ist es auch. Wenn er seine Begierde dämpft, dann behalte ich noch einen Platz für ihn in meinem Herzen.“ 23 Harsdörffer, G. P.: Japeta. Das ist Ein Heldengedicht: gesungen Jn dem Holsteinischen Parnasso Durch Die Musam Calliope. [Nürnberg] 1643. 24 Ebd., S. 261-262. 25 Ebd., S. 53. <?page no="235"?> fürstenbraut oder opfer von gewalt 235 Japeta Europe. Comédie heroique Der Friede Tranquillitas animi La Paix Japeta Conscientia Hominis Christiani Europe = Europa Liliwert Virtus Francion = Frankreich Italmund Intellectus Ausonie = Italien Austerwig Voluntas Austrasie = Lothringen Iberich Vitium Ibère = Spanien Adelmann Felicitas Germanique = Deutschland Meilburg Pravi affectus animi Mélanie = Mailand Neapolonia Voluptates Corporis Parthénope = Neapel Parison Meditatio Lilian = Paris Hisbald Juvenilis vigor Hispale = Sevilla Indem Harsdörffer die politische Allegorie zu Gunsten der moralischen zurückstellt, steht sein Drama einem didaktischen Bühnenwerk wie Cardenio und Celinde (1661) von Andreas Gryphius näher als einem politischen Stück. Typisch dafür ist Harsdörffers einleitendes Sonett, das sich auf den Europa-Mythos bezieht und daraus eine stoische Lehre ableitet. Das Sonett betont die Bedeutung, die der Beherrschung der Leidenschaften zukommt, denn wer seinen Körper nicht im Griff hat, sinke auf das Niveau eines Tieres herab. Jupiter wird als negatives Beispiel angeführt: Europa fande sich ans Meeres Muschel Sand/ Da/ als ein weisser Ochs sich gleich zu ihr gesellet/ (in dem sich Jupiter auß Liebesbrunst verstellet/ ) Den kühn betastete die wunderzarte Hand; So/ daß der Donner Gott ins Meeres Flut entbrand/ und als Neptun sein Reich mit Wogen auffgeschwellet/ Trug Er Sie schwimmend fort/ und bald am Strande fellet; Erzeugend auch mit ihr den Richter Rhadamant. Entdeck/ was der Poët in der Geschicht verdeckt? Wann deß Gewissens Schrein die bösen Lüste drucken/ (daß unter feinem Schein/ die Laster sind versteckt) So macht der Mensch sich gleich eim stössig-thumen Thier/ Das mit Gewalt und Grimm eilt alles zu berucken. Dann ruht deß Richters Rach am ehisten für der Thür! Im gedruckten Text bekräftigt Harsdörffer die moralische Botschaft des Dramas durch lateinische Sentenzen, die als Randglossen im Abstand von wenigen Zeilen erscheinen. <?page no="236"?> 236 helen watanabe-o’kelly Das dritte hier zu nennende Stück ist Europe. Pastorale heroique, das 1689 von dem Huguenotten Samuel Chappuzeau (1625-1701) für den Hof von Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg in Celle geschrieben wurde. 26 Europe. Pastorale heroique ist eigentlich eine Oper mit 31 Mitwirkenden - Schauspielern, Tänzern und Sängern. Sie wurde im Januar 1689 aufgeführt, höchstwahrscheinlich zum Geburtstag des Herzogs am 16. des Monats. Europe fängt mit einem Prolog an, in dem „La Gloire“ und „Le Plaisir“ dem Gott Mars versichern, dass die Helden ihm in den Krieg folgen werden, sobald der Frühling kommt. Dann beginnt das eigentliche „heroische Schäferspiel“, dessen Handlung sich explizit auf Ovids Metamorphosen bezieht. Die drei Akte entsprechen den drei Phasen der Handlung. Im ersten Akt bekundet Jupiter seine Liebe zu Europa und bespricht mit Merkur seinen listigen Plan, sie zu erobern. Im zweiten Akt trifft sich Europa mit ihren Gespielinnen und mit zwei Prinzen, die um sie werben, bis der Stier erscheint, ihr jede Furcht nimmt und sie schließlich entführt. In diesem Akt gibt es eine Reihe von unterhaltsamen, teilweise komischen Balletteinlagen. Im dritten Akt beklagt Europas Vater Agenor den Verlust seiner geliebten Tochter, opfert Apollo, der dann auch auf der Bühne erscheint. Europas Bruder Cadmus, begleitet von seinen Truppen, tritt auf und wird von seinem Vater ausgesandt, um seine Schwester zu finden. Eine konventionelle Darstellung, könnte man meinen. Das Stück gewinnt an Brisanz, wenn man den weiteren Kontext beachtet. In seiner Inhaltsangabe nimmt Chappuzeau explizit Bezug auf die politischen Verhältnisse seiner Zeit. 1688 und 1689 waren sehr bewegte Jahre in der europäischen Politik - genannt seien hier nur die große Allianz gegen Frankreich und die „Glorious Revolution“ in Großbritannien als Ereignisse, die auch das Haus Braunschweig-Lüneburg tangierten. 1689 war auch ein großes Jahre für Herzog Georg Wilhelm, denn es war ihm gerade gelungen, das Herzogtum Sachsen-Lauenburg zu übernehmen. Der Held Cadmus, der in einer gerechten Sache in den Krieg zieht, verherrlicht auch Georg Wilhelm als Krieger. Nur ein Werk aus dem 17. Jahrhundert setzt sich mit der Geschichte vom Raub der Europa als Vergewaltigungsdrama und mit dem Thema patriarchaler Gewalt explizit auseinander: 27 The Rape of Europe by Jupiter, 26 Chappuzeau, S.: Europe, Pastorale Heroique, Ornée de Musique, de Dances, de Machines, & de Changemens de Theâtre: & Representée Au Château de Cell … Le […] de Januier M.DC.LXXXIX. Celle 1689. 27 Wolfgang Schmale vertritt in Anlehnung an eine Monografie von Danielle Haase- Dubosc die Meinung, der Frauenraub habe im Frankreich des 17. Jahrhunderts „eine höchst positive Behandlung“ erfahren, weil er eine „bewundernswerte Normüberschreitung, wahre Liebe und Sex außerhalb der gesellschaftlichen <?page no="237"?> fürstenbraut oder opfer von gewalt 237 verfasst von einem anderen im Exil lebenden Hugenotten, Pierre Antoine Motteux (1663-1718), oder, wie er in England genannt wurde, Peter Anthony Motteux. 28 1694 schrieb er diese „masque“ zur Musik von John Eccles für die Theatertruppe von Thomas Betterton in seinem neuen Spielort in Lincoln’s Inn Fields. Die berühmte Anne Bracegirdle (1671-1748) spielte die Europa. The Rape of Europe wurde als 25minütiges Zwischenspiel in der Tragödie Valentinian des Earl of Rochester konzipiert, einer neuen Fassung eines älteren Theaterstücks von John Fletcher. In Valentinian entführt und vergewaltigt der lasterhafte römische Kaiser Valentinian III. die keusche Ehefrau Lucina. Durch einen Trick lockt er sie in seinen Palast, und um ihre Schreie zu übertönen, lässt er von seinen Spielleuten ein Drama proben. Er sagt: If by chance odd Noises should be heard, As women’s Shrieks or so: say ’tis a Play Is practising within. Sein Diener Lycinius erwidert zynisch: „The Rape of Lucrece, or some such merry Prank“. 29 Lycinius kommentiert zwei Seiten später mit noch stärkerem Zynismus: Bless me! The loud Shrieks and horrid Outcries Of the poor Lady! Ravishing d’ye call it? She roars as if she were upon the Rack! ’Tis strange there should be such a Difference Zwangsnormen“ darstellte (in seinem Aufsatz: „Europa. Braut der Fürsten. Die politische Relevanz des Europamythos im 17. Jahrhundert“. Bußmann/ Werner 2004, S. 241-269, hier 241); de Munck, B.: „Free Choice, Modern Love, and Dependence: Marriage of Minors and Rapt de Séduction in the Austrian Netherlands“. In: Journal of Family History 2004 (29), S. 183-205, bestreitet diese Interpretation zumindest für die Niederlande. In einem anderen Aufsatz in Studien zur europäischen Identität im 17. Jahrhundert (siehe Anm. 4) merkt Schmale an, dass „viele Darstellungen Europa keineswegs als Opfer der List, sondern als Konsentierende“ zeigen (S. 95). Dass die Darstellenden durchweg Männer sind und dass dies eine Imagination von Männern ist, bleibt dabei unberücksichtigt. 28 Motteux, P. A.: The Rape of Europa by Jupiter (1694) and Acis and Galatea (1701). Introduction by Lucyle Hook. Los Angeles 1981. See Hume, R. D.: „The politics of opera in late seventeenth-century London“. In: Cambridge Opera Journal 10 (1998), S. 15-43. 29 The Works of John Earl of Rochester. Containing Poems, on Several Occasions: His Lordship’s Letters to Mr Savil and Mrs * *, With Valentinian, a Tragedy. Never before Publish’d together. London: Printed for Jacob Tonson, at Shakespeare’s Head over-against Katherine-street in the Strand 1714, S. 261. „Wenn vielleicht seltsame Geräusche vernehmbar sind, wie Schreie von Frauen oder Ähnliches, sagen Sie: man probt drinnen ein Theaterstück.“ Lycinius: „Die Vergewaltigung der Lucretia oder einen vergleichbar lustigen Schwank“. <?page no="238"?> 238 helen watanabe-o’kelly Betwixt half Ravishing, which most women love, And thorough Force, which takes away all Blame; And should be therefore welcome to the Virtuous. 30 Frauen möchten „halb“ vergewaltigt werden - so Lycinius - aber wenn sie tugendhaft sind, sollten sie lieber ganz vergewaltigt werden wollen, denn dann tragen sie keine Schuld. Nach der Vergewaltigung fühlt sich Lucina so sehr entehrt, dass sie - wie die Lucretia - Selbstmord begeht. Valentinians Soldaten sind über die Schändung der Lucina und über das wüste Leben ihres Herrn so entrüstet, dass sie ihn ermorden. Lucinas Vergewaltigung wird nicht auf der Bühne gezeigt, aber Motteux’ Darstellung der Entführung und Vergewaltigung von Europa füllt die Zeitlücke, die der Kaiser in Rochesters Stück für seine Greueltat braucht. Auch Europa wird von einem Mächtigen entführt, auch sie schreit um Hilfe, auch sie ist machtlos. In Motteux’ Text singt sie: Eur. Is there no succour, help, are Gods too grown Ravishers, help help, oh Heavens is there’s none. The Scene changes to a Bower, and discovers Jupiter and Europa, her Hair loose about her, as just Ravish’d. Eur. Undone Europa by a God undone; Is then Astrea fled from Heaven, Oh whether is the Goddess driven? To the Infernal Cave she’s gone. Confusion, Horror, Death, all come, For in my Ravisht Breast for you is room: Who’s there? Ha! ‘tis my Ravisher! Oh let me fly the hated God. I feel I go To Shades below, My Last aboad. 31 30 Valentinian, S. 263. „Um Gottes Willen! Die lauten Schreie und entsetzlichen Rufe der armen Dame! Vergewaltigung nennen Sie das? Sie schreit, als ob sie auf der Folterbank wäre! Es ist komisch, dass es einen solchen Unterschied gibt zwischen halb vergewaltigen, was die meisten Frauen lieben, und gründlicher Gewalt, die alle Schuld wegnimmt und die deshalb den Tugendhaften willkommen sein sollte.“ 31 Motteux 1981, S. 7. „Eur. Gibt es keinen Beistand, keine Hilfe, sind die Götter auch Vergewaltiger geworden, Hilfe, Hilfe, o Himmel, es gibt keine. Die Szene verwandelt sich in eine Laube, und zeigt Jupiter und Europa mit gelösten Haaren wie gerade vergewaltigt. Eur. Ruiniert, Europa durch einen Gott ruiniert. Ist Astrea aus dem Himmel entflohen, oh wohin hat man die Göttin weggeschickt? Zum Höllenschlund ist sie gegangen. Verwirrung, Entsetzen, Tod, kommt. Für euch ist in meinem Busen Platz. Wer ist da? Ha, es ist mein Vergewaltiger! O lass mich vor dem gehassten Gott fliehen. Mir ist, als ob ich in das Schattenreich gehe, meinen letzten Aufenthalt.“ <?page no="239"?> fürstenbraut oder opfer von gewalt 239 Zum Trost setzt Jupiter sie als Stern in den Himmel. Vielleicht sollte dies das Entsetzen des Publikums über die Gewalttat in der Haupthandlung besänftigen. Schon am Anfang seines Stücks hatte Motteux die Machtlosigkeit von Europa gegenüber der männlichen Gewalt gezeigt, denn das Stück fängt damit an, dass ihr Vater Agenor sie zu einer Heirat zwingen will, in die sie nicht einwilligt. Als Magd der Diana will sie keusch bleiben. „In vain was her Aversion, for he strictly commanded her to prepare her self for the performance of his will.“ 32 Sie möchte lieber sterben, als in diese unerwünschte Heirat einzuwilligen, bekommt schließlich die Erlaubnis, mit ihren Kameradinnen auf die blumenübersäte Wiese zu gehen. Dort wird sie Opfer einer anderen, noch schlimmeren männlichen Gewalt. Begehren, listige Annäherung, betrogene Unschuld, Verführung, Entführung, ungleiche Machtverhältnisse und Angst charakterisieren den antiken Mythos von Europa ebenso wie das Stück von Motteux. Trotz der vielen harmloseren Abwandlungen des Motivs in der Frühen Neuzeit wurde diese ursprüngliche Bedeutung offensichtlich nie ganz vergessen. 32 Ebd., „Argument“, ohne Seitenangabe. „Vergeblich war ihre Abneigung, weil er ihr strengstens geboten hat, sich zur Ausführung seines Willens vorzubereiten. <?page no="240"?> Mediale Entgrenzungen. Visuelle Strategien performativer Teilhabe bei der Ehrenpforte und dem Triumphzug Kaiser Maximilians I. Elke Anna Werner (Berlin) In der frühneuzeitlichen Festkultur Europas ist der Prozess einer dynamischen Steigerung zu beobachten, da in dieser Epoche nicht nur die Zahl der Feste und ihrer Teilnehmer signifikant stieg, sondern auch die Erscheinungsformen dieser komplex konfigurierten, multimedialen und performativen Gebilde zunehmend elaborierter wurden. 1 Begleitet, unterstützt und verstärkt wurden diese Veränderungen durch die „Medienrevolution“ des Buch- und Bilddrucks, die die Organisation und Verbreitung gesellschaftlichen Wissens auf eine neue Basis stellte sowie die damit verbundenen Kommunikationsstrukturen grundlegend änderte. 2 Kaiser Maximilian I. (1459-1519) kann als der erste europäische Herrscher gelten, der die mit dem neuen Medium verbundenen kommunikativen Strukturen und Optionen gezielt für seine herrscherliche Repräsentation nutzte. Um die oft großen zeitlichen Abstände von öffentlichen politischen Versammlungen bei Reichstagen, Visitationen und nicht zuletzt bei Festen, die immer zugleich auch Gelegenheiten feierlichen Gemeinschaftshandelns boten, medial zu überbrücken, war es Maximilian offensichtlich ein besonderes Anliegen, mit publizistischen Mitteln vielerorts und dauerhaft präsent zu sein. 3 So ging er nicht nur dazu über, seine 1 Mulryne, J. R./ Goldring, E. (Hrsg.): Court Festivals of the European Renaissance. Art, Politics and Performance. Aldershot 2002; Mulryne, J. R./ Watanabe-O’Kelly, H./ Shewring, M. (Hrsg.): Europa triumphans. Court and Civic Festivals in Early Modern Europe. Aldershot 2004, S. 75-98; Howe, N. (Hrsg.): Ceremonial Culture in pre-modern Europe. Notre Dame (Ind.) 2007. 2 Müller, J.-D.: „Medialität. Frühe Neuzeit und Medienwandel“. In: Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung. Beiträge zur Identität der Germanistik. Hrsg. v. Stegbauer, K./ Vögel, H./ Waltenberger, M. Berlin 2004, S. 49-70 mit weiterer Lit. 3 Müller, J.-D.: „Publizistik unter Maximilian I. Zwischen Buchdruck und mündlicher Verkündigung“. In: Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte. Hrsg. v. Frevert, U./ Braungart, W. Göttingen 2004, S. 95-122. <?page no="241"?> mediale entgrenzungen 241 politische Publizistik in gedruckter Form im Reich und darüber hinaus zu verbreiten, auch sein umfangreiches Memorialvorhaben, das in verschiedenen Text- und Bildwerken das „fortwährende gedechtnus“ des Kaisers und seiner Dynastie sichern sollte, wurde zu großen Teilen für den Druck konzipiert. 4 Als Teil dieser Gedächtnis-Werke entstanden seit 1512 unter der persönlichen Aufsicht des Kaisers eine Ehrenpforte (Abb. 21) und ein Triumphzug (Abb. 22), Darstellungen einer Festdekoration beziehungsweise eines festlichen Ereignisses also, die mit zu den größten Holzschnitten gehören, die jemals geschaffen wurden. 5 Die aus 192 Einzelblättern zusammengesetzte Ehrenpforte erreicht einen Gesamtumfang von über 3 Metern Breite und 3,50 Metern in der Höhe, der Triumphzug im montierten Zustand bei knapp 40 Zentimetern Höhe eine Länge von 54 Metern. An der Konzeption und aufwendigen Herstellung waren verschiedene humanistische Berater des Kaisers und prominente Künstler wie Albrecht Dürer, Hans Burgkmair und Albrecht Altdorfer beteiligt. Bei diesen Werken handelt es sich nicht um Dokumentationen realer festlicher Ereignisse, sondern um fiktive Visualisierungen eines Triumphbogens beziehungsweise eines triumphalen Herrschereinzugs, in denen sich die habsburgische Genealogie, die kaiserliche Historiographie sowie das panegyrische Porträt Maximilians I. in semantisch und formal dichter Verknüpfung von Text und Bild zu einer innovativen Bildsprache des Festlichen formieren. Als Hauptwerke kaiserlich-habsburgischer Repräsentationskunst sind beide Werke schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Gegenstand der Forschung, allerdings wurde ihr Verständnis durch eine oft negative Beurteilung ihrer Monumentalität, überbordenden Fülle und vermeintlichen Inkongruenz von Formen verstellt. Zu dieser eher kritischen Sicht auf die monumentalen Werke trugen auch die Abstimmungsprobleme bei der Konzeption und Ausführung bei, die zur Folge hatten, dass nur die Ehrenpforte beim Tod des Kaisers im Jahr 1519 fertig gestellt worden war, während der Triumphzug erst 1526 unter der Leitung Erzherzog Ferdinands, Maximilians Bruder, erstmals vollständig gedruckt werden konnte. 6 Die Einordnung in die zeitgenössische Festkultur erfolgte bisher 4 Zum Memorialwerk s. Müller, J.-D.: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I., München 1982, zuletzt Silver, L.: Marketing Maximilian. The Visual Ideology of a Holy Roman Emperor, Princeton (NJ) 2008. 5 Landau, D./ Parshall, P.: The Renaissance Print 1470-1550, New Haven and London 1994, S. 206-211. 6 Zur Forschungsgeschichte der Ehrenpforte s. Schauerte, T. U.: Die Ehrenpforte für Kaiser Maximilian I. München/ Berlin 2001; Lüken, S.: „Kaiser Maximilian I. und seine Ehrenpforte“. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte (61) 1998, S. 449-490 mit älterer Lit.; zur Forschungsgeschichte des Triumphzuges s. Der Triumphzug <?page no="242"?> 242 elke anna werner vor allem in ikonografischer und typologischer Hinsicht. 7 Im Folgenden soll daran anknüpfend gefragt werden, inwieweit durch unterschiedliche Formen der Rückkoppelung dieser Bildwerke an die zeitgenössische Festkultur sowohl ihre spezifische visuelle Ordnung als auch ihre semantische Struktur zu erklären ist. Dies mag auch verdeutlichen, warum die Zeitgenossen die von Maximilian und seinen Künstlern gefundenen Bildformen als maßgeblich für Visualisierungen festlicher Sujets verstanden, wie die Rezeption vor allem des Triumphzugs bis in das 17. Jahrhundert hinein zeigt. 8 Dabei gilt es zum einen zu klären, in welchem Verhältnis die fiktiven Festdarstellungen Maximilians zu realen festlichen Inszenierungen stehen. Zum anderen soll aber besonders der Frage nachgegangenen werden, warum sich der Kaiser zur Visualisierung seiner Taten und seiner Dynastie der spezifischen Bildsprache ephemerer Ereignisse bediente, und wie er sich die Überschreitung der Zeit- und Ortsgebundenheit realer Feste im Medium des Bildes zunutze machte. Die Ehrenpforte und die burgundischen Entrée solennelle Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, dessen politisches Oberhaupt Maximilian seit seiner Wahl zum Römischen König 1486 war, wurden bei Festen bis zu Beginn des 16. Jahrhunderts kaum ephemere Festbauten, prunkvolle Wagen, Lebende Bilder oder dekorative Verhüllungen ganzer Straßenzüge und Plätze verwendet. Als Dürer während seines Aufenthaltes in Venedig 1506 eine Fronleichnamsprozession sah, bei der ein Lebendes Bild auf einer Tragbühne gezeigt wurde, nahm er diese als besondere Attraktion wahr und hielt sie in einer Zeichnung fest. 9 In Burgund und Italien hatten sich im Laufe des 15. Jahrhunderts hingegen sehr aufwendige, kostspielige und auch künstlerisch anspruchsvolle Festkulturen entwickelt, die im 16. Jahrhundert vorbildlich für die Höfe Kaiser Maximilians I. 1516 -1518. 147 Holzschnitte von Albrecht Altdorfer, Hans Burgkmair, Albrecht Dürer … Mit dem von Kaiser Maximilian diktierten Programm und einem Nachwort von Appuhn, H., Dortmund 1979 (Nachdr. d. Ausg. Wien 1883-84; Ausst.-Kat. Albrecht Altdorfer, bearb. v. Mielke, H. Berlin 1988, Kat. Nr. 33; Silver, L.: „Paper Pageants, The Triumphs of Emperor Maximilian I.“. In: ,All the world’s a stage …‘ Art and Pageantry in the Renaissance and Baroque. Hrsg. v. Wisch, B./ Scott Munshower, S. Pennsylvania 1990. Bd. 1, S. 292-331 zuletzt Silver 2008. 7 Hierzu vor allem Lüken 1998 und Schauerte 2001. 8 Zur Rezeption s. Appuhn, H./ Heusinger, C. v.: Riesenholzschnitte und Papiertapeten der Renaissance. Unterschneidheim 1976, S. 60. 9 Mielke, H.: Albrecht Dürer. 50 Meisterzeichnungen aus dem Berliner Kupferstichkabinett. Berlin 1991, Nr. 24. <?page no="243"?> mediale entgrenzungen 243 und Städte im Reich werden sollten. 10 Maximilians Ehrenpforte und Triumphzug zählen mit zu den frühesten Beispielen der Rezeption dieser burgundischen beziehungsweise italienische Festformen, ein kultureller Transfer, der durchaus auch als politisches Programm verstanden werden konnte und sollte. Durch seine Heirat 1477 mit Maria von Burgund, der Erbin des mächtigen Burgunderreiches, und durch seine zweite Heirat 1494 mit Bianca Maria Sforza, der Tochter des Herzogs von Mailand, eines Lehnsherren des Kaisers, war Maximilian nicht nur mit den jeweiligen Festformen und Zeremonien beider Kulturen gut vertraut. So wie mit diesen dynastischen Verbindungen auch politische Machtansprüche in Norditalien und Burgund verknüpft waren, 11 so kann die Rezeption von Elementen der burgundischen und italienischen Festkultur in der Ehrenpforte und im Triumphzug auch als visuelle Inszenierung eines Herrschaftsverständnisses verstanden werden, in dem sich beanspruchte oder reale Macht über bestimmte Territorien durch die Adaption deren kultureller Formen manifestiert. Maximilians Riesenholzschnitt der Ehrenpforte steht in enger Beziehung zu den feierlichen Einzügen, den entrée solennelle der burgundischen Festtradition, die sich durch Lebende Bilder auf ephemeren Bühnen und durch geschmückte Ehrenpforten auszeichnete. 12 Eine im Berliner Kupferstichkabinett erhaltene Handschrift, die auf 55 aquarellierten Federzeichnungen die entrée solennelle der Johanna von Kastilien 1496 in Brüssel nach ihrer Vermählung mit Philipp, dem Sohn Maximilians I., zeigt, zählt zu den frühesten visuellen Dokumentationen solcher Einzüge. 13 Die großformatigen, ganzseitigen Bilder zeigen den Zug mit seinen verschiedenen gesellschaftliche Gruppen - Geistliche, Ratsherren, die Vertreter der Zünfte, den Bürgermeister und die fürstlichen Räte - sowie 27 Schaubühnen, auf denen Lebende Bilder von den Bewohnern Brüssels präsentiert wurden. Kurze Erläuterungen auf der linken Seite des Buches erklären die Bilder und stellen allegorische Deutungen in Bezug auf das 10 Vgl. Francke, B.: „Feste, Turniere und städtische Einzüge“. In: Franke, B./ Welzel B. (Hrsg.), Die Kunst der burgundischen Niederlande. Berlin 1997, S. 65-84; Helas 2001; Strong, R.: Feste der Renaissance. Freiburg/ Würzburg 1984, insb. S. 11-38. 11 Wiesflecker, H.: Kaiser Maximilian I. Wien/ München 1986. Bd. 5, S. 466-480. 12 Vgl. Lüken 1998, 485 ff.; Schauerte 2001, S. 70-72 mit weiterer Lit. 13 Ausst.-Kat. Zimelien. Abendländische Handschriften des Mittelalters aus den Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin. Wiesbaden 1975, S. 258, Nr. 171; vgl. auch Franke 1997, S. 74; Eichberger, D.: „Illustrierte Festzüge für das Haus Habsburg-Burgund: Idee und Wirklichkeit“. In: Hofkultur in Frankreich und Europa im Spätmittelalter. Hrsg. v. Freigang, C./ Schmitt, J.-C. Berlin 2005, S. 73-98. <?page no="244"?> 244 elke anna werner Hochzeitspaar her. Durch Landschaften im Hintergrund und Einblicke in die Stadt ist der Ortsbezug der entrée in den Bildern präsent, so etwa auf dem Bild, dass Johanna von Kastilien zu Pferd inmitten von Fackelträgern vor dem ebenfalls mit Fackeln illuminierten Stadthaus im Hintergrund zeigt. Die zumeist bildparallel auf den Betrachter ausgerichteten Schaubühnen präsentieren die Lebenden Bilder als Bild im Bild, wobei jedoch die ästhetische Grenze zwischen dem gemalten Bild und der Darstellung einer theatralen Inszenierung auf der Bühne visuell kenntlich gemacht ist, etwa durch die Holzkonstruktionen der Bühne vor schwarzem Grund oder die zur Seite gezogenen Vorhänge. Besonders deutlich wird dies bei einer zum Platz hin sich öffnenden Bühne mit drei jungen Frauen. Während die beiden außen Sitzenden sich gestikulierend der Mittleren zuwenden, hält diese an einem langen Stab einen kleinen Baldachin, unter dem eine fliegende Taube eine rote Krone zu überbringen scheint. Nicht nur die zur Seite gezogenen Bühnenvorhänge, auch der in den städtischen Raum hineinragende Stab mit Taube und Krone markieren deutlich die zwei verschiedenen Realitätsebenen der Darstellung, die performative Inszenierung auf der Bühne und das Bild als ihre visuelle Dokumentation. Auch bei einer der frühesten gedruckten Darstellungen einer entrée solennelle, des Einzugs Karls V., des Enkels Kaiser Maximilians I., in Brügge 1515, ist die ästhetische Grenze zwischen der performativen Darbietung auf einer Schaubühne und ihrer Darstellung im Bild präsent. 14 Die auf oder vor festen Gebäuden angebrachten Bühnen geben den Blick frei in einen schmalen Raum mit einer szenischen Darstellung: Die geöffneten Seitenflügel zeigen gemalte Figuren, während vom ephemeren Gerüst herab reale Fanfarenbläser die Aufführung ankündigen. Der bildliche Anspruch dieser Holzschnitte ist ganz darauf ausgerichtet, die ephemeren Bauten und Präsentationen deutlich sichtbar vom alltäglichen Stadtbild zu unterscheiden, um so für den Betrachter das Fest und seine einzelnen Darbietungen kenntlich zu machen und nachvollziehbar zu dokumentieren. Für die visuelle Repräsentation realer Feste als künstlerische Gattung war es demnach konstitutiv, die ephemere Inszenierung deutlich vom Alltäglichen, Dauerhaften und nicht für den spezifischen Anlass semantisch Kodierten zu unterscheiden und so für den Betrachter als Dokumentation eines bestimmten Ereignisses an einem bestimmten Ort rezipierbar zu machen. 14 La Triomphante et solennelle Entrée de Charles-Quint en sa ville de Bruges, le 18. Avril 1515, decrite par Remy Dupuys, Brügge 1850 (Reprint); vgl. Lüken 1998, S. 482 ff.; Dokumentation des Einzugs auch als prachtvolle Handschrift, vgl. Unterkircher, F.: Die datierten Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek von 1501 bis 1600 (Katalog der datierten lateinischen Handschriften in lateinischer Schrift in Österreich 4). Wien 1976, 23, Abb. 62; vgl. auch Eichberger 2005. <?page no="245"?> mediale entgrenzungen 245 Die ästhetischen Mittel der Ehrenpforte zielen dagegen auf eine andere Wirkung. Das über drei Toren sich erhebende, zur Mitte hin in seiner Höhe gestaffelte Bauwerk ist vollständig mit kleinteiligen bildlichen Darstellungen, dicht beschriebenen Texttafeln und vielfältigen Ornamenten bedeckt. (Abb. 21) Während die perspektivisch-räumliche Darstellung der Architektur, die sogar den landschaftlichen Hintergrund durch die Torbögen hindurch als begehbaren Raum andeutet, während also das Bauwerk in seiner visuellen Konstruktion als reales Gebäude fingiert ist, arbeitet der breite Textstreifen unten diesem Eindruck von räumlicher Präsenz entgegen. Der über die ganze Breite des dreidimensional dargestellten Sockelbereichs der Ehrenpforte unten angefügte Text, die sogenannten Clavis, eine Art Gebrauchsanweisung zum Verständnis des Werkes, unterläuft regelrecht die dreidimensionale Darstellungsform des Bogens und präsentiert sich dem Betrachter in der spezifischen Zweidimensionalität eines gedruckten Textes. Diese Spannung zwischen zweidimensionalen Inschriften und Bildflächen auf der einen Seite und einer intendierten dreidimensionalen Wirkung der Bogenarchitektur auf der anderen Seite findet sich auch im oberen Bereich der Ehrenpforte, wo über dem Mittelportal auf Bildfeldern mit Schrifttafeln die kaiserliche Genealogie mit Maximilian selbst thronend an der Spitze, rechts und links davon die spanischen und habsburgischen Wappen, in jeweils 12 Feldern bedeutende Ereignisse aus der Regierungszeit Maximilians, darüber je eine Reihe von Bildnissen römischer Kaiser beziehungsweise mit dem Haus Habsburg verschwägerter Fürsten und schließlich die Szenen aus seiner Jugend in den äußeren Rundtürmen dargestellt sind. Obwohl diese Bildfelder bruchlos in die Bogenarchitektur mit ihren Säulen, Postamenten und Kandelabern eingespannt sind, dominieren sie mit ihrer Flächigkeit so stark die Erscheinung der Ehrenpforte, dass diese als Ganzes flächig wie ein Vorhang wirkt. Diese Situation jedoch, dass wie bei realen Festen ein Gebäude mit bemalten Stoffbahnen verhüllt wird, ist hier gerade nicht gemeint, denn die Ehrenpforte lässt an keiner Stelle zwei verschiedene Realitätsebenen, wie in den erwähnten Festdokumentationen, erkennen. Vielmehr präsentiert sich die perspektivische Konstruktion der Bogenarchitektur auch mit den flächigen Text-Bild-Feldern visuell als eine Einheit, die auf der Ebene des Bildes zwar nur im Modus der Fiktion einen Triumphbogen zeigt, der durch die spezifische Materialität und Präsenz der monumentalen Papiertapete jedoch einen eigenen Objektstatus erhält. Insofern ist die ästhetische Grenze zwischen zwei Realitätsebenen, die bei Festdokumentationen im Bild selbst markiert ist, hier gleichsam nach außen verlegt: Das Bild der Ehrenpforte wird zum realen Objekt einer Ehrenpforte, die als <?page no="246"?> 246 elke anna werner (wenn auch Papier-) Monument für den Betrachter präsent ist und in ihm Wahrnehmungsformen und -erfahrungen realer festlicher Einzüge stimuliert. Der Triumphzug und die italienischen Trionfi Parallel zu den Arbeiten Dürers und seiner Werkstatt an der Ehrenpforte beauftragte Kaiser Maximilian Albrecht Altdorfer, Hans Burgkmair und wiederum Dürer mit der Ausführung eines Triumphzuges, der neben einer gemalten Prachtfassung für das Kaiserhaus ebenfalls in einer druckgraphischen Version erstellt werden sollte. (Abb. 22) Mit diesem zweiten Werk, das aufgrund des gleichermaßen festlichen Sujets unmittelbar mit der Ehrenpforte zusammen zu sehen ist, nahm Maximilian nun Bezug auf die italienische Festkultur, für die sich im Laufe des 15. Jahrhunderts in der Tradition antiker Triumphzüge das Mitführen aufwendig gestalteter Wagen als charakteristisches Element entwickelt hatte. 15 Maximilians Triumphzug ist nach den gleichen ästhetischen Prinzipien wie die Ehrenpforte konzipiert: Die zu einem überdimensionalen Papierstreifen mit einer Länge von 54 Metern montierten über einhundert Einzelblätter beanspruchen als Objekt eine eigene Räumlichkeit und Realität, die durch die Form der bildlichen Darstellung gestützt wird. Die variationsreich bewegten, miteinander oder mit dem Betrachter kommunizierenden Figuren, die die Maschinerie der Wagen bedienen, musizieren, oder Theater spielen, dazu die im Wind wehenden Fahnen, die fliegenden Vögel und nicht zuletzt die Klangwellen des Posaune blasenden Herolds vermitteln einen intensiven Eindruck von Lebendigkeit und somit von Realität. Es sind allesamt visuelle Topoi, die gleichsam die medialen und materiellen Bedingtheiten des Bildes negieren oder zu überwinden scheinen und die Imagination von Unmittelbarkeit und Wirklichkeit des Dargestellten evozieren. Das Pferdegeklapper, die Posaunen und Trompeten scheinen hörbar, der Wind spürbar und der lange Zug mit den vielen prächtig gekleideten Menschen und Wagen visuell überwältigend zu sein. Wie der Schattenwurf auf dem steinigen Boden zeigt, auf dem sich der Zug nach rechts vorwärts bewegt, sind die einzelnen Figuren, seien es die Bannerträger zu Pferd, die Landsknechte oder die Prunkwagen, Teil eines 15 Vgl. Helas, P.: „Der Triumph von Alfonso d’Aragona 1443 in Neapel. Zu den Darstellungen herrscherlicher Einzüge zwischen Mittelalter und Renaissance“. In: Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt. Hrsg. v. Johanek, P./ Lampen, A. Köln u. a. 2009, S. 133-228; Helas 2001. <?page no="247"?> mediale entgrenzungen 247 räumlichen Kontinuums, das vom Licht einer rechts vorn untergehenden Sonne beleuchtet wird. Die Darstellung entspricht also den Regeln eines mimetischen Bildbegriffs, wie er maßgeblich von Alberti formuliert wurde und der das Bild als unmittelbares Abbild einer vorgängigen Wirklichkeit auffasst. Durch die Verwendung dieser Darstellungsform mit dem ihr zugrundeliegenden Bildverständnis wird eine spezifische Plausibilität und eine Evidenz des Bildes beansprucht, deren Funktion es ist, das maximilianische Kompositgebilde zu beglaubigen. Schließlich wird auch mit der genuinen Materialität und Präsenz des Werkes, seinem außergewöhnlichen Format mit der Länge von 54 Metern, die spezifische Form realer Festzüge (in verkleinertem Maßstab) nachgeahmt. Dieses mimetische Konzept bezieht insofern den Betrachter mit ein, als dieser sich vor dem montierten Festzug entlang bewegen muss, um alles zu sehen. Das statische Bild überträgt also die für einen Festzug übliche Bewegung auf den Betrachter. Dies sind also die impliziten Rezeptionsanweisungen und visuellen Botschaften an den Adressaten bei nahsichtiger Betrachtung. Diesem Authentizitäts- und Realitätsanspruch des Werkes stehen jedoch wiederum andere Eigenschaften und Charakteristika entgegen. So erweist sich der Triumphzug aus einiger Entfernung und als Ganzes gesehen doch nur als ein schmaler Streifen bedruckten Papiers und nicht zuletzt das schwarz-weiße Erscheinungsbild des Holzschnitts löst die visuelle Illusion eines realen Zuges rasch wieder auf. Und auch das inhaltliche Programm, die möglichst umfassende Präsentation aller Taten und Tugenden des Auftraggebers als Summa seiner Vita und seiner Dynastie, ist nur im Modus des Fiktiven möglich. So sind im Zug Personen vereint, die zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Holzschnitte noch lebten und sich als (wenn auch typisierte) Porträts wiedererkennen konnten, aber auch Personen, die bereits verstorben waren, ohne dass dieser Unterschied an der Form der Darstellung zu erkennen wäre. Zudem unterscheidet sich das so umfassend konzipierte Programm insofern markant von realen Festprogrammen, als für diese in den meisten Fällen eine explizite Bezugnahme des Programms auf den spezifischen festlichen Anlass üblich war, weil die verschiedenen, bei der Festorganisation Mitwirkenden demjenigen, für den das Fest ausgerichtet wurde, auch jeweils spezifische Botschaften vermitteln wollten. Mit seiner idealtypischen Konzeption knüpften Maximilian, seine Berater und Künstler vielmehr an eine Gattung von Festbildern an, für die Andrea Mantegnas Triumphzug Caesars wohl das berühmteste Vorbild darstellte. Der neunteilige gemalte Bilderzyklus im lebensgroßen Format entstand zwischen 1486 und 1505 für den Hof in Mantua und fand in <?page no="248"?> 248 elke anna werner zahlreichen druckgraphischen Wiederholungen schnell Verbreitung. 16 Die Holzschnitt-Version von Jakob von Strassburg zeigt, dass diese gedruckten Varianten aus mehreren Blättern zu einem langen Papierstreifen zusammengefügt wurden, um den Triumphzug, der von Mantegna noch als Ausstattung für einen großen Saales konzipiert hatte, in ganzer Länge zu zeigen, wenn auch maßstäblich deutlich verkleinert als das gemalte Original. Inspiriert von dieser innovativen Gattung schuf Tizian um 1510/ 11 einen Triumph Christi, der ebenfalls in Form zusammengesetzter Holzschnitte einen langen Festzug - nun transformiert in den christlichreligiösen Bereich - präsentiert. An diese Werke, die im Unterschied zu den antiken und anderen zeitgenössischen Triumphzügen oder entrée solennelle keine realen Ereignisse dokumentieren, sondern die vielfältigen Implikationen eines festlich-triumphalen Einzuges von der Bindung an ein einmaliges Geschehen lösen und in eine überzeitliche Gültigkeit überführen, schließt Maximilians Triumph an. Dabei ist anzunehmen, dass die Betrachter zwischen den bereits zeitgenössisch berühmten druckgraphischen Triumphen Caesars und Christi sowie dem Triumph Kaiser Maximilians durchaus auch inhaltlich eine Verbindung herstellen konnten oder sollten. So wie diesen ewiger Ruhm gebühre, so strebte auch Maximilian durch die formale Bezugnahme nach dauerhaftem Ruhm. Dass Maximilians Triumphzug und auch seine Ehrenpforte die zeitgenössischen druckgraphischen Darstellungen des Triumphs Caesars oder Tizians Triumph Christi in ihren physischen Ausmaßen um ein Vielfaches übertreffen, lässt sich neben einer möglichen künstlerischen und programmatischen Überbietungsstrategie aber wohl vor allem mit einer spezifischen, vom Auftraggeber gewünschten Funktion dieser Werke erklären, die sich in erster Linie vor dem Hintergrund der frühneuzeitlichen Festkultur und ihrer Bedeutung für die herrscherliche Repräsentation erschließen lässt, die abschließend kurz skizziert sei. Maximilians Papiermonumente im Kontext der frühneuzeitlichen Festkultur Die herausragende Bedeutung von Festen und theatralen Inszenierungen für die frühneuzeitliche Staatsbildung wurde von der Forschung in den 16 Martindale, A.: The Triumphs of Caesar by Andrea Mantegna in the Collection of Her Majesty the Queen at Hampton Court. London 1979; Arlt, T.: Andrea Mantegna. Triumph Caesars - ein Meisterwerk der Renaissance in neuem Licht. Wien 2005; zur Rezeptionsgeschichte in der Druckgraphik vgl. Landau/ Parshall 1996, S. 231 ff. <?page no="249"?> mediale entgrenzungen 249 vergangenen Jahren aus verschiedenen Perspektiven untersucht. 17 Demnach boten Feste für einen Herrscher auf einzigartige Weise eine Möglichkeit, nach innen Prestige und Ehre, Legitimation und Statusanspruch zu demonstrieren und nach außen diesen Anspruch politischer Macht auch im Wettbewerb mit anderen europäischen Höfen unter Beweis zu stellen. Die Teilnahme des Fürsten, seines Hofes und verschiedener gesellschaftlicher Ranggruppen an einem festlichen Ereignis waren gleichermaßen Ausdruck von politischer Integration als auch sozialer Distinktion, indem die unterschiedliche Partizipation am Geschehen selbst symbolischer Ausdruck des gesellschaftlichen Status war. Feste boten im Unterschied zu anderen Formen der herrscherlichen Repräsentation nicht nur eine besondere Form der Herrschaftsverdichtung, sondern brachten diese zugleich auch zur Anschauung, wodurch die visualisierten Machtstrukturen eine Realität erhielten, die durch die performative Teilhabe der Öffentlichkeit bezeugt und bestätigt wurde. In dieser Hinsicht stellten Feste eine notwendige, weil stabilisierende Ergänzung zu den sich erst allmählich herausbildenden staatlichen Strukturen und Institutionen dar. Allerdings war diese spezifische Wirkung zeitlich und örtlich an einzelne festliche Ereignisse gebunden und damit begrenzt. Einem Herrscher wie Maximilian I., für den die Stabilisierung der kaiserlichen Macht unmittelbar mit dem Fortbestand der Dynastie und seinem eigenen Nachruhm verknüpft war, muss der Gedanke besonders attraktiv erschienen sein, durch gedruckte und an die politische und gesellschaftliche Funktionselite des Reiches sowie an ausländische Höfe verteilte Festbilder die beschriebene Wirkung von Festen in dieser medialen Form zu perpetuieren. Jede Betrachtung seiner Werke konnte so auch unabhängig von der Präsenz des Kaisers und unabhängig von der zeitlichen und örtlichen Begrenztheit eines realen Festes immer wieder zu einem performativen festlichen Ereignis ihm zu Ehren und zum Gedächtnis werden. Indem Maximilian die bedeutendsten Künstler des Reiches mit der Ausführung dieser Festbilder betraute, konnte er im Zuge eines sich entwickelnden künstlerischen Urteilsvermögens zudem davon ausgehen, dass die Bilder nicht 17 Watanabe-O’Kelly, H.: „Early Modern European Festivals - Politics and Performance, Event and Record“. In: Mulryne/ Goldring 2002, S. 15-25; zur besonderen Form des Triumphzuges vgl. in demselben Band McGowan, M. M.: „The Renaissance Triumph and ist Classical Heritage“, S. 26-47, S. 28 zu Maximilians Ehrenpforte und Triumphzug; Stollberg-Rilinger, B.: „Verfassung und Fest. Überlegungen zur festlichen Inszenierung vormoderner und moderner Verfassungen“. In: Becker, H.-J.: (Hrsg.): Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur (Der Staat, Beiheft 15). Berlin 2003, S. 7-49. <?page no="250"?> 250 elke anna werner nur politisch gemeinschaftsbildend wirkten, sondern auch ästhetisch. 18 Ihre spezifische künstlerische Form, die Monumentalität im Medium gedruckter Papierarbeiten, die überbordende Fülle von Bilder, Figuren, Ornamenten und Symbolen, das spannungsgeladene Spiel mit dem Fingieren von Realität und demonstrierter Fiktionalität, das wechselseitige Verweisen von Text und Bild und nicht zuletzt die ingeniösen Erfindungen und handwerklich auf höchstem Niveau ausgeführten Holzschnitte zielten auf eine Wirkung, die auch die realen Feste nachweislich bei den Zeitgenossen auslösten: Bewunderung und Staunen, das ganze Spektrum emotionaler Überwältigungsmechanismen, die die Sinne der Betrachter und Zuschauer in einem Prozess performativer Teilhabe für die Vermittlung politischer Botschaften öffneten. 18 Hulse, C.: The Rule of Art. Literature and Painting in the Renaissance. Chicago/ London 1990, insb. S. 1-6, Abb. 1 beschreibt am Beispiel des 33. Liedes von Ariosts „Orlando Furioso“ die Art und Weise der frühneuzeitlichen Kunstrezeption als ritualisierte Performance einer Gruppe und unterscheidet diese deutlich von der modernen, individualisierten Kunstwahrnehmung im musealen Kontext. <?page no="251"?> Fest-Ordnung und Utopie Barbara Marx (Dresden, Köln) Prämissen Feste haben bekanntlich ihre eigenen Regeln. Sie zielen nicht nur darauf, Alltagsregeln ganz oder wenigstens teilweise zu unterlaufen. Sondern diese Regeln erfüllen erst einmal den Zweck, alle Beteiligten im Hier und Jetzt in ihren Bann zu ziehen und damit die größtmöglichste Teilnahme zu erzwingen, indem Akteure und Zuschauer im wahrsten Sinn des Wortes Bestandteil des Festereignisses werden. Das Fest muss eine Dramaturgie entfalten, deren Affektregie sich in eine unmittelbare Wirkung auf die Gesamtheit der Beteiligten übersetzen lässt. Die Ökonomie der affektiven Präsenzstiftung und der sinnlichen Überwältigung duldet keinen Aufschub, keine différance, und eben deshalb erfordert sie ein Heraustreten aus dem Zeitregime des Alltagsraums. Das Fest erschafft einen theatralen Sonderraum, der frei gesetzt wird von den Kräften des Zeittakts und der alltäglichen Zerstreuung, um die Vereinnahmung der ganzen Festversammlung ohne Ablenkung und ohne ‚Verluste‘ an den Rändern zu vollziehen. Dass dies ein überaus prekäres Unterfangen sein muss, ist ohne weiteres einsichtig: der ‚totalitäre‘ Anspruch des Festes setzt voraus, dass sein Erfolg sich am gelungenen Effekt eines gemeinsam erfahrenen sprachlosen Staunens und einer kollektiven Epiphanie messen lassen muss, deren Verifizierung im Nachhinein doch immer zweifelhaft bleibt. Man kann dies gut daran erkennen, dass historische Augenzeugenberichte von großen Festen so gut wie nie eine kohärente Schilderung der Festereignisse erbringen, dass sie in der Gewichtung, Dekodierung und der Deutung der einzelnen Darbietungsmomente erheblich differieren und sich nur im Entscheidenden einig sind: der Teilhabe an einem Erlebnis, das sich in einem architektonisch ausgestalteten und symbolisch aufgeladenen Ausnahme- <?page no="252"?> 252 barbara marx raum konstituiert und das die gewohnten Koordinaten der sinnlichen Orientierung außer Kraft setzt. 1 Um solch eine einschneidende Wirkungsmacht des höfischen Festes zu garantieren und dabei immer mehr Teilnehmer in diesem kollektiven Ausnahmeraum einzufangen, werden immer größere fürstliche Investitionen und immer minutiösere Planungen notwendig. Denn im Festakt ist keine Unterbrechung und keine Wiederholung einer misslungenen Darbietung möglich, die Illusionsstiftung des Heraustretens aus Zeit und Raum duldet keine Intervalle, kein Aufatmen, kein Nachdenken, sondern nur die ununterbrochene Erzeugung und Überbietung von Augenblicken der überwältigenden admiratio. Der zunehmende finanzielle und technische Aufwand für die fürstlichen Feste in der Barockzeit zielt auf die Perfektionierung des ephemeren Festerlebnisses, denn es kommt auf eben diesen Moment des ineffabile an, der die affektive Kohäsion der Festgemeinde als transzendentes Erlebnis markiert. Die kalkulierte Herstellung solcher Transzendenzeffekte, wo das Erstaunen über das Wunderbare, den fake der kunstvollen Inszenierung, eine Vergegenwärtigung echter Wunder flankieren oder ersetzen muss, lassen sich die Fürsten einiges kosten. Zu Recht, denn nur in solchen Ausnahmeräumen können sie ihre von der eigenen Macht durchformten Gesellschaftsentwürfe als kollektive Vision des Sublimen inszenieren. Nun kann man gewiss nicht behaupten, dass das Fest sich in der kollektiven Epiphanie erschöpfe, wenngleich dieser Moment der entscheidende, jedoch dokumentarisch gar nicht rekonstruierbare emotionale Dreh- und Angelpunkt aller medialen Vor- und Nachbearbeitungen bleibt. Die detaillierten Planungen im Vorfeld des Festes und die immer aufwändigere Bearbeitung in Bild und Text im Zeitalter des Barock lassen vielmehr den Rückschluss zu, dass man der immer drohenden Gefährdung des theatralisch kathartischen Effekts in jeder Form gegensteuern muss. Denn keine noch so ausgeklügelte Feststrategie garantiert den gelungenen Ablauf der Darbietungen und darauf aufbauend den perfekten affektiven Einklang der Festgemeinde. Daher ist zu vermuten, dass die schon früh systematisch verbreiteten Festdarstellungen in Bild und Text nicht nur, wie öfter vermutet, eine „propagandistische Funktion“ für den Ruhm des Festveranstalters erfüllen. Vielmehr sollen Bild und Text jenen selbsterlebten und erzählten Ausnahmeraum des Festes nicht allein beglaubigen, sondern sie müssen ihn erst eigentlich herstellen, damit dieser im Gedächtnis der Teilnehmer wie auch der Bildbetrachter verankert werden 1 Tichy, S.: ‚Et vene la mumaria‘. Studien zur venezianischen Festkultur der Renaissance. München 1997. <?page no="253"?> fest-ordnung und utopie 253 kann. 2 Der flüchtige Ausnahmeraum des Festes wird als Gedächtnisbild dauerhaft befestigt und so konfiguriert, dass seine Sonderstellung als Heterotopie sichtbar wird: an einen bestimmten geographischen Ort gebunden und zugleich doch jenseits der alltäglichen sozialen Koordinaten angelegt, befindet sich der höfische Festraum im barocken Zeitalter als eine Art third space auf der Grenze zwischen dem gewohnten Realraum der sozialen Alltagswirklichkeit und der Vision transzendenter Sinnstiftung. 3 Die Festdarstellungen der Barockzeit, die im Folgenden als Beispiele dienen, zielen nicht mehr darauf, den Festraum gewissermaßen als ein mythologisches Reich der antiken Göttersagen von der realen Welt kategorisch so abzutrennen, dass nur die allegorische Dechiffrierung in der nachträglichen Deutung der Festpublizistik noch eine Rückbindung erlaubt, 4 wie dies in der Renaissance ein charakteristisches Verfahren war, um die Grenzziehung zwischen alltäglichem Erfahrungsraum und Ausnahmeraum zu markieren. Die Bilderfindung und illusionistische Theatralisierung von Fabelmonstern und riesigen Heroen, von Himmels- und Höllenszenarien, wie sie für die typologisch maßgeblichen höfischen Festsequenzen des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts charakteristisch sind, insistierten auf der unüberwindbaren Differenz zwischen der manchmal erschreckenden und immer übermenschlichen Welt des Festes und der Erfahrungswirklichkeit der Zuschauer. 5 Diese Differenz ist zugleich diejenige, die das ‚übermenschliche‘ Gewaltmonopol des Herrschers gegenüber den Untertanen symbolisiert und die im Fest als kollektive Bedrohung und Bestrafung wie auch als heroisch-kämpferische Überwindung und kathartische Befriedung dramaturgisch ausagiert wird. 2 Dem komplexen Zusammenhang zwischen dem Festereignis und seiner nachträglichen Festschreibung im Text ist jüngst Rahn, T.: Festbeschreibung. Funktion und Topik einer Textsorte am Beispiel der Beschreibung höfischer Hochzeiten (1568- 1794). Tübingen 2006 nachgegangen. 3 Foucault, M.: „Raum, Wissen und Macht“. In: Foucault, M.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 4. Hrsg. v. Defert, D./ Ewald, F., Frankfurt a. M. 2005, S. 324-340; Foucault, M.: „Von anderen Räumen (1967)“. In: Dünne, J./ Günzel, S. (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2006, S. 317-329. 4 Rahn, T.: „Sinnbild und Sinnlichkeit. Probleme der zeremoniellen Zeichenstrategie und ihre Bewältigung in der Festpublizistik“. In: Hahn, P.-M./ Schütte, U. (Hrsg.): Zeichen und Raum. Ausstattung und höfisches Zeremoniell in den deutschen Schlössern der Frühen Neuzeit. München 2006, S. 39-48. 5 Zika, A.: „Fest und Fanal. Inszenierung und Zeremoniell als Strategien zur Konstitution politischer Macht“. In: Brock, B./ Koschik, G. (Hrsg.): Krieg und Kunst. München 2002, S. 225-241; Marx, B.: „Feuerwerks-Körper oder die barocke Erfindung des virtuellen Raums“. In: Melville, G./ Rehberg, K. S. (Hrsg.): Dimensionen institutioneller Macht. Weimar/ Wien im Druck. <?page no="254"?> 254 barbara marx Erst über die theatralische Institutionalisierung von Empathie als Voraussetzung kollektiver Steuerung im Verlauf des 17. Jahrhunderts wird die aristotelische Kategorie der Wahrscheinlichkeit zum entscheidenden Kriterium der Festdarbietung wie auch ihrer Darstellung. Die akademischen Bildkonventionen der perspektivisch-räumlichen Staffelung im Realraum wie in architektonischen Konstruktionen konfigurieren auch den festlichen Ausnahmeraum als realen Erfahrungsraum, mit dem Effekt, dass der erlebte wie auch der beschriebene und abgebildete Festraum gleichermaßen als transzendenter Horizont dem alltäglichen Erfahrungsraum eingeschrieben bleiben kann. Das Fest stellt in dieser mediatisierten Zurichtung nicht die tabuisierte Grenze oder die markierte Abgrenzung zur Erfahrungswirklichkeit des sozialen Raums dar, sondern es fungiert als Schwelle zu einer Gesellschaftsvision, die ihre ästhetische Implementierung im bildgebenden Vollzug fürstlicher Machtdirektiven erfährt. Die enormen finanziellen Investitionen und die vom Herrscher gewöhnlich selbst überwachten und kontrollierten Planungen, die den Persuasionscharakter des Festablaufs unterstützen sollen, sind zweifellos ein Beleg für die zeremonielle und machttaktische Bedeutung solcher Kohäsionsmomente zwischen dem Souverän und den Untertanen. Erst die Darstellung und Verfestigung des Festes im ‚Sonderraum‘ der Wahrscheinlichkeit, wie ihn die Regelwerke von Bild und Text der Festbeschreibungen aufrichten, verleihen dieser Kohäsion jedoch ihre dauerhafte Beglaubigung und ihre historische ‚Wahrheit‘. 6 Daher kommt es weniger darauf an, die Unterschiede zwischen einer immer unvollkommenen und unvollständigen Performanz im Festereignis selbst und seiner nachtäglichen medialen Perfektionierung zu konstatieren, in dem das Fest erst zum ‚Festen‘ gerinnen kann; 7 vielmehr bildet das Ereignis selbst die Schwelle und den Vorwand zur Exegese gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen. Fest-Bilder des Dresdner Hofs 1719: die Errichtung des königlichen Raums Die Beispiele zum Dresdner Hof sind der Sequenz von zahlreichen bildlichen Festdarstellungen der Dresdner Hochzeitsfeierlichkeiten von 1719 entnommen, die ursprünglich zu einem umfangreichen Kupferstichwerk zusammengestellt werden sollten, so umfangreich und ambitiös, dass das 6 Zanker, P.: „Das Feste und das Flüchtige: wie Bilder das Selbstverständnis einer Gesellschaft modellieren“. In: Maar, C./ Burda, H. (Hrsg.): Iconic worlds. Neue Bilderwelten und Wissensräume. Köln 2006, S. 165-184. 7 So etwa bei Eichberger, D.: „Illustrierte Festzüge für das Haus Habsburg-Burgund. Idee und Wirklichkeit“. In: Freigang, C./ Schmitt, J.-C. (Hrsg.): Hofkultur in Frankreich und Europa im Spätmittelalter. Berlin 2005, S. 73-98. <?page no="255"?> fest-ordnung und utopie 255 Werk bis zum Tod Augusts des Starken 1733 nicht zustande kam, wobei die erklärende Textbeschreibung, sollte sie je geplant gewesen sein, völlig ausfiel. 8 Die von bloßen Legenden in französischer und deutscher Sprache begleiteten Bilddarstellungen sind also im Zweifelsfall als „selbstredend“ zu denken, sie sollten das wichtigste Moment des Festes selbst: den Modus der idealtypischen gesellschaftlichen Kohäsion, unmittelbar zum Ausdruck bringen. Der Anspruch, den der Festzyklus und die nachgelieferten Festdarstellungen aufwarfen, wurde am Dresdener Hof nie mehr derart aufwendig verhandelt. Die lang vorbereitete Heiratsverbindung des zum Katholizismus konvertierten Kurprinzen Friedrich August II. mit der österreichischen Kaisertochter Maria Josepha im September 1719 sanktionierte den Aufstieg des protestantischen kursächsischen Herrscherhauses in den Rang der europäischen Königsdynastien und begründete eine mögliche kaiserliche Erbfolge. Die Dynastie der Wettiner und ihre Residenzstadt Dresden umfasste noch dieselben Personen und Traditionen wie zuvor und doch waren diese zugleich etwas Anderes geworden: die Differenz von Vergangenheit und Zukunft, der abrupte Wechsel und Traditionsbruch in Rang und Religion konnte nur überblendet werden im Fest, welches beide Dimensionen in der Überbrückung eines ephemeren third space zur Deckung brachte. Der von Edward J. Soja für die zeitgenössische Wirklichkeit geprägte Begriff, um die gleichzeitig reale und imaginäre Orientierung in sozialen und urbanen Topographien zu benennen, 9 scheint in besonderer Weise geeignet, auch die historischen Implementierungsmodi der barocken Festkultur zu beschreiben. Der neue königliche Festraum der sächsischpolnischen Kurfürsten-Könige konnte weder unmittelbar im Raum der Bürgerstadt Dresdens errichtet werden, noch konnte er sich demonstrativ 8 Dieser Festzyklus und die Festdarbietungen selbst sind verschiedentlich Untersuchungsgegenstand ausführlicher Forschungsbeiträge geworden: Schlechte, M.: „‚Recueil des dessins et gravures representent les solennites du mariages‘. Das Dresdner Fest von 1719 im Bild“. In: Béhar, P. (Hrsg.): Image et spectacle. Actes du XXXII e Colloque international d’Etudes Humanistes. Amsterdam/ Atlanta 1993, S. 117-169; Jöchner, C.: „Dresden, 1719: Planetenfeste, kulturelles Gedächtnis und die Öffnung der Stadt“. In: Schütte, U. (Hrsg.): Kunst als ästhetisches Ereignis. Marburg 1997, S. 249-270; Mikosch, E.: Court Dress And Ceremony in the Age of Baroque: The Royal/ Imperial Wedding. A Case Study. Phil. Diss., New York 1999, Ann Arbor (Mich.) 1999, 2 Bde.; Marx, B.: „Disziplinierte Räume. Die visuelle Formierung unter König August dem Starken“. In: Melville, G. (Hrsg.): Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Köln/ Weimar/ Wien 2005, S. 177-206. 9 Soja, E. J.: Third Space. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places. London/ New York 1996. <?page no="256"?> 256 barbara marx davon absondern, denn das Fest musste strategisch die Einheit zwischen 'dem katholischen Herrscherhaus und den protestantischen Untertanen verbürgen und die bürgerliche Partizipationskultur mit der Idee der königlichen Souveränität versöhnen. Die Topographie der kursächsischen Residenzstadt wird also nicht nur durch einen Ring von neuen königlichen Bauten eingefasst. Sondern sie wird im Festakt und in der nachträglichen Bildbearbeitung einem rigorosen königlichen Blickregime unterzogen, mittels dessen die gewohnten Markierungen des städtischen Habitats in Blick und Bild zum Verschwinden gebracht werden: einzig sichtbar herausgehoben sind die Gebäude, die als eminent königliche Bauwerke und damit zugleich als einzig mögliche Festbauten gekennzeichnet sind. Der Kupferstich (Abb. 23) zeigt das ursprünglich vom Architekten Johann Rudolph Fäsch 1715 für den Reichsgrafen Flemming errichtete und dann von August dem Starken angekaufte Holländische Palais am linksseitigen Elbufer. Für die Hochzeitsfeierlichkeiten 1719 wurde der Bau als Kunstpalast mit Objekten aus der Kunstkammer und aus der Porzellansammlung neu eingerichtet. Wieweit der königliche Oberlandbaumeister Matthäus Daniel Pöppelmann auch die geplanten und auf dem Stich dokumentierten ersten Umbaumaßnahmen des Gebäudes, nämlich die Erhöhung des Dachgeschosses als Mansard-Dach und die Verblendung der Stadtfront des Palais mit einer pompösen dreigeschossigen Portalkonstruktion, je in Angriff nehmen konnte, ist mehr als zweifelhaft. Pöppelmann hat die Abbildung in seinem Stichwerk Vorstellung und Beschreibung Des von Sr.Königl. Majestät in Polen, und Churf. Durchl. Zu Sachßen, erbauten so genannten Zwinger-Gartens Gebäuden 1729 publiziert, zu einem Zeitpunkt, als das Holländische Palais bereits zwei weitere Umbauten in den Jahren 1722/ 23 und 1727 (Abb. 24) hinter sich hatte, deren (fiktive oder reale) Zwischenstadien ebenfalls zum Teil in Stichen vorlagen, die sämtlich auf die königliche Hochzeit 1719 zu verweisen vorgeben. Gemessen an der Chronologie der Baumaßnahmen am Holländischen Palais ist Pöppelmanns Abbildung von 1729 ein Anachronismus, der die stilistische Weiterentwicklung des Bautypus zum heutigen Japanischen Palais glatt dementiert. Die Frage nach Fiktion oder Realität ist für Pöppelmanns im Stich beglaubigte Bauten jedoch nur bedingt maßgeblich: ihm geht es um die programmatische Vorstellung, anders gesagt, um die Idee oder Idealvorstellung der von Seiner Königlichen Majestät selbst gebauten, von ihm, Pöppelmann, nur abgezeichneten und herausgegebenen Architektur. Recht eigentlich ‚abgezeichnet‘ mit dem königlichen Signum AR und damit in den Rang königlicher Bauschöpfungen erhoben waren zahlreiche <?page no="257"?> fest-ordnung und utopie 257 weitere, de facto aber nie gebaute Entwürfe Pöppelmanns, die nichts desto weniger in seinem Kupferstichwerk 1729 gleichberechtigt als Dokumente neben die realisierten Gebäude treten. Die Überhöhung des real existierenden Gebäudes im Kupferstich durch eine wahrhaft königliche Architektur, die indessen nur als Entwurf existierte, ist augenscheinlich eine „Narration“ des Zeichners, 10 der seiner Erfindung zugleich alle Merkmale einer perspektivisch korrekten und damit „wahrscheinlichen“ Ansicht eines tatsächlich gebauten Gebäudes gegeben hat. Der Ansicht des Stichs (Abb. 23) zum Trotz wusste jeder Betrachter, dass dieses Palais keineswegs im leeren Raum stand, sondern dass seine Rückseite sich auf einen als Gartenanlage gestalteten Hang öffnete, der zur Elbe hin abfiel und die Sicht auf die gegenüberliegenden Gebäude und die landwirtschaftlich genutzten Flächen des Ostra-Geheges freigab. Der Zeichner nutzt vielmehr die räumliche Isolierung des Bauwerks im Bild und die optische Begrenzung des Zugangs zu ihm als semantische Indizien für die Markierung des königlichen Raums, der sich als herausgehobene Dimension dem vielfältig zerstreuten Stadtraum auflagert und diesen dominant überwölbt. Eine komplementäre Sicht der durch eine geschwungene Palisadenfront vom ‚Gewühl‘ der Bewohner abgetrennten Stadtseite des Holländischen Palais bietet die Abbildung der elbseitig gelegenen Rückfront des Palais. (Abb. 25) Während die stadtseitige Ansicht Ausschluss und Einengung des Zugangs zum Raums des Königs vermittelt, öffnet sich der perspektivische Weitwinkel der Rückseite des Gebäudes hin auf eine raumgreifend kultivierte und mit Statuen geschmückte Gartenlandschaft, die sich zum befestigten Elbufer und zu einem kleinen Gondelhafen hinab entfaltet, weitaus großflächiger, als dies das eher abrupt abfallende und zudem durch eine Bastion begrenzte Gelände je erlaubt hätte. Gemessen an den am rechten Bildrand eingezeichneten Wohnhäusern und Gebäuden der Dresdner Neustadt, wo man noch das Alte Rathaus erahnen kann, sind die baulichen Proportionen der Darstellung extrem verzerrt. Diese perspektivische Zurichtung geht jedoch insofern folgerichtig vor, als sie die dem normalen Stadtbewohner verborgenen, aber dennoch den Stadtraum durchdringenden Direktiven des königlichen Blickfelds offenlegt. Der allein im Festakt und in seinem medialen Nachvollzug gewährte Zugang eines (fiktiven) Publikums zum rückseitigen Gartenparcours des Holländischen Palais macht die ordnende Hand des Monarchen und den 10 Vgl. Platthaus, A.: „Festgemauert. Architektur als Grundprinzip grafischen Erzählens“. In: Magnago Lampugnani, V./ Noell, M. (Hrsg.): Stadtformen. Die Architektur der Stadt zwischen Imagination und Konstruktion. Zürich 2005, S. 70-80. <?page no="258"?> 258 barbara marx planvoll ästhetisierenden Zugriff auf den Raum als Demonstration des königlichen Ordnungswillens sichtbar. Die in Reih und Glied formierten bosquets und die eingerahmten Stickereibeete flankieren symmetrisch die Hauptallee, in die sich die wenigen erlesenen Besucher so gemessen einfügen wie die in den Querachsen verteilten Figurengruppen und Statuen. Die Allee entwirft als zentrale Sichtachse einen mehrfach gestaffelten Parcours hin zum rückwärtigen Eingangsportal des Palais im Sinne einer Annäherung an ein im und durch das Gebäude selbst vermitteltes arcanum. Der Gebäudeblock des Palais fungiert zugleich als Blockierung der Sicht auf die paradiesisch harmonische Enklave des hortus conclusus im Stadtraum. Der königliche Raum schließt nicht nur den chaotischen Erfahrungsraum der Stadt aus, sondern ersetzt diesen durch einen geometrisch durchgeformten Naturraum, der sich als Ergebnis absolutistischer Kultivierungsarbeit einprägt. Diese ästhetisierte Raumordnung kann nicht unmittelbar vom Alltagsraum her erschlossen werden: sie bedarf eines eigenen Zugangs, der im Stich vom Fluss der Elbe gebildet wird, der zugleich als zusätzlicher Bildrand und als Schwelle für den Blick des Bildbetrachters fungiert. In der Tat verliehen August der Starke und sein Nachfolger dem Fluss und den künstlichen Seen an den Lust- und Jagdschlössern zunehmend den Status einer symbolisch kodierten Schwelle, die den Ausnahmeraum der königlichen Bauten und Schlössern anzeigte und jede „Besiedlung“ jenseits der königlichen Inszenierungen zu Wasser verbot. 11 Der fast menschenleere Garten des Holländischen Palais schließt in dieser Abbildung nicht nur einen gleichsam unerreichbaren Raum ästhetischer Ordnung auf, sondern er bildet in dieser Eigenschaft selbst das räumliche Äquivalent einer idealen Gesellschaftsformation. Fürstliche Kultivierungsarbeit am sozialen Corpus Während die Festlichkeiten im Holländischen Palais im Initialzeichen des Sonnengottes Apoll standen, besetzten die folgenden Planetenfeste weitere Örtlichkeiten in der Stadt selbst und an deren Rändern, die zu königlichen Räumen umgestaltet wurden. In dem außerhalb des östlichen Stadttors gelegenen Großen Garten waren die dem Planet Venus gewidmeten Feierlichkeiten angesiedelt. Der Große Garten fungierte auch unter 11 Marx, B.: „Vom Künstlerhaus zur Kunstakademie: Nossenis Kunstsammlung in Dresden“. In: Marx, B./ Rehberg, K. S. (Hrsg.): Sammeln als Institution. Von der fürstlichen Wunderkammer zum Mäzenatentum des Staates. München 2006, S. 61-92, hier 88-89. <?page no="259"?> fest-ordnung und utopie 259 den Vorgängern Augusts des Starken als ein herrschaftlicher espace clos, 12 der jedoch erst in der Veröffentlichung der Festsequenzen von 1719 seine emblematische Verfestigung erfuhr. Im Rahmen der Venus-Feste, die eine Mitwirkung der Hofdamen vorsahen, wurde auch ein sogenanntes Carrousel aufgeführt (Abb. 26). Die alte Turnierform des Ringstechens, bei der die Ritter ihre individuelle Schnelligkeit und Geschicklichkeit unter Beweis stellen, indem sie in vollem Galopp mit der Lanze einen Ring treffen müssen, ist im barocken Carrousel zugunsten der koordinierten Gruppendramaturgie aufgehoben, wie sie der Stich exemplarisch vorführt. Auf zwölf Rennbahnen setzten sich gleichzeitig und parallel zueinander die Reiter in Bewegung, begleitet und flankiert von den Damenwagen. Nicht die Leistung des Einzelnen sollte ins Auge stechen, sondern die kollektive Performanz eines koordinierten und gleichsam automatisch, als „Maschine“ funktionierenden Gesellschaftskörpers: diese konnte jedoch nur in einer Perspektive zur Ansicht gebracht werden, die sich den Blick des königlichen Planer-Ingenieurs zueigen machte, welcher zugleich als Architekt am geometrisierten Entwurf des gesellschaftlichen Baus als „Natur-Kunstwerk“ wirkt. 13 Der Gleichtakt der Bewegungen der Festteilnehmer gerinnt im kundigen Vogelschaublick des königlichen Planers, den der Stich usurpiert hat, zu einer im Bild stillgestellten Gartenformation: Reiter und Wagen bilden eine eigene „Landschaft“ von Stickereibeeten, sie werden Teil der geometrisierten Gartenanlage, die sich als räumliche Vision bis an den Horizont ausdehnt und die Utopie einer raumgreifenden Souveränität der Durchdringung und Gestaltung als architektonischen Prospekt kunstgerecht ins Bild setzt. 14 Die performativ angeordneten Elemente des Carrousel bilden wiederum den menschlichen „Vorhof“ zum Palais des Großen Gartens, welches als kompaktes architektonisches Zentrum der ganzen (Bild-)Inszenierung und damit als Verkörperung des königlichen Bauwillens fun- 12 Reeckmann, K.: Anfänge der Barockarchitektur in Sachsen. Johann Georg Starcke und seine Zeit. Köln 2000; Jöchner, C.: „Der Große Garten als ‚Festort‘ in der Dresdner Residenzlandschaft“. In: Dietrich, A./ Froesch, A./ Balsam, S. (Hrsg): Der Grosse Garten zu Dresden. Gartenkunst in vier Jahrhunderten. Dresden 2001, S. 72-87. 13 Vgl. Greiselmayr, V.: „Architektur und Fest“. In: Riegel, N./ Dombrowski, D. (Hrsg.): Architektur und Figur. Das Zusammenspiel der Künste. Festschrift für Stefan Kummer zum 60. Geburtstag. München 2007, S. 184-201. 14 Dass hierfür natürlich das Vorbild Versailles maßgeblich war, soll hier nur am Rande erwähnt werden: Marx 2005; sowie Spagnolo-Stiff, A.: „Barocke Gartenfeste und ihr Prototyp, die Versailler ‚Divertissements‘“. In: Ausst.-Katalog: Gartenfeste. Das Fest im Garten - Gartenmotive im Fest. Hrsg. v. Wievelhove, H. (Kunstgewerbesammlung der Stadt Bielefeld, Museum Huelsmann, 18. 6.-8.10. 2000). Bielefeld 2000, S. 35-39. <?page no="260"?> 260 barbara marx giert. 15 Natur und sozialer Korpus formieren sich zum ornamentum souveräner Machtbehauptung. Die Beete und Anlagen des Parterre im Großen Garten und La pompe de l’Entrée des Dames et des Aventuriers qui formoient le Carousel werden in der Darstellung zu gleichartigen Elementen der Raumkonstitution. Gartenformation und ideale Gesellschaftsformierung sind so modellhaft aufeinander bezogen, wie es nur im Ausnahmeraum des Festes überhaupt vermittelt werden kann. Dass diese festliche Performanz nicht nur mit monatelangen Übungen verbunden war, die an militärische Manöver erinnerten, und dass der ästhetische Gleichklang der Bewegungen mit der Androhung von harten Strafen beim eigenmächtigen Ausscheren aus der Formation erzwungen wurde, 16 darf man als die notwendige Investition in die erhoffte Wirkungsmacht der Aufführung veranschlagen. Tanz- und Tafel-Ordnung Der Festtag im Grossen Garten im Zeichen des Planeten Venus endete mit einem Ball der engeren Hofgesellschaft, die in einem eigens errichteten offenen Pavillon, dem Venus-Tempel, vor den Augen der seitwärts auf Tribünen gruppierten Festgemeinde tanzte. (Abb. 27) Auch in dieser Darstellung rekurriert der Illustrator auf die Grenzziehung von identifizierbarem Alltagsraum und visionärer Erscheinung des Ausnahmeraums: einerseits die Vorderfront des Palais im Großen Garten mit den geordnet davor aufziehenden Paaren bei Tag, andererseits die nächtlich erleuchtete Rückseite des gleichen Palais, die wiederum als Schwelle des Zugangs zum Tempel fungiert, welcher nur durch eine Gondelfahrt zu Wasser erreicht werden kann. Der illuminierte Bau steht auf der Schwelle zwischen Realität und Imagination, denn in ihm verkörpert sich zugleich die magische Kraft zur Verwandlung des Raums, die sich aus dem verborgenen arcanum der Macht speist. Die Abbildung bezeugt hier ihre Anlehnung an die gerade am Wiener Hof beliebten nächtlichen Illuminationen der mit ephemeren Festdekorationen geschmückten repräsentativen und im übrigen als menschenleer dargestellten Bauten, die als stumme architecture parlante das Geheimnis ihrer sublimen Erleuchtung durch die verborgene Macht vermitteln, ohne dieses bloßzulegen, und die damit das laute Getöse der 15 Ottersbach, C.: „Bauen als Ausdruck von Souveränität“. In: Hahn, S./ Sprenger, M. H. (Hrsg.): Herrschaft - Architektur - Raum. Festschrift für Ulrich Schütte zum 60. Geburtstag. Berlin 2008, S. 165-181. 16 Marx 2005, S. 196 ff. <?page no="261"?> fest-ordnung und utopie 261 traditionellen Feuerwerksdarbietungen ergänzen und ersetzen. 17 Während der Raum des Tages die militärische Zucht und Ordnung der Gesellschaftsformation als Disziplinarzwang ästhetisch legitimiert, zeigt sich auf der nächtlichen Rückseite die Vision einer gerade dadurch erzeugten magischen Harmonie und Befriedung. Dass das königliche Prinzenpaar im Venus-Tempel den Tanz eröffnet, darf als symbolische Übersetzung der selbstdisziplinierten Kultivierungsarbeit gelesen werden, für die der Monarch in eigener Person als Vorbild und Modell fungierte. 18 So wie die adligen Untertanen ihre sozialen Unterschiede, Differenzen und Konflikte im Fest mittels der Verwandlung in gleichsam naturähnliche geometrisierte Formationen suspendieren, so präsentiert sich der Kreis der inneren Hofgesellschaft im Innenraum der königlichen Bauten als eine harmonisch arrangierte Gemeinschaft, die sich um ihr natürliches Zentrum, den König, herum ordnet. (Abb. 28) Dieses Zentrum ist im Bild zeichenhaft herausgehoben durch die zentrale Mittelstellung der Kredenz mit dem zwischen Tugendallegorien platzierten und bekrönten Obelisken als Herrschaftssymbol. Dadurch, dass der Zeichner den Bühnenvorhang vor der Festtafel gelüftet hat, ermöglicht er den Blick auf die performative Selbstinszenierung der königlichen Gesellschaft. Die Teilnehmer des Festmahls haben sich zu einer elliptischen Formation rangiert, die in der horizontalen Ebene eben die vertikalen architektonischen Formelemente des Baus aufnimmt und widerspiegelt, welche die nach innen und außen wirkende königliche Architektenkunst belegen. Die Tafelgesellschaft fügt sich auf diese Weise selbst als architektonisches Element in den hell erleuchteten Innenraum im nächtlich dunklen Grossen Garten ein und entwirft damit im Festakt die Bühne einer idealisierten Gesellschaftsformation. Während also die königlichen Bauwerke mit den Gartenanlagen und den darin paradierenden Adligen im Außenraum das geometrische Karré als Markierung einer in den Alltag hineinragenden königlichen Disziplinierungsarbeit vorweisen, bergen die sichtbar/ unsichtbaren Festräume im Inneren das Geheimnis höfischer Selbstregulierung und Eigendisziplin in Form einer harmonischen Kreisbeziehungsweise Ellipsenbildung. Die dort nach allen Regeln der Affektregulierung im Sinne von Norbert Elias 17 Wenzel, M.: „Eine Kunstform des fernen Ostens? Das Feuerwerk in der europäischen Festkultur der Frühen Neuzeit“. In: Frühneuzeit-Info 11 (2000), S. 16-26; Salge, C.: „Studien zur Wiener Festkultur im Spätbarock. Feuerwerk und Illumination“. In: Engel, M./ Lorenz, H. (Hrsg.): Barock in Mitteleuropa. Werke, Phänomene, Analysen. Wien 2007, S. 401-418; Marx, B.: „Feuerwerks-Körper oder die barocke Erfindung des virtuellen Raums“. In: Melville/ Rehberg im Druck. 18 Vgl. Jung, V.: Körperlust und Disziplin. Studien zur Fest- und Tanzkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Köln 2001. <?page no="262"?> 262 barbara marx gruppierte Sozietät führt im Bild das Spektakel modellhafter höfischer Selbstzucht vor. 19 Dass diese Platzierung nicht nur im Nachhinein idealtypisch im Bild fixiert wurde, sondern dass ihr auch die Vorzeichnungen im gesamten Planverfahren entsprachen, belegt den intendierten Modellcharakter der Aufführung. Was sich im Palais im Grossen Garten anlässlich des Venus-Festes in einem vergleichsweise intimen Rahmen vollzog, wurde im neu ausgebauten Zwinger auf zwei Ebenen reproduziert, welche die dynastische Sukzession und Kontinuität der königlichen Raumgestaltung implizierten. 20 (Abb. 29) Die elliptischen vom Königs- und vom Kurprinzenpaar jeweils präsidierten Tafeln im Zentrum des Raums werden rechts und links flankiert von zwei weiteren Festtafeln, welche ihrerseits die elliptische Idealform aufnehmen. Die Festtafeln in den Nebenräumen, an denen jeweils getrennt der sächsische und der polnische Adel platziert wurde, verkörpern natürlich selbst die jeweils durch den König und seinen designierten Nachfolger zusammengehaltenen Flügel der Sächsisch-polnischen Union. Die akkurat nebeneinander aufgereihten Stühle, auf denen jeder der Teilnehmer nicht nur seinen ihm zustehenden Platz fand (Abb. 30), sondern diesen Platz auch diszipliniert, aufrecht, mit geradem Rücken sitzend, über die ganze Tafelrunde hinweg behaupten musste, weisen dieses Sitzarrangement als gesellschaftliches Bauwerk im Raum des Gebäudes selbst aus, das seine Stabilität aus der höfischen Selbstzucht bezieht. Die auratische Nähe zum dramaturgischen Zentrum aller Formierungen, dem König selbst, formt auch die Teilnehmer an der Festtafel zu einer harmonischen Figur, während die Außenstehenden durch militärischen Drill und Übung zu solchen Formbildungen angeleitet werden müssen. Gesellschaftsformation und Utopie Bei dieser idealtypischen Gesellschaftsformierung im Innen- und Außenraum des Hofs handelt es sich nicht um eine hierarchische Ausdifferenzierung zwischen Adel und Bürgern, sondern, so versucht es die Zeichnung zu vermitteln, um eine komplementäre Ergänzung, die allein vom Willen des Monarchen gelenkt wird. In den Grundformen der idealen euklidischen Körper objektiviert sich das Grundmuster einer geordneten Sozialität und ihrer Aufgabenverteilung. Dies zeigt sich in den großfor- 19 Vgl. auch Cassidy-Geiger, M.: „Innovations and the ceremonial table 1719-1747“. In: Hahn/ Schütte 2006, S. 135-166. 20 Siehe Sponsel, J. L.: Der Zwinger, die Hoffeste und die Schlossbaupläne zu Dresden. Dresden 1924. <?page no="263"?> fest-ordnung und utopie 263 matigen Stichfolgen, die dem letzten Tag der Dresdner Festsequenz von 1719, dem abschließenden Höhepunkt der Hochzeitsfeierlichkeiten, gewidmet waren. Es ist der einzige Festtag, dessen „Dokumentation“ 1730 vollständig vorlag. 21 Die Aufführungen standen im Zeichen des Planeten Saturn, der als Schutzplanet die Metalle und das Bergwesen regiert, aus denen Kursachsen seinen Reichtum bezog. Der letzte Festtag war daher nicht in der Stadt Dresden oder am Stadtrand angesiedelt, sondern im Plauenschen Grund im Süden der Residenz, der als bewaldetes Jagdgebiet genutzt wurde Diese eher unwirtliche nächtliche Landschaft bot die geeignete Kulisse, um ein visionäres Schauspiel ex nihilo gleichsam als Urszene aller gesellschaftlichen Formbildung zu inszenieren. Im phantastisch erleuchteten Dunkel vollzieht sich der militärisch geordnete Aufzug der Bergleute um eine befeuerte Esse herum. (Abb. 31) Die riesige Metallschmelze bildet den Blickpunkt jener künstlichen Bergwerksgrotte, in welcher die Hofgesellschaft als Zuschauer der Parade wie in einem Theater platziert ist. Auf der Bühne des Aufmarschplatzes formiert sich die lange Reihe der angetretenen Bergleute um den zentral positionierten künstlichen Hochofen und die Münzmaschine zu einem perfekten Karré, bevor sie vor den höfischen Zuschauern defilieren. Das militärische Planquadrat der Bergleute und die geordneten Planquadrate der adligen Festtribünen, welche die Festgrotte flankieren, sind Produkte eines übergreifenden Ordnungsarrangements. Beide ständischen Formationen konfrontieren einander gleichgewichtig in einem einheitlichen Raumensemble, das seinen Ursprung und seine Ökonomie von dem die ganze Bühne dominierenden hell leuchtenden Monument, der Chiffre du Roi illuminé et entouré des 7 Planètes, bezieht, welche als Lichtimagination zwischen zwei Steinobelisken vor dem Hintergrund des nächtlichen Waldes erscheint. (Abb. 32) Die visionäre Illumination beruhte auf der Ingenieurskonstruktion einer „Bergmaschine“, so wie auch die Gravur des königlichen Namens AR auf dem Fels sich bei Tageslicht eher bescheiden ausnahm. (Abb. 33, 34) Einzig durch die nächtliche Beleuchtung erhalten die theatralischen Attrappen ihre bühnengerechte Wirkung. Die constellatio foelix der Planetenkonstellation der Festsequenz galt nicht nur dem Augurium des kurprinzlichen Brautpaars, sondern verbildlichte die glückliche Konstellation einer auch im Alltagsraum von der unsichtbaren Strahlkraft des Monarchen (technisch) gelenkten und verklärten Gesellschaft. Die in einem geometrischen Block unterschieds- 21 Schlechte, M.: „Saturnalia Saxoniae - Das Saturnfest 1719. Eine ikonographische Untersuchung“. In: Dresdner Hefte 8 (1990), Heft 21, S. 39-52. <?page no="264"?> 264 barbara marx los aufgereihten Bergleute erweisen sich bei näherem Hinsehen als eine fein ausdifferenzierte, an der Art der Uniform und den Rangabzeichen erkennbar funktional gegliederte Gesellschaft. Der königliche Vogelschaublick auf die Parade, den der Stich adoptiert, lässt diese Differenzen zwar zugunsten einer kollektiven Uniformierung des Gesellschaftskörpers verschwimmen, doch geschieht dies im Wissen um die in der Nahsicht um so deutlicher sichtbare interne Ordnung, die jedem Mitglied des Korps seinen bestimmten Platz zuweist und die der Zeichner in zwei gesonderten Abbildungen als ein klassifikatorisches Tableau der Bergwerksgesellschaft, als ein Modell in nuce der ideal gegliederten Sozietät, vorführt. Der Prozess, in dem sich die Personen im Festakt des Saturn-Festes in der wilden Waldlandschaft vor den Augen des Königs jeweils kollektiv zu räumlichen geometrischen Regelwerken fügen und wieder auflösen, wird im Bild als das Ergebnis einer Bearbeitung und zivilisatorischen Durchdringung der wilden und unkultivierten Natur kraft der königlichen Verwandlungs- und Disziplinarmacht lesbar. Auch das Saturn-Fest im Bild gab den Blick frei auf eine königliche Tafelgesellschaft, die in einer in drei Kompartimente geteilten, hell erleuchteten künstlichen Grotte an drei Tischen platziert war (Abb. 35). Das Arrangement lässt erahnen, dass die königliche Kultivierungs- und Förderarbeit am Gesellschaftskörper sich ebenso im Verborgenen vollzieht wie die unterirdische Förderarbeit der Gemeinschaft der Bergleute: beides erfordert Mühe, harte Plackerei, nicht erlahmende Kraft und Willen, den passiven Widerstand der Materie zu brechen. Während sich die Förderung und Veredelung der Metalle unterirdisch unter dem alltäglichen Wahrnehmungshorizont vollzieht, ist die gesellschaftliche Kultivierungs- und Veredelungsarbeit des Königs in der unsichtbaren überirdischen Dimension des Sublimen angesiedelt: nur im Festerlebnis und nur unter den Bedingungen des Ausnahmestatus wird der Einblick und die empathische Teilnahme in diese heterotopen Räume möglich. Nur im Bild des Festes hingegen wird auch der Arbeitsplan sichtbar, der aller Anstrengung am Bauwerk des Gesellschaftskörpers unterlag. Wie Abbildung 36 zeigt, drückt der Monarch selbst diesem Körper seinen Stempel auf, indem er ihn mit der Prägekraft seines verborgenen, gleichwohl latent allgegenwärtigen Namens A[ugustus] zeichnet (Abb. 36). Der Grundriss des Saturn-Tempels, in dessen Zentrum sich die nach einem A geformte königliche Tafel befindet, während rechts und links davon eine jeweils horizontal ausgerichtete lange rechteckige, von beiden Seiten besetzte Tafel platziert ist, belegt nicht nur den allem unterliegenden Prägungswillen des Monarchen. Die künstliche Grotte präsentiert sich zugleich als ein magisches Spiegelkabinett. Die Spiegeleffekte beabfest-ordnung <?page no="265"?> und utopie 265 sichtigen keine jener optischen Täuschungen und Phantasmagorien, wie sie mit den rinascimentalen Spiegelexperimenten als höfisches Gesellschaftsspiel in Mode kamen. 22 Vielmehr ist im Raum selbst ein spiegelbildliches Lehrstück eingerichtet, welches die für das menschliche Auge nicht wahrnehmbaren Implikationen des Festarrangements freilegen soll. Die virtuelle horizontale Achse, die quer durch die Mitte der Grotte von den beiden langen Tischen gebildet wird, ist rechts und links an den Wänden durch je einen auf gleicher Höhe angebrachten Spiegel begrenzt. Nicht nur sahen die Personen auf diese Weise ihre eigene Tischreihe und die des Nachbartisches durch diesen doppelten Spiegeleffekt ins Unendliche verlängert, sondern erst im Spiegel wird auch sichtbar, dass beide Tafeln sich „in Wahrheit“ in der Person des am Kopf der zentralen Tafel präsidierenden Königs treffen müssen: er ist das notwendige Verbindungsglied aller zentrifugal auseinanderstrebenden sozialen Kräfte. Zugleich verlängern sich auch die diagonalen Tischreihen, die das A der Mitteltafel bilden, durch die an ihrem Ende angebrachten Spiegel über die räumliche Begrenzung der Grotte hinaus scheinbar ins Unendliche: das Namenszeichen des Königs wird durch den Spiegeleffekt für die außerhalb der Grotte befindlichen Personen unsichtbar in das Festereignis hinein projiziert, als dessen Regisseur er so stets präsent bleibt. Der König sieht sich an seinem hervorgehobenen Platz selbst stets im Fluchtpunkt sowohl der Horizontale wie auch im Kreuzungspunkt der beiden Diagonalen, die sämtlich in eine unbegrenzte Dimension räumlich-personeller Vervielfältigung weisen und damit die aus der Hochzeitsverbindung prognostizierte unbegrenzte Zukunft der Dynastie entwerfen. Ein fünfter Spiegel ist an der Innenwand der Grotte im Rücken des Königs angebracht. Dieser verlängert gewissermaßen die Projektion des königlichen Namenssiegels im Rücken des Monarchen noch einmal als umgekehrtes A und fängt zugleich die Spiegelung des unmittelbar gegenüber stehenden Lichtmonuments mit der Signatur A[ugustus] R[ex] (Abb. 32) ein. Während der Rücken des Königs von der vor dem Spiegel stehenden niederen Kredenz verdeckt wird, reflektiert sich die erleuchtete chiffre du Roi im Spiegel als überwältigende Lichtaureole, in der sich nun für jeden in die Grotte Hereintretenden sichtbar die im Spiegel ins Unendliche verlängerten Diagonalen des königlichen Signums A bündeln. 22 Siehe Baltrusaitis, J.: Der Spiegel. Entdeckungen, Täuschungen, Phantasien. Gießen 2 1996. <?page no="266"?> Die Florentiner Festbilder Stefano della Bellas und ihre Rezeption am Wiener Hof 1667 Martina Papiro (Berlin, Florenz) Die höfische Festkultur der Frühen Neuzeit ist uns heute vor allem durch gedruckte Festbeschreibungen mit beigefügten Bildtafeln bekannt. Sie dienten der Memoria und Propaganda, mit der ein Fürstenhof sein spezifisches politisch-kulturelles Profil gestalten und europaweit kommunizieren konnte. In diesem Sinne schrieb am 3. März 1667 Kaiser Leopold I. an seinen Gesandten in Madrid über das am 24. Februar veranstaltete Reiterfest anlässlich seiner Hochzeit: Ich soll es nit loben weill Ich es haldten lassen. Ihr köndt aber gwiß gesicherdt sain, das a saeculis nix solches gesehn worden dahero Ich Euch hiermitt 10 Exemplaria von deßen Beschraibung mitt Kupfer schicken wollen, das Ihr auch was davon under dasige Gesandten und ministros außthailen konndt, das es ein wenig in weldt komb. Verlanget Ihr noch was so will ich Euch ein etliche schicken. 1 Diese Art der höfischen Repräsentation in Text und Bild war in ganz Europa seit dem 16. Jahrhundert verbreitet, doch verstanden besonders die toskanischen Großherzöge der Medici-Familie, diese Möglichkeit des selffashioning für ihren Florentiner Hof zu nutzen, indem sie im Rahmen der Hofpublizistik namhafte Künstler mit der Visualisierung ihrer Feste und Feiern betrauten. Im Auftrag der Medici fertigte der Florentiner Graphiker Stefano della Bella zwischen 1628 und 1661 Darstellungen der wichtigsten Festereignisse des Hofs an, wobei besonders die Radierungen zu den feste a cavallo, den Reiterfesten, als innovative Visualisierungen herausragen. Während die Verbreitung und Rezeption italienischer Fest- und Theaterformen sowie die Bedeutung dieses Kulturtransfers auf künstlerisch- 1 Zitiert nach: Privatbriefe Kaiser Leopold I. an den Grafen F. E. Pötting 1662- 1773. Hrsg. v. Pribram, A. F./ Landwehr von Pragenau, M. Wien 1903, S. 282. <?page no="267"?> die florentiner festbilder stefano della bellas 267 ästhetischer und politisch-sozialer Ebene bereits recht gut erforscht sind, blieben die entsprechenden bildlichen Repräsentationen unbeachtet. 2 Als Bestandteil der höfischen Festkultur leisteten die druckgraphischen Darstellungen einen wesentlichen Beitrag zur Medialisierung von Herrschaftsrepräsentation. Durch Festbilder ließ sich die offizielle Deutung der Spektakel in ästhetisch wirkmächtiger Gestalt vorgeben und damit die intendierte politische Botschaft vermitteln. Es wurden also keineswegs allein die repräsentativen Festformen, sondern auch deren Darstellungsmodi im Medium des Bildes rezipiert. Ein anschauliches Beispiel dafür ist das Wiener Reitspektakel von 1667 anlässlich der Hochzeit des Kaisers Leopold I. und der spanischen Infantin Margarita. 3 Der Wiener Hof war nicht zuletzt durch Verwandtschaftsbeziehungen stark italianisiert und in allen Bereichen der Festkultur und Musik durch italienische Künstler und Kunstformen geprägt. In Wien konnte man zwar auf eine lange Tradition von Turnieren zurückblicken, doch das Rossballett war ein aus Italien importiertes Format: Das erste Rossballett in Wien fand 1631 zur Hochzeit Ferdinands III. statt und war von den Innsbrucker Erzherzögen Leopold V. und Claudia de’ Medici mit Hilfe von Florentiner Künstlern konzipiert und aufgeführt worden. 4 Beim 2 Zu den höfischen Festen der Frühen Neuzeit in Florenz und zum Kulturtransfer vgl. folgende Publikationen mit weiterführender Bibliografie: Ausst.-Katalog: Il Luogo teatrale a Firenze. Hrsg. v. Garbero Zorzi, E./ Fabbri, M./ Petrioli Tofani, A. M. (Florenz, Palazzo Medici Riccardi, 31. 5.-31. 10. 1975). Mailand 1975; Mamone, S./ Venturi, F.: Firenze e Parigi: due capitali dello spettacolo per una regina, Maria de’ Medici. Mailand 1987. Für eine exemplarische Untersuchung der inhaltlichen und formalen Aneignung eines Festes von Turin nach München und Versailles vgl. Watanabe-O’Kelly, H.: „From Italy to Versailles via Bavaria: the Munich Applausi fo 1662 and Les Plaisirs de l’isle enchantée“. In: Mulryne, J. R./ Shewring, M. (Hrsg.): Italian Renaissance festivals and their European influence. Lewiston 1992, S. 197-210. 3 Die Festbeschreibung mit beigefügten Radierungen erschien in italienischer Sprache und gleichzeitig in einer deutschen Übersetzung. [Sbarra, Francesco]: Sieg-Streit/ Deß/ Lufft vnd Wassers/ Freuden-Fest zu Pferd/ Zu dem Glorwürdigisten Beylaeger/ Beeder Kayserlichen Majestaeten/ Leopoldi deß Ersten/ Roemischen Kaysers/ auch zu Hungarn und Boehaim Koenig/ Ertz-Hertzogens zu Oesterreich/ Und/ Margarita/ Gebohrner Koeniglichen Infantin/ auß Hispanien/ Dagestellte/ In dero Kayserlichen Residenz Statt Wienn./ Gedruckt zu Wienn in Oesterreich bey Mattheo Cosmerovio/ der Roem: Kayserl: / Majest: Hoff-Buchdrucker/ Anno 1667. Der italienische Titel lautet: La Contesa dell’aria e dell’acqua, festa a cavallo […], Wien 1667. Eine Aufarbeitung des Spektakels, auf der alle weiteren Forschungen gründen, leistete Haider-Pregler, H.: „Das Rossballett im inneren Burghof zu Wien (Jänner 1667)“. In: Maske und Kothurn 15 (1969) Heft 4, S. 291-324. 4 Vgl. Weiss, S.: „Der Innsbrucker Hof unter Leopold und Claudia de’ Medici (1619-1632). Glanzvolles Leben nach Florentiner Art“. In: Noflatscher, H./ Niederkorn, J. P. (Hrsg.): Der Innsbrucker Hof. Residenz und höfische Gesellschaft in Tirol vom 15.-19. Jahrhundert. Wien 2005, S. 241-347; Seifert, H.: Der Sig- Prangende Hochzeit-Gott. Hochzeitsfeste am Wiener Kaiserhof 1622-1699. Wien <?page no="268"?> 268 martina papiro Wiener Reitspektakel von 1667 waren erneut Italiener für die Ausstattung, Choreographie und Programmatik zuständig, und auch die visuelle Dokumentation folgte dem Florentiner Modell, da sich die Wiener Hofkünstler an den Radierungen Stefano della Bellas zur festa a cavallo von 1661 orientierten. Nicht zuletzt den umfangreichen Forschungen Helen Watanabes verdanken wir wichtige Erkenntnisse über die Geschichte des frühneuzeitlichen Reitspektakels, über die Aufführungspraxis und die politische Bedeutung dieser Festform. 5 Bereits 1992 verglich sie die Reiterfeste in Florenz und Wien hinsichtlich ihrer formalen Struktur und arbeitete dabei die wesentlichen Unterschiede in der Programmatik heraus. 6 Ich möchte mich deshalb hier auf die vergleichende Betrachtung der druckgraphischen Darstellungen konzentrieren, die den offiziellen Festbeschreibungen der Florentiner und Wiener Spektakel beigefügt wurden. Zunächst soll Stefano della Bellas bildliche Inszenierungsstrategie der feste a cavallo vorgestellt werden, der zweite Teil fokussiert auf die Rezeption seiner Radierungen in Wien. Abschließend stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Veränderungen, die beim Transfer der Inszenierungsstrategie von Florenz nach Wien auf der formal-ästhetischen wie inhaltlichen Ebene der Festbilder entstanden. Stefano della Bellas Darstellungsstrategie für die Florentiner feste a cavallo Feste zu Pferd waren eine für den mediceischen Hof spezifische Form des Reitspektakels. Diese Darbietungen verbanden das Turnier, moderne Reitkunst, militärische Dressur- und Geschicklichkeitsübungen sowie theatrale und musikalische Elemente. Der Schauplatz wurde mit ephemerer Dekoration ausgestattet und wandelbare Theatermaschinen erzeugten spektakuläre Effekte. Sänger und Musiker auf Festwagen trugen die Handlung vor, die einem mythologisch-allegorischen Thema oder einer Episode aus einem Ritter-Epos entnommen war und eine inhaltliche Motivation für den Ablauf bot. Prachtvoll kostümierte Reiter und ihr Gefolge 1988, S. 15-16. Zu diesem Rossballett erschien das Libretto von Claudio Panta, dieses enthält keine Bildtafeln. Panta, C.: Il Sole, e dodici Segni del Zodiaco. Balletto epithalamico a cavallo. Seifert dokumentiert für den Wiener Hof zwei weitere Rossballette, 1633 und 1636, diese wurden jedoch nicht mit Drucken dokumentiert, vgl. Seifert, H.: Die Oper am Wiener Kaiserhof im 17. Jahrhundert. Tutzing 1985, S. 436-437. 5 Vgl. besonders Watanabe-O’Kelly, H.: Triumphall shews. Tournaments at German-speaking courts in their European context 1560-1730. Berlin 1992. 6 Ebd., S. 94-97 und 103-106. <?page no="269"?> die florentiner festbilder stefano della bellas 269 traten in Mannschaften gegeneinander an. Die Duelle der Reiter erfolgten als Schaukämpfe, die ebenso choreographiert waren, wie das anschließende Rossballett, zu welchem auch musikalische Begleitung erklang. Bei einer festa a cavallo präsentierten sich Herrscher und Hof in einer theatralen Aufführung, die Stefano della Bella, der unter dem toskanischen Großherzog Ferdinando II. jeweils mit der bildlichen Darstellung beauftragt wurde, virtuos zu inszenieren wusste. Für die drei Florentiner Reiterfeste von 1637, 1652 und 1661 wandte della Bella eine prinzipiell gleich bleibende Darstellungsweise an, die am Beispiel der festa zur Hochzeit des Erbprinzen Cosimo III. 1661 veranschaulicht werden soll. 7 Der Titel des Spektakels lautete Il mondo festeggiante - Die feiernde Welt: Die Personifikationen der vier Erdteile sowie die mit Sonne und Mond verbundenen antiken Gottheiten haben sich in Florenz eingefunden, um dem Brautpaar zu huldigen. Es kommt zum Kampf zwischen den Truppen des jeweiligen Gefolges, weil Asien und Afrika den Vorrang Europas und Amerikas nicht akzeptieren wollen - doch Jupiter erscheint auf einer Wolkenmaschine und setzt den Kämpfen ein Ende. Versöhnt tanzen alle ein Rossballett unter der Führung des Prinzen Cosimo, der sich bereits an den Schaukämpfen in der Rolle des Herkules beteiligt hatte. Dieses Reiterfest fand wie die beiden vorangegangenen im Amphitheater der großherzöglichen Residenz Palazzo Pitti statt. Einzug und Formation werden von della Bella jeweils in einer zentralperspektivischen Gesamtansicht des Schauplatzes kontextualisiert und synthetisiert wiedergegeben. (Abb. 37) Die erste Ansicht zeigt das Amphitheater im Längsschnitt. 8 Der vom linken Rand ins Bild hineinragende Palazzo Pitti und im Hintergrund der Glockenturm und die Domkuppel verorten den mit einer unüberschaubaren Menschenmenge gefüllten Schauplatz unverkennbar in 7 [Giovanni Andrea Moniglia]: Il Mondo/ festeggiante/ balletto a cavallo fatto nel teatro/ congiunto al palazzo del Seresniss./ Gran Duca,/ per le reali nozze/ de’ Serenissimi Principi/ Cosimo terzo/ di Toscana,/ e/ Margherita Luisa/ d’Orleans/ In Firenze, nella Stamperia di S. A. S. 1661. 8 Am unteren Rand der Radierung gibt eine Inschrift Auskunft über das Ereignis: „Comparsa der Ser. mo Principe di Toscana Figuran. do Ercole Accompa. to dai Carri del Sole e della Luna, e seguito de Caualieri d’Europa America. Asia ed Affrica. Nella Festa a Cauallo Rappre. ta Per le Reali Noze dell’ A. S. S. ma / Nel Teatro Congiunto Al Palazo Del Ser. mo G. D.“ Unten links in kleinerer Schrift: „Il Sig. re Alessandro Carducci In. re del Ballo e Battag. ia “, unten rechts: „Ferd. do Tacha Ig. re - S. D. Bella/ 1661“. [„Auftritt des Prinzen der Toskana in der Rolle des Herkules, begleitet von den Wagen der Sonne und des Monde und gefolgt von den Kavalieren Europas, Amerikas, Asiens und Afrikas, im Fest zu Pferd anlässlich der fürstlichen Hochzeit der ehrwürdigen Hoheiten, im Theater beim Palast des Großherzogs“, „Alessandro Carducci Erfinder des Balletts und der Kämpfe“„Ferdinando Tacca Theateringenieur - Radierung von Stefano della Bella, 1661“, sinngemäße Übers.: M. P.]. <?page no="270"?> 270 martina papiro Florenz. Die Theatermaschine in Gestalt des Atlas, der einen Himmelsglobus trägt, ist bereits in der Mitte der Arena positioniert. Prinz Cosimo hoch zu Ross, die Reiterstaffeln der vier Erdteile, die Festwagen von Sonne und Mond sowie Hunderte von Pagen mit Fackeln umkreisen die Arena. 9 Der Einzug ist als geordnete Kreisbewegung inszeniert, die an Darstellungen der Himmelsgeometrie erinnert. (Abb. 38) In der Frontalansicht des Amphitheaters ist die ornamentale statische Formation der Truppen zu sehen, eine sogenannte ordinanza. 10 Die Theatermaschine hat sich in den Atlasberg verwandelt, im Hintergrund ist die Erscheinung Jupiters auf seinem Wagen in einer Wolkenmaschine vorweggenommen. Der Palazzo Pitti mit dem Artischockenbrunnen tritt als aufwendig gestalteter Bildrahmen und zugleich als kunstvolle Architektur in Erscheinung. In diesen zwei Ansichten vermittelte della Bella dem Betrachter eine umfassende räumliche Vorstellung des prächtigen Schauplatzes, in welchem Natur und Kunst, Ephemeres und Dauerhaftes in harmonischem Gleichgewicht erscheinen. (Abb. 39) Der dynamischere Teil des Reitspektakels ist innerhalb eines Liniengitters in Einzelfiguren aufgegliedert und aus der Vogelperspektive überblickt. Die Darstellung der choreographischen Figuren ist in Form zweier von einer Wand herabhängender Pläne fingiert; in der Bildmitte gibt eine Inschrift Auskunft über den Inhalt. 11 Auf der linken Blatthälfte sind in zwölf Feldern die Schaukämpfe mit Pistolen und Degen dargestellt; im untersten rechten Feld erscheint in geänderter Perspektive der deus ex 9 Die Reitspektakel fanden nachts statt, sodass der Schauplatz künstlich beleuchtet werden musste, nicht zuletzt durch unzählige Fackeln, die vom Fußvolk des Gefolges getragen wurden. 10 Die Inschrift im Textfeld am unteren Rand der Radierung lautet: „Ordinanza Nella quale Si fermarono il Ser. mo Princ. pe Le Squadre de Caval, ri ed I carri delle Deita’ intorno al monte d’Atlante nella Festa a Cauallo Rappre. ta Per le Reali Noze dell’ A. S. S. Nel Teatro Cong. to al Pala. zo Del’ S. G. D.“, links darunter in kleinerer Schrift „il S. Aless. ro Carducci I. del Ballo e Battaglia. Ferd. do Tacha Ing. re “, rechts unten: „S. D. Bella/ 1661“. [Ordnung, die eingenommen wurde vom Prinzen, den Kavaliers-Truppen und den Festwagen der Götter um den Atlasberg beim Fest zu Pferd, aufgeführt anlässlich der fürstlichen Hochzeit der ehrwürdigen Hoheiten, im Theater beim Palast des Großherzogs“,„Alessandro Carducci Erfinder des Balletts und der Kämpfe“„Ferdinando Tacca Theateringenieur - Radierung von Stefano della Bella, 1661“, sinngemäße Übers.: M. P.]. Laut Festbeschreibung hatte sich die Theatermaschine bereits vor dem Einzug der Truppen in den Atlasberg verwandelt und die Erscheinung Jupiters tritt erst zum Ende der Schaukämpfe ein - es handelt sich also wiederum um eine Simultandarstellung zeitlich verschobener Ereignisse, die nicht mit dem Text der Beschreibung korrespondiert. 11 Der Text lautet: „PARTE Delle/ Figure della Battaglia e/ Balletto Festa/ A cavallo Rappresentata/ Per le reali Nozze del/ Ser. mo Principe di Toscana/ Nel Teatro del Ser. mo G. D./ Il Sig. re Aless. ro Carducci In. re “ Merkwürdigerweise hat della Bella diese Radierung nicht signiert. <?page no="271"?> die florentiner festbilder stefano della bellas 271 machina, der die Kämpfe beendet. Bei der durch die Nummerierung der Felder suggerierten Leserichtung - zeilenweise von oben links nach unten rechts - steigt die Schwierigkeit der Choreographie von Bild zu Bild, die Reiter sind in immer komplexeren und dynamischeren Formationen zu sehen. Zugleich sind andere Leserichtungen und Bezüge möglich, etwa in vertikalen Spalten, wodurch sich visuelle Entsprechungen (Assonanzen und Reimen vergleichbar) zwischen den Bildfeldern ergeben. Die koordinierte Bewegung der sich duellierenden Reiter erscheint als Sequenz von Kipp-Bildern: Die choreographierte Formation tritt als Ornamentgestalt hervor, zugleich sind die einzelnen Reiter in ihren Bewegungen und Haltungen sichtbar. Der Betrachter wird angeregt, den dargestellten Bewegungsimpuls imaginativ zu ergänzen. Er sieht ein verlebendigtes Ornament, das sich im Werden und Vergehen befindet und zugleich im Moment seiner höchsten Deutlichkeit gezeigt wird. Im gewählten miniaturhaften Maßstab liegt eine produktive Ambivalenz, bei der sich die Makroebene der Ornamentgestalt und Mikroebene der formierten Reiter im optischen Gleichgewicht halten: Reitergestalten und ornamentale Figur sind nicht voneinander zu trennen. Für die Visualisierung des Rossballetts, auf der rechten Hälfte des Blattes, wählte della Bella die abstrakte Darstellungsform als Ellipsen, so dass die Reiter statische Ornamentfiguren bilden; einige Bewegungsverläufe sind durch diagrammatische Linien bezeichnet, beispielsweise im achten Feld. Die dunklen Ellipsen stehen für Cosimo III. und die 16 Reiter, welche die vier mediceischen Sterne (die von Galilei entdeckten Jupitermonde) und die zwölf Tierkreiszeichen darstellen. Die Truppen der vier Erdteile bilden den äußeren Kranz der Figuren. In der Entfaltung variierter symmetrischer Formen um eine zentral positionierte Gestalt kommt die Programmatik der Choreographie des Rossballetts anschaulich zum Ausdruck: Alle Mitwirkenden, synekdochisch für den gesamten Hof, fügen sich in ihrem Reigen einem Ordnungsprinzip, das vom Fürsten gesteuert wird. Die ornamentale Figur als ästhetisierte Geometrie war ein Topos der bildlichen Machtrepräsentation. Die Programmatik der höfischen Tänze wie auch der Rossballette basierte meist auf der Darstellung kosmologischer Ordnung, deren Zentrum mit dem Fürsten identifiziert wurde. So dienten die visuell einprägsamen ornamentalen Figurationen der Choreographie der Verherrlichung des Fürsten. 12 Kulturwissenschaftler wie 12 Als grundlegende Studien zur Bedeutung von Theatertanz, Choreographie und der Notation höfischer Ballette sind zu nennen: Jeschke, C.: Tanzschriften: ihre Geschichte und Methode; die illustrierte Darstellung eines Phänomens von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bad Reichenhall 1983; Ciseri, I.: „Ballets e carrousels: <?page no="272"?> 272 martina papiro Rudolf zur Lippe haben auf die Bedeutung geometrischer Ordnungsprinzipien für die Strukturierung und Disziplinierung der Individuen innerhalb der frühneuzeitlichen Hofkultur hingewiesen; in diesem Sinne sind Festbilder als Veranschaulichungen der idealen höfischen Gesellschaftsordnung zu verstehen. 13 Della Bellas Darstellungsweise mit spezifischen Ansichten für die verschiedenen Teile des Spektakels war stilbildend für die Ikonografie der Florentiner festa a cavallo. Alle drei Radierungen haben das gleiche Großformat (ca. 29 ! 44 cm) und sind mit Inschriften versehen, die ausreichend Information zum Anlass liefern, weshalb sie als autonome Vergegenwärtigung des Festes fungieren können. Sie vermitteln in ihrer Polyperspektivität eine Gesamtübersicht und bieten zugleich Synthese, Detailinformation und Analyse des Ereignisses in künstlerisch durchgeformter, ästhetisierter Gestalt. Im Gegensatz zur etablierten Tradition wird nicht nur der vorausgehende Einzug mit allen Festwagen und kostümierten Teilnehmern in Einzelblättern dargestellt, sondern auch die eigentliche Performance. Die Visualisierungen der Choreographie präsentieren eine rhythmisierte und verzeitlichte Simultanschau der Aufführung, in der das zugrunde liegende Konzept der harmonischen Gruppenbewegung in ornamentaler Gestalt verbildlicht wird. Die Radierungen zum Wiener Reiterfest 1667 Beim Wiener Reiterfest mit dem Titel Sieg-Streit deß Lufft und Wassers sollten die Truppen der vier Elemente im Kampf entscheiden, welches das Ursprungselement der Perle sei - eine Huldigung an die Braut Margarita (margarita, lat. Perle). Die gedruckte Festbeschreibung lag am Tag der Aufführung, dem 24. Januar 1667, in italienischer und deutscher Sprache bereits vor, ausgestattet mit 30 Radierungen unterschiedlichen Formats und der Partitur der Musik zum Rossballett. Es handelte sich nicht nur um eine besonders aufwendige, vermutlich in hoher Auflage gedruckte Dokumentation, sondern auch um die erste Visualisierung eines immagini simboliche nello spettacolo di corte“. In: Graziani, F./ Solinas, F. (Hrsg.): Le ‚ siècle‘ de Marie de Médicis. Actes du séminaire de la Chaire Rhétorique et Société en Europe (XVI e -XVII e siècles) du Collège de France sous la direction de Marc Fumaroli de l’Académie française (Paris 21.-23. 1. 2000). Alessandria 2003, 137-144; van Orden, K.: Music, discipline, and arms in early modern France. Chicago 2005. 13 Vgl. zur Lippe, R.: Naturbeherrschung am Menschen. Bd. 2: Geometrisierung des Menschen und Repräsentation des Privaten im französischen Absolutismus. Frankfurt a. M. 1974. <?page no="273"?> die florentiner festbilder stefano della bellas 273 Reiterfests am Kaiserhof; der Hofmaler Nikolaus van Hoy zeichnete die Vorlagen, die Jan van Ossenbeeck ins Medium der Radierung umsetzte. Bei der Produktion des Spektakels, für die unter anderem Alessandro Carducci, der Choreograph der Florentiner festa a cavallo von 1661 verpflichtet wurde, orientierte man sich am italienischen Vorbild, bei der Illustration entsprechend an Stefano della Bellas Radierungen und damit ebenfalls am maßgeblichen Florentiner Modell. Übernommen wurde die Darstellungsweise mit zwei zentralperspektivischen Gesamtansichten des Schauplatzes, sowie für Schaukämpfe und Rossballett die Vogelperspektive und die Aufteilung in einzelne choreographische Figuren. Natürlich gab es auch signifikante Änderungen und Erweiterungen. Es sollen hier nur die wichtigsten angesprochen werden. Die beiden Gesamtansichten des Schauplatzes im Innern Burghof haben ein monumentales Format von 44,3 ! 70,5 Zentimeter respektive 37 ! 61 Zentimeter (Abb. 40). Wie bei della Bella gibt es eine Seitenansicht, 14 in der alle Mitwirkenden des Einzugs beim Umkreisen der Arena gezeigt sind, und eine Frontalansicht. 15 (Abb. 41) Letztere zeigt allerdings Momente aus dem Verlauf des Spektakels, die auf das abschließende Rossballett bezogen sind, nämlich die Erscheinung des Palasts der Ewigkeit im Hintergrund des Bildes, und der Einzug Kaiser Leopolds I. mit zahlreichem Gefolge. Durch den größeren Maßstab sind die Elemente wie etwa die Festwagen zwar besser lesbar, doch verlieren dabei die Kompositionen, besonders bei der Seitenansicht, an Stringenz: Auf den Wiener Blättern fügen sich die Bildelemente nicht zu einem ornamentalen Ganzen zusammen, wie es in della Bellas Ansich- 14 Die Inschrift im Textfeld am unteren Rand lautet: „Comparsa dei Caualieri, e loro seguito con le Macchine, et accompagnate de gli Elementi, la Prima dell Aria condotta dal Ser: mo Principe Carlo di Loreno con quella del Fuoco, sua ausiliaria, guidata dall Ill. mo et Ecc. mo Sig. r Conte Raimondo di Montecuccoli, Tenente Gnle dell’Army di sua Mstà Ces. a e suo Consig.ro di Stato; e l’altra dell Acqua/ sua contraria condotta dal Ser: mo Prpe. Filippo Palatino di Sulzpach con la sua seconda della Terra, guidata dall Ill.mo et Ecc.mo Sig.ro Conte Gundacher di Dittrichstein, Consig.ro di Stato e Cau. zo Magg. r o di sua Mstà. Ces. a ; Nella Festa a Cauallo rappresentata nela Maggior Cortile dell’ Imperiale Residenza in Vienna, per le Augustissime Nozze di sua/ Mstà. Cesa: “ In kleinerer Schrift zuunterst in der Mitte: „Ordinata e disposta dal Sig. ro e Cau. re Alessandro Carducci“, in kleinerer Schrift unten rechts: „Nicolaus van Hoy S.C.M. pic et del: Francuscus vanden Stein S. C. M. sculp: et fe: “ 15 Die Inschrift im Textfeld am unteren Rand lautet: „Comparsa di Sua Msta Ces. a dal Tempio dell’Eternita; rappresentando il suo August.mo Genro; Seruita da numeroso Corteggio, con dodici Caualieri, che Figurano altri Geni de i Cesari Austriaci, Seguiti dal Carro della Gloria con sue accompagnature; Nella Festa a Caullo Fatta nel maggior Cortile dell’/ Imperial Residenza di Vienna, per le sue Augustissime Nozze./ Ordinata e disposta del Sig ro Cau re Alessandro Carducci.“, in kleinerer Schrift unten rechts: „Carlo Pasetti Architetto/ N. van Hoy, S. C. M. pic. et delin/ Joanus Ossenbeck fe: in Aqua forti.“ <?page no="274"?> 274 martina papiro ten der Fall ist. So bleiben etwa die Festwagen distinkt wahrnehmbar (vgl. Abb. 40) und gehen nicht derart in die übergeordnete Gesamtformation über wie die Gestalten della Bellas (Abb. 37). Alle sechs Festwagen des Wiener Spektakels, die bereits auf den Gesamtansichten gut erkennbar waren, wurden zudem noch einmal separat auf Einzelblättern dargestellt. 16 Der Leser-Betrachter konnte anhand dieser Blätter die ausführlichen Beschreibungen des Textes genauer nachvollziehen. Als luxuriöse Erweiterung knüpft diese Bilderfolge an eine beinahe hundertjährige Tradition von Darstellungen festlicher Einzüge und Maskeraden an. 17 Die Visualisierung der Schaukämpfe und des Rossballetts erfolgt zwar im gleichen Darstellungsmodus wie bei della Bella, also aufgegliedert in verschiedene choreographische Formationen, doch jede Formation ist separat auf einem einzelnen Blatt gedruckt und nicht wie beim Florentiner Modell als Teil eines Bewegungsablaufs vergegenwärtigt. Die Einblattdrucke sind dem Seitenformat der Festbeschreibung angepasst. Die acht nummerierten, querformatigen Schaukampf-Figuren sind außer mit einer Inschrift auf dem ersten Blatt nicht bezeichnet. 18 (Abb. 42) Die Darstellung als Einzelbild und das der Textseite angepasste Format (14 ! 20 cm) beanspruchen Aufmerksamkeit, doch ist der Informationsgehalt letztlich gering. 19 Die Vergegenwärtigung der Dynamik und der Prozessualität, die beim Florentiner Modell durch die Simultanansicht der Bildsequenz erreicht wird, ist hier nicht gegeben. (Abb. 43) Die Fol- 16 Es handelt sich mit Ausnahme des ersten um querformatige Bilder (ca. 28 ! 43 cm), mit dekontextualisierten Profilansichten der Festwagen mit folgenden Inventionen: Schiff der Argonauten (Hochformat aus zwei übereinander geklebten Blättern, Platte 58,7 ! 44,4 cm), Grotte des Vulkan (für das Element des Feuers), Meeresbucht mit Neptun und Tritonen (für das Element des Wassers), Garten der Berecinthia (für das Element der Erde), Gruppe von Wolken mit Juno und Iris auf einem Regenbogen (für das Element der Luft), Wagen der Glorie (aus dem Gefolge Kaiser Leopolds). 17 Der Festwagen mit der Grotte des Vulkan und der Garten der Berecinthia gehen beispielsweise auf die Festwagen der Florentiner sbarra von 1589 zurück, die von Orazio Scarabelli radiert wurden. In Florenz waren Einzeldarstellungen der Festwagen spätestens seit 1616 nicht mehr üblich. Schon Callots Figurinen und Festwagen- Darstellungen zur „Guerra d’amore“ und „Guerra di bellezza“ fassen bereits mehrere Gestalten auf einem Blatt zusammen. Die genannten Radierungen sind abgebildet im Ausst.-Katalog: Theater art of the Medici. Hrsg. v. Blumenthal, A. R. (Dartmouth College Museum & Galleries, 10. 10.-7. 12. 1980). Hanover (NH) 1980. 18 Die Inschrift auf dem ersten Blatt der Schaukampf-Figuren lautet: „Parte delle Figure dei Caroselli, Festa a Cauallo per le Augusto/ Nozze S. C. M/ Formata dal Sig: re Cau: re Alessandro Carduci./ Nicolaus van Hoy, S. C. M. pic: et delin: fe: “ 19 Die mikroskopische Feinheit der Radierungen della Bellas spornt den Betrachter zum neugierigen Entziffern der Detailfülle an; die nahsichtige Erschließung ist wesentlich für die ästhetische Rezeption der Darstellungen. Dagegen könnte der größere Maßstab der Wiener Figuarationen mit ihrer eventuellen Funktion als ‚Anleitung‘ für die Nachahmung eines Reitspektakels begründet werden. <?page no="275"?> die florentiner festbilder stefano della bellas 275 ge der 13 Figuren des Rossballetts (27 ! 18,5 cm), bei dem der Kaiser selbst mittanzte, vermittelt trotz der schwerfälligen Darstellungsweise die Vielfalt der ornamentalen Figuren. 20 Zudem werden der Raum und die akustisch-musikalische Dimension evoziert: Inschriften verweisen auf den Wechsel der Musik und des Rhythmus’ für die Kunstreiter, deren Sprünge durch den Schattenwurf und die Überschreitung der Rahmenlinie wirksam inszeniert sind. Diese bildet nun entsprechend dem realen Schauplatz ein Feld mit runden Schmalseiten und zeigt die Zugänge zur Arena, wodurch diese nicht als abstrakter Bildgrund, sondern als aus verschiedenen Richtungen begehbarer Raum markiert wird. (Abb. 44) Die Darstellung der retirata, des Auszugs der Truppen, kombiniert verschiedene Darstellungsmodi: 21 Eine abstrakte Umrisslinie bezeichnet den Schauplatz in Draufsicht, während die Reiter in einer perspektivischen Frontalansicht gezeigt sind. Der Umriss der Arena und die Disposition des Aufzugs nehmen monumentalisierend diejenigen der Frontalansicht (Abb. 41) auf, sodass ein verbindender formaler Bezug zwischen den beiden Tafeln besteht. Auch dieses Herausstellen der militärischen Kapazitäten, bei dem zum Schluss der Fokus allein auf die paradierende Kavallerie gestellt wird, geht auf Radierungen della Bellas zurück, die er 1652 zu einem Reiterfest des Herzogs von Modena Francesco I. d’Este fertigte. 22 Wettstreit der europäischen Höfe Dynastische Hochzeiten und die in diesem Kontext veranstalteten Festivitäten waren seit jeher Anlass, sich der europäischen (Hof-)Öffentlichkeit zu präsentieren und sich politisch zu positionieren. Auch das Wiener Reiterfest und seine aufwendige Dokumentation in einem Festbericht sollten sub specie der allegorisch verbrämten, grandiosen Unterhaltung die Herrschaftsansprüche Leopolds I. deutlich machen. Der Kaiser wollte sich 20 Das erste Blatt zum Rossballett trägt die Titelinschrift: „Parte delle Figure del Balletto, Festa a Cauallo Rappresentata nelle/ Auguste Nozze di Sua Msta Ces a ./ Formata dal Signo: re Cau: re Alessandro Carducci./ Nicolaus van Hoy. S. C. M. pic: et delin: / Joan. Ossenbecck fec.“ 21 Die Inschrift auf diesem letzten Blatt der Wiener Serie von 1667 lautet: „Retirata di S. M. C. Seguita da Capi Squadri, Caualieri, et accompagnature della Festa, nel Tempio delle Eternità. Links unten: „N. van Hoy S. C. M. pic: et del: “, rechts unten: „I. Ossenbeck fe: “. Die Plattenmaße sind mit ca. 28 ! 43 cm gegenüber denjenigen der beiden „Comparse“ kleiner. 22 Es handelt sich um die Radierungen zum Reiterfest mit dem Titel La gara delle stagioni. Abbildungen in de Vesme, A./ Dearborn Massar, P.: Stefano della Bella: catalogue raisonné. With introduction and additions by Phyllis Dearborn Massar. New York 1971. Bd. 2, Kat. Nr. 52 und Kat. Nr. 62. <?page no="276"?> 276 martina papiro gegenüber den spanischen Habsburgern als Ebenbürtiger behaupten und natürlich seine spanische Braut angemessen empfangen. Vor allem aber galt es, mit den Festivitäten den rivalisierenden französischen Hof Ludwigs XIV. zu übertrumpfen. Dessen Hochzeit war 1660 mit einem festlichen Einzug und theatralen Darbietungen gefeiert worden, 23 doch die ursprünglich geplante Hochzeitsoper Ercole amante/ Hercule amoureux wurde nicht rechtzeitig fertig. Die Oper kam erst zum Karneval 1662 heraus und das zugehörige Libretto wurde ohne Bildtafeln veröffentlicht. 24 Ein Reitspektakel oder Turnier ist für 1660 nicht dokumentiert, obschon am Pariser Hof neben den bedeutenden Tanztheateraufführungen mit dem Ballet de cour auch turnierartige Reitspektakel durchaus Tradition hatten - besonders berühmt war dasjenige von 1612 anlässlich einer königlichen Doppelhochzeit. Das von Ludwig XIV. veranlasste Grand Carrousel, ein Ring- und Kopfrennen mit Lanzen und Wurfspießen ohne Theatermaschinen, wurde 1662 bei den Tuilerien aufgeführt; aus Versailles sind die Plaisirs de l’isle enchantée mit Ringrennen zu nennen, die sich ihrerseits an italienischen Vorbildern orientierten. 25 Den Festivitäten Ludwigs XIV. fehlte bis dahin allerdings die Propaganda mit illustrierten Festberichten aus der Hofdruckerei - eine solche setzte erst Jahre später ein. 26 Dagegen ließ Leopold I. unmittelbar nach dem Reiterfest die bereits gedruckten illustrierten Festbeschreibungen durch seine Gesandten an die europäischen Höfe verteilen und sicherte sich und seiner Festkultur damit eine dauerhafte mediale beziehungsweise visuelle Präsenz, 23 Der Friedensschluss Frankreichs mit Spanien wurde 1660 mit der Hochzeit Ludwigs XIV. und der Infantin Maria Theresa, der älteren Schwester Margaritas, besiegelt. Zur Hochzeit in Paris 1660 wurde in den Tuilerien ein zunächst aus ephemerer Holzarchitektur bestehender Theatersaal eingerichtet, der 1662, mit modernster Theatermaschinerie fest ausgebaut, der Aufführung der königlichen Ballette, Opern und Dramen diente. 24 Ich danke Christian Quaeitzsch für die Informationen zur Hochzeitsoper Ercole amante/ Hercule amoureux und zu den Publikationen weiterer Feste Ludwigs XIV. 25 Perrault, C.: Course de Testes et de Bague, faites par le roy, et par les princes et seigneurs de sa Cour, en l’année 1662, Paris 1670; [Félibien, A.]: Les plaisirs de l’isle enchantée. Course de bague; collation ornée de machines; comédie, meslée de danse et de musique; ballet du palais d’Alcine; feu d’artifice: et autres festes galantes et magnifiques, faites par le Roy à Versailles, le VII. may M.DC.LXIV et continuées plusieurs autres jours. Paris 1673. Zu letzterem Fest vgl. Watanabe- O’Kelly 1992 (wie Anm. 5), S. 106-109; Watanabe-O’Kelly 1992 (wie Anm. 2), S. 206-208. 26 Diese mit Illustrationen versehenen Publikationen dokumentierten also festliche Ereignisse, die bis zu zehn Jahren zuvor stattgefunden hatten. Für die Dokumentation und Inszenierung der Festkultur am Hofe Ludwigs XIV. vgl. den Beitrag von Christian Quaeitzsch in diesem Band; sowie ders.: „Une société de plaisirs“. Festkultur und Bühnenbilder am Hofe Ludwigs XIV. und ihr Publikum. Berlin/ München 2009. <?page no="277"?> die florentiner festbilder stefano della bellas 277 während der französische Rivale nicht in dieser Form vertreten war. 27 In Paris nahm man die illustrierte Festbeschreibung des Sieg-Streit deß Lufft- und Wassers durchaus zur Kenntnis, denn die für den spanischen Hof bestimmten Exemplare wurden im Frühjahr 1667 mehrere Wochen in Paris „festgehalten“. 28 Dass im folgenden Jahr die Propagierung der Pariser und Versailler Hoffestivitäten in gedruckten Beschreibungen und Stichserien in Angriff genommen wurde, indiziert, dass sich nun auch der französische Hof des effizienten Mediums der Festpublizistik bedienen wollte. „Sieg-Streit“ der Bilder Wenn somit die schriftliche und bildliche Dokumentation höfischen Festgeschehens durch mediale Verbreitung zum machtpolitisch wirksamen Instrument der Herrschaftsrepräsentation werden kann, stellt sich die Frage nach der Rolle der bildlichen Inszenierungsstrategien. Welche Bedeutung hatte ein spezifisches Erscheinungsbild oder ein künstlerischer Darstellungsmodus als Mittel der Profilierung und Distinktion? Und warum übernahm man in Wien wesentliche Teile der Florentiner Darstellungstradition? Einerseits erscheint es nahe liegend, nicht nur die italienische Form der festa a cavallo, sondern auch die Form ihrer Dokumentation in einem illustrierten Festbericht zu importieren. Wie die Oper war die festa a cavallo eine relativ junge multimediale Art von Spektakel, die in den Radierungen Stefano della Bellas eine ebenso innovative wie technisch brillante Visualisierung gefunden hatte. 29 Indem man neben der Festform auch die neuartige Bildstrategie übernahm, gab man klar zu erkennen, dass in Wien eine Festkultur gepflegt wurde, die den Anspruch hatte, auf der Höhe der aktuellen künstlerischen Entwicklung zu sein. Zudem waren die Medici langjährige Verbündete und Verwandte der österreichischen Habsburger, die aber als Großherzöge weder hierarchisch noch territorial in einem Konkurrenzverhältnis zum Kaiser standen wie etwa der franzö- 27 Vgl. Seifert 1985, wie Anm. 4, S. 59-60; Haider-Pregler, wie Anm. 3, S. 322. 28 Die entsprechenden Stellen aus der Korrespondenz zwischen Leopold I. und seinem Gesandten in Madrid, Graf Franz Eusebius von Pötting, sind zitiert bei Haider- Pregler (wie Anm. 3), S. 321-322. 29 Eine hervorragende Einführung zu Stefano della Bellas Kunst bietet der Ausstellungskatalog Stefano della Bella. Ein Meister der Barockradierung. Hrsg. v. Schäfer, D./ Mack-Andrick, J. (Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle 4. 6.-21. 8. 2005) Karlsruhe 2005. <?page no="278"?> 278 martina papiro sische König. 30 Die Übernahme einer Festform höchsten künstlerischen Anspruchs mitsamt ihrer bildlichen Darstellungsweise war insofern unproblematisch, als sich Leopold I. nicht gegenüber den Florentinern behaupten oder von ihnen absetzen musste. Andererseits waren della Bellas Radierungen zu den feste a cavallo nicht allein inhaltlich, sondern auch bezüglich ihrer Darstellungsweise bereits fest mit dem Florentiner Hof verknüpft - auch die künstlerische Inszenierungsstrategie war als Bestandteil der höfischen Repräsentation zu einem distinguierenden Markenzeichen für die Medici geworden. Der 1664 verstorbene della Bella war ein international bekannter und geschätzter Graphiker, der zeitlebens von den Medici gefördert wurde und zugleich während seines Aufenthalts in Paris in den 1640er Jahren auch von Richelieu, Mazarin und der französischen Königin Anna von Österreich Aufträge erhalten hatte. Seine den Festbeschreibungen beigefügten Radierungen zu den mediceischen Festen waren längst in aufwendig gebundenen Exemplaren in den Bibliotheken des Pariser und Wiener Hofs präsent. Die Wiener Dokumentation musste sich davon auch abheben, um nicht den Eindruck uneigenständigen, epigonenhaften Vorgehens zu erwecken. Ein erster Schritt bestand darin, die dem Florentiner Vorbild entsprechenden Darstellungen als Werke hofeigener Künstler zu markieren. So erscheint auf jeder Tafel die Signatur des Nicolaus van Hoy, des Hofmalers, der die Vorlagen für alle Radierungen lieferte: „S. C. M. pic. et del.“. 31 Die weiteren Schritte betreffen formale Aspekte und den Darstellungsmaßstab. Die Fülle, Vielfalt und Größe der Wiener Radierungen hebt den festlichen Aspekt des Freuden-Fests zu Pferd hervor. Dabei wird della Bellas Inszenierungsstrategie für eine anders gelagerte politische Aussage genutzt als in Florenz. Durch die heterogenen Formate, die Vereinzelung und die Maßstabwechsel entfällt die vereinheitlichende visuelle Struktur. Die Strategie des ‚Mehr‘ und ‚Größer‘ in der bildlichen Dokumentation des kaiserlichen Reiterfests regt vor allem die Schaulust der Betrachter an: Die vielen Illustrationen lenken die Aufmerksamkeit auf die Motive an sich, auf Fantasie und Zauber des Spektakels. So kann etwa 30 Das positive politische Verhältnis zwischen den Höfen ist eine Grundbedingung für die Rezeption und den Austausch spezifischer Formen von Festkultur. Ludwigs XIV. Rezeption des italienischen Modells für seine Plaisirs de l’isle enchantée erklärt sich unter anderem mit verwandtschaftlichen Bezügen und politischen Allianzen mit den Höfen von Turin und München, vgl. Watanabe-O’Kelly 1992 (wie Anm. 5), 207-208. 31 Ausgeschrieben wohl: S[uae] C[esareae] M[aiestatis] pic[tor? ] et del[ineavit]. Dies ist grammatikalisch nicht ganz korrekt. Da jedoch auch die italienischen Inschriften und Signaturen dieser Radierungen oft Fehler enthalten, ist diese falsche Reihung konventionalisierter Kürzel nicht überraschend. <?page no="279"?> die florentiner festbilder stefano della bellas 279 die aufwendige Theatermaschine mit dem Argonautenschiff im Detail bestaunt, kann eine komplexe Reiterformation gewürdigt werden, doch die Bilder erscheinen nicht als Glieder eines übergreifenden Ordnungssystems. Neben der Behauptung der Herrschertugend der magnificenza, die sich im Aufwand und Überfluss des Festereignisses ausdrückt, ließe sich die Funktion dieser Strategie der Vielfalt und Fülle mit dem Konzept der ostentativen Verschwendung als Status sichernde Verhaltensnorm der höfischen Elite verbinden. 32 Ungleich disziplinierter und zugleich künstlerisch effektvoller ist die Inszenierungsstrategie der Florentiner Reiterfeste. Die drei Radierungen Stefano della Bellas zur festa a cavallo von 1661 evozieren die Stabilität und Stärke der Medici-Herrschaft, indem sie alle Elemente des Festgeschehens einer kontextualisierenden Bildordnung unterwerfen. Die Theatermaschinen, Festwagen und Kostüme sind in den Visualisierungen dokumentiert, doch nur innerhalb der kontextualisierenden Festarchitektur oder des künstlerisch gestalteten Zeitablaufs der Choreographie - kein einziges Festelement erscheint isoliert oder ungebunden. Della Bella setzt Rahmen, Raster und perspektivische Konstruktionen als Dispositive der Visualisierung ein, die das Sujet - die Vorführung disziplinierter Reitkunst in der Medici-Residenz - gesamthaft einfassen. Der Nachvollzug der Bildstruktur und ihrer ästhetischen Qualitäten führt die Betrachter unweigerlich zu deren Parallelisierung mit dem dargestellten Inhalt: Der Medici-Hof als stabiler Kosmos, an dem sich Herrschaft als künstlerische Gestaltung und ästhetisierte Ordnung entfaltet und legitimiert. 32 Vgl. Bauer, V.: Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie. Tübingen 1993, S. 10-13. <?page no="280"?> Die Divertissements des Sonnenkönigs: Dokumentation und Rezeption ephemerer Festkunst am Hofe Ludwigs XIV. 1 Christian Quaeitzsch (München) […] toute la cour se trouvant si satisfaite de ce qu’elle avait vu, que chacun crut qu’on ne pouvait se passer de le mettre par écrit pour en donner la connaissance à ceux qui n’avaient pu voir des fêtes si diversifiées et si agréables, où l’on a pu admirer tout à la fois le projet avec le succès, la libéralité avec la politesse, le grand nombre avec l’ordre, et la satisfaction des tous. […] enfin où chacun a marqué si avantageusement son dessein de plaire au Roi dans le temps où Sa Majesté ne pensait elle-même qu’à plaire. 2 Mit diesen enthusiastischen Worten charakterisierte ein anonymer Autor seine panegyrische Schilderung der Plaisirs de l’île enchantée. Es handelte sich hierbei um ein dreitägiges Themenfest, das der junge Ludwig XIV. für einen Kreis von mehreren hundert geladenen Gästen im Mai 1664 im Park des damals noch unausgebauten und einer weiteren Öffentlichkeit nahezu 1 Der im Rahmen der Tagung „Staging Europe“ 2009 gehaltene Vortrag, präsentiert Ergebnisse meiner Dissertation: „Une société de plaisirs“. Festkultur und Bühnenbilder am Hofe Ludwigs XIV. und ihr Publikum, erschienen im Deutschen Kunstverlag, München 2010. 2 „[…] der ganze Hof war so begeistert von dem, was er gesehen hatte, dass jedermann es für notwendig hielt, einen schriftlichen Bericht zu verfassen, um denen, die sie nicht hatten sehen können, von diesen so vielfältigen und angenehmen Festlichkeiten Kenntnis zu geben, wo man gleichzeitig die Planung und den Erfolg, die Freizügigkeit mit der Höflichkeit, die große Zahl mit der Ordnung und die allgemeine Zufriedenheit bewundern konnte […] schließlich, wo jeder so vorteilhaft sein Ziel, dem König zu gefallen, bezeugte in einem Moment, in dem Seine Majestät selbst nur zu gefallen wünschte.“ [Übers.: C. Q.] Les Plaisirs de l’île enchantée. Course de bague, collation ornée de machines, comédie mêlée de danse et de musique, Ballet du Palais d’Alcine, Feu d’artifice et autres fêtes galantes et magnifiques faites par le Roi à Versailles, le 7 mai 1664, et continuées plusieurs autres jours [Paris, Ballard 1664]. In: Molière, J.-B.: Œuvres complètes. Hrsg. v. Couton, G. Paris 1973. Bd. 1, S. 751-829, hier 768. Autor des Berichts dürfte der sonst unbekannte Sieur de Bizincourt sein, der das Vorwort einer handschriftlichen Version des Textes, die ausgewählten Teilnehmern des Festes überreicht wurde, unterzeichnete. <?page no="281"?> die divertissements des sonnenkönigs 281 unbekannten Jagdschlosses Versailles veranstaltete. Basierend auf einer der beliebtesten Episoden aus Ludovico Ariosts Epos Orlando furioso verkörperten der König und eine ausgewählte Schar junger Aristokraten Ritter im Bann der verführerischen Magierin Alcina, auf deren Geheiß sie die Festgäste mit einem Ringrennen, einem nächtlichen Festmahl und einer Theateraufführung erfreuten. Den Höhepunkt bildete ein Ballett auf einer ephemeren Bühne, die im großen Bassin des Parks aufgebaut worden war und Alcinas Zauberpalast darstellte. Hier befreite sich der von Ludwig dargestellte Tugendheld Ruggiero aus Alcinas Verführung, deren Domizil daraufhin im Rahmen des abschließenden Feuerwerks ein Raub der Flammen wurde. Dieses beeindruckende Spektakel, das noch 1756 von Voltaire als ein Höhepunkt des Siècle de Louis XIV gepriesen werden sollte, war jedoch nur der Auftakt einer Reihe von prunkvollen Festen, die der französische König in den 1660er und 1670er Jahren in Versailles, seinem immer eindeutiger bevorzugten Aufenthaltsort, veranstaltete. Vor allem zwei Feiern sind hier zu nennen, die durch ausführliche Berichte aus der Feder des königlichen Historiographe du roi et des ses bâtiments André Félibien hervorgehoben wurden: Am 18. Juli 1668 feierte Ludwig unter den Augen von circa 3000 Gästen den Abschluss seiner ersten eigenverantwortlichen Militäraktion, des sogenannten Devolutionskrieges, mit Festmahl, Ball und Theateraufführung. Hierfür wurden jeweils eigene Festpavillons errichtet und aufwendig mit kurzlebigen Wasserspielen von erstaunlicher Vielfalt ausgestattet. Einige Jahre später, im Sommer 1674, demonstrierte der Sonnenkönig mitten im Holländischen Krieg mit einer Folge von sechs verschwenderischen Festtagen die Unerschöpflichkeit der französischen Ressourcen. 3 Nominell handelte es sich bei diesen Veranstaltungen jeweils um divertissements, also zerstreuende Lustbarkeiten, die der König als galanter Gastgeber zur Unterhaltung seiner Höflinge, primär der Damen, ausrichtete. Gleichwohl waren sie vor ihrem jeweiligen zeitgeschichtlichen Hintergrund eindeutig als Machtdemonstrationen für die Augen des In- und Auslandes zu erkennen. Dieser Anspruch äußerte sich nicht zuletzt in der opulenten, für höfische Lustbarkeiten in Frankreich unüblichen Form ihrer Bewahrung: Zusammen mit den Plaisirs de l’île enchantée wurden 3 Siehe Félibien, A.: Relation de la feste de Versailles du 18 e juillet 1668 [Paris, Pierre Le Petit 1668]. In: Ders.: Recueil de descriptions de peintures et d’autres ouvrages faits pour le Roy. Paris, veuve de S. Marbre-Cramoisy 1689, S. 197-270 und Félibien, A.: Les Divertissements de Versailles donnez par le Roy à toute sa cour au retour de la conqueste de la Franche-Comté en l’année 1674. [Paris, J.-B. Coignart 1674]. In: Ders.: Recueil de descriptions de peintures et d’autres ouvrages faits pour le Roy. Paris, veuve de S. Marbre-Cramoisy 1689, 391-458. <?page no="282"?> 282 christian quaeitzsch die Feste von 1668 und 1674 in jeweils mehrjährigem Abstand zu den Ereignissen von den erprobten Kupferstechern Israël Sylvestre, Jacques Le Pautre und François Chauveau in repräsentativen Stichfolgen festgehalten, die zusammen mit einer Neuauflage von Félibiens Beschreibungen herausgegeben wurden. Vereint oder getrennt konnte die Dokumentation der Feiern in Text und Bild solcherart gestreut werden und einen Eindruck der französischen Festkultur in Europa begründen, der nicht nur im 17. und 18. Jahrhundert, sondern letztlich bis heute unser Bild vom Leben am Hofe Ludwigs XIV. prägt und sich bis in die Bereiche der Populärliteratur und des Kinos niederschlägt. So wurden etwa in Schweden, das Frankreich seit dem Dreißigjährigen Krieg traditionell eng verbunden war, über Ländergrenzen und konfessionelle Schranken hinweg die Vorbilder aus Paris und Versailles begeistert aufgegriffen: Das Reiterspiel, mit dem 1672 in Stockholm die Thronbesteigung Karls XI. gefeiert wurde, 4 orientierte sich über weite Strecken an dem großen Carrousel, mit dem Ludwig XIV. 1662 in Paris die Geburt seines Sohnes - und wohl auch seine kurz zuvor verkündete Übernahme der alleinigen Regierungsverantwortung - angezeigt hatte. Auch dieses Spektakel war 1670 in einer aufwendigen Prunkpublikation verewigt worden. 5 Ebenso fand die französische Festkultur am Wiener Hof des Kaisers, einem politischen Hauptkonkurrenten des Roi Soleil, ein reges Echo: Schon die großen Theaterfeste Leopolds I. - die Aufführungen von Cestis Pomo d’oro (1668) und Draghis Fuoco eterno (1674) - fanden in auffälliger zeitlicher Nähe zu Ludwigs XIV. tagespolitisch motivierten Feiern in Versailles statt und wurden wie diese in großartigen Stichfolgen idealisierend festgehalten. Als Leopolds Sohn Karl VI. 1716, ein Jahr nach dem Tod des Sonnenkönigs, die Geburt eines Erben feierte, ließ man im Park des kaiserlichen Lustschlosses Favorita eine Teichbühne errichten, auf der eine Adaption von Ariosts Alcina-Episode aufgeführt wurde. 6 (Abb. 45) 4 Siehe den von David Klöcker Ehrenstrahl illustrierten Festbericht: Certamen equestre caeteraqve solemnia celebrata Holmiæ Svecorum anno M.DC.LXXII. mense decembri cum serenissimus & potentissimus princeps ac dominus Carolus XI aviti regni regimen omnium cum applausu capesseret. Stockholm 1672. 5 Siehe Perrault, C.: Courses de Testes et de Bagve faites par Le Roy et par les Princes et Seigneurs de Sa Cour en l’Année M.DC.LXII. Paris, Imprimerie Royale 1670. Noch den Festorganisatoren Augusts des Starken diente Perraults Bericht 1709 als Inspiration für ein „Carrousel der vier Erdteile“, das anlässlich des Besuchs des dänischen Königs Friedrich IV. veranstaltet wurde. Siehe Ausst.-Kat.: Eine gute Figur machen. Kostüm und Fest am Dresdner Hof. Hrsg. v. Hölscher, P./ Schnitzer, C. (Dresden, Kupferstich-Kabinett, 10. 9.-3. 12. 2000). Amsterdam/ Dresden 2000, S. 158-168. 6 Siehe Dembski, U.: „Theateraufführungen in Wien 1716“. In: Ausst.-Kat.: Theatrum Mundi. Die Welt als Bühne. Hrsg. v. Küster, U. (München, Haus der Kunst 24. 5.-21. 9. 2003). Wolfratshausen 2003, S. 34-37. <?page no="283"?> die divertissements des sonnenkönigs 283 Orientierte man sich mit Angelica vincitrice di Alcina also bereits fühlbar am Vorbild der Plaisirs de l’île enchantée, wurde der Bezug vollends transparent in der nachträglich angefertigten Stichfolge, die sich in der Bildkomposition deutlich auf das Vorbild von Sylvestres Versailler Bildserie bezog, die 1673, also über vier Jahrzehnte zuvor, fertiggestellt worden war. (Abb. 46) Diese wenigen Beispiele scheinen bereits Richtung und Einfluss des Vorbildes der französischen Festkultur auf die europäischen Höfe des 17. und 18. Jahrhunderts klar aufzuzeigen. Doch gilt es, sich stets zu vergegenwärtigen, dass die Bilder, die das Ausland und die Nachgeborenen von den Festen am Hof des französischen Königs empfingen, vermittelt und aktiv gestaltet waren. Sie entstanden zum Teil Jahre nach den bereits historisch gewordenen Ereignissen, die sie gleichwohl authentisch zu dokumentieren beanspruchten. Kaum überraschend lassen sich daher große Unterschiede gegenüber dem unmittelbaren Eindruck feststellen, den europäische Besucher der Feiern empfingen und in vielfältigen, jedoch überwiegend privaten und inoffiziellen Zeugnissen festhielten. Im Folgenden soll daher untersucht werden, welche Aspekte der Spektakel die Höfe Europas durch welche Kanäle erreichten und inwieweit diese die Rezeption der Ereignisse beeinflussten. An erster Stelle steht dabei die Frage, inwieweit die Veranstalter im Rahmen der persuasiven Atmosphäre festlicher Prachtentfaltung die Rhetorik der Versailler Festikonografie nutzen konnten, um aktuelle Positionen der französischen Krone sichtbar zu machen und zu transportieren. So gestaltete der Dessinateur du roi Henry Gissey den oktogonalen Pavillon, in dem 1668 das Festmahl eingenommen wurde, als freies Abbild des Sonnenpalastes gemäß der Beschreibung in Ovids Metamorphosen: 7 Illuminierte Reliefs mit Darstellungen der Jahreszeiten wiesen diese als die Gefolgsleute Apollo/ Sols aus; beleuchtete, vielfarbige Wasserspiele inszenierten mit ihren Reflexen das Licht als wichtiges Gestaltungselement und imitierten den Edelsteinschmuck des Götterpalastes. Den Großteil des Textabschnitts, den Félibiens Beschreibung dem Souper-Saal widmete, beanspruchte die Beschreibung der Tafeldekoration, ein monumentaler Tischbrunnen, der das inhaltliche Zentrum der Raumausstattung bildete. 8 Auf einem künstlichen Felsen bäumte sich der silberne Pegasus auf, unter dessen Hufen die Musenquelle entsprang. Die Figur des Apoll, der unter dem Flügelpferd saß, sowie vier Flussgötter als Personifikationen der Erdteile ergänzten das Bildprogramm. (Abb. 47) 7 Ovidius Naso, P.: Metamorphosen, Epos in 15 Büchern. Übers. u. hrsg. v. Breitenbach, H. Stuttgart 1988, Buch 2, Vers 1-30, S. 54-55. 8 Félibien 1668, S. 233-236. <?page no="284"?> 284 christian quaeitzsch Dieser Parnass als Sitz des Musen- und Sonnengottes bildete den Bezugspunkt der restlichen Ausstattung: Ohne sie konkret auszuformulieren legte Félibiens Darstellung zumindest dem gebildeten Leser nahe, den Festapparat als mythologisch überhöhtes Abbild Ludwigs XIV. als Herr des Erdkreises und Kulturstifter zu deuten und dieses Bild letztlich mit den zeitnahen außenpolitischen Ereignissen des Feldzuges und dem Friedensschluss in Beziehung zu setzen. Die Festgestalter bedienten sich also einer breit entwickelten mytho-allegorischen Bildsprache, deren Zentrum die konkrete Person des Herrschers bildete, der die Festarchitekturen im Laufe der Veranstaltung in Besitz nahm. 1664 war Ludwig XIV. noch persönlich in die Rolle des Tugendhelden Ruggiero geschlüpft. In der Feier von 1668 hatte sich seine Repräsentation von solchen Identifikationsmustern emanzipiert. Der König gebot nun souverän über den Fundus mythologischer Personen, die sich als allegorische Assistenzfiguren seinem Zugriff zu Verfügung stellten. Dieser Repräsentationsmodus sollte in den 1670er und 1680er Jahren zum bestimmenden Darstellungsmodell innerhalb der Ausstattung der königlichen Residenzen aufsteigen. Umso erstaunlicher ist daher das Schweigen, mit dem er in den Zeugnissen der Zeitgenossen übergangen wird. So findet sich innerhalb der diplomatischen Korrespondenz, die das Fest von 1668 begleitete, kein - scheinbar doch naheliegender und für die europäischen Kabinettsregierungen interessanter - Hinweis auf das Bildprogramm, das die hegemonialen Machtansprüche des französischen Apolls formulierte: Noch vor Erscheinen der offiziellen Darstellung Félibiens verfasste etwa der kurz zuvor akkreditierte Botschafter von Savoyen, François Chabod, Marquis de Saint-Maurice, einen ausführlichen Bericht für seinen Herzog. In allgemeinen Worten schilderte er den finanziellen und materiellen Aufwand und übermittelte so ein Bild der eindrucksvollen Ressourcen der französischen Krone. Nirgends jedoch notierte er Details der künstlerischen Ausstattung. Im Gegenteil tat er beispielsweise den Parnassbrunnen samt seiner komplexen Ikonografie als Sichthindernis ab, das die Gestalt des Königs den Augen der zur Tafel geladenen Madame de Saint-Maurice entzogen habe: […] pendant le souper, elle ne vit pas où était le roi, car la table qui était ronde et de plus de quatre-vingts couverts avait au milieu un grand rocher qui empêchait de voir ceux qui étaient au-delà […]. 9 9 „Während des Soupers sah sie nicht, wo der König war, weil sich auf der Tafel, die rund und mit mehr als achtzig Gedecken besetzt war, ein großer Felsen befand, der die Sicht auf die jenseits davon Sitzenden versperrte […].“ [Übers.: C. Q.] Chabod, T. F., Marquis de Saint-Maurice: Lettres sur la Cour de Louis XIV, 1667-1673, 2 Bde. Hrsg. v. Lemoine, J. Paris 1910. Bd. 1, S. 206-207. <?page no="285"?> die divertissements des sonnenkönigs 285 Dabei ist nicht davon auszugehen, dass die Implikationen der Feier einem erfahrenen und aufmerksamen Diplomaten entgehen konnten. Vielmehr weist die selektive Berichterstattung darauf hin, dass die Interpretation des Festereignisses der französischen Deutungshoheit überlassen wurde. Mit ähnlichem Schweigen wurden auch die zahlreichen festlichen Theaterproduktionen des Hofes übergangen, obwohl auch in diesen - vor allem in den Prologen, deren allegorische Protagonisten den König verherrlichten - offizielle Kommentare zum jeweils aktuellen Zeitgeschehen formuliert wurden. Die Vertreter ausländischer Höfe wurden regelmäßig zu diesen Aufführungen eingeladen und waren, laut Saint-Maurice, gut beraten, dem Folge zu leisten, da Ludwig XIV. dazu neigte, ein Fernbleiben als persönliche Missachtung zu interpretieren. 10 Dementsprechend meldeten Gesandte und Residenten solche Besuche zwar, aber nur ausnahmsweise würdigten sie auch spektakulärste Inszenierungen mit ergänzenden Kommentaren. So notierte Saint-Maurice im Karneval 1671 seine Bewunderung angesichts der technischen Kapazitäten der Salle de machines, dem grandiosen Hoftheater in den Tuilerien, die er beim fünfstündigen Besuch einer Vorstellung von Molières Tragicomédie-ballet Psyché in Aktion erlebte. Besonders bestaunte er die Tragfähigkeit der Flugmaschinen und den enormen personellen Aufwand, der bei dieser exzeptionellen Produktion betrieben wurde: J’avoue à Votre Altesse Royale que je n’ai encore rien vu ici de mieux exécuté ni de plus magnifique, et ce sont des choses qui ne se peuvent faire ailleurs à cause de la quantité des maîtres à danser: […] la dernière scène, c’est bien la chose la plus étonnante qui se puisse voir, car l’on voit tout en un instant paraître plus de trois cens personnes suspendues ou dans des nuages ou dans une Gloire […]. 11 Bezeichnenderweise mündete dieses exzeptionelle Lob aber nicht in ein Eingeständnis französischer Kulturhegemonie. Zwar verwies Saint-Maurice auf die Tradition des Ballet de cour, die in dieser Form nur am französischen Hof gegeben sei. Doch setzte er die Aufführung anschließend mit internationalen Standards in Beziehung und gelangte so zur Feststellung, dass weiterhin Italien das entscheidende Vorbild Frankreichs sei: 10 Ebd., S. 276. 11 „Ich gestehe Eurer Hoheit, dass ich hier noch nie etwas besser Ausgeführtes, noch etwas Prächtigeres gesehen habe und das sind Dinge, die wegen der Menge von professionellen Tänzern woanders nicht durchgeführt werden können […] die letzte Szene ist das erstaunlichste das man sehen kann, weil man in einem Augenblick mehr als dreihundert Personen erblickt, die entweder auf Wolken oder in einer Gloriole erscheinen.“ [Übers.: C. Q.]. Saint-Maurice [1910]. Bd. 2, S. 14-15. <?page no="286"?> 286 christian quaeitzsch L’on voit bien qu’il a fallu qu’ils se soient réduits maintenant à suivre en ces sortes de choses les sentimens des Italiens […]. 12 Diesen Einfluss der anderen europäischen Höfe, namentlich des eigenen, auf die französische Festkultur festzuhalten, bemühte sich der Gesandte auch bei anderen Gelegenheiten. Im Februar 1669 meldete Saint-Maurice stolz nach Turin, dass es ihm unter großem persönlichen Kostenaufwand gelungen sei, ein Karnevalsfest in der Botschaft auszurichten, dessen Glanz vom König selbst bemerkt worden sei. 13 In einem anderen Brief wies er ausführlich darauf hin, dass Ludwigs erster Kammerherr und höfischer Festorganisator, der Duc de Saint-Aignan, das Exemplar eines Festberichtes vom Turiner Hof gelesen und so bewundert habe, dass er es nicht nur dem König vorgelegt, sondern auch das nächste Fest des Hofes nach dem Vorbild des Hofes von Savoyen gestaltet habe. Im Januar 1671 verkündete er: Dans deux heures on part pour la fête de Vincennes […] On m’a dit qu’en cela le Roi a suivi l’exemple de la fête que Votre Altesse Royale a faite à la Vénerie à la Saint-Hubert dernière, M. le marquis de Saint-Damien ayant envoyé le livre et la relation au duc de Saint-Aignan qui l’a admiré et a inspiré une pareille pensée au Roi maintenant. 14 Dass eine solche Übertragung der Festkultur des eigenen an einen fremden Hof als Medium aristokratischer Selbstdarstellung anerkannt wurde, zeigt sich offenkundig in den Momenten, in dem eine solche Feier der Anlass diplomatischer Auseinandersetzungen wurde. Eine solche legt die Berichterstattung des französischen Residenten am Wiener Kaiserhof, Chevalier de Gremonville, offen. In einem 1669 verfassten Brief an seinen Kollegen am Hof des Mainzer Kurfürsten beschrieb er seine langwierigen Kämpfe mit den Vertretern des spanischen Königs, dem Schwager Ludwigs XIV. und Leopolds I., gegen deren Intrigen er sich stets genötigt sehe, die Ehre Frankreichs zu verteidigen. So habe die junge Kaiserin kürzlich den Wunsch geäußert, ein Ballett nach französischer Art zu sehen, worauf Gremonville die Aufführung einiger tänzerischer Einlagen durch franzö- 12 „Man sieht sehr gut, dass sie sich nun notwendigerweise bescheiden, in diesen Dingen dem Empfinden der Italiener zu folgen.“ [Übers.: C. Q.]. Ebd. 13 Ebd., Bd. 1, S. 282-283. 14 „In zwei Stunden ist Aufbruch zum Fest in Vincennes. […] Man hat mir gesagt, dass der König hierbei dem Beispiel des Festes folgt, das Eure Hoheit zum letzten Hubertustag in der Venaria gegeben haben. Der Marquis von Saint-Damien hat das Buch und den Bericht davon dem Herzog von Saint-Aignan geschickt, der es bewunderte und nun den König zu einer ähnlichen Idee angeregt hat.“ [Übers.: C. Q.]. Ebd., Bd. 2, S. 15-16. <?page no="287"?> die divertissements des sonnenkönigs 287 sische Edelleute veranlasste. 15 Auch der Kaiser habe im Anschluss an eine Jagd dieser Aufführung beiwohnen wollen, die Gremonville mit einer „collation à la mode de France“ im Schloss Schönbrunn krönen wollte. Dieser Plan aber habe den spanischen Gesandten so alarmiert, dass er, unterstützt durch den englischen Botschafter, beim Kaiser gegen eine solche Auszeichnung Frankreichs protestierte: […] l’agent d’Espagne enrage que leurs Majestes imp.[eria]les voulussent honorer de leurs presence une pareille bagatelle (ce-qu’elles n’avoient jamais faict) […]. 16 Da der bedrängte Monarch seinen Besuch daraufhin absagte, wurde Gremonville bei den Ministern vorstellig, denen er vorhielt, die geplante Vorstellung besäße keinen offiziellen Charakter und sei ausschließlich als private Ehrenbezeugung gegenüber dem Kaiserpaar zu verstehen. So vermochte er einen Kompromiss auszuhandeln: Das Ballett konnte stattfinden, allerdings in einem reduzierten Rahmen in der Verborgenheit des kaiserlichen Lustschlosses Favorita. Trotzdem meldete Gremonville stolz: En effet il s’est dansé le 26me de ce mois, ou toute la cour et s’il faut dire encore touts le honnetes gens de vienne se trouveront ayant tesmoigné du plaisir de voir si beau dancer a la maniere de France ce qui donna assé de confusion a ceux qui avoient voulu l’empescher et a moy de satisfaction de l’avoit emporté sur leurs puissantes caballes. 17 Die Beispiele aus Paris und Wien zeigen, wie engagiert die ausländischen Beobachter höfischer Feiern bestrebt waren, Elemente der eigenen Festkultur in das Spektakel zu integrieren und somit einen eindrucksvollen und allgemein wahrnehmbaren Hinweis auf die Bedeutung des eigenen innerhalb eines fremden Hofes platzieren zu können. Schon diese Konzentration auf die eigene Position lässt es verständlich erscheinen, dass die Auseinandersetzung mit der repräsentativen Botschaft einer Veran- 15 „L’Imperatrice me temoigna il y a quelque temps desirer de vouloir voir danser deux gentils homes françois et un maistre de dance qui estoient venus de paris les quells javois Introduicts chez plusieurs Dames de mes amies, sur le motiv ils me proposerent quelques Entrées de ballet, dont elle agréa le project et le concert […].“ Ms., Wien, Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof-, und Staatsarchiv, Staatenabteilung, Frankreich Varia VI, 1654-1673, (Brief an den Abbé Gravel vom 30. 9. 1669). 16 „Der spanische Vertreter wurde wütend, dass Ihre Kaiserlichen Majestäten eine derartige Kleinigkeit mit ihrer Anwesenheit beehren wollten (was sie bisher nie getan hatten).“ [ Übers.: C. Q.]. Ebd. 17 „Tatsächlich ist das Ballett am 26. dieses Monats getanzt worden, wozu sich der ganze Hof und - so darf man sagen - alle ehrenwerten Leute von Wien einfanden und Vergnügen darüber bezeugten, so schöne Tänze nach französischer Art zu sehen, was die, die es hatten verhindern wollen, ziemlich verwirrte, und mir die Befriedigung verschaffte, über ihre gewaltigen Kabalen zu triumphieren.“ [Übers.: C. Q.] . Ebd. <?page no="288"?> 288 christian quaeitzsch staltung vergleichsweise gering ausfiel. Tatsächlich mehrten sich ausführlichere Informationen, die geeignet sein mochten, den Status des Erzählers als eines privilegierten Augenzeugen zu belegen, vor allem dann, wenn im geplanten idealen Ablauf der Feier Störungen auftraten und die Funktion des Festes, eine gesellschaftliche Utopie zu visualisieren, in Gefahr geriet. Dies gilt gleichermaßen für die diplomatische Berichterstattung wie für die Schilderung von Privatpersonen, wie etwa der Bericht Christiaan Huygens zeigt, der das Versailler Fest von 1668 nicht nur als Mitglied der neuen Académie des sciences, sondern auch als neugieriger Vertreter der holländischen Republik besuchte. Auch er befasste sich nicht mit der apollinischen Inszenierung Ludwigs XIV. In einem Brief an den Schwager Philippe Doublet vom 27. Juli 1668 hielt er vielmehr das chaotische Gedränge, das während des Festes geherrscht hatte, für erwähnenswert: […] Il y avoit une si grande foule de gens qu’a la comedie le Roy mesme eut de la peine à faire placer les dames, et il fallut faire sortir pour cela quantitè d’hommes […] J’estois parti de les 5 heures du matin et ne revins que le lendemain à 7 heures, ayant souffert grand chaud et grand froid dans une mesme nuict, point dormy, et mange à la hate. De sorte que la fatigue ne fut pas petite, mais la consolation estoit que tout le monde souffroit de mesme. 18 Auch in der Rezeption des nichtaristokratischen Festbesuchers Huygens ist die Konzentration auf die eigene Rolle innerhalb des Spektakels zu erkennen. Besonders offenkundig tritt dieser Aspekt allerdings innerhalb der diplomatischen Korrespondenz hervor. Regelmäßig widmete sich diese den diversen Streitigkeiten über reale oder befürchtete Verletzungen der gestuften Rangordnungen, für welche die Feste mit ihrer Vielzahl unterschiedlicher Teilnehmer und ihrem repräsentativem Charakter prädestiniert schienen. In der hier bezeugten unmittelbaren Wahrnehmung festlicher Ereignisse überwog klar das Interesse an der eigenen Performation dasjenige an der Selbstinszenierung des königlichen Veranstalters. So beschränkte sich Graf Wicka, der Vertreter Kaiser Leopolds I., in seiner Darstellung der Versailler Festnacht vom 18. Juli 1668 auf eine kurze Skizze des Ablaufs: 18 „Der Andrang war so groß, dass selbst der König den Damen kaum Plätze im Theatersaal verschaffen konnte und es musste daher eine große Menge an Leuten wieder hinausgeschickt werden […] Ich war morgens um fünf aufgebrochen und kam erst am Folgetag um sieben Uhr zurück, nachdem ich in ein und derselben Nacht unter großer Hitze und Kälte gelitten, kaum geschlafen und hastig gespeist hatte, so dass die Müdigkeit nicht gering war, aber es tröstete, dass alle Welt dasselbe durchgemacht hatte.“ [Übers.: C. Q.] Huygens, C.: Œuvres complètes de Christiaan Huyghens. Hrsg. v. d. Société Hollandaise des Sciences. Bd. 6, Correspondance 1666-1669. Den Haag 1895. Bd. 6, S. 246. <?page no="289"?> die divertissements des sonnenkönigs 289 Vergangenen Mittwoch hatt der König in Frankhreich zue Versailles den frawenn zimmern zue ehren ein köstlich collation von allerhandt früchten, und zuggerwerckh, nachgehend ein ansehnliche comoedie, sodan ein stattliches nachtmahl, darauf ein lustig und prächtigen Tantz, und zum beschluß ein yberauß schönes, und sehr künstliches feuerwerkh so die gantze nacht gewährt halten lassen. 19 Ungleich ausführlicher schilderte er dagegen die Kränkung, der er sich durch die unstandesgemäße Behandlung seitens der königlichen Gardisten ausgesetzt gesehen hatte. Von diesen sei er zusammen mit den Gesandten und Vertretern anderer Höfe wie der Rest der herandrängenden Menge behandelt worden, das heißt „[…] großer Ungelegenheit, und Gefahr […]“ ausgesetzt […] und theils endlich sambt deren bey sich habenden Cavaliers, […] öfters zurück gestoßen worden. Bey welcher beschaffenheit zur evitierung ferneres despects so ebenfalls […] andern mehr wiederfahren: ich nach abgelegter schuldigster Reverentz bey dem König und der Königin am thuenlichsten zu sein erachtet mich in der nacht […] wiedrumb nach Paris zu verfügen. 20 Da Wicka im Anschluss an die Ereignisse eine Beschwerde einreichte, sah Ludwig XIV. sich in diesem Falle sogar gezwungen, im Rahmen einer Audienz eine Entschuldigung an die Adresse seines kaiserlichen Konkurrenten zu richten. 21 19 Ms., Wien, Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof-, und Staatsarchiv, Staatenabteilung, Frankreich, Berichte und Weisungen, 24, 1668 VII-XII, fol. 109. 20 Ebd. Saint-Maurices Bericht bestätigte diesen Vorfall in seinem Bericht vom 20. Juli 1668: „[…] il n’y a jamais eu si peu d’ordre. La Reine fut plus de demi-heure avant que de pouvoir entrer à la comédie, il fallut que le Roi agît lui-même pour lui faire faire place […] Il n’y a jamais eu si grande affluence de peuple […] tout cela joint au peu de soins de précautions que prend en semblables rencontres le sieur de Bonneuil [l’introducteur des ambassadeurs, Anm.: C. Q.] et au peu d’expérience des officiers et gardes du corps qui ne savent plus que faire la guerre, si bien que les ministres étrangeres furent poussées, rebutés, battus et mal placés et ne virent que la comédie et les feux et point la collation qui était dans les allées ni les machines superbes de lieu où le Roi donna à souper et le bal aux dames […].“ Saint-Maurice [1910]. Bd. 1, S. 207. 21 Der Gesandte konnte nach Wien melden, er habe: „[…] yber die bey dem freudenfest zu Versailles von mir […] ausgestandene Ungelegenheit hochempfundenen Verdruß mir durch den Introducteur Bonneuil […] contestieren zu lassen […], ist von demselben [Ludwig XIV.] mir zur antwort bedeüt worden, er […] rehentiere nit ein wenig das ich kürtzlich zu Versailles der gebühr nach nit seyn tractiert und seiner verordnung gemäß empfangen worden, zubey mir versichernd, wenn dasselbige von mir oder sonst in erfahrnus bringen köhndte, durch when von seynen leuten einiges mißgefallen mir währe erwißen worden, er scharfe demonstration mit ihm vornehmen lassen wollte […].“ Ms., Wien, Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof-, und Staatsarchiv, Staatenabteilung, Frankreich, Berichte und Weisungen, 24, 1668 VII-XII, o. S. <?page no="290"?> 290 christian quaeitzsch Zwischenfälle wie dieser lassen es fraglich erscheinen, inwieweit die Rhetorik festlicher Spektakel am französischen Hof in den Augen europäischer Beobachter zeitnah eine weitreichende propagandistische Wirkung erzielen konnte. Daher gilt es, sich der nachträglichen Verschriftlichung der Ereignisse zuzuwenden. Im Anschluss verfasste Beschreibungen konnten Fehlschläge des eigentlichen Festablaufs in den Augen von Zeitgenossen und Nachwelt korrigieren und die Ereignisse rückblickend mit dem Sinn versehen, den die Teilnehmer mit ihrer beschränkten, ausschnitthaften Perspektive inmitten des Ereignisses vielleicht nicht wahrzunehmen in der Lage gewesen waren. Doch auch die Schilderung der Feier vom 18. Juli in der Novelle La Promenade de Versailles aus der Feder der in und außerhalb Frankreichs vielfach gelesenen Erfolgsautorin Madeleine de Scudéry, die 1669, also zeitnah zu dem geschilderten Ereignis entstand, zeichnet ein ambivalentes Bild dieser Veranstaltung. Ein Besuch in dem inzwischen leeren, aber immer noch prachtvollen ephemeren Ballsaal mit seinen vielfältigen Wasserspielen bot Scudérys Romanfigur Anlass, eine, von einem Verehrer an sie adressierte, private Schilderung des Festereignisses unmittelbar am einstigen Schauplatz des Festes zu verlesen. 22 Als Huldigung eines Liebenden sollte der Text von vornherein den Eindruck hoher Subjektivität vermitteln. Schon deshalb schilderte Scudéry die Ausstattung der Festräume nicht systematisch, negierte ein übergreifendes Konzept und betonte stattdessen den Eindruck einer angenehmen Unordnung, den die auf vielfältige Weise kombinierten Dekorationselemente hervorriefen. Die Rezeptionshaltung der preziösen Schriftstellerin war weniger von Ehrfurcht und Bewunderung getragen, sondern von der Freude an spaßhafter Umdeutung. Scudérys fiktiver Briefverfasser erlebte die Festarchitekturen nicht als Heimstatt des majestätischen Sonnengottes, sondern als Versteck und Wirkungsfeld verborgener Liebesgötter, die es für die Teilnehmer der Feier aufzuspüren galt. Scudéry interpretierte also die apollinische Ikonografie des Festes im galanten Sinne um. Zwar bestätigte sie, dass in den Dekorationen eine Botschaft für den Betrachter verborgen sei. Doch verkündeten diese nicht die Macht Ludwig-Apollos sondern die Übernahme seiner Festwelt durch die unsichtbaren Amoretten, gegen deren Angriff niemand gewappnet sei: „[…] ni sceptre ni couronne/ N’en sauraient défendre personne.“ 23 Scudéry ignorierte somit nicht nur die repräsentative Ikonografie der Festarchitektur. Sie überblendete sie stattdessen vielmehr mit einem von ihr selbst entwickelten Konzept, das dem Lektüregeschmack ihrer prezi- 22 Siehe Scudéry, M. de: La Promenade de Versailles dédiée au Roi [Paris 1669]. Hrsg. v. Godenne, R. Genf 1979. 23 „Weder Szepter noch Krone/ können davor bewahren.“ [Übers.: C. Q.]. Ebd., S. 579. <?page no="291"?> die divertissements des sonnenkönigs 291 ösen Leserschaft eher entsprach. Ebenso wie in den Versuchen Gremonvilles oder Saint-Maurices, die Ereignisse mitzugestalten, finden sich daher Anzeichen, dass auch in der Nachschöpfung des Festes das Publikum versuchte, eine zentrale Position innerhalb der Feier zu besetzen. Obwohl den Veranstaltern der Feste in Schriften wie Scudérys Novelle oder in den Romanen Jean de La Fontaines die alleinige Deutungshoheit über die Veranstaltung teilweise entwunden wurde, schienen diese Texte für eine weitere Verbreitung des Rufes der französischen Festkultur nur schwer ersetzbar. Welch wichtige Rolle inoffizielle Vermittlung von Festberichten im Zeichen höfischer Galanterie besaß, zeigte das schon weiter oben kurz erwähnte Fest des Herzogs von Savoyen in seinem Jagdschloss Venaria, das ein ähnliches Fest in Vincennes inspirierte. Saint-Maurice schrieb nach Turin: Votre Altesse Royale me témoigne de la satisfaction de ce que j’ai trouvé la fête de la Vénerie belle; elle en doit bien plus avoir maintenant quand je l’assurerai que le Roi l’a admirée et dit qu’il ne se faisait rien de si galant et spirituel que dans la Cour de Savoie. Je l’ai su il y a trois jours du duc de Saint-Aignan […] il me dit que M. le marquis de Saint-Damien, lui ayant envoyé une relation et un des imprimés de cette fête, après les avoir lus, il les trouva si beaux qu’il voulut que le sieur Bontemps, premier valet de chambre du Roi […] les fit voir à Sa Majesté qui les admira comme je l’ai dit. 24 Dieser Weg des Berichts zwischen Gesandten, Höflingen und höfischen Würdenträgern bis auf den Schreibtisch des Herrschers selbst zeigt anschaulich, wie die beteiligten Aristokraten beider Höfe als Mitglieder eines grenzübergreifenden Netzwerks von galant hommes agierten, innerhalb dessen sie sich mit weiteren literarisch und künstlerisch interessierten amateurs austauschten und zwischen denen, neben anderen, ähnlichen Publikationen, auch die Festberichte vom Hofe des Sonnenkönigs zirkulierten. So versorgte etwa Saint-Maurice zusammen mit dem Sohn des königlichen Kammerherrn die Herzogin von Savoyen regelmäßig mit den Textbüchern der Ballette und Theaterstücke, die am französischen 24 „Euer Hoheit bezeugen mir Ihre Zufriedenheit darüber, dass ich das Fest in der Venaria schön gefunden habe. Sie werden es noch viel mehr sein, wenn ich versichere, dass der König das Fest bewundert und gesagt hat, dass nirgends so Geistreiches und Galantes veranstaltet wird wie am Hof von Savoyen. Ich habe dies vor drei Tagen vom Herzog von Saint-Aignan erfahren […] er hat mir gesagt, dass der Marquis von Saint-Damien ihm einen Bericht und die Druckschrift über dieses Fest geschickt habe, und dass er, nachdem er sie gelesen hatte, diese so schön fand, dass er wollte, dass der Herr Bontemps, der erste Kammerdiener des Königs, […] sie seiner Majestät zeige, der sie bewunderte wie ich schon gesagt habe.“ [Übers.: C. Q.]. Saint-Maurice [1910]. Bd. 2, S. 15-16. <?page no="292"?> 292 christian quaeitzsch Hof aufgeführt wurden. 25 Die Organisatoren der Feiern passten sich den Normen dieser galanten Geschenktradition an, wie aus den Anweisungen Colberts hervorgeht, in denen er das Procedere der Verteilung der Erzeugnisse der königlichen Druckerei, darunter auch die aufwendig produzierten Versailler Festberichte mit ihren Stichfolgen, regelte. Er drängte darauf, die kostspieligen Blätter unterschwellig und inoffiziell wirken zu lassen, als Galanterie, die der König selbst als amüsante Bagatelle erachte. Dem Marquis de Feuquières in Stockholm schrieb er 1675: […] je prends soin de faire faire des planches assez curieuses de ce qui a servy et sert continuellement aux Divertissement de Sa Majesté […] j’ay cru […] que vous seriez bien aise de les voir et de les faire voire dans le pays où vous estes […] et en cas que vous estimiez à propos de les donner, vous observerez, s’il vous plaît, de ne point parler du Roy, parce que ce n’est qu’une bagatelle qui ne mérite point de paraître sous le nom de Sa Majesté […]. 26 Im Rahmen des galanten Austauschs erreichten die Festbeschreibungen aber nicht nur das hocharistokratische Lesepublikum Europas, sondern auch die jeweilige städtische und provinzielle Klientel. Bereits ein hierarchisch wenig bedeutendes Mitglied der höfischen Gesellschaft wie die Marquise de Sévigné verfügte als Abkömmling eines verzweigten, traditionsreichen bretonischen Adelsgeschlechts über zahlreiche Verbindungen in der Provinz. Nach der Hochzeit ihrer Tochter weitete sich dieses Netz in den Süden des Königsreichs aus. So konnten Sévignés höfische Informationen die soziale Elite der Provence erreichen, die in gesellschaftlichem Kontakt mit ihrem Schwiegersohn, dem Statthalter, stand. In ihren Briefen, in denen die höfischen Feste und Theateraufführungen, an denen sie teilgenommen hatte, in vielfältiger Weise regelmäßige Erwähnung fanden, pflegte die Marquise gleichzeitig auch die Hausfreunde ihrer Adressaten anzusprechen und so eine kollektive Lektüre in Gang zu setzen, die einer realen Gesprächssituation ähnelte. Allerdings beschränkte die Forderung nach einer leicht und schnell fließenden Mitteilung als Ausdruck galanter Ästhetik die Möglichkeit einer ausführlichen Schilderung. Keinesfalls sollte erudiertes Fachwissen den hauptsächlichen Inhalt des Gesellschaftsgesprächs bilden, das den Sprecher als buchklugen Pedanten, nicht aber 25 Ebd., S. 14. 26 „Ich bin dabei, sehr interessante Bildtafeln anfertigen zu lassen von Dingen, die einst und jetzt dem Vergnügen seiner Majestät dienen […] ich glaubte […] dass Ihr sie gerne sehen und sie in dem Land, in dem Ihr euch aufhaltet, bekannt machen möchtet. […] und im Falle, dass ihr es für tunlich erachtet, sie zu verschenken, mögt Ihr bitte beachten, nicht vom König zu sprechen, weil es sich nur um eine Kleinigkeit handelt, die es nicht verdient unter dem Namen Seiner Majestät zu erscheinen.“ [Übers.: C. Q.]. Colbert, J.-B.: Lettres, instructions et mémoires de Colbert. Bd. 5: Fortifications, sciences, lettres, beaux-arts, bâtiments. Hrsg. v. Clément, P. Paris 1868, S. 376. <?page no="293"?> die divertissements des sonnenkönigs 293 als geistreichen und witzigen Exponenten lebenszugewandter Kultiviertheit und Galanterie ausgewiesen hätte. 27 Insofern verbot sich eine eingehende Analyse von allegorischen Bildprogrammen und ihrer literarischen Quellen gewissermaßen von selbst. Der briefliche Festbericht erschien daher weniger als systematische Beschreibung, sondern vorrangig in Form anekdotischer Erzählung oder pointierter Bemerkungen, die eine offizielle Darstellung nicht zu ersetzen vermochte, aber ergänzte und wertete. Besonders eindrücklich und über die Ära der großen königlichen Gartenfeste hinaus lässt sich eine solche eigenständige Beschäftigung des Publikums im Bereich des höfischen Theaters verfolgen. Vor allem die Tragédies lyriques, die Opern Jean-Baptiste Lullys, für welche der Dichter Philippe Quinault die Libretti schrieb, und die von der Mitte der 1670er Jahre an für circa ein Jahrzehnt die bevorzugte Form höfischer Unterhaltung bildeten, waren ein Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit. So setzte sich etwa die Marquise de Sévigné innerhalb ihrer ausufernden Korrespondenz mit Freunden und Verwandten regelmäßig mit diesen höfischen Spektakeln auseinander. In ihrem spielerischen und freien Umgang mit dem mythologischen Bildmaterial wurde dabei Sévignés Prägung durch die Pariser Salonkultur deutlich, wie sie sich in den Jahren der Regentschaft um die Jahrhundertmitte ausgebildet hatte. Sie unternahm keine allegorische, sondern eine persönliche Interpretation des mythologischen Personals, das sie in der Tradition des galanten Schlüsselromans bruchlos mit ihren Zeitgenossen identifizierte. Die Hauptfiguren der Oper Isis von 1677 setzten sie und ihre Briefpartner mit großer Freude an boshaftem Wortwitz mit Ludwig XIV. als Jupiter, seiner offiziellen Mätresse, Madame de Montespan, in Gestalt der eifersüchtigen Juno und seiner neuen Geliebten, Mademoiselle de Ludres, als bedrängter Nymphe Io/ Isis gleich. 28 Als die Leidenschaft Ludwigs XIV. für die neue Favoritin im Laufe des Sommers erkaltete, spöttelte Sévigné etwa: 27 Zur Geschichte der Galanterie als literarisches und gesellschaftliches Phänomen siehe Pelous, J.-M.: Amour précieux, amour galant (1654 -1675). Essai sur la représentation de l’amour dans la littérature et la société mondaines. Paris 1980 (Bibliothèque française et romane; 77); zur Galanterie als ästhetischem Ideal und zum Thema der galanten Konversation siehe Denis, D.: La Muse galante. Poètique de la conversation dans l’œuvre de Madeleine de Scudéry. Paris 1997 und dies.: Le Parnasse galant. Institution d’une catégorie littéraire au XVII e siècle. Paris 2001 (Lumière classique; 32); zur Welt der Salons siehe Falke, J. von: Der französische Salon. Galanterie, Amüsement, Esprit im 17. Jahrhundert. Bonn 1977. 28 „Wir haben über Isis gesprochen. Man kann sich kaum vorstellen, wie sie ihr katastrophales Abenteuer beenden wird: ‚Beende meine Pein, mächtiger Beherrscher der Welt‘. Wenn sie dieses Gebet an Gott richten könnte und er sie erhören wollte, wäre das die Apotheose.“ [Übers.: C. Q.] (Brief an Madame de Grignan vom 21. 7. 1677), de Rabutin-Chantal, M., Marquise de Sévigné, Correspondance. Hrsg. von Duchêne, R. 3 Bde. Paris 1972-1978. Bd. 2, S. 496-497. <?page no="294"?> 294 christian quaeitzsch Nous avons parlé d’Isis; l’imagination ne se fixe point à se représenter comme elle finira sa désastreuse aventure: „Terminez mes tourments, puissant maître du monde“. Si elle pouvait faire cette prière à Dieu, et qu’il voulût l’exaucer, ce serait l’apothéose. Eine solche Wahrnehmung lässt sich auch für die späteren Jahre der Regierung belegen: Selbst ausländische Beobachter mit nur oberflächlichen Kenntnissen über die Verhältnisse am französischen Hofe interpretierten bei städtischen Opernbesuchen die amourösen Verwicklungen der handelnden Personen als Spiegel der königlichen Affären. 29 In der Wahrnehmung Sévignés und ihrer Gesprächspartner durchlief die herrschaftliche Bildersprache des festlichen Spektakels so einen Wandel, der im Hinblick auf die Funktion der Oper als Instrument herrschaftlicher Repräsentation kontraproduktiv erscheint. Anstatt die Handlung als allegorisches Bild zu deuten, wurden Bild und Wirklichkeit bruchlos gleichgesetzt. Ohne die notwendige Distanz wurde die Identifikation des Königs mit seinem Bild der herrschaftlichen Aura entkleidet und verlor ihr repräsentatives Potenzial. Dieser Verlust dokumentiert sich nicht zuletzt in der Leichtigkeit, mit der die Marquise die Metaphorik der Operndichtung auf sich und ihre Tochter bezog, wie beispielsweise in einem Schreiben von 1680, in dem sie sich mit der aktuellen Oper Proserpine beschäftigte: Je veux parler de l’opéra. Je ne l’ai point vu [ ] mais on dit qu’il est parfaitement beau. Bien des gens ont pensé à vous et à moi. Je ne vous l’ai point dit, parce qu’on me faisait Cérès, et vous Proserpine […]. 30 Aus den überlieferten Äußerungen der galanten Gesellschaft über die höfische Festkultur, von denen hier einige Beispiele angeführt wurden, ergibt sich dergestalt der Eindruck, dass die Teilnehmer der Veranstaltung die Spektakel der absolutistischen Herrschermacht vorwiegend als Folie nutzten, vor der sie eine eigenständige Repräsentation zu behaupten suchten. Das Publikum verweigerte sich insofern zumindest ein 29 Werner Braun zitiert den deutschen Reisenden Adam, der 1679 einer Pariser Aufführung der Oper Bellérophon beiwohnte und eine Nymphe der Venus als Verkörperung der Herzogin de Fontanges, einer weiteren kurzfristigen Favoritin Ludwigs XIV., deutete. Siehe Braun, W.: „Lully und die französische Musik im Spiegel der Reisebeschreibungen.“ In: Jean Baptiste Lully. Actes du colloque/ Kongressbericht Saint-Germain-en-Lay/ Heidelberg 1987. Kolloquiumsakten. Hrsg. v. de La Gorce, J./ Schneider, H., Laaber 1990 (Neue Heidelberger Studien zur Musikwissenschaft 18), S. 271-285, hier 274. 30 „Ich möchte über die Oper sprechen. Ich habe sie noch nicht gesehen, aber man sagt, sie sei vollkommen schön. Eine Menge Leute haben an Sie und an mich dabei gedacht. Ich habe es Ihnen nicht gesagt, weil man mich zu Cérès macht und Sie zu Proserpine […].“ [Übers.: C. Q.] (Brief am Madame de Grignan vom 1. 3. 1680), Sévigné [1972-1978]. Bd. 2, S. 857. <?page no="295"?> die divertissements des sonnenkönigs 295 Stück weit einer Monopolisierung der Bildsprache des Festes und ihrer Rezeption durch den königlichen Gastgeber. Dennoch war dieser auf die Kommunikationskanäle der beau monde angewiesen, in denen zwischen den verschiedenen Residenzen, aber auch zwischen den Höfen und dem Publikum der städtischen Salons Informationen über die spektakulären Feiern in Versailles, Saint-Germain oder Fontainebleau flossen. Entsprechend mussten die Veranstalter sich den Gesetzmäßigkeiten und Prioritäten dieser Kommunikation beugen, die sie insofern nur unvollständig zu kontrollieren vermochten. Umso bedeutungsvoller mussten die Bemühungen der Macht erscheinen, sich zentralen Einfluss auf zumindest ein Medium der Dokumentation zu sichern. Ende der 1660er Jahre nahm ein konkretes Konzept Gestalt an, die verschiedenen wissenschaftlichen und künstlerischen Aktivitäten, in die die Krone involviert war, und die bis dato jeweils einzeln dokumentiert worden waren, einem internationalen Publikum im Rahmen eines umfassenden Publikationsprojekts vorzustellen, das im 18. Jahrhunderts allgemein als Cabinet du roi bezeichnet wurde. Der ursprüngliche Plan, der von Ludwigs Minister Colbert als Haupt der Surintendance des bâtiments und seinen kunstpolitischen Beratern konzipiert wurde, sah vor, die Gesamtheit des in den königlichen Akademien produzierten Wissens sowie die königlichen Kunstsammlungen, Residenzen und eben auch die Feste in Form von Stichen zunächst in chronologischen Sammelbänden zu publizieren und im Folgenden, jeweils ergänzt durch einen französischsprachigen Begleittext, letztlich nach Themengattungen geordnet als Reihe herauszugeben. 31 Projektiert war solchermaßen ein kontinuierlich anwachsender, dokumentarischer Bildschatz mit enzyklopädischem Anspruch innerhalb dessen die höfischen Feste nun als Teil der königlichen Kunstproduktion integriert waren. Für die Gestaltung der Stiche griff die Surintendance des bâtiments auf bewährte Graphikkünstler zurück, die sich jeweils im Dienst der Krone bereits bewährt hatten. Dennoch oder gerade deshalb gilt es sich - besonders im Hinblick auf eine Vorbildfunktion ihrer Stiche für die europäische Festkultur der zweiten Hälfte des 17. und des 18. Jahrhun- 31 Siehe „Mémoire que Monseigneur a dressé touchant la publication de ouvrages ou il y a des planches gravées“, Ms., Paris, Bibliothèque nationale, département des Estampes, Ye 160 pet. fol. Die Quelle wurde besonders herangezogen von Grivel, M. Le commerce de l’estampe à Paris au XVII e siècle, Genf 1986 sowie von Germer, S., Kunst - Macht - Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im Frankreich von Louis XIV., München 1997. Zuvor wurde das Cabinet in seiner Dimension als enzyklopädisches Wissens- und Repräsentationsprojekt untersucht in Sauvy, A.: „L’illustration d’un règne. Le Cabinet du Roi et les projets encyclopédiques de Colbert“. In: L’art du livre à l’Imprimerie nationale. 5 siècles de typographie. Hrsg. v. d. Imprimerie nationale. Paris 1973, S. 103-127. <?page no="296"?> 296 christian quaeitzsch derts - klar zu machen, dass diese Kupferstiche nur sehr bedingt als authentische Darstellungen der ephemeren Festarchitekturen gelten können. So entstand etwa Le Pautres Ansicht des Souperpavillons von 1668 über zehn Jahre nach dem Ereignis anhand von Zeichnungen, die Gisseys Nachfolger Jean Berain auf Basis von hinterlassenen Skizzen seines 1673 verstorbenen Vorgängers angefertigt hatte. 32 Israël Sylvestre wiederum präsentierte in seiner 1673 abgeschlossenen Serie der Plaisirs de l’île enchantée eine Ansicht von Alcinas Zauberschloss, die sich eklatant von der wesentlich früheren Darstellung eines unbekannten Miniaturmalers unterschied, mit der dieser das kalligraphisch gestaltete und reich illuminierte Exemplar des Festberichts schmückte, das Ludwig XIV. im Anschluss an die Feier verehrt wurde. Sylvestres Stiche haben mit diesen Zeichnungen wenig gemeinsam. Sie verraten statt dessen den Einfluss der Radierungen Alfonso Parigis, der in der ersten Jahrhunderthälfte die Feste der Medici ausgestattet und in Graphikserien festgehalten hatte, sowie die Schulung am Beispiel Jacques Callots, der ebenfalls am Hof von Florenz tätig geworden war, und dessen künstlerischer Nachlass sich in Sylvestres Besitz befand. Als Stecher, der mit der Dokumentation der Festspektakel des französischen Hofes betraut war, schuf Sylvestre in seinen Blättern also Interpretationen der Feiern, die sich selbst in die Traditionslinie verschiedener Künstler beziehungsweise der europäischen Festgeschichte einreihten. Ende 1671 konnten die ersten Bände des Cabinet du roi präsentiert werden. Anfänglich wurden Exemplare als königliche Gunstbeweise an verdiente Persönlichkeiten und Würdenträger verschenkt, die als effiziente Meinungsmultiplikatoren erachtet wurden. Dabei wurden Mitglieder aus verschiedenen sozialen Schichten bedacht: Neben der königlichen Familie, hohen Beamten und Klerikern waren dies Künstler, Literaten und Wissenschaftler in und außerhalb Frankreichs, die direkt oder indirekt an der Repräsentation des Königs beteiligt waren und sich deshalb teilweise in den von Colbert geführten Gratifikationslisten verzeichnet fanden. 33 Einzelne Bände oder eine vollständige Ausgabe des Cabinet bildeten einen Bestandteil des diplomatischen Reisegepäcks und wurden so als Ge- 32 Siehe die entsprechende Notiz anlässlich der Ankündigung der Stichserie im Mercure Galant, August 1679, S. 109-110. Dieser Rückgriff auf älteres Bildmaterial war demnach allgemein bekannt und wurde nicht als Schmälerung des Quellenwerts der Stiche empfunden. 33 Zu den wichtigsten aristokratischen Empfängern zählten die unmittelbaren Verwandten des Königs, der Dauphin, der Herzog von Orléans und der Prince de Conti, sowie weitere Mitglieder des Hochadels wie die Herzöge von Richelieu, Rochefoucauld oder Saint-Aignan. Die im Département des Estampes aufbewahrte Empfängerliste nennt zudem auch die Künstler Le Nôtre, de Cotte, Blondel aber auch Huygens und weitere Mitglieder der Académie des sciences. <?page no="297"?> die divertissements des sonnenkönigs 297 schenk in Spanien, England, Schweden, am kaiserlichen wie am päpstlichen Hof, in Savoyen, der Schweiz, Polen, aber auch in Malta, in München und Hannover verteilt. 34 Allerdings hatte Colbert den finanziellen Aufwand eines derartigen Luxusprojekts unterschätzt und musste schließlich widerwillig dazu übergehen, die Bände zusätzlich, jeweils einzeln nach Maßgabe der jeweiligen Nachfrage von Buch- und Bildhändlern kommerziell vertreiben zu lassen. Eine ausführliche Ankündigung in der Augustausgabe des Mercure Galant von 1679 legte das neue Konzept der Publikationsreihe offen: Der niedrige Preis für die hochwertigen Stiche wurde als Ausfluss herrscherlicher Großzügigkeit und gleichzeitige Aufforderung an das Publikum gedeutet, den Ruf der königlichen Magnifizenz außerhalb Frankreichs zu verbreiten. 35 Dem euphorischen Appell steht die in der französischen Nationalbibliothek erhaltene Buchführung gegenüber, die über den Absatz der einzelnen Alben informiert. Es zeigt sich, dass die Werke, die sich mit künstlerischen Themen befassten, gegenüber den naturwissenschaftlichen Bänden bevorzugt wurden. Aus dieser Gruppe der Kunstbeschreibungen wurden in drei Jahren Félibiens Festbericht von 1668 sechsundachtzigmal und die Divertissements von 1674, hundertneunmal verkauft, was etwa einem Drittel der Auflage entsprach. 36 Als historische Bild- und Textzeugnisse königlicher Festkultur sprachen die Berichte dabei vorwiegend Spezialisten, nämlich Sammler und Historiker sowie Künstler an. 37 Innerhalb dieser Klientel ist auch der Austausch von historischen Festberichten als Freundschaftsgabe zwischen Gelehrten und amateurs belegt, die weniger 34 Siehe Sauvy 1973, S. 121-122. 35 „Rien n’est plus propre à faire prendre l’idée qu’on doit avoir de la France, puis qu’elles en font connoistre la grandeur par l’éclat des superbes divertissemens de son Prince, par la magnificience de ses Edifices, & par le nombre infiny de raretez qui s’y trouvent […].“ Mercure Galant, August 1679, S. 89. „[…] le prix qu’on y a mis est si médiocre, qu’on voit bien que c’est un effet de la liberalité du Roy qui en veut faire présent au Public, & qui est bien aise que l’avantage qu’en recevront ses Sujets, soit communiqué aux Etrangers.“ Mercure Galant, August 1679, S. 95-96. 36 „Estat de la distribution qui a esté faite par l’ordre de Mgr. Colbert des grandes livres de figures et Estampes gravées pour le Roy depuis l’année 1671“ und „Abregé de l’Estat et Inventaire des Livres et estampes qui ont esté imprimez et distribuez jusqu’au 20 e juillet 1679“, Ms., Paris, Bibliothèque nationale, département des Estampes, Ye 160 pet. fol. 37 Auf seiner Studienreise nutzte etwa der spätere schwedische Hofarchitekt Nicodemus Tessin d.J. die Gelegenheit, sich mit der Überreichung des illustrierten Festberichts des Stockholmer Krönungscarrousels von 1672 sowohl beim königlichen premier peintre Charles Le Brun als auch dem wichtigsten französischen Theoretiker der Festkunst, dem Jesuiten Claude-François Menestrier, einzuführen. Siehe Tessin, N.: Studieresor i Danmark, Tyskland, Holland, Frankrike och Italian. Hrsg. v. Sirén, O. Stockholm 1914, S. 97-102. <?page no="298"?> 298 christian quaeitzsch vom Wunsch nach aktueller Information oder galanter Unterhaltung geleitet waren, als vielmehr durch ihr bibliofiles und historisches Interesse. 38 Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass Informationen über die Festkultur am Hofe Ludwigs XIV. ein französisches wie ein europäisches Publikum nicht auf einem, sondern auf einer Vielzahl von Wegen mit einer jeweils unterschiedlichen inhaltlichen Gewichtung erreichten. Anders als die städtischen Herrscherfeste mit offiziellem Anlass wie Einzüge des Monarchen, Hochzeiten, Taufen und Trauerfeiern in der königlichen Familie, die regelmäßig im offiziösen Presseorgan, der 1631 gegründeten Gazette de France veröffentlicht wurden, fanden dezidiert höfische Festspektakel - zumindest zeitnah - ihren Niederschlag vor allem in der exklusiveren Berichterstattung diplomatischer Beobachter und höfischer Teilnehmer. Die Darstellung entfaltete sich so bevorzugt im Rezeptionsmilieu der beau monde, der Schnittstelle zwischen höfischer Gesellschaft und aufstrebendem Bürgertum, die in der Pariser Salonkultur der Jahrhundertmitte ihre prägnantesten Ausdruck fand und im Ideal höfisch-höflicher Galanterie ein stände- und grenzübergreifendes perfomatives Ideal schuf. Die Berichterstattung unterlag daher den ästhetischen Regeln dieses Ideals, in dem sich nicht zuletzt der Wunsch des Publikums nach einer autonomen Repräsentation niederschlägt. Innerhalb dieses Rahmens konnte der König im Fest als Oberhaupt und vollendeter Exponent des galantesten Hofes Europas auftreten, dessen heroische Taten etwa im mythologischen Spiel der Oper verherrlicht werden konnte. Ob die Feste dagegen als machtvolle Visualisierung absolutistischer Herrschaftsansprüche allgemein anerkannt wurden, scheint angesichts der in den Quellen fassbaren Rezeption fraglich. Die Festkultur am Hofe des Sonnenkönigs erweist sich insofern als ambivalentes Herrschaftsinstrument, das es im Rahmen einer begleitenden Dokumentationskampagne, dem Cabinet du roi, zu stützen galt. Auch dieses Projekt wird objektiv - zumindest auf kurze Sicht - als Fehlschlag bezeichnet werden müssen. Die finanziellen Probleme des Projekts und Colberts früher Tod verhinderten die kontinuierliche Fortsetzung der Reihe, die daher ein Fragment blieb. Entscheidend und folgenreich war dagegen die in den Prunkpublikationen durchgeführte Verlagerung des Festes aus dem Bereich der symbolischen Herrscherrepräsentation im Medium einer allegorischen Bildsprache in den Bereich der Kunst. Als Dokumente eines sowohl opulenten wie verfeinerten Geschmacks konnten die Feststiche zu Paradebeispielen französischer Hofkultur werden. Als solche vermochten sie ihren Einfluss auf die Residenzen Europas bis zum Ende des Ancien Régime ausdehnen. 38 Zu solchen Sammlerzirkeln siehe Beijer, A.: „Collections de Dessins de théâtre français en Suède“. In: Revue de la Société d’histoire du théâtre 8, 1956, S. 168-183. <?page no="299"?> IV. Fest - Fest/ Spiel - Festival. Perspektiven des europäischen Theaters <?page no="301"?> Einführung: Nach der Revolution - Europäisches Theater im demokratischen Zeitalter Paul Nolte (Berlin) Für Richard Wagner, den Dresdner Revolutionär des Maiaufstandes 1849, war es keine Frage: Ein neues Theater, wie es die von ihm früh ins Auge gefassten Festspiele verkörpern sollten, konnte nur nach-revolutionär sein; es hatte die Revolution zur Voraussetzung. Auch wenn sich seine eigene politische Haltung in den folgenden Jahrzehnten ebenso verschob wie sein schließlich in Bayreuth realisiertes Ideal der Festspiele, führte hinter dieses Zäsurbewusstsein seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kein Weg mehr zurück. Die europäischen Gesellschaften hatten sich im Gefolge von Französischer Revolution und Industrialisierung, von rapider Verstädterung und neuen Verkehrsmitteln wie der Eisenbahn fundamental verwandelt. Die höfische und dynastische Ordnung, die in der Frühen Neuzeit im Mittelpunkt von Theatralität und Festkultur stand, hatte der Herausforderung durch Nationalstaaten und Demokratisierung Platz gemacht, und die kulturellen Repräsentationen der entstehenden Moderne spiegelten eine Massengesellschaft, die zugleich eine scharf geschnittene Klassengesellschaft war - und gleichwohl (oder umso mehr) nach neuen Ausdrucksformen von Gemeinschaft suchte. Die Beiträge zur abschließenden vierten Sektion reflektieren, in ganz unterschiedlichen thematischen Schlaglichtern und methodischen Zugriffen, dieses Spannungsverhältnis und seine Fortwirkung von der revolutionären Zäsur bis in die Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts. Sie legen aber auch Spuren einer Dynamik innerhalb der Moderne frei. Die Konflikte der vorletzten Jahrhundertwende in einem Europa antagonistischer Nationen und Klassen sind nicht mehr die unsrigen. Und dennoch werden die Fragen, die Richard Wagner an der Schwelle der Moderne aufgeworfen hatte, auch in den zeitgenössischen Produktionen weiterverhandelt. Europa ist der Ort dieser Verhandlungen, aber auch ein zentrales Thema. Mehr noch, Europa und das Theater stehen in einem geradezu kon- <?page no="302"?> 302 paul nolte stitutionellen Verhältnis zueinander, das Friedrich Nietzsche zufolge ein Anti-Verhältnis sein musste: Sein „guter Europäer“, so rekonstruiert Peter Jelavich, ist antinational und antidemokratisch - und deshalb auch antitheatralisch. Manche der folgenden Fallstudien zeigen, dass Nietzsches Intuition nicht ganz falsch war. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert war auch der internationale Kulturaustausch zwischen „zivilisierten“ Nationen eine Bühne für hemmungslosen Nationalismus (Tobias Becker); und die Stilisierung europäischer Identität konnte zur Ideologie parochialer Interessen und ethnisch-nationalen Überlegenheitsbewusstseins werden (Pia Janke). Aber Nietzsche unterschätzte wohl die Wandlungsfähigkeit der Moderne. Jedenfalls verliert seine These für die europäische Geschichte seit 1945 dramatisch an Plausibilität. Neue Theaterfestivals entwarfen die Vision einer europäischen Zivilisation und Gemeinschaft (Marcus Merkel, Mark Schachtsiek). Sieht man genauer hin, werden die Grenzen Europas jedoch auch weiterhin im Festspiel verhandelt: Es sind aber, der postkolonialen Situation entsprechend, weniger die Binnengrenzen Europas, die noch zur Debatte stehen, sondern vielmehr seine Außengrenzen, wie Christoph Schlingensiefs Afrika-Projekt das besonders effektvoll vor Augen geführt hat (Heiner Remmert). Ob das Theater damit den großen Konjunkturen der europäischen Geschichte - vom Nationalismus über Kriege zu Versöhnung und neuen Außengrenzen - nur nachvollziehend folgt, also gewissermaßen Indikatorfunktion hat, oder ob es selber Faktor der europäischen Identitätsbildung gewesen ist (und bleibt), ist eine Leitfrage des ganzen Projektes gewesen. Die Frage bleibt offen, aber die folgenden Beiträge geben doch immer wieder empirische Indizien für eine „starke“ These, derzufolge moderne Gesellschaften ohne Theater genauso wenig denkbar sind wie ohne Fabrik. Bei aller Vielfalt bewegen sich die Antworten in einem konzeptionellen Raster, das durch die Begriffe „Gemeinschaft“, „Politik“ und „Ökonomie“ charakterisiert ist. Zur Debatte steht nicht nur ihr Verhältnis untereinander, sondern grundlegend zunächst ihre jeweilige Bezogenheit auf die ästhetische und die performative Dimension des Theaters. Unverkennbar steht die Suche nach Gemeinschaft dabei an erster Stelle. Die Idee der modernen Festspiele selber zielt auf Gemeinschaftsbildung in ästhetischer Erfahrung; schon durch einen institutionellen und räumlichen Rahmen, der die Sporadik des gewöhnlichen Theaterabends durchbricht. Wo die Metropole der Ort des klassischen Theaters ist, ist die Provinz der Ort des Festspiels; ein spezifisch entworfener Zwischenraum zwischen Stadt und Land; Urbanität als Kultur ermöglichend, aber als Sozialform fliehend (Udo Bermbach; Janke). Kultische und religiöse Elemente der Gemeinschaftsbildung spielen durchweg eine geradezu konstitutive Rolle und gehen <?page no="303"?> einführung: nach der revolution 303 weit über das hinaus, was man häufig als bildungsbürgerliche „Kunstreligion“ bezeichnet. Das Publikum wird zur Gemeinde; die Aufführung selber zur Messe (Anna Littmann; Remmert). Dabei zeigt sich eine Spannung zwischen dem Außeralltäglichen und Auratischen einerseits, das zerbrechlich und zeitlich begrenzt ist, und der Suche nach Institutionalisierung andererseits, nach dauerhafter Gemeindebildung und Kultorganisation, wie sie im Bayreuther Fall besonders dezidiert betrieben worden ist. Die Suche nach Gemeinschaft in einem demokratischen Zeitalter - das ist aber immer auch die Frage nach sozialen Spannungslinien, die im Theater und Festspiel entweder bekräftigt oder überwunden werden. Ist Musik elitär, Theatralität dagegen etwas für die „Masse“? Im Blick auf die zunehmend kommerziell geprägte Massenkultur der Moderne, in der Populärästhetik zum Freizeitvergnügen wird, hätte Nietzsche sich sicherlich bestätigt gesehen (Johanna Niedbalski). Doch auch soziale Klassen versuchten in Festen, im Theater, in eigenen Festspielen eine Gemeinschaft zu konstituieren, die am Arbeitsplatz ebenso wie in der privaten Lebenssphäre an Instrumentalität und Individualität scheiterte. Dieser Faden einer besonderen Arbeiterkultur mit ihrem performativ geltend gemachten Anspruch auf Gemeinschaft, aber auch auf politische Wirksamkeit, lässt sich in verschiedenen Beiträgen der Sektion verfolgen. In der Zwischenkriegszeit, etwa im Deutschland der Weimarer Republik, erreichten diese Bestrebungen einen Höhepunkt (Matthias Warstat); nach dem Zweiten Weltkrieg lösten sich, wie das Beispiel der Recklinghauser Festspiele zeigt, die Grenzen zwischen Arbeiterkultur und bürgerlicher Avantgarde zunehmend auf (Merkel). Nachdem das aristokratische Theater schon vor dem Ersten Weltkrieg in Rückzug und Anpassung begriffen war (Littmann), bleiben auch von den hochbürgerlichen Identitäten hundert Jahre später nur noch Relikte, so dass Peter Jelavich heutige europäische Opernfestspiele als „Naturschutzpark des absterbenden Bildungsbürgertums“ bezeichnet. Aber der alte Gegensatz von ‚Elite‘ und ‚Masse‘ lebt doch in einem Spannungsverhältnis zwischen Avantgarde und Populärkultur weiter. Auf ähnliche Weise könnte man die politischen und die ökonomischen Verstrickungen des europäischen Theaters und zumal der modernen Theaterfeste genauer aufschlüsseln. Die politischen Potentiale der Ästhetik kamen in ganz unterschiedlicher Weise zur Geltung. Eine klare Linie etwa von einer kulturellen Affirmation der bestehenden Ordnung zu einer politischen Emanzipation des Theaters in Richtung auf Gesellschafts- und Machtkritik lässt sich aus den folgenden Beiträgen aber nicht ableiten. Schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hatten Affirmation und <?page no="304"?> 304 paul nolte Kritik ebenso ihren festen Platz wie eine (vermeintlich) unpolitische Theatralität des Vergnügens und der bloßen Unterhaltung. Wenn sich hier eine Tendenz bis in die Gegenwart ablesen lässt, so führt sie vielleicht eher von der Eindeutigkeit zur Uneindeutigkeit, von der politischen Positionierung in gleich welchem Sinne zu einer mehrdeutigen Politisierung, in der politische Radikalität - wie in Christoph Schlingensiefs Projekten - ein Mittel der Ironie ist, das die politischen Aussagemöglichkeiten des Theaters weniger in ihr Gegenteil verkehrt als überhaupt in Frage stellt. - Einfachen Deutungsmustern, etwa im Sinne der Klage über eine zunehmende Kommerzialisierung vormals „autonomer“ Kultur, widersetzen sich auch die Beispiele der ökonomischen Dimensionen des modernen Theaters. Vielmehr illustrieren sie die Immer-schon-Präsenz und Vielgestaltigkeit kommerzieller Interessen, vom Tourismus Bayreuths und der europäischen und transatlantischen Vergnügungsindustrie um 1900 über das „Bratwürstchenproblem“ der Arbeiterfeste bis zur Bedeutung von Theaterfestivals als modernem „Standortfaktor“ für Städte und Regionen (Bermbach, Niedbalski, Warstat, Merkel). Hier ließe sich auch die Erfindung und erfolgreiche Vermarktung der europäischen „Kulturhauptstädte“ seit 1985 einordnen, die von der ungebrochenen Wirkungsmacht der Europa-Idee gerade in der performativen Kultur zeugt: Kulturhauptstadt Europas, das bedeutet vor allem „Event“, Spektakel, Aufführung und nicht zuerst kontemplative Kultur. Allein damit könnte man übrigens die herausfordernde These Peter Jelavichs, Europa könne nicht mehr „ge-staged“ werden, widerlegen. Das bedeutet nicht die ewige Wiederkehr des Gleichen in der Geschichte europäischer Theater- und Festspielkulturen. Eher lassen sich, zumal in den letzten Jahrzehnten, Transpositionen beobachten, die dem kulturellen Gestus der Postmoderne entsprechen: Zitat, Selbstreferentialität, Reenactment. Aber immer noch geht es um Wagner, den Komponisten und den Revolutionär: Die Grundtonart der Moderne ist insofern dieselbe geblieben. <?page no="305"?> Nietzsches „guter“ (und antitheatralischer) Europäer Peter Jelavich (Baltimore) Außer Friedrich Nietzsche gibt es wohl wenige Denker, die die beiden Themen dieses Bandes - Theater und Europa - in einer historischen Spannweite behandelt haben, die sich von der Antike bis ins 19. Jahrhundert erstreckt. Allerdings werden diese beiden Begriffe in Nietzsches Werk selten explizit zusammengebracht. In diesem Aufsatz versuche ich, diese Themenbereiche anhand seines Konzepts des „guten Europäers“ miteinander zu verbinden. Mit der fortschreitenden Einigung Europas wird viel über Nietzsches Begriff des „guten Europäers“ geschrieben, oft in positiver Weise. 1 Dies ist auf den ersten Blick verständlich, denn „Europäer“ klingt gut, und „gut“ klingt gut. Ob dieser „gute Europäer“ tatsächlich eine vorbildliche Figur ist, müssen wir noch eruieren. Hierzu werde ich in der ersten Hälfte meines Aufsatzes einige Grundlinien in Nietzsches Geschichtstheorie nachvollziehen, um die Vorbilder seines „guten Europäers“ hervorzuheben. In der zweiten Hälfte werde ich darlegen, wie diese Entwicklungen mit den Künsten, insbesondere der Musik und dem Theater, verflochten sind und wie darüber hinaus Nietzsches antidemokratische und antitheatralische Positionen in seiner Vision des „Einen Europas“ aufeinander treffen. Nietzsche bezeichnete in seiner letzten Schaffensphase (insbesondere ab 1884) sich selbst und seinesgleichen immer wieder als „gute Europäer“. Diese Phrase findet schon im ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches (1878) Verwendung, wird aber erst einige Jahre später zu einem 1 Krell, D./ Bates, D.: The Good European: Nietzsche’s Work Sites in Word and Image. Chicago 1999; Witzler, R.: Europa im Denken Nietzsches. Würzburg 2001; Goedert, G./ Nussbaum-Benz, U. (Hrsg.): Nietzsche und die Kultur - Ein Beitrag zu Europa? Hildesheim 2002; Elbe, S.: Europe: A Nietzschean Perspective. London 2003; d’Iorio, P./ Merlio, G. (Hrsg.): Nietzsche et l’Europe. Paris 2006 und Gerhardt, V./ Reschke, R. (Hrsg.): Nietzsche und Europa - Nietzsche in Europa (= Nietzscheforschung Bd. 140). Berlin 2007. <?page no="306"?> 306 peter jelavich Hauptbegriff in Nietzsches Denken. 2 In der Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse (1885) zählt er sich zu einer Gruppe von „guten Europäer[n] und freien, sehr freien Geister[n]“. 3 Im selben Buch erkennt er „die unzweideutigsten Anzeichen“, […] in denen sich ausspricht, dass Europa Eins werden will. Bei allen tieferen und umfänglicheren Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesammt-Richtung in der geheimnisvollen Arbeit ihrer Seele, den Weg zu jener neuen Synthesis vorzubereiten und versuchsweise den Europäer der Zukunft vorwegzunehmen. […] Ich denke an Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich Heine, Schopenhauer: man verarge mir es nicht, wenn ich auch Richard Wagner zu ihnen rechne. 4 Aus dem gleichen Zeitraum finden sich Notizen über eventuelle Buchtitel mit mehreren Varianten dieser Phrase; schon 1884 notierte er sich: „Die guten Europäer. Vorschläge zur Züchtung eines neuen Adels; “ 5 dann, im Jahre 1885: „Die guten Europäer. Ein Beitrag zur Beschreibung der europäischen Seele“ sowie: „Die Starken und die Schwachen. Gedanken und Gedankenstriche eines guten Europäers.“ 6 Und ein Jahr darauf wurde als Titel vermerkt: „Nach neuen Meeren. Allerhand Fragen und Fragwürdiges für gute Europäer“. 7 Ein solches Buch hat er zwar nie geschrieben, aber der Begriff taucht in vielen seiner späteren Werke auf. Beredter noch als Nietzsches Worte war sein Lebensstil: In den späten 1870er und den 1880er Jahren war er unablässig auf der Suche nach europäischen Städten, hauptsächlich in Italien und Südfrankreich, in denen er sich wohlfühlen und seinen Gedanken nachgehen konnte; er fand Sorrent, Genua, Nizza, und schließlich Turin. In seinem Nachlass befindet sich eine Notiz aus dem Winter 1884/ 85: „Grundsätzlich - nicht in Deutschland leben, weil Europäische Mission.“ Übrigens vermerkte er gleich darauf: „nicht unter Universitäten.“ 8 Nietzsche ersann den „guten Europäer“ als Gegenentwurf zu mehreren zeitgenössischen Ideologien. So ist der „gute Europäer“ anti-nationalistisch, insbesondere anti-deutsch und anti-anti-semitisch, aber auch in hohem Maße anti-demokratisch. Um diesen Ideenkomplex zu verstehen, sollten wir kurz Nietzsches Geschichtstheorie zusammenfassen. 2 Menschliches, Allzumenschliches I, 475; KSA (= Colli, G./ Montinari, M. (Hrsg.): Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe. München 1988). Bd. 2, S. 309. 3 Jenseits von Gut und Böse, Vorrede; KSA Bd. 5, S. 13. 4 Ebd. 256; KSA Bd. 5, S. 201-202. 5 Nachgelassene Fragmente, Sommer-Herbst 1884, 26 [320]; KSA Bd. 11, S. 234. 6 Ebd., April-Juni 1885, 34 [155] und Mai-Juli 1885, 35 [8]; KSA Bd. 11, S. 473 und 511. 7 Ebd., Anfang 1886-Frühjahr 1886, 3 [8]: KSA Bd. 12, S. 172. 8 Ebd., Herbst 1884-Anfang 1885, 29 [4]: KSA Bd. 11, S. 337. <?page no="307"?> nietzsches „guter“ (und antitheatralischer) europäer 307 Als Europa definierte er „alle jene Völker und Völkertheile, welche im Griechen-, Römer-, Juden- und Christenthum ihre gemeinsame Vergangenheit haben“. 9 Und gerade in dieser Mischung bestand der schizophrene Charakter der europäischen Kultur, denn die europäische Geschichte bedeutete für Nietzsche ein Oszillieren zwischen aristokratischen (oder römischen) und demokratischen (oder christlichen) Phasen, wobei die demokratischen zu seinem Leidwesen generell überhand nahmen. Abgesehen von seiner frühen Begeisterung für die griechische Antike war für Nietzsche das römische Imperium der bisherige Gipfelpunkt der europäischen Geschichte. In der Genealogie der Moral schrieb er: „Die Römer waren ja die Starken und Vornehmen, wie sie stärker und vornehmer bisher auf Erden nie dagewesen, selbst niemals geträumt worden sind.“ 10 Dieser Höhepunkt der aristokratischen Kultur wurde aber vom aufkommenden Christentum zunichte gemacht - eine Entwicklung, die zur andauernden Krankheit Europas führte: „scheint es denn nicht, dass Ein Wille über Europa durch achtzehn Jahrhunderte geherrscht hat, aus dem Menschen eine sublime Missgeburt zu machen? “ 11 Es wurden jedoch drei Versuche unternommen, das römische Ethos wieder aufleben zu lassen: die Renaissance, das aristokratische Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts, und das Reich Napoleons. Die italienische Renaissance war für Nietzsche „ein glanzvoll-unheimliches Wiederaufwachen des klassischen Ideals, der vornehmen Werthungsweise aller Dinge.“ 12 Sie […] barg in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Cultur verdankt: also Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autoritäten, Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft, Begeisterung für die Wissenschaft und die wissenschaftliche Vergangenheit der Menschen, Entfesselung des Individuums, eine Gluth der Wahrhaftigkeit und Abneigung gegen Schein und blossen Effekt. […] Es war das goldene Zeitalter dieses Jahrtausends. 13 Es war eine Zeit, die den Europäern des 19. Jahrhunderts, trotz ihres Historismus, vollkommen fremd sein müsste: „Gewiss ist, dass wir uns nicht in Renaissance-Zustände hineinstellen dürften, nicht einmal hineindenken: unsre Nerven hielten jene Wirklichkeit nicht aus, nicht zu reden von unsern Muskeln.“ 14 Die Renaissance wurde dann aber von der Reformation unterminiert - so wie 300 Jahre später der französische aristokratische 9 Der Wanderer und sein Schatten 215; KSA Bd. 2, S. 650. 10 Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung, 16; KSA Bd. 5, S. 286. 11 Jenseits von Gut und Böse 62; KSA Bd. 5, S. 83. 12 Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung, 16; KSA Bd. 5, S. 287. 13 Menschliches, Allzumenschliches I, 237; KSA Bd. 2, S. 199. 14 Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen 37; KSA Bd. 6, S. 136-137. <?page no="308"?> 308 peter jelavich Klassizismus, der mit Ludwig XIV. einsetzte, von der französischen Revolution ausgehöhlt wurde, welche Nietzsche wiederum als den „letzten grossen Sklaven-Aufstand“ charakterisierte. 15 Danach gab es ein letztes großes Aufflammen des römischen Ethos unter Napoleon: „das antike Ideal selbst trat leibhaft und mit unerhörter Pracht vor Auge und Gewissen der Menschheit.“ 16 Immer wieder stellte Nietzsche Napoleon als Europas verpasste Chance dar; unter ihm hätte Europa zu einem wirklich imperialen und aristokratischen Staatsgebilde vereinigt werden können. Napoleons Reich wurde aber durch die aufkommende Ideologie des 19. Jahrhunderts zerstört: Durch den Nationalismus. Der von Nietzsche ersehnten Einigung Europas stand vor allen Dingen der Nationalismus im Weg, in erster Linie dessen deutsche Variante. Während Nietzsche die „guten Europäer“ lobte, war er der Auffassung: „Ein guter Deutscher […] ist kein Deutscher mehr.“ 17 Obwohl er sich freiwillig als Sanitäter im deutsch-französischen Krieg gemeldet hatte, bildeten sich seine Vorbehalte gegen Deutschland schon während den militärischen Auseinandersetzungen heraus. Im Dezember 1870 schrieb er an seine Mutter und seine Schwester: „Für den jetzigen deutschen Eroberungskrieg nehmen meine Sympathien allmählich ab. Die Zukunft unserer deutschen Cultur scheint mir mehr als je gefährdet.“ 18 Immer deutlicher vertrat Nietzsche die These, dass die Energie, die von einem Volk für Politik aufgebracht wird, ihrer Kultur zwangsläufig abhanden kommen muss. Diese Warnung wurde Anfang der 1870er Jahre in seinen Unzeitgemässen Betrachtungen ausgesprochen, und im ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches bekräftigte er abermals die These, „dass das politische Aufblühen eines Volkes eine geistige Verarmung und Ermattung, eine geringere Leistungsfähigkeit zu Werken, welche grosse Concentration und Einseitigkeit verlangen, fast mit Nothwendigkeit nach sich zieht“. 19 Zehn Jahre später hatte sich Nietzsches Ton noch deutlich verschärft: in der Götzen-Dämmerung (1888) heißt es: „‚Deutscher Geist‘: Seit achtzehn Jahren eine contradictio in adjecto.“ 20 Und weiter: „Es zahlt sich theuer, zur Macht zu kommen: die Macht verdummt. […] ‚Deutschland, Deutschland über Alles‘, ich fürchte, das war das Ende der 15 Jenseits von Gut und Böse 46; KSA Bd. 5, S. 67. 16 Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung, 16; KSA Bd. 5, S. 287. 17 Nachgelassene Fragmente, Sommer 1884-Herbst 1884, 26 [412]; KSA Bd. 11, S. 261. 18 Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 12. 12. 1870; Nietzsche, F.: Sämtliche Briefe. München 1986, Bd. 3, S. 164. 19 Menschliches, Allzumenschliches I, 481; KSA Bd. 2, S. 315. 20 Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 23; KSA Bd. 6, S. 62. <?page no="309"?> nietzsches „guter“ (und antitheatralischer) europäer 309 deutschen Philosophie.“ 21 In dieser Hinsicht war Frankreichs Verlust auf dem Schlachtfeld eigentlich ein Gewinn, es wurde erneut zu einer „Culturmacht“; dagegen kommen „in der Hauptsache - und das bleibt die Cultur - […] die Deutschen nicht mehr in Betracht.“ 22 Nach 1880 nahm sein Hass noch zu, und Nietzsche sprach Deutschland und die Deutschen praktisch für alle Irrwege der europäischen Geschichte schuldig: So wurde die Renaissance durch Luther vernichtet, und Napoleon in den deutschen „Freiheits-Kriegen“ besiegt 23 . In seinem nachgelassenen Werk Ecce homo lesen wir: […] ich fühle es selbst als Pflicht, den Deutschen einmal zu sagen, was sie Alles schon auf dem Gewissen haben. Alle grossen Cultur-Verbrechen von vier Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen! […] Die Deutschen haben Europa um die Ernte, um den Sinn der letzten grossen Zeit, der Renaissance- Zeit, gebracht. […] Die Deutschen haben endlich, als auf der Brücke zwischen zwei decadence-Jahrhunderten eine force majeure von Genie und Wille sichtbar wurde, stark genug, aus Europa eine Einheit, eine politische und wirtschaftliche Einheit, zum Zweck der Erdregierung zu schaffen, mit ihren ‚Freiheits-Kriegen‘ Europa um den Sinn, um das Wunder von Sinn in der Existenz Napoleon’s gebracht, - sie haben damit Alles, was kam, was heute da ist, auf dem Gewissen, diese culturwidrigste Krankheit und Unvernunft, die es giebt, den Nationalismus, diese névrose nationale, an der Europa krank ist, diese Verewigung der Kleinstaaterei Europa’s, der kleinen Politik: sie haben Europa selbst um seinen Sinn, um seine Vernunft - sie haben es in eine Sackgasse gebracht. - Weiss Jemand ausser mir einen Weg aus dieser Sackgasse? Eine Aufgabe gross genug, um die Völker wieder zu binden? 24 In der Tat bot Nietzsche mehr als „einen Weg aus dieser Sackgasse“. In seinen Schriften finden sich mehrere, zuweilen widersprüchliche Wege zur Einigung Europas. Interessant dabei ist, dass diese Einigung nicht nur, wie zu vermuten wäre, das Werk eines neuen Napoleon oder einer neuen Herrscherkaste sein würde, sondern auch Konsequenz der von Nietzsche so verhassten demokratischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts. In Menschliches, Allzumenschliches behauptete er, dass die europäische Einigung Ergebnis wirtschaftlicher und zivilisatorischer Prozesse sein würde: Der Handel und die Industrie, der Bücher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller höheren Cultur, das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer, - diese Umstände brin- 21 Götzen-Dämmerung, Was den Deutschen abgeht 1; KSA Bd. 6, S. 103-104. 22 Ebd. 4; KSA Bd. 6, S. 106. 23 Bei Nietzsche stehen die „Freiheits-Kriege“ häufig in Anführungszeichen. 24 Ecce homo, Der Fall Wagner 2; KSA Bd. 6, S. 359-360. <?page no="310"?> 310 peter jelavich gen nothwendig eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen, mit sich: so dass aus ihnen allen, in Folge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europäischen Menschen, entstehen muss. Der „künstliche Nationalismus“ und die Erzeugung „nationaler Feindseligkeiten“ waren Versuche, dieser Entwicklung entgegenzuwirken, hatten aber keine Zukunft. 25 Im letzten Abschnitt von Menschliches, Allzumenschliches (also in Der Wanderer und sein Schatten) entwarf Nietzsche unter der Rubrik „Sieg der Demokratie“ eine weitere Variante der europäischen Einigung, die nicht nur nicht demokratiefeindlich war, sondern sogar die Thesen der revisionistischen Sozialdemokratie zum Teil vorwegnahm. Einerseits behauptete Nietzsche, dass sich die europäische Arbeiterklasse vom radikalen Sozialismus trennen würde, nachdem sie auf parlamentarischem Weg die Kapitalisten eingeschränkt und sich selbst zum Mittelstand erhoben haben würde: Wenn das Volk […] erst einmal die Steuerschraube in den Händen hat, durch die grossen Majoritäten seiner Parlamente, dann wird es mit der Progressivsteuer dem Capitalisten-, Kaufmanns- und Börsenfürstenthum an den Leib gehen und in der That langsam einen Mittelstand schaffen, der den Socialismus wie eine überstandene Krankheit vergessen darf. Andererseits würde diese pragmatische Seite der Demokratie zu einem europäischen Völkerbund führen, wodurch der einseitige Nationalismus seine Aufhebung erfahren würde: Das praktische Ergebnis dieser um sich greifenden Demokratisierung wird zunächst ein europäischer Völkerbund sein, in welchem jedes einzelne Volk, nach geographischen Zweckmässigkeiten abgegränzt, die Stellung eines Cantons und dessen Sonderrechte innehat. […] Die Correcturen der Gränzen, welche dabei sich nöthig zeigen, werden so ausgeführt, dass sie dem Nutzen der grossen Cantone und zugleich dem des Gesammtverbandes dienen. 26 Zu dieser Zeit (um 1880) gab Nietzsche sogar zu: „Ich rede von der Demokratie als von etwas Kommendem“ 27 - er schien also die These des von ihm so verehrten Alexis de Tocqueville zu vertreten, wonach der Sieg der Demokratie, wenn auch nicht in jeder Hinsicht erfreulich, so doch nicht aufzuhalten sei. In seinen späteren Schriften änderte sich Nietzsches Ton, und Demokratie war nun etwas, das es mit allen Mitteln zu bekämpfen galt. Dieser 25 Menschliches, Allzumenschliches I 475; KSA Bd. 2, S. 309. 26 Der Wanderer und sein Schatten 292; KSA Bd. 2, S. 684. 27 Ebd. 293; KSA Bd. 2, S. 685. <?page no="311"?> nietzsches „guter“ (und antitheatralischer) europäer 311 Umschwung ist unter anderem mit dem Aufkommen der antisemitischen Bewegung zu erklären, die ihn schockierte und ihm überaus zuwider war. Seine Schriften bezeugen seine Verachtung Treitschkes und anderer Wortführer des Antisemitismus im neuen Kaiserreich, während seine Briefe die Verzweiflung darüber kundtun, dass seine Schwester mit einem Antisemiten verheiratet war. In einem Brief an seine Schwester von Februar 1886 beschrieb er sich als „den unverbesserlichen Europäer und Anti- Antisemiten“, und sechs Monate später empörte er sich in einem Brief an seine Mutter erneut über den deutschen Antisemitismus: „wenn ich auch ein schlechter Deutscher sein sollte - jedenfalls bin ich ein sehr guter Europäer.“ 28 Nietzsche ließ dies zu der Überzeugung gelangen, dass seine tolerantere Auffassung von Demokratie in den späten 1870er Jahren fehl am Platze war; er sah ein, dass sich der deutsche Nationalismus mit populärer Unterstützung nur noch vertieft und in eine radikalere Richtung entwickelt hatte. In Jenseits von Gut und Böse vertrat Nietzsche mit größter Deutlichkeit seine endgültige, dezidiert anti-demokratische Auffassung von einer Einigung Europas. Aber auch darin spielte „die demokratische Bewegung Europa’s“ eine Rolle, denn er beschrieb erneut den […] Prozess einer Anähnlichung der Europäer, […] die langsame Heraufkunft einer wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch, welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und -kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt. 29 Damit zeichnete sich eine deutliche Hinwendung zur Hierarchisierung ab; denn das Resultat dieser Entwicklung wäre „ein nützliches arbeitsames, vielfach brauchbares und anstelliges Heerdenthier Mensch,“ und er vermutete, dass „der Gesammt-Eindruck solcher zukünftiger Europäer wahrscheinlich der von vielfachen geschwätzigen willensarmen und äusserst anstellbaren Arbeitern sein wird, die des Herrn, des Befehlenden bedürfen wie des täglichen Brodes.“ 30 Nietzsche imaginierte Demokratie nicht länger als ein System von parlamentarischen Mehrheiten, sondern, im Sinne Tocquevilles, als soziale Gleichmacherei, die gleichermaßen zur politischen Freiheit wie auch zur politischen Despotie führen könnte. Während Tocqueville den „demokratischen Despotismus“ fürchtete, wollte Nietzsche ihn herbeibringen: „Ich wollte sagen: die Demokratisierung Europa’s ist zugleich eine unfreiwilli- 28 (Brief an Elisabeth Förster, 7.2.1886; und Brief an Franziska Nietzsche, 17. 8. 1886), Nietzsche, F.: Sämtliche Briefe. München 1986. Bd. 7, S. 147, 233. 29 Jenseits von Gut und Böse 242; KSA Bd. 5, S. 182. 30 Ebd. 242; KSA Bd. 5, S. 183. <?page no="312"?> 312 peter jelavich ge Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen, - das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigsten.“ 31 Manche Akademiker, die Nietzsche für das heutige Europa brauchbar machen wollen, pochen auf Nebenphrasen wie „auch im geistigsten“, und solche Phrasen wollen in der Tat nicht außer Acht gelassen sein. Aber man darf nicht übersehen, dass die europäische Einigung für Nietzsche nicht eine bloß intellektuelle Angelegenheit gewesen wäre. Zwar hatte Nietzsche in seiner letzten Schaffensphase keinen eindeutigen Fahrplan für die europäische Einigung entworfen, aber in fast allen Szenarien - „auch im geistigsten“ - spielte Krieg eine große Rolle. Ein möglicher Weg zur europäischen Einheit wäre machtpolitisch im herkömmlichen Sinne gewesen: […] eine solche Zunahme der Bedrohlichkeit Russlands, dass Europa sich entschliessen müsste, gleichermaassen bedrohlich zu werden, nämlich Einen Willen zu bekommen, durch das Mittel einer neuen über Europa herrschenden Kaste, einen langen furchtbaren eigenen Willen, der sich über Jahrtausende hin Ziele setzten könnte: - damit endlich die langgesponnene Komödie seiner Kleinstaaterei und ebenso seine dynastische wie demokratische Vielwollerei zu einem Abschluss käme. 32 Dies würde auch dem „parlamentarischen Blödsinn“ 33 ein Ende setzen. In einer solchen Konstellation wäre ein neuer Napoleon vonnöten. Nietzsche glaubte, dass das befehlsbedürftige Volk mit dem Parlamentarismus und der Eigenverantwortlichkeit nicht zurecht kommen und in einem neuen Napoleon den Erlöser erkennen würde, sobald er erschiene: Für die Fälle aber, wo man der Führer und Leithammel nicht entrathen zu können glaubt, macht man heute Versuche über Versuche, durch Zusammen-Addiren kluger Heerdenmenschen die Befehlshaber zu ersetzen: dieses Ursprungs sind zum Beispiel alle repräsentativen Verfassungen. Welche Wohlthat, welche Erlösung von einem unerträglich werdenden Druck trotz Alledem das Erscheinen eines unbedingt Befehlenden für diese Heerdenthier-Europäer ist, dafür gab die Wirkung, welche das Erscheinen Napoleons’s machte, das letzte grosse Zeugniss: - die Geschichte der Wirkung Napoleon’s ist beinahe die Geschichte des höheren Glücks, zu dem es dieses ganze Jahrhundert in seinen werthvollsten Menschen und Augenblicken gebracht hat. 34 Eine politische Bedrohung durch Russland wäre eine Möglichkeit gewesen, die Einigung Europas unter einer herrschenden Kaste zu erzwingen. Nietzsche sprach aber zumeist von Glaubenskriegen, die Europa im kommenden Jahrhundert beherrschen würden. Er meinte, dass der Erkennt- 31 Ebd. 242; KSA Bd. 5, S. 183. 32 Ebd. 208; KSA Bd. 5, S. 140. 33 Ebd. 208; KSA Bd. 5, S. 139. 34 Ebd. 199; KSA Bd. 5, S. 120. <?page no="313"?> nietzsches „guter“ (und antitheatralischer) europäer 313 nis, dass Gott tot sei und es also keine fest verankerten Werte mehr gäbe, ein Kampf um das Erfinden und Durchsetzen neuer Werte folgen würde: Er begrüßte das kommende „Zeitalter, das den Heroismus in die Erkenntnis trägt und Kriege führt um der Gedanken und ihrer Folgen willen.“ 35 In diesem Kampf sollten die „guten Europäer“ als geistige Elite eine große Rolle spielen. Die Massen konnten zwar für die neuen Kriege um Ideen, Werte und Glauben mobilisiert werden; schon in der Fröhlichen Wissenschaft (1882) schrieb Nietzsche: „Der grösste Fortschritt der Massen war bis jetzt der Religionskrieg: denn er beweist, dass die Masse angefangen hat, Begriffe mit Ehrfurcht zu behandeln.“ 36 Aber die umkämpften Begriffe würden nicht den Massen entstammen, sondern von den „guten Europäern“ geprägt werden. Diese „guten Europäer“ waren insbesondere „Erben von Europa’s längster und tapferster Selbstüberwindung“, des Christentums. Gerade die „guten Europäer“ würden die erschütternde und Alles umwälzende Frage stellen: „hat denn das Dasein überhaupt einen Sinn? “ 37 Nietzsche bezeichnete sich und seinesgleichen als „Heimatlose“ und fuhr fort: […] wir freuen uns an Allen, die gleich uns die Gefahr, den Krieg, das Abenteuer lieben, die sich nicht abfinden, einfangen, versöhnen und verschneiden lassen, wir rechnen uns selbst unter die Eroberer, wir denken über die Nothwendigkeit neuer Ordnungen nach. 38 *** Welche Rolle würde die Kultur in diesen Entwicklungen spielen? Vieles deutet darauf hin, dass Nietzsche eine Polarität in die Neuzeit fortgeschrieben sah, die den Gegensatz von Musik und Theater verkörperte und deren Ursprünge er bereits in der Antike ausmachte. Fassen wir das Argument seines Erstlingswerks Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) kurz zusammen: Bei genauer Lektüre zeigt sich, dass das Werk mit Theater eigentlich wenig zu tun hat. Das Theater wiederum ist keinesfalls mit der antiken Tragödie gleichzusetzen, denn das Dionysische kommt unmittelbar in Musik, mittelbar in Tanz und Lyrik zum Ausdruck, das Apollinische unmittelbar in der plastischen Kunst und mittelbar in der Epik. Beides trifft in den Werken von Aischylos und Sophokles aufeinander und stellt für Nietzsche den Höhepunkt der griechischen Kultur, wenn nicht der Weltkultur überhaupt dar. Die Ursprünge der Tragödie waren für ihn metaphysisch und ästhetisch: Der ungeformte Wille, 35 Die fröhliche Wissenschaft 283; KSA Bd. 3, S. 526. 36 Ebd. 144; KSA Bd. 3, S. 491. 37 Ebd. 357; KSA Bd. 3, S. 600. 38 Ebd. 377; KSA Bd. 3, S. 629. <?page no="314"?> 314 peter jelavich der die Welt durchzog, war das dionysische Wesen der Tragödie. Mit der athenischen Politik und erst recht mit der Demokratie hatte die Tragödie nichts gemein; die Theorie, dass der Chor eine „constitutionelle Volksvertretung“ darstelle, betrachtete Nietzsche als „Blasphemie.“ 39 Dagegen spielte die griechische Demokratie eine große Rolle beim Untergang der Tragödie. Diese Entwicklung wurde von Euripides eingeleitet, der sich unter Einfluss von Sokrates den Glauben aneignete, wonach die ganze Welt für den menschlichen Verstand erklärbar sei; diese Weltanschauung war (im Gegensatz zur früheren Tragödie) nicht nur inhärent optimistisch, sondern auch bürgerlich, denn die „bürgerliche Mittelmässigkeit, auf die Euripides alle seine politischen Hoffnungen aufbaute, kam jetzt zu Wort.“ 40 Die mythischen und mystischen Höhen wurden verlassen, die Musik und die Lyrik verschwanden allmählich von der klassischen Bühne, und zum Schluss siegte „das optimistische Element, das, einmal in die Tragödie eingedrungen, ihre dionysischen Regionen allmählich überwuchern und sie nothwendig zur Selbstvernichtung treiben muss - bis zum Todessprunge in’s bürgerliche Schauspiel.“ 41 So hatten Theater und Drama im engerem (und für Nietzsche im schlechteren) Sinne seit Euripides mit der dionysischen und apollinischen Kultur wenig gemein; sie sind Ausdruck einer postsokratischen oder, wie Nietzsche auch sagte, „alexandrinischen“ und somit letztlich demokratischen Kultur. Machen wir einen Sprung - hoffentlich keinen Todessprung - in die Neuzeit. Auch dort finden wir bei Nietzsche eine Polarität von Musik und Theater, wobei Musik die Kunstform der geistigen Elite darstellt, während Theater zur Unterhaltung der Massen dient. Obwohl Nietzsche als Mozartianer nicht sehr bekannt ist, war Mozart für ihn in vieler Hinsicht der letzte große Komponist; der Komponist also, der die Kultur der letzten aristokratischen Epoche summierte und aufhob. Schon in Menschliches, Allzumenschliches schrieb Nietzsche: „Erst Mozart gab dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten und der Kunst Racine’s und Claude Lorrain’s in klingendem Golde heraus.“ 42 In Jenseits von Gut und Böse wurde Mozart als „der Ausklang eines großen Jahrhunderte langen europäischen Geschmacks“ gepriesen, und Nietzsche lobte „seine ‚gute Gesellschaft‘, sein zärtliches Schwärmen, seine Kinderlust am Chinesischen und Geschnörkelten, seine Höflichkeit des Herzens, sein Verlangen nach Zierlichem, Verliebtem, Tanzendem, Thränenseligem, sein Glaube an den Süden.“ Beethoven war als Ausklang der Aufklärung immer 39 Die Geburt der Tragödie 7; KSA Bd. 1, S. 52. 40 Ebd. 11; KSA Bd. 1, S. 77. 41 Ebd. 14; KSA Bd. 1, S. 94. 42 Menschliches, Allzumenschliches II 171; KSA Bd. 2, S. 450. <?page no="315"?> nietzsches „guter“ (und antitheatralischer) europäer 315 noch respektabel. Aber die darauf folgende Musik der deutschen Romantik - Webers Freischütz und Oberon, Marschners Vampyr und Wagners Tannhäuser - gehörte für Nietzsche „in eine, historisch gerechnet, noch kürzere, noch flüchtigere, noch oberflächlichere Bewegung, als es jener grosse Zwischenakt, jener Übergang Europa’s von Jean-Jacques Rousseau zu Napoleon und zur Heraufkunft der Demokratie war.“ Und das Ende vom Lied war Robert Schumann, für Nietzsche […] nur noch ein deutsches Ereignis in der Musik, kein europäisches mehr, wie Beethoven es war, wie, in noch umfänglicherem Maasse, Mozart es gewesen ist, - mit ihm drohte der deutschen Musik ihre grösste Gefahr, die Stimme für die Seele Europa’s zu verlieren und zu einer blossen Vaterländerei herabzusinken. 43 Wo war also die europäische Musik noch zu finden? Bekannterweise bei Bizet, der wie Mozart einen „Glaube[n] an den Süden“ besaß. Denn „im Wesen der Franzosen ist eine halbwegs gelungene Synthesis des Nordens und Südens gegeben“; sie haben die geeignete Kultur „für die geborenen Mittelländer, die ‚guten Europäer‘. - Für sie hat Bizet Musik gemacht, dieses letzte Genie, welches eine neue Schönheit und Verführung gesehn, - der ein Stück Süden der Musik entdeckt hat.“ 44 Und welche Rolle spielte Wagner für Nietzsche in den 1880er Jahren? Für ihn bedeutete Wagner nicht mehr Musik, wie er in der Geburt der Tragödie noch glaubte, sondern bloß: Theater. In der Fröhlichen Wissenschaft war Wagner für Nietzsche „wesentlich Theatermensch und Schauspieler, der begeistertste Mimomane, den es gegeben hat, auch noch als Musiker! “ 45 In Der Fall Wagner (1888) wurde der Komponist als „ein unvergleichlicher Histrio, der grösste Mime, das erstaunlichste Theater- Genie, das die Deutschen gehabt haben, unser Sceniker par excellence“ charakterisiert. 46 Mit seinen späten Anti-Wagner-Tiraden betonte Nietzsche seine antitheatralische Haltung besonders heftig, und in seinem nachgelassenen Nietzsche contra Wagner fragte er: Was geht mich das Theater an? Was die Krämpfe seiner ‚sittlichen‘ Ekstasen, an denen das Volk - und wer ist nicht ‚Volk‘! - seine Genugthuung hat! Was der ganze Gebärden-Hokuspokus des Schauspielers! - Man sieht, ich bin wesentlich antitheatralisch geartet, ich habe gegen das Theater, diese Massen- Kunst par excellence, den tiefen Hohn auf dem Grunde meiner Seele, den jeder 43 Jenseits von Gut und Böse 245; KSA Bd. 5, S. 187-188. 44 Ebd. 254; KSA Bd. 5, S. 199-200. 45 Die fröhliche Wissenschaft 368; KSA Bd. 3, S. 617. 46 Der Fall Wagner 8; KSA Bd. 6, S. 30. <?page no="316"?> 316 peter jelavich Artist heute hat. Erfolg auf dem Theater - damit sinkt man in meiner Achtung bis auf Nimmer-wieder-sehn; Misserfolg - da spitze ich die Ohren und fange an zu achten. […] Im Theater wird man Volk, Heerde, Weib, Pharisäer, Stimmvieh, Patronatsherr, Idiot - Wagnerianer. 47 In Der Fall Wagner donnerte Nietzsche gegen […] die Theatrokratie -, den Aberwitz eines Glaubens an den Vorrang des Theaters, an ein Recht auf Herrschaft des Theaters über die Künste, über die Kunst… Aber man soll es den Wagnerianern hundert Mal in’s Gesicht sagen, was das Theater ist: immer nur ein Unterhalb der Kunst, immer nur etwas Zweites, etwas Vergröbertes, etwas für die Massen Zurechtgebogenes, Zurechtgelogenes! […] Das Theater ist eine Form der Demolatrie in Sachen des Geschmacks, das Theater ist ein Massen-Aufstand, ein Plebiscit gegen den guten Geschmack. 48 Wohlgemerkt lehnte Nietzsche das Theater nicht ab, weil es auf Verstellung basiert; oft hat er das Tragen von Masken, metaphorisch gesprochen, gelobt. Immer wieder betonte er, dass die neuen Philosophen und freien Geister sich verstellen müssten, um Freiräume für ihr Denken und Wirken zu schaffen, und dass alle Kunst auf einem „Wille[n] zur Täuschung“ beruhe, 49 ja sogar „alles Leben […] auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Nothwendigkeit des Perspektivischen und des Irrthums.“ 50 Also war nicht die Maske, nicht die Täuschung an sich für Nietzsches antitheatralische Haltung ausschlaggebend, wie etwa für viele andere Gegner des Theaters. Was ihn am Theater störte, waren vielmehr die demokratischen Elemente: das Heischen nach Erfolg, das Sich-abhängig-machen von der Meinung der Massen. Bemerkenswerterweise sah Nietzsche die ganze moderne demokratische Gesellschaft von Theatralität durchzogen. So war nicht nur das „Theater“ für Nietzsche theatralisch; das ganze Europa des 19. Jahrhunderts war eine Kulisse. Im Historismus erblickte Nietzsche die Konsequenz der Tatsache, dass „der europäische Mischmensch“ Kostüme brauche: „er hat die Historie nöthig als die Vorrathskammer der Kostüme.“ Das 19. Jahrhundert war von „schnellen Vorlieben und Wechsel[n] der Stil-Maskeraden“ geprägt - „romantisch oder klassisch oder christlich oder florentinisch oder barokko oder ‚national‘“ - die nicht nur in Architektur und Kunstgewerbe zu finden waren, sondern auch in „Moralen, Glaubensartikel[n], Kunstgeschmäcker[n] und Religionen“. 51 47 Nietzsche contra Wagner, Wo ich Einwände mache; KSA Bd. 6, S. 419-420. 48 Der Fall Wagner, Nachschrift; KSA Bd. 6, S. 42. 49 Zur Genealogie der Moral, Dritte Abhandlung, 25; KSA Bd. 5, S. 402. 50 Die Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik 5; KSA Bd. 1, S. 18. 51 Jenseits von Gut und Böse 223; KSA Bd. 5, S. 157. <?page no="317"?> nietzsches „guter“ (und antitheatralischer) europäer 317 Auch in den tiefsten Strukturen der Gesellschaft war Schauspielerei am Werk. In der Fröhlichen Wissenschaft betonte Nietzsche, dass „fast allen männlichen Europäern eine bestimmte Rolle“ aufgezwungen wurde, „ihren sogenannten Beruf; Einigen bleibt dabei die Freiheit, eine anscheinende Freiheit, diese Rolle selbst zu wählen, den Meisten wird sie gewählt“. So entwickelte sich das bürgerliche Berufsleben ebenfalls zum Schauspiel: „[F]ast alle Europäer verwechseln sich in einem vorgerückteren Alter mit ihrer Rolle, sie selbst sind die Opfer ihres ‚guten Spiels‘“. 52 Nietzsche betrachtete als besonders „amerikanisch“ die in Europa aufgegriffene Vorstellung, „ungefähr Alles zu können, ungefähr jeder Rolle gewachsen zu sein“. 53 Ebenso amerikanisch erschien ihm das Überhandnehmen einer Arbeitsmoral. Die „atemlose Hast der Arbeit - das eigentliche Laster der neuen Welt - beginnt bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen“; auch in Europa fände die Auffassung Verbreitung, dass „die eigentliche Tugend“ darin bestehe, „Etwas in weniger Zeit zu thun, als ein Anderer“. Das „gute Gewissen“ liege auf der Seite der Arbeit; „der Hang zur Freude nennt sich bereits ‚Bedürfnis der Erholung‘ und fängt an, sich vor sich selber zu schämen“. Jeder Hang zur vita contemplativa und erst recht das otium der aristokratischen Gesellschaft sei mit „Selbstverachtung und schlechte[m] Gewissen“ verbunden. 54 Das in einer solchen Zeit entstehende Theater müsse eine von drei möglichen Funktionen erfüllen. So könne es moralisch-sittlich erhebend sein, um das schlechte Gewissen zu beruhigen; weiterhin könne das Theater auch schlichtweg Erholung bieten, damit man am nächsten Tag besser arbeiten kann; oder es stelle - und hier ist hauptsächlich Wagner gemeint - ein Narkotikum bereit, um „die armen Erschöpften und Kranken von der grossen Leidensstrasse der Menschheit bei Seite zu locken, für ein lüsternes Augenblickchen; man bietet ihnen einen kleinen Rausch und Wahnsinn an“. 55 „Ekelhaft“ waren für Nietzsche die Werke, „welche ihre Zuhörer berauschen und zu einem Augenblicke starken und hohen Gefühls emportreiben“ möchten; solche Stücke fungierten als „Haschisch-Rauchen und Betel-Kauen der Europäer“, als „Narcotica“. 56 Nietzsche schrieb aus eigener Erfahrung, denn in Ecce homo gab er seine Jugendsünde zu: „Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nöthig. Wohlan, ich hatte Wagner nöthig“. 57 52 Die fröhliche Wissenschaft 356; KSA Bd. 3, S. 595. 53 Ebd. 356; KSA Bd. 3, S. 596. 54 Ebd. 329; KSA Bd. 3, S. 556-557. 55 Ebd. 89; KSA Bd. 3, S. 446. 56 Ebd. 86; KSA Bd. 3, S. 444. 57 Ecce homo, Warum ich so klug bin 6; KSA Bd. 6, S. 289. <?page no="318"?> 318 peter jelavich Die Dominanz der - im weitesten Sinne - Schauspieler wurde in Also sprach Zarathustra in der Parabel „Von den Fliegen des Marktes“ betont: Wo die Einsamkeit aufhört, da beginnt der Markt; und wo der Markt beginnt, da beginnt auch der Lärm der grossen Schauspieler und das Geschwirr der giftigen Fliegen. […] Wenig begreift das Volk das Grosse, das ist: das Schaffende. Aber Sinne hat es für alle Aufführer und Schauspieler grosser Sachen. Um die Erfinder von neuen Werten dreht sich die Welt: - unsichtbar dreht sie sich. Doch um die Schauspieler dreht sich das Volk und der Ruhm: so ist es der Welt Lauf. Geist hat der Schauspieler, doch wenig Gewissen des Geistes. Er glaubt immer an Das, womit er am stärksten glauben macht - glauben an sich macht! Morgen hat er einen neuen Glauben und übermorgen einen neueren. […] Wahrlich, er glaubt nur an Götter, die grossen Lärm in der Welt machen! 58 Die These, dass die moderne Welt von Schauspielerei dominiert sei, wurde in Der Fall Wagner entwickelt. In „Niedergangs-Culturen […] wo den Massen die Entscheidung in die Hände fällt“, kann nur der Schauspieler „die grosse Begeisterung wecken […] Damit kommt für den Schauspieler das goldene Zeitalter herauf“. 59 Deswegen ist es auch das Zeitalter Wagners: „Man macht heute nur Geld mit kranker Musik; unsre grossen Theater leben von Wagner“. 60 Für die „guten Europäer“ dagegen, welche „unsichtbar“ die neuen Werte erfinden, ist nur ein Schauspiel geeignet: der Tod Gottes und das Zugrundegehen der Moral. In der Fröhlichen Wissenschaft setzte Nietzsche „[d]as grösste neuere Ereigniss, - dass ‚Gott todt ist‘, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist“, mit einem „Schauspiel“ gleich, nur „[f]ür die Wenigen“ bestimmt. 61 Und in der Genealogie der Moral lobte er die „gute[n] Europäer und Erben von Europa’s längster und tapferster Selbstüberwindung,“ nämlich der Zerstörung von Moral durch den Willen zur Wahrheit - „jenes grosse Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europa’s aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele“. 62 Gleichzeitig mit diesem „furchtbarsten“ und wohl kriegerischen Schauspiel gäbe es aber auch eine heitere Variante mit einer ebenso zerstörerischen Wirkung. In Jenseits von Gut und Böse bringt Nietzsche im An- 58 Also sprach Zarathustra I. Von den Fliegen des Marktes; KSA Bd. 4, S. 65-66. 59 Der Fall Wagner 11; KSA Bd. 6, S. 37-38. 60 Ebd. 5; KSA Bd. 6, S. 23. 61 Die fröhliche Wissenschaft 343; KSA Bd. 3, S. 573. 62 Zur Genealogie der Moral, Dritte Abhandlung, 27; KSA Bd. 5, S. 410-411. <?page no="319"?> nietzsches „guter“ (und antitheatralischer) europäer 319 schluss an seine Kritik des Historismus eine weitere Kunstform ins Spiel, die zur Aufhebung der europäischen Kultur und Umformung ihrer Werte führen könnte: So sei unser Zeitalter […] vorbereitet wie noch keine Zeit es war, zum Karneval grossen Stils, zum geistigen Fasching-Gelächter und Übermuth, zur transscendentalen Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen Welt-Verspottung. Vielleicht, dass wir hier das Reich gerade unsrer Erfindung noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als Parodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, - vielleicht dass, wenn auch Nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat! 63 Nietzsche konnte sich sogar einen karnevalesken Wagner vorstellen: „Man möchte es nämlich wünschen, dass der Wagnersche Parsifal heiter gemeint sei, gleichsam als Schlussstück und Satyrdrama“ - als eine „Parodie […] auf die endlich überwundene dümmste Form in der Widernatur des asketischen Ideals. Der Parsifal ist ja ein Operetten-Stoff par excellence“. Dies war aber nur eine Wunschvorstellung Nietzsches, denn in der Praxis gab es keinen „Wagner, der über sich zu lachen weiss“. 64 Neben dieser karnevalesken Kultur könnte es auch eine wesentlich reflektiertere, den guten Europäern vorbehaltene und also die Massen ausschließende Kultur geben, wie sich an Nietzsches Traum von einer „Zukunft der Musik“, der „übereuropäischen Musik“, feststellen lässt: Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber darin bestünde, dass sie von Gut und Böse nichts mehr wüsste, nur dass vielleicht irgend ein Schiffer-Heimweh, irgend welche goldne Schatten und zärtliche Schwächen hier und da über sie hinwegliefen: eine Kunst, welche von grosser Ferne her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und die gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten Flüchtlinge wäre. 65 In der Übergangszeit würde die Kultur der Elite aus einer Mischung von kämpferischen Wertbildungen und karnevalesken Verspottungen, aber auch leichter Wehmut über das Absterben der moralisch geprägten Kultur bestehen, welche über zwei Jahrtausende vorherrschend war und ein bedeutendes künstlerisches und geistiges Vermächtnis vorweisen konnte. In Nietzsches Zukunftsvisionen würde auch dem Theater im schlechten Sinne eine Aufgabe zukommen, die darin bestünde, das Volk im Zaum zu halten. In einer nachgelassenen Notiz aus dem Jahre 1885 schrieb Nietzsche über „die guten Europäer, die wir sind“: „wir sind Atheisten und Im- 63 Jenseits von Gut und Böse 223; KSA Bd. 5, S. 157. 64 Nietzsche contra Wagner, Wie ich von Wagner loskam 3; KSA Bd. 6, S. 430. 65 Jenseits von Gut und Böse 255; KSA Bd. 5, S. 201. <?page no="320"?> 320 peter jelavich moralisten, aber wir unterstützen zunächst die Religionen und Moralen des Heerdeninstinktes: mit ihnen nämlich wird eine Art Mensch vorbereitet, die einmal in unsere Hände fallen muß, die nach unserer Hand begehren muß.“ 66 Eine ähnliche Kontrollfunktion könne auch das Theater im erweiterten Sinne innehaben. Die Schauspieler der parlamentarischen Politik, das Rollenspiel aller Bürger in der Wirtschaft und auch das Theater auf der Bühne, an erster Stelle das wagnersche, waren nötig, um die Gesellschaft zu stabilisieren und zu dominieren. Wenn Wagner für den späten Nietzsche überhaupt von Wert war, dann wegen seiner „kommandierenden Instinkte eines grossen Schauspielers“ 67 . In dieser Hinsicht war Wagner vorbildlich: „Nie ist besser gehorcht, nie besser befohlen worden. […] Wagner verstand zu kommandieren; er war auch damit der grosse Lehrer.“ 68 Für Nietzsche würde die Kontrollfunktion des Theaters wohl auch nach der Einigung Europas fortbestehen, denn sein Wertepluralismus war nie für die Massen bestimmt. Für die europäischen Massen wäre aus seiner Sicht eine einheitliche europäische Kultur gut vorstellbar gewesen. Nur durfte diese Kultur nicht auch die Kultur der Elite werden, die multidimensionale und experimentelle Kultur des guten Europäers, und so lautet einer seiner prägnantesten Sprüche auch: „Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches.“ 69 *** Es wäre ein Leichtes, Nietzsches Zukunftsvisionen und Ideale in Frage zu stellen und seine Prognosen zu falsifizieren. Vielleicht aber auch nicht. Denn obwohl ich viele seiner Aussagen zumindest irritierend und oft auch verwerflich finde, glaube ich, dass er viele auch heute noch relevante Probleme angesprochen hat - darunter die europäische Einigung und die demokratische Kultur. Eine Prognose war gewiss falsch: Nietzsche war der Meinung, dass Europa durch Krieg vereint werden würde, sei es durch einen Krieg gegen Russland oder einen Glaubenskrieg um neue Wertesysteme. Das Gegenteil aber war der Fall. Nach den Schrecken des Ersten und Zweiten Weltkriegs wurde in den 1950er Jahren langsam, aber gewissenhaft die europäische Einigung angestrengt, gerade um künftige Kriege zu vermeiden. In gewissem Sinne sollte Nietzsche dennoch Recht behalten. So wurden unter dem Banner des Nationalismus und des Rassismus die Kriege tatsächlich im Namen jener beiden Ideologien geführt, die Nietz- 66 Nachgelassene Fragmente, Mai-Juli 1885, 35 [9]; KSA Bd. 11, S. 511. 67 Nietzsche contra Wagner, Wo ich Einwände mache; KSA Bd. 6, S. 419. 68 Der Fall Wagner 11; KSA Bd. 6, S. 39. 69 ? Götzen-Dämmerung, Steifzüge eines Unzeitgemässen 48; KSA Bd. 6, S. 150. <?page no="321"?> nietzsches „guter“ (und antitheatralischer) europäer 321 sche zu seiner Gegenkonzeption des „guten Europäers“ und einer europäischen Einigung veranlasst hatten. Damit werden die Bemühungen so vieler Philosophen heutzutage verständlich, Nietzsches Europa-Gedanken für die Europäische Union zu mobilisieren. Dabei wird das Elitäre in Nietzsches Europa-Bild häufig übersehen. Aber auch das war kein Fehlurteil Nietzsches, denn das Projekt der europäischen Einigung nach 1945 war in der Tat ein Projekt der politischen Eliten; und die daraus entstandenen Institutionen sind überwiegend bürokratisch organisiert, und damit auch elitär, indem sie, wie alle Bürokratien, ein demokratisches Defizit verkörpern. Wenn an der Einigung Europas gezweifelt, an nationalen Besonderheiten und Entscheidungsbefugnissen festgehalten wird, liegt das im Willen der populistischen Politiker und ihrer Wähler in den jeweiligen Nationen begründet. Und die Tatsache, dass das europäische Parlament - also die einzige demokratische Institution der EU - nicht sehr ernst genommen wird, erweist sich immer wieder in der schwachen Beteiligung an den gesamteuropäischen Wahlen. Auch in dieser Hinsicht ist die europäische Einheit das Resultat elitärer und zum Teil undemokratischer Handlungen. Dennoch: die EU wird akzeptiert und sogar, mit einigen Vorbehalten, von den europäischen Bürgern begrüßt. Und dies ist auch im Sinne Nietzsches zu verstehen. Denn die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben in der Tat zu einer Vermischung und gegenseitigen Anpassung der europäischen Bevölkerung geführt. In Nietzsches Nachlass findet sich eine Bemerkung aus dem Sommer 1885: […] die Kleinstaaten Europas, ich meine alle unsere jetzigen Staaten und ‚Reiche‘, müssen, bei dem unbedingten Drange des großen Verkehrs und Handels nach einer letzten Gränze, nach Weltverkehr und Welthandel, in kurzer Zeit wirthschaftlich unhaltbar sein. (Das Geld allein schon zwingt Europa, irgendwann sich zu Einer Macht zusammen zu ballen.) 70 Die lediglich wirtschaftliche Einigung jedoch hätte Nietzsche bei Weitem nicht genügt, denn für ihn hatte das „Eine Europa“ nur einen Sinn, wenn daraus eine neue Elite und eine neue europäische Kultur entstehen würde. Auch viele Politiker und Intellektuelle sind heutzutage mit der (scheinbar) rein wirtschaftlichen und institutionellen Basis der Europäischen Union unzufrieden und versuchen gelegentlich, einen allgemeingültigen Wertekodex für ganz Europa zu entwerfen. All diese Bemühungen sind jedoch bekanntermaßen gescheitert, und so ist auch der Versuch, Europa „christlich“ zu definieren, ganz im Sinne Nietzsches fehlgeschlagen, 70 Nachgelassene Fragmente, Juni-Juli 1885, 37 [9]; KSA Bd. 11, S. 583-584. <?page no="322"?> 322 peter jelavich der praktisch als erster das Absterben der christlichen Tradition Europas proklamierte. Was aber danach kommen soll, war für Nietzsche ungewiss und ist es für uns ebenfalls. Nietzsche zufolge würde es für die geistigen Eliten mehrere Wertesysteme und Kulturen geben, während die Massen einheitlich orientiert wären. Die einheitliche Massenkultur war nach Nietzsches Auffassung in den 1880er Jahren schon präsent - sie bestand, zumindest in Deutschland, aus „einer allzuausschliesslichen Ernährung mit Zeitungen, Politik, Bier und Wagnerischer Musik.“ 71 Welche Rolle spielt Kultur im europäischen Kontext heute? Gewiss, es gibt immer noch eine „Hochkultur“ oder „Hochkulturen“, wie auch eine „Massenkultur“ oder mehrere „Massenkulturen“, aber diese Grenzen verschwimmen zusehends. Die meisten „Festspiele“ sind Musikfestspiele: Dort aber fungiert Musik kaum als Bindemittel einer neuen geistigen Elite. Gehören die Veroneser Opernfestspiele zur Hochkultur? Eher, denke ich, zur Massenkultur - ein besseres Beispiel von panem (oder eher: panini) et circenses ist nicht zu finden. Bayreuth könnte gewissermaßen als diametraler Gegensatz dazu gesehen werden - aber auch die heutigen Bayreuther Festspiele weisen immer noch viele Merkmale auf, die zur niederschmetternden Enttäuschung Nietzsches im Sommer 1876 beitrugen. Die Eröffnungsvorstellungen boten, damals wie heute, Politikern und der „Society“ die Gelegenheit zur Selbstinszenierung. Die heutigen Aufführungen leiden nicht an der damaligen Holprigkeit, und Nietzsche hätte wohl im Prinzip keine Einwände gegen Inszenierungen gehabt, die Wagners Intentionen unterlaufen („Der Parsifal ist ja ein Operetten-Stoff par excellence“). Aber aus Nietzsches Perspektive ist Regietheater immer noch „Theater“ und Wagners „Musik“ immer noch keine Musik. Auch die übrigen (teuren) Opernfestspiele (Salzburg, München, et cetera) haben kaum eine gemeinschaftsbildende Funktion, geschweige denn die einer neuen geistigen und kulturellen Elitenbildung. Sie sind bestenfalls, glaube ich, ein Reservat des absterbenden Bildungsbürgertums. Interessanter sind die Off-Theater und Avantgarde-Theaterfeste - Entwicklungen, die Nietzsche nicht mehr erlebt hat. Sie bedienen nicht (oder nur selten) „Theater“ im schlechten Sinne Nietzsches: Theater als Erhebung, als Erholung, oder als Narkotikum. Die überzeugenden und gelungenen Aufführungen tendieren eher „zum Karneval grossen Stils, zum geistigen Fasching-Gelächter und Übermuth, zur transscendentalen Höhe des höchsten Blödsinns,“ und insofern gehören sie zur Kultur der „guten Europäer“. Sie bringen auch ein sozial gemischtes Publikum und Ensembles aus ganz Europa, oder genauer gesagt, aus aller Welt zusammen. Und 71 Zur Genealogie der Moral, Dritte Abhandlung, 26; KSA Bd. 5, S. 407. <?page no="323"?> nietzsches „guter“ (und antitheatralischer) europäer 323 gerade letzteres ist entscheidend. Nietzsche kämpfte um die Erhaltung der europäischen Kultur als beherrschende Weltkultur und war außerstande, sich eine andere globale Kultur vorzustellen. Diese Weltanschauung ist heute nicht mehr haltbar. Die Unmöglichkeit, Europa als einheitliche Kultur zu definieren, ist zum Teil durch den Wertepluralismus der europäischen Moderne selber bedingt, ist aber auch Folge der Durchlässigkeit der europäischen Kultur und ihrer Aufnahmefähigkeit für außereuropäische Kunst und Lebensweisen. Dies muss aber auf Dauer zu einer Selbstaufhebung der europäischen Kultur führen - oder, wie Nietzsche gesagt hätte, zu ihrer Selbstüberwindung. Womöglich sind also die Zeiten einer explizit europäischen Theater- und Fest-Kulturgeschichte vorbei. <?page no="324"?> Die Bayreuther Festspiele: Idee - Ideologie - Identität - historische Einbindung Udo Bermbach (Hamburg) I Die Idee zu Festspielen ist bei Wagner erstmals im Kontext der Entstehung des Ring belegt. Im Herbst 1850 schreibt er an seinen Freund Theodor Uhlig aus dem Schweizer Exil, er wolle, wenn er Siegfrieds Tod beendet habe, im Umkreis von Zürich […] auf einer schönen wiese bei der Stadt von Bret und balken ein rohes Theater nach meinem plane herstellen und lediglich mit der ausstattung an decorationen und maschinerie versehen lassen, die zu der Aufführung des Siegfried nötig sind. Dann würde ich mir die geeignetsten sänger, die irgend vorhanden wären, auswählen und auf 6 wochen nach Zürich einladen; den chor würde ich mir größten theils hier aus freiwilligen zu bilden suchen (hier sind herrliche stimmen und gräftige, gesunde menschen). So würde ich mir auch mein Orchester zusammenladen. Von Neujahr gingen die Ausschreibungen und Einladungen an alle freunde des musikalischen Drama’s durch alle Zeitungen Deutschland’s mit der Aufforderung zum Besuche des beabsichtigten dramatischen Musikfestes: wer sich anmeldet und zu diesem Zwecke nach Zürich reist, bekömmt gesichertes entrée, - natürlich wie alles Entrée: gratis! . Des weiteren lade ich die hiesige jugend, Universität, Gesangsvereine usw. zur Anhörung ein. Ist alles in gehöriger Ordnung, so lasse ich dann unter diesen Umständen drei Aufführungen des Siegfried in einer woche stattfinden: nach der dritten wird das theater eingerissen und meine partitur verbrannt. 1 Alle entscheidenden Komponenten der späteren Bayreuther Festspiele sind hier bereits genannt: der gesonderte Ort für die Aufführungen eines Wag- 1 Wagner, R.: Sämtliche Briefe. Hrsg. v. Strobel, G./ Wolf, W. Leipzig 1975. Bd. 3, S. 426. (Brief an Theodor Uhlig vom 20. 9. 1850). Die folgenden Ausführungen beruhen zum Teil auf der sehr viel ausführlicheren Darstellung in Bermbach, U.: Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie. Stuttgart/ Weimar 2005, S. 251-260. <?page no="325"?> die bayreuther festspiele 325 ner-Werkes, außerhalb einer Stadt; die zeitliche Begrenzung dieser Aufführungen; die Zusammenstellung eines eigenen Festspiel-Orchesters aus verfügbaren Musikern und das Engagement von Sängern, die eingeworben werden; schließlich das Werben um ein speziell interessiertes Publikum. Und ein Jahr später kam eine weitere, entscheidende Idee hinzu, die allerdings dann, als die Festspiele in Bayreuth realisiert zu werden begannen, ebenso längst wieder verabschiedet worden war wie die Forderungen der oben zitierten Überlegung, dem zuströmenden Publikum freien Eintritt zu gewähren: die Verbindung von Festspielen und Revolution. Wagner schrieb, wiederum in einem Brief an Theodor Uhlig: An eine Aufführung [des Ring, U. B]. kann ich erst nach der Revolution denken; erst die Revolution kann mir die künstler und Zuhörer zuführen. Die nächste Revolution muß nothwendig unsrer ganzen theaterwirtschaft das Ende bringen; sie müssen und werden alle zusammenbrechen, dies ist unausbleiblich. Aus den trümmern rufe ich mir dann zusammen, was ich brauche: ich werde, was ich bedarf, dann finden. Am Rheine schlage ich dann ein theater auf, und lade zu einem großen dramatischen feste ein: nach einem jahr vorbereitung führe ich dann im laufe von vier tagen mein ganzes werk auf: mit ihm gebe ich den menschen der Revolution dann die bedeutung dieser Revolution, nach ihrem edelsten Sinne, zu erkennen. Dieses publikum wird mich verstehen: das jetzige kann es nicht. 2 Aus drei unterschiedlichen historischen Quellen speist sich Wagners Festspielidee: zum einen aus seiner intensiven und jahrelangen Griechen-Rezeption und hier insbesondere aus seiner Vorstellung von Idee und Ablauf antiker Tragödien-Aufführungen, in denen Kult und Politik zusammengeführt wurden; zum anderen aus der Beobachtung und dem Anknüpfen an jene französischen Revolutionsfeste, in denen die Massen mobilisiert und der Sinn der Revolution in eigenen Liturgien diesen Massen vermittelt wurden; schließlich auch im Anschließen an jene deutschen Feste, wie sie sich im Vormärz herausgebildet hatten: von den Feiern der demokratischliberalen Opposition bis hin zu den bürgerlichen Sänger- und Musikfesten. Zugleich war Wagners Festspielidee noch gegen das überkommene bürgerliche Theater gerichtet, gegen die Dominanz der italienischen und französischen Oper, gegen die „Unterhaltung der Gelangweilten“ 3 und gegen die Routinisierung des Musikbetriebs. Die Motive und Ideen zu eigenen Festspielen stehen bei Wagner in einem stringenten inneren Zusammenhang: dass er auf solchen Festspielen zunächst nur den Ring des Nibelungen aufführen wollte, lag in der 2 Wagner, R.: Sämtliche Briefe, Bd. 4, S. 176 (Brief an Theodor Uhlig vom 12. 11. 1851). 3 Wagner, R.: „Die Kunst und die Revolution“. In: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Leipzig o. J. Bd. 3, S. 19. <?page no="326"?> 326 udo bermbach Intention der Tetralogie begründet; sie sollte durch die Darstellung des Scheiterns aller bisherigen Politik - Beispiel war Wotan, der Archetyp aller Politiker - den post-revolutionären Menschen die Notwendigkeit der vorausgegangenen Revolution sinnhaft durch die Bühne vermitteln. Diese Bestimmung des Ring setzte eine zuvor erfolgreiche Revolution voraus, was wiederum hieß, dass Festspiele ihren Platz im Kontext dieser Revolution haben sollten und sich daraus ihre Aufgabe ergeben würde, ex post den „Menschen der Revolution die Bedeutung dieser Revolution“ zu erklären. Es versteht sich von selbst, dass eine solche Aufgabe nicht im Rahmen eines konventionellen Hof- oder Stadttheaters wahrgenommen werden konnte, sondern dass es hierzu eines eigenen Ortes bedurfte, der zugleich soweit vom sonstigen Alltagsleben entfernt sein musste, dass die volle Konzentration des Publikums auf diese Festspiele garantiert und jegliche Ablenkung fernzuhalten sein würde. Denn aus der revolutionären Bestimmung der Festspiele sowie der dort aufgeführten Werke musste sich zwangsläufig auch eine Neubestimmung des Verhältnisses von Publikum und Bühne ergeben. Wagner wünschte die Differenz zwischen beidem aufzuheben - daher in Bayreuth der überdeckte Orchestergraben, der die Bühne scheinbar ans Publikum heranrückt; er wollte das Publikum aktiv in das theatrale Geschehen einbeziehen - daher der Gedanke, dass nach einer gewissen Zeit der Revolutionsstabilisierung eigentlich alle als Schauspieler und Sänger am Musikdrama teilhaben könnten; er hoffte, dass durch dieses Aneinanderrücken von Bühne und Publikum eine neue politisch-ästhetische Erfahrung vermittelt werden könnte - daher die Aufhebung auch aller Distanzierungs- und Differenzierungsmöglichkeiten in Bayreuth, also keine Foyers, keine Logen, keine Lokalitäten, die Absonderungsmöglichkeiten gestatten; und aus alledem sollte sich ein neues, alle Besucher verbindendes, außergewöhnliches Gemeinschaftserlebnis ergeben, das seine kommunikativen Inhalte in dem sich offenbarenden „Reinmenschlichen“ des Musikdramas finden würde - daher der Rückgriff auf den Mythos, der „jederzeit wahr“, in seinem „Inhalt, bei dichtester Gedrängtheit, für alle Zeiten unerschöpflich ist.“ 4 Über das räumlich isolierte, zeitlich gedrängte und inhaltlich auf einen bestimmten Zweck konzentrierte Gemeinschaftserlebnis des Publikums sollte eine neue politisch-ästhetische Erfahrung jeden Einzelnen in seinem Erleben und Fühlen in einen neuen sozialen, politischen und ästhetischen Horizont einbinden und ihn so befähigen, in eine neue, sich revolutionär organisierende Gemeinschaft hineinzuwachsen. Wagners Festspielidee zielte 4 Wagner, R.: „Oper und Drama“. In: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Leipzig o. J. Bd. 4, S. 64. <?page no="327"?> die bayreuther festspiele 327 aufs Ganze, auf die vollständige Umwälzung des Individuums und der Gemeinschaft durch die Kunst: losgelöst aus allen alltäglichen Bindungen und Zusammenhängen, sollte jeder Festspiel-Teilnehmer sich ganz und gar auf den Ablauf der Festspiele einlassen, gleichsam mit dem, was er sah, verschmelzen und daraus die Motivation für eine Neuorientierung des eigenen Lebens gewinnen, die mit der Neuorientierung aller übereinstimmen konnte. Mit dieser Bestimmung von Festspielen für seine Werke hatte Wagner für seine Kunst, die er stets als eine lebensintervenierende begriff, auch einen lebensintervenierenden Organisationsrahmen im Blick. Beides hatte - entsprechend dem damaligen politischen Überzeugungsmix Wagners aus anarchistischen, sozialistischen und radikal-demokratischen Ideen - eine postrevolutionäre Gesellschaft mit Menschen von postrevolutionärem Bewusstsein im Sinn, in der die Kunst, vor allem natürlich seine eigene musikdramatische Kunst, zum eigentlichen Medium der Vergemeinschaftung werden und damit das bisherige Medium der Vergesellschaftung, die Politik, endgültig werde ablösen können. Die Festspiele sollten, gleichsam in nuce, die neue, postrevolutionäre Gesellschaft abbilden, sie wollten das Medium der allmählichen Herausbildung einer neuen individuellen wie kollektiven Identität sein. Das revolutionäre Theater war gedacht als ein immer wieder erneuerter Anlauf zur kollektiven Selbstfindung, als jener Ort, der „den höchsten und gemeinsamsten gesellschaftlichen Berührungspunkt eines öffentlichen Kunstverkehrs ausmachen“ 5 sollte, Forum einer sich stetig prozessual erneuernden Identität, die ihren konkreten Ausdruck in der über den Verstand sublimierten emotionalen Übereinstimmung („Gefühlswerdung des Verstandes“) aller an einer Aufführung Beteiligten finden sollte. II Dieses Kernkonzept von Wagners Festspielidee ist im Laufe der Jahre durch eine Reihe von Umständen zunehmend infrage gestellt, wenn nicht sogar aufgelöst, auf alle Fälle jedoch geändert worden. Durch das Ausbleiben der von Wagner noch bis Mitte der fünfziger Jahre erhofften Revolution war eine zentrale Voraussetzung hinfällig geworden: weder war das Publikum für die Wagnerschen „Revolutionsdramen“ reif, noch hatte die Intention postrevolutionärer Festspiele eine realpolitische Basis. 5 Wagner, R.: „Ein Theater in Zürich“ (1851). In: Richard Wagner: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden. Hrsg. v. Borchmeyer, D. Frankfurt a. M. 1983. Bd. 6, S. 374. <?page no="328"?> 328 udo bermbach Hinzu kam, dass die finanzielle Seite, die im ursprünglichen Konzept von Wagner überhaupt nicht bedacht worden war, die ursprünglichen Absichten infrage stellten, denn es gab weder einen Ort, an dem solche Festspiele stattfinden konnten, noch ein Festspielhaus - und es war auch zunächst nicht zu sehen, wie beides beschafft und bezahlt werden sollte. Ganz abgesehen von der persönlichen Lage Wagners, dessen Werke kaum aufgeführt wurden, der keine eigenen Einnahmen hatte, im Exil lebte, polizeilich gesucht wurde und bis 1864 ohne Aussicht auf irgendwelche Sicherheiten. Es braucht hier die Geschichte der einzelnen Etappen des Festspiel- Gedankens wie seiner Verwirklichung nicht noch einmal ausgebreitet werden - das ist hinreichend gut dokumentiert und erforscht. Entscheidend ist, dass Wagner es am Ende gegen alle Widerstände geschafft hat, seine Festspielidee zu realisieren. Als 1876 das Bayreuther Festspielhaus mit dem Ring des Nibelungen eröffnet wurde, war sein Konzept, das sich über die Jahre ohnehin in Einzelheiten immer wieder geändert hatte, in mehrfacher Hinsicht modifiziert worden: 1. Der Anspruch auf Revolutionserklärung war infolge des Ausbleibens der Revolution längst aufgegeben; 2. Das die Festspiele besuchende Publikum unterschied sich in seiner sozialen Struktur gravierend von jenem, an das Wagner ursprünglich gedacht hatte; es setzte sich überwiegend aus Künstlern, gehobenem Bildungs- und Finanzbürgertum sowie Adel und regierenden Fürsten zusammen; 6 3. Die Festspiele und das Festspielhaus waren - entgegen dem ursprünglichen Konzept - auf Institutionalisierung eingestellt, das heißt: Wagner beabsichtigte, sie zu einer Dauereinrichtung werden zu lassen, als Ort für Musteraufführungen seiner Werke, womit der performativ-ästhetische Aspekt beherrschend in den Vordergrund trat; 4. Daraus ergab sich die Notwendigkeit eines entsprechenden finanziellsubsidiären Unterbaus, den die sich ausbreitenden Wagner-Vereine leisten sollten, denen überdies auch die Sammlung besonders begeisterter Wagnerianer und damit Bayreuth-Besucher oblag. 7 6 Dazu im einzelnen Habermann, S.: Der Auftritt des Publikums in Bayreuth und seine Festspielgäste im Kaiserreich 1876 bis 1914. Bayreuth 1991. Ebenso Gebhardt W./ Zingerle, A.: Pilgerfahrt ins Ich. Die Bayreuther Richard-Wagner- Festspiele und ihr Publikum. Eine kultursoziologische Studie. Konstanz 1998. 7 Veltzke, V.: Vom Patron zum Paladin. Wagnervereinigungen im Kaiserreich von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. Bochum 1987. <?page no="329"?> die bayreuther festspiele 329 Geblieben war die Idee: 1. Die Festspiele an einem von den großen Städten abgesonderten Ort abzuhalten; 2. Musiker und Sänger sowie das technische Personal saisonal zusammenzurufen. Hinzugekommen war: 1. Durch Stipendien an herausragende Künstler, vornehmlich Sänger, einen für die eigenen Stücke besonders geschulten Nachwuchs heranzuziehen; 2. Durch die Gründung einer eigenen Zeitschrift, der Bayreuther Blätter, eine weltanschaulich eng an Bayreuth gebundene Gemeinschaft - man könnte auch sagen: ‚Gemeinde‘ - zu schaffen, die das Bayreuther Unternehmen zuverlässig unterstützen würde; 3. Aus dieser Gemeinde auch einen weltanschaulichen Missionierungsauftrag abzuleiten, der vor allem nach Wagners Tod durch Cosima, Houston Stewart Chamberlain und Hans von Wolzogen (der 60 Jahre lang, von 1878 bis 1938, alleiniger Herausgeber der Bayreuther Blätter war) aktiv betrieben wurde. III Vor allem dieser letzte Punkt erwies sich für die Festspielidee als sehr bedeutsam und für die Geschichte der Festspiele und der Bayreuths als historisch verhängnisvoll. Schon zu Lebzeiten Wagners hatte sich um ihn ein Kreis von „Jüngern“ versammelt, der sich ganz der Pflege seiner Werke, der Musikdramen wie Weltanschauung, widmete. Nach seinem Tod wurde dieser Bayreuther Kreis um Cosima Wagner, Chamberlain und Wolzogen zum Zentrum einer Wagner- und Festspiel-Pflege, die im wesentlichen ästhetisch auf Konservierung des zu Lebzeiten Wagners aufgeführten Ring und Parsifal, ideologisch auf eine gesinnungsbasierte ‚Gemeindebildung‘ abzielte. Ähnlich anderer Künstlergemeinden - etwa des George-Kreis, des Lippoldsberger Dichterkreis, des Blauen Reiter 8 unter anderen - zielte auch der Bayreuther Kreis auf innere ideologische Geschlossenheit und äußere Abgrenzung, lebte von der nach Wagners Tod einsetzenden Sakralisierung der Werke des „Meisters“ und leitete daraus einen weltanschaulichen ‚Missionsauftrag‘ ab. Ideologische Grundlage und ideologisches Band war der Bayreuther Gedanke, den vor allem Houston Stewart 8 Vgl. dazu allgemein Faber, R./ Holste, Chr. (Hrsg.): Kreise, Gruppen, Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen. Würzburg 2000. <?page no="330"?> 330 udo bermbach Chamberlain formuliert hatte 9 , und der sich im Sinne eines alle Lebensbereiche überwölbenden und durchdringenden „Kulturgedankens“ 10 mit der Festspielidee verband. Fundament dieses Bayreuther Gedankens war die von Chamberlain aus den Spätschriften Wagners extrahierte Forderung nach vollständiger Regeneration. Diese als eine - den Revolutionsgedanken noch radikal übersteigende - Idee eines „Zurückgreifens auf das von der Natur Gegebene, auf die unverfälschten Urkräfte des Lebens“ 11 wollte die Änderung der individuellen Lebensweise in modernen Gesellschaften. Die Vorstellung einer Regeneration der Menschheit speiste sich aus der Unterstellung einer historischen Degenerations- und Verfallsgeschichte, der einzig durch vollkommene Umkehr der Lebens- und Denkgewohnheiten begegnet werden könne. Das wiederum konnte nur - so die Unterstellung Chamberlains und anderer „Bayreuthianer“ - durch eine Umkehrung der bisherigen Prioritäten geschehen: Zurückdrängen des modernen Materialismus, Rückbesinnung auf Religion und rassische Werte, dominant Setzen von Kunst und Kultur als Medien der Vergemeinschaftung. Die Kunst wird nicht Wissenschaft, nicht Philosophie, nicht Religion werden“ - schrieb Chamberlain - „aber ebenso, wie wir erlebt haben, dass Religion auf Philosophie und Wissenschaft, Wissenschaft auf Philosophie und Religion einen weitreichenden Einfluss ausübten, ebenso können wir es und werden wir es erleben, dass die Kunst die Arroganz der Wissenschaft brechen, der Philosophie eine neue Richtung geben und die Religion zu erneutem, segensreichen Leben erwecken wird. So wenigstens meint der Bayreuther Gedanke; das erstrebt er. 12 Der Bayreuther Gedanke war das begriffliche Konstrukt einer Synthetisierung, Weiterführung und systematischen Übersteigerung verschiedener Aspekte von Wagners Werk und Denken: praktische Lebensreform (Regeneration) kam mit einem auf Kernmerkmale reduzierten und konzentrierten protestantisch-nationalen und arischen Christentum zusammen 13 und verband sich mit einer dominant erklärten, lebensintervenierenden 9 Dazu Chamberlain, H. St.: Richard Wagner. München 1936 (1896), S. 491-518. 10 Ebd. 11 Chamberlain, H. St.: „Richard Wagner’s Regenerationslehre“. In: Bayreuther Blätter 1895, S. 174. Vgl. Zu diesem Themenkreis auch Winfried Schüler: Der Bayreuther Kreis. Wagnerkult und Kulturreform im Geiste völkischer Weltanschauung. Münster 1971, S. 180 ff. 12 Chamberlain 1936, S. 507. 13 Vgl. dazu Bermbach, U.: „Bayreuther Theologie. Arisches Christentum und deutscher Protestantismus bei Houston Stewart Chamberlain und Hans von Wolzogen“. In: wagnerspectrum 2 (2009). <?page no="331"?> die bayreuther festspiele 331 Kunstvorstellung, die in ihrem Kern von utopischer Ausrichtung war. Eine verkommende Zivilisation sollte durch eine neue, rassisch und religiös begründete Moral und Sittlichkeit überwunden und erneuert werden, und dann in eine kunstdominierte Gemeinschaft - nicht: Gesellschaft 14 - überführt werden. Es war ein „künstlerischer Glaube“ 15 an die heilende Kraft einer Neubegründung der nationalen Kultur der Deutschen, die sich langfristig als „reinmenschliche“ über nationale Beschränkungen hinaus an alle Menschen richtete, gebunden ans „sichtbare Symbol“ 16 des Bayreuther Festspielhauses. Denn in den Festspielen - so sahen es Chamberlain und die dem Bayreuther Kreis Zugehörigen - gewann der Bayreuther Gedanke seinen konkreten und emotional bewegenden Ausdruck. Aus dem jährlich sich in den Festspielen erneuernden Gesamtkunstwerk bezog der Bayreuther Gedanke seine über Bayreuth hinauswirkende Kraft, wie umgekehrt die Festspiele die Manifestation dieses Bayreuther Gedankens waren. Eine entscheidende Komponente des Bayreuther Gedankens war die religiöse, die sich bei den Festspielen am augenscheinlichsten mit dem Parsifal verband. 17 Wagner hatte bestimmt, der Parsifal solle nur in Bayreuth gespielt werden. Im Vorfeld der ablaufenden Schutzfrist Ende 1912 hatte Cosima Wagner eine Unterschriftenaktion initiiert, um im Reichstag eine Lex Parsifal durchzusetzen, um das Werk für Bayreuth mindestens 20 Jahre zu reservieren. In einer von Bayreuth erstellten Dokumentation fallen zwei Momente auf, die für die Bayreuther Festspielidee nach Wagner von Bedeutung sind: zum einen die religiöse Interpretation des Parsifal, die teilweise so weit geht, das Stück als Ersatz für den protestantischen Gottesdienst anzusehen; zum anderen aber das Argument, das Stück müsse deshalb für Bayreuth reserviert bleiben, weil es nur jenen gehöre, die in sein christliches Mysterium eingeweiht seien und sich der Mühe unterzögen, unter Aufwendung erheblicher Kosten nach Bayreuth zu pilgern. „Sofern unter Volk die große und oberflächliche Menge verstanden wird“ - so heißt es in der Dokumentation - habe diese „unvorbereitete Masse“, „Reiche wie Arme“ keinen Anspruch auf Teilhabe; diese müsse man sich schwer und unter Opfern erkämpfen und sie bleibe jenen, 14 Zu dem Gegensatz zwischen einer heimatlich-vertrauten ‚Gemeinschaft‘ und einer kalt-anonymen ‚Gesellschaft‘ vgl. Tönnies, F.: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887). Darmstadt 2005. 15 Chamberlain 1936, S. 497. 16 Ebd., S. 493. 17 Dazu neuerdings ausführlich Mösch, St.: Weihe, Werkstatt, Wirklichkeit. ‚ Parsifal‘ in Bayreuth 1882-1933. Kassel 2009, insb. S. 375-387. <?page no="332"?> 332 udo bermbach die „nach innerlicher Kunst und Religion, nach Erbauung und Erhebung“ sich sehnten, vorbehalten; denn die fänden auch den Weg nach Bayreuth. 18 Zweierlei verbindet sich hier: die kunstreligiöse Überhöhung eines Werkes von Wagner, die sich auch auf andere Stücke ausdehnen ließ, und die Exklusivität der in die Werke eingeweihten Gemeinde, deren „Pilgerschaft“ nach Bayreuth das Festspielhaus zum „Tempel“ macht. Beide Momente sind, um das noch einmal zu betonen, dem ursprünglichen Festspiel-Konzept völlig fremd, beide werden erst nach Wagners Tod mit den Festspielen substantiell verbunden. Beide aber sind zugleich auch Teil des Bayreuther Gedankens, der den Festspielen ihre (ins völkisch-nationalistische Milieu zielende) weltanschauliche Stoßkraft gibt. Diese Weltanschauung wiederum zielt auf eine veränderte und neue Identitätsbildung der Festspiel-Besucher. Nicht im konventionellen Sinne, wonach Identität sich in der Fähigkeit von Menschen bestimmt, in unterschiedlichen Situationen das je individuell angemessene Verhalten einzunehmen, aus der Fülle der Rollen und Tätigkeiten des praktischen Lebens jene auszuwählen, die in einer je spezifischen Kombination den eigenen Interessen, Vorlieben usw. entsprechen und dieses Muster dann relativ konstant zu halten; 19 sondern in dem Sinne, dass eben dieses auf Differenzerfahrung zielende Muster durch das Kollektiverlebnis und die Kollektivinterpretation des Festspiel-Besuches ersetzt wird und individuelle Unterschiede weltanschaulich - und in deren Konsequenz: auch handlungspraktisch - homogenisiert werden. Unterstützt wird dies durch das Erlebnis der „Außeralltäglichkeit“ - um mit Max Weber zu sprechen - und durch die quasi zeitenthobene Situation eines Festspiel-Besuchers, der alltagsenthoben durch eine emotionale Vergemeinschaftung sich in der Einheit und „Vollwertigkeit des Seins“ 20 erlebt, als einzigartige Persönlichkeit jenseits aller politischen, sozialen und sonstigen Konflikte und Widersprüche. Das alles geht in seiner Intention weit über ein bloßes Kunsterlebnis hinaus, es zielt auf die Existenz der Festspiel-Besucher, kann zwar an Gedanken - vor allem des späten Wagners anknüpfen - findet aber seine Ausformung erst durch seine geistigen Nachlassverwalter. Deren Testa- 18 Freiherr von Lichtenberg, R./ Müller von Hausen, L. (Hrsg.): Mehr Schutz dem geistigen Eigentum. Der Kampf um das Schicksal des Parsifal, mit Federzeichnungen von Franz Stassen. Berlin o. J. (1913), S. 55. Dazu auch Bermbach, U.: „Liturgietransfer. Über einen Aspekt des Zusammenhangs von Richard Wagner mit Hitler und dem Dritten Reich“. In: Friedländer, S./ Rüsen, J. (Hrsg.): Richard Wagner im Dritten Reich. München 2000, S. 49-50. 19 Dazu Bermbach 2005, S. 140-141. Hier auch Literatur zur Identität und Identitätsbildung. 20 Gebhardt/ Zingerle 1998, S. 24. <?page no="333"?> die bayreuther festspiele 333 ment ist so stark, dass es bis in die Tage des Dritten Reiches wirkt und in gewisser Weise mit den Festspielen von 1933 seine Erfüllung findet. IV Die skizzierte weltanschauliche Einbindung der Bayreuther Festspiele hat spätestens nach Wagners Tod ihren politischen und sozialen Ort innerhalb der jeweiligen deutschen Gesellschaft bestimmt. Die erhaltenen Fremdenlisten Bayreuths geben einige Anhaltspunkte über die Sozialstruktur der Besucher: von den rund 270 Künstlern zählten die Musiker zur internationalen Avantgarde, die Literaten und Theaterleute wie auch die bildenden Künstler waren eher traditionsorientiert. Das allgemeine Publikum gehörte zum Adel, zum Bildungsbürgertum mit politisch und gesellschaftlich konservativer Einstellung, und diese Struktur, erweitert um das Finanzbürgertum, hielt sich im Wesentlichen bis 1914. Es waren die zahlungskräftigen Schichten, die nach Bayreuth pilgerten, die „im Miterleben echter und ernster deutscher Kunst, diese als lebendiges Element wahrhaft nationaler Kultur unmittelbar zu erfassen, um zu erkennen, dass Bayreuth eine Pflegestätte deutscher Ideale bedeute.“ 21 Die Festspiele waren ideologisch eingebettet in ein konservativ-völkisches Kultur- und Politikprogramm und zogen ein dementsprechend ideologisch ausgerüstetes Publikum an. Chamberlain hat es 1896 so formuliert: Wir treten alle und jeder in ein moralisches Verhältnis zu Bayreuth. […] Der Deutsche, welcher auf Bayreuth stolz ist, oder dem die Festspiele eine innige Herzensfreude und die Erfüllung einer lange und dunkel geahnten Sehnsucht bedeutet, weiter nichts, gehört noch lange nicht nach Bayreuth […]; nur wer sich Bayreuth gegenüber Pflichten bewußt ist, nur der ‚gehört zu Bayreuth‘. 22 Bayreuth und seine Festspiele als eine exklusive und sich nur schwer öffnende Kultur-Elite, die sich nur in dem Maße erweitert, als die Hinzutretenden sich ideologisch auf den Bayreuther Gedanken vollkommen einschwören ließen. Als die Festspiele 1924 wiedereröffnet wurden, standen sie weltanschaulich in schroffer und kompromissloser Opposition zur Weimarer Republik. Sozial änderte sich die Zusammensetzung der Besucher, weil die ökonomische Situation dies erzwang: ausländische Besucher gingen - von der Festspiel-Leitung durchaus beabsichtigt - zurück, Beamte, Lehrer 21 Wolzogen, H. v.: „Bayreuther Festworte“. In: Bayreuther Blätter 1882, S. 227. 22 Chamberlain, H. St.: „1876-1896. Die ersten zwanzig Jahre der Bayreuther Bühnenfestspiele“. In: Bayreuther Blätter 1896, S. 2. <?page no="334"?> 334 udo bermbach und Studenten stellten die überwiegende Mehrheit. 23 Gleichwohl sah die Eröffnungsvorstellung mit den Meistersingern von Nürnberg auch Vertreter der Großindustrie, des Adels, des Militärs - politisch überwiegend Anti-Republikaner und Anti-Demokraten. Während die ‚offiziellen‘ Vertreter der Weimarer Republik die Festspiele ignorierten, waren führende Nazis wie Röhm, Himmler, Ley und Frank lange vor 1933 dort feste Gäste. Der Verzicht der Demokraten auf Bayreuth hat den programmatisch lange vorgeprägten Zugriff der radikalen Rechten zusätzlich erleichtert und im Laufe der Jahre strömten kleinbürgerliche Schichten, die in Wagner-Vereinen, in völkischen Gruppen und Bünden, in Burschenschaften und Akademikerverbänden organisiert waren, nach Bayreuth. Auf eine politisch völlig verdrehte Weise erfüllte sich so der Traum Wagners, die Festspiele möchten Festspiele für das Volk der Revolution sein - denn dieses Volk in Bayreuth arbeitet der sogenannten „nationalen Revolution“ von 1933 aktiv entgegen. So wundert es auch nicht, dass die politische Ausrichtung der Bayreuther Festspiele und ihrer Besucher nach 1933 dem ideologisch vorgegebenen Muster weiterhin folgte: kostenlose Karten für NS-Massenorganisationen brachten ein Publikum nach Bayreuth, das in den Fremdenlisten der Stadt Lehrer, Beamte, Sachbearbeiter, Stenotypistinnen, Krankenschwestern und dann in den „Kriegsfestspielen“ ab 1941 verwundete Soldaten, Rüstungsarbeiter, Lazarettschwestern als „Gäste des Führers“ ausgewiesen sind. Seit der Wiedereröffnung der Festspiele 1951 hat sich sowohl die weltanschauliche Homogenität als auch die soziale Struktur der Besucher dramatisch verändert. Untersuchungen zeigen, dass in der ersten Phase der Wiedereröffnung noch große Teile der alten, auch durch das Dritte Reich moralisch korrumpierten Eliten, nach Bayreuth kamen, dass sich aber spätesten seit dem Chéreau-Ring von 1976 eine völlige Veränderung der Besucherstruktur vollzogen hatte. 24 Es erfolgte ein Angleichungsprozess zwischen der Sozialstruktur der Bayreuther Festspiel-Besucher und ihren politischen Orientierungen mit der Sozialstruktur der deutschen Gesellschaft und den hier herrschenden politischen Optionen. Zwar liegen die Festspiel-Besucher immer noch etwas über dem Durchschnitt der deutschen Gesellschaft, was Ausbildung und Einkommen betrifft, aber eine fundamental-oppositionelle Einstellung gegen „das System“ gibt es nicht mehr; ebenso wenig wie eine geschlossene Ideologie à la Bayreuther Gedanke oder eine Sakralisierung der Werke und des Aufführungsortes. 23 Habermann, S.: Der Auftritt des Publikums. Bayreuth und seine Festspielgäste 1924 -1944. Bayreuth 1992, S. 5. 24 Zu Einzelheiten vgl. Gebhardt/ Zingerle 1998, S. 82-87. <?page no="335"?> die bayreuther festspiele 335 Bayreuth wird zwar immer noch als ein besonderer Ort für Festspiele empfunden, die Konzentration auf das Werk Wagners verteidigt - gleichwohl sind die Festspiele in der Normalität der pluralistischen Gesellschaft in Deutschland angekommen. Das ursprüngliche Festspiel-Konzept mit seinen ideologischen und strategischen Implikationen ist Geschichte. <?page no="336"?> Inszenierte Gemeinschaft. Die Kaiserfestspiele in Wiesbaden Anna Littmann (Berlin) Um die vorletzte Jahrhundertwende waren Feste und Festspiele, deren Ausrichtung die Identifikation mit der Nation zum Inhalt hatten, in der Festkultur des Deutschen Kaiserreiches regelmäßig präsent. 1 Oftmals auf den Typus des vormärzlichen Nationalfestes rekurrierend, ließ sich in der öffentlichen Festkultur des Kaiserreiches eine Spannung zwischen Revolution und Nationalismus spüren. 2 Die Erinnerung an den Sieg gegen Frankreich und damit an die Einigung Deutschlands wurde jährlich am inoffiziellen Nationalfeiertag mit den Sedan-Feiern begangen. 3 Mittels dieser bürgerlich-liberal geprägten Feste suchten die Feiernden einem spezifischen deutschen Nationalgefühl Ausdruck zu verleihen. Arbeiterliche Schichten drückten ihr Selbstverständnis durch die sozialistischen März- und Maifesttradition aus; diese Veranstaltungen fungierten ebenso wie die Bismarck-Feiern mit ihren bürgerlichen Teilnehmern als „soziale und symbolische Ausdrucksform“ einer gesellschaftlichen Teilgruppe. 4 In einen festlichen Rahmen gebettet, zielten sie als Teil der politischen Kultur darauf ab, identitätsbildend und gemeinschaftsstiftend, ein jeweils bestimmtes kulturelles Selbst-/ Bewusstsein zu imaginieren. Neben Festmärschen, sportlichen Wettkämpfen oder Sängerwettbewerben waren theatralische Darbietungen beispielsweise in Form von Theaterauffüh- 1 Vgl. Sprengel, P.: Die Inszenierte Nation. Deutsche Festspiele 1813-1913. Tübingen 1993. 2 Ebd., S. 50. 3 Von Kaiser Wilhelm I. wurde die Einführung eines offiziellen nationales Volksfest zum Sedan-Tag abgelehnt. Vgl. Schellack, F.: Sedan- und Kaisergeburtstage“. In: Düding, D./ Friedemann, P./ Münch, P.: Öffentliche Festkultur politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Reinbek 1988, S. 297-298. 4 Hettling, M./ Nolte, P.: „Bürgerliche Feste als symbolische Politik im 19. Jahrhundert“. In: dies. (Hrsg.): Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert. Göttingen 1993, S. 7-36, insb. 17. <?page no="337"?> inszenierte gemeinschaft 337 rungen, Lebenden Bildern, dramatischen Vorträgen zentrale Bestandteile dieser Festveranstaltungen und wiesen damit wiederum nach, dass sich in der politischen Festkultur des deutschsprachigen Raumes und in der Verbindung von Theater und Fest ein wichtiger Bestandteil des kulturellen Erbes Europas niederschlug. Diese Verknüpfung von Politik und Festkultur ließ sich nicht nur in Festen und Festspielen bürgerlicher oder proletarischer Prägung finden, sondern auch Festspiele imperialer Herkunft hinterließen Spuren in der Festspiellandschaft der vorletzten Jahrhundertwende. Ein Festspielereignis, in dessen Anlage und Ausführung sich die Förderung des Nationalgefühls und Patriotismus mit der Verherrlichung der Monarchie des preußischen Herrscherhauses verband, wurde auf „allerhöchsten Befehl“ des preußischen Königs und deutschen Kaisers Wilhelm II. in einer hessennassauschen Provinz ausgerichtet: Die Wiesbadener Kaiserfestspiele. Es handelte sich um ein Ereignis in dessen Anlass, Atmosphäre und Ausführung ein Kunstprogramm präsentiert wurde, welches ein möglichst eindrucksvolles Bild der preußisch-monarchistischen Hochkultur abgeben sollte. Eine „Maifestspiel-Pracht“, die vorüberrauscht. 5 Der Charakteristik und Ausprägung dieser deutsch-nationalen Festspiele, die konzeptionell auch in der Folge der Bayreuther Festspiele am Ende des 19. Jahrhunderts in einer Kleinstadt begründet wurden, widmet sich der folgende Beitrag. 6 Die Kaiserfestspiele oder Kaisertage wurden 1894 in Wiesbaden auf ausdrücklichen Wunsch, oder richtiger „Auf allerhöchsten Befehl“ Kaisers Wilhelm II. initiiert und bis zum Jahr 1914 nahezu jährlich im Mai abgehalten. 7 Wie auch in den zahlreichen Festspielgründungen in Deutschland und Europa war auch für Wiesbaden das Bayreuther Modell ein Vorbild. 8 Die Parallelen zwischen den Wiesbadener und den Bayreuther Festspielen zog schon die zeitgenössische Berichter- 5 Wiesbadener Tagblatt 17. 5. 1902. 6 Das Nassausche Hoftheater gehörte seit 1866 durch die Annexion Nassaus zu Preußen, Wilhelm I. übernahm die Finanzierung des Theaters: 1868 mit 42.000 Mark, 1892 mit 241.000 Mark. Rheinischer Kurier 24.6.1892. 7 Wiesbadener Festspiele wurden 1896, 1897, 1899, 1900, 1902, 1903, 1905, 1908- 1914. veranstaltet. Bis auf die Festspiele 1910 (Tod König Edward VII. von England, eingeschränkte Teilnahme) und 1912 (Tod König Frederick VIII. von Dänemark) nahm der deutsche Kaiser an den Festspielen in Wiesbaden teil. Im Jahr 1901 fanden wegen des Todes von Königin Victoria von England keine Festspiele statt. Vgl. Haddenhorst, G.: Die Kaiserfestspiele in Wiesbaden. Wiesbaden 1985, Anlage 2, S. 216-224. 8 Vgl. Bühne und Welt 6 (1903), S. 767-768.; Berliner Börsen-Courier 15. 5. 1897; Droescher, G.: „Die Kaiser-Festspiele in Wiesbaden 1902“. In: Kienzl, W.: Aus Kunst und Leben. Berlin 1904, S. 78, 96. Wobei die Äußerungen Georg Droeschers - Dramaturg der Berliner Hofoper - in dem Kontext der noch zu erwähnenden medialen Steuerungen durch die Hofbühnen zu interpretieren sind. <?page no="338"?> 338 anna littmann stattung und schrieb somit dem Kaiser, „als er die Veranstaltung eines jährlich wiederkehrenden Cyklus von Festspielen in dem prächtigen neuen Hoftheater zu Wiesbaden verfügt[e]“, eine „Verehrung des Bayreuther Meisters“ zu und gab zugleich über die konzeptionelle Ausrichtung der Festspiele, welche „auf die älteren Meisterschöpfung der deutschen Nationallitteratur und Musik“ abzielten, Auskunft. 9 Um den zunächst so naheliegenden Bezug zu den die Bayreuther Festspiele zu klären, gilt es zu ergänzen, dass es jenseits der Kritikerstimmen in der Tat Annäherungen zwischen der Wagnerfamilie und dem preußischen Königshaus gab. Wilhelm II. verlieh mit seinen Besuchen und seinem „Weihegruß“ am Grab Richard Wagners seiner „Verehrung für des Meisters Kunst“ symbolisch Ausdruck. 10 Er besuchte während der Regierungszeit als deutscher Kaiser zweimal - im August 1888 und 1889 nunmehr die Festspiele und sah dort Aufführungen von Parsifal und den Meistersingern von Nürnberg. 11 Cosima Wagner, die Witwe des Komponisten und Festspielleiterin, erhoffte sich durch das fürstliche Interesse mit dem deutschen Kaiser einen neuen Förderer und Mäzen gewinnen zu können. 12 Sie verfasste „allerhöchst ermuntert“ kurz nach dem Besuch des Monarchen ein Schreiben an Wilhelm II., in dem sie um „Seiner Majestät Allerhöchstes Protektorat für die Festspiele“ bat. 13 Der deutsche Kaiser lehnte dies zu Gunsten des bayerischen Königs ab. Eine mögliche Erklärung dieser Absage, dass bereits Pläne für eigene Festspiele gefasst waren, kann allerdings nur gemutmaßt werden. In inszenatorischer Hinsicht stand die Wiesbadener Version der Bayreuther ins Nichts nach, sie konnte vielmehr durch die finanziellen Ressourcen, die durch den preußischen König und deutschen Kaiser aufgebracht wurden, kostspielige Aufführungen unter anderem auch von Richard Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen im Mai 1898 dort realisieren. 14 In der Eigendynamik und vor allem in der theaterhistorischen Nachhaltigkeit, wie im Folgenden ausgeführt wird, dagegen umso mehr. 9 Stümcke, H.: „Die Festspiele auf dem Wiesbadener Hoftheater. Ein Traktat.“ In: Bühne und Welt 11 (1908/ 1909), S. 770. 10 Kloss, E.: „Richard Wagner und die Fürsten“. In: Bühne und Welt 10 (1907/ 08), S. 429-433, hier 433. Vgl. auch Stümcke (1908/ 1909), S. 770. 11 Parsifal 18. 8. 1888, Meistersinger 17. 8. 1889. 12 Röhl, J. C. G.: Der Aufbau der persönlichen Monarchie. München 2001, S. 166. 13 Mack, D.: (Hrsg.): Cosima Wagner, Das zweite Leben. Briefe und Aufzeichnungen 1883-1930. München 1980, S. 155. (Brief Cosima Wagner an Kaiser Wilhelm II., Bayreuth 23. 8. 1888). 14 Haddenhorst 1985, S. 11. Zur Aufführung von Wagners Ring siehe ebd. Anhang S. 218, sowie Ausstell.-Kat: Richard Wagner in Wiesbaden. Hrsg. v. Schwitzgebel, H. (Hessische Landesbibliothek, Wiesbaden 14. 12. 1983-15. 2. 1984). Wiesbaden 1983. Sowie ders.: 1988, S. 11-12. <?page no="339"?> inszenierte gemeinschaft 339 Es lassen sich neben diesen Anknüpfungspunkten auch vielfach Unterschiede in Struktur und Umsetzung der preußischen Spiele feststellen, die sich zwar dem Bayreuther Vorbild im Anspruch eines feierlichen Theaterereignisses an einem besonderen Ort für Festspiele nähern, doch stehen in den ideologischen und strategischen Implikationen und der Sozialstruktur der Akteure und Besucher die Wiesbadener Festspiele dem Bayreuther Konzept diametral gegenüber. 15 Denn anders als in Bayreuth stand nicht das Bühnenweihspiel des Komponisten „auf einer schönen wiese bei [in einem] von Bret und balken [errichteten] rohe[n] Theater“ 16 , so Richard Wagner, im Mittelpunkt, sondern die Feier des Hohenzollernkultes und des preußischen Monarchen selbst. Folglich wurden aus preußischer Perspektive die eigentlichen nationalen Festspiele, mit „wahrhaft nationalen Werkkanon aus deutschem Geist stammend“, nicht in Bayreuth, sondern im Namen des deutschen Kaisers in Wiesbaden abgehalten. 17 Es wurden dort sämtliche künstlerischen, stadtplanerischen und medialen Kräfte auf die Außenwirkung der Spiele konzentriert, um ein intaktes Nationalgefühls, das aus der Weltkurstadt auf ein deutsches und „internationales Publikum Anziehungskraft auszuüben“ versuchte, zu generieren. 18 Das bedeutete, Festspiele zu präsentieren, welche auf der „tadellosen“ dynastischen Vergangenheit der preußischen Herrscher basieren und weiter eine Gemeinschaft der Deutschen repräsentieren sollten. Eine solche Sichtbarmachung von Herrschaft spielte gerade in den veränderten Staatensystemen der Nationalstaaten eine gesonderte Rolle; die Einheit eines Staates sollte mit „zusätzlicher Motivation, Macht und Prestige“ den „rivalisierenden politischen Gebilde[n]“ veranschaulicht werden. 19 Die Wiesbadener Kaisertage sind demzufolge deutbar als theatrales Spektakel im Dienste einer preußisch(-deutschen) Selbstdarstellung. Der Kaiser und seine Anwesenheit wurde zum „Ereignis“. 20 Das eigentliche Theaterereignis aber kann demzufolge einerseits die tatsächliche Aufführung von Opern und Dramen im Festspielhaus sein, doch anderseits könn- 15 Vgl. den Beitrag „Die Bayreuther Festspiele“ von Udo Bermbach im vorliegenden Band. 16 Wagner, R.: Sämtliche Briefe. Hrsg. v. Strobel, G./ Wolf, W. Leipzig 1975. Bd. 3, S. 426. (Brief an Theodor Uhlig vom 20. 9. 1850). 17 Droescher 1904. 18 Stümcke (1908/ 1909), S. 770. 19 Vgl. Paulmann, J.: Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg. Paderborn 2000, S. 343. 20 Kleiner, St.: „‚Der Kaiser als Ereignis‘ - Die Oper als kaiserliches Ritual.“ In: Schlögl, R./ Giesen, B./ Osterhammel, J. (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Symbole: Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften. Konstanz 2001, S. 339-367. <?page no="340"?> 340 anna littmann te diese als bloße Ingredienz der Festspiele, die nur einen Bestandteil des inszenierten Ereignisses Kaiserfestspiele bilden, interpretiert werden. Anhand der folgenden Analyse der äußeren Umstände und des Charakters der Spiele, das heißt, die Entscheidung für Wiesbaden, die Initiatoren und den Spielplan lässt sich dies nachvollziehen und mit Hilfe der konkreteren Betrachtung der zeitgenössischen Bild- und Textquellen die Inszenierung einer theatralen Gemeinschaft veranschaulichen. Dabei ist voranzustellen, dass diese Deutung und auch das Anliegen der preußischen Produzenten der Festspiele nur bedingt mit der Erfahrung des individuellen Festspielteilnehmers übereinstimmt. I. Stadtraum wird Theaterraum 21 Das königliche Theater in Wiesbaden gehörte, wie auch das Berliner Opernhaus Unter den Linden und das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt sowie die Hannoverschen Hofbühnen und das Hoftheater in Kassel zu den Königlich Preußischen Bühnen. 22 Um 1900 sind diese Königlich Preußischen Bühnen ein originärer Ausdrucksort der Macht und Repräsentation der regierenden preußischen Monarchen. 23 Wobei den Königlichen Bühnen in Berlin und in Wiesbaden eine Sonderrolle zukam. In Berlin sahen sich die Bühnen des Monarchen nach einer geradezu sprunghaften Ausdehung der Berliner Theaterlandschaft, mehrheitlich ermöglicht durch die Gewerbefreiheit und dem Wachsen zur deutschen „Theaterhauptstadt“ mit einem differenzierten und diversifizierten Unterhaltungsapparat, einer bislang unbekannten Konkurrenz konfrontiert. 24 Die Königlichen Bühnen wurden auch aus diesem Grund von Wilhelm II. 21 In ihrer Raumsoziologie nähert sich Martina Löw den dynamischen Dimensionen performativer Räumlichkeit und Raumkonstruktion, indem sie einen prozessualen, relationalen Raumbegriff formuliert. Löw, M.: Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2001. 22 Das Nassausche Hoftheater gehörte seit 1866 durch die Annexion Nassaus zu Preußen. Unter der Regierung von Wilhelm I. wurde das Theater den Königlich Preußischen Bühnen zugeordnet, laut dem Rheinischen Kurier setzte sich die Finanzierung der Wiesbadener Hofbühnen wie folgt zusammen: 1868 42.000 Mark, 1892 241.000 Mark. Rheinischer Kurier 24. 6. 1892. 23 Laut dem kaiserlichen Erlass vom 1. 1. 1873 wird ein Teil der Kosten über die Kronfideikommißkasse finanziert: 160.000 Mark, Wiesbadener Staatskasse 52.500 Mark, Königliche Generalstaatskasse 25.000 Mark. In: Hildebrand, A./ Vollmer, E./ Rolland, K. H.: Festschrift in zwei Bänden: Theater in Wiesbaden 1765-1978. Wiesbaden 1978. Bd. 2, S. 57. 24 Zeitgenossen und jüngere Studien schreiben der Stadt Berlin um 1900 eine herausgehobene Rolle als Vergnügungsmetropole im Kaiserreich zu. Zu den zeitgenössischen Quellen vgl. die Theaterpamphlete in: Marx, P. W./ Watzka, St. (Hrsg.): Berlin auf dem Weg zur Theaterhauptstadt. Theaterstreitschriften zwischen 1869 und 1914. Tübingen/ Basel 2009. Baumeister, M.: „Theater und Metropolenkultur. <?page no="341"?> inszenierte gemeinschaft 341 zur „Waffe“ des Monarchen stilisiert, die „dem Geiste des Idealismus zu dienen [hätten] und den Kampf gegen den Materialismus und das undeutsche Wesen fortführen“ sollten. 25 Die besondere Beachtung der Bühnen Wiesbadens erklärt sich durch das gesteigerte Interesse von Wilhelm II. an der Kurstadt. Die erst seit 1866 zu Preußen gehörende Stadt wurde von ihm zur Residenzstadt ernannt. 26 Die besondere Lage am Rand des preußischen Gebietes und zugleich die geographische Nähe zu Belgien und Frankreich, die internationalen und nationalen Kurgäste und die ausbaufähige urbane Struktur boten den Initiatoren Grund genug, um in der Provinz ein Festspielhaus nach Wilhelminischer Manier zu errichten. Sicherlich spielte auch die geographische Nähe zu der ehemals Freien Stadt Frankfurt eine nicht untergeordnete Rolle, die der Preußenkönig mit einem Gegenpol versehen wünschte. Die „allerhöchste Aufmerksamkeit“, die die prosperierende Kurstadt vor allem während der Festspiele erfuhr, war unmittelbar an einem veränderten Stadtbild abzulesen. 27 Seit den 1880iger Jahren hatte sich Wiesbaden zu einem der modernsten Badeorte im Kaiserreich entwickelt. Die nachhaltigen architektonischen Veränderungen im Stadtraum lassen sich ebenso wie die flüchtigeren Festdekorationen direkt in Zusammenhang mit den Festspielen bringen. Nicht nur, dass während der Festspiele die großen Straßenzüge prachtvolle Dekorationen und aufwendige Beleuchtungen erfuhren, langfristigere Veränderungen, die unmittelbar mit den Festspielen zusammenhingen, war der Anstieg des Tourismus während der Festspiele als „Höhe- und Glanzpunkt des sich stetig entwickelnden Kurlebens“. 28 Eine städtebauliche Veränderung, welche unmittelbar auf die Wiesbadener Festspielstätte als Ort der preußischen Machtdemonstration zurückzuführen ist, war das Hoftheater. 29 Noch vor den ersten Festspielen von 1896 errichtet, wurde zwischen 1892 und 1894 nach einer Ausschreibung der Stadt das Gebäude nach den Plänen der Wiener Architekten Ferdinand Berlin um 1900.“ In: Fischer-Lichter, E./ Warstat M. (Hrsg.): Staging Festivity. Theater und Fest in Europa, Tübingen/ Basel 2009, S. 193-215, insb. 195-200. 25 Auszug aus einer Ansprache Wilhelms II. anlässlich des 10jährigen Regierungsjubiläums (1898) an Mitglieder der Hofbühnen im Konzertsaal des Königlichen Opernhauses Berlin. Klaußmann, O.: Kaisereden: Reden und Erlasse, Brief und Telegramme Kaiser Wilhelms des zweiten. Ein Charakterbild des deutschen Kaisers. Leipzig 1902, S. 302. 26 Siede-Hillder, C.: Zwischen Kunstfreiheit und Kontrolle. Strukturbeispiele öffentlicher Theater am Beispiel eines Staatstheaters. Frankfurt a. M. 1981, S. 47-49. 27 Der Bauboom hielt bis ca. 1910 an; weitere groß angelegte Bauvorhaben neben dem 1894 umgebauten wieder eröffneten Theater sind: das Theaterfoyer 1902, der Bahnhof 1902, das neue Kurhaus 1907. 28 Zahlen vgl. Siede-Hiller 1981, S. 54. 29 Zur Geschichte des Gebäudes Vgl. Cyperrek, R./ Laux, O./ Scholz: , H. P.: Geschichte eines Theatergebäudes 1860-1978. Hessisches Staatstheater. Wiesbaden 1978. <?page no="342"?> 342 anna littmann Fellner und Hermann Helmer errichtet. 30 Den Anstoß für den 1894 eröffneten Neubau des Hoftheaters gab der Kaiser selbst, den Bau beauftragte die Stadt Wiesbaden. Um dem Kaiser in den Pausen das angemessene Cercle-Halten zu ermöglichen, wurde bereits im Jahr 1902 ein prunkvoll gestalteter Foyeranbau ergänzt. 31 Dieser Anbau wurde durch den Architekten Felix Genzmer im Neo-Rokokostil verwirklicht. Der Bühnenraum des neuen Theaters mit seinen hydraulischen Versenkungen und Zügen sowie mit dem „verdeck- und versenkbaren“ Orchesterpodest wurde mit den modernsten bühnentechnischen Innovationen und Anforderungen der Zeit ausgestattet. 32 Die Ausstattung des Zuschauerraumes jedoch entsprach dem eines höfischen Theaterbaus in Hufeisenform mit repräsentativen Mittel- und Proszeniumslogen. Ein technisch hochmoderner Theaterort in der Provinz also, der fern der pulsierenden Theatermetropole Berlin sich geradezu hervorragend als Austragungsort für Festspiele eignete: Ein Bau, der mit großstädtischem Publikumszugang, das heißt mit adäquater Droschkenauffahrt, 1330 Plätzen, mit hierarchisch abgeteilten Rängen und Treppenhäusern - jeder Rang hatte eigene Aufgänge und die Kaiserräume besaßen eigens abgetrennte Zugänge zur Mittelloge und den Proszeniums-Hoflogen - und neobarocker Innenraumausstattung, mit den tradierten Raumkonzepten höfischer Kunst ausgestellt war. 33 Der Zuschauerraum war in jener „reizvollen“ Formgebung gehalten, welche sich im frühen 18. Jahrhunderts „aus der Verschmelzung der lieben usw. würdigen tändelnden Zierformen des sogenannten späteren Ludwig XIV. und der schweren Pracht des römischen Barock“ herausbildete. 34 Durch die weit in den Zuschauerraum hineinragenden Proszeniumslogen sowie die überproportionale Kaiserloge wurde die Aufmerksamkeit des Zuschauers strategisch auf die dort logierenden Gäste gelenkt. Mittels der Sichtachsen auf Mittel- und Proszeniumslogen und des prunkvollen Interieurs rekurrierte das Theater auf die Tradition des Hoftheaterbaus und behielt auf diese Weise die Funktion eines öffentlichen Hoftheaters in dem das Publikum dem Hofstaat begegnen konnte inne. 35 Eine Tendenz zum Volkstheater-Charakter besitzend - interpretierte Hans Christian Hoffmann das 30 Hessisches Hauptstaatsarchiv (im Folgenden HHStAW) Abt. 428 Nr. 58, Einweihung des neuen Theatergebäudes, 1894. 31 Der Stadtbaumeister Genzmer wurde von Wilhelm II. beauftragt den Umbau auszuführen (Kosten ca. 600.000 M). In nur 10 Monaten stellte er den Spätrokoko- Bau auf. 32 In künstlerischer Hinsicht war eine weitere wichtige Übernahme der „ebenso wie in Bayreuth völlig versenkte Orchesterraume“. Vgl. u. a. Droescher 1904, S. 81. 33 Cyperrek 1978, S. 29-30. 34 „Centralblatt der Bauverwaltung“ zit. n. Cyperrek 1978, S. 29. 35 Lange, H.: Vom Tribunal zum Tempel. Zur Architektur und Geschichte deutscher Hoftheater zwischen Vormärz und Restauration. Marburg/ Lahn 1985, S. 114. <?page no="343"?> inszenierte gemeinschaft 343 Auditorium -, und bezog sich damit auf die vollständig verbundenen ersten Publikumsreihen in den oberen Rängen, wies aber gleichzeitig auf die höfische alt-„hergebrachte Rangteilung“ und die Logen- und dahinterliegenden Logenräume hin. 36 Das Wiesbadener Theater wurde im regulären Spielbetrieb vorwiegend von einem bürgerlichen sowie auch aristokratischen Kurpublikum besucht. 37 Die theatrale Gemeinschaft, die sich hier manifestieren sollte, wurde im Hoftheaterraum versammelt und konnte gleichsam durch die räumliche Limitierung des Gebäudes hierarchisch geordnet dem Kaiser gegenübergestellt werden. Außerhalb des Theaters rahmten zahlreiche größere und kleine Festereignisse theatralischer Art das Ereignis wie der jährliche Sängerwettstreit, Fackeltänze aber auch sportliche Ruderrennen oder der festliche Einzug Wilhelms II. vom neuerbauten Kaisergleis 38 zum Schloss. (Abb. 48) Diese integralen Bestandteile der Festspiele veränderten den realen Stadtraum und ließen damit Reminiszenzen an theatralische Prozesse der im öffentlichen Raum aufgeführten Passionsspiele oder die Festumzüge der mittelalterlichen Städte zu. Die Stadt Wiesbaden erfuhr „eine große innerliche Verwandlung“ und wurde zum Theaterraum. Nicht nur der Bühnenraum wurde demzufolge in einen „andersgearteten Raum verwandelt“ 39 , sondern auch die Stadt selbst wurde theatralisiert. Bei einem räumlich erweiterten Verständnis der Festspiele werden alle diese als Akte, Intermezzi, Vorspiele oder Epiloge deklarierbaren Bestandteile der Festspiele an die Teilnehmer der Aufführung im Stadtraum, also auch außerhalb der Aufführungen im Innenraum des neugebauten Hoftheaters. II. Programm der Festspiele Zu den spezifischen Besonderheiten, die unmittelbar auf den Gebrauch des Gebäudes als höfisches Festspieltheater abzielen, gehört neben dem oben beschriebenen Theaterbau auch das Programm der Festspiele. Es liegt zwar weder eine dezidierte Konzeption oder eine verschriftlich- 36 Zit. n. Cyperrek 1978, S. 29. 37 Schwitzgebel, H. (Hrsg.): Wiesbadener Theater um die Jahrhundertwende. (Ausstell.-Kat., Hessische Landesbibliothek, Wiesbaden 25. 4. 1988-30. 7. 1988). Wiesbaden 1988. S. 5. 38 Die Einrichtung eines gesonderten Kaisergleises in dem im Jahr 1906 fertig gestellten Kopfbahnhof ließ sich auf das Repräsentationsbedürfnis des Kaisers während der Festspiele in Wiesbaden zurück führen. Hier traf sich das Anliegen der damaligen Weltkurstadt mit dem des Kaisers, denn die Verantwortlichen der Stadt beabsichtigten damit dem mehrfach jährlich anreisenden deutschen Kaiser einen entsprechenden Empfang zu bereiten. 39 Fischer-Lichte 2004, S. 187. <?page no="344"?> 344 anna littmann te Festspielidee vor, noch geben die Programmhefte über das Vorhaben Auskunft. Es handelt sich vielmehr um deskriptive Beschreibungen der aufgeführten Werke oder um historische Erläuterungen der Stoffe. Einzig das Mitglied der Königlichen General-Intendantur als Dramaturg, Georg Droescher, formulierte in Ansätzen das folgende Ziel: Dass die Wiesbadener Festspiele „dem Publikum unter außergewöhnlichen Umständen auch außergewöhnliche theatralische Genüsse bieten“ wollen und sich damit, auf Bayreuth beziehend, „der neuen Kunst verschrieben hätten.“ 40 Eindeutiger wies der Spielplan - an dem sich Zielrichtung und Repräsentationsfunktion ablesen lässt - das Profil der Festspiele nachzuvollziehen. Und zwar in mehrfacher Hinsicht: Es wurde dort ein vorwiegend deutsches Programm, also ein Spielplan deutsch-nationaler Prägung, aufgeführt. Gerade am Opernrepertoire, das wie die zahlreichen Wagner- 41 und Lortzing-Opern zeigen auch mit den Werken von Carl Maria von Weber, Christoph Willibald Gluck, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven und Carl Goldmark aufwarteten, veranschaulicht sich die Ausrichtung auf ein Repertoire der deutschen Werke mit nationalem Charakter. Zeitgenössische italienische Verismo-Opern fehlten - ganz entgegen der Mode - im Festspielplan völlig. Neben den italienischen Opern Barbiere von Sevilla von Giachimo Rossini und Giuseppe Verdis Aida wurden nur wenige französische Opern in Wiesbaden aufgeführt (François Adrien Boieldieus Weiße Dame, Fra Diavolo; Der schwarze Domino von Daniel-François-Esprit Auber). 42 Bei Giacomo Meyerbeers Grand opéra Die Afrikanerin hatte „man einschneidende Änderungen vorgenommen […] um einen dramatischen Extrakt aus der Oper herauszustellen“, und um die effektvolle „Dekorationskunst“ entfalten zu können, ließ man die Handlung in den letzten Akten „nicht in Indien, sondern in Madagaskar spielen“. 43 Bei den aufgeführten „Festopern“ handelte es sich in der Regel um eigene „Wiesbadener Fassungen“, die wie Armide (Gluck) oder Webers Oberon zumeist durch den Kapellmeister Josef Schlar neu instrumentiert und stark für die Festspiele bearbeitet wurden. 44 Die reforme- 40 Droescher 1904, S. 78. 41 Neben dem bereits erwähnten Ring-Zyklus 1898 wurden in den ersten 3 Jahren in Wiesbaden 9 Werke Wagner’s in 12 Vorstellungen aufgeführt. Mit den aufwendigen Musteraufführungen lässt sich zumindest im Spielplan nicht nur eine Annäherung, sondern gar eine Art Angriff auf das Bayreuther Vorbild unterstellen. Webers Oper führte ab 1900 mit der Erstaufführung der Wiesbadener Oberon- Bearbeitung mit insgesamt 16 Vorstellungen deutlich den Spielplan an. 42 Die hier aufgeführten zumeist deutschen Werktitel sind aus den Programmheften übernommen, sie geben zugleich über die Aufführungssprache Auskunft. 43 Wolf, B.: „Die Festvorstellungen im Wiesbadener Hoftheater“. In: Bühne und Brettl 3 (1903), S. 7. 44 Dazu ausführlich vgl. Haddenhorst 1985, insb. S. 46-48, 85-87. <?page no="345"?> inszenierte gemeinschaft 345 rische Dimension des General-Intendanten Georg von Hülsen-Haeseler für das Hoftheater in Wiesbaden, die sich neben dem „Reformplan“ für die „Regieverhältnisse“ 45 , auf das „Dekorationswesen“ 46 und die technische Ausstattung 47 bezogen, wurden laut Maximilian Stetten, gerade durch diese „Wiesbadener Fassung“ in „künstlerischen Ideen“ im Spielplan eindeutig erfahrbar. Stetten bescheinigte Hülsen „die Absicht […] an der Stelle des alten überlebten Zustände“ etwas zu schaffen, „was in jeder Hinsicht außerhalb des Rahmens des Landläufigen, [also des Alltäglichen] läge.“ 48 Ganz deutlich zeigte sich der Wille der Festspielmacher, ein spezifisches „Wiesbadener Repertoire“ zu etablieren, an den Aufführungen des Schauspiels. Einerseits setzte es sich aus den deutschen Klassikern zusammen (Friedrich Schiller, William Shakespeare 49 , Friedrich Hebbel und Gustav Freytag) und zum anderen - und darin bestand eine Besonderheit der Maifestspiele - waren es Auftragswerke, die der Kaiser persönlich anregte und zum Teil auch gestalterisch begleitete. Geplant war die Umsetzung einer Hohenzollern-Tetralogie, die damit ummittelbar zum Bayreuther Modell Bezug nahm. Dazu wurden spezifisch Hohenzoller’sche Stoffe dem in Wiesbaden ansässigen kaiserlichen „Hof“-Dichter Josef Lauff zur Dramatisierung angetragen. 50 Die Wiesbadener Festspiele forcierten also ein Renommee als ein außeralltäglicher Experimentier-Ort des zeitgenössischen historistisch-hohenzoller’schen Dramas, verbunden mit der Absicht, das dynastische Prinzip der preußischen Herrscher als zentralen Mythos des noch jungen Kaiserreiches zu etablieren und damit zu legitimieren. Tatsächlich realisiert wurden jedoch nur zwei Dramen Der Burggraf (UA 1897) und Der Eisenzahn (UA 1899). 51 Die Frankfurter Zeitung schrieb 1897: „Das Drama [Der Burggraf], zu dem der Kaiser (…) die Anregung 45 U. a. aufwendige Massenregie des Chores. 46 Vgl. zum aufwendigen Dekorationsstil Abb. 49. 47 Zu den Besonderheiten: Bühnentiefe, Kulissen- und Versenkungstechnik, sowie Beleuchtung, vgl. Cyperrek 1978. 48 Stetten, M.: „Georg von Hülsen und das Königliche Theater zu Wiesbaden“. In: Bühne und Welt 1 (1898), S. 104. 49 Vgl. zur Shakespeare-Rezeption in Deutschland den Beitrag von Tobias Becker im vorliegenden Band. 50 Josef von Lauff: militärische Laufbahn, ab 1898 Wiesbadener Dramaturg vom Kaiser bestellt, 1903 in Adelsstand gehoben und zum Major ernannt. 51 Der 3. Teil der Tetralogie sollte sich mit Friedrich Wilhelm, dem Großen Kurfürsten (1620-1688), befassen und der 4. Teil mit Friedrich dem Großen (1712-1786). Am 3. Teil hat Lauff noch im Jahr 1900 gearbeitet. Der Große Kurfürst wurde darin als Schlachtenheld, Plitker, Friedensfürst und Mensch charakterisiert. Der 4. Akt war am Hof Ludwig des XIV. verortet und behandelte eine Gegenüberstellung der beiden Herrscher. Das Ende des Dramas ist mit dem Frieden von St. Germain, mit dem Titel der Entwurfsfassung „Unterm Sturmhut“ erhalten. <?page no="346"?> 346 anna littmann gegeben hat, behandelt den thätigen und entscheidenden Antheil, den der Burggraf Friedrich von Zollern an der Wahl Rudolfs von Habsburg zum deutschen Kaiser genommen hat.“ 52 Der Burggraf sehnt einen einigenden deutschen Kaiser herbei. Apotheotisch wird am Ende des Dramas die Freundschaft von Habsburg und Hohenzollern beschworen. Im Eisenzahn steht Friedrich, Kurfürst von Brandenburg, im Mittelpunkt des dramatischen Geschehens, dem es 1447 gelang, die Herrschaft der Freien Städte Berlin und Cölln in der Mark Brandenburg zu brechen und damit dem „schwergeprüften“ Land eine einheitliche Regierung zu geben. 53 So zumindest - und das sei am Rande bemerkt - die Interpretation dieser historischen Ereignisse durch die preußische Offizial-Kultur. Diese Hohenzollern-Dramen, deren beider Stoffe die Huldigung zweier Ahnherren des Kaisers behandeln, bezogen sich damit direkt auf den Gastgeber des Theaterabends. Eine Rezension aus der Frankfurter Zeitung kommentierte über die im Stoff des Burggrafen behandelte Sehnsucht nach einem einigenden deutschen Kaiser und König ironisch: Oh, Deutsches Land, oh deutscher Kaiser, wo bist Du, wo weilst Du, wann kommst Du endlich? […] Nicht doch, wir wissen ganz genau, daß Du schon da bist. Wir sehen Dich in der Loge Deines Theaters sitzen und aufhorchen, und es macht uns furchtbares Vergnügen, Dir die schmeichelhaftesten Komplimente über Deine Mission ins Gesicht zu sagen … Wie arg muss sich der Kaiser genirt [! ] fühlen, wenn selbst sein nürnbergischer Ahnherr nicht müde wird, ihm zu huldigen […] 54 Von der zeitgenössischen Presse wird diese offensichtliche Referenz kommentiert und gleichzeitig dechiffriert, Wilhelm II. als Zuschauer und zugleich Akteur der Aufführung und des Dramas wird hier gänzlich offenbar. Diese unverhüllte Verbindung der dramatischen Anlage der Figur des Ahnherrn deutet darauf hin, dass es im Stoff um die bewusste Konstruktion eines Bezugs zwischen dramatischer Figur und Wilhelm II. und seinen Aufgaben als deutscher Kaiser und preußischer König ging. Diese zugespitzte Stilisierung und Theatralisierung der kaiserlichen Person durch die dramatische Konzeption der Stücke und des Spielplanes war maßgeblicher Bestandteil der Aufführung und setzte sich in der Aufführungssituation weiter fort. 52 Frankfurter Zeitung 17. 5. 1897. 53 Für die vaterländische Oper Der Roland von Berlin, die Wilhelm II. bei dem italienischen Erfolgs-Komponisten Ruggiero Leoncavallo beauftragte, wurde dieser Stoff nochmals verwendet. Für die Uraufführung des Roland, die nach über zehnjähriger Planungs- und Kompositionszeit am 12. 12. 1904 in der Königlichen Oper Unter den Linden, Berlin stattfand, verwendete der Berliner Bühnenbildner zu einem Teil das Bühnenbild des Eisenzahn. 54 Frankfurter Zeitung 17. 5. 1897, zit. n. Haddenhorst 1985, S. 23. <?page no="347"?> inszenierte gemeinschaft 347 III. ‚Kaiserliche‘ Inszenierung Der charakteristische historistische Inszenierungsstil der Festspiele, das heißt die möglichst historisch exakte Rekonstruktion von Kleidung und Architektur auf der Bühne darzustellen, war zum einen dem noch aktuellen Historismus geschuldet, darin spiegelte sich zweitens die Stilistik der preußischen Offizial-Kultur wider. 55 Von Regisseur und Bühnenbildner wurde insbesondere Wert auf die historische Richtigkeit und Genauigkeit gelegt. Mittels der Konzentration auf historisch exakte Rekonstruktion von Kostüm, Requisite und Bühnenbild der Stücksujets auf der Bühne, legten sich die Praktiker dieses Inszenierungsstil geradezu übermäßig auf eine „gewollte historische Wahrheit oder nur Wahrscheinlichkeit“ fest. 56 Die stilistische Nähe zur Charakteristik der Meininger 57 wird angesichts der exisiterenden Theaterfotografien ersichtlich, und die Wahl des ausführenden Personals unterstützt diese Beobachtung zuverlässig. (Abb. 49) Der ehemals beim ‚Theater-Herzog‘ Georg II. engagierte Schauspieler Max Grube wurde quasi als Vermittler des Meininger Stils an die Preußischen Bühnen engagiert. 58 Für die Vorbereitung der Eisenzahn-Uraufführung (1899) belegen eine Reihe von Briefen zwischen dem Inszenierungsteam und dem Waffenspezialisten Wendelin Boehaim, Direktor der „Wiener Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses von Waffen und kunstindustriellen Gegenständen“, die intensiven Vorbereitungen und Studien die Praxis der Theaterschaffenden. 59 Boeheim antwortete auf die Frage nach dem „Mailändischen Harnisch“ des Kurfürsten Friedrich II. von Brandenburg und verwies dabei auf eine Abbildung in einem von ihm verfassten Bildband. 60 Dass das Personal der Festspiele - hier die Garderobe-Ober-Inspection der Königlichen Schauspiele - die wissenschaftlich recherchierten Ergebnisse in Entwürfe umwandelte und dem Veranstalter der Festspiele vorlegte, wird durch dessen eigenhändige Unterschrift „Wilhelm I. R.“ dokumentiert. 61 55 Stümcke (1908/ 1909), S. 775. 56 Tägliche Rundschau 19. 5. 1897. 57 Kern, V. (Red.): Die Meininger kommen! : Hoftheater und Hofkapelle zwischen 1874 und 1914 unterwegs in Deutschland und Europa. Meiningen 1999. 58 Neben seiner Schauspielertätigkeit wurde Max Grube zum Regisseur der Königlichen Bühnen Berlin. Vgl. Grube, M.: Am Hof der Kunst. Grethlein 1918. (Brief Josef Lauff an Max Grube, 7. 3. 1898), Theaterwissenschaftliche Sammlung, Theatermuseum, Schloss Wahn, Universität Köln [Im Folgenden Wahn] Nachl. M. Grube Au 3283. 59 (Brief Wendelin Boeheim an Georg v. Hülsen, 10. 1. 1899) Wahn, Graphische Sammlung, Figurin-Mappe 4, Inv. Nr. A 2111. 60 Boeheim, W.: Album hervorragender Gegenstände aus der Waffensammlung des allerhöchsten Kaiserhauses. Wien 1894. 61 Wahn, Graphische Sammlung, Figurin-Mappe 104, Wilhelm II. <?page no="348"?> 348 anna littmann Die Entwürfe wie auch die Szenenbilder bildeten den stark dekorativen, aufwendigen und historistischen Aufführungsstil, der fern des Berliner Naturalismus und Realismus, den Avantgarde-Bewegungen und dem vielfältigen großstädtischen Unterhaltungsprogramm in Wiesbaden realisiert wurde. 62 Die detailreichen und prächtigen Dekorationen erzielten eine auf Erstaunen und sinnliche Überwältigung gerichtete Wirkung. 63 Es handelte sich um ein technisch innovatives und visuell-wirkendes Schau-Theater - bar jeder auf Einfühlung abzielende oder psychologisierende Dimension -, wie sie sich vergleichbar in den Aufführungen im Deutschen Theater von Otto Brahm in der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreiches entwickelte. Insbesondere das ästhetische Engagement Wilhelms II. an den beiden Hohenzollern-Dramen sticht bei der Analyse der ‚kaiserlichen‘ Inszenierung ins Auge. Im Programmheft zum Eisenzahn wurde notiert, dass die Anregung zur „Hohenzollern-Tetralogie […] von Allerhöchster Stelle“ ausging. 64 Wilhelm II. arbeitete laut diesem an den Texten, Bühnenbildentwürfen und der Auswahl der beteiligten Künstler vorbereitend und dann auch während der Festspiele. 65 Die Zusammenarbeit bei der Burggraf-Uraufführung zwischen dem Kaiser, Josef Lauff und dem Regie-Intendanten Graf Georg von Hülsen-Haeseler wurde maßgeblich über Presse- und Bildmedien - wie der konservativen Vossischen Zeitung - verbreitet: Was die Entstehungsgeschichte anlangt, so soll ja der Kaiser bekanntlich selbst die Anregung zu der Arbeit gegeben haben; und sicher ist, daß zu den Hauptszenen auch zeichnerische Skizzen von Seiner eigenen Hand als Vorlage dienten. Der Generalprobe des Stückes hat der Kaiser von Anfang bis Schluß beigewohnt und auch am Vormittag der Aufführung noch im Theater mit den Hauptdarstellern „einige kleine textliche Aenderungen besprochen“: das thätige Interesse des Monarchen an dem Drama gab sich somit in jeder erdenklichen Weise kund. 66 62 Die Kosten für die „Herstellung von Dekoration gelegentlich der Anwesenheit S. M. des Kaisers und der Kaiserin am 16. Mai 1897“ 8000 Mark, sind insgesamt 10 % der Subventionen der Stadt an das Theater für das Jahr 1897.“ 63 U. a. Wiesbadener Tagblatt 2. 5. 1904, Der Salon 20. 6. 1909. 64 Programmheft: Wiesbaden Festspiele 1899 vom 14.-28. 5. 1899. Wiesbaden 1899. vgl. auch Berliner Börsen-Courir, Vossische Zeitung, Frankfurter Zeitung 15.- 18. 5. 1899, Bühne und Welt 7 (1904). 65 Im Neuen Wiesbadener Sonntagsblatt wird bspw. berichtet, dass Kaiser Wilhelm II. in einer bis in die Nacht um 1 Uhr dauernden Konferenz mit dem Dramatiker Lauff die Handlung abstimmte. Neues Wiesbadener Sonntagsblatt, Rubrik „Aus nah und fern“, 27. 5. 1900. 66 Vossische Zeitung 18. 5. 1897, Beilage: „Die Festspiele in Wiesbaden“ zum Burggraf. Ähnlich lautenden Kritiken und Zeitungsberichte Wiesbadener Tagblatt, Berliner Tageblatt, Tägliche Rundschau, Frankfurter Zeitung am 16. 5. und 18. 5. 1897. <?page no="349"?> inszenierte gemeinschaft 349 Die weitreichend publizierten Hinweise auf den eigenen Beitrag des Kaisers an den Bühnen- und Kostümentwürfen beider Hohenzollern-Dramen stellte einen wirkungsvollen Anreiz dar, und das Publikum strömte nach Wiesbaden auch, um diese Arbeitsstätte des Kaisers zu sehen 67 : „Der Kaiser hatte vor sich die von ihm entworfenen Skizzen liegen und verglich sie eingehend mit den betreffenden Dekorationen.“ 68 Die bearbeiteten Szenen- und Kostümentwürfe des Kaisers für Lauffs Eisenzahn und Burggrafen wurden - ebenso wie die Bühnenbilder der Wiener Theatermalerfirma Gebrüder Johann Kautzky und Franz Angelo Rottonara - publiziert und damit für die Rezipienten zugänglich gemacht. 69 Die Identifikation des kunstschaffenden Kaisers, war somit nicht nur dem Aufführungspublikum möglich. Die Originalskizzen wurden in den Programmheften, auf Postkarten und in dem 1907 erschienenen Paul Seidel-Prachtband Der Kaiser und die Kunst veröffentlicht. 70 (Abb. 50) Im Vergleich mit den Theaterfotografien, die beispielweise in den Journalen Bühne und Welt oder Velhagen und Klasing Monatsheften veröffentlich wurde, lässt sich bis heute bei der Ansicht der Skizzen und Fotografien die Beteiligung des Kaisers erkennen. Partiell stimmen die von Wilhelm II. entworfenen Skizzen in Dekoration und Positionierung im Bühnenraum mit den Dokumentationen der Realisierung überein. Dokumentieren lässt sich dies durch die Fotografie „Burg zu Nürnberg“. (Abb. 49) Die genaue Entstehung der Skizzen Wilhelms II., lässt sich allerdings nicht bestimmen. Es ist davon auszugehen, dass in Absprache mit dem Intendanten Hülsen die Ideen Wilhelms II. und gegebenenfalls Vorgaben an die Wiener Theatermaler übermittelt wurden. Die Amalgamierung von Mäzen, Bühnenschaffenden, selbsternannten Kunstherrn der Nation wird an diesem Beispiel deutlich. Da jedoch für die Untersuchung der inszenierten Festspiele der hohe Grade der inszenatorischen Vorgaben maßgeblich ist, besitzt insbesondere diese mediale Perspektive Relevanz. Im Zeitalter der Revolution der Massenmedien 71 67 „Die ‚Festschrift‘ zu den Festspielen mit Lichtdrucken und Köstumblättern“ fand wie auch die Postkarten des Kaiserpaares „reißenden Absatz“, zit. n. Wiesbadener Tagblatt 15. 5. 1897. 68 Neue Preußische Zeitung: „Über den Besuch des Kaisers in der Generalprobe“ 17. 5. 1897. 69 U. a. publiziert in Bühne und Welt 1 (1898/ 99), S. 105., Programmheft, Postkarten, Theaterzettel. Zu Rottanara & Kautzki vgl. Ibschner, E.: Theaterateliers des deutschen Sprachraums. Im 19. und 20. Jahrhundert. Diss., Frankfurt a. M. 1972, S. 177-182. HHStAW, Bestand 428 liegen die Bühnenbilder und -entwürfe der Wiener Bühnenmaler, Lauff: Der Burggraf Nr. 1446/ 7 und Der Eisenzahn Nr. 1446/ 8. 70 Seidel, P.: Der Kaiser und die Kunst. Berlin 1907. 71 Knoch, H./ Morat, D.: „Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880-1960. Zur historischen Kommunikologie der massenmedialen Sattelzeit“. In: dies. (Hrsg.): Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880- 1960. München 2003, S. 9-33. <?page no="350"?> 350 anna littmann diente den Akteuren der gezielte Einsatz der Printmedien wie - Presse, Pamphleten, Postkarten, oder Fotografien 72 dazu, - dieses Vorhaben vorzubereiten und zu festigen. 73 Die von der Königlichen General-Intendantur zum Teil stark forcierte Medialisierung und Berichterstattung der überregionalen Presse und dessen multilaterale Zuschreibungen des Kaisers als Urheber, Mäzen, Künstler und Darsteller ist in dieser Form einzigartig. Eine theatrale Inszenierung eines Herrschers ist spätestens seit Ludwig XIV. in der Festkultur der Frühen Neuzeit üblich. 74 Diese Tradition der Herrschaftsinszenierung setzte Wilhelm II. in Wiesbaden fort. Seine Version - die mediale Integration der Öffentlichkeit und deren Stilisierung zum Publikum, Teilnehmer und damit zu einer preußisch-nationalen Gemeinschaft - übertrifft das französische Beispiel noch. IV. Aufführungsereignis oder ‚inszenierte‘ Gemeinschaft? Die Analyse der Inszenierungsstrategien führt zur näheren Betrachtung des eigentlichen Festspiel-Ereignisses. Auffällig ist an dieser Stelle, dass nicht die einzelnen Aufführungen der Schauspiele, Opern oder Ballette im Mittelpunkt stehen, sondern das Festspiel-Ereignis als Ganzes. Integraler Bestandteil der Festspiele waren die vielzahligen Veranstaltungen, Empfänge, Bälle und Kaiserfrühstücke und Herrenabende, „Fest-Vorstellungen für die Arbeitervereine“, Ruderregatten im Rhein oder Gesangswettbewerbe, Festkonzerte sowie Kaiserparaden an denen Kaiserpaar und auch die Zuschauer gleichermaßen beteiligt waren. Die Ankunft des Kaisers in Wiesbaden gehörte dezidiert dazu, integrierte die Öffentlichkeit und bildete damit den Auftakt der Feierlichkeiten. Ihre Majestäten der Kaiser und die Kaiserin sind gestern Nachmittag mittels des aus 6 blau-weißen Wagen bestehenden kaiserlichen Sonderzuges (…) Punkt 4 Uhr hier eingetroffen. (…). Von der Einfahrt zum Taunusbahnhof ab bis zur Luisenstraße bildeten Unteroffiziere und Mannschaften (…) Spalier, und daran schlossen sich zu beiden Seiten des Weges bis zum Schloß Tausende und Abertausende von Bewohnern unserer Stadt und der Nachbarorte an, die 72 Zu Postkarten und Theaterfotografie vgl. Balk, C. (Hrsg.): Theaterfotografie. München 1987, S. 40-53. 73 Nachweise über Einladungen an die Vertreter der überregionalen und internationalen Presse wie bspw. den Theaterjournalisten Stümcke (Bühne und Welt) zu den Festspielen sind erhalten. (Brief Georg v. Hülsen an Heinrich Stümcke, o. D.), Theaterwissenschaftliche Sammlung, Theatermuseum, Schloss Wahn, Universität Köln [Im Folgenden Wahn], Au 4649 Einladung zu den Maifestspielen 1902. 74 Vgl. Beitrag von Christina Quaeitzsch im selben Band; Doris Kolesch: Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV. Frankfurt a. M. 2006. <?page no="351"?> inszenierte gemeinschaft 351 durch jubelnde Zurufe, Hüte- und Tücherschwenken das verehrte Herrscherpaar freudig begrüßen. 75 Dieser offensichtlich wirkungsvolle Einzug des Kaisers in die Stadt wurde von seinem Eintritt in das Festspielhaus noch übertroffen. Der Kaiser erschien, passend zur Festvorstellung gekleidet, in militärischer Galauniform. Bei Festaufführung des Wagnerschen Fliegenden Holländers (EA 1896) passte beispielsweise er seine Garderobe theatralisch dem Opernprogramm an: Er trug hier die Uniform eines Seeoffiziers, während er bei Albert Lortzings Zar und Zimmermann (EA 1900) die Uniform der Gardehusaren wählte. 76 Die Veranstaltungen im Theater, die in Anwesenheit des Kaisers und seiner fürstlichen Gäste 77 stattfanden, unterlagen stets einem festgelegten Zeremoniell bei dem jeder Beteiligte wusste wie er sich bei diesem Theaterereignisses zu verhalten hatte. Ein ausführliches Bericht des kaisernahen Dramaturgen Georg Droescher soll dies genauer veranschaulichen. Ganz Wiesbaden prangte in Flaggen- und Girlandenschmuck. (…) Der behagliche und heiter stimmende Theatersaal selbst war mit durch schwarz-weiße Schleifen verknüpften Blumenranken, die sich über die Brüstungen zogen, geschmückt, und den Kronleuchter verbanden mit den Galerien Rosen- und Laubgewinde, die einen reizenden Anblick boten. Eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung musste jeder Besucher auf seinem Platze sein. Es war eine glänzende Zuhörerschaft: hohe Würdenträger aller Art, berühmte Schriftsteller und Künstler, Theaterdirektoren und Intendanten der meisten großen Bühnen, alle im Festkleide, viele mit Orden übersäht, und Damen in Prachttoiletten. Da plötzlich: ein donnerähnliches Rollen; es verrät die Ankunft des kaiserlichen Gefährtes. Alles erhebt sich von den Sitzen und wendet sich gegen die Hofloge, deren Türen weit geöffnet sind. Auf den schönsten Galeriesitzen des zweiten Ranges, unmittelbar über der Hofloge, sitzen 16 Fanfarenbläser des 80. Regiments, als altpreußische Dragoner in fridericianische Tracht gekleidet. Sie erheben sich und schmettern mit ihren schlanken Heroldstrompeten einen lange dauernden Willkommensgruß ins Haus, der dessen Grundfesten erzittern macht. Wie ein Shakespearescher König betritt nun Kaiser Wilhelm, vom Intendanten v. Hülsen in Kammerherrentracht durch Aufklopfen mit dem Stocke auf dem Boden angekündigt, mit raschen Schritten die Loge und grüßt kurz, aber freundlich. Begeisterte Hoch- und Hurrarufe ertönen. Sobald der Kaiser sitzt, verfinstert sich der Zuschauerraum allmählich ganz, und die Musik beginnt (…). 78 75 Wiesbadener Tageblatt 16. 5. 1897. 76 Kleiner 2001, S. 356. 77 Neben den vielen fürstlichen Gästen aus In- und Ausland, die sich aus Hochadel, bürgerlichen oder militärischen Würdenträgern sowie Künstlern zusammensetzten, stellte die Teilnahme des Königs von Dänemark 1912 an den Festspielen, einen weiteren Höhepunkt der Festspiele dar. 78 Droescher 1904, S. 79-81. <?page no="352"?> 352 anna littmann Die Partizipation der Zuschauer am Ereignis war von Beginn an festgelegt, richtiger inszeniert. Eine kaiserliche Verfügung für das Festspielpublikum bestand darin, in „festlicher Gala“ zu erscheinen: „Kleine Uniform resp. Frack, weisse Binde, die Damen in ausgeschnittenen oder halbhohen Kleidern“ 79 , wobei bei der Uraufführung des Burggraf 1897 die „Damen zumeist in den brandenburgischen Farben“ erschienen. 80 Dazu kam die Sitzordnung im ersten Rang: auf der Höhe der Kaiserlogen wurden die Aristokraten, hohe Beamte und Militärs mit ihren Damen, Theaterintendanten, Schriftsteller und bildende Künstler sowie geladene Vertreter der Presse platziert. 81 Der als überaus enthusiastisch beschriebene Applaus, der diesen derartig spannungsgeladenen und festlich inszenierten Aufführungen oft nach Berücksichtigung der Reaktion des Kaisers folgte, ist Programm. Trotz einer vorher bekanntgegebenen Anweisung des Kaisers, nach der sich die Zuschauer nach „eigenen Gusto mit Applausbezeugungen“ 82 äußern mag, schien das Publikum dermaßen auf den Kaiser und seine Gesten konzentriert und als Träger und Projektionsfläche derselben am inszenierten Ereignis beteiligt. Durch die zahlreichen Zwischen- und Hochrufe auf das Hohenzollernhaus auch während der Aufführungen des Eisenzahn und des Burggrafen die Sitzordnung und die festliche Uniformierung sind Publikum und Aufführung mit einander verwoben. Der Berliner Börsen- Courier schreibt zur Uraufführung 1897 „Das Werk (…) fesselt stets, weil man stets darin Ideen, Stimmungen, politischen, nationalen Tendenzen des Kaisers nachspürt.“ 83 Die Präsenz des Kaisers im Theaterraum steht damit in wechselwirksamer Kommunikation mit dem Publikum. Das Publikum nimmt an der Inszenierung teil und bietet gleichzeitig Gefäß für dieselbe. Das Publikum ist Adressat, Teilhaber und Katalysator der kaiserlichen Repräsentation. Die Festspiele wurden derart auf die Person des Kaisers konzentriert, dass sie nur als festliche Spiele erscheinen konnten, wenn der Kaiser selbst anwesend war. Der Kaiserbesuch und die Festspiele sind nur schwer zu trennen, es sind zwei so in einander gehende Begriffe, daß der eine getrennt von dem anderen, unmöglich erscheint. 84 […] die feierliche Folie der Galavorstellung erlosch und eine durch die Anwesenheit der Majestäten gesteigerte Feststimmung entfiel. 85 79 Einladung, Aufdruck Rückseite Mai 1902, Wahn AU 4649. 80 Berliner Börsen-Courier 15. 5. 1897. 81 U. a. Berliner Tageblatt, 18. 5. 1897, Freikartenvergabe HHStAW 428, Reihe 6.4. 82 Zettel lagen in Foyers aus. Zit. n. Haddenhorst 1985, S. 11. 83 Berliner Börsen-Courier 15. 5. 1897. 84 Berliner Tageblatt 15. 5. 1897, Wiesbadener Tagblatt 13. 4. 1897. 85 Adalbert Schröter zit. n. Stümcke (1908/ 1909), S. 774. <?page no="353"?> inszenierte gemeinschaft 353 Wenn also der Initiator der Festspiele, Wilhelm II., seinen Zuschauern, seiner „auserwählten Gemeinde“ 86 direkt im und auch außerhalb des Theaterraumes gegenübertrat, erst dann traten die Stoffe, die „theatralische Darbietungen und [der] Theaterbesuch aus dem Rahmen des Gewöhnlichen“ und wurden zum außeralltäglichen Ort mit „höherer Weihe“. 87 Zitate solcherart lassen sich vielfach in den Beschreibungen und Presseberichten über die Festspiele finden; sie stützen die Argumentation, dass es sich bei diesen Festspielen um die Selbstinszenierung des Monarchen innerhalb und vor einer ebenfalls inszenierten Festspiel-Gemeinschaft handelt, in dessen Zentrum die preußische Monarchie und auch die Proklamation der deutsch-nationalen Idee des noch relativ jungen Kaiserreiches stand. Der aufgegriffene Terminus Gemeinde meint hier allerdings nicht nur eine Gemeinschaft aller am Theaterereignis Teilnehmenden, - also keine Gemeinschaft, die nur durch das eigentliche Theaterereignis zwischen Bühnengeschehen und Zuschauern entsteht und/ oder verhandelt wird. Die Verwendung des Begriffes zielt hier auf die umfassende Ausrichtung und Wirkung der Wiesbadener Festspiele ab, denn diese Gemeinschaft konstituiert sich auch außerhalb des eigentlichen Theaterraumes. 88 Die Partizipation der Zuschauer am inszenierten Ereignis - dem Besuch des Kaisers in Wiesbaden - war in den Rängen des Wiesbadener Hoftheaters, wie auch im ganzen Stadtraum zu finden. Es handelt sich damit um eine inszenierte Festspiel-Gemeinschaft, die um die Präsenz des Monarchen herum arrangiert wird. Dieser Gemeinschaftsbegriff rekurriert auf den Begriff der imagined communities und damit auf das Verständnis von Gemeinschaften als artifizielles Konstrukt. 89 Das heißt die Realisierung einer theatralen Gemeinschaft im Wiesbadener Theater beruht auf den Vorstellungen der Teilnehmer und nicht zuletzt auf theatralen Inszenierung derselben. Mithilfe der Reformulierung der Prozesse zwischen Bühne und Zuschauerraum, wie sie Erika Fischer-Lichte in ihrer Ästhetik des Performativen beschreibt, werden allerdings die Grenzen dieser Inszenierung offenbar. Denn die Perspektive der maßgeblichen Akteure konnten nur bedingt mit der realen Erfahrung der individuellen Zuschauer übereinstimmen. Doch die Individualität des Publikums verlor sich im Modus der Feierlichkeiten und Inszenierungsstrategien der Festspiele. Das Ver- 86 Zit. n. Haddenhorst 1985, S. 13: Berliner Tageblatt 18. 5. 1900. 87 Ebd., S. 669. 88 Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2004, S. 82. 89 Anderson, B.: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London 2006; Einleitung Erika Fischer-Lichte, im vorliegenden Band. <?page no="354"?> 354 anna littmann halten von Individuen wurde aufgehoben und der Einzelne wurde in seiner Wahrnehmung und seinem „Wahrgenommen werden“ zum Mitglied einer Gruppe. Im Theaterereignis agiert der Zuschauer wesenhaft als Zuschauer, das heißt auch als ein Wahrnehmender. Er ist immer gleichzeitig auch ein Handelnder, der durch sein Tun und dem, was ihm geschieht, auf den Verlauf der Aufführung Einfluss nimmt, demzufolge bestimmt der Zuschauer kausal den Hergang einer Aufführung mit. Dieser Handlungsspielraum, scheint hier aufgehoben, beziehungsweise nicht vermittelt auf Kosten der Funktionalisierung und Korrumpierung des Theaters zum Ort der preußischen Machtdemonstration, Herrschaftsvergewisserung und der Etablierung einer spezifisch Wiesbadener Festspiel-Gemeinschaft. V. Fazit Die Reihe der angeführten Beispiele, die auf ein theatral inszeniertes Festspiel-Ereignisses verweisen, ließe sich mit, dem in den Pausen im Publikum Cercle haltenden Kaiser, dem Vertrieb der gedruckten Festspiel- Postkarten mit Wilhelm II.-Emblem, den öffentlichen Ordens- und Dankbarkeitsbezeichnungen für beteiligte Künstler und Festschriften, dem Festschmuck der Stadtväter in unterschiedlichster Art und Weise weiter schreiben. 90 (Abb. 48) Die Aufführungen erfuhren ein hohes Maß an Medialisierung 91 , Theatralisierung, Wahrnehmungslenkung: Alle diese bereits angeführten Bedingungen und Charakteristika wie der besondere Ort, die außeralltägliche Situation, der ‚kaiserliche‘ Spielplan, die Hohenzollern-Aufführungen und auch die wechselwirksame Beteiligung zwischen Publikum, Aufführung und Monarchengestus zeigen anschaulich, dass es sich in Wiesbaden nicht um organisch gewachsenes, der Kunstweihe gewidmetes Ereignis handelt, sondern sie erwecken unmittelbar den Eindruck eines konstruierten und damit ‚inszenierten‘ Theaterereignisses, in dem sich eine scheinbar intakte aber eigentlich reaktionäre höfische Gemeinschaft manifestiert konnte. Es handelte sich also um die Repräsentation eines glanzvollen Hohenzollenkultes vor und durch die Anwesenheit der Öffentlichkeit. Wiesbaden wurde zur Bühne des Monarchen und die Kur- und Zaungäste, das Theaterpublikum, die fürstlichen Gäste 90 Zu den Dankbarkeitsbezeugungen in Form von golden Manschettenknöpfen oder Orden siehe HHStAW Abt. 428, Reihe 5,7 und Kritiken u. a. Wiesbadener Tagblatt 17. 5. 1902. Käuflich erwerbbare Bildnisse des Kaiserpaares mit oder ohne Rahmen wurden zu den Festspielen in den örtlichen Tageszeitungen angeboten siehe z. B. HHStaW Abt. 428 Nr. 127. 91 Paulmann 2000. <?page no="355"?> inszenierte gemeinschaft 355 bildeten die zugehörige theatrale Gemeinschaft des Ereignisses. Die Kunst trat hier hinter dem ‚kaiserlichen‘ Ereignis, das ‚kaiserliche‘ Ereignis wurde zur Kunst stilisiert. Im Fest aber realisierte sich das Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl. Die gleichförmige und stabile Zusammensetzung, aller am Theaterereignis Teilhabenden, bildete eine ästhetische oder theatrale Gemeinschaft, in der ein längst überkommener Herrscherkult neu ,ritualisiert‘ wurde. 92 Am Beispiel Wiesbaden wird ferner deutlich, dass sich die Preußischen Hoftheater schon vor dem Ersten Weltkrieg auf einem Sonderweg befanden. Denn die in Wiesbaden produzierte „Maifestspiel-Pracht“ verrauschte 93 buchstäblich und das „Wiesbadener Programm“ konnte sich außerhalb der Stadt beziehungsweise der Preußischen Hoftheater nicht durchsetzen. Sicherlich liegt dies unter anderem an dem oft als nicht zeitgemäß bemängelten deklamatorischen Schauspielstil und am Fehlen des Gastgebers. Durch die leibliche Präsenz, Beteiligung und Erfahrung Wilhelms II. und mithilfe der Interaktionsrituale und Regelhaftigkeiten eines Festes 94 konnte sich in Wiesbaden eine ,inszenierte‘ Gemeinschaft zeitlich und örtlich limitiert konstituieren. Doch wirkte sich der affirmative Hohenzollernkult insbesondere in den Jahren nach der 1900 weder in ästhetischer noch in politischer Hinsicht auf die Erfordernisse der sich in den Großstädten des Kaiserreich neu formierenden theatralen Fest-/ Spielräumen aus. 95 Droeschers Wunsch, daß „die kaiserliche Gnade und der fürstliche Kunstsinn“ die Wiesbadener Bühnenkunst“ befruchtet und „einen nicht minder beachtenswerten Kunstfaktur darstellen […] werde können, wie es bereits bei der Kunst von Bayreuth oder des Berliner ,Deutschen Theaters‘[! ] der Fall ist“, konnte sich demnach nicht nachhaltig realisieren. 96 92 „[Invented traditions] are responses to novel situations which take the form of reference to old situations, or which establish their own past by quasi-obligatory repetition.“ Hobsbawm, E.: „Introduction: Inventing Traditions“. In: ders./ Ranger, T. (Hrsg.): The invention of tradition. Cambridge 1992, S. 2. 93 S. Anm. 5. 94 Die Regelhaftigkeit von Festen erzeugt laut Erving Goffman die Entstehung oder die Bekräftigung von Identität und Gemeinschaftsgefühl. Vgl. Goffman, E.: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a. M. 1971. 95 Baumeister 2009, S. 210. 96 Droescher 1904, S. 96. <?page no="356"?> Fest, Spiel und Theater im Vergnügungspark. Attraktionen und ihr Transfer um 1900 Johanna Niedbalski (Berlin) Vergnügungsparks beeindruckten und bezauberten ihre Besucher durch ein Angebot an Attraktionen, das alle Sinne ansprach. Anknüpfend an ältere Formen der populären Künste und inspiriert von zahlreichen anderen Unterhaltungsgenres ihrer Zeit, boten die Vergnügungsparks eine spezifische und innovative Mischung aus Attraktionen, die scheinbar unübersichtlich und auf kleinem Raum verdichtet dem urbanen Publikum dargeboten wurden. Seit dem späten 19. Jahrhundert wurden Vergnügungsparks in zahlreichen Städten Europas und Nordamerikas, aber auch vereinzelt in Australien oder Nordafrika zu einem festen Bestandteil urbanen Vergnügens. Angesichts dieser weiten Verbreitung der Parks erstaunt es, dass sich ihr jeweiliges Angebot sehr stark ähnelte: Eine Gebirgsbahn oder eine Wasserrutschbahn, Musikpavillons und Tanzhallen, Karussells oder ein Riesenrad, „exotische“ Dörfer mit „Bewohnern“ aus Indonesien, Nordafrika oder entlegenen Gebieten Europas, Restaurants, Cafés und Imbissbuden, Theateraufführungen, Schaubuden mit Sensationen verschiedener Art oder Menagerien mit Tiervorstellungen - alle diese Angebotselemente finden sich in Beschreibungen der Lunaparks in Berlin oder in Paris, aber auch des Dreamlands in Coney Island, des Playlands in San Francisco oder des Vergnügungsparks der Buchgewerbeausstellung in Leipzig. 1 Überall gelang es offensichtlich, mit einem vergleichbaren Angebot an Attraktionen ein Massenpublikum anzusprechen und zu begeistern. 1 Vgl. etwa zum Berliner Lunapark: Berliner Tageblatt 14. 5. 1910; zum Lunapark in Paris: http: / / paris1900.lartnouveau.com/ cartes_postales_anciennes/ luna_parck. htm [Zugriff: 12. 5. 2009]; zum Dreamland: New York Times 19. 5. 1907; zum Playland: Blaisdee, M. (Hrsg.): San Francisciana Photographs of Ocean Beach and Playland. Pittsburg CA 1989; zum Vergnügungspark der Buchgewerbeausstellung in Leipzig: Das Organ der Varietéwelt 9. 5. 1914. <?page no="357"?> fest, spiel und theater im vergnügungspark 357 Die Jahrzehnte rund um die vorletzte Jahrhundertwende gelten als Zeitalter intensiver globaler Vernetzung: Neue Verkehrswege und -mittel ermöglichten einen schnelleren und preiswerten Transport von Menschen und Gütern über größere Distanzen. Neue Kommunikationsmöglichkeiten erleichterten den Austausch von Informationen und durch die Mobilität großer Teile der Bevölkerung drängten mehr Menschen in die urbanen Ballungsräume als je zuvor. Vor dem Hintergrund der zunehmenden globalen Vernetzung lohnt ein Blick auf die transnationalen Austausch- und Transferprozesse, die die Gestaltung der Vergnügungsparks maßgeblich beeinflussten. 2 Obwohl Coney Island um 1900 mit seinen drei großen Vergnügungsparks, dem Steeplechase Park, dem Lunapark und dem Dreamland, als Ausflugsziel der New Yorker Bevölkerung für die Geschichte der Vergnügungsparks von zentraler Bedeutung ist, können sie nicht grundsätzlich als ein amerikanisches Produkt betrachtet werden. 3 Denn weder die Parks noch ihre Attraktionen waren eine genuin amerikanische Erfindung. Sowohl die Vergnügungsparks als Gattung der populären Massenunterhaltung als auch ihre einzelnen Attraktionen entstanden vielmehr in Austausch- und Transferprozessen, die sich innerhalb Nordamerikas und Europas aber auch über den Atlantik hinweg abspielten. 4 Durch diese Transferprozesse entstand einerseits ein relativ fest umrissener Angebotskanon, der in nordamerikanischen genauso wie in europäischen Parks anzutreffen war. Andererseits waren die einzelnen Angebotselemente der Vergnügungsparks sowohl durch die Aneignungspraxis der Besucher als auch durch die Weiterentwicklung der Attraktionen seitens der Anbie- 2 Osterhammel, J./ Petersson, N. P.: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen Prozesse Epochen. München 2003, S. 63-77; Conrad, S.: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich. München 2006, S. 32-73; zum Transfer: Paulmann, J.: „Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts“. In: Historische Zeitschrift 267 (1998) Nr. 3, S. 649-685; Werner, M./ Zimmermann, B.: „Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen“. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002) Nr. 4, S. 607-636. 3 Zu Coney Island allgemein vgl. etwa: Kasson, J. F.: Amusing the Million. Coney Island at the Turn of the Century. New York 1978 oder Immerso, M.: Coney Island. The People’s Playground. New Brunswick u. a. 2002. 4 Differenzierte Auseinandersetzungen mit der Amerikanisierung bieten u. a.: Tanner, J./ Linke, A.: „Einleitung. Amerika als ‚gigantischer Bildschirm Europas‘“. In: dies. (Hrsg.): Attraktion und Abwehr. Die Amerikanisierung der Alltagskultur in Europa (Alltag und Kultur 11) Köln u. a. 2006, S. 1-33 oder Lüdtke, A./ Marßolek, I./ von Saldern, A.: „Einleitung. Amerikanisierung: Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts“. In: dies. (Hrsg.): Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, S. 7-36 oder Maase, K.: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970. Frankfurt a. M. 1997, insb. S. 145-154. <?page no="358"?> 358 johanna niedbalski ter kontinuierlichen Wandlungsprozessen unterworfen. Das Angebot der Vergnügungsparks um 1900 entwickelte sich also im Spannungsfeld von globaler Homogenisierung und lokaler Aneignung. Um das Vergnügungsangebot der Parks zum einen ordnen und zum anderen analysieren zu können, soll zunächst eine Systematisierung des Angebots in drei Kategorien Fest, Spiel und Theater vorgenommen werden. Durch diese Systematisierung können die Erlebnisdimensionen, die sich für das Publikum mit einzelnen Attraktionen verbanden - und damit der jeweilige Reiz der Attraktion - in den Blick genommen werden. Den einzelnen Besuchern präsentierten sich die Vergnügungsparks als überwältigende, alle Sinne ansprechende und Außeralltäglichkeit versprechende Erlebnisräume. Die Vielfalt der Vergnügungsangebote, aus denen sich jeder Besucher ein individuelles Programm zusammenstellen konnte, eröffnete ein breites Spektrum ganz unterschiedlicher Erlebnisdimensionen, die von einem ruhigen Restaurantaufenthalt bis hin zu einer rasanten Achterbahnfahrt reichten. Um diese tendenzielle „Erlebnisoffenheit“ näher zu qualifizieren, werden die einzelnen Angebotselemente, die Fahr-, Belustigungs- und Schaugeschäfte, die Parkanlagen und die Restaurationsbetriebe in festliche, theatrale und spielerische Angebotselemente klassifiziert. Ausgehend von jeweils einem Beispiel aus diesen drei Kategorien wird anschließend gezeigt, wie durch transnationale Interaktion verschiedener Akteure der Unterhaltungsindustrie das Vergnügungsangebot der Parks entstand und sich weiterentwickelte. I. Fest, Spiel und Theater in Vergnügungsparks um 1900 Festliche Angebotselemente Vergnügungsparks hatten einen Ursprung in Festen, die anlässlich von Jahrmärkten, Messen oder Kirchweihen stattfanden und Bestandteil vormoderner Freizeitgestaltung waren. Elemente dieser Feste gingen in die Gestaltung der Vergnügungsparks mit ein: Vor allem das Essen und Trinken, der gemeinsame Tanz, die Musik und das gesellige Beisammensein mit Familie, Freunden und Bekannten. Auch Elemente höfischer Festlichkeiten, des Karnevals oder bürgerlicher Festkultur wurden in die Gesamtgestaltung der Vergnügungsparks mit einbezogen. So brannte man Feuerwerke ab, veranstaltete Maskenbälle mit Konfettischlachten, führte Konzerte auf und bot den Besuchern die Möglichkeit, zwischen Blumenrabatten zu flanieren. 5 5 Kosok, L.: „Jahrmarkt und Vergnügungspark“. In: dies./ Jamin, M. (Hrsg.): Viel Vergnügen. Öffentliche Lustbarkeiten im Ruhrgebiet der Jahrhundertwende. Eine <?page no="359"?> fest, spiel und theater im vergnügungspark 359 Das Angebot der Vergnügungsparks sollte bei den Besuchern eine heitere und gelöste Stimmung erzeugen. Dazu wurde ein die Sinne überwältigendes Ambiente geschaffen. Architektonische Gestaltungselemente, verschwenderischer Umgang mit Dekorationen, Lichteffekte, Musik und Tanz, kulinarische Genüsse, erotische und humoristische Reize dienten dazu, eine „Atmosphäre des Leichten, Lockeren und Gelösten“ zu schaffen. Die Besucher bewegten sich in einem „zweckfreien Raum“, fern ihres Alltags. 6 Allerdings verlieren festliche Erlebnisse ihren Reiz, wenn sie dauernd abrufbar sind. Hierin unterschieden sich die Vergnügungsparks von Festen: Vergnügungsparks konnten, innerhalb einer meist auf die Sommermonate beschränkten Zeitspanne, jederzeit besucht werden. Damit fehlte der eigentliche Anlass zum Feiern, und es konnte sich - angesichts täglich wiederholter Superlative - eine gewisse Ermüdung einstellen. Um dennoch möglichst häufig eine besondere und festliche Atmosphäre zu schaffen, organisierten die Vergnügungsparks während des laufenden Saisonbetriebs und über das alltägliche Angebot hinaus Feste, wie etwa Rosenfeste, Weinfeste oder Kostümbälle. Vergnügungsparks lebten also davon, festliche Elemente in ihr alltägliches Programm zu integrieren und gleichzeitig immer wieder diesem festlichen Alltagsprogramm durch darüber hinausgehende Festivitäten besonderen Glanz zu verleihen. Spielerische Angebotselemente Das Spiel, so heißt es bei Roger Caillois (1913-1978), muss „als eine Quelle der Freude und des Vergnügens definiert werden“. 7 Viele von Caillois beschriebene Charakteristika des Spiels treffen auch auf die Angebote der Vergnügungsparks zu: Jede Betätigung im Vergnügungspark ist, wie stets beim Spiel, freiwillig. Allerdings existieren festgelegte Grenzen von Raum und Zeit sowie (meist) auch Regeln, die befolgt werden müssen. Wer in den Vergnügungspark geht, ist, wie im Spiel, vom Nützlichen entbunden, denn das „Spiel hat seinen Sinn nur in sich selbst“. 8 Auch wird im Spiel, Ausstellung des Ruhrlandmuseums der Stadt Essen. Essen 1992, S. 130-160; Hettling, M./ Nolte, P.: „Bürgerliche Feste als symbolische Politik im 19. Jahrhundert“. In: dies. (Hrsg.): Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert. Göttingen 1993, S. 7-36 oder Maurer, M.: „Zur Systematik des Festes“. In: ders. (Hrsg.): Das Fest. Beiträge zu seiner Theorie und Systematik. Köln u. a. 2004, S. 55-80. 6 Beide Zitate aus: Gebhardt, W.: Fest, Feier und Alltag. Über die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen und ihre Deutung. Frankfurt a. M. u. a. 1987, S. 56. 7 Caillois, R.: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. München/ Wien 1966, S. 12. 8 Ebd., S. 13. <?page no="360"?> 360 johanna niedbalski wie im Vergnügungspark, nichts produziert, denn das „Spiel ist eine Gelegenheit zur reinen Vergeudung von Zeit, Energie, Erfindungsgabe, Geschicklichkeit und oft auch von Geld“. 9 Viele Attraktionen der Vergnügungsparks lassen sich einer der Spielkategorien Roger Caillois’ zuordnen. 10 Es gab Glücksspiele (Alea), wie Verlosungen oder Würfelbuden. In Wettkampfspielen (Agôn), zu denen Wurf- und Schießbuden, Hippodrome und Ringkämpfe zählten, konnten Geschicklichkeit, Schnelligkeit, Können oder Kraft erprobt werden. Vor allem aber gehörten die Fahrgeschäfte, die Achterbahnen, Karussells oder Riesenräder und die sogenannten Belustigungsgeschäfte - beispielsweise die Laufgeschäfte, in denen die Besucher durch einen Parcours von drehbaren Rollen, schwankenden Böden und wackelnden Treppen geleitet wurden 11 - zu den Rausch-Spielen (Ilinx). Ihre Attraktivität beruhte „auf dem Begehren nach Rausch“ und ihr Reiz bestand darin, „für einen Augenblick die Stabilität der Wahrnehmung zu stören und dem klaren Bewußtsein eine Art wollüstiger Panik einzuflößen“. 12 Der Rausch der Geschwindigkeit, die Herausforderung des Gleichgewichtsinns, das Spiel mit Angst und Gefahr zeichneten die Erlebnisdimension dieser Angebotselemente der Vergnügungsparks aus. Theatrale Angebotselemente Die Erlebnisdimension der theatralen Angebotselemente bestand vor allem im Zuschauen, im Betrachten der diversen Aufführungen. Erfolg hatten vor allem solche Inszenierungen, die der Tendenz des Unterhaltungstheaters jener Zeit folgten, das Publikum mit spektakulären visuellen Effekten zu beeindrucken. 13 Zu den theatralen Angebotselementen werden zum ei- 9 Ebd., S. 12. Vgl. auch ebd.: S. 16. 10 Caillois unterscheidet vier spielerische Grundkategorien: Die Wettkampfspiele (Agôn), die Glücksspiele (Alea), die Illusionsspiele (Mimicry) und die Rauschspiele (Ilinx). Sacha-Roger Szabo versucht eine umfassende Einordnung aller Attraktionen der Vergnügungsparks in die Spielkategorien Caillois: Szabo, S.-R.: Rausch und Rummel. Attraktionen auf Jahrmärkten und in Vergnügungsparks. Eine soziologische Kulturgeschichte. Bielefeld 2006. 11 Zu den Belustigungsgeschäften vgl. Dering, F.: Volksbelustigungen. Eine bildreiche Kulturgeschichte von den Fahr-, Belustigungs- und Geschicklichkeitsgeschäften der Schausteller vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Nördlingen 1986, S. 138-143. 12 Caillois 1966, S. 32. 13 Leonhardt, N.: Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869-1899). Bielefeld 2007; Booth, M. R.: Victorian Spectacular Theatre 1850-1910. Boston/ London 1981; Schwartz, V. R.: Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin-de-Siècle Paris. Berkley u. a. 1998. <?page no="361"?> fest, spiel und theater im vergnügungspark 361 nen die vielen verschiedenen Theateraufführungen der Vergnügungsparks gezählt: Es wurden Revuen, Kabarett, Varieté und Operetten aufgeführt. Puppentheater begeisterten die jüngeren Besucher. Vor allem die nordamerikanischen Vergnügungsparks lockten mit großen Theater-Shows, die mit riesigen Ensembles arbeiteten, sowie mit mechanischen Theatern, die mit technischen Tricks und Spezialeffekten die Zuschauer verblüffen und begeistern sollten. Wichtig war auch das Kino, das sein Publikum zunächst auf Vergnügungsplätzen fand, bevor eigene Spielstätten die provisorischen Bauten ablösten. Zum anderen sollen aber auch die Schaugeschäfte zur Kategorie der theatralen Angebotselemente gezählt werden. Hier wurden, entweder auf einer Bühne oder im Freien, in varietéähnlichen Aufführungen oder als einzelne Attraktionen Artistik und Akrobatik, Abnormitäten und Kuriositäten, „exotische“ Menschen, Panoptiken und Wachsfigurenkabinette, Panoramen oder Zirkusvorstellungen vorgeführt. Die Bedeutung der Schaugeschäfte für die Angebotsstruktur der Vergnügungsplätze war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sehr groß. Erst im 20. Jahrhundert entwickelten sich die Fahrgeschäfte zu den die Plätze dominierenden Anlagen. 14 In einigen Schaugeschäften ging der Reiz aber über das bloße Zuschauen hinaus. Beispielsweise bei der Zurschaustellung „exotischer“ Menschen verwischten die Grenzen zwischen Ausstellen und Darstellen und damit auch zwischen Wissenschaft und Theater. Waren die Ausgestellten authentische „Wilde“ oder gedungene Darsteller, deren Wildheit nur „gefälscht“ war? Auch die Grenze zwischen Schauspielern und Publikum beziehungsweise zwischen Bühne und Zuschauerraum konnte mitunter verwischt werden, wenn sich etwa Besucher und „Bewohner“ der exotischen Dörfer vermischten. Diese hier vorgeschlagene Systematisierung der auf den ersten Blick unübersichtlichen Attraktionen der Vergnügungsparks ermöglicht es, die Fülle ihrer Angebotselemente zu ordnen und damit verschiedene Parks hinsichtlich ihrer Angebotsstruktur zu vergleichen. Dabei können selbstverständlich einige Attraktionen auch mehreren Kategorien zugeordnet werden: So hatte ein Kostümfest neben der festlichen auch eine spielerische Komponente, und zu den Belustigungsgeschäften gehörten neben dem rauschhaften und körperbetonten Spiel auch das Betrachten der mitspielenden Besucher. Zweck der hier vorgeschlagenen Systematisierung 14 Szabo 2006, S. 96; Dering, F.: „Die Entwicklung des Schaustellergewerbes“. In: Knocke, E. (Hrsg.): Gesammeltes Vergnügen. Das Essener Markt- und Schaustellermuseum. Essen 2000, S. 35-42, hier 35. <?page no="362"?> 362 johanna niedbalski ist also nicht, eine möglichst überschneidungsfreie Kategorisierung zu erarbeiten. Sie soll vielmehr Rückgriffe auf theoretische Überlegungen aus den Forschungen zu Fest, Spiel und Theater erleichtern, um die einzelnen Attraktionen nicht nur einordnen, sondern auch hinsichtlich ihrer jeweiligen Erlebnisdimensionen und Erfahrungsmöglichkeiten analysieren und interpretieren zu können. Denn der Reiz einzelner Attraktionen, ihre Wirkung auf die Besucher und die Aneignungspraxis durch das Publikum können aus den Quellen allein häufig nur unzureichend erschlossen werden. Obwohl das Publikum in den Parks in Massen auftrat, blieb sein Erleben und Vergnügen aufgrund mangelnder Überlieferungen häufig unartikuliert. Als systematische Ergänzung können deswegen theoretische Ansätze zum Fest, Spiel und Theater dabei helfen, die Erfahrungs- und Erlebnisdimensionen des Publikums beschreibbar zu machen und diese in Bezug auf die Angebotsstruktur der Parks zu analysieren. Anhand der folgenden drei Beispiele soll dies illustriert werden. II. Europäischer und transatlantischer Transfer von Vergnügungsattraktionen um 1900 Europa im Fest. Der Transfer europäischer Klischeebilder Ein in den Vergnügungsparks um 1900 in zahlreichen Varianten vertretenes Angebot war die stereotype Reproduktion nationaler, volkstümlicher oder exotischer Ensembles: Das Ausstellen „exotischer“ Menschen in sogenannten „Völkerschauen“ war ebenso populär wie die Darstellung europäischer Klischeebilder. 15 Um den Reiz der jeweiligen Attraktion zu steigern, griffen Schausteller und Vergnügungsparkbetreiber bei der Gestaltung von Festen, in Schaubuden, Ausstellungen oder in der Gastronomie auf vermeintlich authentische Ensembles zurück, die verschiedene europäische Regionen oder Traditionen repräsentieren sollten. Besonders beliebt waren alpine Klischees, etwa Tiroler Almhütten oder Bockbierfeste, und historisierende Ensembles wie Alt-Wien oder Alt-Berlin. 16 15 Zur Ausstellung und Darstellung von „Exotismen“ an vielen Orten und in vielen Medien um 1900 vgl. etwa die Beiträge in folgenden Sammelbänden: Honold, A./ Scherpe, K. R. (Hrsg.): Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit. Stuttgart/ Weimar 2004 oder Dreesbach, A./ Zedelmaier, H. (Hrsg.): „Gleich hinterm Hofbräuhaus waschechte Amazonen“. Exotik in München um 1900. München/ Hamburg 2003. 16 Bockbierfeste fanden in Berlin beispielsweise alljährlich in der Neuen Welt/ Hasenheide statt: Uebel, L.: Die Neue Welt an der Hasenheide. Über hundert Jahre Vergnügen und Politik. Berlin 1994, S. 36-41. Zu den historisierenden Ensembles: Zelljadt, K.: „Presenting and Consuming the Past. Old Berlin and the Industrial <?page no="363"?> fest, spiel und theater im vergnügungspark 363 Solche Ensembles, die das (mehr oder weniger) dem europäischen Kulturraum entstammende Eigene darstellten, entfalteten auf die Zuschauer eine besondere Anziehungskraft. Die gleichzeitige Ausstellung eines deutschen oder irischen Dorfes, einer Straße von Kairo und eines Südsee- Ensembles, wie beispielsweise auf der Chicagoer Weltausstellung 1893, 17 bewirkte ein „Ineinander des Exotischen und des Heimatlichen“ und damit eine Exotisierung des „Eigenen“, eine „Binnenexotik“. 18 Darüber hinaus lag aber der besondere Reiz der europäischen Klischeebilder auch in ihrer weiten und zum Teil ambivalenten Deutbarkeit durch die Besucher. Stets changierten die möglichen Lesarten zwischen einer Identifizierung mit dem „Eigenen“ und der Abgrenzung vom „Anderen“, zwischen einer nostalgischen Verklärung der Vergangenheit (beziehungsweise der vermeintlichen Natürlichkeit des Anderen) und einer fortschrittsoptimistischen Idealisierung der Gegenwart. Die Organisatoren der Ensembles wanderten dabei auf dem schmalen Grat einer größtmöglichen „Authentizität“ einerseits und zahlreichen Zugeständnissen an die Erwartungen der Besucher andererseits. 19 Neben den verschiedenen Alpen-Klischees waren Italien-Bilder ein in Vergnügungsparks gern eingesetztes Element. Zwei dieser Italien-Bilder sollen im Folgenden näher betrachtet und die transnationalen Austauschprozesse, die ihre Verbreitung und Entwicklung förderten, dargestellt werden. Zum einen beflügelte Venedig offensichtlich in besonderer Weise die Fantasie der Organisatoren und Besucher von Vergnügungsparks. In zahlreichen Varianten entstanden Nachbauten der Lagunenstadt, deren festlicher Charakter durch den Einsatz von Musik oder nächtlicher Illumination noch verstärkt wurde. Zum anderen organisierten die Betreiber der Vergnügungsparks Feste im laufenden Saisonbetrieb, die unter ein bestimmtes Italien-Motto gestellt wurden, wobei auch diese Feste häufig Variationen von Venedig-Klischees aufnahmen. Exhibition of 1896“. In: Journal of Urban History 31 (2005) Nr. 3, S. 306-333 oder Geppert, A. C. T.: „Gewerbeausstellung. Weltstadt für einen Sommer: Die Berliner Gewerbeausstellung 1896 im europäischen Kontext“. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 103 (2007) Nr. 1, S. 434-448. 17 Vgl. Ansichten der Weltausstellung und Midway Plaisance. Chicago 1894, o. S. oder Kretschmer, W.: Geschichte der Weltausstellungen. Frankfurt a. M./ New York 1999, S. 135-139. 18 Bausinger, H.: Volkskultur in der technischen Welt. Frankfurt a. M./ New York 1986, S. 93. 19 Vgl. hierzu vor allem die Studie von Martin Wörner, der sich intensiv mit volkskundlichen Ensembles auf den Weltausstellungen auseinandergesetzt hat: Wörner, M.: Vergnügen und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851- 1900. Münster u. a. 1999, insb. S. 114-123. <?page no="364"?> 364 johanna niedbalski Der spektakulärste Venedig-Nachbau war der Vergnügungspark Venedig in Wien, der zwischen 1895 und 1900 vom Wiener Theaterdirektor und -agent Gabor Steiner (1858-1944) auf einem Teilgelände des Wiener Praters betrieben wurde. Auf einer Fläche von fünf Hektar wurden berühmte Bauwerke Venedigs nahezu originalgetreu nachgebaut, wobei die Attrappen massive Gebäude waren, in denen Souvenirläden, Gastronomie oder Schauwerkstätten untergebracht waren. Auf den künstlichen Kanälen konnten die Besucher in venezianischen Gondeln, die von „echten“ Gondolieri gesteuert wurden, das Gelände erkunden. Auch das Rahmenprogramm der Kulissenstadt orientierte sich in den ersten Jahren ihres Bestehens 20 an italienischen Motiven: Italienische Sängergruppen und Musikkapellen traten auf und erlangten hohe Popularität, eine Ballettvorführung nannte sich Venezia, Glasbläser aus Murano führten ihr Handwerk vor, es gab Festveranstaltungen mit Karnevalsbräuchen und gespeist wurde unter anderem in einer Osteria. 21 In seinen Lebenserinnerungen hält Gabor Steiner fest, dass ihn ein anderes Spektakel, das bereits einige Jahre zuvor in London stattgefunden hatte, zu seiner Kulissenstadt inspiriert hatte. 22 In der für die damalige Zeit riesigen Ausstellungshalle Olympia wurde 1891/ 92 Venice. The Bride of the Sea inszeniert. (Abb. 51) Diese Indoor-Schaustellung vereinte eine Venedig nachempfundene Stadt- und Kanallandschaft, die durch Gondolieri und deren Frauen belebt wurde, mit der Ausstellung von venezianischem Kunsthandwerk und groß angelegten Theater- und Ballettaufführungen. 23 Organisiert wurde Venice in London, wie die Schau auch häufig genannt wurde, durch den Impresario Imre Kiralfy (1845-1919). Kiralfy hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine internationale Karriere hinter sich. Er war seit seiner frühen Kindheit als Musiker und Tänzer aufgetreten, inszenierte vor allem in den USA zahlreiche aufwendige Theater-Shows - teilweise in Kooperation mit dem legendären Zirkus- und Showdirektor Phineas Taylor Barnum (1810-1891) - und wirkte an verschiedenen Ausstellungen mit, unter anderem in Brüssel und Chicago, bevor er London als seinen 20 Zunehmend wurden auch andere Attraktionen eingeführt: Spanische Sängerinnen, Ringkämpfe, eine Wasserrutschbahn und das bis heute als Wahrzeichen Wiens bekannte Riesenrad bereicherten das Programm des Etablissements. 21 Zu den einzelnen Attraktionen von Venedig in Wien: Rubey, N./ Schoenwald, P.: Venedig in Wien. Theater- und Vergnügungsstadt der Jahrhundertwende. Wien 1996, insb. S. 75-88; Pemmer, H./ Lackner, N.: Der Prater. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neu bearbeitet von Düriegl, G./ Sackmauer, L. 22 Steiner, G.: „Als Wien frohe Feste feierte… Gründung und Glanzzeit der Vergnügungsstadt ‚Venedig in Wien‘“. In: Illustrierte Wochenpost 14. 11. 1930. 23 Eine ausführliche Schilderung des Spektakels: „Venice in London“. In: New Zealand Tablet 26. 2. 1892. <?page no="365"?> fest, spiel und theater im vergnügungspark 365 Lebens- und Arbeitsort wählte. 24 Als Organisator groß angelegter Theater- und Ausstellungsspektakel profitierte Imre Kiralfy zweifellos von seinen transnationalen Kontakten und inspirierte, das zeigt das Beispiel Gabor Steiners, andere Künstler und Impresarios. Obwohl Kiralfy sein überaus erfolgreiches Londoner Hallen-Venedig gerne in die USA exportiert hätte, scheiterte dieses Unterfangen - angeblich, weil dort keine Halle in ausreichender Größe zur Verfügung stand. 25 Dennoch blieb die Idee eines Nachbaus von Venedig nicht auf europäische Vergnügungsparks beschränkt. Auch in den USA wurde Venedig als romantische Kulisse geschätzt. Von 1904-1907 gab es etwa im Dreamland, einem der drei großen Vergnügungsparks in Coney Island, eine Attraktion, die Canals of Venice genannt wurde. Auch Canals of Venice war eine Indoor-Attraktion. Innerhalb eines verkleinert nachgebauten Dogenpalasts wurde die Stadt durch auf Leinwände gemalte Bilder nachempfunden. Die Hauptattraktion war wie in Wien und London die Gondelfahrt auf dem Canal Grande. Das Ambiente wurde durch Darsteller belebt, die als Straßensänger oder Restaurantgäste auftraten. 26 Während diese Venedig-Nachbauten die Besucher für mehrere Monate, meist sogar für mehrere Jahre anziehen sollten, wurden Italien-Klischees auch auf Festen eingesetzt, die während der laufenden Sommersaison an ausgewählten Tagen mit einem bestimmten Italien-Motto gefeiert wurden. Im Berliner Lunapark - zwischen 1910 und 1933 Berlins bekanntester und größter Vergnügungspark - wurden beispielsweise im Sommer 1911 zwei Italien-Feste veranstaltet. Die Anzeigen der Tagespresse geben Auskunft darüber, was man sich unter einer Nacht in Venedig oder einer Italienischen Nacht vorzustellen hatte: „Venezianische und Neapolitanische Strassensänger“ wurden angekündigt, sowie „Künstlerische Dekoration auf dem Halensee Blick auf den Markusplatz, Dogenpalast, Canal Grande, Moli etc.“. 27 Außerdem lockten eine „Konfettischlacht“ und „Luftschlangen“, besonders viele Musikkapellen, eine prunkvolle nächtliche Illumination und verlängerte Öffnungszeiten des gesamten Etablissements. 28 Auch im Volksgarten Nymphenburg in München wurden italie- 24 Weiteres zur Person Kiralfys, u. a. auch zu seinen imperialen Ausstellungsprojekten: Geppert, A. C. T.: London vs. Paris: Imperial Exhibitions, Transitory Spaces, and Metropolitan Networks, 1880-1930. Phil. Diss. Florenz 2004, S. 171-178 und Hotta-Lister, A.: The Japan-British Exhibition of 1910. Gateway to the Island Empire of the East. Richmond 1999, S. 39-41. 25 New York Times 7. 9. 1893. 26 Koolhaas, R.: Delirious New York. Ein retroaktives Manifest für Manhattan. Aachen 1999, S. 51. 27 Anzeige in der B. Z. am Mittag 29. 7. 1911. 28 Anzeige in der B.Z. am Mittag 24. 8. 1911. <?page no="366"?> 366 johanna niedbalski nische Feste ausgerichtet. In einer Anzeige aus dem Jahre 1891 wurde die nächtliche Illumination des Etablissements durch Lampions, elektrisches Licht und durch ein Feuerwerk, das den Ausbruch des Vesuvs darstellen sollte, angekündigt. 29 Solche Anzeigentexte geben zwar nicht unbedingt das tatsächliche Geschehen auf den Festen wieder, aber sie verdeutlichen, welche Komponenten ein gelungenes Fest im Vergnügungspark aufweisen musste: Ein bestimmtes Motto, unter dem gefeiert wurde, eine spektakuläre, am besten elektrische Illumination, verschiedene musikalische Angebote, besonders aufwendige Dekorationen und - meist als Höhepunkt der Veranstaltung - ein Feuerwerk. Die zahlreichen Attraktionen und Feste, die auf Venedig Bezug nahmen, zeigen, wie weit verbreitet die mit der Stadt assoziierten Motive bereits im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert waren. Die besondere Lage der Lagunenstadt und die ihr eigene Kombination von Architektur und Wasser, die politische Geschichte der Republik Venedig und die kulturgeschichtliche Bedeutung der Stadt evozierten ein romantisches Gesamtbild, das durch die Künste, durch Literatur, durch Musik, aber auch bereits durch den Tourismus weite Verbreitung erlangte. 30 Deswegen umfasst der „Bedeutungsraum ‚Venedig‘“ mehr als nur den Ort in Oberitalien, er umfasst „den ganzen Kosmos von Bildern und Vorstellungen, die durch ihn zirkulieren“. 31 Diese romantisch-exotischen Bilder und Bedeutungen waren bei einem internationalen Publikum abrufbar und ließen sich immer wieder in ökonomisch erfolgreiche Vergnügungsattraktionen umsetzen. 32 Bei den Venedig-Nachbauten und den italienischen Festen in Vergnügungsparks handelte es sich um den Transfer einer Idee für ein Vergnügungsangebot. Diese Idee wurde von verschiedenen Akteuren an verschiedenen Orten zu ähnlichen Attraktionen umgesetzt und konnte offensichtlich sowohl in europäischen als auch in US-amerikanischen Vergnügungsparks Erfolge feiern, weil dem Publikum Motive geboten wurden, die ihm bereits aus anderen Zusammenhängen vertraut waren. 29 Zum Volksgarten Nymphenburg: Weisser, J.: Zwischen Lustgarten und Lunapark. Der Volksgarten Nymphenburg (1890 -1916) und die Entwicklung der kommerziellen Belustigungsgärten. München 1998. Zu den Italienischen Nächten vgl. Ebd., S. 217-218. 30 Plant, M.: Venice. Fragile City 1797-1997. New Haven/ London 2002, insb. S. 182-184 und S. 195-225. 31 Bieger, L.: Ästhetik der Immersion. Raum-Erleben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington und die White City. Bielefeld 2007, S. 146 [Hervorhebung im Original]. 32 Der Venedig-Mythos wird bis heute in kommerziellen Vergnügungswelten eingesetzt. Das Hotel-Kasino Venetia in Las Vegas beispielsweise wird beschrieben in: Bieger 2007, S. 194-206. <?page no="367"?> fest, spiel und theater im vergnügungspark 367 Spiele mit Geschwindigkeit. Die Entstehung der Hochfahrgeschäfte als transnationaler Prozess Die umgangssprachlich als „Achterbahnen“ bezeichneten Gebirgs-, Gebirgsszeneriebeziehungsweise Rutschbahnen, zusammengefasst unter der fachlichen Bezeichnung „Hochfahrgeschäfte“, 33 gehörten zu den aufwendigsten und umstrittensten Attraktionen der Vergnügungsparks um 1900. Die Entwicklung der Hochfahrgeschäfte vollzog sich als ein mehrere Jahrzehnte währender transnationaler Prozess, an dem zahlreiche Erfinder, Ingenieure, Unternehmer und Agenten beteiligt waren. Der besondere Reiz der Hochfahrgeschäfte lag für die Fahrgäste in dem rauschhaften Spiel (Ilinx) mit Geschwindigkeit und möglicher Gefahr. Gegen ein geringes Eintrittsgeld konnten die Besucher bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auf den Vergnügungsplätzen zuvor ungeahnte Geschwindigkeiten erleben. Bis heute sind sie fasziniert durch die „wollüstige Panik“, 34 die sich einstellt, wenn sich während der Fahrt plötzlich Abgründe auftun, durch den Verlust von Stabilität, der zu einem rauschartigen Zustand führen kann und durch die Illusion, der Schwerkraft trotzen zu können. 35 Dem besonderen Reiz dieser extremen Vergnügungspark-Attraktionen wird mit der vergleichsweise ausführlichen Behandlung der roller coaster vor allem in der US-amerikanischen Forschungsliteratur entsprochen. Auch die internationale Entwicklungsgeschichte der Hochfahrgeschäfte wurde bereits relativ ausführlich beschrieben; allerdings erweisen sich viele Details bei näherer Betrachtung eher als Anekdoten oder Legenden. Die Hochfahrgeschäfte wurden, folgt man der am häufigsten kolportierten Geschichte, in Russland erfunden. 36 Große Popularität erlangten dort künstliche Eisberge in Form hölzerner Rampen, deren schräge 33 Die verschiedenen Bezeichnungen und ihre Verwendung werden am besten erklärt bei: Dering 1986, S. 119. Anders als in Derings Arbeit sollen aber hier die Rutschbahnen als Teil der „Hochfahrgeschäfte“ behandelt werden, wie es auch in der amerikanischen Literatur üblich ist (s. u.). Denn in ihrer Entstehungsgeschichte lassen sich beide Formen kaum sinnvoll voneinander trennen. 34 Caillois 1966, S. 32. 35 Schon Mitte des 19. Jahrhunderts wurde mit Loopingbahnen experimentiert, beispielsweise 1846 in Berlin in Kroll’s Etablissement: Reichhardt, H. J.: … bei Kroll 1844 bis 1957. Etablissement, Ausstellungen, Theater, Konzerte, Oper, Reichstag, Gartenlokal. Berlin 1988, S. 19-21. Zu den Reizen und Gefahren der frühen Vergnügungsparks: Mohun, A. P.: „Designed for Thrills and Safety. Amusement Parks and the Commodification of Risk 1880-1929“. In: Journal of Design History 4 (2001) Nr. 4, S. 291-306 oder Bennett, T.: The Birth of the Museum. History, Theory, Politics. London/ New York 1995, S. 237-242. 36 Für das Folgende: Cartmell, R.: The Incredible Scream Machine. A History of the Roller Coaster. Bowling Green/ Ohio 1987, S. 19-33. <?page no="368"?> 368 johanna niedbalski Flächen mit Eisquadern bedeckt waren und die auf Schlitten oder sogar Schlittschuhen befahren wurden. Um das Vergnügen nicht auf den Winter beschränken zu müssen, wurden die Rampen in den Sommermonaten mit Wagen befahren. Von Russland aus - so lautet die gängige Erzählung - gelangten die Bahnen im frühen 19. Jahrhundert nach Frankreich und verbreiteten sich von dort aus weiter über Europa. Diese Version der Geschichte der Hochfahrgeschäfte ist vermutlich auch deswegen so populär, weil sie klare Akteure des Kulturtransfers benennt: Die aus den Napoleonischen Kriegen heimkehrenden Soldaten haben die „russischen Rutschbahnen“ nach Frankreich gebracht. 37 Zumindest dieser Teil der Geschichte ist sicher eine Legende, da es bereits vor dem Russlandfeldzug Napoleons Rutschbahnen in Frankreich gab. 38 Auf welchem Wege sie auch nach Frankreich gelangt sein mögen: Im Paris des frühen 19. Jahrhunderts eröffneten mehrere spektakuläre Rutschbahnen. Sie profitierten bereits von zahlreichen technischen Innovationen, so dass sie wenig mit den ursprünglichen primitiven Anlagen gemein hatten. Vor allem die 1817 eröffnete Promenades Aériennes erinnerten aufgrund der Größe der Anlage, der hohen Spitzengeschwindigkeit sowie der geschlossenen Schienenführung bereits an moderne Hochfahrgeschäfte. 39 Ebenfalls eine Legende ist die Erzählung, derzufolge sich die Bahnen, nach ihrem Transfer nach Paris, von Frankreich aus weiter in Europa verbreiteten. Denn es lassen sich auch andere Rutschbahnen-Transfers nachweisen, unabhängig von den Pariser Anlagen. Überliefert ist etwa die Entstehung einer im Vergleich mit den Promenades Aériennes sehr viel einfacheren Bahn auf der Berliner Pfaueninsel. Hier war es König Friedrich Willhelm III., der nach einer Reise nach Russland 1818 die Rutschbahn direkt und ohne Umweg über Paris nach Berlin auf die Pfaueninsel brachte. 40 Obwohl sich diese Rutschbahnen im 19. Jahrhundert in Europa großer Beliebtheit erfreuten und auf vielen Vergnügungsplätzen - vom Lustgarten des Adels bis zum Rummelplatz - vertreten waren, 41 wird die „Erfindung“ 37 So zumindest heißt es bei: Dering 1986, S. 51; Weisser 1998, S. 65 oder Lehmann, A.: Zwischen Schaubuden und Karussells. Ein Spaziergang über Jahrmärkte und Volksfeste. Frankfurt a. M. 1952, S. 42. 38 Cartmell 1987, S. 20-21. 39 Beschreibungen und Abbildungen der Anlage bei: Dering 1986, S. 53-54 und bei Cartmell 1987, S. 21-24. 40 Seiler, M.: „Die russische Rutschbahn auf der Pfaueninsel“. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 89 (1993) Nr. 2, S. 118-124. Reste dieser Bahn sind bis heute erhalten. 41 Allein in Berlin und Umgebung gab es an verschiedenen Orten im Laufe des 19. Jahrhunderts mindestens neun verschiedene (Wasser)Rutschbzw. Rodelbahnen. <?page no="369"?> fest, spiel und theater im vergnügungspark 369 der modernen Hochfahrgeschäfte in der Literatur häufig allein dem US- Amerikaner La Marcus Adna Thompson (1848-1919) zugeschrieben. 42 Dafür verlieh man Thompson, einem passionierten Bastler und Erfinder aber auch erfolgreichen Geschäftsmann, den Titel „Father of the Gravity Ride“. Als seine Inspirationsquelle gelten allerdings nicht die auf europäischen Vergnügungsplätzen so beliebten Rutschbahnen - die es, glaubt man der Literatur zur Geschichte der roller coaster, in den USA gar nicht gab - sondern eine Transportbahn für Kohle im US-Bundesstaat Pennsylvania. Die Mauch Chunk Switchback Railway war ursprünglich konzipiert worden, um abgebaute Kohle einer in den Bergen gelegenen Mine ins Tal zu befördern. 1872 wurde die „Fracht“ von Kohle auf Touristen umgestellt, die in Scharen kamen, um sowohl den „Thrill“ einer Fahrt über ein Gefälle von knapp 350 Metern Höhe, als auch die Aussicht auf die Bergkulisse zu genießen. 43 Auch Thompsons Bahnen wollten beide Reize - die schnelle Fahrt und eine interessante Aussicht - miteinander verbinden. 1884 eröffnete er seine erste Gebirgsbahn, die Switchback Railway, am Strand von Coney Island. 44 Allerdings ähnelte die Switchback Railway in ihrer Bau- und Funktionsweise sowie ihrer äußeren Gestalt den europäischen Rutschbahnen so sehr, dass eine neue „Erfindung“ ohne Kenntnisse der Rutschbahnen Europas durch L. A. Thompson wenig wahrscheinlich ist. 45 Die Switchback Railway wurde in Coney Island zu einem solchen Erfolg, dass Thompson immer neue Bahnen baute, immer neue Patente für technische Verbesserungen anmeldete und zum erfolgreichen Vergnügungs-Unternehmer avancierte, der sowohl eigene Vergnügungsparks betrieb als auch andere Vergnügungsparks mit Fahrgeschäften belieferte. 46 Bereits drei Jahre nach der Switchback Railway baute Thompson seine 42 Blume, T.: „Oder die Welt gerät Tempo, Tempo vollständig aus den Fugen“. In: Bittner, R. (Hrsg.): Urbane Paradiese. Zur Kulturgeschichte modernen Vergnügens (Edition Bauhaus 8). Frankfurt a. M./ New York 2001, S. 36-52, hier 47; Adams, J. A.: The American Amusement Park Industry. A History of Technology and Thrills. Boston 1991, S. 12-18. Auch Cartmell, der den europäischen Bahnen ein langes Kapitel widmet, scheint keine Verbindung zwischen den europäischen Bahnen und der „Erfindung“ der Roller Coaster durch L. A. Thompson ausmachen zu können: Cartmell 1987, S. 34. 43 Zur Mauch Chunk Switchback Railway sowie zur Biografie Thompsons vgl. Cartmell 1987, S. 34-41 und S. 42-54. 44 Kasson 1972, S. 74 oder Immerso 2002, S. 96. 45 Abbildungen und Beschreibungen der Switchback Railway in: Cartmell 1987, S. 45. Zum Vergleich: Eine sehr schöne Lithographie der 1843 eröffneten Rutschbahn des Kopenhagener Tivolis befindet sich in: Dering 1986, S. 54. 46 L. A. Thompson war allerdings nicht der einzige Erfinder und Unternehmer im Roller Coaster-Geschäft. Zu weiteren Akteuren in diesem Bereich vgl. Mohun 2001, S. 297-302 und Cartmell 1987, S. 55-71 und S. 117-136. <?page no="370"?> 370 johanna niedbalski erste scenic railway, eine Gebirgsszeneriebahn. Bei diesen Bahnen ist der visuelle Reiz, das Betrachten der Aussicht, von größerer Bedeutung als bei den gewöhnlichen roller coastern. Deswegen wurden die Züge nun über Schienenwege geleitet, die an aufwendig gestalteten Kulissen vorbeiführten. Beliebt waren Gebirgslandschaften mit Grotten und Wasserfällen, aber auch historische oder fantastische Szenen. 47 Wie bereits ausgeführt, lässt sich eine direkte Verbindung zwischen den frühen europäischen Rutschbahnen und der „Erfindung“ der Hochfahrgeschäfte durch L. A. Thompson nicht nachweisen. Der umgekehrte Transfer allerdings, die Übernahme der amerikanischen Bahnen auf europäische Vergnügungsplätze, kann nachgewiesen und auf konkrete Personen zurückgeführt werden. So befand sich beispielsweise die spektakulärste und am längsten betriebene Gebirgsszeneriebahn Berlins im Lunapark in Halensee. Gebaut wurde die Bahn von der britischen Tochtergesellschaft der Firma von L. A. Thompson, der L. A. Thompson Scenic Railways Continental Ltd. mit Sitz in London, die auch Anteilseigner der Betreibergesellschaft des Lunaparks war. 48 Organisiert wurde der Transfer der Bahnen nach Europa und ihre Verbreitung innerhalb Europas durch den Briten John Henry Iles (1871-1951). Iles erlangte vor allem als Förderer von brass bands in Großbritannien Berühmtheit. Weniger bekannt ist, dass er auch die europäischen Rechte an den patentierten Bahnen L. A. Thompsons erwarb und Gebirgsszeneriebahnen, zunächst in Blackpool und London, später auch in anderen Vergnügungsparks errichtete. 49 In Berlin fungierte Iles als Vertreter der L. A. Thompson Scenic Railways Continetal Ltd. und war gleichzeitig Hauptfinanzier und einige Jahre lang Geschäftsführer der Betreibergesellschaft des Lunaparks. 50 Die Gebirgsszeneriebahn des Lunaparks war also in ihrer ursprünglichen Gestalt ein Produkt des „Father of the Gravity Ride“. 47 Bisweilen wurden diese Bahnen in Hallen gebaut, etwa die berühmten Dragon’s Gorge im Lunapark in Coney Island: Cartmell 1987, S. 30 und S. 47-51. 48 Bauzeichnungen der Bahn in: Landesarchiv Berlin (LAB) B Rep. 209 Nr. 862. 49 Die erste Gebirgsszeneriebahn errichtete Iles 1906 (oder 1907) im Vergnügungspark Blackpool Pleasure Beach, es folgte 1908 eine Bahn auf der Franco-British- Exhibition in London. Iles beteiligte sich neben dem Berliner Lunapark auch an Vergnügungsparks in Barcelona, Kairo, Brüssel, Kopenhagen, Paris und Pittsburgh: Russell, D.: „Iles, (John) Henry (1871-1951)“. In: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004: http: / / www.oxforddnb.com/ view/ article/ 48777 [Zugriff: 8. 9. 2009]. Zu den Bahnen, die Iles baute vgl. auch: Cross, G. S./ Walton, J. K.: The Playful Crowd. Pleasure Places in the Twentieth Century. New York 2005, S. 47 und Cartmell 1987, S. 49. 50 Iles investierte 1.195.000 Mark in die Gründung des Berliner Lunaparks: LAB A Rep. 342-02 Nr. 757. <?page no="371"?> fest, spiel und theater im vergnügungspark 371 Bis zum Ersten Weltkrieg präsentierte sich die Szeneriebahn des Lunaparks in einer klassischen Gebirgsdekoration. (Abb. 52) Seit den 1920er Jahren allerdings nahm sie eine eigenständige künstlerische Entwicklung. Der Maler Josef Fenneker (1895-1956) stattete 1920 und 1921 die Bahn mit einem abstrakten Gemälde aus. Die Bahn „bietet sich jetzt mit riesenhaften Farbklexen als kubistische Schnellbahn dar“, 51 notierte die Vossische Zeitung. (Abb. 53) Im folgenden Jahr waren es „expressionistische Kurven“ 52 in „jahrmarktsbunter Festlichkeit“. 53 Diese abstrakten Dekorationen hatten kein Vorbild in den ursprünglich amerikanischen Gebirgsszeneriebahnen. Die Gestaltung durch bekannte Künstler zeigte vielmehr die Emanzipation vom ursprünglichen Erbauer und die vielfältigen Möglichkeiten der eigenständigen Entwicklung der Hochfahrgeschäfte. Die Entstehung der Hochfahrgeschäfte war ein langer Prozess, an dem zahlreiche Akteure beteiligt waren und der die Attraktion von Ostnach Westeuropa, über den Atlantik und wieder zurück nach Europa führte. Der Transfer erfolgte auf unterschiedliche Weise und nicht jeder Transferweg lässt sich heute noch nachvollziehen. Mit einigen Hochfahrgeschäften wurde aber - im Gegensatz zu den Venedig-Nachbauten - nicht nur die Idee eines Vergnügungsangebots, sondern eine ganz konkret materialisierte und patentierte Attraktion transferiert. Dennoch waren (und sind) Hochfahrgeschäfte wandelbar und wurden von neuen Akteuren an verschiedenen Orten immer wieder künstlerisch variiert und technisch weiterentwickelt. Johnstowns Untergang. Der Export eines Katastrophentheaters Johnstown Flood nannten sich Katastrophenspektakel, die die Überflutung der Stadt Johnstown in Pennsylvania als mechanische Theaterstücke mit zahlreichen special effects auf die Bühne brachten. Die theatrale Inszenierung von Katastrophen, die zur Unterhaltung einer staunenden Menge dargeboten wurden, war selbstverständlich keine Erfindung der Vergnügungsparks. Vielmehr gibt es eine lange Tradition solcher Spektakel, etwa reisende Schausteller und Sänger, die auf Theaterbühnen und öffentlichen Plätzen von „schrecklichen“ Ereignissen berichteten. 54 Auch im frühen 20. Jahrhundert hielt die Faszination für Katastrophentheater 51 Vossische Zeitung 23. 5. 1920. 52 Der Berliner Westen 6. 5. 1921. 53 Vossische Zeitung 7. 5. 1921. 54 Vgl.: Nelle, F.: Künstliche Paradiese. Vom Barocktheater zum Filmpalast. Würzburg 2005, S. 19-23 sowie Kilian, G.: „Bänkelsang“. In: Ziessow, K.-H./ Meiners, U. (Hrsg.): Zur Schau gestellt. Ritual und Spektakel im ländlichen Raum (Arbeit und Leben auf dem Lande 8). Cloppenburg 2003, S. 109-115. <?page no="372"?> 372 johanna niedbalski an. In den nordamerikanischen Vergnügungsparks waren möglichst plastische und realistische Inszenierungen zentrale Angebotselemente, wie etwa die beiden Feuer-Shows Fighting the Flames beziehungsweise Fire and Flames, die ab 1904 in den großen Parks Coney Islands über mehrere Saisons zu Publikumsmagneten wurden. 55 Im Lunapark zeigte zum Beispiel ein riesiges Ensemble von über 650 Frauen, Männern und Kindern den Brand eines New Yorker Häuserblocks, die Löscharbeiten und die erfolgreiche Rettung der Bewohner durch die Feuerwehr. 56 Der Erfolg dieser Inszenierung beruhte auf einer Ästhetisierung der Katastrophe. Tatsächliche oder fiktive Katastrophenszenarien wurden für ein breites Publikum sinnlich erfahrbar dargeboten, wobei das Betrachten der Katastrophe zunächst keine Auswirkungen auf die Realität der Zuschauer hatte. 57 Allerdings zeigt die Themenwahl der Katastrophentheater, dass an kollektiv empfundene Bedrohungen und Ängste angeknüpft wurde. Die Inszenierung von Feuersbrünsten, Flutkatastrophen, Erdbeben oder Stürmen führte den Menschen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in ästhetisch aufbereiteter Form die trotz allen Fortschritts nicht vollständig gebannten Kräfte der Natur vor Augen. 58 Wichtig war die Rolle der Technik in den jeweiligen Inszenierungen. Sowohl das tragische Scheitern der modernen Technik als auch ihr Triumph über die Naturgewalten wurden auf der Bühne dargestellt. Von zentraler Bedeutung war aber auch der Einsatz modernster Bühnentechnik, um die Illusion stets so realistisch und damit für die Zuschauer so beeindruckend wie irgend möglich zu gestalten. Aber zurück zur Flutkatastrophe von Johnstown: Die Stadt wurde 1889 nach einem Dammbruch überflutet und zerstört, mehr als 2000 Menschen fanden den Tod, tausende Bewohner wurden obdachlos. Über mehrere Jahrzehnte blieb das Schicksal der Stadt in verschiedenen Medien der 55 Sally, L.: „Luna Park’s Fantasy World and Dreamland’s White City: Fire Spectacles at Coney Island as Elemental Performativity“. In: Lucas, S. A. (Hrsg.): The Themed Space. Locating Culture, Nation, and Self. Lanham u. a. 2007, S. 39-55, hier 42-43. Eine Beschreibung des Spektakels im Vergnügungspark Dreamland ist zu finden in: Koolhaas 1999, S. 52-54. 56 Neben solchen für die Zuschauer „lebensnahen“ Katastrophen wurden auch andere, exotischere bzw. historische Unglücke inszeniert: Der Untergang Pompejis, das Erdbeben von San Francisco oder der Ausbruch des Vulkans Mont Pelé in Martinique waren ebenfalls beliebte Themen für theatrale Katastropheninszenierungen. Vgl. etwa: Kasson 1972, S. 71-72. 57 Schläder, J.: „‚Gnade für unsere Verbrechen! ‘ Katastophen-Dramaturgie auf dem Theater des 19. und 20. Jahrhunderts“. In: Schläder, J./ Wohlfahrt, R. (Hrsg.): AngstBilderSchauLust. Katastrophenerfahrungen in Kunst, Musik und Theater. Leipzig 2007, S. 85-104. 58 Zur Rolle der Elemente bei den Katastropheninszenierungen und dem von der Autorin entwickelten Konzept der „Elemental Performativity“ vgl. Sally 2007, S. 47-52. <?page no="373"?> fest, spiel und theater im vergnügungspark 373 US-amerikanischen Populärkultur präsent: Bücher, Groschenromane, Lithographien und Filme entstanden und verbreiteten die Geschichte der Katastrophe. 59 Auch in Vergnügungsparks wurde die Flutkatastrophe in Unterhaltungsangebote umgewandelt und vermarktet. Für die Pan-Amerikanische Ausstellung 1901 in Buffalo wurde ein technisches Illusionstheater entwickelt, das aufgrund seiner überzeugenden Effekte die Zuschauer für sich einnahm. 60 Ein Berichterstatter beschrieb das Theater folgendermaßen: As a mechanical representation of […] the setting and rising of the sun, the […] effulgence of the full moon, the thunder and lightning of a terrifying electric storm and, finally, the stupendous burst of water that came over the town of Johnstown with the break of the dam, the show is a spectacle of impressive dignity and life-like appeal. 61 Zwischen 1903 und 1906 wurde die Show in Coney Island an prominenter Stelle auf der Surf Avenue gezeigt und erfreute sich großer Beliebtheit. 62 (Abb. 54) Eine andere mechanische Theaterinszenierung der Überflutung der Stadt Johnstown wurde durch Joseph Menchen entwickelt, einem amerikanischen Ingenieur, der elektrische Anlagen für Theaterbühnen und das frühe Kino herstellte und vertrieb. 63 Mit dieser Attraktion versuchten Schausteller um 1910, das Drama der Flutkatastrophe dem europäischen Publikum nahe zu bringen. Das Theater gastierte auf Vergnügungsplätzen in London, Paris und Stockholm, bis es 1911 im Berliner Lunapark Einzug hielt. 64 59 Zur Verbreitung der Flutkatastrophe in der US-amerikanischen Populärkultur vgl. die Internetpräsenz des Johnstown Flood Museums: http: / / www.jaha.org/ Flood Museum/ remembering.html [Zugriff: 10. 11. 2011]. 60 Die Fassade des Gebäudes, in dem die Johnstown Flood gezeigt wurde, wurde von Frederic Thompson (1872-1919) entworfen, der zwei Jahre später als Besitzer und kreativer Leiter des Luna Parks in Coney Island Berühmtheit erlangte und auf der Ausstellung in Buffalo seine legendäre Attraktion Trip to the Moon präsentierte. Gleichzeitig fungierte er dort als leitender Architekt des Vergnügungsareals. Vgl. Register, W.: The Kid of Coney Island. Fred Thompson and the Rise of American Amusements. Oxford/ New York 2001, S. 67-68. 61 Barry, R.: Snap shots on the Midway of the Pan-Am-Expo at Buffalo. Buffalo 1901, S. 44. 62 Immerso 2002, S. 102. Die anhaltende Beliebtheit der Attraktion, zumindest in den Jahren 1903 und 1904, lässt sich durch die zahlreichen Hinweise in der New York Times dieser Sommermonate belegen: Vgl. zum Beispiel New York Times 6. 9. 1903, 19. 6. 1904 oder 26. 6. 1904. 63 Da über Joseph Menchen nur wenig bekannt ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob er eine gänzlich eigene Version der Johnstown Flood entwickelt hat oder ob die Attraktion eventuell sogar die gleiche ist, wie die in Coney Island gezeigte und 1906 abgebaute Show. Zu Joseph Menchen vgl. Anzeige in: The New York Clipper 12. 1. 1907 sowie eine Notiz in der New York Times 26. 7. 1905. 64 Vgl. Anzeigentexte in: B.Z. am Mittag 6. 6. 1911 und in: Der Komet 10. 8. 1912. <?page no="374"?> 374 johanna niedbalski An den Pfingstfeiertagen 1911 warb der Lunapark damit, die „größte elektrotechnische Lichtschau der Welt“ zu präsentieren, eine „sensationelle Attraktion“, die es „zum ersten Male in Berlin“ 65 zu sehen gäbe. Aus den Akten der Berliner Theaterpolizei geht hervor, wie diese Lichtschau funktionierte: Zur Darstellung wird nur ein einziges Schaustück gelangen, welches den Untergang der Stadt Johnstown darstellen soll. Zu diesem Zwecke werden eiserne Koulissen dauernd aufgestellt, während an der Hinterwand ein aus Asbest hergestelltes Projekt aufgehängt und dauernd nicht verändert werden soll. Unter Zuhilfenahme von Beleuchtungs-Effekten in Verbindung mit einer Regenvorrichtung, die von oben her zur Wirkung kommt, und unter Zuströmen von Dampf am Fußboden und von den Seiten her, welcher von Außerhalb hergeleitet wird, soll die Illusion eines Untergangs der Stadt erzeugt werden. 66 Da keine Schauspieler auf der Bühne waren - lediglich zwei Techniker bedienten hinter der Bühne die gesamte Anlage - galt die Veranstaltung offiziell nicht als Theater und unterlag weniger strengen behördlichen Auflagen. Der Zuschauerraum war für 1200 Personen ausgelegt; die Vorstellung dauerte etwa eine halbe Stunde und wurde so oft wiederholt, wie Zuschauer in den Saal kamen. 67 Geplant war also, dass täglich mehrere tausend Zuschauer das Spektakel besuchen sollten. Erstaunlich ist, dass Johnstowns Untergang keinerlei Echo in der Berliner Presse fand, obwohl die Show zunächst als zentrale Attraktion des Jahres gefeiert wurde und der Lunapark 1911 mit anderen Themen durchaus in der Presse präsent war. 68 Bereits in der folgenden Saison wurde die Attraktion nicht mehr angekündigt - offensichtlich blieben die erhofften Besuchermassen aus. Möglicherweise waren um 1910 die Zeiten der Faszination für Lichtschauen und mechanische Theater vorbei, weil der Film sich inzwischen als viel „authentischeres“ Medium etabliert hatte. Möglicherweise kann aber Johnstowns Untergang auch als Beispiel für einen misslungenen Transfer einer in den USA entwickelten Attraktion angesehen werden. Die Inszenierung wurde, ohne irgendwelche Zugeständnisse an das lokale Publikum, buchstäblich „importiert“. Im Gegensatz zum amerikanischen war aber dem Berliner Publikum die Geschichte dieser Flutkatastrophe 65 Zitate aus der Anzeige im Berliner Tageblatt 4. 6. 1911. 66 Schreiben der Polizei Schöneberg-Wilmersdorf vom 8. 8. 1910. In: LAB A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 3838. 67 Ebd. 68 Mehrmals wurde etwa über die Eröffnung der Straße von Kairo an den Pfingstfeiertagen 1911 berichtet. Vgl. Berliner Tageblatt 2. 6. 1911 oder Berliner Morgenpost 7. 6. 1911. <?page no="375"?> fest, spiel und theater im vergnügungspark 375 nicht bereits durch zahlreiche andere populäre Medien geläufig, so dass das Drama weder an eine bekannte Geschichte noch - wie etwa bei den Nachbauten Venedigs - an eine vertraute Kulisse anknüpfen konnte. Da Johnstowns Untergang keinerlei Angebote für eine neue Kontextualisierung nach dem Transfer anbot, gelang auch den Zuschauern keine Aneignung des in der Schau gezeigten Stoffs. *** Für die Untersuchung der Transferprozesse des kommerziellen Vergnügens eignen sich Vergnügungsparks besonders gut, da sie durch die Vielseitigkeit ihres Programms das gesamte Spektrum der Unterhaltungsangebote dieser Jahrzehnte in sich vereinten. Dadurch lassen sich Entwicklungen des Vergnügungssektors in den Parks besonders fokussiert betrachten. Anhand der drei ausgewählten Beispiele wurde gezeigt, dass das kommerzielle Vergnügen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch transnationale Verbindungen entstand. Sowohl die Verbreitung als auch die inhaltliche Gestaltung und Entwicklung der Vergnügungsformen erfolgte in Transferprozessen. Sie wurden organisiert von Akteuren des Unterhaltungssektors: von Künstlern, Erfindern, Reisenden, Agenten oder von Geschäftsleuten. Begünstigt wurden sie durch zunehmende Institutionalisierungstendenzen der Unterhaltungsbranche um 1900. So wurden zum Beispiel in Fachzeitschriften von Berufsverbänden Erfahrungen ausgetauscht, Termine bekannt gegeben und durch Inserate verschiedene Geschäfte zum Verkauf angeboten. Dabei zeigt die mehrsprachige Anlage der Fachzeitschriften, dass ein transnationaler Austausch selbstverständlich und gewollt war. 69 Die Aneignung der Attraktionen der Vergnügungsparks durch die Besucher erfolgte allerdings in jeweils lokalen Bezugssystemen. Wurde darauf - wie das Beispiel von Johnstowns Untergang zeigt - keine Rücksicht genommen, konnte ein Transfer auch scheitern. Die hier vorgeschlagene Systematisierung des Angebots in die Kategorien Fest, Spiel und Theater erlaubt es zum einen, die Vielzahl der Attraktionen zu sichten und zu ordnen. Zum anderen können Forschungsansätze und Theorien aus den drei Kategorien helfen, die Wirkung und Faszination der einzelnen Attraktionen zu analysieren. Auf diese Weise kann eine Annäherung an die Erlebnisdimensionen der Besucher der Vergnügungsparks erfolgen. Festliche Erlebnisse in „exotischen“ Kulissen, rauschhaftes Empfinden beim Befahren der Rutsch- oder Achterbahnen oder überwältigende theatrale Katastropheninszenierungen sind drei Bei- 69 Das Programm war beispielsweise das Publikationsorgan der Internationalen Artistenloge, Der Komet war die Fachzeitschrift des Bundes der Schausteller und verwandter Berufe e. V. <?page no="376"?> 376 johanna niedbalski spiele für mögliche Erlebnisdimensionen, die die Vergnügungsparks für ihr Publikum bereithielten. Der europäische Raum allein reicht nicht aus, um die Entwicklung des kommerziellen Vergnügens zu verstehen. Sowohl inhaltliche Europa-Bezüge (etwa der Venedig-Nachbau in Coney Island) als auch die Entwicklung der Attraktionen (wie anhand der Hochfahrgeschäfte ausgeführt wurde) und die wirtschaftlichen Verflechtungen (das zeigte das Beispiel der Firma L. A. Thompsons) sprengten den Bezugsraum Europa. Der Schwerpunkt der ausgewählten Beispiele lag auf dem Transfer im europäischen und nordatlantischen Raum, ohne dass eine einseitige Beeinflussung durch nordamerikanische Akteure unterstellt werden kann. Das entspricht den Erkenntnissen der Globalisierungsgeschichte, die Transnationalität vor 1914 vor allem innerhalb Westeuropas und dem atlantischen Raum verortet; erst an dritter und vierter Stelle stehen die Vernetzungen mit den osteuropäisch-balkanisch-türkischen und den tropischen Räumen. 70 Es ließen sich aber auch Beispiele für darüber hinausgehende Transferwege anführen: Vor allem „Völkerschau“-Impresarios agierten global und organisierten, unter sehr asymmetrischen Machtverhältnissen, einen Transfer von „Weltkultur“ auf die Vergnügungsplätze Europas und Nordamerikas. Der intensive Austausch zwischen den Unternehmern der kommerziellen Unterhaltungsbranche und der Transfer zahlreicher Attraktionen der Vergnügungsparks über nationalstaatliche Grenzen hinweg führten in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zur Herausbildung eines relativ fest umrissenen Kanons von Attraktionen, auf den die Vergnügungsparks - mit Rücksicht auf jeweilige lokale Besonderheiten - zurückgreifen konnten. 70 Conrad, S./ Osterhammel, J.: „Einleitung“. In: dies. (Hrsg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914. Göttingen 2004, S. 7-27, hier 26. <?page no="377"?> Londoner Theater in Berlin. Deutsch-britische Kulturtransfers und die Anfänge auswärtiger Kulturpolitik vor dem Ersten Weltkrieg Tobias Becker (Berlin) There can be no doubt that the drama may be made, and has been made, a powerful factor in creating friendly - or, for the matter, adverse - relationships between two countries. - The Era Es herrscht augenblicklich mehr denn je die Neigung, Kunst und Politik miteinander zu verquicken […] - Heinrich Stümcke I. „Never were Germans and Englishmen more happy in each other’s company“, schrieb die Presse über ein Londoner Festbankett, mit dem am 12. April 1907 Herbert Beerbohm Tree (1853-1917) zu einem einwöchigen Gastspiel nach Berlin verabschiedet wurde. 1 (Abb. 55) Tree, zu seiner Zeit der bedeutendste Actor-Manager im britischen Königreich, Star, Regisseur und Direktor des His Majesty’s Theatre, war in die deutsche Reichshauptstadt eingeladen worden, um dort mehrere Shakespeare-Dramen zu inszenieren. Schon das Abschiedsbankett machte deutlich, welche Bedeutung Tree und seinem Gastspiel beigemessen wurde. So stand es nicht nur unter dem Vorsitz des Lord Mayors von London, William Purdie Treloar (1843-1923), sondern versammelte auch prominente Vertreter der deutschen und britischen Gesellschaft der Metropole. Ein Blick auf die Gästeliste, die neben Schauspielern, Schriftstellern und Kritikern 1 Motti: „Mr. Tree and Berlin“. In: The Era 23. 2. 1907, S. 21; Stümcke, H.: „Von den Berliner Theatern 1906/ 07“. In: Bühne und Welt 9 (1907), Nr. 15, S. 121- 127, hier 122. „Beerbohm Tree’s Berlin Visit. Dinner at the Cecil“. In: The Era 13. 4. 1907, S. 15. <?page no="378"?> 378 tobias becker auch hohe Diplomaten der beiden Länder sowie Angehörige des Militärs umfasste, zeigt, dass es nicht nur ein kulturelles, sondern auch ein wichtiges politisches Ereignis war. Alle Festredner verliehen der Hoffnung Ausdruck, das Gastspiel würde die beiden Nationen einander annähern. Deutsche und Briten mögen wirklich nie glücklicher zusammen gekommen sein als auf dem Bankett, das Gastspiel jedoch sollte die in es gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Wie die Schauspielerin Constance Collier, „leading lady“ in Trees Ensemble, in ihren Memoiren berichtet, herrschte während des Berliner Gastspiels zwischen Deutschen und Briten nicht Freundlichkeit, sondern „a curious air of antagonism“. Sie erinnert sich, wie sich die angestaute Aggressivität einmal fast in körperlicher Gewalt entlud. Als während der Aufführung von Antonius und Cleopatra am 14. April ein nervöser Beerbohm Tree die lethargischen deutschen Bühnenarbeiter zu mehr Schnelligkeit antrieb und dabei einen von ihnen so unsanft anfasste, dass dieser sein Bier verschüttete, traten die Bühnenarbeiter sämtlich in den Ausstand. Da es den Schauspielern nicht gelang, die Dekorationen selbst zu verschieben, musste die Aufführung in ein und demselben Bühnenbild zu Ende gespielt werden und Cleopatra auf dem Marktplatz sterben. Durch die lange Wartezeit gereizt, hatten die Studenten in den ersten Reihen des Theaters zwischenzeitlich begonnen, die Sitzbänke herauszureißen, wodurch sie einen allgemeinen Tumult auslösten, den nur ein Machtwort des Kaisers von der Loge herab beenden konnte. 2 Diese beiden Szenen, das Abschiedsbanquett und der Bühnenarbeiterstreik, repräsentieren die Pole des Spannungsverhältnisses, in dem sich das Gastspiel wie die internationalen Beziehungen insgesamt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bewegten. Ihm spürt der Beitrag nach, indem er die Ziele der Initiatoren des Gastspiels und dessen Aufnahme in Berlin untersucht und es im Kontext der deutschen Shakespeare-Rezeption und der internationalen Beziehungen um 1900 verortet. Dadurch wirft der Aufsatz zugleich Schlaglichter auf die Frühzeit der auswärtigen Kulturpolitik und die Mechanik des interkulturellen Austauschs im Bereich des Theaters. 3 (Abb. 56) 2 Vgl. Collier, C.: Harlequinade. London 1929, S. 191; siehe auch Pearson, H.: Beerbohm Tree. His Life and Laughter. London 1956, S. 166; Bingham, M.: ‚The Great Lover‘. The Life and Art of Herbert Beerbohm Tree. London 1978, S. 173. Eine andere Quellen kolportiert, die Arbeiter hätten Beerbohm Tree im Stich gelassen, um der Beerdigung eines Sozialistenführers beizuwohnen, vgl. Topham, A.: Memoirs of the Kaiser’s Court. London 4 1914, S. 183-184. 3 Das Gastspiel hat bislang weder in Deutschland noch in Großbritannien die Aufmerksamkeit der Theatergeschichte erregt. Einzig Richard Foulkes widmet ihm einen Abschnitt, vgl. Foulkes, R.: Performing Shakespeare in the Age of Empire. Cambridge 2002, S. 139-145. Zum Kulturtransferansatz vgl. Paulmann, J.: „Inlondoner <?page no="379"?> theater in berlin 379 II. Kulturaustausch im Theater war keine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Schon in der Frühen Neuzeit waren englische Komödianten über den europäischen Kontinent gereist und hatten dabei Shakespeare im deutschen Sprachraum bekannt gemacht. Doch eine Reise wie sie Beerbohm Tree im April 1907 mit einem Ensemble von 80 Mitgliedern und mehreren Waggonladungen mit Bühnenbildern, Kostümen und Requisiten antrat, wäre in der Zeit vor Eisenbahn und Dampfschiff undenkbar gewesen. Die Verkehrsrevolution, die die ‚lange Jahrhundertwende‘ zum „first ‚age of globalization‘“ machte, betraf Theaterunternehmer nicht weniger als Kaufleute und erhöhte die Zahl der Tourneen und Gastspiele signifikant. Der Schauspieler Henry Irving (1838-1905), dessen Londoner Lyceum- Theater oft rote Zahlen schrieb, sanierte sich mit Hilfe von Tourneen durch die USA. Beerbohm Trees Berliner Gastspiel war also keineswegs ungewöhnlich. Keine zehn Jahre zuvor, 1898, hatte bereits der Schauspieler Johnston Forbes-Robertson (1853-1937) als Hamlet und Macbeth in Berlin auf der Bühne gestanden und wiederum zehn Jahre vor ihm, 1887, hatte dort Charles Wyndham (1837-1919) auf Deutsch gespielt. Den Anfang aber hatte 1859 Samuel Phelps (1804-1878) gemacht. Auch den umgekehrten Fall hatte es schon gegeben: 1852 und 1853 war der Schauspieler Emil Devrient (1803-1872) und 1881 das Meininger Hoftheater nach London gereist, um neben deutschen Klassikern, auch Stücke von Shakespeare aufzuführen. 4 ternationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts“ In: Historische Zeitschrift 267 (1998), S. 649-685; Burke, P.: Kultureller Austausch. Frankfurt a. M. 2000; Eisenberg, C.: „Kulturtransfer als historischer Prozeß. Ein Beitrag zur Komparatistik“. In: Kaelble, H./ Schriewer, J. (Hrsg.): Vergleich des Vergleichs. Zum Stand der Komparatistik in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Frankfurt a. M./ New York 2001, S. 400-417; Werner, M./ Zimmermann, B.: „Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen“. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607-636. Speziell zum deutsch-britischen Kulturtransfer vgl. Muhs, R. u. a. (Hrsg.): Aneignung und Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert. Bodenheim 1998; Geppert, D./ Gerwarth, R. (Hrsg.): Wilhelmine Germany and Edwardian Britain. Essays on Cultural Affinity. Oxford 2008, darin: Blackbourn, D.: „‚As dependent on each other as man and wife‘. Cultural Contacts and Transfers“, S. 15-37. Zum Kulturtransfer im Theater vgl. Fischer-Lichte, E.: Das eigene und das fremde Theater. Tübingen 1999. 4 Vgl. Geyer, M./ Paulmann, J.: „Introduction. The Mechanics of Internationalism“. In: dies. (Hrsg.): The Mechanics of Internationalism. Culture, Society and Politics from the 1840s to the First World War. Oxford 2001, S. 1-25; Conrad, S./ Osterhammel, J.: „Einleitung“. In: dies. (Hrsg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914. Göttingen 2004, S. 7-27, hier: 26; Osterhammel, J./ <?page no="380"?> 380 tobias becker Wirtschaftliche Überlegungen scheinen für Beerbohm Tree nicht ausschlaggebend gewesen zu sein, denn die Unterbrechung seines Londoner Shakespeare-Zyklus, der Transport des Ensembles und der Bühnenbilder verursachte Kosten in Höhe von 70.000 Mark, denen bestenfalls Einnahmen von nur 50.000 Mark gegenüberstanden. Ein Verlustgeschäft war deshalb von vornherein abzusehen. Darüber hinaus kam das Gastspiel auch nicht, wie sonst üblich, aufgrund einer Kooperation zwischen zwei Theaterunternehmern zustande, von der sich beide Gewinn erhofften. Statt mit einem Berliner Theater verhandelte Tree bereits seit 1905 mit dem deutschen Botschafter in London, Paul Wolff-Metternich zur Gracht (1853-1934). Nachdem diese Gespräche im Frühjahr 1906 zunächst gescheitert waren, nahm der Journalist J. T. Grein (1862-1935), ein Freund Trees, bei einem Besuch in Berlin Kontakt auf zum General-Intendanten der Königlichen Schauspiele, Georg von Hülsen-Haeseler (1858-1922), der schließlich eine offizielle Einladung Wilhelms II. für Tree erwirkte. 5 Tree selbst führte als Hauptmotiv für seinen Ausflug nach Berlin die Völkerverständigung an. Schon auf dem Abschiedsbankett hielt Tree eine kurze Rede auf Deutsch, in der er sich aufgrund der deutschen Abstammung seines Vaters als „exponent of Anglo-German friendship“ bezeich- Pettersson, N. P.: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen. München 4 2007, S. 63-70; Osterhammel, J.: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, S. 109-114, 1012-1023. Zu Gastspielen und Tourneen allgemein vgl. Berns, U.: Das Virtuosengastspiel auf der deutschen Bühne. Phil. Diss. Berlin 1959; Fischer-Lichte 1999; Davis, T.: The Economics of the British Stage. 1800-1914. Cambridge 2000, S. 335-341; Foulkes 2002, S. 3; Marx, P. W.: Max Reinhardt. Vom bürgerlichen Theater zur metropolitanen Kultur. Tübingen 2006, S. 120-126. Zu Henry Irving vgl. Davis 2000, S. 221-223; Zum Gastspiel von Forbes-Robertson vgl. Foulkes 2002, S. 136-139; Forbes-Robertson, J.: A Player under Three Reigns. London 1925, S. 173-181. Zum Gastspiel von Wyndham vgl. Shore, F: Sir Charles Wyndham. London 1908, S. 71-72. Zum Gastspiel von Phelps vgl. Allen, S.: Samuel Phelps and Sadler’s Wells Theatre. Middletown 1971, S. 153-155; Foulkes 2002, S. 39-41. Zum Gastspiel der Meininger vgl. Barnay, L.: Erinnerungen. Berlin 1903. Bd. 1, S. 269-290; Grube, M.: Geschichte der Meininger. Berlin/ Leipzig 1926, S. 104-105; DeHart, S.: The Meininger Theater. 1776-1926. Ann Arbor (Mich.) 1979, S. 42-44; Osborne, J.: The Meiningen Court Theatre, 1866 -1890. Cambridge u. a. 1988, S. 79-81. 5 Vgl. Holzbock, A.: „Zum ersten Gastspielabend von Beerbohm-Tree“. In: Berliner Lokal-Anzeiger 13.4.1907, Nr. 185; „Der Kaiser und Viola Tree“. In: B. Z. am Mittag 22. 4. 1907, Nr. 93. Vgl. (Brief Metternich an Bülow, 16. 1. 1907), Bundesarchiv (BA) Lichterfelde R901/ 37953. Der Brief Georg von Huelsens ist wiedergegeben bei Grein, J. T.: „Mr. Tree and Germany“. In: The Times 15. 1. 1907, S. 12. Zu Hülsen-Haeseler als Intendant vgl. Reichel, H.-G.: Das Königliche Schauspielhaus unter Georg Graf von Hülsen-Haeseler (1903-1918). Mit besonderer Berücksichtigung der zeitgenössischen Tagespresse. Phil. Diss. Berlin 1962; Fischer, J.: „‚Das Theater ist auch eine meiner Waffen‘. Die Hofoper im Zeichen des Kaiserreichs“ In: Quander, G. (Hrsg.): Apollini et Musis. 250 Jahre Opernhaus Unter den Linden. Frankfurt a. M. 1992, S. 117-144. <?page no="381"?> londoner theater in berlin 381 nete. In Berlin betonte er in Reden und Interviews, er wolle der „Harmonie der Nationen auf dem Boden der Kunst“ Ausdruck verleihen und „durch die Kunst zwei stammverwandte Völker einander näher“ bringen. Noch kurz vor dem Ersten Weltkrieg erklärte er Sigmund Münz (1859- 1934) gegenüber, das Berliner Gastspiel habe gezeigt, dass die Kunst „keine Grenzpfähle“ kenne. Im Übrigen wünsche er als Sohn einer Deutschen und eines Briten nichts mehr als Freundschaft zwischen den beiden Nationen. 6 Die Bemühungen Trees, das Gastspiel zu einer diplomatischen Mission zu stilisieren, waren zweifellos auch seiner persönlichen Eitelkeit geschuldet. Einer Verehrerin schrieb er stolz, die Einladung nach Berlin sei „more than a mere personal compliment to me - it has an international aspect and I am sure you will rejoice for me“. 7 In der britischen Presse wurde immer wieder betont, welche Ehre Tree durch die kaiserliche Einladung widerfahren sei. Dass er selbst länger auf sie hingewirkt hatte, verschwieg Tree, der zwar nicht finanziell am Gastspiel verdiente, aber dadurch sein Ansehen erheblich steigerte. Dass ihn Edward VII. zwei Jahre später zum Ritter schlug, ist unter anderem auf das Gastspiel zurückzuführen. 8 Tree war keineswegs der einzige, der vom Gastspiel als einer diplomatischen Mission sprach. Einer der Festredner auf dem Abschiedsbankett, Major-General Sir Alfred Turner (1842-1918), betonte, dass es gar nicht so sehr darum ging, Dramen von Shakespeare aufzuführen. Als Mitglied der Anglo-German Friendship Society zeigte sich Turner überzeugt, die Aufnahme der britischen Schauspieler in Berlin würde viele eines Besseren belehren, die sich in dem Irrglauben befänden, zwischen Großbritannien und Deutschland existiere tatsächlich Feindschaft und Hass. In diesem Sinne sandte Lord Mayor William Treloar, ebenfalls Mitglied der Anglo- German Friendship Society, noch am selben Abend ein Telegramm an den deutschen Kaiser, den er als „great protector and lover of art“ adressierte, um Beerbohm Tree anzukündigen. 9 Niemand stand jedoch so sehr für ein Theater der Völkerverständigung wie J. T. Grein, der maßgeblich 6 „Beerbohm Tree’s Berlin visit. Dinner at the Cecil“. In: The Era 13. 4. 1907, S. 15; Holzbock, A.: „Theater und Musik“. In: Berliner Lokal-Anzeiger 11. 4. 1907, Nr. 181; Ders., „Zum ersten Gastspielabend von Beerbohm-Tree“. In: Berliner Lokal-Anzeiger 13. 4. 1907, Nr. 185; ähnlich: „Die Abreise Beerbohm Trees“. In: B. Z. am Mittag 19. 4. 1907, Nr. 91; Münz, S.: Eduard VII. in Marienbad. Politik und Geselligkeit in den böhmischen Weltbadeorten. Wien 1934, S. 147-148. 7 Brief Trees an Olivia Truman vom 18. 1. 1907, zit. n. Truman, O.: Beerbohm Tree’s Olivia, introduced and edited by her daughter Isolde Wigram. London 1984, S. 70. 8 Vgl. Bingham 1978, S. 72. Zum Ritterschlag vgl. ebd., S. 183-184; Foulkes 2002, S. 145. 9 Vgl. „Beerbohm Tree’s Berlin visit. Dinner at the Cecil“. In: The Era 13. 4. 1907, S. 15; „Aus unseren Leserkreisen. Zum Tree-Bankett“. In: Deutsche Zeitung Hermann 13. 4. 1907, S. 3. (Telegramm Treloar an Wilhelm II., 8. 4. 1907) Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA), England Nr. 78, R5723. <?page no="382"?> 382 tobias becker zum Zustandekommen des Gastspiels beigetragen hatte. Grein, als Sohn eines Niederländers und einer Britin ebenso wie Tree in zwei Nationen verwurzelt, sprach er immer wieder vom Theater als „link between the nations“. 10 Dafür setzte er sich nicht nur mit Artikeln in britischen, niederländischen, französischen und deutschen Zeitungen ein, sondern auch mit der Gründung der Independent Theatre Society, die nach dem Vorbild des Pariser Théâtre Libre und der Berliner Freien Bühne im Stil des Naturalismus verfasste Dramen auf die Bühne brachte. Gleichzeitig engagierte er sich für das Londoner German Theatre, das ausdrücklich zu besseren Beziehungen zwischen Briten und Deutschen beitragen und ihnen helfen sollte, die nationalen Ideen und Charakteristiken des anderen besser zu verstehen. Dabei beriefen sich Grein und Tree explizit auf Wilhelm II. und dessen angeblichen Ausspruch, das „Drama verbinde die Nationen“. 11 Die ostentative Beschwörung des Theaters als Brücke zwischen den Nationen brachte zunächst die allgemeine Verschlechterung der außenpolitischen Beziehungen zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich zum Ausdruck. Noch in den 1890er Jahren hatte Großbritannien aufgrund kolonialer Rivalitäten weit schlechtere Beziehungen zu Frankreich, Russland und den USA unterhalten als zu Deutschland. Während aber die Aussöhnung zwischen England und Frankreich 1904 in einem offiziellen Bündnis gipfelte, kühlten sich die Beziehungen zu Deutschland in Folge der Marokkokrise (1905/ 06) und des Flottenwettrüstens immer weiter ab, um im Frühjahr 1905 ihren Tiefpunkt zu erreichen. Obschon die diplomatischen Beziehungen zwischen zwei Staaten nicht mit der Wahrnehmung des anderen Landes in der Bevölkerung gleichzusetzen sind und, wie gerade das Gastspiel belegt, selbst auf dem Höhepunkt der Entfremdung intensive Kontakte auf vielen Ebenen fortbestanden, führten die Krisen doch zu verbreiteter Germanobzw. Anglophobie. 12 10 Orme, M.: J. T. Grein. The Story of a Pioneer. 1862-1935. London 1936, S. 177- 182, hier 179; siehe auch Schoonderwoerd, N.: J. T. Grein. Ambassador of the Theatre. 1862-1935. A Study in Anglo-Continental Theatrical Relations. Assen 1963, S. 141-149. 11 Grein, J. T.: „Mr. Tree and Germany“. In: The Times 15. 1. 1907, S. 12; Holzbock, A.: „Theater und Musik“. In: Berliner Lokal-Anzeiger 11. 4. 1907, Nr. 181. Zur Independent Theatre Society vgl. Miller, A.: The Independent Theatre in Europa. 1887 to the Present. New York 1931, S. 169-176; Stokes, J.: Resistible Theatres. Enterprise and Experiment in the Late Nineteenth Century. London 1972; S. 113-180; Davis, T. C.: „The Independent Theatre Society’s Revolutionary Scheme for an Uncommercial Theatre“. In: Theatre Journal 42 (1990), Nr. 4, S. 447-454. Zum German Theatre vgl. Mander, R./ Mitchenson, J.: Lost Theatres of London. London 1976, S. 231, 443. Holzbock, A.: „Theater und Musik“. In: Berliner Lokal-Anzeiger 11. 4. 1907, Nr. 181; Grein, J. T.: „Mr. Tree and Germany“. In: The Times 15. 1. 1907, S. 12. 12 Vgl. Kennedy, P.: The Rise of the Anglo-German Antagonism. 1860-1914. London 1980, S. 251-288; Ramsden, J.: Don’t Mention the War. The British and the <?page no="383"?> londoner theater in berlin 383 Auf die wachsende Entfremdung reagierten kosmopolitisch gesonnene Bürger auf beiden Seiten des Kanals durch die Gründung verschiedener Initiativen, die sich auf zivilgesellschaftlichen Wegen um Annäherung bemühten. So organisierten deutsch-britische Freundschaftsvereine beispielsweise den Austausch von Geistlichen, Bürgermeistern und Unternehmern. Da der Presse eine besondere Mitschuld an der Situation zugeschrieben wurde, unternahmen 1906 fünfzig deutsche Redakteure und Publizisten auf Einladung ihrer britischen Kollegen eine sogenannte ‚Friedensfahrt‘ nach Großbritannien, wo sie an zahlreichen Banketten und Empfängen teilnahmen und Shakespeares Grab besuchten. Zwölf Monate später empfingen sie ihre englischen Kollegen zum Gegenbesuch. Wie die Äußerungen Trees, Greins, Turners und vieler anderer nahelegen, war das Gastspiel von 1907 Teil dieser zivilgesellschaftlichen Verständigungsversuche. Nicht zufällig war Maud Tree (1863-1937), die Ehefrau Beerbohm Trees, Mitglied des Exekutivausschusses der Anglo-German Friendship Society, der auch die Schauspieler Charles Wyndham und Johnston Forbes-Robertson sowie Bernard Shaw (1856-1950) angehörten. Tree selbst bewirtete die deutschen Journalisten in seinem Theater und wurde von ihnen im Gegenzug mit einem Festbankett in Berlin begrüßt. 13 Das Gastspiel lässt sich aber nicht nur als zivilgesellschaftlicher Verständigungsversuch interpretieren. Es fiel in eine Zeit, in der Intellektuelle und Diplomaten die außenpolitische Relevanz der Kultur zu entdecken begannen. Der Historiker Karl Lamprecht (1856-1915) hielt 1912 einen Germans since 1890. London 2006, S. 58-88. Zum Spektrum der deutsch-britischen Gegensätze und Sympathien um 1900 vgl. die Beiträge der Sammelbände Muhs u. a. 1998 und Geppert/ Gerwarth 2008. Zum deutschen Englandbild vgl. Mommsen, W. J.: „Zur Entwicklung des Englandbildes der Deutschen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts“. In: Kettenacker, L. u. a. (Hrsg.): Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen. Festschrift für Paul Kluke. München 1981, S. 375-397. Zum britischen Deutschlandbild vgl. Wendt, B.-J. (Hrsg.): Das britische Deutschlandbild im Wandel des 19. und 20. Jahrhundert. Bochum 1984; Firchow, P.: The Death of the German Cousin. Variations of a Literary Stereotype. 1890-1920. London/ Toronto 1986; Schramm, M.: Das Deutschlandbild in der britischen Presse 1912-1919. Berlin 2007. 13 Vgl. Deckart, G.: Deutsch-englische Verständigung. Eine Darstellung der nichtoffiziellen Bemühungen um eine Wiederannäherung der beiden Länder zwischen 1905 und 1914. München 1967, S. 71-80; Hollenberg, G.: Englisches Interesse am Kaiserreich. Die Attraktivität Preußen-Deutschlands für konservative und liberale Kreise in Großbritannien 1860-1914. Wiesbaden 1974, S. 60-113, Mitgliedslisten auf S. 300-319; Chickering, R.: Imperial Germany and a World Without War. The Peace Movement and German Society, 1892-1914. Princeton (NJ) 1975, S. 312-316; Kennedy 1980, S. 287; Ramsden 2006, S. 86-88; Geppert, D.: Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen (1806-1912). München 2007, S. 358-377; siehe auch PA AA, Botschaft London 977, Bd. 59. „Das Beerbohm-Tree-Bankett“. In: Berliner Tageblatt 11. 4. 1907, Nr. 181. <?page no="384"?> 384 tobias becker Vortrag vor dem Verband für internationale Verständigung, in dem er den Begriff der auswärtigen Kulturpolitik prägte und die deutsche Regierung aufforderte, mehr für die Expansion deutscher Sprache und Kultur im Ausland zu tun. Lamprecht dachte dabei allerdings weniger an Verständigung als an die Fortsetzung imperialistischer Politik mit friedlichen Mitteln. Für ihn stand fest, dass in der Konkurrenz der Kulturen „unsere Nation, die Nation der Philosophen und Pädagogen, eine besonders wichtige Rolle zu übernehmen berufen ist“. 14 Dazu sollte der Staat durch eine gesteuerte auswärtige Kulturpolitik beitragen. Wie das Gastspiel zeigt, wurde Kultur bereits vor 1914 als außenpolitisches Instrument eingesetzt. Der Schauspieler Robert Atkins (1886-1972) berichtet in seinen Memoiren, dass der Aufenthalt des britischen Ensembles in Berlin nicht nur auf eine offizielle Einladung des deutschen Kaisers, sondern ebenso auf den ausdrücklichen Wunsch des britischen Königs zurückging. Von den Staatsoberhäuptern der beiden Nationen gewünscht und gefördert, wurde das Gastspiel zum diplomatischen Ereignis. Dazu trug auch bei, dass bei vielen Vorstellungen der deutsche Kaiser, Mitglieder des kaiserlichen Familie und andere hochrangige Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft, wie etwa Reichskanzler Bernhard von Bülow (1849-1929), anwesend waren und dass Wilhelm II. Tree und Grein persönlich empfing und mit Orden auszeichnete. 15 14 Lamprecht, K.: Über auswärtige Kulturpolitik (= Veröffentlichungen des Verbandes für Internationale Verständigung; Bd. 8). Stuttgart 1913, S. 4, siehe auch Chickering, R.: Karl Lamprecht. A German Academic Life (1856-1915). New Jersey 1993, S. 407-412; Schorn-Schütte, L.: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik. Göttingen 1984, S. 268-286; Düwell, K.: Deutschlands auswärtige Kulturpolitik. 1918-1932. Grundlinien und Dokumente. Köln 1976; Ders.: „Zwischen Propaganda und Friedenspolitik - Geschichte der Auswärtigen Kulturpolitik im 20. Jahrhundert“. In: Maaß, K.-J. (Hrsg.): Kultur und Außenpolitik. Handbuch für Studium und Praxis. Baden-Baden 2005, S. 53-83; Kloosterhuis, J.: „Deutsche Auswärtige Kulturpolitik und ihre Trägergruppen vor dem Ersten Weltkrieg“. In: Düwell, K./ Dexheimer, W. (Hrsg.): Deutsche Auswärtige Kulturpolitik seit 1871. Geschichte und Struktur. Köln/ Wien 1981, S. 7-35; Bruch, R. v.: Weltpolitik als Kulturmission. Auswärtige Kulturpolitik und Bildungsbürgertum in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Paderborn u. a. 1982; McMurry, R./ Lee, M.: The Cultural Approach. Another Way in International Relations. Chapel Hill 1947, S. 39-47. 15 Vgl. Atkins, R.: An Unfinished Biography. Hrsg. von Rowell, G. London 1994, S. 53. „Theater und Musik“. In: Vossische Zeitung 13. 4. 1907, Nr. 171; Falk, N.: „Eröffnung des Beerbohm-Tree-Gastspiels“. In: Berliner Morgenpost 13. 4. 1907, Nr. 86; Jacobs, M.: „Die Engländer. Gastspiel Beerbohm-Tree im Neuen königlichen Operntheater“. In: Berliner Tageblatt 13. 4. 1907, Nr. 185; Holzbock, A.: „Zum ersten Gastspielabend von Beerbohm-Tree“. In: Berliner Lokal-Anzeiger 13. 4. 1907, Nr. 185; K., J.: „Theater und Musik“. In: ebd. 15.4.1907, Nr. 188. Vgl. Geheimes Staatsarchiv Berlin, I. HA. Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, Nr. 21167; Orme 1936, S. 186; Pearson 1956, S. 166. <?page no="385"?> londoner theater in berlin 385 Das Gastspiel beschäftigte die höchsten Kreise der deutschen Diplomatie, was allein schon die Bedeutung erkennen lässt, die ihm staatlicherseits zugemessen wurde. So empfing der deutsche Botschafter in London von Metternich Tree persönlich und berichtete darüber direkt an den deutschen Reichskanzler von Bülow, dem gegenüber er sich für das Gastspiel mit der Begründung einsetzte, es würde „hier sowohl wie in Deutschland einen sehr guten Eindruck machen […], wenn eine erstklassige englische Theatertruppe in Berlin mit Erfolg gastierte“. 16 Da deutsche Diplomaten sich von dem Gastspiel eine Verbesserung des Deutschlandsbildes in der britischen Öffentlichkeit erhofften, lässt sich die Einladung als Teil deutscher auswärtiger Kulturpolitik verstehen, selbst wenn dieser Begriff nie explizit verwendet wurde. Als sich 1906 abzuzeichnen drohte, dass das Gastspiel womöglich doch nicht zustande kommen könnte, verlieh Metternich seine Enttäuschung darüber Ausdruck mit dem Hinweis: „Die Franzosen verstehen es vorzüglich, durch Einladungen und Besuche, auch von Schauspielern, die gute Stimmung mit England zu befördern.“ 17 Dies belegt, dass deutsche Diplomaten bereits Jahre vor der Rede Lamprechts um die Bedeutung auswärtiger Kulturpolitik wussten und dem französischen Vorbild nacheiferten, wenn sich die Gelegenheit bot. Im Fall des Gastspiels war ihre Unterstützung zwar primär ideeller Art, das Auswärtige Amt förderte das Deutsche Theater in London aber mit jährlich immerhin 1000 Reichsmark. 18 Im Gegensatz zu ihren deutschen Kollegen setzten sich britische Diplomaten lediglich dafür ein, dass Tree die Einfuhrzölle erlassen wurden. Anders als Lamprecht meinte, waren britische Diplomaten bis in die 1920er Jahre hinein wesentlich zurückhaltender hinsichtlich einer auswärtigen Kulturpolitik als ihre deutschen Kollegen. Bereits 1878/ 79 stand dem Auswärtigen Amt ein Fond von 75.000 Reichsmark zur Verfügung, um deutsche Schulen und andere wohltätige Aktivitäten im Ausland zu unterstützen. 19 Nachdem sich die außenpolitischen Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland seit dem späten 19. Jahrhundert kontinuierlich 16 (Brief Metternich an Bülow vom 16. 1. 1907) BA Lichterfelde, R901/ 37952. 17 (Brief Metternich an Bülow vom 14. 2. 1906) BA Lichterfelde, R901/ 37952. 18 (Brief Metternich an Bülow, 18. 8. 1906 und Bülow an Metternich, 11. 9. 1906) BA Lichterfelde R901/ 37953, (Brief Bülow an Metternich, 12. 6. 1907) BA Lichterfelde R901/ 37954. 19 Vgl. Briefwechsel zwischen Tree und Frank Lascelles zwischen dem 5. 3. und 4. 4. 1907, The National Archives, Foreign Office FO/ 371/ 258 und Briefe von Lascelles an Tschirschky vom 11. 3. 1907 und 16. 3. 1907, BA Lichterfelde R901/ 37954, siehe dazu auch McMurry/ Lee, 1947, S. 39-47, 137-148; Taylor, P.: The Projection of Britain. British overseas publicity and propaganda, 1919-1939. Cambridge u. a. 1981, S. 127; Donaldson, F.: The British Council. The First Fifty Years. London 1984, S. 2-3. <?page no="386"?> 386 tobias becker verschlechtert hatten, fiel das Gastspiel in eine kurze Phase der Détente. Zeitgleich mit Trees Aufenthalt in Berlin verhandelten deutsche und britische Diplomaten über einen Besuch Wilhelms II. in England, wo dieser seit der Thronbesteigung seines Onkels Edward VII. 1901 nicht mehr gewesen war. Von dem Besuch des deutschen Kaiserpaares in der britischen Hauptstadt im November 1907 erhofften sich die Diplomaten eine beschwichtigende Wirkung auf die erhitzten Gemüter in beiden Ländern. Wie die weiteren Ereignisse zeigten, nahm aber keine der beiden Seiten die Annäherung ernst. Während britische Diplomaten im August 1907 ein Bündnis mit Russland eingingen, veröffentlichte das Reichsmarineamt am Tag der Ankunft des Kaisers in England eine neue Flottenvorlage. Zwar war die Rhetorik der Völkerverständigung durchaus auf Entspannung angelegt, letztlich sollte sie aber nur Zeit erkaufen, um eine weiterhin expansive imperiale Außenpolitik zu ermöglichen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass unterschiedliche Kräfte jeweils eigene Ziele verfolgten. Die Kriegstreiberei des Reichsmarineamtes steht neben der Entspannungspolitik, für die sich der Botschafter von Metternich stark machte. Die politische Bedeutung des Gastspiels musste vor diesem Hintergrund aber ebenso verpuffen, wie die Begegnungen von Journalisten aus beiden Ländern. Der Aufenthalt des Tree’schen Ensembles konnte keine längerfristigen politischen Folgen zeitigen, weil es der Diplomatie auf beiden Seiten an Willen fehlte, eine nachhaltige Détente einzuleiten. 20 III. Die Rhetorik der Völkerverständigung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Gastspiel von Anfang an unter keinem guten Stern stand. Noch bevor das Ensemble in der deutschen Hauptstadt eingetroffen war, berichtete Grein aus Berlin, die Deutschen seien „prepared to be 20 Vgl. Steinberg, J.: „The Kaiser and the British. The state visit to Windsor, November 1907“. In: Roehl, J./ Sombart, N. (Hrsg.): Kaiser Wilhelm II. New Interpretations. Cambridge u. a. 1982, S. 121-141, hier 133-134; identische Bewertung bei Reinermann, L.: Der Kaiser in England. Wilhelm II. und sein Bild in der britischen Öffentlichkeit. Paderborn u. a. 2001, S. 300-324 und Roehl, J. C. G.: Wilhelm II. Bd. 3: Der Weg in den Abgrund 1900-1941. München 2008, S. 624-688, insbes. 649; vgl. ders.: „The Kaiser and England“. In: Birke, A. M. (Hrsg.): An Anglo-German dialogue. The Munich lectures on the history of international relations. München 2000, S. 97-113; Ders.: „‚The worst of enemies‘. Kaiser Wilhelm II and His Uncle Edward VII“. In: Geppert/ Gerwarth 2008, S. 41-66; Geppert 2007, S. 371. <?page no="387"?> londoner theater in berlin 387 very critical“. 21 Vielleicht hatte er die Vorberichterstattung in der B. Z. am Mittag verfolgt, die mit „Beerbohm Trees Henkersmahlzeit“ überschrieben war. In einem dort veröffentlichten Interview gab der Dramatiker Ernst von Wildenbruch (1845-1909) zu bedenken, es bedürfe „keiner englischen Schauspielertruppe, um Shakespeare nach Berlin“ zu bringen, auch wenn er freundlicher hinzusetzte, dass es trotzdem interessant sei, diesen einmal „durch englische Augen zu sehen“. Anders als Grein und Tree erwartete er sich aber keine völkerverständigende Wirkung vom Kulturaustausch im Bereich des Theaters. „Deutschland und England“, so Wildenbruch „werden beständig und unvermeidlich unaufhörlichen Reibungen durch den Konflikt ihrer materiellen Interessen ausgesetzt sein.“ 22 Nicht die Kultur, sondern die materiellen Interessen bestimmten in seinen Augen das Verhältnis zwischen den Nationen, und hier sah er grundlegende Gegensätze, die durch kulturellen Austausch nicht überbrückt werden konnten. Allerdings waren nationale Ressentiments nicht nur auf deutscher Seite zu finden. Der Schauspieler Robert Atkins, einer der jüngsten Mitglieder des Ensembles, bekannte in seinen Erinnerungen: „As a young Englishman, following the popular trend, I distrusted the German emperor and all his people“. 23 Die Warnungen, die Grein nach London schickte, erwiesen sich bald als gerechtfertigt. Die Berliner Theaterkritik erteilte dem Gastspiel fast durchweg schlechte Noten. Die Vossische Zeitung sah in der Inszenierungsweise eine „Majestätsbeleidigung gegen Shakespeare“ und die Berliner Morgenpost in Tree einen „international schlechten Tragöden“. Die Schaubühne kam gar zu einem „glatten Todesurteil“. 24 Insgesamt ähnelten sich die deutschen Kritiken. Durchweg bemängelten sie Trees Umgang mit dem Dramentext, seine Inszenierung, seine Regie und seinen Schauspielstil - kurz: alle Elemente, die eine Theateraufführung ausmachen. Die Mehrheit der Berliner Zuschauer nahm Tree und sein Ensemble allerdings freundlicher auf. Wie die Kritiker nicht umhin kamen einzugestehen, belohnte ihn das Publikum mit „enthusiastischem Beifall“, so dass er „jeden 21 Atkins 1994, S. 53. 22 „Beerbohm Trees Henkersmahlzeit“. In: B. Z. am Mittag 10. 4. 1907, Nr. 83; „Die Deutschen und Shakespeare. Interviews mit Wildenbruch, Reinhardt und Matkowsky“. In: B. Z. am Mittag 9. 4. 1907, Nr. 82. 23 Atkins 1994, S. 53. 24 „Von Beerbohm Tree“. In: Die Schaubühne 3 (1907) Nr. 15, S. 424-427, hier 424. K., J.: „Theater und Musik“. In: Berliner Lokal-Anzeiger 15. 4. 1907, Nr. 188; Holzbock, A.: „Theater und Musik. Das Beerbohm-Tree-Gastspiel“. In: ebd. 19. 4. 1907, Nr. 196; „Neues königliches Operntheater. Gastspiel Beerbohm Tree: ‚Antonius und Kleopatra‘“. In: Vossische Zeitung 15. 4. 1907, Nr. 174. <?page no="388"?> 388 tobias becker Abend einen großen Erfolg“ feierte. 25 Wie der Streik der Bühnenarbeiter und der Protest der Studenten zeigen, waren die Kritiker allerdings keineswegs die einzigen, die das englische Gastspiel ablehnten. Eine zentrale Ursache für die heftige Kritik an Trees Gastspiels waren Kommunikationsschwierigkeiten. Im Gegensatz zu Charles Wyndham, der 1887 in Berlin wohl auch deshalb einen so „großen und sensationellen Erfolg“ gehabt hatte, weil er auf Deutsch spielte, hatte sich Tree vor allem seines Ensembles halber dagegen entschieden. 26 Tree konnte sich immerhin zugute halten, dass er damit Shakespeare in der Originalsprache darbot. Dies hinderte den Kritiker der B. Z. am Mittag nicht, sich über die „für das deutsche Ohr […] unreinen Vokale des Englischen, die bald lispelnde, bald gurgelnde Aussprache“ zu beschweren, die „die poetische Wirkung erschweren“. 27 Andere wiesen diesen Einwand mit der Begründung zurück, „[f]remde Sprache und ausländische Manieren haben Kunstsiege französischer oder italienischer Truppen über deutsches Publikum nie verhindert“, womit sie zugleich insinuierten, dass Deutsche und Briten mehr als nur die Sprache trennte. 28 Ob Tree erfolgreicher gewesen wäre, wenn er auf Deutsch gespielt hätte, sei dahingestellt; dass er es nicht tat, erwies sich aber als schwere Hypothek für das Gastspiel. Wildenbruch war nicht der einzige, dessen Skepsis gegenüber dem Gastspiel auf national-chauvinistische Ressentiments zurückging. So führte Die Schaubühne „das Unvermögen Trees auf die Besonderheit der Rasse, Kultur und Tradition“ zurück. Und das Berliner Tageblatt machte die „unbekümmerte Selbstzufriedenheit einer Nation, die weder nach rechts noch nach links blinzelt, die alle kontinentalen Fortschritte ignoriert“, für die ihrer Meinung nach antiquierte Spielweise der Briten verantwortlich. 29 Der Kladderadatsch schließlich brachte die Einstellung vieler auf die einfache Formel: „Wir sahen heute ‚Was ihr wollt‘,/ O hochgeschätzter Beerbohm-Tree -/ Doch Shakespeare scheint uns schöner doch/ Noch immer ‚Made in Germany‘“ - eine deutliche Absage an den interkulturellen 25 Jacobs, M.: „Die Engländer. Gastspiel Beerbohm-Tree im Neuen königlichen Operntheater: König Richard II. von Shakespeare“. In: Berliner Tageblatt 13. 4. 1907, Nr. 185; St., Ph.: „Theater und Musik“. In: Berliner Lokal-Anzeiger 18. 4. 1907, Nr. 194. 26 B., Fr.: „Residenz-Theater“. In: Berliner Lokal-Anzeiger 7. 12. 1887, Nr. 286; ähnlich: „‚David Garrick‘ at Berlin“. In: The Times 7. 12. 1887, S. 4. 27 A., C.: „Anton ohne Mark“. In: B. Z. am Mittag 15. 4. 1907, Nr. 87. 28 Fischer, R.: „Beerbohm-Trees Gastspiel in Berlin“. In: Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 43 (1907) S. 357-361, hier 358. 29 „Von Beerbohm Tree“. In: Die Schaubühne 3 (1907), Nr. 15, S. 424-427; Jacobs, M.: „Die Engländer. Gastspiel Beerbohm-Tree im Neuen königlichen Operntheater: König Richard II. von Shakespeare“. In: Berliner Tageblatt 13. 4. 1907, Nr. 185. <?page no="389"?> londoner theater in berlin 389 Austausch. 30 Auch der Anglist Rudolf Fischer (1860-1923) erklärte im Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft das Projekt Kulturaustausch im Theater insgesamt für fehlgeschlagen: „Dieser nationale Gegensatz ist nicht zu überbrücken und erklärt, warum das Gastspiel Trees erfolglos bleiben mußte“. 31 Für Fischer war das Scheitern Trees zwangsläufig und vorhersehbar. Denn im Gegensatz zu Grein und Tree, aber ähnlich wie viele andere Kommentatoren war er der Meinung, die Differenzen zwischen den beiden Nationen seien nicht vorübergehender und lediglich politisch-wirtschaftlicher Natur, sondern Ausdruck grundsätzlicher, historisch gewachsener und ethnisch begründeter Unterschiede. Jeder Versuch des Austausches war daher in seinen Augen zum Scheitern verurteilt. Es war kein Zufall, dass eine der deutlichsten Absagen an das Gastspiel im Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft erschien. Tatsächlich ist die Zurückweisung des Gastspiels durch die Kritiker nur vor dem Hintergrund der deutschen Shakespeare-Rezeption zu verstehen. Hätte Trees Ensemble anstelle von fünf Stücken von Shakespeare (Richard II., Hamlet, Antonius und Cleopatra, Die lustigen Weiber von Windsor, Was ihr wollt) mehr moderne englische Stücke gebracht, wie sie mit Trilby auch auf dem Spielplan standen, wäre das Gastspiel möglicherweise ein Erfolg, zumindest kein Misserfolg gewesen. Shakespeare aber nahm infolge eines einzigartigen kulturellen Transfer- und Aneignungsprozesses seit dem späten 18. Jahrhundert eine überragende Stellung in Deutschland ein. Seine Dramen wurden nicht nur übersetzt, studiert und nachgeahmt, Shakespeare war der in Deutschland meistgespielte Bühnenautor des 19. Jahrhunderts überhaupt und galt neben Goethe und Schiller als der „dritte deutsche Klassiker“. 32 Die deutsche Aneignung der Dramen Shakespeares gipfelte in einem Mythos, der sich spätestens seit dem Vormärz stark politisierte und der die britische „Bardolatry“ noch in den Schatten stellte. Vor allem die Figur des Hamlet entwickelte sich zu einer Chiffre für die politische Situa- 30 „Den Beerbohm-Trees“. In: Kladderadatsch 60 (1907) Nr. 16. 31 Fischer 1907, S. 360. 32 Vgl. Stahl, E. L.: Shakespeare und das Deutsche Theater. Wanderung und Wandelung seines Werkes in dreiundeinhalb Jahrhunderten. Stuttgart 1947; Oppel, H.: „Shakespeare in Deutschland“. In: Ders., Englisch-deutsche Literaturbeziehungen. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Berlin 1971, S. 98-125; Steiger, K. P.: Die Geschichte der Shakespeare-Rezeption. Stuttgart u. a. 1987; Williams, S.: Shakespeare on the German Stage. Bd. 1: 1586-1914. Cambridge u. a. 1990; Hortmann, W.: Shakespeare on the German Stage. The Twentieth Century. Cambridge 1998; Paulin, R.: The Critical Reception of Shakespeare in Germany. 1682-1914. Native Literature and Foreign Genius. Hildesheim u. a. 2003. <?page no="390"?> 390 tobias becker tion Deutschlands - „Deutschland ist Hamlet“ lautet die auch heute noch viel zitierte Formel des Dichters Ferdinand von Freiligrath (1810-1876). 33 Dieser Hamlet-Mythos, der zunächst emanzipativen Charakter getragen hatte, nahm in der Zeit nach der Reichsgründung verstärkt nationalchauvinistische Züge an. Gerade weil sich die deutsche Intelligenz bewusst war, dass sie sich mit dem Engländer Shakespeare einen prekären Nationalhelden ausgesucht hatte, flüchtete sie sich in Hilfskonstruktionen, die darauf abzielten diesen einzudeutschen. Dazu diente beispielsweise die Behauptung, Shakespeare habe in seinem Heimatland lange nichts gegolten und sei erst durch deutsche Dichter und Denker wiederentdeckt worden. Zu den „mannigfachen Einbildungen“ dieser Art, wie Theodor Fontane schrieb, gehörte auch der Glaube, dass „wir den Shakespeare häufiger und besser spielten als die Engländer selbst“. Als Samuel Phelps 1859 nach Berlin kam, um dort einige Stücke von Shakespeare aufzuführen, sah Fontane diesem Gastspiel deshalb „mit einiger Sorge entgegen“, musste er doch, „mit dem kritischen Sinn unseres Publikums, ja, mit der Neigung desselben zu Tadeln und Abwehr, wohlvertraut“ eine „kühle Aufnahme“ befürchteten. 34 Obwohl sich seine Sorge in diesem Fall nicht bestätigte, dauerte es dann fast 30 Jahre bis erneut ein britisches Ensemble nach Berlin kam. Charles Wyndham hatte es 1887 insofern leichter, da er auf Deutsch und nicht in einem Stück von Shakespeare spielte. Als aber zwölf Jahre später Johnston Forbes-Robertson in Berlin Hamlet und Macbeth aufführte, bekam er die ganze Härte der Kritik zu spüren: 33 Vgl. Muschg, W.: „Deutschland ist Hamlet“. In: Ders.: Studien zur tragischen Literaturgeschichte. Bern/ München 1965, S. 205-227; Pfister, M.: „Germany is Hamlet. The History of a Political Interpretation“. In: New Comparison 2 (1986), S. 106-126; Ders.: „Hamlet und der deutsche Geist: Die Geschichte einer politischen Interpretation“. In: Shakespeare Jahrbuch 128 (1992), S. 13-38; Schwanitz, D.: Shakespeares Hamlet und alles was ihn für uns zum kulturellen Gedächtnis macht. Frankfurt a. M. 2006; Mehl, D.: Shakespeares Hamlet. München 2007. Zur britischen Spielart des Shakespeare-Mythos vgl. Holderness, G.: Cultural Shakespeare. Essays in the Shakespeare Myth. Hatfield 2001. Zum britischen Shakespeare-Mythos vgl. Ders.: „Bardolatry: or, The cultural materialist’s guide to Stratford-upon-Avon“. In: ders. (Hrsg.), The Shakespeare Myth, Manchester 1988, S. 2-15; ders.: Cultural Shakespeare. Essays in the Shakespeare Myth, Hatfield 2001. 34 Fontane, Th.: „Die Londoner Theater“ (1859). In: ders.: Causerien über Theater, 3. Teil. München 1967, S. 9-117, hier 12, 114 (Hervor. im Orig.); vgl. Habicht, W.: „Shakespeare in Nineteenth-Century Germany. The Making of a Myth“. In: Eksteins, M./ Hammerstein, H. (Hrsg.): Nineteenth-Century Germany. Tübingen 1983, S. 141-157; Ders.: Shakespeare and the German Imagination (= International Shakespeare Association Occasional Paper No. 5). Hertford 1994; ders.: „Shakespeare and the German Imagination. Cult, Controversy and Performance“. In: Kerr, H. u. a. (Hrsg.), Shakespeare. World Views. Newark 1996, S. 87-101; ders.: „Shakespeare und die Gründer“. In: Shakespeare Jahrbuch 136 (2000), S. 74-89. Fontane 1967, S. 114. <?page no="391"?> londoner theater in berlin 391 One after one they turned away from an Englishman’s rendering of an Englishman’s play for the simple reason that it was English. This fault was more than the common prejudice […] against everything foreign. It was genuine jealousy for Shakespeare’s fame, a genuine and seemingly ineradicable belief that Schlegel’s text and Josef Kainz’ personation are truer and nearer to the Shakeapearen Hamlet than the ipsissima verba in Mr. Forbes Robertson’s mouth. 35 Frappiert und verärgert beobachtete hier ein Brite, wie sich das deutsche Publikum von Forbes-Robertsons Gastspiel abwandte - nicht aus primitiver Fremdenfeindlichkeit, sondern in der festen und für ihn unnachvollziehbaren Überzeugung, die deutsche Übersetzung und Schauspielkunst seien näher an Shakespeare als das englische Original. Damit gab er genau den Geist wieder, in dem die deutsche Kritik auch noch zehn Jahre später das Gastspiel Beerbohm Trees beurteilte. Wenn die B. Z. am Mittag betonte, Tree käme „nicht mit der anmaßenden Absicht nach Berlin, uns zu lehren, wie man Shakespeare spielen soll“, brachte sie genau zum Ausdruck, wie die Kritiker der selbsternannten „ersten Shakespearestadt“ das Gastspiel aufnahmen. 36 Gerade weil sie es als Belehrungsversuch und als Herausforderung missverstanden, versuchten sie zu belegen, dass die deutsche Schauspiel- und Inszenierungskunst der britischen überlegen war. Versöhnlicher, aber zugleich entlarvend wies das Berliner Tageblatt daraufhin, dass in „Gebieten des Lebens, die viel wichtiger sind, als es die Bühnenkunst je sein kann […] Britannia noch immer unsere Lehrmeisterin, unerreicht und vielleicht nie erreichbar“ ist. 37 Ganz offenkundig lag der Ablehnung des Gastspiels das Gefühl zugrunde, gegenüber den etablierten Nationalstaaten wie Großbritannien und Frankreich minderwertig zu sein, was für das wilhelminische Deutschland und insbesondere seine Hauptstadt charakteristisch war. In dem Gefühl, um es mit Heinrich Heine zu sagen, dass „Franzosen und Russen […] das Land“ gehört und „das Meer […] den Briten“, wollte die deutsche Intelligenz wenigstens die Herrschaft „im Luftreich des Traums“ nicht verlieren. 38 Da diese In- 35 M., L.: „Hamlet and ‚We Berliners‘“. In: The Academy 12. 3. 1898, S. 292-293. Zur Aufnahme von Charles Wyndham vgl. „‚David Garrick‘ at Berlin“. In: The Times 7. 12. 1887, S. 4; B., Fr.: „Residenz-Theater“. In: Berliner Lokal-Anzeiger 7. 12. 1887, Nr. 286; „Das Auditorium des Residenz-Theaters“. In: Berliner Lokal- Anzeiger 15. 12. 1887, Nr. 293. Zu Forbes-Robertson vgl. „Im Königlichen Operntheater“. In: Berliner Lokal-Anzeiger 4. 3. 1898, Nr. 105; St., Ph.: „Gastspiel der Engländer“. In: Berliner Zeitung. Beiblatt 5. 3. 1898, Nr. 107. 36 A., C.: „Anton ohne Mark“. In: B. Z. am Mittag 15. 4. 1907, Nr. 87. 37 K., J.: „Theater und Musik“. In: Berliner Lokal-Anzeiger 13. 4. 1907, Nr. 185. 38 Heine, H.: „Deutschland ein Wintermärchen“. In: ders.: Sämtliche Werke. Düsseldorfer Ausgabe. Hrsg. v. Windfuhr, M. Hamburg 1985. Bd. 4, S. 106. <?page no="392"?> 392 tobias becker nenwahrnehmung den britischen Beobachtern verschlossen blieb, musste sie die abwehrende deutsche Haltung britischen Gastspielen gegenüber zwangsläufig befremden. Tree selbst kannte die Deutschen jedoch besser. In einem Interview mit dem Berliner Tagblatt erklärte er, die Kritik sehe „Shakespeare an wie Helgoland: als einen Besitz, den wir an Deutschland abgetreten haben“. 39 Indem er die deutsche Shakespeare-Aneignung mit der Nordseeinsel verglich, deren Marinestützpunkt als Vorposten gegen die britische Flotte dienen sollte, brachte er die Überlagerung von Kultur und Politik ironisch auf den Punkt. Die Stilisierung Shakespeares zum deutschen Nationaldichter war der Inbegriff eines erfolgreichen Kulturtransfers. Dieser erzeugte aber keine Harmonie zwischen Briten und Deutschen, sondern eher wachsende Entfremdung. Er zeigte, dass das britische Publikum deutschen Shakespeare- Gastspielen, wie dem der Meininger 1881, aufgeschlossener begegnete als das deutsche Publikum britischen Gastspielen, die als Bedrohung des Shakespeare-Mythos empfunden wurden. Statt also wie Grein und Tree gehofft hatten, zu besserem gegenseitigen Verständnis beizutragen, führte der Kulturaustausch die Missverständnisse erst herbei beziehungsweise machte sie offenbar. Shakespeare konnte dann sowohl für das Gemeinsame als auch für alles Trennende stehen. Dies dokumentiert das Gastspiel von 1907, bei dem Affinität und Antagonismus untrennbar miteinander verbunden waren. IV. Das Scheitern des Gastspiels bei der deutschen Kritik allein durch nationale Vorbehalte zu erklären, würde allerdings zu kurz greifen. Zwar war ein nationalistischer Unterton in der Kritik an Beerbohm Tree deutlich vorhanden, doch die Kritiker lehnten das englische Ensemble nicht einfach ab, weil es aus England stammte. Vielmehr besprachen sie jede einzelne Vorstellung ausführlich, um konkrete Kritik an Inszenierungs- und Schauspielstil vorzubringen. An erster Stelle monierten sie, dass Tree die Dramen Shakespeares gekürzt auf die Bühne brachte, um sie gleichzeitig durch eigene Zusätze zu erweitern. Desgleichen tadelten sie seinen Inszenierungsstil, der ihnen sowohl aufgrund der Opulenz der Bühnenbilder als auch durch die Begleitmusik zu sehr auf die sinnliche Wahrnehmung ausgerichtet war und in ihren Augen daher vom eigentlichen, nämlich 39 „Beerbohm-Tree und Berlin“. In: Berliner Tageblatt 17. 4. 1907, Nr. 193. Zur Rolle Helgolands im deutschen Imperialismus vgl. Laak, D.: Über alles in der Welt: deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert. München 2005, S. 7-9. <?page no="393"?> londoner theater in berlin 393 dem Text, ablenkte. Und schließlich galt ihre Kritik dem Schauspielstil der Briten. Vielen Kritikern erschien das englische Theater weniger fremd als schlicht überholt. Für das Berliner Tageblatt war Tree „ein unglücklicher Nachahmer des Theaterstils, der vor zwanzig Jahren Mode war“, laut Berliner Lokal-Anzeiger bot er „das ganze Genre der alten Schule“, das die Berliner Morgenpost wiederum als eine „Verquickung von Weimaraner Art mit strahlendster, unbekümmertster Meiningerei“ charakterisierte. 40 Auch für Julius Bab (1880-1955) war das Gastspiel das „Denkmal einer überwundenen Epoche“, was er darauf zurückführte, dass Tree zu einem Zeitpunkt nach Berlin kam, als sich Max Reinhardt (1873-1943) bereits als Theaterreformer etabliert hatte. 41 Dieser Vergleich mit Reinhardt, der die Antiquiertheit des britischen Schauspiel- und Inszenierungsstils unterstreichen sollte, findet sich nicht nur bei Bab. „Was Tree beabsichtigt,“ meinte die Schaubühne, „ist uns aus Reinhardts ersten Wintermärchenszenen ja vertraut.“ 42 Dabei vergaßen die Kritiker jedoch, dass der zwanzig Jahre jüngere Reinhardt einer anderen Generation angehörte als Tree. Wenn „heute Reinhardt in Berlin als Reformator in der Inszenierung Shakespearescher Werke gilt,“ erinnerte einzig Bühne und Welt, „so darf nicht vergessen werden, daß ihm Beerbohm-Tree darin zuvorkam“. 43 Die plötzliche Hochschätzung für Max Reinhardt ist aus heutiger Sicht überraschend, da dieser sonst mit ganz ähnlichen Vorwürfen zu kämpfen hatte, wie sie nun an Beerbohm Tree gerichtet wurden. Dies lässt sich wiederum als Argument dafür lesen, dass die britische Herkunft Trees ausschlaggebender war als sein Inszenierungsstil, und dass Reinhardt als „deutsch“ erst in der Abwehr des Anderen angenommen wurde. 44 Obwohl Reinhardt sich selbst nicht über den britischen Einfluss auf seinen Regiestil geäußert hat und sich sogar noch nach seinen großen Londoner Erfolgen über das „protestantische, nüchterne, graue, naive 40 Jacobs, M.: „Shakespeare auf Englisch. Zum Beerbohm-Tree-Gastspiel“. In: Berliner Tageblatt 11. 4. 1907, Nr. 186; St., Ph.: „Theater und Musik“. In: Berliner Lokal-Anzeiger 18. 4. 1907, Nr. 194; Falk, N.: „Beerbohm Tree als Tragöde und Komiker“. In: Berliner Morgenpost 16. 4. 1907, Nr. 88. 41 Bab, J.: Das Theater der Gegenwart. Geschichte der dramatischen Bühne seit 1870. Leipzig 1928, S. 99; auch Richard Foulkes kommt zu diesem Schluss, vgl. Foulkes 2002, S. 144. 42 „Von Beerbohm Tree“. In: Die Schaubühne 3 (1907). Nr. 15, S. 424-427, hier 427. 43 Mayer, E.: „Herbert Beerbohm-Tree“. In: Bühne und Welt 9 (1907), Nr. 13, S. 29-33. 44 Vgl. Jaron, N. (Hrsg.): Berlin - Theater der Jahrhundertwende. Bühnengeschichte der Reichshauptstadt im Spiegel der Kritik. Tübingen 1986, S. 564-575; Fischer- Lichte, E.: „Sinne und Sensationen. Wie Max Reinhardt Theater neu erfand“. In: Koberg, R. u. a. (Hrsg.): Max Reinhardt und das Deutsche Theater. Texte und Bilder aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums seiner Direktion. Berlin 2005, S. 13-27. <?page no="394"?> 394 tobias becker London mit seinem lächerlichen Theater“ amüsierte, war er nicht nur bestens mit der britischen Theaterlandschaft vertraut, sondern griff viele Anregungen von dort auf, wie der Reinhardt-Schauspieler Eduard von Winterstein (1871-1961) berichtet. Unzufrieden damit, „wie störend und phantasielos bei allen Szenen im Freien […] der nüchtern kahle Bretterboden der Bühne“ wirkte, ließ sich Reinhardt für die berühmte Inszenierung des Sommernachtstraums von 1905 durch den naturalistischen Waldteppich anregen, den „Beerbohm-Tree, der berühmte Shakespeare- Regisseur“ für seine Inszenierung desselben Stückes in London verwendet hatte. 45 Dass den Regisseuren und Bühnenbildnern in Berlin ein Detail wie der Waldteppich nicht entging, bezeugt, wie stark die Theaterlandschaften der beiden Metropolen zu diesem Zeitpunkt bereits miteinander vernetzt waren. Wie viel einfacher musste es da sein, von Tree bei dessen Berliner Gastspiel zu lernen. Doch selbst der Autor, der in Bühne und Welt darauf hingewiesen hatte, wieviel Reinhardts Regiekunst Beerbohm Tree verdankte, suggerierte, dass dieser Einfluss 1907 längst überwunden war. Weniger überraschend war dagegen, dass auch Rudolf Fischer im Jahrbuch der Shakespeare-Gesellschaft kategorisch erklärte, das Gastspiel habe aufgrund des nationalen Gegensatzes „keine Folgen“ gehabt, „weder für die deutsche, noch für die englische Bühne. Die beiden können voneinander nichts lernen“. 46 Mit dieser Behauptung aber lag Fischer falsch. Der virulente Nationalismus der Zeit verstellte ihm (aber nicht nur ihm) den Blick auf den vielfach sehr erfolgreichen grenzüberschreitenden Kulturaustausch, für den auch das Gastspiel von 1907 ein Beispiel ist. Beerbohm Tree, der wie kein anderer Regisseur für seine visuell spektakulären Inszenierungen bekannt war, überraschte die deutschen Kritiker, indem er bei seiner Berliner Hamlet-Inszenierung völlig auf prächtige Bühnenbilder, Massenszenen und allen Prunk verzichtete. Nicht aus der Sorge heraus, eine ähnliche Pleite mit dem Bühnenbild zu erleben wie bei Antonius und Cleopatra, sondern aus künstlerischer Überzeugung inszenierte er Hamlet mit nur wenigen Requisiten vor einem dunklen Vorhang. Diese Aufführung fand bei fast allen Kritikern großen Zuspruch. Selbst diejenigen, die dem Gastspiel sonst in völliger Ablehnung gegenübergestanden, sprachen Tree hier ihre Anerkennung aus. Die Vossische Zeitung 45 Brief Reinhardts and Berthold Held, 21. 8. 1912, abgedruckt in Reinhardt, M. (Hrsg): Schriften. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern. Hrsg. von H. Fetting. Berlin 1974, S. 153-163, hier 153. Winterstein, E. v.: Mein Leben und meine Zeit. Ein halbes Jahrhundert deutscher Theatergeschichte. Berlin 2 1951, S. 420-421; vgl. dazu auch Marx, P. W.: „Ein richtiger Wald, ein wirklicher Traum. Max Reinhardts Sommernachtsraum 1905“. In: Forum Modernes Theater 22 (2007), Nr. 1, S. 17-31. 46 Vgl. Mayer 1907; Fischer 1907, S. 360. <?page no="395"?> londoner theater in berlin 395 beispielsweise sah darin eine „fruchtbare Anregung“, die B. Z. am Mittag lobte den „schlichten und tiefen Ton“, der zur „Grundlage einer gesunden Reaktion gegen den Dekorationsprunk“ werden könnte und die Schaubühne, die zuvor stets Reinhardt über Tree gestellt hatte, befand nun, dass er damit „noch einen Schritt weiter als Reinhardt gegangen“ sei und „ein Vorbild aufgestellt“ habe. 47 Die überaus positiven Besprechungen der Hamlet-Inszenierung zeigen, dass sich die Rezeption des Gastspiels nicht auf eine einzige Lesart reduzieren lässt. Die Mehrheit der Kritiker lehnte die Inszenierungen Trees nicht pauschal ab, sondern bemühte sich durchaus, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Kritikpunkte, die anlässlich des Berliner Gastspiels vorgebracht wurden, waren keineswegs besonders neu oder originell. Vielmehr sah sich Tree in seiner Heimat derselben Kritik ausgesetzt. Während Bernard Shaw behauptete, Tree würde wie die meisten Schauspieler Shakespeare weder verstehen noch mögen, bezeichnete ihn der Theaterreformer Edward Gordon Craig (1872-1966) gar als „worst enemy of the English Theatre to-day“. 48 Für Craig und Shaw, ansonsten Vertreter vollkommen unterschiedlicher Richtungen, verkörperte Tree die Tradition eines visuell opulenten Inszenierungsstils, die auf dem Weg zu einem neuen Theater überwunden werden musste. Tree hingegen verteidigte seinen Stil mit dem Hinweis auf die Popularität seines Theaters, das Shakespeare einem Massenpublikum zugänglich machte. Dem Theaterhistoriker Michael Booth zufolge wurde die Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern und Gegnern des Spektakel-Stils gerade anhand der Inszenierung von Shakespeare-Dramen geführt. Wie die Reaktionen auf Trees Gastspiel zeigten, war dieser Konflikt nicht auf Großbritannien beschränkt, sondern wurde in ähnlicher Weise zeitgleich in Deutschland ausgetragen. Obschon Reinhardt grundsätzlich dem Lager der Reformer zuzurechnen ist, missbilligten viele Kritiker seinen alle Sinne ansprechenden Inszenierungsstil, der dem Trees eng verwandt war. Und deshalb speiste sich die Kritik an Tree eben nicht nur aus national-chauvinistischen Ressentiments, 47 „Theater und Musik“. In: Vossische Zeitung 18.4.1907, Nr. 179; F., R. O.: „Beerbohm Tree als Hamlet“. In: B. Z. am Mittag 18.4.1907, Nr. 90; „Von Beerbohm Tree“. In: Die Schaubühne 3 (1907). Nr. 15, S. 424-427. 48 Shaw, B.: „On Pleasure Bent“. In: The Drama Observed, Bd. 3: 1897-1911. Hrsg. von Bernard F. Dukore, Pennsylvania 1993, S. 944-948, hier 947 (zuerst in: Saturday Review 20. 11. 1897); Craig zit. nach Carter 1914, S. 27; siehe auch Cran, G.: Herbert Beerbohm Tree. London 1907, S. 67-85; Pearson 1956, S. 172-182; Bingham 1978, S. 215-231; Lamb, M.: Antony and Cleopatra on the English Stage. London/ Toronto 1980, S. 91-92. Zur Kritik an Trees Schauspielstil vgl. auch Mullin, D. (Hrsg.): Victorian Actors and Actresses in Review. A Dictionary of Contemporary Views of Representative British and American Actors and Actresses. 1837-1901. Westport (Conn.)/ London 1983, S. 458-464. <?page no="396"?> 396 tobias becker sondern vielleicht noch mehr aus unterschiedlichen ästhetischen Auffassungen. 49 Die Vorhersage Rudolf Fischers, das Gastspiel würde keine Folgen zeitigen, da Deutsche und Briten nichts von einander zu lernen hätten, sollte sich jedenfalls nicht erfüllen. Wie bei der Übernahme des Waldteppichs wurde abermals der Sommernachtstraum zum Musterfall eines Kulturtransfers im Bereich des Theaters. Bei seiner Inszenierung von 1905 hatte Reinhardt Tree noch an visueller Opulenz übertroffen, indem er neben dem Waldteppich auch naturalistisch wirkende Bäume und die Drehbühne des Deutschen Theaters zum Einsatz brachte. Als er dasselbe Stück vier Jahre später im Münchner Künstlertheater auf die Bühne brachte, verzichtete er plötzlich auf alle diese Elemente. Den Boden bedeckte nun ein grünes Tuch, im Hintergrund war ein blaues gespannt, und davor standen vier angedeutete Bäume: Die Inszenierung vollzog sich, nachdem der sonst mit üppigsten Dekorationen aufwartende Charles Kean-Schüler Herbert Beerbohm-Tree bei seinem vorangehenden Berliner Gastspiel im April 1907 ‚Hamlet‘ bereits auf sehr vereinfachter Szene vor einem grünen Vorhang mit wenigen Möbeln gespielt hatte […] 50 Für den Theaterhistoriker Ernst Leopold Stahl stand fest, dass Reinhardt bei seiner schlichten Inszenierung des Sommernachtstraums von Trees Hamlet-Aufführung in Berlin inspiriert worden war. Hatte Reinhardt für seine Inszenierung von 1905 den naturalistischen Waldboden von Tree übernommen, griff er nun dessen Anregung zu einem Theater auf, dass auf visuellen Sinnenreiz und naturalistische Bühnengestaltung verzichtete. Von einer nationalistisch aufgeladenen öffentlichen Meinung ließen sich Theaterpraktiker wie Reinhardt und Tree nicht abhalten, Anregungen aufzugreifen. Wenn ein Element die gewünschte Wirkung erzielte, spielte es keine Rolle, wer es entwickelt hatte, denn Reinhardt sah das Theater nicht unter politischen, sondern unter ästhetischen Gesichtspunkten. Dabei lag der Schwerpunkt weniger auf dem fremden Theater, beziehungsweise der fremden Kultur, sondern auf dem eigenen Theater und der eigenen Kultur. Der Transfer aus dem fremden Theater sollte ein Problem lösen, das im eigenen Theater entstanden war. Obwohl dies in gleichem Maße für die anglo-deutschen Transfers bei der Inszenierung von Shakespeare gilt, lässt sich zugleich ein gemeinsames Arbeiten an 49 Vgl. Beerbohm Tree, H.: „The Living Shakespeare: A Defence of Modern Taste“. In: ders.: Thoughts and After-Thoughts (1913). London u. a. 1915, S. 39-72. Booth, M. R.: Victorian Spectacular Theatre. 1850-1910. Boston u. a. 1981, S. 30, siehe zu Tree auch S. 127-160. Zur Kritik an Reinhardt vgl. Jaron 1986; Fischer- Lichte 2005. 50 Stahl 1947, S. 583. <?page no="397"?> londoner theater in berlin 397 ähnlichen Problemen und eine Tendenz zu Standardisierung von Inszenierungsästhetik beobachten. 51 Die Verwandtschaft der Inszenierungskunst von Tree und Reinhardt, die für Stahl in seiner 1947 erschienen Studie über die deutsche Shakespeare- Rezeption so offensichtlich war, wurde von der Theaterhistoriographie lange weitgehend ausgeblendet. Erst neuerdings hat der Theaterhistoriker Peter W. Marx die Parallelen zwischen Reinhardt und Tree herausgearbeitet und auf die Vorreiterrolle beziehungsweise Modernität des Tree’schen Theaters hingewiesen. Die Analyse des Gastspiels von 1907 erhärtet diese Argumentation. Die Anleihen Reinhardts bei Beerbohm Tree markieren jedoch keineswegs den Beginn des deutsch-englischen Kulturaustauschs im Bereich des Theaters, sondern ein weit fortgeschrittenes Stadium. Der für das 19. Jahrhundert charakteristische historistische Inszenierungsstil, also die historisch möglichst exakte Rekonstruktion von Kleidung und Architektur auf der Bühne, wurde in Großbritannien entwickelt und erlebte im Theater von Charles Kean (1811-1868) einen ersten Höhepunkt. Dafür war im deutschen Sprachraum vor allem das Meininger Hoftheater bekannt, das den historistischen Stil noch akribischer kultivierte. Sowohl der ‚Theater-Herzog‘ Georg II. von Sachsen-Meiningen (1826-1914) als auch der Schauspieler Friedrich Haase (1825-1911) waren nachweislich von den Shakespeare-Inszenierungen Keans inspiriert, den sie in den 1850er Jahren in London auf der Bühne gesehen hatten. 52 Während sich in der deutschen Theatergeschichte allerdings kaum Hinweise auf diesen Transfer finden, wird umgekehrt dem Gastspiel der Meininger 1881 in London ein großer Einfluss auf Schauspieler und Regisseure wie Henry 51 Vgl. Fischer-Lichte 1999, S. 159-161. Stefanek, P.: „Max Reinhardt und die Londoner Szene“. In: Leisler, E./ Prossnitz, G. (Hrsg.): Max Reinhardt in Europa. Salzburg 1973, S. 77-116; Marx 2006, S. 126-146. Zur Inszenierungsgeschichte des Sommernachtstraums vgl. Halio, J.: A Midsummer Night’s Dream. Manchester u. a. 1994, insb. S. 31-38. 52 Vgl. Marx 2007. Vgl. Haase, F.: Was ich erlebte. 1846-1896. Berlin u. a. 1897, S. 162-164; Winds, A.: „Vorläufer moderner Inszenierungen Shakespeare’scher Stücke“. In: Shakespeare-Jahrbuch 47 (1911), S. 196-200; Osborne 1988, S. 55, 79-81. Zum Einfluss der Meininger vgl. Odell, G.: Shakespeare from Betterton to Irving. London 1921. Bd. 2, S. 423-426; Carter, H.: The Theatre of Max Reinhardt. London 1914, S. 76; Marshall, N.: The Producer and the Play. London 1957, S. 147; Trewin, J.: Benson and the Bensonians. London 1960, S. 30; Styan, J.: The Shakespeare Revolution. Criticism and Performance in the Twentieth Century. Cambridge u. a. 1977, S. 26; DeHart 1979, S. 20; Koller, A.: The Theater Duke. Georg II of Saxe-Meiningen and the German Stage. Stanford 1984, S. 20, 173; Fischer-Lichte, E.: Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen/ Basel 2 1999, S. 217-235; Erck, A./ Kern, V.: „Die Meininger in Europa“. In: Kern, V. (Red.): Die Meininger kommen! Hoftheater und Hofkapelle zwischen 1874 und 1914 unterwegs in Deutschland und Europa. Meiningen 1999, S. 7-33. <?page no="398"?> 398 tobias becker Irving, Ellen Terry (1847-1928) und Beerbohm Tree zugeschrieben. Michael Booth hat dies allerdings stark relativiert. Zwar bewarb Frank Benson (1858-1939) sein Ensemble mit dem Hinweis „Conducted on the Meininger system“, insgesamt finden sich jedoch wenige stichhaltige Belege für einen unmittelbaren Einfluss des Meininger Gastspiels auf das Londoner Theater. Laut Michael Booth war die Londoner Theaterszene „almost unaffected by a company that had many admirers but no followers“. 53 Als Inspiration würdigte Beerbohm Tree allerdings Richard Wagner. Umgekehrt ist davon auszugehen, dass die Gastspiele von Samuel Phelps, Charles Wyndham und Johnston Forbes-Robertson in Berlin nicht ohne Wirkung blieben. Theodor Fontane jedenfalls wies auf „das Nachahmenswerte gewisser szenischer Einrichtungen“ bei Phelps hin und empfahl diese zur Adaption. Wie der Theaterhistoriker Ernst Leopold Stahl bereits 1914 gezeigt hat, lässt sich anhand des Sommernachtstraums tatsächlich eine „gegenseitige Befruchtung englischer und deutscher Bühnenkunst von den fünfziger Jahren bis auf unsere Zeit“ nachverfolgen. Dagegen besitzt die These Richard Foulkes, Tree habe Reinhardts Ideen absorbiert, wenig Überzeugungskraft. Zum einen bleibt Foulkes den Hinweis auf das konkrete Element schuldig, das Tree von Reinhardt übernommen haben soll, zum anderen hatte sich, als Reinhardt mit seinen inszenatorischen Experimenten begann, Trees Handschrift längst ausgebildet. 54 V. Als die Antagonismen der europäischen Mächte im Ersten Weltkrieg eskalierten, warf Gerhart Hauptmann (1862-1946) in einer Festrede die Frage auf, ob „der Kultus des Dichters, den eine englische Mutter geboren hat, in Deutschland fortan noch erlaubt“ sei. Hauptmann gab sich selbst die Antwort: „Ja! Er ist erlaubt. Und nicht nur erlaubt: er ist geboten! “ 55 Reinhardts Deutsches Theater, das in der Spielzeit vor dem Krieg 13 Shake- 53 Benson zit. nach Booth, M.: „The Meininger Company and English Shakespeare“. In: Shakespeare Survey 35 (1982), S. 13-20, hier 19. Weder Benson noch Terry erwähnen die Meininger in ihren Autobiografien, vgl. Benson, F.: My Memoirs. London 1930. Booth 1982, S. 20; Terry, E.: The Story of My Life. London 1908. 54 Vgl. Beerbohm Tree 1915, S. 56. Zur britischen Wagner-Rezeption vgl. Müller, S. O.: „‚A Musical Clash of Civilisations‘? Musical Transfers and Rivalries around 1900“. In: Geppert/ Gerwarth 2008, S. 305-329. Fontane 1967, S. 116-117. Stahl, E. L.: Das englische Theater im 19. Jahrhundert. Seine Bühnenkunst und Literatur. München/ Berlin 1914, S. 89; siehe auch: Ders. 1947, S. 575, 583; vgl. Foulkes 2002, S. 4, 144. 55 Hauptmann, G.: „Deutschland und Shakespeare“. In: Shakespeare-Jahrbuch 51 (1915), S. VII-XII, vgl. Habicht 1983, S. 153. <?page no="399"?> londoner theater in berlin 399 speare-Inszenierung auf dem Spielplan gehabt hatte, startete nach Kriegsausbruch eine öffentliche Umfrage, ob Dramen eines britischen Autors in Kriegszeiten noch opportun seien, führte aber nach kurzer Unterbrechung seinen Shakespeare-Zyklus fort. 56 In direkter Reaktion auf Hauptmanns Rede empörte sich der britische Dramatiker Henry Arthur Jones (1851- 1929) über die Anmaßung deutscher Intellektueller, die Shakespeare als „enthusiastically pro-German in his sympathies“ beschrieben. Jones fand es deshalb der Mühe für wert, durch eine minutiöse Relektüre der Werke Shakespeares zu belegen, dass die deutschen Versuche, diesen zu okkupieren, nicht nur anmaßend, sondern auch falsch seien. Seine Untersuchung kam zu dem für ihn befriedigenden Ergebnis, dass Shakespeare in „uncontrollable love for England as England“ und aus „instinctive aversion from Germans“ zur Eindeutschung völlig ungeeignet war. 57 Der Erste Weltkrieg markierte weder das Ende der deutschen Shakespeare-Rezeption noch des deutsch-britischen Kulturaustauschs. Er war eine Folge der internationalen Politik im Zeitalter des Imperialismus, auf deren kulturelle Dimension das Gastspiel Beerbohm Trees ein Schlaglicht wirft. Zum einen zeigt es, dass die deutsche auswärtige Kulturpolitik sich bereits vor 1914 nicht in theoretischen Debatten und der Unterstützung deutscher Auslandsschulen und -vereine erschöpfte, sondern bisweilen auch Projekte förderte, wie sie heute in ähnlicher Form die Goethe-Institute durchführen. Das Gastspiel stand einerseits, vor allem hinsichtlich der Einladung durch Wilhelm II., in der Tradition frühneuzeitlichen Mäzenatentums, wies aber zugleich im Verbund mit einer Reihe von anderen Initiativen den Weg hin zu einer modernen auswärtigen Kulturpolitik, wie er nach 1918, und mehr noch nach 1945, systematisch beschritten wurde. Es zeigt, dass Politik und Kultur weder auf Seiten der Politiker und Diplomaten noch auf Seiten der Praktiker und Kritiker so eindeutig getrennt waren wie dies häufig für das Kaiserreich behauptet worden ist. 58 Insofern stellt sich die Frage, ob das Gastspiel, selbst wenn es keine konkreten politischen Folgen zeitigte, tatsächlich pauschal als gescheitert angesehen werden kann. In den Augen der meisten deutschen Kritiker war dies fraglos der Fall, und das nicht nur in politischer, sondern ebenso in künstlerischer Hinsicht. Dieser Meinung ist auch Richard Foulkes, 56 Vgl. Kuhla, H.: „Theater und Krieg. Betrachtungen zu einem Verhältnis, 1914- 1918“. In: Fiebach, J./ Mühl-Benninghaus, W. (Hrsg.): Theater und Medien an der Jahrhundertwende. Berlin 1997, S. 63-115, hier 92-96; Baumeister, M.: Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur. Essen 2005, S. 56; siehe auch Engler, B.: „Shakespeare in the Trenches“. In: Shakespeare Survey 44 (1991), S. 105-111. 57 Jones, H.: Shakespeare and Germany. London 2 1916, S. 3, 5, 16, 24. 58 So unlängst von Wolf Lepenies, vgl. Lepenies, W.: Kultur und Politik. Deutsche Geschichte. München/ Wien 2006, insb. S. 26-27. <?page no="400"?> 400 tobias becker der sich als einziger neuerer Theaterhistoriker mit Trees Besuch in Berlin beschäftigt hat. Dass Tree selbst von seinem Gastspiel nie anders als von einem Erfolg sprach, gilt Foulkes höchstens als Beweis für dessen Pragmatismus und Eitelkeit. Dabei unterschlägt er aber, dass das Berliner Publikum die Briten tatsächlich sehr viel freundlicher aufnahm als die Kritik. Und er übersieht, dass Trees Gastspiel wenigstens einen erfolgreichen Kulturtransfer zur Folge hatte. Insofern muss das Scheitern zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden. 59 Doch selbst wenn man das Gastspiel als gescheitert betrachtet, gilt es zwischen verschiedenen Ursachen zu differenzieren. Zweifellos spielten nationale, politische und persönliche Rivalitäten, wie sie Richard Foulkes verantwortlich macht, eine große Rolle. Mehr noch aber scheiterte es an zwei erfolgreichen Kulturtransfers: an der Aneignung Shakespeares durch Intellektuelle und Publikum in Deutschland und an der Übernahme britischer Inszenierungspraktiken durch deutsche Regisseure. Auf diese Weise kam es zu der auf den ersten Blick paradoxen Situation, dass die Zeit, in der sich das Londoner und Berliner Theater ähnlicher waren als je zuvor in ihrer Geschichte zugleich die Zeit der größten Rivalität war. Auf den zweiten Blick ist dieser Befund allerdings weit weniger paradox, denn es liegt nahe, den Antagonismus als Reaktion auf die zunehmende Internationalisierung zu lesen. Angesichts des Fremden stellte sich die Frage nach dem Eigenen mit neuer Vehemenz. Viele Untersuchungen kultureller Transfers kommen daher zu dem Ergebnis, dass sich Kulturaustausch immer zwischen den Polen von „Aneignung und Abwehr“, Affinität und Antagonismus bewegt, und es nicht trotz, sondern gerade aufgrund von erfolgreichen Kulturtransfers zu Spannungen kommt. Gerade in den Bereichen, in denen Kontakt und Austausch am häufigsten und intensivsten waren, war auch die Reibungsfläche am größten. Anders als Grein und Tree gehofft hatten, führte der Austausch nicht zu besserem gegenseitigen Verständnis, sondern zu größerer Entfremdung. Sofern Tree in Berlin scheiterte, war dafür letztlich der Erfolg des britischen Theaters verantwortlich - Erfolg und Scheitern waren zwei Seiten derselben Münze. 60 59 Zu Beerbohm Trees Einschätzung des Gastspiels vgl. „Beerbohm-Tree und Berlin“. In: Berliner Tageblatt 17. 4. 1907, Nr. 193; „Mr. Tree’s Return“. In: Daily Express 22. 4. 1907, S. 5; „Deutsch-englische Beziehungen und die Kunst“. In: Londoner Zeitung Hermann 18. 5. 1907, S. 3. Vgl. Foulkes 2002, S. 139-145. 60 Vgl. Foulkes 2002, S. 143. Vgl. die Beiträge in Muhs u. a. 1998; Eisenberg, C.: „English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800-1939, Paderborn 1999; Dies., „‚Representing the very best‘. Anglo-German Competition and Transfers in Sport“. In: Geppert/ Gerwarth 2008, S. 393-412; sowie den Beitrag von Sven Oliver Müller über die Rezeption deutscher Musik im selben Band. <?page no="401"?> londoner theater in berlin 401 Die Befunde dieses Beitrags deuten darauf hin, dass alle Versuche, Theatergeschichte als nationale Geschichte zu schreiben, von vornherein zum Scheitern verurteilt sind, da spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Kontakte und der Austausch zwischen den Theaterpraktikern ein solches Ausmaß annahmen, dass sich in keiner Nation mehr das Theater unabhängig von interkulturellen Transfers entwickelte. So war die Inszenierung von Shakespeare zwischen 1850 und 1914 nicht nur durch Kulturtransfers zwischen Großbritannien und Deutschland geprägt, ihre Entwicklung ist ohne diesen Austausch überhaupt nicht zu verstehen. Während die Shakespeare-Rezeption bislang vor allem auf der Basis von Texten untersucht und deshalb vor allem der Konflikt akzentuiert wurde, hilft die Einbeziehung des praktischen Austausches auf der Ebene der Inszenierungen dieses Bild zu korrigieren. Umgekehrt kann das Gastspiel als Aufforderung an die transnationale Geschichte gelesen werden, die Kultur im engeren Sinne stärker zu berücksichtigen. <?page no="402"?> Provinzieller Fluchtraum oder „Herz vom Herzen Europas“? Zur Gründungsidee der Salzburger Festspiele Pia Janke (Wien) In seiner Denkschrift zur Errichtung eines Festspielhauses in Hellbrunn (1917) und in seinen programmatischen Briefen an die Schriftsteller Ferdinand Künzelmann 1 und Leopold Andrian 2 charakterisierte der Theatermacher Max Reinhardt die zu begründenden Salzburger Festspiele als Institution, die, abseits der Großstadt, den breiten Massen Erlebnisse von Freude und Sinnerfüllung bieten sollte. Diese Konzeption von Festspielen, die den „weitesten Volkskreisen […] erhebende, geistig und sittlich segensreiche Eindrücke feierlicher Art“ erschließen und eine Einheit stiften sollten, war eine Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. 3 Als „Friedenswerk“ waren die Festspiele von Reinhardt gedacht, 4 als „Wallfahrtsort […] für die zahllosen Menschen, die sich aus den blutigen Greuel dieser Zeit nach den Erlösungen der Kunst sehnen.“ 5 Reinhardts Konzept von Salzburger Festspielen war ein Gegenkonzept, das sich gegen die aktuellen Krisen, aber auch gegen das Großstädtische, das mit Beschleunigung, Zerstreuung und Vereinzelung in Zusammenhang gebracht wurde, richtete und das der Bevölkerung eine Welt des schönen Scheins eröffnen sollte. Reinhardt entwarf die Festspiele als Institution, in der eine sakralisierte Kunst die Massen von der schlechten Gegenwart befreite. Seine Definierung des Theaters als festliche, freudespendende Anstalt war aber 1 Holl, O.: „Dokumente zur Entstehung der Salzburger Festspiele“. In: Maske und Kothurn 2/ 3 (1967), S. 174-178. (Brief Max Reinhardt an Ferdinand Künzelmann, 21. 7. 1918). 2 Reinhardt, M.: „Denkschrift zur Errichtung eines Festspielhauses in Hellbrunn“. In: Hadamowsky, F.: Reinhardt und Salzburg. Salzburg o. J., S. 20-22. (Brief Max Reinhardt an Leopold Andrian, Anfang September 1918). 3 Reinhardt o. J., S. 16-19. 4 Holl 1967, S. 148-179 und S. 174-178, S. 175. (Brief Max Reinhardt an Ferdinand Künzelmann, 21. 8. 1918). 5 Ebd., S. 175. <?page no="403"?> provinzieller fluchtraum 403 auch mit der Suche nach einer Neubestimmung dessen, was durch den Krieg verloren zu gehen drohte, verbunden: der österreichischen Kulturtradition, der österreichischen Identität. In seinen Ausführungen betonte Reinhardt die spezifisch österreichische Kunst, der in Salzburg „eine Triumphpforte“ errichtet werden sollte. 6 In engem Austausch mit Reinhardt formulierte Hugo von Hofmannsthal sein Konzept von Festspielen in Salzburg. Das Projekt Salzburger Festspiele, so wie Hofmannsthal es in seinen programmatischen Schriften um 1919 entwickelte, war auch bei ihm der Versuch, den Schock des Krieges und dessen politische Konsequenzen zu bewältigen, die Brüche zu kitten und eine neue nationale Identität zu stiften. Nicht nur theaterpraktische Überlegungen -, das Bestreben aus der täglichen Theaterroutine auszubrechen - sondern vor allem der Anspruch, einen Ort der Heilung zu etablieren, das Theater als festliche Anstalt zu reinstallieren und mittels Festspielen eine Gemeinschaft zu begründen, bildeten um 1919 das Fundament seiner Festspielidee. Hofmannsthals Entwurf zu Salzburger Festspielen war noch viel deutlicher als Reinhardts Konzept ein Gegenentwurf; er konzipierte die Festspiele als anachronistische Gegenveranstaltung, die etwas behaupten sollte, was in der Großstadt endgültig verloren zu gehen drohte: Sammlung, Verlebendigung der Tradition und Ausgleich der Klassen im Sinne einer Ordnung, in der jeder den ihm zustehenden Platz zugewiesen erhielt. Der modernen Masse setzte Hofmannsthal den Mythos einer sich im sakralisierten Kunstwerk wiederfindenden Gemeinde entgegen. „Wer den Begriff des Volkes vor der Seele hat, weist diese Trennung von sich“, lautete in Hofmannsthals in Dialogform verfasstem Beitrag „Die Salzburger Festspiele“ die Antwort auf die Frage: „Wollt ihr für die Gebildeten spielen oder für die Masse? “ 7 War jedoch mit dieser Gemeinde, mit diesem „Volk“ eine Form europäischer Gemeinschaft gemeint, wie aktuell Politiker aller Parteien jedes Jahr neu bei ihren Reden zur Eröffnung der Salzburger Festspiele betonen und damit Hofmannsthal zu einem der Gründungsväter einer Frieden und Ausgleich der Kulturen verkörpernden Europäischen Gemeinschaft stilisieren, an dessen Schriften es sich für die Gegenwart und Zukunft zu orientieren gelte? Beschäftigt man sich mit Hofmannsthals Schriften zu Festspielen in Salzburg, wird man nur an zwei, drei Stellen etwas von Europa lesen, und wenn, dann überaus vage von einem „mittleren Europa“, viel mehr 6 Reinhardt o. J., S. 20. (Brief Max Reinhardt an Leopold Andrian). 7 Hofmannsthal, H. v.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa IV. Frankfurt a. M. 1955, S. 89. <?page no="404"?> 404 pia janke jedoch von Österreich, genauer gesagt vom „Bayrisch-Österreichischen“. Hofmannsthals Konzept von Festspielen in Salzburg ist im Kontext seines Versuchs zu lesen, nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie, die er während des Krieges noch als einziges legitimes Erbe des Heiligen Römischen Reiches und als organisch gewachsenes, alle Zeiten und Krisen überdauerndes Ganzes verteidigt hatte, das spezifisch Österreichische zu fassen und in diesem Zusammenhang eine kulturelle Tradition zu erfinden, die in Salzburg Verbindlichkeit erhalten sollte. Schon im Beitrag „Die österreichisch Idee“ von 1917 hatte Hofmannsthal zwar auf „Europa“ Bezug genommen, das sich nach dem Krieg neu konstituieren sollte, doch zugleich geschrieben: „Dies Europa, das sich neu formen will, bedarf eines Österreich […]“. 8 Die „österreichische Idee“, die er hier formuliert hatte, war verbunden mit einer österreichischen Sendung für Europa, wobei dieses Europa eher als geistiges Prinzip denn als konkreter geographischer Raum aufschien. Die Dominanz des Österreichischen, das Modellcharakter für ein zukünftiges Europa haben sollte, irritiert in dieser wie in anderen Schriften Hofmannsthals jener Zeit. Sätze wie die, dass es Österreich bedürfe, „um den polymorphen Osten zu fassen“, 9 die Betonung des „Schicksalhafte[n], welches bei uns darauf geht, in deutschem Wesen Europäisches zusammenzufassen“, 10 oder die Stilisierung Österreichs zum Hort vorrevolutionärer Traditionen lesen sich raunend, rückwärtsgewandt und - trotz aller behaupteten Suche nach Ganzheitlichkeit und europäischem Ausgleich - nationalistisch Österreich-fixiert, wobei Deutsches in diesem Österreichischen wie selbstverständlich eingeschlossen war. In Hofmannsthals Schriften zu Festspielen in Salzburg verstärkten sich diese Tendenzen noch mehr. So befürwortete er darin zwar Gönner aus dem „ganzen Europa“, 11 das Salzburger Programm sollte jedoch „deutsch und national“ sein, 12 worin auch, so Hofmannsthal, die Antike, Shakespeare, Calderón und Molière eingeschlossen wären und dieses Repertoire den „tiefsten in Jahrhunderten ausgeformten Gewöhnungen des mittleren Europa“ entsprechen würde. 13 Das „Volk“, die Gemeinschaft, für die in Salzburg gespielt werden sollte, hatte bei Hofmannsthal gar nichts Europäisches mehr an sich. Es war vielmehr der „bayrisch-österreichische 8 Hofmannsthal, H. v.: „Die österreichische Idee“. In: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa III. Frankfurt a. M. 1952, S. 406. 9 Ebd., S. 406. 10 Ebd., S. 405. 11 Ders. 1955, S. 93. 12 Ebd., S. 89. 13 Ebd., S. 90. <?page no="405"?> provinzieller fluchtraum 405 Stamm“, der laut Hofmannsthal der Adressat der Salzburger Festspiele sein und zugleich durch die Aufführungen manifest werden sollte. Zentrale Bedeutung bei dieser Gemeinschaftskonzeption kam dem dritten Band von Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften zu, der 1918 erschienen war und eine „Stammeskultur des bairischen Volkes“ behauptete, 14 das sich, als bäuerliche Gemeinschaft, durch eine spezifische Form des Dramatisch-Theatralen auszeichnete. Hofmannsthal destillierte aus Nadlers Literaturgeschichte die Kultur des „Bayrisch-Österreichischen“, um damit in seinen Schriften zu Festspielen in Salzburg eine überzeitliche Kulturtradition zu behaupten, die auch nach dem Zusammenbruch der österreichischen Monarchie ungebrochen weiterexistierte. Zentrales Charakteristikum des „bayrisch-österreichischen Stammes“ war für Hofmannsthal - wie auch für Nadler, den Hofmannsthal in seinen Schriften zu Festspielen in Salzburg wortwörtlich zitierte - das Mimisch- Schauspielerische. Die Salzburger Festspiele sollten, so Hofmannsthals Konzept, diesem Charakteristikum zum Ausdruck verhelfen. In Hofmannsthals (und Nadlers) Diktion hieß das, dass die Festspiele den „Urtrieb des bayrisch-österreichischen Stammes gewähren lassen“ sollten. 15 Nicht nur die bayrisch-österreichische Theatertradition als solche sollte in Salzburg präsentiert werden, sondern auch das, was den „bayrisch-österreichischen Stamm“ ursprünglich ausgemacht hätte, sollte zur Geltung kommen: die Lust am festlichen Theaterspiel. „Der Festspielgedanke ist der eigentliche Kunstgedanke des bayrisch-österreichischen Stammes“, 16 schrieb Hofmannsthal 1919 in seinem Beitrag „Deutsche Festspiele in Salzburg“. Hofmannsthal konzipierte die Festspiele als Forum einer nationalen Gemeinschaftsstiftung, in der das Bäuerliche und das Volkstümliche, die mit dem festlichen Theaterspielen in Zusammenhang gebracht wurden, dominant waren. Seine Festspiel-Definition leitete sich aus der Mythisierung deutsch-österreichischer alpenländischer Theatertradition ab, die für all das stand, was es wieder zu etablieren galt: nationale Einheit, Ganzheit, Traditionsverbundenheit, Unmittelbarkeit. Der regressive Zug dieses Konzepts ist auch an den Feindbildern ablesbar: Säkularisierung und Demokratisierung, Kapitalismus und Konsumkultur, Herrschaft der Massen - all dem sollte entgegengesteuert werden. 14 Nadler, J.: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. 3: Hochblüte der Altstämme bis 1805 und der Neustämme bis 1800. Regensburg 1918, S. 12. 15 Hofmannsthal 1952, S. 444. 16 Ebd., S. 441. <?page no="406"?> 406 pia janke Hofmannsthal bezog sich in der konkreten Beschreibung der bayrischösterreichischen Theatertradition neben Mozart, Goethe und der Wiener Theaterkultur, die er zum Höhepunkt der Tradition stilisierte, auch auf die Volks- und Passionsspieltradition - Oberammergau wurde von ihm besonders erwähnt -, und auf das Bayreuth Richard Wagners, wobei er sich sogleich davon absetzte: „Bayreuth bleibe wie es ist, aber es dient einem großen Künstler; Salzburg will dem ganzen klassischen Besitz der Nation dienen.“ 17 All diese Traditionen brachte Hofmannsthal, in Anlehnung an Nadler, mit dem Begriff Barock zusammen. Sowohl Nadler als auch Hofmannsthal erklärten das Barock, das Festliches und Volkstümliches miteinander verbinden würde, zur typischen Kunstform des bayrisch-österreichischen Stammes. Die Rehabilitierung des Barock, das weniger als konkrete Epoche, sondern als Stilkonstante verstanden wurde, war bei Nadler und Hofmannsthal auch eine Strategie, nationale Identität zu begründen. Michael P. Steinberg hat in seinem Buch Ursprung und Ideologie der Salzburger Festspiele die „Ideologie des Barock“ zu einem Schlüsselbegriff gemacht, um das ideologische Konzept der Salzburger Festspiele zu charakterisieren. Auch Steinberg bezog sich mit dem Begriff Barock nicht auf eine Epoche, sondern verstand ihn als „diskursiven Stil“: „Als diskursiver Stil verkörpert das Barock meines Erachtens die beiden Prinzipien Theatralität und Totalität“. 18 Den ungebrochenen Glauben an diese beiden Prinzipien erkannte Steinberg in der Konzeption der Salzburger Festspiele, wobei er beim Festspielprogramm eine paradoxe „Verschmelzung“ von Nationalismus und Weltbürgertum konstatierte: „Das Festspielprogramm verrät auf allen Ebenen die Verschmelzung explizit kosmopolitischer und paneuropäischer Ideale mit einem bayrisch-österreichischen - das heißt barocken - Nationalismus.“ 19 Im Schlusskapitel seines Buches spitzte Steinberg seine These zu und stellte sie in einen zeitgeschichtlichen, politischen Kontext: Der Hang zu kultureller Totalität und die Abwehr von Fragmentierung und Mehrdeutigkeit, die Hofmannsthal und Reinhardt trotz enormer anderer Differenzen verbinden, erweisen sich als gemeinsamer Nenner zwischen Barock und Faschismus, zwischen dem Salzburger großen Welttheater (als Text und historischem Kontext) und dem politischen Theater des Nürnberger Reichsparteitags von 1934. 20 17 Ders. 1955, S. 91. 18 Steinberg, M. P.: Ursprung und Ideologie der Salzburger Festspiele 1890-1938. Salzburg 2000, S. 20. 19 Ebd., S. 33. 20 Ebd., S. 214. <?page no="407"?> provinzieller fluchtraum 407 Steinberg charakterisierte Hofmannsthals und Reinhardts Konzept als tendenziell totalitär und anti-modern. Der Schluss, den Steinberg daraus zog, die In-Beziehung-Setzung von Salzburger großem Welttheater und Nürnberger Reichsparteitag, erscheint provokant. Steinberg bezog sich auf das Phänomen der Inszenierung von Politik, um sowohl die Salzburger Festspiele als auch den Nürnberger Reichsparteitag zu beschreiben und Übereinstimmungen zu konstatieren. Seine Polemik ist insofern überzogen, als der Kontext, in den die spezifische totalitäre „Theatralität“ der Salzburger Festspiele zu stellen wäre, viel näher zu suchen ist, nämlich im österreichischen „politischen Katholizismus“ der Zeit beziehungsweise - in der Folge - im Austrofaschismus. In den Kontext dieser religiös-politischen Bewegungen gestellt, die in bestimmten Punkten eine ähnliche Ideologie vertraten, könnten die Salzburger Festspiele in ihrer Gründungskonzeption als weitere Ausformung eines dramatisch-theatralen Propaganda-Unternehmens charakterisiert werden. Denn wie mit anderen religiös-politischen Festspiel-Unternehmungen der Zeit intendierte man auch mit den Salzburger Festspielen Stabilisierung und Bekräftigung einer national gefassten Kulturtradition. Salzburg, der Stadt, kam beim Vorgang, der behaupteten bayrischösterreichischen Theatertradition einen konkreten Ort zuzuweisen, eine besondere Funktion zu. Auch in diesem Zusammenhang lässt sich ein merkwürdiges Lavieren zwischen einem vagen Mitteleuropa-Gedanken und dem reaktionären Mythos des Bayrisch-Österreichischen feststellen. So bezeichnete Hofmannsthal einerseits das „Salzburger Land“ als „Herz vom Herzen Europas“, das durch seine besondere Lage des „Zwischen“ - das geographisch, historisch, sozial und stilistisch gemeint war -, nämlich „zwischen Süd und Nord“, „zwischen dem Heroischen und Idyllischem“, „zwischen dem Städtischen und dem Ländlichen, dem Uralten und dem Neuzeitlichen, dem barocken Fürstlichen und dem lieblich Bäuerlichen“, 21 Ausgleich herstellen könnte. Das konkrete „mittlere Europa“, das Hofmannsthal damit meinte, war eng gefasst und hatte klare Grenzen: es reichte von Oberitalien bis Norddeutschland und von der Schweiz bis zu den „slawischen Ländern“. 22 Analog zum Österreich in seinen essayistischen Schriften jener Zeit stilisierte Hofmannsthal das regionale Salzburg zur verbindenden Mitte, die in der Lage wäre, Gegensätze zu verbinden, Spannungsvolles zu harmonisieren, Unvereinbares zusammenzuführen. Andererseits erklärte Hofmannsthal Salzburg in dieser Zeit aber auch zu einem anderen „Herz“, nämlich zum „Herz“ der barock geprägten 21 Ders. 1955, S. 92. 22 Ebd., S. 92. <?page no="408"?> 408 pia janke bayrisch-österreichischen Kulturlandschaft. 23 Hatte bereits Nadler seinen Abschnitt über die „Baiern“ mit einer ausführlichen Beschreibung Salzburgs abgeschlossen und den besonderen kulturellen Stellenwert der Stadt innerhalb der verschiedenen bayrischen Landschaften herausgestrichen, so beschrieb Hofmannsthal im Aufsatz „Festspiele in Salzburg“ die Stadt Salzburg als Schnittstelle der kulturellen und geographischen Linien des bayrisch-österreichischen Raumes. Die Grenzen waren dabei noch enger gefasst: Salzburg war nicht länger Zentrum eines vagen „mittleren Europas“, sondern einer Region, die von Wien bis München, von Tirol bis Böhmen, von Nürnberg bis Steiermark und Kärnten reichte. Salzburg hatte hier nicht länger die Funktion, Ausgleich zu ermöglichen, sondern war Mittelpunkt eines als homogen und geschlossen gedachten vormodernen Kulturraumes. Dieses Salzburg war auch als bewusster Gegenpol gegen das sozialdemokratische Wien gedacht. Hofmannsthals Konzept von Festspielen in Salzburg richtete sich gegen die Tendenzen der Säkularisierung, der Fragmentierung und der Abstraktion. Mit diesem Impuls war eine Neubestimmung des Theaters verbunden. Hofmannsthal formulierte in seinen Schriften zu Salzburger Festspielen Vorbehalte gegen nicht-organisch gewachsene Einheiten und entwickelte das Modell eines Theaters, das das Gedankliche nicht in Begriffe, sondern in Gebärden, Farben und Klänge fasste. Auch dieses Modell brachte er mit dem Theater des bayrisch-österreichischen Raumes zusammen. Oper und Schauspiel wären hier noch ungeschieden und auch in Hinblick auf ein Repertoire für die Salzburger Festspiele nicht voneinander zu trennen, stellte er fest. 24 Hofmannsthal entwarf für Salzburg eine Form des festlichen Theaters, das alle künstlerischen Mittel vereinigte, um die Zuschauer unmittelbar in Bann zu ziehen und zu einer Gemeinschaft zu formen. Schloss Hofmannsthal sich zwar den Forderungen der „Salzburger Festspielhaus-Gemeinde“ nach dem Bau eines Festspielhauses an, so erklärte er zugleich die Stadt selbst zum Schauplatz und pries die Jedermann-Aufführung vor dem Salzburger Dom als Ereignis, bei dem Bühne und Stadt zur Einheit verschmolzen wären. Die Okkupierung und Theatralisierung des öffentlichen Raumes, die man mit den politischen Massenfestspiel-Initiativen in Österreich der Zwischenkriegszeit verfolgte, waren auch Anliegen Hofmannsthals, wobei die Grenzen zwischen Theater und Realität im Sinne einer totalen Illusionierung aufgehoben werden sollten. Ähnlich wie bei Aufführungen der katholischen Laienspielbewegung in Wien benutzte man für bestimmte Aufführungen der Salzburger Festspie- 23 Ders. 1952, S. 447. 24 Vgl. Ders. 1955, S. 88. <?page no="409"?> provinzieller fluchtraum 409 le Kirchenräume. Das Halleiner Weihnachtspiel war 1919 für die Franziskanerkirche vorgesehen, das Salzburger große Welttheater wurde 1922 in der Kollegienkirche aufgeführt, den Jedermann spielte man ab 1920 vor dem Salzburger Dom. Dom und Domplatz bildeten die Kulissen, die, wie Hofmannsthal schrieb, „wie ein Selbstverständliches“ wirkten. 25 Kritisierten Vertreter der katholischen Laienspielbewegung diese Form der Präsentation als vordergründiges Spektakel, so war der Anspruch, der in Salzburg verfolgt wurde, trotz allem ein ähnlicher: Das Spiel, das selbst einen Rekatholisierungsprozess vor Augen führte, sollte in einen kirchlichkatholischen Kontext gestellt und der öffentliche Raum in einen theatralen Fest-Raum verwandelt werden. In seinen bei den Salzburger Festspielen realisierten Projekten führte Max Reinhardt seine Idee, reale, auch sakrale Räume zu verwenden, weiter und stützte sich auf seine Erfahrungen mit dem Massen- und Arena- Theater. Das, was er bereits an anderen Orten, in der Münchner Musik- Festhalle, im Berliner Zirkus Schumann, in der Londoner Olympia-Hall und in der Jahrhunderthalle in Breslau praktiziert hatte, nämlich die Inszenierung von dramatisch-theatralen Großereignissen, die auf Massenchoreographie basierten und neue Räume für das Theater erschlossen, wurde von ihm in Salzburg weitergeführt. Kirchen, Plätze, Höfe, Gärten, die ganze Stadt Salzburg sollten mitspielen. Die Stadt wurde als Bühne oder, wie dann bei Faust I, die Bühne als Stadt begriffen. Wie die Massenfestspiel-Exponenten der Zeit hatte auch Reinhardt mit neuen Formen des Kollektivtheaters experimentiert, auch er begriff das Theater als Medium, ereignishaft eine Gemeinschaft zu begründen, wobei die inszenierten Massen auf der Bühne mit den Zuschauermassen korrespondieren sollten. Auch bei ihm war damit die Absicht verbunden, die Rampe des traditionellen Theaters zu überwinden und die Trennung zwischen Kunst und Leben aufzuheben. Reinhardts Theater war jedoch nicht auf eine politische Aktivierung aus. Erika Fischer-Lichte, die Reinhardts Massentheater-Konzept in den Kontext der zeitgenössischen Theaterbewegungen stellte, hat Reinhardts Intention, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität aufzulösen, als Strategie beschrieben, die tatsächliche Wirklichkeit durch die im theatralen Akt geschaffene zu überlagern. Eine „vorübergehende ,Entrückung‘ des Zuschauers aus seiner grauen Alltagswelt in die schöne Welt des ästhetischen Scheins“ sollte die produktive Wechselbeziehung von theatralem Fest und Alltag ersetzen, so Fischer-Lichte. 26 25 Ebd., S. 448. 26 Fischer-Lichte, E.: Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen/ Basel 1999, S. 278. <?page no="410"?> 410 pia janke Das Repertoire, das Hofmannsthal für die Salzburger Festspiele vorsah, ergab sich aus dem Konzept eines festlichen Theaters. Forderte Hofmannsthal anfangs noch allgemein ein deutsches und nationales Programm mit den Schwerpunkten Mozart und Goethe, so entwickelte er, ausgehend von diesen beiden Künstlern, in seinen folgenden Schriften Traditionslinien, die in die Vergangenheit reichten, zu den weltlichen und religiösen Dramen Calderóns, zu Christoph Willibald Gluck und zur Antike, zu Shakespeare, Euripides und zum indischen Theater. Einen besonderen Platz wies Hofmannsthal in diesem Entwurf den Formen des „bayrisch-österreichischen“ Volksschauspiels zu. Das Programm, das Hofmannsthal in seinen Schriften um 1919 für Salzburg formulierte, ergab sich aus seiner Setzung eines bayrisch-österreichischen Theaterwesens. Diese von der Kunst des Barock bestimmte Form und die aus ihr abgeleiteten Strömungen sollten das Programm der Salzburger Festspiele bilden, wobei Hofmannsthal als zentrale Gattung das „Mysterienspiel“ angab, das er als „folgerichtigste, ungebrochenste“ Theaterkunst, „die je, seit der Antike, auf künstlerischem Gebiet da war“, charakterisierte. 27 Das Programm, das man in den ersten Jahren in Salzburg realisierte, entsprach diesem Konzept. Werke, die mit dem Überbegriff „Mysterienspiel“ gefasst werden konnten, dominierten in dieser Zeit das Schauspielprogramm, wobei es sich bei den Produktionen, die in Salzburg gezeigt wurden, häufig nicht um Neuinszenierungen, sondern um Übernahmen vor allem von Reinhardt-Inszenierungen handelte, die bereits an anderen Theatern erfolgreich gewesen waren. Das, was bereits anderswo erprobt worden war, wurde nun in Salzburg als Teil eines übergeordneten Konzepts präsentiert und theoretisch fundiert. 1920 wurden die Festspiele mit Reinhardts Jedermann-Inszenierung auf dem Salzburger Domplatz begründet, mit einem Stück also, das bereits 1911 von Reinhardt im Zirkus Schumann in Berlin uraufgeführt worden war. 1922 folgte Hofmannsthals eigens für Salzburg verfasste Calderón- Bearbeitung Das Salzburger große Welttheater, das Reinhardt in der Kollegien-Kirche inszenierte. 1925 wiederholte man diese Produktion im Festspielhaus, zu ihr kamen in diesem Jahr die Reinhardt-Aufführungen von Karl Vollmoellers Das Mirakel und von Max Mells Das Apostelspiel hinzu, wobei Das Mirakel eine Übertragung der Berliner Produktion und Das Apostelspiel ein Gastspiel des Theaters in der Josefstadt war. Michael P. Steinberg hat das Jahr 1925 als „Jahr des Mysterienspiels“ bezeichnet und es in Zusammenhang mit politischen Konzepten der Zeit gebracht, in denen Konservatismus und Katholizismus eng miteinander verbunden 27 Hofmannsthal 1952, S. 449. <?page no="411"?> provinzieller fluchtraum 411 waren. 28 Deutlich erkennbar ist in diesen Jahren die Tendenz, Stücke zu forcieren, die die Welt als einen von Gott gelenkten, geschlossenen Kosmos vorführten, in dem Bedrohungen überwunden wurden und sich jeder in eine vorgegebene Ordnung einfügte. Hofmannsthals Jedermann und Das Salzburger große Welttheater waren die Stücke der Gründungsjahre der Salzburger Festspiele, die programmatischen Charakter hatten. Wurde Jedermann zwar nicht für Salzburg geschrieben, so wurde er jedoch zu einem Identitätsstück der Salzburger Festspiele, Das Salzburger große Welttheater verfasste Hofmannnsthal konkret in Hinblick auf die Festspiele. Betrachtet man diese beiden Stücke im Kontext der politischen Massenfestspiel-Bewegungen im Österreich der Zwischenkriegszeit, so fallen Übereinstimmungen hinsichtlich der Intention, aber auch der Thematik auf. Auch die beiden Stücke Hofmannsthals hatten den Anspruch, propagandistisch zu wirken und eine totalitäre Ordnung zu präsentieren, zu der man sich bekennen sollte. Auch sie waren Medien, Zuordnung einzufordern und eine Gemeinschaft zu begründen, die sich selbst absolut setzte und alles, was sich ihr entgegenstellte, überwand. Bereits bei der Uraufführung von Jedermann 1911 im Zirkus Schumann in Berlin war die Frage zentral gewesen, was für eine Gemeinschaft das neue Theater der Massen aus den 5000 Zuschauern, die das Spiel im Zirkus verfolgten, formen sollte. In seinem am Tag der Uraufführung publizierten Essay Das alte Spiel vom Jedermann gab Hofmannsthal eine Beschreibung des Inhalts des Stücks und nahm die Wirkung der Aufführung vorweg: Glocken wurden geläutet, kräftig und anhaltend. Da wurde die ganze große Masse still und es war, als fühlte man das Stillwerden jedes einzelnen. Indessen war es auch ganz dunkel geworden. In dem riesigen, kaum erleuchteten Raum wurde aus den Tausenden zufällig zusammengekommenen Menschen, deren Gesichter das einzige Helle in dem dämmrigen Dunkel waren, mit einem Schlag ein Wesen: die Menge. 29 Hofmannsthal beschrieb den Vorgang eines Zusammenschlusses, der sich durch das Erlebnis der Aufführung einstellte, als eine Überwindung der Vereinzelung der Zuschauer. Die Begriffe, die er verwendete, um diese Entwicklung anzuzeigen, sind bemerkenswert: So stellte er dem Begriff der „große[n] Masse“ den der „Menge“ gegenüber, die „ein Wesen“ wäre. Am Ende seines Beitrags führte er einen weiteren Begriff ein, um die Ge- 28 Steinberg 2000, S. 199. 29 Hofmannsthal, H. v.: „Das alte Spiel vom Jedermann“. In: Hofmannsthal, H. v.: Dramen III. Frankfurt a. M. 1979, S. 89-102, S. 93. <?page no="412"?> 412 pia janke meinschaft zu beschreiben, auf die er abzielte: „das Volk“, das „alt und weise, ein Riesenleib“ wäre. 30 Er stellte ihn gegen „das Publikum“, das „schwankend, kurzsinnig und launisch“ wäre. 31 Hofmannsthal bezog sich also bereits 1911 auf den auf alte Zeiten verweisenden Begriff „Volk“, um die Einheit zu beschreiben, um die es ihm mit seinem Jedermann ging. Kein großstädtisches, distanziertes und kritisches „Publikum“ war gefragt, sondern eine Gemeinschaft, die „das Heiligste seines Besitzes den Einzelnen“ mitzuteilen vermochte. 32 Die Bezugnahme auf eine sakrale, alten Überlieferungen entsprechende Gemeinschaft als Rezipient des Jedermann fand also schon 1911 in Berlin statt. 1920 in Salzburg wurde die Formung dieser Gemeinschaft zu einem Grundgedanken der Festspiele. In den Kontext der Festspiele gestellt, wurde die Botschaft des Jedermann noch eindeutiger. Eingepasst in ein Konzept von religiös geprägten bäuerlich-alpenländischen Festspielen entwickelte sich Jedermann zu einem Stück, das für all das stand. Viele Momente, die das Werk zu einem Medium der Festspiel-Propaganda werden ließen, waren in ihm bereits angelegt und sind auch von anderen, politischen Massenfestspielen der Zeit bekannt. Es führte einen Prozess der Wiederverpflichtung vor Augen und war ein Appell an die Rezipienten, sich gleichermaßen zu verhalten. War zwar nicht die Masse, die auf eine Führerfigur bezogen war, der Protagonist dieses Spiels, so stand jedoch auch hier die Hauptfigur für die Menschheit: Jedermann wurde aufgerufen, sich wieder zu Gott „dem Herrn“, wie ihn das Personenverzeichnis auswies, zu bekennen. Das Stück hatte wie die politischen Massenfestspiele der Zeit den Anspruch, Welt und Menschheit zu umfassen und deren Schicksal zu verhandeln. Auch dieses Stück gestaltete den Kampf um den Menschen, auf dem Spiel stand seine Rettung oder Verdammung. Auch hier wurde ein Gericht abgehalten, das darüber entschied, ob der Mensch würdig war, erlöst zu werden oder nicht. Der „Gerichtstag“, 33 den Gott über Jedermann hielt, bedeutete ein Weltgericht, das Geschehen wurde als ein großes Welttheater vorgestellt, das Gott lenkte. Stand ein Fest, das Jedermann veranstaltete, im Zentrum, so wurde die gesamte Handlung als ein von Gott in Bewegung gesetztes Spiel vorgeführt. Allegorien bestimmten es, Tod, Mammon, Glaube, Werke traten als Figuren auf, die auf einen geschlossenen Kosmos verwiesen. 30 Ebd., S. 106. 31 Ebd., S. 106. 32 Ebd. 33 Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. IX: Dramen 7. Jedermann. Hrsg. v. Rölleke, H. Frankfurt a. M. 1990, S. 36. <?page no="413"?> provinzieller fluchtraum 413 Wie die Spiele der katholischen Laienspielbewegung beschrieb auch Hofmannsthal in Jedermann den Abfall der Menschen von Gott als das Hauptübel, das es zu überwinden galt. Auch in diesem Stück wurden die Sünden des Menschen in Gottlosigkeit und Materialismus festgemacht, der Mammon, den Hofmannsthals Fassung des überlieferten Stoffes aufwertete, war der Hauptgegner. Auch dieses Spiel versuchte mit alten Mustern und Formeln gegen aktuelle Zeittendenzen anzukämpfen. Jedermann ist somit auch als Agitationsstück zu bezeichnen. Die antikapitalistische Agitation, die er betrieb, bediente sich dabei wie die Spiele der katholischen Laienspielbewegung anti-moderner Mittel. Der Prozess, den das Stück vor Augen führte, bestand im Vorgang einer Bekehrung: Allein durch den Glauben, der auch die Werke rückwirkend wieder stark machte, fand Jedermann angesichts des Todes zu Gott, und durch den Glauben war ihm auch die Gnade Gottes gewiss, der Teufel ging leer aus. Allein der Glaube an die Gnade Gottes erlöste den sündigen Menschen, das war die Lehre des Stücks. Am Ende war die Hierarchie wieder intakt, der Glaube sprach die Schlussworte, Engel waren zu hören, die „die arme Seele“ aufnahmen. 34 Im neuen Kontext der Salzburger Festspiele wurde der Aspekt der Re- Katholisierung dominant. Die Aufführung fand nun nicht mehr im Zirkus statt, das Geschehen spielte unmittelbar vor dem Hauptportal des Salzburger Doms. Das Stück wurde in einen kirchlich-katholischen Zusammenhang „rückgeführt“. Dadurch wurden sowohl die Dramenals auch die Aufführungstradition unterstrichen, in denen es stand. Die Salzburger Aufführung fand im Einverständnis mit dem Salzburger Fürsterzbischof Ignaz Rieder statt, der die Erlaubnis dafür gab. Die Direktion der Festspiele dankte ihm in einem Schreiben vom 29. September 1920 mit folgenden Worten: Die überwältigende sittliche Bedeutung des mittelalterlich geistlichen Mysteriums ist erst durch die denkwürdigen Salzburger Aufführungen so recht deutlich in die Erscheinung getreten und die Beweise dafür sind sonder Zahl, daß Tausende ergriffen, geläutert und durchdrungen von der majestätischen Kraft der reinen christlichen Lehre das festliche Spiel verlassen haben. 35 Betonte dieses Schreiben an den Fürsterzbischof den unmittelbaren Bezug zur „christlichen Lehre“ und hob es den Salzburger Kontext insofern heraus, als das Stück erst hier in der Form präsentiert worden wäre, die ihm 34 Ebd., S. 95. 35 Zit. nach: Ausst.-Katalog: 70 Jahre Jedermann - Wandlungen eines Inszenierungskonzepts. Hrsg. v. Willaschek, W. (Red.) (Katalogbuch anlässlich der Ausstellung im Kleinen Festspielhaus 26. Juli-31. August 1990). Salzburg: Salzburger Festspiele 1990, S. 134. <?page no="414"?> 414 pia janke angemessen wäre, so ging es auch auf die Wirkung auf das Publikum ein. „Ergriffen“, „geläutert“, „durchdrungen“ waren die Begriffe, mit denen es die emotionale Überwältigung der Anwesenden beschrieb. Auch Hugo von Hofmannsthal bezog sich in einem Brief an Rudolf Pannwitz vom 17. November 1920 auf die besondere Wirkung des Salzburger Jedermann und schrieb von einer „directeste[n] stofflich-simpelste[n] und zugleich religiöste[n] Wirkung auf eine ganze Bevölkerung“. 36 Das, was Hofmannsthal in seinen Entwürfen zu Festspielen in Salzburg als Publikum imaginiert hatte, beschrieb er nun anhand der konkreten Jedermann-Aufführung. Die „ganze Bevölkerung“ wäre es gewesen, die Jedermann in seinen Bann gezogen hätte. In seinem Essay „Festspiele in Salzburg“ (1921) bezog sich Hofmannsthal noch einmal auf das Publikum der Jedermann-Aufführung und schrieb: „Selbstverständlich war das Ganze den Bauern, die hereinströmten, zuerst vom Rande der Stadt, dann von den nächsten Dörfern, dann von weiter und weiter her. Sie sagten: ,Es wird wieder Theater gespielt. Das ist recht.‘“ 37 In dem Essay, in dem sich Hofmannstahl am explizitesten auf Josef Nadlers Literaturgeschichte bezog, wurde das Publikum des Jedermann zu vom Land „hereinströmenden“ Bauern, also zu dem Kollektiv stilisiert, das Hofmannsthal in Salzburg manifest werden lassen wollte: zum „bayrisch-österreichischen Stamm“. Wie bereits in Berlin im Zirkus Schumann ging es auch nun darum, mit Jedermann eine Gemeinschaft zu begründen. Nun war es jedoch nicht mehr eine allgemein gefasste „Menge“ beziehungsweise ein auf alte Zeiten verweisendes „Volk“, das sich konstituieren sollte, sondern ein konkretes, national bestimmtes Kollektiv, das im Konzept von alpenländisch-provinziellen Festspielen festgeschrieben worden war. Auch Das Salzburger große Welttheater präsentierte man bei den Salzburger Festspielen im kirchlichen Zusammenhang. 1922 wurde es in der Regie von Max Reinhardt in der Salzburger Kollegienkirche uraufgeführt. Diese Uraufführung war noch mehr als die Inszenierung von Jedermann auf die Kirche bezogen. Ein großer Teil des Reinertrags wurde zur Restaurierung der Kirche zur Verfügung gestellt, und das Spiel fand im Kirchenraum statt, die Dekoration war vor der Gesamtbreite des Hochaltars errichtet. Das Stück war auf Jedermann insofern bezogen, als es auch in ihm um die Abberufung des Menschen durch Gott und um seine Erlösung oder Verdammung ging. Hofmannsthal verfolgte auch hier den Ansatz, die Welt als einen von Gott regierten Kosmos vorzuführen, wobei der To- 36 Ders. 1990, S. 278. 37 Ders. 1952, S. 449. <?page no="415"?> provinzieller fluchtraum 415 talitätsanspruch, den er mit diesem Stück stellte, noch umfassender war. „Das Ganze“ und „Ordnung“ waren die Leitbegriffe dieses Stücks, das eine Welt entwarf, in der jeder die ihm zugeteilte Rolle zu übernehmen und sich in die von Gott vorgegebene Hierarchie einzufügen hatte. Das Aufbegehren gegen die Ordnung wurde als dramatischer Hauptvorgang gestaltet, und die Lösung, die appellhaft vorgeführt wurde, bestand in einem Akzeptieren des vorgegebenen göttlichen Systems. Wurde in Jedermann über einen einzelnen Menschen, der stellvertretend für die Menschheit stand, Gericht gehalten, so waren es jetzt Figuren, die auf bestimmte Stände verwiesen, die sich vor Gott zu verantworten hatten. Das Gesellschaftsmodell, das Hofmannsthal in seinem Salzburger großen Welttheater entwarf, war, wie Walter Weiss bemerkte, an der „statische[n] Ständehierarchie des Mittelalters“ orientiert. 38 Das Stück präsentierte ein rückwärtsgewandtes Gesellschaftsmodell, das auf fixen Zuweisungen und hierarchischen Abstufungen basierte. Typisch für diese Konzeption war der verstärkte Einsatz von Allegorien, die auf einen geschlossenen Kosmos verwiesen. In der Vorbemerkung zum Stück schrieb Hofmannsthal, dass durch die sechs Figuren des Stücks „die Menschheit vorgestellt wird“ und charakterisierte das, was er aus Pedro Calderón de la Barcas Vorlage entnommen hätte, folgendermaßen: „Von diesem ist hier die das Ganze tragende Metapher entlehnt: daß die Welt ein Schaugerüst aufbaut, worauf die Menschen in ihren von Gott zugeteilten Rollen das Spiel des Lebens aufführen.“ 39 Das vorgeführte Ständemodell hatte universalen Anspruch und wurde zugleich als von Gott in Szene gesetzte Spielordnung relativiert. Hofmannsthal setzte die alte Welttheatermetapher ein, um die Bezogenheit der Menschen auf Gott zu betonen, das Leben als ein Schauspiel vor Gott kenntlich zu machen und jedes Aufbegehren als Teil einer Rolle, die von Gott verliehen worden war, zu charakterisieren. Zwar wurde dem Menschen Freiheit im Umgang mit seiner Rolle zugestanden, die Bewertung seines Spiels war aber allein Gott vorbehalten. Auch dieses Stück präsentierte eine Führerfigur, auf die die Menschheit bezogen war und zu deren Werten sie sich zu bekennen hatte, wenn sie erlöst werden wollte. Tat sie das nicht, wurde sie abgespalten, wie am Ende der Reiche, der im Gegensatz zu den anderen Seelen „tiefer unten, im Dunkel“ knien 38 Weiss, W.: „Salzburger Mythos? Hofmannsthals und Reinhardts Welttheater“. In: Aspetsberger, F. (Hrsg.): Staat und Gesellschaft in der modernen österreichischen Literatur. Wien 1977, S. 5-19, S. 8. 39 Hofmannsthal, H. v.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. X: Dramen 8. Das Salzburger Große Welttheater. Hrsg. v. Lendner, H.-H./ Dewitz, H.-G., Frankfurt a. M. 1977, S. 7. <?page no="416"?> 416 pia janke musste. 40 Auch in diesem Spiel ging es also um Integration und Bindung und um die Affirmation einer religiös überhöhten Gesellschaftsordnung. Wie die politischen Massenfestspiele der Zeit zeigte auch Hofmannsthals Salzburger großes Welttheater die Ausschaltung feindlicher Mächte im Dienste einer Stärkung der eigenen Weltanschauung. Der „Feind“ wurde hier jedoch nicht vertrieben oder vernichtet, sondern durch einen Prozess der Läuterung in die Ordnung integriert und am Ende zu deren wichtigstem Repräsentanten. Auch dieses Festspiel gestaltete eine Krise und führte deren Überwindung durch Wiederverpflichtung vor Augen. Mit der Figur des Bettlers versuchte Hofmannsthal die aktuellen Bedrohungen zu bannen. Zweimal rebellierte der Bettler gegen die von Gott eingesetzte Ordnung. Zu Beginn, als die Rollen verteilt wurden, begehrte die Seele, die die Rolle des Bettlers übernehmen sollte, auf: „die Jammerrolle spiel ich nicht! Und es soll si