Helden als Heilige
'Chanson de geste' - Rezeption im deutschsprachigen Raum
0616
2010
978-3-7720-5356-6
978-3-7720-8356-3
A. Francke Verlag
Bernd Bastert
Die in der Romania außerordentlich beliebte französische Heldenepik, die Chanson de geste, gilt häufig als Genre, das in der deutschen Literatur des Mittelalters kaum Spuren hinterlassen hat. Die Studie zeigt hingegen, dass diese Annahme nicht zutrifft. Die entsprechenden Texte erweisen sich oft als überformende Bearbeitungen, die die heldenepischen Charakteristika für ein deutsches Publikum modifizieren, so dass die ursprünglichen Gattungskennzeichen verschwinden und statt dessen überwiegend von einer Hagiographisierung des Epischen gesprochen werden kann: Die Helden erscheinen als Heilige.
<?page no="0"?> Bernd Bastert Helden als Heilige Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum Bibliotheca Germanica A. Francke Verlag Tübingen und Basel <?page no="1"?> Bibliotheca Germanica HANDBÜCHER, TEXTE UND MONOGRAPHIEN AUS DEM GEBIETE DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE HERAUSGEGEBEN VON WALTER HAUG, HUBERT HERKOMMER , SUSANNE KÖBELE UND URSULA PETERS 54 <?page no="3"?> Bernd Bastert Helden als Heilige Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: CompArt satz+edition, Mössingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0067-7477 ISBN 978-3-7720-8356-3 <?page no="5"?> Vorwort Die vorliegende Studie entstand über einen längeren Zeitraum, während dessen ich von zahlreichen Personen und Institutionen Unterstützung erfuhr. Mein besonderer Dank gilt Ursula Peters, die mir in allen Phasen stets eine ebenso hilfreiche wie hartnäckige Diskussionspartnerin war. Andreas Kablitz, Udo Kindermann und Hans-Joachim Ziegeler gaben in ihren Gutachten wertvolle Hinweise, die meisten von ihnen sind berücksichtigt. Für die Aufnahme in ‹Bibliotheca Germanica› habe ich mich, neben Ursula Peters, ebenfalls bei dem leider mittlerweile verstorbenen Walter Haug, bei Hubert Herkommer und Susanne Köbele zu bedanken. In einer wichtigen und kritischen Arbeitsphase gewährte mir die DFG ein Habilitandenstipendium, ebenso wurde die Drucklegung durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss der DFG unterstützt. Die Überarbeitung des Manuskripts profitierte sehr von dem Freiraum, den ich während meines anregenden Aufenthalts am Utrecht Center for Medieval Studies genießen konnte, ermöglicht wurde dies durch die Vermittlung von Bart Besamusca - bedankt Bart. Die bis 2009 erschienene einschlägige germanistische Fachliteratur ist möglichst umfassend berücksichtigt, nach 2002 erschienene romanistische Literatur konnte hingegen nicht immer systematisch eingearbeitet werden. Bei den teilweise aufwendigen Literaturrecherchen und den Korrekturen halfen Rabea Bockwyt, Bianca Häberlein und Lina Herz. Ihnen allen und all denjenigen, die nicht namentlich genannt sind, deren Anregungen und Beiträge jedoch ebenfalls hilfreich waren, sei herzlich gedankt. Der größte Dank gebührt jedoch meiner Frau, denn sie unterstützte mich nicht nur wissenschaftlich, sondern erinnerte und erinnert mich immer wieder daran, dass Leben auch außerhalb der Wissenschaft existiert. Gewidmet sei das Buch dem Andenken meiner Eltern. Köln/ Bochum, im Februar 2010 Bernd Bastert <?page no="7"?> Inhalt Einleitung 1 A Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 11 A.1 Aufstieg einer Gattung - Französische Heldenepik zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert 11 Entstehungstheorien 12 - Oralität 17 - Unterschiedliche ‹Gesten› 31 - Überlieferung 43 - Sagengedächtnis und episches Substrat 49 A.2 Zur Rezeption französischer Heldenepik im deutschen Sprachraum 59 A.2.1 Besetzt! - oder: keine höfische Kultur. Zur unterbliebenen Chanson de geste-Rezeption in Deutschland 64 A.2.2 Die Textgruppe deutscher Chanson de geste-Bearbeitungen 70 A.2.3 Datierung und Lokalisierung 78 Rolandslied 78 - Karl 85 - Willehalm, Arabel, Rennewart 87 - Schlacht von Alischanz 91 - Karl und Galie 92 - Morant und Galie 93 - Ospinel 95 - Karlmeinet-Kompilation 98 - Günser Reinolt 104 - Historie van Sent Reynolt 103 - Gerart van Rossiliun 104 - Karl und Ellegast 106 - Herpin, Sibille, Loher und Maller, Huge Scheppel 108 - Malagis, Reinolt von Montelban, Ogier 112 - Buch vom heiligen Karl, Buch vom heiligen Wilhelm 113 A.2.4 Kategorisierung und typologische Einordnung 115 A.3 Die Überlieferung deutscher Chanson de geste-Adaptationen 121 A.3.1 Regionale Distribution 121 Rolandslied 121 - Karl 124 - Willehalm-Trilogie 127 - Schlacht von Alischanz 130 - Nieder- und mitteldeutsche Chanson de geste-Bearbeitungen 132 - Saarbrücker Prosa-Chansons 134 - Heidelberger Chanson de geste-Übersetzungen 136 A.3.2 Kontextualisierungen 140 Oberdeutsche Überlieferungssymbiosen 140 - Nieder- und mitteldeutsche Kontextualisierungen 150 - Mitüberlieferung im außerdeutschen Bereich 153 - Deutschsprachige Großepik 157 Inhalt Inhalt <?page no="8"?> A.4 Erzählen im Zusammenhang: Zyklische Potenziale der deutschen Chanson de geste-Adaptationen 162 A.4.1 Chanson de Roland und Rolandslied - Unterschiedliche zyklische Keimzellen der matière de France in Romania und Germania 175 A.4.2 Die Genese eines eigenständigen Zyklus im oberdeutschen Raum 180 Willehalm 180 - Karl 184 - Karl-Willehalm-Zyklus 189 - Willehalm-Trilogie 191 - Karl-Arabel-Zyklus (cpg 395) 214 - Buch vom heiligen Wilhelm/ Buch vom heiligen Karl 220 A.4.3 Zyklizität in den deutschsprachigen Nideren Landen 233 Karlmeinet-Kompilation 234 A.4.4 Zyklizität in den Chanson de geste-Bearbeitungen des 15. Jahrhunderts 242 Saarbrücker Prosa-Chansons 242 - Heidelberger Chanson de geste-Übersetzungen 251 B Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 259 B.1 Gesta principium et vitas sanctorum - Chanson de geste und Legende in der Romania 259 B.2 Französische Heldenepik in Oberdeutschland - Die Hagiographisierung des Epischen 269 B.2.1 der Cristenheyt als nücz ... als kein czwelffbott - Karl in oberdeutschen Chanson de geste-Adaptationen 272 Karls Sünde 280 B.2.2 diz sî mîn hellebrennen - Die Leiden des heiligen Willehalm 293 B.2.3 Rennewart als ‹Armer im Geiste› und Willehalm als keuscher Eroberer - Hagiographische Schreibmuster in den Willehalm-Ergänzungen 300 B.2.4 ‹Episches Substrat›, ‹Sagengedächtnis› und hagiographisches Superstrat - Französische Heroik in Oberdeutschland 313 B.3 Französische Heldenepik in Nieder- und Mitteldeutschland - Heroen des Glaubens und ihre Räume 333 B.3.1 Karlle is in der heiligen orden in deme schonen hemelrich - Karl als Heiliger und Gründerheros 336 Saxonum apostolus 340 - Karlsverehrung in weiteren deutschen und europäischen Räumen 345 - Zur Kanonisation Karls des Großen 349 VIII Inhalt <?page no="9"?> B.3.2 got enwil nicht die ding, er hat zu liebe den konig - Die Empörer in den Nideren Landen 356 Karl und Galie 357 - Karel ende Elegast/ Karl und Ellegast 358 - Gerart van Rossiliun 358 - Günser Reinolt 360 - Historie van sent Reynolt 365 B.4 Die späte Chanson de geste-Rezeption im rheinfränkischen Raum 368 B.4.1 Die Heidelberger Chanson de geste-Übersetzungen als Sonderfall 373 B.4.2 Die Saarbrücker Prosa-Chansons de geste zwischen Mittelalter und Neuzeit 384 Zusammenfassung und Ausblick 400 Abkürzungen 406 Literaturverzeichnis 408 Anhang: Handschriften und Fragmente deutscher Chanson de geste-Bearbeitungen 458 Register 484 Inhalt IX <?page no="11"?> Einleitung Um die Chanson de geste, das in der Romania während des gesamten Mittelalters und der Frühen Neuzeit ebenso sehr beliebte wie in der älteren und jüngeren romanistischen Forschung viel beachtete Genre der französischen Heldenepik, ist es in der germanistischen Mediävistik lange Zeit sehr ruhig geblieben, obschon einige Texte aus diesem Genre zwischen dem 12. und 15./ 16. Jahrhundert auch jenseits des Rheins auf Interesse stießen und dort teilweise zu regelrechten ‹Bestsellern› avancierten. Natürlich wusste man schon seit der Anfangsphase des Fachs, dass altfranzösische Texte existieren, in denen geschildert wird, wie christliche Streiter gegen eine feindliche heidnische Übermacht antreten, und dass dieser Stoff als Vorlage für das Rolandslied des Pfaffen Konrad und Wolframs Willehalm diente. Allerdings sind das keineswegs die einzigen Werke in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, die direkt oder indirekt auf Quellen aus dem Stoffbereich der französischen Heldenepik zurückgreifen. Aber welche französischen Chansons de geste neben jenen beiden für die deutsche Literaturgeschichte so wichtigen Texten ansonsten überliefert sind, was und wie in ihnen erzählt wird, ob und wenn ja welche Bedeutung sie für die deutschsprachige Literatur des Mittelalters hatten, war - und ist teilweise noch immer - weitaus weniger unter Germanisten bekannt. Nicht selten wird in germanistischen Handbüchern und einschlägigen Literaturgeschichten nur summarisch darauf verwiesen, dass die französische Heroik drei Stoffkreise umfasse (Karlsepik, Wilhelmsepik, Empörerepik), und dass die französischen Vorlagen des Rolandslieds und des Willehalm zu den ersten beiden zählten. Ähnlich generalisierend wird meist auf die, in jenen französischen Epen mitunter auf drastische Weise geschilderte, in brutalen Schlachten kumulierende kriegerische Auseinandersetzung zwischen Christen und Heiden als charakteristische Thematik rekurriert. Dass daneben durchaus weitere genretypische Themen auszumachen sind, die freilich eher in anderen Chansons verhandelt werden, findet nur selten Erwähnung. Aus manchen Arbeiten kann man den Eindruck gewinnen, dass die französische Heldenepik kaum Spuren in der deutschen Literatur des Mittelalters hinterlassen habe. 1 Selbst in jüngeren Studien wird teilweise noch die 1 Es erscheint symptomatisch, dass selbst ein so guter Kenner der Materie wie Alois W olf , der in seinen zahlreichen Arbeiten zur Heldenepik einen dezidiert interdisziplinären Ansatz verfolgt und infolgedessen stets auch die französische Chanson de geste in seine Überlegungen mit einbezieht, sich dabei ganz überwiegend auf die Chanson de Einleitung Einleitung <?page no="12"?> Ansicht vertreten, die französische Heldenepik habe, zumindest im Hochmittelalter, keine Wurzeln in der deutschen Literatur schlagen können: «Eine eigene Gattung der deutschen Chansons de geste hat sich im 13. Jahrhundert nicht etablieren können.» 2 Der hier - zugegebenermaßen etwas grobkörnig - präsentierte Blick der Germanistik auf die Chanson de geste hat im vergangenen Jahrzehnt ein wenig an Schärfe gewonnen. Zum einen beruht dies darauf, dass gerade die bislang vernachlässigten deutschen Texte des späteren und des ausgehenden Mittelalters, die den Stoff der französischen Heroik mittelbar oder unmittelbar aufnehmen und verarbeiten, stärker in das Blickfeld der Forschung rückten, was zu eingehenden interpretatorischen und/ oder editorischen Aktivitäten geführt hat. 3 Zum anderen ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den 2 Einleitung Roland, die Chanson de Guillaume sowie deren zyklische Fassung, Aliscans, konzentriert; vgl. etwa die entsprechenden Kapitel in Alois W olf s großangelegter, auf zahlreiche frühere Arbeiten zurückgreifenden Untersuchung: Heldensage und Epos. Zur Konstituierung einer mittelalterlichen volkssprachlichen Gattung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1995 (ScriptOralia 68). 2 Thordis H ennings : Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum. Die Rezeption der Chanson de geste im 12. und 13. Jahrhundert. Überblick und Fallstudien. Heidelberg 2008, S. 550; vgl. ebenfalls Jürgen W olf : Traditionslinien und Traditionsbrüche. Kulturelle Grenzen bei der Chanson de geste-Adaptation. In: Chanson de geste im europäischen Kontext. Ergebnisse der Tagung der Deutschen Sektion der ICLS am 23. und 24.4.2004 in Köln. Hg. von Hans-Joachim Ziegeler. Göttingen 2008 (Encomia Deutsch 1), S. 59-72, hier S. 72, Anm. 48. 3 Erwähnung verdient insbesondere eine verstärkte Beschäftigung mit den in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Umfeld der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken entstandenen Chanson de geste-Bearbeitungen; vgl. dazu etwa Wolfgang Haubrichs u. a. (Hg.): Zwischen Deutschland und Frankreich. Elisabeth von Lothringen, Gräfin von Nassau- Saarbrücken. St. Ingbert 2002 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung e.V. 34) sowie die zahlreichen Arbeiten Ute von B loh s, die in ihrer Habilitationsschrift gipfeln: Ute von B loh : Ausgerenkte Ordnung. Vier Prosaepen aus dem Umkreis der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: ›Herzog Herpin‹, ›Loher und Maller‹, ›Huge Scheppel‹, ›Königin Sibille‹. Tübingen 2002 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 119); vgl. ebenfalls Ulrike G aebel : Chansons de geste in Deutschland. Tradition und Destruktion in Elisabeths von Nassau-Saarbrücken Prosaadaptationen. Diss. FU Berlin 2002 (Internetressource, verfügbar unter: www.diss.fu-berlin.de/ 2002/ 8/ index.html). Vgl. auch die Arbeit von H. D eifu ß , der sich mit einer im späteren 15. Jahrhundert entstandenen Prosaauflösung der Willehalm-Trilogie auseinandersetzte und sie neu herausgab: Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm. Kritische Edition und Untersuchung einer frühneuhochdeutschen Prosaauflösung. Hg. von Holger Deifuß. Frankfurt/ M. 2005 (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 45). Und schließlich liegen ebenfalls die beiden lange nur in handschriftlicher Form greifbaren, in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Umfeld des Heidelberger Hofes nach niederländischen Vorlagen entstandenen Chanson de geste-Übersetzungen nun erstmals in kritischen Ausgaben vor: Der deutsche Malagis nach den Heidelberger Handschriften cpg 340 und cpg 315 unter Benutzung der Vorarbeiten von Gabriele Schieb und Sabine <?page no="13"?> ‹klassischen› mhd. Chanson de geste-Bearbeitungen (Rolandslied und Willehalm) in den letzten Jahren ständig weiter voran getrieben worden, wobei dieses Untersuchungsfeld zuletzt auch immer mehr ausgeweitet worden ist auf die früher als ‹Sprossdichtungen› des Willehalm bezeichneten Texte, also auf die Arabel Ulrichs von dem Türlin und, wenn auch in geringerem Maße, auf Ulrichs von Türheim Rennewart. 4 Und schließlich entstanden in letzter Zeit ebenfalls Untersuchungen, die nicht auf einzelne Werke aus der Textgruppe der deutschen Chanson de geste-Adaptationen fokussieren, sondern unterschiedliche Fragestellungen an einen mehr oder weniger umfassenden Ausschnitt aus jener Gruppe herantragen. 5 Einleitung 3 Seelbach hg. von Annegret Haase u. a. Berlin 2000 (DTM 82); Ogier von Dänemark. Nach der Heidelberger Handschrift cpg 363 hg. von Hilkert Weddige in Verbindung mit Theo J. A. Broers und Hans van Dijk. Berlin 2002 (DTM 83). 4 Verdienstvoll ist vor allem die Neuausgabe der Arabel, da sie erstmals die Überlieferungssituation im Druckbild verdeutlicht: Ulrich von dem Türlin, Arabel. Die ursprüngliche Fassung und ihre Bearbeitung kritisch herausgegeben von Werner Schröder. Stuttgart, Leipzig 1999. Neben Werner S chröder s umfangreichen ‹Arabel›-Studien I-VI (Mainz 1982-1993) liegen umfassende neuere Arbeiten zur Arabel vor von: Holger H öcke : Willehalm-Rezeption in der Arabel Ulrichs von dem Türlin. Frankfurt/ M. usw. 1996 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I, 1586) sowie Melanie U rban : Kulturkontakt im Zeichen der Minne. Die Arabel Ulrichs von dem Türlin. Frankfurt 2007 (Mikrokosmos 77); lediglich Teilaspekte beider Ergänzungsdichtungen des Willehalm behandeln Susanne A derhold : mins hertzen wunne. Aspekte der Liebe im ‹Willehalm› Wolframs von Eschenbach, in der ‹Arabel› Ulrichs von dem Türlîn und im ‹Rennewart› Ulrichs von Türheim. Diss. Osnabrück 1997 und Barbara S abel : Toleranzdenken in der mittelhochdeutschen Literatur. Wiesbaden 2003 (Imagines medii aevi 14). Die wichtige, aber leider unveröffentlichte Untersuchung von Peter S trohschneider : Alternatives Erzählen. Interpretationen zu Tristan- und Willehalm-Fortsetzungen als Untersuchungen zur Geschichte und Theorie des höfischen Romans. Habil.schrift München 1991, in der u. a. die beiden Willehalm-Ergänzungen ausführlich analysiert werden, wird in der vorliegenden Arbeit nur insofern berücksichtigt, als deren Ergebnisse publiziert sind. 5 Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die quellengeschichtlich orientierte Arbeit von H ennings , Französische Heldenepik, die alle im 12. und 13. Jahrhundert entstandenen deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen auf deren Abhängigkeiten bzw. Unabhängigkeiten von französischen Vorlagen sichtet. Weiter ausgreifende Fragestellungen am Corpus der französischen Heldenepik und ihrer deutschen Derivate verfolgen gleichfalls Ines H ensler : Ritter und Sarrazin. Zur Beziehung von Fremd und Eigen in der hochmittelalterlichen Tradition der «Chanson de geste». Köln usw. 2006 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 62), die die relationalen Entwürfe des Eigenen und des Fremden am Beispiel einer Gruppe hochmittelalterlicher französischer Chansons de geste sowie der deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen Rolandslied, Willehalm und Rennewart diskutiert, und Verena B arthel : Empathie, Mitleid, Sympathie. Rezeptionslenkende Strukturen mittelalterlicher Texte in Bearbeitungen des Willehalm-Stoffs. Berlin, New York 2008 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 50), der der Willehalm-Stoff von Aliscans über Wolframs Willehalm bis zum spätmittelalterlichen Buch vom heiligen Wilhelm als Grundlage narratologischer Überlegungen dient. <?page no="14"?> In seiner Gesamtheit ist das Ensemble der deutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik freilich noch niemals analysiert und beschrieben worden, was nicht zuletzt damit zusammenhängen dürfte, dass bislang keine trennscharfen Kategorien entwickelt wurden, aus denen sich ableiten ließe, was überhaupt unter einer deutschen Bearbeitung französischer Heldenepik verstanden werden kann. Daraus resultierend ist ebenfalls ungeklärt, aus welchen Texten sich eine entsprechende deutsche Gruppe zusammensetzt und welche Werke möglicherweise nicht hierunter zu rechnen sind. Während in den meisten germanistischen Arbeiten die aus Rolandslied, Karl und Willehalm (samt Ergänzungen) bestehende Gruppe als grundlegender Typus der deutschen Chanson de geste-Bearbeitung verstanden wird und somit der Heidenkampf in den Mittelpunkt rückt, gilt in anderen - neben dem Heidenkampf - ebenfalls der Aufbruch des Protagonisten in den Orient und die dabei erlebten Abenteuer als charakteristisches Merkmal deutschsprachiger Derivate französischer Heroik. 6 Ein, teilweise durch feudale Konflikte ausgelöster, mehr oder weniger langer Orientaufenthalt der Protagonisten scheint gleichfalls ein Klassifikationsmerkmal gewesen zu sein für die zuweilen anzutreffende Bezeichnung von Herzog Ernst, König Rother oder Graf Rudolf als ‹deutsche Chansons de geste›. 7 Ganz so scharf ist der Blick auf das Ensemble der deutschen Chanson de geste-Adaptationen und ihrer französischen Ausgangstexte offenkundig also auch derzeit noch nicht. Angesichts jener manchmal etwas diffusen, teilweise sogar widersprüchlichen germanistischen Ansichten über jene Textgruppe erscheint es nötig, zunächst einmal die narrativen Potenziale und Spezifika der französischen Heroik vorzustellen, bevor die deutsche Rezeption und Adaptation der französischen Chanson de geste eingehender untersucht werden kann. Im Kontext einer germanistischen Arbeit ist es allerdings unmöglich, eine erschöpfende Darstellung und Einschätzung des gesamten französischen Genres zwischen dem 12. und dem 15./ 16. Jahrhundert zu bieten. Für diesen Zweck muss vielmehr auf die reiche romanistische Forschung verwiesen werden, in der überblicksartige Studien zum gesamten Genre der französischen Heldenepik, zu bestimmten thematischen Aspekten innerhalb des Genres, zu einzelnen Chansons oder auch zu wichtigen Figuren wie etwa Charlemagne, gerade in den letzten Jahren beinahe ins Uferlose gewachsen sind, so dass ein Einzelner sie praktisch nicht mehr überschauen kann. 8 4 Einleitung 6 In diesem Sinne Armin S chulz : Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: Willehalm von Orlens - Partonopier und Meliur - Wilhelm von Österreich - Die schöne Magelone. Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 161), der, S. 137, ganz zu Recht im Wilhelm von Österreich Chanson de geste-Motive beim Aufbruch Wilhelms in den Orient erkennt. 7 Als ‹deutsche Chansons de geste› bezeichnet werden diese Texte zum Beispiel von Horst B runner : Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick. Stuttgart 1997, S. 141-147. 8 Ein sehr instruktives Resümee der wichtigsten romanistischen Forschungstendenzen bis ca. 1988 findet sich bei Friedrich W olfzettel : Traditionalismus innovativ: Zu neueren <?page no="15"?> Im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der französischen Heldenepik und ihrer wissenschaftlichen Erforschung erscheint es unverzichtbar, die mittelalterlichen Texte sowie die über sie verfasste wissenschaftliche Literatur in den größeren Zusammenhang der europäischen Heroik einzuordnen, deren Erforschung in den letzten beiden Jahrzehnten einen gewaltigen Aufschwung genommen hat. Hinterfragt und zunehmend problematisiert worden sind dabei insbesondere die lange dominierenden, sagengeschichtlich argumentierenden Ansätze, die, analog zur Lachmannschen Methode der Herstellung eines kritischen Textes, Textschicht um Textschicht abzuschälen versuchten, um so zum eigentlichen, ‹ursprünglichen› Kern vorzudringen und ihn zu (re)konstruieren. Eine der Konsequenzen dieses älteren Ansatzes war dabei die Konzentration auf die (vermeintlich) ältesten erhaltenen Texte, die dem ‹Original› oder dem Archetyp, dem alles Bestreben galt, besonders nahezustehen versprachen. Die im späteren 13., 14. oder gar 15. Jahrhundert entstandenen Überarbeitungen einer Chanson de geste oder gar völlig neu verfasste Chansons mussten aus dieser Perspektive beinahe zwangsläufig als minderwertig, als dekadent und durch störende Einflüsse beeinträchtigt gelten. Im Hinblick auf die Verwendung von Liebesmotivik in heldenepischer Literatur wurde beispielsweise der seit dem späteren 12. und 13. Jahrhundert immer stärker sich etablierende Roman als ‹Störfaktor› ausgemacht. Ein ‹Kult des Originals› verbindet sich bei dieser Herangehensweise mit jenem bekannten organologischen Literaturmodell, das nach einer klassischen ‹Blütezeit› um 1200 einen unaufhaltsamen Niedergang der mittelalterlichen Literatur in späteren Jahrhunderten konstatieren will. Sowohl das organologische Deutungsschema von ‹Aufstieg, Blüte und Verfall› einer Gattung als auch das Paradigma einer Einleitung 5 Tendenzen der romanistischen Chanson de geste-Forschung. In: WS 11 (1989), S. 9-31. Ausgezeichnete Überblicke zu zentralen Fragen und Problemen, die das Genre der französischen Heldenepik in seiner Gesamtheit betreffen, bieten die Studien von François S uard : La chanson de geste. Paris 2 2003 (Que sais-je? 2808) und Dominique B outet : La chanson de geste. Forme et signification d’une écriture épique du Moyen Age. Paris 1993. Um die neuesten Entwicklungen und Tendenzen der Chanson de geste- Forschung zu verfolgen, sind bibliographische Hilfsmittel unerlässlich. Alle relevanten Beiträge zur französischen Heldenepik, deren mittelalterlichen Bearbeitungen in den verschiedensten Sprachen sowie zur modernen Rezeption verzeichnet das jährlich erscheinende Bulletin Bibliographique de la Société Rencesvals. Liège 1958ff. Da in vielen Chansons de geste Karl der Große eine mehr oder weniger bedeutsame Rolle spielt, ist ebenfalls die Arbeit von Susan E. F arrier : The Medieval Charlemagne Legend. An Annotated Bibliography. Dutch materials treated by Geert H. M. Claassens. New York, London 1993 (Garland Medieval Bibliographies 15), die die Primär- und Sekundärliteratur zu sämtlichen europäischen Texten verzeichnet, in denen der Frankenkönig als Akteur auftritt, als bibliographisches Nachschlagewerk für (fast) das gesamte Genre und dessen außerfranzösische Rezeption von großem Nutzen. Für den französischen Erzählzyklus um Guillaume d’Orange existiert eine vergleichbare Bibliographie (allerdings ohne Berücksichtigung der außerfranzösischen Rezeption) von Philip E. B en nett : The Cycle of Guillaume d’Orange or Garin de Monglane. A critical bibliography. Woodbridge 2004 (Research Bibliographies and Checklists, New Series 6). <?page no="16"?> Suche nach dem ‹Originaltext› sind von der Literaturwissenschaft jedoch mittlerweile verabschiedet worden. Das hatte Auswirkungen auch auf den Umgang mit heldenepischen Texten. Denn inzwischen betrachtet man später entstandene Epen nicht mehr als eine Art Steinbruch zur Rekonstruktion verlorener Urfassungen, vielmehr wird jede Fassung - gerade eines traditionell eher unfesten Genres wie der Heroik - als jeweils anders akzentuierende und unterschiedlich mit der Tradition umgehende verstanden. Kaum noch bestritten wird mittlerweile auch, dass die uns schriftlich überlieferten Heldenepen artifizielle Gebilde sind, die einer spezifischen, sich von der konzeptiv schriftliterarischen Poetik des Romans unterscheidenden Narrativik gehorchen, die die vorgängige Mündlichkeit mit einkalkuliert, ohne sie indes genau abzubilden. Medien- und kommunikationstheoretisch gehorcht Buchepik bekanntlich anderen Dispositiven als ein mündlicher Vortrag, der mit den Mitteln der Zeit ohnehin nicht exakt zu speichern und auf Dauer zu stellen war: «Wenn man Vortragsdichtung verschriftet, ändert sich ihre Existenzweise fundamental.» 9 Dass man lange kaum bereit war, buchepischer Literatur überhaupt einen ausgeprägten Kunstcharakter zuzugestehen, sondern sie für eine, verglichen etwa mit dem Roman, primitive und archaische Literaturform hielt, hängt zweifelsohne mit dem Faktum zusammen, dass die verschriftlichte Kunstepik eine eigene Narrativik entwickelte, die mit den Regeln der in der Romanliteratur gebräuchlichen gelehrt-lateinischen Poetik und Rhetorik nicht kompatibel ist, ja deren Kunstform teilweise sogar dezidiert verweigert, weil die Buchepik ihre Authentizität eben aus der gezielt hergestellten Nähe zu einer anderen, nicht gelehrt-lateinischen Literaturform gewinnt. Das implizierte für ein mittelalterliches Publikum volkssprachiger Literatur aber wohl noch keine Aussage über die künstlerischen Qualitäten der beiden unterschiedlichen Erzählregister. Eine poetologische Suprematie des einen über das andere Erzählregister wäre daraus nur dann abzuleiten, wenn man eine der beiden narrativen Formen a priori als die bessere verstehen würde. Eben dies tat aber lange Zeit die Literaturwissenschaft, in deren epistemologischem Grundwissen eine unhinterfragt gültige Präpotenz des ‹modernen› Romans gegenüber allen anderen Erzählregistern, insbesondere gegenüber dem ‹archaischen› Epos, von Anfang an fest verankert zu sein scheint. Doch ist eine solche Auffassung keineswegs, wie zuweilen suggeriert, eine überzeitliche Kategorie, sondern muss in ihrer historischen Bedingtheit reflektiert werden. Neuere Untersuchungen haben wahrscheinlich machen können, dass die Abwertung des epischen Erzählregisters mit dem Aufstieg des Romans als führender literarischer Gattung der Moderne einhergeht und dass die Epik etwa seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konsequent zum antiquierten Gegenpol der als modern 6 Einleitung 9 Walter H aug : Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Fiktionalität. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. von Joachim Heinzle. Frankfurt/ M. 1994, S. 376-397, hier S. 385. <?page no="17"?> und innovativ reklamierten ‹neuen› Gattung stilisiert wurde. 10 Bereits Hegel folgt in seinen ‹Vorlesungen über die Ästhetik› (1818-1828) jenem Grundkonsens der neuzeitlichen Literaturwissenschaften, wenn er das Epos wie folgt charakterisiert: Indem nun im eigentlichen Epos das naive Bewußtsein einer Nation zum ersten Mal in poetischer Weise sich ausspricht, so fällt das echte epische Gedicht wesentlich in die Mittelzeit, in welcher ein Volk zwar aus der Dumpfheit erwacht und der Geist soweit schon in sich erstarkt ist, seine eigene Welt zu produzieren und sich in ihr heimisch zu fühlen, umgekehrt aber alles, was später festes religiöses Dogma oder bürgerliches oder moralisches Gesetz wird, noch ganz lebendige, von dem einzelnen Individuum als solchem unabgetrennte Gesinnung bleibt, und auch Wille und Empfindung sich noch nicht voneinander geschieden haben. 11 Nicht wesentlich anders liest sich die Beschreibung des Epischen ein Jahrhundert später in Lukács’ ‹Theorie des Romans› (1916): [...] Dann gibt es noch keine Innerlichkeit, denn es gibt noch kein Außen, kein Anderes für die Seele. Indem diese auf Abenteuer ausgeht und sie besteht, ist ihr die wirkliche Qual des Suchens und die wirkliche Gefahr des Findens unbekannt: sich selbst setzt diese Seele nie aufs Spiel; sie weiß noch nicht, daß sie sich verlieren kann und denkt nie daran, daß sie sich suchen muß. Es ist das Weltzeitalter des Epos. 12 Das zentrale Denkmuster in den beiden berühmten Charakterisierungen des Epischen ist das, in den Zitaten zur Verdeutlichung jeweils kursivierte, ‹noch nicht› oder ‹noch kein›, also jenes ontologisch verstandene Unfertige, Unreife, Naive des Epos, das diese frühe Literaturform vom vermeintlich höher entwickelten und moderneren Roman unterscheidet. Lukács bringt die Differenz auf die griffige Formel: «Der Roman ist die Form der gereiften Männlichkeit im Gegensatz zur normativen Kindlichkeit der Epopöe [...].» 13 Deutlich spielt Einleitung 7 10 Vgl. etwa Daniel M adelénat : L’épopée. Paris 1986; vgl. auch Heiko C hristians : Der Traum vom Epos. Romankritik und politische Poetik in Deutschland (1750-2000). Freiburg 2004 (Rombach Wissenschaften 118). 11 G. W. F. H egel : Vorlesungen über die Ästhetik III. In: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 15. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Ludwig Michel. Frankfurt/ M. 1970 (Theorie Werkausgabe), S. 332. 12 Georg L ukács : Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Mit dem Vorwort von 1962. München 1994, S. 22. 13 Ebd., S. 61. Bereits H egel legte ein ähnlich organologisches Modell zugrunde, wenn er den Roman als «moderne[...] bürgerliche[...] Epopöe» bezeichnete und ihn vom Epos kategorisch unterschieden wissen wollte durch das Überwinden des «ursprünglich[en] poetische[n] Weltzustand[s], aus welchem das eigentliche Epos hervorgeht. Der Roman im modernen Sinn setzt eine bereits zur Prosa geordnete Wirklichkeit voraus [...]»; G. W. F. H egel , Vorlesungen über die Ästhetik III. In: Werke, Bd. 15, S. 392. <?page no="18"?> hier wieder das bereits erwähnte organologische Modell einer literarischen Entwicklung mit hinein, das anscheinend einem hermeneutischen Grundschema zu entsprechen scheint: Wie eigene und fremde Biographien werden gleichfalls Geschichte und Literaturgeschichte, meist wohl unbewusst, in den Kategorien von Kindheit, Erwachsenen- und Greisenalter perzipiert. Eng mit dieser epistemologischen Prämisse ist eine zweite, eine ideologische Annahme verknüpft: Mit seiner narrativen Grundkonstellation eines (männlichen) Protagonisten, der sich gegen alle ihm entgegentretenden Widerstände schließlich durchzusetzen vermag, kommt der mittelalterliche wie neuzeitliche Roman dem Idealentwurf einer bürgerlichen Lebensführung, wie er seit der Aufklärung propagiert wird, recht nahe. Verglichen damit wirken die insbesondere älteren Epen zugrunde liegenden Erzählmuster, die nicht selten den aussichtslosen, in Untergang und Tod führenden Kampf eines Helden, seiner Sippe und/ oder eines Heersverbandes schildern, weitaus fremder und archaischer. Die verbreitete Vorstellung von einer Ablösung des ‹archaischen› Epos durch den ‹modernen› Roman beschränkt sich allerdings nicht allein auf ältere literaturtheoretische Ansätze wie die Arbeiten von Hegel und Lukács, sie begegnet auch in jüngeren theoretischen Abhandlungen, die derzeit in den Text- und Kulturwissenschaften intensiver diskutiert und auf den verschiedensten Feldern angewendet werden. So dient etwa in Bachtins Studie über ‹Formen der Zeit im Roman› (1975, deutsche Übersetzung 1986) das Epos, das Bachtin «als ein bereits hochbetagtes Genre» bezeichnet, als Folie, vor der sich der innovative, ‹dialogische› Typus des Romans - «das einzige Genre, das von der neuen Epoche der Weltgeschichte hervorgebracht und gespeist wurde und ihr deshalb zutiefst verwandt ist» - um so heller abhebt. 14 Um nicht vorschnell zu (ver)urteilen, muss man freilich betonen, dass nicht einer der erwähnten Theoretiker als Mediävist besonders ausgewiesen war. Um so deutlicher zeichnet sich dann allerdings das Muster ab, nach dem bei der Bewertung des Epos verfahren wird: Die aus der Durchsetzung des Erzählmodells ‹Roman› seit dem 18. Jahrhundert resultierende ästhetische Hochschätzung projiziert man auf die mittelalterliche Literatur zurück, wodurch das Epos zu einem ‹archaischen›, ‹monologischen› Genre wird, dessen Reputation sich auf seinen Zeugniswert für eine, zuweilen fälschlich als national verstandene, Vorzeit beschränkt, während der, verglichen mit der Heldenepik, ‹modernere› mittelalterliche Roman als direkter Vorläufer des führenden literarischen Typus der Neuzeit erscheint. Nach dem gleichen Deutungsmuster wurde bekanntlich aber auch in den mediävistischen Philologien lange Zeit verfahren. Symptomatisch dafür ist die 8 Einleitung 14 Michail M. B achtin : Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung. In: ders .: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, hg. von Edward Kowalski, Michael Wegner. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt/ M. 1989, S. 210-251, hier S. 210f. <?page no="19"?> Forschungsgeschichte des Nibelungenlieds, dessen Narrativik, die für einen an der Romanpoetik des späten 18. und 19. Jahrhunderts geschulten Geschmack fremd wirken muss, vor allem durch ihre ‹Archaik› und ‹Alterität› faszinierte und solcherart zum Dokument der nationalen Vergangenheit verklärt werden konnte. Interpretationen und Übersetzungen des Nibelungenlieds, die dieser Auslegung huldigten, waren konsequenterweise bis zum Höhepunkt des nationalen Taumels in der Nazizeit Legion. Nach dem völligen Scheitern des nationalistischen Modells in den Gräueln des Zweiten Weltkriegs stand man dem Text dann jedoch eher ratlos gegenüber, die Zahl der ihm gewidmeten Studien ging signifikant zurück. Erst die Erkenntnis, dass das Nibelungenlied ein eigenständiges Kunstprodukt der Zeit um 1200 darstellt, das nicht etwa zwangsläufig aufgrund einer bis zur Völkerwanderungszeit zurückreichenden Vorgeschichte eine genuin ‹archaische› Ästhetik besitzt, sondern einer anderen Narrativik gehorcht als der aus der Romanliteratur bekannten, führte in den letzten Jahren zu einem neuen Aufschwung. Ähnliches gilt für die Dietrichepik, deren Erforschung gleichfalls bedeutende Fortschritte gemacht hat, seit man sich von älteren Methoden des Umgangs mit der deutschen Heldenepik verabschiedete. Auf dem hier beschriebenen Verständnis eines Kunstcharakters der (französischen) Heldenepik beruhen die Ausführungen der vorliegenden Untersuchung. Dabei präsentiert der erste Teil der Arbeit (Teil A), ausgehend von einer Beschreibung der französischen Chanson de geste und ihrer Narrativik (A.1), Rezeptionsgrundlagen der französischen Heroik im deutschen Sprachraum. Da diese Stoffgruppe, abgesehen von Rolandslied und Willehalm, die als einsame Höhepunkte deutscher Chanson de geste-Bearbeitungen gelten, von der Forschung noch kaum im Zusammenhang behandelt wurde und auch die meisten Einzelwerke nicht eben im Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit stehen, fehlen für manche Texte selbst basale Daten. In einem einleitenden Kapitel zu den Grundlagen der deutschen Chanson de geste- Bearbeitungen werden diese Daten bereit gestellt und bisherige, z. T. sehr alte Forschungsbefunde einer kritischen Revision unterzogen. Darüber hinaus wird nach einer Diskussion der Kriterien, unter denen die deutsche Chanson de geste-Rezeption erfasst werden kann, erstmals ein nach Vollständigkeit strebender Katalog deutschsprachiger Bearbeitungen französischer Heldenepen erstellt sowie hermeneutische Kategorien zu deren typusspezifischer Beschreibung entwickelt (A.2). Ein nächstes Kapitel behandelt die Überlieferungssituation der deutschen Chanson de geste-Adaptationen, aus der sich wichtige Ergebnisse für deren Rezeptionsgeschichte sowie für die geographische Verbreitung des Erzählregisters im deutschen Literatur- und Kulturraum zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert ergeben (A.3). Eines der dabei erzielten Ergebnisse, das beinahe von Anfang an erkennbare zyklische Potenzial der Texte, analysiert in einem weiteren Untersuchungsschritt Kapitel A.4, in dem das gesamte Textensemble der deutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik abgeschritten wird mit Blick auf die in den letzten Jahren intensiv unter Einleitung 9 <?page no="20"?> narratologischen Fragestellungen geführte Diskussion um die Kohärenz von Codices kompilatorischen Charakters. Der analytisch-interpretatorisch angelegte zweite Teil der Studie (Teil B) baut auf den Beobachtungen des ersten Teils auf, indem die dort entwickelte Diversifizierung der deutschen Chanson de geste-Rezeption in drei Phasen oder Wellen, die geographisch und chronologisch differieren, sich partiell allerdings auch überschneiden, zum Ausgangspunkt der weiteren Untersuchung des deutschen Textensembles gemacht wird. Beschrieben werden in diesem Teil, wiederum ausgehend von charakteristischen Eigenheiten des Genres in der Romania (B.1), die jeweils unterschiedlichen Adaptationsverfahren, durch die die Aufnahme des im deutschen Literatur- und Kulturraum ungewohnten Stoffes der französischen Heldenepik überhaupt erst ermöglicht wurde (B.2-B.4). 10 Einleitung <?page no="21"?> A Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption Die, wie sich zeigen wird, gar nicht so seltenen und marginalen deutschsprachigen Bearbeitungen französischer Heldenepik, die zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert entstanden, gerieten, wenn überhaupt, immer nur in einzelnen Ausschnitten in das Blickfeld der Forschung. Daher muss es zuvorderst darum gehen, die Rezeptionsgrundlagen und den ‹Sitz im Leben› der gesamten Textgruppe herauszuarbeiten, um sie zureichend beschreiben, systematisieren, analysieren und gegeneinander sowie gegen andere Textreihen oder -gruppen abgrenzen zu können. In mehreren Schritten soll in Abschnitt A der Studie diese Arbeit - stets vor der Kontrastfolie der französischen Gattung - am Gesamtbestand der Textdenkmäler deutscher Chanson de geste- Adaptationen geleistet werden. Im Hintergrund schwingt dabei die, indes erst am Ende der Untersuchung wirklich zu beantwortende, Frage mit, ob die Chanson de geste im deutschsprachigen Raum ein eigenes Erzählregister ausbildete oder zumindest als solches wahrgenommen wurde. A.1 Aufstieg einer Gattung - Französische Heldenepik zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der französischen Heldenepik ist der skizzierte forschungsgeschichtliche Paradigmenwechsel erst relativ spät rezipiert und fruchtbar gemacht worden. 1 So vollzog sich, und vollzieht sich teilweise noch, die Erforschung der französischen Heldenepik unter epistemologischen Prämissen, die sehr häufig auf dem hohen Alter und einer daraus abgeleiteten ‹Ursprünglichkeit› jenes narrativen Registers basieren. Die frühen Chansons, allen voran natürlich die Chanson de Roland, galten und 1 Neue Wege beschreiten insbesondere François S uard und einige jüngere französische Romanisten. Vgl. etwa François S uard : L’épopée française tardive (XIV e -XV e s.). In: Études de Philologie Romane et d’Histoire Littéraire, offertes à J. Horrent, hg. von J.-M. d’Heur und N. Cherubini. Liège 1980, S. 449-460; vgl. etwa auch das von S uard verantwortete Heft der Cahiers de Recherches Médiévales 12 (2005): La postérité de l'épopée française à partir du XIV e siècle; vgl. ebenfalls Emmanuelle P oulain -G autret : La tradition littéraire d’Ogier le Danois après le XIII e siècle. Permanence et renouvellement du genre épique médiéval. Paris 2005 (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Age 72); Sarah B audelle -M ichels : Les Avatars d’une Chanson de Geste. De Renaut de Montauban aux Quatre Fils Aymon. Paris 2006 (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Age 76). Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption Aufstieg einer Gattung <?page no="22"?> gelten einem Teil der Forschung dann auch oft noch als Höhepunkte, als ‹Blüte› der französischen Heldenepik, während die späteren Texte, da sie vermeintlich zu sehr unter dem Einfluss des Romans stehen, als depravierte, nicht mehr authentische Heroik angesehen werden. Die Geschichte der Chanson de geste erschien folgerichtig oft als Verfallsgeschichte, der die Erfolgsgeschichte des Romans entgegen gesetzt wurde. In Chanson de geste und Roman spiegeln sich diesem Erklärungsansatz zufolge paradigmatisch unterschiedliche Mentalitäten in der Umbruchzeit des 12. Jahrhunderts: Einer altertümlichen Kriegergesellschaft auf der einen Seite steht auf der anderen Seite eine höfische, weitaus zivilisiertere Gesellschaft gegenüber. 2 Probleme haben die Vertreter dieser These allerdings damit zu erläutern, weshalb die Chanson de geste auch nach dem 12. und frühen 13. Jahrhundert, also in der Epoche des scheinbar unaufhaltsamen, sich bis in die Moderne fortsetzenden Aufstiegs des Romans, weiter existierte und, wie zahlreiche Rezeptionszeugnisse belegen (s. S. 42ff.), bis ins 15. und 16. Jahrhundert hinein ihr Publikum fand. Ein Erklärungsversuch geht dabei von einer Aufspaltung des Publikums aus. 3 12 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 2 Sichtbar werden diese Prämissen in den älteren Theorien zur Genese der Chanson de geste (vgl. etwa Gaston P aris : Histoire poétique de Charlemagne. Reproduction de l’édition de 1865 augmentée de notes nouvelles par l’auteur et par M. Paul Meyer et une table alphabétique des matières. Paris 1905 oder Joseph B édier : Les légendes épiques. Recherches sur la formation des chansons de geste, 4 Bde. Troisième édition. Paris 1926-1929) ebenso wie in den sozio-historischen Ansätzen verpflichteten Arbeiten von Karl-Heinz B ender : König und Vasall. Untersuchungen zur Chanson de geste des XII. Jahrhunderts. Heidelberg 1967 (Studia Romanica 13), wenn es ebd., S. 184, heißt: «Als am Ausgang des XII. Jahrhunderts die historische Feudalgesellschaft, in der König und Fürsten machtpolitisch gleichrangige Partner waren, zerfällt, zerbricht auch die Feudalgesellschaft der Karlsepik und wird die mythische Idealität des Karlskönigtums in ihr Gegenteil verkehrt. In denjenigen Chansons de geste, die diesen Zerfallsprozeß darstellen, wandelt sich die traditionelle epische Struktur: Mit dem Ende der alten Feudalgesellschaft entsteht eine neue poetische Ausdrucksform: das nicht mehr auf zyklische Fortsetzung angelegte Epos, das in sich selbst geschlossen sein kann, weil es nicht mehr um eine epische Begebenheit, sondern um die Person des einzelnen Helden zentriert ist»; ähnlich auch Hildegard B artels : Epos - die Gattung in der Geschichte. Eine Begriffsbestimmung vor dem Hintergrund der Hegelschen «Ästhetik» anhand von «Nibelungenlied» und «Chanson de Roland». Heidelberg 1982 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 22), S. 309: «Die Herausbildung neuer wirtschaftlicher und politischer Strukturen zieht das nach sich, was Marc Bloch ‹une véritable révision des valeurs sociales› nennt. Im Zuge der damit verbundenen ‹prise de conscience› entstehen neue poetische Gattungen, z. B. die höfische Dichtung.» Selbst die neuerer gattungsgeschichtlicher Methodik verpflichteten Studien wie die von Karlheinz S tierle : Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit. In: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht. Heidelberg 1980 (Begleitreihe zum GRLMA 1), S. 253-313 oder die gendertheoretisch argumentierende Arbeit von Simon G aunt : Gender and genre in Medieval French Literature. Cambridge 1995 (Cambridge Studies in French 53), die der älteren Forschung prinzipiell kritisch gegenübersteht, sind nicht völlig frei davon. 3 Typisch hier etwa die Ausführungen von Ernst S chneider : Die formale Annäherung der Chansons de geste an den Roman. München 1938, S. 85: «Einstweilen verharrt noch eine <?page no="23"?> Demnach wären die für einen mündlichen Vortrag konzipierten Chansons de geste nach dem 13. Jahrhundert weiterhin, als gleichsam ‹gesunkenes Kulturgut›, auf Marktplätzen sowie vor Kirchen und Klöstern durch Jongleurs vor einem breiten Publikum öffentlich gesungen worden; der schriftliterarisch konzipierte höfische Roman habe sich dagegen von Anfang an ausschließlich an ein adeliges, exklusives Publikum gewandt. Abgeleitet wird diese These einer möglichen Aufspaltung des Publikums also vor allem aus der unterschiedlichen Produktions- und Rezeptionssituation der beiden Genres, wobei der Vortragscharakter der Epik selbst wiederum aus den Texten erschlossen wurde. Wie sehr bereits die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende Chanson de geste-Forschung unter jener romantischen Erwartungshaltung öffentlich vorgetragener Lieder/ Chansons epischen Charakters stand, hat vor einigen Jahren A. Taylor gezeigt. 4 Das wissenschaftliche Interesse an den später als französische Heroik bekannt gewordenen Texten begann mit der intensiven Suche nach Zeugnissen eines Liedes, das, einer Nachricht des anglonormannischen Chronisten Wace im Roman de Rou (um 1155) zufolge, ein Künstler namens Taillefer vor und während der Schlacht von Hastings vorgetragen habe, der dabei, wie es bei Wace heißt, sehr schön singend vor den Reihen des normannischen Heeres einhergeritten sei. Dieses Lied soll über Karl den Großen und den Tod Rolands, Oliviers und anderer Krieger bei Ronceval berichtet haben (de Karlemaine e de Rollant,/ e d’Oliver e des vassals/ qui morurent en Rencesvals 5 ). Als man im Jahr 1835 in Oxford dann eine noch aus dem 12. Jahrhundert stammende, wohl um 1150/ 70 im anglonormannischen Schriftdialekt (dem sog. Inselfranzösisch) aufgezeichnete, Handschrift (wieder-)entdeckte, in der Taten und Schicksal der bei Wace erwähnten Personen während der Roncevalschlacht behandelt wurden, war man sogleich überzeugt, eine Niederschrift des seinerzeit von Taillefer während des Kampfes gesungenen Liedes gefunden zu haben und bezeichnete den Text folgerichtig - die (vermeintliche) tragische Hauptperson und den (vermeintlich) genuin mündlichen Charakter des Aufgezeichneten in gleicher Weise herausstellend - als ‹Lied von Roland›: Chanson de Roland. 6 Taylor hat jedoch völlig zu Recht darauf hingewiesen, Aufstieg einer Gattung 13 einfache Volksschicht, von der die höfische Gesellschaft sich losgesagt hat, bei den alten Formen, den Chansons de geste, die nun nicht mehr archaisch-einfach, sondern zurückgeblieben in der Entwicklung, konservativ, sind: nicht einfach, sondern gewöhnlich oder künstlich aufgebauscht. Der Verfall liegt teils im Absinken des dichterischen Wertes, teils in der Trennung von Dichtform und Dichtgattung.» 4 Vgl. Andrew T aylor : Was There a Song of Roland? In: Speculum 76 (2001), S. 28-65; vgl. auch ders .: Textual situations. Three medieval manuscripts and their readers. Philadelphia 2002, S. 26-70. 5 Zitiert nach T aylor , Song, S. 29. 6 Dem Mittelalter war eine solche Titulierung, der W. G rimm die deutsche Bezeichnung Rolandslied nachbildete, nicht geläufig. Im Kolophon der franko-italienischen Chanson de Roland-Fassung V 4 heißt es: Explicit liber tocius Romani Ro[n]cisvalis; die Fassung Châteauroux endet mit den Worten: Explicit Roncisvali e de R.[oland] e d’Oliver e de <?page no="24"?> dass es sich hierbei eher um ein Konstrukt («this poem’s modern invention») als um die tatsächliche Entdeckung eines ‹Liedes› handelte, in dem Roland und andere Ronceval-Kämpfer besungen wurden. Die von der neuzeitlichen Literaturwissenschaft der Heldenepik unterstellte Schlichtheit und Archaik, die man in der von Taillefer gesungenen Chanson de Roland gefunden zu haben glaubte, dominiert in vergleichbarer Weise auch das Theoriegebäude der, später so bezeichneten, ‹Traditionalisten› um Gaston Paris, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ebenfalls deutlich von romantischen Vorstellungen geprägte Ansicht vertraten, die Chansons de geste verdankten ihre Genese der Tatsache, dass ‹im Volk› die Erinnerungen an Karl den Großen nie verblasst und in mündlichen Erzählungen von Generation zu Generation weitergetragen und dabei variiert worden seien. Folglich galten ihnen als ‹authentische› Chansons nur jene Texte, die noch im 11. und 12. Jahrhundert entstanden seien (allen voran selbstverständlich die Chanson de Roland), da diese Texte sich durch eine anscheinend unverstellte Natürlichkeit und Ungekünsteltheit positiv von den poetisch überformten und somit ‹dekadent› gewordenen Chansons des 13. bis 15. Jahrhunderts absetzen würden: Le style de l’épopée ancienne est roide et sobre comme sa conception. La phrase, comme dans toutes les œuvres primitives, est très-simple [...]. L’épopée n’est pas une œuvre de l’art; c’est un produit presque naturel, qui a sa loi de croissance, de développement et aussi de dépérissement. 7 Gegen diese romantische Ursprungstheorie der Traditionalisten wandte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Reihe von Arbeiten Joseph Bédier. 8 Er versuchte zu belegen, dass die ab dem 13. Jahrhundert aufgezeichnete französische Heldenepik nicht das mehr oder weniger zufällig in dieser Form erhaltene Endprodukt einer bereits Jahrhunderte alten mündlichen Überlieferung sei, sondern einer sehr konkret auf das 11. und frühe 12. Jahrhundert datierbaren Zusammenarbeit von Jongleurs und Mönchen entsprungen wäre. Die Mönche der an den großen Pilgerstraßen bzw. direkt in den Pilgerzentren liegenden Klöster hätten demnach professionelle Epenproduzenten mit, teilweise aus lateinischen Quellen stammenden, teilweise fingierten, Informationen über Leben und Taten der in ihren Mauern (angeblich) begrabenen oder verehrten ‹Helden› versorgt, woraufhin diese volkssprachige Texte über deren Schicksale verfasst, sie den Pilgern vorgetragen und dadurch für eine Verbreitung des Kults gesorgt hätten, an der den Klöstern natürlich hochgradig gelegen 14 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption Aude; der Kolophon der Cambridger Fassung lautet: Le livre des XII pairs est cy finé,/ don loenge soit a la sainte Trinité! ; vgl. die entsprechenden Angaben in: La Chanson de Roland. The Song of Roland. The French Corpus. Joseph J. Duggan, General Editor. Karen Akiyama, Ian Short, Robert F. Cook, Joseph J. Duggan, Annalee C. Rejhon, Wolfgang van Emden, William W. Kibler, Editors, 7 parts in 3 volumes. Turnhout 2005. 7 Vgl. P aris , Histoire poétique, S. 23; S. 25f. 8 Zusammengefasst sind die Ergebnisse B édier s in: Les légendes épiques, Bd. 1-4. <?page no="25"?> sein musste. Bédier, der offensichtlich davon ausging, dass - mindestens einige - Chansons de geste von versierten Autoren am Schreibpult konzipiert und bewusst literarisch überformt worden seien, 9 hätte theoretisch vom geläufigen Konzept der naiven, künstlerisch noch wenig entwickelten Heldenbzw. Volkssage explizit Abstand nehmen und die Chansons de geste zu artifiziellen Produkten erklären können, die sich in ihrer spezifischen Poetik zwar von derjenigen der Romane unterschieden, prinzipiell jedoch mit ihnen vergleichbar seien. Er deutet eine solche Möglichkeit jedoch nur sehr vage an, wenn er, freilich ohne eine Antwort zu formulieren, nach über 1800 Seiten akribischer Epenstudien zum Schluss des vierten und letzten Bandes seiner Untersuchungen Fragen aufwirft wie: Quel est le rapport des chansons de geste aux romans presque contemporains du cycle de l’Antiquité et du cycle de Bretagne? [...] Pourquoi, dans les chansons de geste, le surnaturel chrétien a-t-il si vite fait place au merveilleux de féerie, pourquoi l’épique a-t-il si vite évolué vers le romanesque? 10 Im Grunde versteht aber auch Bédier die französische Heroik, ganz traditionell, als volkstümlichen, von fahrenden Spielleuten vorgetragenen ‹Jahrmarktsartikel›, der sich im künstlerischen Niveau deutlich von hochliterarischen Texten, die den Regeln gelehrter Rhetorik und Poetik gehorchen, unterscheide. 11 Die Beschränkung von Bédiers Studien auf die ‹klassischen›, d.h. die (vermeintlich) ältesten, den epischen ‹Normalvorstellungen› entsprechenden Chansons und die konsequente Nichtbehandlung der jüngeren, die, wie etwa Huon de Bordeaux und dessen Fortsetzungen, diesen ‹Normen› offensichtlich nicht mehr so einfach entsprechen, ist daher kein Zufall, sondern liegt in der Logik seines Epikverständnisses. Aufstieg einer Gattung 15 9 Vgl. etwa B édier s berühmte Schilderung der von ihm vermuteten Genese der Chanson de Roland von der entscheidenden Idee des Autors bis zur mühevollen Erarbeitung des eigenen Textes, Les légendes épiques, Bd. 3, S. 448f.: «Une minute a suffi, la minute sacrée où le poète, exploitant peut-être quelque fruste roman, ébauche grossière du sujet, a conçu l’idée du conflit de Roland et d’Olivier. Seulement, ayant conçu cette idée, pour la mettre en œuvre, et, je ne crains pas le mot, pour l’exploiter, il ne s’est pas contenté de ›chanter‹; il lui a fallu se mettre à sa table de travail, chercher des combinaisons, des effets, des rimes, calculer, combiner, raturer, peiner.» 10 Ebd., Bd. 4, S. 476. 11 Vgl. ebd., Bd. 4, S. 429: «Ils [die Autoren der Chansons de geste] n’ont pas pris la peine de se renseigner auprès des clercs instruits: ils se sont contentés de ce que disaient le frère hôtelier, le sacristain, les gens du pays. Ainsi le rôle des clercs dans la constitution de nos légendes fut à la fois primordial et médiocre: primordial, puisque c’est d’eux en dernière analyse que procèdent les données historiques des chansons de geste; médiocre, en ce sens que les poètes leur ont peu demandé. Ces poètes sont restés ›peuple‹: ils se sont intéressés aux traditions des églises dans la mesure où s’y intéressaient autour d’eux les marchands, les chevaliers, les bourgeois, les pèlerins qui venaient vers ces églises»; S. 432f.: «Les auteurs des chansons de geste ou leurs propagateurs étaient des nomades; leurs publics étaient souvent forains; ces forains et ces nomades se rencontraient autour des abbayes et sur des champs de foire [...].» <?page no="26"?> Die durch Bédiers Entstehungstheorie wenigstens theoretisch eröffnete Sicht auf die Chansons de geste als von versierten Autoren mit klerikalem Hintergrund schriftlich konzipierte, artifizielle Produkte wurde allerdings bald überschattet durch den weiteren Verlauf der Chanson de geste-Forschung. Denn um 1950 war in einer auf ca. 1065/ 75 datierten lateinischen Handschrift aus dem nordspanischen Kloster San Millán da la Cogolla die, später so genannte, ‹Nota Emilianense› entdeckt worden. 12 Diese nur wenige Zeilen umfassende lateinische Notiz gibt eine gedrängte Zusammenfassung der Ereignisse der Ronceval-Schlacht, wie sie ähnlich, aber in entscheidenden Details doch unterschiedlich, gleichfalls die Chanson de Roland erzählt. 13 Die ‹Nota Emilianense› galt fortan als Beleg dafür, dass, anders als Bédier wahrscheinlich zu machen versucht hatte, der Stoff der französischen Heldendichtung zuvor eben doch in mündlichen Erzählungen kursiert habe. In der Folgezeit entwickelte sich dann die vermittelnde und heute weitgehend anerkannte Auffassung des Neotraditionalismus, derzufolge einzelne Erzählkerne und Motive der französischen Heldenepik bereits seit langem in mündlich tradierten Liedern existiert hätten, ab dem späteren 11. und im 12. Jahrhundert dann allerdings teilweise tiefgreifende Überarbeitungen und Erweiterungen durch professionelle Epenautoren bzw. Jongleurs erfahren hätten. In dieser Form 16 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 12 Vgl. dazu Dámaso A lonso : La primitiva épica francesa a la luz de una nota emilianense. In: Revista de Filología Española 37 (1953), S. 1-94. D. Alonsos Datierungsansatz der ›Nota Emilianense› auf 1065/ 75 wurde, mit durchaus bedenkenswerten Argumenten, kritisiert von Ronald W alpole : The Nota Emilianense. New Light (but how much? ) on the Origins of Old French Epic. In: Romance Philology 10 (1956/ 57), S. 1-18. Sein späterer Datierungsansatz (um 1100) konnte sich in der Forschung jedoch nicht durchsetzen. 13 Von der Chanson de Roland unterscheidet sich diese Notiz durch eine exakte, an Historiographie erinnernde Zeitangabe («im Jahre 778»), während die Chansons de geste gerade jede genaue Zeitangabe vermeiden (vgl. S. 47f.); weiter durch die Aufnahme Wilhelms, des Helden der Wilhelmsgeste, unter die bei Ronceval Kämpfenden sowie die Nichterwähnung Ganelons und des von ihm begangenen Verrats, der in der Chanson de Roland die Niederlage der Nachhut erst möglich macht, und schließlich durch die Nichterwähnung der siegreichen Racheschlacht gegen das heidnische Entsatzheer unter Baligant; vgl. die Übersetzung der ‹Nota› bei D. K artschoke : Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1993 (RUB 2745), Nachwort, S. 785f.: «Im Jahre 778 kam König Karl nach Saragossa. Er führte damals zwölf Neffen an, und von diesen jeder dreitausend gepanzerte Ritter. Die Namen einiger von ihnen lauten Roland, Bertran, Ogier mit dem kurzen Schwert, Wilhelm mit der krummen Nase, Olivier und Turpin, der Bischof des Herrn. Und jeder von ihnen diente dem König mit seinen Gefolgsleuten je einen Monat. Es geschah nun, daß der Feind in Saragossa den König und die Seinen aufhielt. Nachdem einige Zeit vergangen war, rieten die Seinen, er möge die vielen Geschenke annehmen, damit das Heer nicht vor Hunger umkomme, sondern in die Heimat zurückkehren könne. So geschah es. Dann ordnete der König zum Schutz des Heeresgefolges an, daß Roland, der tapfere Krieger, mit den Seinen die Nachhut bilden solle. Als aber das Heer den Paß von Sizer überquert hatte, wurde Roland in Ronceval von den sarazenischen Haufen erschlagen.» <?page no="27"?> seien sie dann weiterhin mündlich vorgetragen und erst ab dem späten 12., frühen 13. Jahrhundert schließlich schriftlich fixiert worden. 14 Auch diese Forschungsrichtung ist offenkundig primär an Fragen der Genese der französischen Heldenepik interessiert und konzentriert sich infolgedessen auf die als älter geltenden Chansons, insbesondere natürlich die Chanson de Roland. Bis zu diesem Punkt verlief die romanistische Epenforschung in etwa parallel zur wissenschaftlichen Diskussion um die deutsche Heldenepik. Auch dort war man bis in die 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, von Ausnahmen abgesehen, eher an einer (Re)Konstruktion der Vorgeschichte der schriftlich überlieferten Epen als an einer Auseinandersetzung mit diesen Texten selbst interessiert. 15 Mit den Versuchen einer Anwendung der Ergebnisse und Theorien der an slawischen Epen des früheren 20. Jahrhunderts entwickelten Oral-Poetry-Forschung auf die mittelalterliche Heldenepik gingen die Forschungswege der Romanistik und der Germanistik dann allerdings eine Zeit lang auseinander. Während sich die Bemühungen, den von Parry und Lord beschriebenen und als typisches Kennzeichen genuiner Oralität geltenden formelhaft-repetitiven Stil mündlich vorgetragener Epen etwa auch im Nibelungenlied zu belegen, als wenig fruchtbar erwiesen, und die Germanistik bald zu anderen Beschreibungsmodellen für das komplizierte Verhältnis von mündlichen Dichtungstraditionen und deren buchepischen Umsetzungen fand, 16 schien J. Rychner ein entsprechender Nachweis für die Chanson de geste gelungen zu sein, indem er unter anderem auf die auffällige Formelhaftigkeit der frühen französischen Heldenepik verwies sowie auf deren anscheinend einer Vortragssituation geschuldeten extremen Neigung zu Wiederholungen. 17 Aufstieg einer Gattung 17 14 Vgl. etwa Ramón M enéndez P idal : La Chanson de Roland y el neotradicionalismo. Origénés de la épica romanica. Madrid 1959 (französ. Übers. unter dem Titel: La Chanson de Roland et la tradition épique des Francs. Paris 1960). 15 Zur weitgehend vergleichbaren Forschungsgeschichte der französischen und der deutschen Heldenepik bis etwa in die 1960er Jahre vgl. Ursula P eters : Geschichte der Interpretation. In: Epische Stoffe des Mittelalters, hg. von Volker Mertens, Ulrich Müller. Stuttgart 1984 (Kröners Taschenausgabe 483), S. 475-490, bes. S. 477-484. 16 Vgl. dazu etwa Michael C urschmann : Dichter alter maere. Zur Prologstrophe des ‹Nibelungenliedes› im Spannungsfeld von mündlicher Erzähltradition und laikaler Schriftkultur. In: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert, hg. von Gerhard Hahn, Hedda Ragotzky. Stuttgart 1992 (Kröners Studienbibliothek 663), S. 55-71; Franz H. B äuml : Autorität und Performanz. Gesehene Leser, gehörte Bilder, geschriebener Text. In: Verschriftung und Verschriftlichung. Aspekte des Medienwechsels in verschiedenen Kulturen und Epochen, hg. von Christine Ehler, Ursula Schaefer. Tübingen 1998 (ScriptOralia 94), S. 248-273; vgl. auch den Forschungsüberblick bei Jan-Dirk M üller : Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998, S. 25-38. 17 Vgl. Jean R ychner : La Chanson de geste. Essai sur l’art épique des jongleurs. Genf 1955 (Société de Publications Romanes et Françaises 53); Kritik an Rychner übt z. B. Harald H aferland : Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im deutschen Mittelalter. Göttingen 2004, S. 165-172. <?page no="28"?> In der Folge galt ebenfalls die französische Heldenepik den meisten Romanisten als ein originär mündliches Genre, das - wie die traditionalistische und neotraditionalistische Forschung seit jeher behauptet hatte - von Jongleurs nach überkommenen Mustern produziert und von einem entsprechenden Publikum auf Marktplätzen und Jahrmärkten rezipiert worden sei. Sogenannte Jongleurmanuskripte, kleinformatige und schmucklose Handschriften, in denen fast immer nur ein Text überliefert ist, sollen dieser Theorie zufolge dabei als Gedächtnisstütze, als eine Art «Souffleurbuch» gedient haben. 18 Zusätzliche Unterstützung erwuchs der von Rychner vertretenen Auffassung einer originären Mündlichkeit der französischen Heldenepik scheinbar aus bestimmten Passagen in den Chansons selbst. Mehrfach begegnen dort nämlich Szenen, in denen ein Erzähler sich an seine Zuhörer wendet, indem er z. B. an einer besonders spannenden Stelle den Erzählfluss unterbricht und für den nächsten Tag die Fortsetzung seiner Chanson ankündigt, oder auch zunächst einmal Entlohnung fordert, bevor er seine Erzählung fortsetzen werde. In vielen Untersuchungen über die französische Heldenepik wurde und wird teilweise noch, zuweilen mit einem Verweis auf Rychners Ergebnisse, aus solchen und anderen Passagen unmittelbar auf einen mündlichen Vortrag der Chansons geschlossen. Als exemplarisch für die aus den Epen selbst abgeleiteten 18 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 18 Vgl. etwa Henning K rauss : Romanische Heldenepik. In: ders . (Hg.): Europäisches Hochmittelalter. Wiesbaden 1986 (Handbuch der Literaturwissenschaft 7), S. 145-180, hier S. 147: «Keine andere Gattung besitzt einen so engen Publikumsbezug wie die Chanson de geste: Sie ist ein ›Jahrmarktsartikel‹, der bei Festen und Prozessionen gegen Bezahlung dargeboten wird wie andere Gauklerstücke auch. Der jongleur hat also bei Form und Inhalt des Vortrags seine und seines Publikums Interessen zu berücksichtigen. [...] Der Gebrauch von Topoi und formelhaften Klischees bei der Schilderung ähnlich gelagerter Sachverhalte sowie redundante Formulierungen bis hin zur Repetition halber oder ganzer Laissen dienen einerseits dazu, das Gedächtnis des jongleurs nicht zu überfordern, haben andererseits aber auch die Aufgabe, die vorgetragene Botschaft nicht zu komplex und damit für das Publikum überwältigend und nicht mehr adäquat verständlich werden zu lassen.» Ganz ähnlich Frank-Rutger H ausmann : Französisches Mittelalter. Lehrbuch Romanistik. Stuttgart, Weimar 1996, S. 255f.: «Die altfranzösische Literatur ist also zunächst mündlich. Auch wenn die Sänger nicht improvisierten, waren sie nicht an den genauen Text gebunden. Für 2000 Verse, die kürzesten Epen (Charroi de Nîmes, 1486 Verse; Chanson de Guillaume, 1980 Verse), benötigten die Jongleurs etwa zwei Stunden. Bei längeren Texten, wohl schon beim Rolandslied (4002 Verse), wählten sie aus und trugen vor, was dem recht kunstverständigen Publikum besonders gefiel. Ihre Gebrauchsexemplare, die eine Gedächtnisstütze bildeten und zum Ausgangspunkt individueller Improvisation dienten, wurden viel benutzt, abgenutzt und dann weggeworfen. Die Zahl der Spielleute war geringer als die des höfischen Publikums, der Kundschaft, für die sie arbeiteten, so daß der gesamte Umfang der für den Bedarf der Sängerkorporationen benötigten Handschriften eher klein war. Sobald ein Text aus der Mode kam, verloren die Manuskripte ihren Wert. Sie mußten anderen Werken weichen oder wurden gar überarbeitet. Dies erklärt die Existenz mehrerer Fassungen unterschiedlicher Länge ein und desselben Werks bzw. von Sammelhandschriften mit mehreren Gesten, Romanen oder Romanstücken.» <?page no="29"?> Rückschlüsse über eine genuine Mündlichkeit der Chanson de geste können die Ausführungen von J. J. Duggan gelten: In einer berühmt gewordenen Stelle nach etwa 4900 Zeilen des aus Tours stammenden Manuskripts von «Huon de Bordeaux» erwähnt der Erzähler, daß die Nacht herannaht und er müde wird. Er lädt seine Hörer ein, am nächsten Tag nach dem Abendessen wiederzukommen und Geld mitzubringen, wenn sie die Fortsetzung der Geschichte über Huon und Oberon den Elf nicht versäumen wollen. Fürs erste fordert er sein Publikum auf, mit ihm zu trinken. Fünfhundert Zeilen später stellt der Erzähler in einer ganz offensichtlich am folgenden Tag vorgetragenen Passage verärgert fest, daß er kaum Geld bekommen hat, und er droht - wohl nicht ganz ernsthaft -, all jene Hörer, in Oberons Namen, auszuschließen, die seiner durch das Publikum gehenden Frau keine Münzen geben würden. Da es für einen schreibenden Autor der Geschichte von Huon und Oberon wohl sehr schwierig wäre, vorab zu wissen, daß der Erzähler an dieser Stelle seines Vortrags müde und durstig würde, daß es ihm möglich wäre, sein Publikum auf ein Glas einzuladen, daß seine Frau ihn stets begleiten würde, und daß sein Publikum sich am nächsten Tag als geizig erwiese, muß man wohl die Annahme einer schriftlichen Vorlage für diese Version von «Huon de Bordeaux» ebenso wie für die Turiner Version, die ebenfalls all diese Stellen enthält, zugunsten der viel wahrscheinlicheren These verwerfen, daß dieser Text tatsächlich während des Vortrags des Gedichts niedergeschrieben wurde, und daß der Jongleur die beiden erwähnten Passagen ad hoc in bezug auf die gegenseitige Kommunikationssituation erfand. 19 Gegen solche Vorstellungen hatten sich schon früh die Lütticher Forscher Delbouille und Tyssens gewandt, die nicht zuletzt mit Blick auf kunstvoll konstruierte Epenzyklen in den voluminösen und teilweise prächtig illustrierten Manuskripten des Wilhelmszyklus die These einer unmittelbaren Oralität zumindest für diese Textgruppe ablehnten. 20 Die neuere Oralitätsforschung ist Aufstieg einer Gattung 19 19 Joseph J. D uggan : Die zwei »Epochen« der Chansons de geste. In: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht, Ursula Link-Heer. Frankfurt/ M. 1985, S. 389-408, hier S. 393; ähnlich z. B. auch S tierle , Verwilderung, der S. 267 mit Bezug auf die gleiche Passage in Huon de Bordeaux konstatiert: «Die Kommunikationssituation der chanson de geste darf hier als unmittelbar gültig angesetzt werden. [...] Die Aufforderung zu Beginn, der chanson zuzuhören und das Reden zu lassen, ist keine Stilisierung, sondern eine unmittelbare Anweisung an das vorausgesetzte Publikum. [...] Ebenso direkt gemeint ist das Hervortreten des Jongleurs, wo er an spannender Stelle unterbricht, um die Fortsetzung der Geschichte für den nächsten Tag anzukündigen, denn er sei jetzt müde und wolle jetzt etwas trinken.» Selbst für die späten, mitunter sehr umfangreichen, Chansons de geste behauptet einen mündlichen Vortrag etwa Nico H. van den B oogaard : Le caractère oral de la chanson de geste tardive. In: Langue et Littérature Françaises du Moyen Age. Études réunies par R. E. V. Stuip. Assen, Amsterdam 1978, S. 25-38. 20 Vgl. Maurice D elbouille: Les chansons de geste et le livre. In: La technique littéraire des chansons de geste. Actes du Colloque de Liège septembre 1957. Paris 1959 (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège 150), S. 295-407; <?page no="30"?> noch einen Schritt weiter gegangen und hat die Oral-formulaic-theory für die uns überlieferte mittelalterliche Buchepik generell in Zweifel gezogen. 21 Zwar befand sich die mittelalterliche Literatur im 12. und früheren 13. Jahrhundert auf einer wichtigen Etappe des langen Wegs von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit, zwar existieren durchaus ernstzunehmende Nachrichten über (Epen-)Vorträge durch Spielleute in jener Zeit, doch wäre es falsch, aus diesen Umständen ohne Weiteres zu folgern, dass die uns überlieferten Texte des heldenepischen Erzählregisters gleichsam als Mitschriften oder Diktate solcher Vorträge zu betrachten wären. Dies umzusetzen war schon allein aus technischen Gründen mit den Mitteln der Zeit praktisch unmöglich. Es konnte statt dessen wahrscheinlich gemacht werden, dass der formelhafte Stil mitnichten Relikt einer durch die schriftliche Fixierung gleichsam authentisch bewahrten Mündlichkeit ist, sondern als bewusst eingesetztes Signal des heldenepischen Erzählregisters gelten muss, das Mündlichkeit als erzählerisches Mittel in die Schriftlichkeit integriert. 22 Es handelt sich demnach bei den Signalen mündlichen Erzählens, die in buchepischen Texten mehr oder weniger deutlich begegnen, um eine fingierte Mündlichkeit und um eine performative Sprechbzw. Schreibweise, die sich im Verbund mit anderen Stilmitteln, etwa der archaisierenden und formelhaften Sprache oder der strophischen Form, zu einer spezifisch heldenepischen Narrativik verbinden. Die uns überlieferten Epen bilden insofern keine simplen oder gar spontanen ‹Verschriftungen› von Epenvorträgen, sondern sind als gezielt durchformte ‹Verschriftlichung› heldenepischer Stoffvorgaben zu werten, 23 die zu diesem Zweck eine eigene, die Methoden mündlichen Erzählens ausbeutende Poetik entwickelte. «Als wesentliches Ergebnis der medientheoretisch gespeisten Lektüre der Epen kann gelten, 20 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption ders .: Dans un atelier de copistes. En regardant de plus près les manuscrits B 1 et B 2 du cycle épique de Garin de Monglane. In: CCM 3 (1960), S. 14-22; Madeleine T yssens : La Geste de Guillaume d’Orange dans les Manuscrits Cycliques. Paris 1967 (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège 178); vgl. dazu auch die wichtige Rezension von Peter F. D embowski : Old French Epic and the cyclical treatment. In: Modern Philology 68 (1970), S. 71-75. 21 Vgl. dazu etwa die Beiträge in Ursula S chaefer (Hg.): Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Tübingen 1993 (ScriptOralia 53); Hildegard L.C. T ristram (Hg.): New Methods in the Research of Epic. Neue Methoden der Epenforschung. Tübingen 1998 (ScriptOralia 107). 22 Einen genau kalkulierten Einsatz der von R ychner einst als Zeichen genuiner Oralität aufgefassten Formeln in Chansons de geste belegen z. B. Edward A. H einemann : L’art métrique de la chanson de geste. Essai sur la musicalité du récit. Genève 1993 (Publications Romanes et Françaises 205); Anne Elizabeth C obby : Ambivalent Conventions. Formula and Parody in Old French. Amsterdam, Atlanta 1995 (Faux Titre 101); vgl. auch Sandra D ieckmann : Variation und Wiederholung. Untersuchungen zur Formelsprache und Laissentechnik in der altfranzösischen Heldenepik. Frankfurt/ M. usw. 2005 (Europ. Hochschulschriften, Reihe XIII, 279). 23 Zur Differenz Verschriftung-Verschriftlichung vgl. Wulf O esterreicher : Verschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit. In: Schaefer, Schriftlichkeit, S. 267-292; vgl. zur Narrativik auch M üller , Spielregeln. <?page no="31"?> dass durch den Einsatz der Schrift Erkenntnismöglichkeiten verwirklicht werden», die in den genuin mündlichen, also einen anderen medialen Zustand repräsentierenden, Liedern nicht zu realisieren waren. 24 Die verschriftlichte Heroik - und eine andere Form mittelalterlicher Heldenepik ist für uns nicht mehr greifbar - kann mithin als komplexe Kunstepik gelten: eine artifizielle, bestimmten Regeln gehorchende Form erzählender Literatur, die mit einiger Sicherheit von literarisch geschulten Autoren verfasst wurde. Aus ihr ohne Weiteres auf Form und Inhalt älterer oder auch gleichzeitiger Vortragsepik zu schließen, die man sich gewöhnlich im Gegensatz zur Buchepik als im Jongleurvortrag jeweils neu entstehend vorstellt und die somit anderen medialen Bedingungen unterworfen war, dürfte schwerlich möglich sein. Davon unbeeinflusst bleibt, dass auch die verschriftlichte Heldenepik aufgrund ihrer relativ großen Nähe zur körpergebundenen Mündlichkeit im Vortrag andere performative Qualitäten besessen haben dürfte als etwa der kontemporäre Romanvortrag. In einer neuen Stufe der Debatte um Mündlichkeit und Performanz der mittelalterlichen Heldenepik wird manchmal allerdings nicht länger mit der Oral-formulaic-theory und einer sich in jedem Vortrag jeweils neu bildenden Fassung operiert, aus der sich die Abweichungen zwischen divergierenden handschriftlichen Umsetzungen desgleichen Epos erklären ließen, sondern mit defizienten Gedächtnisleistungen beim memorierenden Vortrag eines relativ festen, aber eben doch fehlerhaft wiedergegebenen und in dieser Form zu Schrift geronnenen Epentextes. 25 Mit einem Seitenblick auf die französische Heldenepik, der in neueren germanistischen Arbeiten ebenfalls originäre Mündlichkeit in Form einer memorierenden Weitergabe der Epen unterstellt wird, durch die die Varianz der Texte zu erklären sei, 26 hat Joachim Heinzle, unter Bezug auf eine Beobachtung von Christoph Gerhardt, in einer Studie zum Nibelungenlied darauf verwiesen, dass derartige Variantenbildungen keineswegs unbedingt auf Gedächtnisfehler beim Vortrag zurückgeführt werden müssen, sondern auch beim Schreibprozess in Form von ‹Kopfschreibvarian- Aufstieg einer Gattung 21 24 Haiko W andhoff : Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Literatur. Berlin 1996 (Philologische Studien und Quellen 141), S. 385f. 25 Vgl. H aferland , Mündlichkeit; ders .: Oraler Schreibstil oder memorierende Text(re)produktion? Zur Textkritik der Fassungen des Nibelungenliedes. In: ZfdA 135 (2006), S. 173-212. Kritisch dazu Jan-Dirk M üller : ‹Improvisierende›, ‹memorierende› und ‹fingierte› Mündlichkeit. In: ZfdPh 124 (2005), Sonderheft Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, S. 159-181. 26 Vgl. Fritz Peter K napp : Das Dogma von der fingierten Mündlichkeit und die Unfestigkeit heldenepischer Texte. In: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.): Chansons de geste im europäischen Kontext. Ergebnisse der Tagung der Deutschen Sektion der ICLS am 23. und 24.4.2004 in Köln. Göttingen 2008 (Encomia Deutsch 1), S. 73-88; im gleichen Sinn Thordis H ennings : Französische Chansons de geste in der Germania vor 1300 - Übersetzungen, Bearbeitungen, Neudichtungen. In: Alfred Ebenbauer, Johannes Keller (Hrsg.): 8. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Das Nibelungenlied und die europäische Heldendichtung. Wien 2006 (Philologica Germanica 26), S. 163-179; dies .: Französische Heldenepik, S. 4-11. <?page no="32"?> ten› entstanden sein können. 27 Die französischen Chansons de geste tragen demnach alle Kennzeichen einer sekundären oder indirekten Mündlichkeit, wie sie etwa auch für die deutsche Heldenepik typisch ist. 28 Zwar partizipieren viele Chansons durch die für heldenepische Poetik typische fingierte Oralität an der mündlichen Vortragspraxis, wie sie im 12. und 13. Jahrhundert neben den buchepischen Ausformungen durchaus noch existiert haben dürfte, bezeichnend für den ambivalenten Status der französischen Heroik im weiten Übergangsbereich zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist es aber, wenn einige Texte sich überdies explizit auf schriftliche Quellen, auf Chroniken, als legitimatorische Ausgangspunkte des Berichteten berufen. Diese zweite, in viele Chansons eingeschriebene und die mündlich-körpergebundene des Sängerauftritts geradezu konterkarierende schriftgestützte Authentisierungsstrategie kann als zusätzlicher Indikator für eine fingierte Oralität französischer Heldenepik genommen werden, die in der uns vorliegenden Form in aller Regel am Schreibpult entstanden sein dürfte. 29 So kommt es beispielsweise im Girart de Vienne des Bertrand de Bar-sur-Aube zu einer charakteristischen Engführung beider Legitimationsstrategien. Die Geschichte des Girart will der Erzähler, der bezeichnenderweise in der Rolle eines gentis clers auftritt, von einem Pilger gehört haben (102-109) - der Text erscheint dadurch als Teil einer mündlichen Tradition. Seine folgenreiche Aussage über die drei Erzählzyklen führt Bertrand hingegen auf eine schriftliche Quelle zurück: A Seint Denis, en la mestre abaïe, trovon escrit, de ce ne doute mie, dedanz un livre de grant encesorie, n’ot que trois gestes en France la garnie Girart 8-11 30 Bertrand hat sich hier eines Topos bedient, der auch in anderen Chansons immer wieder benutzt wird: 22 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 27 Vgl. Joachim H einzle : Zu den Handschriftenverhältnissen des ‹Nibelungenliedes›. In: ZfdA 137 (2008), S. 305-334, bes. S. 321-326. 28 Vgl. für das Nibelungenlied etwa J.-D. M üller , Spielregeln; vgl. für die Dietrichepik Joachim H einzle : Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung. München 1978 (MTU 62), S. 77-79. 29 Dazu passt der Befund, den U. P eters an den Autor/ Erzähler-Illustrationen französischer Chanson de geste-Handschriften herausgearbeitet hat. Wenn dort die Entstehungssituation der Geschichte bildlich umgesetzt wird, stehen Visualisierungen des Erzähl- und Aufführungsaktes signifikant hinter denen einer schriftlichen Genese zurück; vgl. Ursula P eters : Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volkssprachigen Bilderhandschriften des 13. bis 16. Jahrhunderts. Köln usw. 2008 (Pictura et Poesis 22), S. 82-88. 30 Girart de Vienne par Bertrand de Bar-sur-Aube. Hg. v. Wolfgang van Emden. Paris 1977. Übers. (Wenn nichts anders vermerkt ist, stammen die Übersetzungen von mir): In Saint- Denis, in der wichtigsten Abtei, findet man, daran zweifle ich nicht, in einem Buch von hohem Alter geschrieben, dass es nicht mehr als drei Gesten im schönen Frankreich gibt. <?page no="33"?> Chanson de geste plaroit vos a entendre? Teis ne fut faite de lo tans Alixandre; Fist lai un moines de Saint Denise an France, Mist lai an livre per grant senefiance D’un teil baron con ja poreiz antandre: [...] Uns gentis moines, ki a Saint Denise ier, Quant il oït de Guillaume parleir, Avis li fut k’i fut antroblieis, Si nos an ait les vers renoveleis, Qui otel role plus des cent ans esteis. Je li ai tant et promis et donnei Qu’i m’ait les vers ansaigniés et moustreis. Enfances Guillaume, 1-22 31 A un moine courtois, c’on nonmoit Savari, M’ acointai telement, Damedieu en graci, Que le livre as estoires me moustra et g’i vi L’estoire de Bertain et de Pepin aussi Conment n’en quel maniere le lion assailli; Aufstieg einer Gattung 23 31 Les Enfances Guillaume. Hg. v. P. Henry. Paris 1935. Übers. (nach M. Grosse. Das Buch im Roman: Studien zu Buchverweis und Autoritätszitat in altfranzösischen Texten. München 1994, S. 45): Würde es euch gefallen, ein Heldenlied zu hören? So eines wurde seit der Zeit Alexanders nicht verfasst; es verfasste ein Mönch von Saint-Denis in Frankreich, er legte es in einem lateinischen Buch der großen Bedeutung halber nieder, und es handelt von einem Krieger, den ihr gleich kennenlernen werdet: [...] Ein edler Mönch, der in Saint-Denis war, glaubte, als er von Wilhelm sprechen hörte, dass man ihn fast vergessen habe. Deshalb hat er uns die Verse erneuert, die länger als hundert Jahre in der Schriftrolle geblieben waren. Ich habe ihm soviel versprochen und gegeben, dass er mir die Verse gezeigt hat und mich sie hat sehen lassen. Vgl. auch Doon de Mayence, 15-26, Doon de Mayence. Hg. v. A. Pey. Paris 1859, Seigneurs, cez gestes chi dont nous faisons oyance/ A une hoeure nasquirent; mais Dieu fit demonstrance,/ Pour la grande valeur dont aroient puissance,/ Et que d’eulz isteroit gens de haulte honnourance: / Toute terre en trembla et fut d’aultre samblance./ Les saiges clers d’adont, par leur signiffiance,/ En firent lez cronicques, qui sont de grant vaillance,/ Et sont en l’abbaye de Saint Denis en France; / Puis ont esté extraictes, par moult belle ordonnance,/ De latin en rommant, pour donner congnissance/ Des grans fais aprouvés et parfaicte creance,/ Que tous bons a l’ouir doibvent avoir plaisance. Übers. (nach F.-R. Hausmann, Mittelalter, S. 56): Meine Herren, diese Taten hier, die wir zu Gehör bringen, entstanden in einem bestimmten Augenblick; aber Gott gab Zeichen, wegen der großen Tapferkeit, zu der sie anspornen könnten, daß sehr ehrenwerte Männer aus ihnen hervorgehen würden: Die ganze Erde zitterte deswegen und nahm ein anderes Aussehen an. Wegen ihrer Bedeutung verarbeiteten weise Gelehrte sie auch zu Chroniken, die sehr wertvoll sind. Sie werden in der Abtei Saint-Denis in Frankreich aufbewahrt; danach hat man, wohl geordnet, Auszüge daraus gemacht, sie aus Latein ins Romanische übersetzt, um die bezeugten hohen Taten zur Kenntnis zu bringen und ihnen Glaubwürdigkeit zu verleihen, die alle Gutgesinnten mit Vergnügen hören wollen. <?page no="34"?> Aprentiç jougleour et escrivain mari, Qui l’ont de lieus en lieus ça et la conqueilli, Ont l’estoire faussee, onques mais ne vi si. Ilueques [à Saint Denis] demorai de lors [vendredi] jusqu’au mardi Tant que la vraie estoire enportai avoec mi, Si conme Berte fu en la forest par li, Ou mainte grosse paine endura et soufri. Berte aus grans piés, 8-19 32 Ähnlich der etwa gleichzeitig verschriftlichten deutschen Heldenepik, man denke beispielsweise an die in der Klage entworfene Genese des Nibelungenlieds oder an die, allerdings zeitlich später zu verortenden, Prologe des Wolfdietrich D und des Ortnit, 33 nimmt damit auch die französische Heldenepik 24 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 32 Les œuvres d’Adenet le Roi. Hg. v. A. Henry, Bd.4. Bruxelles 1963. Übers. (nach M. Grosse, Buch, S. 44.): Mit einem höfischen Mönch, den man Savari nannte, freundete ich mich so sehr an - dem Herrgott danke ich dafür - daß er mir das Geschichtsbuch zeigte und ich darin die Geschichte von Berta und auch von Pipin las, nämlich wie und auf welche Weise er den Löwen angriff. Dilettantische Spielleute und schlechte Schreiber haben die Geschichte verfälscht, die sie hier und dort aufgelesen haben; so etwas hat man noch nie gesehen. Dort (in Saint-Denis) blieb ich bis zum Dienstag, bis ich die wahre Geschichte mit mir nahm, die erzählt, wie Berta allein im Wald war, wo sie so viele große Mühen aushielt und erlitt. Vgl. auch Destruction de Rome, La Destruction de Rome. Hg. v. J. H. Speich. Bern 1988, S. 4f.: Niuls des altres jouglours, k’els le/ [la chanchon] vous ont contee/ Ne sevent de l’estoire vaillant une darree./ Le chanchon est perdue et le rime fausee; / Mais Gautier de Douay a la chiere membree/ Et li rois Lawis dont l’alme est trespassee/ - Ke li fache pardon la virge honoree! -/ Par luy et par Gautier est l’estoire aünee/ Et le chanchon drescie, esprise et alumee,/ A Saint Dynis de France premerement trovee,/ Del rolle de l’eglise escrite et translatee; / Cent anz i a esté, ch’est verité provee. Übers. (nach M. Grosse, Buch, S. 39.): Keiner von den anderen Spielleuten, die euch das Lied erzählt haben, weiß von der Geschichte auch nur das kleinste bißchen. Das Lied ist verloren und der Reim verfälscht; doch Gautier von Douai und Louis le Roi, dessen Seele heimgegangen ist - möge ihm die verehrte Jungfrau verzeihen! - haben sich an das kostbare Lied erinnert. Von ihm und von Gautier wurde die Geschichte zusammengestellt und das Lied gefügt, arrangiert und verschönert, das zuerst in Saint-Denis in Frankreich aufgefunden, aus der Schriftrolle der Kirche abgeschrieben und übersetzt wurde; hundert Jahre ist es dort gewesen, das ist wahrhaftig erwiesen. 33 Vgl. dazu Sebastian C oxon : Zu Form und Funktion einiger Modelle der Autorenselbstdarstellung in der mittelhochdeutschen Heldenepik: ‹Wolfdietrich› und ‹Dietrichs Flucht›. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, hg. von Jens Haustein u. a. Tübingen 1998, S. 148-162; Lydia M iklautsch : Fingierte Mündlichkeit? Zum Prolog des Wolfdietrich D. In: Neophilologus 86 (2002), S. 87-99; Christian K ie ning : Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt/ M. 2003, S. 23; M üller , Spielregeln, S. 62-68, ders .: ‹Improvisierende›, S. 168f.; Stephan M üller : Alte Medien. Einmaligkeit und Mehrmaligkeit von Stimme und Schrift im Prolog des Wolfdietrich D in Handschrift und Druck. In: Scientia Poetica 10 (2006), S. 1-18; Cordula K ropik : Reflexionen des Geschichtlichen. Zur literarischen Konstituierung mittelhochdeutscher Heldenepik. Heidelberg 2008, S. 307-321. <?page no="35"?> Schriftlichkeit häufig in ihre fiktiven Entstehungsgeschichten auf. 34 Als in hohem Maße signifikant muss es dabei gelten, wenn nicht irgendein Kloster als Legitimationsinstrument eingesetzt wird, sondern häufig ausgerechnet Saint- Denis - das schriftliterarische Kloster par excellence, das die offiziöse Darstellung der französischen Geschichte für den Königshof verfasste. 35 Klerikal-gelehrte, lateinische Schriftkultur steht damit, so reklamiert es ein großer Teil der Texte selbst, am Anfang der Chanson de geste. In den letzten Jahren sind auch in der romanistischen Mediävistik jene Stimmen immer lauter geworden, die den vermeintlich genuin mündlichen Produktionsmodus der uns schriftlich erhaltenen Chansons de geste kritisch hinterfragen. 36 So macht etwa D. Boutet, allerdings ohne Verweis auf die neuere Oralitätsforschung, deutlich, dass der formelhafte, redundante Stil der französischen Heldenepik nicht in jedem Fall Signum einer primären Mündlichkeit sein muss, er charakterisiert ihn vielmehr als poetisches Mittel, das Mündlichkeit suggerieren soll: «Le style mime l’oralité.» 37 Sehr viel genereller kritisiert der anfangs bereits zitierte Romanist A. Taylor aus dem Blickwinkel einer ‹material philology› die Annahme einer primären Mündlichkeit der französischen Heldenepik. Nachdem er in einer 1991 erschienenen Studie mit überzeugenden Argumenten «The Myth of the Minstrel Aufstieg einer Gattung 25 34 Es gibt freilich ebenso Chansons, die auf den schriftlichen Anteil in ihrer fiktiven Entstehungsgeschichte verzichten und sich ganz als mündlich komponierte Werke ausgeben. So wird etwa vor einer entscheidenden Schlacht in Raoul de Cambrai behauptet, dass ein Bertolai, der selbst Teilnehmer dieses Kampfes gewesen sei, darüber ein Lied verfasst habe, das seitdem in vielen palais gehört werde (Raoul de Cambrai. Ed. by S. Kay. Oxford 1992, 2263-2270). Unmittelbar darauf folgt eine Nennung wichtiger Protagonisten dieses angeblich von einem Augenzeugen gedichteten Liedes (Raoul, 2271-2273: del sor G[ueri] et de dame A[alais]/ et de R[aoul] - siens fu liges Cambrais,/ ces parins fu l’evesqes de Biauvais), in der fast wörtlich die Verse noch einmal wieder aufgenommen sind, mit denen der Text eröffnet worden war (vgl. Raoul 14-16). Durch dieses autoreferenzielle Zitat erscheint der Text mithin als das Werk eines direkten Augenzeugen, eines «soldat-trouvère», der unmittelbar nach Ablauf der Ereignisse darüber eben jenes Lied gedichtet habe, das man gerade hört bzw. liest. Man kann sich leicht vorstellen, wie wichtig diese Stelle für die traditionalistische und neo-traditionalistische Forschung ist, die sich bemüht, den Ursprung der Chansons de geste bis auf die erzählte Zeit zurückzuführen; vgl. für eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Forschungsrichtung ebenfalls die Einleitung in der Raoul-Ausgabe von S. K ay , S. lvii-lxxii. 35 Aus St. Denis gingen im frühen 13. Jhd. auch die Grandes Chroniques de France hervor, in die umfangreiches Chanson de geste-Material implantiert wurde; vgl. dazu Bernard G uenée : Les Grandes Chroniques de France 1274-1518. In: Les Lieux de Mémoire. Bd. II: La Nation. Paris 1986, S. 191-214; Gabrielle M. S piegel : The Chronicle Tradition of Saint-Denis. Brookline, Leyden 1978 (Medieval Classics: Texts and Studies 10); dies .: Romancing the Past. The Rise of Vernacular Prose Historiography in Thirteenth- Century France. Berkeley usw. 1993. 36 Zuvor bereits D elbouille, T yssens, D embowski , William C alin : Textes médiévaux et tradition: la chanson de geste est-elle une épopée? In: Hans-Erich Keller (Hg): Romance Epic. Essays on a medieval literary genre. Kalamazoo 1987, S. 11-19. 37 B outet , Chanson de geste, S. 97. <?page no="36"?> Manuscript» 38 kategorisch zurückgewiesen hatte, spezifizierte er seine Argumentation noch einmal mit Blick auf die Oxforder Handschrift der Chanson de Roland, die oft ebenfalls für ein Jongleurmanuskript gehalten wird. 39 Durch eine eingehende Untersuchung des Oxforder Manuskripts kann Taylor jedoch wahrscheinlich machen, dass dieser Kodex, der sich in seiner Anlage von tausenden lateinischen Gebrauchshandschriften nicht unterscheidet und mit einer solchen auch kontextualisiert wurde (Platons Timaeus in lateinischer Übersetzung), vermutlich in einem klerikalen Umfeld entstanden, ziemlich sicher jedenfalls rasch in ein solches gelangt sein dürfte. 40 Es lässt sich nicht genau feststellen, wann die Zusammenfügung der von unterschiedlichen Händen geschriebenen Texte stattgefunden hat. Während Taylor davon ausgeht, dass beide Texte im früheren 13. Jahrhundert vereinigt wurden, 41 äußert sich I. Short, der Herausgeber der jüngsten Chanson de Roland-Edition, vorsichtiger. Manche Indizien, so etwa eine am Ende des Timaeus lesbare, auf Latein geschriebene, wohl in einem Skriptorium verfasste Bitte um Zusendung von Farben zur Buchillustration, scheinen darauf hinzudeuten, dass der Timaeus längere Zeit als eigenständiger Faszikel existierte. Gewisse Spuren einer heute nicht mehr existierenden älteren Bindung lassen allerdings doch darauf schließen, dass beide Texte früh kontextualisiert wurden. 42 Der Timaeus hätte dann, möglicherweise sogar im Verbund mit zwei weiteren, heute nicht mehr bekannten Texten dafür gesorgt, dass die älteste Chanson de geste-Handschrift, die wir kennen, im Schutze (mindestens) eines kanonischen philosophisch-wissenschaftlichen Werkes in einer Klosterbibliothek überleben konnte. Ein Gebrauch als «Souffleurbuch» eines Jongleurs, das als Wegwerfartikel konzipiert gewesen sei, ist damit äußerst unwahrscheinlich geworden. 43 Mit der Falsifikation der alten Forschungsmeinung des Jongleurmanuskripts weist Taylor zugleich das gesamte Thesengebäude einer rein mündlich organisierten französischen Heldenepik zurück, die mehr oder weniger exakt ihren 26 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 38 Andrew T aylor : The Myth of the Minstrel Manuscript. In: Speculum 66 (1991), S. 43- 73; vgl. auch ders ., Textual Situations, S. 71-75; die Existenz von Jongleurhandschriften bezweifelt mit kodikologischen Argumenten gleichfalls eine so profunde Handschriftenexpertin wie G. H asenohr , vgl. Geneviève H asenohr : Les chansons de geste. In: Henri-Jean Martin, Jean Vezin (Hg.): Mise en page et mise en texte du livre manuscrit. Paris 1990, S. 239-243. 39 Vgl. etwa B owra , der das Oxforder Manuskript für ein «Souffleurbuch» hält, «das dazu diente, das Gedächtnis des Sängers aufzufrischen, falls er das nötig hatte.» C.M. B owra : Heldendichtung. Eine vergleichende Phänomenologie der heroischen Poesie aller Völker und Zeiten. Stuttgart 1964, S. 45. 40 Ein Volldigitalisat von Chanson de Roland und Timaeus (Oxford, Bodleian Library, Ms. Digby 23) zugänglich über: http: / / image.ox.ac.uk/ show? collection=bodleian&manuscript=msdigby23b. 41 Vgl. T aylor , Textual Situations, S. 75. 42 Vgl. Ian S hort , The Oxford Version. In: The Song of Roland. The French Corpus, hg. von Joseph J. Duggan, Bd. I, Teil 1, S. I,3-I,338, hier S. I,18f. 43 Vgl. auch ebd., S. I,15. <?page no="37"?> Niederschlag in den uns erhaltenen buchepischen Fassungen gefunden habe, mithin also gleichsam zu Schrift geronnen sei. Dabei gesteht er sehr wohl die Möglichkeit zu, dass es Epenvorträge aus dem Stoffbereich der Chanson de geste im 12. und 13. Jahrhundert, und möglicherweise auch noch einige Zeit später, gegeben haben könnte. Er hält allerdings dafür, dass jene für uns verlorenen Jongleurvorträge, deren Textumfang er wesentlich geringer einschätzt als den der verschriftlichten Epen, sich prinzipiell von diesen unterschieden hätten: I would insist, however, that the written chansons de geste differed radically from these short performances and cannot be regarded as transcriptions of them. [...] What I wish to stress is that the extended versions of the chansons de geste, the ones that come down to us, were essentially clerical creations, that they were not just copied, but compiled and delivered by clerics, since only if it took the form of a written text would a poem have the prestige or authority to command a listener’s attention for four thousand lines. 44 Insofern ist für Taylor die aus dem frühen 19. Jahrhundert stammende Bezeichnung Chanson de Roland, deren ideologische Prämissen er zuvor bereits aufgedeckt hatte (s. o.), irreführend, da sie einen nicht zutreffenden Oralitätscharakter nahelegt: «This poem, the one that survives in the Oxford manuscript, might better be termed the legend of Roland, a bellicose Christian poem, suitable for reading aloud in the refectory or the hall.» 45 Ähnlich wie Boutet, doch aus einer ganz anderen Richtung argumentierend, kommt auch Taylor damit zu dem Ergebnis, dass die französische Heldenepik in der auf uns gekommenen Form als artifizielles Produkt klerikal-gelehrter Literalität anzusehen ist und dass die fingierte Oralität lediglich als poetisches Mittel einer Authentisierungsstrategie in die verschriftlichten Texte gelangte. In vergleichbarer Weise liest neuerdings ebenfalls David Nelting die Chanson de Roland als Text, der sich ganz gezielt gelehrt christlicher, allegorischen Deutungsmustern verpflichteter Erzählverfahren bediene, um den Stoff heilsgeschichtlich zu überwölben. Die spezifische Narrativik dieser ältesten bekannten Chanson de geste mit ihren hinlänglich bekannten Rekursen auf «Elemente einer vorgängigen Mündlichkeit» ist für Nelting dabei eine gezielte Inszenierung. 46 Die in, nicht ganz selten repräsentativer, Buchform überlieferte französische Heldenepik 47 Aufstieg einer Gattung 27 44 T aylor , Song, S. 63. 45 Ebd. S. 65. 46 David N elting : Literalität und Spiritualität im altfranzösischen Rolandslied. In: Romanische Forschungen 119 (2007), S. 203-215, hier S. 210; vgl. auch Margaret J ewett B ur land : Strange Words. Retelling and Reception in the Medieval Roland Textual Tradition. Indiana 2007, S. 23: «The Oxford Roland’s formulaic style is not definitive proof that this text was actually composed in oral performance, but it does show that the author wanted to evoke the style of oral epic.» 47 Vgl. zu den französischen Chanson de geste-Handschriften Keith B usby : Codex and Context. Reading Old French Verse Narrative in Manuscript, 2 Bde. Amsterdam, New York 2002 (Faux Titre 221/ 222), bes. S. 368-404. Sein instruktives Kapitel zur handschriftlichen Überlieferung der französischen Heldenepik schließt B usby , S. 404, mit den <?page no="38"?> rückt aufgrund ihrer besonderen Faktur in neueren Beiträgen mithin in die Nähe anderer, artifizieller Erzählregister, wie sie etwa gleichzeitig in der volkssprachigen Literatur der Romania entwickelt wurden. Von daher erscheint es unnötig, weiterhin mit der traditionellen, durchaus wertend gemeinten Dichotomie von ‹archaischem› Epos und ‹modernem› Roman zu operieren. Doch trotz ihrer innovativen Ansätze und Erkenntnisse können sich weder Taylor noch Boutet völlig von jenem offenbar äußerst wirkungsmächtigen Deutungsmuster lösen. So spekuliert z. B. Taylor gegen Ende seiner Abhandlung darüber, weshalb die Kleriker, die er als Rezipienten der Oxforder Chanson de Roland ausmacht, überhaupt Interesse für jenen Text entwickelt haben könnten. Den Antrieb vermutet er in der nostalgischen Sehnsucht nach einer «simpler and nobler time», die durch den archaisierenden Stil und die Thematik der Chanson de Roland (und der Chanson de geste überhaupt) befriedigt werde. 48 Implizit verweist Taylors abschließende Spekulation damit erneut auf das geläufige Gegensatzpaar von rückwärts gewandter Epik, die einer «simpler and nobler time» zugehörig sein soll, und zukunftsweisendem Roman, der offenbar Problemstellungen einer komplizierteren Epoche behandelt. In ähnlicher Weise rekurriert Boutet in einer Passage seiner Studie, mindestens indirekt, auf jene Dichotomie, wenn er die buchepische Chanson de geste, deren hochentwickelte, anderen Erzählregistern in nichts nachstehende, ja diese sogar ausbeutende Poetik und Literalität er eindrucksvoll zu beschreiben versteht, von einer ‹ursprünglichen› Epik abhebt, die er chronologisch früher ansetzt. Die Funktion der verschriftlichten Epik sieht Boutet darin, den ‹ursprünglich› weltlich-heidnischen («profane et païenne») Chanson de geste-Stoff klerikal zu überformen, um ihn dadurch zu neutralisieren und ihn so kontrollieren zu können: La chanson de geste est peut-être née de la volonté du clergé de neutraliser, par un grandissement chrétien et une spécification féodale (qui est une forme d’ordre contrôlé), des »histoires« plus anciennes dont l’idéologie échappait à son emprise. 49 Die verschriftlichte französische Heldenepik wäre demnach eine gleichsam ‹getaufte› Version ‹authentischer›, d. h. weltlich-heidnischer Heroik. Und auch für Nelting überlagern «archaische Momente» wie der formelhafte Stil der Chanson de Roland oder Rolands emotionaler Heroismus «die heilsgeschichtliche Sinnhaftigkeit der erzählten Handlung durch die Präsenz einer heroischen Ritualisierung, die ihre Herkunft tief aus dem Brunnen der vorchristlichen Vergangenheit nicht verleugnen kann.» 50 Es ist augenscheinlich, dass bei Boutet, Taylor und Nelting, so innovativ und luzide ihre Arbeiten auch sind, letztlich die Vorstellung einer nicht näher 28 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption Worten: «[…] and if the epics themselves are strongly coloured by romance elements, the manuscript context also clearly illustrates ‹the chansons de geste in the age of romance›». 48 T aylor , Song, S. 64. 49 B outet , Chanson de geste, S. 63. 50 N elting , S. 212f. <?page no="39"?> beschriebenen, als irgendwie ‹ursprünglich› vorgestellten, primitiv-kriegerischen Heroik im Hintergrund steht, wie man sie vergleichbar aus älteren, traditionell argumentierenden Untersuchungen zur (französischen) Heldenepik kennt. Ganz ähnlichen Überlegungen begegnet man z. B. in der ‹klassischen› Arbeit von C. M. Bowra zur «Vergleichenden Phänomenologie der heroischen Poesie aller Völker und Zeiten» (1952, deutsche Übersetzung 1964), der «echte Heldendichtung» als resistent gegen religiöse bzw. christliche Themen oder gegen Aktanten bezeichnet, die im transzendenten Bereich beheimatet sind: Echte Heldendichtung handelt von Menschen, und obwohl sie Götter in die Handlung eingreifen lassen kann, bleibt das Hauptinteresse auf den Menschen konzentriert. [...] In monotheistischen Gemeinwesen ist das göttliche Eingreifen in heroische Aktionen äußerst selten und bleibt gewöhnlich auf Vorgänge beschränkt, die außerhalb der Sphäre der Kühnheit und des Ehrgeizes stehen. 51 Überdeutlich ist hier das Bemühen, «echte Heldendichtung» von den später wie auch immer überformten - und das heißt für diese Forschungsrichtung zugleich: depravierten - Texten abzusetzen. Sobald allerdings die verschriftlichte Heldenepik nicht mehr als ‹archaische›, aus der Vor- und Frühzeit eines Volkes stammende, Gattung vorgestellt wird, wie dies die ältere Forschung vielfach getan hatte, 52 sondern, wie Boutet, Taylor, Kay, Busby und Nelting dies zuletzt unternommen haben, als artifizielles, einer spezifischen Narrativik gehorchendes, Produkt versierter und gebildeter Autoren, scheint es nicht mehr länger sinnvoll, darüber zu spekulieren, wie die ‹ursprüngliche› Epik, über die wir nichts Sicheres wissen, ausgesehen haben könnte. Angemessener und vielversprechender als nach der ‹eigentlichen›, der ‹reinen› oder ‹ursprünglichen› Form des Genres ‹französische Heldenepik› zu suchen, ist es demgegenüber wohl, danach zu fragen, wie die Chanson de geste-Autoren zwischen dem 12. Jahrhundert, aus dem die frühesten Texte überliefert sind, und dem 16. Jahrhundert, in dem noch immer entsprechende Texte bearbeitet wurden, in Auseinandersetzung mit den übrigen Erzählregistern der jeweiligen Epoche die Kunst des heldenepischen Erzäh- Aufstieg einer Gattung 29 51 B owra , S. 25, S. 91. B owra hat nach dieser Gattungsbeschreibung erhebliche Probleme, die Chanson de Roland, die er für ein wertvolles Zeugnis «echter» Heroik hält, unter jener Kategorie einzuordnen. Er behilft sich, indem er zentrale Passagen des Textes, in denen Gottes unmittelbares Eingreifen in den Kampf zwischen Christen und Heiden dargestellt ist, als «kleine Ausnahmen» bezeichnet; ebd., S. 91: «Diese Ausnahmen sind nicht sehr wichtig und verletzen kaum die allgemeine Regel, daß in monotheistischen Gemeinwesen die Heldendichtung Gott nur eine geringe aktive Beteiligung zugesteht.» Vgl. dagegen Joachim K üpper : Transzendenter Horizont und epische Wirkung. Zu Ilias, Odyssee, Aeneis, Chanson de Roland, El Cantar de mio Cid und Nibelungenlied. In: Poetica 40 (2008), S. 211-267, bes. S. 224-233. 52 Vor allem natürlich die Traditionalisten und die Neo-Traditionalisten; doch auch B édier hatte die Chansons de geste, wie gesehen, als relativ simple Texte für literarisch ungebildete Rezipienten dargestellt. <?page no="40"?> lens (weiter)entwickelten. Es gilt demnach, in Übereinstimmung mit neueren Gattungstheorien, stärker die «fortgesetzte Horizontstiftung und -erweiterung» (Jauß) des heldenepischen Registers zu analysieren und zu beschreiben, statt sich schwerpunktmäßig auf die frühesten bzw. die für die frühesten gehaltenen Vertreter des Genres zu konzentrieren, von denen man offenbar am ehesten Auskunft über die (vermeintliche) Vorgeschichte des Genres erhoffte. Neuere romanistische Arbeiten gehen dann auch immer mehr von diesem Weg ab und widmen sich verstärkt den in der zweiten Hälfte des 13., im 14. und 15. Jahrhundert entstandenen Chansons de geste. 53 Wenn trotzdem diese jüngere Forschungsrichtung, so etwa D. Boutet, der den Kunstcharakter der schriftepischen Chansons sehr genau erkennt und beschreibt, der Versuchung zur Spekulation über ‹archaische› Fassungen der französischen Heldenepik erliegt, 54 und in ähnlicher Weise A. Taylor, der auf der einen Seite brillant die Prämissen bloßlegt, unter denen die Oxforder Fassung der Chanson de Roland fälschlich zum Prototyp mündlicher Heldendichtung gemacht werden konnte, andererseits dem Text eskapistische Valenzen unterstellt, die auf eine idyllische Frühzeit verweisen würden, erhebt sich die Frage, weshalb (vermeintlich) ‹archaische› Fassungen der Chansons de geste immer wieder eine solche Bedeutung für die Forschung haben. Ein wichtiger Grund dürfte im Verlauf der Forschungsgeschichte selbst liegen, in der die Kontroverse um die Ursprünge des Genres lange Zeit das alles dominierende Paradigma war; dieser Hypothek ist offenbar so leicht nicht zu entkommen. Anscheinend fühlt sich jede Wissenschaftlergeneration von neuem herausgefordert, sich an jenem ‹Prüfstein› heldenepischer Forschung zu erproben. Damit einher geht ohne Zweifel auch eine gewisse Faszination, die der bislang nicht völlig erhellte Komplex der Vor- und Frühgeschichte der französischen Heldenepik auf jene ausübt, die sich mit der Chanson de geste näher befassen. Doch all das vermag noch nicht wirklich zu erklären, wieso seit rund 150 Jahren kaum eine größere Studie zur französischen Heroik ohne mehr oder weniger intensive Überlegungen zur Vorgeschichte dieses Erzählregisters auskommt. Auf diesen Punkt wird daher später noch einmal zurückzukommen sein, zunächst soll er jedoch ausgeklammert werden. 30 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 53 Vgl. dazu etwa: Bernard G uidot : Recherches sur la Chanson de geste au XIII e siècle d’après certaines œuvres du cycle de Guillaume d’Orange, 2 Bde. Aix-en-Provence 1986; François S uard : Guillaume d’Orange. Étude du roman en prose. Paris 1979 (Bibliothèque du XVe siècle XLIV); ders. : L’épopée française tardive; P oulain -G autret; B audelle -M ichels. Eine Zusammenstellung der spätmittelalterlichen Chansons de geste bei: William W. K ibler : Bibliography of Fourteenth and Fifteenth Century French Epics. In: Olifant 11 (1986), S. 23-50. 54 So geht er etwa generell davon aus, dass «aucune chanson de geste ne nous est parvenue sous sa forme originelle» (B outet , S. 228), und unternimmt den exemplarisch gemeinten Versuch, die ›ursprüngliche›, nicht erhaltene Fassung des Epos von Ami et Amile aus den stark christlich überformten schriftepischen Texten herauszupräparieren; vgl. ebd. S. 44-58. <?page no="41"?> Die bereits erwähnte langjährige Forschungskonzentration auf eine eng umgrenzte frühe Textgruppe der französischen Heroik unter gleichzeitiger Marginalisierung der zahlreichen späteren Texte erhält scheinbare Unterstützung durch einen Klassifikationsversuch, der sich in einem bekannten Vertreter des Genres selbst findet. Die Rede ist von der Unterteilung der französischen Heldenepik in drei gestes, also in drei verschiedene Erzählzyklen, im Girart de Vienne des Bertrand de Bar-sur-Aube (um 1180/ 1200): 55 n’ot que trois gestes en France la garnie; ne cuit que ja nus de ce me desdie. Des rois de France est la plus seignorie et l’autre aprés, bien est droiz que jeu die, fu de Doon a la barbe florie, cil de Maience qui molt ot baronnie. El sien lingnaje ot gent fiere et hardie; de tote France eüsent seignorie, et de richece et de chevalerie, se il ne fusent plain d’orgueil et d’ envie. De ce lignaje, ou tant ot de boidie, fu Ganelon, qui, par sa tricherie, en grant dolor mist France la garnie [...] De ce lingnaje, qui ne fist se mal non, fu la seconde geste. La tierce geste, qui molt fist a prisier, fu de Garin de Monglenne aus vis fier. Girart, 11-47 56 Das strukturierende Prinzip der einzelnen Erzählzyklen ist bei Bertrand in zwei Fällen ein genealogisches, wie seine Nennung der beiden Spitzenahne Garin de Monglane, des Stammvaters der Sippe des Guillaume d’Orange, und Doon de Mayence, Stammvater eines Geschlechts von Verrätern, avisiert. Lediglich die Geste der französischen Könige fügt sich dieser Systematik nicht, da sie nicht auf einen konkreten Spitzenahn bezogen wird. Die Forschung hat - allerdings mit Hilfe einer Vereindeutigung der ursprünglich etwas unsys- Aufstieg einer Gattung 31 55 Girart de Vienne par Bertrand de Bar-sur-Aube. Publié par Wolfgang van Emden. Paris 1977 (SATF). 56 Übers.: Es gibt nicht mehr als drei Gesten im schönen Frankreich, [...]. Von den Königen von Frankreich handelt die hervorragendste, und die zweite danach, das will ich euch genau sagen, handelt von Doon mit dem prächtigen Bart, dem von Mainz, der ein sehr guter Ritter war. In seiner Sippe waren stolze und kühne Männer. Sie hätten über ganz Frankreich geherrscht, voller Reichtum und Ritterschaft, wenn sie nicht voll von Hochmut und Neid gewesen wären. Aus dieser Sippe, in der es so viel Betrug gab, stammte Ganelon, der durch seinen Verrat das schöne Frankreich in großen Kummer stürzte. [...] Von dieser Sippe, die nur Schlechtes unternahm, handelt die zweite Geste. Die dritte Geste, die sehr zu loben ist, handelt von Garin de Monglenne mit dem stolzen Antlitz. <?page no="42"?> tematischen Ordnung Bertrands zu einer rein thematischen Differenzierung - Bertrands griffige Einteilung der französischen Heroik, die überdies den Vorteil einer zeitgenössischen und somit ‹authentischen› Stimme hat, dankbar übernommen und die Chanson de geste in den ‹Cycle du Roi› (Königsgeste), die ‹Geste de Guillaume d’Orange› (Wilhelmsgeste) und den ‹Cycle des Vassaux révoltés› (Empörergeste) unterteilt. Ob jedoch Bertrand mit seiner Klassifizierung der französischen Heldenepik genau das meinte, was neuzeitliche Literaturwissenschaftler daraus gemacht haben, ist zumindest fraglich. Deutlich einem Erzählzyklus zuordnen lässt sich jedenfalls nur die von Bertrand so genannte geste de Garin de Monglenne. Denn Garin de Monglane, der auch in Bertrands Text mehrfach erwähnte Vater Girarts de Vienne, ist der Stammvater der Guillaume-Sippe. Was hingegen exakt geste des rois de France bedeutet, ist, außer dass in ihr die Könige von Frankreich (doch welche und in welcher Rolle? ) behandelt werden, weniger klar. Bereits die mittelalterlichen Rezipienten scheinen mit dieser einzigen nicht durch einen Spitzenahn näher gekennzeichneten Gruppe ihre Probleme gehabt zu haben. Drei von fünf Handschriften des Girart de Vienne (Hs B, D, S) wählen statt des rois de France die Singularform dou roi de France und grenzen dadurch die Ausdeutungsmöglichkeiten wesentlich ein. Hs B tut ein Übriges und stellt eigens eine Laisse voran, in der neben Wilhelms- und Empörergeste auch die Königsgeste auf einen Anfangspunkt bezogen wird, der durch einen konkreten Namen gekennzeichnet ist: diese Geste wäre demnach diejenige de Pepin et d’angle. 57 Was auch immer diese (Schein)Erklärung meint, 58 deutlich wird dadurch jedenfalls, dass roi (oder rois) de France auf karolingische Könige zu beziehen ist. Die Bezeichnung als ‹Geste von Pippin und dem Engel› für die Königsgeste kennen auch die Enfances de Doon de Mayence und die Geste de Monglane. 59 Noch konkreter wird die Chanson von Ciperis de Vignevaux, wo unter der Königsgeste die ‹Geste von Karl von Frankreich› verstanden wird. 60 In der Chanson über die Mort Aimeri de Narbonne bekommt Karl sogar gleich mehrfaches Gewicht, wenn der Autor eine Aimerigeste (entspricht der ‹Geste de Guillaume›), eine 32 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 57 Vgl. Appendix A in der Girart-Ausgabe von W. van Emden. 58 Die romanistische Forschung ist sich über die Bedeutung der Stelle uneins. Während z. B. Gaston P aris glaubte, hier werde auf eine Tradition angespielt, die sich lediglich in einer italienischen Quelle (Reali di Francia) erhalten habe, wo Constantin mit dem Beinamen Angelo als Karls Großvater erwähnt wird (vgl. P aris : Histoire Poétique, S. 220), meint Michael H eintze , sich dabei auf die Chanson Doon de Mayence berufend, mit dieser Bezeichnung werde an eine Erzählung erinnert, in der ein Engel Pepin prophezeit, dass sein zukünftiger Sohn große Erfolge im Heidenkampf erringen werde; vgl. Michael H eintze : König, Held und Sippe. Untersuchungen zur Chanson de geste des 13. und 14. Jahrhunderts und ihrer Zyklenbildung. Heidelberg 1991 (Studia Romanica 76), S. 536. 59 Vgl. ebd. 60 Vgl. ebd. <?page no="43"?> Karlsgeste sowie zusätzlich eine Geste über die von Karl dem Großen ins Werk gesetzte Translation der Passionsreliquien von Jerusalem nach Frankreich anführt. 61 Was man unter der Königsgeste verstand, scheint, wie diese Beispiele verdeutlichen, den Autoren jedenfalls nicht ganz deutlich geworden und unterschiedlich konkretisiert worden zu sein. Ähnlich ungeklärt wie die konkrete Bedeutung der geste des rois de France ist, was Bertrand mit der Geste von Doon de Mayence meint, der Urahn eines Verrätergeschlechts gewesen sein soll, dem Ganelon entstammte. 62 Zwar wird Doon de Mayence in verschiedenen Chansons als Stammvater einer großen Dynastie dargestellt (Enfances Doon de Mayence, Doon de Mayence, Gaufrey), doch ist diese Sippe kein ausgesprochenes Verrätergeschlecht. Andererseits gibt es in den einzelnen Fassungen des Beuve de Hantone eine entschieden negativ gezeichnete Figur namens Doon de Mayence, die aber wiederum nicht mit Ganelon in Verbindung zu bringen ist. Schon die Zeitgenossen haben dann auch mit Bertrands Angaben über Doon de Mayence offenbar nicht viel anfangen können; die Forschung hat hingegen meist kurzerhand die Empörergeste unter dieser Kategorie gefasst. Eine solche Auslegung der dunklen Stelle ist allerdings nicht ganz unproblematisch, denn Empörer wie Renaut de Montauban oder Girart de Roussillon entsprechen vom Typus her schwerlich einem Verräter vom Schlage Ganelons. Sowohl die geste de Doon de Mayence als auch die geste des rois de France bleiben bei Bertrand de Bar-sur-Aube letztlich verschwommene Gebilde. Hinreichend genau charakterisiert ist allein die geste de Garin de Monglane, die Wilhelmsgeste, deren integrativer Bestandteil, wohl kaum zufällig, ebenfalls Girart de Vienne selbst ist - also gerade der Text, in dessen Prolog sich die wirkungsmächtige Unterteilung findet. Diese Unschärfe muss gleichwohl nicht unbedingt Bertrand angelastet werden, der in bezeichnender Weise präzise nur im Fall der ihn offenkundig besonders interessierenden Wilhelmgeste gewesen wäre, 63 sie kann durchaus auch dem zeitgenössischen Zustand der anscheinend höchst unterschiedlichen Ausbildung der einzelnen Gesten geschuldet sein. Denn allein die ‹Geste de Guillaume› wurde, nach Ausweis der Handschriften, bereits im Mittelalter als kohärentes Gebilde verstanden. 64 Ihr zugehörige Chansons wie Girart de Vienne, Aymeri Aufstieg einer Gattung 33 61 Vgl. ebd., S. 538. 62 Vgl. ebd., S. 529: «Unklar ist hingegen, was Bertrand unter der ‹Geste de Mayence› verstanden haben mag.» H eintze s Erklärungsversuche sind wenig geeignet, diese Unklarheit zu beseitigen, vgl. ebd., S. 532: «Nur in frankoitalienischen Liedern wird die Mainzer Sippe im Sinne Bertrands mit den Verrätern aus Ganelons Geschlecht identifiziert. Es wäre gut denkbar, daß uns diese späte und periphere Tradition einen hocharchaischen Zustand bewahrt hat, der Bertrand noch vertraut war, der jedoch in den Traditionen des Zentrums des französischen Sprachgebiets bis auf ganz verschwindend geringe Spuren verlorengegangen ist.» 63 Auch die zweite Bertrand de Bar-sur-Aube mit einiger Sicherheit zuschreibbare Chanson, Aymeri de Narbonne, gehört zu diesem Stoffkreis. 64 Vgl. dazu auch B usby , Codex, S. 399. <?page no="44"?> de Narbonne, Couronnement de Louis, Charroi de Nîmes, Prise d’Orange, Aliscans, Bataille Loquifer, Moniage Rainouart, Moniage Guillaume sind so gut wie nie als Einzeltexte überliefert, sondern mehrfach zu voluminösen Zyklen vereinigt, die bis zu 18 Texte (oder Branchen) umfassen können. 65 Die von der Forschung unter dem Oberbegriff ‹Cycle du Roi› summierten Chansons hingegen, so z. B. die Chanson de Roland, Chanson des Saisnes, Fierabras, Chanson d’Aspremont oder auch die Voyage de Charlemagne, wurden, trotz teilweise deutlicher Anknüpfungspunkte untereinander (so versteht sich z. B. die Chanson d’Aspremont als Vorgeschichte der Chanson de Roland, die Chanson des Saisnes setzt dagegen die Roncevalschlacht explizit voraus), nicht oder nur ansatzweise einmal kontextualisiert. 66 Erst spätmittelalterliche Autoren und Chronisten wie Philippe Mousket, 67 Girart d’Amiens 68 oder David 34 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 65 Inhaltszusammenfassungen und Basisinformationen zu den Epen aus diesem Stoffkreis bei H ennings , Französische Heldenepik, S. 67-87. 66 Vgl. B usby , Codex, S. 401. Um Leben und Taten Karls des Großen zentrierte Zyklen entstanden allerdings außerhalb Frankreichs. So ist die in der Mitte des 13. Jahrhunderts nach französischen und lateinischen Quellen kompilierte, in unterschiedlichen Fassungen überlieferte, altnordische Karlamagnús saga aus insgesamt zehn sagas zusammengefügt, in denen meist Taten und Leben des Frankenkönigs im Mittelpunkt stehen (Karlamagnússaga. La saga de Charlemagne. Traduction française des dix branches de la Karlamagnús saga norroise. Traduction, notices, notes et index par Daniel W. Lacroix. Paris 2000 [Classiques Modernes]; Jonna K jaer : Karlamagnús saga. La saga de Charlemagne. In: Revue des Langues Romanes 102 [1998], S. 7-23; Povl S kårup : Un cycle de traductions: Karlamagnús saga. In: Cyclification. The Development of Narrative Cycles in the Chansons de Geste and the Arthurian Romances, hg. von Bart Besamusca u. a., Amsterdam usw. 1994, S. 74-81; Susanne K ramarz -B ein : Die altnordische Karlsdichtung: Das Beispiel der Karlamagnús saga ok kappa hans. In: Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters. Konstruktion eines Mythos, hg. von Bernd Bastert. Tübingen 2004, S. 149-161). Mehrere Chansons de geste versammelt ebenfalls ein in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Italien angelegter Kodex zu einer Beschreibung etwa der ersten Lebenshälfte Karls (vgl. Aldo R osellini [Hg.]: La «Gesta Francor di Venezia». Edizione integrale del Codice XIII del Fondo francese della Marciana. Brescia 1986). Nach zyklischen Prinzipien organisierte Handschriften, die Texte des Cycle du Roi zu einer vita poetica Karoli Magni vereinigen, existieren gleichfalls in deutscher Sprache (vgl. etwa die Karlmeinet-Kompilation) sowie im Walisischen (vgl. dazu Annalee C. R ejhon : Cân Rolant. The Medieval Welsh Version of the Song of Roland. Berkeley usw. 1984). 67 Chronique rimée de Philippe Mouskes, hg. von Baron von Reiffenberg, 3 Bde. Bruxelles 1836-1845 (Coll. de Chroniques Belges Inédites 2.1, 2.2, 2.3). 68 Vgl. A critical Edition of Girart d’Amiens’ L’Istoire Le Roy Charlemaine, 3 Bde, hg. von Daniel Métraux. Lewiston 2004. Zu Girart d’Amiens vgl. Friedrich W olfzettel : La legende de Charlemagne aux Moyen Age tardif: de Girart d’Amiens à David Aubert. In: Danielle Buschinger, Peter Andersen (Hg.): Charlemagne dans la réalité historique et la littérature. Amiens 2004, S. 80-88; Antoinette S aly : L’auteur du Charlemagne: L’enigmatique Girart d’Amiens. In: Danielle Buschinger, Peter Andersen (Hg.): Charlemagne dans la réalité historique et la littérature. Amiens 2004, S. 69-73; Alain C orbellari : Le Charlemagne de Girart d’Amiens et la tradition épique française. In: CRM 14 (2007), <?page no="45"?> Aubert, 69 insbesondere aber neuzeitliche Interpreten wie G. Paris und andere, haben all diese Texte als eine ‹Histoire poétique de Charlemagne› 70 begriffen und sie entsprechend behandelt. 71 Nur ansatzweise in mittelalterlichen Handschriften zu Zyklen zusammengefasst wurden ebenfalls die verschiedenen Texte des von der Forschung so bezeichneten ‹Cycle des Vassaux révoltés› wie z. B. Girart de Roussillon, Renaut de Montauban oder Raoul de Cambrai. 72 Die im Textbestand der einzelnen Codices sich manifestierenden zyklischen Valenzen der drei von Bertrand erwähnten Stoffkreise belegen, dass bereits die jeweiligen Redakteure bzw. Schreiber der Handschriften sie als nicht gleichermaßen kohärent empfunden zu haben scheinen. Die homogenen und zur Klassifizierung der fast unüberschaubaren Textmassen der französischen Heldenepik tauglichen Distinktionskriterien, als die die aus Bertrands Ausführungen abgeleiteten Unterteilungen in ‹Cycle du Roi›, ‹Cycle des Vassaux révoltés› und ‹Geste de Guillaume d’Orange› in der Forschung oft gelten, sind sie jedenfalls nur mit gewissen Einschränkungen. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil durch die im Prolog des Girart de Vienne mehr suggerierte als eindeutig ausgeführte Klassifizierung der französischen Heldenepik ausschließlich die, von einem Großteil der Forschung freilich favorisierten, frühen Texte erfasst werden. Daneben existieren jedoch noch eine ganze Reihe weiterer Chansons de geste, die, da sie teilweise in den Handschriften kontextualisiert wurden, mit mindestens dem gleichen Recht wie der ‹Cycle du Roi› oder der ‹Cycle des Vassaux révoltés› als Erzählzyklen Aufstieg einer Gattung 35 S. 189-199; Daniel M étraux : Le Charlemagne de Girart d’Amiens: vers un empereur modèle. In: CRM 14 (2007), S. 201-207. 69 Croniques et Conquestes de Charlemaine. 2 Teile in 3 Bänden, hg. von Robert Guiette. Bruxelles 1940-1951 (Académie Royale de Belgique. Classe des Lettres et des Sciences Morales et Politiques. Collection des anciens Auteurs Belges, Nouvelle Série 3). Zu David Aubert und seinem Œuvre vgl. Richard E. F. S traub : David Aubert, ‹escripvain› et ‹clerc›. Amsterdam, Atlanta 1995 (Faux Titre 96); Danielle Quéruel (Hg.): Les manuscrits de David Aubert. Paris 1999 (Cultures et civilisations médiévales 18); Guyen C roquez : La difficile synthèse des répresentations de Charlemagne dans une compilation du XV e siècle. Les Croniques et Conquestes de Charlemaine de David Aubert. In: Danielle Buschinger, Peter Andersen (Hg.): Charlemagne dans la réalité historique et la littérature. Amiens 2004, S. 41-50; W olfzettel, Legende. 70 Vgl. G. P aris, Histoire poétique; Jules H orrent : L’histoire poétique de Charlemagne dans la littérature française du moyen âge. In: Charlemagne et l’Épopée Romane. Actes du VII e Congrès International de la Société Rencesvals, Tome I. Paris 1978 (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège 225), S. 27-57; Peter W underli : Speculatio Carolina. Variationen des Karlsbildes in der altfranzösischen Epik. In: Vox Romanica 55 (1996), S. 38-87. 71 Inhaltszusammenfassungen und Basisinformationen zu den Epen aus diesem Stoffkreis bei H ennings , Französische Heldenepik, S. 22-35. 72 Vgl. dazu Marianne J. A iles : Observations on the Grouping of Epics of Revolt in Manuscripts and Compilations. In: Reading Medieval Studies 10 (1984), S. 3-19; B usby , Codex, S. 401f. Inhaltszusammenfassungen und Basisinformationen zu den Epen aus diesem Stoffkreis bei H ennings , Französische Heldenepik, S. 54-66. <?page no="46"?> bezeichnet werden können. So etwa die im späten 12., frühen 13. Jahrhundert entstandene, aus fünf einzelnen Texten komponierte, ‹Geste des Lorrains› (bestehend aus Hervis de Metz, Garin de Lorrain, Gerbert de Metz, Yon ou la Venjance Fromondin, Anseïs de Metz), in der vom unversöhnlichen, von Generation zu Generation sich fortsetzenden blutigen Streit zwischen den Herzögen von Lothringen und den Grafen von Bordeaux erzählt wird. 73 Ein zusammenhängendes Erzählgeflecht bildet ebenfalls die zwischen dem späten 12. und 14. Jahrhundert entstandene ‹Geste de Nanteuil›, die um eine Revolte gegen Charlemagne und den Kampf zweier verfeindeter Sippen kreist (bestehend aus Doon de Nanteuil, Aye d’Avignon, Gui de Nanteuil, Parise la Duchesse, Tristan de Nanteuil). Zu einem mehr oder weniger umfangreichen Zyklus lassen sich auch die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandenen Erzählungen um Huon de Bordeaux gruppieren, 74 die Huon, nachdem er versehentlich Charlemagnes Sohn Carlot getötet hat, in den nahen und fernen Orient und die gesamte seinerzeit bekannte Welt führen, wo er mit Hilfe des Elfenkönigs Auberon die gefährlichsten und fantastischsten Abenteuer besteht (Huon de Bordeaux), später dann auf Judas trifft, der bis in alle Ewigkeit in einem Strudel durch die Ozeane treiben muss, von einem Greifen entführt wird, drei Äpfel vom Baum der ewigen Jugend pflückt usw. (Esclarmonde; Huon, roi de féerie; Huon et Calisse). Ergänzt werden diese um Huon konzentrierten Chansons durch eine Vorgeschichte, in der die Herkunft des mit Huon verbündeten Elfenkönigs erklärt wird, der als Sohn von Julius Caesar und Artus’ Schwester Morgane präsentiert wird (Auberon), sowie um Erzählungen der ebenfalls fantastischen Erlebnisse von Huons weiblichen und männlichen Nachkommen (Clarisse et Flovent, Yde et Olive, Godin, Croissant). Einen genealogisch organisierten Zyklus bildet gleichfalls die ‹Petite Geste de Blaye› (Ende 12., Anfang 13. Jahrhundert), bestehend aus der Chanson d’Ami et Amile, die von zwei Freunden handelt, die beide im Dienst Charlemagnes stehen und sich jeweils in scheinbar ausweglosen Situationen gegenseitig helfen - ein Stoff, der stark mit hagiographischen Motiven durchsetzt ist - sowie die Chanson Jourdain de Blaye, in der der Protagonist als Amis Enkel vorgestellt wird, der sich einer verräterischen Intrige zu erwehren hat, bevor er, nach vielen fantastischen (Reise)Erlebnissen, schließlich blutige Rache nehmen kann. Und durch genealogische Verbindungen zu einer umfassenden Erzählung ausgestaltet sind ebenso die Chansons von Elie de Saint-Gilles und Aiol. Dabei schildert Aiol (zwei Fassungen, die ältere um 1160, die jüngere zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstanden), wie der gleichnamige Protagonist verschiedenste Gefahren meistert, bis er endlich sein Erbe wiedererlangt, von dem sein Vater Elie, ein Schwager Ludwigs des Frommen, durch den König 36 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 73 Vgl. dazu B usby , Codex, S. 396-399. Inhaltszusammenfassungen und Basisinformationen zu den Epen aus diesem Stoffkreis bei H ennings , Französische Heldenepik, S. 36-42. 74 Vgl. dazu B usby , Codex, S. 402. <?page no="47"?> selbst vertrieben worden war. Wie es zu diesem Unrecht kam, erzählt die möglicherweise vom gleichen Autor wie die zweite Aiol-Fassung verfertigte Chanson Elie de Saint-Gilles. 75 Von dem auf Bertrand basierenden Klassifikationssystem überhaupt nicht erfasst werden die beiden Kreuzzugszyklen, die, da sie im gleichen Stil wie viele andere Chansons geschrieben sind, zudem den genretypischen Kampf der Christen gegen die Heiden thematisieren und überdies genealogisch an Chansons wie etwa Gaufrey anknüpfen, von der Romanistik ebenfalls der französischen Heldenepik zugerechnet werden, obwohl die Erzählhandlung - im Unterschied zu allen bisher genannten Chansons - nicht in der karolingischen Epoche angesiedelt ist, sondern zur Zeit des ersten bis dritten Kreuzzugs spielt. Der erste Kreuzzugszyklus, wohl gegen Ende des 12. Jahrhunderts zunächst aus der Chanson d’Antioche, der Conquête de Jérusalem sowie der Chanson des Chétifs kompiliert, behandelt die Gründung des Königreichs Jerusalem, insbesondere aber Taten und Schicksal Gottfrieds von Bouillon. Ergänzt wurde dieser Kern später um Schilderungen der Kindheit und Jugend Gottfrieds sowie Erzählungen von dessen Großvater Elias, Bruder des Schwanenritters (Naissance du Chevalier au cygne, Chevalier au cygne et la fin d’Elias, Enfances Godefroi), und Fortsetzungen, die das weitere Schicksal Gottfrieds von Bouillon und des Königreichs Jerusalem thematisieren (Chrétienté de Corbaran, Prise d’Acre, Mort Godefroi et la Chanson des rois Baudouin). 76 Dieser große Erzählzyklus wurde um 1356 von einem Anonymus überarbeitet und gekürzt (Chevalier au cygne et Godefroi de Bouillon), dabei zugleich aber erweitert um die Chanson von Baudoin de Sebourc - einen Text, der beinahe die identischen Erzählstationen wie der Chevalier au cygne et Godefroi de Bouillon erneut abschreitet, sie allerdings aus anderer Perspektive darstellt und insofern variiert (im Zentrum steht hier Baudouin, der spätere König von Jerusalem) - und die Baudoin-Fortsetzungen Le Bâtard de Bouillon (das Ende dieses Textes um den gemeinsamen Sohn Baudouins und einer sarazenischen Prinzessin ist nicht erhalten) und Saladin, eine verlorene, doch aus einer Prosabearbeitung des 15. Jahrhunderts zu rekonstruierende Erzählung um den berühmtesten Gegenspieler der Kreuzfahrer, der dem Typus des edlen Heiden entspricht. Zusammen bilden die letztgenannten Texte den zweiten Kreuzzugszyklus. Führt man also, wie hier geschehen, das von Bertrand benutzte, von anderen Chanson de geste-Autoren abgewandelte Verfahren einer Differenzierung der französischen Heldenepik in genealogisch organisierte Stoff- oder Erzählkreise konsequent fort, folgt daraus eine Aufspaltung der Chanson de geste in eine Flut von Zyklen, deren Spezifik oder auch deren Konnex kaum mehr Aufstieg einer Gattung 37 75 Vgl. dazu Sandra O bergfell M alicote : The Illuminated Geste de Saint Gille, Questions of genre. In: Romanic Review 90 (1999), S. 285-300; vgl. auch B usby , Codex, S. 403. 76 Inhaltszusammenfassungen und Basisinformationen zu den Epen aus diesem Stoffkreis bei H ennings , Französische Heldenepik, S. 43-53. <?page no="48"?> überschaubar sind. 77 Es zeigt sich hier eine Besonderheit, die ganz ähnlich in anderen Bereichen der mittelalterlichen Literatur beobachtet werden kann: In mittelalterlichen Texten selbst genannte Klassifikationsmerkmale entsprechen nur selten den für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit eben diesen Texten notwendigen heuristischen Kriterien. Es fehlen trennscharfe, verschiedene Literaturtypen prägnant charakterisierende Differenzierungen, wie wir sie aus der modernen Literatur- und Gattungstheorie, trotz aller Problematik auch dieser Klassifikationen, gewohnt sind. 78 Im Folgenden wird daher nicht länger, bzw. nur noch auf einer untergeordneten Ebene, mit der bislang favorisierten Unterteilung der Chanson de geste in (drei) Erzählzyklen operiert. Praktikabler erscheint eine von F. Suard vorgeschlagene Differenzierung der französischen Heldenepik nach der jeweils dominierenden Thematik, mit der sowohl das gesamte Textmaterial erfasst als auch, soweit dies überhaupt möglich ist, gegeneinander abgegrenzt werden kann. Dabei unterteilt gleichfalls Suard die Epen, ähnlich wie Bertrand de Bar-sur-Aube dies getan hatte, in drei unterschiedliche Kategorien (groupes), die man auch als Typen bezeichnen könnte. 79 Den ersten Typus bilden Texte, in denen die kriegerische, untrennbar damit verbunden jedoch zugleich die religiöse, Auseinandersetzung zwischen Christen und Heiden thematisiert wird («Poèmes où domine l’idéal de la croisade») und mithin eine (im weiteren Sinne) geistliche Thematik oder (im engeren Sinne) Kreuzzugsthematik vorherrscht. Zu diesem Typus zählen die meisten der dem ‹Cycle du Roi› zugeordneten Texte, aber auch die Epen der ‹Geste de Guillaume›, in denen der Kampf gegen die in Südfrankreich einfallenden Sarazenen stets aufs neue durchgespielt wird. Ebenso können natürlich die beiden Kreuzzugszyklen diesem ersten Typus (Typ A) zugerechnet werden. Den zweiten Typus (Typ B) bilden nach Suard die Empörer- und Geschlechterepen («Chansons de révolte et de lignage»), also Texte, in denen spezifisch feudaladlige Themen wie Vasal- 38 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 77 So unterteilt etwa A. M oisan die Chanson de geste in insgesamt 16 Zyklen; vgl. André M oisan : Répertoire des noms propres de personnes et de lieux cités dans les chansons de geste françaises et les œuvres étrangères dérivées. Vol. 1-5. Genève 1986, hier Bd. I/ 1, S. 72-96. 78 Vgl. dazu die Überlegungen von Barbara F rank : ‹Innensicht› und ‹Außensicht›. Zur Analyse mittelalterlicher volkssprachlicher Gattungsbezeichnungen. In: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, hg. von Barbara Frank u. a. Tübingen 1997 (ScriptOralia 99), S. 117-136; Klaus G rubmüller : Gattungskonstitution im Mittelalter. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster, hg. von Nigel F. Palmer, H.-J. Schiewer. Tübingen 1999, S. 193-210; vgl. zu diesem Thema ebenfalls Hugo K uhn : Gattungsprobleme der mittelhochdeutschen Literatur. In: ders .: Dichtung und Welt im Mittelalter. Stuttgart 2 1969 [1956], S. 41-61, S. 251-254; Klaus D üwel : Werkbezeichnungen der mittelhochdeutschen Erzählliteratur (1050-1250). Göttingen 1983 (Palaestra 277); Hannes K ästner , Bernd S chirok : Die Textsorten des Mittelhochdeutschen. In: Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 2.2. Berlin, New York 1985, S. 1164-1179. 79 Vgl. zum Folgenden S uard, Chanson de Geste, S. 79f. <?page no="49"?> litäts- oder dynastische Konflikte und deren (kriegerische) Bewältigung oder auch deren Scheitern verhandelt werden. Zu diesem Typus zählen ‹klassische› Empörerepen wie Renaut de Montauban und dessen Fortsetzungen, sowie die Chevalerie Ogier, Raoul de Cambrai, die ‹Geste de Nanteuil›, die ‹Geste des Lorrains›, aber auch Elie de Saint-Gilles oder Aiol. Den dritten Typus (Typ C) fasst Suard unter der in der Forschungsliteratur bereits zuvor gängigen Bezeichnung «Chansons d’aventures». 80 Gemeint sind damit Texte, die zwar meist im karolingischen Chronotopos spielen, sich aber trotzdem (darin entfernt mit der aventiurehaften Dietrichepik vergleichbar) durch eine große Anzahl fantastischer Motive auszeichnen; diese Fantastik, das Wunderbare der Chansons d’aventures, unterscheidet sich dabei vom christlichen Wunder, das eher in Typ A oder B begegnet. Charakteristisch für die Chansons d’aventures sind überdies Transgressionen und Verwerfungen auf mehreren Ebenen: etwa zwischen den einzelnen matières der französischen Literatur des Mittelalters. So gelangen die karolingischen Helden oft nach Avalon, d. h. in eine arthurisch geprägte Gegenwelt; ebenso finden sich in den Texten des Typs C Motive und Figuren der Antikenromane. 81 Grenzüberschreitungen begegnen ebenfalls zwischen den Geschlechtern (cross-dressing oder auch regelrechte Geschlechtsumwandlungen wie im Tristan de Nanteuil, in dem eine Frau in einer gefährlichen Situation sich zunächst als Mann verkleiden muss, als sie/ er die Liebe einer Prinzessin erringt, sich auf Vorschlag eines Engels jedoch tatsächlich in einen Mann verwandeln lässt, um mit der Prinzessin weiterleben zu können) und zwischen den Religionen bzw. Kulturen (christliche Helden werden in den Orient verschlagen, wo sie auf Seiten der Heiden kämpfen, und umgekehrt). Typ C weist zudem starke Strukturanalogien zum antiken Reise- und Abenteuerroman mit seinen Kombinationen von Verwechslungen, Trennungen und Wiedervereinigungen auf. Chansons d’aventures, in denen die Autoren alle Register ihres erzählerischen Könnens ziehen, sind Aufstieg einer Gattung 39 80 Als Kennzeichnung einer bestimmten Textgruppe wurde der Terminus aufgebracht von William W. K ibler : La «chanson d’aventures». In: Essor et fortune de la Chanson de geste dans l’Europe et l’Orient latin. Actes du IX e Congres International de la Société Rencesvals. Modena 1984, S. 509-515; vgl. ebenfalls die instruktive Einleitung zur Sektion ‹Rapports entre chanson de geste et roman au XIII e siècle›. In: Essor et fortune, S. 407-424, sowie die übrigen Beiträge in dieser Sektion. 81 Vgl. zu dieser Art der «Interferenz von Erzählstoffen» Richard T rachsler : «Genres» und «matières». Überlegungen zum Erbe Jean Bodels. In: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, hg. von Barbara Frank u. a. Tübingen 1997 (ScriptOralia 99), S. 201-219; ders .: Disjointures conjointures: étude sur l'interférence des matières narratives dans la littérature française du moyen age. Basel, Tübingen 2000 (Romanica Helvetica 120); Caroline C azanave (Hg.): L’épique médiéval et le mélange des genres. Besançon 2005; Claude R oussel : Le Mélange des Genres dans les Chansons de geste Tardives. In: Les Chansons de geste. Actes du XVI e Congrès International de la Société Rencesvals, pour l’Étude des Épopées Romanes. Granada, 21-25 juillet 2003. Granada 2005, S. 65-85; als Materialsammlung nach wie vor nützlich die motivgeschichtliche Untersuchung von Gustav E ngel : Die Einflüsse der Arthurromane auf die Chansons de geste. Diss. Halle 1910. <?page no="50"?> schon aus dem 12. Jahrhundert bekannt und werden ab dem 13. Jahrhundert dann immer beliebter. 82 In der wissenschaftlichen Literatur ist zum Teil heftig darüber diskutiert worden, ob solche Texte überhaupt noch unter das literarische Genre Chanson de geste zu zählen seien. 83 Dabei war man oft allenfalls bereit, die Chan- 40 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 82 Z. B. Beuve de Hantonne (Ende 12. Jh.); Huon de Bordeaux (13. Jh.); Tristan de Nanteuil (14. Jh.); Dieudonné de Hongrie (14./ 15. Jh.). 83 In vielen älteren, aber auch in einigen jüngeren Studien, die den Einwirkungen des (Artus)Romans auf die französische Heldenepik nachspüren, wird das untersuchte Merkmal als negativ empfunden und entsprechend dargestellt. Vgl. etwa S chneider : Die formale Annäherung; für G. E ngel sind, S. 97, «alle diese Einflüsse [...] sehr verderblich für die Chansons de geste geworden. Während in den ältesten Chansons die Helden gewaltige Recken sind, die nur für hohe Ideale, wie Religion und Vaterland, kämpfen, sind sie in den späteren Epen zu bloßen Romanhelden herabgesunken, die auf Abenteuer ausziehen. Hierdurch sowie durch das Eindringen der phantastischen Elemente, wie Feen, Zauberer, Zwerge, Wunderdinge usw., hat das Epos ganz erheblich an Würde und sittlichem Ernst verloren.» Mag man dieses harsche Urteil noch auf das Alter und den Forschungsstand der vor rund einhundert Jahren erschienenen Dissertation zurückführen, so lehrt ein Blick auf jüngere Arbeiten bald, dass sich zwar die Diktion, nicht aber die Einschätzung als solche geändert haben. So wird beispielsweise in einer 1986 publizierten Studie über «Liebesthematik und Genre-Problematik in Jean Bodels ‹Sachsenlied›» von der Erzählwelt der Chanson de geste behauptet, sie sei geprägt durch ein «Ambiente, in dem die Frauen traditionellerweise fehl am Platze sind.» Nicht zuletzt durch die Einführung der Liebesthematik, die als «schlechthin untypisch für eine chanson de geste gelten» dürfe, habe Bodel «die inhaltlichen und religiösen Normen der früheren altfranzösischen Heldenepik in Frage» stellen wollen, was ansatzweise zu «einer auch strukturellen Auflösung der chanson de geste als solcher» führe. (Helmut M eter : «... de chevaleries d’amours et de cembiaus». Liebesthematik und Genre-Problematik in Jean Bodels «Sachsenlied». In: Das Epos in der Romania. Festschrift für Dieter Kremers zum 65. Geb., hg. von S. Knaller, E. Mara. Tübingen 1986, S. 271-297, hier S. 272, 283 u. 291). Grundlage dieser und ähnlicher Bewertungen ist augenscheinlich die Vorstellung einer gleichsam ‹reinen› epischen Dichtung, die, in künstlerisch nicht unbedingt ambitionierter Manier, die kriegerische, und das heißt immer auch: von Männern ausagierte, Bewältigung (oder auch Nicht-Bewältigung) ideologischer und/ oder politischer Konflikte thematisiere. Andere potenzielle Erzählinhalte und -haltungen, etwa eine Auseinandersetzung mit dem in der Geschichte der gesamten Weltliteratur so ungeheuer produktiven Thema der Liebe oder auch eine ironische Erzählweise, werden, wie die zitierten Beispiele verdeutlichen, als Fremdkörper bewertet und entsprechend abqualifiziert. Einem solch ‹puristischen› Vorverständnis entspricht freilich im Bereich der französischen Heldenepik, wenn überhaupt, vermutlich nur ein einziger Text: die Chanson de Roland in der Oxforder Fassung. So heißt es beispielsweise bei E ngel , S. 9: «Das älteste und zugleich beste Gedicht ist das Rolandslied.» Diesen Text aber, dessen besondere Stellung innerhalb der französischen Heldenepik schon seine ungewöhnlich frühe Überlieferung offenlegt, zum normativen Maßstab der Gattung erheben zu wollen, lässt sich nur mit Verzerrungen erkaufen. Auch S. G aunt (1995) scheint die französische Heldenepik noch in diesem Sinn zu verstehen, wenn er die Chanson de Roland als vermeintlich typischen - und einzigen - Vertreter der Gattung herausgreift und aus dem (weitgehenden) Fehlen von weiblichen Figuren in diesem Text dann die ‹Monologizität› der gesamten Chanson de geste ableitet. <?page no="51"?> sons d’aventures als Depravation der ‹eigentlichen› Epen, als dekadente Spätblüten, dem Genre hinzuzurechnen. Doch bewegt sich eine solche Debatte natürlich auf dem Boden von idealtypischen, statischen Gattungsvorstellungen, wie sie heute kaum noch haltbar sind. Die Möglichkeit einer «fortgesetzten Horizontstiftung und -erweiterung» (Jauß) oder der Blick auf Texte als «literarische Reihen», die sich «erkennbar und beschreibbar aufeinander beziehen» (Grubmüller), also eben das, was das narrative Potenzial eines Genres ausmacht und sein Fortbestehen im ständigen Kontakt mit anderen Genres allererst sichert, 84 wird dadurch gerade ausgeblendet. Neuere Arbeiten verweisen dann auch mit Recht darauf, dass Chansons d’aventures nicht nur bereits relativ früh begegnen, sondern gleichfalls in ‹klassischen› Chansons de geste des Typs A und B einzelne Motive und Passagen auszumachen sind, wie sie später in Texten des Typs C dominieren sollten. 85 So wird beispielsweise in einer wohl um 1200 entstandenen Fassung der Bataille Loquifer - der direkten Fortsetzung von Aliscans aus der ‹Geste de Guillaume› und somit eindeutig zum Typ A gehörend - Rainouart, der Protagonist der Erzählung, nach seinem Sieg über den heidnischen Vorkämpfer Loquifer und nach der von Loquifers zauberkundigem Gefolgsmann Picolet inszenierten Entführung seines kleinen Söhnchens Maillefer während der verzweifelten Suche nach dem Verschwundenen von Feen nach Avalon entführt, muss dort unter den Augen von Artus, Gauvain, Ivain, Perceval und dem bei Ronceval gefallenen Roland gegen ein katzenartiges Ungeheuer namens Chapalu kämpfen, zeugt mit der Fee Morgue ein (teuflisch-bösartiges) Kind, kann endlich per Schiff entfliehen, erleidet jedoch bald Schiffbruch, wird von Sirenen gerettet und landet schließlich wieder an jenem Strand, von dem aus der Schlafende einst nach Avalon entführt worden war. 86 Neben der Bataille Loquifer, in der das Motiv vermut- Aufstieg einer Gattung 41 84 Vgl. dazu G rubmüller , Gattungskonstitution; S tierle , Verwilderung des Romans; Hans Robert J au ß : Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: GRLMA, Vol. I. Heidelberg 1972, S. 107-138; Erich K öhler : Gattungssystem und Gesellschaftssystem. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1977), S. 7-22. 85 Vgl. dazu unter einem geradezu programmatischen Titel François S uard : Impure, en son début même, la chanson de geste…In: Caroline Cazanave (Hg.): L’épique médiéval et le mélange des genres. Besançon 2005, S. 27-46; vgl. auch Alberto V arvaro : La Chanson de Guillaume et l’histoire littéraire du XII e siècle. In: Andrea Fasso (Hg.): La Chanson de Geste e il cicolo di Guglielmo d’Orange. Atti del Convegno di Bologna 7-9 ottobre 1996. Rom 1997 (Medioevo Romanzo 21), S. 184-204. 86 Vgl. dazu Jeanne W athelet- W illem : La Fée Morgain dans la chanson de geste. In: CCM 13 (1970), S. 209-219; François S uard : La bataille Loquifer et la pratique de l’intertextualité au 13 e siècle. In: Actes du 8 e congrès de la Société Rencesvals. Pamplona 1981, S. 497-543; Nelly A ndrieux : Arthur et Charlemagne réunis en Avalon: la Bataille Loquifer ou l’accomplissement d’une parole. In: Essor et fortune (wie Anm. 80), S. 425- 434; Sara S turm -M addox , Donald M addox : Renoart in Avalon: Generic Shift in the Bataille Loquifer. In: Shifts and Transpositions in Medieval Narrative. A Festschrift for Dr. Elspeth Kennedy, hg. von K. Pratt. Cambridge 1994, S. 11-22; vgl. auch die Inhaltszusammenfassung bei H ennings , Französische Heldenepik, S. 73f. <?page no="52"?> lich zuerst Verwendung fand, gelangen ebenfalls die Protagonisten des Bâtard de Bouillon, 87 des Tristan de Nanteuil sowie einer späten Fassung der Chevalerie Ogier in das nur schwer zu erreichende, da jenseits der ‹normalen› Welt liegende Artusreich. In ähnlicher Weise zählt das Motiv der Liebe zwischen den Geschlechtern - ein Motiv, das nach Ansicht mancher Forscher der Heroik wesensfremd sei und erst durch den Einfluss des Romans Eingang in das Genre gefunden habe - beinahe seit den frühesten bekannten Beispielen zum Inventar des heldenepischen Erzählregisters in Frankreich. Sarah Kay hat in einer wegweisenden Studie gezeigt, wie eng die Genese und die weitere Entwicklung des Romans und der (buchepischen) Chanson de geste zusammenhängen und wie intensiv sich beide von Anfang an gegenseitig befruchten und aufeinander reagieren. 88 Ihre Anregungen sind von der Romanistik mittlerweile aufgenommen worden und haben zu einer Diskussion über die Machart der französischen Heldenepik geführt, die in verschiedenste Richtungen geht. So wird einerseits, wie auch Kay selbst dies schon vorgeführt hatte, zum Verhältnis der einzelnen Gattungen gearbeitet (s. o.). Andererseits wird aus gendertheoretischer Perspektive das von Kay gleichfalls bereits angesprochene Verhältnis der Geschlechter in der Chanson de geste diskutiert, das keineswegs so ‹monologisch› ist, wie dies in älteren Untersuchungen erscheint. 89 Mindestens die verschriftlichte Chanson de geste ist also, dies dürfte mittlerweile deutlich geworden sein, beinahe seit ihren Anfängen wesentlich polyvalenter und umspannt ein größeres thematisches Spektrum als zuweilen vermutet wird. Jeder der drei Chanson de geste-Typen war an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert - und damit etwa zu jenem Zeitpunkt, als die ersten deutschsprachigen Bearbeitungen französischer Heldenepik entstanden - bereits existent und differenzierte sich in späteren Überarbeitungen und Erweiterungen immer weiter aus. Auf diese Weise wurden bis um 1500 im französischen Sprachraum an die 80 verschiedene Chansons de geste geschrieben (wenn man die verschiedenen Retextualisierungen mitberücksichtigt, sogar über 100), 90 die während des gesamten Mittelalters und selbst noch eine ganze Zeit darüber hinaus ihr Publikum fanden. Es kann demnach keine Rede davon sein, dass dieses Erzählregister, wie in einigen (älteren) Untersuchungen und 42 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 87 Vgl. Robert F. C ook : The Arthurian Interlude in the Bâtard de Bouillon. In: Conjunctures: Medieval Studies in Honour of Douglas Kelly, hg. von Keith Busby, Norris J. Lacy. Amsterdam, Atlanta 1994 (Faux Titre 83), S. 87-95. 88 Sarah K ay : The Chansons de geste in the Age of Romance. Political Fictions. Oxford 1995. 89 Vgl. dazu etwa Finn E. S inclair : Milk & Blood. Gender and Genealogy in the ‹Chanson de geste›. Oxford usw. 2003. 90 Die Chanson de geste ist damit wesentlich produktiver als der explizit oder implizit oft als Gegenpol des ‹archaischen› Genres genannte arthurische Versroman, zu dem Beate S chmolke -H asselmann : Der arthurische Versroman von Chrestien bis Froissart. Zur Geschichte einer Gattung. Tübingen 1980 (Beihefte zur ZfrPh 177), S. 6f., rund 30 Texte rechnet. <?page no="53"?> Handbüchern zu lesen, mit dem Aufkommen des Romans in eine Krise geraten und bald untergegangen sei bzw. sich völlig dem Roman angepasst und dadurch bis zur Unkenntlichkeit verändert habe. Rezeptionszeugnisse sowie die Überlieferungssituation einiger Codices aus hochadligem Besitz - wohl stets jene Gruppe von Handschriften, die eine relativ hohe Überlebenschance haben und deren Provenienz sich verhältnismäßig gut eruieren lässt - sprechen eine in jeder Hinsicht deutliche Sprache. 91 Vermutlich zu ihrer Hochzeit mit König Heinrich VI. von England im Jahr 1445 erhielt die damals 15-jährige Margarete von Anjou, Tochter des berühmten Bibliophilen, Literaturmäzens und Autors Réne von Anjou, Schwager und einer der engsten Berater des französischen Königs Karl VII., eine prachtvoll ausgestattete und wohl kurz zuvor angefertigte Handschrift, die mehrere Chansons de geste in sich vereinigt (London BL, Royal 15. E. VI; die Hs enthält u. a. Chevalerie Ogier, Chanson d’Aspremont, Renaut de Montauban). 92 Eine wohl um 1440 in Flandern im Auftrag eines hochadligen Herren gefertigte, mit 28 Miniaturen geschmückte Handschrift des Renaut de Montauban wanderte gegen Ende des 15. Jahrhunderts in die Bibliothek des Königs von Frankreich (Paris, BN, fr. 764), 93 in der sich zu diesem Zeitpunkt schon eine ganze Anzahl französischer Heldenepen befand. 94 Der Herzog von Orléans, ein Bruder des französischen Königs, kaufte um 1390 Wandteppiche mit Motiven aus dem Renaut-Epos sowie einer weiteren Chanson de geste. 95 Ung grant vielz tapiz, de l’istoire du duc Regnault de Montaben besaß, nach einem Inventar aus dem Jahr 1420, ebenfalls Philipp der Gute, Herzog von Burgund (1396-1467). 96 Im gleichen Inventar werden unter den Buchbeständen des Herzogs weitere Texte aus dem Bereich der französischen Heldenepik erwähnt, darunter zwei Mal die Enfances Ogier sowie Li Livres de Aymery de Aufstieg einer Gattung 43 91 Zu hochadeligen Besitzern französischer Handschriften vgl. B usby , Codex, S. 639-714. 92 Vgl. André de M andach : A Royal Wedding-Present in the Making: Talbot’s Chivalric Anthology (Royal 15 E VI) for Queen Margaret of Anjou, and the Laval-Middleton Anthology of Nottingham. In: Nottingham Medieval Studies 18 (1974), S. 56-76. Abbildungen illustrierter Seiten der Chanson d’Aspremont aus dieser Handschrift in: Rita L ejeune , Jacques S tiennon : Die Rolandssage in der mittelalterlichen Kunst, 2 Bde. Brüssel 1966, hier Bd. 1, S. 231, Bd. 2, Nr. 188. 93 Abbildung einer illustrierten Seite in L ejeune , S tiennon , Bd. 1, S. 239. 94 Vgl. Léopold D elisle : Recherches sur la librairie de Charles V, roi de France, 1337-1380, 2 Bde. (Paris 1907) Reprint Amsterdam 1967, hier Bd. 1, S. 40: «Romans carlovingiens: Agolant, Aimeri de Narbonne, Amis et Amille, Anséis de Carthage, Aubri le Bourguignon, Aye d’Avignon, Berte, Beuve d’Aigremont, Beuve de Hantonne, Foulques Faucon, Garin le Loherain, Garin de Montglane, Girard de Rousillon, Gui de Nanteuil, Guillaume d’Orange, Jourdain de Blaives, Maugis le larron, Olivier, Pépin, les Quatre fils Aymon, Raoul de Cambrai, Roland, Turpin, Vivien.» 95 Vgl. J. G uiffrey u. a.: Histoire générale de la tapisserie. Paris 1880, Bd. II, S. 14. 96 Philippe V erelst , Vorwort. In: Renaut de Montauban. Édition critique du ms. de Paris B.N. fr. 764, hg. von Ph. Verelst. Wetteren 1988 (Rijksuniv. te Gent, Werken uit. Fac. Lett. en Wijsbegeerte, 175), S. 45. <?page no="54"?> Narbonne, de Guillaume d’Orenge, de Vivien et de Renouart au Tinel. 97 Für sich selbst ließ Philipp der Gute weitere, äußerst wertvolle und repräsentative Chanson de geste-Handschriften schreiben: etwa einen prachtvoll ausgestatteten Kodex des Girart de Roussillon (Wien, ÖNB cod. 2549), 98 eine fünf Bände umfassende, mit wundervollen Illustrationen geschmückte Prosaversion des Renaut de Montauban (Paris, Arsenal, 5072-5075 und München, Bayr. Staatsbibl., cod. gall. 7) 99 sowie einen zweiten, mit wertvollen Grisaillen ausgestatteten Prachtkodex desselben Epos (Pommersfelden, Gräflichschönbornsche Bibl. 311, 312). 100 Eine ebenfalls fünfbändige, allerdings weniger prächtig ausgestattete Papierhandschrift des prosifizierten Renaut-Epos wurde am 12. November 1462 im Auftrag von Jean V. von Créquy, Rat und Kämmerer Philipps des Guten, vollendet (Paris, BN, fr. 19173-19177). 101 Vielleicht im Auftrag eines anderen Rates Philipps des Guten, dem aus einer berühmten Adelsfamilie stammenden Martin de Gand, wurde eine voluminöse Prosafassung des gesamten Wilhelms-Zyklus angefertigt (Paris, Arsenal, 3351). Zwei weitere, in einem Fall höchst aufwendig geschmückte, Codices des Prosa- Wilhelm (Paris, BN, fr. 1497; BN, fr. 796) entstanden vor 1477 im Auftrag von Jacques d’Armagnac, Herzog von Nemours und Graf de la Marche, einem der größten Bibliophilen des 15. Jahrhunderts, der 1477 auf Befehl des französischen Königs enthauptet wurde. 102 Und gegen Ende des 15., zu Anfang des 16. Jahrhunderts wurde irgendwo im westlichen Frankreich noch einmal die Chanson de Roland niedergeschrieben (Cambridge, Trinity College Libr., 44 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 97 Georges D outrepont : Inventaire de la «Librairie» de Philippe le Bon (1420). Bruxelles 1906, S. 61, 128, 134. Offenbar hatte Philipp der Gute diese Handschriften aus der Bibliothek seiner Eltern, Herzog Philipp des Kühnen und dessen Frau Margarete von Flandern, übernommen, da sie bereits in einem entsprechenden Verzeichnis aus dem Jahr 1404 angeführt werden; vgl. zu diesem Inventar: Patrick M. de W inter : La bibliothèque de Philippe le Hardi, Duc de Bourgogne (1364-1404). Étude sur les manuscrits à peintures d’une collection princière à l’époque du «style gothique international». Paris 1985, S. 135, 157, 159. 98 Vgl. dazu Dagmar T hoss : Das Epos des Burgunderreiches. Girart de Roussillon. Mit der Wiedergabe aller 53 Miniaturseiten des Widmungsexemplars für Philipp den Guten, Herzog von Burgund, Codex 2549 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. Graz 1989. 99 Abbildungen in: L ejeune , S tiennon, Bd. 1, S. 243, und Bd. 2, Nr. 192, 193. 100 Abbildungen in: ebd. Bd. 2, Nr. 191, 194, 195. 101 Vgl. dazu François S uard : La prose manuscrite amplifiée de «Renaut de Montauban». In: Actes du IV e Colloque international sur le Moyen Français, hg. von Anthonij Dees. Amsterdam 1985 (Faux Titre 16), S. 361-386. 102 Vgl. Le Roman de Guillaume d’Orange. Edition critique établie en collaboration par Madeleine Tyssens, Nadine Henrard et Louis Gemenne, Bd. I/ II, Paris 2000/ 2006; Études introductives, glossaire et tables par Nadine Henrard et Madeleine Tyssens, Bd. III. Paris 2006 (Bibliothèque du XV e siècle 62, 70, 71). Vgl. zu den prosifizierten Wilhelms-Zyklen des 15. Jahrhunderts auch die grundlegende Untersuchung von S uard , Guillaume d’Orange. <?page no="55"?> R. 3.32), also genau jener Text, mit dem gut 350 Jahre zuvor die schriftliche Existenz der französischen Heldenepik eingesetzt hatte. Neben den angeführten spätmittelalterlichen Abschriften bzw. Bearbeitungen und Rezeptionszeugnissen älterer Epen, bei denen freilich nicht ganz sicher ist, ob sie wirklich gelesen wurden oder nur als Repräsentationsobjekte dienten, entstanden im 14. und 15. Jahrhundert in Frankreich gleichzeitig neue Chansons de geste wie z. B Lion de Bourges, Tristan de Nanteuil oder Hugues Capet. Sie belegen mit einiger Sicherheit, dass weiterhin Interesse am Stoff der französischen Heldenepik bestand. So wurden in Frankreich noch im 16. Jahrhundert Stücke aus dem Chanson de geste-Repertoire auf der Bühne aufgeführt. 103 Selbst die für andere Genres schier unüberwindliche Hürde des Buchdrucks nahm die französische Heldenepik mit Leichtigkeit. Drucke mit Chanson de geste-Stoff waren im ausgehenden 15. und im 16. Jahrhundert große Verkaufserfolge und wurden auch im 17. und 18. Jahrhundert teilweise noch aufgelegt. In Form der Hefte aus der ‹bibliothèque bleue›, denen im deutschsprachigen Bereich in etwa die sogenannten Volksbücher entsprechen, wurden einige der Epen selbst im frühen 19. Jahrhundert noch verbreitet. 104 Die Drucke dieser Reihe bildeten die Grundlage für die im nordfranzösischen und vor allem im wallonischen Raum im 19. und sogar noch im frühen 20. Jahrhundert beliebten Marionettenaufführungen, in denen Charlemagne, Roland und Ganelon oder Renaut de Montauban und seine Brüder zum festen Inventar gehörten. 105 Im Puppenspiel überlebte der Stoff der französischen Heldenepik gleichfalls in Italien und speziell in Sizilien, wo - auf der Basis der von Ariost, Pulci und Barberino aus frankoitalischen Chansons de geste des 13. und 14. Jahrhunderts entwickelten Ritterromane des 15. Jahrhunderts - noch bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein ganze Chanson de geste- Zyklen, verteilt auf mehrere Vorstellungen, aufgeführt wurden. 106 Nach dem Gesagten dürfte einleuchten, dass es schwerfällt, eine allgemein gültige Beschreibung für das gesamte, im Laufe der Jahrhunderte sich immer wieder verändernde, in mehrere Untergruppierungen sich diversifizierende und weiter entwickelnde Erzählregister der Chanson de geste zu geben. Zu unterschiedlich, zu facettenreich, zu proteisch sind die Texte, die, nachdem die frühesten bekannten Schriftepen in der Volkssprache offenbar im anglonor- Aufstieg einer Gattung 45 103 Vgl. Caroline C azanave : Huon de Bordeaux aux théâtre (le XVI e siècle). In: Dominique Boutet u. a. (Hg.): ‹Plaist vos oïr bone cançon vallant›? Mélanges offerts à François Suard, 2 Bde. Lille 1999, S. 171-181. 104 Vgl. dazu P oulain -G autret und B audelle -M ichels . 105 Vgl. dazu Danielle Q uéruel : En guise d’épiloge. Les Quatre Fils Aymon et la tradition des marionettes dans le Nord. In: dies. (Hg.): Entre Épopée et légende: Les Quatre Fils Aymon ou Renaut de Montauban. 2 Bde. Langres-Saints-Geosmes 2000, Bd. 2, S. 229-235. 106 Vgl. dazu Esther M ay : Das sizilianische Puppenspiel und seine literarischen Vorlagen. Eine vergleichende Studie am Beispiel der Schlacht von Roncisvalle (Diss. Bonn 2001). Aachen 2001. <?page no="56"?> mannischen Raum, 107 seit dem 13. Jahrhundert im gesamten romanischen Kultur- und Literaturbereich, einschließlich Italiens und (mit gewissen Änderungen) Spaniens, rezipiert und, soweit man das daraus erschließen kann, auch produziert wurden. Innerhalb des französischen Sprachraums lassen sich folglich keine besonderen Überlieferungsschwerpunkte eines Genres ausmachen, 108 dessen äußere Form zwischen 10- und 12-hebigen Laissen, Reimpaarversen sowie, in späteren Texten, Prosa variiert. Makrowie Mikrostruktur der französischen Heroik können, je nach Typus und nach Thematik, ganz verschieden ausfallen. So gibt es eine Reihe von Texten, in denen kriegerische Auseinandersetzungen und blutige Schlachten, sei es zwischen Christen und Heiden, sei es zwischen verfeindeten christlichen Sippen, im Vordergrund des Erzählgeschehens stehen. Doch begegnen daneben ebenfalls Chansons, in denen Kämpfe, wenn überhaupt, nur in einem untergeordneten Erzählstrang geschildert werden. In anderen hat der Held eine bestimmte Aufgabe zu bewältigen, die eher Intelligenz als Kampfkraft fordert. Es existieren Texte, in denen der Erzähler völlig hinter dem Erzählten verschwindet, während er in anderen apostrophisch hervortritt, das Erzählgeschehen kommentiert oder auch, nicht selten in der Rolle des Jongleurs, sein Spiel mit dem Publikum treibt. Die meisten Chansons sind anonym überliefert, doch in einigen, und zwar durchaus auch in früheren Vertretern des Genres, nennt sich ein Autor im Prolog. Gleichwohl existieren bestimmte ‹Familienähnlichkeiten› innerhalb der scheinbar so disparaten Gruppe der französischen Chansons de geste des 12. bis 15./ 16. Jahrhunderts. Beinahe alle sind im merowingisch-karolingischen Chronotopos angesiedelt. Die Schauplätze umfassen in etwa das Gebiet des karolingischen Reiches zur Zeit Karls des Großen und dort insbesondere die Ränder und Überschneidungszonen mit nichtchristlichen Kulturen (Spanien, Sachsen, Nord- und Süditalien, Vorderer Orient). Die Akteure sind historische wie fiktive Personen aus der merowingisch-karolingischen Dynastie sowie deren Verbündete und Gegner; sämtliche heidnischen Widersacher (Sarazenen, Sachsen, Slawen und Normannen) werden unterschiedslos als Muslime gezeichnet und sind demzufolge austauschbar. Es liegt in der Natur der Sache, dass die hier unternommene Beschreibung der ‹Familienähnlichkeiten› der französischen Heroik nicht frei von gewissen Unschärfen ist. So handelt etwa 46 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 107 Vgl. Sandra D ieckmann : Französische Sprache und Identität am englischen Hof im 12. Jahrhundert. In: Muster und Funktionen kultureller Selbst- und Fremdwahrnehmung. Beiträge zur internationalen Geschichte der sprachlichen und literarischen Emanzipation, hg. von Ulrike-Christine Sander, Fritz Paul. Göttingen 2000 (Veröff. aus dem Göttinger SFB 529, Ser. B, Bd. 5), S. 185-205; William C alin : The French Tradition and the Literature of Medieval England. Toronto 1994; B usby , Codex, S. 488-513. 108 Vgl. Anthonij D ees : Atlas des formes linguistiques des textes littéraires de l’ancien français. Frankfurt 1987 (Beihefte zur ZfrPh 212); B usby , Codex, S. 485-635; ebd., S. 562, spricht er von einer «general popularity of the chanson de geste across the whole of the French-speaking domains». <?page no="57"?> Hugues Capet schwerpunktmäßig nicht von der merowingisch-karolingischen Dynastie. Als ein zentrales Thema dieser späten Chanson de geste erweist sich allerdings gerade der Übergang von der karolingischen Dynastie zu den Kapetingern, der als genealogische Fortsetzung des Karolingergeschlechts in weiblicher Linie geschildert ist. Insofern agieren in der Chanson von Hugues Capet dann doch wieder Protagonisten aus der karolingischen Dynastie - nur eben in Gestalt ihrer späteren Nachkommen, der Kapetinger. In vergleichbarer Weise fallen die Chansons de croisade auf den ersten Blick aus dem für die französische Heldenepik konstitutiven merowingisch-karolingischen Chronotopos heraus, weil sie in nachkarolingischer Zeit, während des ersten bis dritten Kreuzzugs, spielen. Doch viele Protagonisten der Kreuzzugsepen werden als direkte Nachfahren jener Helden dargestellt, die in der Epoche Karls des Großen auf christlicher wie auf heidnischer Seite gekämpft hätten. Von daher erweisen sich gleichfalls die Chansons de croisade als Fortsetzungen der ‹klassischen› Epen. Wie in jenen wird ebenfalls in diesen vom heilsgeschichtlich überhöhten Kampf zwischen Gut und Böse berichtet, der während der irdischen Zeit nie an ein Ende gelangen wird. 109 Die Thematik des heilsgeschichtlich bedeutsamen Kampfes zwischen Gut und Böse und ebenso die zuvor erwähnte des Übergangs von der karolingischen auf die kapetingische Dynastie deuten ein weiteres übergreifendes Charakteristikum der französischen Heldenepik, und nicht nur dieser Variante der Heldenepik, an. Allen Chansons gemeinsam ist, dass sie sich, in freilich unterschiedlicher Intensität, als Historienerzählungen gerieren. Historienerzählung meint hier den Bericht über Begebenheiten, die sich in der Vergangenheit ereigneten und abgeschlossen sind, aber für Gegenwart und Zukunft des Rezipientenkreises nach wie vor von Bedeutung sind oder sein können. Oft, doch nicht immer, betreffen diese Historienerzählungen eine, allerdings nicht näher spezifizierte, Vorgeschichte, ein nur vage erinnertes ‹Herkommen› der intendierten Rezipientenschaft. Von historiographischen Schriften im engeren Sinne unterscheiden sich diese Historienerzählungen jedoch nicht nur durch die Verwendung der Volkssprache, sondern auch in ihrer Faktur. Obschon Aufstieg einer Gattung 47 109 Vgl. etwa zur Chanson d’Antioche, dem wohl ältesten Kreuzzugsepos (Ende des 12. Jahrhunderts), Karl-Heinz B ender : Die Chanson d’Antioche: eine Chronik zwischen Epos und Hagiographie. In: Olifant 5 (1977), S. 89-104, hier S. 100: «Ungeachtet seiner hagiographischen und historiographischen Innovationen äußert der Autor indes nirgends die Überzeugung, daß er einen Bruch mit der epischen Gattung vollziehe. Im Gegenteil; er stellt des öfteren ausdrückliche Rückbezüge zur epischen Tradition her, sei es daß Olivier, Roland und Vivien ihm als Exemplarfiguren dienen; sei es daß er zweien der vornehmsten Barone einen epischen Stammbaum verleiht: Gottfried wird deshalb zum Oberbefehlshaber für die Entscheidungsschlacht gewählt, weil er dem lignage Charlon entsprossen sei, Robert de Normandie hingegen bekämpft diese Wahl, weil er selbst als Nachkomme Renauts, des Haimonsohnes, der Empörergeste angehöre. Der Streit um den Oberbefehl und damit um den adligen Vorrang wird somit episch-genealogisch motiviert.» <?page no="58"?> neuere geschichtstheoretische Arbeiten aufzeigen konnten, dass Historiographie immer zugleich Erzählen von (Ausschnitten aus) der Vergangenheit ist, Geschichtsschreibung also nicht ohne narrativ vorgeprägte Muster auskommen kann, und folglich die vormals als objektiv - bzw. als um Wahrhaftigkeit bemüht - charakterisierte ‹Historiographie› und die demgegenüber als fiktiv eingeschätzte ‹Literatur› derart distinkte Kategorien nicht unbedingt sind, 110 existieren gleichwohl Unterschiede in der Machart der Historienerzählungen der Chanson de geste und dem historiographischen Schrifttum der Zeit. 111 Den Chansons de geste fehlt beispielsweise, da sie generell keine Angaben zur Datierung der erzählten Ereignisse enthalten, die Möglichkeit zur exakten chronologischen Verortung in einem außerliterarischen System wie etwa demjenigen der christlichen Zeitrechnung, das in der Historiographie verwendet wird. Sie enthalten statt dessen nur systemimmanente Markierungen, etwa die Erwähnungen von Jahreszeiten, bestimmten kirchlichen Festtagen wie Pfingsten oder Ostern, an denen die erzählten Ereignisse ihren Ausgang genommen hätten, oder Hinweise auf den Ablauf einer allgemeinen zeitlichen Frist (ein Tag, ein Monat, ein Jahr usw.), die zwischen den einzelnen Erzählstationen läge. Vielleicht hat nicht zuletzt diese fehlende Verortung in einem außerliterarischen System, die in der Historiographie im Unterschied zu den Historienerzählungen der französischen Heldenepik zu den unverzichtbaren Bestandteilen gehört, dazu beigetragen, dass die Chansons de geste von litterati wiederholt als lügenhafte und falsche Berichte über die Vergangenheit bezeichnet worden sind. 112 Entscheidender für die Ablehnung der Historienerzählungen durch die ‹ordentliche› Geschichtsschreibung dürfte aber wohl die fehlende veritas latina der volkssprachigen Texte gewesen sein. Denn nicht selten wird die Zurückweisung des Wahrheitsgehalts der volkssprachigen Chansons de geste mit 48 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 110 Vgl. etwa Hayden W hite : Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1991 (Sprache und Geschichte 10); ders .: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt/ M. 1990. Vgl. zur Auseinandersetzung mit W hite s Thesen etwa Richard J. E vans : Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis. Frankfurt/ M. 1998. Vgl. insgesamt zu dieser Debatte: Christoph C onrad , Martina K essel : Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Stuttgart 1994 (RUB 9318); Hans-Werner G oetz : Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung. Darmstadt 1999, S. 114-117. 111 Vgl. dazu Robert G uiette : Chanson de geste, chronique et mise en prose. In: CCM 6 (1963), S. 423-440; Jean-Pierre M artin : Quelques observations sur l’expression du passé dans la chanson de geste. In: Histoire et Litterature au Moyen Age, hg. von Danielle Buschinger. Göppingen 1991 (GAG 546), S. 279-290; Jean F lori : Des Chroniques aux Chansons de geste: L’usage des nombres comme élément de typologie. In: Romania 117 (1999), S. 396-422. 112 Vgl. die Beispiele bei Tom H age : «Vraie historie ende al waer»: middeleeuwse noties over de Karelroman als historisch verhaal. In: De epische wereld, hg. von Evert van den Berg, Bart Besamusca. Muiderberg 1992, S. 113-128. <?page no="59"?> dem Hinweis auf die Wahrheit lateinischer Quellen verknüpft, im speziellen Fall der Ereignisse um Karl den Großen oft mit dem Hinweis auf die Wahrheit des Pseudo-Turpin - unbeschadet der Tatsache, dass der lateinische Text Karls unglücklichen Spanienfeldzug im ‹plot› nicht unbedingt anders erzählt als volkssprachige Epen. Ähnlich wie Texte aus dem Bereich der (lateinischen) Historiographie und Chronistik, die durch ein kompliziertes Verweissystem miteinander verknüpft und aufeinander bezogen werden können, beziehen sich auch die Chansons mittels eines bestimmten Verweissystems aufeinander, wodurch das Erzählgeschehen der französischen Heldenepik als ein großes Kontinuum erscheint. Ein ausgefeiltes System der Verknüpfung einzelner Texte zu teilweise sehr voluminösen Zyklen wird in Kapitel A.4 noch näher zu beschreiben sein. Doch auch die nicht zu Zyklen zusammengestellten und meist in umfangreichen Codices überlieferten Chansons de geste beziehen sich in bestimmter Weise aufeinander. Als zentraler Bezugspunkt der französischen Heldenepik findet dabei indes keines der aus der Geschichtsschreibung bekannten wichtigen Daten der Profan- oder der Heilsgeschichte Verwendung (etwa die Geburt Christi, die Taufe Chlodwigs, die Kaiserkrönung Karls etc.). Bezugspunkt vieler Chansons ist vielmehr ein Ereignis, das in der gewöhnlichen Historiographie und Chronistik nicht oder höchstens am Rande Erwähnung findet, nämlich das in der Chanson de Roland erzählte Geschehen um die Katastrophe von Ronceval. Dabei reicht in einigen Epen die Erwähnung der Namen der bei dieser Gelegenheit getöteten Protagonisten, um das Ereignis in Erinnerung zu rufen und den entsprechenden Text dadurch in (chronologische) Beziehung zu setzen (so etwa in der Prise d’Orange, Aliscans sowie in weiteren Texten der Wilhelmsgeste); andere Epen (Voyage de Charlemagne, Entrée d’Espagne) geben sich sehr dezidiert als Vorgeschichte der Chanson de Roland aus, wieder andere, wie die Chanson des Saisnes, erwecken ausdrücklich den Eindruck, von Ereignissen zu handeln, die sich nach der Katastrophe von Ronceval zugetragen hätten. 113 Nicht immer ist es freilich der über alle Hilfsmittel der Literaturwissenschaft verfügenden, und damit ungleich besser als die zeitgenössischen Rezipienten ausgestatteten, Forschung gelungen, die in vielen Chansons de geste enthaltenen Verweise auf Begebenheiten, Orte oder Akteure zu entschlüsseln, die in anderen Epen offenbar eine so wichtige Rolle spielen, dass sie als allgemein bekannt vorausgesetzt werden konnten. Nach diesem Muster funktioniert beispielsweise der ebenso berühmte wie rätselhafte Schluss der Oxforder Chanson de Roland-Fassung: Nachdem der Verräter Ganelon endlich bestraft ist und Karl, erschöpft von seinen jahrelangen Kämpfen gegen die Sarazenen, sich nach Ruhe sehnt, wird er von einem Engel aufgefordert, sich in das Land Bire zu begeben, um König Vivien in Imphe gegen die ihn dort belagernden Aufstieg einer Gattung 49 113 Vgl. auch François S uard : La ‹Chanson de Roland› comme modèle épique. In: Olifant 25 (2006), S. 401-417. <?page no="60"?> Heiden beizustehen. 114 Generationen von Romanisten haben sich die Köpfe darüber zerbrochen, auf welche epische Situation mit diesen Angaben angespielt werden könnte, da weder eine Stadt namens Imphe, noch ein Land namens Bire, noch der üblicherweise als früh verstorbener Neffe Guillaumes d’Orange bekannte Vivien in königlicher Funktion ansonsten in einer Chanson de geste genannt werden. 115 Ähnlich verhält es sich mit weiteren Verweisen in der Chanson de Roland. So erinnert etwa Ganelon in denunziatorischer Absicht an Rolands Kampf gegen die Sarazenen vor der Stadt Noples, die dieser gegen den Befehl von Karl eingenommen habe, wobei Roland die Kampfspuren später zu verwischen suchte (ChdR 1773-1779); auf seinem Rückzug aus Spanien zieht Karl an der Stadt Galne vorbei, die Roland einst für ihn erobert haben soll (ChdR 661-664); Turpins Pferd stammt demnach von einem früheren Feldzug in Dänemark, wo er es von einem, offenbar als heidnisch vorgestellten, König Grossaille erbeutet hätte (ChdR 1487-1489); der in Marsilies Heer kämpfende, vom heidnischen König selbst erzogene Valdabrun bezwang einst angeblich Jerusalem, verwüstete Salomons Tempel und tötete den Patriarchen (ChdR 1562-1568). 116 Über all jene geographischen Angaben, Personen und epischen Szenarien kann man nur rätseln, sie überzeugend zu entschlüsseln, ist bislang nicht gelungen. Ob das zeitgenössische Publikum dabei erfolgreicher war, weil es, wie zuweilen vermutet, über Kenntnisse für uns verlorener (mündlicher) Epik verfügte, auf die die erwähnten Allusionen sich beziehen, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Vergleichbar enigmatische Verweise begegnen in der Chanson de Guillaume (entstanden um die Mitte des 12. Jahrhunderts; die einzige erhaltene Hand- 50 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 114 ChdR 3995-3997: Par force iras en la tere de Bire,/ reis Vivien si succuras en Imphe,/ a la citet que paien unt asise. 115 Vgl. Hans Helmut C hristmann : Declinet und kein Ende. Zur letzten Laisse des Oxforder Roland. Mit Nachtrag 1975. In: Altfranzösische Epik, hg. von Henning Krauss. Darmstadt 1978 (WdF 354), S. 355-367; La Chanson de Roland. Texte présenté, traduit et commenté par Jean Dufournet. Paris 1993, Stellenkommentar zu 3996: «Mais ici, comme ailleurs, il s’agit d’une géographie essentiellement poétique et peut-être est-il vain de rechercher des identifications exactes». 116 Verweise dieser Art finden sich nicht nur in der Oxforder Fassung, sondern auch in den späteren Bearbeitungen der Chanson de Roland. Über Rolands Eroberung von Noples berichten z. B. ebenfalls die Fassungen V 4 , V 7 , Châteauroux und Paris, in den Fragmenten von Cambridge und Lyon fehlt sie hingegen. Die Stadt Galne, an der vorbei Charlemagne aus Spanien abzieht, ersetzt V 4 durch Valence, V 7 und Châteauroux nennen Valterne; die übrigen Hss. setzen erst nach dieser Szene ein. Das Motiv von Turpins Schlachtross, das aus Dänemark stammen soll, kennen in abgewandelter Form ansonsten nur V 7 und Châteauroux. Dort sowie in der Pariser Handschrift fehlt die Eroberung Jerusalems durch Valdabrun; ein Motiv, das jedoch V 4 und die Fragmente aus Cambridge und Lyon kennen. Die Schlussverse, in denen Charlemagne von Gabriel zum nächsten Feldzug aufgefordert wird, enthält allerdings allein die Oxforder Fassung der Chanson de Roland. Vgl. die einzelnen Fassungen der Chanson de Roland in: The Song of Roland. The French Corpus, hg. von Joseph J. Duggan. <?page no="61"?> schrift «a été transcrite dans le milieu oxonien vers 1225»). 117 So wird zum Beispiel von einem Schild, den Tedbald, ein sehr negativ gezeichneter christlicher Kämpfer trägt, behauptet, dass Vivien ihn einst von einem Ungarn (Hunnen) in der Schlacht am Munt Girunde erbeutet habe, als er einen Heiden namens Alderufe tötete und den zwölf Söhnen des Burel die Köpfe abschlug (ChdG 374-377). Auf diese Schlacht kommt auch Vivien selbst später noch einmal zu sprechen (ChdG 636-648); überdies erwähnt Vivien die, von der Forschung nicht zu identifizierenden Städte Limenes und Fluri (ChdG 650- 654; vgl. auch 989-991), offensichtlich Schauplätze anderer kriegerischer Unternehmungen, sowie einen ebensowenig in den überlieferten Epen belegten Feldzug gegen den König Turlen, in dem er für Guillaume gekämpft und dabei einen Getreuen namens Raher verloren habe, um den er sehr trauere (ChdG 655-665; vgl. auch 979-986). Ähnlich rätselhaft ist die Erwähnung einer großen Schlacht, die Guillaume in Burdel sur Girunde (Bordeaux an der Gironde) drei Tage vor der Auseinandersetzung auf dem Archamp geschlagen und dabei große Verluste in den eigenen Reihen erlitten haben will (ChdG 934-936; 1017-1019). Die der Forschung Probleme bereitenden Anspielungen der eben genannten Art begegnen nicht nur in als relativ alt geltenden, noch im 12. Jahrhundert entstandenen und im letzten Viertel des 12. bzw. im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts verschriftlichten Epen, wie der Oxforder Chanson de Roland und der Chanson de Guillaume, sie finden sich ebenso in jüngeren Texten, beispielsweise in vielen Branchen des Wilhelmszyklus, der in verschiedenen Handschriften aus der Mitte des 13. und 14. Jahrhunderts überliefert ist. Da aus germanistischer Perspektive die Chanson d’Aliscans am interessantesten ist, die Wolfram als Vorlage für den Willehalm diente und auch für den ersten Teil des Rennewart durch Ulrich von Türheim benutzt wurde, soll sie hier exemplarisch herangezogen werden, obwohl sich entsprechende Stellen ebenfalls in anderen Epen des Zyklus aufzeigen ließen. 118 Später wird dann zu demonstrieren sein, wie die deutschen Bearbeiter mit den enigmatischen Verweisen der französischen Vorlagen umgingen. Aufstieg einer Gattung 51 117 Madeleine T yssens , Jeanne W athelet -W illem : La geste des Narbonnais (cycle de Guillaume d’Orange). Heidelberg 2001 (GRLMA Vol. III, Tome 1/ 2, Fasc. 3), S. 15-176, hier S. 21 und S. 22: «La Ch[anson de] G[uillaume], que l’on peut dater du milieu du s. XII [...].» 118 Im Charroi de Nîmes erwähnt Guillaume zum Beispiel in einem Disput mit König Louis einen Gastgeber namens Guion, der ihn in einem Schiff über das Meer geschickt habe, ebenso ein großes Heer eines Oton, an das der König sich erinnern solle (ChdN 211- 213). Auf welche Episoden aus der epischen Biographie Guillaumes sich das beziehen könnte, ist nicht klar. Wenig später erinnert Guillaume im gleichen Gespräch an eine als allgemein bekannt vorausgesetzte, aber für uns gleichwohl rätselhafte Episode, in der er am Fest des heiligen Michael nach Saint Gilles in das Haus eines Ritters geflohen sein will, der sich als schlechter Landesherr herausgestellt hätte, worüber die Frau des Ritters sich bei Guillaume inständig beklagt und ihn um Hilfe gebeten habe. Sein damals gegebenes Versprechen gedenke er bald einzulösen (ChdN 548-579). <?page no="62"?> An drei Stellen der Aliscans-Erzählung 119 werden wie selbstverständlich frühere Kämpfe im Leben von Guillaumes Bruder Aÿmers le chaitiz (Wolframs Heimrîch der schêtîs) erwähnt, in denen dieser das Land von St. Markus den Heiden entrissen haben soll: Mes n’i fu mie Aÿmers le chaitiz. En Espaigne est, a Saint Marc de Venis, N’i a repos ne par nuit ne par dis. Al 3023-3025 120 Mes jusqu’a poi sera plus esbaudis, Quant iert venuz Aÿmers li chaitis. Cil prist la terre de Saint Marc de Venis. Al 4395-4397 121 Que meinte foiz ont paiens assentis Dedenz Espaigne a Saint Marc de Venis. Al 5209-5210 122 Eine Episode, auf die diese Verse sich beziehen könnten, ist aus anderen Epen freilich nicht bekannt. In eine in anderen Chansons so nicht beschriebene Vergangenheit zurück reicht gleichfalls die Geschichte des alles durchtrennenden Schwertes, das Rainouart von Orable/ Guibourc vor der entscheidenden Schlacht in Aliscans erhält. Es soll angeblich zunächst Corssuble, dem Neffen von Haucebier, gehört haben, der es dann Tiebaut, Orables erstem Ehemann, als Preis für einen Friedensschluss überließ. Von Tiebaut erhielt Orable es später als Gabe zu ihrer Hochzeit. 123 Als nicht minder mysteriös wird in einigen 52 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 119 Benutzt wurde die Ausgabe von Claude Régnier, der die Aliscans-Handschrift A 2 (Paris, BN F fr. 1449) als Leithandschrift zu Grunde liegt: Aliscans. Texte établi par Claude Régnier, présenté et annoté par Jean Subrenat. Traduction revue par Andrée et Jean Subrenat. Paris 2007 (Champion Classiques, Ser. Moyen Age 21). Die heutigen Ansprüchen an eine kritische Edition nicht mehr genügende Aliscans-Ausgabe von Wienbeck, Hartnacke, Rasch, auf die sich die deutsche Willehalm-Forschung ganz überwiegend bezieht (Erich Wienbeck, Wilhelm Hartnacke, Paul Rasch [Hg.]: Aliscans. Kritischer Text. Halle 1903), wurde vergleichend hinzugezogen. 120 Übers.: ‹Aÿmers der Arme war nicht dort: Er befand sich in Spanien, in St. Marc de Venis, Tag und Nacht leidend›. 121 Übers.: ‹Wie ermutigt wird er (Guillaume) sehr bald sein, wenn Aÿmers der Arme gekommen sein wird. Derjenige, der das Land von St. Marc de Venis eroberte›. Diese Passage kennen ebenfalls andere Aliscans-Handschriften; vgl. den kritischen Apparat in Wienbeck, Hartnacke, Rasch, S. 238. 122 Übers.: ‹…denn oft haben sie [die von Aÿmers angeführten Truppen] die Heiden gespürt, in Spanien, bei St. Marc de Venis›. So auch in anderen Handschriften (außer L); vgl. den kritischen Apparat bei Wienbeck, Hartnacke, Rasch, S. 280. 123 Al 4741-4744: El fu Corssuble, le neveu Haucebier,/ Puis le dona a Tiebaut le guerrier/ Por une pes, n’en ot autre loier./ Orable l’ot quant le dut noçoier. Die Herkunftsgeschichte des Schwertes wird in anderen Handschriften etwas abweichend, aber doch im gleichen Sinne erzählt. In einer vielleicht noch aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts stammenden, und somit dann der ältesten Aliscans-Handschrift (Paris, Arsenal 6562) soll Guibourc das Schwert direkt von Corsuble erhalten haben, weil sie ihm eine Wunde geheilt habe. Auch diese Episode ist in den buchepischen Chansons nirgends belegt. <?page no="63"?> Handschriften die Herkunft der Rüstung und des Helms dargestellt, mit denen Rainouart ausgestattet wird, nachdem die Heiden schließlich besiegt sind und er getauft und zum Ritter geschlagen wird. Die undurchdringliche, für einen normalen Menschen nicht zu bewegende, goldglänzende Rüstung soll ein kunstfertiger Schmied namens Antiquités (Hs d: Antinez) in zehnjähriger Arbeit angefertigt haben. Der juwelenbesetzte, kostbare Helm habe ursprünglich Cesaire (nach anderen Handschriften: Glotaire, Corsaire oder Crotoise) gehört und sei auf geheimnisvolle Weise von Metusalés, der 900 Jahre gelebt habe, gefertigt worden (Al, Ausg. Wienbeck, Hartnacke, Rasch 8001-8013; in der Hs A 2 fehlen die Namen, vgl. Al, Ausg. Régnier 8054-8064). Merkwürdig ist ebenfalls die Angabe, nach der der heidnische Heerführer Sinagon (in anderen Handschriften Maugon de Pavie oder Mangon) einst viele Tage lang Guillaume in einem großen Turm in Palermo gefangen gehalten habe. 124 Auch davon berichten Epen wie Enfances Guillaume oder die Prise d’Orange, in denen gleichfalls Guillaumes Gefangenschaft bei den Sarazenen geschildert wird, in dieser Weise nichts. 125 Vielleicht noch merkwürdiger als jene Scheinanalepsen, die in den uns überlieferten Chansons de geste keine exakten Referenzpunkte haben, sind fiktive Prolepsen, die Begebenheiten und Umstände avisieren, wie sie in den uns bekannten Epen in dieser Form nie eintreffen. Als Aelis, die Tochter von König Louis, beim Auszug des Heeres aus Laon Rainouart erblickt und seine Schönheit bewundert, versichert ihre Mutter ihr, Rainouart werde wohl nie zurückkehren, während der Erzähler beteuert, dass er die Königstochter in Zukunft sehr wohl erringen werde - was später tatsächlich eintrifft - und dass sie dann von Rainouart im Palast zu Cordoba mit einer goldenen Krone bekrönt und von ganz Spanien verehrt werde - was in der Folge so nie erzählt werden wird. 126 Dieser Hinweis auf das zukünftige Schicksal von Aelis ist deshalb besonders merkwürdig, weil die Chanson d’Aliscans (bis auf die Ausnahme der Handschrift M, die die Anspielung aber ebenfalls kennt) stets im zyklischen Verbund überliefert ist, das weitere Schicksal der französischen Königstochter, die nach der Hochzeit mit Rainouart recht bald an der Geburt des gemeinsamen riesenhaften Sohnes Maillefer stirbt und nie zur Königin Spaniens gekrönt werden wird, also jedem Rezipienten des Zyklus bekannt sein musste. Aufstieg einer Gattung 53 124 Al 5371-5373: La tierce eschiele a Sinagon chargie./ Cil ot Guillelme meint jor en sa baillie/ Dedenz Palerne en sa grant tor entie. 125 Von Guillaumes Gefangennahme durch einen Synagon weiß allerdings die Langfassung der Moniage Guillaume (Le Moniage Guillaume. Chanson de geste du XIIe siècle, éd. de la réd. longue par Nelly Andrieux-Reix. Paris 2003); dort (3163-3167) wird Guillaumes Gefangenschaft allerdings zeitlich nach der Aliscans-Schlacht angesetzt und nicht, wie in Aliscans selbst, dieser Schlacht als vorausgehend gedacht. 126 Al 4088-4095: Mais puis i vint, si com m’orrez chanter,/ O si grant gent l’en nes poïst esmer./ La fille au roi prist a fame et a per; / Li quens Guillelmes la li fist espouser,/ Ne la peüst nul leu mielz marier,/ Puis li fist il corone d’or porter/ Et el palais de Cordes coroner; / De toute Espaigne la fist dame clamer. <?page no="64"?> Es wäre denkbar und ist in der Forschung verschiedentlich auch erwogen worden, dass Epen mit entsprechenden Handlungssträngen mündlich existierten, uns jedoch nicht überliefert sind. Diese Annahme ist mit unseren derzeitigen Kenntnissen weder eindeutig zu widerlegen noch zu beweisen. Methodisch ist es allerdings nicht unproblematisch, mit Vermutungen zu operieren, die sich kaum jemals verifizieren lassen werden. 127 Narratologisch und argumentationslogisch erscheint es daher sinnvoller, die enigmatischen Vor- und Rückverweise vor dem, von der neueren Forschung wahrscheinlich gemachten und akzeptierten Hintergrund einer schriftliterarischen Konzeption der Chansons de geste zu erklären, die die primäre Mündlichkeit lediglich als Authentisierungsstrategie in die Schriftlichkeit hineinholt. Geht man solcherart konsequent vom Artefaktcharakter der Epen aus, ergeben sich andere, insgesamt wohl überzeugendere Deutungsmöglichkeiten für das Phänomen der referenzlosen Pro- und Analepsen. Unter diesen Prämissen könnte es sich dabei etwa um eine gezielte Desinformation des Publikums, nach Art des ‹unreliable narrators› der kontemporären Romane, handeln. 128 Dafür spricht unter anderem die Tatsache, dass im direkten Anschluss an die eben erwähnte, in den uns überlieferten Chansons nicht nachweisbare Vorausdeutung auf die Krönung der französischen Königstochter in Cordoba der in der Jongleur-Rolle agierende Erzähler auftritt, sich direkt an die Zuhörer wendet und fragt, ob sie gern eine wahre Chanson hören möchten, wie sie wahrhaftiger noch nie ein Jongleur gesungen habe. 129 Mit dem Wahrheitscharakter der erzählten Geschichte wird in dieser Passage des Aliscans-Epos also überdeutlich gespielt. Der dem ‹unreliable narrator› der Romane analoge Gestus eines ‹unzuverlässigen Jongleurs› würde folglich hierher gut passen. Gleichwohl ist die spezifische Poetik dieser unzutreffenden Verweise auf Ereignisse, die in der Vergangenheit oder in der Zukunft der jeweiligen Erzählgegenwart liegen, damit noch nicht vollständig erfasst. Denn die aufgeführten Analepsen und Prolepsen, die keinen exakten Referenzpunkt in bekannten Epen haben, entsprechen im Prinzip dem Typus der ‹epischen Vorausdeutung› 54 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 127 Vgl. dazu auch H einzle , Handschriftenverhältnisse, S. 322, der darauf aufmerksam macht, dass «jeder Text, der uns zugänglich ist, notwendig ein geschriebener Text ist, etwaige mündlich performative Varianten also immer schon medial transformiert wären. Man muß es sich ganz klar machen: Der einzige Ort der Veränderung von Texten, den wir qualifiziert wahrnehmen können, ist die Schreibstube! Theoretisch ist es möglich, alle Varianten aus den Bedingungen der Schriftlichkeit, nicht aber umgekehrt aus denen der Mündlichkeit zu erklären. Daher ist es argumentationslogisch statthaft, bei der Modellbildung vom Faktor Mündlichkeit abzusehen.» 128 Vgl. generell zum unzuverlässigen Erzähler Wayne C. B ooth : Die Rhetorik der Erzählkunst. 2 Bde. Heidelberg 1974 (UTB 384/ 385); vgl. auch Fabienne L iptay , Yvonne W olf (Hg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München 2005 (Ed. Text + Kritik). 129 Al 4096-4098: Voire chançon plest vos a escouter? / Se vos tant fetes que la voille chanter,/ Jamés plus voire ne vos diront jugler. <?page no="65"?> bzw. des ‹epischen Rückbezugs›, wie er in (verschriftlichter) heroischer Literatur immer wieder begegnet. Für sie lassen sich zwar, meist innerhalb des gleichen Epos, Anknüpfungspunkte nachweisen, doch sind die epischen Vorausdeutungen oder Rückverweise nicht immer in allen Details korrekt. Üblicherweise wird das mit dem mündlichen Charakter des Genres erklärt, der eine größere Exaktheit nicht erfordere, da das Publikum bereits gehaltene Vorträge, sofern sie denn überhaupt die fragliche Episode enthalten hätten, nicht mehr in sämtlichen Einzelheiten erinnere bzw. der Spielmann/ Jongleur, der eine epische Vorausdeutung in den Vortrag einfließen lässt, nicht genau wissen könne, ob er sie in einer zukünftigen Vorstellung tatsächlich aufgreifen werde. Auch diese Erklärung ist allerdings fragwürdig, wenn man, in Übereinstimmung mit neueren Forschungsergebnissen, davon ausgeht, dass es sich bei den uns überlieferten Epen nicht um Beispiele mehr oder weniger zufällig verschrifteter Vorträge handelt, sondern um artifizielle, schriftliterarische Texte mit einer spezifischen heldenepischen Poetik. In dieser spezifischen Poetik erweisen sich die Vor- und Rückverweise, egal ob sie exakte, ungefähre oder keinerlei Referenzpunkte in uns bekannten Epen besitzen, als gezielt eingesetztes poetisches Mittel. Die eigentliche Intention dieser epischen Pro- und Analepsen könnte es nämlich gewesen sein, überhaupt die Illusion einer geschlossenen Erzählwelt entstehen zu lassen 130 - eines gleichsam virtuellen epischen Universums, auf das man sich jederzeit beziehen kann. Eine exakte Verortung der verschiedenen Verweise, wie man dies auf der Grundlage einer neuzeitlichen Ästhetik und Poetik erwartet, wäre dann weder in jedem Fall gewollt, noch unbedingt nötig gewesen. Dafür spricht allein schon das Faktum, dass die Verweise in verschiedenen handschriftlichen Fassungen nicht immer den gleichen Wortlaut haben, sondern anders gefüllt werden können. So wird z. B. der ursprüngliche Besitzer von Rainouarts wunderbarem Helm je nach Handschrift als Cesaire, Glotaire, Corsaire oder Crotoise bezeichnet. Ähnlich differiert in den einzelnen Handschriften die Vorgeschichte des wunderbaren Schwertes aus dem Besitz Guibourcs, das sie ihrem Bruder Rainouart überlässt (vgl. S. 52f.). Die Stadt Galne, die - wie die Oxforder Fassung der Chanson de Roland zu berichten weiß - einstmals Roland für Karl erobert haben soll, heißt in anderen Chanson de Roland-Handschriften Valence oder Valterne. Die bisherigen Beispiele, die ausnahmslos dem Chanson de geste-Typ A (in dem die Auseinandersetzung zwischen Christen und Heiden im Mittelpunkt steht) entstammen, könnten leicht den Eindruck entstehen lassen, dass jene Verweise eine Eigenart dieses speziellen Typs seien. Dass dem nicht so ist, sondern (fingierte) Bezüge dieser Art in allen Typen der französischen Heldenepik vorkommen, soll wenigstens exemplarisch an Texten des Typs B und C Aufstieg einer Gattung 55 130 Vgl. zur Konzeption einer geschlossenen Erzählwelt der Chansons de geste auch die Ausführungen von Alfred A dler: Epische Spekulanten. München 1975 (Theorie der Geschichte der Literatur und der schönen Künste. Texte und Abhandlungen 33). <?page no="66"?> demonstriert werden. In Raoul de Cambrai, einem der bekanntesten Empörerepen und somit Typ B zugehörig, überlässt Karl der Große dem jungen Raoul, der zunächst noch Karls treuer Gefolgsmann ist, einen überaus prächtigen Helm, der einem Sarazenen gehört haben soll, den Roland am Ufer des Rheins getötet hätte (Raoul 296-298). Von einer solchen Tat berichtet indes keine der erhaltenen Chansons etwas. Ähnlich mysteriös ist der Ursprung des Schwertes, das Raoul von Karl bekommt: Es soll, so versichert der Text, in einem dunklen Tal von Galant, einem meisterhaften Schmied, gefertigt worden und, abgesehen von Durendal, das beste Schwert der Welt sein (Raoul 311-317). Galant wird, vergleichbar dem aus der deutschen Heldenepik bekannten Meisterschmied Wieland, in mehreren Chansons de geste als Urheber wunderbarer Waffen genannt, ohne dass man freilich Genaueres über diese Figur erfahren würde. So bekommt auch Huon de Bordeaux, und damit eine Figur aus den wohl bekanntesten Beispielen aus dem Bereich der ‹Chanson d’aventures› (Typ C), im Orient von einem Emir ein Schwert, das als Schwester des berühmten Durendal bezeichnet wird und von Galant in einem mehrjährigen Arbeitsgang, während dessen der Stahl zehn Mal gehärtet wurde, erschaffen worden sei (Huon 7609-7612). Evoziert werden sollte durch Verweise dieser Art - bei denen es weniger auf einen exakten Referenzpunkt als wohl hauptsächlich darauf ankommt, dass sie überhaupt in die Texte integriert wurden - offenbar eine Art ‹Sagengedächtnis›. 131 Für die zeitgenössischen Rezipienten dürfte dieses Sagengedächtnis ein selbstverständlicher und leicht abrufbarer Teil des kulturellen Gedächtnisses gewesen sein, 132 das sich freilich als nur scheinbar solide und damit in irgendeiner Form «greifbare» Größe erweist, indem es zwar in der Literatur als fester Bezugsrahmen funktionalisiert, gleichzeitig aber durch sie wesentlich bestimmt und immer neu geformt wird. Für moderne Rezipienten, die ein ganz anders geformtes kulturelles Gedächtnis besitzen, ist es verloren bzw. nur unter Schwierigkeiten, beispielsweise durch den Einsatz philologischer Mittel, zu rekonstruieren. Die enigmatischen Hinweise in den französischen Heldenepen, die die Forschung seit langem beschäftigen und die z. B. auf heroische Kämpfe und Taten in der Frühzeit der Helden rekurrieren können, erweisen sich von daher als eine Art ‹episches Substrat›. Dieses Substrat bindet die verschriftlichte Chanson de geste an den als unerschöpflich dargestellten Fundus der gesamten zeitgenössischen französischen Sagentradition zurück (nicht zuletzt auch an die kontemporäre mündliche, für uns nicht rekonstruierbare Dichtung) und dient so, ähnlich wie die poetischen Mittel der fingier- 56 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 131 Vgl. zum Begriff Jan-Dirk M üller , Spielregeln; C urschmann , Dichter alter maere. 132 Vgl. zu Begriff und Funktion: Jan A ssmann : Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1999; Aleida A ssmann , D ietrich H arth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt/ M. 1994; Mary C arruthers : The book of memory. A study of memory in medieval culture. Cambridge 1996 (Cambridge Studies in medieval literature 10). <?page no="67"?> ten Performanz und Oralität, als weitere Möglichkeit zur Legitimation der Schriftepik. Jenes ‹epische Substrat›, zu dem man im weiteren Sinne gleichfalls die fingierte Oralität und die fingierte Performanz, ebenso die gezielte Archaisierung der schriftepischen Texte zählen kann, bildet geradezu das Fundament der verschriftlichten, der buchepischen Chanson de geste, durch das sie mit Authentizität aufgeladen wird. Dieses solide Fundament des ‹epischen Substrats› genauer: die Suggestion eines durch das ‹epische Substrat› gebildeten Fundaments dürfte es gewesen sein, die noch in jüngerer Zeit Literaturwissenschaftler dazu veranlasst hat, sich in Spekulationen über französische Heldenlieder zu ergehen. Für die Produzenten und wohl auch für die versierteren literarisch gebildeten Rezipienten der buchepischen Chanson de geste dürfte das ‹epische Substrat› hingegen eine andere wichtige Funktion besessen haben. Erwirbt die verschriftlichte französische Heldenepik auf diesem Fundament ruhend doch die Lizenz, sich in die verschiedensten Richtungen zu entwickeln und sich, genau wie die übrigen zeitgenössischen Erzählregister, mit anderen Genres auseinanderzusetzen, sich diese produktiv anzuverwandeln oder sich von ihnen abzugrenzen. Die unterschiedlichen ‹Einwirkungen› auf die französische Heldenepik, die man immer wieder konstatiert und oft genug negativ konnotiert hat, vor allem den ‹verderblichen› Einfluss des Romans, aber auch gewisse Entlehnungen aus der Lyrik, wie die häufige Verwendung von Natureingängen, ebenso einen massiven Zug zur Komik, 133 die sich von Anfang an (z. B. in der Voyage de Charlemagne) im Genre beobachten lässt, insbesondere auch die starke hagiographische Aufladung der Chansons de geste, erwei- Aufstieg einer Gattung 57 133 Mit der den Chansons de geste von Anfang an eingeschriebenen Komik, die später in Italien zum bestimmenden Zug im Umgang mit dem Stoff der französischen Heroik werden sollte, hat sich die Forschung zunächst nur zögerlich und am Beispiel einzelner Chansons beschäftigt; vgl. etwa für die Voyage de Charlemagne Sebastian N euschäfer : Le Voyage de Charlemagne en orient als Parodie der Chanson de geste. In: Romanistisches Jahrbuch 10 (1959), S. 78-102; Norman S uskind : Humor in the Chansons de geste. In: Symposium 15 (1961), S. 185-197; vgl. auch Steven M. T aylor : Comic Incongruity in Medieval French ‹Enfances›. In: Romance Quarterly 35 (1988), S. 3-10; Anne Elizabeth C obby : Ambivalent Conventions. Formula and Parody in Old French. Amsterdam, Atlanta 1995 (Faux Titre 101); David S. K ing : Humor and Holy Crusade: Eracle and the Pèlerinage de Charlemagne. In: Zeitschr. für französische Sprache und Literatur 109 (1999), S. 148-155; für die Prise d’Orange vgl. Claude L achet : La Prise d’Orange ou la parodie courtoise d’une épopée. Paris 1986 (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Age 10). Mittlerweile ist das Thema ‹Humor und Chanson de geste› stärker ins Zentrum der Forschungsaufmerksamkeit gerückt; vgl. dazu Burlesque et dérision dans les épopées de l’occident médiéval, hg. von Bernard G uidot . Paris 1995 (Littéraires 3); François S uard : La place du comique dans l’épique. In: Plaisir de l’épopée, hg. von Gisèle Mathieu- Castellani. Saint Denis 2000, S. 23-39; Dominique B outet : Le rire et le mélange des registres: autour du cycle de Guillaume d’Orange. In: Plaisir de l’épopée, S. 41-53; Philip E. B ennett : Carnaval héroïque et écriture cyclique dans la geste de Guillaume d’Orange. Paris 2006 (Essais sur la Moyen Age 34). <?page no="68"?> sen sich von daher weniger als ein gleichsam passiv ertragenes Erleiden und Zersetzen einer ursprünglichen ‹reinen› Epik durch ‹fremde› Textsorten, sie sind vielmehr ein Moment, das von einer großen Aktivität, ja sogar von einer gewissen Aggressivität der Chanson de geste zeugt. Auf dem Fundament des ‹epischen Substrats› ruhen verschiedene ‹Superstrate› auf, wie man die hagiographischen, komischen, lyrischen, romanhaften Tendenzen usw. mit einem vielleicht passenderen Terminus bezeichnen könnte, die - meist als eine Mischung verschiedener Superstrate - das Genre, das einerseits mit seinem Alter und seiner Archaik kokettiert, andererseits in immer neuen Wandlungen jederzeit als innovativ und modern erscheinen lässt und so sein problemloses Überleben bis in die frühe Neuzeit sichert. Vor dieser Folie ist die deutsche Rezeption der französischen Heldenepik zu betrachten und zu beschreiben. 58 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption <?page no="69"?> A.2 Zur Rezeption französischer Heldenepik im deutschen Sprachraum Wenn man in älteren, aber durchaus noch viel benutzten deutschen Literaturgeschichten die knappen Ausführungen zur französischen Heldenepik nachliest, die in der Regel den Abschnitten über das Rolandslied oder den Willehalm vorangestellt sind, gewinnt man unweigerlich den Eindruck, die Chanson de geste sei ein altertümliches, mündliches, durch Spielleute vorgetragenes Genre, in dem es fast ausschließlich um Kampf und Krieg, um Ehre und Vaterland gehe und die Helden meist knöcheltief im Blut wateten. Implizit, teilweise auch explizit, schreibt sich in Ausführungen dieser Art der einleitend diskutierte Kontrast zum ‹moderneren› Genre des höfischen Romans ein, denn der Roman oder besser: das, was seit dem frühen 19. Jahrhundert unter Roman verstanden werden sollte, ist oft subkutan mit präsent, wenn über Epik geredet wird. So erklärt sich für H. de Boor beispielsweise die schwache deutsche Rezeption der französischen Heldenepik aus den gravierenden thematischen Unterschieden zwischen beiden Genres: «Denn die Zeit [das 13. Jahrhundert] liebt die Phantasiewelt der Aventiure, die zu hemmungsloser Phantastik auswuchert. Die Chanson de geste dagegen ist [...] im Kern historische Wirklichkeit, deren heroischen Kampfesernst kein Rankenwerk der Phantasie ersticken kann.» 1 M. Wehrli spricht von der Chanson de Roland, die hier stellvertretend für das gesamte Genre steht, als einem «großartig wilde[n], kriegerische[n] und doch wieder lyrische[n] und hinreißend gläubige[n] Nationalgedicht». 2 Und nach K. Bertau wendeten ‹archaische› französische Heroik und ‹moderner› Roman sich «zunächst an politisch, dann an soziologisch verschiedene Gruppen. Die Chanson-Epik repräsentiert nationalen Herrschaftsanspruch und wendet sich dann ans nichtritterliche Staatsvolk. Der höfische Roman meint zunächst ein vom französischen abstrahiertes Rittertum, das dann zum Symbol einer übernationalen, ständischen Gemeinsamkeit werden kann.» 3 Es ist kaum zu übersehen, dass diese und ähnliche Charakterisierungen die Heldenepik französischer Provenienz ganz aus dem Blickwinkel der älteren romanistischen Forschung verstehen und deren epistemologischen Prämissen - vor allem natürlich die Rede vom Gegensatzpaar Epos und Roman vor der Folie des Hegel/ Lukács’schen Erklärungsmodells - vollständig teilen. 4 Zugleich über- Rezeption französischer Heldenepik 59 1 Helmut de B oor : Die Höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang 1170-1250, bearbeitet von U. Hennig. München 11 1991 (De Boor, Newald: Geschichte der deutschen Literatur II), S. 110. 2 Max W ehrli: Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 3 1997, S. 199. 3 Karl B ertau : Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, Bd. I. München 1972, S. 240f. 4 So verweist Alois W olf in einem jüngeren Beitrag auf «the radical difference between an Arthurian or a Grail romance and a chanson de geste»; Alois W olf : Rewriting Chansons de geste for a Middle High German public. In: The Medieval Opus. Imitation, rewriting, Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption Rezeption französischer Heldenepik <?page no="70"?> nahmen die germanistischen Beobachter französischer Heroik ganz überwiegend das in der Romanistik lange vorherrschende Interesse an frühen, als besonders archaisch geltenden Texten wie etwa der Chanson de Roland oder auch der Chanson d’Aliscans, die ebenfalls noch als ein Produkt des 12. Jahrhunderts und als einer der ältesten Texte des Wilhelmszyklus gilt. Diese Verengung des Blickwinkels auf einen relativ kleinen Ausschnitt aus dem insgesamt sehr viel breiteren Spektrum der Chanson de geste dürfte wesentlich mit beigetragen haben zur beinahe ausschließlichen Konzentration der Germanistik auf Rolandslied und Willehalm, die sich erst in der letzten Zeit zu ändern beginnt. 5 Wirklich geschätzt wurde lange Zeit nur der Willehalm, mit einigen Einschränkungen gilt das bis heute. Wie eine Auszählung einschlägiger Veröffentlichungen ergab, wurde über den Willehalm in den letzten 15 Jahren mehr gearbeitet als über alle anderen deutschen Chanson de geste-Adaptationen. Begründet werden kann das durch die faszinierend wirkende Autorgestalt Wolframs von Eschenbach sowie durch die schlechterdings nicht zu übersehenden literarischen Qualitäten eines Textes, der - nachdem man lange um ein besseres Verständnis der von Wolfram unvollendet hinterlassenen Chanson de geste-Adaptation gerungen hatte, ohne jedoch einen allgemein anerkannten Konsens zu finden - gerade aufgrund seiner Brüche, Diskontinuitäten und Aporien, seiner Multiperspektivität und ‹Hybridität› mittlerweile als eine Art prä-postmodernes Kunstwerk gilt und so zu einem bevorzugten Objekt nicht nur der Wolfram-Forschung werden konnte. So gut nachvollziehbar die Aufmerksamkeit für den Willehalm auch sein mag, das Missverhältnis zu den Forschungsaktivitäten, die den restlichen deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen gewidmet wurden und werden, bleibt gleichwohl erheblich. Angesichts der großen Beachtung, die der Willehalm seit langem findet, erscheint es beispielsweise erstaunlich, dass Arabel und Rennewart, die als Vor- und 60 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption and transmission in the French Tradition, hg. von Douglas Kelly. Amsterdam, Atlanta 1996 (Faux Titre 116), S. 369-386, hier S. 384; vgl. auch ebd., S. 377: «The chansons de geste however, by their origin, their purpose, and the weight of their poetic genre, resisted any weakening of their traditional simplistic outlook.» 5 Auch die neue und voluminöse Studie von H ennings , Französische Heldenepik, konzentriert sich, ganz traditionell, auf französische Chansons de geste des 12. und (früheren) 13. Jahrhunderts und deren deutsche Bearbeitungen bis etwa 1300. Weder die zahlreichen späteren deutschen Bearbeitungen französischer Heroik noch die gleichfalls ins 13. Jahrhundert zu datierende, aber eindeutig nicht auf eine französische Quelle rückführbare deutsche Umsetzung des aus der Romania stammenden Stoffes in der Arabel, die in beinahe allen Handschriften als ätiologische Vorgeschichte des Willehalm fungiert, geraten auf diese Weise in den Blick. In ähnlicher Weise hatte zuvor bereits K.-E. G eith , der in seiner Habilitationsschrift deutschsprachige literarische Darstellungen Karls des Großen untersuchte und dabei teilweise auch französische Heldenepen heranzog, den Blick vor allem auf das hohe Mittelalter gerichtet; vgl. Karl-Ernst G eith : Carolus Magnus. Studien zur Darstellung Karls des Großen in der deutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts. Bern, München 1977 (Bibliotheca Germanica 19). <?page no="71"?> Nachgeschichte den Wolframschen Text in fast allen mittelalterlichen Handschriften einrahmen, bis vor nicht allzu langer Zeit weit weniger Forschungsaufmerksamkeit zuteil wurde. 6 Dabei sind die Motive für diese Vernachlässigung, wie noch deutlich werden wird, komplex. Die Geschichte der Erforschung bzw. Nicht-Erforschung der deutschen Chanson de geste-Adaptationen kann geradezu als eine Art Paradigma für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen Literatur des Mittelalters überhaupt betrachtet werden. Konzentriert hat sich die Forschung seit dem 19. Jahrhundert in erster Linie auf die Romanliteratur, die den Weg eines (männlichen) Individuums nachzeichnet, das sich gegen alle Widerstände durchzusetzen vermag und damit dem bürgerlichen Lebensentwurf der Neuzeit recht nahe kommt. Die Heldenepik galt dagegen als etwas altertümliches Genre, das Forschungsaufmerksamkeit vor allem deswegen beanspruchen durfte, weil es (scheinbar) tief in die Vergangenheit des eigenen Volkes hineinführte und somit zur nationalen Identitätsstiftung dienlich sein konnte. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nibelungenlied ist exemplarisch für diese Einstellung. Der Rolle der deutschen bzw. germanischen Heldenepik auf Seiten der deutschen Mittelalterphilologie entspricht auf französischer Seite die Chanson de geste und insbesondere die Chanson de Roland, die als Gründungstext der französischen Literatur angesehen wurde und wird und insofern geeignet erschien, die nationale Identität zu befördern. 7 Diese, deutlich durch romantische Theorien des 19. Jahrhunderts geprägte Ideologie bedeutete in der wissenschaftlichen Praxis zugleich, dass Romanistik wie Germanistik sich vor allem auf ihre ‹eigene› Heldenepik konzentrierten. 8 Die germanistische Ver- Rezeption französischer Heldenepik 61 6 B arthel , Empathie, verfolgt unter übergreifenden Fragestellungen zwar diachron den Willehalm-Stoff von Aliscans über Wolframs Willehalm bis zum Buch vom heiligen Wilhelm, Vor- und Nachgeschichte bleiben aber jeweils ausgeblendet. Behandelt wird die Arabel von H öcke und U rban . Eine neuere Monographie zum Rennewart fehlt bislang; Teilaspekte behandeln A derhold , H ensler und H ennings , Französische Heldenepik. 7 Symptomatisch für diese Auffassung ist z. B. das im Januar 1944, also in der Endphase der deutschen Besetzung Frankreichs, erschienene, mithin wohl einige Zeit zuvor verfasste und von der deutschen Zensur offenbar nicht verstandene Vorwort von J. G raff zur französischen Übersetzung des deutschen Rolandslieds, in dem es über den Rolandstoff heißt, dass «tout odorantes de ce parfum de gloire guerrière et littéraire, dont la persistance à travers tant de siècles, reste le réconfortant symbol de la survivance de notre France, malgré tous les désastres de Roncevaux! » In: Le texte de la chanson de Roland, T. 10: Le texte de Conrad, hg. von R. Mortier. Traduction de Jean Graff. Paris 1944, S. XVI. Vgl. zu diesen mittlerweile verabschiedeten Vorstellungen den kritischen Forschungsbericht bei Uta G oerlitz : Literarische Konstruktion (vor)nationaler Identität seit dem Annolied. Analysen und Interpretationen zur deutschen Literatur des Mittelalters (11.-16. Jahrhundert). Berlin, New York 2007 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 45), S. 216-219. 8 Abgesehen von Vergleichen zwischen Einzeltexten (z. B. Chanson de Roland und Rolandslied, Aliscans und Willehalm) fehlen weitgehend Darstellungen, die beide Tradinachlässigung <?page no="72"?> der deutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik erweist sich somit als Kehrseite einer eindeutigen Bevorzugung der deutschen Heldenepik. Neben diesem sicherlich wichtigen Grund sind allerdings noch weitere Ursachen mit verantwortlich für die Marginalisierung der deutschen Chanson de geste-Rezeption. So fügte sich etwa die bereitwillig von der Romanistik übernommene Fixierung auf die Chanson de geste-Adaptationen des 12. und frühen 13. Jahrhunderts exakt in das Schema der auch in der Germanistik lange zu beobachtenden Zentrierung des Forschungsskopus auf Werke der ‹Blütezeit› und das damit einhergehende Desinteresse an Texten des späteren Mittelalters. Nach der Mitte des 13. Jahrhunderts entstandene deutsche Chanson de geste-Bearbeitungen haben deshalb bis heute nur geringe Forschungsaufmerksamkeit erfahren, sind oft erst sehr spät, teilweise sogar noch immer nicht ediert. Weitere Gründe für die germanistische Einengung des Ensembles der deutschen Chanson de geste-Adaptationen treten hinzu. Negativ ausgewirkt hat sich z. B. eine generell zu beobachtende Forschungskonzentration auf mittelhochdeutsche Texte, die vielleicht zu erklären ist mit der reformationsbedingten Durchsetzung des Hochdeutschen als Literatursprache seit dem 16. Jahrhundert. Diese Hegemonie wurde, wahrscheinlich unbewusst, durch Forscher, die ihrerseits oft selbst wieder dem hochdeutschen Sprachraum entstammten, seit den frühesten Tagen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit mittelalterlicher deutscher Literatur auf die entsprechenden Schriftdenkmäler übertragen. Völlig aus dem Blick geriet durch jene Kanonisierung des Hochdeutschen allerdings die reiche literarische Tradition des Kulturraums, den man als die deutschsprachigen Nideren Lande bezeichnen könnte. Gemeint ist damit ein Literaturraum, der das (östliche) niederländische und niederdeutsche Sprachgebiet umfasst und noch zu ergänzen ist um den angrenzenden mittelfränkischen, vor allem ripuarischen Raum sowie Teile des niederdeutsch-ostmitteldeutschen Interferenzgebiets 9 - in etwa also das durch 62 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption tionen im Blick haben. Eine Ausnahme bilden die Arbeiten von Hermann S chneider : Deutsche und französische Heldenepik. In: ZfdPh 51 (1926), S. 200-243; Georges Z ink : Chansons de geste et Épopées allemandes. In: Etudes Germaniques 17 (1962), S. 125- 136; Cola M inis : Französisch-deutsche Literaturberührungen im Mittelalter. In: Romanistisches Jahrbuch 4 (1951), S. 55-123; A. W olf : Heldensage; Joachim B umke : Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter. Ein Überblick. Heidelberg 1967; vgl. neuerdings auch H ennings , Französische Heldenepik. 9 Für die Begründung einer Verwendung dieses Modells vgl. Werner W illiams -K rapp : Literaturlandschaften im späten Mittelalter. In: Niederdeutsches Wort 26 (1986), S. 1-7. Eine Literaturgeschichte jener ‹anderen› deutschen Literaturlandschaft fehlt. Für den Teilbereich der niederdeutschen Literatur vgl. Hartmut B eckers : Mittelniederdeutsche Literatur. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Niederdeutsches Wort 17 (1977), S. 1- 58; 18 (1978), S. 1-47; 19 (1979), S. 1-28; für den Teilbereich des Rhein-Maas-Raumes vgl. Helmut T ervooren (unter Mitarb. v. Carola Kirschner u. Johannes Spicker): Van der Masen tot op den Rijn. Ein Handbuch zur Geschichte der mittelalterlichen Literatur im Raum von Rhein und Maas. Berlin 2006; für den Teilbereich der mittelniederländischen <?page no="73"?> wirtschaftliche und daraus resultierende kulturelle Kontakte eng miteinander verbundene, westeuropäische Verbreitungsgebiet der Hanse. Durch die forschungsgeschichtlich zu begründende Hegemonie der hochdeutschen Literatur wurden auch in den deutschsprachigen Teilen der Nideren Lande entstandene ripuarische, niederdeutsche und mitteldeutsche Chanson de geste-Adaptationen ins Abseits des Spezialistentums gedrängt. Die nicht eben zahlreichen germanistischen Arbeiten, die sich dennoch mit den deutschsprachigen Bearbeitungen französischer Heldenepik beschäftigen, konzentrierten sich lange, was nach den bisherigen Ausführungen kaum erstaunen dürfte, dann auch vielfach auf die bekannte Trias von Rolandslied, Karl und Willehalm. 10 J. Bumke, der, verglichen mit anderen Autoren, noch relativ viele Beispiele für deutsche Bearbeitungen französischer Heroik in seiner Literaturgeschichte des hohen Mittelalters anführt, bringt die Forschungsmeinung auf den Punkt, wenn er zur deutschen Chanson de geste-Rezeption des 12. und des 13. Jahrhunderts notiert: «Kaum ein ‹roman courtois› des 12. Jahrhunderts ist in Deutschland unbeachtet geblieben. Dagegen hatte man hier offenbar nur geringes Interesse für die damals in Frankreich blühende ‹chanson de geste›-Epik. [...] Im ganzen blieb die Ausstrahlungskraft der ‹chanson de geste›-Epik nach Deutschland im 13. Jahrhundert gering.» 11 In den letzten Jahren hat sich diese missliche Situation zwar, wie bereits erwähnt, ein wenig verbessert, indem etwa durch eine verstärkte Beschäftigung mit den lange vernachlässigten spätmittelalterlichen Chanson de geste-Adaptationen bzw. durch deren erstmalige Herausgabe zentrale Werke dieser Gruppe erschlossen und der literaturwissenschaftlichen Erforschung zugänglich gemacht wurden. Und auch in seinen europäischen Bezügen hat die Gruppe der deutschen Chanson de geste-Adaptationen zuletzt etwas intensivere Forschungsaufmerksamkeit finden können. 12 Doch insgesamt bleibt noch manches zu tun. Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich als ein Versuch auf diesem Feld. Rezeption französischer Heldenepik 63 Literatur vgl. Frits van O ostrom : Stemmen op schrift. Geschiedenis van de Nederlandse literatuur vanaf het begin tot 1300. Amsterdam 2006. 10 Vgl. Helmut B rall : Genelun und Willehalm. Aspekte einer Funktionsgeschichte der mittelhochdeutschen Chanson de Geste-Dichtung. In: Literatur und Sprache im historischen Prozeß. Vorträge des Deutschen Germanistentages Aachen 1982, hg. von Th. Cramer, Bd. 1. Tübingen 1983, S. 400-417; Marianne O tt -M eimberg : Kreuzzugsepos oder Staatsroman? Strukturen adeliger Heilsversicherung im deutschen ‹Rolandslied›. München 1980 (MTU 70); dies .: Karl, Roland, Guillaume. In: Epische Stoffe des Mittelalters, hg. von Volker Mertens, Ulrich Müller. Stuttgart 1984 (Kröners Taschenausgabe 483), S. 81-110; A. W olf , Rewriting. 11 Joachim B umke : Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. München 1990, S. 134 u. 255. 12 Vgl. vor allem den Band: Chanson de geste im europäischen Kontext. Ergebnisse der Tagung der Deutschen Sektion der ICLS am 23. und 24. 4. 2004 in Köln. Hg. von Hans- Joachim Ziegeler. Göttingen 2008 (Encomia Deutsch 1) sowie die bereits erwähnten Arbeiten von H ensler und H ennings . <?page no="74"?> A.2.1 Besetzt! - oder: keine höfische Kultur - Zur unterbliebenen Chanson de geste-Rezeption in Deutschland In seiner vor gut vierzig Jahren (1967) erschienenen, bis heute noch nicht überholten Grundlagenarbeit zu den ‹romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter› benennt J. Bumke ebenso konzis wie präzise die seiner Meinung nach wichtigsten formalen wie thematischen Ursachen für die verhaltene deutsche Chanson de geste-Rezeption: Den Reckengestalten der fränkischen Sage fehlte die feine höfische Lebenskultur, die man in der Dichtung gespiegelt finden wollte, und das nationale Pathos blieb in Deutschland ohne Echo. Hemmend wirkte auch die Form: die assonierenden Zehnsilblerverse und die harte, blockartige Fügung der Laissen stellten die deutschen Bearbeiter, die sich der vierhebigen Reimpaare bedienen mußten, vor große Schwierigkeiten. 13 Im Kontext eines Vergleichs zwischen deutscher und französischer Heroik, den er in seinen Ausführungen zur ‹Mittelhochdeutschen Dietrichepik› anstellte, hat J. Heinzle schon vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass von den durch Bumke aufgeführten Rezeptionshindernissen «die inhaltlichen höher zu bewerten sind als die formalen», da den deutschen Bearbeitern französischer Epen theoretisch «außer dem vierhebigen Reimpaarvers [...] auch Strophenformen, vor allem der leicht zu handhabende quasi-stichische Hildebrandston, zur Verfügung» gestanden hätten. 14 Heinzles Verweis auf epische Strophenformen, mittels derer die Umsetzung französischer Heroik in deutsche Sprache ohne allzu große Schwierigkeiten zu bewerkstelligen gewesen wäre, ist zweifellos berechtigt. Durch seinen Einwand lenkt er zudem die Aufmerksamkeit auf das Faktum, dass sämtliche deutsche Chanson de geste-Bearbeitungen (bis auf die spätmittelalterlichen Prosaauflösungen) in Reimpaaren, und damit gerade nicht in jener strophischen Form abgefasst sind, die die deutsche Heldenepik, angefangen von althochdeutschen Zeugnissen bis zum Nibelungenlied und großen Teilen der Dietrichepik, als formales Analogon der romanischen Heroik erscheinen lässt, die in weiten Teilen bekanntlich eine ebenfalls spezifische ‹strophische› Form, die sogenannten Laissen, aufweist. Der in den deutschen Chanson de geste-Adaptationen konstatierbare, augenscheinlich sehr bewusste Verzicht auf die in den französischen Epen übliche Form kann somit als Indiz dafür genommen werden, dass im deutschen Kultur- und Literaturbereich die französischen Chansons nicht unbedingt als Heldendichtung aufgefasst wurden. Auch gegen einen anderen der von Bumke angeführten Aspekte lassen sich Bedenken anmelden. Bei der Erwähnung des «nationale[n] Pathos», das charakteristisch für die französische Heldenepik sein und deren deutsche Rezeption erschwert haben soll, hatte Bumke wohl die in der Germanistik seit jeher 64 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 13 J. B umke , Literaturbeziehungen, S. 25. 14 J. H einzle , Dietrichepik, S. 156 und ebd. Anm. 38. <?page no="75"?> stark beachtete Chanson de Roland in der Oxforder Fassung im Sinn, in der tatsächlich die redundante Hervorhebung der dolce France ein dem Text implantiertes ‹Nationalbewusstsein› nahezulegen scheint. Von der Forschung des 19. und des früheren 20. Jahrhunderts wurde ein solches Faktum dann auch stets mit Begeisterung konstatiert und entsprechend publik gemacht. 15 Dabei kann man sich allerdings fragen, ob das seit dem 19. Jahrhundert in den westlichen Staaten sich entwickelnde Nationalbewusstsein, das eng an die Entwicklung der Massenkommunikationsmittel geknüpft ist, ohne Weiteres auf mittelalterliche Epik übertragen werden darf, wie dies lange Zeit versucht wurde, indem man etwa die Chanson de Roland für Frankreich oder das Nibelungenlied für Deutschland in den Rang eines Nationalepos erhob. 16 Ein anderes wichtiges Argument kommt hinzu. Wie in beinahe jeder Hinsicht, ist die Oxforder Chanson de Roland auch mit Blick auf die (scheinbare) nationale Emphase eine Ausnahme, die nicht zur Norm für das gesamte Genre erhoben werden sollte. 17 Zwar wird die dolce France ebenfalls in anderen (frühen) Chansons herausgestellt, so etwa im Couronnement de Louis, wo im Prolog behauptet wird, dass Gott, als er 99 Königreiche erschuf, das Allerbeste an die dolce France gewandt habe und dass er kein Land erschaffen habe, das nicht von ihr abhinge. 18 Diese Nennungen sind aber bei weitem nicht so dicht gestreut wie in der Oxforder Chanson de Roland, in der die Wendung dolce France, France dulce etc. über die gesamten ca. 4000 Verse verteilt insgesamt 25 Mal begegnet (das entspricht 0,63% der Verse). Spätere Chanson de Roland-Fassungen verwenden den emphatischen Terminus, bezogen auf die Textlänge, nicht so intensiv wie die Oxforder Fassung. So begegnet er etwa in den ca. 8400 Versen der aus dem späten 13. Jahrhundert stammenden Fassungen V 7 und Châteauroux, die weitgehend identisch sind, da sie auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen, 37 Mal (das entspricht 0,44% der Verse); in den 6010 Versen der aus dem 14. Jahrhundert stammenden Fassung V 4 begegnet er 25 Mal (0,42%); in den ca. 6830 Versen der Pariser Chanson de Roland-Fassung (zweite Hälfte 13. Jahrhundert) 23 Mal (0,34%) und in den etwa 5700 Versen der späten Cambridger Fassung (erste Hälfte 15. Jahrhundert) lediglich 13 Mal (0,23%). Die im späten 13., frühen 14. Jahrhundert entstandene Kurzfassung der Chanson de Roland in der Lyoner Handschrift schließ- Rezeption französischer Heldenepik 65 15 Vgl. dazu T aylor , Song. 16 Vgl. dazu G oerlitz , S. 3f. (mit weiterführender Literatur). 17 Vgl. für die Einzelbelege Bernd S chneidmüller : Nomen Patriae. Die Entstehung Frankreichs in der politisch-geographischen Terminologie (10.-13. Jahrhundert). Sigmaringen 1987 (Nationes 7), S. 195, Anm. 11. Zur Problematisierung des fälschlich als national gedeuteten Terminus «douce/ doulce/ dolce France» vgl. Andreas B omba : Chansons de geste und französisches Nationalbewußtsein im Mittelalter. Stuttgart 1987 (Text und Kontext 5) S. 266-268 und G oerlitz , S. 222f. 18 Couronnement 12f., 16: Quant Deus eslut nonante et nuef reiames,/ Tot le meillor torna en dolce France./ [...] Deus ne fist terre qui envers lui n’apende. Die dolce France wird in der gleichen Chanson ebenfalls erwähnt in den Versen 1418 und 1425. <?page no="76"?> lich enthält in 2932 Versen 4 Mal douce France (0,14%). 19 In vielen anderen Chansons de geste wird die dulce France sogar niemals erwähnt, das «nationale Pathos» spielt dort überhaupt keine Rolle. Merkwürdigerweise ist damit also ausgerechnet der am stärksten mit «nationale[m] Pathos» aufgeladene Text der gesamten französischen Heldenepik (bzw. eine vergleichbare Fassung) als Vorlage einer deutschen Bearbeitung ausgewählt worden. Fragen ergeben sich auch mit Blick auf das dritte und stärkste der von Bumke angeführten Argumente für die sehr verhaltene deutsche Rezeption der französischen Heroik. Wenn er die mangelnde «feine höfische Lebenskultur» der «Reckengestalten der fränkischen Sage» als Grund dafür angibt, wobei er wohl in erster Linie an französische Epen wie die Chanson de Roland oder die Chanson de Guillaume bzw. deren zyklische Überarbeitung, die Chanson d’Aliscans gedacht haben dürfte, argumentiert er augenscheinlich mit den bereits mehrfach erwähnten Kategorien von ‹archaischer› Epik und ‹modernem› höfischen Roman. Abgesehen von der Diskussionswürdigkeit eines Verständnisses, das die moderne Hochschätzung des ‹fortschrittlichen›, ‹zivilisierten› höfischen Romans, der umgekehrt proportional eine Abwertung der ‹antiquierten› Epentexte entspricht, gleichfalls einem mittelalterlichen Publikum unterstellt, ist einer solchen Auffassung entgegenzuhalten, dass an der Wende des 12. zum 13. Jahrhundert bereits eine Anzahl französischer Chansons existierte, in denen courtoisen Umgangsformen, z. B. in der Darstellung eines Liebesverhältnisses zwischen einem christlichen Helden und einer Sarazenin, durchaus Platz eingeräumt wird (z. B. in der Chanson d’Aspremont, in Fierabras, im Girart de Roussillon oder, allerdings etwas später, in Huon de Bordeaux und dessen Fortsetzungen). Diese oder ähnliche Texte stießen in Deutschland aber ganz offenkundig auf kein Interesse; ins Deutsche übertragen wurden statt dessen Epen wie die Chanson de Roland oder die Chanson d’Aliscans, in denen, um mit Bumke zu reden, in der Tat vergleichsweise unhöfische «Reckengestalten» agieren. Gerade die Bearbeitungen dieser Texte wurden, in Gestalt des Willehalm und des Rolandslieds bzw. des Karl, jedoch zu einem enormen Erfolg. Das verlangt nach einer Erklärung, die in einem Mangel an «feine[r] höfische[r] Lebenskultur» nicht unbedingt gefunden werden kann. Angesichts einer tendenziellen Abwertung der französischen Heroik durch die germanistische Mediävistik, die sich wie ein roter Faden lange durch die gesamte Forschungsgeschichte zog, und der damit oft kontrastierenden positiven Beurteilung der deutschen Chanson de geste-Adaptationen, kann man sich fragen, ob die französische Heldenepik vielleicht in dieser Form dargestellt wurde, damit die deutschen Bearbeitungen sich um so heller von ihr abheben konnten. Schon B. Mergell hatte in seinen vergleichenden Betrachtungen zu Willehalm und Aliscans in diesem Sinne argumentiert, wenn er 66 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 19 Basis für die Auszählung waren jeweils die Registereinträge in der alle bekannten Chanson de Roland-Fassungen enthaltenden neuen Ausgabe: The Song of Roland. The French Corpus, hg. von Joseph J. Duggan. <?page no="77"?> zwischen dem «romanischen Formwillen», der für die französische Chanson- Dichtung charakteristisch sei, und dem «gotischen Formwillen» unterscheidet, der Wolframs Bearbeitung kennzeichne. 20 Indirekt zielt diese Einschätzung, die die frühmittelalterliche Romanik und die hochmittelalterliche Gotik vordergründig als chronologisches Ordnungskriterium, implizit aber natürlich auch als ästhetisches Wertungskriterium nutzt, wohl auf die bekannte Differenzierung zwischen frühmittelalterlich-epischer und der diese ablösenden hochmittelalterlich-romanhafter Literatur. Sehr viel direkter hat sich einige Jahrzehnte später W. Schröder zum Unterschied zwischen der französischen Chanson d’Aliscans und Wolframs Adaptation des Aliscans-Epos geäußert. Er legt sich in der umstrittenen Frage der Gattung des Wolframschen Textes eindeutig fest: Für ihn ist der Willehalm - wie er schon in der Überschrift verdeutlicht - «Der tragische Roman von Willehalm und Gyburg». 21 Ebenso ist die Arabel, die Wolframs Chanson de geste-Bearbeitung in den meisten Handschriften vorangestellte Vorgeschichte, für Schröder ein Minneroman. 22 Als Roman ist an anderer Stelle ebenfalls das Rolandslied in durchaus wertender Absicht charakterisiert worden, da es in Stil und Struktur fortschrittlicher als die französische Chanson de Roland sei. 23 Und schließlich wurde, um die Trias der im Bewusstsein der Forschung präsenten deutschen Chanson de geste- Bearbeitungen zu komplettieren, ebenso Strickers Karl die Ehre zuteil, «als höfischer Roman» bezeichnet und solcherart in den Kreis der literarischen Werke aufgenommen zu werden, mit denen eine wissenschaftliche Auseinandersetzung sich aufgrund ihrer höher entwickelten Form und Stilistik vermeintlich eher lohnt. 24 Das Prinzip dürfte deutlich geworden sein: Um die Beschäftigung mit deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen rechtfertigen zu können, empfand man es zum Teil offenbar als notwendig, die Texte vom Ruch der Archaik und einer damit einhergehenden Primitivität zu befreien, die ihnen von ihrem französischen Ursprung her anzuhaften scheinen. Das Interesse von Romanistik und Germanistik an französischer Heldenepik könnte damit unterschiedlicher kaum sein. Während aus germanistischer Perspektive Rezeption französischer Heldenepik 67 20 Bodo M ergell : Wolfram von Eschenbach und seine französischen Quellen. I. Teil. Wolframs Willehalm. Münster 1936 (Forschungen zur deutschen Sprache und Dichtung 6), S. 9 passim. 21 Werner S chröder : Der tragische Roman von Willehalm und Gyburg. Zur Gattungsbestimmung des Spätwerks Wolframs von Eschenbach. Wiesbaden 1979 (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, 1979, 5). 22 Vgl. Werner S chröder: Art. Ulrich von dem Türlin. In: VL 2 10 (1999), Sp. 39-50, hier Sp. 48. 23 Vgl. Danielle B uschinger : Le Curé Konrad, adapteur de la «Chanson de Roland». In: CCM 26 (1983), S. 95-115. 24 Elke U kena -B est : «Du solt ouch hin ze Spanje varn: got wil dich dâ mit êren.» Providentia Dei, Herrschertum und poetische Konzeption im ‹Karl› des Stricker mit Blick auf das althochdeutsche ‹Ludwigslied›. In: Leuvense Bijdragen 89 (2000), S. 327-362, hier S. 327 und ebd. Anm. 1. <?page no="78"?> die, zuweilen eher unterstellten als überzeugend nachgewiesenen, romanhaften Momente der deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen besondere Aufmerksamkeit fanden, wurden von der Romanistik romanhafte Züge lange Zeit als Verfälschungen der ‹ursprünglichen› Epik angesehen und, falls denn solche Elemente überhaupt nicht mehr wegzudiskutieren waren, entsprechend ‹zersetzte› Texte nicht behandelt, da sie dem Verständnis von ‹unverfälschter› Epik zuwiderliefen, die in Frankreich nicht zuletzt als Zeugnis der nationalen Geschichte interessierte. Als Monument der ‹nationalen› Geschichte taugte die Chanson de geste für die deutsche Forschung allerdings in keiner Weise. 25 Diese Funktion kam aus deutscher Perspektive selbstverständlich der germanischen Heldenepik zu. 26 Bezeichnenderweise ist auch diese neuzeitliche Sichtweise auf die mittelalterlichen Texte der französischen und deutschen Heldenepik zurückgespiegelt worden. Die bereits diskutierte These vom «nationalen Pathos» der Chanson de geste, das eine deutsche Rezeption erschwert habe, zielte schon ein wenig in jene Richtung. Andere Forschungsmeinungen werden weitaus deutlicher. Verbreitet war, und ist zum Teil noch, die Ansicht, im germanisch-deutschen Kulturraum hätten «die karolingisch-heldenepischen Stoffe [...] keine Stütze in der einheimischen mündlichen Überlieferung» gefunden, denn «dieser Platz war besetzt von heldenepischen Stoffen und Traditionen anderer Art, wie das Nibelungenlied zeigt.» 27 Mit diesen Worten fasste A. Wolf eine gängige Begründung für die im Hochmittelalter ausgebliebene deutsche Rezeption französischer Heldenepik prägnant und - mit Blick auf das ‹epische Substrat› - in der Sache nicht verkehrt zusammen. Problematisch bleibt an seiner Annahme freilich, dass auf der Ebene mündlich verbreiteter, noch nicht schriftlich fixierter Heldenepen operiert werden muss, über deren Aussehen und Existenz wir nur höchst lückenhafte Kenntnisse haben. Allen Erklärungsversuchen haftet daher ein hochspekulatives Moment an. Wie unterschiedlich, damit letztlich aber auch beliebig, die Argumentation in Bezug auf die noch nicht schriftlich fixierten Vorstufen der späteren Buchepen verlaufen kann, demonstriert die Theorie des französischen Historikers R. Folz, der analog zu A. Wolf mit mündlicher Heldendichtung argumentiert. Hinsichtlich der wenig ausgeprägten Chanson de geste-Rezeption in der deutschen Literatur des Mittelalters vertritt er gleichwohl eine andere Hypothese. Folz geht in seiner ebenso materialwie kenntnisreichen und nach wie vor unverzichtbaren Studie über ‹Le 68 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 25 Abgesehen von frühen Arbeiten, die davon ausgingen, dass deutsche und französische Heroik insgesamt ‹germanisch› geprägt sei, da die Ursprünge beider in gemeinsamer, fränkischer Zeit lägen; so auch G. P aris . Nicht zuletzt dagegen hatte J. B édier sich mit seinen Untersuchungen und Thesen eines im 11./ 12. Jh. liegenden und somit genuin ‹französischen› Ursprungs der Chanson de geste gewehrt. 26 Vgl. dazu die überzeugende Kritik von G oerlitz , S. 233-246. 27 Alois W olf : Deutsche Kultur im Hochmittelalter 1150-1250. Essen 1986 (Handbuch der Kulturgeschichte, Erste Abteilung: Zeitalter deutscher Kultur), S. 376; vgl. auch ders .: Rewriting. <?page no="79"?> Souvenir et la Légende de Charlemagne dans l’Empire Germanique Médiéval› davon aus, dass seit dem 9. Jahrhundert innerhalb des deutschsprachigen Kulturbereichs ‹im Volk› eigene Erinnerungen an die karolingische Epoche und insbesondere an den großen Frankenkaiser lebendig geblieben seien; Spuren davon hätten sich nach Folz etwa in Lokalsagen oder auch im Karlteil der Kaiserchronik niedergeschlagen. Gerade die Existenz dieser alten, ostfränkisch geprägten Erinnerungskultur um den ersten Frankenkaiser hätte jedoch im Hoch- und Spätmittelalter eine produktive Auseinandersetzung mit dem genuin westfränkisch-romanischen Erzählmaterial über Charlemagne verhindert. 28 Die deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen geben indes recht deutlich zu erkennen, dass die uns überlieferten Umformungen der französischen Heldenepik nicht auf mündliche, sondern auf schriftliche Vorlagen zurückgehen. 29 So ist beispielsweise, wenn in deutschen Chanson de geste-Adaptationen Quellen angegeben werden, fast immer von Büchern, und nicht von Erzählungen die Rede, die aus dem Französischen in die eigene Sprache übertragen worden seien. Im Epilog des Rolandslieds heißt es etwa über die von Herzog Heinrich beschaffte Vorlage: daz b v ch hiz er uor tragen,/ gescriben ze den Karlingen (RL 9022f.). Und wenig später behauptet der Erzähler: also iz an dem b v che gescribin stat/ in franczischer zungen,/ so han ich iz in die latine bedwngin (RL 9080-9082). 30 Wenn im Prolog des Willehalm zu lesen ist, lantgrâve von Düringen Herman/ tet mir diz maere von im bekant (Wh 3,8f.), so dürfte sich maere wohl ebenfalls auf eine schriftliche Quelle beziehen. 31 Im Rennewart schließlich versichert der Erzähler, er habe sein Werk nur fortführen können, weil Otte der Bogenaere uns ein welshes b v ch gewan/ und daz her Rezeption französischer Heldenepik 69 28 Vgl. Robert F olz : Le souvenir et la légende de Charlemagne dans l’empire germanique médiéval. Paris 1950; ders .: Charlemagne en Allemagne. In: Charlemagne et l’Épopée Romane, Bd. 1. Paris 1978, S. 77-101. 29 Zur schriftlichen Vermittlung der deutschen Chanson de geste-Adaptationen und deren Voraussetzungen vgl. J. W olf , Traditionslinien. 30 Vgl. zur Vorlagenberufung des Rolandslieds Klaus G rubmüller : Das buoch und die Wahrheit. Anmerkungen zu den Quellenberufungen im Rolandslied und in der Epik des 12. Jahrhunderts. In: ‹bickelwort› und ‹wildiu maere›. Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag, hg. von Dorothee Lindemann u. a. Göppingen 1995 (GAG 618), S. 37-50; vgl. auch Stefanie S chmitt : Inszenierung von Glaubwürdigkeit. Studien zur Beglaubigung im späthöfischen und frühneuzeitlichen Roman. Tübingen 2005 (MTU 129), S. 23-28; zu den «Formeln der Schriftlichkeit» im Rolandslied vgl. ebenfalls Ulrich E rnst : Facetten mittelalterlicher Schriftkultur. Fiktion und Illustration, Wissen und Wahrnehmung. Heidelberg 2006 (Beihefte zum Euphorion 51), S. 12 und S. 152f. 31 Vgl. H einzle s Kommentar zum Lemma diz maere: «Gemeint ist der (in Form der französischen Quelle, also schriftlich) vermittelte Stoff der Erzählung [...].» In: Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar, hg. von Joachim Heinzle. Mit den Miniaturen aus der Wolfenbütteler Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothea Diemer, Frankfurt/ M. 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker 69; Bibliothek des Mittelalters 9), S. 823. <?page no="80"?> zu lande brachte. (Rw 10270f.). 32 Angesichts solcher, ganz auf die legitimatorische Autorität schriftlicher Vorlagen setzender, Quellenberufungen 33 scheint es fraglich, ob dem deutschen Publikum die z. B. hinter dem Rolandslied, Willehalm oder Rennewart stehenden französischen Chansons de geste überhaupt als Heldendichtung, als konstitutiv mit Mündlichkeit verbundene Sagen im traditionellen Sinn (oder sollte man besser formulieren: im Sinne der traditionellen Sagenforschung? ), 34 erschienen sein mögen, oder ob sie nicht eher als spezifische Ausprägungen einer schriftliterarischen Gattung verstanden wurden, wie sie z. B. auch der Antikenroman als eine gleichfalls auf die Vorzeit bezogene Textgruppe darstellte. Im letzteren Fall aber hätte die französische Chanson de geste keinerlei ‹Konkurrenz› für die um 1200 noch weitgehend orale, erst langsam in den Prozess der Verschriftlichung eintretende Erzähltradition der deutschen Heldenepik bedeutet. A.2.2 Die Textgruppe deutscher Chanson de geste-Bearbeitungen Fast wie ein Ausgleich für die Ausblendung einer ganzen Anzahl deutschsprachiger Chanson de geste-Bearbeitungen wirkt es, wenn statt dessen neue deutsche Chansons de geste kreiert werden. Es handelt sich dabei zum einen um die dezidiert als ‹deutsche Chansons de geste› bezeichneten Texte über Graf Rudolf, König Rother und Herzog Ernst, also Werke, die früher als sogenannte Spielmannsepen charakterisiert wurden. Zum anderen wurden bestimmte Partien bzw. Szenen der deutschen Heldenepik mit deren Beeinflussung durch französische Chansons de geste erklärt. Was dazu geführt hat, Graf Rudolf, König Rother und Herzog Ernst als deutsche Chansons de geste zu charakterisieren und für das Nibelungenlied sowie für verschiedene Dietrichepen mit Einflüssen französischer Heldenepik zu rechnen, sind jeweils bestimmte Handlungs- und Motivanalogien, die die deutschen Texte mit den französischen Heldenepen teilen. 35 So gilt als schlagender Beweis für eine Beeinflussung des 70 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 32 Noch mehrmals wird im weiteren Verlauf der Erzählung auf (französische) Bücher als Quelle des Rennewart Bezug genommen: vgl. etwa Rw 27798-27807 (wenn dort der Autor des angeblich als Vorlage dienenden Buchs als ein meister [...] von Sante Dyonisen bezeichnet wird, demonstriert das zugleich die Belesenheit Ulrichs von Türheim in der französischen Heroik, in der häufig St. Denis als fiktiver Herkunftsort der Erzählung dient); vgl. auch Rw 27822-27829; 30884; 31404; 33094f. 33 Es ist bezeichnend, dass die deutschen Adaptationen der Chansons de geste das für französische Texte charakteristische Schwanken zwischen Authentizitätssignalen, die auf mündliche wie auf schriftliche Quellen referieren (vgl. Kap. A.1), in ihren Prologen nicht übernehmen. In der verschriftlichten deutschen Heldenepik finden sich entsprechende Signale hingegen sehr wohl, vgl. etwa den Prolog zu Wolfdietrich D. 34 Zur forschungsgeschichtlichen Problematik des Sagenbegriffs vgl. Klaus G raf : Art. Sage. In: LexMa 7 (1999), Sp. 1254-1257. 35 Vgl. etwa Hermann S chneider , Deutsche und französische Heldenepik, S. 207: «Die deutsche und die französische Heldenepik ist zusammengehalten durch eine ausnehmend weit und ins Einzelne gehende Motivgemeinschaft. Von einem bewußten und <?page no="81"?> Herzog Ernst durch die Chanson de geste Girart de Roussillon etwa das in beiden Texten begegnende Motiv der Vertreibung eines kaiserlichen Widersachers und die in beiden Texten identisch geschilderte Szene, in der Kaiser und Rebell sich wieder miteinander aussöhnen: Sowohl im Herzog Ernst als auch im Girart de Roussillon findet diese Versöhnung an einem hohen Kirchenfest in einer Stadt statt, in der der Herrscher die Feierlichkeiten begehen will. Die versöhnungsbereiten Empörer wenden sich jeweils an die Frau des Kaisers, die ihre Hilfe verspricht; die Kaiserin gewinnt Vertraute aus ihrer Umgebung als Vermittler; der Kaiser willigt schließlich, nachdem der Bittsteller sich vor ihm erniedrigt und sein Bedauern über das begangene Unrecht ausgedrückt hat, in die Aussöhnung ein. Sobald der Kaiser der Versöhnung zugestimmt hat, ist seine erste Reaktion Bedauern über die Gewährung. 36 Was die in Girart de Roussillon und Herzog Ernst identisch dargestellte Versöhnungsszene bezeugt, ist freilich keine genetische Abhängigkeit des deutschen Textes vom französischen, sondern ein Rückgriff beider auf das verbreitete, einer festgelegten Choreographie folgende Versöhnungsritual der deditio, wie es lateinische historiographische Quellen immer wieder schildern. 37 Aus ihnen haben beide Autoren geschöpft, mit einiger Wahrscheinlichkeit unabhängig voneinander. Die in beiden Texten geschilderte Exilierung eines kaiserlichen Widersachers ist hingegen ein zu verbreitetes Erzählmotiv, um beweiskräftig eine Entlehnung bezeugen zu können. 38 Rezeption französischer Heldenepik 71 individuellen Nehmen und geben ist dabei nicht mehr die Rede»; vgl. auch Friedrich P anzer : Studien zum Nibelungenliede. Frankfurt/ M. 1945 und Alois W olf : Nibelungenlied - Chanson de geste - höfischer Roman. Zur Problematik der Verschriftlichung der deutschen Nibelungensagen. In: ders.: Erzählkunst des Mittelalters. Komparatistische Arbeiten zur französischen und deutschen Literatur, hg. von Martina Backes u. a. Tübingen 1999, S. 57-86. Zur Kritik an dieser Auffassung vgl. die in Anm. 41 dieses Kapitels genannten Arbeiten; eine kritische Sichtung einiger Motive auch bei H ennings , Französische Heldenepik, S. 166-171 (Graf Rudolf) und S. 511-516 (Herzog Ernst). 36 Mit dieser Argumentation glaubt Georges Z ink : «Herzog Ernst» et chansons de geste. In: Études Germaniques 32 (1977), S. 108-118, hier S. 113f. eine enge, genetische Verbindung zwischen Girart de Roussillon und Herzog Ernst belegen zu können. Vgl. zu ähnlich allgemeinen Entlehnungen aus der französischen Literatur auch Otto E ngelhardt : Huon de Bordeaux und Herzog Ernst. Diss. Tübingen 1903; Max W etter : Quellen und Werk des Ernstdichters, 1. Teil: Deutsche Geschichte und westfränkische Achtermäre. Würzburg 1941 (Bonner Beiträge zur deutschen Philologie 12); Gertrud B önsel : Studien zur Vorgeschichte der Dichtung von Herzog Ernst. Diss. (masch.) Tübingen 1943. 37 Vgl. dazu Gerd A lthoff : Das Privileg der deditio. Formen gütlicher Konfliktbeilegung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft. In: ders .: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997, S. 99-125. 38 Es kommt hinzu, dass in beiden Texten die Exilphase ganz unterschiedlich dargestellt ist: Im Girart de Roussillon flieht der Empörer samt seiner Frau in die Ardennen und verdingt sich dort als Köhler, während im Herzog Ernst der Renegat mit einem Vertrauten Richtung Orient zieht und dort fantastische Abenteuer erlebt. Ob der Orientteil des Herzog Ernst, den ebenfalls lateinische Fassungen des Textes überliefern, als Vorlage für den Autor der Chanson de geste Esclarmonde gedient hat, wie Z ink - im Rückgriff auf <?page no="82"?> Von gleicher Art sind die Motive, die D. Buschinger als Beleg für eine Abhängigkeit des König Rother von französischer Heldenepik anführt. Sie nennt als Indizien eine hier wie dort nachweisbare handlungsauslösende Liebe des Protagonisten zu einer ihm persönlich unbekannten, weit entfernt wohnenden Prinzessin; die Ansiedlung des Erzählgeschehens im Mittelmeerraum und in Byzanz; das Motiv der abschließenden Weltabkehr des Protagonisten durch den Eintritt ins Kloster; den Auftritt eines Riesen mit einer Stange und schließlich die Tatsache, dass Rother als Vorfahr Karls des Großen bezeichnet wird. 39 Auf den letztgenannten Punkt wird etwas später zurückzukommen sein, für alle anderen lässt sich generell sagen, dass sie als weit verbreitete, in den unterschiedlichsten Genres und Kontexten begegnende Motive der europäischen Erzählliteratur zum Beweis einer Abhängigkeit des Rother von der französischen Chanson de geste nicht ernsthaft herangezogen werden können. Eher allgemein sind gleichfalls jene Motive, die H. Fromm als Beleg für eine Verwandtschaft zwischen dem Graf Rudolf und französischer Heldenepik ins Feld führt: die List, die in einer belagerten Burg erlittenen Verluste durch als Männer verkleidete Frauen zu verschleiern (im Graf Rudolf auf heidnischer, in der Chanson de Guillaume auf christlicher Seite angewandt); die angesichts einer tödlichen Gefahr aus Rücksicht auf den schlafenden Freund (im Graf Rudolf) oder aus Stolz (in der Chanson de Roland) unterlassene Bitte um Hilfe; das im Graf Rudolf wie in den französischen ‹Vasallenchansons› thematisierte Verhältnis zwischen Vasall und Herrscher, «mit dem das Schicksal des Staatswesens entschieden wird.» 40 Wie bei den vermeintlichen Motivparallelen, durch die für König Rother und Herzog Ernst Entlehnungen aus der Chanson de geste-Literatur nachgewiesen werden sollen, sind auch hier die fraglichen Ähnlichkeiten von eher unspezifischem Charakter. Eventuelle Interdependenzen zwischen den einzelnen Literaturen sind zwar denkbar, aber keineswegs zwingend, denn entsprechende Szenen und Motive können leicht unabhängig voneinander entwickelt worden sein. 41 Über- 72 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption E. K lauber : Charakteristik und Quellen des altfranzösischen Gedichts Esclarmonde. Diss. Göttingen 1914 - annimmt, bliebe zu untersuchen. Denkbar sind auch hier unabhängige Rückgriffe auf bekannte Erzählmotive wie etwa Schiffbruch am Magnetberg, Entführung durch einen riesenhaften Greif, Fahrt auf einem geheimnisvollen unterirdischen Fluss usw. 39 Vgl. Danielle B uschinger : Les Relations entre épopée française et épopée germanique. Essai de position des problèmes. In: Au carrefour des routes d’Europe: La Chanson de geste, Tome I. Aix-en-Provence 1987, S. 77-101, hier S. 80f. Vgl. zu ähnlich allgemeinen Motiventlehnungen auch Friedrich P anzer : Die nationale Epik Deutschlands und Frankreichs in ihrem geschichtlichen Zusammenhang. In: ZfdB 14 (1938), S. 249-265; Theodor F rings : Raoul de Cambrai und die deutsche Heldendichtung. In: Romanica. FS für Fritz Neubert. Berlin 1948, S. 109-116. 40 Vgl. Hans F romm : Der Graf Rudolf. In: PBB 119 (1997), S. 214-234, hier S. 224f. 41 Vgl. H einzle , Dietrichepik, S. 152-156; vgl. auch Joachim H einzle : Rez. zu A. Wolf, Heldensage und Epos. In: PBB 118 (1996), S. 293-305, und M üller , Spielregeln, S. 35-38. Ähnlich unspezifisch und wenig beweiskräftig sind auch jene Motivanalogien, <?page no="83"?> dies bleiben alle Theorien, ähnlich wie im Fall der angeblich für die unterbliebene Rezeption der Chanson de geste verantwortlichen deutschen Heldenepik, hier notwendig unsicher, da entsprechende Übernahmen bereits auf der Stufe der Oralität stattgefunden haben müssten. Auch ein Motiv wie die religiöse und militärische Auseinandersetzung zwischen Christen und feindlichen Andersgläubigen, das im Horizont der Zeit zwischen dem 11./ 12. und 15./ 16. Jahrhundert natürlich stets präsent war, wie etwa unzählige Kreuzzugsaufrufe, aber auch zahllose Reiseberichte demonstrieren, und das im Herzog Ernst, im König Rother und im Graf Rudolf ebenso wie in vielen Chansons de geste, insbesondere in Texten des Typs A, eine (mehr oder minder wichtige) Rolle spielt, ist lediglich vordergründig ein die französische Heldenepik, Herzog Ernst, König Rother und Graf Rudolf verbindendes und von anderen Heldenepen unterscheidendes Charakteristikum. In Wirklichkeit ist die christlich-heidnische Auseinandersetzung nichts anderes als die für literarische Texte aller Kulturen und Epochen stets interessante Schilderung der Friktionen zwischen dem Eigenen und dem, wie auch immer gearteten, Fremden. Entsprechende Beschreibungen können zudem aus lateinischen Texten übernommen oder unabhängig voneinander entwickelt worden sein. Als distinktes Klassifikationskriterium, durch das die Chanson de geste von anderen Typen der Heldenepik zu unterscheiden wäre, ist das Kriterium also wenig geeignet - zumal die französische Heldenepik, wie in Kapitel A.1 beschrieben, auch noch andere Typen umfasst als den vom Kampf zwischen Christen und Heiden geprägten Typus. Als trennscharfes Klassifikationskriterium zur Beschreibung der Gattung Chanson de geste bietet sich statt dessen die induktiv aus den Texten selbst gewonnene Kategorie des Erzählstoffs an, der gekennzeichnet ist durch Figuren, Geographie und Chronologie. 42 Bevor mit der näheren Untersuchung der deutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik begonnen wird, scheint es deshalb nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Textensembles, die als deutsche Chanson de geste-Dichtung bezeichnet worden sind, notwendig zu beschreiben, was im Folgenden allgemein unter jenem Erzählregister verstanden wird und welche Texte dieser Beschreibung zufolge die Gruppe der deutschen Chanson de geste-Adaptationen formen: 43 Rezeption französischer Heldenepik 73 die John C ilfton- E verest : Wolframs Parzival und die chanson de geste. In: «Ir sult sprechen willekomen». Grenzenlose Mediävistik. FS für Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag, hg. von Christa Tuczay u. a. Bern usw. 1998, S. 693-713, als Beleg für eine Beeinflussung des Parzival durch französische Heldenepen anführt. Überzeugender hier die strukturalistisch argumentierende Studie von Herbert K olb : Chanson-de-geste-Stil im ‹Parzival›. In: WS 3 (1975), S. 189-216; vgl. zu möglichen Chanson de geste-Motiven im Parzival auch H ennings , Französische Heldenepik, S. 171-177. 42 Vgl. zu diesen Kategorien T rachsler, Genres. 43 Die bei H ennings , Französische Heldenepik, S. 11, angeführte Kurzbeschreibung der Gattung Chanson de geste, die mit der vorliegenden in wesentlichen Punkten identisch ist, geht zurück auf meine der Verf. zur Verfügung gestellte, seinerzeit noch unpublizierte Habilitationsschrift. <?page no="84"?> - Unter dem europaweit verbreiteten Erzählregister der Chanson de geste sollen (groß-)epische Texte narrativen Charakters verstanden werden, die in der Regel in der merowingisch-karolingischen Epoche spielen, deren Schauplätze in etwa das Gebiet des karolingischen Reiches und dort insbesondere die Ränder und Überschneidungszonen mit nichtchristlichen Kulturen (einschließlich des Heiligen Landes und des Vorderen Orients) umfassen, und deren handelnde Figuren historische wie fiktive Personen aus der merowingisch-karolingischen Dynastie sowie deren Verbündete und Gegner samt deren Nachkommen bilden. 44 - Unter deutschen Chanson de geste-Adaptationen oder -Bearbeitungen sollen diejenigen Texte verstanden werden, auf die einerseits die allgemeine Charakterisierung des Erzählregisters Chanson de geste zutrifft, und die andererseits direkt oder indirekt, z. B. über niederländische Zwischenstufen, mit hinreichender Sicherheit auf französische Quellen des 12. bis 15. Jahrhunderts zurückzuführen sind oder auf so entstandene deutsche Texte, unter Beibehaltung der literarischen Figuren sowie des karolingischen Chronotopos, reagieren. Mit einiger Sicherheit nicht auf französische Vorlagen oder deren Derivate zurückzuführen sind dabei Texte wie die im Umkreis Regensburgs entstandene legendenhafte Erzählung Karl der Große und die Schottischen Heiligen 45 oder die, möglicherweise ebenfalls in oder um Regensburg entstandene, Kaiserchronik sowie deren Bearbeitung, die Prosakaiserchronik. 46 Obwohl dem Karlteil in der Kaiserchronik 47 und stärker noch in der Prosakaiserchronik eine wichtige Rolle zukommt, werden diese chronikalischen Texte deshalb aus der vorliegenden Untersuchung weitgehend ausgeklammert. Höchstens in einzel- 74 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 44 Die im Orient zur Zeit des ersten bis dritten Kreuzzugs spielenden Chansons de croisade fallen, wie in Kapitel A.1 gezeigt, nur scheinbar aus diesem Rahmen heraus, da die in ihnen agierenden christlichen wie heidnischen Protagonisten genealogisch mit den Akteuren der in der karolingischen Epoche angesiedelten Epen verbunden sind; das Gleiche gilt für Hugues Capet. 45 Frank Shaw (Hg.): Karl der Große und die schottischen Heiligen. Berlin 1981 (DTM 71); vgl. auch die lateinische Version Padraig A. Breatnach (Hg.): Die Regensburger Schottenlegende: Libellus de fundacione ecclesie Consecrati Petri. Hildesheim, New York 1977 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissanceforschung 27). 46 Zur Prosakaiserchronik vgl. G eith , Carolus Magnus, S. 209-221, Stephan M üller : «Schwabenspiegel» und «Prosakaiserchronik». Textuelle Aspekte einer Überlieferungssymbiose am Beispiel der Geschichte Karls des Großen (mit einem Anhang zur Überlieferung der «Prosakaiserchronik»). In: WS 19 (2006), S. 233-252; G oerlitz , S. 247-281. 47 Vgl. dazu G eith , Carolus Magnus, S. 48-83; Tibor Friedrich P ézsa : Studien zu Erzähltechnik und Figurenzeichnung in der deutschen ‹Kaiserchronik›. Frankfurt/ M. usw. 1993 (Europ. Hochschulschriften, Reihe I, 1378), S. 117-121; Otto N eudeck : Karl der Große - der beste aller «werltkunige». Zur Verbindung von exegetischen Deutungsmustern und heldenepischem Erzählen in der ‹Kaiserchronik›. In: GRM 53 (2003), S. 273- 294; Christoph P etersen : Zeit, Vorzeit und Narrativierung von Geschichte in der «Kaiserchronik». In: ZfdPh 126 (2007), S. 321-353; G oerlitz , S. 157-191. <?page no="85"?> nen Motiven, nicht jedoch in ihrer Gesamtheit auf französische Quellen zurückführen lassen sich aber auch Texte der deutschen Heldenepik bzw. Orientepen wie Herzog Ernst und König Rother. Zudem weisen weder deutsche Heldenepen noch einer der beiden letztgenannten Texte engere Bezüge zum karolingischen Chronotopos auf. 48 Am Ende des König Rother begegnet zwar immerhin ein Verweis auf Rothers Sohn, der angeblich Pippin, der Vater Karls des Großen, gewesen sein soll. 49 Ansonsten spielt der Bezug zum karolingischen Stoffkreis im gesamten vorausgehenden Text aber keine strukturell bedeutsame Rolle, er wird lediglich im abschließenden Ausblick gleichsam synthetisch hergestellt. Wenn allein das jedoch zur Kennzeichnung einer Chanson de geste-Bearbeitung ausreichen sollte, könnten mit gleicher Berechtigung beispielsweise ebenso die Gute Frau oder Flore und Blanscheflur als deutsche Chanson de geste-Adaptationen bezeichnet werden. 50 Schließlich findet sich in ihnen ebenfalls ein Ausblick auf Karl bzw. dessen Vater, der als Nachfahr der jeweiligen Protagonisten präsentiert wird, ohne dass die Erzählhandlung ansonsten Bezüge zum karolingischen Stoffkreis aufweisen würde. Die relative Häufigkeit des abschließenden Ausblicks auf Karl als direkter Nachkomme einer literarischen Figur demonstriert eher die universale Verwendbarkeit eines Motivs, das sich wohl kaum direkt aus der Kenntnis und Imitation französischer Heldenepik herleitet, vielmehr historiographischen Texten nachempfunden sein dürfte, in denen der erste Frankenkaiser oft als Spitzenahn oder doch zumindest wichtiger Vorfahr unterschiedlichster Geschlechter fungiert. Die hier ausschließlich anhand stofflicher Distinktionskriterien unternommene Beschreibung und Eingrenzung des Ensembles deutscher Chanson de Rezeption französischer Heldenepik 75 48 Von der Thematik her wäre es zwar eventuell vorstellbar, Graf Rudolf als deutsche Version französischer Chansons de croisade zu betrachten (vgl. F romm ). Da aber Weg und Art möglicher Beeinflussung durch französische Vorbilder ganz unsicher sind, erscheint die Integration des Graf Rudolf in die zu untersuchende Textgruppe aus methodischen Gründen schwierig; vgl. dazu ebenfalls H ennings , Französische Heldenepik, S. 166- 171. Ähnliches gilt für Pontus und Sidonia. In beiden erhaltenen Prosafassungen fehlt das epische Personal der französischen Heldensage, der fränkisch-karolingische Stoffkreis wurde also verlassen; vgl. dazu Reinhard H ahn : ‹Von frantzosischer zungen in teütsch›. Das literarische Leben am Innsbrucker Hof des späteren 15. Jahrhunderts und der Prosaroman ‹Pontus und Sidonia (A)›. Frankfurt/ M. usw. 1990 (Mikrokosmos 27), S. 91-103. Noch eindeutiger gilt dies für Schondochs Königin von Frankreich und die Königstochter von Frankreich des Hans von Bühel. In beiden Texten agieren zwar französische Dynasten, die Protagonisten bleiben jedoch anonym, ein Bezug zur karolingischen Dynastie oder Epoche wird nicht hergestellt. Der Text des Hans von Bühel geriert sich statt dessen als Erzählung über die Vorgeschichte des Hundertjährigen Krieges, spielt also dezidiert nicht in karolingischer Zeit. Von den nach dem Erzählmodell der unschuldig verfolgten Frau gearbeiteten Texten gehören demnach nur die Sibille und Morant und Galie, in denen der Bezug zum karolingischen Stoffkreis die Erzählstruktur wesentlich bestimmt, in den Bereich der (deutschen) Chanson de geste-Adaptationen. 49 Vgl. dazu G eith, Carolus Magnus, S. 126-128. 50 Vgl. dazu ebd., S. 136-141. <?page no="86"?> geste-Adaptationen kann nicht völlig befriedigen. Die solcherart konstituierte Textgruppe verlangt vielmehr nach einer Ergänzung durch zusätzliche Kriterien, etwa die Beachtung einer spezifischen Faktur oder thematischer Besonderheiten der deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen, anhand derer die Ausgrenzung von Graf Rudolf, König Rother und Herzog Ernst zu rechtfertigen und zu bestätigen wäre. Eine solche Kontrolle wird im weiteren Verlauf der Untersuchung nachgeholt werden, wenn nach einem Textdurchgang entsprechende Charakteristika der deutschen Chanson de geste-Adaptationen herausgearbeitet sind und für eine entsprechende Revision zur Verfügung stehen. Auch ohne Graf Rudolf, König Rother, Herzog Ernst sowie Karl der Große und die Schottischen Heiligen umfasst die Textgruppe der deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen noch immer eine recht stattliche Anzahl von Texten, die der oben gegebenen Beschreibung entsprechen. Sie setzt sich zusammen aus folgenden, zunächst in chronologischer Reihung angeordneten, dem 12. bis 15. Jahrhundert entstammenden, 51 deutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik: 52 76 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 51 Die untere Grenze des 12. Jahrhunderts folgt dabei automatisch aus der ältesten deutschen Chanson de geste-Adaptation, dem Rolandslied. Die obere des 15. Jahrhunderts ergibt sich zum einen aus der in der wissenschaftlichen Literatur eingebürgerten, gleichwohl willkürlichen, Zeitmarke des Jahres 1500, das als Scheidelinie zwischen Mittelalter und früher Neuzeit angesehen wird. Zum anderen - und das ist hier der wichtigere Aspekt - aus der Beschränkung der vorliegenden Studie auf die handschriftlich überlieferte Textgruppe deutscher Chanson de geste-Adaptationen. Die zahlreichen deutschen Drucke, die den Stoff der deutschen und französischen Chanson de geste nutzten, entstanden erst ab dem 16. Jahrhundert. Eine wissenschaftliche Untersuchung dieser unter anderen medialen und narratologischen Voraussetzungen entstandenen Texte wäre, analog zur neueren romanistischen Forschung, in einer eigenen Arbeit zu behandeln. Vorarbeiten dazu sind u. a. geleistet worden von Xenja von E rtzdorff : Chanson de geste und Prosa-Romane des 15./ 16. Jahrhunderts: ‹Kaiser Octavianus›. In: WS 11 (1989), S. 227-242; Werner R öcke : Das Spiel mit der Geschichte. Gebrauchsformen von Chanson de geste und Roman in der Histori von dem Keyser Octaviano. In: LiLi 89 (1993), S. 70-86; Heike S ievert: Geschichte von Helden, Heiden und Herrschern. Überlegungen zur Typologie des Prosaromans am Beispiel der Rezeption der chanson de geste im 16. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 29 (1997), S. 124-146, dies .: Wenn Heldentum zerredet wird. Funktionen des Gesprächs in «Morgant der Riese». In: Gespräche-Boten-Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, hg. von Horst Wenzel. Berlin 1997 (Philolog. Studien und Quellen 143), S. 261-279. 52 Vgl. ebenfalls die (unvollständige) Übersicht über «Die altfranzösische Heldenepik (Chansons de geste) und ihre fremdsprachigen (vor allem deutschen und italienischen) Adaptionen» bei Rolf B räuer (Hg.): Dichtung des europäischen Mittelalters. Ein Führer durch die erzählende Literatur. München 1991, S. 37-101. Von den deutschen Chanson de geste-Adaptationen sind dort angeführt: Rolandslied, Karl, Karlmeinet, Karl und Galie, Morant und Galie, Karel ende Elegast (wobei die Unterschiede zwischen der niederländischen Fassung und der deutschen Bearbeitung allerdings nicht deutlich werden), Willehalm, Rennewart, Arabel, Reinolt von Montelban. Zu den Editionen der nachfolgenden Texte vgl. das Literaturverzeichnis. <?page no="87"?> Rolandslied 1170/ 85 Willehalm 1210/ 20 Karl 1215/ 25 Karl und Galie 1220/ 50 Morant und Galie 1230/ 60 Arabel 1260/ 70 Rennewart 1260/ 70 Schlacht von Alischanz 1300/ 20 Günser Reinolt 1300/ 50 Gerart van Rossiliun 1350/ 1400 Karlmeinet-Kompilation 1350/ 1400 Ospinel 14. Jhd. Karl und Ellegast 14./ 15. Jhd. Herpin 1430/ 40 Sibille 1430/ 40 Loher und Maller 1430/ 40 Huge Scheppel 1430/ 40 Historie van Sent Reynolt 1450 Das Buch vom heiligen Karl 1450/ 70 Das Buch vom heiligen Wilhelm 1450/ 70 Malagis 1460/ 70 Reinolt von Montelban 1460/ 70 Ogier von Dänemark 1479 Diese aus insgesamt 23 Texten (inklusive Neubearbeitungen) bestehende Gruppe deutscher Chanson de geste-Adaptationen wird in rund 200 Handschriften und Fragmenten überliefert (vgl. den Anhang dieser Studie). Im Spektrum der großepischen Erzählregister mit profaner Thematik rangieren die deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen damit zwar deutlich hinter dem überaus erfolgreichen Genre des Artus- und Gralromans, das in ca. 280 Handschriften und Fragmenten überliefert wird, aber noch vor den übrigen Erzählregistern im deutschsprachigen Raum. 53 Von allen deutschen Erzählregistern mit profaner Thematik ist den deutschen Chanson de geste-Adaptationen allerdings (abgesehen von den Sonderfällen Rolandslied und Willehalm) lange die geringste Forschungsaufmerksamkeit zuteil geworden. Aus diesem Grund sind in der logischen Konsequenz für manche der deutschen Texte selbst grundlegende Daten nicht geklärt. Als besonders schwierig erweist sich dabei eine nähere Bestimmung der ungefähren Entstehungszeiten und -hintergründe deutscher Bearbeitungen französischer Chansons de geste. Schwierig unter anderem deshalb, weil, typisch für heldenepische Literatur, für die als Quelle dienenden französischen Chansons Rezeption französischer Heldenepik 77 53 Deutsche Heldenepik ca. 140 Textzeugen; Antikenroman ca. 50; Tristanstoff ca. 40; Orientbzw. Brautwerbungsepik ca. 20. <?page no="88"?> de geste genauere Entstehungsdaten und -umstände ebenfalls nicht angegeben werden können. Aufgezeichnet worden sind die französischen Epen zumeist, analog zur Dietrichepik, überwiegend erst im 13. und 14. Jahrhundert. Wie sich nicht zuletzt aus Wolframs Willehalm erschließen lässt, für den eine Fassung der Chanson d’Aliscans erkennbar als Vorlage diente, müssen französische Chansons de geste aber fraglos schon früher existiert haben. Doch um wie viel früher und in welcher Form? Und wer oder was war für ihre schriftliche Fixierung verantwortlich? Präzise Antworten auf diese Fragen kann trotz intensiver Bemühungen bislang niemand geben, und es steht auch nicht zu erwarten, dass sie jemals eindeutig beantwortet werden können. Für die Aufdeckung der näheren Rezeptionsumstände deutscher Bearbeitungen französischer Chansons de geste resultieren aus deren später Aufzeichnung nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Kompliziert gestalten sich damit sowohl die Bestimmung der genauen Abhängigkeitsverhältnisse der deutschen Texte von ihren französischen Quellen 54 als auch, damit zusammenhängend, die Bestimmung des möglichen Eigenanteils der deutschen Bearbeiter. Besonders drastisch macht sich dieses Manko bei den bislang nur wenig erforschten und bei den nur fragmentarisch erhaltenen Texten bemerkbar. Doch selbst für einen Text wie das deutsche Rolandslied, für das aufgrund des (einzig allerdings in Handschrift P überlieferten) Epilogs, der als eines der «kostbarsten Zeugnisse [...] des frühen deutschen Literaturbetriebs» gilt, 55 die Rezeptionsumstände auf den ersten Blick recht gut rekonstruierbar erscheinen, ergeben sich Fragen hinsichtlich der Datierung und Lokalisierung. Bevor das Ensemble der deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen in einem nächsten Schritt typologisch aufgefächert werden kann, wobei der Lokalisierung und Datierung eine wichtige Rolle für die Kategorienbildung zukommt, erscheint es daher nötig, das gesamte Textensemble auf diese Parameter hin einer erneuten Prüfung zu unterziehen. Zugleich ergibt sich dabei die Gelegenheit, die der Arbeit zugrunde liegende Werkgruppe näher vorzustellen und einen ersten Einblick in ausgewählte Fragen der wissenschaftlichen Erforschung eines jeden Textes zu geben. A.2.3 Datierung und Lokalisierung Rolandslied Als weitgehend geklärt galt lange Zeit der Ort, an dem die deutsche Bearbeitung der französischen Chanson de Roland erfolgt sein soll. Nachdem sich W. Grimm zunächst für eine Entstehung des deutschen Rolandslieds im sächsischen Herrschaftsbereich Heinrichs des Löwen ausgesprochen hatte, hielt man seit E. Schröders Studie von 1883 das im bayrischen Teil des Herrschafts- 78 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 54 Vgl. zu den französischen Quellen einiger deutscher Chanson de geste-Adaptationen des 12. und 13. Jahrhunderts jetzt H ennings , Französische Heldenepik. 55 K artschoke , Nachwort zur Rolandslied-Ausgabe, S. 789. <?page no="89"?> gebiets Heinrichs gelegene Regensburg für die Produktionsstätte der ersten deutschen Chanson de geste-Bearbeitung. 56 Die Argumente für diese Annahme fasst G. Vollmann-Profe zusammen: [...] daß das ‹Rolandslied› im bayrischen Regensburg entstand, gehört zu den wenigen nie bezweifelten Annahmen. Dorthin weisen - von den sprachlichen Anhaltspunkten abgesehen -, vor allem bayrische Ortsnamen, Anspielungen auf die bayrische Geschichte, auszeichnende Erwähnung der Bayern und ganz besonders die Nähe zur ‹Kaiserchronik›, die im ‹Rolandslied› immer wieder zitiert wird. 57 Einige der Verweise auf die Bayern finden sich allerdings schon in der Chanson de Roland, wo die Bayern z. B. als das Volk bezeichnet werden, das Karl nach den Franken am meisten geschätzt habe (vgl. ChdR 3028ff.). Auch Herzog Naimes, einer der wichtigsten Helfer Karls, wird bereits dort als Bayer bezeichnet. 58 Im Übrigen werden, anders als in der Chanson de Roland, neben den Bayern ebenfalls die Sachsen im Rolandslied als besonders kampftüchtig beschrieben; vgl. RL 1773: die grimmen Sachsen; RL 5215: die küenen Sachsen; RL 6842: Sachsen, die dicke wol herten; RL 7539: die stainherten Sachsen. In letzter Zeit wird die einst scheinbar so sichere Lokalisierung nach Bayern allerdings zunehmend in Frage gestellt. Aus der Nennung eines ‹Conradus magister suevus›, der sich in den in Braunschweig ausgestellten Urkunden Heinrichs des Löwen mehrfach als Zeuge nachweisen lässt, wurde gefolgert, dass dieser ‹Conradus magister› mit dem Pfaffen Konrad, dem Autor des Rolandslieds also, identisch und das Rolandslied folglich am Braunschweiger Hof entstanden sei. 59 Aufgrund der Häufigkeit des Namens Conradus und des Fehlens weiterer Anhaltspunkte ist diese Annahme allerdings wenig beweiskräftig. Auf wesentlich besser gesichertem Boden bewegt sich Th. Klein, der in seiner (unveröffentlichten) Habilitationsschrift nachweisen konnte, dass die merkwürdige Schreibsprache der Rolandslied-Handschriften und Fragmente, die oberdeutsche ebenso wie mittel- und niederdeutsche Elemente zei- Rezeption französischer Heldenepik 79 56 Vgl. Wilhelm G rimm (Hg.): Ruolandes liet. Mit einem Facsimile und den Bildern der pfälzischen Handschrift. Göttingen 1838, S. XXXI-XXXIV ; Edward S chröder : Die Heimat des deutschen Rolandsliedes. In: ZfdA 27 (1883), S. 70-82. 57 Gisela V ollmann -P rofe : Wiederbeginn volkssprachlicher Schriftlichkeit im hohen Mittelalter (1050/ 60-1160/ 70). Königstein/ Taunus 1986 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Neuzeit I/ 2), S. 134. 58 Vgl. Hans-Wilhelm K lein : Herzog Naimes als ‹Bayer› im französischen und deutschen Rolandslied und im Pseudo-Turpin. In: «Romania ingeniosa». Festschrift F. Hilty zum 60. Geb., hg. v. G. Lüdi u. a. Bern usw. 1987, S. 171-177. 59 Hans-Erich K eller : Der Pfaffe Konrad am Hofe von Braunschweig. In: Wege der Worte. Festschrift für Wolfgang Fleischhauer, hg. von Donald C. Riechel. Köln, Wien 1978, S. 143-166; Jeffrey A shcroft : Magister Conradus Presbiter: Pfaffe Konrad at the Court of Henry the Lion. In: Literary Aspects of Courtly Culture. Selected Papers from the Seventh Triennial Congress of the International Courtly Literature Society, hg. von Donald Maddox, Sara Sturm-Maddox. Cambridge 1994, S. 301-308. <?page no="90"?> gen, das typische «Kennzeichen der im mittel- und niederdeutschen Raum verbreiteten frühen Literatursprache» ist. 60 Die eigentliche Genese des Rolandslieds vermutete auch Th. Klein allerdings weiterhin in Regensburg. 61 In einer späteren Untersuchung konnte B. Gutfleisch-Ziche, dabei teilweise auf Th. Kleins Ergebnissen aufbauend, jedoch zeigen, dass die Rolandslied-Überlieferung ihren Schwerpunkt im mittel- und niederdeutschen Literaturraum besitzt (vgl. S. 123). 62 Im Unterschied zu Klein zieht sie daraus die, vorsichtig formulierte, Konsequenz, dass das «skizzierte Überlieferungsbild einem sächsischen Entstehungsort [...] durchaus Raum» lasse und mithin «eine Entstehung im Umkreis des Braunschweiger Hofes Heinrichs des Löwen in Erwägung» zu ziehen sei. 63 Als Ergebnis der angeführten Studien scheint eine Regensburger Herkunft des Rolandslieds in der germanistischen Forschung mittlerweile seltener erwogen zu werden. Ohne die Frage des nicht sicher geklärten Entstehungsorts eigens zu thematisieren, gehen neuere Publikationen ebenso selbstverständlich von einer Genese des Rolandslieds am Braunschweiger Hof oder doch jedenfalls im sächsischen Herrschaftsbereich des Löwen aus, wie die ältere Forschung dessen bairische Entstehung präferierte. 64 80 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 60 So das Resümee der diesbezüglichen Ergebnisse von K lein s Habilitationsschrift; zusammengefasst von K artschoke , Nachwort zur Rolandslied-Ausgabe, S. 793. 61 Vgl. Thomas K lein : Ermittlung, Darstellung und Deutung von Verbreitungstypen in der Handschriftenüberlieferung mittelhochdeutscher Epik. In: Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von Volker Honemann, Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S. 110-167. 62 Barbara G utfleisch -Z iche : Zur Überlieferung des deutschen ‹Rolandsliedes›. Datierung und Lokalisierung der Handschriften nach ihren paläographischen und schreibsprachlichen Eigenschaften. In: ZfdA 125 (1996), S. 142-186, hier S. 152. 63 G utfleisch -Z iche , S. 185. Schon bei J. B umke , der sich der These einer Regensburger Entstehung des Rolandslieds anschließt, klingt eine gewisse Skepsis gegenüber jener Annahme durch, wenn es ihm «auffällig» erscheint, «daß Heinrich der Löwe den Auftrag nach Regensburg gegeben hat, obwohl das Zentrum seiner Herrschaft in Sachsen lag»; Joachim B umke : Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150-1300. München 1979, S. 89. E. N ellmann hielt die Frage der Rolandslied-Genese im VL-Artikel offenbar für noch nicht endgültig geklärt: «Es sprechen [...] keine zwingenden Gründe für Regensburg, wenngleich eine gewisse Wahrscheinlichkeit nicht geleugnet werden kann»; Eberhard N ellmann : Art. Pfaffe Konrad. In: VL 2 5 (1985), Sp. 115-131, hier Sp. 117. 64 Nachdem zunächst H.-E. K eller , Pfaffe Konrad, für seine These einer Rolandslied- Genese im Umfeld des Braunschweiger Hofes Heinrichs des Löwen scharf kritisiert worden war, gilt sie in jüngeren Forschungsbeiträgen offenbar als so gesichert, dass sie kaum noch diskutiert werden muss; vgl. etwa A shcroft , Magister Conradus Presbiter; Volker M ertens : Deutsche Literatur am Welfenhof. In: J. Luckhardt u. a. (Hg.): Heinrich der Löwe und seine Zeit, Bd. 2, S. 204-212; Karl-Ernst G eith : Das deutsche und das französische Rolandslied. Literarische und historisch-politische Bezüge. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter, hg. von Ingrid Kasten, Werner Paravicini, René Pérennec. Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 75-83. Vgl. zur Thematik auch meinen Beitrag: «wie er daz gotes rîche gewan ...» Das Rolandslied des Klerikers <?page no="91"?> Im Gegensatz zum Ort der Entstehung des Rolandslieds gilt dessen Entstehungsdatum, um das über ein Jahrhundert gestritten wurde, seit D. Kartschokes Studie von 1965 als gesichert. Ausgangspunkt aller Überlegungen waren immer die Epilogverse 9018-9094 gewesen, in denen ein Herzog Hainriche und dessen Frau, aines richen ch v niges barn, als Auftraggeber genannt werden. Lange war jedoch unklar, welcher mit der Tochter eines mächtigen Königs verheiratete Herzog namens Heinrich damit gemeint sein sollte. In seiner alle Argumente erneut prüfenden und vorsichtig abwägenden Untersuchung konnte D. Kartschoke das Jahr 1147 bzw. 1149 als terminus post quem für die Entstehung des Rolandslieds wahrscheinlich machen. Somit waren die Angaben des Epilogs nur auf Heinrich den Löwen und seine Frau Mathilde zu beziehen, die Heinrich 1168 geheiratet hatte. Die Epilogverse 9066-9075, die von der Bußfertigkeit des Herzogs sprechen, der schon zu seinen Lebzeiten dafür Sorge trage, dass er am Jüngsten Tag nicht mehr gerichtet zu werden brauche, bezog Kartschoke ganz konkret auf eine Pilgerfahrt, die Heinrich den Löwen 1172 ins Heilige Land führte. 65 Unter dem Eindruck dieses Ereignisses sei der Epilog erweitert worden, woraus Kartschoke auf die «Fertigstellung des ‹Rolandsliedes› um 1172» schloss. 66 Das von Kartschoke erschlossene Datum ist sehr rasch zum Forschungskonsens geworden und fand Eingang in alle Handbücher. Wirklich sichern lässt sich dieses Datum allerdings nicht. Denn selbst wenn man die Pilgerfahrt von 1172 als jene Bußleistung des Herzogs versteht, auf die der Epilog anspielt, muss der Text nicht unbedingt ein direkter Reflex dieses Ereignisses sein, der unverzüglich nach Heinrichs Rückkehr aus dem Heiligen Land vollendet bzw. «ergänzt» worden wäre, wie Kartschoke annimmt. Die Epilogangabe machte durchaus noch Sinn, wenn die Fahrt ins Heilige Land schon einige Jahre zurücklag. Zu diskutieren bleibt überdies, ob man das im Epilog erwähnte ‹Opfer› Heinrichs, das ihn an die Seite der vorbildlichen Büßerfigur David stellt, 67 überhaupt so eng fassen und damit auf ein einziges Ereignis reduzieren darf. Denn als Zeugnis einer spezifischen Bußhaltung des Herzogs wird beispielsweise gleichfalls der vom Papst als Ersatzkreuzzug anerkannte Krieg Heinrichs gegen die heidnischen Wenden aus dem Jahr 1147 gegolten haben, 68 schließlich waren Kreuzzug und Buße bzw. Ablass - wie sich etwa an den Kreuzzugspredigten eines Bernhard Rezeption französischer Heldenepik 81 Konrad und der Hof Heinrichs des Löwen. In: Courtly Literature and Clerical Culture. Selected papers from the Tenth Triennial Congress of the International Courtly Literature Society. Hg. v. Chr. Huber u. H. Lähnemann. Tübingen 2002, S. 195-210; in diesem Beitrag habe ich meine Überlegungen zur Lokalisierung und Datierung des Rolandslieds breiter ausgeführt. 65 Vgl. Dieter K artschoke : Die Datierung des deutschen Rolandsliedes. Stuttgart 1965 (Germanistische Abhandlungen 9), S. 39 und S. 158. 66 Ebd. S. 167. 67 Vgl. dazu Eberhard N ellmann : Karl der Große und König David im Epilog des deutschen Rolandslieds. In: ZfdA 94 (1965), S. 268-279. 68 Vgl. dazu etwa Jeffrey A shcroft: Konrads Rolandslied, Henry the Lion, and the Northern Crusade. In: Forum for Modern Language Studies 22 (1986), S. 184-208. <?page no="92"?> von Clairvaux deutlich ablesen lässt - für das 12. Jahrhundert aufs Engste miteinander verbunden. 69 Am plakativsten dürfte für Heinrich selbst wie für seine unmittelbare Umgebung freilich ein ganz anderes Ereignis einen ‹zerknirschten Geist› und ein ‹gedemütigtes Herz› (Ps 50,18f.) und somit eine herausragende, an lîp unt sêle (RL 9067) sichtbare Bußhaltung demonstriert haben: die durch den deutschen König und die Fürsten im Jahr 1179 verfügte Ächtung des Herzogs von Sachsen und Bayern und der unmittelbar daraus resultierende Machtverzicht des Jahres 1181 samt dem anschließenden Exil des Löwen in Westfrankreich und England - also im Machtbereich seines Schwiegervaters, des englischen Königs Henry II. Plantagenêt. Dort verbrachten Heinrich der Löwe, seine Frau und die bis dahin geborenen Kinder die Jahre 1182 bis 1185, und dort kamen sie zugleich in Kontakt mit der wohl repräsentativsten und prunkvollsten Hofkultur jener Epoche. 70 Von daher ist es sicherlich kein Zufall, wenn, wie von der kunsthistorischen und historischen Forschung gezeigt werden konnte, in die Jahre nach der Rückkehr Heinrichs und Mathildes aus dem englischen Exil eine Zeit besonders intensiver mäzenatischer Tätigkeit fällt, in der westfranzösisch-englische Einflüsse auf die vom Herzogspaar in Auftrag gegebenen Kunstwerke unübersehbar sind. 71 Mit Blick auf die, wie gesehen, keineswegs über jeden Zweifel erhabene Datierung des Rolandslieds auf 1172 stellt sich damit zugleich die Frage, ob die Übertragung der Chanson de Roland nicht ebenfalls in jenem Zeitraum ausgeprägter Kunstförderung durch das Herzogspaar erfolgt sein könnte. 72 Dass im 82 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 69 Vgl. zur enormen Bedeutung des Kreuzzugsablasses für die Kreuzzugsbewegung vornehmlich des 12. Jahrhunderts Nikolas J aspert : Die Kreuzzüge. Darmstadt 4 2008, S. 29-32; Hans Eberhard M ayer : Geschichte der Kreuzzüge. Achte, verbesserte und erweiterte Auflage. Stuttgart usw. 1995, S. 34-40 und Carl E rdmann : Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens. Stuttgart 2 1955, S. 316f. Zu dem in Kreuzzugspredigten und -aufrufen häufig geäußerten Gedanken einer wirksamen Bußleistung durch Teilnahme am Kreuzzug vgl. auch Valmar C ramer : Die Kreuzzugspredigt zur Befreiung des Heiligen Landes 1095-1270. Studien zur Geschichte und Charakteristik der Kreuzzugspropaganda. Köln 1939. 70 Vgl. Ursula N ilgen : Heinrich der Löwe in England. In: J. Luckhardt u. a. (Hg.): Heinrich der Löwe und seine Zeit, Bd. 2, S. 329-342. 71 So zuerst Georg S warzenski : Aus dem Kunstkreis Heinrichs des Löwen, Städel-Jahrbuch 7/ 8 (1932), S. 241-397; vgl. an neuerer Literatur Markus M üller : Die Welfen und Formen höfischer Repräsentation im anglonormannischen Reich. In: J. Luckhardt u. a. (Hg.): Heinrich der Löwe und seine Zeit, Bd. 2, S. 377-386; Robert S uckale : Zur Bedeutung Englands für die welfische Skulptur um 1200. In: ebd., S. 440-451. Auch zeitgenössische und zeitnahe Quellen betonen immer wieder, dass der Höhepunkt der Stiftertätigkeit Heinrichs in den letzten Lebensjahren des Herzogs, mithin in der Zeit nach der Rückkehr aus dem Exil, gelegen habe; vgl. dazu etwa Joachim E hlers : Karolingische Tradition und frühes Nationalbewußtsein in Frankreich. In: Francia 4 (1976), S. 213- 235, hier S. 122f. 72 Für eine Datierung nach 1185 haben sich bislang ausgesprochen H.-E. K eller , Pfaffe Konrad, S. 143-166 sowie Peter G anz: Heinrich der Löwe und sein Hof in Braun- <?page no="93"?> Epilog des Rolandslieds die offenbar für außerordentlich gehaltene Reue- und Bußhaltung des Herzogs besonders herausgestellt wird, würde sich gut in die Jahre nach 1185 fügen, in der eine solche Akzentuierung hoch aktuell erscheinen musste. Für eine Entstehung des Rolandslieds nach der Phase des Exils könnte zudem sprechen, dass der Aufenthalt des Herzogspaares im anglonormannischen Herrschaftsbereich eine hervorragende Gelegenheit bot, dort die Chanson de Roland in verschriftlichter Form kennenzulernen. 73 Denn die heute in Oxford aufbewahrte Chanson de Roland-Handschrift O, die älteste bekannte Fassung des Werks und zugleich die älteste bekannte Verschriftlichung einer Chanson de geste überhaupt (die in vielen Zügen eine gewisse Nähe zu der dem Kleriker Konrad zugeschriebenen Fassung aufweist, obschon sie sicher nicht die direkte Vorlage bildete, womit das deutsche Rolandslied dann auf einen anderen Überlieferungszweig zurückgeführt werden muss), 74 wurde eben im anglonormannischen Raum, wahrscheinlich in England, von einem gebildeten Schreiber/ Redaktor um die Mitte des 12. Jahrhunderts zu Pergament gebracht. 75 Sie steht damit anscheinend für eine innovative literarische Tendenz. Denn auch die Chanson de Guillaume und Gormont et Isembart, die gleichfalls besonders alte Schriftfassungen französischer Heroik repräsentieren, wurden noch im früheren 13. Jahrhundert und ebenfalls in England in anglonormannischem Schreibdialekt aufgezeichnet. 76 Wie die Chanson Rezeption französischer Heldenepik 83 schweig. In: Das Evangeliar Heinrichs des Löwen. Kommentar zum Faksimile, hg. von Dieter Kötzsche. Frankfurt/ M. 1989, S. 28-41. 73 Vgl. zur generellen Möglichkeit enger Kontakte zwischen anglonormannischem und sächsischem Hof auch Eckart Conrad L utz : Zur Synthese klerikaler Denkformen und laikaler Interessen in der höfischen Literatur. Die Bearbeitung einer Chanson von Karl und Roland durch den Pfaffen Konrad und das Helmarshausener Evangeliar. In: Pfaffen und Laien - ein mittelalterlicher Antagonismus? Freiburger Colloquium 1996, hg. von Eckart Conrad Lutz, Ernst Tremp. Freiburg/ Schweiz 1999 (Scrinium Friburgense 10), S. 57-76; ders .: Herrscherapotheosen. Chrestiens Erec-Roman und Konrads Karls- Legende im Kontext von Herrschaftslegitimation und Heilssicherung. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, hg. von Christoph Huber u. a. Tübingen 2000, S. 89-104; Mark C hinca : Konrad’s Rolandslied: the clerk, the prince and the emperor. In: Roland and Charlemagne in Europe: Essays on the Reception and Transformation of a Legend, hg. von Karen Pratt. London 1996, S. 127- 147, hier S. 132. 74 Vgl. die Zusammenfassung der Forschungsdiskussion bei H ennings , Französische Heldenepik, S. 95-110, die allerdings sehr stark mit einer hypothetischen Vorstufe ‹r› operiert, auf die zahlreiche Änderungen des deutschen Rolandslieds gegenüber den französischen Fassungen zurückzuführen seien. 75 Vgl. zur Genese der Oxforder Chanson de Roland-Handschrift T aylor , Song, sowie das Vorwort von S hort zur Ausgabe der Oxforder Fassung in: Ian S hort , The Oxford Version. In: The Song of Roland. The French Corpus, hg. von Joseph J. Duggan, Bd.1, S. I/ 14-I/ 62. 76 Zur Chanson de Guillaume vgl. T yssens , W athelet- W illem , La Geste de Narbonnais, S. 21; B usby , Codex, S. 490; zu Gormont et Isembart vgl. Philip E. B ennett : A New Look at the ‹Gormont et Isembart› Fragment: Brussels, Bibliothéque Royale Albert 1 er , MS II, 181. In: Olifant 25 (2006), S. 123-132. In anglonormannischem Schreibdialekt ist <?page no="94"?> de Roland gehören damit auch sie zu den ersten Verschriftlichungen französischer Heldenepik, deren breitere buchepische Umsetzung auf dem Kontinent erst etwas später einsetzt. 77 Durch den Auftrag zur Bearbeitung einer buchepischen Chanson de geste, deren früheste Exemplare ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts im kulturell avancierten Milieu des anglonormannischen Herrschaftsbereichs, und eventuell auch in der Umgebung des Königshofs, kursiert zu haben scheinen, hätte der Löwe mithin an einer neuen literarischen ‹Mode› partizipiert, der im deutschsprachigen Raum etwa die ungefähr gleichzeitig oder wenig später anzusetzende Verschriftlichung des Nibelungenlieds entspricht. Ähnlich wie die deutsche Heldenepik in Gestalt des Nibelungenlieds wurde, wie eingangs beschrieben, auch die französische Heroik in archaisierender Sprache und konservativ formelhaftem Stil zu Buchepik umgeformt, um den für das Genre konstitutiven Eindruck von Mündlichkeit und Dignität verleihendem Alter zu erzeugen. Die oft konstatierte und teilweise gegen eine Spätdatierung ins Feld geführte ‹Rückständigkeit› in Stil und Reimtechnik des Rolandslieds 78 spricht folglich nicht unbedingt gegen eine Textgenese in den 80er Jahren des 12. Jahrhunderts. Dahinter könnte sich, vielleicht eher noch als eine schon häufiger als Grund angeführte Entstehung im angeblich ‹verspäteten› niederdeutschen Literaturraum, auch eine Umsetzung des archaisierenden Stils der älteren Chansons de geste und insbesondere der Chanson de Roland 84 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption zudem die einzige, heute verschollene Handschrift der Voyage de Charlemagne abgefasst (vgl. dazu etwa Karl V oretzsch : Einführung in das Studium der altfranzösischen Sprache, bearb. von Gerhard Rohlfs. Tübingen 9 1966, S. 2f.), die von den meisten Forschern gleichfalls zu den sehr frühen Chansons de geste gerechnet wird. Vgl. zur frühen Verschriftlichung französischer Literatur im anglonormannischen England ebenfalls D ieckmann , Französische Sprache, B usby , Codex, S. 488-497. 77 Vgl. zur Chanson de geste-Überlieferung Alexandre M icha : Überlieferungsgeschichte der französischen Literatur des Mittelalters. In: Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur, Bd. 2. Zürich 1964, S. 189-259; Joseph J. D ug gan : The Manuscript Corpus of the Medieval Romance Epic. In: The Medieval Alexander Legend and Romance Epic. Essays in honour of David J. A. Ross, hg. von Peter Noble u. a. New York 1982, S. 29-42; Madeleine T yssens : La tradition manuscrite et ses problèmes. In: Juan Victorio (Hg.): L’Épopée. Turnhout 1988 (Typologie des Sources du Moyen Age Occidental 49), S. 229-250; dies .: Typologie de la tradition des textes épiques: les poèmes français. In: Actes du XI e Congrès International de la Société Rencesvals, 2 Bde. Barcelona 1990 (Memorias de la Real Academia de Buenas Letras de Barcelona 22), Bd. 2, S. 433-446; B usby , Codex, S. 368-404; Maria C areri : Les manuscrits épiques: codicologie, paléographie, typologie de la copie, variantes. In: Olifant 25 (2006), S. 19-39. 78 Vgl. zum gezielt archaisierenden Stil des Rolandslieds z. B. Karl B ertau : Das deutsche Rolandslied und die Repräsentationskunst Heinrichs des Löwen. In: DU 20 (1968), S. 4-30. Seiner dort geäußerten These eines in Literatur wie Architektur sich manifestierenden Rückgriffs des Löwen auf ältere, imperiale Kulturmuster widersprechen, zumindest im Hinblick auf die Anlage der von Heinrich errichteten Braunschweiger Burg Dankwarderode, die Überlegungen von Cord M eckseper : Die Goslarer Königspfalz als Herausforderung für Heinrich den Löwen? In: J. Luckhardt u. a. (Hg.): Heinrich der Löwe und seine Zeit, Bd. 2, S. 237-243. <?page no="95"?> verbergen. Doch ist absolute Gewissheit über den genauen Entstehungszeitpunkt des deutschen Rolandslieds durch diese Überlegungen selbstverständlich nicht zu erlangen. Um 1170/ 72 kann man sich die deutsche Bearbeitung einer der ersten in buchepische Form gebrachten Chansons de geste ebenso gut entstanden denken wie um 1185 oder gegen Ende der 80er Jahre, als Heinrichs und Mathildes Mäzenatentum, etwa für das von ihnen errichtete Braunschweiger Stift, einen Höhepunkt erreichte. Karl So ungeklärt die Entstehungsbedingungen des Rolandslieds im Einzelnen auch sein mögen, im Vergleich zu den restlichen deutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik ist man über den Kontext der Primärrezeption noch vergleichsweise gut informiert. Für Strickers Karl etwa fehlt jeglicher Hinweis auf einen möglichen Auftraggeber. Den einzigen Anhaltspunkt bilden hier die auf den Protagonisten gemünzten, eher unspezifischen Prologzeilen, in denen versichert wird, dass man vom heiligen Karl bereits viel Gewinn gehabt habe, der damit verbundene Nutzen aber nun erst eigentlich beginnen werde (des man vil genozzen hât/ und nû alrêrst ane gât,/ daz man sîn geniezen sol; Karl, 101-3). Trotz ihrer Unschärfe sind jene Verse meist auf die 1165 erfolgte Kanonisation des ersten Frankenkaisers bzw. auf die Auswirkungen der Heiligsprechung Karls bezogen worden. Auf der Folie dieser Annahme wurde dann versucht, den genauen Entstehungszeitraum des Textes einzugrenzen. 79 Dabei wurden immer wieder sehr konkrete Entstehungsdaten vorgeschlagen, die jeweils mit einem bestimmten Auftraggeber korrelieren sollen. Eine erste These geht davon aus, dass die erwähnten Verse im Zusammenhang mit den Aachener Krönungsfeierlichkeiten im Sommer 1215 stünden, als der junge Stauferkönig Friedrich II. ein Kreuzzugsgelübde leistete und am 27. Juli eigenhändig den neu geschaffenen goldenen Schrein des im Jahr 1165, während der Regierungszeit und unter der Beteiligung seines Großvaters, heilig gesprochenen Karl verschloss. 80 Teilweise wollte man sogar in Strickers Karlsdarstellung Rezeption französischer Heldenepik 85 79 Vgl. zum Folgenden auch G eith, Carolus Magnus, S. 186-192. 80 Sicherlich gezielt wählte man für den hochsymbolischen Akt, der ungewöhnlicherweise an einem Montag stattfand, den Jahrestag der Schlacht von Bouvines, in der Friedrichs wichtigster Verbündeter, der französische König Philippe II. August, den für den deutschen Thronstreit entscheidenden Sieg über den welfischen König Otto IV. und seine u. a. von den Engländern unterstützte Partei errungen hatte. Wie Köln zeigte sich ebenfalls Aachen selbst nach Bouvines noch welfentreu und hatte dem Staufer, der eine Belagerung der Stadt plante, auf Druck einer innerstädtischen Opposition erst am 24.7.1215 die Stadttore geöffnet. Der symbolische Akt der Schreinverschließung am 27.7.1215 unter Beteiligung Friedrichs II. kann also kaum von langer Hand vorbereitet gewesen sein und war vermutlich eher ein politischer Coup der bislang welfenfreundlichen Stadt, um sich die Gunst des neuen Königs zu sichern. Im Übrigen muss man sich fragen, ob mit dem Einschlagen eines Nagels durch Friedrich der Karlsschrein wirklich vollendet wurde, wie die einzige darüber berichtende mittelalterliche Quelle (Reiner von Lüttich; <?page no="96"?> eine Präfiguration Friedrichs II. erkennen. Der Karl wäre demnach um 1215 im staufischen Auftrag entstanden. 81 Eine Modifikation dieser These zielt darauf ab, dass Strickers Bearbeitung des Rolandslieds zwar im staufischen Auftrag, aber erst gegen 1220 verfasst worden sei, um den von Friedrich II. gelobten Kreuzzug propagandistisch zu unterstützen. 82 Eine Entstehung des Karl im Auftrag Friedrichs II. ist jedoch schon deshalb wenig wahrscheinlich, weil der Staufer ansonsten nie an den Karlsmythos anknüpft, sich vielmehr stets an anderen, antiken Vorbildern orientiert. 83 Gleichwohl hat M. Schilling 1991 eine neue Variante der den Karl auf Friedrich II. beziehenden Thesen vorgestellt. Er glaubt, dass Strickers Bearbeitung des Rolandslieds im Jahr 1217 am Hof und im Auftrag des österreichischen Herzogs Leopold IV. geschrieben worden sei, um dessen für das folgende Jahr geplantes Kreuzzugsunternehmen propagandistisch vorzubereiten. Das Bild, das der Stricker vom großen Frankenkaiser zeichne, sei dabei «nicht nur ein[...] Reflex herzoglichen Selbstverständnisses, sondern auch und vielleicht sogar in erster Linie eine Reverenz an den Kaiser und dessen seit 1215 propagierten Kreuzzugsplan. [...] der uneingeschränkt anerkannte Staufer nach 1215 wäre in der mächtigen Position Karls des Großen gespiegelt.» 84 Von den frühesten Überlieferungszeugen her ist eine Karl-Genese im bayerisch-österreichischen Raum durchaus vorstellbar (vgl. S. 124ff.), ob man die Rolandslied-Bearbeitung allerdings als eine Art (politischer) Propaganda auffassen darf, erscheint zweifelhaft. Die zweite gängige These zur Entstehung des Karl geht davon aus, dass der Text im Gefolge der für 1233 nachweisbaren Überführung von Karlsreliquien nach Zürich geschrieben sei und in engem Nexus zum dortigen Karlskult stehe. 85 Eine Verknüpfung mit Zürich und dem dortigen Großmünster, neben Aachen bis zur Reformation ein wichtiges Zentrum der Karlsverehrung, ist 86 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption Reineri Annales, ad 1215, MGH SS 16, S. 673) und im Anschluss daran die moderne wissenschaftliche Literatur vielfach behaupten. Es wäre jedenfalls ungewöhnlich, wenn Friedrich aktiv an der Vollendung eines Kunstwerks mitgewirkt hätte, dessen, hauptsächlich an den Interessen des Aachener Marienstifts orientiertes, Figurenprogramm neben dem Stauferkönig gleichfalls dessen welfischen Gegenspieler Otto IV. zeigt. 1215 als Datum der Fertigstellung des Karlsschreins zweifelt neuerdings auch an Viola B elghaus : Der erzählte Körper. Die Inszenierung der Reliquien Karls des Großen und Elisabeths von Thüringen. Berlin 2005, S. 49f. 81 In diesem Sinne Johannes S inger : Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte von Strickers Karl dem Grossen. Diss. Bochum 1971; Udo von der B urg : Strickers Karl der Große als Bearbeitung des Rolandsliedes. Studien zu Form und Inhalt. Göppingen 1974 (GAG 131). 82 Vgl. Rüdiger S chnell : Strickers ‹Karl der Große›. Literarische Tradition und politische Wirklichkeit. In: ZfdPh 93 (1974), Sonderheft, S. 50-80. 83 Vgl. auch G eith , Carolus Magnus, S. 190-192. 84 Michael S chilling : Der Stricker am Wiener Hof? Überlegungen zur historischen Situierung des Daniel von dem Blühenden Tal. (Mit einem Exkurs zum Karl). In: Euphorion 85 (1991), S. 273-291, hier S. 291. 85 Vgl. F olz , Souvenir, S. 319; G eith , Carolus Magnus, S. 188f. <?page no="97"?> nicht von vornherein auszuschließen, zumal ein Zürcher Interesse am Karl mehrfach deutlich wird. So ist z. B. die aufwendig illustrierte Karl-Handschrift Ms 302 Vad. mit einiger Sicherheit um 1300 in Zürich geschrieben worden. Ebenfalls in Zürich entstand im 15. Jahrhundert das hauptsächlich auf Strickers Rolandslied-Bearbeitung beruhende Buch vom heiligen Karl, das sich im Besitz von Hans Rüeger, seit spätestens 1472 Amtmann am Zürcher Frauenmünster, befand, der vermutlich auch der Auftraggeber der Handschrift war. Allein - das Jahr 1233 als terminus post quem bleibt kritisch angesichts des ältesten bekannten, auf 1220/ 1240 datierten Karl-Fragments, das eine Entstehung dieser oberdeutschen Rolandslied-Bearbeitung noch im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts wahrscheinlich macht. Ort und Datum der Karl- Genese bleiben damit letztlich ebenso im Dunkeln wie der unmittelbare Anlass zu jener Neubearbeitung des Rolandslieds, die die Heiligkeit Karls noch weit stärker akzentuiert als Konrads Text. Mit Blick auf die wenig glücklichen Versuche einer exakten Datierung und Lokalisierung des Karl und in Anbetracht der vage klingenden Prologzeilen über den Nutzen, den man vom heiligen Karl bislang schon gehabt habe und der sich in Zukunft noch steigern werde, favorisieren andere Arbeiten den Gedanken einer bewusst unbestimmten Formulierung, die einen variablen Gebrauch des legendarisch überhöhten Textes zulasse. 86 Mit dieser Annahme harmoniert hervorragend das Faktum einer augenscheinlich recht weiten Verbreitung und intensiven Rezeption des Karl bis weit ins 15. Jahrhundert. Willehalm, Arabel, Rennewart Obschon sowohl Wolframs Chanson de geste-Adaptation als auch die Chanson de geste-Bearbeitungen Ulrichs von Türheim (Rennewart) und Ulrichs von dem Türlin (Arabel) Hinweise zu enthalten scheinen, aus denen man ihre Entstehungsumstände rekonstruieren zu können glaubte, sind die genauen Entstehungshintergründe des Willehalm und seiner Ergänzungen ähnlich ungeklärt wie die des Rolandslieds und des Karl. Aus den Willehalm-Prologversen lantgrâve von Düringen Herman/ tet mir diz maere von im bekant (Wh 3,8f.), der ebenfalls dem Prolog zu entnehmenden Erzählerbemerkung, der Willehalm sei nach dem Parzival entstanden (Wh 4,19f.), sowie den Schlussversen des Karl, die voraussetzen, dass der Stricker Wolframs Chanson de geste-Adaptation kannte, wird im Allgemeinen auf eine Entstehung im Umkreis des Hofes Landgraf Hermanns I. von Thüringen (um 1155 -1217) in den Jahren zwischen ca. 1210 und 1220 geschlossen. E. Kleinschmidt betonte Rezeption französischer Heldenepik 87 86 Rüdiger B randt : erniuwet. Studien zu Art, Grad und Aussagefolgen der Rolandsliedbearbeitung in Strickers Karl. Göppingen 1981 (GAG 327); Joachim H einzle : Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/ 30-1280/ 90). Königstein Ts. 1984 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. II/ 2), S. 154; Dorothea K lein : Strickers ‹Karl der Große› oder die Rückkehr zur geistlichen Verbindlichkeit. In: WS 15 (1998), S. 299-323. <?page no="98"?> zwar zurecht, dass es methodisch diskussionswürdig sei, aus der Wendung lantgrâve von Düringen Herman/ tet mir diz maere von im bekant ohne Weiteres einen Auftrag Hermanns von Thüringen für den Willehalm abzuleiten. 87 Da aber kein anderer Willehalm-Mäzen erkennbar ist und überdies gegen Ende des Willehalm Hermann von Thüringen noch einmal (als bereits Verstorbener? ) erwähnt wird (Wh 417,22ff.), geht man gleichwohl von einer Entstehung des Willehalm im Auftrag Hermanns I. aus, der als einer der größten Literaturmäzene seiner Zeit gilt. 88 In einem vergleichbar hochadligen Umfeld vermutet man auch die Genese des Rennewart, der direkten Fortsetzung des Fragment gebliebenen Willehalm. Weil Ulrich von Türheim in seinen Texten häufiger Namen aus dem Stauferkreis erwähnt, etwa Konrad von Winterstetten, den einflussreichen Reichsschenk und Erzieher des jungen Königs Konrad, hat man gefolgert, auch der Rennewart-Autor gehöre dem sogenannten spätstaufischen Dichterkreis an. Die Überlegung ist nicht völlig von der Hand zu weisen, anfechtbar ist es allerdings, daraus in einem nächsten Schritt die genaue Entstehungsgeschichte des Rennewart ableiten zu wollen. So hat die Erwähnung verschiedener Persönlichkeiten aus der staufischen Umgebung, 89 unter anderem der Herren von Neiffen (möglicherweise Albert und Heinrich von Neiffen, gest. 1245 bzw. 1246) und des Schenken von Winterstetten (gest. 1243), als bereits Verstorbene (vgl. Rw 25756-25782) dazu geführt, die Entstehungsgeschichte des Rennewart direkt mit dem datierbaren Tod dieser Herren in Zusammenhang zu bringen: Für die Datierung des ‹Rennewart› sind die Namen und die dazugehörigen Todesdaten insofern aufschlußreich, als die Angabe über die Herren von Neiffen augenscheinlich ein Einschub ist, man also davon ausgehen kann, daß im Jahr 1243, beim Tode des Schenken von Winterstetten, mehr als zwei Drittel des Werkes fertiggestellt waren. 90 Ob man jedoch die Erwähnung der 1245 und 1246 verstorbenen Herren von Neiffen, wie Westphal und Hübner dies offensichtlich annehmen, als gleichsam spontane Reaktion Ulrichs von Türheim interpretieren darf, der auf die Nachricht von deren Ableben hin die Passage, in der er, ebenso spontan, zuvor bereits den Tod des 1243 verstorbenen Schenken von Winterstetten beklagt hatte, noch um diese zusätzliche Information erweitert hätte, scheint doch 88 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 87 Vgl. Erich K leinschmidt : Literarische Rezeption und Geschichte. Zur Wirkungsgeschichte von Wolframs Willehalm im Spätmittelalter. In: DVjs 48 (1974), S. 585-649, hier S. 593 und Anm. 30. 88 Vgl. auch Joachim B umke : Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart, Weimar 2004, S. 13-15. 89 Zur Identifizierung vgl. Christa W estphal -S chmidt : Studien zum «Rennewart» Ulrichs von Türheim. Frankfurt/ M. 1979, S. 5-7. 90 Ebd., S. 7; ähnlich zuvor auch schon H übner im Vorwort seiner Rennewart-Ausgabe, S. LI. <?page no="99"?> sehr fraglich. Dies um so mehr, als die Totenklage des Erzählers um verstorbene Mächtige aus der engsten Umgebung der staufischen Führungsschicht nicht etwa an einer zufälligen Stelle in den Text eingefügt wurde, an der den Autor während des Arbeitsprozesses vielleicht gerade die Nachricht vom Tod des Herrn von Winterstetten erreichte, sondern unmittelbar auf jene Passage folgt, in der Willehalm und Kyburg die Nachricht vom Tod Rennewarts und vom Ableben der Eltern Willehalms erhalten und alle drei in tiefster Trauer beklagen. Die Trauer des Erzählers um verstorbene Magnaten der politischen Führungsschicht ist demnach funktional in den Text eingebunden, sie illustriert und bekräftigt eine wichtige Passage der Erzählung durch (vorgeblich) persönliche Erfahrung. Mit der Genese des Rennewart steht sie in keinem direkten Zusammenhang, genau genommen lässt sich aus ihr nicht einmal der in der Forschung immer wieder behauptete enge Kontakt Türheims zum sogenannten staufischen Dichterkreis ableiten. Wenn die Erwähnung verstorbener Größen des Stauferkreises aber mit der Textentstehung in keinem unmittelbaren Zusammenhang steht, entfällt der einzige Anhaltspunkt für eine exakte Datierung des Rennewart. Der Verweis auf den Tod Ulrichs von Winterstetten liefert dann lediglich noch einen terminus post quem von 1243. 91 Da ein vergleichbarer terminus ante quem nicht existiert und die frühesten bekannten Rennewart-Handschriften aus dem Ausgang des 13. Jahrhunderts stammen, ergibt sich theoretisch fast die gesamte zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts als möglicher Produktionszeitraum. 92 Das hat Konsequenzen für die Entstehung der Willehalm-Trilogie. Denn unter der Prämisse einer Rennewart-Genese «weit über die Jahrhundertmitte», wie sie in der jüngeren Forschung erwogen wird, 93 ist es durchaus vorstellbar, ja sogar wahrscheinlich, dass Ulrich von Türheim und Ulrich von dem Türlin in etwa parallel und dann möglicherweise ohne gegenseitige Kenntnis an ihren Ergänzungen der von Wolfram nicht vollendeten Chanson de geste-Adaptation arbeiteten. 94 So würde jedenfalls besser verständlich, weshalb sowohl Türheim als auch Türlin häufig auf Wolframs Chanson de geste-Bearbeitung rekurrieren, aber mit keinem Wort auf den ergänzenden Text des jeweils anderen eingehen. Die Arabel, Türlins Willehalm-Vorgeschichte, soll um 1260/ 70 im Umkreis des Prager Hofes des Böhmerkönigs Ottokar II. verfasst worden sein. Diese Annahme beruht allerdings allein auf einem Zusatz, der einzig in der Arabel-Hs A (Heidelberg, Universitätsbibl., cpg 395) überliefert ist. Das Akrostichon MEISTER VLRICH VON DEM TVRLIN HAT MIH GE- MACHET wird dort ergänzt durch den Zusatz DEM EDELN CVNICH Rezeption französischer Heldenepik 89 91 Ähnlich bereits Friedrich W ilhelm : Studien zu Ulrich von Türheim. In: Münchener Museum 4 (1924), S. 1-76, hier S. 29f. 92 Bis um 1285 ist ein Ulrich von Türheim urkundlich nachweisbar, vgl. ebd., S. 6-10. 93 Vgl. Peter S trohschneider : Art. Ulrich von Türheim. In: VL 2 10 (1999), Sp. 28-39. 94 Vgl. dagegen S chröder , Art. Ulrich von dem Türlin, Sp. 48: Türlin habe um Türheims Projekt einer Willehalm-Ergänzung gewusst, habe den Text aber nicht gekannt. <?page no="100"?> VON BEHEIM. 95 Die Zuweisung der Arabel an den Prager Hof hängt somit wesentlich davon ab, ob man - wie heute meist üblich - die nur durch Handschrift A repräsentierte Fassung *A für die ältere hält (und die das Akrostichon ursprünglich auf den böhmischen König zuspitzenden Verse somit in einer späteren Bearbeitungsstufe ausgelassen worden wären), oder ob man die in den anderen Handschriften (Fassung *R) stets überlieferte Akrostichon- Fassung, die lediglich den Autor des Textes, nicht aber dessen Mäzen nennt, für die ältere erachtet (und der in *A vorhandene Bezug auf den Böhmerkönig dann eine nachträgliche Konkretisation wäre, die möglicherweise aus Anlass der Rezeption an dessen Hof aktuell hinzugefügt wurde). Weitere Texteingriffe, die *A und *R unterscheiden, scheinen allerdings nahezulegen, dass *R eine spätere Bearbeitung von *A darstellt und somit in der Tat das ursprüngliche Akrostichon auf eine Arabel-Entstehung in der Umgebung des böhmischen Königshofes deuten würde. 96 Es bleiben jedoch Unsicherheiten, die eine eindeutige Entscheidung über die chronologische Abfolge beider Arabel-Fassungen erschweren. Nicht völlig auszuschließen ist ebenfalls die Möglichkeit etwa zeitgleicher Parallelfassungen (vgl. dazu auch S. 217f.). Eine exakt auf 1260/ 1270 zu datierende Entstehung im Auftrag des böhmischen Königs Ottokar II. wäre dann freilich fraglich. 97 90 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 95 Die kursiv gesetzten Buchstaben sind konjiziert. In der Handschrift lautet der Akrostichon-Zusatz: DEM EDELN CVEICH VON BEHDND. Auf den Böhmerhof und dessen König Ottokar deutet allerdings auch der Inhalt der Plusverse in A, in denen Von Beheim lande dem kv i nig in vier landen, Otakker die Rede ist (vgl. *A 8,9-31). Vgl. zum Akrostichon S chröder , ‹Arabel›-Studien I, S. 88-93; Kurt G ärtner : Zur Schreibsprache des Akrostichons in der ‹Arabel› Ulrichs von dem Türlin. In: Václav Bok u. a. (Hg.): Deutsche Literatur des Mittelalters in und über Böhmen, Bd. II. Hamburg 2004, S. 47-55. 96 Umsichtig und gründlich werden die aus den unterschiedlichen Fassungen von *A und *R resultierenden Schwierigkeiten in der ausführlichen Rezension zu W. Schröders Arabel-Ausgabe besprochen von Bernd S chirok : Autortext - Fassung - Bearbeitung. Zu Werner Schröders Ausgabe der ‹Arabel› Ulrichs von dem Türlin. In: ZfdA 130 (2001), S. 166-196; vgl. auch U rban , die sich auf S. 40-46 ebenfalls eingehend mit der komplizierten Überlieferung der Arabel und den daraus resultierenden Schwierigkeiten und Möglichkeiten auseinandersetzt. 97 Anfechtbar blieben somit auch Interpretationen, die die Funktion oder die Genese der Arabel unmittelbar aus historischen Ereignissen am böhmischen Königshof im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts abzuleiten versuchen; vgl. Hans-Joachim B ehr : Literatur als Machtlegitimation. Studien zur Funktion der deutschsprachigen Dichtung am böhmischen Königshof im 13. Jahrhundert. München 1989 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 9), S. 125ff.; Timothy M c F arland : Minne-translatio und Chanson de geste-Tradition. Drei Thesen zum Willehalm-Roman Ulrichs von dem Türlin. In: Geistliche und weltliche Epik des Mittelalters in Österreich, hg. von David McLintock u. a. Göppingen 1987 (GAG 446), S. 57-73, hier S. 66ff.; vorsichtiger H öcke , S. 269f. und U rban , S. 271-288. <?page no="101"?> Schlacht von Alischanz Das als Schlacht von Alischanz bezeichnete Fragment, das als Textzeuge einer zweiten deutschsprachigen, von Wolframs Willehalm ganz unabhängigen Bearbeitung der französischen Chanson d’Aliscans betrachtet werden muss, gibt in vielerlei Hinsicht Rätsel auf. Aufgrund der merkwürdigen Schreibsprache, die zugleich oberdeutsche wie niederrheinisch-niederländische Kennzeichen aufweist, ist nicht eindeutig zu klären, wo diese zweite deutsche Fassung der Chanson d’Aliscans entstand, die nur in einer einzigen Handschrift aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts überliefert ist (vgl. S. 130-132). Illustriert wird der erhaltene Text durch ‹strichmännchenartige› Skizzen am jeweils linken seitlichen Spaltenrand (selten auch rechts) der zweispaltigen Folioblätter, die das Erzählgeschehen fortlaufend und in hoher Frequenz illustrieren. Diese ungewöhnliche Bebilderung, die vermutlich die gesamte Handschrift umfasst haben dürfte, lässt sich «stilistisch [...] nicht einordnen». 98 In der Forschung ist aufgrund des sprachlichen und metrischen Befundes bereits früh vermutet worden, dass die Alischanz-Handschrift konzeptartigen Charakter trage. 99 Die oft wie flüchtige Skizzen wirkenden Bilder können diese Vermutung stützen. Ungeklärt bleibt dann freilich immer noch, weshalb jenes ‹Konzept› doch einigermaßen aufwendig samt roter Abschnittsinitialen und zwar skizzenhafter, gleichwohl farbig angelegter Bilder auf einem teuren Schreibstoff wie Pergament fixiert worden wäre. Andererseits dürfte es einigermaßen mühsam sein, einen solch umfangreichen Text wie Aliscans samt Bildentwürfen vollständig auf Wachstafeln festzuhalten, und sei es auch nur als Konzept. Rezeption französischer Heldenepik 91 98 Elisabeth K lemm : Die illuminierten Handschriften des 13. Jahrhunderts deutscher Herkunft in der Bayerischen Staatsbibliothek, 2 Bde. (Textband, Tafelband). Wiesbaden 1998 (Katalog der illuminierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München 4), S. 275. Eine farbige Wiedergabe von fol. 1v (nicht 1r, wie fälschlich angegeben) des Alischanz-Fragments bei Klaus A rnold : 1250 Jahre Kitzingen. Aus dem Schatten des Klosters zur Stadt am Main. Kitzingen 1996 (Schriften des Stadtarchivs Kitzingen 5), Farbabbildung 5; s/ w Abb. von Fol. 2v und 3r bei K lemm , Abb. 678, 679. Jürgen W olf : Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert. Tübingen 2008 (Hermaea 115) vermutet, S. 90, eventuelle französische oder norditalienische Vorbilder für die Marginalillustrationen. 99 Vgl. Hermann S uchier : Über das niederrheinische Bruchstück der Schlacht von Aleschans. In: Germanistische Studien. Supplement zur Germania, hg. von Karl Bartsch, Bd. 1. Wien 1872, S. 134-158, hier S. 151; Willy S chulz : Die Kitzinger bruchstücke der schlacht von Alischanz und ihre französische vorlage. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 142 (1921), S. 230-247, hier S. 230; Albert L eitzmann : Zu den Kitzinger Bruchstücken der Schlacht von Alischanz. In: Untersuchungen und Quellen zur germanischen und romanischen Philologie. Johann von Kelle dargebracht von seinen Kollegen und Schülern. Erster Teil. Prag 1908 (Prager deutsche Studien 8), S. 387-399, hier S. 393; anders de B oor , Geschichte der deutschen Literatur, S. 123. <?page no="102"?> Karl und Galie Weit weniger geklärt als es in den Handbüchern den Anschein hat, ist die Datierung und genauere Lokalisierung der im mittel- und niederdeutschen Raum verfassten Chanson de geste-Bearbeitungen. Die Entstehung von Karl und Galie hatten Frings/ Schieb auf 1200 oder sogar noch etwas früher angesetzt, Beckers rückte das Entstehungsdatum ein wenig herauf und plädierte für ca. 1215/ 1220. Grundlage für diese Annahme ist die von Beckers selbst vorgenommene Datierung der erhaltenen Karl und Galie-Fragmente auf ca. 1260/ 1280, 100 die aber auch eine etwas spätere Textgenese zulassen würde. Frings/ Schieb ging es ebenso wie Beckers jedoch anscheinend darum, den in der fachwissenschaftlichen Diskussion lange wenig beachteten Text unter allen Umständen noch in der ‹staufischen Blütezeit› anzusiedeln, um seine Zugehörigkeit zum Kanon der mittelalterlichen deutschen Literatur wenigstens auf diese Weise sicherzustellen. Aufgrund sprachlicher Kriterien vermutet man als Entstehungsort meistens Aachen, «den Hauptkultort Karls des Großen», 101 und dort eventuell einen Autor aus dem Umkreis des Marienstifts, dem Ort, an dem der Frankenkaiser 1165 heilig gesprochen worden war, und an dem seit dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts der prachtvolle Schrein Karls steht. Aus dem präsupponierten Entstehungsort wird teilweise auch auf die Funktion des Textes geschlossen. 102 Die Heiligkeit Karls und sein in anderen Karltexten häufig herausgestellter Kontakt zum Himmel stehen in Karl und Galie jedoch nicht unbedingt im Mittelpunkt. Wenn etwa Karls militärische Erfolge, sein politisches Geschick oder auch sein vorbildliches Verhalten als Liebender vorgeführt werden, deutet das möglicherweise eher auf ein adlig-höfisches Umfeld. In einen adligen Entstehungskontext würde sich zudem recht gut die nur in der deutschen Fassung des Mainet-Stoffes überlieferte Eingangspassage fügen, in der der soziale Aufstieg der beiden geburen Hoderich und Hanfrait auf einen geheimnisvollen Schatz zurückgeführt wird, der sie zu so gewaltiger 92 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 100 Vgl. Hartmut B eckers : Paläographisch-kodikologische und sprachgeschichtliche Beobachtungen zu den alten Pergamentbruchstücken von ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie›. Ein Beitrag zur Klärung ihrer überlieferungsgeschichtlichen Stellung. In: Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von Volker Honemann und Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S.179-213. Im Unterschied zu Beckers datiert D. H elm nur die Fragmente B und K auf 1270/ 80, die übrigen auf das Ende des 13. Jahrhunderts bzw. um 1300, vgl.: Karl und Galie. Karlmeinet, Teil I. Abdruck der Handschrift A (2290) der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt und der 8 Fragmente, hg. und erläutert von Dagmar Helm, Berlin 1986 (DTM 74), S. 10, S. 13. 101 Hartmut B eckers : Möglichkeiten und Grenzen einer kritischen Neuausgabe von «Karl und Galie». In: Editionsberichte zur mittelalterlichen deutschen Literatur. Beiträge der Bamberger Tagung «Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte», hg. von Anton Schwob. Göppingen 1994 (Litterae 117), S. 3-14, hier S. 3. 102 H elm, Einleitung, S. 9: «Beide Epen [Karl und Galie, Morant und Galie] sind nach Frings dem rheinischen Karlskult anzuschließen, der von St. Denis bei Paris ausging, aber vor allem an Aachen und Köln gebunden war.» <?page no="103"?> ökonomischer Macht gelangen lässt, dass sie, zum Ärger des alteingesessenen Adels, selbst den König durch enorme Kredite in ihre Abhängigkeit bringen und dadurch dann nach dessen Tod die politische Herrschaft an sich reißen können. Ein solches Motiv führt in geradezu klassisch diffamierender Manier (man denke etwa an die Charakterisierung als grove geburen) das Unverständnis und die Ängste bestimmter Adelsgruppierungen vor der erstarkenden finanziellen und daraus resultierenden politischen Kraft nichtadliger, patrizischer Kreise vor. Von daher sollte die These einer Entstehung im Umkreis des Aachener Marienstifts noch einmal überprüft werden. Zu erwägen wäre neben dieser Annahme auch eine Entstehung im Umkreis bzw. im Auftrag eines rheinischen, möglicherweise auch limburgisch-maasländischen Adelsgeschlechts, etwa der Grafen von Jülich, der Herren von Heinsberg oder der Herzöge von Limburg, deren Territorien in unmittelbarer Nähe der reichsfreien Stadt Aachen lagen und die jeweils über gute politische und kulturelle Beziehungen in den französischsprachigen Raum verfügten. 103 Morant und Galie Ähnlich ungeklärt wie die genauen Entstehungsumstände von Karl und Galie sind diejenigen von Morant und Galie, einer Erzählung, die sich als Fortsetzung von Karl und Galie geriert und vom Schicksal des mittlerweile verheirateten Paares berichtet. Die bereits in der ältesten, noch nicht in den Kontext der Karlmeinet-Kompilation eingefügten Fassung nachweisbaren Bezüge auf die Erzählhandlung von Karl und Galie sprechen in jedem Fall aber für eine Entstehung nach jenem Text, auf den sie so deutlich anspielen. Den Ergebnissen von Beckers zufolge datiert Fragment M, die früheste bekannte Handschrift von Morant und Galie, aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts. 104 Die Abfassung der Erzählung vermutet er etwa ein Jahrhundert früher, ungefähr um 1220/ 1230. 105 Weshalb Beckers, im Unterschied zu Karl und Galie, Rezeption französischer Heldenepik 93 103 Vgl. auch H elm , die nach einer sorgfältigen Analyse des Sprachstandes und der Reimgrammatik auf einen Entstehungsort «in der Nähe des Maasländisch-Limburgischen, wahrscheinlich im Umkreis von Aachen» schließt; Dagmar H elm : «Karl und Galie» - eine rheinische Karlsdichtung? Zur deutschen und niederländischen Forschung. In: Niederlandistik und Germanistik. Tangenten und Schnittpunkte. Festschrift für Gerhard Worgt zum 65. Geburtstag. Frankfurt/ M. usw. 1992, S. 149-156, hier S. 154.; s. auch dies. , Karl und Galie-Ausgabe, S. 8; H elm fasst damit kurz die Ergebnisse ihrer Dissertation zusammen; Dagmar H elm : Untersuchungen zur Sprache des Karlmeinet Teil I. Diss. (masch.) Leipzig 1966. Im Unterschied zu B eckers zeigt H elm sich allerdings bemerkenswert vorsichtig im Hinblick auf die Bestimmung des genaueren Entstehungskontextes: «Hypothetisch bleiben letzten Endes auch unsere Aussagen über Lokalisierung und Datierung des Originals, unterschieden nur durch einen höheren oder geringeren Grad von Wahrscheinlichkeit»; Einleitung, S. 7. 104 Vgl. B eckers , Paläographisch-kodikologische Beobachtungen. 105 Vgl. B eckers : Art. ‹Karlmeinet›-Kompilation. In: VL 2 4 (1983), Sp. 1012-1028, hier Sp. 1018; F rings / L inke hatten hingegen, einer Vermutung L achmann s folgend, für eine Entstehung um 1200 votiert und Morant und Galie daraufhin in den von ihnen (re)konswo <?page no="104"?> er nur gut 40 Jahre zwischen der frühesten bekannten Handschrift (Fragment B) und der Entstehung veranschlagte, für Morant und Galie einen etwa doppelt so großen zeitlichen Abstand zwischen Produktion und den frühesten Überlieferungszeugen annimmt, wird indes nicht recht deutlich. 106 Die Forschung ist ihm gleichwohl in seinem Datierungsvorschlag gefolgt. Aus der Sprache von Fragment M wurde ebenfalls der exakte Entstehungsort von Morant und Galie zu erschließen versucht. Sowohl Frings/ Linke als auch Beckers votierten für eine Region, die östlicher als die vermutete Aachener Ursprungsregion von Karl und Galie anzusiedeln sei, mithin etwa in der Gegend von Köln liegen müsse. Frings/ Linke plädierten dabei sogar ganz konkret für die Stadt Köln als den eigentlichen Entstehungsort und für das Kölner Patriziat des frühen 13. Jahrhunderts als das anvisierte Publikum von Morant und Galie. Auf die Problematik einer solchen Setzung hat bereits P. Ganz in einer Rezension zur Morant und Galie-Ausgabe von Frings/ Linke aufmerksam gemacht: «Wenn der kritische Text sich also auf ein idealisiertes Kölnisch der Zeit um 1200 festlegt, dann bleiben die Voraussetzungen, von denen diese Rekonstruktion ausgeht, doch einigermaßen hypothetisch.» 107 Mindestens ebenso gut denkbar wie die Entstehung im Umkreis des Kölner Patriziats zu Anfang des 13. Jahrhunderts wäre die Produktion von Morant und Galie z. B. auch im Umkreis des Kölner Erzbischofs im ausgehenden 13. Jahrhundert 108 oder im Auftrag eines rheinischen Fürstengeschlechts zu Beginn des 14. Jahrhunderts. 109 Sowohl für Rezipienten im Umfeld eines klerikalen oder adligen Hofes als auch für ein städtisch-patrizisches Publikum dürfte jedenfalls die Thematik von Morant und Galie interessant gewesen sein. Wird doch die Erzählhandlung wesentlich durch einen komplizierten Rechtsgang bestimmt, durch den die von ihrem Gatten Karl zu Unrecht verstoßene Galie schließlich rehabilitiert wird. Dass ein juristisch aufgeladener Text ausgerechnet Karl den Großen in der Rolle des obersten Richters präsentiert, dürfte wohl aus der mittelalterlichen Sichtweise auf den ersten Frankenkaiser resultieren, der als irdischer Vermittler des göttlichen, ewig gültigen Rechts und insofern als Begründer des guten, alten Rechts überhaupt gilt. Keineswegs zufällig haben 94 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption truierten ripuarischen Sprachstand jener Zeit rückübersetzt, vgl. Morant und Galie- Ausgabe, Einleitung S. XXXVI. 106 In seiner Rezension der Ausgabe von Frings/ Schieb behauptet B eckers ohne Angabe von näheren Gründen, «allzu groß kann der zeitliche Abstand zwischen beiden Werken (KG und MG) aber nicht sein, so daß MG m. E. schwerlich jünger als 1225 ist.» Hartmut B eckers : Rez. Morant und Galie. In: AfdA 91 (1980), S. 62-73, hier S. 72. Vgl. auch B eckers , Art. ‹Karlmeinet›-Kompilation, Sp. 1018. Gegen L inke will er die Entstehung auf «mindestens 1220-1230 herabrücken.» 107 Peter G anz : Rez. Morant und Galie, hg. von Theodor Frings, Elisabeth Linke. Berlin 1976. In: PBB 100 (1978), S. 316-325, hier S. 322. 108 Ebenfalls im Umkreis eines Kölner Erzbischofs entstand vermutlich die Königstochter von Frankreich des Hans von Bühel, die wie Morant und Galie dem Erzählschema der unschuldig verfolgten Frau verpflichtet ist. 109 Dass Morant und Galie in Adelskreisen durchaus auf Interesse stieß, verdeutlicht etwa Handschrift C, die aus der Bibliothek derer von Blankenheim stammt. <?page no="105"?> dann auch mehrere Untersuchungen zu demonstrieren versucht, dass der Handlungsverlauf mittelalterliche Rechtsgewohnheiten (ordnungsgemäße Vorladung, Verhandlung und schließlich Ordal) detailliert nachzeichne. 110 Nicht immer wird in diesen Arbeiten allerdings genügend beachtet, dass sich juristischer und literarischer Diskurs hier auf komplizierte Weise durchdringen, die juristischen Gepflogenheiten der (vermuteten) Entstehungszeit also nicht unmittelbar in den Text eingegangen sind oder aus ihm rekonstruiert werden können. Wie die literarischen Wirklichkeitskonstruktionen in Morant und Galie auf die außerliterarische Situation zu beziehen sind, wäre noch zu eruieren. 110a Ospinel Erhalten hat sich von dieser deutschen Fassung eines Epos mit typischen Chanson de geste-Motiven ein teilweise beschnittenes Pergament-Doppelblatt des 14. Jahrhunderts in ripuarischer Schreibsprache, das insgesamt 153 Verse überliefert, die aus zwei Textpartien stammen. 111 In der ersten fordert Ospinel/ Hospinel, ein sarazenischer Krieger, Roland, Oliver oder Oigir zum Zweikampf heraus, doch ist es dann Turpin, der gegen ihn antritt; die zweite Textpartie schildert einen erbitterten Kampf zwischen Ospinel/ Hospinel und Oliver, den letzterer gewinnt. Wie diese Ausschnitte in die Gesamthandlung einzuordnen sind, kann man aus einer zweiten, rund 1100 Verse enthaltenden Ospinel-Fassung erschließen, die in die ripuarische Karlmeinet-Kompilation (vgl. S. 98-102) integriert wurde. Demnach fällt die literarische Handlung des Ospinel in die Zeit von Karls Kämpfen gegen die spanischen Sarazenen und fungiert als eine Art Vorgeschichte des Rolandslieds. 112 Ob der fragmentarisch Rezeption französischer Heldenepik 95 110 Vgl. Elisabeth L inke : Der Rechtsgang in Morant und Galie. Kritischer Text der Beratungsszene und Urteilsfindung. In: PBB 75 (1953), S. 1-130; Cola M inis : Zur Sprache des Prozesses in Morant inde Galie. In: Gedenkschrift für Ingerid Dal, hg. von J. O. Askedal u. a. Tübingen 1988, S. 75-85; ders .: Zu ‹Morant inde Galie›: Vorladung und Fahrt nach Paris. In: wortes anst - verbi gratia. Donum natalicium G. A. R. de Smet, hg. v. H. L. Cox. Leuven, Amersfoort 1986, S. 341-350. 110a Vgl. dazu demnächst: Nadine K rolla : Erzählen in der Bewährungsprobe. Studien zur literarischen Beschaffenheit und kontextuellen Positionierung der Karlsdichtung ‹Morant und Galie›. Diss. Freiburg/ Br. 2010. 111 Vgl. die Beschreibung des Fragments in: Kurt Hans S taub , Thomas S änger : Deutsche und niederländische Handschriften. Mit Ausnahme der Gebetbuchhandschriften. Wiesbaden 1991 (Die Handschriften der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt 6), S. 149f. (Nr. 102); die dortige Charakterisierung der Schreibsprache als «Niederdeutsch/ Mittelniederdeutsch (Mischtext)» ist nicht haltbar, die Schreibsprache ist vielmehr derjenigen der Karlmeinet-Kompilation ähnlich und zeigt in Konsonantismus wie Vokalismus die typischen Kennzeichen des Ripuarischen. Der Datierung der Fragmente ins 14. Jahrhundert ist hingegen zuzustimmen. Abdruck und Abbildung der Fragmente bei L. A. H aas : Die Fragmente des ‹Karlmeinet› in Darmstadt. In: Neophilologus 8 (1923), S. 259-270, hier S. 265-270; H aas datiert die Fragmente allerdings «in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts», ebd. S. 265. 112 In der Karlmeinet-Handschrift, der die Ausgabe von A. v. Keller folgt, ist die Handlungsfolge des Ospinel allerdings im letzten Drittel (durch eine verbundene Vorlage <?page no="106"?> erhaltene Ospinel eine von der Kompilation unabhängige, ältere Fassung bietet (wie dies ähnlich auch bei Rolandslied, Karl und Galie, Morant und Galie sowie Karel ende Elegast der Fall ist, die in die Kompilation eingingen) oder eine Abschrift aus ihr darstellt, möchte H. Beckers mit Blick auf die im 14. Jahrhundert anzusetzende Entstehungszeit der nur fragmentarisch erhaltenen Ospinel-Handschrift offen lassen. 113 Die von ihm auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts veranschlagte Datierung der Karlmeinet-Kompilation ist jedoch keineswegs so sicher, wie Beckers glaubte (s.u.). Der nur fragmentarisch 96 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption oder ein vertauschtes Blatt? ) gestört, korrekt ist die Anordnung: 408,60-420,10; 421,19- 422,29; 420,11-421,18; 422,30-425,20. Demnach gestaltet sich die Handlung wie folgt: Karl hat beinahe ganz Spanien, bis auf Zaragoet, erobert und bedrängt König Marselis schwer. In dieser Situation kommt Marselis Ospinel, der König von Babilonien, zu Hilfe. Um Marselis Tochter Magdalie heiraten zu können, will er in Karls Lager ziehen und alle zwölf Pairs besiegen. Dort fordert er Roland, Oliver oder Oiger zum Zweikampf, kämpft zunächst aber gegen Turpin (= 1. Teilfragment), hebt diesen mit umgedrehter Lanze schließlich aus dem Sattel und schickt ihn zurück zu Karl mit dem Auftrag, ihm Roland, Oliver oder Oiger zu senden. Karl will den Bezwinger Turpins kennen lernen und sichert ihm freies Geleit zu. Bei Karl angekommen und von ihm freundlich aufgenommen, fordert Ospinel/ Hospinel den Frankenkönig nach kurzer Unterhaltung barsch zur Unterwerfung auf und entfernt sich wieder. Roland und Oliver streiten um die Ehre, nun gegen den Heiden antreten zu dürfen; auf Intervention Karls verzichtet Roland endlich und stattet Oliver mit seinem unfehlbaren Schwert Durndart aus. Im anschließenden Zweikampf kann Ospinel/ Hospinel das Schwert durch einen Zauber zunächst unschädlich machen, erst als es zu Boden fällt, wird der Bann gebrochen. Oliver schlägt Ospinel/ Hospinel im weiteren Verlauf des Kampfes den rechten Arm ab, der ergibt sich daraufhin und will Christ werden (= 2. Teilfragment), nach der Taufe erliegt er allerdings seinen schweren Verletzungen. Magdalie klagt um ihn und verspricht demjenigen ihre Liebe, der Ospinel/ Hospinel räche. Marsalat, der König von Tornanant, erklärt sich dazu bereit. Zusammen mit drei anderen Königen und Magdalie bricht er auf und trifft auf Roland, der drei Heiden tötet, der vierte kann fliehen. Magdalie bleibt allein zurück und begibt sich in Rolands Schutz. Der verliebt sich auf der Stelle in sie, Magdalie erklärt sich bereit, Christin zu werden. Zusammen machen sich beide auf den Rückweg. Als er Magdalie in den Sattel hebt, vergisst Roland dabei allerdings Durndart. Beim anschließenden Zusammentreffen mit Marselis und dessen Heer kann er sich deshalb nicht wehren und muss fliehen. Während die zurückgelassene Magdalie von einem anderen Heidenkönig bedrängt wird, bittet Roland Karl und Oliver, ihm bei der Suche nach Durndart und dessen eventueller Rückeroberung aus heidnischem Besitz zu helfen. In einer großen Schlacht werden die Heiden in die Flucht geschlagen. Roland befreit dabei Magdalie, entdeckt am Boden zufällig Durndart und kehrt mit beiden zurück. Es kommt zum Streit zwischen Oliver und Roland, da Roland die ihm versprochene Alde, Olivers Schwester, wegen Magdalie verlassen will. Zwei Bischöfe können schließlich vermitteln. Sie erreichen, dass Magdalie Oliver versprochen und zu Alde geschickt wird, wo sie mit dieser zusammen auf Rolands und Olivers glückliche Heimkehr warten soll. Mit einem Verweis darauf, dass es anders kommen wird, schließt in der Karlmeinet- Kompilation dann der Rolandslied-Teil an. 113 Hartmut B eckers : Art. ‹Karlmeinet›-Kompilation. In: VL 2 4 (1983), Sp. 1012-1028, hier Sp. 1022. <?page no="107"?> erhaltene Ospinel bietet zudem eine Fassung, die von derjenigen der Kompilation in einigen Formulierungen abweicht und rund ein Viertel länger ist als diese. Das stimmt mit Tendenzen überein, die der Kompilator auch sonst, etwa beim Rolandslied oder partiell bei Karl und Galie sowie Morant und Galie, an den Tag legt. Somit spricht wenig dagegen, die nur noch fragmentarisch erhaltene Fassung für eine ältere, ursprünglich wohl selbstständige zu halten. 114 Ob der Ospinel, in dem die namengebende Figur übrigens nur zu Beginn als Akteur auftritt (als eigentliche Protagonistin kann man vielmehr Magdalie bezeichnen), auf eine französische oder auch niederländische Quelle zurückgeht oder gar als eigenständiger deutscher Text konzipiert wurde, ist nicht leicht zu entscheiden. Keinesfalls lässt er sich direkt auf die rund 2100 Verse umfassende französische Chanson d’Otinel zurückführen, die ebenfalls aus altnordischen und englischen Bearbeitungen bekannt ist. 115 Sie teilt zwar einige Züge (barsche Aufforderung zur Herrschaftsaufgabe Karls durch einen Heiden, dessen anschließende Konversion während eines Zweikampfs) mit dem Ospinel, unterscheidet sich insgesamt aber doch, angefangen bei den Akteuren, deutlich vom deutschen Text. Dessen Motivinventar wirkt indes durchaus geläufig. Dass ein sarazenischer Krieger während Karls Spanienkampagne als Herausforderer gegen einen der Pairs antritt, unterliegt und dann Christ wird, kennt man aus anderen Chansons ebenso wie die Figur der attraktiven Heidin, die nach ihrer Konversion zur Ehefrau eines christlichen Helden wird. Und selbst von einem Liebesabenteuer Rolands während Karls Spanienzug berichten andere okzitanische und italienische Texte. Auch ein Sarazene namens Hospinel wird in (chronikalischen) Werken des 13. und 14. Jahrhunderts vereinzelt erwähnt. 116 Doch in der gleichen Kombination wie im Ospinel begegnen all diese Figuren und Motive sonst nicht. Es wäre also durchaus möglich, dass ein deutscher oder niederländischer Bearbeiter sie neu zusammengestellt hat, aber auch eine verlorene französische Vorlage bleibt denkbar. Mit seiner Mischung aus Heidenkampf, Minnethematik und latenter Rivalität zwischen Roland und Oliver bietet der Ospinel attraktive Erzählangebote für eine breite Rezipientenschicht. Dass das erotische Gefahrenpotenzial der schönen Sarazenenprinzessin Magdalie, die viele der sie erblickenden heidnischen und christlichen Männer in ihren Bann schlägt oder sogar in Lebensge- Rezeption französischer Heldenepik 97 114 In diesem Sinne auch H aas , S. 270. 115 Vgl. dazu die Inhaltszusammenfassung bei H ennings , Französische Heldenepik, S. 25f.; Ausgabe: F. G uessard , H. M ichelant (Hg.): Otinel. Chanson de geste publiée pour la première fois, d’après les manuscrits de Rome et de Middlehill. Paris 1859 (Anciens poètes de la France 1). Zur Stofftradition vgl. Paul A ebischer : Études sur Otinel. De la Chanson de geste à la Saga norroise et aux origines de la légende. Bern 1960 (Schriften, hg. unter dem Patronat der Schweizerischen Geisteswissenschaftlichen Gesellschaft 2), zum Ospinel ebd., S. 111-114. 116 Vgl. den Überblick bei Cola M inis : Bibliographie zum Karlmeinet. Amsterdam 1971 (Beschreibende Bibliographien 1), S. XXVf.; ders .: Rezension Paul Aebischer, Études sur Otinel. In: Romanistisches Jahrbuch 13 (1962), S. 217-220. <?page no="108"?> fahr bringt, schließlich überwunden werden kann, indem man sie tauft, aus der kriegerischen Männerwelt entfernt, in weibliche Obhut gibt und dadurch die Ordnung im Kampf der Religionen und Kulturen wiederherstellt, ist im Rahmen der Karlmeinet-Kompilation zwingend notwendig. Ob so allerdings auch das Ende des Textes in der ursprünglichen Fassung aussah, wird sich wahrscheinlich niemals klären lassen. Die Karlmeinet-Kompilation Sowohl Karl und Galie als auch Morant und Galie und Ospinel sind in eine voluminöse, über 36000 Verse umfassende Kompilation von Karltexten eingegangen. Das von seinem Herausgeber recht unglücklich als Karlmeinet bezeichnete Werk 117 vereinigt mehrere ursprünglich unabhängige Texte zu einer biographisch organisierten Lebensbeschreibung des Frankenkaisers, die aus insgesamt sechs bzw. sieben Teilen besteht: 1. Karl und Galie (ca. 13500 Verse) 2. Morant und Galie (ca. 5600 Verse) 3. Exzerpte aus verschiedenen lateinischen, deutschen und niederländischen Texten historiographischen Charakters, die u. a. Karls Eroberungszüge durch Westeuropa und seine Krönung zum Kaiser, seine Heiraten und seine, hier als Nekrophilie geschilderte, Sünde beschreiben (ca. 5400 Verse) 4. Karel ende Elegast (ca. 1350 Verse) 5. eine auf Schicksal und Taten Karls konzentrierte Fassung von Konrads Rolandslied (ca. 9000 Verse) samt der eingeschobenen Ospinel-Erzählung 6. Karls letzte Jahre und Tod, nach Vincenz von Beauvais und Jakob von Maerlant (ca. 550 Verse); 7. den Abschluss der Kompilation bildete ursprünglich das von gleicher Hand geschriebene, die Vorzeichen des Jüngsten Gerichts darstellende Darmstädter Gedicht über das Weltende, das im 19. Jahrhundert aber separat gebunden wurde. Vollständig ist diese ‹vita poetica Karoli Magni›, wie das Sammelwerk von H. Beckers genannt wurde, 118 nur in einer einzigen Handschrift überliefert, die der Sprache nach zu urteilen um 1470/ 80 im Kölner Raum geschrieben wurde, aber - wie sich aus typischen Kopistenfehlern wie Zeilensprüngen oder einer zunächst vergessenen, dann aber samt Rückverweis nachgetragenen Seite ersehen lässt - Abschrift einer anderen Handschrift sein wird. Ob jenes Manuskript beträchtlich älter, eventuell sogar das Original war, und wann und wo die Sammlung von Karltexten ursprünglich kompiliert wurde, konnte bisher 98 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 117 Karl Meinet, zum ersten Mal herausgegeben durch Adelbert von Keller. Stuttgart 1858 (BLV 45). 118 Hartmut B eckers : Die «Karlmeinet»-Kompilation: Eine deutsche ‹vita poetica Karoli Magni› aus dem frühen 14. Jahrhundert. In: Cyclification. The Development of Narrative Cycles in the Chansons de Geste and the Arthurian Romances, hg. von Bart Besamusca, u. a. Amsterdam 1994 (Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen. Verhandelingen, Afd. Letterkunde, Nieuwe Reeks 159), S. 113-117. Der alte Titel, bzw. die Titulierung als Karlmeinet-Kompilation, hat sich in der Forschung jedoch so fest etabliert, dass es nicht sinnvoll erscheint, dies ändern zu wollen. <?page no="109"?> nicht geklärt werden. Die Erforschung der Karlmeinet-Kompilation, immerhin das umfangreichste und vielschichtigste literarische Zeugnis über eine der wichtigsten Herrscherfiguren im mittelalterlichen wie im modernen Verständnis, stand in der Germanistik unter keinem besonders guten Stern. 119 Offenbar fühlt, oder fühlte sich zumindest, die ‹klassische› germanistische Mediävistik, deren Forschungsskopus stark auf mittelhochdeutsche Literatur ausgerichtet war und ist, für dieses (aus hochdeutscher Perspektive) etwas abseitige Werk aus dem niederfränkisch-ripuarischen Interferenzgebiet zuständig nur insofern, als es mit einer Kurzfassung des Rolandslieds unter anderem auch einen Text enthält, der eben jener mittelhochdeutschen Literatur zugerechnet wird. 120 Von Seiten der Mittelniederlandistik erging es der Kompilation lange Zeit nicht besser. Zählte dieses Werk aus niederländischer Perspektive doch anscheinend eher zur germanistischen Literatur. In der Folge geriet daher vor allem Karel ende Elegast stärker in den Blick, jene Branche also, die für die niederländische Literaturgeschichte von besonderem Interesse war. Manches an dieser ‹vita poetica Karoli Magni› ist deshalb nach wie vor unklar und umstritten, und auch scheinbar geklärte Sachverhalte bedürfen erneuter Überprüfung. So vermutet etwa F. Fürbeth für den dritten Teil der Kompilation, der bislang als Zusammenstellung unterschiedlichen Quellenmaterials vorwiegend historiographischen Charakters galt, 121 neuerdings eine einzige, allerdings verlorene Vorlage. 122 Nicht geklärt ist ebenfalls die Datie- Rezeption französischer Heldenepik 99 119 Ein kurzer Forschungsüberblick mit den einschlägigen Literaturangaben in meinem Beitrag: Heiliger, Hochzeiter, Heidenschlächter - Die Karlmeinet-Kompilation zwischen Oberdeutschland und den Nideren Landen. In: Schnittpunkte. Deutsch-Niederländische Literaturbeziehungen im späten Mittelalter. Hg. v. A. Lehmann-Benz, U. Zellmann, U. Küsters. Münster 2003 (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 5), S. 125-143, dem einige der nachfolgenden Überlegungen entstammen. 120 Symptomatisch für die Ausgrenzung der Karlmeinet-Kompilation aus der kanonischen, d. h. oberdeutschen, Literaturgeschichte ist die Auffassung von de B oor , Geschichte der deutschen Literatur, S. 64: «[...] der Karlmeinet entstand [...] im äußersten niederländischen [! ] Nordwesten und zu einer Zeit, da sich dieses Gebiet politisch und kulturell von Deutschland bereits löste.» Zu der in die Karlmeinet-Kompilation inserierten Kurzfassung des Rolandslieds, die mehrfach das Forschungsinteresse auf sich ziehen konnte, vgl. Udo von der B urg : Konrads Rolandslied und das Rolandslied des Karlmeinet. Untersuchungen und Überlegungen zu einem über hundertjährigen Problem. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 39 (1975), S. 321-341; Rüdiger Z agolla : Der Karlmeinet und seine Fassung vom Rolandslied des Pfaffen Konrad. Göppingen 1988 (GAG 497), S. 36-135; Edith F eistner : Karl und Karls Tod. Das ‹Rolandslied› im Kontext des sog. ‹Karlmeinet›. Biographische Zyklik und ihre Implikationen. In: WS 11 (1989), S. 166-184. 121 Vgl. Karl B artsch : Über Karlmeinet. Ein Beitrag zur Karlssage. Nürnberg 1861, S. 35- 76; J. A kkermann : Studien zum Karlmeinet. Der dritte Abschnitt der Kompilation und sein Verhältnis zum ersten. Proefschrift Amsterdam 1937. 122 Frank F ürbeth : Der ‹Karlmeinet›: Vita poetica oder Vita historica Caroli Magni. Zur Differenz von textimmanenter und textexterner Interpretation. In: Texttyp und Textinterpretation, hg. von E. Andersen u. a. Berlin 2005, S. 217-234. Vgl. dagegen allerdings J. W olf , der es nach sorgfältiger Sichtung einiger offenkundig aus der Sächsischen <?page no="110"?> rung. Seit Karl Bartschs Studie aus dem Jahr 1861 wird das erste Drittel des 14. Jahrhunderts als Datum der Kompilierung zuvor unabhängiger Erzählungen über Karl den Großen angenommen. 123 Bartsch hätte gern für ein noch früheres Entstehungsdatum der Karlmeinet-Kompilation votiert - vermutlich, weil der Text aus dem späten Mittelalter dann näher an die Epoche der ‹staufischen Klassik› herangerückt worden wäre. Daran hinderte ihn allerdings die von ihm selbst nachgewiesene Verarbeitung des Spiegel historiael Jakobs van Maerlant bzw. dessen Fortsetzung durch den Karlmeinet-Redaktor. Da Maerlants Werk samt der Fortsetzung aber erst um 1300/ 1310 abgeschlossen wurde, konnte die Karlmeinet-Kompilation nicht mehr in der ‹Blütezeit› verfasst sein, und Bartsch entschied sich für 1315 als Entstehungsdatum. Er wählte damit den frühest möglichen terminus post quem. Die spätere Forschung ist Bartsch in seinem Datierungsvorschlag prinzipiell gefolgt. Weil aber die Verwendung des vollständigen Spiegel historiael praktisch mit dem Datum seiner Fertigstellung in einer in ganz anderen Zusammenhängen entstandenen Kompilation doch ein wenig fragwürdig erschien, machte man immerhin die Konzession, das vermutete Entstehungsdatum mit 1320/ 1340 um wenige Jahre nach vorn zu verschieben. Nie ernsthaft diskutiert wurde freilich der Gedanke, dass auch eine noch spätere Genese der Karlmeinet-Kompilation keineswegs ausgeschlossen werden kann. Den terminus ante quem bilden dabei die Jahre um 1470/ 80, jener Zeitpunkt also, auf den die einzige (vollständig) erhaltene Abschrift datiert wird. Weil eine wohl noch im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts aufgezeichnete, aus der Bibliothek der Herren zu Manderscheid-Blankenheim stammende Morant und Galie-Handschrift weitgehend mit der Morant und Galie-Branche der Karlmeinet-Kompilation übereinstimmt, hat man auch in ihr eine (Teil)-Abschrift aus einem vollständigen, aber nicht überlieferten Kodex jener Kompilation vermutet. Der terminus ante quem verschöbe sich in diesem Fall auf ca. 1420/ 1430. Da hier jedoch keine absolute Sicherheit zu gewinnen ist, kommt als möglicher Entstehungszeitraum der Karlmeinet-Kompilation die gesamte Zeitspanne zwischen 1315 (Vollendung des Spiegel historiael) und 1470/ 80 (Abschrift der einzig erhaltenen Handschrift aus einem eventuell nur wenig älteren Kodex) in Frage. Eng mit der bisher nie hinterfragten Genese um 1320/ 1340 hängt auch die derzeit favorisierte Hypothese zur Funktion der Karlmeinet-Kompilation zusammen. Eine Passage kurz vor Schluss der Kompilation, in der Karl, bevor er stirbt, seinen Sohn Ludwig schwören lässt, das rich und damit das Kaisertum nur an einen Deutschen weiterzugeben (535,21-33), ist Ausgangspunkt für die 100 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption Weltchronik in die Karlmeinet-Kompilation übernommenen Lesarten für wahrscheinlich hält, dass der dritte Teil der Kompilation «aus vorwiegend lateinischen Quellen und einer ‹koronica› genannten SW [Sächsische Weltchronik]-Handschrift zusammengestellt» wurde; Jürgen W olf : Die Sächsische Weltchronik im Spiegel ihrer Handschriften. Überlieferung, Textentwicklung, Rezeption. München 1997 (Münstersche Mittelalter-Schriften 75), S. 225. 123 Vgl. B artsch , Karlmeinet, S. 35-76. <?page no="111"?> Überlegung, die Karlmeinet-Kompilation propagiere die Abwehr französischer Ansprüche auf den deutschen Königstitel und damit auf das Kaisertum zu einer Zeit, als Karl von Valois (1270-1325), der jüngere Bruder König Philipps IV. von Frankreich, sich nach dem Tod des deutschen Königs Albrecht I. im Jahr 1308 mit der Unterstützung seines Bruders Philipp um die deutsche Krone bemühte. 124 Falls die Kompilation allerdings nicht zu Anfang des 14. Jahrhunderts, sondern erst später zusammengestellt worden wäre, würde dieser Annahme die Basis entzogen. Doch selbst wenn die Karlmeinet-Kompilation um 1320 entstanden sein sollte - was sich, wie gesehen, nicht belegen lässt - stünde der These eines antifranzösischen Propagandawerks die Tatsache entgegen, dass die fragliche Passage nur einen minimalen Bruchteil innerhalb einer Textsammlung ausmacht, in der Karl ansonsten durchgängig als Kerling, was hier eindeutig Franzose meint, 125 bezeichnet wird und die Franzosen stets mit einiger Sympathie dargestellt sind. 126 Zu Beginn der dritten Branche schildert die Kompilation z. B. ohne jegliches Ressentiment, wie der französische König Karl auch die deutsche Königskrone erringt, woraufhin alle deutschen Rezeption französischer Heldenepik 101 124 So zuerst Danielle B uschinger : Rezeption der Chanson de geste im Spätmittelalter. In: WS 11 (1989), S. 86-106, bes. S. 89f.; dies .: Charlemagne dans le Karlmeinet. Un aperçu. In: Danielle Buschinger, Peter Andersen (Hg.): Charlemagne dans la réalité historique et la littérature. Amiens 2004, S. 26-29; vgl. auch B eckers , «Karlmeinet»-Kompilation, S. 116f.; Gertrud Z andt : Zur Karlmeinet-Kompilation. In: Cyclification, S. 198-202, hier S. 199. Kritisch dazu F eistner , Karl und Karls Tod, S. 180f. 125 Zur Semantik von «Karlingen/ Kerlingen», das erst im Laufe des späteren Mittelalters eine Bedeutungsverengung in Richtung ‹Frankreich› erfährt, vgl. G oerlitz , S. 166-173, S. 229-231. 126 Das überaus positive Frankreich-Bild der Karlmeinet-Kompilation könnte, falls der Text tatsächlich in Aachen oder in der Umgebung Aachens entstanden sein sollte, damit zusammenhängen, dass die Stadt Aachen und das Marienstift traditionell gute Beziehungen zu den französischen Königen unterhielten. So stellte z. B. der französische König Karl V., ein Verehrer Karls des Großen (vgl. auch S. 348), ein Handelsprivileg aus, in dem es u. a. heißt (Zusammenfassung des Inhalts bei Rudolf Arthur P eltzer : Die Beziehungen Aachens zu den französischen Königen. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 25 [1903], S. 133-268, hier S. 161): «Da die Stadt Aachen und ihre Kirche ausersehen worden sei, die Leiche des seligen Karl des Grossen aufzubewahren, der einst das Königreich Frankreich regierte, dessen Leitung nach dem Ratschluß Gottes jetzt uns obliegt, der als glühendster Glaubensheld persönlich nach dem heiligen Land gezogen sei und dasselbe von den Sarazenen befreit und noch viele andere Wundertaten auf Erden verrichtet habe, bis er in den Himmel aufgenommen worden sei, so will der König zu Ehren des Heiligen die Stadt, ihre Bürger und Einwohner mit bleibenden und besonderen Privilegien begaben, und er verleiht ihnen für alle Zeiten vollständige Freiheit von allen Abgaben, wie Zoll, Wegegeld, Karrengeld, Steuer oder Schiffahrtsgelder, in dem ganzen Königreich aber mit dem Zusatz: ‹ac si essent et prout sunt regnicole et subditi nostri regni et dominii prefati›.» König Ludwig XI. von Frankreich stiftete im Jahr 1481 dem Aachener Münster ein noch heute erhaltenes kostbares Goldreliquiar, das einen Arm des großen Frankenkaisers bergen sollte, sowie einen goldenen Teppich (oder Wandbehang? ) zur Ausschmückung der Kirche (aureum peristroma ad Ecclesiae decus et ornatum); vgl. ebd. S. 180f. <?page no="112"?> Fürsten und Städte unverzüglich zu einem nach Ingelheim einberufenen Hoftag eilen, um Karl dort freudig zu huldigen (293,53-294,60). Mit der Annahme, die Karlmeinet-Kompilation unterstütze die Abwehr französischer Ansprüche auf die deutsche Krone, ist diese Szene, ebenso wie die fast durchgehende Titulierung des Kaisers als Franzose, kaum zu vereinbaren. Spekulativ bleibt gleichfalls eine andere, jüngst erwogene Intention, die die Entstehung der Karlmeinet-Kompilation in Zusammenhang bringt mit der sogenannten Aachener Heiligtumsfahrt. Die Aachener Heiligtumsfahrt oder auch einfach Aachenfahrt ist eine seit dem 13. Jahrhundert bezeugte, seit 1349 in 7-jährigem Turnus stattfindende Pilgerfahrt, bei der die angeblich von Karl dem Großen gestifteten sogenannten Aachener Heiltümer (Windeln Jesu, Lendentuch Jesu, Kleid Mariens, Enthauptungstuch Johannes des Täufers) gezeigt und verehrt werden. In der Kompilation selbst werden die von Karl ins Aachener Münster verbrachten Reliquien und deren wundertätigen Kräfte allerdings nur einmal erwähnt (335,7-336,10; wohl nach der Vorlage der lateinischen Aachener Vita Karoli Magni) - ein Faktum, das sich nur schwer zu einer eventuellen Textgenese aus Anlass der Heiligtumsfahrt fügt. Überdies rechnet diese These explizit mit der Entstehung der Karlmeinet-Kompilation im Auftrag des Aachener Marienstifts. Auch diese Annahme lässt sich aber nicht sicher beweisen, sondern beruht allein auf der, freilich nicht ganz unplausiblen Überlegung, der auf Karl den Großen konzentrierte und ihn als Glaubensheld präsentierende Text, in dem zudem einige Male auf Aachener Lokalverhältnisse wie z. B. die Gründungssage der Stadt angespielt wird, sei am Ort der intensivsten Karlsverehrung entstanden - im Umkreis des Aachener Marienstifts also. Durchaus vorstellbar wäre jedoch auch die Entstehung jener Sammlung von Karltexten im weiteren Umkreis Aachens. Günser Reinolt Karl der Große spielt ebenfalls eine wichtige, wenn auch nicht uneingeschränkt positive Rolle in einer weiteren Chanson de geste-Bearbeitung aus den deutschsprachigen Nideren Landen. Der sogenannte Günser Reinolt, 127 ein dem Schrifttypus nach zu urteilen in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in mittelniederdeutscher Schreibsprache aufgezeichneter, nur fragmentarisch erhaltener Text, ist die deutsche Übertragung des im gesamten romanischen, aber auch niederländischen Raum weit verbreiteten Stoffs, der ausführlich von 102 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 127 Benannt nach dem Fundort des Bruchstücks: dem früheren Güns, dem heutigen ungarischen Köszeg an der Grenze zu Österreich; das Pergamentblatt hat als Umschlag von städtischen Protokollen um 1590/ 1600 gedient. Heutiger Aufbewahrungsort: Nationalbibliothek Széchényi in Budapest, Sign. Cod. Germ. Med. Aevi 50. Beschreibung und Edition: Gustav R oethe : Das Günser Bruchstück des mnl. Renout van Montalbaen. In: ZfdA 48 (1906), S. 129-146; vgl. auch Bob W. Th. D uijvestijn : Reinolt von Montelban. Eine niederländische Dichtung in deutschen Landen. In: ABäG 47 (1997), S. 49-64. ders .: Zur Quelle des frnhd. «Reinolt von Montelban» (cpg 340). Eine Stellungnahme. In: ABäG 27 (1988), S. 103-110; T ervooren , S. 111f. <?page no="113"?> der jahrelangen Rebellion der vier Haimonskinder gegen Charlemagne/ Karl erzählt. 128 Nach dem Scheitern der Rebellion zieht Renaut/ Reinolt, der jüngste Sohn und zugleich Anführer der Rebellen, sich aus der Welt zurück, hilft später unerkannt beim Bau des Kölner Doms und wird dort von Arbeitskollegen erschlagen; Renauts/ Reinolts Leichnam gelangt auf wunderbare Weise nach Dortmund. Ursprünglich dürfte der heute nur noch in 320 Versen erhaltene Günser Reinolt mindestens rund 15000 Verse umfasst haben. Denn das ist der Umfang einer späteren, aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert stammenden Bearbeitung des gleichen Stoffs (es handelt sich dabei um den Reinolt von Montelban, s. u.), die im fraglichen Ausschnitt teilweise wörtlich mit dem Günser Reinolt übereinstimmt und auf eine ähnliche niederländische Fassung zurückzugehen scheint. Da der Günser Reinolt, zumindest im erhaltenen Ausschnitt, jedoch sogar noch einige Plusverse kennt (den 320 Versen des Günser Reinolt entsprechen 268 im Reinolt von Montelban), ist der ältere Text in seiner vollständigen Form möglicherweise sogar noch umfangreicher gewesen als die aus dem 15. Jahrhundert überlieferte Bearbeitung. Der mit einiger Sicherheit nach niederländischer Vorlage gearbeitete Günser Reinolt ist die früheste bekannte deutsche Adaptation dieses Stoffs. Von der Forschung ist der fragmentarische Text kaum behandelt worden. Seine Schreibsprache weist, trotz einiger ostfälischer Spuren, insgesamt eher in den westfälischen Raum. Und dort erscheint die Genese einer Reinolt-Erzählung dann auch sehr gut vorstellbar, denn für Dortmund, das gegen Ende der Erzählung eine zentrale Rolle spielt, ist ab dem 13. Jahrhundert eine kultische Verehrung Reinolds belegt. 129 Historie van Sent Reynolt Auf der Vorlage der westfälischen oder der Heidelberger (dazu s. u.) Versfassung wurde der Reinolt-Stoff ein weiteres Mal bearbeitet, dabei aber in Prosa aufgelöst und stark gekürzt. Überliefert ist diese Prosafassung unter der zeitgenössischen Überschrift Historie van Sent Reynolt vollständig in einer ripuarischen, wahrscheinlich in Köln entstandenen Handschrift des späten 15. Jahr- Rezeption französischer Heldenepik 103 128 Vgl. zur Stoffgeschichte Beate W eifenbach : Die Haimonskinder in der Fassung der Aarauer Handschrift von 1531 und des Simmerner Drucks von 1535. Ein Beitrag zur Überlieferung französischer Erzählstoffe in der deutschen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Teil 1: Einführung in die europäische Haimonskindertradition; Teil 2: Nacherzählung, Textvergleich und Kommentar unter Berücksichtigung aller erhaltenen französischen Textzeugen. Frankfurt/ M. usw. 1999 (Germanistische Arbeiten zur Sprache und Kulturgeschichte 39), zum Günser Fragment ebd., S. 60f.; Irene S pijker : Aymijns kinderen hoog te paard. Een studie over ‹Renout van Montalbaen› en de Franse ‹Renaut›traditie. Hilversum 1990; Werner W underlich (Hg.): Johann II. von Simmern, Die Haymonskinder. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Werner Wunderlich. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 35), S. 451-548; ders .: Vom Helden zum Heiligen: Die europäische Reinold-Legende im deutschen Kulturraum. In: Rolf Bräuer (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext. Göppingen 1998 (GAG 651), S. 27-50. 129 Zum Dortmunder Reinolt-Kult vgl. S. 364f. <?page no="114"?> hunderts, die jedoch Abschrift einer früheren ist. 130 Wann die Historie van Sent Reynolt verfasst wurde, lässt sich damit nicht sicher bestimmen. 131 Reinolts Auseinandersetzungen mit Karl rücken in dieser Prosafassung in den Hintergrund, im Mittelpunkt steht vielmehr das gegen Schluss der älteren Chanson de geste-Bearbeitungen nur kurz geschilderte heiligmäßige Leben Reinolts. In der Prosa wird dieser Teil, offenbar unter Verwendung weiterer Quellen, ausführlich dargestellt, er macht rund die Hälfte des gesamten Textes aus. Allein schon diese Gewichtung verdeutlicht die Funktion der Historie van Sent Reynolt. Sie entstand ganz offensichtlich in geistlichen Zusammenhängen, möglicherweise im oder für das Kölner Reinolt-Kloster, sicherlich aber mit Blick auf den Kölner Reinolt-Kult, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts einen Aufschwung erlebte (was vielleicht als Hinweis auf die Entstehung der Historie zu werten ist). 132 So erklärt sich wohl auch eine, vielleicht von etwas späterer Hand geschriebene, Marginalie gegen Ende der Historie, bevor abschließend die Translation Reinolts und dessen Kanonisation durch den Papst beschrieben werden: Dit list man na Cristmis op St. Reinolts dag. Die Historia war demnach im Wortsinn eine Legende, ein Text, der vorgelesen wurde. Sie endet dementsprechend mit den Worten: Desen alrenhillichsten merteler sent Reynolt laist uns ynnenclichen anroiffen, dat hei uns genade erwerve van Gode, dat wir nummer van eme gescheiden en werden. Des gunne uns der vader, der son ind der hilge geist. Amen. 133 Gerart van Rossiliun Aufgrund der Schreibsprache mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in den ostfälischen Raum lokalisieren lässt sich der Gerart van Rossiliun, 134 der eventuell auf eine im Köln/ Aachener Raum entstandene Vorlage zurückgeht. 135 104 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 130 Edition Alexander R eifferscheid : Histôrie van Sent Reinolt. In: ZfdPh 5 (1874), S. 271- 293 (entspricht nicht mehr modernen Editionskriterien); Neuedition von Beate Weifenbach unter Mitarbeit von Walter Kettemann: Die Historie van sent Reynolt. In: Schilp, Thomas; Weifenbach, Beate (Hg.): Reinoldus und die Dortmunder Bürgergemeinde. Die mittelalterliche Stadt und ihr heiliger Patron. Essen 2000, S. 132-156. Vgl. auch das Nachwort von F. Pfaff in der Ausgabe des Reinolt von Montelban, S. 521-548. 131 Vgl. zur Entstehungszeit Franz O stendorf : Überlieferung und Quelle der Reinoldlegende. Diss. Münster 1911, S. 34f. 132 Zum Kölner Reinolt-Kult vgl. Kap. S. 365f.; vgl. auch Paul F iebig : St. Reinoldus in Kult, Liturgie und Kunst. Dortmund 1956 (=Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark 53), S. 32f.; Andrea Z upancic : Der heilige Reinoldus - Ikonographie und Rezeption. Das vielfältige Bild eines Heiligen vom Mittelalter bis in die Gegenwart. In: Schilp, Thomas; Weifenbach, Beate (Hg.): Reinoldus und die Dortmunder Bürgergemeinde. Die mittelalterliche Stadt und ihr heiliger Patron. Essen 2000, S. 77-100, 186f., hier S. 89. 133 Historie van sent Reynolt, hg. von Weifenbach, S. 156. 134 Gerart van Rossiliun. In: Hans N aumann : Altdeutsches Prosalesebuch. Texte vom 12.-14. Jahrhundert. Strassburg 1916, S. 147-160. 135 Vgl. Hartmut B eckers : Art. Gerart van Rossiliun. In: VL 2 2 (1980), Sp. 1221-1225, hier Sp. 1224; vgl. auch ders .: Mittelniederdeutsche Literatur, 1977, S. 27f. Gegen eine nie- <?page no="115"?> Die nur fragmentarisch überlieferte Prosahandschrift dürfte um 1350/ 1400 geschrieben und die Kopie eines älteren Manuskripts sein; um wieviel älter dies war, lässt sich freilich nicht sagen. Auch im Gerart van Rossiliun, der eine Bearbeitung des französischen Empörerepos Girart de Roussillon darstellt, ist Karl einer der Protagonisten. Allerdings ist es hier nicht Karl der Große, von dem der Text erzählt, sondern - in für heldenepische Literatur nicht ungewöhnlicher Kontamination historischer Personen - Karl Martell, der später angeblich Karl der Kahle genannt worden sei. Weshalb die deutsche Bearbeitung, im Gegensatz zu den bekannten französischen Handschriften und Fragmenten, in Prosa verfasst wurde, ist eine offene Frage. H. Beckers, der sich als bislang einziger mit diesem Text intensiver auseinandergesetzt hat, schloss aus der für eine Chanson de geste bzw. für eine Chanson de geste-Adaptation im 14. Jahrhundert noch sehr ungewöhnlichen Prosaform auf einen historiographisch-heilsgeschichtlichen Anspruch des Gerart: Die Annahme liegt somit nahe, daß der Verfasser der GvR-Prosa den kühnen Gedanken faßte, bei seiner Bearbeitung einer französischen Chanson de geste [...] sich der literarhistorisch jüngeren Tradition der niederdeutschen Geschichtsprosa anzuschließen [...] die Bearbeitung des GvR-Stoffes aus der Sichtweise des mittelalterlichen Geschichtsschreibers impliziert die Unterstellung der berichteten Geschehnisse unter das Urteil Gottes als des Herrn der Geschichte und verbürgt damit ihren Wahrheitsanspruch, ihren sittlichen Ernst und ihre exemplarische Verbindlichkeit, was dem Verfasser bei einer Darstellung im Rahmen der herkömmlichen Versdichtung anscheinend nicht gewährleistet erschien. 136 Das Entstehungsumfeld des Gerart van Rossiliun, der nach Beckers mit seiner «ganzen inhaltlichen Problematik nur für ein adlig-höfisches Zielpublikum bestimmt gewesen sein kann», 137 bezeichnet er sehr konkret als den Braunschweiger Hof Herzog Albrechts des Großen (1236-1279) und seiner Söhne, wo das tragische Schicksal des Gerart van Rossiliun, der mit seiner Rebellion gegen König Karl scheitert, als Analogie zur Lebensgeschichte des von Albrecht verehrten Urgroßvaters, Heinrich des Löwen, verstanden worden sei. 138 Eine Historiographisierung der französischen Vorlage als Grund für die ungewöhnliche Prosaform der niederdeutschen Adaptation anzunehmen, erscheint allerdings insofern fraglich, als ein mit dezidiert historiographischem Anspruch auftretender Text wie die Braunschweigische Reimchronik, die zu- Rezeption französischer Heldenepik 105 derländische Vorlage, die dann verloren wäre, spricht B eckers sich «angesichts des gänzlichen Fehlens niederländischer Sprachspuren» aus in: Hartmut B eckers : Der mittelniederdeutsche Prosaroman Gerhard von Roussillon. Versuch einer sprach- und literaturgeschichtlichen Einordnung. In: Niederdeutsches Jahrbuch 106 (1983), S. 74-95, hier S. 87, Anm. 26. 136 B eckers , Mittelniederdt. Prosaroman, S. 88f. 137 Ebd., S. 87. 138 Vgl. ebd., S. 89-91. <?page no="116"?> dem an dem von Beckers als Entstehungsort postulierten Hof Albrechts entstanden sein dürfte, nicht in Prosa, sondern als Versdichtung geschrieben worden ist. Gegen einen historiographischen Anspruch des Gerart van Rossiliun spricht überdies, dass die deutsche Bearbeitung gegenüber der französischen Fassung entkonkretisiert ist. Während es im okzitanischen Text, der der deutschen Fassung am nächsten steht, z. B. hieß: Ista bataille fun a un dissade,/ En Sival, lon Veiane, en une prade, 139 liest man im niederdeutschen Text: Dise strid was enes sunnavendes unde warede al den dach (Gerart, S. 149, 390). Nicht näher bezeichnet werden in der niederdeutschen Adaptation ebenfalls die Lehen, die Gerart seinem wiedergefundenen Lehnsmann Gunderam anbietet, er sagt lediglich: Ich wille iu geven land unde lude unde herscap (Gerart, S. 160, 668); an analoger Stelle bot die okzitanische Chanson: Anz vos donrai Vela, l’onor de Pui,/ E Dumbes e Beles tros qu’a Monjui. 140 Charakteristisch für die niederdeutsche Adaptation ist weniger eine Historiographisierung als vielmehr eine nochmalige Verstärkung der den okzitanisch/ französischen Fassungen ohnehin schon eingeschriebenen hagiographischen Züge. 141 Im Vergleich zum Girart de Roussillon verhält sich der Gerart van Rossiliun in etwa so wie die Chanson de Roland zum Rolandslied. Damit erscheint es allerdings sehr wohl denkbar, dass der Gerart van Rossiliun nicht unbedingt am Braunschweiger Hof, sondern eventuell auch in einem klerikalen Umfeld, also z. B. an einem Bischofshof, einem Stift oder in einem Kloster, übersetzt und bearbeitet worden sein könnte. Karl und Ellegast Auch für einen weiteren Text, in dem der große Frankenkönig als Protagonist agiert, ist ein ähnliches Umfeld als Entstehungsort denkbar. Zumindest lässt der Mitüberlieferungskontext des in nur einer Handschrift erhaltenen mitteldeutschen Karl und Ellegast (Zeitz, Domherrenbibliothek, Cod. 60) vermuten, dass dieses Werk starke hagiographische Valenzen besitzt. 142 Das wissenschaftliche Interesse an Karl und Ellegast - einer mirakulösen Erzählung von König Karl, der auf Gottes Befehl zum Stehlen ausreitet, gerade dadurch aber eine gegen ihn gerichtete Verschwörung in engem Kontakt mit dem Himmel 106 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 139 Girart, Laisse 390; Übers.: Dieser Kampf fand an einem Samstag in Sival, am Ufer der Vienne, auf einer Wiese statt. 140 Girart, Laisse 668. Übers.: Ich werde euch Vela mit Pui [le Puy], dazu Dumbes [les Dombes] und Beles [Belley] bis Monjui geben. 141 Vgl. dazu Dorothea K ullmann : Kirchliche Lehren in Girart de Roussillon. In: Filologia romanza e cultura medievale. Studi in onore di Elio Melli, hg. von Andrea Fasso u. a., Bd. 1. Alessandria 1998, S. 403-417. 142 Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit diesem Text vgl. meinen Beitrag: Der Zeitzer ‹Karl und Ellegast› oder: Der König als Dieb. Chanson de geste-Rezeption in Thüringen. In: Chanson de geste im europäischen Kontext. Ergebnisse der Tagung der Deutschen Sektion der ICLS am 23. und 24. 4. 2004 in Köln. Hg. von Hans-Joachim Ziegeler. Göttingen 2008 (Encomia Deutsch 1), S. 50-58. <?page no="117"?> vereiteln kann - hat sich lange, analog dem verwandten, aber eine abweichende Fassung bietenden mittelniederländischen Karel ende Elegast, v. a. auf quellen- und motivgeschichtliche Fragen konzentriert. 143 Der mitteldeutsche Text wurde dabei hin und wieder im Streit um die Genese der weit bekannteren mittelniederländischen Fassung herangezogen, in dem sich deutlich traditionalistische und individualistische Positionen unterscheiden lassen. Die früheste handschriftliche Realisation von Karel ende Elegast findet sich in der Karlmeinet- Kompilation, sie dürfte aber auf ältere Vorstufen zurückgehen. Erst H. Kolb hat dann auf die literarischen Qualitäten von Karl und Ellegast aufmerksam gemacht, indem er durch einen Vergleich mit der mittelniederländischen Fassung einige parodistische Elemente in der deutschen Bearbeitung erkannte und so den Eigenwert der deutschen Fassung herausgearbeitet hat. 144 In der Forschung ist sehr umstritten, wann und wo die deutsche Fassung entstand und ob die niederländische dafür die Basis bildete. 145 Die einzig erhaltene Handschrift überliefert den Text in ostmitteldeutscher Schreibsprache, und es ist nicht ausgeschlossen, dass Karl und Ellegast auch in dieser Gegend, möglicherweise in Zeitz selbst, seinen Ursprung hat. 146 Die durch einen Schreiberkolophon auf 1455 datierbare Handschrift ist aufgrund typischer Kopistenfehler als Abschrift eines älteren Manuskripts anzusehen. Mit Hilfe stilistischer Kriterien, insbesondere aufgrund angeblicher Ähnlichkeiten mit sogenannten ‹Spielmannsepen›, wurde die Genese der Zeitzer Fassung ein gutes Jahrhundert vor 1455 angesetzt. Die bislang vorgebrachten Argumente für eine Entstehung von Karl und Ellegast noch im 14. Jahrhundert sind jedoch wenig stichhaltig. Dass z. B. sowohl in Karl und Ellegast als auch in einigen der sogenannten Spielmannsepen von manchen Protagonisten behauptet wird, sie sprängen ohne Steigbügel in den Sattel, besagt wenig über eine Verwandtschaft zwischen den Texten und nichts über ein potenzielles Entstehungsdatum. 147 H. Beckers glaubte die Entstehung von Karl und Ellegast dadurch auf die Mitte des 14. Jahrhunderts datieren zu können, dass er den Text mit einer Erneuerung des Karlskultes durch Karl IV. in Verbindung brachte. 148 Ob dies Rezeption französischer Heldenepik 107 143 Vgl. zur kontroversen Forschungsdebatte um die niederländische Fassung das Nachwort in der den mittelniederländischen und mitteldeutschen Text bietenden Ausgabe: Karel ende Elegast und Karl und Ellegast. Hg. und übers. von Bernd Bastert, Bart Besamusca und Carla Dauven-van Knippenberg. Münster 2005 (BIMILI 1), S. 209f. 144 Herbert K olb : Chanson de geste parodistisch: Der mitteldeutsche ‹Karl und Elegast›. In: WS 11 (1989), S. 147-165. 145 Zur Kontroverse um die Vorlage vgl. Q uint , Vorwort zur Karl und Elegast-Ausgabe; Edward S chröder : Rezension Josef Quint, Der mitteldeutsche Karl und Elegast. In: AfdA 46 (1927), S. 148-153; Hartmut B eckers: Art. Karl und Elegast. In: VL 2 4 (1983), Sp. 999-1002; K olb, Chanson de geste parodistisch. 146 Zur genaueren Begründung vgl. B astert , Zeitzer Karl und Ellegast. 147 So jedoch die von E. S chröder , Rez. Quint, S. 151, vorgebrachte Beweisführung für eine Entstehung von Karl und Ellegast im 14. Jahrhundert. 148 Vgl. B eckers : Karl und Elegast, Sp. 1000. <?page no="118"?> aber wirklich der Auslöser für die Produktion bzw. die Überarbeitung des Textes gewesen sein kann, wäre zu prüfen angesichts neuerer Forschungsergebnisse zur Karlsverehrung Karls IV., die offenbar auf wenige Orte beschränkt blieb und sich für Aachen keineswegs sichern lässt. 149 Der eigentliche Grund für die These, Karl und Ellegast noch ins 14. Jahrhundert zu datieren, dürfte, analog zur Karlmeinet-Kompilation, wohl das Bestreben gewesen sein, dem Text durch ein möglichst hohes Alter eine gewisse Dignität zu verschaffen. Außer einem aus dem Schreiberkolophon ableitbaren terminus ante quem 1455 existiert jedoch kein ernsthafter Anhaltspunkt für eine Datierung, so dass mit einer in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts anzusetzenden Entstehung der Zeitzer Fassung ernsthaft gerechnet werden muss. Herpin, Sibille, Loher und Maller, Huge Scheppel Auch im ausgehenden Mittelalter wurden im deutschen Sprachgebiet noch Texte aus dem Stoffgebiet der französischen Heldenepik adaptiert. Für diese späten Texte gelten allerdings, im Gegensatz zu den bisher behandelten Bearbeitungen französischer Heldenepik, die genaueren Entstehungsdaten und -umstände als relativ gut eingrenzbar. Bis vor wenigen Jahren wurden Herpin, Sibille, Loher und Maller sowie Huge Scheppel fraglos als von der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken (um 1395-1456) zur Zeit ihrer Witwenschaft zwischen etwa 1430 und 1440 am Saarbrücker Hof aus dem Französischen übersetzte Chansons de geste angesehen. 150 Und in der Tat verortet eine jüngere Studie über die Schreibsprache des Huge Scheppel die diesen Text einzig enthaltende Hamburg/ Wolfenbütteler Prachthandschrift «mit aller Deutlichkeit im westmitteldeutschen Raum». Aufgrund weiterer Charakteristika, z. B. sich sehr stark überkreuzenden Schreibtraditionen, wie sie für den ein typi- 108 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 149 Die in der älteren Literatur immer wieder genannten Belege einer in Aachen nachweisbaren Verehrung Karls des Großen durch Karl IV. (etwa die Stiftung der berühmten Karlsbüste durch Karl IV. oder dessen Beteiligung am Neubau der den Karlsschrein beherbergenden Chorhalle) sind nicht eindeutig zu verifizieren, da schriftliche oder sonstige Zeugnisse fehlen, die derartige Stiftungen bestätigen würden; vgl. zu dieser skeptischen Neubewertung der (vermeintlichen) Aachener Zeugnisse und zum Karlskult Karls IV. František K avka : Karl IV. (1349-1378) und Aachen. In: Krönungen. Könige in Aachen - Geschichte und Mythos. Katalog der Ausstellung in zwei Bänden, hg. von Mario Kramp. Mainz 2000, S. 477-484; Jirí F ajt : Karl IV. - Herrscher zwischen Prag und Aachen. Der Kult Karls des Großen und die karolingische Kunst. In: ebd., S. 489- 500. Vgl. insgesamt auch M. K erner , der nach einer umsichtigen Abwägung aller Argumente, die in der historischen und kunsthistorischen Forschung für und gegen eine besondere Karlsverehrung Karls IV. vorgebracht wurden, von einem «Karlskult mit Fragezeichen» spricht; Max K erner : Karl der Große. Entschleierung eines Mythos. Köln, Weimar, Wien 2000, S. 138-156; positiver demgegenüber Franz M achilek : Karl IV. und Karl der Große. In: Zeitschr. des Aachener Geschichtsvereins 104/ 105 (2002/ 2003), S. 113-145. 150 Zu Elisabeth von Nassau-Saarbrücken vgl.: W. Haubrichs u. a. (Hg.), Zwischen Deutschland und Frankreich; von B loh , Ausgerenkte Ordnung; G aebel , Chansons de geste. <?page no="119"?> sches Übergangsgebiet bildenden Saarbrücker Raum charakteristisch sind, traut der Verfasser sich sogar die Entscheidung für Saarbrücken als Schreibort zu. 151 Selbst wenn man so weit nicht gehen will, legt das Faktum, dass jene überaus prachtvoll illustrierte Handschriftengruppe, die neben Huge Scheppel ebenfalls Herpin, Sibille sowie Loher und Maller enthält, gerade von Elisabeths Sohn Johann III. in Auftrag gegeben wurde, 152 eine Entstehung dieser Chanson de geste-Bearbeitungen im Saarbrücker Umfeld nahe. Etwas schwieriger ist die zeitliche Zuordnung mit Hilfe der Lebensdaten der (vermeintlichen) Autorin Elisabeth. Die These einer Autorschaft der Gräfin von Nassau-Saarbrücken für Herpin, Sibille, Loher und Maller wie für den Huge Scheppel hatte im Jahr 1920 zuerst W. Liepe in seiner wirkungsmächtigen Studie über ‹Entstehung und Anfänge des Prosaromans in Deutschland› aufgestellt. 153 Mit Hilfe stilistischer Kriterien glaubte er beweisen zu können, dass Elisabeth die Autorin bzw. Übersetzerin aller vier Texte sei, 154 obwohl ihr Name - neben dem ihrer Mutter Margarethe - lediglich in der subscriptio von Loher und Maller erscheint, wo es heißt: Vnnd das buch det schreiben Inn welscher sprach ein edele wolgeborenne frauwe margarethe greffynne zu wiedemont vnd frauwe zu genwille Hertzog friederichs von lotrengen graffen zu wiedemont husz frauwe Inn den jaren vnseres herrn ano tusent vierhundert vnnd funff Jahre vnnd ist disz buch auch vorbasz von welsch Inn dutsche gemacht durch die wolgeborn ffrauwe elisabeth von lotrengen greffynne witwe zu nassauwe vnde Sarbrucken der vorgenannten hertzog friederichs vnd frauwe margarethe dochter die ez durch sich selber also betutschet hat als ez hie vor ane beschrieben stet vns ist volbracht in den Jaren tusent vierhundert sieben vnd dryssig nach der geburt cristi vnsers herren der vns nu vnd immer wolle beschirmen und bewaren. des bietend erst vor die frauwe got wolle ir woltat meren dann bietend auch vor den schriber. 155 Rezeption französischer Heldenepik 109 151 Vgl. Peter B ichsel : Hug Schapler - Überlieferung und Stilwandel. Ein Beitrag zum frühneuhochdeutschen Prosaroman und zur lexikalischen Paarform. Bern usw. 1999 (Zürcher Germanistische Studien 53), S. 41. 152 Die Auftraggeberschaft Johanns III. wird aus der Tatsache abgeleitet, dass er die prächtig ausgestattete Chanson de geste-Erzählreihe im Loher und Maller-Teil mit seinem Wappen versehen ließ. Dabei lässt die Art des Wappens, das Johann in dieser Form nur kurze Zeit führte, auf eine Anfertigung um 1455/ 56 schließen, vgl. dazu Hans-Walter H errmann : Lebensraum und Wirkungsfeld der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. In: Haubrichs u. a. (Hg.), Zwischen Deutschland und Frankreich, S. 49-153, hier S. 120f. 153 Vgl. Wolfgang L iepe : Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. Entstehung und Anfänge des Prosaromans in Deutschland. Halle 1920. 154 So einheitlich, wie von L iepe prinzipiell behauptet, ist der Stil der vier Saarbrücker Prosa- Chansons jedoch keineswegs, wie auch er selbst einmal einzuräumen gezwungen ist. Unterschiede zwischen den einzelnen Texten versucht er daher psychologisierend mit zeitweiliger «übersetzerischer Ungeduld» Elisabeths zu erklären; vgl. L iepe , S. 223f. 155 Zitiert nach der Hamburger Handschrift, Bl. 143 v (vgl. auch von B loh , Ausgerenkte Ordnung, S. 31). <?page no="120"?> (Scheinbare) Unterstützung erhielt die These der schriftstellerischen Aktivitäten Elisabeths von Nassau-Saarbrücken durch den im Jahr 1500 bei Johann Grüninger in Straßburg erschienenen Erstdruck des Hug Schapler, in dem ebenfalls Elisabeth - die hier allerdings (genau wie ihre Mutter in den Loher und Maller-Handschriften) als Gräfin zu Vaudémont bezeichnet ist - als Autorin reklamiert wird, und in der vorred scheinbar sogar noch weitere Details der Textgenese preisgegeben werden: Man fyndt ouch des die bewerung z v Pariß in sant Dyonisius kirchen in der waren kronicken/ do fürsten vnd herren wol die warheit in h o ren/ do ouch diß b v ch vß geschriben ist in welsche/ vnd dett es der wolgeborne graff herr Johann graff z v Nassaw vnd z v Sarbrücken herr zuo heinßberg etc. vß schriben/ vnd z v Sarbrücken macht es sin m v ter genant Elyzabeth von lottringen greffyn z v widmont z v tütsch. 156 Liepe verstand diese vorred in dem Sinne, dass Johann seiner Mutter aus Frankreich 157 eine andere Handschrift des Hugues Capet (sowie der übrigen von Elisabeth zuvor bereits aus dem Französischen übersetzten Chansons de geste) zugänglich gemacht habe, nach der sie dann Revisionen an der ersten Fassung ihrer Huge Scheppel-Übersetzung habe vornehmen können. 158 Liepes Annahme wurde in der Folge rasch zur opinio communis germanistischer Arbeiten über die Saarbrücker Chanson de geste-Bearbeitungen. In Literaturgeschichten, Handbüchern und Lexika wird dann auch Elisabeth von Nassau-Saarbrücken nicht nur als Autorin bzw. Übersetzerin des Huge Scheppel und von Loher und Maller, sondern auch als Autorin von Herpin und Sibille angegeben. 159 In jüngeren Veröffentlichungen wurde Liepes Konstrukt jedoch zunächst angezweifelt 160 und schließlich von germanistischer wie von historischer Seite zurückgewiesen. Ute von Bloh, die sich in den letzten Jahren intensiv mit den Elisabeth zugeschriebenen Chanson de geste-Bearbeitungen auseinandergesetzt hat, spricht von einer «inszenierten Legende […], die das 110 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 156 Zitiert nach: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten hg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt/ M. 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 192. 157 Dass Johann sich in seiner Jugend zur Erziehung in Paris aufgehalten haben soll (vgl. etwa B ichsel , S. 31, H errmann , Lebensraum, S. 120), ist nicht zu belegen. Die Vorstellung scheint über die Hug Schapler-Vorrede Eingang in die historische Literatur gefunden zu haben, von wo sie dann als scheinbar gesichertes historisches Faktum in die Germanistik zurückwirkte; vgl. dagegen jetzt aber Karl-Heinz S pie ß : Zum Gebrauch von Literatur im spätmittelalterlichen Adel. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Transferts culturels et histoire littéraire au moyen âge, hg. von Ingrid Kasten u. a. Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 85-101. 158 Vgl. L iepe, S. 102, S. 139. 159 Vgl. etwa Hans Hugo S teinhoff : Art. Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. In: VL 2 2 (1980), Sp. 482-488. 160 Vgl. Jan-Dirk M üller , Huge Scheppel, Königin Sibille, S. 15. <?page no="121"?> Ansehen der Texte zu erhöhen vermochte». 161 Der Name der Saarbrücker Gräfin könnte in der Tat vor allem als Mittel zur Authentisierung benutzt worden sein. Die hochadlige Bearbeiterin, Witwe des Grafen von Nassau- Saarbrücken, die die Erzählung im Jahr 1437 durch sich selber also betutschet habe, bürgt in den Loher und Maller-Handschriften gemeinsam mit ihrer hochadligen Mutter Margarethe von Vaudémont und Joinville, Gattin des Herzogs von Lothringen, die die französische Vorlage im Jahr 1405 det schreiben, 162 gleichsam für den adelstypischen Stoff. Unter Authentisierungsaspekten muss möglicherweise auch die Exaktheit suggerierende Angabe des genauen Entstehungszeitpunkts der französischen und der deutschen Fassung gesehen werden. Eine vergleichbare Authentisierungsstrategie macht sich der auf verlegerischen Erfolg bedachte Grüninger im Hug Schapler-Erstdruck zunutze, wenn neben Elisabeth noch deren Sohn Johann in die Textentstehungsgeschichte einbezogen wird (s. o). 163 Wie in der Loher und Maller-subscriptio legitimieren damit zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Generationen einer hochadligen Familie die Erzählung über eine adlige Familienfolge. Die neueren Forschungszweifel an der jahrzehntelang gültigen These von der Autorinnenschaft Elisabeths müssen freilich nicht bedeuten, dass die als Spross einer literarisch sehr interessierten Dynastie aufgewachsene Gräfin von Nassau-Saarbrücken, die von Haus aus des Französischen sicherlich mächtig war, am Zustandekommen der deutschen Übertragungen französischer Chansons de geste überhaupt nicht beteiligt gewesen wäre. Sie könnte z. B. sehr wohl verantwortlich sein für die Beschaffung der seinerzeit relativ modernen Rezeption französischer Heldenepik 111 161 Von B loh , Ausgerenkte Ordnung, S. 32, vgl. auch ebd. S. 34; vgl. ebenfalls G aebel , Chansons de geste, S. 25f. und S pie ß , S. 98-101. 162 Interessanterweise durchschaut L iepe die behauptete Autorschaft von Elisabeths Mutter für die französische Fassung von Loher und Maller, vgl. L iepe , S. 3; S. 99 und S. 170, Anm. 3: «Dabei mag das det schreiben allzu wörtlich für ein fit escrire gesetzt, also ein mißverständlicher und ja auch mißverstandener Gallizismus sein.» 163 Grüninger scheint das Verfahren einer Authentisierung durch Personen, oder vielleicht besser: Namen, die den Erfolg seines Verlagsproduktes unterstützen sollten, häufiger angewandt zu haben; vgl. Werner W illiams -K rapp: Die deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte. Tübingen 1986 (Texte und Textgeschichte. Würzburger Forschungen 20), S. 310: «Als Grüninger [...] beschließt, eine Auflage des H[eiligen] L[eben]s zu unternehmen, ist ihm bewußt, daß es des Besonderen bedarf, um den Augsburger Offizinen - vor allem Schönsperger - den Rang abzulaufen. [...] Als Herausgeber seiner Erstausgabe gewann er den nach Straßburg wieder heimgekehrten Sebastian Brant. Was der bekannte Literat für diese Ausgabe genau tat, außer sie mit seinem Namen zu versehen, läßt sich nicht mehr ermessen. Am HL-Text ändert sich nämlich so gut wie nichts, die Sondergut-Legenden dürften ebenfalls nicht von ihm stammen.» Sebastian Brant scheint demnach lediglich aus ‹Marketing›-Gründen als Herausgeber der Grüninger-Edition von Der Heiligen Leben zu fungieren. Eine vergleichbare Funktion könnte die Nennung von Elisabeth und deren Sohn Johann für den bei Grüninger erschienenen Hug Schapler- Druck besitzen. <?page no="122"?> französischen Vorlagen, 164 könnte deren Verdeutschung angeregt und eventuell auch punktuell daran mitgewirkt haben. 165 Der genaue Anteil Elisabeths an der Genese von Herpin, Sibille, Loher und Maller sowie Huge Scheppel bleibt allerdings undeutlich. Vor dem Hintergrund ihres nicht eindeutig nachweisbaren Anteils an den Saarbrücker Prosa-Epen geben die Lebensdaten der Saarbrücker Gräfin für die Datierung von Herpin, Sibille, Loher und Maller und Huge Scheppel nicht unbedingt viel her. Angesichts der wohl um 1455/ 56 entstandenen, von Elisabeths Sohn Johann III. in Auftrag gegebenen, Hamburg/ Wolfenbütteler Prachtcodizes und einer weiteren, sicher auf 1463 zu datierenden Loher und Maller-Handschrift (UB Heidelberg, Hs 1012), die auf einer Vorlage aus dem Besitz von Elisabeths Tochter Margarete von Rodemachern basiert, kann man gleichwohl mit einer um 1430/ 1440 liegenden Entstehung der Saarbrücker Prosa-Epen rechnen. Malagis, Reinolt von Montelban, Ogier Sie dürften damit vermutlich ein wenig früher entstanden sein als die drei allein aus Heidelberger Handschriften bekannten Chanson de geste-Übersetzungen Malagis, Reinolt von Montelban und Ogier. Die beiden erstgenannten Texte sollen nach einer älteren Vorlage um 1460/ 70 aufgezeichnet worden sein, der Ogier lässt sich durch einen Schreiberkolophon auf 1479 datieren. Auf welche Weise und wann genau die drei auf niederländische Quellen zurückgehenden Texte, von denen zumindest Malagis und Reinolt ebenfalls im Umkreis der Pfalzgräfin Mechthild von Rottenburg bekannt gewesen zu sein scheinen, in die Palatina gelangten, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Der Inhalt, vor allem aber auch die formale, kaum an den metrischen Grundsätzen hochmittelalterlicher Literatur orientierte Gestaltung der Texte, die alle drei von Konflikten zwischen König Karl und dessen Vasallen erzählen, wurden offenbar lange als so ungewohnt im Vergleich zu den bekannten hochmittelalterlichen deutschen Vertretern französischer Heldenepik empfunden, dass sich die Forschung mit ihnen anscheinend nur ungern beschäftigen wollte. 166 In einer 112 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 164 Lion de Bourges (die Vorlage des Herpin): Ende 14. Jahrhundert; Chanson de Sebile (Vorlage der Sibille): 13. Jahrhundert; Lohier et Malart (Vorlage von Loher und Maller): 14. Jahrhundert (das einzige erhaltene Fragment stammt aus dem 15. Jahrhundert); Hugues Capet (Vorlage von Huge Scheppel): Mitte 14. Jahrhundert. 165 In diesem Sinne auch von B loh , Ausgerenkte Ordnung, S. 32; G aebel , Chansons de geste, S. 26; Wolfgang H aubrichs : Kurze Forschungsgeschichte zum literarischen Werk Elisabeths. In: ders. u. a. (Hg.), Zwischen Deutschland und Frankreich, S. 17-40, hier S. 23. 166 Vgl. etwa die abwertenden Urteile bei Hartmut B eckers : Art. Reinolt von Montelban. In: VL 2 7 (1989), Sp. 1212; ders .: Art. Malagis. In: VL 2 5 (1985), Sp. 1191-1193; ders .: Art. Ogier von Dänemark. In: VL 2 7 (1989), Sp. 25-27; Eero A lanne : Ogier der Däne. Ein Epigonenepos ohne «mâze». In: Neuphilologische Mitteilungen 58 (1957), S. 128- 143; Hermann B raun : Sprache und Vers in der Heidelberger Handschrift des Ogier. Diss. (masch.) Heidelberg 1925. <?page no="123"?> Edition greifbar war bis vor wenigen Jahren nur der Reinolt von Montelban. Nach der Publikation dieser deutschen Bearbeitung eines Empörerepos, die im Übrigen selbst der Herausgeber als «an sich ein elendes machwerk» bezeichnet hatte, 167 kam die Erforschung der Heidelberger Texte von germanistischer Seite für rund ein Jahrhundert praktisch zum Erliegen. Auf ein gewisses Interesse stießen die nach niederländischen Vorlagen gearbeiteten Übersetzungen allerdings seit jeher in der Niederlandistik, der Malagis, Reinolt und Ogier die jeweils nur fragmentarisch erhaltenen niederländischen Fassungen ersetzten. 168 Und obwohl sich in den letzten 10-15 Jahren die deutsche Forschungssituation wenigstens in Bezug auf den Reinolt ein wenig verbessert hat, steht eine intensivere wissenschaftliche Diskussion der Heidelberger Chanson de geste- Übersetzungen noch aus. Es bleibt zu hoffen, dass sie sich mit der kürzlich erfolgten Edition des Malagis und des Ogier von Dänemark intensivieren wird. Insbesondere liegen die Ursachen, die im späteren 15. Jahrhundert am Heidelberger ebenso wie am Saarbrücker Hof zur Rezeption französischer Heldenepik geführt haben, noch im Dunkeln. Buch vom heiligen Karl, Buch vom heiligen Wilhelm Noch wenig beachtet ist ebenfalls die etwa zeitgleiche Rezeption französischer Heldenepik im süddeutsch-alemannischen Raum. Dabei griff man allerdings nicht auf französische bzw. niederländische Vorlagen, sondern auf die ‹Klassiker› der oberdeutschen Chanson de geste-Literatur zurück. In drei Handschriften, die alle aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts bzw. dem frühen 16. Jahrhundert und alle aus Zürich oder der Umgebung von Zürich stammen, findet sich der neben der Karlmeinet-Kompilation kompletteste mittelalterliche deutsche Text über Karl den Großen. Die Herausgeber Bachmann und Singer, die diese spätmittelalterliche Prosaauflösung sowie weitere Prosifizierungen aus derselben Zürcher Handschrift unter dem höchst missverständlichen und oft kritisierten Titel «Deutsche Volksbücher» edierten, verliehen diesem Teil des Prosakodex die durchaus stimmige Bezeichnung: «Das Buch vom Heiligen Karl». Damit brachten sie auf den Punkt, was im Zentrum des Werkes steht: die Heiligkeit Karls. Die einzige etwas ausführli- Rezeption französischer Heldenepik 113 167 Fridrich P faff, Nachwort zur Reinolt-Ausgabe, S. 585. 168 Vgl. etwa S pijker , Aymijns kinderen; D uijvestijn , Reinolt von Montelban; ders ., Zur Quelle; ders .: Madelgijs. De middelnederlandse fragmenten en de overeenkomigste hoogduitse verzen. Brüssel 1989 (Verhandelingen van de Koninklijke Academie voor Wetenschappen, Letteren en Schone Kunsten van België, klasse der letteren, jaargang 51, Nr. 130); vgl. neuerdings auch die Festschrift de S met , die ganz dem Thema und der Figur des Madelgijs/ Malagis gewidmet ist: Georges de S chutter , Jan G oossens (Hg.): Van Madelgijs tot Malagis. Een bundel opstellen verzameld n.a.v. de tachtigste verjaardag van Gilbert de Smet. Gent 2002; Hans van D ijk : Ogier van Denemarken. In: ABäG 47 (1997), S. 39-48; weitere Beiträge zu Malagis und Ogier in Bart B esamusca , Jaap T igelaar (Hg.): Karolus Rex. Studies over de middeleeuwse verhaaltraditie rond Karel de Grote. Hilversum 2005. <?page no="124"?> chere Studie, die dem Text je gewidmet wurde, datiert von 1931 und arbeitet mit ihrem motiv- und quellengeschichtlichen Ansatz recht sorgfältig die Vorlagen des Buchs vom heiligen Karl heraus, das vor allem auf Strickers Karl basiert, daneben jedoch zahlreiche andere lateinische und deutsche Texte über Karl den Großen heranzieht. 169 Über die Funktion des Zürcher Buchs vom heiligen Karl besteht kaum ein Zweifel. Der Text gehört in den Kontext des ausgeprägten Karlskultes in Zürich, dem neben Aachen bis zur Reformation wichtigsten Ort der Verehrung des ersten Frankenkaisers. 170 Wohl vor allem aufgrund der literaturgeschichtlichen Bedeutung von Wolframs Willehalm hat die zweimal in derselben Handschrift wie das Buch vom heiligen Karl überlieferte Prosaauflösung von Arabel, Willehalm und Rennewart zuletzt mehr wissenschaftliche Beachtung gefunden als der erstgenannte Text. Ähnlich wie das Buch vom heiligen Karl stand jedoch auch das Buch vom heiligen Wilhelm 171 lange unter dem Verdikt eines wenig kunstvollen, epigonalen Texts, der ganz im Stil der seinerzeit von der Forschung als ‹Volksbücher› bzw. als ‹gesunkenes Kulturgut› bezeichneten Werke einen hochmittelalterlichen Stoff bearbeitet, dadurch zugleich aber seiner ästhetischen Qualitäten 114 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 169 Vgl. Urte K letzin : Das Buch vom heiligen Karl, eine Zürcher Prosa. In: PBB 55 (1931), S. 1-73. Insgesamt geht die Tendenz dieser Untersuchung allerdings sehr stark dahin, sämtliche Textpartien auf, notfalls hypothetische, ältere Vorlagen zurückzuführen, wodurch die Leistung des spätmittelalterlichen Prosaisten automatisch abgewertet wird. Auf K letzin stützt sich im motivgeschichtlichen Ansatz wie in einzelnen Ergebnissen F olz , Souvenir, S.469-479. Erstmals gewürdigt wurde die durchaus bemerkenswerte Erzähltechnik des Buchs vom heiligen Karl in einem kurzen Artikel von E. F eistner (vgl. Edith F eistner : Art. Zürcher Buch vom heiligen Karl. In: Killy 12 [1992], S. 528f.), die an anderer Stelle ausführlicher die ambitionierte Narrativik der wohl vom selben Bearbeiter stammenden, ebenfalls in der Zürcher Handschrift aufgezeichneten Prosaauflösung von Reinbots Heiligem Georg beschrieben hat (vgl. Edith F eistner : Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation. Wiesbaden 1995 [WILMA 20], S. 99); vgl. auch Karl- Ernst G eith : Art. Zürcher Buch vom heiligen Karl. In: VL 2 10 (1999), Sp.1597-1600. 170 Vgl. zum Zürcher Karlskult, der sich äußert in der für 1233 vermeldeten Translation von Karlsreliquien und der damit verbundenen Schaffung einer auf das Aachener Vorbild zurückgehenden Liturgie, in den Siegelabbildungen diverser Patrizier sowie etlicher Stiftsherren des Großmünsters, in einer Karlsplastik am Südturm des Großmünsters und nicht zuletzt in verschiedenen Lokalsagen und Legenden, F olz , Souvenir, S. 344- 347; F olz , Études, S. 96-100; Karl-Ernst G eith : Art. Karl der Große. In: Herrscher, Helden, Heilige, hg. von Ulrich Müller, Werner Wunderlich. St. Gallen 1996 (Mittelaltermythen 1), S. 87-100, hier S. 97-99 und D eifu ß , Hystoria, S. 213. Einige dieser Lokaltraditionen, etwa die bekannte Erzählung von der Gerichtsglocke, der in der Zürcher Überlieferung ein konkreter Handlungsort in der Stadt zugewiesen wurde, oder auch die Statue am Großmünster, die Karl als Richter mit halbgezogenem Schwert präsentiert, gingen in das Buch vom heiligen Karl ein. 171 Das Bezeichnungschaos für diesen Text ist noch größer als im Falle des Buchs vom heiligen Karl. In D eifu ß Studie (mit Edition des Textes) wird wieder ein neuer Titel vorgeschlagen: Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm. <?page no="125"?> beraubt habe. 172 Erst in allerjüngster Zeit vermochten Untersuchungen die Intention und Funktion dieses Textes adäquater zu erfassen, indem sie auf fragwürdige literaturästhetische Vorannahmen verzichteten. 173 Die zuvor heftig kritisierten Eingriffe und Bearbeitungstendenzen der Prosaauflösung werden in diesen neueren Arbeiten als die eigentliche Leistung eines Redaktors bzw. Autors bewertet, der insbesondere dann, wenn er, wofür einiges spricht, zugleich auch für die Redaktion des Buchs vom heiligen Karl verantwortlich sein sollte, «souverän über eine gewaltige Stoffmenge verfügte und sich darüber hinaus von seinen Vorlagen zu emanzipieren wußte, um für ihn im Vordergrund stehende Akzente zu setzen und einen von den Vorlagen unabhängigen Textsinn zu konstituieren», und von daher sogar zu den «herausragenden frühneuzeitlichen» Autoren gezählt wird. 174 Die Funktion des Buchs vom heiligen Wilhelm, das ebenso wie das Buch vom heiligen Karl der Schreibsprache sowie den Provenienzen nach zu urteilen im Zürcher Raum entstanden sein dürfte, 175 könnte ebenfalls mit dem Zürcher Karlskult zusammenhängen. Dafür spricht unter anderem, dass der Frankenkaiser im Eingangsabschnitt des ‹Arabel›-Teils eine herausragende Rolle spielt, denn im Unterschied zu Türlins Arabel, die als Quelle fungiert, setzt hier die Erzählung mit Karls Romzug und der wunderbaren Heilung des Papstes ein. Auch die weiteren Erzählabschnitte des Buchs vom heiligen Wilhelm lassen sich als Beschreibung des gottgefälligen, zum Teil sogar heiligmäßigen Lebens der direkten Nachfahren (Malefer, Alite) und Verwandten (Willehalms Schwester heiratet Karls Sohn, Rennewart heiratet Karls Enkelin) des in Zürich besonders verehrten Kaisers lesen. A.2.4 Kategorisierung und typologische Einordnung Das hier präsentierte Ensemble deutscher Chanson de geste-Bearbeitungen erfordert Differenzierungen, um Konvergenzen und Divergenzen erkennen zu können. Dabei ist das augenfälligste Klassifizierungskriterium sicherlich eine Diversifizierung nach den drei verschiedenen Kultur- und Literaturräumen, in denen die deutschen Adaptationen der französischen Heldenepik jeweils entstanden: Bei Willehalm, Karl, Rennewart, Arabel sowie dem Buch Rezeption französischer Heldenepik 115 172 Vgl. Friedrich S chneider : Die höfische Epik im frühneuhochdeutschen Prosaroman. Bonn 1915; Mathilde R auscher : Der heilige Wilhelm. Untersuchung über die Zürcher Prosaversion. Diss. (masch.) Erlangen 1952; vgl. auch den Forschungsüberblick bei D eifu ß , Hystoria, S. 13-27. 173 Vgl. Christian K iening : Der ‹Willehalm› Wolframs von Eschenbach im karolingischen Kontext. Formen narrativ-historischer Aneignung eines «Klassikers». In: Studien zur ‹Weltchronik› Heinrichs von München, Bd. 1, hg. von Horst Brunner. Wiesbaden 1998 (WILMA 29), S. 522-568, hier S. 550-557 und D eifu ß , Hystoria; ders .: Art. Willehalm. In: VL 2 10 (1999), Sp. 1151-1154; U rban , S. 310-336; B arthel . 174 D eifu ß , Hystoria, S. 214. 175 Vgl. zur Überlieferung D eifu ß , Hystoria, S. 28-70. <?page no="126"?> vom heiligen Karl und dem Buch vom heiligen Wilhelm kann davon ausgegangen werden, dass sie dem oberdeutschen Literaturraum entstammen. Im mittel- und niederdeutschen Gebiet, das man - gemeinsam mit dem flandrischniederländischen Gebiet - als den großen Kultur- und Literaturraum der deutschsprachigen Nideren Lande bezeichnen kann, entstanden Rolandslied, Karl und Galie, Morant und Galie, Alischanz (? ), Ospinel, der Günser Reinolt, Gerart van Rossiliun, die Karlmeinet-Kompilation sowie Karl und Ellegast und die Historie van Sent Reynolt. Die sieben Chanson de geste-Bearbeitungen bzw. Übersetzungen aus der Umgebung des Saarbrücker und Heidelberger Hofs schließlich entstanden im (süd)westdeutschen bzw. rheinfränkischen Raum. Setzt man die Herkunft der deutschen Adaptationen französischer Heldenepik mit den häufig allerdings nur annähernd erschließbaren Entstehungsdaten der Texte in Beziehung, zeichnen sich drei geographisch wie chronologisch divergierende Wellen deutscher Chanson de geste-Rezeption und eines jeweils eigenständigen Umgangs mit jenem Genre ab: - Unter der Prämisse, dass das Rolandslied, wie neuere Forschungen nahelegen, im sächsischen Herrschaftsbereich Heinrichs des Löwen entstand, beginnt die deutsche Chanson de geste-Rezeption und -Adaptation im späten 12. Jahrhundert in dem Literaturraum, der auch im 13., 14. und 15. Jahrhundert stets ein Schwerpunkt deutschsprachiger Umsetzungen französischer Heldenepik bleiben wird: den deutschsprachigen Nideren Landen. Bis an die Schwelle zur Neuzeit bricht hier der Umgang mit diesem Erzählstoff nicht mehr ab. Vermittelt wurde er ebenso über die französische (Rolandslied, Karl und Galie, Gerart van Rossiliun, Alischanz) wie über die niederländische Literatur (Günser Reinolt, Karl und Ellegast); daneben existieren vermutlich eigenständig nach entsprechenden Mustern entwickelte Texte (Morant und Galie, Ospinel, Karlmeinet-Kompilation, Historie van Sent Reynolt). Der nieder- und mitteldeutsche Raum ist damit der produktivste in der mittelalterlichen Geschichte deutschsprachiger Bearbeitungen aus dem Stoffbereich der französischen Heldenepik. Wie intensiv diese Bearbeitungen rezipiert wurden, lässt sich aufgrund der nur spärlich erhaltenen Überlieferungszeugnisse jedoch nicht sagen. - Von den zahlreichen Chanson de geste-Bearbeitungen der deutschsprachigen Nideren Lande hat lediglich das Rolandslied, das schon rein sprachlich merkwürdig zwischen Nieder- und Oberdeutschland oszilliert, offenbar recht schnell den Weg in den Süden gefunden und nachweisbare Spuren in Gestalt des Intertexts in Wolframs Willehalm und der im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts erfolgten Rolandslied-Adaptation durch den Stricker hinterlassen. Die übrigen mittel- und niederdeutschen Chanson de geste- Bearbeitungen scheinen hingegen in Oberdeutschland nicht auf produktive Resonanz gestoßen zu sein. Wolframs Willehalm sowie der im Laufe des 13. Jahrhunderts zur Trilogie vervollständigte Willehalm-Zyklus kennen jedenfalls, abgesehen vom Rolandslied, keine intertextuellen Bezüge zur 116 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption <?page no="127"?> Chanson de geste-Literatur der Nideren Lande. Die Produktion deutscher Chanson de geste-Adaptationen beschränkt sich im oberdeutschen Raum im Wesentlichen auf das 13. Jahrhundert. Doch belegen das Buch vom heiligen Karl und das eng damit zusammenhängende Buch vom heiligen Wilhelm einen produktiven Umgang mit oberdeutschen Chanson de geste- Bearbeitungen noch bis ins späte 15. Jahrhundert hinein. Auch der Zürcher Redaktor dieser beiden späten deutschen Adaptationen greift, obschon er die ihm erreichbare deutsche und lateinische Karlliteratur intensiv in seiner amplifizierten Bearbeitung des Strickerschen Karl benutzt, auf keinen der zahlreichen Karl-Texte aus den deutschsprachigen Nideren Landen zurück. - Obwohl jene deutschen Bearbeitungen französischer Heroik bis ins 15. Jahrhundert noch immer ihr Publikum fanden, kam es in dieser Zeit im Umfeld (süd)westdeutscher Fürstenhöfe zu einer neuen, der insgesamt dritten Phase deutscher Chanson de geste-Adaptation. Dabei beruhen die im Umkreis des Saarbrücker Hofes entstandenen Chanson de geste-Bearbeitungen, genau wie die oberdeutschen Adaptationen französischer Heldenepik, auf französischen Quellen. Die Heidelberger Umschriften gehen hingegen, genau wie ein großer Teil der Chanson de geste-Adaptationen aus den deutschen Nideren Landen, mit größter Sicherheit auf niederländische Quellen zurück. Eben diese niederländischen Vorlagen dürften dafür verantwortlich sein, dass sich im Reinolt von Montelban an einer Stelle ein intertextueller Verweis auf Karel ende Elegast bzw. Karl und Ellegast findet (s. S. 362). Vergleichbar ist die Situation bei den Saarbrücker Chanson de geste-Übertragungen. Ein Hinweis auf die Chanson de geste-Literatur der deutschsprachigen Nideren Lande lässt sich dort überhaupt nicht ausmachen, gleiches gilt für die oberdeutschen Chanson de geste-Adaptationen. Wenn in Loher und Maller einmal beiläufig erwähnt wird, dass eine von Ludwigs Töchtern wart eym hyesz Reynart, 176 scheint hier zwar ein Verweis auf die oberdeutsche Chanson de geste-Literatur, genauer: die Willehalm-Trilogie, vorzuliegen. Da jedoch im Willehalm ebenso wie im Rennewart (in der Arabel wird die Figur nicht erwähnt) die Namenform Reynart (bzw. Renoart; Revuoart, wie die Namenform in den übrigen Handschriften lautet) für den späteren Ehemann der Tochter König Ludwigs ganz ungebräuchlich ist, deutet der Lautstand darauf hin, dass die naheliegende Möglichkeit einer intertextuellen Anknüpfung an die oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen in dieser Passage nicht erkannt wurde, vielmehr eine auf ‹Rainouart› zielende Anspielung des französischen Lohier et Malart unreflektiert in die deutsche Bearbeitung übernommen wurde. Rezeption französischer Heldenepik 117 176 Zitiert nach der Kölner Handschrift, fol. 116r. Die Hamburger Handschrift hat an dieser Stelle einen Textverlust, der sich aber aus der Kölner Handschrift, einer Abschrift der Hamburger, ergänzen lässt. <?page no="128"?> Wie sich aus dieser Kategorisierung ergibt, existierten zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert im deutschen Kultur- und Literaturraum drei, sich teilweise zeitlich überschneidende Traditionen im Umgang mit französischer Heldenepik in unterschiedlichen Räumen. Dabei stehen die späten rheinfränkischen, die oberdeutschen und die niederbzw. mitteldeutschen Chanson de geste- Bearbeitungen praktisch unverbunden nebeneinander. Es kann folglich von drei als annähernd geschlossenen Systemen auftretenden deutschen Rezeptionsräumen französischer Heldenepik gesprochen werden. Legt man über diese nach geographisch-chronologischen Kriterien gegliederte Kategorisierung ein weiteres, ein nach Typologien differenzierendes Raster, zeichnen sich vor der Folie der französischen Tradition, die den Ausgangspunkt der gesamten europäischen Chanson de geste-Literatur bildet, die je spezifischen Qualitäten dieser drei deutschen Chanson de geste-Rezeptionsräume noch genauer ab: - Das größtenteils im 13. Jahrhundert entstandene Corpus der oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen besteht ausschließlich aus solchen Texten, die dem in Kap. A.1 als A bezeichneten Typus angehören; Texten also, die den Kampf zwischen Christen und Heiden, im übertragenen Sinn den Kampf zwischen Gut und Böse, thematisieren. Aus dem riesigen französischen Fundus werden (frühe) Zentraltexte, die Schilderungen des Kampfes bei Ronceval und der Schlacht bei Aliscans, ins Deutsche übernommen. Als interessant empfunden wurden offenbar auch Informationen über die Vor- und Nachgeschichte der Aliscans-Schlacht und der dort handelnden Akteure sowie ihrer Nachfahren. Die beiden anderen, seit spätestens 1200 in Frankreich gleichfalls in zahllosen Beispielen verbreiteten Chanson de geste-Typen stießen im oberdeutschen Literaturraum hingegen auf keine Resonanz. - Anders sieht dies im Corpus der Chanson de geste-Adaptationen aus, das zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert in den deutschsprachigen Nideren Landen verfasst wurde. Dort werden, etwa in Form des Rolandslieds, aber auch mit Ospinel sowie in einzelnen Partien der Karlmeinet-Kompilation und mit Alischanz zwar ebenfalls zentrale Texte des französischen Chanson de geste-Typs A rezipiert. Daneben begegnen jedoch in zahlenmäßig etwa gleichem Umfang dem französischen Chanson de geste-Typ B entsprechende nieder- und (west)mitteldeutsche Bearbeitungen französischer Heldenepik, die typisch feudale Themen wie etwa Auseinandersetzungen zwischen Souverän und Suzerän verhandeln. Konflikte zwischen dem König und ihm feindlich gesonnenen Hochadligen dominieren im Günser Reinolt, im Gerart van Rossiliun, in Karl und Ellegast (und der Karel ende Elegast-Branche der Karlmeinet-Kompilation) und ansatzweise ebenfalls in Karl und Galie sowie in Morant und Galie die Erzählstruktur. Lediglich in einzelnen Anklängen begegnet überdies in Karl und Galie, Morant und Galie und Ospinel der Typ C der französischen Heldenepik, die sogenann- 118 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption <?page no="129"?> ten Chansons d’aventures, in denen ‹romanhafte› Elemente wie Verwechslungen, Vertreibungen, Wiedervereinigungen oder ritterliche und erotische Abenteuer den Erzählduktus bestimmen. Die deutschen Chanson de geste-Adaptationen der Nideren Lande rezipieren damit als einzige, wenn auch in höchst unterschiedlicher Intensität, Texte aus dem gesamten Spektrum der französischen Heldenepik. - Hinter den Chanson de geste-Bearbeitungen, die während der dritten Rezeptionsphase französischer Heldenepik im 15. Jahrhundert nach Deutschland gelangten, verbirgt sich ein offenbar wiederum anders gelagertes Interesse. Nicht eine der aus dem Umfeld des Saarbrücker und Heidelberger Hofes bekannten Chanson de geste-Umsetzungen gehört zur Kategorie des französischen Typs A. Ebenso wie die im Umkreis des Heidelberger Hofs entstandenen Chanson de geste-Übersetzungen konzentrieren sich auch die Saarbrücker Adaptationen französischer Heldenepik auf Texte der Kategorie B, die von Suard als «Chansons de révolte et de lignage» bezeichnet wurden. Dabei bildet der (vergebliche) Kampf von Empörern gegen einen als ungerecht geschilderten König den Erzählschwerpunkt der Heidelberger Epen, während in den Saarbrücker Texten eher die Problematik schwieriger dynastischer Beziehungen, etwa in komplizierten Heiraten oder Erbfolgen, vorgeführt wird. Auffallend sind in fast allen Texten jedoch ebenfalls Anklänge an Typ C. Erkennbar wird zudem an den Saarbrücker Texten eine Vorliebe für relativ spät entstandene Exemplare französischer Heldenepik. Aus dem riesigen Reservoir der französischen Chanson de geste sind mithin in Deutschland zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert nur einige, dazu noch überwiegend früh entstandene Vertreter bestimmter Typen rezipiert worden. Auf besonderes Interesse stießen zunächst, und in Oberdeutschland ausschließlich, Chansons de geste, die den Kampf zwischen Christen und Heiden thematisieren (Typ A). Texte des Typs B, in denen feudaladlige Zentralthemen wie Erbfolge- oder Hierarchiefragen verhandelt werden, wurden erst etwas später ins Deutsche übertragen. Dabei fällt auf, dass dafür im nieder/ mitteldeutschen Raum sowie im Umkreis des Heidelberger Hofs häufig Texte ausgewählt wurden, die sich durch einen ‹christlichen› Schluss auszeichnen. Sowohl im Reinolt von Montelban wie in der Historie van Sent Reynolt und im Gerart van Rossiliun und gleichfalls im Ogier von Dänemark bzw. in deren französischen Quellen ziehen sich die rebellierenden Protagonisten schließlich aus der Welt zurück, gehen ins Kloster und/ oder werden Einsiedler und werden später als Heilige verehrt. Eigentliche Chansons d’aventures sind in Deutschland hingegen gar nicht rezipiert worden; es lassen sich allerdings in späten Bearbeitungen Anklänge an solche Texte festmachen. Von daher sind Modifikationen in der Fragestellung nötig, wenn man sich aussagekräftige Antworten über die deutsche Chanson de geste-Rezeption erhofft, die im Vergleich zum französischen Genre, das in rund 80 Chansons de geste ausdiffe- Rezeption französischer Heldenepik 119 <?page no="130"?> renziert ist, eher verhalten ausfällt. Die Frage ‹Weshalb stieß die französische Heldenepik in Deutschland auf wenig Interesse? › ist in dieser Form zu allgemein gestellt. Sie sollte vielmehr spezifiziert werden zu: - Weshalb wurden bestimmte Typen der französischen Heldenepik, und zwar gerade die vergleichsweise romanhaften und ‹höfischen›, in Deutschland nicht rezipiert? - Warum wurde hier lange Zeit der Typ A präferiert, ohne dass auch er allerdings besonders intensiv rezipiert worden wäre? Bevor diesen Fragen weiter nachgegangen wird, gilt es zunächst jedoch einen Blick auf die Überlieferungssituation der deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen zu werfen, die bereits erste Hinweise zur Beantwortung liefern kann. 120 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption <?page no="131"?> A.3 Die Überlieferung deutscher Chanson de geste-Adaptationen Die folgenden Ausführungen bieten keine Handschriftenbeschreibungen im klassischen Sinn, entsprechende Informationen samt weiterführender Spezialliteratur kann man sich für die meisten der hier behandelten Werke leicht über den Handschriftencensus beschaffen. 1 Eine Übersicht mit den für die vorliegende Studie wichtigsten Daten findet sich zudem im Anhang dieser Arbeit. Da aber bis jetzt in der Forschung ganz überwiegend die Überlieferungssituation einzelner Texte oder Fragmente erörtert wurde, sind zwei gattungsgeschichtlich außerordentlich wichtige Aspekte weitgehend ausgeblendet worden. Nicht gefragt wurde zum einen nach regionalen Distributionsschwerpunkten der deutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik. Zum anderen wurden spezifische Überlieferungssymbiosen, aus denen sich ebenfalls wichtige Erkenntnisse für eine gattungsgeschichtliche Einordnung ergeben können, noch wenig beachtet. Im Vordergrund des folgenden Kapitels, das die zuvor konstituierte Textgruppe deutscher Chanson de geste-Bearbeitungen erneut abschreitet, steht daher die Beschäftigung mit der aus kodikologischen und schreibsprachlichen Befunden ersichtlichen Wirkungsgeschichte der deutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik. A.3.1 Regionale Distribution Das Rolandslied, die am frühesten ins Deutsche übertragene Chanson de geste französischer Provenienz, weist zugleich die ältesten Überlieferungszeugen aller deutscher Chanson de geste-Adaptationen auf. 2 Von den sieben bekannten Überlieferungsträgern des Textes stammen zwei noch aus dem ausgehenden 12. Jahrhundert bzw. der Zeit um 1200 (die mit Federzeichnungen geschmückte Hs P 3 und die 1870 in Straßburg verbrannte Hs A, die eine Kurzfassung des Textes bot 4 ), die fünf übrigen aus der ersten Hälfte des 13. Jahr- Überlieferung 121 1 Zugänglich unter: http: / / www.handschriftencensus.de/ werke/ . 2 Zur Überlieferung des Rolandsliedes vgl. K lein , Ermittlung; G utfleisch -Z iche ; Christa B ertelsmeier -K ierst : Aufbruch in die Schriftlichkeit. Zur volkssprachlichen Überlieferung im 12. Jahrhundert. In: WS 16 (2000), S. 157-174; W olf , Buch, S. 86f., S. 212-218; vgl. auch meinen Beitrag: Konrads Rolandslied und Strickers Karl der Große. Unterschiede in Konzeption und Überlieferung. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität von 1200-1300. Cambridger Symposium 2001, hg. v. Christa Bertelsmeier- Kierst, Christopher Young. Tübingen 2003, S. 91-110, in dem einige der nachfolgenden Punkte näher ausgeführt sind. 3 Vgl. das Volldigitalisat unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg112; Beschreibung: Karin Z immermann unter Mitwirkung von Sonja G lauch , Matthias M iller und Armin S chlechter : Die Codices Palatini germanici in der Universitätsbibliothek Heidelberg (Cod. Pal. germ. 1-181). Wiesbaden 2003 (Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg VI), S. 264f. 4 Auch die Hs A scheint Federzeichnungen gehabt zu haben, die vom Typus her den aus Hs P bekannten Illustrationen entsprechen, vgl. die Nachzeichnungen in der Abschrift Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption Überlieferung <?page no="132"?> hunderts. 5 Wie diese relativ reiche Überlieferung beweist, stieß das Rolandslied an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert anscheinend sehr schnell auf ein lebhaftes Interesse, das jedoch ebenso rasch wieder abgeklungen zu sein scheint, denn Überlieferungszeugen des Rolandslieds, die nach der Mitte des 13. Jahrhunderts geschrieben wurden, haben sich nicht erhalten, was üblicherweise mit dem Erfolg der Strickerschen Überarbeitung erklärt wird. Zu dieser Zeit hatten Tradierung und Rezeption des Karl bereits eingesetzt. Die ältesten bekannten Bruchstücke von Karl-Handschriften werden auf das frühe zweite Viertel des 13. Jahrhunderts, etwa auf die Jahre um 1225/ 35, datiert. 6 Da ebenfalls die ältesten vollständig überlieferten Karl-Handschriften noch aus der Mitte des 13. Jahrhunderts stammen, 7 kommt es somit im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts anscheinend nur zu einer kurzen Phase der ‹literarischen Ungleichzeitigkeit› 8 des ‹altertümlichen› Rolandslieds und dessen ‹moderner› 122 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption von Hs A bei Johann Georg S cherz : Anonymi Fragmentum de Bello Caroli M. contra Saracenos [...], in: Johann Schilter (Hg.): Thesaurus Antiquitatum Teutonicarum, Bd. 2. Ulm 1727, S. 1-51. Wenn die Zeichnungen aber das Rolandslied illustriert haben sollten, können ein und dieselben Zeichnungen nicht gleichzeitig als Beleg für die These genommen werden, dass auch Hs F von Strickers Karl, die ebenfalls 1870 verbrannte und nur noch durch die Abschrift in Schilters Thesaurus bekannt ist, illustriert gewesen sei; so fälschlich Friedrich W ilhelm : Die Geschichte der handschriftlichen Überlieferung von Strickers Karl dem Grossen. Amberg 1904, S. 36 und ihm folgend u. a. Norbert H. O tt : Pictura docet. Zu Gebrauchssituation, Deutungsangebot und Appellcharakter ikonographischer Zeugnisse mittelalterlicher Literatur am Beispiel der Chanson de geste. In: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert, hg. von Gerhard Hahn, Hedda Ragotzky. Stuttgart 1992 (Kröners Studienbibliothek 663), S. 187-212, hier S. 209, Anm. 19. 5 Fr. S; Fr. T; Fr. E; Fr. M; Fr. W. 6 Die ältesten bekannten Überlieferungszeugen des Karl sind Fragment a und Fragment e. Zur Datierung und Beschreibung von Fr. a vgl. Karin S chneider : Gotische Schriften in deutscher Sprache, Bd. I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Wiesbaden 1987, Textband, S. 99f.; zu Fr. e vgl. dies .: Die Fragmente mittelalterlicher deutscher Versdichtung der Bayerischen Staatsbibliothek München (Cgm 5249/ 1-79). Stuttgart 1996 (ZfdA, Beih. 1), S. 24; zur Datierung von Fr. e vgl. auch Christa B ertelsmeier -K ierst : Rezension zu K. Schneider, Fragmente. In: PBB (1999), S. 299-302, hier S. 299f. 7 Die ältesten bekannten Karl-Handschriften enthalten Hs C und Hs D. Zur Datierung und Beschreibung des berühmten Sangallensis (Hs C), der neben Strickers Karl u. a. auch den Parzival, Willehalm und das Nibelungenlied enthält, vgl. S chneider , Gotische Schriften, Textband, S. 133-142; ein Überblick zu jüngeren Forschungen über Inhalt und Programm dieser Epenhandschrift findet sich in: Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Abbildung des ‹Willehalm›-Teils von Codex St. Gallen 857 mit einem Beitrag zu neueren Forschungen zum Sangallensis und zum Verkaufskatalog von 1767, hg. von Bernd S chirok . Göppingen 2000 (Litterae 119), hier S. IX-XL; vgl. ebenfalls die Rezension zu dem von B. S chirok herausgegebenen Band von Joachim H einzle , in: ZfdA 130 (2001), S. 358- 362; eine vollständige Farbabbildung des Codex in: Sankt Galler Nibelungenhandschrift CD-ROM (2., erw. Aufl. 2005). Zu Hs D vgl. S chneider , Gotische Schriften, S. 125-127. 8 Vgl. zur gleichzeitigen Überlieferung von Rolandslied und Karl in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts B ertelsmeier -K ierst , Aufbruch; Christa B ertelsmeier -K ierst , Jürgen <?page no="133"?> Überarbeitung durch den Stricker, die die ältere Fassung der Erzählung vom Ronceval-Kampf dann jedoch bald und endgültig verdrängte. Dieser in der Forschungsliteratur häufig zu lesenden Auffassung 9 widerspricht allerdings, dass noch im 14. oder 15. Jahrhundert der Konradsche Text im ripuarischen Raum bekannt gewesen zu sein scheint, da das Rolandslied hier in abbreviatorischer Form in die Karlmeinet-Kompilation integriert wurde. 10 Die zunächst einmal merkwürdig erscheinende Tatsache, dass im späteren Mittelalter noch das ‹archaische› Rolandslied und nicht die modernere, höfischere Bearbeitung des Stricker, die das ältere Werk nach vorherrschender Forschungsmeinung doch so nachhaltig verdrängt haben soll, den Weg in eine ripuarische Kompilation von Karltexten fand, wird besser verständlich, wenn man sich die erhaltenen Handschriften und Fragmente des Rolandslieds im Hinblick auf den jeweils aus der Schriftsprache zu erschließenden Entstehungsraum anschaut. Wie neuere Untersuchungen zeigen, wurde offenbar einzig Hs A im oberdeutschen Raum, und zwar in Bayern, geschrieben bzw. kopiert; der dafür als Vorlage dienende Text stammte aus dem nördlichen Teil des deutschen Sprachgebiets, vermutlich aus Ostfalen. 11 Hs P, der einzige Textzeuge, der den berühmten Epilog überliefert, wurde in einem auf Oberdeutschland verweisenden Lautstand, mit allerdings deutlichen mittel- und niederdeutschen Einschlägen, aufgezeichnet. Diese Sprachmischung deutet «auf einen hochdeutsch schreibenden Niederdeutschen, der mit Besonderheiten der mitteldeutschen Literatursprache vertraut war». 12 Gutfleisch-Ziche plädiert für den thüringisch-hessischen Raum als wahrscheinlichen Entstehungsort der Hs P. Diese Handschrift könnte sich eventuell auch im 14. Jahrhundert noch im (west)mitteldeutschen Raum befunden haben. Darauf deuten zumindest zwei Marginalien aus jener Zeit, die in ripuarischer Schreibsprache eingetragen wurden. Am unteren Rand von fol. 16 r13 steht der Anfang eines Messgebets, «wie es in teilweise identischem Wortlaut in mehreren Gebetbüchern des Niederrheins begegnet». 14 Und auf der letzten Seite (fol. 123 v ) 15 hat die gleiche Hand den Anfang einer Totenklage um den 1337 gestorbenen Grafen Wilhelm III. von Überlieferung 123 W olf : ‹Man schreibt Deutsch›. Volkssprachliche Schriftlichkeit im 13. Jahrhundert. Erträge des ‹Marburger Repertoriums deutschsprachiger Handschriften des 13. Jahrhunderts›. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 12 (2000), S. 21-34. 9 In diesem Sinne etwa W ehrli , Geschichte der deutschen Literatur, S. 466f. oder B ertels meier -K ierst , Aufbruch, S. 173. 10 Vgl. die Belege bei von der B urg , Rolandslied. Zur Problematik der Datierung der Karlmeinet-Kompilation vgl. S. 100. 11 Vgl. K lein, Verbreitungstypen, S. 130f. und G utfleisch -Z iche , S. 148. 12 G utfleisch -Z iche , S. 152. 13 Vgl. das digitale Faksimile: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg112/ 0033. 14 Wilfried W erner in: Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Einführung zum Faksimile des Codex Palatinus Germanicus 112 der Universitätsbibliothek Heidelberg. Von Wilfried Werner und Heinz Zirnbauer. Wiesbaden 1970 (Facsimilia Heidelbergensia 1), S. 32f. 15 Vgl. das digitale Faksimile: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg112/ 0248. <?page no="134"?> Holland niedergeschrieben. 16 Mit hoher Wahrscheinlichkeit im westbzw. ostmitteldeutschen Raum wurden drei weitere, heute nur noch fragmentarisch erhaltene Handschriften geschrieben (E im moselfränkischen, T im nordrheinfränkisch-hessischen und W im hessisch-thüringischen Raum). Für die übrigen beiden, durch eine Kombination hoch- und niederdeutscher Elemente gekennzeichneten, Fragmente S und M wird aufgrund der Literatursprache ein norddeutscher Entstehungshintergrund angenommen. All diese Faktoren deuten darauf hin, dass der Überlieferungsschwerpunkt des Rolandslieds im nord- und im mitteldeutschen Sprachgebiet lag, während der oberdeutsche Raum offenbar weniger stark an der Rezeption partizipierte. Im Vergleich zu Konrads Rolandslied scheint der Karl, wenn man die Zahl der erhaltenen Textzeugen zum Maßstab nimmt, ungleich erfolgreicher gewesen zu sein. Von der Umarbeitung des Rolandslieds durch den Stricker sind derzeit damit insgesamt 22 (annähernd) vollständige Handschriften 17 und 19 Fragmente bekannt. 18 Bis gegen Ende des 13. Jahrhunderts konzentriert 124 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 16 Anders allerdings G utfleisch -Z iche , S. 153, die den Dialekt der Marginalien als hessisch identifiziert. 17 Im Unterschied zu älteren Zählungen, die von 24 vollständigen Hss. ausgehen, sind in dieser Auflistung - in Analogie zu der für Arabel, Willehalm und Rennewart gültigen Zählweise - die als Exzerpte in die Gothaer und Wolfenbütteler Fassung der Weltchronik Heinrichs von München aufgenommenen Karl-Texte nicht mitgerechnet, obgleich sie annähernd vollständig sind. Sie sollten in Zukunft zu den sekundären Überlieferungszeugen gezählt werden. Unter diese Kategorie fallen ebenso die Prosaauflösungen von Strickers Karl im Buch vom heiligen Karl aus dem sog. Zürcher Volksbuch, in der Weihenstephaner Chronik und in Ulrich Fuetrers Bayrischer Chronik. Ein weiterer sekundärer Überlieferungszeuge ist ein Exzerpt aus dem Anfangsteil des Karl (Fragment o), das um 1500 in eine um einige Prosaabschnitte ergänzte Versdichtung über die Taten Karls des Großen integriert wurde; vgl. Arthur W yss : Ein Gedicht über Karl den Großen. In: ZfdA 30 (1886), S. 63-71 und Karl-Ernst G eith : Art. Karl der Große. In: VL 2 10 (1999), Sp. 1002f. Die von B artsch in der Einleitung zu seiner Karl-Ausgabe, S. XL, als Nr. 1 verzeichnete, für die Edition des Karl von ihm selbst aber nicht eingesehene und auch nicht benutzte, Handschrift «Donaueschingen, pergament, vom jahre 1386, gr. fol., mit bildern auf goldgrund, für den pfalzgrafen Friedrich geschrieben» ist trotz der scheinbar genauen Angaben, die auf Franz P feiffer , Neue Jenaer Literaturzeitung 1842, Nr. 244, Sp. 1006a, zurückgehen, später niemals wieder aufzufinden gewesen. W ilhelm , Geschichte, S. 28, vermutet, dass sie nie existiert habe. Die Forschung ist ihm in dieser Annahme gefolgt; der Sachverhalt verdiente gleichwohl eine erneute Prüfung. Erste Nachforschungen blieben allerdings erfolglos. Zur Überlieferung des Karl vgl. W ilhelm , Geschichte; S inger , Untersuchungen; W olf , Buch, S. 218f. 18 Die noch in der neuesten Auflage des Verfasserlexikons und in anderer neuerer Literatur aufgeführte Anzahl von 23 Fragmenten ist falsch. Bei jener Berechnung wurde offenkundig missachtet, dass die Fragmente r und z, und höchstwahrscheinlich zudem das heute verschollene Fragment p, ebenso aus ein und derselben mitteldeutschen Handschrift des 14. Jahrhunderts stammen wie die Fragmente b, t und ein seit längerem bekanntes, aber bislang nie in der Fachliteratur verzeichnetes Karlsruher Bruchstück aus einer bairischen Handschrift des frühen 14. Jahrhunderts; vgl. K lein , ‹Verbleib unbekannt›, S. 68f. Zu bedenken ist ferner, dass das unter der Sigle n geführte Stück nicht als <?page no="135"?> sich die Tradierung des Werks ausschließlich auf den bairisch-österreichischen Raum. 19 Handschriften und Fragmente des Karl in alemannischer Schreibsprache datieren erst aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts. 20 Auf den gerade genannten südwestdeutschen und südostdeutschen Bereich, also auf Oberdeutschland, konzentriert sich die Tradierung des Karl auch noch in den nächsten Jahrhunderten; rund drei Viertel der erhaltenen Handschriften und Fragmente des Stricker-Textes entstammen dem oberdeutschen Raum. Aus diesem Raum stammen auch die sekundären Überlieferungszeugen des Karl. Der älteste bekannte Überlieferungszeuge der Strickerschen Rolandslied-Bearbeitung in mitteldeutscher Schreibsprache datiert zwar, wie der früheste bekannte alemannische Zeuge, noch aus dem frühen 14. Jahrhundert, 21 und auch aus dem späteren 14. und 15. Jahrhundert haben sich einige weitere ost- und westmitteldeutsche Handschriften und Fragmente des Karl erhalten. Die Überlieferungsdichte erreicht in diesem Gebiet allerdings bei weitem nicht die Intensität der Karl-Tradierung im oberdeutschen Bereich. Die dem Sprachstand nach zu urteilen am weitesten nördlich geschriebenen, bis heute erhaltenen Texte des Strickerschen Karl sind dabei in zwei Codices enthalten, die 1422 im moselfränkischen Raum (Hs Z; evtl. aus der Umgebung des Bischofs von Trier stammend) 22 bzw. im Jahr 1433 in einer mitteldeutsch-niederdeutschen Sprachmischung aufgezeichnet wurden (Hs Q). 23 Außer den gerade angeführten Textzeugen sind, den bisherigen Untersuchungen und Handschriftenbeschreibungen zufolge, keine weiteren Handschriften oder Fragmente überliefert, die im niederdeutschen Raum oder im ripuarischen Gebiet geschrieben Überlieferung 125 Fragment im klassischen Sinne gelten kann. Es handelt sich dabei vielmehr um die Ergänzung einer Lücke von ca. 300 Versen in der Prachthandschrift A durch eine Hand des 14. Jahrhunderts, die handlungslogisch an falscher, bindetechnisch jedoch an problemloser Stelle, nämlich in der Mitte einer Lage, eingeschoben wurde; vgl. dazu Karin S chneider : Codicologischer und paläographischer Aspekt des Ms 302 Vad. In: Rudolf von Ems, Weltchronik. Der Stricker, Karl der Große. Kommentar zu Ms 302 Vad., hg. von der Kantonsbibliothek (Vadiana) St. Gallen und der Editionskommission. Luzern 1987, S. 19-42, hier S. 31; zu Fragment o (Berlin, SB, mgq 1803) vgl. Anm. 17. 19 Vgl. neben den bereits genannten Zeugnissen aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ebenfalls Fr. m (vgl. dazu auch W olf , Buch, S. 219), Fr. d, Fr. k, Hs L. 20 Hs A; Hs M; Hs N; Fr. g. 21 Die ursprünglich wohl zu ein und derselben Handschrift gehörenden Fragmente p, r 1 und r 2 . 22 Geschrieben wurde diese Sammelhandschrift (Dessau, Landesbibl. Hs Georg.224.4 o ), die neben dem Karl u. a. auch noch den Wilhelm von Wenden, den Laurin und den Rosengarten sowie eine Alexiusvita enthält, durch Peter von Freisen im Jahr 1422 (oder 1423) «im Haus des Offizials der Erzbischöflichen Kurie von Trier», F echter , Überlieferung, S. 20; vgl. auch ders .: Das Publikum der mittelhochdeutschen Dichtung. Frankfurt/ M. 1935 (Deutsche Forschungen 28), S. 72f. und Anm. 675. 23 Zur Karl-Hs Q vgl. Anna A rfwidsson : Zeno oder die Legende von den Heiligen Drei Königen. Eine mittelniederdeutsche Version. Lund, Kopenhagen 1940 (Lunder germanistische Forschungen 10), S. 35-37, S. 62-67. <?page no="136"?> wurden. Dort scheint Strickers Karl demnach kaum bekannt gewesen zu sein. Vergleicht man diesen Befund mit der zuvor geschilderten Überlieferungslage des Rolandslieds, fällt auf, dass das Zentrum der Überlieferung und Rezeption des Rolandslieds genau dort liegt, wo Strickers Karl, nach Ausweis der handschriftlichen Tradierung, gar nicht oder erst spät rezipiert wurde. Mit anderen Worten: Rolandslied und Karl verhalten sich zueinander komplementär. Das gilt mit Sicherheit für das 13. Jahrhundert, in dem beide Texte nachweislich eine Zeitlang parallel abgeschrieben wurden. Der mitteldeutsche Raum bildete dabei eine Art Übergangszone, in der beide Texte auch über das 13. Jahrhundert hinaus gelesen worden sind, wie die Karl-Überlieferung auf der einen Seite und auf der anderen die Rolandslied-Branche der Karlmeinet-Kompilation sowie Randbemerkungen in der Rolandslied-Handschrift P nahelegen. Aus diesem Befund ergeben sich verschiedene Konsequenzen. So ist der ganz überwiegend in den nieder- und mitteldeutschen Raum weisende Überlieferungsbefund des Rolandslieds ein weiteres Argument zur Unterstützung der in letzter Zeit favorisierten These, der Text sei im sächsischen Herrschaftsbereich Heinrichs des Löwen entstanden. Dann aber wäre Strickers Karl, so lässt sich weiter folgern, neben aller unbestrittenen stilistischen Modernisierung, zunächst einmal zu verstehen als die oberdeutsche Umsetzung jenes norddeutschen und damit im oberdeutschen Literaturraum vielleicht nicht immer ganz leicht zu verstehenden Textes. Daraus resultiert freilich sofort die Frage, weshalb im oberdeutschen Bereich überhaupt ein so starkes Interesse an diesem Stoff bestand, das es gerechtfertigt erscheinen ließ, Mühen und Kosten einer oberdeutschen Bearbeitung auf sich zu nehmen, die sich dann freilich als großer Erfolg erweisen sollte. Hier könnte eine Überlegung J. Bumkes weiterhelfen, der wiederholt die sehr ansprechende Vermutung geäußert hat, Produktion und Rezeption des Karl, der sich mit seinen letzten Versen bekanntlich als ätiologische Vorgeschichte des Willehalm geriert, könnten mit dem großen Erfolg des seinerseits auf das Rolandslied rekurrierenden Willehalm Wolframs von Eschenbach zusammenhängen. 24 Wenn dem so ist (wofür beispielsweise die Vergesellschaftung zweier früher Textzeugen von Willehalm und Karl im Kodex St. Gallen 857 spricht), wäre es gut vorstellbar, dass der Karl im oberdeutschen Raum jene intertextuelle Grundlage bereitstellte, auf der Wolframs zahlreiche Anspielungen auf die Ronceval-Schlacht überhaupt erst decodiert werden konnten. 25 126 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 24 Vgl. Joachim B umke : Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. München 1990, S. 255; vgl. auch ders .: Autor und Werk. Beobachtungen und Überlegungen zur höfischen Epik (ausgehend von der Donaueschinger Parzivalhandschrift G ). In: ZfdPh 116 (1996), Sonderheft, S. 87-114, hier S. 99f. 25 Die ältesten Überlieferungszeugen für Willehalm und Karl bilden Fragmente, die jeweils um 1220/ 25 oder wenig später im bairischen Raum geschrieben wurden: das Willehalm- Fragment 13 und die Karl-Fragmente a und e. Durch die von Karin S chneider , Frag- <?page no="137"?> Nur für wenige deutsche Texte des Mittelalters ist die Überlieferungssituation so umfassend aufgearbeitet wie für den Willehalm und für dessen Ergänzungen Arabel und Rennewart. Dank der Vorarbeiten v. a. der Marburger Wolfram-Forschungsstelle lässt sich trotz der erstaunlich hohen Anzahl der Überlieferungszeugen (Arabel: 11 Handschriften und 16 Fragmente; Willehalm: 13 Handschriften und 64 Fragmente; Rennewart: 11 Handschriften und 29 Fragmente) relativ problemlos ein Überblick über die zeitliche und geographische Verbreitung der Willehalm-Trilogie gewinnen. Demnach konzentriert sich die frühe Überlieferung des Willehalm ähnlich wie beim Karl auf den bairisch-österreichischen Raum. 26 Im Unterschied zum Karl bildet jedoch schon im 13. Jahrhundert gleichfalls das west- und ostmitteldeutsche Gebiet einen weiteren Überlieferungsschwerpunkt, und auch aus dem niederdeutschmitteldeutschen Interferenzgebiet, genauer dem ostfälischen Bereich, haben sich aus dem 13. Jahrhundert stammende fragmentarische Willehalm-Handschriften erhalten. 27 Abgesehen vom norddeutschen bzw. ostfälischen Raum, aus dem keine späteren Überlieferungszeugen bekannt sind, setzten sich die bereits im 13. Jahrhundert zu konstatierenden Tendenzen auch im 14. und 15. Jahrhundert fort. Neben dem bairisch-österreichischen Raum bleibt ebenfalls das west- und ostmitteldeutsche Gebiet ein Kristallisationspunkt der Wille- Überlieferung 127 mente, S. 18 u. 24 und Christa B ertelsmeier -K ierst : Rez. zu Schneider, Fragmente, S. 299-302, hier S. 299f., vorgenommene Neudatierung der Karl-Fragmente wird die etwa von F olz , Souvenir, S. 318f.; André de M andach : Naissance et Développement de la Chanson de geste en Europe, Bd. 1. Genève, Paris 1961 (Publications Romanes et Françaises 69), S. 333 und G eith , Carolus Magnus, S. 187ff. favorisierte Entstehung von Strickers Rolandslied-Bearbeitung um das Jahr 1233 herum, als der Karlskult in Zürich eingeführt wurde, eher unwahrscheinlich. 26 Zur Willehalm-Verbreitung vgl. auch K lein , Verbreitungstypen, 126f. Zur Erwähnung von Handschriften des Willehalm bzw. der Willehalm-Trilogie in mittelalterlichen Bücherverzeichnissen vgl. Peter Jörg B ecker : Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen. Wiesbaden 1977, S. 117-120. 27 Es handelt sich dabei um die Willehalm-Fragmente 17, 55 und 87, wobei Fr. 55 kein Fragment im eigentlichen Sinn ist. Bei dem aus dem letzen Drittel des 13. Jahrhunderts stammenden, derzeit nicht auffindbaren Stück handelt es sich vielmehr um einen Kodex, bei dem etwa die Hälfte der Blätter, aus dem Anfangs-, dem mittleren und dem Schlussbereich, verloren ging, wohl weil der Kodex lange ungebunden blieb; vgl. K lein , Gesamtverzeichnis, S. 452, Anm. 8. Mit Fr. 17 werden die Fragmente aus der vermutlich im Umkreis von Magdeburg/ Halberstadt entstandenen ‹Großen Bilderhandschrift› bezeichnet, in der der Willehalm-Text, nach Art bebilderter Sachsenspiegel-Handschriften, durch eine Bildleiste am Seitenrand eines jeden Blattes fortlaufend illustriert ist; vgl. dazu Henrike M anuwald : Medialer Dialog. Die ‹Große Bilderhandschrift› des Willehalm Wolframs von Eschenbach und ihre Kontexte. Tübingen, Basel 2008 (Bibliotheca Germanica 52). Auch das vor noch nicht allzu langer Zeit aufgefundene Fr. 87 stammt aus einem repräsentativen Prachtkodex, der allerdings einem anderen Illustrationstyp folgt; vgl. dazu Hartmut B eckers , Norbert H. O tt : Ein neu gefundenes Blatt einer zerschnittenen ‹Willehalm›-Bilderhandschrift des 13. Jahrhunderts (F 87). In: WS 13 (1994), S. 262-290; M anuwald , S. 86f. <?page no="138"?> halm-Rezeption. 28 Analog zum Willehalm, und sicherlich durch das Interesse an Wolframs unvollendetem Roman begünstigt, zeigen Arabel und Rennewart eine ganz ähnliche zeitliche und geographische Distribution wie das Werk, auf das sie rekurrieren. Zwar sind, bedingt durch die erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts anzusetzende Entstehung beider Willehalm- Ergänzungen, noch aus jenem Jahrhundert stammende Textzeugen relativ selten - die wenigen erhaltenen weisen fast alle in den oberdeutschen Raum - im 14. und 15. Jahrhundert fanden nach Ausweis der erhaltenen Handschriften und Fragmente Arabel und Rennewart jedoch, genau wie der Willehalm, beinahe im gesamten deutschsprachigen Raum ihr Publikum, wobei neben dem bairisch-österreichischen wiederum der mitteldeutsche Bereich einen Überlieferungsschwerpunkt bildet; zwei mitteldeutsche Rennewart-Fragmente (Nr. 18 und Nr. 27) - eins davon vielleicht sogar noch aus dem späten 13. Jahrhundert (Nr. 27) - weisen zudem niederdeutsche Schreibformen auf. Das Interesse, das dem Willehalm und dessen Ergänzungen zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert, gleichmäßig über fast den gesamten deutschsprachigen Raum verteilt, entgegen gebracht wurde, ist wohl zu einem nicht unerheblichen Teil auf die Autorgestalt Wolframs zurückzuführen. Doch mit dem Ansehen Wolframs allein lässt sich die Resonanz, die insbesondere der Willehalm gerade im mittel- und norddeutschen Raum fand, kaum erklären. Denn wenn das Publikum in erster Linie am Werk Wolframs oder dessen Ergänzungen interessiert gewesen wäre, müsste sich für den Parzival eine ganz ähnliche geographische Distribution der überlieferten Handschriften und Fragmente ausmachen lassen. Das ist jedoch nicht der Fall. Zwar existieren durchaus einige (ost)mitteldeutsche Parzival-Textzeugen, wenige Handschriften und Fragmente weisen zudem niederdeutsche Schreibformen auf, die ganz überwiegende Anzahl der Überlieferungsträger stammt jedoch aus dem süddeutschen Raum: «rund Dreiviertel der Handschriften sind oberdeutsch, mit etwa gleichmäßigem Anteil des alemannischen und des bayerischen Bereichs.» 29 Der im mitteldeut- 128 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 28 Zu neu aufgefundenen Fragmenten aus jenem Raum vgl. Jost K loft , Klaus K lein : Neue ‹Willehalm›-Fragmente. In: WS 11 (1989), S. 243-247; Christa B ertelsmeier -K ierst : ‹Willehalm› und ‹Lohengrin›. Ein mittelrheinisches Skriptorium um 1300. In: WS 14 (1996), S. 444-451; Kurt G ärtner / Klaus K lein : Ein neues Berliner ‹Willehalm›-Fragment aus Magdeburg. In: WS 14 (1996), S. 430-44; Christa B ertelsmeier -K ierst , Birgit S alzmann : Die Eltviller Fragmente von Wolframs ‹Willehalm›. In: WS 15 (1998), S. 426- 438; Natalija G anina , Jürgen W olf : Ein Moskauer ‹Willehalm›-Fragment (Fr 89). In: WS 16 (2000), S. 319-335. 29 B umke : Wolfram von Eschenbach, S. 251. Zur niederdeutschen Parzival-Rezeption vgl. Hartmut B eckers : Sprachliche Untersuchungen zu einigen ›Parzival‹-Fragmenten niederdeutscher Schreiber. In: WS 12 (1992), S. 67-92. In einem Teil des westmitteldeutschen Gebiets, am Mittel- und Niederrhein, scheint Wolframs Parzival überhaupt nicht rezipiert worden zu sein, es existieren jedenfalls keine moselfränkischen oder ripuarischen Abschriften des Romans. Beckers sieht den Grund dafür darin, dass es im Rheinschen <?page no="139"?> Raum zu konstatierende Überlieferungsschwerpunkt des dreiteiligen Willehalm-Zyklus verlangt also nach einer anderen Erklärung. Im ostmitteldeutschen Bereich könnte dabei eine Rolle gespielt haben, dass der Willehalm, wenn man den Angaben des Prologs Glauben schenken darf, in eben diesem Gebiet, in der Umgebung des Hofes der Landgrafen von Thüringen, verfasst worden war. Das starke Interesse an Wolframs Text samt dessen Ergänzungen könnte hier also auf regionale Gründe zurückzuführen sein. Denkbar wäre dies etwa für den im Auftrag des Landgrafen Heinrich II. von Hessen (1328-1377) im Jahr 1334 fertig gestellten Prachtkodex der Hs K, der den gesamten Willehalm-Zyklus durch ein umfangreiches Bildprogramm, das allerdings nicht vollständig ausgeführt wurde, illustrieren sollte. 30 Landgraf Heinrich II. von Hessen, der mit den Herzögen von Brabant verwandt war, die ihrerseits Guillaume/ Willehalm als Vorfahr und Landespatron verehrten, 31 hatte 1321 Elisabeth von Thüringen geheiratet, eine Tochter Friedrichs I., des Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen, dessen Geschlecht das thüringische Landgrafenamt nach deren Aussterben von den Ludowingern übernommen hatte. Im westmitteldeutschen Raum, in dem der Willehalm-Zyklus insbesondere in dem um die Zentren Trier und Köln/ Aachen anzusiedelnden mittelfränkischen Rheinland stark rezipiert wurde, 32 kommen ‹lokalpatriotische› Motive dieser Art jedoch nicht in Betracht. Von lokalem Interesse war in jenem Gebiet weder die Figur Willehalms noch die des Autors Wolfram, vielmehr die Figur Karls des Großen. Beckers geht deshalb davon aus, dass der Willehalm-Zyklus in den mittelfränkischen Rheinlanden «wegen seiner stofflich-gehaltlichen Nähe zur heimischen Karlsliteratur besonderen Anklang» gefunden habe. 33 Beckers These, die Bumkes Theorie von der Entstehung des Karl als Folge der Willehalm-Faszination gleichsam umkehrt, besitzt eine gewisse Wahrscheinlichkeit, vor allem wenn man an den Anfangsteil der Arabel denkt, in der Karl der Große und dessen Verhältnis zu Willehalms Vater bzw. zum jungen Willehalm selbst eine wichtige Rolle spielen. Ein analoges Interesse lässt sich für die spätmittelalterliche Prosifizierung der Willehalm-Trilogie, das Buch vom heiligen Wilhelm, beobachten. Das Buch vom heiligen Wilhelm betont den engen Konnex zur Figur Karls des Großen nicht nur durch die Eingangsepisode des ‹Arabel›-Teils, der mit den Worten In den Überlieferung 129 land eine eigene, über die Niederlande vermittelte, Parzival-Tradition gegeben habe, vgl. Hartmut B eckers : Die mittelfränkischen Rheinlande als literarische Landschaft von 1150 bis 1450. In: ZfdPh 108 (1989), Sonderheft, S. 19-49, hier S. 36. 30 Vgl. Joan A. H olladay : Illuminating the Epic. The Kassel Willehalm Codex and the Landgraves of Hesse in the Early Fourteenth Century. Seattle, London 1996; vgl. dazu auch die Rezension von Joachim B umke in ZfdA 127 (1998), S. 452-455. 31 Vgl. dazu etwa Erich K leinschmidt : Literarische Rezeption und Geschichte. Zur Wirkungsgeschichte von Wolframs Willehalm im Spätmittelalter. In: DVjs 48 (1974), S. 585-649, hier S. 643-645. 32 Vgl. B eckers , Rheinlande, S. 35. 33 Ebd. <?page no="140"?> ziten dez keisers Karoli vnd sins br v ders Leo einsetzt. 34 Die Verbindung zwischen Strickers Karl und der Willehalm-Trilogie wird dort auch materialiter hergestellt, indem der prosifizierten Willehalm-Trilogie in zwei von drei sie überliefernden Handschriften ein Prosa-‹Karl› vorangeht. Diese spezifische Ausformung der Willehalm-Trilogie scheint allerdings nur einen sehr begrenzten Rezeptionsradius gehabt zu haben. Die drei erhaltenen Handschriften P 1 , P 2 und P 3 stammen sämtlich aus dem südalemannischen Raum, entstanden sind sie vermutlich in oder in der Umgebung von Zürich und können eventuell mit der dortigen Karlsverehrung in Verbindung gebracht werden. 35 Neben der Rezeption der aus Arabel, Willehalm und Rennewart bestehenden Willehalm-Trilogie gab es augenscheinlich noch einen weiteren Versuch zur Übertragung der ausgreifenden französischen Wilhelmsepik. Erhalten hat sich davon lediglich ein kleines Stück aus der zentralen Branche jenes Zyklus: die Schlacht von Alischanz. 36 Die Bruchstücke (Fr. A) schildern, dabei sehr viel enger der Chanson d’Aliscans folgend als Wolfram das in seiner Chanson de geste-Bearbeitung getan hatte, 37 den Beginn der zweiten Schlacht auf Alischanz, wobei die Taten Renoarts in dieser Passage dominieren. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stand seit jeher die merkwürdige, ganz singuläre niederrheinisch-mittelniederländische Mischsprache mit einzelnen oberdeutschen Elementen des wohl im späten 13. Jahrhundert aufgezeichneten Textes. 38 Diskutiert wurde auf der Grundlage der ungewöhnlichen Schreibsprache darüber, ob eine niederrheinisch-niederländische Vorlage von einem ostfränkischen Schreiber, eventuell sogar in Kitzingen (dem Fundort der Bruchstücke), überarbeitet worden sei, 39 oder ob umgekehrt eine oberdeut- 130 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 34 BhW, Ausgabe D eifu ß , S. 217. 35 Zu den Handschriften des Buchs vom heiligen Wilhelm vgl. D eifu ß , Hystoria, S. 28-70 und U rban , S. 315-323. 36 Neben den bereits genannten Studien von S uchier, Über das niederrheinische Bruchstück; L eitzmann , Kitzinger bruchstücke sowie S chulz, Kitzinger Bruchstücke, vgl. auch Heinz S chanze : Art. Alischanz. In: VL 2 1 (1978), Sp. 240; Danielle B uschinger : Deux témoins de la réception des Aliscans en Allemagne aux moyen âge tardif: l’Arabel d’Ulrich von dem Türlin et Die Schlacht von Alischanz. In: Hans van Dijk, Willem Noomen (Hg.): Aspects de l’épopée romane. Mentalités. Idéologies, Intertextualités. Groningen 1995, S. 339-344, bes. S. 343f.; H ennings , Französische Heldenepik, S. 196-263. 37 Vgl. B uschinger , Deux témoins, sowie neuerdings den akribischen und erschöpfenden Vergleich des deutschen Fragments mit französischen Aliscans-Handschriften durch H ennings , Französische Heldenepik, S. 196-263. 38 Vgl. die jüngste Beschreibung von Karin S chneider : Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mittelalterlichen Fragmente Cgm 5249- 5250. Wiesbaden 2005 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V, 8), S. 48f. 39 So S chanze , Art. Alischanz, Sp. 240; er nimmt an, «dass die Bearbeitung am Niederrhein entstanden ist, und der überlieferte Text auf einen obd. Schreiber zurückgeht.» Ähnlich B eckers im Art. Gerart van Rossiliun, Sp. 1224: «ebendort [im rhein.-westmd. Bereich] wird wohl auch im späteren 13. Jh. jene Prosaübersetzung [! ] der afrz. Chanson de geste <?page no="141"?> sche Vorlage von einem westmitteldeutschen Schreiber in eine ihm vertrautere Schreibsprache umgesetzt wurde. Meist hat man sich für die zweite Möglichkeit entschieden und vermutet einen oberdeutschen Ursprung der Schlacht von Alischanz. 40 Das ist sehr wohl möglich und würde überdies auch den offenbar nur geringen Erfolg dieser Fassung neben der übermächtigen, aus dem gleichen Raum stammenden Aliscans-Bearbeitung Wolframs erklären. Völlig gesichert ist diese These allerdings nicht. Denn angesichts eindeutiger Niederlandismen wie harentare, broecgurtel oder des ebenfalls dort geläufigen bliscepe 41 kann man keineswegs ausschließen, dass ein niederdeutscher Autor, vielleicht auch ein Autor aus dem niederländisch-deutschen Interferenzgebiet versucht hat, eine dem Oberdeutschen angenäherte Bearbeitung der Chanson d’Aliscans zu verfassen. So ließen sich neben der für Niederdeutschland nicht untypischen Sprachmischung 42 möglicherweise auch die oft unreinen, teilweise sogar nur assonierenden Reime 43 dieser zweiten deutschen Aliscans-Fassung erklären. Doch auch das bleibt fraglich. K. Schneider hat, ohne freilich damit etwas Definitives über den Ursprung jener Aliscans-Adaptation auszusagen, vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass der Schrifttyp der Kitzinger Bruchstücke nach Norddeutschland weise, das überlieferte Handschriftenfragment dort also geschrieben sein müsse. 44 Damit dürfte zumindest die norddeutsche Herkunft des einzig erhaltenen Alischanz-Fragments (Fr. A) wahrscheinlich sein. Solange der ursprüngliche Entstehungsraum jener nah am Französischen operierenden Fassung aber nicht genauer fixierbar ist, kann man sich nur an die Rezeptionsspuren halten. Sie weisen, angefangen vom Schrifttyp über Dialektmerkmale und Lexik, in den deutschsprachigen Teil der Nideren Lande. In diesem Gebiet, das - wie bereits gesehen - der französischen Heldenepik gegenüber aufgeschlossen und affin war, ist das Interesse an einer nah an der französischen Vorlage operierenden deutschen Bearbeitung der französischen Chanson d’Aliscans gut vorstellbar. Deren offenbar mäßiger Erfolg ließe sich auch hier durch die Attraktivität des übermächtigen Willehalm erklären, der gleichfalls im nieder- und mitteldeut- Überlieferung 131 ‹Aliscans› entstanden sein, die um 1300 eine unvollkommene rheinfrk./ ostfrk. Reimbearbeitung erfahren hat.» 40 So zuletzt H ennings , Französische Heldenepik, S. 196, Anm. 1. 41 Harentare bzw. haren vn tare (hin und her) in V. 37 (dort sogar im Reim: haren vn tare: dare) und V. 60; broecgurtel (Hosengürtel, -riemen) in V. 625; bliscepe (Freude, Glück) in V. 614 und V. 620. 42 Vgl. dazu generell Thomas K lein : Niederdeutsch und Hochdeutsch in mittelhochdeutscher Zeit. In: Raphael Berthele u. a. (Hg.): Die deutsche Schriftsprache und die Regionen. Entstehungsgeschichtliche Fragen in neuer Sicht. Berlin, New York 2003 (Studia Linguistica Germanica 65), S. 203-229. 43 Unreine, z. T. auch assonierende Reime kennzeichnen ebenfalls den niederdeutschen (westfälischen) Günser Reinolt, vgl. die Beschreibung des Fragments durch den Herausgeber R oethe. 44 S chneider , Gotische Schriften, S. 270. <?page no="142"?> schen Raum schnell Verbreitung fand (vgl. S. 127f.). Die Schlacht von Alischanz wird deshalb in der vorliegenden Studie - wohl wissend, dass auch eine oberdeutsche Genese denkbar bleibt - unter die niederdeutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik gerechnet. Analog den niederdeutschen Empörerepen und (möglicherweise) der Schlacht von Alischanz sind ebenfalls so gut wie alle Texte der sogenannten rheinischen Karlepik nur in Handschriften aus der näheren Umgebung des vermutlichen Entstehungsraums überliefert. Das trifft auf die Kölner Historie van Sent Reynolt (Hs H) ebenso zu wie auf die vollständig nur noch in einer einzigen Handschrift existierende Karlmeinet-Kompilation (Hs A). Und ebenso gilt dies für viele der Branchen, aus denen diese literarische Biographie Karls des Großen komponiert wurde. In ripuarischer Schreibsprache verfasst sind sämtliche der bekannten Karl und Galie-Fragmente ebenso wie das Morant und Galie-Fragment M und die Morant und Galie-Handschrift C sowie die Ospinel-Fragmente (Fr. O). Im Hinblick auf die Verbreitung der Karlmeinet-Kompilation ist überdies zu bedenken, dass die einzige heute noch erhaltene Handschrift eindeutig Abschrift eines anderen, ebenfalls ripuarischen Manuskripts zu sein scheint. Eventuell kann man gleichfalls die Zeitzer Fassung von Karl und Ellegast (Hs Z), die allerdings nur in einer Sammelhandschrift überliefert ist, die wohl im südostthüringischen Gebiet entstand, zu den Zeugnissen einer rheinischen Karlepik rechnen. H. Beckers vermutete aufgrund gewisser dialektaler Einfärbungen eine westmitteldeutsch-rheinfränkische Quelle. 45 Sicher entscheiden lässt sich dies allerdings nicht. Doch könnte immerhin der Inhalt des Kodex, der Karl und Ellegast unikal überliefert, einen Hinweis auf eine rheinische Quelle liefern. Neben Karl und Ellegast enthält er noch Bruder Philipps Marienleben und den Zeno, eine Legende, in deren zweitem Teil ausführlich dargestellt wird, wie die Gebeine der Heiligen drei Könige zur Zeit Barbarossas auf wundersame Weise von Mailand nach Köln gelangten. Die Heiligen drei Könige, Maria und Karl sind allesamt Heilige, die im Rheinland, wo sich zum Teil noch heute ihre Kultzentren befinden, seit je besondere Verehrung genossen. In jedem Fall ist die südostthüringische Schreibsprache, in der der Karl und Ellegast um 1450 aufgezeichnet wurde, ein Beleg für die Rezeption westmitteldeutscher Karlepik auch im ostmitteldeutschen Raum, während aus dem oberdeutschen Sprachgebiet keine Rezeptionsspuren bekannt sind. 46 So folgt etwa der Bericht vom spanischen Exil des jungen Karl in der Bayrischen Chronik U. Fuetrers (1478-1481) nicht, wie die Anmerkungen des Herausgebers Spiller suggerieren, der Karl und 132 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 45 Hartmut B eckers : Art. Karl und Elegast. In: VL 2 4 (1983), Sp. 999-1002. 46 Vgl. auch Hartmut B eckers : Art. ‹Karlmeinet›-Kompilation. In: VL 2 4 (1983), Sp. 1012- 1028, hier Sp. 1026. Eine, mit dem bekannten Handlungsverlauf allerdings nur schwer in Übereinstimmung zu bringende Anspielung auf Elegast findet sich aber in der von ca. 1500 stammenden rheinfränkischen (Limburger) Handschrift (vgl. W yss , Gedicht, 338f.); Berlin, Staatsbibl., mgq 1803 (= Fragment o). <?page no="143"?> Galie-Fassung aus der Karlmeinet-Kompilation, obschon bei Fuetrer im Zusammenhang der Jugendgeschichte Karls des Großen an einer Stelle bislang nicht identifizierte Chroniken der Niderländer erwähnt werden. 47 Die Erzählhandlung stimmt zwar grundsätzlich mit der rheinischen Karl und Galie-Fassung überein, in entscheidenden Details, wie etwa den Eigennamen einiger Protagonisten oder der Motivation für Karls Rückkehr nach Frankreich, weicht sie jedoch ab. 48 Fuetrer dürfte daher eine andere, eventuell lateinische Bearbeitung jenes im gesamten romanischen Sprachgebiet weit verbreiteten Stoffs gekannt und in seiner Chronik verwendet haben. 49 Wenn man die regionale Distribution der deutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik in ihrer Gesamtheit betrachtet, fallen einige Besonderheiten in der Rezeption auf. Als einzige deutsche Bearbeitung französischer Heldenepik ist der Willehalm zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert im gesamten deutschsprachigen Gebiet überliefert und demnach wohl auch rezipiert worden; mit gewissen Einschränkungen kann dieser Sachverhalt gleichfalls auf dessen Ergänzungen Arabel und Rennewart übertragen werden. Die im selben Zeitraum in Niederdeutschland verfassten Chanson de geste-Adaptationen (Günser Reinolt; Gerart van Rossiliun; Schlacht von Alischanz) sind dagegen ebenso wie die ripuarischen Texte über Karl den Großen (Karl und Galie; Morant und Galie; Karel ende Elegast, Ospinel: zusammengefasst in der Karlmeinet-Kompilation) über ihr Entstehungsgebiet hinaus offenbar nicht bekannt gewesen. Das betrifft gleichfalls die ripuarische Historie van Sent Reynolt. Einen Sonderfall stellt allein die Zeitzer Fassung von Karl und Ellegast dar, die als Beweis einer auch ins Ostmitteldeutsche reichenden Wirkung der ripuarischen (oder niederländischen? ) Karlepik dienen könnte. Bis in den oberdeutschen Bereich reichte der Einfluss der nieder- und mitteldeutschen Chanson de geste-Adaptationen, mit einer Einschränkung, allerdings nicht. Diese Ausnahme betrifft das Rolandslied. Wenn man die These einer sächsischen Genese akzeptiert, hat zwar ebenfalls das Rolandslied eine weitgehend entstehungsnahe Überlieferungssituation aufzuweisen, in Gestalt des, wohl durch den Erfolg des Willehalm begünstigten, Strickerschen Karl evozierte es Überlieferung 133 47 Vgl. Ulrich Füetrer, Bayerische Chronik. Hg. von Reinhold Spiller. München 1909 (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte, N.F. 2, Abt. 2), S. 84. 48 Vgl. ebd., S. 100-105. 49 In den Eigennamen weist der Karl und Galie-Teil der Bayrischen Chronik frappierende Übereinstimmungen mit der lateinischen Kurzfassung des gleichen Stoffs aus dem Hagiologium Brabantiorum (1476-84) des Johann Gielemans auf, in anderen Motiven ähnelt er hingegen einer in der spanischen Crónica General (1270/ 90) überlieferten Version; vgl. dazu Jacques H orrent : Les versions françaises et étrangères des Enfances de Charlemagne. Bruxelles 1979 (Académie Royale de Belgique. Mémoires de la classe des lettres 64), S. 209-216, der unnötigerweise gleichwohl die Karlmeinet-Kompilation für eine Nebenquelle Fuetrers hält; vgl. auch ders .: Un récit peu connu de la légende de Mainet. In: Marche Romane 26 (1976), S. 87-96. <?page no="144"?> jedoch eine gewaltige Reaktion im oberdeutschen Kultur- und Literaturraum. Der Karl seinerseits scheint auf den mitteldeutschen Raum kaum und auf den niederdeutschen gar nicht ausgestrahlt zu haben. Eine mehr oder weniger deutlich ausgeprägte regionale Rezeption, die nur von der Willehalm-Trilogie durchbrochen wird, kann damit offenbar als ein Charakteristikum deutscher Chanson de geste-Bearbeitungen gelten. Bestätigung erfährt dieser Befund durch die in der Umgebung des Saarbrücker und Heidelberger Hofs im 15. Jahrhundert entstandenen Umsetzungen französischer Chansons de geste bzw. deren niederländischer Bearbeitungen. Auch wenn die früher als selbstverständlich angenommene Autorschaft der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken für Herpin, Sibille, Loher und Maller und Huge Scheppel nicht mehr fraglose Gültigkeit beanspruchen kann, dürfte die aus einem literaturbegeisterten Geschlecht im französischsprachigen Lothringen stammende und über vielfältige Kontakte in den französischen Kulturraum verfügende Gräfin immerhin einen entscheidenden Impuls für die Übersetzung später französischer Chansons de geste gegeben haben - einer literarischen Gattung, die sich in französischen Adelskreisen im 14. und 15. Jahrhundert einiger Beliebtheit erfreute (vgl. S. 368ff.). In ihrer Wirkung scheinen die Elisabeth zugeschriebenen Prosifizierungen französischer Chansons de geste zunächst allerdings ein auf das unmittelbare Entstehungsumfeld beschränktes Phänomen geblieben zu sein. Ein Indiz dafür ist schon die (spät)rheinfränkische Schriftsprache, in der zwischen 1463 und 1493 fünf von zehn der heute bekannten Handschriften aufgezeichnet wurden. Eine Ausnahme bilden lediglich die mittelfränkische, aus der Bibliothek der Grafen von Manderscheid-Blankenheim stammende, Loher und Maller-Handschrift K, die Hs W sowie zwei Herpin-Handschriften (Hs A und Hs C 50 ), die aus dem nordbairisch/ fränkischen bzw. niederalemannischen Raum stammen. Doch auch für die in etwas abweichender Schreibsprache aufgezeichneten Handschriften lässt sich nachweisen, dass die Rezeption der Saarbrücker Chanson de geste- Adaptationen auf engen Wegen verlief. 51 Eine wichtige Rolle spielen dabei die Kinder Elisabeths von Nassau-Saarbrücken. Mit der, wie auch immer gearteten Beteiligung seiner Mutter an den Saarbrücker Chanson de geste-Adaptationen wird höchstwahrscheinlich das Interesse Graf Johanns III. von Saarbrücken (1423-1472) zusammenhängen, der um 1455/ 56 Herpin, Sibille, Loher und Maller und Huge Scheppel in überaus prächtigen und repräsentativen Codices aufzeichnen ließ. Eine, heute aller- 134 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 50 Vgl. das Volldigitalisat unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg152. 51 Vgl. zu den (Bilder-)Handschriften der Saarbrücker Prosa-Epen aus kunsthistorischer Perspektive auch Hans-Walter S tork : Die handschriftliche Überlieferung der Werke Elisabeths von Nassau-Saarbrücken und die malerische Ausstattung der Handschriften. In: H aubrichs, Wolfgang u. a. (Hg.): Zwischen Deutschland und Frankreich. Elisabeth von Lothringen, Gräfin von Nassau-Saarbrücken. St. Ingbert 2002 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung e.V. 34), S. 591-606. <?page no="145"?> dings nicht mehr erhaltene, lediglich noch durch eine in Trier entstandene Heidelberger Handschrift (Hs He 52 ) repräsentierte, in schwäbischer Schreibsprache ausgeführte Abschrift des Loher und Maller, ließ sich, laut subscriptio, ebenfalls Elisabeths Tochter Margarete von Rodemachern (1426-1490) anfertigen. Die mittelfränkische Kölner Handschrift des gleichen Texts (Hs K) stammt aus der Bibliothek der Grafen von Manderscheid-Blankenheim, mit denen die Grafen von Nassau-Saarbrücken nicht nur weitläufig verwandt waren, sondern auch politische Beziehungen pflegten. So war etwa der Bischof von Straßburg, Friedrich von Blankenheim, ein Onkel von Elisabeths Mann und für einige Zeit dessen Berater. 53 Zwischen Elisabeths Sohn Johann III. und den Herren von Manderscheid bestanden ebenfalls politische Kontakte. Im Jahr 1460 erwarb er von Dietrich von Manderscheid die Hälfte des Schlosses Wartenstein sowie einige Dörfer. 54 Die um 1475 in schwäbischer Schreibsprache aufgezeichnete, durch Illustrationen geschmückte Heidelberger Herpin- Handschrift, die auf fol. 85 v das Wappen der Margarethe von Savoyen zeigt, wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit im Auftrag jener französischen Herzogstochter geschrieben, die einer an Kunst und Literatur hochgradig interessierten Dynastie entstammte und seit 1453 in dritter Ehe mit Graf Ulrich V. von Württemberg verheiratet war. 55 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch die Anfertigung dieser Handschrift auf dynastische Verbindungen zum Saarbrücker Grafenhaus zurückzuführen ist, heiratete doch im Jahr 1470 Johann III. von Saarbrücken Elisabeth von Württemberg, 56 eine Nichte von Margarethes Mann Ulrich V. von Württemberg. Die Braut selbst war eine Tochter der bibliophilen Mechthild von Rottenburg aus deren Ehe mit Ludwig I. von Württemberg. Die Ehe ihrer Tochter Elisabeth mit Graf Johann III. von Saarbrücken mag auf den ersten Blick geeignet erscheinen, die im Ehrenbrief des Überlieferung 135 52 Vgl. das Volldigitalisat unter: http: / / diglit.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ heidhs1012. 53 Vgl. Hans-Walter H errmann : Beziehungen zwischen dem Saarraum und der Landschaft zwischen Mosel und Maas im Mittelalter. In: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 20 (1972), S. 13-28, hier S. 24. 54 Vgl. Albert R uppersberg : Geschichte der ehemaligen Grafschaft Saarbrücken, I. Teil. Saarbrücken 1899, S. 217. 55 Zu den literarischen Ambitionen Margarethes von Savoyen vgl. Martina B ackes : Das literarische Leben am kurpfälzischen Hof zu Heidelberg im 15. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gönnerforschung des Spätmittelalters. Tübingen 1992 (Hermaea 68), S. 177-185; Henrike L ähnemann : Margarethe von Savoyen in ihren literarischen Beziehungen. In: Ingrid Kasten, Andrea Sieber (Hg.): ›Encomia-Deutsch‹. Sonderheft 2 der deutschen Sektion der International Courtly Literature Society. Höfische Literatur & Klerikerkultur. Wissen - Bildung - Gesellschaft. Xth Triennial Conference der Internationalen Gesellschaft für höfische Literatur (ICLS) vom 28. Juli bis 3. August 2001 in Tübingen. Berlin 2002, S. 158-173. Zum Wappen vgl.: Historie von Herzog Herpin. Übertragen aus dem Französischen von Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 152. Farbmikrofiche-Edition. Literarhistorische Einführung und Beschreibung der Handschrift von Ute von Bloh. München 1990 (CIMA 17), S. 11. 56 Vgl. R uppersberg, S. 222. <?page no="146"?> Jakob Püterich von Reichertshausen (vermeintlich) erwähnte - und in der Forschungsliteratur des Öfteren postulierte - Existenz des Herpin in Mechthilds umfangreicher Büchersammlung zu erklären. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass der Ehrenbrief wahrscheinlich im Jahr 1462, also acht Jahre vor der Hochzeit Elisabeths mit Johann III., verfasst wurde und überdies in der betreffenden Passage Herpin überhaupt nicht erwähnt wird. Die in der Ehrenbrief-Ausgabe Harpeine Lewen vatter lautende Stelle ist lediglich eine etwas gewagte Konjektur des in der Handschrift zu lesenden, schwer verständlichen graf Freine Leounen weller. Die Existenz einer Herpin-Handschrift in der Bibliothek der Schwiegermutter Johanns III. ist somit nicht völlig gesichert. Aber selbst wenn Mechthild von Rottenburg als Besitzerin des Herpin ausfällt, wird deutlich, dass die Rezeption der Saarbrücker Chanson de geste- Bearbeitungen nicht nur auf einen überschaubaren geographischen Raum beschränkt, sondern auch eng an familiäre Strukturen geknüpft bleibt. 57 So lassen sich sieben von zehn Handschriften in ihrer Genese sicher oder doch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf unterschiedlichste Aktivitäten der Kinder Elisabeths von Nassau-Saarbrücken zurückführen. Auf eine sich innerhalb eines überschaubaren regionalen Rahmens abspielende Wirkungsgeschichte deuten ebenfalls die mehr oder weniger stark ausgeprägten rheinfränkischen Sprachmerkmale, die sämtliche Handschriften der um 1470/ 80 aufgezeichneten, ursprünglich aber wohl allesamt etwas früher nach mittelniederländischen Vorlagen übersetzten und in die Palatina gelangten Empörerepen (Ogier von Dänemark, Malagis, Reinolt von Montelban) aufweisen. 58 Durch den Vermerk 1474 Attempto lassen sich lediglich über die Geschichte des Malagis und Reinolt gemeinsam enthaltenden Kodex (Heidelberg, Universitätsbibl., Cpg 340) genauere Aussagen treffen. Das ebenfalls in andere Bände eingetragene Motto und die Jahreszahl weisen den Band als Eigen- 136 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 57 Vgl. allgemein zum gruppenspezifischen Gebrauch von Handschriften an der Grenze von Spätmittelalter und früher Neuzeit Jan-Dirk M üller : Volksbuch/ Prosaroman im 15./ 16. Jahrhundert - Perspektiven der Forschung. In: IASL, 1. Sonderheft, 1985, S. 1-128, hier S. 42 u. Anm. 130. Zur familiären Überlieferung der Saarbrücker Prosa- Epen vgl. auch von B loh , Ausgerenkte Ordnung, S. 18 und S. 34. 58 Der Heidelberger Kodex cpg 340 (um 1470) enthält auf Bl. 1 r -323 v den Malagis (Hs A), unmittelbar anschließend auf Bl. 324 r -553 r den Reinolt (Hs A); vgl. das Volldigitalisat unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg340. Einzeln sind der Reinolt in cpg 399 (Hs B, um 1480; vgl. das Volldigitalisat unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg399) und der Malagis in cpg 315 (Hs B, um 1480) überliefert (vgl. das Volldigitalisat unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg315). Den Ogier enthält lediglich der von 1479 datierende Kodex cpg 363 (Hs A); (vgl. das Volldigitalisat unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg363). Zur Sprache der Heidelberger Übersetzung vgl. auch Ute von B loh ,: Anders gefragt. Vers oder Prosa? «Reinolt von Montalban» und andere Übersetzungen aus dem Mittelniederländischen im Umkreis des Heidelberger Hofes. In: WS 14 (1996), S. 265-93; Gilbert de S met : Zur Sprache der Heidelberger Umdichtungen mndl. Versromane. In: Festschrift für Märta Åsdahl Holmberg zu ihrem 80. Geburtstag, hg. v. Dieter Krohn u. a. Göteborg 1999, S. 271-276. <?page no="147"?> tum des württembergischen Grafen Eberhard im Bart (1445-1496) aus, der den Kodex vielleicht anlässlich seiner Hochzeit mit der Tochter des Markgrafen von Mantua im Jahr 1474, wohl von seiner Mutter, der aus Heidelberg stammenden Pfalzgräfin Mechthild von Rottenburg, als Geschenk erhielt. 59 In seinem 1462 verfassten Ehrenbrief erwähnt Püterich unter den ihm unbekannten Beständen aus Mechthilds Bibliothek jedenfalls auch Malagis und Reinhart, womit vermutlich Reinolt gemeint sein dürfte. 60 An der Vermittlung der ursprünglich aus den Niederlanden stammenden Vorlagen jener Texte könnte der an der unteren Nahe und in der Eifel begüterte Edelherr Wirich VI. von Daun zu Oberstein (um 1415/ 20-1501) beteiligt gewesen sein. 61 Neben seinen politischen Aktivitäten - u. a. verwaltete er Ämter im Dienst der Bischöfe von Mainz und Trier sowie der Heidelberger Pfalzgrafen bei Rhein und beteiligte sich an kriegerischen Auseinandersetzungen an der Seite dieser Herren 62 - war er offenkundig ein großer Bibliophiler. 63 Da das Motto Que Remede, das Wirich in seine Bücher einzutragen pflegte, ebenfalls im Zusammenhang der durch ein Schreiberversehen leicht entstellten Schlussverse der beiden Malagis-Handschriften A und B (cpg 340 und cpg 315) begegnet, gewinnt Beckers’ Vermutung, die Vorlage, aus der zumindest die ältere der beiden Heidelberger Malagis- Handschriften kopiert worden sei, stamme aus Wirichs Besitz, eine gewisse Überlieferung 137 59 Dagegen vermutet Regine C ermann : Die Bibliothek Herzog Eberhards im Bart von Württemberg (1445-1496). In: Scriptorium 51 (1997), S. 30-50, hier S. 39, dass die Jahreszahl 1474 ein Inventarisierungsvermerk sei. 60 Vgl. Hartmut B eckers : Frühneuhochdeutsche Fassungen niederländischer Erzählliteratur im Umkreis des Pfalzgräflichen Hofes zu Heidelberg um 1450/ 80. In: Miscellanea Neerlandica, hg. von E. Cockx-Indestege und F. Hendrickx. Leuven 1987, S. 237-249, hier S. 239; B ackes, S. 166. Dass die beiden Bände mit dem Kodex cpg 340 identisch sind, wird für durchaus möglich gehalten; vgl. dazu auch das Vorwort der Ausgabe: Der deutsche Malagis nach den Heidelberger Handschriften cpg 340 und cpg 315 unter Benutzung der Vorarbeiten von Gabriele Schieb und Sabine Seelbach hg. von Annegret Haase u. a. Berlin 2000 (DTM 82), S. XVI, S. XIX. 61 Vgl. dazu Hartmut B eckers : Der püecher haubet, die von der tafelrunde wunder sagen. Wirich von Stein und die Verbreitung des ‹Prosa-Lancelot› im 15. Jahrhundert. In: WS 9 (1986), S. 17-45; vgl. auch das Vorwort der Malagis-Ausgabe, S. LXV-LXVII. 62 Auch zu Johann III. von Saarbrücken und zu Kuno von Manderscheid-Blankenheim hatte Wirich Kontakt. Für den ersten trat er im Jahr 1452 und 1472 als Schlichter bei Streitigkeiten in Aktion (vgl. R uppersberg , S. 213 u. S. 225). Mit Kuno von Manderscheid-Blankenheim, der ebenfalls ein bekannter Literaturliebhaber war und eine große Bibliothek aufbaute, war Wirich sogar verschwägert (vgl. B eckers , 1987, S. 243). Möglicherweise könnte er demnach auch bei der Vermittlung des Loher und Maller tätig geworden sein, der in einem Exemplar aus der Bibliothek der Grafen von Manderscheid- Blankenheim überliefert ist. 63 Nachweisbar in Wirichs Besitz waren eine 1437 in seinem Auftrag entstandene Willehalm-Handschrift (Histor. Archiv Köln, Cod. W. 357), eine 1420/ 30 angefertigte Abschrift des mittelniederländischen Versromans Heinric ende Margariete van Limburg (Brüssel, Kgl. Bibl., Ms. 18231) sowie ein 1286 fertiggestellter illuminierter französischer Prachtkodex des Lancelot-Zyklus (Bonn, UB, S 526). <?page no="148"?> Wahrscheinlichkeit. Für wen und in welchen Zusammenhängen die spätestens im 16. Jahrhundert in die Palatina gelangten, 64 südrheinfränkisch gefärbten Codices von Ogier, Malagis und Reinolt jedoch ursprünglich angelegt wurden, lässt sich nicht mehr eruieren. Dass alle erhaltenen Codices aus dem Besitz der Pfalzgräfin Mechthild oder der Heidelberger Pfalzgrafen stammen bzw. in deren Auftrag entstanden, wie Beckers annimmt, 65 liegt zwar nahe, ist allerdings nicht beweisbar. 66 Jedenfalls deutet nicht zuletzt auch das Faktum der ausschließlichen Überlieferung der Heidelberger Empörerepen in der Palatina darauf hin, dass gleichfalls die Wirkungsgeschichte dieser deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen, ähnlich wie die der aus dem Umfeld des Saarbrücker Hofes bekannten Prosifizierungen französischer Chansons de geste, zunächst auf einen begrenzten Zirkel beschränkt blieb, der sich über dynastisch-familiäre und/ oder persönliche Kontakte innerhalb des höheren Adels konstituiert haben dürfte. Die Rezeptionssituation zu Ende des 15. Jahrhunderts differiert damit noch kaum von derjenigen früherer Jahrhunderte, in denen sich die Wege der Rezeption aufgrund fehlender Informationen ebenso nur in Ausnahmefällen verfolgen lassen. Eine gravierende Änderung dieser Situation trat erst mit dem Medienwechsel von der Handschrift zum Buchdruck auf, obwohl durchaus auch die Entstehung von Chanson de geste-Drucken des 16. Jahrhunderts noch im Zusammenhang eines in bestimmten Dynastenfamilien offenbar vorherrschenden Interesses an französischer Heldenepik zu sehen sein könnte. Exemplarisch demonstrieren das die von Johann II. von Simmern nach französischen Drucken übersetzten und auf seine Initiative hin in der gräflichen Hausdruckerei verfertigten Chanson de geste-Prosen Fierrabras (1533) 67 und Die Haymonskinder (1535). 68 Das Interesse, das Johann II. von Simmern dem Stoffbereich der französischen Heldenepik entgegenbrachte, war möglicherweise keineswegs zufällig. 69 Denn schließlich war er ein Enkel Johanns III. von Saarbrücken (dem Sohn Elisabeths von Nassau-Saarbrücken, der die ihr zugeschriebenen Chanson de geste-Bearbeitungen in überaus kostbaren Manuskripten hatte aufzeichnen lassen) und dessen Frau Elisabeth (einer Tochter der literaturbegeisterten Pfalzgräfin Mechthild, in deren Bibliothek u. a. Bearbeitungen französischer Heldenepik vorhanden waren). Die genaueren Ent- 138 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 64 Vgl. Bob W. Th. D uijvestijn : Niederländische Dichtung in der Privatbücherei der Pfalzgräfin Mechthild (1418/ 19-1482). In: Miscellanea Neerlandica, hg. von Elly Cockx- Indestege, Frans Hendrickx. Leuven 1987, S. 251-261, hier S. 252. 65 Vgl. B eckers , Fassungen , S. 237. 66 Vgl. auch B ackes , S. 165f. 67 Johann II. von Simmern: Fierrabras. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Werner W underlich . Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit 8). 68 Johann II. von Simmern: Die Haymonskinder. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Werner W underlich . Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 35). 69 Zu Johann von Simmern vgl. Werner W underlich : Johann II. von Simmern. Autor und Gelehrter auf dem Fürstenthron. In: Euphorion 85 (1991), S. 1-37. <?page no="149"?> stehungshintergründe der von Johann II. von Simmern nach französischen Vorlagen übersetzten Chansons de geste und der von ihm initiierten Drucke des Fierrabras und der Haymonskinder bleiben freilich ebenso im Dunkeln wie die der übrigen deutschsprachigen Chanson de geste-Prosaauflösungen, etwa der teilweise zu großen verlegerischen Erfolgen gewordenen Editionen von Huge Scheppel, 70 Loher und Maller und Herpin, 71 sowie der vom Schweizer Wilhelm Ziely nach französischen Drucken übersetzten und dann wiederum als deutsche Druckwerke erschienen Prosabearbeitungen von Olivier und Artus und Valentin und Ursus (1521) und der ebenfalls in der Schweiz nach französischen Drucken von einem Anonymus übersetzten, aber lediglich in handschriftlicher Form überlieferten Prosaversionen von Morgant dem Riesen (1530) 72 und den Haimonskindern (1531) 73 , die auf einer anderen Vorlage beruht als die wenig später entstandene Adaptation des gleichen Stoffs durch Johann II. von Simmern. Mit der schreibsprachlichen Untersuchung der einzelnen Handschriften deutscher Chanson de geste-Adaptationen, die unterschiedliche regionale Interessenbildung erkennen ließ, sind die Potenziale einer kodikologischen Analyse jedoch noch keineswegs erschöpft. Neuere Arbeiten, die aus ganz unterschiedlicher Perspektive die Texte in ihrer jeweils überlieferten Form untersuchen, sich also auf die Materialität der mittelalterlichen Überlieferungszeugen konzentrieren, haben wiederholt gezeigt, wie wichtig es ist, die Texte nicht aus ihrem Überlieferungszusammenhang zu reißen, sondern den jeweiligen Kontext in die Überlegungen mit einzubeziehen und so für eine umfassende Analyse fruchtbar zu machen. Im Folgenden soll daher zunächst, soweit die Materialbasis dies zulässt, beschrieben werden, welche Überlieferungssymbiosen sich für die einzelnen deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen abzeichnen. Überlieferung 139 70 Vgl. dazu B ichsel , Hug Schapler. 71 Vgl. Ralf K onczak : Studien zur Druckgeschichte zweier Romane Elisabeths von Nassau-Saarbrücken. «Loher und Maller» und «Herpin». Frankfurt/ M. usw. 1991 (Europ. Hochschulschriften. Reihe 1, 1273); vgl. auch von B loh , Ausgerenkte Ordnung, S. 45-74. 72 Morgant der Riese in deutscher Übersetzung des XVI. Jahrhunderts, hg. von Albert Bachmann. Tübingen 1890 (BLV 189); vgl. dazu Heike S ievert : Wenn Heldentum zerredet wird. Funktionen des Gesprächs in «Morgant der Riese». In: Gespräche-Boten-Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, hg. von Horst Wenzel. Berlin 1997 (Philolog. Studien und Quellen 143), S. 261-279. 73 Die Haimonskinder in deutscher Übersetzung des XVI. Jahrhunderts, hg. von Albert Bachmann (BLV 206). Vgl. dazu W eifenbach , Haimonskinder; dies .: Johann Koelhoff der Jüngere: ‹Die vier Heymschen kinderen›. Zur Bedeutung der Kölner Inkunabel aus dem Jahre 1493 für die Drucktradition von Haimonskindertexten in Deutschland. In: ABäG 51 (1999), S. 169-193. <?page no="150"?> A.3.2 Kontextualisierungen Das einzige erhaltene Manuskript, in dem das Rolandslied heute noch in einem kontextuellen Verbund erscheint, ist die Karlmeinet-Kompilation, in deren Textcorpus eine überarbeitete Kurzfassung der Geschichte von Karls Spanienfeldzug einging. Der Grund für die Aufnahme in die Kompilation liegt dabei klar auf der Hand. Das Rolandslied fungiert hier als einer von mehreren Texten über Karl den Großen, die zusammen eine vollständige Lebensgeschichte des ersten Frankenkaisers, eine vita poetica Karoli Magni, ergeben. In den übrigen heute noch erhaltenen oder rekonstruierbaren Handschriften, der Heidelberger Handschrift P und der 1870 in Straßburg verbrannten Handschrift A, wird bzw. wurde das Rolandslied hingegen als Einzeltext überliefert. Auch Strickers Karl überliefern 12 der 22 bekannten - mehr oder weniger - vollständigen Handschriften als Einzeltext. 74 Von Anfang an sicher mit einem weiteren Text in einen gemeinsamen Überlieferungszusammenhang gestellt wurde der Karl in der in der Mitte des 13. Jahrhunderts von einem einzigen Schreiber angelegten Hs D, in der Strickers Text zusammen mit dem Gregorius des Hartmann von Aue erscheint. In der um 1320/ 30, übrigens von der gleichen Hand wie die Willehalm-Handschrift B, geschriebenen Karl-Handschrift M folgt auf den Stricker-Text der Wilhelm von Österreich des Johann von Würzburg, in Handschrift N Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten und Türlins Arabel. In der 1433 entstandenen Handschrift Q ging dem Karl ursprünglich eine Kurzfassung des Jüngeren Titurel voraus, hinter dem Karl stehen die kurze Reimpaarerzählung von Alexander und Anteloye, Eilharts Tristrant, der Zeno und (ursprünglich) Spruchdichtungen. 75 In der im 15. Jahrhundert entstandenen Handschrift T steht Strickers Text zusammen mit einer deutschen Übersetzung des sog. Etymachietraktats, einer Abhandlung über die sieben Todsünden; in der 1422 geschriebenen Handschrift Z folgen ihm der Wilhelm von Wenden des Ulrich von Etzenbach, (moral)didaktische Texte (Die väterlichen Lehren des Andreas; Der Ritter mit den Nüssen), der Alexius sowie die Dietrichepen Laurin und Rosengarten. In der erst kürzlich wiedergefundenen, ebenfalls aus dem 15. Jahrhundert stammenden Handschrift Y steht der Karl vor Wolframs Willehalm und dem Barlaam und Josaphat des Rudolf von Ems. Mit Wolframs Willehalm zusammen steht der Karl noch einmal im berühmten Sangallensis 857 (Hs C), der zudem noch 140 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 74 Es handelt sich um die Handschriften B, E, F, G, H, I, K, L, O, R, U und X. Zu diesen Einzeltexthandschriften hinzugerechnet werden muss außerdem die Handschrift P, ein Miszellaneenkodex des 15. Jahrhunderts. Die dort in einem eigenen Faszikel enthaltene, von einer Hand geschriebene, mit V. 8411 abbrechende Kurzfassung des Karl wurde erst später mit den übrigen Texten vereinigt; vgl. dazu Werner F echter : Zur Überlieferung von Strickers ‹Karl dem Grossen›. In: ZfdPh 87 (1968), S. 17-21, hier S. 17f. 75 Der Jüngere Titurel wurde später abgetrennt und liegt heute in Wien (ÖNB, Cod. Vindob. 13711); die u. a. von Suchenwirt stammenden Sprüche befinden sich mittlerweile in Gotha (Cod. Chart. A 985); vgl. dazu B ecker , Handschriften, S. 30 und 136. <?page no="151"?> Wolframs Parzival, dazu das Nibelungenlied und die Klage überliefert und ursprünglich überdies Konrads von Fußesbrunnen Kindheit Jesu und Konrads von Heimesfurt Unser vrouwen hinvart enthielt. In der prachtvoll illustrierten Handschrift A folgt der Karl auf die Weltchronik des Rudolf von Ems, 76 eine Überlieferungssymbiose, die gleichfalls eine zweite bebilderte, allerdings nicht mehr vollständig erhaltene weitere Handschrift bezeugt (Fr. s). Das ins 14. Jahrhundert zu datierende Karl-Fragment q schließlich stammt aus einer Handschrift, die neben Strickers Text ebenfalls Reimgebete und Frauenlobs Beichte enthielt. 77 Auch die im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts entstandene Karl-Hs O 78 enthält am Schluss ein vom gleichen Schreiber geschriebenes Reimgebet zur Hl. Barbara. Um keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen, soll eine Auswertung der sich hier abzeichnenden Kontextualisierungstendenzen erst unternommen werden, nachdem auch die Mitüberlieferung der restlichen oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen analysiert worden ist. Im Unterschied zum Karl und zum Rolandslied, die beide recht häufig als Einzelwerke überliefert sind, stehen Arabel, Willehalm und Rennewart nur ganz selten einmal allein in einer Handschrift. Die aus dem 14. Jahrhundert stammende Arabel-Handschrift Hn erscheint heute zwar im kodikologischen Verbund mit einer Teilabschrift (ab Str. 3558) des Jüngeren Titurel, die Faszikel sind jedoch erst nachträglich zusammengefügt worden. Es ist daher nicht auszuschließen, dass auch diese Abschrift der Arabel, wie alle anderen bekannten vollständigen Handschriften, ursprünglich für einen Sammelkodex angefertigt wurde, der die gesamte Trilogie enthalten sollte. Diese Vermutung lässt sich ebenfalls auf die beiden Handschriften übertragen, die den Rennewart als Einzeltext präsentieren: die aus dem Ende des 15. Jahrhunderts datierende Rennewart-Handschrift M und die aus dem 14. Jahrhundert stammende Handschrift O. Bei letzterer Handschrift liegt eine solche Annahme sogar sehr nahe, denn da der Text dort erst mit Vers 169 einsetzt, wird der - innerhalb der Willehalm-Trilogie - einen Neueinsatz markierende Prolog Ulrichs von Türheim exakt ausgespart. Infolgedessen knüpft der Beginn der Rennewart-Hs O unmittelbar an die Zeile sus rûmt er Provenzâlen lant an, mit der die meisten Willehalm-Handschriften enden. Handschrift O scheint demnach ursprünglich als Fortsetzung des Willehalm geplant gewesen zu sein oder sogar fungiert zu haben. Denn man muss sicherlich damit rechnen, dass, allein schon aufgrund des gewaltigen Umfangs einer vollständigen Willehalm-Tri- Überlieferung 141 76 Vgl. zu dieser Handschrift den Kommentarband zur Faksimile-Edition: Rudolf von Ems, Weltchronik; Der Stricker, Karl der Große. Kommentar zu Ms 302 Vad. Hg. von der Kantonsbibliothek (Vadiana) St. Gallen und der Editionskommission. Luzern 1987; zur Überlieferungsgemeinschaft von Weltchronik und Karl vgl. in diesem Band v. a. Hubert H erkommer : Der St. Galler Kodex als literarhistorisches Monument, S. 127-270. 77 Vgl. Gerhard E is : Ein Bruchstück von Strickers Karl dem Großen. In: ZfdA 74 (1937), S. 143f. 78 Vgl. das Volldigitalisat unter: http: / / diglit.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg388. <?page no="152"?> logie, die drei Teile nicht immer zusammen gebunden wurden, sondern in Einzelbänden aufgestellt gewesen sein dürften. Für ein neu aufgefundenes Fragment des Rennewart (Fr. 30) vermutet Fasbender eben dies aufgrund der geringen Zeilenzahl der fragmentarisch erhaltenen Handschriftenseite, die es kaum erlaubt habe, in diesem Format und dieser Seiteneinrichtung neben dem Rennewart noch andere Texte in demselben Kodex zu vergesellschaften. 79 Allerdings wird auch Wolframs Werk selbst lediglich zweimal außerhalb eines kontextuellen Verbundes überliefert. Die ins 14. Jahrhundert zu datierende Willehalm-Handschrift L ist aber vermutlich schon früh mit einer, von anderer Hand geschriebenen Arabel-Kurzfassung vereinigt worden, 80 so dass hier im Grunde genommen nicht von einer Einzelhandschrift gesprochen werden kann. Als singuläre Willehalm-Handschrift bleibt daher nur Hs K. 81 Warum dieser Kodex Wolframs Werk außerhalb eines kontextuellen Verbunds überliefert, ist ebensowenig zu klären wie die Frage, welchem Zweck die Willehalm-Handschrift K dienen sollte. Das Manuskript wurde jedenfalls im Jahr 1437 im Auftrag des damals ca. 20-jährigen Wirich von Daun zu Oberstein verfertigt. Eher als die Ausbildung des jungen Adeligen «zum Kavalier» zu unterstützen, wie P. J. Becker glaubt, 82 stand die Abschrift des Wolfram-Textes wohl im Zusammenhang mit Wirichs bekannten literarischen Ambitionen. Angesichts der weitgespannten literarischen Interessen des Edelherrn ist es aber fraglich, ob wirklich «der Mangel an auswählbarem Quellenmaterial im äußersten Westen des Reiches [...] der unkonventionellen Einzelüberlieferung von Wolframs Willehalm zugrunde» liegt. 83 In allen anderen Fällen stehen die heute bekannten Handschriften von Arabel, Willehalm und Rennewart, sofern sie nicht nur fragmentarisch überliefert sind, in einem kontextuellen Verbund. Die gesamte Trilogie bieten heute noch insgesamt acht Handschriften aus dem 14. und 15. Jahrhundert; weitere zehn Handschriften aus der Zeit um 1300 bis in das 15. Jahrhundert, die sich ebenfalls aus der Trilogie zusammengesetzt haben müssen, lassen sich aus den erhalten Fragmenten erschließen. 84 Es ist anzunehmen, dass die Mehr- 142 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 79 Vgl. Christoph F asbender : Jenaer Bruchstück einer unbekannten ‹Rennewart›-Handschrift. In: ZfdA 134 (2005), S. 186-190. 80 Vgl. P. J. B ecker, Handschriften, S. 109, Anm. 1: «Die beiden Hälften [Willehalm und die Arabel-Kurzfassung] wurden wegen ihrer annähernd gleichen Entstehungszeit wohl noch im Mittelalter vereint»; zu dieser Kurzfassung der Arabel vgl. auch U rban , S. 289-309. 81 Vgl. zu dieser Handschrift Josef D omes : Untersuchungen zur Sprache der Kölner ‹Willehalm›-Handschrift K (Hist. Archiv der Stadt W 357). Göppingen 1984 (GAG 416). Vorlage der Kölner Willehalm-Handschrift scheint ein erst kürzlich in fragmentarischer Form aufgefundenes Manuskript gewesen zu sein (Fr 89), das den Text bis in kleinste Eigenheiten der Schreibung und Lautung hinein genauso überliefert wie Hs K; vgl. G anina , W olf , Moskauer ‹Willehalm›-Fragment. 82 B ecker , Handschriften, S. 113. 83 Ebd., S. 113, Anm. 1. 84 Vgl. K lein , Gesamtverzeichnis, S. 485f. <?page no="153"?> zahl der derzeit bekannten 9 Arabel, 53 Willehalm und 23 Rennewart-Fragmente, die sich nicht einander zuordnen lassen, da sie aus unterschiedlichen Manuskripten stammen, ebenfalls zu Handschriften gehörten, die ursprünglich die gesamte Trilogie umfassten, deren enger Überlieferungsverbund sich bereits im späten 13. Jahrhundert herausgebildet haben dürfte. Zumindest Arabel und Willehalm sind darüber hinaus aber auch in Codices überliefert, in denen sie mit Texten vereint sind, die nicht zur Willehalm-Trilogie gehören. Der Heidelberger Kodex cpg 395, in dem Strickers Karl, Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten und die Arabel zusammen aufgezeichnet sind, wurde ebenso bereits im Zusammenhang der Karl-Überlieferung erwähnt wie die Codices Hamburg (Staats- und Universitätsbibl., Cod. germ. 19), in dem der Willehalm von Karl und Barlaam und Josaphat umgeben ist, und St. Gallen (Stiftsbibl., Cod. 857), in dem Wolframs Chanson de geste-Bearbeitung nach dem Parzival, dem Nibelungenlied, der Klage und dem Karl und vor der Kindheit Jesu und Unser vrouwen hinvart steht bzw. stand. Fragment 22+31 des Willehalm stammt aus einer Handschrift, die ebenfalls das Evangelium Nicodemi des Heinrich von Hesler enthielt, und Fragment 35 schließlich aus einem Kodex, der auch Konrads von Würzburg Herzmäre umfasst haben muss. 85 Nach diesem Durchgang durch die Überlieferungssymbiosen der oberdeutschen Chanson de geste zeichnen sich einige charakteristische Tendenzen ab: Die deutschsprachigen Bearbeitungen französischer Heldenepik stehen zum einen auffallend selten mit Texten aus anderen Genres der erzählenden Großepik zusammen. Die matière de Rome fällt zum Beispiel völlig aus; das Märe von Alexander und Anteloye in der Dresdner Handschrift, die zugleich die Karl-Handschrift Q 86 enthält, wird man nicht hierzu rechnen wollen. Ebenso wenig ist jemals Orientbzw. Brautwerbungsepik im Zusammenhang deutscher Chanson de geste-Dichtung überliefert. Auch der Artusstoff, die matière de Bretagne, steht nur selten im Überlieferungsverbund mit deutschen Chansons de geste. Im eben erwähnten Dresdner Kodex finden bzw. fanden sich einmal immerhin Eilharts von Oberg Tristrant und eine Kurzfassung des Jüngeren Titurel mit dem Karl (Hs Q) zusammen in einer Handschrift; ein anderes Mal sind, wie schon erwähnt, Karl und Willehalm zusammen mit Wolframs Parzival überliefert (St. Gallen, cod. 857). Beim Sangallensis 857 ist allerdings keineswegs sicher, dass der Parzival primär in seiner Eigenschaft als Artusroman Aufnahme in den Sammelkodex fand. Der in mancherlei Hinsicht bemerkenswerte Kodex bietet jedenfalls auch eines der seltenen Beispiele einer Überlieferungssymbiose des Stoffs der französischen und deutschen Heldenepik, denn neben Karl und Willehalm enthält er gleichfalls das Nibelungenlied und die Klage. Eine vergleichbare Konstellation ge- Überlieferung 143 85 Vgl. Wolfgang S tammler : Wolframs ‹Willehalm› und Konrads ‹Herzmäre› in mittelrheinischer Überlieferung. In: ZfdPh 82 (1963), S. 1-29. 86 Vgl. das Volldigitalisat unter: http: / / digital.slub-dresden.de/ sammlungen/ titeldaten/ 276455142/ . <?page no="154"?> meinsamer Überlieferung französischer und deutscher heldenepischer Stoffe findet sich nur noch in einem einzigen weiteren Fall: In einem 1422 in der Umgebung von Trier geschriebenen Kodex steht Strickers Karl (Hs Z) unter anderem auch zusammen mit dem Laurin und dem Großen Rosengarten. Nimmt man noch die um 1320/ 30 entstandene Karl-Handschrift M hinzu, die eine Überlieferungsgemeinschaft mit Johanns von Würzburg meist als Minne- und Aventiureroman klassifizierten Wilhelm von Österreich bildet, ist die gemeinsame Überlieferung deutschsprachiger Bearbeitungen französischer Heldenepen mit erzählender Großepik anderer Genres bereits erschöpft. 87 Wie nicht anders zu erwarten, stehen kleinepische Textformen, die ohnehin nicht eben häufig mit Großepik überliefert sind, noch seltener mit (ober)deutscher Chanson de geste-Literatur zusammen als erzählende Großepik anderer Genres. Lediglich die bereits erwähnte Kurzerzählung von Alexander und Anteloye sowie das Märe vom Ritter mit den Nüssen sind in zwei mitteldeutschen Handschriften aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts jeweils einmal zusammen mit dem Karl überliefert (Hs Q und Hs Z). Zudem enthielt der Kodex, dem das Willehalm-Fragment Nr. 35 entstammt, auch Konrads von Würzburg Herzmäre, und in einer ca. 1320 im bairisch-österreichischen Raum entstandenen Willehalm-Trilogie (Wien, ÖNB, Cod. 2670) stehen Strickers Der nackte Bote sowie dessen bîspel Von dem Hasen zwischen der Arabel und Wolframs Willehalm. 88 Mit profaner Erzähldichtung welchen Typs auch immer gehen (ober)deutsche Chanson de geste-Bearbeitungen also nur selten Überlieferungssymbiosen ein. Statt dessen lässt sich ein anderes Genre ausmachen, zu dem insbesondere Karl und Willehalm eine besondere Affinität zu besitzen scheinen: Sofern beide, sei es allein, sei es gemeinsam, in einem größeren Handschriftenverbund überliefert sind, umfasst dieser nicht selten zugleich auch geistlich/ hagiographische Literatur. Die ausgeprägte Disposition zur Attrahierung geistlicher Stoffbereiche setzte dabei offenbar schon früh ein. Ablesen lässt sich das z. B. an der bereits in der Mitte des 13. Jahrhunderts von einer Hand geschriebenen Karl-Hs D, in der Strickers Bearbeitung des Rolandslieds zusammen mit Hartmanns Gregorius überliefert wird; dem ebenfalls noch aus 144 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 87 Im Fall des Wilhelm von Österreich wäre freilich zu überlegen, ob die dort in der Tat nachweisbaren Minne- und Aventiureelemente maßgeblich für die Zusammenstellung dieses Textes mit Strickers Karl waren, oder ob sich nicht vielmehr eine übergreifende Thematik hinter dieser Handschrift erkennen lässt, die mit den Stichworten ‹Kampf gegen heidnische Gegner aus dem Orient›, ‹militia Christi› und scheiternde (Karl) bzw. gelingende Beziehung (Wilhelm von Österreich) zwischen einem christlichen Königssohn und einer (zunächst) heidnischen Königstochter umschrieben werden könnte. 88 Ob man wirklich die österreichische Herkunft des Stricker für die Inserierung der beiden kleinepischen Texte in eine Handschrift bairisch-österreichischer Provenienz verantwortlich machen kann oder auch in ihnen «ein komisches Zwischenspiel» innerhalb der ernsten Trilogie vermuten darf, wäre zu diskutieren; vgl. B ecker , Handschriften, S. 102. <?page no="155"?> dem frühen 14. Jahrhundert stammenden Karl-Fragment q, das aus einer Handschrift stammt, die auch Reimgebete enthielt, sowie dem Willehalm- Fragment 22+31, das als Zeuge für die Vergesellschaftung von Wolframs Text und dem Evangelium Nicodemi dient und möglicherweise im Umfeld des Deutschen Ordens entstand. 89 Die Tendenz zur Kontextualisierung von oberdeutschen Chanson de geste-Adaptationen und legendarischen oder legendenähnlichen Texten setzte sich auch im 15. Jahrhundert fort, 90 in dem überdies der Karl mit moraldidaktischen Traktaten zusammensteht. 91 Nicht zuletzt geistliche, genauer heilsgeschichtliche Berührungspunkte werden überdies eine entscheidende Rolle gespielt haben beim Zustandekommen der in Prachthandschriften des 14. Jahrhunderts zweimal nachzuweisenden Überlieferungssymbiose des Karl und der dezidiert heilsgeschichtlich ausgerichteten, nach der Lehre von den sechs Weltaltern und zudem nach der augustinischen Zwei Staaten-Theorie organisierten Weltchronik des Rudolf von Ems. 92 Als Inhaber des römischen Kaiseramtes rückt Karl hier in den Zusammenhang des göttlichen Heilsplans: Für beide Werke gilt die zentrale Aussage, daß sie aus einer biblisch begründeten Weltbetrachtung heraus die Hand Gottes in der Geschichte greifbar machen wollen und in einer durchgängigen Theologisierung und Moralisierung des Historischen, sei es im Anschluß an die alttestamentlichen Geschichtsbücher wie bei Rudolf oder aber im Anschluß an die Erzähltraditionen um die Ereignisse von Roncesvalles wie beim Stricker, das irdische Leben als Kampfstätte erfahren lassen, auf der die Mächte des Guten und des Bösen um die Seelen ringen. Beide Werke sind getragen von einer Weltanschauung, die augustinisch zu nennen angesichts der im Mittelalter üblichen Auslegungspraxis des ‹Gottesstaates› gerechtfertigt erscheint. 93 Insofern verwundert es nicht, wenn diese Handschriften durch prächtige, z. T. auf Goldgrund angelegte Miniaturen ein Ausstattungsniveau erreichen, das in Überlieferung 145 89 Vgl. dazu Gerhard E is : Zur Überlieferung von Wolframs Willehalm und Heslers Evangelium Nicodemi. In: ZfdPh 73 (1954), S. 103-110; Heike Annette B urmeister : Nochmals zur Überlieferung von Wolframs ‹Willehalm› und Heinrichs von Hesler ‹Evangelium Nicodemi›. In: WS 15 (1998), S. 405-410. 90 Vgl. den Überlieferungsverbund von Karl und Zeno (Dresden, Landesbibl., Mscr. M 42), Karl und dem legendenartigen Wilhelm von Wenden des Ulrich von Etzenbach sowie der Alexius-Legende (Dessau, Landesbibl., Hs Georg. 224.4°) oder die Vereinigung von Willehalm, Karl und Rudolfs von Ems Barlaam und Josaphat in einer Handschrift (Hamburg, Staats- und Universitätsbibl., Cod. germ. 19); vgl. ebenfalls das von der gleichen Hand wie Strickers Karl geschriebene Reimgebet zur Hl. Barbara in Hs O (Heidelberg, Universitätsbibl., Cpg 388). 91 Vgl. die gemeinsame Überlieferung von Karl und den Väterlichen Lehren des Andreas (Dessau, Landesbibl., Hs Georg. 224.4°) und dem sog. Etymachietraktat (Krivoklát, Burgbibl., Cod. I b 6); vgl. dazu Nigel H arris : The Latin and German ›Etymachia‹. Textual History, Edition, Commentary. Tübingen 1994 (MTU 102). 92 St. Gallen, Kantonsbibl., VadSlg Ms. 302; Berlin, Staatsbibl., mgf 623. 93 H erkommer , S. 262. <?page no="156"?> deutschen Chanson de geste-Handschriften ansonsten nicht wieder begegnet, da es üblicherweise Codices geistlichen Inhalts vorbehalten blieb. 94 Der bekannten Lehre von den sechs Weltaltern ist auch die wohl im 14. Jahrhundert entstandene Oberrheinische Chronik verpflichtet, in die ebenfalls Karls Schlacht bei R v nschifael, allerdings in äußerst knapper Form, aufgenommen wurde. 95 Unmittelbar gefolgt wird die wohl durch Strickers Karl inspirierte Passage über Karl den Großen durch einen knappen Abriss des im Willehalm berichteten Erzählgeschehens. 96 In die einem Heinrich von München zugeschriebene kompilatorische Weltchronik, die nach sechs (Redaktion ) oder sieben (Redaktion ) Weltaltern strukturiert ist, wurden in einigen Handschriften, darunter auch in der einzig erhaltenen Handschrift der Erstfassung (Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 1.5.2 Aug. fol.), tausende von Versen umfassende Exzerpte aus Strickers Karl und Teile der Willehalm-Trilogie integriert. 97 In andere deutsche Chroniken eher profaner Ausrichtung, z. B. 146 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 94 Zum gesamten Komplex der Karl/ Roland-Ikonographie vgl. L ejeune , S tiennon ; O tt , Pictura docet; ders .: Reich und Stadt. Karl der Große in deutschsprachigen Bilderhandschriften. In: Karl der Große als vielberufener Vorfahr. Sein Bild in der Kunst der Fürsten, Kirchen und Städte, hg. von Lieselotte E. Saurma-Jeltsch. Sigmaringen 1994 (Schriften des Historischen Museums 19), S. 87-11; James A. R ushing : Images at the Interface. Orality, Literacy, and the Pictoralization of the Roland material. In: Kathryn Starkey, Horst Wenzel (Hg.): Visual Culture and the German Middle Ages. New York 2005, S. 115-134. 95 Die Oberrheinische Chronik. In: Deutsche Chroniken, hg. von Hermann Maschek. Leipzig 1936 (Deutsche Literatur, Reihe Realistik des Spätmittelalters, Bd. 5), S. 41-66, hier S. 51f.: Karolus der grosse, want er bilch der grosse heist, want er grosse strite ze R v nschifael, in dem tale, do siner swester sun Rolant erslagen wart und fil der cristen, an den got grosse zeichen tet, und tet ouch ime zeichen an der sunnen, die alse lange stunt, unz das er sich gerach an der bosen heidenschaft, do er Paligan ze tode sl v g. 96 Ebd.: L v dewicus, sin sun, der des Markins swester hatte, der in der heidenschaft gefangen lag, dem got half under Arabel, die kunigen, die mit im f v r und sich lies toufen; dar umbe ir fatter kuning Terremer und ir br v der und kuning Tiebalt, ir man, und fil andere kuninge kamen uf Aleschantz und da stritten, do er verlör Fifianz und Mile, sinre swester kint, und ander fil lutz und half ime doch got und das riche, das er Kiburg, die kunigen, und Orens, die burg, und den sik behielt an den heiden. 97 Vgl. Die Weltchronik Heinrichs von München. Neue Ee, hg. von Frank Shaw, Johannes Fournier, Kurt Gärtner. Berlin 2008 (DTM 88), dort bes. S. XVI und S. XXXIV. Vgl. zur Weltchronik auch Horst B runner (Hg.): Studien zur «Weltchronik» Heinrichs von München, Bd. 1. Überlieferung, Forschungsbericht, Untersuchungen, Texte. Wiesbaden 1998 (WILMA 29); darin v. a. Dorothea K lein : Heinrich von München und die Tradition der gereimten deutschen Weltchronistik, S. 1-112, dies .: Die ‹Weltchronik› Heinrichs von München. Ergebnisse der Forschung, S. 199-239; Christian K iening : Der ‹Willehalm› Wolframs von Eschenbach in karolingischem Kontext. Formen narrativhistorischer Aneignung eines «Klassikers», S. 522-568; Frank S haw : Die Darstellung Karls des Großen in der ‹Weltchronik› Heinrichs von München. In: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981, hg. von Walter Haug u. a. Heidelberg 1983 (Reihe Siegen, Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft 45), S. 173-207. <?page no="157"?> Enikels (Jan von Wien) Weltchronik, fand die Stofftradition der französischen Heldenepik hingegen kaum einmal Eingang - und wenn, dann nur in abgewandelter, nicht in einer letztlich auf die Chanson de geste-Tradition rückführbaren Form. 98 Hier zeigt sich ein gravierender Unterschied zur französischen Historiographie, wo ein enger Bezug zwischen Chanson de geste und volkssprachiger Geschichtsschreibung existiert. 99 Angefangen bei den Grandes Chroniques über die chronikalischen Werke eines Philippe Mousket, Jean d’Outremeuse oder David Aubert erscheint Karl dort oft als Figur eines dezidiert nationalen oder auch lokalen, in jedem Fall aber spezifisch machtpolitischen Interesses. Das verwundert kaum, wenn man bedenkt, dass die karolingische Dynastie und Geschichte, und damit zugleich natürlich auch Charlemagne, im Gebiet der Francia als identitätsstiftender Gründungsmythos fungierte 100 - eine Rolle, die für das mittelalterliche imperium eher das römische Reich und dessen Geschichte einnahm (vgl. etwa die Konzeption der Kaiserchronik). Aus jenem auf Rom rekurrierenden Gründungsmythos resultierte für den Kaiser und das imperium die «höchste Legitimität, die in Europa denkbar war, [da sie] durch den Christengott und das Römerreich zugleich vermittelt wurde.» Für das französische Königtum blieb demzufolge nur der Griff «nach der zweitbesten im päpstlichen Europa verfügbaren Legitimierung (die der deutsche Hof vielleicht allzu unbedenklich gegenüber diesem Zugriff unbehütet ließ), nach der karolingischen (für seine Dynastie) und nach Überlieferung 147 98 Vgl. zur Darstellung Karls des Großen bei Enikel (Jan von Wien) G eith , Carolus Magnus, S. 193-241; Frank S haw: Die Darstellung Karls des Großen in Enikels Weltchronik und anderweit. In: Geistliche und weltliche Epik des Mittelalters in Österreich, hg. von David McLintock u. a. Göppingen 1987, S. 119-128; Frank F ürbeth: Carolus Magus. Zur dunklen Seite des Karlsbildes im Mittelalter. In: Karl der Große und das Erbe der Kulturen, hg. von F.-R. Erkens. Berlin 2001, S. 314-325; H ennings , Französische Heldenepik, S. 139-141. 99 Vgl. M. du P ouget : La légende carolingienne à St. Denis: la donation de Charlemagne au retour de Roncevaux. In: Bull. Soc. Sc., Lett. et Arts Bayonne 135 (1979), S. 53-60; S piegel , Chronicle Tradition; dies ., Romancing the Past. Vgl. auch Joseph J. D uggan : Medieval Epic as Popular Historiography: Appropriation of Historical Knowledge in the Vernacular Epic. In: GRLMA XI/ 1, S. 285-311. 100 Aus der reichen Forschungsliteratur zu dieser Thematik seien genannt: Karl Ferdinand W erner: Die Legitimität der Kapetinger und die Entstehung des «Reditus regni Francorum ad stirpem Karoli». In: Die Welt als Geschichte 12 (1952), S. 203-225; ders .: Il-y-a mille ans les carolingians, fin d’une dynastie, début d’un mythe. In: Annuaire Bull. de la Soc. de l’Hist. de France (1991/ 92), S. 17-89; Joachim E hlers : Kontinuität und Tradition als Grundlage mittelalterlicher Nationsbildung in Frankreich. In: Beiträge zur Bildung der französischen Nation im Früh- und Hochmittelalter, hg. von H. Beumann. Sigmaringen 1983, S. 15-47; Rudolf S chieffer: Frankreich im Mittelalter. In: Mittelalterliche nationes - neuzeitliche Nationen, hg. von A. Bues u. a. Sigmaringen 1995, S. 43-59; B omba . Vgl. zum Thema des französischen Karlsmythos auch die Studie von Robert M orrissey: L’Empereur à la Barbe Fleurie. Charlemagne dans la mythologie et l’histoire de France. Paris 1997. <?page no="158"?> der fränkischen (für sein Land).» 101 Zumindest in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters wird Karl der Große, im Unterschied zur lateinischen, dann auch häufig kommentarlos und ohne spürbare Ressentiments als Franzose bzw. als Franke, als Kerling, bezeichnet. 102 Und schließlich besitzt auch die im Jahr 1475 geschriebene Handschrift der Zentralbibliothek Zürich (Zentralbibl., Cod. Car. C 28), die eine Prosifizierung des Karl und der Willehalm-Trilogie enthält, eine entschieden geistlich/ hagiographische Programmatik. Das Buch vom heiligen Karl (Hs P 1 ) und das Buch vom heiligen Wilhelm (Hs P 1 ) werden dort gefolgt von Prosaauflösungen moraldidaktisch auslegbarer Texte (Gesta Romanorum; Christus und die sieben Laden), 103 von Prosaauflösungen verschiedener Legenden (Der Hl. Georg des Reinbot von Durne; Anastasia; Hester), von moralbzw. ständedidaktisch zu lesenden (Schach)-Allegorien (Das goldene Spiel des Meister Ingold sowie eine Prosaauflösung des Schachzabelbuchs Konrads von Ammenhausen) und endlich der Passage über ‹Veronica und Pilatus› aus dem ebenfalls prosifizierten Evangelium Nicodemi. 104 Mit seiner Kollektion aus Chanson de geste-Bearbeitungen, Legende, Moraldidaxe und Apokryphen hat der (wie noch zu verdeutlichen sein wird auch in anderer Weise) als Endpunkt einer literarischen Entwicklung fungierende Zürcher Kodex am Ausgang des Mittelalters noch einmal genau jene literarischen Genres versammelt, die seit dem 13. Jahrhundert immer wieder Überlieferungssymbiosen mit Strickers Karl und der Willehalm-Trilogie eingegangen waren. Eine heute in der Stadtbibliothek Schaffhausen liegende Handschrift, die etwas jünger ist als die Zürcher (um 1483), und vor der Reformation einem Schaffhausener Kloster gehört haben könnte, enthält nur das Buch vom Heiligen Karl und das Buch vom heiligen Wilhelm (jeweils Hs P 2 ). Weil der Wortlaut in beiden Fällen mit den in der Zürcher Handschrift überlieferten Prosaauflösungen des Karl und der Willehalm-Trilogie, bis auf offensichtliche kleinere Schreiberversehen, identisch ist, kann man davon ausgehen, dass es sich bei der Schaffhausener 148 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 101 Peter M oraw : Neue Ergebnisse der deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters. In: Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, hg. von R. Ch. Schwinges. Sigmaringen 1995, S. 47-71, hier S. 56 u. 58. 102 Vgl. G eith , Carolus Magnus, S. 261; Rüdiger S chnell : Deutsche Literatur und deutsches Nationsbewußtsein in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter, hg. von J. Ehlers. Sigmaringen 1988, S. 247-319, hier S. 316f.; ders .: Lateinische und volkssprachliche Vorstellungen. Zwei Fallbeispiele (Nationsbewußtsein; Königswahl). In: Nikolaus Henkel, Nigel F. Palmer (Hg.): Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100-1500. Tübingen 1992, S. 123-141. 103 Allerdings wurden diese beiden Texte auf einer eigenen Papiersorte geschrieben und waren daher möglicherweise nicht von vornherein für den Kodex vorgesehen; vgl. B ushey , Neues Gesamtverzeichnis, S. 270. 104 Vgl. zu dieser Handschrift auch D eifu ß , Hystoria, S. 28-35 und 59-61 sowie U rban , S. 315-317. <?page no="159"?> Handschrift um eine direkte Abschrift der Zürcher Handschrift handelt bzw. beide nach gemeinsamer Vorlage entstanden. 105 Das Buch vom heiligen Karl ist darüber hinaus noch ein drittes Mal in einer um 1530, gleichfalls im Zürcher Raum geschriebenen, Handschrift aufgezeichnet (Hs Pk), die als einzigen weiteren Text den in diesem Manuskript unikal überlieferten Morgant enthält, die von einem Anonymus verfasste deutsche Prosa-Übersetzung eines französischen Drucks (Morgant le Geant; Anfang des 15. Jahrhunderts), der seinerseits auf Luigi Pulcis Il Morgante Maggiore (1483) basiert. Da das Buch vom heiligen Karl in diesem Verbund offenkundig als Vorgeschichte des Morgant fungiert, wurde es entsprechend bearbeitet (vgl. S. 232f.). Auch das Buch vom heiligen Wilhelm ist in einer dritten Handschrift überliefert (Hs P 3 ). Dabei handelt es sich um eine von der prosifizierten Willehalm-Trilogie in der Zürich/ Schaffhausener Redaktion geringfügig abweichende, anscheinend etwas ältere Variante, die sich in einigen Passagen an den Wortlaut der paargereimten Willehalm-Trilogie anlehnt. In dieser um 1460/ 70 geschriebenen Frauenfelder Handschrift, die vielleicht aus der Kartause Ittingen stammt, erscheint das Buch vom heiligen Wilhelm, genau wie in der Zürcher Handschrift (Car. C 28), ebenfalls im Überlieferungsverbund mit geistlich/ hagiographischen Texten, in diesem Fall mit Gebeten, Exempla, geistlichen Betrachtungen, mit Auszügen aus den Legendensammlungen Vitaspatrum und Der Heiligen Leben sowie mit einer Teilabschrift von Seuses Büchlein der ewigen Weisheit. 106 Ausgehend von der textuellen Umgebung des Buchs vom heiligen Karl sowie des Buchs vom heiligen Wilhelm in den verschiedenen Handschriften, und weiter über die Karl- und Willehalm-Mitüberlieferung der vorangegangenen 200 Jahre rückwärts schreitend, erschließt sich auch die Leitidee zur Konzeption des berühmten, um 1225/ 50 angelegten St. Galler Kodex 857 vielleicht besser, dessen Mischung aus Artusroman (Parzival), deutscher Heldenepik (Nibelungenlied) und deutscher Chanson de geste-Adaptationen (Willehalm, Karl) lange auf ein besonderes Interesse an den Höhepunkten deutschsprachiger weltlicher Erzähldichtung des frühen 13. Jahrhunderts zu deuten schien. 107 Nicht recht erklärlich war in diesem Zusammenhang allerdings das Fehlen etwa der Dichtungen Hartmanns von Aue oder Gottfrieds von Straßburg. Als störend empfand man in der Umgebung profaner Erzähldichtung zudem die von einer etwas späteren Hand aufgezeichneten Strophen aus der religiösen Spruchdichtung des Friedrich von Sonnenburg, die sich aber leicht als Nachtrag erklären ließen. Ins Wanken geriet die Auffassung von einer Sammlung hochrangiger weltlicher Erzähldichtung um 1200 dann freilich, als sich herausstellte, dass der Sangallensis 857 ursprünglich gleichfalls Konrads von Fußes- Überlieferung 149 105 Vgl. zu dieser Handschrift D eifu ß , Hystoria, S. 35-39, S. 61f., S. 73; U rban , S. 317-319. 106 Vgl. zu dieser Handschrift D eifu ß , Hystoria, S. 39-55, 62-70. D eifu ß legt die Frauenfelder Handschrift seiner Edition des Buchs vom heiligen Wilhelm zugrunde; vgl. zur Handschrift auch U rban , S. 320-323. 107 Vgl. etwa B ecker, Handschriften. <?page no="160"?> brunnen Kindheit Jesu und Konrads von Heimesfurt Unser vrouwen hinvart (eventuell auch noch die Urstende des Konrad von Heimesfurt) enthalten hatte, bevor die geistlichen Texte im 18. Jahrhundert aus nicht mehr genau zu rekonstruierenden Gründen aus dem alten Überlieferungsverbund herausgetrennt wurden. Angesichts dieser neuen Erkenntnis trauten manche Interpreten dem Kodex überhaupt kein durchdachtes Sammelprogramm mehr zu. 108 In jüngerer Zeit haben jedoch H. Fromm, B. Schirok und J. Heinzle 109 die einleuchtende These vertreten, dass der Sangallensis 857 sehr wohl von Anfang an eine einheitliche und nachvollziehbare, nämlich heilsgeschichtlich ausgerichtete Programmatik besessen habe: «Die historisch-heilsgeschichtliche Verbindlichkeit liegt im Falle der beiden biblischen Texte und des Komplexes ‹Karl›/ ‹Willehalm› [...] auf der Hand.» 110 Aus dem Blickwinkel der Mitüberlieferung oberdeutscher Chanson de geste-Adaptationen des späteren 13., 14. und 15. Jahrhunderts gewinnt diese Annahme zusätzliche Plausibilität. Eine analoge Analyse potenzieller Überlieferungssymbiosen von Chanson de geste-Bearbeitungen nieder- und mitteldeutscher Provenienz ist nur mit Einschränkungen möglich. Zum einen sind diese Texte nur in wenigen Handschriften erhalten, es mangelt also an einer genügend breiten Vergleichsbasis, zum anderen sind noch im 13. oder 14. Jahrhundert entstandene Handschriften von Karl und Galie, Morant und Galie, der Schlacht von Alischanz, Ospinel, dem Günser Reinolt oder Gerart van Rossiliun nur fragmentarisch überliefert, so dass über mögliche Tendenzen der frühen Kontextualisierung keine Aussagen getroffen werden können. Denn die ripuarische bzw. mitteldeutsche Chanson de geste-Bearbeitungen vollständig überliefernden Handschriften stammen sämtlich erst aus dem zweiten oder dritten Drittel des 15. Jahr- 150 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 108 Vgl. etwa Klaus K lein : Der Sangallensis 857, Konrad von Heimesfurt und Kommissar Zufall. In: ZfdA 123 (1994), S. 76-90; skeptisch zu einem übergreifenden Programm äußert sich auch Nigel F. P almer : Der Codex Sangallensis 857: Zu den Fragen des Buchschmucks und der Datierung. In: WS 12 (1992), S. 15-31. 109 Hans F romm : Überlegungen zum Programm des St. Galler Codex 857. In: Der Ginkgo Baum. Germanistisches Jahrbuch für Nordeuropa 13 (1995), S. 181-193; Bernd S chirok : Der Codex Sangallensis 857. Überlegungen und Beobachtungen zur Frage des Sammelprogramms und der Textfolge. In: Ist mir getroumet mîn leben? Vom Träumen und vom Anderssein. Festschrift für Karl-Ernst Geith zum 65. Geburtstag, hg. von Andrè Schnyder u. a. Göppingen 1998 (GAG 632), S. 111-126. Während F romm lediglich die beiden apokryphen Texte sowie die deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen und den Parzival unter dieser Prämisse versteht, Nibelungenlied und Klage also ausklammert, verweist S chirok , S. 115, darauf, dass das Nibelungenlied durch «die angehängte interpretatio christiana der ›Klage‹» gewissermaßen eine nachträgliche geistliche Umakzentuierung erfahren habe und daher sehr wohl zu der dem Sangallensis zugrundeliegenden Absicht passe, «jüngst entstandene unter heilsgeschichtlichem Aspekt lesbare epische Werke zu vereinigen»; vgl. auch die Einführung in Wolfram von Eschenbach, Willehalm, hg. von B. Schirok. Vgl. ebenfalls die wichtige Rezension von Joachim H einzle zu diesem Band in: ZfdA 130 (2001), S. 358-362. 110 J. H einzle , Rezension Schirok, S. 361. <?page no="161"?> hunderts. Auffallend ist allerdings auch bei ihnen eine gewisse Neigung zur Mitüberlieferung hagiographischer Literatur. Die Historie van Sent Reynolt ist heute zwar als Einzeltext gebunden. Nach Auskunft ihres Entdeckers von Groote 111 fand er sie allerdings einst «in Cöln als anhang eines andern mönchsbuchs». 112 Mit Blick auf den legendarischen Charakter der Historie erscheint eine Kontextualisierung mit weiteren geistlichen oder legendarischen Werken, auf die Grootes Angabe deutet, nicht ganz unwahrscheinlich. Auch die 1470/ 80 geschriebene Handschrift A des Karlmeinet enthielt ursprünglich einen von gleicher Hand geschriebenen eschatologischen Schlussabschnitt (das Darmstädter Gedicht über das Weltende; Darmstadt, Landes- und Hochschulbibl., Hs 2194), der später jedoch abgetrennt und separat gebunden wurde. 113 Karl und Ellegast wird in der einzigen erhaltenen Handschrift (Hs Z) eingerahmt von Bruder Philipps Marienleben und der Dreikönigslegende Zeno. 114 Die um 1410/ 20 entstandene Handschrift C von Morant und Galie schließlich steht in einem Kodex, der außer Meister Wichwolts Cronica Alexandri des grossen konigs, Exzerpten aus Konrads von Würzburg Trojanerkrieg und dem sog. Niederrheinischen Orientbericht zudem eine deutsche Fassung der Historia trium regum des Johannes von Hildesheim, ein Streitgespräch zwischen Christ und Jude und Bruder Philipps Marienleben enthält. 115 Bei der singulär überlieferten Karlmeinet-Handschrift A wird man mit einiger Sicherheit davon ausgehen können, dass der von gleicher Hand geschriebene, heute separat gebundene eschatologische Schlussabschnitt (das Darmstädter Gedicht über das Weltende), auf den bei der Beschreibung von Karls Überlieferung 151 111 Zu E. von Groote vgl. Willi S piertz : Eberhard von Groote. Leben und Werk eines Kölner Sozialpolitikers und Literaturwissenschaftlers (1789-1864). Köln 2007. 112 Zitiert nach Pfaff, Ausgabe Reinolt von Montelban, S. 522. 113 Vgl. Erik R ooth : Zur Sprache des Karlmeinet. Ein unbeachteter Schlußabschnitt. Heidelberg 1976 (Monographien zur Sprachwissenschaft 1); ders .: Zum Darmstädter Gedicht über das Weltende (Jüngstes Gericht). Lund 1977. 114 Vgl. die Handschriftenbeschreibung in der Ausgabe von Q uint , S. 91*f.; vgl. auch die Ausgabe von Bastert, Besamusca, Dauven-van Knippenberg, S. 208. 115 Vgl. zur Handschrift Karl M enne : Deutsche und niederländische Handschriften. Köln 1931 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, Sonderreihe: Die Handschriften des Archivs, Heft X, Abt. 1), S. 10-13; Handschriftencensus Rheinland. Erfassung mittelalterlicher Handschriften im rheinischen Landesteil von Nordrhein-Westfalen mit einem Inventar. Hg. von Günter Gattermann, 3 Bde. Wiesbaden 1993 (Schriften der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf 18), hier Bd. 2, S. 1285; Heribert A. H ilgers : Das Kölner Fragment von Konrads Trojanerkrieg. In: ABäG 4 (1973), S. 129-185, hier S. 131-143; Hartmut B eckers : Literarische Interessenbildung bei einem rheinischen Grafengeschlecht um 1470/ 80: Die Blankenheimer Schloßbibliothek. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. von Joachim Heinzle. Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Symposien Berichtsbände 14), S. 5-20; Manuela N iesner , Christliche Laien im Glaubensdisput mit Juden. Eine verbotene Gesprächssituation in literarischen Modellen des 15. Jahrhunderts. In: ZfdA 136 (2007), S. 1-28. <?page no="162"?> Tod bereits angespielt wird (vgl. 540,39ff.), aus programmatischen Überlegungen heraus in den aus dem Kölner Kloster der unbeschuhten Karmeliter stammenden Kodex inseriert wurde, um die vita poetica Karoli Magni auf solche Weise in einen heilsgeschichtlichen Kontext einzubinden. 116 Bei den beiden anderen Handschriften erlauben die mangelnden Vergleichsmöglichkeiten mit weiteren nieder- oder mitteldeutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik keine eindeutige Entscheidung darüber, ob Chanson de geste- Adaptationen und geistlich/ hagiographische Texte mehr oder weniger zufällig im gleichen Kodex vereinigt wurden, oder ob solche Überlieferungssymbiosen eventuell auch für die mitteldeutsche Chanson de geste-Literatur repräsentativ sind. Während es sich bei der Handschrift Best. 7020 (W*)3 aus dem Historischen Archiv der Stadt Köln, die u. a. auch Morant und Galie (Hs C) enthält, eher um eine typische Miszellaneenhandschrift zu handeln scheint, besitzt die Zeitzer Handschrift (Domherrenbibl., Cod. 60) eine auffallend stringente chronologische Struktur, durch die von der Zeit Christi (Marienleben) über die karolingische Ära (Karl und Ellegast) bis in die Stauferzeit hinein (Zeno) Wirken und Wunder Gottes in unterschiedlichen Epochen und Situationen exemplifiziert werden. 117 Karl und Ellegast könnte demnach primär aufgrund seiner geistlich-hagiographischen Valenzen in das Zeitzer Textcorpus aufgenommen worden sein. Funktional rückte der Zeitzer Kodex damit in die Nähe der ripuarischen Karlmeinet-Handschrift A und einiger oberdeutscher Chanson de geste-Handschriften, etwa des Sangallensis 857 oder jener Codices, die Rudolfs Weltchronik und Strickers Karl gemeinsam überliefern (Hs A und Fr. s). Bleiben aufgrund der relativ schmalen, überdies oft nur fragmentarisch erhaltenen Werkgruppe gewisse Unwägbarkeiten hinsichtlich der Mitüberlieferung hagiographischer Texte in Chanson de geste-Handschriften mittel- und niederdeutscher Provenienz, so lässt sich für die im 15. Jahrhundert nach französischen bzw. niederländischen Vorlagen in der Umgebung des Saarbrücker Hofs und des Heidelberger Literaturkreises entstandenen Chanson de geste- Bearbeitungen bzw. -Übersetzungen mit Sicherheit sagen, dass sie keine ausgeprägten Überlieferungsverbände von französischer Heldenepik und geistlich/ hagiographischen Texten kennen. Die um 1460 bis 1480 entstandenen Handschriften der Heidelberger Empörerepen enthalten entweder jeweils nur einen Text (Cpg 363: Ogier; cpg 315: Malagis; cpg 399: Reinolt von Montelban) oder überliefern mehrere Texte gleichen Typs im Verbund (cpg 340: 152 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 116 Für van A nrooij betont «das ‹Gedicht vom Jüngsten Gericht› den Wahrheitscharakter der ‹Km.›-Kp. [=Karlmeinet-Kompilation]»; Wim van A nrooij : Maerlant, Boendale oder Velthelm? Mögliche Quellen der ‹Karlmeinet›-Kompilation. In: Sprache und Literatur des Mittelalters in den Nideren Landen. Gedenkschrift für Hartmut Beckers, hg. von Volker Honemann u. a. Köln, Weimar, Wien 1999 (Niederdeutsche Studien 44), S. 9-20, hier S. 18. 117 Vgl. dazu B astert , Zeitzer ‹Karl und Ellegast›. <?page no="163"?> Malagis und Reinolt von Montelban). Ähnliches gilt für die Elisabeth von Nassau-Saarbrücken zugeschriebenen Übersetzungen. Der Herpin wird insgesamt dreimal als Einzelhandschrift überliefert (Hs A, Hs B, Hs C), während Königin Sibille (Hs H) und Huge Scheppel (Hs H) im gleichen Kodex vereinigt sind. Lediglich Loher und Maller wurde, neben dreimaliger Einzelüberlieferung (Hs H, 118 Hs Kr, Hs W), zweimal mit Texten vergesellschaftet, die nicht zur Gattung Chanson de geste zählen. Dabei steht der Text einmal zwischen dem Herzog von Braunschweig und Schondochs Königstochter von Frankreich (Hs He), das andere Mal folgen Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens sowie eine deutsche Übersetzung der Klage Belials des Jacobus von Theramo, also ein Text mit theologisch-juristischem Anspruch (Hs K). In beiden Fällen handelt es sich jedoch um Miszellaneenhandschriften, die in unterschiedlichen Schreibdialekten und von deutlich verschiedenen Händen in unterschiedlicher Ausstattung verfasste, ursprünglich also wohl selbstständige, Texte vereinigen. Als Ergebnis dieser Sichtung von Kontextualisierungstendenzen deutscher Chanson de geste-Bearbeitungen ist demnach zu konstatieren, dass eine Neigung zum handschriftlichen Verbund mit hagiographisch/ geistlichen Texten als spezifisches Kennzeichen der Chanson de geste-Adaptationen oberdeutscher Provenienz, v. a. Willehalm und Karl, gelten kann. Ob dieser Befund sich auch auf die genuin dem mittelbzw. niederdeutschen Raum angehörenden Chanson de geste-Bearbeitungen ausweiten lässt, ist aufgrund der für diese Fragestellung unzureichenden Überlieferungssituation der zweiten deutschen Chanson de geste-Tradition nicht mit letzter Sicherheit zu entscheiden; es deutet allerdings einiges darauf hin. Die erst im 15. Jahrhundert nach französischen bzw. niederländischen Vorlagen gearbeiteten Chanson de geste-Adaptationen kennen hingegen keine Kontextualisierung deutscher Bearbeitungen französischer Heldenepik und geistlich/ hagiographischer Texte. Um zu überprüfen, ob es sich bei dieser auffallenden Kontextualisierung deutscher Bearbeitungen französischer Heroik mit geistlich/ hagiographischer Literatur um ein Spezifikum der deutschen Chanson de geste-Überlieferung handelt, das dann wichtige Aufschlüsse über die Funktionsgeschichte des Genres erlaubte, erscheint es notwendig, zunächst die Mitüberlieferung außerdeutscher Texte aus dem Stoffbereich der französischen Heldendichtung dagegen zu halten, und anschließend zu klären, ob ähnliche Mitüberlieferungsschwerpunkte eventuell auch für andere großepische Erzählregister im deutschsprachigen Bereich auszumachen sind. Besonders kompliziert gestaltet sich dabei ein Vergleich mit französischen Chanson de geste-Handschrif- Überlieferung 153 118 Illustration und Ausstattung lassen allerdings darauf schließen, dass diese Loher und Maller-Handschrift (Hs H) zusammen mit Sibille (Hs H) und Huge Scheppel (Hs H) sowie mit der heutigen Wolfenbütteler Herpin-Handschrift (Hs B) ursprünglich eine gemeinsame Handschriftengruppe, einen vollständigen Zyklus (vgl. dazu S. 244f.), bildete. <?page no="164"?> ten. 119 Denn einem Einzelnen ist es praktisch unmöglich, das über die gesamte Welt verteilte Material durch Autopsie zu überprüfen; auch eine Kontrolle der Mitüberlieferung anhand der entsprechenden Bibliothekskataloge wäre, sofern dies in den Katalogen überhaupt verzeichnet ist, nur mit einem immensen Arbeitsaufwand zu leisten. Als repräsentative Stichprobe wurden daher die in der Pariser Nationalbibliothek liegenden Chanson de geste-Handschriften ausgewählt, wofür zwei Gründe ausschlaggebend waren: Zum einen bewahrt die Bibliothèque Nationale fast ein Drittel der heute bekannten Chanson de geste-Manuskripte auf, zum zweiten sind diese Handschriften hinreichend genau in einem mehrbändigen Katalog beschrieben. Die Durchsicht des über 300 französische Chanson de geste-Handschriften erfassenden Pariser Katalogs erbrachte folgendes Ergebnis: Französische Chansons de geste werden in einer erdrückend überwiegenden Mehrzahl der Fälle als Einzeltexte oder im Verbund mit anderen Chansons de geste überliefert. Nur ein verschwindend geringer Teil steht in einer Handschrift zusammen mit geistlich/ hagiographischen Texten. 120 Nicht immer ist dabei eindeutig zu klären, ob es sich um eine Miszellaneen- oder um eine Programmhandschrift handelt. 121 Eine Analyse der Mitüberlieferungssituation in der reichen mittelniederländischen Chanson de geste-Rezeption ist aus anderen Gründen kompliziert. Bedauerlicherweise ist keine einzige der recht zahlreichen Bearbeitungen 154 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 119 Der kanadische Romanist John R. Allen, Winnipeg, Univ. of Manitoba, hat ein Verzeichnis sämtlicher französischer Chanson de geste-Handschriften erstellt, das jedoch nicht publiziert ist. John R. Allen war allerdings, wofür ihm an dieser Stelle ausdrücklich gedankt sei, so liebenswürdig, mir eine Auflistung zu überlassen, die sämtliche ihm bekannten Chanson de geste-Handschriften und Fragmente einschließlich deren Standorte enthält. 120 In BN f. fr. 820 stehen beispielsweise Ami et Amile und Berthe aus grans pies, beide ungewöhnlich hagiographisch aufgeladene Chansons, zusammen mit mehreren Legenden. Daneben versammelt BN f. fr. 1374 neben der Chanson Girart de Vienne auch Romane wie Cligès und hagiographische Texte wie Placidas, eine Lebensgeschichte der heiligen Eustachia. 121 Während zum Beispiel M icha, S. 214, BN f. fr. 1374 für eine Miszellaneenhandschrift hält, geht Pamela G ehrke : Saints and Scribes. Medieval Hagiography in Its Manuscript Context. Berkeley usw. 1993 (University of California Publications in Modern Philology 126), S. 54-58, von einem durchdachten hagiographischen Programm des Kodex aus. Legendarische Texte und Chansons de geste (ein Teil der Geste des Loherains, Huon de Bordeaux und dessen Fortsetzungen Esclarmonde, Clarisse et Florent, Yde et Olive sowie Godin und schließlich Beuve de Hantone) versammelt ebenfalls die Handschrift MS. L-II-14 der Universitätsbibliothek Turin. Zu dieser Handschrift, deren Programmatik sich fassen ließe unter dem Titel: ‹how the Christian faith was developed and perpetuated› vgl. Mieke L ens : Old French Epic Cycles in MS. Turin L.II.14: The Development of Old French Narrative Cycles and the Transmission of Such Cycles into Middle Dutch Epic Poetry. In: Cyclification, hg. von B. Besamusca u. a., S. 127-134. Zudem steht eine Kurzfassung der Chanson de Roland (Lyon, Bibl. municipale, ms. 743) zusammen mit ebenfalls kurzen französischen wie lateinischen Texten hagiographischen und liturgischen Charakters; vgl. B usby , Codex, S. 372. <?page no="165"?> französischer Chansons de geste vollständig überliefert; erhalten haben sich (mit Ausnahme von Karel ende Elegast im Verbund der bereits besprochenen Karlmeinet-Kompilation sowie in Drucken) lediglich Fragmente, die einen Einblick in eventuelle Kontextualisierungsschwerpunkte ungemein erschweren oder völlig unmöglich machen. 122 Aus dem Reservoir der französischen Chanson de geste schöpfte auch die altnordische Literatur. Mehrere Chansons de geste wurden dort im 13. Jahrhundert aus dem Französischen übersetzt, einige wurden zur Karlamagnús saga zusammengefasst. Die skandinavischen Bearbeitungen der Karlamagnús saga sind dabei stets zu einem, unterschiedlich umfangreichen, zyklischen Verbund zusammengestellt, der sich an einer poetischen Biographie Karls des Großen orientiert. 123 Einzeln oder im Verbund mit anderer Literatur sind die jeweiligen Branchen nicht überliefert. 124 Mittelenglische Chanson de geste-Adaptationen des 14. und 15. Jahrhunderts 125 erscheinen häufiger in einem kontextuellen Zusammenhang mit reli- Überlieferung 155 122 Vgl. zur Überlieferung der niederländischen Chanson de geste das Repertorium zur ‹Karelepiek› von Bart B esamusca, Repertorium van de Middelnederlandse Karelepiek. 123 Vgl. dazu Jonna K jær : Karlamagnús saga: la saga de Charlemagne. In: Revue des Langues Romanes 102 (1998), S. 7-23 sowie K ramarz- B ein , Altnordische Karlsdichtung. K ramarz- B ein unterstreicht, S. 159, dass «die gesamte ‹Karlamagnús saga› […] durch ihr religiöses Kolorit geprägt [sei] und […] zugleich ein religiöses Anliegen [vertrete]»; vgl. dazu ebenfalls Daniel W. L acroix : Le personnage de Charlemagne dans la Karlamagnús saga. In: Danielle Buschinger, Peter Andersen (Hg.): Charlemagne dans la réalité historique et la littérature. Amiens 2004, S. 51-59, bes. S. 58. 124 Vgl. die Beschreibung der Überlieferung in der Einführung zur französischen Übersetzung der Karlmagnús saga: La saga de Charlemagne. Traduction française des dix branches de la Karlamagnús saga norroise. Traduction, notices, notes et index par Daniel W. Lacroix. Paris 2000 (Classiques Modernes), S. 19-21. Zur Überlieferungssituation weiterer skandinavischer Adaptationen französischer Heldenepen, etwa der Magús saga jarls, eine Bearbeitung des Renaut de Montauban, oder der Bevers saga, einer Adaptation des Beuve de Hantone, fehlen derzeit einschlägige Untersuchungen. Zumindest die Magús saga jarls ist aber nach freundlicher Auskunft von Hendrikje H artung , die über diese Saga gearbeitet hat, nie zusammen mit geistlichen Texten, sondern stets zusammen mit anderen Sagas oder allein überliefert, vgl. Hendrikje H artung : ‹Renaut de Montauban› et la ‹Magús saga jarls›: de la chanson de geste française à la saga norroise. In: Susanne Friede, Dorothea Kullmann (Hg.): Die altfranzösische Chanson de geste im europäischen Kontext. Ergebnisse der Göttinger Tagung vom 14.-16. August 2008. Berlin (im Druck). Ähnlich ist die Situation nach freundlicher Auskunft von Silke Winst für die Elis saga, einer Bearbeitung der Chanson de geste Elie de Saint Gilles, vgl. Silke W inst : Narrative Schemata und Konstruktionen adliger Identität in der altfranzösischen Chanson de geste ‹Elie de Saint Gille› und in der nordischen ‹Elis saga ok Rosamundu›. In: Susanne Friede, Dorothea Kullmann (Hg.): Die altfranzösische Chanson de geste im europäischen Kontext. Ergebnisse der Göttinger Tagung vom 14.-16. August 2008. Berlin (im Druck). Vgl. allgemein zur skandinavischen Chanson de geste-Rezeption: Charlemagne in the North. Proceedings of the Twelfth International Conference of the Société Rencesvals, Edinburgh 4 th to 11 th August 1991. Ed. by Philip E. Bennett u. a. Edinburgh 1993. 125 Vgl. dazu Janet M. C owen : Die mittelenglischen Romane um Karl dem Großen. In: Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters. Konstruktion eines Mygiös <?page no="166"?> gefärbter Literatur. 126 Die nur fragmentarisch erhaltene englische Fassung des Song of Roland kennen wir z. B. aus einer Sammelhandschrift geistlich-religiösen Charakters (London, BL, Lansdowne, Ms. 388). In kontextueller Umgebung religiöser Literatur finden sich ebenfalls Otuel and Roland und Firumbras (beide London, BL, Add. 37492) sowie The Romance of Duke Rowland and Sir Otuell of Spayne und The Sege off Melayne (beide London, BL, Add. 31042; die Textfolge dieser Handschrift richtet sich Ph. Hardman zufolge nach dem Gang der Heilsgeschichte). 127 Roland and Vernagu und Otuel stehen hingegen in einer voluminösen Sammelhandschrift, die sowohl profane wie geistliche Texte enthält (Edinburgh; Nat. Libr. of Scotland, Adv MS 19.2.1). 128 Sir Firumbras, «the most explicitly hagiographic of the Middle English Charlemagne poems» 129 (Oxford, Bodleian Libr., Ashmole Ms 33) und The Sowdane of Babylon (Princeton, Univ. Libr., Garrett Collection Ms 140) sind einzeln überliefert. Einen aus Bearbeitungen der Chanson de Roland, der Voyage de Charlemagne, des Otinel und dem Pseudo-Turpin bestehenden, in insgesamt zehn Handschriften des 13. bis 15. Jahrhunderts in teilweise divergierenden Fassungen überlieferten Karlzyklus kennt gleichfalls die mittelalterliche kymrische (walisische) Literatur. 130 Während einige dieser Manuskripte nur den Karlzyklus (Chwedlau Siarlymaen) enthalten und er in anderen mit profaner kymrischer Literatur, wie z. B. Erzählungen über arthurische Helden oder historiographischen Texten verbunden ist, überliefern zwei Handschriften aus dem 14. Jahrhundert (Aberystwyth, National Library 156 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption thos, hg. von Bernd Bastert. Tübingen 2004, S. 163-182; Hamilton M. S myser : Charlemagne Legends. In: A Manual of Writings in Middle English 1050-1500, hg. von J. Burke Severs, Albert E. Hartung. New Haven, Connecticut 1967, Bd. I: Romances, hg. von J. Burke Severs, S. 80-100, 256-266. 126 Vgl. Marianne A iles , Philippa H ardman : How English Are the English Charlemagne Romances? In: Boundaries in Medieval Romance, hg. von Neil Cartlidge. Cambridge 2008, S. 43-55, bes. S. 54f. 127 Vgl. Phillipa H ardman : The ‹Sege of Melayne›: a fifteenth century reading. In: Tradition and Transformation in Medieval Romance, hg. von Rosalind Field. Cambridge 1999, S. 71-86. Dazu passt die These von J. M. C owen , die, S. 164, empfiehlt, «den Karl-Stoff im Mittelenglischen nicht als eigenes Corpus zu betrachten, sondern als Teil eines größeren mittelenglischen Textverbandes, dessen Hauptinteresse dem Kreuzzug und der Verehrung der Passionsreliquien gilt.» 128 Es handelt sich dabei um das berühmte Auchinleck-Manuscript, das um 1330/ 40 in London geschrieben wurde (Volldigitalisat: http: / / www.nls.uk/ auchinleck/ ). 129 A iles, H ardman , S. 54. 130 Vgl. dazu R ejhon sowie Erich P oppe : Charlemagne in Wales and Ireland. Some Preliminaries on Transfer and Transmission. In: Rittersagas - Übersetzung, Überlieferung, Transmission, hg. von J. Glauser, S. Kramarz-Bein. Tübingen 2010 (Beiträge zur nordischen Philologie 45) und Regine R eck : Die matière de France in Wales. In: Susanne Friede, Dorothea Kullmann (Hg.): Die altfranzösische Chanson de geste im europäischen Kontext. Ergebnisse der Göttinger Tagung vom 14.-16. August 2008. Berlin (im Druck). E. P oppe machte mir seinen Beitrag dankenswerterweise schon vor der Veröffentlichung zugänglich. <?page no="167"?> of Wales, Peniarth 5 und Peniarth 7) den Zyklus zusammen mit religiöser Literatur. 131 In der mittelalterlichen Literatur Irlands begegnet die matière de France in Form volkssprachiger Bearbeitungen des Pseudo-Turpin und des Fierabras. Beide Adaptationen stehen fast immer im kontextuellen Verbund mit religiöser Literatur, dem Fierabras geht überdies stets eine irische Fassung der Inventio Sanctae Crucis voraus. 132 Mindestens die Überlieferungssituation der englischen und irischen, teilweise auch der kymrischen Bearbeitungen französischer Heldenepik ähnelt mithin derjenigen der (ober)deutschen Chanson de geste-Adaptationen. Dagegen unterscheidet sich die Mitüberlieferung anderer deutschsprachiger Großepik signifikant von deutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik. Bezeichnend ist etwa die Differenz zur Kontextualisierung der deutschen Heldenepik, die man als gattungsmäßiges Analogon zur französischen Chanson de geste betrachten kann. Bei der lediglich unikal im ‹Ambraser Heldenbuch› überlieferten Kudrun mag man es noch für einen Zufall halten, dass sie nie im Überlieferungskontext mit geistlicher Literatur anzutreffen ist. Sieht man sie allerdings im Umfeld der restlichen deutschen Heldenepik, fügt sich dieser Befund sehr wohl ins Bild. Denn abgesehen vom bereits besprochenen Sonderfall des St. Galler Kodex 857 stehen auch die übrigen neun vollständig erhaltenen Handschriften des Nibelungenlieds (samt den Handschriften der Klage) ansonsten nie zusammen mit religiösen Texten, von den Fragmenten lässt sich nur für eines (Fr K) die Mitüberlieferung eines geistlichen Textes nachweisen (es handelt sich um Konrads von Fußesbrunnen Kindheit Jesu, die auch im St. Galler Kodex 857 mit dem Nibelungenlied kontextualisiert war). 133 Ebenso weist die Dietrichepik nur relativ selten Mitüberlieferung von hagio- Überlieferung 157 131 Peniarth 5 (das Llyfr Gwyn Rhydderch, um 1350) beginnt mit einer Übersetzung der Imago Mundi, gefolgt von Apokryphen und weiteren religiösen Texten, etwa einer Version von St. Patricks Purgatory. Die nächsten 19 Blätter fehlten offenbar schon früh, dann erscheint der Karlzyklus, der selbst wiederum von profanen kymrischen Texten gefolgt wird; vgl. Daniel H uws : Medieval Welsh Manuscripts. Cardiff 2000, S. 230-231. Peniarth 7 enthält Peredur (das kymrische Äquivalent zu Chrétiens Perceval) und die vier Karltexte, allerdings von einer anderen, vielleicht späteren Hand geschrieben; danach folgt eine als Ystorya Adaf (Geschichte Adams) bezeichnete Erzählung über die Geschichte des Kreuzesholzes. Peniarth 10 (Aberystwyth, National Library of Wales, spätes 15. Jh.) enthält den Karlzyklus gefolgt von kymrischer Poesie des 12. bis 14. Jahrhunderts. Erwähnenswert ist hier, dass sich inmitten des Pseudo-Turpin auf einer freien halben Seite (fol. 26v) eine Illustration von Christus am Kreuz findet; vgl. Gwenogvryn E vans : Report on Manuscripts in the Welsh Language II. London 1899, S. 320. Genauere Auskünfte über alle genannten kymrischen Handschriften verdanke ich Regine R eck . 132 Vgl. P oppe . 133 Vgl. Klaus K lein : Beschreibendes Verzeichnis der Handschriften des Nibelungenliedes. In: Die Nibelungen. Sage - Epos - Mythos, hg. von Joachim Heinzle, Klaus Klein und Ute Obhof. Wiesbaden 2003, S. 213-238. Lediglich die Hs A enthält auf den letzten, freigebliebenen Blättern von anderer Hand und zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt nachgetragene mystisch-aszetische Texte. <?page no="168"?> graphisch-geistlicher Literatur auf. 134 Die allein aus späten Handschriften vollständig bekannten Erzählungen von Ortnit und Wolfdietrich stehen wie auch das Jüngere Hildebrandslied in keinem Fall in einem genuinen Überlieferungskontext mit religiöser Literatur. Das Gleiche gilt für den gesamten Bereich der historischen Dietrichepik mit jeweils vier Handschriften von Dietrichs Flucht und Rabenschlacht und einer Handschrift von Alpharts Tod. 135 Ähnlich kennen die drei vollständigen Handschriften der Virginal sowie die beiden vollständigen Handschriften des Wunderer aus dem Bereich der aventiurehaften Dietrichepik keinerlei Kontextualisierung mit hagiographischgeistlicher Literatur. Das in zwei (annähernd) vollständigen Handschriften auf uns gekommene Eckenlied wird allerdings einmal in einer Sammelhandschrift überliefert, die neben Sigenot und Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens auch Konrads von Fußesbrunnen Kindheit Jesu und Konrads von Heimesfurt Himmelfahrt Mariae enthält (Karlsruhe, Badische Landesbibl., Cod. Donaueschingen 74). Die Handschrift ist zugleich der einzige Fall, in dem der in fünf mehr oder weniger vollständigen Handschriften überlieferte Sigenot eine Überlieferungssymbiose mit religiöser Literatur eingeht. 136 Laurin und Rosengarten, die jeweils in zwölf Handschriften annähernd vollständig enthalten sind, bilden zwar in den meisten Fällen einen kontextuellen Verbund mit anderen Werken - abgesehen von der in der deutschen Heldenepik üblichen Mitüberlieferung von Texten des gleichen Typus sind dies v. a. kürzere Reimpaargedichte, Minnereden, pragmatische und poetische Texte, Lucidarius, Salman und Morolf, Strickers Daniel u. a. Aber nur in wenigen Codices findet man darunter auch Texte geistlicher Provenienz. In der Dessauer Handschrift, die ebenfalls Strickers Karl enthält, stehen Laurin und Rosengarten zusammen mit Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden, dem Alexius und moraldidaktischen Texten. Einen ähnlichen Fall stellt die Krakauer Handschrift dar (Krakau, Biblioteka Jagiellonska, Berol. Ms. germ. 4 o 1497), in der Laurin und Rosengarten zusammen mit Seuses Büchlein der ewigen Weisheit, dem Neunfelsenbuch Rulman Merswins und ebenfalls wieder moraldidaktischer Literatur überliefert sind. 137 Aufs Ganze gesehen müssen diese Codices jedoch eher als Ausnahmen von der Regel bezeichnet werden. Denn von den 158 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 134 Vgl. die Handschriftenübersichten bei H einzle , Dietrichepik; ders .: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik. Berlin, New York 1999; vgl. auch Victor M illet : Germanische Heldendichtung im Mittelalter. Eine Einführung. Berlin, New York 2008, S. 6f. 135 Lediglich in der Windhagener Handschrift (Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2779), die Dietrichs Flucht und Rabenschlacht zusammen mit der Kaiserchronik, Hartmanns Iwein, Heidin, Ortnit und Heinrichs von dem Türlin Krone überliefert, wurde von späterer Hand didaktische und geistliche Kleinepik (u. a. des Strickers) nachgetragen. 136 Einmal sind allerdings einige Strophen des Sigenot nachträglich in eine Sammelhandschrift theologisch-homiletischen Inhalts eingetragen (Württembergische Landesbibl. Stuttgart, Cod. theol. et phil. 8 o 5). 137 Vgl. dazu Klaus K lein : Eine wiedergefundene Handschrift mit Laurin und Rosengarten. In: ZfdA 113 (1984), S. 214-228 u. 115 (1986), S. 49-78. <?page no="169"?> ca. 25 Handschriften, die ein oder mehrere Texte der Dietrichepik in mehr als fragmentarischer Form überliefern, enthalten lediglich sechs auch religiöse Literatur, 138 wobei indes keine - im Unterschied zu verschiedenen Handschriften mit deutschen Adaptationen französischer Heldenepik - ein bestimmtes Programm zu verfolgen scheint. Noch größere Differenzen in Bezug auf die Mitüberlieferung hagiographisch-geistlicher Texte ergeben sich zwischen deutschen Chanson de geste- Bearbeitungen und dem deutschen Artusroman. So ist etwa der in 15 Handschriften vollständig überlieferte Parzival, von dem man dies aufgrund der Thematik vielleicht noch am ehesten erwarten würde, bis auf den St. Galler Kodex 857 nie mit geistlich-religiöser Literatur kontextualisiert. 139 Und auch die 12 vollständigen Handschriften des Jüngeren Titurel sind bzw. waren früher nur einmal im Verbund mit geistlichen Texten überliefert. 140 Der Wigalois des Wirnt von Grafenberg steht in den 13 Handschriften, die vollständige längere oder kürzere Fassungen des Textes bieten, zwar einmal zusammen mit religiös gefärbter Literatur. 141 Der Wirnts Roman enthaltende Teil des fraglichen Kodex (Wien, ÖNB, Cod. 2881) war jedoch ursprünglich selbstständig und wurde erst im 16. Jahrhundert mit Hartmanns Gregorius und anderen Texten zusammengebunden. 142 Ebenso wurden die in 15 Handschriften enthaltenen Überlieferung 159 138 Es sind dies die bereits erwähnten Handschriften Biblioteka Jagiellonska Krakau, Berol. Ms. germ. 4 o 1497; Stadtbibl. Dessau, Hs Georg. 224 4 o ; Badische Landesbibl. Karlsruhe, Cod. Donaueschingen 74. Hinzu kommen noch drei Handschriften mit ganz eindeutigem Miszellaneencharakter. So enthält der Cod. 54 der Graf von Schönbornschen Schloßbibl. Pommersfelden neben Laurin und Rosengarten und Kleinepik wie Die halbe Birne, Der Schüler zu Paris, Minne und Trinker oder Das heiße Eisen des Stricker ebenfalls eine Marienlegende und Marien Rosenkranz. Ähnlich vergesellschaftet der Cod. 3007 der ÖNB Wien Laurin mit einer Sammlung pragmatischer und geistlicher Texte wie Rezepten, Gebeten, dem Wiener Osterspiel usw.; vgl. zum ‹Hausbuch›-Charakter dieser Handschrift auch Matthias M eyer : Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts. Heidelberg 1994 (GRM-Beiheft 12), S. 269. Und schließlich enthält auch der Cod. 83 der Domherrenbibliothek Zeitz außer dem Laurin eine lateinische Grammatik, einen Wund-, einen Blut- und einen Pfeilsegen sowie deutsche Erzählungen der Passion Christi. 139 Vgl. zur Parzivalüberlieferung Bernd S chirok : Parzivalrezeption im Mittelalter. Darmstadt 1982 (Erträge der Forschung 174), hier S. 30-56. 140 Eine Kurzfassung des Jüngeren Titurel bildete ursprünglich den Anfang des in der Sächsischen Landesbibl. Dresden liegenden Kodex Ms. M 42, der u. a. auch Strickers Karl sowie die Zeno-Legende enthält; vgl. B ecker , Handschriften, S. 30 u. 136. 141 Zur Überlieferung dieses Romans vgl.: Wigalois der Ritter mit dem Rade von Wirnt von Gravenberc, hg. von J. M. N. Kapteyn. Bonn 1926 (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 9), S. 5*-66*; Heribert A. H ilgers : Materialien zur Überlieferung von Wirnts Wigalois. In: PBB 93 (Tüb. 1971), S. 228-288. 142 Vgl. Ulrich E rnst : Der Gregorius Hartmanns von Aue im Spiegel der handschriftlichen Überlieferung. Vom Nutzen der Kodikologie für die Literaturwissenschaft. In: Euphorion 90 (1996), S. 1-40, hier S. 18. <?page no="170"?> Fassungen von Hartmanns Iwein lediglich einmal in einem Miszellaneenkodex um später hinzugefügte geistliche Kleinepik ergänzt (sog. Windhagener Handschrift, Wien, ÖNB, Cod. 2779). 143 Der Erec 144 geht hingegen, ebenso wie die Krone 145 und die übrigen in mehr als fragmentarischer Form erhaltenen deutschen Artusromane von Daniel, 146 Wigamur, Gauriel, Garel, Tandareis und Flordibel und Meleranz nie eine Überlieferungssymbiose mit religiöser Literatur ein. Auch Gottfrieds Tristan wurde nie mit religiösen Texten vergesellschaftet. 147 Von den drei Handschriften, die Eilharts Tristrant überliefern, enthält eine ebenfalls die Zeno-Legende. 148 Zudem gehörten die Stargarder Fragmente des Tristrant zu einer Handschrift, die auch den Tobias des Pfaffen Lamprecht umfasste. 149 Insgesamt ist die Mitüberlieferung religiöser Literatur im Bereich des deutschsprachigen Artusromans allerdings eine zu vernachlässigende Größe. Ähnliches gilt für den Antikenroman, wo einzig einige der zahlreichen Alexanderdichtungen hin und wieder mit geistlichen oder heilsgeschichtlichen Texten vergesellschaftet sind, 150 ansonsten aber 160 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 143 Zur Iwein-Überlieferung vgl. B ecker , Handschriften, S. 54-58. 144 Zur Erec-Überlieferung vgl. die Einleitung in: Erec, von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente. Hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff. 7. Auflage besorgt von Kurt Gärtner. Tübingen 2006 (ATB 39), S. XI-XXIII. 145 Vgl. Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner (Hg.): Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 1-12281). Tübingen 2000 (ATB 112); Alfred Ebenbauer und Florian Kragl (Hg.): Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 12282-30042). Nach der Handschrift Cod. Pal. germ. 374 der Universitätsbibliothek Heidelberg. Tübingen 2005 (ATB 118). 146 Vgl. Der Stricker, Daniel von dem Blühenden Tal, hg. von Michael Resler. Tübingen 2 1995 (ATB 92), S. X-XIV. 147 Vgl. B ecker , Handschriften, S. 33-36; René W etzel : Die handschriftliche Überlieferung des «Tristan» Gottfrieds von Strassburg. Untersucht an ihren Fragmenten. Freiburg/ Schweiz 1992 (Germanistica Friburgensia 13). 148 Dresden, Landesbibl., Mscr. M 42; vgl. B ecker , Handschriften, S. 30-32. 149 Krakau, Bibl. Jagiellonska, Berol. mgq 1418; vgl. Eilhart von Oberg, Tristrant. Synoptischer Druck der ergänzten Fragmente mit der gesamten Parallelüberlieferung, hg. von Hadumod Bußmann. Tübingen 1969 (ATB 70), S. XXXIIf. 150 Mit geistlicher Literatur zusammen steht etwa der Alexander des Pfaffen Lambrecht in der berühmten Vorauer Handschrift (Vorau, Stiftsbibl., Cod. 276; vgl. dazu Klaus G rub müller : Die Vorauer Handschrift und ihr Alexander. Die kodikologischen Befunde: Bestandsaufnahme und Kritik. In: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen, hg. von Jan Cölln, Susanne Friede und Hartmut Wulfram unter Mitarbeit von Ruth Finck [Veröffentlichung aus dem Göttinger SFB 529, Serie A Band 1]. Göttingen 2000, S. 208-221) sowie der Straßburger Alexander in der verbrannten Molsheimer Handschrift (Straßburg, Seminarbibl., Cod.C.V.16.6.4°). Meister Wichwolts Cronica Allexandri des grossen konigs ist drei Mal zusammen mit geistlichen Texten überliefert, allerdings scheint es sich meist um Miszellaneenhandschriften zu handeln (Gotha, Forschungsbibl., Cod. Chart. A 26; Köln, Hist. Archiv, Best. 7020 [W*]3; Dessau, Landesbibl., Hs Georg.229.8°), Hartliebs in insgesamt 20 Handschriften überlieferter Alexander steht einmal zusammen mit geistlichen <?page no="171"?> Eneas-, Troja- und Apolloniusromane keine Überlieferungsgemeinschaften mit religiös gefärbter Literatur bilden. Das gleiche gilt für sog. Spielmannsepen wie König Rother, Orendel, Oswald, Salman und Morolf oder Herzog Ernst; 151 und auch Minne- und Aventiureromane wie Reinfried von Braunschweig, Wilhelm von Österreich oder Friedrich von Schwaben sind niemals zusammen mit geistlichen oder hagiographischen Texten überliefert. 152 Hagiographische und geistliche Mitüberlieferung erweist sich im weiteren Umfeld der mittelalterlichen deutschen Großepik erzählenden Charakters somit als ein spezifisches Kennzeichen der deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen. Im europäischen Rahmen scheinen sich hingegen Analogien zu englischen und walisischen Chanson de geste-Bearbeitungen zu ergeben, die in den sie überliefernden Handschriften mitunter gleichfalls mit legendarischen und theologischen Texten vergesellschaftet sind. Dies markiert einen wichtigen Unterschied zu französischen Chansons de geste, die in ihrem Ursprungsraum, zweifellos aufgrund ihres Status als Heldenepik, keine geistlichen Texte anzogen. Eine weitere Besonderheit verbindet die deutschen (sowie weitere europäische) Chanson de geste-Adaptationen hingegen mit ihren französischen Pendants wie auch mit der deutschen Heldenepik: eine ausgesprochene Tendenz zur Zyklusbildung. Überlieferung 161 Texten, dem Etymachietraktat sowie einer Prosaübersetzung des Speculum humanae salvationis (New York, Pierpont Morgan Libr., MS M.782 [olim Maihingen, Fürstl. Öttingen-Wallersteiner Bibl., Cod. I.3.2° 6]). Die Kontextualisierungen des Alexanderstoffes mit geistlicher Literatur könnten sich der Nennung Alexanders in der Bibel (1 Makk 1,1-7) verdanken, die ihn zu einer (negativen) Figur der Heilsgeschichte werden ließ. 151 Hier kennen allein einige Handschriften des stark legendarischen Münchner Oswald (Innsbruck, Landesmuseum Ferdinandeum, Cod. 1114; Schaffhausen, Stadtbibl., Cod. Gen. 10) sowie ein den Prosa-Oswald enthaltender Kodex (Engelberg, Stiftsbibl., Cod. 240) hagiographische oder geistliche Mitüberlieferung. 152 Vgl. zu diesem Genre Klaus R idder : Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: ‹Reinfried von Braunschweig›, ‹Wilhelm von Österreich›, ‹Friedrich von Schwaben›. Berlin/ New York 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 12). <?page no="172"?> A.4 Erzählen im Zusammenhang: Zyklische Potenziale der deutschen Chanson de geste-Adaptationen Konsultiert man, zumal aus der Position eines Mediävisten, germanistische Handbücher oder Fachlexika, um sich über die Verwendung oder eine Definition des Begriffs ‹Zyklus› zu informieren, wird man enttäuscht. Falls überhaupt ein Eintrag unter dem Lemma ‹Zyklus› steht, fällt er entweder ausgesprochen knapp und allgemein aus, oder er behandelt vorwiegend lyrische Zyklen, also Gedichte, die von einem Autor oder Herausgeber in Form einer Gedichtsammlung veröffentlicht wurden. 1 Ebenfalls keinen hohen Stellenwert hat die Frage nach dem zyklischen Potenzial eines Textes in der germanistischen Mediävistik. Zwar ist das Phänomen zyklischer Texte, die insbesondere in der Heldendichtung begegnen, seit langem im Bewusstsein der Forschung, übergreifende Studien dazu fehlen jedoch. 2 In der romanistischen Mediävistik stellt sich die Situation seit jeher anders dar. Auslöser dafür dürfte wohl die mittelalterliche französische Literatur selbst gewesen sein. Bilden Chrétiens Artusromane noch jeweils eigenständige Werke, die allerdings durch teilweise identisches Personal sowie vergleichbare Motivkonstellationen gewisse Gemeinsamkeiten besitzen und häufig auch gemeinsam überliefert sind, formen andere Ausfaltungen des Artusstoffs einen wesentlich engeren Erzählverbund. Dazu gehört bereits die Insertion von Chrétiens Romanen in einige Handschriften des Brut von Wace, wo sie den historiographischen Text sinnvoll ergänzen, dazu zählt ebenso das Fort- und Ausschreiben von Chrétiens unvollendetem Perceval durch spätere Autoren. Von den bislang genannten, gleichsam Erzähllücken nachträglich schließenden Beispielen unterscheidet sich der im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts (1215-1230) in 162 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 1 Nicht verzeichnet ist der Begriff in: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen, hg. v. Günther und Irmgard S chweikle . Stuttgart 2 1990; Literaturwissenschaftliches Lexikon. Grundbegriffe der Germanistik, hg. von Horst B runner , Rainer M oritz . Berlin 2 2006. Gero von W ilpert : Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 7 1989, verzeichnet auf S. 1053 ‹Zyklus› immerhin als vorletzten Eintrag. Definiert wird ein ‹Zyklus› dort als Textsammlung, die «um einen Mittelpunkt» kreise, «der in keinem Teil vollständig anwesend ist, doch alle insgeheim miteinander verknüpft.» Sehr brauchbar ist eine solche subjektiv argumentierende Definition nicht unbedingt. Auch der von Claus-Michael O rt verfasste Artikel ‹Zyklus› im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. III, hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 899-901, hilft nicht viel weiter. Zwar erarbeitet er eine ausführliche Definition zyklischer Dichtung, allein - Definition wie Beispiele beziehen sich beinahe ausschließlich auf (neuzeitliche) Lyrik. 2 Nicht ohne Grund beklagen Sonja K erth und Elisabeth L ienert in einem Forschungsüberblick zur deutschen Heldenepik, dass Aspekte wie z. B. «Fragen [...] der Zyklusbildung und Intertextualität [...] kaum übergreifend diskutiert worden» seien; Sonja K erth , Elisabeth L ienert : Nachnibelungische Heldenepik: Forschungsstand und Forschungsaufgaben. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 12 (2000), S. 107-122, hier S. 117. Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption Zyklische Potenziale <?page no="173"?> Frankreich komponierte Prosa-Lancelot. Der, in einem zentralen Motiv (Liebe zwischen Ginover und Lancelot) wiederum auf einen Chrétien-Text (Chevalier de la charette) rekurrierende, allerdings gänzlich anders strukturierte Prosaroman scheint von Beginn an als summenhafter, im Endeffekt auf fünf Bücher (oder branches) erweiterter und dabei einigermaßen sorgfältig aufeinander abgestimmter Großtext angelegt gewesen zu sein, der das Schicksal des Grals und des damit eng verknüpften Artusimperiums von den frühesten Anfängen bis zum schließlichen Untergang schildert. 3 Bereits recht früh hatte Ferdinand Lot den ebenso komplizierten wie gelungenen Aufbau des Werks analysiert und beschrieben (u. a. genau aufeinander abgestimmte innere Chronologie; komplizierte Verschachtelung der Erzählstränge, sog. entrelacement). Angesichts dieser Leistung des Autors bzw. Redaktors des Lancelot- oder auch Vulgata-Zyklus verlor der Begriff des Zyklus jeglichen auch nur latent negativen Beigeschmack und wurde in der Romanistik zu einer eindeutig positiven Kategorie. 4 Neben dem Prosa-Lancelot konnte daher auch bald der ähnlich organisierte Prosa-Tristan (ca. 1230/ 1250) ins Blickfeld der Forschung rücken. 5 Außer dem zyklischen Aufbau der umfangreichen arthurischen Prosaromane wurde zugleich die (zyklische) Struktur erzählender Texte aus anderen Stoffbereichen untersucht. So etwa die Erzähllogik des zwischen ca. 1170 und 1250 in mehreren Phasen von diversen Autoren komponierten Roman de Renart, der allerdings keine geschlossene Erzählhandlung bietet, sondern sich aus einer Serie kleinerer Branchen zusammensetzt. Chronologische und handlungslogische Unschärfen innerhalb des durch seinen neuzeitlichen Titel eine nicht vorhandene Kohärenz und narrative Progression suggerierenden Roman de Renart, in dem die einzelnen Branchen in verschiedenen Handschriften unterschiedlich kombiniert werden können, sind nicht ungewöhnlich. Im Hinblick auf Kohärenz und syntagmatische Verknüpfung der einzelnen Branchen bewegt sich der Wilhelms-Zyklus, der bekannteste Zyklus der französischen Heldenepik, zwischen dem nur locker gefügten Roman de Renart und dem kunstvoll gebauten Prosa-Lancelot. Zu der im Girart de Vienne als geste de Garin de Monglane bezeichneten Epenreihe um Guillaume d’Orange und seine Sippe rechnet die Forschung insgesamt 24 Branchen, die aber in keiner der zahlreichen Handschriften, die die entsprechenden Erzählungen tradieren, vollständig versammelt sind. 6 Um den sogenannten ‹eigentli- Zyklische Potenziale 163 3 1. L'Estoire del Saint Graal, 2. L'Estoire de Merlin, 3. Lancelot propre, 4. La Queste del Saint Graal, 5. La Mort Artu. 4 Vgl. Ferdinand L ot : Étude sur le Lancelot en prose. Paris 1918; Jean F rappier : Les chansons de geste du cycle de Guillaume d’Orange, 2 Bde. Paris 1955, 1965; Cedric Edward P ickford : L’évolution du roman arthurien en prose vers la fin du moyen âge d’après le manuscrit 112 du fonds français de la Bibliothèque Nationale. Paris 1959. 5 Vgl. v. a. Emanuelle B aumgartner : Le ‹Tristan en Prose›. Essai d’interprétation d’un roman médiéval. Genève 1975. 6 Vgl. zum Folgenden F rappier , Les chansons, Bd. 1, und T yssens , La Geste de Guillaume. Zum Wilhelmszyklus werden die folgenden Epen gezählt (wobei die Reihenfolge der <?page no="174"?> chen Wilhelms- Zyklus›, der aus bis zu zehn Epen bestehen kann, die, beginnend mit den ersten, in den Enfances Guillaume geschilderten Taten des Sarazenenbezwingers bis zu dessen im Moniage Guillaume beschriebenen Tod, zusammen eine poetische Biographie Guillaumes d’Orange formen, gruppieren andere Handschriften zusätzlich noch Epen um Guillaumes Vorfahren (beginnend mit dem Urgroßvater Garin de Monglane) 7 sowie Guillaumes Brüder, seine Verwandten und deren Nachkommen (der sogenannte große Zyklus). Dieser in insgesamt drei Handschriften erhaltene ‹große Zyklus› ist, trotz prinzipiell ähnlicher Struktur, jeweils anders realisiert worden. Keine Handschrift entspricht in der Anordnung der einzelnen Branchen einer anderen. So sind z. B. manche Branchen, etwa Renier oder die Prise de Cordres et de Sebille, nur in einer einzigen Handschrift des ‹großen Zyklus› überliefert, andere, wie Mort Aimeri, Foucon de Candie, Siège de Barbastre oder Guibert d’Andrenas, begegnen an unterschiedlicher Position innerhalb des jeweiligen Zyklus. Gewisse Probleme scheint es auch bereitet zu haben, dass die aus dem ‹eigentlichen Wilhelms-Zyklus› stammenden Enfances Guillaume einen etwas anderen Bericht von Wilhelms Jugendtaten geben als Les Narbonnais, die ursprünglich aus einer eigenen, von Wilhelms Vorfahren handelnden Erzählreihe, dem ‹Cycle d’Aimeri›, stammen. Die einzelnen Redaktoren des ‹großen 164 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption Erzählchronologie in den einzelnen Handschriften differiert; angelehnt ist die Aufzählung an die aus dem 14. Jahrhundert stammende, umfangreichste Handschrift des Wilhelms-Zyklus [London, BL Royal 20 D XI], die in ihr nicht enthaltenen Epen stehen in Klammern): (Enfances Garin); Garin de Monglane; Girart de Vienne; (Galien le Restoré); Aimeri de Narbonne; Les Narbonnais; Enfances Guillaume; Couronnement de Louis; Charroi de Nîmes; Prise d’Orange; (Prise de Cordres et de Sebille); Enfances Vivien; Chevalerie Vivien; Aliscans; Bataille Loquifer; Moniage Rainouart; (Renier); (Moniage Guillaume I); Moniage Guillaume II; Siège de Barbastre; (Bueve de Commarchais); Guibert d’Andrenas; Mort Aimeri; Foucon de Candie. Hinzu kommt die Chanson de Guillaume, die lediglich in einer unzyklischen, wohl in England entstandenen Handschrift aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts überliefert ist (London, BL Add. 38663) und eine frühe, aus der Mitte des 12. Jahrhunderts stammende Fassung der in den zyklischen Handschriften durch Chevalerie Vivien und Aliscans abgedeckten Ereignisse repräsentiert; Inhaltszusammenfassungen der einzelnen Epen bei H ennings , Französische Heldenepik, S. 67-87. Vgl. zum französischen Wilhelmszyklus ebenfalls Andrea F asso (Hg.): La Chanson de Geste e il cicolo di Guglielmo d’Orange. Atti del Convegno di Bologna 7-9 ottobre 1996. Rom 1997 (Medioevo Romanzo 21); Laurent M acé (Hg.): Les Guillaume d’Orange. Entre histoire et épopée (IX e -XIII e siècles). Toulouse 2006; B ennett , Cycle of Guillaume d’Orange; ders. , Carnaval héroïque; B umke , Wolfram von Eschenbach, S. 380-384; Jürgen W olf : Wolframs ‹Willehalm› zwischen höfischer Literatur und Memorialkultur. In: Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters, hg. von Ulrich Ernst und Klaus Ridder. Köln usw. 2003, S. 223-256, hier S. 225-229; B usby , Codex, S. 382-396. 7 Einige Handschriften (London, BL Royal 20 B XIX; BL Harleyan 1321; Paris, Bibliothèque Nationale, nouvelles acquisitions fr. 6298) enthalten nur den um die Vorfahren Guillaumes zentrierten Zyklus, den ‹Cycle d’Aimeri›; vgl. dazu F rappier , Les chansons, S. 44. <?page no="175"?> Zyklus› reagierten auf diese Problematik zwar in ähnlicher Weise, im Detail jedoch durch unterschiedliche Bearbeitung der Vorlagen. So wurde Les Narbonnais in Handschrift B 1 und B 2 aufgespalten und die Enfances Guillaume in die so entstandene Lücke eingeschoben, wobei zudem noch Harmonisierungen vorgenommen wurden. Nur der Redaktor von B 2 ging in gleicher Weise mit den ursprünglich ebenfalls aus dem ‹Cycle d’Aimeri› stammenden Branchen Siège de Barbastre und Guibert d’Andrenas vor, die er zwischen dem Beginn der Enfances Vivien und deren Ende einschob, sowie mit der Branche Mort Aimeri, die zwischen dem Beginn und dem Ende des Moniage Rainouart platziert wurde. Der Redaktor von B 1 stellte hingegen alle drei genannten Branchen aus dem ‹Cycle d’Aimeri› an das Ende seines Zyklus, der dadurch, im Unterschied zu allen anderen Handschriften sowohl des ‹eigentlichen› wie des ‹großen› Wilhelms-Zyklus, nicht mit dem im Moniage Guillaume geschilderten Tod Wilhelms endet. Bei aller Varianz der vom Aufbau sowie vom Umfang her zum Teil nicht unerheblich differierenden Handschriften des französischen Wilhelms-Zyklus gibt es indes eine Gemeinsamkeit: Die Chanson d’Aliscans, die das Herzstück aller Chansons de geste um Guillaume d’Orange bildet, und in der neueren Forschung als eine speziell für die zyklischen Handschriften der Wilhelmsgeste angefertigte Bearbeitung der älteren, unzyklischen Chanson de Guillaume gilt, 8 fehlt als einzige Branche in keiner der verschiedenen Handschriften. Im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses am französischen Wilhelms-Zyklus hatte lange, analog zum generellen Forschungsblick auf die französische Heldenepik, die Frage nach der Genese gestanden, in letzter Konsequenz also die Suche nach der ältesten Fassung, dem ‹Urlied› der Wil- Zyklische Potenziale 165 8 Vgl. Nelly A ndrieux -R eix : Au cœur du cycle. In: Comprendre et aimer la chanson de geste (Á propos d’Aliscans), hg. von Michèle Gally. Fontenay-St. Cloud 1994, S. 13-25. Nur einmal wird Aliscans nicht im zyklischen Zusammenhang, sondern als Einzelhandschrift überliefert (Venedig, Biblioteca Marciana, Cod. fr. VIII [= Hs M]). Auch diese Handschrift weist allerdings zu Beginn und am Schluss die Kennzeichen einer Anpassung an den Zyklus auf; vgl. dazu sowie zur Auseinandersetzung mit der fälschlichen Annahme, dass die Fassung der französischen Handschrift M Wolframs Willehalm besonders nahe stehe, B umke , Wolfram von Eschenbach, S. 384-388; vgl. dagegen H en nings , Französische Heldenepik, S. 158f., die ihre Argumentation allerdings wesentlich darauf stützt, dass Hs M «nur die mittelbare oder unmittelbare Nachschrift eines mündlichen Vortrags» sei. Es wird jedoch nicht diskutiert, welche Funktion in einer solchen ‹Nachschrift›, die H ennings sich aus produktionstechnischen Gründen als Diktat oder Gedächtnisprotokoll und nicht als wörtliche Mitschrift etwa auf Wachstafeln vorstellt (vgl. ebd., S. 9f.), für die Rezipienten der buchepischen Umsetzung ganz überflüssige, okkasionelle Jongleurbemerkungen des Typs Cum vos orez, si n’i faylent diner, de Renoard qi ocist Loqefer (Wie ihr hören werdet von Rainouart, der Loquifer tötete - falls es dabei nicht an Bezahlung mangelt; vgl. ebd., S. 159) gehabt haben sollen. Meines Erachtens konnten sie nur dazu dienen, die in einem Buch nicht umzusetzende körpergebundene Mündlichkeit gezielt in den schriftlichen Textkörper hineinzuholen, sie also zu fingieren und zugleich die buchepische Fassung mit Authentizität aufzuladen. <?page no="176"?> helmsgeste. Unterschiedliche Hypothesen über Zeitpunkt und Gründe der Niederschrift der diversen Wilhelmsepen in teilweise voluminösen Handschriften, über die Schaffung zyklischer Kerne, die sich daran anschließende Anlagerung weiterer Kerne und schließlich die Ergänzung um Sprossepen wurden erwogen und wieder verworfen, ohne dass man zu einer allgemein akzeptierten Lösung gelangt wäre. 9 Diese Konzentration auf die diachrone Entwicklung des Wilhelms-Zyklus ist erst spät durch einen an synchronen Fragestellungen orientierten Untersuchungsansatz ergänzt worden. Nachdem zuerst Jean Frappier die Aufmerksamkeit wenigstens ansatzweise auf die differierenden Fassungen der Epen und auf die daraus resultierenden Konsequenzen für das Verständnis der jeweiligen Erzählreihen in den unterschiedlichen Handschriften gelenkt hatte, 10 versuchten, in Auseinandersetzung mit den wirkungsmächtigen Thesen Rychners, auch Maurice Delbouille und dessen Schülerin Madeleine Tyssens zu belegen, dass viele der überlieferten Chanson de geste-Handschriften nach schriftliterarischen Prinzipien von versierten Schreibern bzw. Redakteuren in Ateliers, in professionell arbeitenden Schreibstuben also, konzipiert, redigiert und aufgezeichnet wurden, während die zugrundeliegenden mündlichen Vorstufen für uns verloren und nicht mehr zu rekonstruieren seien. 11 Als exemplarisches Belegmaterial für diese These dienten Tyssens in ihrer monumentalen Untersuchung dabei eben die umfangreichen Codices, in denen die diversen Epen um Guillaume d’Orange zu ausgreifenden Zyklen zusammengestellt wurden. Bestimmte, in diesen Texten begegnende Erzähltechniken, wie z. B. Vor- und Rückverweise, Harmonisierungen oder auch verbindende Übergänge zwischen den einzelnen Branchen, führte sie dabei zur Unterstützung ihrer These einer schriftliterarischen Konzeption der den Wilhelms-Zyklus überliefernden Handschriften ins Feld. 12 Unter rezeptionstheoretischen Auspizien und unter Einschluss 166 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 9 Vgl. etwa B édier , Les Légendes Épiques; Philipp August B ecker : Das Werden der Wilhelm- und der Aimerigeste. Versuch einer neuen Lösung. Leipzig 1939 (Abhandlungen der philologisch-historischen Klasse der sächsischen Akademie der Wissenschaften 44, Nr. 1); F rappier, Les chansons, Bd. 1 und 2. 10 Vgl. F rappier , Les chansons, Bd. 1, S. 55-64. 11 Vgl. D elbouille, Les chansons de geste; ders ., Dans un atelier de copistes; M. T yssens , La Geste de Guillaume d’Orange. Zur zyklischen Konzeption des Wilhelmszyklus vgl. auch Madeleine T yssens : Aspects de l’Intertextualité dans la Geste des Narbonnais. In: Andrea Fasso (Hg.): La Chanson de Geste e il cicolo di Guglielmo d’Orange. Atti del Convegno di Bologna 7-9 ottobre 1996. Rom 1997 (Medioevo Romanzo 21), S. 163-183. 12 Während T yssens an der Vorstellung festhält, trotz der prinzipiell schriftliterarischen Konzeption verweise der formelhafte, mündliche Stil der Wilhelmsepen in den zyklischen Handschriften darauf, dass sie (auch) für einen mündlichen Vortrag (sei es durch einen Jongleur, sei es durch einen Vorleser) gedacht gewesen seien, betont Peter F. D em bowski - mit dem Hinweis auf frühe altfranzösische Chroniken, die den gleichen Stil pflegen - in einer wichtigen Rezension zu T yssens ’ Studie die genuine Literarizität auch dieses scheinbar mündlichen Stils, der keine direkten Rückschlüsse auf die Rezeptionsweise erlaube; vgl. D embowski , Old French Epic. <?page no="177"?> neuerer narratologischer Überlegungen wurden diese Überlegungen aufgenommen und fortgesetzt durch Ph. Bennett. 13 Diese langwierige Diskussion um französische Erzählzyklen, die sich, oft mehr oder weniger deutlich aus diachroner Perspektive, sowohl auf die Analyse der verschiedenen Lancelot- und Tristanzyklen, die Untersuchung der Erzählreihe des Roman de Renart als auch auf die Erforschung verschiedener Chanson de geste-Zyklen 14 erstreckte, wird mittlerweile ergänzt durch eine neue Forschungsdebatte. Denn die Beschäftigung mit der kompilatorischen bzw. zyklischen Konzeption von Codices, die eine ganze Anzahl von zuweilen recht unterschiedlichen Texten versammeln, ist, teilweise unter dem Einfluss der New bzw. Material Philology, zu einem wichtigen Forschungsparadigma vor allem in der (amerikanischen) Romanistik geworden. 15 Wie schon die ältere Zyklusforschung, konzentrierten sich ebenfalls die Vertreter des neueren Forschungsansatzes zunächst insbesondere auf Handschriften, die Texte der matière de Bretagne enthalten. Dabei interessiert freilich weniger die Genese einer Erzählreihe, die neuen Studien fragen vielmehr nach der spezifi- Zyklische Potenziale 167 13 Vgl. B ennett , Carnaval héroïque, bes. S. 313-388. 14 Vgl. etwa die aus traditionalistischer Perspektive geschriebenen Arbeiten von H eintze, König; ders .: Einleitung. In: Wilhelmsepen. München 1993 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 22), S. 1-130; ders .: Les techniques de la formation de cycles dans les chansons de geste. In: Cyclification. The Development of Narrative Cycles in the Chansons de Geste and the Arthurian Romances, hg. von B. Besamusca u. a. Amsterdam usw. 1994, S. 21-58; Philippe V erelst : Le cycle de ‹Renaut de Montauban›: aperçu général et réflexions sur sa constitution. In: Cyclification, S. 165- 170; A iles, Observations; Geert H. M. C laassens : The Cycle de la Croisade: Vernacular Historiography. In: Cyclification, S. 184-188; Robert F. C ook : Expansion and Remaniement in Epic Cycles: The Case of the Old French Crusade Cycle. In: Cyclification, S. 189-190. 15 Von der Analyse eindeutig zyklischer, d. h. durch bestimmte Kriterien (s. u.) gekennzeichneter Manuskripte zu unterscheiden ist die Erforschung der Vergesellschaftungsprinzipien in Handschriften, die teilweise recht unterschiedliche, allerdings um eine gemeinsame Thematik konzentrierte Texte umfassen. Einen relativ lockeren Verbund von Texten verschiedener Provenienz, die aber, im Unterschied zu einer Miszellaneen- Handschrift, dennoch durch einen Redaktor nach einer übergreifenden Leitidee versammelt wurden, bezeichnet P. G ehrke als ‹Dossier› (s. S. 154, Anm. 121). Ein solches Dossier wäre demnach z. B. die aus dem 12. Jahrhundert stammende Vorauer Handschrift; vgl. dazu G rubmüller , Vorauer Handschrift; Stephan M üller : Willkomm und Abschied. Zum problematischen Verhältnis von ‹Entstehung› und ‹Überlieferung› der deutschen Literatur des Mittelalters am Beispiel von «Ezzolied», «himelrîche» und «Vorauer Handschrift». In: ZfdPh 122 (2003), Sonderheft Regionale Literaturgeschichtsschreibung, S. 230-245, bes. S. 241-243; J. W olf , Buch, S. 210f. Diese Codices eher kompilatorischen Charakters werden im Rahmen des vorliegenden, die Zyklizität in Chansons de geste behandelnden Kapitels nicht näher untersucht; vgl. zu dieser Forschungsrichtung auch Sylvia H uot : From Song to Book. The Poetics of Writing in Old French Lyric and Lyrical Narrative Poetry. Ithaca and London 1987; G ehrke, Saints and Scribes; Stephen G. N ichols , Siegfried W enzel (Hg.): The Whole Book. Cultural Perspectives on the Medieval Miscellany. Ann Arbor 1996. <?page no="178"?> schen Funktion einer mehrere Texte vereinigenden Handschrift und richten ihr Augenmerk verstärkt auf eine theoretische Reflexion der narratologischen Voraussetzungen und Bedingungen zyklischen Erzählens. 16 Eine vorläufige Summe dieser Ergebnisse findet sich in Busbys umfassender Studie ‹Codex and Context›. 17 Auch in anderen mediävistischen Disziplinen ist die Zyklizitätsforschung in den letzten 10 bis 15 Jahren wesentlich vorangetrieben worden. In besonderem Maße gilt dies für die Mittelniederlandistik, in der kodikologischer Aufbau, narrative Struktur und Funktion der mndl. Lancelot-Kompilation - eines auf dem französischen Prosa-Lancelot basierenden Zyklus, in den sieben ursprünglich selbstständige niederländische Artusromane integriert sind - aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet wurden. 18 Als wichtig für das Verständnis einer zyklischen Anordnung unterschiedlicher Texte der französischen Heldenepik hat sich ebenfalls die Analyse der altnordischen Karlamagnús saga erwiesen, einer durch den norwegischen König Hakon Hakonarson (1217-1263) angeregten Übersetzung französischer Chansons de geste, die zu einem aus zehn Teilen bestehenden, an der poetischen Biographie Karls des Großen orientierten Zyklus vereinigt wurden. Die Karlamagnús saga war im gesamten skandinavischen Raum verbreitet und wurde mehrfach überarbeitet (noch um 1700 wurde sie auf Island abgeschrieben), was u. a. auch Auswirkungen auf die zyklische Struktur der so entstandenen Handschriften hatte. 19 168 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 16 Vgl. etwa Lori W alters : Le Rôle du scribe dans l’organisation des manuscrits des romans de Chrétien de Troyes. In: Romania 106 (1985), S. 303-325; dies .: Manuscript Compilations of Verse Romances. In: Glyn S. Burgess, Karen Pratt (Hg.): The Arthur of the French. The Arthurian Legend in Medieval French and Occitan Literature. Cardiff 2006 (Arthurian Literature in The Middle Ages IV), S. 461-487; Jane H. M. T aylor : The Fourteenth Century: Context, Text and Intertext. In: The Legacy of Chrétien de Troyes, hg. von Norris J. Lacy u. a., Vol. I. Amsterdam 1987, S. 267-332; dies .: Arthurian Cyclicity: the Construction of History in the Late French Prose Romances. In: Arthurian Yearbook 2 (1992), S. 209-223; Lori W alters : The formation of a Gauvain Cycle in Chantilly Manuscript 472. In: Neophilologus 78 (1994), S. 29-43; vgl. auch die Beiträge in den dieser Thematik gewidmeten Sammelbänden: Cyclification. The Development of Narrative Cycles in the Chansons de Geste and the Arthurian Romances, hg. von B. B esa musca u. a. Amsterdam usw. 1994; Transtextualities. Of Cycles and Cyclicity in Medieval French Literature, hg. von Sara S turm -M addox, Donald M addox . Binghamton, New York 1996 (Medieval & Renaissance Texts & Studies 149); speziell zu den französischen Chansons de geste vgl. Robert F. C ook : Unity and Esthetics of the Late Chansons de geste. In: Olifant 11 (1986), S. 103-114; Catherine M. J ones : «La Tresse»: Interlace in the chanson de geste. In: French Forum 15 (1990), S. 261-275; A ndrieux -R eix , Au cœur du cycle; Sylvia H uot : The Manuscript Context of Medieval Romance. In: Roberta L. Krueger (Hg.): The Cambridge Companion to Medieval Romance. Cambridge 2000, S. 60-77. 17 Vgl. B usby , Codex, S. 367-484. 18 Vgl. dazu Bart B esamusca : The Book of Lancelot. The Middle Dutch Lancelot compilation and the medieval tradition of narrative cycles. Woodbridge 2003 (Arthurian Studies 53). 19 Vgl. etwa K jaer , Karlamagnus saga; zur zyklischen Struktur der verschiedenen Fassungen vgl. insbesondere S kårup , Un cycle; vgl. ebenfalls K ramarz- B ein . <?page no="179"?> In der germanistischen Mediävistik sind Fragen, die den zyklischen Aufbau von Handschriften betreffen, bislang noch weniger intensiv behandelt worden, wie dies auch die nicht sehr zahlreichen germanistischen Beiträge in den Tagungsakten eines vor einigen Jahren veranstalteten Symposions über Phänomene der ‹cyclification› in mittelalterlicher Erzähldichtung verdeutlichen. 20 Zurückzuführen sein dürfte dies nicht zuletzt darauf, dass vollständig oder doch in großen Teilen erhaltene Zyklus-Handschriften, an denen die entsprechenden Probleme einzig erörtert werden können, im deutschsprachigen Literaturraum erst relativ spät begegnen. So hat etwa Heinrich, der deutsche Bearbeiter des aus mehreren Branchen komponierten Roman de Renart, seine französische Vorlage in der um 1170/ 90 entstandenen deutschsprachigen Adaptation vollständig entzyklisiert und einen fortlaufenden Text erzeugt, dem man die ursprüngliche Unterteilung kaum noch anmerkt. Zwar deutet einiges darauf hin, dass der in Frankreich entstandene Lancelot-Zyklus, wenn auch nicht mit sämtlichen Branchen, noch im 13. Jahrhundert (nach niederländischen und/ oder französischen Quellen) ins Deutsche übertragen wurde, erhalten haben sich jedoch lediglich Fragmente dieser frühen Rezeptionsstufe. Einigermaßen vollständig überliefert sind deutsche Lancelot-Zyklen erst aus dem 15. und 16. Jahrhundert. 21 Die erste deutsche Bearbeitung der Artus/ Gral- Zyklische Potenziale 169 20 Als Quintessenz der dort gehaltenen Vorträge ergibt sich, dass ambitionierte Erzählzyklen in den deutschsprachigen Literaturen zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert - wenn überhaupt - nur ansatzweise existiert hätten. Der prononcierteste eigenständige deutsche Zyklus wäre demnach noch die, unter dem Thema der negativen Auswirkungen von Liebe zu fassende, Verbindung von Jüngerem Titurel und Parzival gewesen, eine Verbindung, die de facto freilich nur ein einziges Mal in einer Handschrift realisiert wurde (vgl. Volker M ertens: Wolframs Gralerzählungen: «Dekonstruktion» von Sinn. In: Cyclification, S. 215-218.). Mit der ebenfalls thematisch begründeten zyklischen Zusammengehörigkeit des Prosa-Lancelot setzte W. H aug sich auseinander. Ihm zufolge erweist sich die Zyklizität der deutschen Prosafassung nicht als eine originäre, sondern als eine direkt auf der französischen Vorlage basierende (vgl. Walter H aug: Versuch über die zyklische Idee des Prosa-Lancelot. In: Cyclification, S. 210-214.). Allen übrigen auf jenem Kongress behandelten deutschsprachigen Texten wird eine zyklische Struktur entweder nur in Ansätzen zugestanden, so etwa den Dietrichepen (vgl. Matthias M eyer: Die aventiurehafte Dietrichepik als Zyklus. In: Cyclification, S. 158-164) oder Fuetrers Buch der Abenteuer (vgl. Rudolf V o ß : Werkkontinuum und Diskontinuität des Einzelwerks - zum Ensemble von Ulrich Füetrers Buch der Abenteuer. In: Cyclification, S. 221-227) oder, wie der Karlmeinet-Kompilation, mehr oder weniger verklausuliert abgesprochen (vgl. B eckers, ‹Karlmeinet›-Kompilation; Z andt ). 21 Vgl. den im Heidelberger cpg 147 (um 1430) enthaltenen Prosa-Lancelot sowie Fuetrers wohl darauf beruhende Kurzfassung (Lantzilet, 1470/ 75) und die strophische Fassung des gleichen Stoffs (Lannzilet, 1487/ 88-1491/ 95), die zugleich den dritten Teil des Buchs der Abenteuer bildet. Zu den Quellen des Prosa-Lancelot vgl. Thordis H ennings : Altfranzösischer und mittelhochdeutscher Prosa-Lancelot. Übersetzungs- und quellenkritische Studien. Heidelberg 2001. Einen guten Überblick über die mhd. Prosa-Lancelot Tradition bietet Katja R othstein : Der mittelhochdeutsche Prosa-Lancelot. Eine entstehungs- und überlieferungsgeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichti- <?page no="180"?> Thematik, an der zyklisches Erzählen studiert werden könnte, stellt demnach der um 1330/ 35 geschriebene Rappoltsteiner Parzifal dar, eine aus Wolframs Parzival und der Übersetzung französischer Perceval-Fortsetzungen komponierte Erzählsumme. 22 Doch auch der Rappoltsteiner Parzifal ist im Hinblick auf das ihm inhärente zyklische Potenzial noch nicht systematisch untersucht worden. Analog zur deutschsprachigen Artus- und Gralliteratur gestaltet sich die Situation für die deutsche Heldenepik. Nur aus Fragmenten lässt sich die Existenz eines Unternehmens erschließen, das den ‹Heldenbüchern› aus dem 15. Jahrhundert und den ‹Heldenbuch›-Drucken aus dem 16. Jahrhundert geähnelt haben könnte. 23 Genauere Untersuchungen über eine eventuelle zyklische Struktur dieser ‹Heldenbuch›-Handschrift aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts können aufgrund der rudimentären Überlieferung jedoch nicht angestellt werden. In den Handschriften, in denen mehrere (fast) vollständig erhaltene Dietrichepen zusammengestellt sind, ist eine zyklische Organisation jedenfalls nur in wenigen Ausnahmefällen zu erkennen. 24 Meist lassen sich aber keinerlei zyklische Bezüge der Texte untereinander oder auch nur übergreifende Organisationsprinzipien ausmachen: «Der Stoffkreis um Dietrich von Bern hat zwar relativ viele Texte hervorgebracht, aber zu einer Zyklusbildung, die derjenigen in der französischen Heldenepik auch nur annähernd vergleichbar wäre, ist es nicht gekommen.» 25 170 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption gung der Handschrift MS. allem. 8017-8020. Frankfurt/ M. 2007 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 15); vgl. auch: Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext, hg. von Klaus Ridder und Christoph Huber. Tübingen 2007. 22 Vgl. Dorothee W ittmann -K lemm: Studien zum ‹Rappoltsteiner Parzifal›. Göppingen 1977 (GAG 224); B umke, Autor; Bernd B astert : Late medieval summations: Rappoltsteiner Parzifal and Ulrich Füetrer’s Buch der Abenteuer. In: The Arthur of the Germans. The Arthurian Legend in Medieval German and Dutch Literature. Ed. by W. H. Jackson and S. A. Ranawake. Cardiff 2000 (Arthurian Literature in the Middle Ages III), S. 166-180. 23 Vgl. H einzle, Einführung, S. 43-45, ders ., Art. Heldenbücher. In: VL 2 3, Sp. 947-956. 24 Eine beinahe singuläre Ausnahme bildet der ältere Sigenot (S 1 ), der in der um 1300 entstandenen Karlsruher Handschrift (Bad. Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 74) als Vorgeschichte des Eckenliedes fungiert, und zu diesem Zweck offenbar den Prinzipien zyklischer Handschriften entsprechend bearbeitet wurde. So findet sich etwa am Ende des Sigenot ein, den typischen ‹signaux cycliques entre les textes› (zum Terminus s. S. 173) entsprechender, Verweis auf das Eckenlied; vgl. H einzle , Dietrichepik, S. 227-230; ders. , Einführung, S. 132f. 25 H einzle , Dietrichepik, S. 225. Vgl. generell zum Problem zyklischer Tendenzen in der Dietrichepik ebd., S. 225-230. Vgl. ebenfalls M eyer , Aventiurehafte Dietrichepik. Die von M eyer angebotene Erklärung für die unterbliebene zyklische Ausgestaltung der Dietrichepik - das geringe Alter und die daraus resultierende geringere Dignität der schriftliterarischen Existenz der Gattung (ebd., S. 163) - wäre zu überprüfen angesichts des Faktums, dass für die französische Heldenepik, in der es zu ausgeprägter Zyklusbildung kam, keine prinzipiell anderen Bedingungen gelten. <?page no="181"?> Eine ähnliche Einschätzung, wie J. Heinzle sie hier mit Blick auf die eher schwach ausgeprägten zyklischen Strukturen für die Dietrichepik getroffen hat, scheint, glaubt man den bisher vorliegenden Forschungsergebnissen (s. u.), ebenfalls auf die meisten deutschen Adaptationen der französischen Heldenepik übertragbar. Allerdings ist das zyklische Potenzial der in drei Wellen deutscher Chanson de geste-Rezeption entstandenen Texte niemals systematisch ausgewertet worden. Nur selten wurde die Einbettung in einen umfassenden Erzählkontext für die Interpretation der deutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik fruchtbar gemacht. Geradezu als Musterbeispiel für diese Ausblendung der narrativen Umgebung kann die Willehalm-Trilogie gelten. Konzentriert hat man sich sehr lange auf den Mittelteil des in der Mehrzahl der Handschriften einen stabilen Überlieferungsverband bildenden Komplexes, auf Wolframs Willehalm, während die Arabel erst in jüngster Zeit etwas mehr Beachtung fand, der Rennewart hingegen noch kaum. Und ebenso wenig war nur selten die Trilogie als Ganzes Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. In diesem speziellen Fall hat ohne Zweifel die Hochschätzung des ‹kanonischen› Autors Wolfram von Eschenbach und die daraus resultierende Konzentration auf dessen Œuvre wesentlich dazu beigetragen, eine eingehendere Erforschung der Willehalm-Ergänzungen zu verhindern. Neben der Fixierung auf eine überragende Autorgestalt lassen sich noch weitere Ursachen benennen für die forschungsgeschichtliche Ignorierung des übergreifenden Narrationszusammenhangs der in einigen Fällen anonym überlieferten deutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik. Analog zum überragenden Interesse an einem Text der Willehalm-Trilogie dominiert ebenfalls bei der Erforschung der Karlmeinet-Kompilation eine einzelne Erzählpartie, die anderen Teile der Kompilation werden dagegen weitgehend ausgeblendet. Während aus germanistischer Perspektive vor allem der Rolandslied-Teil der Kompilation analysiert wurde, stößt in der Niederlandistik allein der Karel ende Elegast-Teil auf Interesse. An der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung lässt sich sehr gut ablesen, welche Mechanismen für die Fokussierung der jeweiligen Philologien verantwortlich waren und sind - und somit zugleich die Konzentration auf den übergreifenden Narrationszusammenhang verhindern. Karel ende Elegast gilt als eine der nicht eben zahlreichen genuinen niederländischen Dichtungen des Mittelalters, zugleich als einer der wichtigsten mittelniederländischen Texte überhaupt. Die Bevorzugung des Karel ende Elegast-Teils der Karlmeinet-Kompilation resultiert folglich aus dem Interesse an einem ‹Gründungsdokument› der niederländischen Literatur. Die germanistische Konzentration auf den Rolandslied-Teil dürfte auf einem ganz ähnlichen Grund basieren, ist doch das Rolandslied nicht nur der einzige Text der Kompilation, der zum mittelhochdeutschen Literaturkanon gehört, sondern überdies auch einer der frühen volkssprachigen Texte des hohen Mittelalters in Deutschland. Nicht die Fixierung auf einen als kanonisch geltenden Autor, sondern das Interesse an kanonischen Texten ist im Fall der Karlmeinet- Zyklische Potenziale 171 <?page no="182"?> Kompilation also verantwortlich dafür, dass nur Ausschnitte der Gesamterzählung in den Blick kamen und kommen. Wieder andere Ursachen hat die langjährige Forschungskonzentration auf bestimmte Texte der im 15. Jahrhundert im Umkreis des Saarbrücker bzw. Heidelberger Hofs rezipierten Chanson de geste-Umsetzungen, obwohl auch diese Beispiele der deutschen Rezeption französischer Heldenepik teilweise als mehrere Texte umfassende Erzählverbünde überliefert sind. Dass über viele Jahre aus dem Werkzusammenhang der Saarbrücker Texte lediglich der Huge Scheppel und aus dem der Heidelberger nur der Reinolt von Montelban untersucht wurden, dürfte wesentlich mit der lange Zeit völlig desolaten Editionslage zusammenhängen, die eben nur diese beiden Texte zugänglich machte. Aus sehr unterschiedlichen Gründen wurden also die im Mittelalter oft im Zusammenhang größerer Erzähleinheiten rezipierten deutschen Chanson de geste-Adaptationen von der Forschung vielfach nicht in ihrem überlieferungsgeschichtlichen Narrationskontext, sondern als separate Gebilde behandelt. Die Problematik einer solchen ‹monadischen› Sichtweise liegt auf der Hand, ist bislang aber nur vereinzelt thematisiert worden. Die Zyklizität der deutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik spielte dabei freilich nur eine untergeordnete Rolle. Die mangelnde Beschäftigung mit der zyklischen Struktur der entsprechenden Handschriften hängt zweifellos auch zusammen mit dem Fehlen einer genauen Beschreibung dessen, was unter Zyklus und den davon abgeleiteten Begriffen Zyklizität und Zyklifikation zu verstehen ist. Der Terminus Zyklus kann, wie sich gerade am Beispiel der Chanson de geste demonstrieren lässt, für Verschiedenes stehen. Zunächst einmal bedeutet er in einem eher abstrakten Sinn den Konnex einzelner Texte mit ähnlichem thematischen und stofflichen Schwerpunkt. Im Deutschen wird dieser Sachverhalt oft durch Bezeichnungen wie Kreis (Liedkreis) oder Ring (Ring des Nibelungen) ausgedrückt. Auf die Chansons de geste übertragen meint Zyklus dann die textübergreifende, gemeinsame Thematik der von der Forschung der Empörer-, Wilhelm- oder der Karlgeste zugerechneten Epen. Der (zu) hohe Abstraktionsgrad eines so verstandenen Zyklusbegriffs erhellt u. a. daraus, dass, wie G. Paris und andere dies für den ‹cycle du roi› unternahmen, die einzelnen Texte, v. a. im Bereich der Karl- und der Empörergeste, lediglich hypothetisch miteinander verbunden werden, ungeachtet dessen, ob sie jemals wirklich einen Überlieferungsverband in mittelalterlichen Handschriften bildeten. Ein solches Verfahren hat durchaus seine heuristische Berechtigung, da es bereits eine wichtige Erkenntnis an sich darstellt, ein verbindendes Motiv- und Themenpotenzial in Texten aufzuzeigen, die von verschiedenen Autoren in unterschiedlichen Epochen und teilweise in differierenden Sprachen verfasst worden sind. Problematisch erscheint es allerdings, aus bestimmten chronologischen oder handlungslogischen Widersprüchen von Texten, die jeweils in eigenen, in spezifischen Zusammenhängen angefertigten Handschriften stehen, auf Defizienzen innerhalb einer (hypothetischen) Reihe zu schließen, die dann entweder dem Autor des Einzeltexts zur Last gelegt oder durch das 172 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption <?page no="183"?> Postulat einer verlorenen Fassung, auf die er sich bezogen habe, zu beseitigen versucht werden. 26 Eine Hauptcrux des so verstandenen Zyklusbegriffs ist es demnach, die jeweilige Textgestalt, also die spezifische handschriftliche Überlieferung, zu wenig zu beachten. Genau hier setzt die moderne Zyklusforschung an, die die Textfassungen in den einzelnen Handschriften auf entsprechende zyklische Signale untersucht. In diesem engeren Sinn meint Zyklus folglich den in einem bestimmten Manuskript je neu sich konkretisierenden Zusammenhang mehrerer Texte, die nach unterschiedlichen Prinzipien organisiert sein können. Als ausgesprochen hilfreich zur Abgrenzung zyklisch organisierter Handschriften von Manuskripten mit anderen Vergesellschaftungsprinzipien erweisen sich dabei jene Kriterien, die P. Skårup in einem Artikel über zyklische Handschriften der altnordischen Karlamagnús saga anführt. Als hinreichende Bedingungen, um (ehemals) distinkte Texte, die in einer Handschrift vergesellschaftet wurden, als Zyklus zu definieren, nennt er folgende Punkte: 1. Au moins deux textes. 2. Même manuscrit, dans l’ordre des événements. 3. Identité ou parenté des personnages principaux. 4. Signaux cycliques entre les textes. 5. Signaux cycliques dans les textes: (a) allusions, (b) adaptations. 27 Die ersten beiden Kriterien scheinen selbstverständlich zu sein, trennen aber gerade die vielfach erst von späterer Forschung aufgrund thematischer Entsprechungen postulierten Stoffzyklen (vgl. etwa die hypothetische Erzählreihe der ‹Histoire poétique de Charlemagne› von G. Paris) von den de facto bereits in mittelalterlichen Handschriften existierenden, mit bestimmten narrativen Techniken verknüpften Zyklen. Die Punkte 3 bis 5 charakterisieren dann diese Verknüpfungstechniken näher. Identität oder zumindest genealogische Verbindung des bzw. der Protagonisten zyklisch verbundener Texte (Punkt 3) gehört dabei zu den einfachsten, aber fast immer angewandten, da sehr effektiven Mitteln, um den inneren Zusammenhang einer Erzählreihe zu gewährleisten. Die in Punkt 4 angesprochenen zyklischen Signale zwischen den Texten bezeichnen Übergänge, die - etwa in Form von Resümees, Einführungen in die nachfolgende Thematik oder auch einfach Überschriften - anzeigen, dass eine Branche des Zyklus an ein Ende gekommen ist und/ oder von Zyklische Potenziale 173 26 Vgl. etwa H eintze , König, S. 608: «Es muß außerdem betont werden, daß der Chevalerie- Dichter mit seinem Lied offensichtlich eine Rolandslied-Version umrahmte, die von den uns erhaltenen abweicht. Sonst dürften nämlich in der eigentlichen Chevalerie Richart de Normandie, Gaifier de Bordeaux, Turpin und Girart de Roussillon nicht mehr am Leben sein.» Vgl. auch ebd., S. 611: «Wenn aber der Autor des Anseïs Gaidon kannte, so hat er sein eigenes Werk mit jenem nur unvollkommen chronologisch harmonisiert, da jeglicher Hinweis auf Gaidons Einsiedlerleben und Karls erneuter Gewogenheit gegenüber den Ganeloniden fehlt.» 27 S kårup , Un cycle, S. 76. <?page no="184"?> einer anderen gefolgt wird. 28 Zyklische Signale innerhalb einzelner Branchen (Punkt 5) können z. B. Anspielungen auf Personen und Szenen sein, die in der erzählten Vergangenheit oder Zukunft liegen (5a) oder aus Angleichungen bestehen, die erforderlich sind, um die ursprünglich selbstständigen, und daher in manchen Motiven und Szenen differierenden oder sich sogar widersprechenden Texte im übergreifenden Zusammenhang des Zyklus zu harmonisieren (5b). Eine sorgfältige Abstimmung der einzelnen Branchen aufeinander kennen allerdings bei weitem nicht alle Zyklen. 29 Aus dem Nachweis oder dem Fehlen dieses Kriteriums resultiert daher weiteres Differenzierungspotenzial, das nach einem Ansatz Jane Taylors beschrieben werden soll, den sie anhand französischer Artus- und Gralzyklen entwickelte. 30 Ihre Ergebnisse aufnehmend und variierend, kann für die mittelalterliche volkssprachige erzählende Literatur zwischen zwei Formen von Zyklizität unterschieden werden. Zyklizität bezeichnet dabei die jeweilige Erscheinungsform der narrativen Kohärenz mehrerer, ursprünglich eigenständiger Branchen. Codices, die Texte gleicher oder ähnlicher Provenienz zu einem Zyklus verzahnen, der in sich jedoch gewisse Widersprüche chronologischer oder handlungslogischer Art enthält, nach den Maßstäben neuzeitlicher Ästhetik also kein harmonisches, in sich geschlossenes Ganzes bildet, andererseits aber so deutlich verbindende Momente aufweist (z. B. Thematik, Figurenkonstellation, Ort und/ oder Zeit der Handlung), dass sich Berührungspunkte zwischen den einzelnen Branchen ergeben (vgl. Skårups Punkte 1-5a), sollen, mit einem von J. Taylor entlehnten, von ihr allerdings in einem etwas anderen Zusammenhang gebrauchten Begriff, sequenzielle Zyklen heißen. 31 Im Unterschied zu sequenziellen Zyklen, bei denen der logisch stringente Konnex nicht das primäre Interesse bildet, sind organische Zyklen 32 gekennzeichnet durch einen im Idealfall wider- 174 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 28 Sind solche Übergänge nicht zu entdecken, da ursprünglich distinkte Einzeltexte zu einem einheitlichen, nahtlos aus dem Vorhergehenden sich entwickelnden Kontinuum verschmolzen sind, kann man nach S kårup nicht mehr von einem Zyklus im eigentlichen Wortsinn reden. 29 Ich greife hier einige Gedanken wieder auf, die ich zuerst ausgeführt habe in: Sequentielle und organische Zyklizität. Überlegungen zur deutschen Karlepik des 12. bis 15. Jahrhunderts. In: «Chanson de Roland» und «Rolandslied». Actes du Colloque du Centre d’Études Médiévales de l’Université de Picardie Jules Verne 11 et 12 Janvier 1996. Greifswald 1997 (Greifswalder Beiträge zum Mittelalter 57), S. 1-13. 30 Vgl. Jane H. M. T aylor : Order from accident: Cyclic consciousness at the end of the middle ages. In: Cyclification, S. 59-72. 31 Unter «sequential cyclicity» versteht T aylor «an authorial tendency to capitalise by accretion on the popularity of a particular hero or lineage, or a scribal process of agglomeration which may at its simplest do no more than juxtapose a series of individual texts linked only by the presence, say, of some particular hero», ebd., S. 61. 32 «Organic cyclicity» bedeutet in T aylor s Modell «a conception of time itself as a cycle, a circular process or movement carrying a history back to the beginnings, from, as it were, an identifiable beginning to a final stasis», ebd., S. 62. <?page no="185"?> spruchsfreien Konnex zwischen den einzelnen Branchen, der, nicht selten mittels redigierender Eingriffe, beispielsweise erreicht werden kann durch Auslassung oder Variation bestimmter Figuren oder Szenen, durch neu geschaffene Übergänge usw. (vgl. Skårups Punkt 5b). Zwischen sequenzieller und organischer Zyklizität oszillierende Mischtypen sind in diesem Modell durchaus möglich. Bezüge zwischen Texten, die nicht in einem Corpus vereinigt sind, gleichwohl aber ganz offensichtlich chronologisch und handlungslogisch sinnvoll aufeinander bezogen sind, werden durch das Beschreibungsmuster dagegen nicht erfasst. Solche in der mittelalterlichen Literatur jedoch begegnenden Formen werden deshalb im Folgenden als prä-sequenzielle Zyklizität bezeichnet, das dadurch entstehende Erzählkontinuum als Proto- Zyklus. A.4.1 Chanson de Roland und Rolandslied: Unterschiedliche zyklische Keimzellen der matière de France in Romania und Germania In der ältesten bekannten, um 1150/ 70 entstandenen Oxforder Fassung wird die Chanson de Roland nicht im zyklischen Verbund überliefert. Dem Oxforder Roland geht dort, wie bereits gesehen, vielmehr ein von anderer Hand geschriebener Text, die lateinische Übersetzung von Platos Timaeus durch Calcidius, voraus. Zyklische Bezüge zwischen beiden Texten existieren selbstverständlich nicht. Das ist für einen so frühen Vertreter der Gattung, den Theorien der neuen wie älteren Zyklusforschung entsprechend, wenig überraschend. Gleichwohl existieren bereits hier Anschlussmöglichkeiten, die darauf hindeuten, dass die Oxforder Chanson de Roland als einem größeren Epenverbund zugehörig vorgestellt werden muss, mit dem sie eine Art prä-sequenziellen Zyklus bildet. 33 Gemeint sind damit jene Verweise auf epische Figuren und Situationen, die im ersten Kapitel dieser Studie als ‹episches Substrat› bezeichnet worden waren; also etwa die Anspielungen auf Rolands Kämpfe bei Noples (ChdR 1773-1779), auf seine Einnahme der Stadt Galne (ChdR 661- 664), auf die Eroberung von Turpins Pferd während eines Feldzugs gegen den dänischen König Grossaille (ChdR 1487-1489) oder auch auf die Erstürmung Jerusalems durch den Heiden Valdabrun und dessen Mord am Patriarchen (ChdR 1562-1568). Zur gleichen Kategorie gehört gleichfalls der Verweis auf zukünftige Kämpfe Karls im rätselhaften Land Bire, mit dem die Oxforder Chanson de Roland endet (ChdR 3994-4001). Im spezifischen Kontext der hier interessierenden Analyse des in französischer Heldenepik enthaltenen zyklischen Potenzials könnte man solche, zuvor als ‹episches Substrat› charakterisierten, Verweise wohl auch als epische ‹Schnittstellen› bezeichnen. Eine solche epische Schnittstelle, die wie eine Überleitung zur nächsten Branche klingt, markiert aber nicht nur das Ende der Chanson de Roland in der Oxforder Fassung. Analog erweckt eine Schnittstelle zu Beginn des Textes, Zyklische Potenziale 175 33 Vgl. hierzu auch H eintze , König, S. 580-625. <?page no="186"?> also an ebenso prominenter Stelle, den Eindruck, dass dem Text eine Branche vorausgegangen sei, in der ein mehrjähriger Spanienfeldzug des Kaisers geschildert worden wäre: Charles li reis, nostre emper[er]e magnes, Set anz tuz pleins ad estet en Espaigne: Tresqu’en la mer cunquist la tere altaigne. N’i ad castel ki devant lui remaigne; Mur ne citet n’i est remés a fraindre, Fors Sarraguce, ki est en une muntaigne. 34 ChdR 1-6 Vielleicht nicht zuletzt aufgrund jener schon in der ältesten bekannten Fassung dem Werk eingeschriebenen Schnittstellen konnte die Chanson de Roland sich als der wohl wichtigste Basistext der Gattung etablieren, an dem etliche nachfolgende Chansons de geste sich orientieren, indem die Chanson de Roland als chronologischer oder auch thematischer Bezugspunkt für die späteren Texte fungiert. So thematisieren z. B. die in der Mitte des 14. Jahrhunderts in Italien geschriebene Entrée d’Espagne und die ebenfalls Mitte des 14. Jahrhunderts in Italien entstandene Prise de Pampelune die zu Beginn aller Chanson de Roland-Fassungen erwähnten Eroberungszüge Charlemagnes in Spanien in aller Ausführlichkeit. Die Entrée geht dabei zudem explizit auf die in der Chanson de Roland lediglich in einer Nebenbemerkung Ganelons erwähnten Kämpfe Rolands vor der Stadt Noples ein, denen in der Entrée gar eine zentrale Funktion zukommt, da sie das Zerwürfnis zwischen Charlemagne und Roland sowie das daraus resultierende vorübergehende Entweichen Rolands in den Orient erklären. Als Vorgeschichte der Chanson de Roland gerieren sich gleichfalls die vielleicht noch im 12. Jahrhundert entstandenen Chansons von Girart de Vienne, Fierabras oder auch Aspremont, die sämtlich Ereignisse aus der Zeit vor Charlemagnes Spanienzug behandeln, auf diesen allerdings Bezug nehmen. Als der Chanson de Roland zeitlich vorausliegend erscheint überdies die aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts stammende Voyage de Charlemagne, in der der Frankenkönig zum Schluss seines Jerusalemaufenthalts dem bereits in der Chanson de Roland erwähnten Patriarchen von Jerusalem verspricht, einen Zug gegen die Heiden in Spanien zu unternehmen. Das in der Chanson de Roland thematisierte Drama von Ronceval setzen hingegen Werke wie die Chanson des Saisnes (Ende des 12. Jahrhunderts) oder Gaidon (13. Jahrhundert) ausdrücklich voraus. Man könnte diese wie andere Chansons mit ihren inhaltlichen und zeitlichen Verbindungen zum epischen Geschehen der Chanson de Roland als einen noch extrem locker gefügten Proto- Zyklus charakterisieren. So verstand die Texte ganz offenbar Gaston Paris, der seine bahnbrechende Untersuchung über das literarische Karlbild wohl kaum 176 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 34 Übersetzung nach W. Steinsieck: König Karl, unser großer Kaiser, war sieben ganze Jahre in Spanien: Bis hin zum Meer eroberte er das hochmütige Land. Keine Festung hielt ihm stand; keine Mauer und keine Stadt blieb zu bezwingen außer Saragossa, das auf einem Berge liegt. <?page no="187"?> zufällig eine ‹Histoire poétique de Charlemagne› nannte und im zentralen zweiten Kapitel seiner Studie die einzelnen Chansons nach ihrer Stellung in einer Art literarischer ‹Biographie› Karls analysierte: angefangen von Erzählungen über die Vorfahren und Eltern des späteren Frankenkaisers, weiter über die literarischen Schilderungen von Karls Jugend und ersten Taten, darauf dann Chansons, die dessen verschiedene Kriege, Liebesaffären und Heiraten behandeln, bis endlich auch Texte zur Sprache kommen, die den Tod sowie die Nachkommen des Königs thematisieren. Spätere Darstellungen über Karl den Großen in der französischen Literatur des Mittelalters orientieren sich ebenfalls häufig an G. Paris’ ‹biographischem› Beschreibungs- und Untersuchungsmodell. 35 Dem Überlieferungsbefund nach zu urteilen sind allerdings die bereits der Chanson de Roland inhärenten und von späteren Autoren aufgenommenen zyklischen Valenzen der Erzählungen um Karl den Großen zunächst nicht so umgesetzt worden, dass man nach der oben entwickelten Beschreibung tatsächlich von einem literarischen Zyklus im eigentlichen Sinne sprechen kann. So ist in der Oxforder Fassung des 12. Jahrhunderts die Chanson de Roland, wie bereits gesehen, gemeinsam mit einem lateinischen Text überliefert, zu dem das volkssprachige Werk keinerlei Bezüge aufweist. Ähnlich überliefern die aus dem Ende des 13. Jahrhunderts stammenden Handschriften V 7 (Venedig, Biblioteca Nazionale Marciana, ms. Fr. Z. 7) und Châteauroux (Châteauroux, Bibl. municipale ms. 1) die Chanson de Roland als Einzeltext. Zu einem Zyklus fehlen hier also schon die als Punkt 1 und 2 von Skårup genannten Grundvoraussetzungen. Seit dem späteren 13. Jahrhundert werden jedoch gleichzeitig Handschriften angelegt, die neben der Chanson de Roland auch andere Epen aus dem cycle du roi enthalten. In der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts geschriebenen Pariser Handschrift (Paris, BN, f. fr. 860) folgt der Chanson de Roland unmittelbar Gaidon, ein Text, in dem das weitere Schicksal jenes Thierry (= Gaidon) beschrieben wird, der gegen Ende der Chanson de Roland im Zweikampf gegen Ganelon antritt. 36 In der aus dem Zyklische Potenziale 177 35 So etwa H orrent, L’histoire poétique, und H eintze, König. 36 Im Kodex Paris, BN f. f. 860 folgen auf Chanson de Roland und Gaidon zwar noch Ami et Amile sowie Jourdain de Blaye. In den beiden letztgenannten Chansons agiert Charlemagne jedoch - im Unterschied zu den beiden anderen - nicht als Protagonist, sondern lediglich als Randfigur. Ursprünglich scheint noch die Chanson de geste Auberi de la Bourgignon der Chanson de Roland vorausgegangen zu sein. A. C. R ejhon , die Herausgeberin der Pariser Fassung der Chanson de Roland, geht davon aus, dass der Kodex eine sorgfältig kalkulierte Programmatik besaß. Deren Ziel sei aber nicht etwa eine Verherrlichung Karls oder Rolands gewesen, vielmehr eine Aufwertung jener Sippe, der Ganelon entstammt: «In facto one overall purpose of BNF f. fr. 860 seems to have been to show that, while there was indeed an evil side to this family, there was also a virtuous side, one that ultimately included in its ranks saintly figures and kings who rivaled the power and glory of Charlemagne himself»; Annalee C. Rejhon (Hg.): The Paris Version, in: The Song of Roland. The French Corpus, hg. von Joseph J. Duggan, Bd. 3, Teil 4, S. IV, 3-IV, 404, hier S. IV, 40. <?page no="188"?> 14. Jahrhundert stammenden Handschrift V 4 (Venedig, Biblioteca Nazionale Marciana, ms. Fr. Z. 4) geht ihr als logische Vorgeschichte die von gleicher Hand geschriebene Chanson d’Aspremont voraus. Zu einem umfassenderen Zyklus über Karl den Großen fassen in der Mitte des 13. und im frühen 14. Jahrhundert allerdings erst Philippe Mousket und Girart d’Amiens verschiedene Epen des cycle du roi in ihren mit chronikalischem Anspruch auftretenden Kompilationen zusammen. Erneut realisiert dies der im 15. Jahrhundert in der Umgebung der burgundischen Herzöge schreibende David Aubert bzw. dessen Werkstatt. Während die französischen Chanson de geste-Autoren ihre Texte ohne größere Probleme im ‹epischen Substrat› verorten konnten und das zyklische Potenzial der französischen Heroik auf solche Art problemlos fruchtbar gemacht und weiter ausgebaut werden konnte, sahen sich die deutschen Bearbeiter mit einer doppelten Schwierigkeit konfrontiert. Zum einen scheint hier, wie die ‹Entzyklisierung› des Roman de Renart in der mhd. Adaptation Reinhard Fuchs zeigt, um 1200 die spezifische Narrativik zyklischen Erzählens in der volkssprachigen Literatur noch nicht sehr ausgebildet gewesen zu sein, zum anderen ergab sich, damit zusammenhängend, das Problem, die französischen Vorlagen in einen fremden Kultur- und Literaturraum transponieren zu müssen, in dem der jeweilige Erzählstoff zunächst völlig fremd war und Anspielungen auf andere Texte des gleichen oder auch verwandter Erzählregister nicht unbedingt auf fruchtbaren Boden fielen. Vielleicht stärker noch als jedes andere Erzählregister war davon die französische Heldenepik betroffen. So konnte der deutsche Bearbeiter das der französischen Chanson de Roland eingeschriebene ‹epische Substrat› schwerlich übersehen, jene epischen ‹Schnittstellen› also, die von französischen Autoren dergestalt genutzt wurden, dass man die thematisch oder chronologisch auf die Chanson de Roland bezogenen Epen aus jener Epoche als eine Art Proto-Zyklus bezeichnen könnte. Ähnlich wie alle späteren deutschen Bearbeiter französischer Heroik musste er darauf reagieren. Er wählte dafür eine Möglichkeit, die auch in späteren deutschen Chanson de geste-Adaptationen immer wieder beobachtet werden kann. Gegenüber dem zyklischen Potenzial der Oxforder Fassung, die aus chronologischen Gründen in diesem Punkt allein als Vergleichsbasis herangezogen werden kann, kennt der deutsche Text signifikante Variationen. Besonders auffällig ist sicherlich der um einen ausführlichen Epilog erweiterte Schluss, in dem, entgegen der weitgehend anonymen Chanson de geste-Tradition, mit dem herzogen Hainrîche (RL 9018) ein Mäzen gefeiert wird und überdies ein phaffe Chunrât (RL 9079) Autorschaft für den Text reklamiert. Im Unterschied zum Oxforder Text fehlt dem Schluss der deutschen Adaptation jedoch der durch einen Engel übermittelte Auftrag Gottes an Karl, zu weiteren Kämpfen gegen die Heiden aufzubrechen. Nach der Bestrafung Geneluns schließt das epische Geschehen im Rolandslied mit den Worten: sô wart di untriuwe geschendet: / dâ mit sî daz liet verendet (RL 9015f.). In der deutschen Fassung werden also keine Handlungsfäden offen gelassen, ein theoretisch 178 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption <?page no="189"?> mögliches Weiterspinnen der Erzählung wird gegenüber dem französischen Pendant wesentlich erschwert. Ebenso wie die epischen Schnittstellen zu Beginn und zu Ende der Chanson de Roland kappte der deutsche Bearbeiter auch sämtliche Verweise der Oxforder Chanson de Roland auf Ereignisse, die der Handlung als vorausliegend gedacht sind (Rolands Kämpfe vor Noples, 37 Valdabruns Eroberung Jerusalems usw.). Er tilgte damit vollständig das ‹epische Substrat›, auf dem der französische Text basiert. Allerdings bemühte er sich sichtlich um einen Ersatz. So soll z. B. der aus der französischen Vorlage übernommene Graf Oigir von Dänemark in der deutschen Bearbeitung angeblich aus dem Geschlecht des Wate stammen (vgl. RL 7801f.), einer Figur der deutschen Heldenepik also, die in der Kudrun eine prominente Rolle spielt und dort zur Verwandtschaft des Dänenkönigs Hetel gerechnet wird. 38 Eine ganze Reihe von Anspielungen auf Figuren, die aus mittelalterlichen deutschen Texten bekannt sind, begegnet daneben in der, auch von allen anderen französischen Chanson de Roland-Bearbeitungen abweichenden, Szene um Geneluns Investitur (RL 1568-1636). Mulagir, Geneluns Schwert, reklamiert das Rolandslied als aus Regensburg stammend - einer Stadt, die bereits das Annolied 39 für ihre hervorragenden Schwerter gerühmt hatte. Der als vorgeblicher Schmied des Schwertes figurierende Madelger ist ebenfalls aus anderen literarischen Zusammenhängen geläufig, so etwa aus Biterolf und Dietleib, daneben auch aus Salman und Morolf. Geneluns Halsreif, so berichtet das Rolandslied, sante ime ze minnen/ der kuonc uon den Britten (RL 1581f.). Es erscheint nicht völlig ausgeschlossen, dass darunter zur Zeit der Entstehung von Konrads Bearbeitung, zumal im Umkreis des Welfenhofes, möglicherweise schon der literarische König der Briten, Artus also, verstanden worden sein könnte. Auch mit dem Römer Mantel (Hs S Mantiel), der Karl das Pferd schenkte, das dieser dann an Genelun weitergibt, könnte eine literarische Figur gemeint sein, ohne dass es bislang gelungen wäre, die Anspielung zu entschlüsseln. Die auf das ‹epische Substrat› zielenden Verweise der Chanson de Roland scheint der Autor des deutschen Rolandslieds damit gezielt ersetzt zu haben durch Allusionen, die auf das literarische Vorverständnis deutscher Rezipienten gerichtet sind. 40 Zyklische Potenziale 179 37 Als Ersatz für Rolands Aktionen vor Noples in der französischen Erzählung kann im deutschen Rolandslied möglicherweise der, jedoch an anderer Stelle platzierte, Bericht über Rolands Wut angesichts der überragenden Kampfkraft der Baiern unter Naimes bei der Einnahme einer ungenannten spanischen Stadt bewertet werden; vgl. RL 1111-1128. 38 Zur Figur des Wate vgl. George T. G illespie : A Catalogue of Persons named in German Heroic Literature (700-1600). Including named Animals and Objects and Ethnic Names. Oxford 1973, S. 138f.; vgl. ebenfalls W eddige in der von ihm besorgten Ausgabe des Ogier von Dänemark, S. XXXVIf. 39 Das Annolied. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Eberhard Nellmann. Stuttgart 1979 (RUB 1416), Str. 20,1-20,13. 40 Es fällt auf, dass dazu häufiger Verweise dienten, die auf den Bereich der deutschen Heldenepik deuten. Als gleichwertige Adaptation der konsequent auf französische Hel- <?page no="190"?> Die weitreichenden Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sollen an späterer Stelle aufgezeigt werden. Unter dem Blickwinkel der Zyklizität, um die es in diesem Kapitel geht, lässt sich zunächst konstatieren, dass die zyklischen Dispositionen der Oxforder Chanson de Roland nicht bzw. nur in abgewandelter, dem Vorverständnis eines deutschen Publikums angepasster Form für das Rolandslied genutzt wurden. A.4.2 Die Genese eines eigenständigen Zyklus im oberdeutschen Raum Genau wie Konrad stand einige Jahrzehnte später ebenfalls Wolfram bei seiner Bearbeitung einer französischen Chanson de geste vor der Schwierigkeit, den Stoff Rezipienten nahebringen zu müssen, die mit den literarischen Hintergründen der matière de France nicht oder doch nur wenig vertraut waren. 41 Und ähnlich wie Konrad scheint auch Wolfram die Strategie einer Lösung aus dem Zyklus gewählt zu haben. Die daraus resultierenden Kompositionsprobleme und Wolframs Umstellungen besonders zu Beginn und gegen Ende des 180 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption denepik rekurrierenden präsequenziellen ‹Schnittstellen› der französischen Vorlage sind sie jedoch nicht zu bezeichnen, denn ein deutschsprachiger Erzählzyklus, in dem neben Karl, Roland, Genelun und weiteren Figuren der Chanson de geste-Literatur zugleich solche aus der deutschen Heldenepik (Wate, Madelger), darüber hinaus eventuell noch aus anderen literarischen Genres (Orientepik, Artusroman, Antikenroman? ) gemeinsam agieren, ist schlecht vorstellbar. Die für diese Änderungen verantwortlichen divergierenden Rezeptionshorizonte des deutschen und französischen Publikums erklären jedoch möglicherweise ebenfalls die, analog zur Entzyklisierung des Schlussteils vorgenommenen, Variationen in der Eingangspartie des deutschen Rolandslieds. Während nämlich die Chanson de Roland, auf der Folie bestimmter Publikumserwartungen und -kenntnisse, nach einem äußerst knappen Resümee des Spanienfeldzugs Karls mit den Vorbereitungen zum Kriegsplan der Sarazenen medias in res einsetzen kann (vgl. ChdR, 1-10), muss die deutsche Version in einer dem zentralen Geschehen um Geneluns Verrat und der Ronceval-Schlacht vorausgehenden Einführung eigens darlegen, wie es zu jenen Ereignissen überhaupt kommen konnte. Aus rezeptionsästhetischer Sicht erübrigt sich damit die Suche nach einer verlorenen Fassung der Chanson de Roland, die dem deutschen Autor als Vorlage gedient haben könnte; vgl. zu dieser Vorstellung de M andach, Naissance, S. 199; Hans-Erich K eller : La place du ‹Ruolantes liet› dans la tradition rolandienne (1965), wieder abgedruckt in: H.-E. K eller : Autour de Roland. Recherches sur la chanson de geste. Paris, Genève 1989 (Nouvelle Bibliothèque Du Moyen Age, Bd. 14), S. 203-234, hier S. 225; Dieter K artschoke : Die Datierung des deutschen Rolandsliedes. Stuttgart 1965 (Germanistische Abhandlungen 9), S. 119f. Für «unabhängig [...] von einer Quelle» hält dagegen Peter W apnewski den Eingang des Rolandslieds, vgl. Einleitung zur Rolandslied-Ausgabe (Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, hg. von Carl Wesle. Dritte, durchgesehene Auflage besorgt von Peter Wapnewski. Tübingen 1985 [ATB 69]), S. XVII. Der deutsche Bearbeiter mag wohl einzelne Anregungen aus anderen Texten, etwa dem Pseudo-Turpin nahestehenden Traditionen oder historiographischen Werken (vgl. RL 17: Karl der was Pipines sun), aufgenommen haben, formte sie jedoch nach Maßgabe des literarischen Erwartungshorizonts eines deutschen Publikums um. 41 Vgl. K iening , Umgang. <?page no="191"?> Willehalm sind von der Forschung verschiedentlich beschrieben worden. 42 Auf welche Fassung des Aliscans-Epos sich Wolfram genau stützte, ist dabei allerdings ebenso unklar wie die Frage, ob sie ihm tatsächlich im Zusammenhang eines regelrechten Zyklus bekannt wurde und welche Branchen der ‹Geste de Guillaume› jenes ihm, sei es mündlich, sei es schriftlich, bekannt gewordene Corpus umfasst haben könnte. 43 Diese Unsicherheit hängt u. a. damit zusammen, dass die frühesten überlieferten zyklischen Fassungen der Geste de Guillaume aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammen und somit zu einer Zeit aufgezeichnet wurden, in der Wolframs Willehalm bereits fertig gestellt war, mindestens aber synchron entstand. Wolfram könnten demnach theoretisch andere, für uns nur noch schwer rekonstruierbare Fassungen vorgelegen haben. 44 Zyklische Potenziale 181 42 Grundlegend noch immer B umke , Wolframs Willehalm, S. 11-55. 43 B umke geht davon aus, dass Wolfram durch seine Arbeit an der Chanson d’Aliscans, die dem Willehalm bekanntlich zugrundeliegt, mindestens auch die Chevalerie Vivien gekannt haben müsse, da «beide Branchen in der gesamten Überlieferung unzertrennlich miteinander verbunden sind.» (S. 15). Diese auf B ecker, Wilhelm- und Aimerigeste, zurückgehende Ansicht, die mit einem «Doppellied Chevalerie-Aliscans» rechnet, ist - wie die Untersuchung der gesamten Handschriftentradition durch T yssens, La geste de Guillaume d’Orange, ergab - so nicht haltbar; ein aus Chevalerie Vivien und Aliscans bestehender ‹Miniaturzyklus› hat nie existiert; vgl. T yssens , S. 438f. Zwar ist es richtig, dass «[i]n allen zehn Hss., in denen die Chevalerie Vivien überliefert ist, [...] unmittelbar darauf Aliscans [folgt]» (B umke , S. 15, Anm. 19), die Chevalerie Vivien ohne Aliscans also kaum denkbar ist, ein halbwegs sicherer Beleg für Wolframs Kenntnis der Chevalerie - die insgesamt freilich nicht ganz unwahrscheinlich ist - lässt sich hieraus jedoch keineswegs ableiten. Denn entgegen B ecker s Vermutung, der glaubte, beide Lieder hätten immer zusammen gestanden, da sie ansonsten unvollständig seien (B ecker , S. 76), gibt es durchaus Handschriften, die Aliscans ohne die Chevalerie Vivien überliefern (Hss. ars., F und M). Aliscans war, wie diese Handschriften demonstrieren, den Rezipienten also sehr wohl auch ohne die Chevalerie Vivien verständlich: «Aliscans n’avait nullement besoin d’un prologue», T yssens , S. 438. Ob Wolfram mit einer Vorlage arbeitete, die nur Aliscans enthielt oder ob er, wofür manche Anspielungen zu sprechen scheinen, auch von anderen Branchen des französischen Wilhelms-Zyklus Kenntnis hatte, lässt sich folglich nach wie vor nicht sicher entscheiden. Recht wahrscheinlich ist angesichts der Untersuchungen von M. T yssens allerdings, dass Wolfram, falls er Aliscans nicht etwa als verschriftlichten Einzeltext kennengelernt haben sollte, über Kenntnisse des gesamten Wilhelms-Zyklus verfügt haben dürfte - also auch die folgenden Branchen mit Rainouarts weiteren Kämpfen (Bataille Loquifer), seinem Eintritt ins Kloster (Moniage Rainouart) und Guillaumes Rückzug aus der Welt und seinem Tod als Eremit (Moniage Guillaume) kannte. Denn die Chevalerie Vivien, auf die Wolfram verschiedentlich Bezug zu nehmen scheint, wurde T yssens zufolge dem Zyklus erst relativ spät hinzugefügt; vgl. zur Vorlage auch W olf , Wolframs Willehalm, S. 230 und B umke , Wolfram von Eschenbach, S. 384-388; H ennings , Französische Heldenepik, S. 142-160. 44 Vgl. zum Zusammenhang möglicher Vorläufer des heute bekannten Wilhelms-Zyklus auch H eintze , König, S. 569f.: «Unklar ist ferner, ob diese untergegangenen Lieder nur lose miteinander verbunden waren oder bereits einen streng nach den Geboten der <?page no="192"?> In einen lockeren Verbund französischer Heldenepik integrierte jedoch auch Wolfram seinen Willehalm. Als Bezugshorizont diente ihm dasjenige Werk, in dem der Stoffbereich der matière de France in deutscher Sprache vor Wolfram schon einmal behandelt worden war - das Rolandslied. Verweise auf das Rolandslied, das dem epischen Geschehen des Willehalm als vorausliegend gedacht wird, begegnen in Wolframs Bearbeitung der Chanson d’Aliscans mehrfach. 45 Mit Blick auf die Überlieferungssituation der ersten deutschsprachigen Chanson de geste-Bearbeitung, die ja gerade im nieder- und mitteldeutschen Raum ihren Schwerpunkt besitzt, kann man davon ausgehen, dass das Rolandslied dem Primärpublikum des, wenn man den Prolog wirklich so verstehen kann, im Umfeld Landgraf Hermanns von Thüringen entstandenen Willehalm durchaus vertraut war; 46 so scheinen z. B. sowohl Handschrift P als auch Fragment W des Rolandslieds im hessisch-thüringischen Raum entstanden zu sein (vgl. dazu S. 123f.). Die demnach wohl auf fruchtbaren Boden fallenden Rolandslied-Allusionen besitzen dabei eine andere Qualität als die ebenfalls häufigen Parzival-Anspielungen des Willehalm. Während letztere meist auf der ‹subjektiven› Erzählerebene angesiedelt sind, also gewissermaßen als autoreferenzielle Zitate einer im Parzival und Willehalm auftretenden Erzählerfigur gelesen werden können, 47 finden sich Bezüge zum Rolandslied sehr häufig auf der ‹objektiven› Handlungsebene: «Folie für das neue Geschehen ist das ‹Rolandslied› nicht nur für den Erzähler, sondern die handelnden Figuren verstehen sich selbst auf diesem Hintergrund.» 48 Erinnerungen an das im Rolandslied beschriebene Ringen zwischen Christen und Heiden, oft fokussiert auf die Figuren der obersten Heerführer beider Seiten, Karl und Baligan, durchziehen als dichtes Geflecht daher den gesamten Text. «Die Kämpfe [im 182 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption Chronologie organisierten Zyklus bildeten [...]»; vgl. auch ebd., S. 255-259; W olf , Wolframs Willehalm, S. 230. 45 Vgl. Willehalm 51,11-19; 108,12-15; 178,22-24; 180,28-30; 221,11-19; 250,14-19; 272, 14-17; 320,4; 338,21-24; 340,14-26; 410,24-29; 428,9-12; 434,16-20; 441,4-16; 447,1-5; 455,6-16. Zu den Rolandslied-Anspielungen im Willehalm vgl. Rudolf P algen : Willehalm, Rolandslied und Eneide. In: PBB 44 (1920), S. 191-241; K iening , Reflexion, S. 86-94; Christoph C ormeau : ist mich von Kareln uf erborn / daz ich sus vil han verlorn? Sinnkonstitution aus dem innerliterarischen Dialog im ‹Willehalm› Wolframs von Eschenbach. In: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert, hg. von Gerhard Hahn, Hedda Ragotzky. Stuttgart 1992 (Kröners Studienbibliothek 663), S. 72-85; Jeffrey A shcroft : «Dicke Karel wart genant»: Konrad’s Rolandslied and the Transmission of Authority and Legitimacy in Wolfram’s Willehalm. In: Wolfram’s »Willehalm«. Fifteen Essays, hg. von Martin H. Jones, Timothy McFarland. Woodbridge 2002, S. 21-41. 46 Vgl. auch A shcroft , dicke, S. 32-34; anders C ormeau , ist mich, S. 76: «Freilich blieb die Verbreitung des deutschen ‹Rolandslieds› offensichtlich begrenzt; direkte Vorkenntnis läßt sich bei Wolframs Publikum nur mit Einschränkungen vermuten.» 47 Vgl. K iening, Reflexion, S. 94-102; Kienig spricht in diesem Zusammenhang von einer «von Wolfram begründeten Selbstkanonisierung des ‹Parzival›», ebd., S. 102. 48 C ormeau , ist mich, S.77. <?page no="193"?> Willehalm] erscheinen so als Glieder einer Kette wechselvoller Auseinandersetzungen mit den Heiden.» 49 Es fügt sich in diesen Zusammenhang, dass Willehalm und Rolandslied von Wolfram auch mittels einer genealogischen Konstruktion miteinander verknüpft wurden, die sich so in der Chanson d’Aliscans nicht findet. 50 Während hier wie dort Lôîs/ Louis, der (zumindest nominelle) Oberbefehlshaber der christlichen Heere, als Sohn Karls des Großen/ Charlemagnes, des bereits aus dem Rolandslied bekannten politischen und militärischen Führers, bezeichnet wird, erscheint nur in Wolframs Bearbeitung zugleich auch Terramer, der oberste Anführer (admirât) der heidnischen Heere, als Nachkomme einer schon im Rolandslied begegnenden Sippe. Terramer ist bei Wolfram ein Sohn von König Kanabêus, des Bruders jenes heidnischen Oberkönigs Baligan, den Karl ebenso mit eigener Hand getötet hatte wie dessen Sohn Malprimes (vgl. RL 8325-8349.; 8551-8563). Terramer fungiert somit als der legitime Nachfolger seines gefallenen Onkels Baligan (vgl. v. a. Wh 434,16-20). Wolfram könnte sich bei dieser Konstruktion zunutze gemacht haben, dass König Kanabêus, der Bruder Baligans, als einziger höherer Anführer der Heiden offenbar kein Opfer der christlichen Racheschlacht nach der verheerenden Niederlage bei Ronceval geworden zu sein scheint, jedenfalls wird über seinen Tod im Rolandslied nichts berichtet. Vielleicht ging Wolfram davon aus, dass der überlebende Kanabêus das Erbe seines getöteten Bruders Baligan und seines ebenfalls gefallenen Neffen Malprimes angetreten und die Herrschaft später seinem eigenen Sohn Terramer übergeben hätte. So würde zumindest eher verständlich, warum Wolfram Terramer nicht, was an sich durchaus denkbar und, wie die Wirkungsgeschichte des Willehalm zeigen sollte, in gewisser Weise auch logischer gewe- Zyklische Potenziale 183 49 Ebd. 50 Zu den genealogischen Bezügen im Willehalm vgl. K iening , Reflexion, S. 190-205; Sylvia S tevens : Family in Wolfram von Eschenbach’s Willehalm: mîner mâge triwe ist mir wol kuont. New York usw. 1997 (Studies on Themes and Motifs in Literature 18); Ursula P eters : Dynastengeschichte und Verwandtschaftsbilder. Die Adelsfamilie in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1999 (Hermaea N.F. 85), S. 309-316; H umphreys ; Martin P rzybilski : sippe und geslehte. Verwandtschaft als Deutungsmuster im ‹Willehalm› Wolframs von Eschenbach. Wiesbaden 2000 (Imagines Medii Aevi. Interdisziplinäre Beiträge zur Mittelalterforschung 4); ders .: Giburgs Bitten. Politik und Verwandtschaft. In: ZfdA 133 (2004), S. 49-60; Timothy M c F arland : Giburc’s Dilemma. Parents and Children, Baptism and Salvation. In: Wolfram’s »Willehalm«. Fifteen Essays, hg. von Martin H. Jones, Timothy McFarland. Woodbridge 2002, S. 121-142; Shami G osh : Forms of kinship. Unresolved tensions in Wolfram’s Willehalm. In: Euphorion 97 (2003), S. 303-325. Zu genealogischen Konstruktionen in den französischen Chansons de geste vgl. Dorothea K ullmann : Verwandtschaft in epischer Dichtung. Untersuchungen zu den französischen chansons de geste und Romanen des 12. Jahrhunderts. Tübingen 1992 (Beihefte zur Zeitschr. für romanische Philologie 242); speziell zum Wilhelms- Zyklus vgl. Ronald G. K oss : Family, Lineage and Kinship in the Cycle de Guillaume d’Orange. Lewiston 1990. <?page no="194"?> sen wäre, 51 als direkten Nachkommen des von Karl getöteten Oberkönigs Baligan vorstellte. Durch diese und die anderen genannten Verbindungen mit dem Rolandslied dürfte aber zu Genüge deutlich geworden sein, dass Wolfram seine Aliscans-Adaptation nicht einfach aus den, wie intensiv auch immer vorhandenen, Bezügen zum französischen Zyklus löste, sondern den Willehalm gleichzeitig in einen anderen Erzählzusammenhang einbettete und dadurch einen, vorerst noch rudimentären, deutschen Zyklus um in der karolingischen Ära immer wieder aufflammende Auseinandersetzungen zwischen Christen und Heiden konstituierte. 52 Vielleicht noch während Wolfram am Willehalm arbeitete, oder doch nur wenig später, verfasste der Stricker seine Überarbeitung des Rolandslieds. Ausgangspunkt für dieses Unternehmen könnte ein Transfer des vor allem im nieder- und mitteldeutschen Sprachraum verbreiteten und dort eventuell auch entstandenen älteren Textes in oberdeutsches Gebiet gewesen sein (vgl. dazu S. 126). Was Strickers Karl vom Rolandslied unterscheidet, ist neben stilistischer und metrischer Modernisierung bekanntlich die Erweiterung des älteren Textes um, besonders gegen Ende des Karl hinzugefügte, Passagen, die der Stricker größtenteils französischen Fassungen der Chanson de Roland verdanken dürfte, wie sie allerdings erst in Handschriften des späteren 13. und 14. Jahrhunderts überliefert sind. 53 Daneben erweiterte der Stricker auch die Anfangspartie des Karl durch Erzählmotive, die aus französischen Chansons des cycle du roi bekannt sind. Die zu Beginn des Textes geschilderte Jugend Karls - seine Vertreibung nach Spanien, seine dortige Bewährung im Kampf (wodurch Karls Eignung zum Herrscher unabhängig von seiner dynastischen Legitimation eindrucksvoll unter Beweis gestellt wird), und schließlich die Rückkehr und Rückeroberung des usurpierten Throns - entstammt der Mainet-Tradition. 54 Der Stricker hat diese Passage recht geschickt mit der ihm vorliegenden Rolandslied-Handlung verknüpft. Er macht, gegen die Tradition, die bereits 184 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 51 Bereits der Schreiber der ältesten Willehalm-Handschrift G bezeichnet an einer Stelle Baligan nicht als Terramers veter, also seinen Onkel, sondern als seinen vater (vgl. den kritischen Apparat zu 221,16). Auch die weitere Rezeption in Strickers Karl und dem Buch vom heiligen Karl folgt dieser Annahme (vgl. S. 188, S. 231). 52 Vgl. ebenfalls B umke, Wolframs Willehalm, S. 134 und H einzle, Wandlungen, S. 154; Heinzle betont «den zyklischen Zusammenhang zwischen dem ‹Rolandslied› und dem ‹Willehalm›, der in Wolframs Konzeption eine wichtige Rolle spielt.» 53 Vgl. von der B urg , Bearbeitung; ders. : Strickers Karl und die jüngere altfranzösische Rolandslied-Tradition. In: Archiv 213 (1976), S. 241-250; G eith , Carolus Magnus, S. 182f.; H ennings , Französische Heldenepik, S. 119-125, die die Amplifikationen jedoch nicht auf Kenntnisse französischer Chanson de Roland-Handschriften, sondern auf eine heute verlorene, dem Stricker aber noch bekannte zweite Fassung des deutschen Rolandslieds oder auf mündliche Vermittlung entsprechender französischer Chansons bzw. auf «eine lateinische Fassung als Zwischenglied» zurückführen möchte (S. 125). 54 Vgl. dazu H orrent, Les versions françaises; G eith , Carolus Magnus, S. 171f.; H en nings , Französische Heldenepik, S. 114-116. <?page no="195"?> im Rolandslied in einer wichtigen Nebenrolle agierenden Wineman und Rapote zu jenen, aus Pippins Verbindung mit der falschen Berta stammenden, Halbbrüdern Karls, die ihm den Thron rauben (K 158-172), von Karl aber, wiederum gegen die Mainet-Tradition, nach seiner Rückkehr begnadigt werden. Die Schonung verdankt sich wahrscheinlich ihrer späteren Rolle als Nachfolger Rolands, die, wie im Rolandslied so auch im Karl, dessen Horn und Schwert erhalten (RL 7765f.; K 9116-9128). Was in der alten Version jedoch überraschend und beinahe unverständlich wirkte, da beide zuvor nie erwähnt wurden, folgt in der Strickerschen Fassung konsequent aus ihrer Verwandtschaft zum Kaiser. 55 Vorgeschichte und Haupthandlung greifen hier also ineinander, sind kohärent miteinander verzahnt. Darüber hinaus fällt das bereits früh bemerkte und oft beschriebene Verfahren des Rolandslied-Bearbeiters auf, Ungenauigkeiten und offensichtliche Fehler des älteren Werks zu berichtigen. 56 So vervollständigt er, um nur zwei besonders schlagende Beispiele herauszugreifen, den im Rolandslied lediglich neun Namen umfassenden Katalog der uzerwelten zwelfe (RL 130) auf ein volles Dutzend ritter hêrlich (K 480). Und während im Rolandslied zwei jener Paladine Karls, Egeries und Berenger, ebenso wie der Heide Grandon erneut in den Kampf eingreifen (RL 5915, 5922, 5832), obwohl kurz zuvor noch ihr Tod beschrieben worden war (RL 5334, 5337, 5355), 57 sterben beim Stricker alle drei im Verlauf der Runzevâl-Schlacht (K 6423, 6425, 6435). Neben diesen glättenden ‹Rationalisierungstendenzen›, wie sein Arbeitsverfahren verschiedentlich bezeichnet wurde, leistet der Stricker in einigen Passagen seiner Rolandslied-Bearbeitung durch die Einschaltung zusätzlicher Quellen allerdings auch neuen Unklarheiten und Missverständnissen Vorschub. Die Engelsbotschaft, in der Karl zu Beginn seiner Regierung die späteren Erfolge und Eroberungen prophezeit werden (K 318-446), ermöglicht zwar einmal mehr eine Verknüpfung von Vor- und Haupthandlung durch spätere Analepsen (vgl. K 364-385 und K 8215f., 9126-9128; ebenso K 332-354 und K 8177-8199), gleichzeitig treten in dieser Szene allerdings Widersprüche Zyklische Potenziale 185 55 Ähnlich G eith, Carolus Magnus, S. 172; seiner Argumentation nicht anschließen will sich H orrent, Les versions françaises, S. 203f. 56 Vgl. bereits J. J. A mmann : Das Verhältnis von Strickers Karl zum Rolandslied des Pfaffen Konrad mit Berücksichtigung der Chanson de Roland. Wien, Leipzig o. J. (1901), S. 66: «Was nur fragmentarisch und im Zusammenhang nicht genügend klar ist, lässt Str[icker] einfach weg oder verbessert es in seiner Weise, es mögen Namen von Orten oder Personen, Zahlen, Handlungen oder kleine Episoden sein»; Diether H aacke : Konrads Rolandslied und Strickers Karl der Grosse. In: PBB (Tüb.) 81 (1959), S. 274-294, hier S. 282ff.; von der B urg , Bearbeitung, S. 152f.; G eith, Carolus Magnus, S. 171f.; B randt, S. 181ff.; Sabine B öhm : Der Stricker - Ein Dichterprofil anhand seines Gesamtwerkes. Frankfurt/ M. usw. 1995 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I, 1530), S. 149. 57 Vgl. dazu Karl-Ernst G eith : daz buoch ... gescriben ze den Karlingen. Zur Vorlage des deutschen «Rolandsliedes». In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten Kongresses Göttingen 1985, hg. von Albrecht Schöne. Bd. 9. Tübingen 1986, S. 137-142. <?page no="196"?> auf, da zwischen Karls Vision in der Nacht vor dem Spanienfeldzug und seiner Unterwerfung halb Europas nicht einmal ein ganzer Tag zu vergehen scheint. 58 Nur schwer mit modernen Rezeptionsgewohnheiten in Übereinstimmung zu bringen ist ebenso die Tatsache, dass Marsilie während Karls Feldzug gegen die spanischen Sarazenen lakonisch als König der heidnischen Gegner bezeichnet wird (K 941f.), ohne auch nur mit einer Silbe an die Vorgeschichte zu erinnern, in der der junge Karl bei eben jenem Marsilie gastliche Aufnahme gefunden hatte (K 188ff.). Andererseits dürften sich Namen- und Personenidentität des zunächst asylgewährenden Königs und späteren Gegner Karls wiederum erst dem Strickerschen Anliegen einer engen Verknüpfung von Vor- und Hauptgeschichte verdanken, denn in den übrigen bekannten Mainet- Fassungen heißt der spanische Herrscher, der den verfolgten Karl aufnimmt, stets Galafre, Galaffer oder ähnlich. 59 Mit seinen Eingriffen zur Beseitigung von Unstimmigkeiten und Widersprüchen des Rolandslieds mittels Umstellungen und Ergänzungen, die ihrerseits jedoch wieder Diskrepanzen schaffen können, unternimmt der Stricker für den deutschen Bereich genau das, was französische ‹remanieurs› mit der bessernden und vervollständigenden Überarbeitung älterer Textfassungen leisteten. Der, um ein Beispiel aus dem Bereich der Chanson de geste zu wählen, ungefähr kontemporär zur Abfassungszeit des Karl schriftlich fixierte, wahrscheinlich aber schon einige Jahrzehnte zuvor entstandene Text der Chanson de Guillaume zeigt analoge Bearbeitungstendenzen. Zwei ursprünglich wohl eigenständige Branchen der Geste de Guillaume (Vivien und Aliscans) sind hier zu einem Text zusammengefasst und sinnvoll miteinander verknüpft, wodurch andererseits gerade neue Widersprüche entstehen. 60 Ein Verfahren also, das vergleichbar im Karl begegnet. Das Bemühen um Vervollständigung und logische Handlungsführung in Strickers Text verdankt sich demnach weniger individuellen Eigenarten eines ‹rationalen› Autors als vielmehr geläufigen Techniken bei der Verbindung ursprünglich eigenständiger Texte zu umfassenden Erzählverbünden. Im Zentrum des Karl steht zwar nach wie vor jenes alte maere (K 115), die im Rolandslied erzählte Geschichte also, die Karls Kampf gegen die Sarazenen schildert. Der Stricker lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass er mit jenem Hauptereignis nur einen Bruchteil dessen behandelt, was es von Karls Leben ansonsten noch darzustellen gäbe: 186 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 58 Vgl. dazu G eith , Carolus Magnus, S. 172-176. 59 Vgl. H orrent, Versions françaises, S. 202. 60 Vgl. dazu Jeanne W athelet -W illem : Recherches sur la Chanson de Guillaume. Etudes accompagnées d’une édition, 2 Bde. Paris 1975 (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège 210) und Beate S chmolke -H asselmann , in: Chanson de Guillaume. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Beate S chmolke -H asselmann . München 1983 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben, Bd. 20), S. 11. <?page no="197"?> der ez allez an ein buoch schribe, daz er begie bî sînen tagen, unde ez allez solde sagen, daz geschaehe kûme zwâre in einem halben jâre: der rede waere uns ze vil. K 52-57 Entsprechende Schnittstellen sind im Karl dann auch recht zahlreich. Bereits durch die Amplifikationen zu Beginn und gegen Ende der Rolandslied-Bearbeitung hat der Stricker den Ausgangstext in Richtung einer biographisch organisierten Erzählung umgeformt, die im Endeffekt den gesamten Lebensweg des Protagonisten von der Geburt bis zum Tod umfassen wird. 61 Mit der knappen Darstellung von Karls Eltern Pippin und Berta (K 124-142) greift der Text dabei ebenso wie mit dem abschließenden Hinweis auf Karls Aufnahme in den Kreis der Heiligen (K 12200-12204) sogar noch über den eigentlichen Lebensweg des Frankenkaisers hinaus. Zudem werden wenigstens abbreviatorisch Karls Jugend (vgl. den Mainet-Stoff), seine diversen Eroberungen, die Erwählung von Karls angeblichem Halbbruder Leo zum Papst und die Kaiserkrönung Karls erwähnt, bevor mit einem von Gott befohlenen Zug gegen die spanischen Heiden die aus dem Rolandslied bekannte Handlung einsetzt. Da die einzelnen Stationen aus der literarischen vita Karls jedoch nur anzitiert werden und überdies keine distinkten Branchen bilden, kann von einem biographischen Karl-Zyklus im Sinne der eingangs gegebenen, an Skårups Kriterien angelehnten Beschreibung nicht gesprochen werden. Vielmehr bleibt der Erzählfokus, wie schon im Rolandslied, auf die Katastrophe von Ronceval und die daraus resultierenden Ereignisse gerichtet. Seine Zentralstellung verdankt dieser Teil dem Faktum, dass Karls heiliger Krieg gegen die spanischen Sarazenen den größten Anteil an seiner Verehrung als Heiligen ausmacht: dâ mite er volleclîche erwarp/ den stuol der êwigen jugent (K 12202f.). Doch auch dort finden sich Passagen, die an außerhalb der Ronceval-Handlung liegende Stationen einer ‹Histoire poétique de Charlemagne› erinnern. So sagt Karl etwa vor der entscheidenden Schlacht gegen die Sarazenen zu Ogier von Dänemark: ich fröu mich dîn vil starke; / sît ich dich ze gîsel gewan,/ sît muosen dich alle mîne man/ êren alse mîn kint (K 9198-9201) und stellt damit einen deutlichen Bezug zur einstigen Geiselhaft des jungen Ogier am königlichen Hof her, wie die französische Heldenepik dies schildert. 62 Die merkwürdigen, Zyklische Potenziale 187 61 Zum zyklischen Potenzial des Karl vgl. ebenfalls O tt -M eimberg , Karl, Roland, Guillaume, S. 96. 62 Diese Passage, die weder im deutschen Rolandslied noch in den bekannten französischen Fassungen der Chanson de Roland eine Entsprechung besitzt, andererseits aber genau dem Handlungsverlauf der Enfances Ogier entspricht, ist möglicherweise als Übernahme einer epischen ‹Schnittstelle› in die deutsche Bearbeitung zu verstehen. Eventuell konnte sie stehen bleiben, weil der Ogier-Stoff (in gelehrten Kreisen? ) bekannt war. Abt Metellus von Tegernsee spielt in seinen ‹Quirinalien› (um 1165/ 1175) auf die Geschichte des Streites zwischen Ogier und Karl dem Großen an, die allerdings <?page no="198"?> auf deutsche Heldenepen zielenden Schnittstellen des Rolandslieds sind im Karl hingegen beinahe alle getilgt. 63 Der Stricker hat somit seine Überarbeitung des Rolandslieds im thematischen Umfeld der französischen Heldenepik verortet und dadurch - ähnlich wie Wolfram dies im Willehalm durch die Rückbindung an das Rolandslied erreicht hatte - einen um den Karlstoff zentrierten Proto-Zyklus in deutscher Sprache erschaffen. Da ist es dann kaum noch verwunderlich, wenn der Karl einen offenen Schluss besitzt, wie ihn ebenfalls die Chanson de Roland, nicht aber das Rolandslied bot. Allerdings ist er in Strickers Fassung orientiert am (ober)deutschen Rezeptionszweig der Chanson de geste-Tradition. Vielleicht mit angeregt durch Wolframs Konzeption einer Fortführung des aus dem Rolandslied bekannten Erzählgeschehens im Willehalm 64 stattete der Stricker seine Neubearbeitung des Rolandslieds mit einem Ende aus, das mittels eines überleitenden Verweises auf Ludewîc und Terramêr, die als kint (12195) der beiden Protagonisten Karl und Pâligân den Kampf der Väter fortsetzen werden, einen expliziten Konnex zwischen Karl und Willehalm herstellt. Offenbar hat der Stricker, in Analogie zu Karl und Ludwig auf christlicher Seite, ebenfalls Baligan und Terramer auf heidnischer Seite als Vater und Sohn aufgefasst. In diesen Zusammenhang gehört möglicherweise auch, dass Kanabêus, der im Rolandslied als einer der wenigen heidnischen Kämpfer der Vernichtung durch Karls Truppen entgangen und von Wolfram vielleicht gerade deshalb zum Vater Terramers gemacht worden war (vgl. S. 183), in Strickers Überarbeitung des Rolandslieds durch die Hand Karls stirbt (vgl. K 9967-9974). Karl und Willehalm erscheinen somit als zunächst noch distinkte, thematisch jedoch zusammengehörige Branchen eines einheitlichen Erzählkontinuums, das vom langwierigen Kampf zwischen der christlichen Karolinger- und der heidnischen Pâligân/ Terramêr-Sippe oder metaphorisch gewendet: vom überzeitlichen Kampf zwischen Gut und Böse handelt: sus stuont diu vîentschaft sît, daz Karl Pâligânen sluoc und sîner helfaere genuoc, unz ir kint gewuohsen ze man. 188 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption nicht in den Enfances Ogier, sondern in der Chevalrie d’Ogier berichtet wird; vgl. den Hinweis bei Alois W olf : Nibelungenlied - Chanson de geste - höfischer Roman, S. 82 u. Anm. 44. Ob man daraus auf eine weitere Verbreitung dieses Chanson de geste- Stoffes im deutschen Sprachgebiet schließen kann, wäre allerdings noch zu erweisen. 63 Übernommen ist lediglich der ‹antikisierende› Verweis auf den Römer Mantel, der Karl ein Pferd geschenkt habe, das dieser dann an Genelun weiterreicht (K 2155-2165). 64 Eine umfassende Vorbildfunktion des Willehalm für Strickers Karl vermutet Jean-Marc D elagneau : Rapports entre le Willehalm de Wolfram von Eschenbach et le Karl der Grosse du Stricker. In: Guillaume et Willehalm. Les épopées françaises et l’œuvre de Wolfram von Eschenbach, hg. von Danielle Buschinger. Göppingen 1985 (GAG 421), S. 15-29. Hingegen sieht D. K lein , Strickers ‹Karl der Grosse›, S. 311f., eine gezielte Abgrenzung des Karl vom Willehalm. <?page no="199"?> die riten ouch einander an durch daz alte herzesêr, Ludewîc und Terramêr. dô lâgen di heiden aber tôt. K 12192-12199 Der Stricker hat durch seine Vereindeutigungen der narrativen Unschärfen von Konrads Fassung des Ronceval-Stoffs, ebenso durch die knappen Verweise auf die sonstige seinerzeit existierende Karl-Literatur, vor allem aber durch die explizite Verknüpfung seiner Rolandslied-Bearbeitung mit Wolframs Willehalm die deutsche Chanson de geste-Rezeption auf eine neue Stufe gehoben und zu einer narrative Kontinuität stiftenden Erzählreihe um zentrale Ereignisse aus der karolingischen Ära ausgebaut. Damit waren, wenn auch in sehr viel bescheidenerem Maße und auf andere Weise als in der Romania, ebenfalls im deutschen Literaturraum die Voraussetzungen für eine Zyklifizierung des Erzählregisters der französischen Heroik geschaffen. Spätere Bearbeiter haben diese Möglichkeiten erkannt und auf unterschiedliche Art und Weise genutzt. So ist zum Beispiel in einem bestimmten Überlieferungszweig das zyklische Potenzial, das die durch den Stricker angelegte Erzählreihe von Karl und Willehalm birgt, aktiviert worden. Im Sinne der von Skårup entwickelten und hier zugrunde gelegten Kriterien kann daher von einem regelrechten Karl- Willehalm-Zyklus gesprochen werden. Dieser Zyklus umfasst mit Karl und Willehalm zwei distinkte Texte bzw. Branchen (Kriterium 1), die in der Reihenfolge der Erzählchronologie in einer Handschrift vereinigt sind (Kriterium 2). Die in den beiden Branchen agierenden Protagonisten sind identisch (so agiert z. B. der im Karl eindeutig dominierende Kaiser auch zu Beginn des Willehalm noch in dieser Funktion) bzw. sind miteinander verwandt: im Karl sind wie im Willehalm die jeweils gleichen Sippen (Karl/ Lois-Sippe bzw. Paligan/ Terramer-Sippe) in herausgehobener Position an den Kämpfen beteiligt (Kriterium 3). Es existieren, in Form des abschließenden Resümees in der Karl-Branche (K 12190-12206) sowie des einen erzählerischen Neueinsatz markierenden Prologs in der Willehalm-Branche (Wh 1,1-5,14), deutliche zyklische Signale zwischen den Texten (Kriterium 4). Und schließlich lassen sich Verweise im Karl ebenso wie im Willehalm ausmachen, die als zyklische Signale innerhalb der jeweiligen Branchen gelesen werden können (Kriterium 5a): im Karl ist dies die abschließende, auf die Fortsetzung des Ringens zwischen Christen und Heiden weisende Prolepse (K 12195-12199), im Willehalm fungieren die zahlreichen Bezüge auf das Rolandslied, die in diesem Fall ebenso für Strickers Rolandslied-Bearbeitung gelten, als Markierungen für die zyklische Kohärenz des aus der Karl- und Willehalm-Branche gebildeten narrativen Kontinuums. Dass die solcherart aufeinander bezogenen Texte von den Rezipienten in der Tat als thematisch und narrativ zusammengehörige Einheit verstanden werden konnten, belegen historiographische Texte wie die Oberrheinische Chronik oder die Heinrich von München zugeschriebene Weltchronik, in die sowohl Karl als auch Willehalm inseriert wurden, ohne allerdings Zyklische Potenziale 189 <?page no="200"?> direkt hintereinander geschaltet zu werden. Weitaus deutlicher demonstrieren dies bereits erwähnte Kontextualisierungen, in denen, wie im Sangallensis 857 oder dem rund zwei Jahrhunderte später geschriebenen Hamburger Kodex ms. germ. 19, Karl und Willehalm unmittelbar aufeinander folgen. Allerdings leisten die Karl und Willehalm gemeinsam überliefernden Handschriften keinerlei Angleichungen zwischen den beiden Branchen. So wird beispielsweise weder im Sangallensis 857 noch in der Hamburger Willehalm-Handschrift Terramer als Baligans Sohn präsentiert, wie Stricker dies in den Schlussversen des Karl signalisiert hatte. 65 Ebensowenig aufgelöst ist die Diskrepanz zwischen Karl 9631-9646 und Willehalm 441,4-18, wo das Wappen des heidnischen Oberkönigs jeweils unterschiedlich beschrieben wird. Der durch die Kontextualisierung von Wolframs und Strickers Chanson de geste-Bearbeitungen entstandene Verbund bildet damit im Sangallensis 857 und ebenso im Hamburger Kodex ms. germ. 19 zweifelsohne einen sequenziellen Zyklus. Aufgrund der fehlenden Angleichungen zwischen den beiden Branchen (Kriterium 5b) kann von einem organischen Zyklus jedoch nicht gesprochen werden. Die aus Karl und Willehalm bestehende Textgemeinschaft, vermehrt um weitere Branchen, zu einem ambitionierten organischen Zyklus auszubauen, blieb einem anderen Werk des 15. Jahrhunderts vorbehalten, das aus Gründen der Systematik aber erst später behandelt werden soll. Es liegt keineswegs an den eben beschriebenen Unschärfen, wenn Strickers Karl und Wolframs Willehalm nicht häufiger in einer Handschrift gemeinsam überliefert sind. Verantwortlich dafür dürften vielmehr die Ergänzungen sein, die als Fortsetzung des unvollendeten Willehalm oder als dessen ätiologische Vorgeschichte auftreten. Wolfram hatte durch verschiedene Verweise auf die von ihm nur ganz knapp angedeutete Genese des aktuellen Kampfs zwischen Christen und Heiden eine wichtige Schnittstelle zur epischen Vergangenheit des Protagonisten in seine Chanson de geste-Adaptation integriert. Wird der Streit bei Wolfram doch präsentiert als Resultat der Gefangenschaft Willehalms im Gefolge einer früheren Auseinandersetzung mit den Sarazenen, seiner Befreiung durch die heidnische Königin Arabel/ Gîburc - ehemalige Frau seines jetzigen Hauptfeindes und heidnischen Heerführers Tîbalt - und seiner anschließenden Flucht mit ihr (vgl. Wh 7,29-8,25; 43,12-30; 192,6-9; 220,14- 30; 293,27-294,30; 298,14-25). Daneben begegnen gleichfalls Hinweise auf andere zurückliegende Kämpfe zwischen Willehalm und heidnischen Heeresverbänden (vgl. etwa Wh 43,26-28: den Ausruf des Heidenkönigs Rûbûâl: nû waenent die Franzoisaere dort,/ daz uns der marcgrâve hie/ twinge, als er uns 190 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 65 Immerhin heißt in der Hamburger Willehalm-Handschrift der Sohn Baligans, in Übereinstimmung mit entsprechenden Stellen im Karl, Malprimes, während er im Sangallensis und in einigen weiteren Handschriften Palprimes, in wieder anderen Manuskripten Malbriens, Malpries oder Malpmis genannt wird; vgl. zum Willehalm im Sangallensis 857 die Lesarten zu 441,13 in der von H einzle besorgten Willehalm-Ausgabe; für die erst vor einigen Jahren wieder aufgefundene Hamburger Handschrift vgl. Joachim H einzle : Lesarten der Hamburger ‹Willehalm›-Handschrift. In: WS 14 (1996), S. 423-429. <?page no="201"?> twanc noch ie), aber auch auf sonstige frühere Waffentaten Willehalms (vgl. Wh 91,24-92,5: Gîburcs Erinnerung an Willehalms Kampf in Rom, wo er an der Seite Karls im Einsatz für Papst Leo seine charakteristische Nasenverletzung erlitt). Überdies enthält der Text Signale für den Fortgang des von Wolfram aus unbekannten Gründen nicht zu Ende erzählten Geschehens (vgl. Wh 420,22f.: der Verweis auf ein Pferd namens Lignmaredi, das Willehalm von Poidwîz erbeutete und das später Rennewart bekommen wird oder Wh 436, 4-6: die Erzählervorausdeutung angesichts der fliehenden Truppen Terramers: gein der muntâne/ kêrte sînes hers genuoc,/ des man sît dâ vil ersluoc). Angesichts solcher Schnittstellen, durch die Wolfram seine deutsche Bearbeitung französischer Heldenepik in ein umfassenderes Narrationskontinuum einordnete, erscheint es nur konsequent, wenn jene zyklischen Dispositive des Willehalm von späteren Autoren aufgenommen und in unterschiedlicher Weise umgesetzt wurden. Bekanntlich ging Wolframs Bearbeitung der Chanson d’Aliscans schon bald eine enge Überlieferungssymbiose mit Ulrichs von dem Türlin Arabel und dem Rennewart des Ulrich von Türheim ein. «Seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts sind die drei Epen zusammen als eine große ‹Geschichte von Willehalm› (mehr als 60000 Verse) gelesen worden; in dieser zyklischen Einbindung hat Wolframs Dichtung ihre weiteste Verbreitung gefunden.» 66 Es hat allerdings einige Zeit gedauert, bis die hier von J. Bumke angesprochene «zyklische Einbindung» der Willehalm-Trilogie von der Forschung als solche überhaupt zur Kenntnis genommen wurde. Betont wurden statt dessen lange Zeit eher die Unterschiede und das Trennende zwischen den drei Texten. Folgerichtig wurde sowohl für die Fortsetzung des unvollendet gebliebenen Willehalm als auch für dessen ätiologische Vorgeschichte vermutet, dass sie ursprünglich nicht als Ergänzungen von Wolframs Chanson de geste-Bearbeitung, sondern als eigenständige Werke konzipiert worden seien. 67 Hinter diesem Denkmuster verbirgt sich eine zweifache, miteinander zusammenhängende Begründung: Zum einen wurde - im Gefolge des bekannten organologischen Modells von der ‹Blütezeit› der deutschen Literatur während der staufischen Herrschaftsperiode und dem daran anschließenden ‹Niedergang› im späteren Mittelalter - den ‹nachklassischen Epigonen› Ulrich von dem Türlin und Ulrich von Türheim nicht zugetraut, die Größe des überragenden ‹Klassikers› Wolfram auch nur annähernd zu erreichen, so dass man sie keinesfalls als geeignete, erst recht nicht als kongeniale Fortsetzer des Eschenbachers anzusehen bereit war. 68 Diese Begründung für die Isolierung des Willehalm aus dem für die mittelalterliche Rezeption üblichen Textverbund wird ergänzt um ein weiteres, ebenfalls der Ästhetik des Zyklische Potenziale 191 66 B umke , Wolfram von Eschenbach, S. 399. 67 Für die Arabel vgl. etwa M c F arland, Minne-translatio und H öcke ; für Rennewart vgl. z. B. Eberhard Kurt B usse : Ulrich von Türheim. Berlin 1913 (Palaestra 121). 68 Für die Arabel vgl. etwa Werner S chröder: Der Wolfram-Epigone Ulrich von dem Türlin und seine ‹Arabel›. Stuttgart 1985 (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 22, Nr. 1); den <?page no="202"?> 19. Jahrhunderts geschuldetes Interpretationsmodell, demzufolge ein gelungenes Kunstwerk ein in sich geschlossenes, harmonisches Ganzes zu bilden habe. Eben dieser Gedanke hatte unausgesprochen als Erklärung gedient für die besondere Leistung Wolframs, der sein Werk aus dem französischen Zyklus herausgetrennt und dabei zugleich so bearbeitet habe, dass trotzdem ein klassisch-harmonisches Gebilde entstanden sei. In diesem Sinne charakterisierte bereits L. Clarus im Jahr 1865 den Willehalm: «Er [Wolfram] verwischte am Beginne wie am Schlusse durch sein eigenes hier ausschließlich wirksames poetisches Walten die Spuren des fremden Ursprungs, um seinem Gedicht die Fülle, Rundung und Abgeschlossenheit eines in sich vollendeten Ganzen zu geben.» 69 Ganz ähnlich bewertete auch noch J. Bumke in seiner 1959 publizierten und einen Meilenstein der Forschung darstellenden Untersuchung über den Willehalm die Leistung des Eschenbachers: «Aus der zyklischen Konzeption der Quelle ergibt sich Wolframs Kompositionsproblem. Seine Aufgabe mußte es sein, die Branche aus dem Zyklus zu lösen und ihr künstlerische Selbständigkeit zu verleihen, d. h. aus der Branche eine in sich geschlossene und aus sich selbst verständliche Dichtung zu machen.» 70 Aus dieser Perspektive musste natürlich eine erneute Ergänzung und Erweiterung des, nach jener Auffassung, erst mühsam aus dem Kontext der ‹Geste de Guillaume› gelösten und kunstvoll zu einem ‹geschlossenen› Werk redigierten Wolframschen Textes als überflüssig, ja als verfehlt erscheinen: Wie wenig Verständnis Wolfram damit [d. h. der Lösung aus dem Zyklus] fand, zeigt die Überlieferungsgeschichte: im 13. Jahrhundert empfand man den Willehalm nur noch als Bearbeitung der Branche und verlangte nach einer Vorgeschichte und nach einer Fortsetzung, die die beiden Ulriche lieferten. In der überwiegenden Zahl der Handschriften steht Wolframs Dichtung zwischen Türlins Willehalm [i.e. Arabel] und Türheims Rennewart: in diesem Zusammenhang hat man ihn im späten Mittelalter gelesen und verstanden. Unfreiwillig hat Wolfram selber einen Teil zu diesem Mißverständnis beigetragen; er hinterließ seine Dichtung als Fragment und lockte dadurch die Fortsetzer an. Erst die moderne Forschung hat den Willehalm aus dieser Umgebung befreit. 71 Problematisch an der Vorstellung der Konstruktion eines ‹geschlossenen› Gebildes durch Wolfram war die augenscheinliche ‹Offenheit›, also die Unabgeschlossenheit, der fragmentarische Charakter des Willehalm. Hier wusste man sich jedoch mit der bereits um 1900 von E. Bernhardt entwickelten These des 192 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption Rennewart hielt schon W. G rimm für «ein trockenes, geschwätziges Gedicht, das keinen Abdruck verdient.» In: W. G rimm : Kleinere Schriften, 6,24. 69 Zitiert nach B umke , Wolframs Willehalm, S. 13, Anm. 12. 70 Ebd., S. 12. 71 Ebd., S. 12f. B umke ist später von dieser seinerzeit gängigen, ästhetische Vorstellungen des 19. Jahrhunderts fraglos auf mittelalterliche Literatur übertragenden Auffassung abgerückt und hat die Frage der zyklischen Ausgliederung bzw. Einbindung des Willehalm sehr viel differenzierter und vorsichtiger beurteilt, vgl. B umke , Wolfram von Eschenbach, S. 388-390, 397-400. <?page no="203"?> «Notdachs» zu behelfen, das das aus unbekannten Gründen nicht zu Ende geschriebene Werk wenigstens mit einem provisorischen Abschluss versehen habe. 72 In neueren Forschungsansätzen gewinnt man der, für die Interpreten lange schwierigen Torsohaftigkeit des Willehalm hingegen eher positive Seiten ab, ja spiegelt sie sogar auf den gesamten Text zurück, der nunmehr als offenes, Brüche und Diskontinuitäten aufweisendes Gebilde gilt, gerade dadurch aber zum (prä)modernen Kunstwerk erklärt werden kann. 73 Der Rezeptionssituation seit dem späteren 13. Jahrhundert bis zum ausgehenden Mittelalter wird jedoch auch dieser Ansatz nicht gerecht. Denn Wolframs Chanson de geste-Bearbeitung erscheint in 11 von 12 Handschriften, die den Text enthalten, nicht als Torso, sondern als Teil eines umfassenderen Erzählkontinuums (vgl. den Anhang, S. 462f.). Noch immer wird für die Interpretation des Willehalm zu wenig die Erkenntnis fruchtbar gemacht, dass der Text für das mittelalterliche Publikum lediglich einen, wenn auch zentralen, Teil einer umfassenderen Erzählreihe bildete - die Unabgeschlossenheit des Willehalm dürfte vielen Rezipienten schon allein deshalb kaum problematisch geworden sein. In Abkehr zur bisherigen Forschungstradition soll statt dessen im Folgenden versucht werden, die Willehalm-Trilogie, der aufgrund der Überlieferungssituation zu vermutenden mittelalterlichen Auffassung entsprechend, konsequent als Erzählkontinuum zu betrachten und zu fragen, welche narrativen und thematischen Verknüpfungen ausschlaggebend dafür gewesen sein könnten, dass Arabel, Willehalm und Rennewart zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert als offenbar weitgehend gleichberechtigte Branchen eines stabilen Zyklus angesehen wurden. Allein durch die in mehreren Handschriften nachweisbare Kontextualisierung des Willehalm, der als Vorgeschichte dienenden Arabel und dem als Fortsetzung fungierenden Rennewart, die jeweils in der korrekten chronologischen Reihenfolge der in den drei Texten erzählten Ereignisse angeordnet wurden, sind die Kriterien 1 und 2 der Definition eines Zyklus erfüllt. In allen drei Texten steht zudem der namengebende Protagonist 74 im Zentrum des Er- Zyklische Potenziale 193 72 Vgl. Ernst B ernhardt : Zum Willehalm Wolframs von Eschenbach. In: ZfdPh 32 (1900), S. 36-57; eine Zusammenfassung der Forschungsdebatte um den Fragmentcharakter des Willehalm bieten John G reenfield , Lydia M iklautsch : Der «Willehalm» Wolframs von Eschenbach. Eine Einführung. Berlin, New York 1998, S. 163-167. 73 Vgl. K iening , Reflexion; Helmut B rackert : Wolframs von Eschenbach «Willehalm». Annäherung an einen mittelalterlichen Text. In: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, hg. von Helmut Brackert, Jörn Stückrath. Hamburg 1992, S. 160-173; Stephan F uchs : Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert. Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 31), S. 370ff.; Christopher Y oung : Narrativische Perspektiven in Wolframs «Willehalm». Figuren, Erzähler, Sinngebungsprozeß. Tübingen 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 104). 74 Auch Arabel und Rennewart wurden von der älteren Forschung, in Übereinstimmung mit der mittelalterlichen Titulierung, Willehalm genannt, die heute üblichen Bezeichnungen wurden aus Gründen der besseren Unterscheidbarkeit erst später eingeführt. <?page no="204"?> zählgeschehens, wodurch das dritte Merkmal zyklischen Erzählens nachgewiesen werden kann. Ist die zentrale Position des Protagonisten Willehalm für Wolframs und Türlins Text ganz offensichtlich, so könnten mit Blick auf Türheims Text gewisse Zweifel daran entstehen, da Willehalm hier zeitweise aus der Erzählhandlung verschwindet und mit Rennewart und Malefer andere Protagonisten in den Vordergrund treten. Doch wird die Erinnerung an Willehalm durch Erzählerbemerkungen, Figurenreden usw. stets wachgehalten. So bezeichnet z. B. der Erzähler Willehalm ausdrücklich als dizz b v ches herre (Rw 26051), bevor ein Narrationsstrang beginnt, in dem Willehalm keine aktive Rolle spielt. Für die Ausrichtung auch des letzten Teils der Trilogie auf die bereits in den übrigen Branchen im Zentrum des Erzählgeschehens stehende Figur spricht zudem, dass Türheims Text, und damit zugleich der gesamte Zyklus, nach der Darstellung der Taten Rennewarts und Malefers abschließend wieder zu Willehalm zurückkehrt, indem dessen Hinwendung zum geistlichen Leben, sein Tod und die Aufnahme in den Kreis der Heiligen beschrieben werden. Neben der Figur Willehalms, die somit alle drei Branchen des Zyklus dominiert, lassen sich allerdings noch weitere ‹Figuren› ausmachen, die vom Beginn bis zum Ende der aus über 60000 Versen bestehenden Trilogie im Vordergrund des Erzählgeschehens stehen. Gemeint sind die Herrscherdynastien der Christen und der Sarazenen. Anführer der christlichen, karolingischen Herrschersippe ist Lois, der Sohn und Nachfolger des bereits aus dem Rolandslied bzw. Strickers Karl bekannten Kaisers, über dessen Tod im Verlauf der Arabel berichtet wird; an der Spitze der heidnischen Herrschersippe steht Terramer, der Nachfolger des ebenfalls schon im Rolandslied bzw. Karl erwähnten Baligan. Der auf christlicher Seite kämpfende Terramer-Sohn Rennewart heiratet Alyze, die Tochter des Anführers der Christen. In dem dieser Verbindung entstammenden Sohn Malefer fallen beide Sippen in eins. Sein Großvater in agnatischer Linie ist Terramer, in kognatischer Linie ist es Lois. Es ist daher kein Zufall, wenn Malefer später die Versöhnung der beiden zuvor aufs Schrecklichste verfeindeten Geschlechter gelingt (vgl. S. 329f.). Das Blut beider Sippen vereinigt ebenfalls Malefers Sohn Johannes in sich, von dem gegen Ende des Zyklus erzählt wird. Das vierte Zyklizitätskriterium, zyklische Signale zwischen den einzelnen Branchen, ist innerhalb der Willehalm-Trilogie ebenfalls existent und zwar in Form der Prologe, die jeweils den Einsatz eines neuen Erzählabschnitts markieren - sowohl im Rennewart (Rw 1-186), als auch im Willehalm (Wh 1, 1-5,14) als auch in der den Zyklus eröffnenden Arabel (Ar *A 1,1-9,9/ 194 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption Vgl. auch die Bezeichnung Buch vom heiligen Wilhelm für die spätmittelalterliche Prosaauflösung von Arabel, Willehalm und Rennewart, die ebenfalls schon die einzelnen Handschriften nach dem als Protagonist empfundenen Markgrafen betiteln; in der Frauenfelder Hs. ist die entsprechende Partie überschrieben mit der Zeile: Von dem edlen ritter vnd marggraue Wilhelm von Naribon; in der Zürcher und Schaffhausener Hs. heißt es: Dis nachgehend hystoria seit von dem wirdigen ritter sant wilhelm; vgl. D eifu ß , Hystoria, S. 217. <?page no="205"?> *R 1,1-8,9). Dabei demonstrieren die Arabel ebenso wie der Rennewart ihren engen Bezug zum Willehalm und gerieren sich auf diese Weise als Ergänzung des älteren Textes. Ganz in diesem Sinne heißt es im Prolog der Arabel: Han ich nu kunst, div zeige sich durch reine hertze. Den wise ich dises b v ches rehtez angenge, des materie vns vil enge her Wolfram hat bet u tet: div iv wirt baz bel u tet. daz sprich ich nit vmme daz, daz munt ie gespræche baz. ir sult ez anderweide versten: wie ez von erste m v ste ergen, wer der graue was von Naribon, wie er durch todes gelt ze lon enterbte siniv werden kint, war si kæmen vnd wie auch sint wart gevangen der Akvrnoiz, vnd wie div k u ngin der Araboiz mit im entran vnd wart getauft, vnd wie tivr er sit ir minne kauft, des Alischantz wart bl v tes var. daz hat her Wolfram vns gar bet u tet an den striten zwein, wie liebes liep in liebe schein, wie lieb durch lieb hie dolte not, waz clarer augen iamers rot wurden hie durch liebes leide. Ar *R 4,1-25 75 Deutlich markiert wird durch diese Passage also, dass die Arabel als Vorgeschichte des bereits vorliegenden und beim Publikum als bekannt vorausgesetzten Wolframschen Textes zu verstehen ist. Der Prolog des Rennewart setzt den Willehalm ebenfalls als bekannt voraus und nennt als sein Ziel die Vollendung des abgebrochenen Wolfram-Textes: Swer sines [Willehalms] getihtes hat gelesen, daz der wise Wolfram do sprach (man nante in von Eshenbach. ez waz s u ze und meisterlich), ich von T u rheim U 0 lrich mit vorhten mich dar binde daz ich mich underwinde dar er gestecket hat sin zil. Zyklische Potenziale 195 75 In Fassung *A liest sich die Passage ganz ähnlich. Aus Gründen, die noch näher zu erläutern sind, wird jedoch nach Fassung *R zitiert, sobald es um die zyklische Integration der Arabel in die Willehalm-Trilogie geht. <?page no="206"?> dar umme ich doch nit lazen wil, es enwerde volle tihtet. er hat uns dar berihtet (daz ist gnugen wol bekannt): «sus rumte er Provenzalen lant». Rw 156-168 Expliziter als mit diesem wörtlichen Zitat aus Wolframs Chanson de geste- Bearbeitung (Wh 467,8), mit dem die meisten Willehalm-Handschriften enden, lässt sich der Bezug zum fortzusetzenden Text kaum noch herstellen. Trotzdem ist in Türheims Fortführung die bereits von Wolfram behandelte Thematik als distinkte Erzähleinheit markiert, indem der Rennewart mit einem eigenen Prolog ausgestattet wird; ein Verfahren, das ebenfalls Ulrich von dem Türlin für seine ätiologische Willehalm-Vorgeschichte anwandte. Zugleich verbindet allerdings das nicht nur zu Beginn des Willehalm, sondern in je eigener Weise auch im Prolog von Arabel und Rennewart nachweisbare, religiös aufgeladene Motivinventar alle drei Branchen miteinander und unterstreicht dergestalt die narrative Kohärenz des gesamten Unternehmens. Als zyklisches Signal zwischen den einzelnen Texten dienen in anderen Erzählreihen aber nicht nur, wie in der Willehalm-Trilogie zu beobachten, Prologe zu Beginn einer neuen Erzähleinheit, sondern ebenfalls häufig Epiloge oder abschließende Resümees, die das Ende einer Branche indizieren und den Übergang zur nächsten vorbereiten. In der Willehalm-Trilogie ist das nur in eingeschränktem Maße der Fall. Einen voll ausgearbeiteten Epilog weist lediglich der das Gesamtunternehmen abschließende Rennewart auf, dem aber natürlich keine Branche mehr nachfolgt (vgl. Rw 36449-36518). Wolframs Willehalm besitzt bekanntlich keinen Epilog, weil der Text vor der Vollendung abbricht. Auffällig ist aber immerhin, dass der Willehalm nur in zwei Handschriften mitten im Satz endet, 76 darunter der mit Abstand ältesten vollständigen Handschrift G (St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 857), die zudem Wolframs Chanson de geste-Bearbeitung nicht im Kontext der Trilogie überliefert - und wohl auch gar nicht in diesem Verbund überliefern konnte, weil die Ergänzungen um 1250, als Hs G entstand, noch nicht existierten. Alle anderen vollständigen Handschriften enden wenige Zeilen früher mit dem wenigstens einen gewissen, wenngleich höchst provisorischen Schluss bildenden, auch von Türheim zu Beginn des Rennewart zitierten Vers: sus rûmt er Provenzâlen lant (Wh 467,8). Im Falle des Willehalm lässt sich nicht entscheiden, ob, wofür die Angabe Ulrichs von Türheim im Rennewart-Prolog sprechen könnte, Wolframs Text ursprünglich mit Vers 467,8 endete und die restlichen Verse dann nachträgliche Ergänzungsversuche wären, oder ob ein Redaktor, vielleicht gerade angeregt durch Türheims Zitat, bei der späteren Integration des Willehalm in den zyklischen Kontext der Trilogie die Verse 467, 9-23 unter- 196 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 76 Vgl. Wh 467,22f. in Hs V und Hs G, in der allerdings die letzte Zeile abgeschnitten ist: den got heres hât gewert,/ daz er tr sten solte. <?page no="207"?> drückte, um Wolframs Werk mit einem wenigstens provisorischen Abschluss zu versehen und so besser in den Zyklus einzupassen. Unterschiedliche Textschlüsse, die deutlich für eine, wann und durch wen auch immer erfolgte, redaktionelle Überarbeitung und Harmonisierung mit der folgenden Branche des Zyklus sprechen, weist in jedem Fall die Arabel auf. In einigen Handschriften der Fassung *R 77 endet der Arabel-Text zwar nicht mitten im Satz, aber mit Vers 317,10 doch ein wenig unvermittelt während der Abschiedsszene zwischen Kaiser Lois und Willehalm nach einem prächtigen, zwölf Tage dauernden Fest, mit dem die Hochzeit von Arabel/ Kyburc und Willehalm begangen wurde; das gute Einverständnis zwischen dem Kaiser und dem Markgrafen steht der späteren Munleun-Szene in Wolframs Text, in der es bekanntlich zu heftigen Dissonanzen zwischen jenen beiden kommen wird, kontrafaktisch gegenüber. 78 Die im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts entstandene Arabel-Handschrift B lässt die Erzählhandlung hingegen etwas früher schließen, erreicht dadurch aber nicht etwa eine schlechtere, sondern im Gegenteil eine eher logischere Verknüpfung mit dem Willehalm. Denn in B endet der Text mit Vers 312,15 noch während der erwähnten Hochzeitsfeierlichkeiten, als Willehalm und Kyburc ihre milte beweisen, indem sie großzügig Geschenke an die Geladenen verteilen. 79 Kyburc setzt dabei gezielt auf das geläufige do ut des-Prinzip, macht sie doch Willehalm während der Verteilung der Gaben darauf aufmerksam, dass man die Dankbarkeit der so Beschenkten noch bitter nötig haben könne, da ihr Ex-Ehemann Tybalt sich vermutlich an ihr und Willehalm rächen und mit einem großen Heer in das Christenland einfallen werde: ‹Herre, du hast zu geben wol. din hant sich niht besliezen sol, div sol rehte gar offen sten. vngel u cke m o hte ergen, daz man vns mit here s v chte; swer danne des ger v chte, daz er dine gabe enpfienge, vnsanfte vns der abe gienge. vnser satz sol gein den heiden sin: Tybaldes hertze treit daz min, swie ich im enpflohen bin.› Zyklische Potenziale 197 77 Vgl. die Handschriften H und Ka und die nur noch unvollständig erhaltene, unzutreffend als Fragment 6 bezeichnete Handschrift, die jeweils die gesamte Trilogie enthalten, sowie die nicht im zyklischen Verbund überlieferte Handschrift Hn, die heute mit einer Teilhandschrift von Albrechts Jüngerem Titurel vereinigt ist. 78 Der relativ abrupte Abbruch des Arabel-Textes in den erwähnten Handschriften scheint dadurch entstanden zu sein, dass der in anderen Handschriften überlieferte Epilog (s. u.) unterdrückt wurde - möglicherweise um einen ‹nahtlosen› Übergang zum Willehalm herzustellen? 79 Vgl. zum Schluss der Handschrift B auch S chröder , ‹Arabel›-Studien VI, S. 11f. <?page no="208"?> nu gap Kyburc div k o nigin an pfelle wat, als ich ez han, vingerlin vnd richiv f u rspan, driv tusent marc vnd dannoch mer. Ar *R 312,1-15 In Handschrift B endet die Arabel demnach mit einem gleichsam prophetischen Ausblick auf eben das Geschehen, mit dem Wolframs Erzählhandlung nach einer knappen Exposition in der nächsten Branche einsetzen wird. Mit der Landung der Heiden in der Provence, die unter der Führung von Arabels/ Gyburgs Vater Terramer und ihres Ex-Ehemanns Tybalt die aus dem heidnischen Herrschaftsbereich und der Gewalt ihres Mannes Geflohene zurückholen und den für diese Vorgänge verantwortlichen Willehalm mitsamt den anderen Christen töten wollen (vgl. Wh 8,29-11,18). Dass Handschrift B nicht etwa zufällig, z. B. durch Blattverlust, mit 312,15 endet, sondern ein Redaktor an dieser Stelle bewusst einen Schlusspunkt setzte, beweist ein unmittelbar und mit korrekter Reimentsprechung (mer: her) an den letzten Vers (*R 312, 15) anschließendes Gebet. 80 Das Ende der Arabel-Handschrift B (mit Kyburcs Vorahnung kommender Auseinandersetzungen zwischen Heiden und Christen) kann deshalb wohl in gewisser Weise als zyklisches Signal gelesen werden, das auf die nächste Branche, auf Wolframs Willehalm, vorausweist. Die übrigen Fassung *R überliefernden Arabel-Handschriften (V, W, Wo, E) kennen nach Vers 317,10 sämtlich einen, hier nun eindeutig als zyklisches Signal fungierenden Epilog, der durch die erneute Erwähnung der Geschenke, die mit Blick auf zukünftige Kämpfe ausgeteilt wurden, (ganz ähnlich wie Handschrift B) zugleich die nächste Branche avisiert und rückschauend noch einmal an die ätiologische Funktion der Arabel erinnert. Diese für die zyklische Struktur der Willehalm-Trilogie so bedeutsamen Übergangsverse, die W. Schröder allerdings für «notdürftig [...] ergänzt» hielt, 81 infolgedessen in seiner Edition unterdrückt und in den Apparat verbannt hat, lauten wie folgt (nach Hs V): Nv habt irz allez wol vernomen, wie dise red ist her chomen. die herren namen all vrlaub do mit grozzen zuechten vnd warn vro. der pabst rait da er wold. den fuersten von gestain vnd von gold wart gegeben vnd reich gewant. ieder herr rait in sein lant vnd danchten dem [Markis] vnd Chyburch vil: ‹wier wellenz gern dienen, ob vns wil got lazzen gesunden leben. 198 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 80 driv tusent marc und dannoch mer./ da mit pflege vnser daz hymlisch her,/ da wir ewiclichen/ wonen mit gote dem richen,/ da vræude ist ane entwichen. amen; vgl. den kritischen Apparat zur Stelle in S chröder s Ausgabe. 81 Vgl. den Apparat zu *R 317. <?page no="209"?> w i r wellen daz willicleich geben vnd fuer euch in wag setzen, daz w i r euch schullen er ergetzen.› Nv hat di vor red end. got sein genad vns allen send vnd geb vns sein heiligen gaist, daz er sei vnser vollaist, daz wir also hie gepowen, daz wir di himelischen vrowen mit irem svn ewichleich beschowen. Ar *R 317,11-31 Danach folgt in Hs V noch ein Kolophon, der als zusätzliches, auf den Abschluss eines ersten Teils verweisendes, zyklisches Signal verstanden werden kann, das zugleich freilich die Fortsetzung der Erzählung in weiteren Teilen impliziert: Amen Amen Amen Amen/ Hie hat daz erst puech ein end. 82 Überhaupt sind die, je nach Handschrift, ganz unterschiedlichen Schreiberbzw. Redaktorbemerkungen, mit denen eine Branche der Willehalm- Trilogie eingeleitet oder beendet wird, neben dem Layout der betreffenden Seiten, wichtige Kennzeichen für die Analyse der Zyklizität eines Kodex. So sind in Hs V beispielsweise nach dem eben erwähnten Kolophon der Arabel- Branche drei Folioseiten leer geblieben, auf die dann zwei Stricker-Mären (Der nackte Bote; Von dem Hasen) eingetragen wurden. Die Willehalm-Branche beginnt danach mit einer kurzen Prosazusammenfassung des Erzählinhalts von Wolframs Text 83 - ein gängiges zyklisches Signal ‹entre les textes› also, das die Kohärenz des Textverbundes deutlich unterstreicht. Am Schluss des Wille- Zyklische Potenziale 199 82 Ich zitiere nach der Faksimile-Ausgabe des Cod. 2670 der ÖNB, Wien, fol. 60 v ; Wolfram von Eschenbach. Willehalm. Codex Vindobonensis 2670 der Österreichischen Nationalbibliothek, 2 Bde. Kommentar von Fritz Peter Knapp. Graz 2005 (Glanzlichter der Buchkunst 14/ 1 und 14/ 2). In der einzigen Handschrift, die die Fassung *A der Arabel enthält (Heidelberg, cpg 395), fehlen dem Text, der anstelle des in *R 317,11-31 überlieferten zyklischen Epilogs die Erzählhandlung in knapp 1000 Versen unmittelbar bis an den Vorabend der im Willehalm das Erzählgeschehen eröffnenden ersten Alischanz-Schlacht fortführt, hingegen ein Epilog oder resümierende Schlussbemerkungen, die als zyklische Signale zwischen den Branchen fungierten (vgl. Ar *A 933). Dies dürfte jedoch damit zusammenhängen, dass die Arabel in dieser Handschrift nicht als Branche der Willehalm-Trilogie erscheint, sondern in einem anderen Überlieferungsverbund steht (vgl. S. 214ff.). 83 Die Prosazusammenfassung lautet (zitiert nach der Faksimile-Ausgabe des Cod. 2670): Hie hebt sich di red an von sand wilhalm. vnd nur von dem gesezz da ze orans da sein weib besezzen ward. vnd perleich nur von den zwain streiten di auf alischantz gestriten wurden. vnd wie er in dem ersten streit sein volch gar verlos. daz er nur alain genas. vnd wie er seit nach helf gein Franchreich rait. zv dem chunich Ludweich der romisch chron truech der het ouch sein swester. vnd wi er di seid wol zerouft. vnd wi daz seid versuenet ward. vnd wie der chunich helf gab. vnd all sein mag. vnd wi ein grozz her er gewan. vnd wie er hintz orans wider chom. vnd wi er di erlost. vnd wi er seid mit den haiden strait. vnd wi er den angesigt. vnd wie iz allz ergie. <?page no="210"?> halm finden sich in Hs V ähnliche redaktionelle Bemerkungen allerdings ebenso wenig wie zu Beginn des Rennewart. Das einzige zyklische Signal zwischen den Branchen bleibt demnach hier der Prolog von Türheims Text. Gleichwohl dürfte der Kodex als eine aus drei Branchen bestehende Einheit aufgefasst worden sein. Dafür spricht ebenso die offenbar gleichermaßen auf Arabel, Willehalm und Rennewart bezogene Überschrift auf fol. 1 ra Ditz ist sand Wilhalms puech 84 wie das Bild- und Initialenprogramm der Handschrift. 85 Auch in den übrigen, die gesamte Trilogie enthaltenden Handschriften lassen sich als zyklische Signale ‹entre les textes› zu interpretierende Redaktorbemerkungen ausmachen, die, vergleichbar Hs V, allerdings nicht konsequent zwischen Arabel- und Willehalm-Branche und Willehalm- und Rennewart-Branche stehen, sondern stets nur am Ende oder am Beginn einer (als besonders wichtig empfundenen? ) Branche. So stehen etwa in Hs B, die die Arabel-Branche mit einem Segenswunsch auf fol. 25 vc beendet (s. o.), über dem Beginn des Willehalm, der mit einer 10-zeiligen blau-roten Fleuronnée-Initiale auf einer neuen Folioseite einsetzt, die Worte: Liber secundus. 86 In Hs H wird auf fol. 108 r allein der durch eine 6-zeilige blau-rote Initiale avisierte Anfang des Rennewart noch besonders markiert durch die Bemerkung: Hie hebt sich an daz dritte buch vnd hat getihtet vlrich von dvrhein. Während in derselben Handschrift auf fol. 1 r der Anfang der Arabel und somit der gesamten Trilogie immerhin noch durch eine 12-zeilige blau-rote Zierinitiale herausgestellt ist, wird der Beginn des Willehalm auf fol. 45 v weder durch eine Redaktorbemerkung noch durch eine größere Zierinitiale besonders kenntlich gemacht. 87 In Hs Wo steht am Schluss des Willehalm: Hie hebt sich an Rennwart/ der mit der stang tet grozzen mort. In Hs W, der im Auftrag König Wenzels IV. angefertigten Prachthandschrift der Willehalm-Trilogie, liest man auf fol. 66 va , nach dem Arabel-Epilog und vor dem in einer neuen Spalte mit 15-zeiliger Buchstabeninitiale einsetzenden Willehalm, zweimal die redaktionelle Bemerkung: Hie hebt sich an marcgraf wilhelmes buch das ander. das getichtet hat 200 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 84 Die Überschrift ist, wie allein schon die dreizeilige, farbig angelegte D-Initiale zeigt, nicht etwa eine spätere Beischrift, sondern gehört zu den ursprünglichen redaktionellen Bemerkungen. Sie wird von gleicher Hand fortgesetzt durch: Daz ist geschriben da von christes gepürt warn ergangen. Tousent iar drev hundert iar dar nach in dem zwainzigstem iar Michahelis berait (29. 9. 1320). 85 Vgl. dazu Christopher Y oung : Der Doppelkonflikt in der ‹Willehalm›-Überlieferung des Codex Vindobonensis 2670. Mensch gegen Mensch, Text gegen Bild. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993, hg. von Kurt Gärtner u. a. Tübingen 1996, S. 348-358. 86 Vgl. die Abbildung in Peter Jörg B ecker , Eef O vergaauw (Hg.): Aderlass und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln. Berlin 2003, S. 93. Auf fol. 61 vc der dreispaltigen Handschrift setzt der Rennewart, ebenfalls mit einer mehrzeiligen blau-roten Fleuronnée-Initiale, in einer neuen Spalte ein. 87 Vgl. das Volldigitalisat unter: http: / / diglit.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg404. <?page no="211"?> der von Eschenbach Herr wolfram der edle meister. Da die Worte einmal in roter und einmal in blauer Tinte geschrieben sind, hebt sich die zyklische Markierung umso deutlicher von der Textumgebung ab. Noch unterstrichen wird dies dadurch, dass die gleiche Bemerkung, nun aber in Gold und auf Lateinisch geschrieben, unmittelbar im Anschluss daran, vielleicht um die Spalte vollständig auszufüllen, ein weiteres Mal wiederholt wird: hic incipit liber secundus margrauij wilhelmi quem compilauit et composuit magister wolframus de eschenbach. Zwischen der Willehalm- und der Rennewart-Branche dieser Handschrift findet sich eine vergleichbare Überleitung hingegen nicht. Nach dem letzten Vers des Willehalm (sust ravmt er prouentzalen lant) setzt der Rennewart auf fol. 161 rb in der gleichen Spalte mit einer 15-zeiligen Bildinitiale ein, die zeigt, wie der Erzähler um göttlichen Beistand für sein Vorhaben bittet. 88 Eine interessante Gliederung der Willehalm-Trilogie lässt sich an Layout und Redaktorbemerkung der Handschrift C ausmachen. 89 Die um 1460 im Rheinland entstandene Handschrift bietet nicht nur eine eigene, *A und *R berücksichtigende Fassung der Arabel, die zudem mit *A 187,17/ *R 192,17 sehr viel früher abbricht als alle anderen bekannten Handschriften, sie hat nicht nur interessante Plusverse an einer bedeutsamen Stelle des Willehalm (auf fol. 51 v / 52 r ) und geht überhaupt recht frei mit dem Wortlaut der Vorlage um, die Handschrift dokumentiert darüber hinaus eine ganz eigene Auffassung vom Aufbau des Zyklus. Die Arabel-Branche beginnt, wie dies auch in den anderen Handschriften der Trilogie nicht unüblich ist, mit einer 7-zeiligen Initiale. Dass der plötzliche Arabel-Schluss schon immer in der Handschrift vorhanden war und nicht etwa durch späteren Blattverlust entstand, demonstriert u. a. die unmittelbar auf die letzten Arabel-Zeilen folgende Bemerkung: Sequitur ane ende du reyner (als Kustode am Ende einer Seite stehend), die auf den Beginn der Willehalm-Branche zielt, die auf dem nächsten Blatt durch eine 4-zeilige Initiale eingeleitet wird. Am Ende des Wolfram-Textes und zu Beginn des Türheim-Textes lässt sich eine vergleichbare Markierung jedoch nicht nachweisen. Ohne den Rennewart-Prolog, mithin ohne jedes zyklische Signal, schließt Türheims Text mitten in einer Lage direkt an Wolframs Willehalm an. Beide Werke sind hier also gleichsam als Einheit verstanden worden und sollten wohl auch von den Rezipienten als solche verstanden werden. Eine Markierung, die als zyklisches Signal zwischen unterschiedlichen Branchen aufgefasst werden kann, findet sich in Hs C hingegen auf fol. 297 r / 297 v nach dem Rennewart-Vers 26046; eine Passage, die in der Tat eine Zäsur innerhalb der narrativen Progression bildet, wie der Text in einer Erzählerbemerkung auch selbst betont (vgl. Rw 26038-26046): Zyklische Potenziale 201 88 Maria T heisen danke ich dafür, dass sie mir Abbildungen der entsprechenden Seiten zugänglich gemacht hat. 89 Vgl. zu dieser Handschrift Christoph G erhardt : Bemerkungen zur Handschrift C von Wolframs «Willehalm». In: Studi Medievali, Serie Terza 11 (1970), S. 957-973; D omes , S. 302-314; S chirok , Autortext, S. 179f., 189f.; U rban , S. 44f. <?page no="212"?> von Willehelm dem markys 297 r wil ich nu nit sprechen me. daz ich han gesprochen e, ich welle iu vil noch von im sagen; 297 v mit urlaube wil ich des gedagen. biz ich ez bringe an daz zil daz ich ez t v n sol und wil. des sol iuch belangen niht, wan ez f u r war von mir geshiht. Nach den letzten sechs dieser Zeilen, die nur wenig Raum einer Seite füllen, ist das ganze restliche Blatt 297 v unbeschrieben geblieben. Mit einer sechszeiligen Initiale, der Markierung eines Neueinsatzes also, hebt auf dem folgenden Blatt dann jedoch die Schilderung der Taten des Rennewart-Sohnes Malefer an, die, abgesehen von Variationen im Wortlaut, dem von Türheim vorgegebenen Text folgt. In Hs C ergibt sich somit der Fall einer sonst nicht nachweisbaren, originellen Differenzierung der Willehalm-Trilogie in Branchen, die als Arabel, Willehalm/ Rennewart und Malefer tituliert werden könnten. Die ganz eigenständige Gliederung spricht ebenso wie der relativ freie Umgang mit dem Wortlaut der Vorlagen für eine gewisse Souveränität des Schreibers/ Redaktors der Handschrift. Neben die gerade behandelten ‹signaux cycliques entre les textes›, die nach der von Skårups Kriterien ausgehenden Beschreibung zur Bestimmung einer Textgruppe als zyklisch notwendig sind, müssen überdies ‹signaux cycliques dans les textes› treten, wenn ein Verbund aus mehreren Texten als Zyklus bezeichnet werden soll. Bereits im Willehalm existieren, wie bereits gesehen, derartige Schnittstellen, etwa die Verweise auf das Rolandslied oder die von Wolfram nur ganz knapp angedeutete Genese der Beziehung zwischen Willehalm und der ehemaligen Heidenkönigin Arabel oder auch Anspielungen auf zukünftiges Geschehen. Aus ihnen allein lässt sich aber lediglich folgern, dass ein Text über zyklische Valenzen verfügt. Solange diese Valenzen nicht durch andere Autoren in neuen Texten aktiviert - und der so entstandene Verbund dann tatsächlich in einer Handschrift vereinigt wird (vgl. Kriterium 1) - kann noch nicht von einem Zyklus geredet werden. Die Suche nach zyklischen Signalen innerhalb der Texte der Willehalm-Trilogie kann sich daher also nur auf die Ergänzungen der Wolframschen Chanson de geste-Adaptation erstrecken. Dort allerdings sind solche ‹signaux cycliques› überaus zahlreich. 90 So zitiert etwa der Rennewart in Vers 168 nicht nur den Schlussvers (der meisten Handschriften) des Willehalm wörtlich, sondern bezeichnet ihn zu- 202 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 90 Eine umfassendere Aufstellung der zyklischen Signale in Arabel und Rennewart, häufig Prolepsen oder Analepsen, findet sich in meinem Beitrag: Rewriting »Willehalm«? Zum Problem der Kontextualisierungen des »Willehalm«. In: ZfdPh 124 (2005), Sonderheft Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, S. 117-138. <?page no="213"?> dem explizit als Ende des fortzusetzenden Textes. Mit der Wendung umme ir [der Heiden und der Christen] shaden und umme ir sheiden/ hat ir wol vernomen e (174f.) nimmt der Text dann ein weiteres Mal direkten Bezug auf das Erzählgeschehen des Willehalm. Die beiden Alischanz-Schlachten des Willehalm werden erinnert in 5761-5765, wenn Kyburg anlässlich einer erneuten Auseinandersetzung zwischen Christen und Heiden darauf hinweist, dass min vater Terramer/ [...] zu dem dritten male/ [...] her zu Pruvenzale/ ist komen durch mich armes wip (ähnlich auch in 8129-8132; 12500f.; 20938f.: als Willehalm sich bei einem neuerlichen Einfall der Heiden aufmacht, Hilfe zu holen, rechnet Kyburg ihm vor: nu wilt du riten von mir hin,/ herre, zu dem vierden male; 24563-65 äußert Terramer nach seiner Niederlage gegen das christliche Heer: so rume ich Provenzale/ nu zu dem vierden male/ mit shaden und mit shande). Anklänge an weitere wichtige Willehalm-Passagen begegnen im Rennewart beispielsweise in der Schilderung einer ganz ähnlich schon von Wolfram beschriebenen Liebesnacht zwischen Willehalm und Kyburc, als der Protagonist, nach erfolgreicher Herbeiführung eines Entsatzheeres, wieder zu seiner Frau ins von Heiden belagerte Orange zurückkehrt (5818-5827); in der Überbietung der wichtigen Matribleiz-Szene aus Wolframs Text, als König Loys dem in der entscheidenden Schlacht unterlegenen Terramer gestattet, nicht nur die gefallenen heidnischen Könige vom Schlachtfeld zu bergen und in die Heimat zu überführen, sondern überdies swaz k u nge und ritter lebt in die heidnischen Länder zurückbringen zu dürfen (24115-24127). Weniger dicht als der Rennewart, in dem sich die Verweise auf das fortgesetzte Werk gleichmäßig über den gesamten Text erstrecken, sind weite Partien der Arabel durchsetzt mit Bezügen auf Wolframs Aliscans-Bearbeitung. Gleichwohl existieren auch in Türlins Text entsprechende Hinweise. Der Funktion der Arabel als ätiologische Vorgeschichte des Willehalm entsprechend handelt es sich dabei fast stets um Anspielungen auf das in der epischen Zukunft liegende Erzählgeschehen. Die offenbar als hochproblematisch empfundene Enterbung der Heimerich-Söhne, mit der Wolframs Aliscans-Adaptation beginnt, wird in der Arabel elegant aus der (Erzähl)Welt geschafft, indem Heimerichs Patenkind, das er auf Kosten seiner leiblichen Kinder einst, wie Wolfram erzählt hatte, zum Erben einsetzte, Opfer eines frühen Todes wird: der was nu hin, er m v t vns niht (*R 218,12); der waz nv hin, er m v t si niht (*A 213,12), wodurch, wie aus dieser Nachricht unausgesprochen, aber zwingend folgt, Willehalm und seine Brüder wieder in ihre angestammten Rechte eintreten können. Während der Beschreibung der repräsentativen Feierlichkeiten anlässlich der Hochzeit von Willehalm und Kyburc wird das Verhältnis von Willehalms Braut zu dessen Schwester und deren Mann, dem Kaiser, als völlig ungetrübt bezeichnet (*R 276,27-31/ *A 271,27-31), dabei wird jedoch in einer auf die Munleun-Szene des Willehalm bezogenen Prolepse ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Harmonie sich später in ihr Gegenteil verkehren wird: Div liebe nach doch wandelt sich,/ als her Wolfram seit (*R 277,1f./ Zyklische Potenziale 203 <?page no="214"?> *A 272,1f.). 91 In diesen Zusammenhang gehört ebenfalls die Vorausdeutung, mit der Kyburc ihren Mann bei der Verteilung von Geschenken an Mitglieder der Hochzeitsgesellschaft darauf aufmerksam macht, dass man auf die Hilfe der Beschenkten noch angewiesen sein könne, wenn - wie dann tatsächlich in Wolframs Text geschildert - die Heiden aus Rache über die Entführung Arabels/ Kyburgs in Willehalms Territorium eindringen könnten (*R 312,1-11/ *A 307,1-11/ *R 317,16-24 in Hss V, W, Wo, E). Besonders dicht stehen die Hinweise auf das von Wolfram erzählte Geschehen in den rund 1000 Reimpaarversen am Schluss der vollständig nur in cpg 395 überlieferten Fassung *A, in deren Erzählverlauf die erzählte Zeit der Arabel schließlich bis unmittelbar an den Beginn des Willehalm heranreicht. 92 So wird das in Wolframs Aliscans-Bearbeitung später eine wichtige Rolle spielende und für das Verständnis des Textes zentrale Motiv des überaus engen Verhältnisses Willehalms (und Gyburgs) zu Willehalms Neffen Vivianz und zu seiner Nichte Alyze vorbereitend erklärt dadurch, dass beide am Hof des Onkels in Orange erzogen werden (Arabel-Fortsetzung, 115-126). Das zeitliche Verhältnis zu den von Wolfram berichteten späteren Geschehnissen wird zu Beginn der Arabel-Fortsetzung überdies verdeutlicht durch die Darstellung der Alyze als kleines, noch mit Puppen spielendes Mädchen (183-186). In einer Prolepse, die auf das in Wolframs Text beschriebene Liebesverhältnis zwischen Alyze und Rennewart abzielt, wird jedoch darauf verwiesen, dass sie ihre Zuneigung zukünftig anderem ‹Spielzeug› zuwenden könne: liht aventv i r geschiht, daz ir wirt ein ander toke, der minne si ze hoher liebe loke, dann ir dehein toke t q Arabel-Forts., 187-190 Genau markiert wird die Zeitdifferenz zwischen dem gegen Ende der Arabel berichteten Erzählgeschehen und dem Beginn des Willehalm des weiteren in einer Prolepse, die sich in einer Erzählerrede findet: diz wert biz in das sehste jar, daz haz vnd leit mit nides var aller Franzoyser lant entworhrt, vnd Tybaldes verlornv i minne worht, daz bl v tes x nde daz lant bet p ten. mit iamer die kristen b p ten mit gedinge vf zwifels grvntveste. den wal (Hs: val) Kybvrge vor wol weste. daz lazzen wir sin, ez ist geschehen. Arabel-Forts., 306-314 204 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 91 Vgl. dazu auch U rban , S. 69. 92 Gegen die von W. S chröder mehrfach vertretene Auffassung, die Fortsetzung in Reimpaaren stamme von einem späteren Redaktor, wendet sich U rban , S. 46. <?page no="215"?> Ähnlich wie am Beispiel der noch kindlichen Alyze wird der zeitliche Abstand zum Erzählgeschehen des Willehalm auch durch die Darstellung des noch sehr jungen Fivianz, wie er bei Türlin heißt, verdeutlicht (Arabel-Fortsetzung, 358-364). Ein weiterer direkter Reflex auf Wolframs Chanson de geste-Bearbeitung ist die Erwähnung des aus dem Willehalm namentlich bekannten Kaplans Steven (vgl. Wh 89,4 und 227,15), der dort dem Hof in Orange angehört, als Mitglied eben dieses Hofstaats auch in der Willehalm-Vorgeschichte (Arabel-Fortsetzung, 575). Die Schilderung der bereits von Wolfram erwähnten Schwertleite des Vivianz (Wh 60,4-14; v. a. 63,12-30) wird zwar unter Hinweis darauf ausgelassen: her Wolfram daz gesaget hat: / sin ist vndvrft, daz ich ez sage (Arabel-Fortsetzung, 589f.), doch werden mit schilte und richer wat (Arabel-Fortsetzung, 588) wohl keineswegs zufällig eben jene Ausrüstungsgegenstände genannt, die auch Wolfram bei Vivianz Schwertleite herausgestellt hatte. Das Ende der Feierlichkeiten zu Fivianz Schwertleite gibt Gelegenheit zu einer weiteren Prolepse, deren enger Bezug zu Wolframs Text noch mit einem direkten Zitat aus dem Willehalm (vgl. Wh 12,30: Gîburge süeze wart in sûr) untermauert wird: dar nach an dem dritten tage dv i ritterschaft ze lande kerte, dv i sit iamer trvren lerte, als v i daz mere noch kv i ndet. her Wolfram hat ez ergrv i ndet, wie der Markys minne k p fte, daz manigen von dem leben sl p fte. Kyburge s x zze wart hie svr! Arabel-Forts., 591-598 Auf Fivianz’ Tod während der ersten Alischanzschlacht weist zudem eine andere Vorausdeutung (621-625). Und auf diese Schlacht bezieht sich ebenfalls die letzte Prolepse der Arabel-Fortsetzung (813-822), in der, mittels einer raffinierten Anspielung des Erzählers auf Wolframs Verantwortung für das im Willehalm Erzählte, zugleich die Literalität auch der Vorgeschichte thematisiert wird: ich wen von reiner p gen rizzen, dv i herzeleide hat tru i we gelert; der erde ir t p sich habe gemert, als her Wolfram vns giht. owe war vmbe sweig er niht? Arabel-Forts., 823-827 In der Willehalm-Vorgeschichte finden sich damit ebenso wie in der Fortsetzung genügend ‹signaux cycliques dans les textes›, um die aus Arabel, Willehalm und Rennewart bestehende Trilogie als kohärentes Erzählkontinuum, eben als Zyklus, bezeichnen zu können. Ein weiteres Ergebnis der Überprüfung der Willehalm-Trilogie auf zyklische Signale innerhalb der einzelnen Branchen ist die Erkenntnis, dass Rennewart und Arabel sich allein auf Wolframs Text, nicht jedoch auf die jeweils andere Willehalm-Ergänzung beziehen. Zyklische Potenziale 205 <?page no="216"?> Am ungezwungensten dürfte sich dies wohl damit erklären lassen, dass Arabel und Rennewart etwa gleichzeitig, aber unabhängig voneinander entstanden. Die in sämtlichen Handschriften von Arabel und Rennewart gleichermaßen zu konstatierenden Verweise auf den Willehalm machen es von vornherein unwahrscheinlich, dass die beiden Texte, wie vor allem von der älteren Forschung vermutet, ursprünglich als selbstständige Werke konzipiert wurden. Beide verstehen sich vielmehr offenkundig, wie bereits die Prologe dies artikulieren, als Ergänzungen des Wolfram-Textes. Ohne den Referenztext des Willehalm, der immer wieder in Türlins und Türheims Text aufscheint, blieben Arabel und Rennewart letztlich unverständlich. 93 Zugleich erhellt aber aus den jeweils nur auf den Willehalm bezogenen Verweisen in Arabel wie Rennewart, dass der aus allen drei Texten bestehende Verbund, wie ihn die meisten der bekannten Handschriften überliefern, erst in einer späteren Bearbeitungsstufe entstanden sein dürfte. Wenn das Zustandekommen der Trilogie jedoch das Produkt eines eigenständigen Arbeitsschrittes ist, bleibt zu untersuchen, ob - und wenn ja: welche - redaktionellen Eingriffe, Überformungen etc. sich festmachen lassen. Das bedeutet nun aber nichts anderes, als eine erneute Analyse der Zyklizität der Willehalm-Trilogie. Denn die auf andere Branchen zielenden Verweise der Texte, die in einem Kodex versammelt sind, machen nur die eine Hälfte jener ‹signaux cycliques dans les textes› aus, die die Zyklizität eines solchen Textverbundes konstituieren. Die andere Hälfte besteht aus Anpassungen und Glättungen, die vorgenommen wurden, um eventuelle Widersprüche zwischen den einzelnen Branchen zu beseitigen. Bei einer solchen Analyse kann aus methodischen Gründen nicht oder nur bedingt auf die Textgestalt zurückgegriffen werden, wie die modernen Ausgaben sie präsentieren. Um eventuelle redaktionelle Eingriffe zu erkennen, muss der Willehalm-Zyklus vielmehr in den einzelnen Handschriften betrachtet werden. In Wolframs Willehalm findet sich in keiner Handschrift ein direkter Hinweis auf eine der beiden anderen Branchen. Was, angesichts der Genese der Trilogie, zunächst wie eine Selbstverständlichkeit wirken mag, ist es keineswegs. Denn an sich wäre es bei der Kombination aller drei Texte zu einem Verbund ohne größeren Aufwand zu bewerkstelligen gewesen, die ohnehin in Wolframs Text vorhandenen Schnittstellen, das bereits erwähnte zyklische Potenzial des Willehalm also, durch kleinere Texteingriffe zu aktivieren, um den Willehalm noch enger mit Arabel und Rennewart zu verknüpfen und so die narrative Kohärenz der Trilogie zu erhöhen. 94 Noch einfacher, nämlich zum Teil durch geringe Abwandlungen der Eigennamen von Nebenfiguren, oder durch Auslassung weniger, für den Handlungsverlauf keineswegs zentraler, Reimpaare wären gewisse Unschärfen zu beseitigen gewesen, die sich zwi- 206 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 93 Vgl. auch H öcke , S. 312f. und U rban , S. 68-70. 94 Vgl. entsprechende zyklische Änderungen im Buch vom heiligen Wilhelm (S. 220ff.). <?page no="217"?> schen Willehalm und seinen Ergänzungen ergeben. In Arabel und Rennewart finden sich solche redaktionellen Eingriffe in den Textbestand in manchen Handschriften sehr wohl (zur Handschriftengruppe W, Wo, E s. u.). Innerhalb der Willehalm-Branche begegnen sie jedoch nicht in einer der heute bekannten Handschriften. Man wird wohl kaum fehlgehen in der Vermutung, dass der Respekt vor dem schon im späten 13. Jahrhundert überaus geschätzten Autor Wolfram und dessen Œuvre zu diesem Vorgehen beigetragen haben dürfte. Neben den zahlreichen, oben angeführten, gut aufeinander abgestimmten Verweisen, durch die der Rennewart seine Relation zum Willehalm verdeutlicht, finden sich zu Beginn von Türheims Text, wo mit dem Ausgang der zweiten Alischanz-Schlacht Geschehnisse behandelt sind, die gleichfalls Wolfram schon beschrieben hatte, zwei Passagen bzw. Details, die nicht mit Wolframs Erzählung zu harmonieren scheinen. So werden im Rennewart die heidnischen Könige Tampaste und Kator vom namengebenden Protagonisten schwer verwundet (Rw 542-551), obschon sie, Wolframs Willehalm zufolge, im Kampf von eben jenem Rennewart bereits getötet worden waren (vgl. Wh 442,28f.). Die Inkonsequenz resultiert hier aus mehreren, die Struktur der Türheimschen Chanson de geste-Bearbeitung betreffenden Abweichungen vom Erzählverlauf des Willehalm. Während Wolfram sich gerade am Schluss seiner unvollendeten Aliscans-Adaptation weit von der französischen Quelle entfernt hatte, greift Türheim wieder auf die französische Chanson zurück und bietet in der Anfangspassage des Rennewart, die ebenfalls den Ausgang der Entscheidungsschlacht auf Alischanz schildert, somit gleichsam eine Parallelfassung des zuvor bereits von Wolfram Erzählten. 95 Etwas anders liegt der Fall in der zweiten Szene, in der sich im Rennewart Unstimmigkeiten zum Willehalm ergeben. Die Schwertleite Rennewarts nach dem Sieg auf Alischanz hatte Wolfram schon nicht mehr dargestellt, seine Erzählung bricht vorher ab. In der Willehalm-Fortsetzung beschreibt Türheim dieses Ereignis jedoch, dabei seiner französischen Quelle folgend. Aus Anlass der Schwertleite, so stellt Türheim es dar, wird der mittlerweile getaufte Rennewart von Willehalm mit Pferd und Rüstung beschenkt. Über dieses Pferdegeschenk heißt es: Den alle zageheit ie vloch, dar ein o rs man im zoch, daz was genant Margarite. der markys in dem strite an eime kunge ez gewan. der selbe k u nc im kume entran; er was genant Grauere. wie dem selben o rshe were Zyklische Potenziale 207 95 Zu den Gründen für Türheims Abkehr vom Handlungsverlauf, wie Wolfram ihn dargestellt hatte, und seiner Rückkehr zur französischen Quelle vgl. B astert , Rewriting, S. 125ff. <?page no="218"?> daz was genant Margrite? da was im ietweder site reht als ein harm blang. daz o rsh wol lief und sprang. Rw 2681-2692 Über Rennewarts Rüstung, die er offenbar vom gleichen Gegner erbeutete wie das Rennewart geschenkte Pferd (obschon der Besiegte in den betreffenden Szenen jeweils anders genannt wird), 96 sagt Willehalm: der helm und daz o rsh hie bi des k u nges Krotirs waren, der vil bi sinen jaren drunder vil prises hat bejaget. sin herze daz ist unverzaget. in dem strite ich daz kos da er helm und o rsh verlos Rw 2760-2766 In Wolframs Willehalm liest man es allerdings anders. Dort heißt das Pferd, das Rennewart nach einer Voraussage des Erzählers später erhalten soll, Lignmaredî; der sarazenische König, von dem es erbeutet wird, ist Poidwîz, der Sohn des Heidenherrschers Oukîn: ez wart ouch Rennewarte sider ein ors, hiez Lignmaredî. daz lief mit laerem satel bî dem künege Oukîne. er mante al die sîne, er sprach: «ôwê, wâ ist Poidwîz, an dem lac mîner vreuden vlîz? hie kumt sîn ors, daz er reit Wh 420,22-29 Sowohl das erbeutete Pferd als auch der Heidenkönig, dem Willehalm es abgewonnen hatte, tragen bei Wolfram demnach andere Namen als in Türheims Darstellung der Schwertleite Rennewarts. Den ästhetischen Auffassungen der Moderne nach zu urteilen, wäre dies ein Widerspruch, der die Kohärenz eines Zyklus, manifestiert in glättenden ‹signaux cycliques dans les textes›, tangieren würde. Widersprüche dieser Art sind aber selbst in eigenständigen, also sich nicht über mehrere Branchen erstreckenden, Werken alles andere als ungewöhnlich. 97 So begegnen sie etwa auch, um nur einige Beispiele aus deutsch- 208 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 96 Die differierenden Namen finden sich in allen Handschriften, die die entsprechende Passage überliefern: In Hs B, die der Rennewart-Ausgabe von H übner zugrunde liegt, wird der von Willehalm besiegte Heide einmal Grauere (2687), nur wenige Verse später jedoch Krotir (2761) genannt; in Hs H Grovere und Grotir; in Hs M Grouere und Krotier, in Hs O Grawere und Grocier; in Fragment 2 (= Hübner C) Gyonere und Krozier. Sollten damit vielleicht doch unterschiedliche Figuren bezeichnet werden? Vgl. zu obiger Stelle auch S. 320, Anm. 119. 97 Vgl. B esamusca, Book, bes. S. 173-175. <?page no="219"?> sprachigen Texten der gleichen Gattung anzuführen, im Rolandslied, wo berichtet wird, dass nach Rolands Tod Rapoto dessen Horn Olifant benutze (RL 7765-74), obschon Roland es zuvor zerstört hatte (RL 6804). In vergleichbarer Weise greifen im Rolandslied der Heidenkönig Grandon sowie die christlichen Kämpfer Egeries und Berenger in die Kämpfe ein (RL 5832, 5915, 5922), obwohl sie kurz zuvor noch als tot bezeichnet worden waren (RL 5334, 5337, 5355). Von solchen Widersprüchen frei ist auch nicht Wolframs Willehalm, in dem ein Hûwes von Meilanz zunächst unter jene christlichen Märtyrer gerechnet wird, die in der ersten Alischanz-Schlacht fallen (Wh 14,26), im weiteren Erzählverlauf dann jedoch als ein in der zweiten Alischanz-Schlacht von den Sarazenen gefangen genommener und später von Rennewart befreiter Fürst erscheint (Wh 258,24 und 416,10). Unstimmigkeiten dieser Art, zumal wenn sie - selbst für moderne Leser nicht immer sofort zu überschauende - Nebenfiguren oder -handlungen betreffen, scheinen für die zeitgenössischen Rezipienten demnach weitestgehend unproblematisch gewesen zu sein. Gleichwohl dürfte, wie sich am Beispiel bestimmter Handschriften der Willehalm-Trilogie zeigen lässt, durchaus auch bei manchen zeitgenössischen Rezipienten bereits ein Bewusstsein von Unstimmigkeiten innerhalb eines Erzählkontinuums existiert zu haben, die durch solche narrativen Unschärfen generiert wurden. So tritt etwa das oben beschriebene Paradoxon, bei dem ein einmal Getöteter später wieder als Lebender erwähnt wird, in der Willehalm-Handschriftengruppe W, Wo, E nicht auf. Der in der ersten Alischanz- Schlacht Getötete heißt in diesen Handschriften Clones, während der später von Rennewart befreite Fürst Hynas genannt wird. 98 Das könnte ein Zufall sein, der vielleicht auf einem schlichten Kopistenfehler beruht - zumal die genannte Handschriftengruppe zwar (in W und Wo) aufwendige Bebilderung aufweist, in der Willehalm-Textkritik jedoch als wenig zuverlässig gilt. Auffallend ist aber immerhin, dass ebenfalls im Rennewart-Teil der Trilogie die oben angeführten Differenzen in der Szene, in der Rennewart nach seiner Schwertleite von Willehalm Pferd und Rüstung geschenkt bekommt, gerade in der Handschriftengruppe W, Wo, E zumindest abgeschwächt wurden. Denn dort sind einige jener Verse (Rw 2687-2690) ausgelassen, die in den übrigen Handschriften nur schwer mit Wh 420,22-29 harmonieren. In W, Wo, E heißt es statt dessen: Den alle zageheit ie floch, ein orsse man im dar zoch daz waz genant Margrite. Der markys in dem strite an eime kvnig er [fehlt Wo] es gewan, der selbe kvnig ime kvme entran. Daz orsse waz rehte als ein harm blanch, vil wol lief ez unde spranch. Zyklische Potenziale 209 98 Vgl. die Lesarten zu den entsprechenden Stellen in der Willehalm-Ausgabe von L achmann . <?page no="220"?> Das Pferd, das Rennewart von Willehalm erhält, trägt zwar auch in W, Wo, E immer noch einen anderen Namen als an der entsprechenden Stelle in Wolframs Text, 99 zumindest die Unstimmigkeit beim Namen des heidnischen Königs, dem es einst gehörte, ist hier allerdings beseitigt durch die Anonymisierung des Heiden, der einfach ein kvnig genannt wird. Dass das an dieser Stelle kein Zufall ist, zeigt sich in W, Wo, E nur wenige Verse später, wenn in der anderen Passage, in der in den übrigen Rennewart-Handschriften der Name des gegnerischen Königs fällt (vgl. Rw 2760-2769), Willehalm seinen Gegner wiederum nur allgemein als der kunich bezeichnet: Den helm vnd daz orse da bi ich in einem streit erkos, daz der kunich orss vnd helm verlos. Abgesehen von den angeführten Unstimmigkeiten, die in W, Wo, E zumindest partiell ausgeglichen sind, tritt in den übrigen rund 36000 Versen des Türheimschen Rennewart kein Widerspruch zu jenem Text auf, als dessen Ergänzung der Rennewart sich geriert. Eine Ungenauigkeit vor der Folie des durch Rolandslied bzw. Karl konstituierten Gattungshorizonts scheint dagegen der Auftritt eines heidnischen Königs namens Baligan in Türheims Chanson de geste-Bearbeitung zu bilden (vgl. Rw 27037; 27108). Schließlich war Baligan, der oberste Herrscher aller Sarazenen und damit heidnisches Pendant zum christlichen Kaiser Karl, zum Schluss des Rolandslieds bzw. des Karl von eben diesem christlichen Kaiser getötet worden. Es ist allerdings fraglich, ob man wirklich von einer Identität der beiden Heiden namens Baligan ausgehen darf, oder ob es sich nicht eher um eine Namensgleichheit als unterschiedlich vorzustellender Figuren handelt. Erscheint doch der im Rennewart lediglich in einer Nebenrolle agierende Baligan, für den sich ein französisches Vorbild nicht ausmachen lässt, da Türheim den Schluss seines Werkes unabhängig von französischen Quellen gestaltete, zwar als Herrscher über drei Länder (vgl. Rw 27046f.), von der alles dominierenden Position des aus Rolandslied/ Karl bekannten Souveräns ist er jedoch weit entfernt. Ein intertextueller oder genauer: interzyklischer Widerspruch zum Rolandslied oder zu Karl läge demnach nicht vor. Doch selbst wenn dem nicht so wäre und die aus Rolandslied/ Karl bekannte Baligan-Figur wirklich mit der des Rennewart identisch sein sollte, bleibt immer noch zu konstatieren, dass weder das Rolandslied noch die Bearbeitung dieses Werks durch den Stricker in den bekannten Handschriften jemals mit dem Rennewart geschweige denn der gesamten Willehalm-Trilogie kontextualisiert wurden, die theoretische Unstimmigkeit de facto also nicht virulent wird. Beinahe immer zusammen im gleichen Kodex erscheinen hingegen Vorgeschichte und Fortsetzung des Wolframschen Willehalm, eventuelle Unstim- 210 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 99 In der Handschriftengruppe W, Wo, E wird es in Wh 420,23 Lingemardi genannt; in der Vorlage, der Chanson d’Aliscans, heißt es «Li Maredi». <?page no="221"?> migkeiten zwischen Arabel und Rennewart sind daher für die Frage nach der Zyklizität der Trilogie von Bedeutung. Weil Vorgeschichte und Fortsetzung des Wolframschen Textes jedoch unterschiedliche Phasen der vita poetica Willehalms behandeln und im Rennewart zudem in weiten Teilen andere Protagonisten im Vordergrund stehen, kommt es kaum zu Überschneidungen zwischen beiden Texten. Die einzige narrative Überlappung betrifft die Geschichte des ersten Kontakts zwischen Arabel und Willehalm, die natürlich in der Arabel breiten Raum einnimmt, aber auch in einer Analepse gegen Ende des Rennewart geschildert wird. Türheims Darstellung zufolge hätte die heidnische Königin demnach dem christlichen Ritter Willehalm durch Boten einen Sperber als Geschenk zukommen lassen und ihm gleichzeitig in einem Brief bedeutet, sich nach Orange, der Burg ihres Mannes Tybalt, zu begeben, um Tybalt herauszufordern und sich dann von ihm gefangen nehmen zu lassen. Den gefangenen Willehalm hätte Arabel, wie sie und Willehalm sich noch einmal erinnern, bevor die in der Taufe zu Kyburc gewordene ihren Gatten verlässt, um ihren Lebensabend im Kloster zu verbringen, während der Abwesenheit Tybalts später befreit und wäre mit dem Christenheld gemeinsam entflohen (vgl. Rw 33328-33399). Für diese Version des Kennenlernens und der Flucht Arabels und Willehalms findet sich in den französischen Chansons de geste keine Vorlage, 100 Türheim hat sie wohl selbstständig aus den wenigen Andeutungen in Wolframs Aliscans-Adaptation entwickelt. Mit den entsprechenden Schnittstellen des Willehalm harmoniert sie dann auch durchaus, selbst wenn sich nicht jedes einzelne Motiv (etwa die freiwillige Gefangennahme Willehalms) explizit dort findet. Sehr viel verwickelter ist das Verhältnis der Türheimschen Version zu jener Lesart der Gefangenschaft Willehalms und seiner gemeinsamen Flucht mit der Heidenkönigin Arabel, die Ulrich von dem Türlin in seiner Vorgeschichte des Wolframschen Willehalm präsentiert. Abgesehen von einem identischen plot - Willehalm gerät in heidnische Gefangenschaft und flieht später mit Hilfe Arabels - differieren beide Erzählungen in fast jedem relevanten Detail. Diese Tatsache kann als weiterer Beleg für die These genommen werden, dass Rennewart und Arabel ursprünglich beide, ohne die Kenntnis des jeweils anderen Textes, lediglich als Ergänzungen des Willehalm gedacht waren. Offenbar wurden sie erst in einer späteren Bearbeitungsstufe, mit Willehalm als zentralem Mittelstück, zu einem Zyklus vereinigt. Die dadurch akut gewordenen, gerade beschriebenen Differenzen zwischen Arabel und Rennewart blieben jedoch augenscheinlich bestehen, keine der bekannten Handschriften beseitigt sie. Zyklische Signale innerhalb der einzelnen Branchen der Willehalm-Trilogie, die sich in Glättungen oder Ausgleichstendenzen manifestierten, sind Zyklische Potenziale 211 100 Vgl. Hermann S uchier : Über die Quelle Ulrichs von dem Türlin und die älteste Gestalt der prise d’Orenge. Paderborn 1873; vgl. auch Philipp August B ecker : Der Quellenwert der Storie Nerbonensi. Halle 1898, S. 25f.; H ennings , Französische Heldenepik, S. 481f. <?page no="222"?> hier also nicht auszumachen. Ähnlich wie im Fall der voneinander abweichenden Schilderungen der zweiten Alischanzschlacht, die gegen Ende des Willehalm und zu Beginn des Rennewart begegnen oder die genauen Umstände von Willehalms Gefangennahme, könnte man auch die divergierenden Darstellungen der Gefangenschaft Willehalms und seiner Flucht mit Arabel als analoge Fassungen eines identischen Geschehens bezeichnen. Anscheinend empfanden die zeitgenössischen Hörer/ Leser derartige narrative Überschneidungen nicht als störend, in allen bekannten Textzeugen von Arabel und Rennewart sind sie jedenfalls unbearbeitet geblieben. Angesichts dieses Befundes erscheint es zweifelhaft, ob W. Schröder Recht hat mit seiner These, ein in der, von Schröder für autornah gehaltenen, Fassung *A der Arabel auftretender Widerspruch zu Wolframs Willehalm sei der Auslöser dafür gewesen, dass das Werk von einem Redaktor zur Fassung *R umgearbeitet worden sei, um die syntagmatische Kohärenz zu Wolframs Erzählung zu gewährleisten. Fassung *A berichtet, dass Willehalms Vater Heimerich seine Frau Irmenschart in Pavia geheiratet und heimgeführt habe, nachdem er zuvor Karl auf jener Fahrt nach Rom begleitete, während der Karl die aufständischen Römer bestrafte, weil sie den Papst geblendet hatten (Ar *A 12, 22-16,3) - ein Motiv übrigens, das in dieser Form ansonsten nur im Karlteil der Kaiserchronik und ihren Bearbeitungen begegnet und einmal mehr darauf verweist, dass die Arabel vor dem Hintergrund der deutschsprachigen Karlepik zu lesen ist und als eine Art Scharnier zwischen Karl- und Wilhelmsepik fungiert. 101 Gegen Ende der Arabel, vor der Hochzeit Willehalms mit Arabel/ Kyburc, rekapituliert Papst Leo, der Karl hier als seinen Bruder bezeichnet - ebenfalls ein durch die Kaiserchronik in die deutsche Literatur eingeführtes Motiv - noch einmal die Verdienste Willehalms, der Karl nicht nur entscheidend während der Roncevalschlacht geholfen habe (zu Willehalms Taten an der Seite Rolands, Turpins und Olivers vgl. auch Ar *A 31,1-32,3/ *R 29,1-30,3), sondern sich ebenfalls bei der Bestrafung der aufständischen Römer auszeichnete, die ihn, Leo, geblendet hätten (Ar *A 287,1-15/ *R 292,1-15). Ist das hier behauptete Mitwirken des jungen Willehalm während der Schlacht auf Ronceval, in einem Feldzug, an dem auch Willehalms Vater Heimerich teilgenommen haben soll (vgl. Ar *A 11,26-31), unter streng logischen Gesichtspunkten zwar merkwürdig genug, aber nicht ganz unmöglich - weder Rolandslied noch Karl wissen von diesem Helden, zudem wird dort berichtet, dass alle Kämpfer um Roland, Oliver und Turpin umgekommen seien - so ist Willehalms Hilfe für den Papst, wie Fassung *A sie darstellt, völlig ausgeschlossen: Willehalm hätte sich dann nämlich in Rom hervorgetan zu einem Zeitpunkt, als er noch gar nicht geboren war. Denn schließlich hatte Fassung *A in 12,22-16,3 geschildert, dass auf dem Rückweg von eben jenem Romzug, bei dem Karl gegen die Papstattentäter einschritt, Willehalms Eltern sich über- 212 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 101 Vgl. zu dieser Passage auch U rban , S. 114-118. <?page no="223"?> haupt erst kennen gelernt hatten. 102 Wie nun schon mehrfach deutlich wurde, ist ein solcher ‹Nebenwiderspruch› (denn für die Haupthandlung der Arabel hat die Passage keinerlei Bedeutung) in mittelalterlicher Erzählliteratur absolut nicht ungewöhnlich. Ein wenig atypisch ist es also schon, wenn Fassung *R diese Diskrepanz mit erheblichem Aufwand beseitigt. In einem längeren Einschub wird dort versichert, dass die Hochzeit von Heimerich und Irmenschart geschlossen worden sei lange vor der vart [...] do der bapst leo was geblant (*R 11,7-9). Zugetragen hätte sich die Geschichte demnach folgendermaßen: Als Karl und die christlichen Kämpfer im Tal von Ronceval in große Not gerieten, suchte Karl auf Anraten seiner Fürsten in der gesamten Christenheit Hilfe. Der Kaiser selbst fuhr zusammen mit Heimerich in die Lombardei, um von dort Unterstützung zu holen. Auf dem Rückweg verheiratete er Heimerich und Irmenschart in Pavia (vgl. *R 10,1-11,6; vgl. auch *R 15,8-17). Erst rund 30 Jahre später (vgl. *R 9,31) fanden dann die Ereignisse in Rom statt, bei denen Willehalm im Dienst Karls dem Papst Hilfe leistete (*R 11,12-15,8). Der Grund für diese doch recht weitreichende Änderung gegenüber Fassung *A liegt kaum in der Verbesserung der internen Widersprüche innerhalb der Arabel-Erzählung selbst, sie dürfte vielmehr in erster Linie darauf zurückzuführen sein, dass die Szene um Willehalms Einsatz für Papst Leo an prominenter Stelle in Wolframs Willehalm eine wichtige Rolle spielt. Denn als der Protagonist nach der verlustreichen ersten Schlacht auf Alischanz in der Rüstung des besiegten Feindes Arofel vor den Toren Oranges auftaucht, verlangt Gyburg als Erkennungszeichen, bevor sie den vom Krieg Entstellten einlässt, dass Willehalm ihr jene Nasenverletzung präsentieren möge, die er sich einst im Einsatz für Karl und Leo im Kampf gegen die Römer zugezogen habe (Wh 91,27ff.). Auf genau diese Stelle weist Fassung *R dann auch mittels einer Prolepse voraus, die als deutliches zyklisches Signal zwischen den Texten bezeichnet werden kann: in dirre tat wert man mich, daz Willehelm wart div wunde. der masen er in angest st v nde: Kyburge muste er si wisen, doch sin hohgelobtes prisen vil kristen lost, daz si ez sach. swie iamer doch sin hertze brach nach gar verlornem k u nne, in truren m v st hie wesen w u nne. minne liebe in des twanc, vnd div im hertz vnd gedanc hatte beslozzen an allen wanc. Kyburg in hatte f u r einen heiden. in s u fte gebernden leiden Zyklische Potenziale 213 102 Die Forschung zu diesem Punkt aufgearbeitet und kommentiert hat S chirok , Autortext, S. 172f. <?page no="224"?> durch trost er vor der porten hielt: schumpfen u tre mit gewalte sin wielt. lieb wider leide hie wag. do si in in liez vnd sin pflag, div liebe in beiden sorge nam Ar *R 11,20-12,7 Durch diese Plusverse wird Türlins Arabel in Fassung *R wesentlich enger mit dem Willehalm verbunden als in Fassung *A. Von daher ist es sicherlich kein Zufall, wenn *R diejenige Ausprägung darstellt, in der die Arabel in allen die Willehalm-Trilogie überliefernden Handschriften erscheint. Es fragt sich allerdings, ob man aus diesem Faktum ohne Weiteres ableiten kann, dass *R dem Bedürfnis entsprungen sei, die vermeintlich als selbstständiges Werk konzipierte und daher nur unzureichend mit Wolframs Text abgestimmte Arabel mit dem Willehalm zu verknüpfen, 103 oder dass *R die durch einen Redaktor nachträglich verbesserte Fassung einer scheinbar ohne Schlussredaktion gebliebenen Autorfassung sei, die fehlerhaft war, «weil Ulrich v. d. T. sein unfertiges Manuskript nicht noch einmal durchgesehen hat». 104 Denn zum einen konnte auch *A sehr wohl mit Willehalm und Rennewart kontextualisiert werden, wie die Kurzfassung und einige Fragmente demonstrieren, bei denen die in einem wichtigen Punkt unstimmige Verknüpfung mit dem Willehalm offenbar kein Problem darstellte, 105 zum anderen besitzt Fassung *A ihre eigene Wertigkeit, ist gegenüber *R also keineswegs defizient, wie sich gerade am Heidelberger cpg 395 demonstrieren lässt. In dieser Handschrift, auf der unsere Kenntnis der vollständigen *A-Fassung im Wesentlichen beruht, 106 steht die Arabel in einem Überlieferungszusam- 214 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 103 In diesem Sinne M c F arland , Minne-translatio und implizit ebenfalls H öcke , S. 311: «Die Korrekturen von *R zeigen, daß der Kontrast zwischen Ulrichs und Wolframs Erzählen nicht nur für den neuzeitlichen Interpreten auf der Hand liegt, sondern auch den mittelalterlichen Rezipienten aufgefallen ist»; vgl. ebenfalls S chirok , Autortext, S. 176f. 104 Vgl. Werner S chröder: Einleitung. In: Arabel-Ausgabe, S. XIX; S chirok , Autortext, S. 178, hält das für eine «ansprechende Vermutung»; dagegen U rban , S. 45. 105 Vgl. die auf *A basierende Arabel-Kurzfassung , die mit der Willehalm-Handschrift L vereinigt wurde (Leipzig, Universitätsbibl., Rep. II. 127), sowie das ebenfalls die *A- Fassung bietende Arabel-Fragment 1, das zur selben Handschrift wie das Willehalm- Fragment 52 gehört, das Arabel-Fragment 2, das zu einer Handschrift gehört, der auch Willehalm-Fragment 56 entstammt und schließlich Arabel-Fragment 4, das aus einer Handschrift stammt, die ebenfalls den Rennewart enthielt (vgl. Rennewart-Fragment 1); keines dieser Arabel-Fragmente überliefert indes genau die Szene um Willehalms Beteiligung an den Kämpfen in Rom, die zu Wolframs Text in Widerspruch steht. Letzte Sicherheit über die mögliche Existenz der fraglichen Verse in jenen Handschriften der *A-Rezension, die die genannten Fragmente repräsentieren, ist also nicht zu gewinnen. Auch die in drei Handschriften überlieferte Prosifizierung der Willehalm-Trilogie, das Buch vom heiligen Wilhelm, beruht im Arabel-Teil auf Fassung * A - freilich ohne dass der Widerspruch zum Willehalm-Teil dort übernommen wäre (vgl. S. 221). 106 Vgl. das Volldigitalisat unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg395. <?page no="225"?> menhang, in der der von Schröder so heftig inkriminierte Widerspruch zu Wolframs Willehalm nicht virulent werden kann, da die fragliche Handschrift den Willehalm überhaupt nicht enthält. Vor der den Kodex beschließenden Arabel, die einen eigenen Faszikel füllt (fol. 99 ra -182 rb ), stehen in cpg 395 auf einem zweiten Faszikel Strickers Karl (fol. 1 ra -92 va ) sowie Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (fol. 92 vb -98 rb ). Karl insgesamt und die Arabel teilweise sind von gleicher Hand in westlichem Niederalemannisch in einer Textura aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts niedergeschrieben worden. Zusammen mit der gleichen Einrichtung von Karl und Arabel, die beide mit einer augenscheinlich vom gleichen Illustrator ausgeführten, sechszeiligen Initiale beginnen (fol. 1 ra und fol. 99 ra ) und im weiteren Text beide zweizeilige, abwechselnd rote und blaue Initialen aufweisen, ist die Karl und Arabel gemeinsame Schreibsprache ein Indiz dafür, dass beide Faszikel aus derselben Schreibstube stammen und wohl von vornherein kontextualisiert werden sollten: «Die Hs. ist früh aus zwei getrennt entstandenen, jedoch in einer Werkstatt geschriebenen Faszikeln zusammengefügt worden (I. Bll. 1-98; II. Bll. 99- 182). Hierauf deuten einerseits die Verschmutzungen, die lediglich im zweiten Faszikel vorkommen, […] und das Entfernen der leeren Bll. nach dem zweiten Text hin, andererseits kommt Schreiber I in beiden Teilen vor.» 107 Aufbau und Einrichtung der Handschrift sind also ein deutlicher Hinweis darauf, dass deren Programm von Anfang an darauf abzielte, Karl und Arabel zu kontextualisieren. Die Entscheidung für eine Vergesellschaftung gerade dieser beiden Texte ist kein Zufall. Diverse zyklische Markierungen vor allem in der Arabel, aber auch im Karl legen es sogar nahe, Türlins Text als Fortsetzung des Strickerschen erscheinen zu lassen. 108 Der den Karl abschließende und gleichsam als zyklisches Signal zwischen den Texten interpretierbare Verweis auf Kämpfe zwischen Christen und Heiden, die durch Ludewîc und Terramêr (K 11198) fortgesetzt würden, ist bereits im Zusammenhang der Karl und Willehalm kontextualisierenden Handschriften angeführt worden. Noch besser als auf Willehalm, auf den sie ursprünglich zielt, passt diese zyklische Markierung allerdings auf die Arabel, da, anders als bei Wolfram, Terramer Zyklische Potenziale 215 107 Karin Z immermann , in: Die Codices Palatini germanici der Universitätsbibliothek Heidelberg (Cod. pal. germ. 304-495). Bearbeitet von Matthias Miller und Karin Zimmermann. Wiesbaden 2007 (Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg VIII), S. 307- 309, hier S. 307f. Ob der in mittelfränkischer Schreibsprache mit einigen rheinfränkischen Formen aufgezeichnete Heinrich von Kempten ursprünglich für den Zusammenhang dieser Handschrift vorgesehen war, ist zweifelhaft angesichts der vom Karl- und Arabel-Text abweichenden mittelfränkischen, mit einigen rheinfränkischen Formen durchsetzten Schreibsprache und der von beiden differierenden Ausstattung (vgl. fol 92 v ). Möglicherweise wurde Heinrich von Kempten auf die nach dem Karl frei gebliebenen Blätter des ersten Faszikels geschrieben. Mit der Niederschrift des Heinrich von Kempten waren die frei gebliebenen Blätter dieses Faszikels jedoch offenbar noch immer nicht ganz gefüllt. So dürfte sich erklären, dass, wie noch heute erkennbar, am Ende jenes ersten Faszikels vier wahrscheinlich unbeschriebene Blätter herausgetrennt wurden. 108 Vgl. dazu auch M c F arland, Minne-translatio. <?page no="226"?> und Ludwig in Türlins Text tatsächlich - wie in den letzten Versen des Karl angekündigt - die den Kampf persönlich fortsetzenden Befehlshaber auf christlicher und heidnischer Seite stellen. Im Anfangsteil der Arabel hat allerdings Karl selbst diese Rolle noch inne, was den Text geradezu als eine Art Bindeglied zwischen Karl- und Willehalmepik erscheinen lässt. 109 Verstärkt wird dieser Eindruck durch zahlreiche Analepsen, die das in der Arabel Erzählte an das aus Karl (bzw. Rolandslied) und Kaiserchronik bekannte epische Geschehen um den großen Frankenkaiser rückbinden. So erinnert die Arabel häufig an Karls Kämpfe gegen Marsilie und Paligan. 110 Und der bereits erwähnte Romzug, bei dem Karl die Widersacher seines Bruders Leo bestraft, dürfte zumindest eines seiner Vorbilder in der Kaiserchronik besitzen, dem Beginn der literarischen Karltradition in deutscher Sprache. Sehr demonstrativ rekurriert die Arabel zudem auf die aus Strickers Karl bekannten Ereignisse, wenn in einer Wiederholung des dortigen Zentralgeschehens Christen und Heiden in einer Neuauflage der Roncevalschlacht ein zweites Mal aufeinandertreffen, wobei nun allerdings - in Übereinstimmung mit der abschließenden Karl-Vorausdeutung - Ludwig und Terramer als Heerführer agieren. 111 Karl und Arabel bilden somit in cpg 395 eine Textgemeinschaft, auf die (fast) all jene Kriterien zutreffen, die einen Zyklus konstituieren. Im Kontext dieses Zyklus erhalten beispielsweise auch die als Plusverse in *A aufgenommenen beiden 31-er Laissen (*A 10,1-11,31) ihren Sinn, die Willehalms Vater Heimerich als miles Christi charakterisieren, der bi Karls ziten (*A 11,23) ähnlich wie der König selbst, teilweise sogar zusammen mit ihm, die Heiden aus Portigal und Yspani (*A 10,4f.) bekämpft habe. Und zur zyklischen Verbindung mit Strickers Text passt ebenfalls die beinahe ausschließliche Fokussierung auf Karl in der Darstellung der römischen Kämpfe in der *A-Fassung der Arabel, die diejenigen Verse, durch die in der *R-Fassung der entscheidende Anteil Willehalms an dieser Auseinandersetzung hervorgehoben wird, nicht kennt. Die *A-Fassung der Arabel könnte demnach mit Bedacht für das Textprogramm des cpg 395 ausgewählt worden sein, in dem Türlins Text nicht, wie meist üblich, als Vorgeschichte des Willehalm, sondern als Fortsetzung des Karl fungiert. 112 216 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 109 Zum «zyklischen Zusammenhang» zwischen Rolandslied, Arabel und Willehalm vgl. ebenfalls H einzle , Wandlungen, S. 154. 110 Vgl. *A 11,23-28/ *R 10,1-31; *A 31,1-32,25/ *R 29,1-30,25; *A 35,5f./ *R33,5f.; *A 46,23-27/ *R 44,23-27; *A 163,12-17/ *R 168, 12-17. 111 Vgl. *A 35,17ff./ *R 33,17ff. Weil Willehalm sich im Verlauf dieser Schlacht zu weit von den christlichen Truppen entfernt und so von den Heiden gefangen werden kann, was den Auslöser für seine Bekanntschaft und Liebe zu der Heidenkönigin Arabel bildet, wird die handlungsauslösende zweite Roncevalschlacht in der Arabel immer wieder erwähnt. Vgl. *A 60,14f./ *R 58,14f.; *A 69,22-31/ *R 67,22-31; *A 124,20-24/ *R 124, 20.24; *A 155,19-21/ *R 160,21-23. 112 In diesem Zusammenhang gewinnen ebenfalls die rund 1000 Plusverse eine spezifische Bedeutung, durch die die Arabel in cpg 395 bis unmittelbar an die zu Beginn von Wolf- <?page no="227"?> Damit wird zugleich allerdings eine umgekehrte Entstehungschronologie der beiden Fassungen denkbar, als die derzeit von der Forschung favorisierte, die davon ausgeht, dass die autornahe Fassung *A von einem späteren Redaktor überarbeitet wurde, um eine bessere Kompatibilität mit dem Text des Willehalm zu gewährleisten. 113 Mit Blick auf cpg 395 scheint es ebenfalls vorstellbar, dass die zunächst als Ergänzung des Willehalm geplante und dann in den zyklischen Verbund der Trilogie eingespannte Fassung *R aus diesem Kontext gelöst werden konnte und sollte. Die besonders stark auf den Willehalm zielenden zyklischen Signale, so z. B. die Szene um Willehalms Nasenverletzung in Rom, waren für diesen Zweck freilich zurückzunehmen, wodurch die anderen zyklischen Dispositive der Arabel in den Vordergrund rückten, die ihrerseits durch, etwa auf den Karl verweisende, zyklische Signale noch verstärkt werden konnten. Über Genese und Qualität der Texte sagen die divergierenden Fassungen, deren chronologische Abfolge Schröder allerdings schon allein durch die Vergabe der Siglen A (=Autorfassung) und R (=Redaktion) festzulegen versuchte, hingegen kaum etwas aus. Dass *R vor *A entstand, ist ebenso gut denkbar wie die umgekehrte Möglichkeit - allerdings auch ebenso wenig beweisbar. Im Übrigen könnten beide Fassungen ebenfalls zur gleichen Zeit entstanden sein und vom selben Autor/ Redaktor stammen. Wie auch immer die Entstehungsgeschichte verlaufen sein mag - mit der unterschiedlichen Aktivierung der in Arabel vorhandenen zyklischen Valenzen repräsentieren *A und *R in jedem Fall gleichwertige Parallelfassungen, die sich qualitativ nicht unterscheiden. 114 Die in *A und *R auftretenden Differenzen im Textbestand sind also weniger, wie W. Schröder mit Blick auf die ‹Defizite› der *A-Fassung zu belegen können glaubt, ein Zeichen dafür, «daß Widerspruchslosigkeit der Handlungsführung nicht erst ein neuzeitliches Bedürfnis darstellt, sondern von einem anspruchsvolleren Publikum auch im Mittelalter erwartet wurde,» 115 sondern sie erklären sich, zumindest nach Ausweis des cpg 395, Zyklische Potenziale 217 rams Text berichteten Geschehnisse herangeführt wird. In den *R-Handschriften der Willehalm-Trilogie, in denen die narrative Progression der dort mit der Hochzeit von Arabel/ Gyburg und Willehalm endenden Arabel nicht ganz bis an den Beginn des Willehalm heranreicht, mussten die Rezipienten die ‹Leerstelle› bis zur Landung der Heiden in der Provence selbst ausfüllen - ein für zyklisches Erzählen nicht unübliches Verfahren, das zudem noch erleichtert wird durch den in den *R-Handschriften auf die Arabel folgenden Wolfram-Text, der selbst wenigstens kurz die Hintergründe für diesen Kampf zwischen Christen und Heiden nennt. Im cpg 395 fehlen diese Rückblenden des Willehalm zwar, da der Kodex Wolframs Chanson de geste-Bearbeitung nicht enthält, bei der Auffüllung der ‹Leerstelle› helfen hier jedoch gerade die Plusverse, durch die die Ausgangssituation des Willehalm so deutlich evoziert wird, dass bei der großen Bekanntheit von Wolframs Text auf die eigentliche Niederschrift wohl verzichtet werden konnte. Gerade der Verzicht auf den Willehalm könnte im cpg 395 also vielleicht die Benutzung der *A-Fassung der Arabel bewirkt haben. 113 Vgl. Zusammenfassung der Argumente bei S chirok , Autortext; U rban , S. 40-46. 114 Wie die durch Hs C repräsentierte Fassung einzuordnen wäre, bliebe noch zu diskutieren. 115 S chröder , ‹Arabel›-Studien I, S. 75. <?page no="228"?> eher aus den unterschiedlich genutzten zyklischen Valenzen der Arabel. Allerdings ist der ‹Karl-Arabel›-Zyklus, wie er sich in cpg 395 präsentiert bzw. dem ursprünglichen Programm nach ohne den später hinzugefügten Heinrich von Kempten wohl präsentieren sollte, nicht völlig frei von Unstimmigkeiten, er ist also kein organischer Zyklus. Denn Paligan, der sarazenische Oberherrscher, dessen Tod gegen Ende des Karl geschildert worden war (vgl. K 10289ff.), tritt in der Arabel wieder in seiner angestammten Rolle als Heerführer auf (Ar *A 42,1; 45,19; 50,20; 51,2; 56,20; 59,27; 68,5). Gerade dieser Fall des erneuten Auftretens einer Figur, deren Tod in einem früheren Text im gleichen Manuskript bereits dargestellt worden war, kann allerdings in sequenziellen Zyklen immer wieder beobachtet werden und stellt insofern keine Besonderheit dar. Umso bemerkenswerter ist es, wenn in einer bestimmten Handschriftengruppe der am Willehalm orientierten Fassung *R jener Widerspruch zwischen Karl und Arabel beseitigt wird, obwohl, und das ist das vordergründig Überraschende, in keinem Kodex dieser Gruppe Strickers Text enthalten ist. Gleichwohl ersetzen die jeweils die gesamte Willehalm- Trilogie überliefernden Codices V, W, Wo und E sowie das jetzt verschollene Arabel-Fragment 14, 116 sobald Paligan als aktiv Handelnder in der Arabel- Branche erwähnt wird, diesen Namen durch Terramer. 117 Der Stricker hatte Terramer in den letzten Versen seiner Rolandslied-Bearbeitung als Nachkommen Paligans bezeichnet, der den Kampf seines von Karl getöteten Vorfahren in der nächsten Generation fortsetzen werde. Der für diese Variante in der Willehalm-Trilogie verantwortliche Redaktor muss demnach das zyklische Potenzial des auf die Trilogie vorausweisenden Karl erkannt und durch seine Änderung aktiviert haben. Durch die implizite Integration der Strickerschen Chanson de geste-Adaptation entstand in der aus V, Wo, W und E bestehenden Handschriftengruppe ein umfassender virtueller Zyklus aus dem Stoffkreis der französischen Heldenepik, der sich aus Karl, Arabel, Willehalm und Rennewart zusammensetzt. Auffallend ist, dass die implizite Antinomie zwischen Karl und Arabel mit V, W, Wo und E in denjenigen Handschriften ausgeglichen wird, die, mit Ausnahme von Hs V, ebenfalls eine interne Ungenauigkeit des Willehalm beseitigten (s. o.) und eine Diskrepanz zwischen Willehalm und Rennewart zumindest abgeschwächt hatten (s. o.). Es handelt sich bei V, Wo und W um teilweise 218 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 116 Vgl. B ushey , Neues Gesamtverzeichnis, S. 265f. 117 Vgl. auch S inger , Einleitung zur Ausgabe der Arabel, S. VIIIf. Die einzige Ausnahme ist *R 66,5, wo sowohl Terramer als auch Paligan innerhalb eines Verses als Anführer der Heiden erwähnt werden, zudem Paligan noch die Reimentsprechung zum nächsten Vers bildet (Paligan: han). Hier zeigen sich die Grenzen redaktioneller Eingriffsmöglichkeiten, denn dass der Widerspruch nur an dieser Stelle übersehen worden wäre, während er sonst immer sorgfältig und konsequent geglättet wird, ist kaum vorstellbar. Auch in der Heinrich von München zugeschriebenen Weltchronik, die auf die Willehalm-Trilogie zurückgreift, wird Paligan durch Paligans sun ersetzt; vgl. dazu S inger , Einleitung zur Ausgabe der Arabel, S. IXf. sowie B astert , Rewriting, S. 133f. <?page no="229"?> prachtvoll bebilderte Handschriften aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Zu dieser Gruppe hinzugerechnet werden muss ebenfalls die nicht illustrierte, aber textlich eng mit W und Wo verwandte Papierhandschrift E. 118 Damit sind es, mit Ausnahme von E, kostbare Prachthandschriften, die zwischen Karl und Arabel oder zwischen den einzelnen Branchen der Trilogie vermitteln. 119 Allein die kostspielige Ausstattung dieser Codices verdeutlicht, dass es sich bei ihnen um besonders repräsentative Unternehmungen handelt, auf die anscheinend größte Sorgfalt auf allen Ebenen verwandt wurde. Der Auftrag zur Ausführung der Prachthandschriften wird deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach an leistungsfähige Skriptorien ergangen sein. 120 Die sicherlich herausragenden Produktionsbedingungen in diesen Schreibwerkstätten können möglicherweise erklären, weshalb gerade einige der repräsentativsten Handschriften der Willehalm-Trilogie zugleich eine sorgfältige redaktionelle Überarbeitung erfuhren, durch die nicht nur einige Unschärfen innerhalb der einzelnen Branchen sondern darüber hinaus sogar implizite Diskrepanzen zwischen dem Karl und der Willehalm-Trilogie minimiert werden konnten. Auch in Bezug auf das zyklische Niveau entsprechen sich daher aufwendige Ausstattung und die Textgestalt dieser Handschriften: die größte Nähe zur organischen Zyklizität erreichen oft die wertvollsten Codices. In besonders sorgfältig gestalteten Handschriften, so könnte demnach das, zumindest auf die Willehalm- Trilogie zutreffende Fazit aus diesem Befund lauten, scheint man zugleich großen Wert auf sorgfältige redaktionelle Bearbeitung gelegt zu haben. Ein solcher Befund entspricht exakt dem, was J. Wolf an zahlreichen lateinischen und volkssprachigen Handschriften beobachtet hat, die offenbar in, wie er es nennt, ‹fürsorglichen› Skriptorien produziert wurden: «Signifikant für Produkte aus einem solchen Umfeld ist die hohe mediale und textuelle Qualität der Handschriften. […] wie selbstverständlich korrespondiert mit dem prachtvollen Äußeren häufig eine aufwendige Überarbeitung des Inhalts.» 121 Radikal vereinfacht ließe sich die Gleichung aufstellen: Professionelle Skriptorien/ Schreiber stellen aufwendige Bücher mit sorgsam betreuten Werken her. Zyklische Potenziale 219 118 Vgl. zu Handschrift E, «meist näher bei Wo stehend, manchmal auch mit W gehend», S chröder , ‹Arabel›-Studien VI, S. 30f. 119 Von den die Willehalm-Trilogie überliefernden Bilderhandschriften kennt lediglich der Kasseler Kodex 2 o Ms. poet. et roman. 1 (Hs Ka) keine Angleichungen zwischen den einzelnen Branchen und, durch die Ersetzung Paligans durch Terramer, die Erweiterung zum virtuellen deutschen Chanson de geste-Zyklus. Dies hat sicherlich entscheidend damit zu tun, dass der Kasseler Kodex einer anderen Textgruppe als W und Wo angehört. 120 Zu der im Umkreis König Wenzels in Prag entstandenen Prachthandschrift Wien, ÖNB, Cod. Ser. nova 2643, der vom Bildprogramm her wohl aufwendigsten Handschrift der Willehalm-Trilogie, die jemals angefertigt wurde, vgl. aus kunsthistorischer Perspektive jetzt Maria T heisen : «History puech reimenweisz». Geschichte, Bildprogramm und Illuminatoren des Willehalm-Codex König Wenzels IV. von Böhmen. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Ser. nov. 2643. Wien 2010. 121 W olf , Buch, S. 299 und S. 305. <?page no="230"?> Ihre Buchprodukte geben sich häufig als schriftliterarische ‹Inszenierungsakte› zu erkennen, die erst im Zusammenspiel von Text und medialer Umsetzung ihre volle Wirkung etwa als Repräsentationsobjekte, Propagandainstrumente, Gotteslob, Gottesdienst oder Unterhaltung, Lehre und Belehrung entfalten. 122 Den von Wolf angeführten Beispielen, wird man, mindestens was die Zyklizität betrifft, auch einige der die Willehalm-Trilogie enthaltenden Prachtcodices hinzufügen können. Im Fall der Willehalm-Trilogie könnte der (heils)geschichtliche Charakter des Werks zu jenem Ausstattungsniveau wesentlich beigetragen haben. In Richtung Historiographie tendiert auch eine zweite Gruppe von Handschriften aus dem ausgehenden Mittelalter, in denen deutsche Chanson de geste- Bearbeitungen zu einem organischen Zyklus zusammengestellt worden sind: Die im Zürcher Kodex Car. C 28 und in der Handschrift Gen. 16 der Schaffhausener Stadtbibliothek überlieferten Prosabearbeitungen des Strickerschen Karl und der Willehalm-Trilogie. Sie bilden dort jeweils für sich als auch gemeinsam einen aus mehreren Teilen bestehenden Textverbund, der in den neueren Studien von Deifuß, Urban und Barthel, die alle diese Handschriften behandeln, noch kaum auf die Techniken der Kohärenzerzeugung untersucht worden ist. Sie befassen sich allerdings auch nur mit dem Buch vom heiligen Wilhelm, also einem Ausschnitt aus dem Textverbund. Da Arabel (nach Fassung *A), Willehalm und Rennewart im Buch vom heiligen Wilhelm in der gleichen Reihenfolge vereinigt sind wie im Verszyklus, bleibt die Logik der durch die Vorlage vorgegebenen Erzählchronologie gewährleistet. Und wie im älteren Verszyklus ist auch im Buch vom heiligen Wilhelm der Erzählfokus stets auf Wilhelm 123 oder die ihm verwandtschaftlich verbundenen Protagonisten Rennwart und Malfer gerichtet. Die Zyklizitätskriterien eins bis drei sind damit erfüllt. Die einzelnen Teile werden zudem durch massive ‹signaux cycliques dans les textes› zusammen gehalten, die sich in dieser Weise in den jeweiligen Versfassungen nicht finden und demnach als vom Redaktor selbstständig hinzugefügte zyklische Markierungen gewertet werden müssen. In einer Analepse wird in der Moliön (= Munleun)-Szene des Willehalm- Teils an die zuvor bereits im Arabel-Teil beschriebene Gefangenschaft Wilhelms erinnert, die Auslöser für Wilhelms akute Notsituation sei (BhW, S. 239, Z. 26-30); 124 wenig später erinnert König Lois in der gleichen Passage daran, dass er seinen getöteten Sohn (! ) Fivianz seit acht Jahren nicht gesehen habe - 220 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 122 Ebd., S. 322. 123 Vgl. etwa die Überschriften in Hs P 2 : Dis nachgende hystoria seit von dem wirdigen ritter sant wilhelm und Hs P 3 : Von dem edlen ritter vnd marggraue Wilhelm von Naribon; Hs P 1 weist keine Überschrift auf, vgl. D eifu ß , Hystoria, S. 217. 124 Die Angaben beziehen sich auf D eifu ß , Hystoria; die Zeilenzählung stammt von mir; vgl. auch A. Bachmann, S. Singer (Hg.): Das Buch vom Heiligen Wilhelm. In: Deutsche Volksbücher. Aus einer Zürcher Handschrift des fünfzehnten Jahrhunderts. Tübingen 1889 (BLV 185). <?page no="231"?> eine Vorstellung, die deutlich auf den Schluss des Arabel-Teils (nach Fassung *A) anspielt, wo von Fivianz’ Erziehung an Wilhelms Hof in Orange berichtet worden war. In der Szene um die Rückgabe der in der zweiten Alischanzschlacht gefallenen Könige erwähnt Wilhelm die positive Rolle des Terribuleis (= Matribleiz), der ihn während seiner Zeit in heidnischer Gefangenschaft stets zuvorkommend behandelt habe und deshalb nun belohnt werden solle (BhW, S. 254, Z. 6-9); und schließlich wird auch im Rennewart-Teil noch einmal an Wilhelms Kerkerhaft erinnert, wenn die Heiden vermuten, dass der unversöhnliche Hass, den Wilhelm ihnen entgegenbringt, aus eben jener Gefangenschaft resultiere (BhW, S. 269, Z. 21f.). Angesichts dieser offenbar mit großem Bedacht gesetzten zyklischen Markierungen zwischen den einzelnen Branchen überrascht es nicht, wenn ebenfalls die narrativen Unschärfen, die in der Versfassung des Willehalm-Zyklus noch begegneten, im Buch vom heiligen Wilhelm beseitigt sind. So kommt es, obwohl die *A-Fassung der Arabel als Vorlage diente, im Buch vom heiligen Wilhelm z. B. nicht zu Widersprüchen zwischen Heimerichs und Willehalms Einsatz für Papst Leo und den im weiteren Erzählverlauf von Fassung *A der Arabel und den im Willehalm erwähnten Reminiszenzen an diese Passage, denn in der Prosafassung kämpft lediglich Heynrich zusammen mit Karl in Rom (BhW, S. 217f.) und Papst Leo erinnert in der späteren Szene um Arabels Taufe nicht an diese Kämpfe (BhW, S. 232, Z. 22-25). Auch in der Erkennungsszene nach der ersten Alischanzschlacht heißt es im Buch vom heiligen Wilhelm ganz unspezifisch: vnd zeiget ir ein anmal, hatt er uff der nasen (BhW, S. 237, Z. 9). In den gleichen Kontext der Beseitigung von Unschärfen der Versfassungen gehört es, wenn im Arabel- Teil Terramere als Anführer der Heiden auftritt und nicht, wie in der Mehrzahl der Arabel-Vershandschriften, Paligan, dessen Tod im Buch vom heiligen Karl, das mit dem Buch vom heiligen Wilhelm in engstem Bezug steht (s. u.), zuvor bereits geschildert war. Ebenso wenig wird Paligan, im Unterschied zur Versfassung, im Rennewart-Teil genannt. Getilgt sind zudem die Diskrepanzen zwischen den ‹Parallelerzählungen› vom Ende der zweiten Alischanzschlacht, wie sie am Schluss von Wolframs Willehalm und zu Beginn von Türheims Rennewart erscheinen. Denn die nicht zu Türheims Fassung stimmenden Szenen des Willehalm sind in der Prosafassung sämtlich übergangen. Auf ihren Handlungskern beschränkt bzw. reduziert wurden auch jene Verse, die in der älteren Fassung zu Unstimmigkeiten zwischen der von Türheim geschilderten Provenienz von Rennewarts Pferd und Rüstung sowie der Herkunft jener ritterlichen Utensilien nach Wolfram (BhW, S. 251, S. 262) führten. Und schließlich sind ebenfalls die ‹Parallelerzählungen› des in der Arabel geschilderten ersten Kontakts zwischen Willehalm und seiner späteren Frau und die Darstellung der gleichen Situation im Rennewart beseitigt, weil im prosifizierten Rennewart die entsprechende Passage ausgelassen wurde (BhW, S. 313f.). Mit diesen, eine hohe syntagmatische Kohärenz herstellenden zyklischen Signalen könnte das Buch vom heiligen Wilhelm, aus dem Blickwinkel der Zyklizität betrachtet, einer der ausgefeiltesten deutschsprachigen Erzählzyklen Zyklische Potenziale 221 <?page no="232"?> des gesamten Mittelalters sein - wenn nicht das vierte Zyklizitätskriterium fehlen würde, das ‹signaux cycliques entre les textes› fordert. In der spätmittelalterlichen Prosifizierung der Willehalm-Trilogie sucht man jedoch sämtliche entsprechenden Markierungen vergeblich, da die in der Versfassung vorhandenen Prologe komplett getilgt wurden. 125 Und weil dafür auch kein Ersatz, beispielsweise in Form gliedernder Zwischenüberschriften, resümierender Schlussbemerkungen oder ähnlicher Markierungen, geschaffen wurde, können die distinkten Branchen, aus denen sich der ältere Zyklus zusammensetzt, in der spätmittelalterlichen Bearbeitung nicht mehr bzw. nur noch mit Kenntnis der älteren Fassung unterschieden werden. 126 Arabel, Willehalm und Rennewart sind, mit anderen Worten, im Buch vom heiligen Wilhelm zu einem einzigen, hochkohärenten Text umgearbeitet worden, wobei diese vereinheitlichende Narrativik des Buchs vom heiligen Wilhelm bestens mit der einheitlichen thematischen Ausrichtung des Textes korrespondiert. 127 In den gleichen Zusammenhang gehören ebenfalls die in der spätmittelalterlichen Bearbeitung wiederholt konstatierbaren ‹Rationalisierungen› sowie ‹logischeren› Motivierungen von Szenen und Handlungsketten, die in der älteren Fassung teilweise Fragen aufwarfen oder Akzeptanzprobleme beim Publikum ausgelöst zu haben scheinen. So ist etwa in Türlins Arabel nicht ohne weiteres einsichtig, weshalb der kriegserprobte, zuvor bereits dreimal mit Terramer gegen die Christen gezogene Kapitän des Schiffes (vgl. Ar *A 139,7-9/ *R 144,7-9), auf dem Arabel und Willehalm aus Tybalts Herrschaftsbereich fliehen, bereitwillig dem Wunsch Arabels nachkommt, Kurs auf die weit entfernt liegenden christlichen Gestade zu nehmen (vgl. Ar *A 139,13-31/ *R 144, 13-31). In der spätmittelalterlichen Prosabearbeitung ist das hingegen leicht zu verstehen. Der Kapitän des Heidenschiffes wird hier zu einem christlichen 222 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 125 Vgl. BhW, S. 235, Z. 13/ 14 den nahtlosen Übergang im Erzählfluss zwischen Arabel- und Willehalm-Teil sowie S. 255, Z. 12/ 13 den Übergang zwischen Willehalm- und Rennewart-Teil, den man ebenfalls als solchen gar nicht erkennen würde, hätte man nicht die Versvorlagen. 126 Immerhin wird der Beginn des Rennewart-Teils in allen drei Handschriften durch eine Initiale gekennzeichnet (vgl. D eifu ß , Hystoria, S. 125) - ein innerhalb des Buch vom heiligen Wilhelm allerdings auch an anderen Stellen nachweisbares Gliederungskriterium - während der Beginn des Willehalm-Teils nur in Hs P 3 durch eine Initiale hervorgehoben wird (vgl. D eifu ß , Hystoria, S. 117). 127 Vgl. zu dieser charakteristischen Bearbeitungstendenz auch D eifu ß , Hystoria, S. 210f.: «Durch die Beschneidung des Stoffes um alle profanen Erzählmotive wird die in allen drei Versromanen angelegte Mehrdimensionalität allein auf den religiösen Aspekt verengt. Vor dem Hintergrund eines übergeordneten heilsgeschichtlichen Dualismus läuft das Geschehen ausschließlich nach Gottes Providenz ab, wofür die häufig gebrauchten Formeln als got wolt oder dez f gt sich ein untrüglicher Indikator sind. Die in diesem Zusammenhang erforderliche ‹Schwarz-Weiß-Zeichnung› sowohl der christlichen als auch der heidnischen Figuren korrespondiert mit einem im Vergleich zu den Versvorlagen schematischen und von stereotypen Wendungen geprägten Stil»; vgl. ebenfalls B astert , Rewriting, S. 134-136. <?page no="233"?> Kauffahrer umgedeutet, der in heidnische Gefangenschaft geraten sei und nur zum Schein dem Christentum abgeschworen habe (BhW, S. 224, Z. 20f.). In der Munleun-Szene von Wolframs Willehalm scheint dem spätmittelalterlichen Redaktor offenbar kaum nachvollziehbar gewesen zu sein, weshalb Willehalms Schwester, die französische Königin, sich so vehement dem Wunsch ihres in größte Bedrängnis geratenen Bruders widersetzt, ihm mit einem Entsatzheer zu Hilfe zu kommen. Die Prosabearbeitung fügt deshalb eine einleuchtende Erklärung für die wütenden Schimpfreden und die unnachgiebige Verweigerungshaltung der Königin ein: Sie sei wie von Sinnen gewesen, weil sie ahnte, dass auch ihr Sohn Fivianz sich unter den Gefallenen der Alischanzschlacht befunden habe, überdies wird sie durch ihre erneute Schwangerschaft entschuldigt (BhW, S. 240, Z. 17-19): waz sie haut getan, daz ist da von, das ir ir hercz hat geseit den schaden, den sie hat genommen an jrem ersten sun, dar zuo gat si in frowklichen banden vnd sol man ir worten dester minder achten. Im Rennewart-Teil scheint es Schwierigkeiten bereitet zu haben, dass Malefer, nachdem sein Vater Rennewart ihn in einer Pause des von beiden ausgefochtenen Zweikampfs über seine Herkunft aufgeklärt hat, plötzlich auf die Seite der Christen wechseln kann, ohne dass die Heiden, die die Gründe ihres Anführers für diesen überraschenden Schritt ja nicht kennen können, dem entgegenzuwirken suchten. Auch diese Passage versucht die Prosabearbeitung besser zu motivieren, indem sie Rennewart und Malefer eine List vereinbaren lässt (BhW, S. 296, Z. 10-14): ‹Wie wend wir t v n,› sprach Rennuwart, ‹daz dich die heiden nit mit gewalt werdent nemen? › Malfer sprach: ‹So heiß den marcgrauen vnd die sinen kommen, so wend wir noch einest an ein ander, so wirff mich vnder dich [P 1 : vnd th q als ob dv mich töden wellest vnd züch din schwert vß]; so will ich mich an dich ergen vnd will z v den cristan gan.› Und schließlich wird auch der letzte Einfall der Heiden in christliches Land, der in Türheims Rennewart nach Malefers Erringung der politischen Herrschaft im Orient und dem damit einhergehenden Ausgleich mit Terramer etwas unmotiviert wirkt, in der Prosabearbeitung erklärt durch ein anonymes Attentat auf Tybald, dessen Sohn sich für diese Tat an den Christen habe rächen wollen (BhW, S. 317, Z. 26-31): Do nun kung Terramere vnd alle sin sun bekert wurden z v cristenem gl p ben, do ward kung Thibalt nie bekert, wonn er wolt sich nit lausen bekeren. Vnd do er eins tages in grossem ubermvt st v nd, do kam ein wol geweffnoter ritter, daz nieman wusst, wer er was, vnd schl v g den kung Tibald vff das hopt, daz jm der lib mit einander zerspielt vnd starb. Nun hatt er ein sun [P 1 : mit kyburgen; P 2 : nvt by kiburgen], der hies Terribuleis, der wolt nun daz rechen, wonn er meint, es wer ein cristiner ritter gesin, der sin vatter ertöt hett [P 1 , P 2 : vnd hettind in die cristnen dar gesant]. Zyklische Potenziale 223 <?page no="234"?> Mit seiner Tendenz zur ‹Rationalisierung› ebenso wie mit der fast vollständigen Glättung der in der versifizierten Willehalm-Trilogie enthaltenen Erzählwidersprüche, nicht zuletzt auch durch die gegenüber den je spezifischen Diskursen der Versvorlagen wesentlich einheitlichere thematische Ausrichtung gehorcht das Buch vom heiligen Wilhelm offenbar einer anderen Erzähllogik als der ältere Verszyklus. Bestandteil dieser Narrativik scheint ebenfalls die Vereinigung der distinkten, aus Arabel, Willehalm und Rennewart bestehenden Branchen des Verszyklus zu einem durchgehenden Text zu sein. Das Fehlen des vierten Zyklizitätskriteriums, d. h. die Verschmelzung ehemals eigenständiger Branchen, stellt demnach nicht etwa, wie dies aus dem Blickwinkel der Zyklusforschung vielleicht scheinen könnte, ein erzählerisches Defizit dar, sondern ist vielmehr Kennzeichen einer anderen Poetik, die die für zyklisches Erzählen charakteristische blockartige Struktur aufhebt. Nimmt man zu dieser Perfektionierung einer hochentwickelten organischen Zyklizität, wie sie sich im Buch vom heiligen Wilhelm manifestiert, noch die dort gleichfalls konstatierbare Tendenz zur ‹Rationalisierung› und die Glättung von Widersprüchen hinzu, könnte man in diesem Text vielleicht erste Ansätze einer ‹modernen› Kohärenzbildung vermuten - das wohl gegen 1470 entstandene Buch vom heiligen Wilhelm wäre somit eine Art ‹Scharniertext› zwischen spätem Mittelalter und früher Neuzeit. Vor in dieser Hinsicht zu voreiligen Schlussfolgerungen sollte allerdings warnen, dass bereits der rund 250 Jahre vor dem Buch vom heiligen Wilhelm entstandene Karl des Stricker eine prinzipiell vergleichbare Kohärenzbildung aufweist - einschließlich des nicht vorhandenen vierten Zyklizitätskriteriums. Denn auch in Strickers Rolandslied-Bearbeitung sind, wenn auch nur in Ansätzen nachweisbar, ursprünglich selbstständige Erzähleinheiten wie die Bertasage oder der Bericht über die Flucht des jungen Karl nach Spanien nahtlos integriert (vgl. S. 184f.). Offensichtlich existierten also beide narrativen Typen schon seit dem 13. Jahrhundert nebeneinander. Den besten Beleg für das problemlose Miteinander beider Typen bietet dabei die Kontextualisierung des Buchs vom heiligen Wilhelm selbst. In zwei von drei Handschriften (P 1 und P 2 ) steht vor dem Buch vom heiligen Wilhelm das Buch vom heiligen Karl. Es ist nicht klar, ob die beiden Texte, die der Schreibsprache nach zu urteilen in derselben oder mindestens in einer eng benachbarten Region entstanden sein müssen, vom gleichen Autor bzw. Redaktor stammen. Einiges spricht dafür, so etwa die beiden gemeinsame Technik der Prosifizierung, die in beiden Texten identische Orientierung an hagiographisch-legendarischen Schreibmustern, vor allem aber die zahlreichen Interferenzen zwischen dem Buch vom heiligen Karl und dem Buch vom heiligen Wilhelm (s. u.). Gleichwohl weisen beide, wenigstens partiell, unterschiedliche Techniken narrativer Verknüpfung auf. Während das Buch vom heiligen Wilhelm, wie gesehen, einstmals distinkte Branchen konsequent zu einer durchgehenden Erzähleinheit verschmilzt, lassen sich im Buch vom heiligen 224 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption <?page no="235"?> Karl verschiedene Branchen unterscheiden 128 - wodurch das erste Zyklizitätskriterium erfüllt ist. Die erste Branche (S. 3,1-15,30 129 ) umfasst die stark mirakulöse Geschichte von Florus und Pantschiflur (nach Konrad Flecks Flore und Blancheflur), der zu entnehmen ist, dass der Frankenkaiser durch seine Vorfahren mütterlicherseits Abkömmling eines ursprünglich heidnischen, in der Gestalt des Florus später freilich zum Christentum konvertierten Königsgeschlechts aus Spanien sei. 130 Am Ende dieser Branche findet sich dann eine typische zyklische Markierung ‹entre les textes›, wenn es heißt (BhK, S. 15,24-33): Und do sy [Florus und Pantschiflur] xxx jar alt wurdent, do gab got inen ein tochter, die wart genant Berchta. Und do sy xv jar altt was, do wartt sy gemechlet eim küng in Franckrich ze Kerlingen, und der was genant Pipinus. Und ward sant küng Karlus von inen geborn, als ir her nach werdent hören. Und wart Pantschiflur und Florus hundert jar alt. Und sturbent in warem cristen glouben uff ein tag, als sy ouch uff ein tag geborn wurdent. Das nun küng Karlus von disser tochter geborn ward, daz mercken, wie sich daz fuogt: daz sönd ir hören, als man an etlichen buochen gschriben fint. Mit der Erzählung um Karls wundersame Zeugung beginnt die zweite und umfangreichste Branche des Buchs vom heiligen Karl (S. 15,34-94,3), wobei Zyklische Potenziale 225 128 Dabei wurden die Grenzen zwischen den Branchen in der bisherigen Forschung allerdings unterschiedlich gezogen. Als Entscheidungsgrundlage diente eher persönliches Empfinden denn deutlich benannte und überprüfbare Kriterien. Mit Blick auf die seit langem bekannten Hauptquellen des Prosaisten wurde für das Buch vom heiligen Karl oft eine Dreibzw. Vierteilung vorgeschlagen. Der erste Teil umfasste demnach die nach Flore und Blancheflur des Konrad Fleck sowie der Weihenstephaner Chronik erzählte Geschichte der kognatischen Großeltern- und der Elterngeneration Karls, der Zeugung und Geburt sowie der Kindheit des späteren Kaisers. Danach begänne der zweite, im wesentlichen Strickers Karl folgende Teil, der direkt zu Anfang jedoch durch eine, manchmal als eigenständiger Teil bewertete, aus verschiedenen sagenhaften Elementen kompilierte Erzählpartie unterbrochen würde. Der vierte (bzw. dritte), wiederum aus verschiedenen sagenhaften und legendarischen Quellen kompilierte Teil, setzt diesem Schema zufolge nach dem Ende der Strickerschen Erzählung ein und behandelt das weitere Schicksal Karls. 129 Das Buch vom heiligen Karl muss weiterhin zitiert werden nach der Ausgabe A. Bachmann, S. Singer (Hg.): Deutsche Volksbücher. Aus einer Zürcher Handschrift des fünfzehnten Jahrhunderts. Tübingen 1889 (BLV 185). 130 Die mirakulöse Tönung im Verbund mit dem Faktum, dass durch das Spanien-Motiv der Florus und Pantschiflur-Erzählung bereits auf das spätere Schicksal Karls hingewiesen wird, der durch sein Exil, vor allem aber durch seine Kämpfe gegen die Sarazenen noch mehrfach Kontakt zu diesem Land haben wird, dürfte wohl ein Grund dafür gewesen sein, dass der literarisch versierte Redaktor des Buchs vom heiligen Karl gerade diesen Erzählstoff als Vorgeschichte seiner hagiographisch-legendarischen Karl-Vita auswählte. Theoretisch wären auch andere, sich als Geschichte der Großelternbzw. Elterngeneration Karls gerierende Erzählungen in Frage gekommen - so etwa König Rother oder die Gute Frau. <?page no="236"?> der Schwerpunkt stets auf Karls Taten für die Christenheit, seiner heiligmäßigen Lebensführung und der daraus resultierenden Unterstützung durch Gott liegt. In der gesamten zweiten Branche werden zunächst, ähnlich der Weihenstephaner Chronik, 131 Karls Geburt und seine ersten Jahre geschildert; anschließend wird über Karls Jugend mit der Flucht ins spanische Exil und seine Rückkehr berichtet (wofür Strickers Karl als Modell dient). Darauf wird, nach ganz unterschiedlichen Quellen, erzählt, wie Karl halb Europa unterwirft, die Kaiserkrone erringt, sich auf eine Fahrt nach Jerusalem und Byzanz begibt, sich im Anschluss dann als gerechter und weiser Richter präsentiert sowie als sündiger Heiliger, der durch ein Wunder von Gott Vergebung erlangt. Schließlich ist dann, jetzt wieder dem Stricker als Quelle folgend, die Unterwerfung der spanischen Sarazenen samt der Niederlage bei Ronceval und der nachfolgenden Racheschlacht dargestellt. In diesem gesamten Erzählblock, der immerhin rund achtzig eng bedruckte Seiten in der Ausgabe von Bachmann/ Singer ausmacht und aus verschiedensten Vorlagen kompiliert wurde, findet sich, vergleichbar der im Buch vom heiligen Wilhelm angewandten Technik, keinerlei Markierung, die einen Einschnitt in der narrativen Progression signalisieren würde. Überdies hat der Redaktor geschickt gerade die in seiner Hauptquelle, dem Strickerschen Karl, bereits angelegten Schnittstellen für die beschriebenen Erweiterungen genutzt, die sich auf diese Weise gut in den Erzählfluss einpassen. Genau dort, wo der Stricker die Geschichte der vertauschten Braut Berthe, der Mutter Karls, zwar kurz angerissen, aber mit einem brevitas-Topos (daz waere ze sagene ze lanc,/ wie daz dinc allez ergie; Karl, 132f.) diesen Narrationsstrang rasch wieder fallen gelassen hatte, fügt der spätmittelalterliche Prosaist seine ausführliche Schilderung der Zeugung, Geburt und Kindheit Karls ein (BhK, S. 15,34-17,36). Und an der Stelle, an der der Stricker die Karl von einem Engel prophezeiten zahlreichen Eroberungen, seine Kaiserkrönung und schließlich die Unterwerfung Spaniens nur abbreviatorisch dargestellt hatte (Hie huop sich ein maere/ daz lanc ze sagen waere,/ nu wil ichz kürzen swâ ich kan; Karl, 447-449), erscheint im Buch vom heiligen Karl eine weitere, umfangreiche Amplifikation, die, wie in Strickers Fassung, die diversen Eroberungen des Frankenherrschers und dessen Kaiserkrönung darstellt, darüber hinaus aber auch noch verschiedene weitere, legendarische und sagenhafte Begebenheiten um Karl hinzufügt, ohne dass der Erzählfluss dadurch unterbrochen würde. Ein expliziter, einen Neueinsatz markierender Einschnitt findet sich erst wieder am Schluss der umfangreichen zweiten Branche, wenn es heißt (BhK, S. 93,30-94,6): 226 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 131 Zu den Ähnlichkeiten zwischen dem Buch vom heiligen Karl und der Weihenstephaner Chronik vgl. K letzin . Wichtig dabei der Hinweis, dass die entsprechenden Passagen des Buchs vom heiligen Karl nicht direkt nach der Weihenstephaner Chronik entstanden seien und diese ihrerseits nicht direkt aus dem Buch vom heiligen Karl gearbeitet sei, vgl. ebd. S. 34, Anm. 1; vgl. ebenfalls den Vergleich zwischen beiden Texten bei F olz , Souvenir, S. 469-474 (die Signatur der Wiener Handschrift der Weihenstephaner Chronik wird dort versehentlich mit cod. 2871 angegeben, recte: cod. 2861). <?page no="237"?> «Von eines menschen selikeit vil menschen selig werdent.» Daz wort ward wol war an dem durchluchtigen keyser Karlus, won vil menschen von im selig sind worden. Won man list von im, daz kein heilg der Cristnenheit als nücz sig gewessen alß er; won er hat an massen vil heiden bekert und vil landen erstritten, und hat im got vil grosser gnaden gethan, alß ir ein teyl gehört hand und hernach werdend hören, und alß ir da vor gehört hand, wi Karlus den obristen küng der heiden, der da genant was Paligan, erschluog und mit in ze acht malen hundert tusind heiden. Daz stuond ungerochen, uncz daz ir beder kind erwuossend, Paligans sun Terramere und Karlus son Löys oder Ludwig. Wie die mit einandren strittend, daz fint man in dem lesen des wirdigen ritters Sant Wilhelms ouch hernach an disem buoch, unnd ouch noch etlich getet und leblich stritt und wunderwerck von dem wirdigen keyser Karlus. Wie beim Übergang von der ersten zur zweiten Branche wird also auch hier resümierend auf das vorausgehend Erzählte Bezug genommen, zugleich aber auf noch zu Erzählendes verwiesen - und zwar, mit einer dem Strickerschen Karl entlehnten Schlusswendung, erstens auf die Fortsetzung des Ringens zwischen Christen und Heiden, wie dies im unmittelbaren Anschluss an das Buch vom heiligen Karl das Buch vom heiligen Wilhelm vorführt (s. o.), sowie zweitens auf etlich getet und leblich stritt und wunderwerck von dem wirdigen keyser Karlus. Eine Wendung, die exakt die lateinische Überschrift in der Aachener Vita Karoli Magni imitiert, die eine der Quellen für die abschließende dritte, die ‹Mirakel›-Branche des Buch vom heiligen Karl bildet (BhK, S. 94,7-114,14). In ihr sind insgesamt sechzehn, die Heiligkeit Karl bezeugende, Wunder und Zeichen angeführt, die sich zu seinen Lebzeiten, während seines Sterbens und nach seinem Tod ereignet haben sollen. 132 Das dominierende Erzählschema der dritten Branche ist somit zweifelsohne das der Heiligenvita, die häufig durch eine summarische Aufzählung der Wunder abgeschlossen wird, die am und vom Heiligen bewirkt wurden, dessen Lebensweg zuvor beschrieben worden war. 133 Die dritte Branche verdichtet also noch den bereits in der vorhergehenden Branche massiv im Vordergrund stehenden Diskurs eines heiligmäßigen Karl. Obschon in ihr bestimmte Taten und Ereignisse aus Karls Leben, die sich zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten ereignet haben sollen, lediglich exemplarisch aufgeführt sind, die Branche mithin keinen kohärenten Erzählfluss besitzt, lässt sich gleichwohl auch in ihr eine durchdachte Struktur ausmachen. Denn die Zyklische Potenziale 227 132 Zu den Vorlagen der sechzehn Abschnitte vgl. F olz , Souvenir, S. 476-478. Als Quelle für die Schilderung von Karls Tod (BhK, S. 110,20-33) ist die auf Thegan, Gesta Hludowici imperatoris, cap. 7 beruhende Darstellung der Vita Karoli Magni zu ergänzen; vgl. Die Aachener «Vita Karoli Magni» des 12. Jahrhunderts auf der Textgrundlage der Edition von Gerhard Rauschen unter Beifügung der Texte der Karlsliturgie in Aachen neu hg., übers. und eingel. von Helmut und Ilse Deutz. Siegburg 2002 (Veröffentlichungen des Bischöflichen Diözesanarchivs Aachen 48), S. 262f. 133 In ganz ähnlicher Weise ist die den Redakteuren des Buchs vom heiligen Karl sicher vorliegende Aachener Vita Karoli Magni aufgebaut, vgl. ebd. S. 202-275. <?page no="238"?> Aufzählung der diversen wunderwerck von dem wirdigen keyser Karlus (BhK, S. 94,6) folgt dem aus verschiedenen literarischen Texten bekannten Lebensweg des ersten Frankenkaisers. 134 Aus zyklischer Perspektive bildet diese letzte Branche des Buchs vom heiligen Karl einen interessanten Sonderfall, weil sie die chronologische Ordnung der narrativen Progression teilweise durchbricht und das Buch vom heiligen Karl damit das zweite Zyklizitätskriterium nicht vollständig erfüllt, das eine chronologisch stimmige Reihung der erzählten Ereignisse fordert. Zwar endet die letzte Branche und damit das Buch vom heiligen Karl insgesamt, zyklischer Erzähllogik entsprechend, mit einem knappen Bericht über Karls Tod, sie verletzt zyklische Narrativik allerdings, wenn die ersten der angeführten Mirakel hinter die erzählte Zeit zurückfallen, die in der zweiten Branche mit der Schilderung der Ronceval-Ereignisse bereits erreicht war. Durch die vage temporäre Bestimmung uf ein zitt (BhK, S. 94,7), mit der die dritte Branche eröffnet wird, ver- 228 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 134 Zunächst werden, nach Pseudo-Turpin bzw. der Aachener Vita Karoli Magni, einige Wunder genannt, die sich in einem Krieg gegen die spanischen Heiden ereignet haben sollen, der offenbar den Ereignissen um die Roncevalschlacht als zeitlich vorausliegend gedacht ist (vgl. auch die Karlmeinet-Kompilation, die dem gleichen Schema folgt); dann folgt ein Wunder im Kampf gegen nicht näher genannte Heiden, wofür der Oberdeutsche Servatius als Quelle dient. Daran anschließend sind Zeichen und Wunder aus einer zweiten Auseinandersetzung mit den spanischen Sarazenen angeführt, die in die Katastrophe von Ronceval münden; als nächstes wird die Gott und Karl gemeinsam zu verdankende, wunderbare Befreiung Galiziens und Santiagos von den heidnischen Besatzern geschildert; im folgenden Abschnitt werden verschiedene Vorzeichen genannt, die Karls Tod ankündigen, bevor der ebenfalls von Wundern umwitterte Tod des Kaisers beschrieben wird sowie Wunder, die sich bald nach seinem Tod ereignet hätten. Die ‹Mirakel›-Branche des Buchs vom heiligen Karl nähert sich ihrem Ende mit einer Beschreibung der, Pseudo-Turpin und Einhards Vita Karoli Magni entlehnten, äußeren Gestalt und des Charakters Karls sowie einer Nachricht über seine Translation under dem würdigen keyeser Fridrich und under dem seligen bapst Gregorio (BhK, S. 113,33-34) und der späteren Überführung von Karlsreliquien nach Zürich. Nach Zürich weist schließlich auch das Wunder, mit dem das Buch vom heiligen Karl abgeschlossen wird (BhK, S. 114,4-14): Ein Karl feindlich gesonnener Ritter habe nach dessen Tod ein steinernes Denkmal des Kaisers verspottet, das in Aachen aufgestellt sei. Das wolt got nütt vertragen, und das steyne pild Sant Karlus zoch daz schwerdt halbes uß, das er uf der schoß hat. Und das sach der rytter und erschrack übel, also daz er nyder fyel und starb. Ob eine steinerne Karl-Skulptur im 15. Jahrhundert oder früher in Aachen existiert hat, ist ungewiss. Sicher ist dagegen, dass am Zürcher Großmünster um 1470 eine solche Skulptur angebracht wurde, die den sitzenden Kaiser in Richterposition mit halbgezogenem Schwert darstellt; möglicherweise hatte diese Skulptur noch einen älteren Vorläufer. Seit 1260 führen ebenfalls die Pröbste des Zürcher Großmünsters ein Siegel, das einen sitzenden Karl mit (halb)gezogenem Schwert zeigt; vgl. dazu Dietrich K ötzsche : Darstellungen Karls des Grossen in der lokalen Verehrung des Mittelalters. In: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben. 5 Bde., hg. von Wolfgang Braunfels. Düsseldorf 1965-1967, Bd. 4, S. 157-214, hier S. 202-204 und S. 195-197 die Abbildungen 32-42. Der Redaktor des Zürcher Buchs vom heiligen Karl könnte diese Skulptur im Sinn gehabt haben, als er seinem Bericht ein letztes Wunder hinzufügte, das Gott für Karl gewirkt haben soll. <?page no="239"?> suchte der Redaktor jedoch ganz offenkundig, die vom Schema der Heiligenvita dominierte narrative Struktur dieser Branche mit den Anforderungen zyklischen Erzählens zu vermitteln, indem die exemplarischen Belege der sanctitas Karls als eine Art Rückblende präsentiert werden. Auch die übrigen Kennzeichen zyklischen Erzählens werden vom Buch vom heiligen Karl ausnahmslos souverän erfüllt. Das dritte Kriterium ergibt sich beinahe von selbst durch die ausschließliche Erzählfokussierung auf die Figur des Frankenkaisers bzw. auf dessen Vorfahren; vom ebenfalls nachweisbaren vierten Zyklizitätskriterium, den ‹signaux cycliques entre les textes›, war im Zusammenhang der Unterteilung des Buchs vom heiligen Karl in drei Branchen bereits die Rede. In ähnlicher Häufung wie das mit ihm einen engen Überlieferungsverbund bildende Buch vom heiligen Wilhelm umfasst auch das Buch vom heiligen Karl ‹signaux cycliques dans les textes› und weist darüber hinaus Glättungen, Beseitigungen von Widersprüchen aus den Vorlagen sowie ‹logischere› Motivierungen auf, so dass ebenfalls das fünfte Zyklitzitätskriterium erfüllt wird. So wird z. B. in der ersten Branche des Buchs vom heiligen Karl in einem Vorblick auf die nächste Branche verwiesen, wenn das Überleben von Pantschiflur in teilweise feindlicher heidnischer Umgebung damit erklärt wird, dass Gott sie als Stammmutter eines Heiligen ausersehen habe (BhK, S. 6, 18-21): [...] wan es was nit der will gocz, daz sy getöt wurd. Wan er hat in siner ewikeit fürsechen, daz noch von ir sölt komen, daz der helgen cristenheit nücz und guot sölt sin, als ir hienach werdent hörent. Eine ganz ähnliche Vorausdeutung auf die Karl-Branche findet sich wenige Seiten später, wenn ein Engel Pantschiflur prophezeit, dass sie einen Enkel haben werde, der wirt der cristenheit als nücz, daz vil landen durch in bekert werdent. (BhK, S. 10,31f.). Beide Verweise sind Änderungen des Redaktors, sie finden sich nicht in Konrad Flecks Flore und Blancheflur. Ein Zusatz zu Strickers Karl ist in der zweiten Branche ebenfalls das legitimatorisch eingesetzte Motiv des Augenzeugen Baldwinus, Rolands Bruder, der Karl aus erster Hand über das Drama von Ronceval berichtet habe: Und starb da, alß hie nach stat (BhK, S. 68,6f.); in einem die Roncevalschlacht thematisierenden Mirakel der dritten Branche wird dieser Vorverweis später näher ausgeführt (vgl. BhK, S. 105,36-106,13). Indikator der souveränen, weit auseinander liegende Textpassagen miteinander in Beziehung setzenden Erzählregie des Buchs vom heiligen Karl ist gleichfalls die narrative Nutzung des Motivs einer (unwissentlichen) inzestuösen Beziehung Karls zu seiner Schwester, das zu Beginn der zweiten Branche zunächst nur kurz im Kontext einer Aufzählung der nicht gebeichteten Sünden des Königs erwähnt ist, die ihm von Gott auf wunderbare Weise vergeben werden (vgl. BhK, S. 27,6-8). Erst die Schilderung von Rolands Tod greift ebenso effektvoll wie raffiniert wieder auf das Motiv zurück, indem dort enthüllt wird, dass Roland die Frucht dieser Beziehung ge- Zyklische Potenziale 229 <?page no="240"?> wesen sei (vgl. BhK, S. 68,8-29). Die Szene um Rolands Tod ist im Übrigen, wie der Text selbst ausdrücklich offenlegt, eine Kontamination aus verschiedenen Vorlagen (Karl und Pseudo-Turpin) (BhK, S. 67,6-10): Nun sagend etliche buoch, daz er [Roland] tod were, daz Karlus ze im kam, und daz schwert und horn in den heiden [lies: henden] het und Karlus sy also tod büt. Aber die andren buoch sagend, er fundy in noch dan lebendig, aber in sterbender not, alß ir hie werdent hören. Aus der Verwendung unterschiedlicher Quellen resultierende Widersprüche - z. B. dem in Strickers Karl geschilderten Tod Bischof Turpins auf dem Schlachtfeld von Ronceval, während im Pseudo-Turpin ein gleichnamiger Erzähler auftritt, der alle Geschehnisse um Karl den Großen aufgezeichnet und diesen selbst überlebt haben will - verschweigt der Redaktor des Buchs vom heiligen Karl keineswegs, er löst sie jedoch geschickt. Im erwähnten Fall beseitigt er das Problem durch die Einführung von zwei Figuren namens Turpin (BhK, S. 105,18-22): Es ist ouch ze wüssen, daz Karlus hat by im zwein bischof, die hiesend bed Turpinus. Einer was jung, der vor alwend mit Ruoland und verlor ouch sin leben by im, alß da for stat. Der ander bischof Turpinus was alt und gar ein selig man, und der was alwend by Karlus. 135 Analog zum Buch vom heiligen Wilhelm formt demnach auch das Buch vom heiligen Karl einen ambitionierten organischen Zyklus. Erstaunlicher als diese Tatsache ist allerdings, dass zugleich die beiden jeweils für sich einen organischen Zyklus ergebenden Texte in den Handschriften, in denen sie gemeinsam überliefert sind, einen narrativen Verbund bilden, der auf einer ansonsten in der deutschsprachigen Tradition der Chanson de geste- Bearbeitungen nicht mehr erreichten Stufe organischer Zyklizität steht. Obwohl das Buch vom heiligen Karl und das Buch vom heiligen Wilhelm sowohl in der Zürcher wie auch in der Schaffhausener Handschrift jeweils durch eine unbeschriebene Seite getrennt sind, wodurch sie allein schon als distinkte Branchen markiert werden, kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass beide Texte von vornherein als Einheit geplant waren, wie die enge Verklammerung der beiden Großbranchen nachhaltig demonstriert. Die Vorausdeutung, mit der am Ende der zweiten Branche des Buchs vom heiligen Karl explizit auf die im Buch vom heiligen Wilhelm geschilderte Fort- 230 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 135 Eine vergleichbare Lösung hatte der Redaktor der niederländischen Prosa von Den droefliken strijt van Ronceuale (Antwerpen 1520) gefunden, der gleichfalls auf die Versfassung des mittelniederländischen Roelantslieds zurückgriff, in der Tulpin (wie der Bischof im Niederländischen heißt) stirbt, und daneben eine Quelle benutzte, in der Tulpin als Erzähler fungiert. Der Redaktor des Prosadrucks behauptet, letzterer sei ein anderer Bischof gewesen, werde aber häufig mit Tulpin verwechselt, weil er so fromm gewesen sei; vgl. Hans van D ijk : Het Roelantslied. Studie over de Middelnederlandse vertaling van het Chanson de Roland, gevolgd door een diplomatische uitgave van de overgeleverde teksten, 2 Bde. Utrecht 1981, hier Bd. 2, S. 429, Z. 558-564. <?page no="241"?> setzung des Ringens zwischen Christen und Heiden verwiesen wird, wurde zwar bereits zitiert, wegen der Bedeutung, die sie für die narrative Struktur des Großzyklus hat, soll sie jedoch noch einmal angeführt werden (BhK, S. 94,1-5): Daz stuond ungerochen, uncz daz ir beder kind erwuossend, Paligans sun Terramere und Karls sun Löys oder Ludwig. Wie die mit einander strittend, daz fint man in dem lesen des wirdigen ritters Sant Wilhelms ouch hernach an disem buoch. Wohl nicht zuletzt, um die hier bereits avisierte Verbindung zwischen den beiden Texten noch deutlicher zu machen, nahm der Redaktor im Arabel-Teil des Buchs vom heiligen Wilhelm eine signifikante Umstellung vor. Die Erzählchronologie der Versvorlage (d. h. die Arabel *A) ist in der Prosafassung so geändert, dass der Text nun mit jenem Romzug Karls einsetzt, an dem auch Wilhelms Vater Heinrich von Naribon teilgenommen haben und in dessen Verlauf er von Karl verheiratet worden sein soll. Durch die Eingangswendung: In den ziten dez keisers Karoli vnd sins br v ders Leo, dez bapstz (BhW, S. 217, Z. 2) wird der Anschluss an die zuvor erzählten Taten Karls hergestellt und die Prosabearbeitung der Willehalm-Trilogie solcherart mit dem Buch vom heiligen Karl verklammert. 136 Aus dem gleichen Grund wird, im Unterschied zur Versfassung, der erneute Krieg zwischen Christen und Sarazenen, in dessen Verlauf Wilhelm in heidnische Gefangenschaft gerät, in der Prosabearbeitung durch einen angeblichen Rachewunsch der Heiden für die von Karl erlittene Schmach motiviert (BhW, S. 219, Z. 3-5): [...] do woltent die heiden an dem jungen kung Loys rechen, was jnen sin vatter Karolus hatt getan, vnd kam der heiden keiser Terramere mit einer grosen herfart vnd wolt uber den kung Loys. Umgekehrt finden sich ebenso im Buch vom heiligen Karl Verweise auf die nachfolgende Erzählung über den heiligen Wilhelm und dessen Sippe. Schon während der Ronceval-Schlacht erwähnt Paligan, ohne dass sich dafür eine Parallele in der Versvorlage ausmachen ließe, seinen erst im Buch vom heiligen Wilhelm eine Schlüsselposition einnehmenden Sohn Teramere, der ist noch ein klein kind (BhK, S. 76,31). Die im Buch vom heiligen Wilhelm beschriebene enorme Körpergröße Rennewarts wird im Buch vom heiligen Karl vorbereitend erklärt durch die Herkunft seines Großvaters Paligan von risen geschlecht (BhK, S. 78,35). Eben darauf bezieht sich wiederum eine Stelle des Buchs vom heiligen Wilhelm, in der Kyburg, als sie Rennewart das erste Mal erblickt, die große Ähnlichkeit mit Paligan bemerkt (BhW, S. 245, Z. 27-30): Vnd do si Rennuart ersach, do sprach si: ‹Owe, wer ist dirre? Sollich man, sol ich in nit furchten? Er ist glich geschaffen als min enni, Terrameres vatter, der hies Baligan vnd erschl v g jnn keiser Karolus.› Zyklische Potenziale 231 136 Vgl. auch K iening , Willehalm, S. 552; D eifu ß , Hystoria, S.196, Anm. 61. <?page no="242"?> Durch souveräne Erzählregie entsteht so in der aus dem 15. Jahrhundert stammenden amplifizierenden Prosabearbeitung des Karl und der Willehalm-Trilogie der Eindruck eines fortlaufenden, sich organisch entwickelnden Geschehens, das Taten und Schicksale von insgesamt sieben Generationen von ‹Karolingern› (angefangen bei Karls Großeltern Florus und Pantschiflur bis zu seinem Urenkel Johannes) und ihren jeweiligen heidnischen Kontrahenten schildert. Die beiden Handschriften, die die Prosabearbeitungen des Karl und der Willehalm-Trilogie gemeinsam überliefern, vereinigen damit nicht allein quantitativ die meisten (ober)deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen, sie stehen auch in Bezug auf zyklische Konzeptionalität innerhalb der deutschen Chanson de geste-Tradition auf einer sonst unerreichten Stufe. Zur Seite stellen lassen sich ihnen lediglich die etwa zur gleichen Zeit entstandenen französischen Prosagesten, die aus dem Umkreis des burgundischen Hofes stammen. 137 Das Buch vom heiligen Karl wurde noch ein weiteres Mal mit einer deutschen Chanson de geste-Bearbeitung kontextualisiert. Aufgrund seines Entstehungsdatums (geschrieben im Jahr 1551, wohl ebenfalls in der Umgebung von Zürich) würde der Kodex aus dem Horizont der vorliegenden Untersuchungen eigentlich herausfallen. Da es sich jedoch um den ganz ungewöhnlichen Fall einer Mitte des 16. Jahrhunderts entstandenen handschriftlichen Chanson de geste-Bearbeitung handelt, die überdies alle Anzeichen einer hochentwickelten organischen Zyklizität vorzuweisen hat, soll die Handschrift hier trotzdem berücksichtigt werden. Im Kodex Ms. A 121 der Stadtbibliothek Zürich 138 steht der Text des Buchs vom heiligen Karl in korrekter chronologischer Abfolge mit dem Morgant 139 zusammen (Kriterium 1 und 2). Da in beiden Chansons de geste-Adaptationen teilweise die gleichen Figuren agieren (Karl, Roland, Genelun usw.), ist ebenfalls das dritte Zyklizitätskriterium erfüllt. Zwischen beiden Texten zeigt ein zyklisches Signal einen Neueinsatz an, wenn es zum Schluss des Buchs vom heiligen Karl und vor dem Morgant heißt (fol. 33 r ): Hie fangtt ein schöne hystoria an von dem grossen keiser Karly und sinen fürsten und von einem Rysen der hies Morgant der ward durch R v landen z v christenlichem glauben gebracht und von dem erbermklichen strit so am Runtzefall beschach. Zyklische Verweise innerhalb der Texte und redaktionelle Anpassungen im Textbestand, die hier eindeutig auf Widerspruchslosigkeit und Kohärenz zielen, handhabte der Redaktor der Zürcher Handschrift gleichfalls geradezu souverän. Da, wie bereits die Vorrede zum Morgant zeigt, von der Ronceval-Schlacht ebenfalls in diesem Text erzählt wird, war der Redaktor gezwun- 232 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 137 Vgl. etwa S uard , Guillaume d’Orange. 138 Heike S ievert danke ich dafür, dass sie mir eine Mikrofilm-Kopie dieser Handschrift zur Verfügung stellte. 139 Morgant der Riese. In deutscher Übersetzung des XVI. Jahrhunderts hg. von Albert Bachmann. Tübingen 1890 (BLV 189). <?page no="243"?> gen, diesen zentralen Teil des Buchs vom heiligen Karl vollständig zu unterdrücken, wenn sich keine handlungs- und chronologischen Widersprüche zu dem im Morgant-Teil Erzählten ergeben sollten. Er tat dies sehr geschickt, indem er noch während der Vorgeschichte, die zur Katastrophe von Ronceval führen sollte, nämlich während jener Ratsversammlung, in der es zum Konflikt zwischen Roland und Genelun kommt, das in allen anderen Handschriften des Buchs vom heiligen Karl berichtete Zentralgeschehen (S. 38) vollständig übergeht mit den Worten (fol. 23 r ): [...] und allso giengend die von franckrych und R v land zu samen und die andern all und Gangelon was für und für wyder die fürsten dann er was sinem stiffs v n vast viend alß Ir hernach in dem andern b v ch hören werdent von der großen verredery so er an dem Runtzefall gebratyzyert hat die Er und der chunig Marsilius und der chunig Blancharthin z v wegen brachtend. Nach dieser Prolepse, die u. a. auch durch die Nennung der Figur des Königs Blanchartin, der erst im Morgant eine Funktion zukommen wird, auf das dort Erzählte vorausverweist, setzt der Text direkt mit dem Beginn der dritten Branche des Buchs vom heiligen Karl ein, in der Karls wunderbare Taten aufgezählt werden. Bezeichnenderweise sind dabei jedoch erneut jene Passagen ausgelassen, die mit dem Morgant nicht harmonieren. So fehlt etwa die Vision, in der Turpin vom bevorstehenden Tod des Kaisers unterrichtet wird (S. 105, 17-106,13); mit dieser Vision schließt statt dessen der Morgant. 140 Ebenso fehlen die in den übrigen Handschriften des Buchs vom heiligen Karl unter den Wundern und Mirakeln angeführten Vorzeichen vom Tod des Kaisers und der Bericht über den heiligmäßigen Tod Karls (S. 108,13-114,14). Statt dessen steht dort die bereits zitierte Überleitung zum Morgant-Teil; erst zum Schluss des Morgant liest man dann von den Vorzeichen, die Karls Tod ankündigen, sowie die Nachricht vom Tod des Kaisers. 141 A.4.3 Zyklizität in den deutschsprachigen Nideren Landen Die Schwerpunktbildung in der Überlieferung deutet darauf hin, dass das Rolandslied die älteste deutsche Chanson de geste-Bearbeitung im Bereich der deutschsprachigen Nideren Lande bildet. Die zyklischen Valenzen dieses Textes, der auch im oberdeutschen Sprachgebiet bekannt war, wurden bereits im Kontext oberdeutscher Zyklizität besprochen. Während dort zwar Wolfram die zyklischen Potenziale des Rolandslieds in seinem Willehalm aktivierte, der Text selbst aber im oberdeutschen Gebiet nie zum integrativen Bestandteil eines Zyklus wurde, ist das Rolandslied 150 bis 250 Jahre nach seiner Entstehung im westmitteldeutschen (ripuarischen) Raum als Kurzfassung in einen großen Erzählzyklus um Karl den Großen integriert worden; bei der Analyse der Karlmeinet-Kompilation wird darauf zurückzukommen sein. Zyklische Potenziale 233 140 Vgl. Morgant, S. 340-342. 141 Vgl. Morgant, S. 339-340. <?page no="244"?> Aufgrund der fragmentarischen Überlieferung von Texten wie Gerart van Rossiliun, dem Günser Reinolt oder Alischanz (dieser Text allerdings nur in der Rezeption, nicht in der Produktion sicher in die Nideren Lande zu verorten) können über deren zyklische Valenzen lediglich Vermutungen angestellt werden. Auch aus den aus dem gleichen Literaturraum der Nideren Lande stammenden, teilweise eventuell als Vorlage genutzten, mittelniederländischen Bearbeitungen französischer Heldenepik lassen sich keine Analogieschlüsse ziehen, da ebenfalls die mittelniederländischen Texte beinahe durchweg nur in bruchstückhafter Form erhalten sind. 142 Hinsichtlich der Einbindung etwa des Gerart van Rossiliun in einen größeren zyklischen Kontext gelangt man folglich über Vermutungen nicht hinaus. Vergleichbar gestaltet sich die Situation im Fall des Günser Reinolt. Hier wäre allerdings darauf zu verweisen, dass einerseits die französischen Epen um Renaut de Montauban hin und wieder zu Zyklen zusammengestellt wurden, 143 und andererseits auch der offenbar auf eine ganz ähnliche (mittelniederländische) Fassung wie der Günser Reinolt zurückgehende Reinolt von Montelban im Heidelberger cpg 340 in zyklischem Zusammenhang überliefert ist (s. S. 251ff.). Eine zyklische Einbindung auch des Günser Reinolt scheint damit nicht völlig ausgeschlossen, ist beim derzeitigen Kenntnisstand aber nicht beweisbar. Mit großer Sicherheit nicht zu einem Erzählzyklus gehörte allerdings die hagiographischen, vielleicht sogar liturgischen Zwecken dienende Historie van Sent Reynolt aus Köln. Aus der Perspektive der Zyklusforschung besonders bedauerlich ist der fragmentarische Überlieferungszustand der Schlacht von Alischanz. Weil die Texte der Wilhelmsepik üblicherweise, wenn auch in Frankreich und Deutschland unterschiedlich, zu Zyklen verknüpft wurden, erscheint es theoretisch durchaus vorstellbar, dass das nur bruchstückhaft erhaltene Alischanz-Epos Bestandteil eines größeren Erzählverbundes gewesen sein könnte. Dies um so eher, als zyklisch organisierte Textverbünde sowohl in Frankreich als auch im niederländischen Sprach- und Literaturgebiet auf hohem erzähltechnischem Niveau existierten, wie etwa die aus dem 14. Jahrhundert stammende Lancelot-Kompilation eindrucksvoll belegt. 144 Von daher verwundert es auch kaum, wenn einige Texte aus der reichhaltigen Karl-Literatur des östlichen Teils der deutschsprachigen Nideren Lande zu einer voluminösen vita poetica Karoli Magni zusammengestellt wurden. Die so entstandene Karlmeinet-Kompilation gilt seit den frühen Tagen ihrer wissenschaftlichen Erforschung allerdings als ein inkohärentes Textkonglomerat ohne durchdachte Erzählstruktur. Bereits Karl Bartsch hatte das Werk als «eine an sich werthlose rohe Compilation» charakterisiert; ihren Autor bezeichnete er als einen «geistlosen Zusammenreimer», der «statt zu verarbeiten, 234 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 142 Zur Überlieferung der niederländischen Chanson de geste-Bearbeitungen vgl. B esamusca , Repertorium. 143 Vgl. V erelst ; A iles; B usby, Codex, S. 401f. 144 Vgl. dazu B esamusca, Book. <?page no="245"?> bloss äusserlich und lose aneinander reiht.» 145 Ganz in diesem Sinne ist auch noch für H. Beckers die Karlmeinet-Kompilation eine lediglich «mechanische Verknüpfung vorgefundener älterer Einzeldichtungen. [...] Da der Kompilator darauf verzichtet hat, die übernommenen Einzeldichtungen redaktionell umzuarbeiten, präsentiert die Kompilation ein äußerst facettenreiches, schillerndes, Sprünge und Brüche aufweisendes Bild ihrer Zentralfigur Karl.» 146 G. Zandt hält den Text für eine «reine Stoffsammlung, nicht aber [eine] zyklische Dichtung.» 147 Die Folie, vor der diese und weitere, ähnlich lautende Urteile gefällt wurden, ist deutlich die Vorstellung eines in sich geschlossenen, harmonischen Kunstwerks mit einheitlich gezeichneten Figuren. Symptomatisch ist der Hauptvorwurf, den Beckers dem Redaktor der Karlmeinet- Kompilation macht: «Karl zu einem stimmigen Charakter zu entwickeln hat der Kompilator nicht vermocht.» 148 Wendet man auf die Karlmeinet-Kompilation hingegen jene Kriterien an, die nach Skårup einen mittelalterlichen Zyklus konstituieren, ergibt sich ein anderes Bild. Ein Nachweis über die Erfüllung der mittlerweile wohlbekannten Kriterien 1 bis 3 muss, angesichts des Aufbaus der Karlmeinet-Handschrift, nicht mehr eigens erbracht werden. 149 Interessanter ist der Blick auf die Kriterien 4 und 5. Zyklische Markierungen zwischen den einzelnen Branchen (Kriterium 4) begegnen beinahe permanent in den entsprechenden Passagen. Die erste Branche (Karl und Galie) beschließt der Erzähler, nachdem die eigentliche Erzählhandlung mit der Segensformel Hee so neme vns leyt eyn ende (216,9) beendet worden war, mit einem Hinweis auf die bis zur akuten Lebensgefahr reichenden Feindseligkeiten, die der eben noch im gesamten Königreich gefeierten Galie bynnen kurter zyt drohen würden (vgl. KMK 216, 25-28). 150 Morant und Galie, die Branche auf die sich die Vorausdeutung bezieht, wird unmittelbar nach diesen Worten mit einem ausführlichen Prolog eröffnet (vgl. KMK 216,29-217,45). Auch diese zweite Branche der Karlmeinet- Kompilation endet mit einer Segensformel (KMK 293,24-38). Ihr schließt sich eine überschriftartige Überleitung an, die den Beginn der dritten Branche anzeigt (KMK 293,39-42): Zyklische Potenziale 235 145 B artsch, Über Karlmeinet, S. V. 146 B eckers , ‹Karlmeinet›-Kompilation, S. 115f. 147 Z andt, S. 198. 148 B eckers , ‹Karlmeinet›-Kompilation, S. 116. 149 Vgl. zum Folgenden ausführlicher meinen Beitrag: Heiliger, Hochzeiter, Heidenschlächter - Die Karlmeinet-Kompilation zwischen Oberdeutschland und den Nideren Landen. In: Schnittpunkte. Deutsch-Niederländische Literaturbeziehungen im späten Mittelalter. Hg. v. A. Lehmann-Benz, U. Zellmann, U. Küsters. Münster 2003 (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 5), S. 125-143. 150 In D. H elm s Ausgabe von Karl und Galie fehlen diese schon auf die nächste Branche zielenden Verse. Ihr Text endet mit der Segensformel. <?page no="246"?> Nw volget, we Karlle geweldicliche Wart konynck in duytschem riche. Nw hort vort meren Van Karlle dem konynck heren. Das Ende der dritten Branche zeigt Karl, der, wie bereits zu Beginn dieser Branche geschildert worden war, als König auch der deutschen Reichshälfte mittlerweile in der Pfalz Ingelheim residiert (vgl. KMK 294,30), wiederum in dieser Pfalz. Überleitungsverse signalisieren den Beginn einer neuen Branche (KMK 373,59-374,2): [...] Ind reit weder heym Vp den Ryn zo Ingelheym Alda bleiff hey wyle. Eme geschach da eyne wederbyle, Dan aff ich uch sagen sal. Nw swiget ind horet ouer al! Dese hystorie is al waer. De wyle ich uch erzelen. Hort her nair! Die Handlung dieser nächsten, der insgesamt vierten Branche (Karel ende Elegast), beginnt aber in allen erhaltenen Handschriften und Drucken, 151 und ebenfalls in der Karlmeinet-Kompilation, gerade in Ingelheim (KMK 374,3-5): Id was in eynre auent stunde, Dat Karlle slaeffem begunde Zo Yngelheym vp dem Ryne Es dürfte also kaum ein Zufall, vielmehr eine umsichtig geplante Überleitungsstrategie sein, wenn der Karlmeinet-Redaktor den aus unterschiedlichen Quellen komponierten dritten Teil seines Erzählzyklus eben an jenem Ort ausklingen lässt, an dem die nächste in seine vita poetica Karoli Magni integrierte Branche einsetzen wird: in Ingelheim am Rhein. Wie die meisten Branchen zuvor, schließt ebenfalls Karel ende Elegast mit einer Segensformel (vgl. KMK 394,46-49), 152 auf die wiederum Überleitungsverse folgen, die den Beginn der nächsten Branche, einer Kurzfassung des Rolandslieds, markieren: Nw soult ir wissen, wat Karlle zo quam./ Van Hyspanien hey vernam,/ We vnrecht sy leyfften (KMK 394,50-52). In diese fünfte, die Rolandslied- Branche, wurde zudem der Ospinel (KMK 408,60-425,20), ohne jegliche zyklische Markierungen, eingefügt. Auch das Rolandslied wird durch eine, der 236 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 151 Vgl. die synoptische Ausgabe von A. M. Duinhoven: Karel ende Elegast. Diplomatische uitgave van de Middelnederlandse teksten en de tekst uit de Karlmeinet-compilatie. Bezoorgd door A. M. Duinhoven. Zwolle 1969 (Zwolse Drukken en Herdrukken). 152 Diese Segensformel findet sich ebenfalls in den mittelniederländischen Fassungen von Karel ende Elegast; sie scheint also vom Redaktor des Karlmeinet nur übernommen, nicht eigens komponiert worden zu sein. <?page no="247"?> Fassung Konrads unbekannte, Segensformel abgeschlossen (vgl. KMK 533, 9-12). Im Unterschied zu den bislang besprochenen Passagen existiert aber, abgesehen von dieser - allein schon als zyklisches Signal zwischen den Branchen wirksamen - Schlussformel keine weitere zyklische Markierung zwischen der fünften und der sechsten Branche, in der Karls letzte Jahre und sein Tod geschildert werden. Die sechste Branche endet hingegen erneut mit einer Schlussformel, die eindeutig signalisiert, dass die vita poetica Karoli Magni zu einem (vorläufigen) 153 Ende gekommen ist und zugleich als einheitliches Gebilde, als Buch, verstanden werden soll: Dat boech van eme haitt hee eyn ende (KMK 540,49). Das vierte der Zyklizitätskriterien Skårups (‹signaux cycliques entre les textes›) erfüllt die Karlmeinet-Kompilation mit ihrer ausgefeilten Überleitungstechnik souverän. Wie sich zeigen wird, gilt das gleiche, wenn auch nicht ganz so uneingeschränkt, ebenfalls für das fünfte Kriterium (‹signaux cycliques dans les textes›). In Karl und Galie, der ersten Branche, sind noch keine zyklischen Markierungen innerhalb des Textes auszumachen. Im Gegenteil hat der Redaktor dort sogar eine Möglichkeit ungenutzt gelassen, Karl und Galie eng mit anderen Branchen der Karlmeinet-Kompilation zu verzahnen. Denn in der Szene, in der der junge Karl während des spanischen Exils den riesenhaften Heiden Bremunt in einem Zweikampf tödlich verwundet hat, droht dieser ihm sterbend die Rache seines Verwandten an, des Königs Corsant van Taberne, der die Tat an Karl rächen und in Frankreich einfallen werde (vgl. KMK 92, 50-65). Bremunts Drohung bleibt jedoch ein blindes Motiv, denn von Corsant ist im gesamten Zyklus später nicht mehr die Rede. Es hätte sich hier also angeboten, statt Corsant eher den Namen von einem der später tatsächlich gegen Karl kämpfenden heidnischen Könige, etwa Marselis (= Marsilie) oder Baligain, einzufügen, um so verschiedene Teile des Erzählzyklus aufeinander zu beziehen. Immerhin erobert Karl in dieser Szene von Bremunt das im späteren Handlungsverlauf noch eine überaus wichtige Rolle spielende Schwert Durndart, das freilich erst eine ‹christliche› Waffe wird, nachdem Karl einen Zahn des heiligen Basilius und eine Armpartikel des heiligen Georg in den Schwertknauf einfügt, die Galie als Taufgeschenk vom Abt von Saint Denis erhält (vgl. KMK 208,60-69). Die, allerdings etwas unkonkrete Vorausdeutung: Da mede hey synt lutzel sparde/ Manchen boessen Zarrazeyn (KMK 209,1-2) unterstreicht die Bedeutung Durndarts im weiteren Verlauf der Erzählung. Direkt zu Anfang der nächsten Branche, Morant und Galie, findet sich eine für die Zyklizitätsvorstellung der gesamten Kompilation bedeutsame Passage. Um die Vorstellung zurückzuweisen, dass Morant, der Protagonist in Morant und Galie, mit demjenigen Morant identisch sei, der schon in der ersten Zyklische Potenziale 237 153 Zum sogenannten Darmstädter Gedicht über das Weltende, das in der einzig vollständig erhaltenen Handschrift, von gleicher Hand geschrieben, unmittelbar auf die sechste Branche folgt, und in gewisser Weise als siebte Branche der Karlmeinet-Kompilation betrachtet werden kann, s. S. 240. <?page no="248"?> Branche mit dem jungen Karl zusammen in Spanien kämpfte und von Bremunt getötet wurde (vgl. KMK 83,19-22), versichert der Erzähler in einem längeren Einschub ausdrücklich, der Protagonist der zweiten Branche heiße zwar ebenfalls Morant und sei seinerzeit mit Karl in Spanien gewesen, dieser Morant, den man van Ryuer nande (KMK 219,18), sei jedoch eine andere Person als der Getötete. Angesichts des bereits mehrfach beschriebenen Faktums, dass in anderen mittelalterlichen Zyklen, allerdings meist Nebenfiguren betreffende, Unschärfen solcher Art für gewöhnlich keineswegs harmonisiert werden, liegt hier ein bemerkenswertes Zeugnis für die Anpassung ehemals wohl selbstständiger Texte an die Bedürfnisse eines Zyklus vor. Auf die erste Branche rückverweisende Bezüge durchziehen auch im weiteren Verlauf den gesamten Morant und Galie-Text. Ein enger Konnex der zweiten und dritten Branche wird zudem durch eine in das Erzählgeschehen der Sachsenkriege eingeschobene Passage erreicht, die über Krankheit und Tod Königin Galies informiert, die während des Feldzuges in Paris geblieben war und deren Tod Karl untröstlich zurücklässt (vgl. KMK 299,25-301,46). Allzu lange hält die Trauer des Königs freilich nicht an, denn den hier benutzten erzähltechnischen Kunstgriff einer Verzahnung verschiedener Branchen durch die Schilderung eines Feldzugs Karls und des darin eingeschobenen Berichts vom Tod der zurückgelassenen Königin wendet der Redaktor im Folgenden noch häufiger an, um eine bessere Verknüpfung des aus unterschiedlichen Quellen komponierten dritten Teils zu gewährleisten. Und so verknüpft der Redaktor die Nachrichten über Karls zahlreiche Heiraten und seine ebenso zahlreichen Kriege, indem er beschreibt, wie Karl bald nach seiner Rückkehr aus dem Sachsenkrieg seine zweite Frau Hildegart geheiratet habe (vgl. KMK 302,10-66), von deren Tod er dann auf dem Feldzug gegen die Ungarn erfährt (vgl. KMK 314,39-315,30). Nach der Beendigung dieses Krieges heiratet der König erneut (vgl. KMK 316,45- 317,6), die Nachricht vom Tod seiner dritten Frau Vasterait ereilt Karl während der Auseinandersetzungen zwischen dem Papst und den Römern (vgl. KMK 323,54-324,3). Nachdem er aus Rom zurückgekehrt ist, geht Karl eine letzte Ehe mit Luckart ein (vgl. KMK 327,26-327,46); der Tod seiner vierten Frau hätte sich der Karlmeinet-Kompilation zufolge während Karls erstem Feldzug gegen die spanischen Heiden ereignet (vgl. KMK 342,30-35). Ganz im Gegensatz zur dritten Branche findet sich in Karel ende Elegast, der vierten Branche der Karlmeinet-Kompilation, kein Textsignal, das auf eine zyklische Verknüpfung dieser Branche mit den übrigen Teilen hindeuten würde; Karel ende Elegast scheint mithin ohne redaktionelle Angleichungen in die vita poetica Karoli Magni übernommen worden zu sein. Die fünfte Branche, eine Kurzfassung des Rolandslieds mit interpoliertem Ospinel-Teil, könnte der Redaktor hingegen wieder im Sinne der Zyklifizierung bearbeitet haben, wie zumindest aus dem Ospinel-Teil hervorgeht. Denn dort ist die Rede davon, dass sich im Knauf von Rolands Schwert Durndart, das dem Helden im Laufe der Handlung zwischenzeitlich verloren geht, ein Zahn des heili- 238 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption <?page no="249"?> gen Basilius und eine Armpartikel des heiligen Georg befinde (vgl. KMK 415, 5-11; 422,15-17), also exakt jene Reliquien, von denen in der zweiten Branche (Morant und Galie) berichtet worden war, wie Karl sie in den Schwertknauf legte (vgl. KMK 208,60-69). Es könnte sich hier um eine gezielte zyklische Harmonisierung der verschiedenen Branchen handeln - falls der Redaktor diese Konstellation nicht schon in der (unbekannten) Quelle des Ospinel genau so vorgefunden haben sollte. Das ist nicht völlig auszuschließen, aber auch nicht unbedingt wahrscheinlich, denn in eben dieser Kombination (Zahn des heiligen Basilius und Armpartikel des heiligen Georg) begegnen die in Durndart enthaltenen Reliquien ansonsten nicht. 154 Im Schlussabschnitt des Ospinel- Teils findet sich überdies eine Vorausdeutung auf das Ende des Rolandslieds, wenn darauf angespielt wird, dass Alde und Magdalie vergeblich auf die ihnen versprochenen Helden Roland und Oliver warten werden (KMK 425, 16: Id wart doch leyder anders bewant). Ob dieser Vers vom Redaktor der Karlmeinet- Kompilation eingefügt wurde oder sich in ähnlicher Form schon in der selbstständigen Ospinel-Fassung fand bzw. in einer Rolandslied-Fassung, die die Ospinel-Erweiterung bereits enthielt, lässt sich nicht entscheiden. Auf das Erzählgeschehen der fünften Branche weist die vom Redaktor aus verschiedenen Quellen komponierte nächste Branche (Karls letzte Jahre und Tod) jedenfalls aber noch einmal zurück (vgl. KMK 533,19f.: dat hey de heydensche deyt/ Bedwungen hadde, als ir seyt). In der gleichen Branche findet sich zudem ein erneuter Beleg für zyklische Abstimmung der einzelnen Teile innerhalb des Gesamtunternehmens vita poetica Karoli Magni: Bei der ausführlichen Schilderung von Karls Tod greift der Kompilator auf das ursprünglich aus dem Pseudo-Turpin (Cap. XXXII) stammende Motiv einer Vision Bischof Turpins zurück, die dieser während Karls Todeskampf erlebt haben soll (vgl. KMK 536,42-537,29). Im Unterschied zum Pseudo-Turpin ist es in der Karlmeinet-Kompilation aber nicht etwa Turpin selbst, dem die Vision zuteil wird, als Visionär erwähnt wird dort vielmehr ein nicht näher bezeichneter buschoue (KMK 536,43). Diese Anonymisierung resultiert zweifelsohne aus Zyklische Potenziale 239 154 Das Rolandslied erwähnt in Rolands Sterbeszene, dass Reliquien von Petrus, St. Denis, St. Blasius und Maria in Rolands Schwert Durndart eingeschlossen seien (vgl. RL 6874- 6877); französische Fassungen der Chanson de Roland erwähnen in der entsprechenden Szene zwar Blut, nicht aber einen Zahn des heiligen Basilius, das als Reliquie in Durndart geborgen sei. Auch die anderen Reliquien weichen ab. Die Oxforder Fassung der Chanson de Roland nennt ebenso wie V 4 einen Zahn des heiligen Petrus, Haare des heiligen Dionysius (Saint Denis) und ein Stück des Marienkleides (vgl. ChdR [O] 2346- 2648; V 4 2504-2506); die Fassungen Châteauroux und die damit identische Fassung V 7 nennen Blut des heiligen Dionysius, einen Zahn Petri sowie unbezeichnete Reliquien der heiligen Sophia (vgl. Châteauroux 4083f.), in der Pariser, der Cambridger und der Lyoner Fassung werden in der entsprechenden Szene ein Zahn des heiligen Petrus, Blut des heiligen Dionysius und ein Stück vom Kleid Mariens aufgezählt (vgl. Paris 2664f.; Cambridge 1981f.; Lyon 1538f.). Im Pseudo-Turpin sind ebenso wie in Strickers Karl keine Reliquien angeführt, die sich in Durndart befinden sollen. <?page no="250"?> dem zuvor in der Rolandslied-Branche beschriebenen Tod Turpins (vgl. KMK 455, 40), der folglich bei Karls Ableben keine Vision mehr haben kann. 155 Mit einer weiteren, nicht ganz unwichtigen zyklischen Markierung endet schließlich die sechste Branche der Karlmeinet-Kompilation. Karls legendäre Kirchenstiftungen werden dort mit seiner Vorsorge für das Jüngste Gericht erklärt (KMK 540,39-42): Want hey wyste wael sicherlich Wat groesses iamers soulde gescheyn, Als ir her na soult horen ind seyn, Zo dem iungesten dage. Die Publikumsanrede Als ir her na soult horen ind seyn verweist wohl auf das nach den sechs Branchen der vita poetica Karoli Magni von gleicher Hand in den Kodex eingetragene Darmstädter Gedicht über das Weltende, das die Vorzeichen des Jüngsten Gerichts behandelt. Somit erweist sich dieser, später separat gebundene, eschatologische Text als Bestandteil, als gewissermaßen siebte Branche des literarischen Zyklus über das Leben Karls des Großen. Betrachtet man die ‹signaux cycliques dans les textes› noch einmal im Zusammenhang, fällt auf, dass sie sich unterschiedlich über den Gesamttext verteilen. In Karl und Galie sowie Karel ende Elegast finden sich keinerlei zyklische Markierungen, der Redaktor scheint jene Texte, wie es von der Forschung für die gesamte Kompilation reklamiert wird, in diesen Fällen tatsächlich ohne entsprechende redaktionelle Überarbeitung seiner vita poetica Karoli Magni eingegliedert zu haben. Auch in der Rolandslied-Branche begegnet, abgesehen von der Straffung des Textes und der dadurch erreichten Fokussierung auf Karl, keine zyklische Angleichung, wenn man von eventuellen Anpassungen im Ospinel-Einschub einmal absieht. Außerhalb der dritten und der sechsten Branche, die beide vom Redaktor speziell für seine vita poetica Karoli Magni aus unterschiedlichen Quellen kompiliert wurden, finden sich zyklische Markierungen in größerer Anzahl demnach allein in Morant und Galie. Dieser Text ist mit Rückverweisen auf Karl und Galie geradezu gespickt, hingegen lassen sich keinerlei Verweise auf die noch folgenden Branchen ausmachen. Einige auf Karl und Galie bezogene Analepsen finden sich zudem auch schon in einer aus dem späten 13. Jahrhundert datierenden, nur bruchstückhaft erhaltenen Morant und Galie-Handschrift (Fragment M). 156 Aus der nachweis- 240 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 155 Vgl. auch den niederländischen Prosadruck Den droefliken strijt van Ronceuale sowie das Buch vom heiligen Karl, die ähnliche Lösungen für das Problem des in der Rolandslied-Tradition als Getöteten, in der Pseudo-Turpin-Tradition hingegen als Überlebenden der Roncevalschlacht bezeichneten Bischofs bieten, vgl. S. 230, Anm. 135. 156 Vgl. die Passage in 236,51-53, in der an Galies Entführung aus Spanien erinnert wird, mit den Versen 500-514 des Fragments M; vgl. ebenfalls 239,44-240,7 und die Verse 277-281 des Fragments M. Fragment M ist abgedruckt durch Karl L achmann : Über drei Bruchstücke niederrheinischer Gedichte aus dem zwölften und aus dem Anfange des dreizehnten Jahrhunderts. In: Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Berbaren <?page no="251"?> Existenz jener Rückverweise bereits in M könnte man, zusammen mit dem vollständigen Fehlen zyklischer Prolepsen in Morant und Galie, schließen, dass von Anfang an Morant und Galie zyklisch auf Karl und Galie bezogen gewesen sei und somit auch dieser Text, wie Karl und Galie, wie Karel ende Elegast und wie (mit Einschränkungen) das Rolandslied, vom Redaktor ohne spezifische Änderungen seiner vita poetica Karoli Magni inkorporiert worden wäre. Allerdings zeigt ein genauer Vergleich von M und Morant und Galie aus der Karlmeinet-Kompilation, dass beide Texte, trotz prinzipieller Ähnlichkeit, im Wortlaut zuweilen variieren. 157 So weist die lediglich fragmentarisch erhaltene Morant und Galie-Handschrift in manchen Passagen Plusverse gegenüber dem späteren Text auf, während in anderen Passagen gerade der umgekehrte Befund gilt. 158 Es lässt sich daher nicht entscheiden, ob einer der beiden Texte eventuell eine Kurzfassung des anderen bietet. Für die Zyklizität der Karlmeinet-Kompilation ist aber in jedem Fall aufschlussreich, dass die spätere Fassung gegenüber einer analogen Stelle in M Plusverse kennt (vgl. KMK 239,51-240,1 mit Fr. M 271-277), die wesentlich deutlicher auf Karls spanisches Exil sowie auf Morants und Galies Rolle während dieses Zeitraums anspielen und somit Karl und Galie und Morant und Galie enger miteinander verknüpfen, als dies im älteren Text der Fall gewesen zu sein scheint. Der Redaktor könnte an dieser Stelle seine Vorlage folglich doch im Sinne einer zyklischen Anpassung überarbeitet haben. Unter dieser Prämisse wäre es im Übrigen auch gut vorstellbar, dass gleichfalls die auf eine entwickelte organische Zyklizität weisende Erzählerbemerkung, in der ausdrücklich die Nichtidentität des in Karl und Galie und Morant und Galie agierenden Morant betont wird (KMK 219,15-33), erst vom Redaktor der Karlmeinet-Kompilation dem Text eingefügt wurde. Doch wie dem auch sei - die zyklischen Markierungen innerhalb der meisten Branchen sowie zwischen den einzelnen Texten der Karlmeinet-Kompilation lassen keinen Zweifel daran, dass diese vita poetica Karoli Magni alles andere als jenes inkohärente Textkonglomerat darstellt, als das es meist bezeichnet wurde. Das Werk erweist sich vielmehr als ein aus unterschiedlichen Texttypen umsichtig komponierter Zyklus, der trotz seines polyvalenten Karlbildes in einigen Passagen das Niveau organischer Zyklizität erreicht. Zyklische Potenziale 241 lin aus dem Jahre 1836. Phil.-hist. Klasse. Berlin 1838 (wieder in: Karl L achmann : Kleinere Schriften zur deutschen Philologie, Bd. 1, hg. von Karl Müllenhoff. Berlin 1876, S. 519-547). 157 Das Gleiche gilt übrigens für die Karl und Galie-Fragmente des 13. Jahrhunderts und die in der Karlmeinet-Kompilation überlieferten Fassung dieses Werks. So bietet Fr. D einige Plusverse gegenüber der Fassung der Kompilation; vgl. Fr. D, Vers 106-140 (abgedruckt bei D. Helm [Hg.], Karl und Galie, S. 451) mit KMK 215,11-29. Plusverse zur analogen Stelle in KMK 207,14-17 finden sich ebenfalls in Fr. D, Vers 23-34 (abgedruckt bei Helm als Fr. R, S. 452) 158 Fragment M bietet in V. 95-106 eine andere Variante als KMK 231,5-15 an analoger Stelle; Plusverse gegenüber KMK 242,20f. kennt Fragment M in V. 417-424; gegenüber KMK 236, 53f. in M V. 502-515. <?page no="252"?> A.4.4 Zyklizität in den Chanson de geste-Bearbeitungen des 15. Jahrhunderts Ähnlich wie viele der oberdeutschen Chanson de geste-Adaptationen und die in der Karlmeinet-Kompilation zusammengefassten Karl-Texte sind auch die im Umfeld des Saarbrücker und des pfalzgräflichen Hofes zu Heidelberg entstandenen oder rezipierten Chanson de geste-Bearbeitungen bzw. -Übersetzungen in einigen Handschriften zu Zyklen vereinigt worden. Nicht zuletzt aufgrund der unzureichenden Editionslage sind diese zyklischen Zusammenhänge jedoch noch wenig untersucht. Mit der zyklischen Konzeption der im Umkreis des Hofes der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken rezipierten Chanson de geste-Bearbeitungen in Prosa (Herpin, Sibille, Loher und Maller, Huge Scheppel) hat sich zuerst Wolfgang Liepe eingehender beschäftigt und u. a. die meisten jener Vor- und Rückverweise aufgeführt, die die einzelnen Texte miteinander verbinden 159 (in Skårups Terminologie könnte man sie als ‹signaux cycliques dans les textes› bezeichnen). Durch die daraus entwickelten, manchmal allerdings etwas gezwungen wirkenden Ausführungen wollte Liepe belegen, dass die zyklische Verbindung der vier Texte nicht erst auf der Stufe der deutschen Bearbeitungen zustande gekommen sei, sondern bereits deren französische Quelle einen vollständigen, aus Lion de Bourges, Sibille, Lohier et Malart und Hugues Capet bestehenden Zyklus enthalten habe. Der eigentliche Grund für dieses vehemente Postulat eines französischen Zyklus war die, die gesamte Untersuchung leitende Absicht Liepes, die bis dato angezweifelte Übersetzungstätigkeit Elisabeths für alle vier Prosabearbeitungen nachzuweisen. Zudem sollten die Texte, wie Liepe aus Stilmerkmalen folgern zu können glaubte, in der Reihenfolge ihrer Erzählchronologie (also in der Reihung Herpin, Sibille, Loher und Maller, Huge Scheppel) von Elisabeth aus dem Französischen ins Deutsche übertragen worden sein. Die Präsupposition eines diese Reihenfolge vorgebenden französischen Zyklus war natürlich geeignet, Liepes Argumentation zusätzliches Gewicht zu verleihen. Doch sein Beharren auf einem komplett vorliegenden französischen Zyklus, dessen Struktur Elisabeth lediglich kopiert habe, scheint noch auf einer anderen Vorstellung zu beruhen. Mehrfach spricht Liepe von einem «im 14. Jahrhundert bis zur Manie gesteigerte[n] Hang nach zyklischer Zusammenfassung der Einzelepen»; von einer «äußerliche[n], künstliche[n] Zyklenbildung», die für die im Spätmittelalter verfassten französischen Chansons de geste kennzeichnend sei und sie negativ abhebe von der «organische[n] Zyklenbildung» beispielsweise der aus dem 12. Jahrhundert datierenden Wilhelmsgeste. 160 Hinter dieser Auffassung verbirgt sich offenkundig das bekannte Vorurteil vom spätmittelalterlichen Niedergang der französischen Heldenepik, von der «chansons-de-geste-Décadence im 14. Jahrhundert», wie Liepe selbst das vermeintliche Phänomen bezeichnet. 242 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 159 Vgl. L iepe, S. 85-99. 160 Ebd., S. 91f. <?page no="253"?> Mit dieser «spätdekadenten[n] Nachblüte der chansons de geste» 161 aber, für die eben auch «künstliche Zyklenbildung» charakteristisch sei, möchte er offenbar Elisabeth von Nassau-Saarbrücken keinesfalls in unmittelbaren Zusammenhang gebracht sehen. Nicht zuletzt deshalb scheint er so hartnäckig darauf zu insistieren, dass für die Komposition des ‹dekadenten› Zyklus ein französischer Redaktor, nicht aber die Gräfin von Nassau-Saarbrücken verantwortlich zu machen sei. Liepes Ansichten galten unwidersprochen, bis Jan-Dirk Müller das Thema der Zyklizität der Saarbrücker Prosachansons wieder aufgriff. Er wies Liepes Argumentation als zu einseitig zurück und ließ die Frage offen, wer für die zyklische Bearbeitung verantwortlich sei. 162 Neuere Untersuchungen votieren hingegen für eine zyklische Gruppierung ursprünglich eigenständiger französischer Epen erst im Zuge der deutschen Prosabearbeitung. 163 Nicht zu bestreiten ist jedenfalls die Tatsache, dass ein französischer Chanson de geste-Zyklus, der thematisch auch nur entfernt mit den Saarbrücker Prosagesten zu vergleichen wäre, nicht überliefert ist. Ob er jemals existiert hat, scheint zumindest fraglich angesichts der Überlieferungssituation der nach ca. 1350 entstandenen französischen Chansons de geste, zu denen auch die Vorlagen der Saarbrücker Texte zählen. Die französischen Chansons de geste des 14. und 15. Jahrhunderts unterteilt F. Suard in vier Typen: 164 1. Texte, die bereits früher entstandene Chansons mit einer Fortsetzung oder einer Vorgeschichte versehen (etwa Maugis als Vorgeschichte für Renaut de Montauban oder Esclarmonde als Fortsetzung des Huon de Bordeaux) 2. Neufassungen bereits existenter Texte, die diese amplifizierend ausschmücken (etwa Ogier le Danois) 3. Kompilationen, die eine ganze Reihe älterer Chansons bzw. einzelne Motive und Erzählstränge daraus zu einem einzigen Text vermengen (so die Geste de Liège des Jean d’Outremeuse) 4. originale Neuschöpfungen (z. B. Tristan de Nanteuil) 165 Eine Überprüfung der Kontextualisierung jener späten Chansons zeigt, 166 dass vor allem Typ 1 (einschließlich jener Chansons, die wie z. B. Baudouin de Sebourc den Kreuzzugszyklus erweitern) mit anderen französischen Heldenepen vergesellschaftet wurde. Von den Typ 4 zugehörigen Chansons, zu denen Zyklische Potenziale 243 161 Ebd., S. 92. 162 Jan-Dirk M üller, Vorwort zur Mikrofiche-Ausgabe von ‹Huge Scheppel› und ‹Königin Sibille›, S. 14. 163 Vgl. von B loh , Ausgerenkte Ordnung, S. 92-99; G aebel , Chansons de geste, S. 43-47. 164 Vgl. S uard , L’épopée française tardive. 165 Unter die Neuschöpfungen rechnet S uard , L’épopée française tardive, auch Erweiterungen des zweiten Kreuzzugszyklus wie Baudouin de Sebourc und Le Bâtard de Bouillon, die meines Erachtens jedoch unter Typ 1 fallen. 166 Überprüft wurde dies anhand der Listen von J. R. A llen und der Zusammenstellung der späten Epen bei S uard, L’épopée française tardive, und K ibler . <?page no="254"?> auch die Vorlagen der Saarbrücker Texte zählen, 167 sind lediglich Ciperis de Vignevaux (mit Doon de Mayence, B.N. f.fr. 1637, 15. Jh.), Hugues Capet (mit Jean de Lanson, Paris, Bibliothèque de l’Arsenal 3145, 15. Jh.) und Lion de Bourges (mit Huon de Bordeaux samt den extrem stark gekürzten Fortsetzungen des Huon, B.N. f.fr. 22555, 15. Jh.) je einmal mit einer weiteren Chanson de geste vergesellschaftet, 168 die übrigen späten Epen (Belle Hélène de Constantinople; Dieudonné de Hongrie bzw. Charles le Chauve; Theseus de Cologne; Tristan de Nanteuil) sind einzeln überliefert (so auch Lion de Bourges in B.N. f. fr. 351). Dieser Befund weckt Zweifel, ob ein solch umfangreicher später -Zyklus, wie ihn die Saarbrücker Prosabearbeitungen in (mindestens) einer Handschrift formen, in Frankreich jemals zusammengestellt wurde. Denn obschon zyklische Valenzen unleugbar in den späten französischen Epen angelegt sind, wurden sie kaum einmal realisiert. So erweist sich beispielsweise der Tristan de Nanteuil als Teil der Geste de Nanteuil, gemeinsam überliefert sind die beiden Texte jedoch nie. Ähnlich enthält Hugues Capet an einer Stelle einen freilich nicht sehr spezifischen Verweis auf Lohier et Malart, ohne dass sich ein Kodex erhalten hätte, der beide Texte vereinigt. 169 Möglicherweise hängt die für die späten französischen Chansons de geste charakteristische Tendenz zur Einzelüberlieferung auch damit zusammen, dass die für gewöhnlich aus vielen unterschiedlichen Handlungssträngen komponierten, nicht selten sehr umfangreichen Neuschöpfungen des 14. und 15. Jahrhunderts anscheinend bereits in ihrer Erzählstruktur den zyklischen Bau der großen Erzählreihen, etwa der Wilhelmsgeste, nachzuahmen versuchten. 170 Eine weitere Zusammenstellung mit anderen Texten konnte folglich als überflüssig erscheinen. Da ein analoger französischer Zyklus also nicht erhalten ist, vermutlich auch niemals existiert hat, können Erkenntnisse über die Zyklizität lediglich aus den deutschen Prosabearbeitungen abgeleitet werden. Festzuhalten ist dabei von vornherein, dass nur im Fall der von Elisabeths Sohn Johann III. um 1455/ 56 in Auftrag gegebenen repräsentativen Handschrift(en) von einem literarischen Unternehmen mit zyklischem Anspruch gesprochen werden kann. 244 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 167 Von den Saarbrücker Bearbeitungen gehören in jedem Fall der Herpin, dessen Vorlage die französische Chanson von Lion de Bourges ist, und Huge Scheppel, der auf Hugues Capet beruht, zum letzten Typus. Loher und Maller, von dem nur noch ein kleines französisches Fragment existiert, das eventuell aus der Handschrift stammen könnte, die die direkte Vorlage für die deutsche Bearbeitung bildete, ist insofern ein Mischtyp aus 2 und 4, als die alte Chanson von Gormont et Isembart im letzten Textdrittel verarbeitet wurde. 168 Ob sich in diesen Handschriften überhaupt zyklische Bezüge ergeben oder ob es sich um Miszellaneenhandschriften handelt, wäre noch zu untersuchen. 169 Vgl. Ulrich M ölk : Lohier et Malart. Fragment eines verschollenen französischen Heldenepos. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-Historische Klasse 5 (1988), S. 135-164, hier S. 140f. 170 Vgl. dazu C ook : Unity and Esthetics. <?page no="255"?> Neben den zyklischen Markierungen deuten hier allein schon die identische Ausstattung und Bebilderung der heute auf drei Bände verteilten, in zwei verschiedenen Bibliotheken aufbewahrten Erzählreihe auf einen einheitlichen Anspruch, der sämtliche Texte umfasst. Da allerdings auch unabhängig vom Hamburg/ Wolfenbütteler Prachtkodex entstandene Handschriften von Loher und Maller, weniger deutlich ebenfalls Herpin-Handschriften, die singulär bzw. in Sammelcodices überliefert sind, jene zyklische Markierungen aufweisen, kann man aber wohl mit einiger Berechtigung davon ausgehen, dass das Unternehmen von vornherein als Zyklus geplant war. Doch allein durch das von Johann in Auftrag gegebene Repräsentationsprojekt wird das erste der Skårupschen Zyklizitätskriterien erfüllt, das die Zusammenstellung von mindestens zwei Texten in einer Handschrift fordert. Zwar sind Herpin, Sibille, Loher und Maller und Huge Scheppel heute nicht (mehr) in einem Kodex vereinigt, doch das identische Layout aller vier Texte beweist zu Genüge, dass sie offenkundig als Einheit verstanden werden sollten. Das zweite Kriterium, die Textabfolge in der durch die Erzählchronologie vorgegebenen Reihung innerhalb einer Handschrift, erfüllen die Saarbrücker Prosabearbeitungen in ihrem heutigen Zustand auf den ersten Blick gleichfalls deshalb nicht, weil sie auf mehrere Handschriften verteilt sind, bzw. weil Huge Scheppel in der Hamburger Handschrift Cod. 12 in scrinio der Sibille vorausgeht, was der Erzähllogik zuwiderläuft. Die heutige Verteilung der einzelnen Branchen auf verschiedene Handschriften repräsentiert aber ebensowenig wie die Lagenordnung oder die Textfolge den ursprünglichen Zustand. Die Bindung stammt wohl ebenso wie die Einbanddecken aus dem 17. Jahrhundert, als die Texte bei Straßburger Buchhändlern nachweisbar sind, von wo aus sie im Jahr 1669 in den Besitz Herzog Ferdinand Albrecht I. von Braunschweig-Lüneburg (Herpin) bzw. im Jahr 1718 in den Besitz des Bibliophilen Zacharias Conrad von Uffenbach (Loher und Maller, Huge Scheppel/ Sibille) gelangten. Das dritte Zyklizitätskriterium - Identität oder Verwandtschaft der Protagonisten - ist hingegen fraglos erfüllt, es bildet sogar nichts weniger als das narrative Gerüst der Saarbrücker Bearbeitungen. Ähnlich wie bei den älteren französischen Zyklen (vgl. etwa die Wilhelms- oder die Lothringergeste) ist auch in den Saarbrücker Prosagesten eine Dynastie, repräsentiert durch ihre hervorragendsten Mitglieder, der eigentliche Hauptakteur. 171 Herpin, Sibille, Loher und Maller sowie Huge Scheppel bilden gemeinsam eine Zyklische Potenziale 245 171 Vgl. von B loh , Ausgerenkte Ordnung, S. 93: «Zunächst zur Einheit der Prosaüberlieferung. Sie ergibt sich vor allem über die Vertreter des französischen Herrscherhauses: Im ‹Herpin› greift nur Karl d. Gr. verschiedentlich ins Handlungsgeschehen ein. In der ‹Sibille› wird dann von Karl und seiner Gemahlin erzählt, die von ihm zu Unrecht (und dazu schwanger) aus dem Land verbannt wird. Im Exil wird der gemeinsame Sohn Ludwig geboren, von dessen Jugend und Erziehung berichtet wird. Als nächster Text knüpft der ‹Loher› daran insofern an, als nun die Geschichte vom Leben und Tod Ludwigs entworfen wird, der dann keinen männlichen Erben hinterläßt. Im letzten Text, dem ‹Huge›, heiratet Marie, die Tochter Ludwigs, schließlich Huge, womit eine Erklärung <?page no="256"?> Art literarischer Geschichte der französischen Königsdynastie, die, beginnend während der schon konsolidierten Herrschaft Karls des Großen (Herpin), zunächst die Jugend von dessen Sohn Ludwig erzählt (Sibille), dann die Machtkämpfe und Erbauseinandersetzungen zwischen Ludwig und Karls zweitem Sohn Lothar nachzeichnet (Loher und Maller), um endlich den Übergang von der Dynastie der Karolinger auf die Dynastie der Kapetinger zu schildern (Huge Scheppel). Gerade aus dem Blickwinkel des dritten Zyklizitätskriteriums fällt allerdings eine gewisse Sonderstellung des Herpin auf. Zwar tritt auch in diesem Text mit Karl dem Großen ein Angehöriger, ja sogar die zentrale Figur der karolingischen Königsdynastie auf. Weder Karl noch ein anderes Mitglied seiner Sippe stehen jedoch im Mittelpunkt des Erzählgeschehens, das vielmehr von Lion de Bourges und seiner Sippe beherrscht wird, Karl ist dabei lediglich eine Nebenfigur. Zudem thematisiert der Herpin, im Unterschied zu den drei restlichen Saarbrücker Prosagesten, keine komplizierte Erbfolgeproblematik im Königshaus. 172 Innerhalb der durch die Saarbrücker Prosagesten gebildeten Erzählreihe steht der erzählchronologisch erste Text thematisch insofern ein wenig abseits. Dieser Eindruck wird bestätigt durch das vierte Zyklizitätskriterium, die ‹signaux cycliques entre les textes›. Am Ende des Herpin heißt es in der Wolfenbütteler Handschrift: hie hatt Lewe von Borges und sin husfrouwe und sin kinde in disem buch alle eyn ende. Got uns alle von sünden wende. Explicit lewen buch von Burges in Berrye. 173 246 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption dafür gefunden ist, weshalb die Kapetinger im Königtum Frankreich die Karolinger ablösten.» 172 Statt des Herpin bzw. seiner französischen Vorlage Lion de Bourges hätte man theoretisch auch jede andere (spätmittelalterliche) Chanson, in der Karl der Große während der Phase seiner bereits konsolidierten Königsherrschaft auftritt, zur Eröffnung des Saarbrücker Zyklus nehmen können. Thematisch hätten sich ebenfalls Chansons wie der gegen 1400 entstandene Ciperis de Vignevaux, in dem es um Erbfolgeprobleme in der später durch die Karolinger abgelösten Merowingerdynastie geht, oder der ebenfalls aus dem 14. Jahrhundert stammende Dieudonné de Hongrie, der den Weg des Merowingers Dagobert zur Königsherrschaft beschreibt, als Eröffnungstexte der auf die französische Königssippe bezogenen Erzählreihe angeboten. Warum auf sie nicht zurückgegriffen wurde, wird sich wohl nie klären lassen. Vielleicht waren sie im Umfeld des Saarbrücker Hofes schlichtweg unbekannt, wahrscheinlicher ist jedoch, dass man sich in Saarbrücken gezielt auf Chansons um die im Mittelalter als Einheit angesehene karolingisch-kapetingische Dynastie konzentrierte, mit der die Saarbrücker über Elisabeth weitläufig verwandt waren; vgl. zur Verwandtschaft des Saarbrücker Grafenhauses Wolfgang H aubrichs: «Die Kraft von franckrichs wappen». Königsgeschichte und genealogische Motivik in den Prosahistorien der Elisabeth von Lothringen und Nassau- Saarbrücken. In: DU 43 (1991), S. 4-19. 173 Zitiert nach der Hs. Wolfenbüttel, Herzog August-Bibliothek, Cod. Guelf. 46 Novissime 2 o , fol. 172 r . <?page no="257"?> Das Ende der Herpin-Branche ist damit zweifellos deutlich markiert und insofern wird ein zyklisches Signal gesetzt. Es fehlt allerdings ein ausdrücklicher Verweis auf den Fortgang der Erzählung in der unmittelbar nachfolgenden Branche. In der Sibille, der nächsten Branche, ist ein solcher Verweis dagegen vorhanden. Dort liest man am Ende des Textes: Also wart konnig Karl vnd sin husfrouwe wol gesünet vnd gewonnen darnach eynen sone der wart ein keyser zu Rome vnd wart genant Lohir. Darnach gewonnen sye ein dochter die wart ein graffyn zu Pontue. Die gewan eynen sone hieß Jsenbart. Der was der den sin vetter konnig Ludewig verjagete vß allen crysten landen als jr hernach werdent horen. Also hat dis buch eyn ende. Got alle noit von vns wende. Hie endet sich das buch von konnig Karl von Franckrich vnd siner husfrouwen Sibillen die vmb eins getwerch willen verjaget wart. 174 Durch diese Worte wird nicht nur der Abschluss einer Branche signalisiert, sondern mittels einer digestenhaften Zusammenfassung des Inhalts sowie durch die Wendung als jr hernach werdent horen überdies zur folgenden Branche, zu Loher und Maller, übergeleitet. Gegen Ende von Loher und Maller benutzt der Redaktor eine vergleichbare Technik. Nachdem vom Tod König Ludwigs berichtet wurde, heißt es dort: er [Ludwig] ließe eyn eynig tochter die hieß marie die wart eym gesellen der hieß hüge scheppel zu elichem wybe vnd wart eyn künig zu franckrich. das erwarbe er mit syner künikeit als man das in synem b v ch eygenclichen findett. Des selben hüg scheppels vater was eyn ritter vnd syn müter was eyns metzerls tochter. hye hat lloher vnd mallers büch ein ende die zwene gesellen waren so getrüwe als sy ye geborne wurden. 175 Das Ende der Teilerzählung wird also wie in der vorhergehenden Branche auch in Loher und Maller wiederum eindeutig angezeigt. Und ähnlich wie in der Sibille findet sich gleichfalls in Loher und Maller eine digestenhafte Zusammenfassung des Huge Scheppel, die zugleich als zyklischer Verweis auf diese nächste Branche, das b v ch von hüg scheppel fungiert. Wie der Schluss des Huge Scheppel ursprünglich aussah, ob dort möglicherweise noch einmal auf die gesamte Erzählreihe zurückgeblickt oder ob lediglich das Ende der letzten Branche angezeigt wurde, lässt sich nicht mehr feststellen, da das letzte Blatt der Huge Scheppel-Handschrift verloren ist. Auch aus dem Blickwinkel des vierten Zyklizitätskriteriums erweist sich der Herpin mithin als Sonderfall. Zwar gibt er sich ebenso wie die übrigen durch eine entsprechende Schlusswendung als distinkte Branche innerhalb des Zyklus zu erkennen, es fehlt ihm allerdings eine darüber hinausweisende zyklische Markierung, wie sie sowohl Sibille als auch Loher und Maller kennen. Zyklische Potenziale 247 174 Sibille, Ausgabe Tiemann, S. 173. 175 Zitiert nach der Hs. Hamburg, Staats- und Universitätsbibl., Cod. 11 in scrin., Bl. 143 v . <?page no="258"?> Das fünfte Zyklizitätskriterium, zyklische Markierungen innerhalb der Texte, bestätigt diesen Befund. 176 Denn als einzige der vier Saarbrücker Prosachansons enthält der Herpin, wie bereits verschiedentlich konstatiert wurde, keinerlei Verweis auf eine der anderen Branchen. Die Sibille spielt dagegen zweimal durch Rückverweise auf den Herpin an. So werden zunächst die hinterhältigen Ratgeber, die durch eine Intrige König Karl dazu bringen, seine schwangere Frau Sibille wegen vermeintlichen Ehebruchs zu verstoßen, als die die ouch hertzog Herpin verdrieben 177 bezeichnet. Zu ihnen wird wenig später gleichfalls der sinistre Mayrkar gezählt, der was geborn von den verredern die hertzog Herpin verrieden. 178 (Der in der Schlusswendung der Sibille enthaltene Hinweis auf Loher und Maller, die nächste Branche der Erzählreihe, wurde unter den ‹signaux cycliques entre les textes› bereits aufgeführt). Loher und Maller verweist auf den zyklischen Zusammenhang mit Herpin, wenn Loher gegen seinen Bruder Ludwig eine aus jenem früheren Text bereits bekannte Figur zu Hilfe ruft, nämlich den hertzogen von Calaber der waz lewen sone von Burges In Berry vnd was ein bastart. 179 Der Hinweis lässt sich mit Hilfe des Herpin leicht auflösen, war dort doch berichtet worden, dass Lewe den nun zur Unterstützung Herbeigerufenen einst mit der Schwester seines ärgsten Feindes, des Herzogs von Kalabrien, gezeugt hatte. Wenig später wird die gleiche Figur noch einmal unter dem Heeresaufgebot Ludwigs als Gerhard lewen Sune der do was ein hertzoge z v kalabar 180 erwähnt, obschon im Herpin vom Tod jenes Gerhard erzählt worden war. Unschärfen dieser Art haben jedoch, wie sich bereits verschiedentlich zeigte, insbesondere dann eine untergeordnete Bedeutung in einem mittelalterlichen Erzählzyklus, wenn sie, wie hier, lediglich Nebenpersonen betreffen. Auf die Sibille, also die unmittelbar vorausgehende Branche, spielt Loher und Maller ebenfalls in zwei Passagen an. Grymmoner, der in der Sibille Ludwig und dessen Mutter verschiedentlich geholfen hatte, begegnet in Loher und Maller erneut in seiner angestammten Rolle, wenn er Ludwigs Frau bzw. wenig später Ludwig selbst befreit und dabei jeweils an seine Helferfunktion in der Sibille erinnert. 181 Außer diesen Rück- 248 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 176 Vgl. zum Folgenden L iepe , S. 86-88; von B loh , Ausgerenkte Ordnung, S. 92-99; G aebel , Chansons de geste, S. 43-47. 177 Sibille, Ausg. Tiemann, S. 124. 178 Ebd., S. 128. 179 In der Hamburger Handschrift (Staats- und Universitätsbibl., Cod. 11 in scrin.) fehlt an dieser Stelle zwar ein Blatt, das Fehlende lässt sich jedoch aus der Kölner Loher und Maller-Handschrift (Köln, Hist. Archiv der Stadt, Best. 7010 [W] 337, fol. 68 v ) ergänzen, die die gleiche Fassung bietet wie die Hamburger Handschrift (vgl. von B loh , Ausgerenkte Ordnung, S. 95 und Anm. 148). Den Rückbezug auf den Herpin kennen außer der Kölner ebenfalls die anderen Handschriften, in denen Loher und Maller nicht in zyklischem Kontext überliefert wird. 180 Loher und Maller, Hamburg, Staats- und Universitätsbibl., Cod. 11 in scrin., fol. 74 v ; vgl. auch von B loh , Ausgerenkte Ordnung, S. 95 und Anm. 149. 181 Vgl. Loher und Maller, Staats- und Universitätsbibl., Cod. 11 in scrin., Bl. 64 v -65 r ; 94 v - 95 r ; vgl. auch von B loh , Ausgerenkte Ordnung, S. 95f. <?page no="259"?> verweisen findet sich in Loher und Maller auch eine Prolepse, in der, allerdings recht unspezifisch, auf Huge Scheppel verwiesen wird, wenn es von Ludwigs Nachkommen heißt: konig ludewig hatte zwo dochter gehabt die eyn wart eym hyeß Reynart die ander wart eym hieß hüschuppe Aber konigk ludewig gewann kein sone darumb kam franckrich zcu großem verderpnisse. 182 In der Literatur ist diese Stelle vor allem unter dem Aspekt ihrer (scheinbaren) Unvereinbarkeit mit einem (bereits zitierten) Vorverweis in der Schlusspassage von Loher und Maller diskutiert worden, 183 wo berichtet wird, dass Ludwig ließe eyn eynig tochter die hieß marie die wart eym gesellen der hieß hüge scheppel zu elichem wybe vnd wart eyn künig zu franckrich. 184 Ein Widerspruch bzw. eine Abweichung zur ersten Stelle lässt sich hier jedoch nicht unbedingt konstatieren. Wird in der ersten Passage in der vollendeten Vergangenheitsform doch lediglich berichtet, dass Ludwig einst zwei Töchter hatte (hatte zwo dochter gehabt), von denen die eine einen Gatten namens Reynart geheiratet habe (unzweifelhaft jener Rainouart/ Rennewart der Wilhelmsgeste, der mit Lois/ Ludwigs Tochter Alice vermählt worden war), während die andere - in der späteren Textpassage wird sie Marie genannt - mit hüschuppe bzw. hüge scheppel vermählt worden sei. Vor dem Horizont der Wilhelmsepen, die sowohl in der französischen wie in der deutschen Fassung schildern, dass Ludwigs Tochter Alice bei der Geburt ihres Sohnes Maillefer/ Mallefer stirbt, woraufhin ihr Mann Rainouart/ Rennewart sich, nachdem auch noch sein neugeborener Sohn entführt wird, von der Welt zurückzieht, können beide Stellen problemlos miteinander vereinbart werden: Von den beiden Töchtern, die Ludwig hatte, hinterließ (ließ) er bei seinem Tod nur eine, die, da Ludwig keine männlichen Nachkommen besaß und der Mann bzw. der Sohn der anderen mittlerweile ebenfalls gestorben waren oder auf ihren Erbanspruch verzichteten, folgerichtig zur Alleinerbin wird - und die wart eym gesellen der hieß hüge scheppel zu elichem wybe vnd wart eyn künig zu franckrich. Eine andere, indes nicht sicher zu entscheidende Frage ist es, ob der Hinweis auf die zwei Töchter Ludwigs und deren Ehemänner bereits in Lohier et Malart stand, oder ob er als zyklisches Signal erst in die deutsche Adaptation eingefügt wurde. Die Tatsache, dass Personen der Wilhelmsgeste in den Saarbrücker Prosagesten auch ansonsten begegnen, 185 andererseits jedoch das Ausspannen Zyklische Potenziale 249 182 Loher und Maller, Köln, Hist. Archiv der Stadt, Best. 7010 (W) 337, fol. 116 r (Hamburg, Staats- und Universitätsbibl., Cod. 11 in scrin. hat an dieser Stelle Textverlust); vgl. auch von B loh, Ausgerenkte Ordnung, S. 96. 183 Vgl. W. L iepe , S. 89f. und von B loh , Ausgerenkte Ordnung, S. 96f.; G aebel , Chansons de geste, S. 44f. 184 Loher und Maller, Hamburg, Staats- und Universitätsbibl., Cod. 11 in scrin., fol. 143 v . 185 Vgl. Sibille (Ausg. Tiemann), S. 156: Erwähnt werden dort Emmerich von Nerbon und dessen Söhne; nachdem Emmerich König Ludwig erkannt und sich mit ihm ausgesöhnt hat, gibt er ihm - ein aus der Wilhelmsgeste übernommenes Motiv - seine dochter <?page no="260"?> eines weiten Epenhorizontes als typisch für französische Chansons de geste gelten kann, lässt beide Möglichkeiten offen. In der Anfangspartie der Erzählung knüpft der Huge Scheppel dann seinerseits durch eine zeitliche Synchronisation der erzählten Ereignisse an die bereits aus Loher und Maller bekannte Handlung an. Als der junge Huge nach zahlreichen Abenteuern nach Paris zurückkommt, erinnert der Text daran, dass etwa zur gleichen Zeit jene im Schlussteil des Loher schon geschilderten Kämpfe stattfinden, die König Ludwig schließlich das Leben kosten: Als man das eygentlichen in llohers b v ch finden mag Da gesach man die vngeleubigen matt vnd über wunden Der stark ludwig streyt des dages herlich Dann durch yn wart syn Neue Isenbart vnd konig Gormon erslagen Aber hatte des dages so vil arbeit vnd lydens Das er mit kranckheit vmb fangen wart Also das er des sijther nye genesen mochte. 186 Die Saarbrücker Prosa-Epen formen somit einen ausgeprägten sequenziellen Zyklus. Da entsprechende Harmonisierungen weitestgehend fehlen, erreichen sie den Status der organischen Zyklizität jedoch nicht oder nur punktuell. Als weiteres Ergebnis bleibt festzuhalten, dass der Herpin die wichtigen Zyklizitätskriterien 3 bis 5 nicht oder doch nur unzureichend erfüllt und deshalb in der Saarbrücker Erzählreihe über die Geschichte der französischen Königsdynastie eine Sonderstellung einnimmt. 187 Freilich darf aus diesem Faktum nicht geschlossen werden, dass der Herpin kein integrativer Bestandteil des Saarbrücker Zyklus gewesen wäre. Dagegen spricht schon allein die mit den anderen drei Texten des Zyklus übereinstimmende Anlage der heute in Wolfenbüttel aufbewahrten Herpin-Handschrift, dagegen spricht vor allem jedoch eine offenbar gezielte Änderung gegenüber der französischen Quelle Lion de Bourges. Während im Schlussteil des Lion de Bourges Charlemagnes 250 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption Wißblume zu einer elichen frouwen. Im Huge Scheppel wird ebenfalls die schone wyßblume kunnigynne Emmerich des graffen von nerbonne dochter vnd wilhelms von orange suster angeführt (Huge Scheppel, Hamburg, Staats- und Universitätsbibl., Cod. 12 in scrin., fol. 4 v ). 186 Huge Scheppel, Hamburg, Staats- und Universitätsbibl., Cod. 12 in scrin., fol. 4 v . 187 Möglicherweise hängt sogar die in der späteren Geschichte des Prachtzyklus offenbar erfolgte Separierung des Herpin von den übrigen drei Texten mit dieser Sonderstellung zusammen. So böte sich zumindest ein Erklärungsansatz für die bislang ungelöste Frage, warum der bücherliebende Herzog von Braunschweig im 17. Jahrhundert allein die prachtvolle Herpin-Handschrift von einem Straßburger Buchhändler für seine Bibliothek erwarb, obschon die ähnlich prächtig ausgestatteten Handschriften von Sibille, Loher und Maller und Huge Scheppel ihn gleichermaßen interessiert haben dürften. Die drei Texte wurden jedoch zusammen, ebenfalls in Straßburg, zu einem späteren Zeitpunkt von einem anderen Käufer erworben. Sollte der Herpin aufgrund seiner Sonderstellung innerhalb des Zyklus von den anderen drei Texten getrennt gewesen sein? Allerdings ist die, aus dem 17. Jahrhundert stammende Verzierung des Herpin-Einbandes «nahezu identisch» mit der des Loher und Maller-Einbandes; vgl. von B loh , Loher u. Maller, Mikrofiche-Edition, S. 8. <?page no="261"?> Sohn Lois in das Handlungs- und Kampfgeschehen eingreift, ist es in der deutschen Übertragung stets Karl, der an analoger Stelle genannt wird, von Ludwig ist im Herpin hingegen nie die Rede. 188 Diese Änderung macht nur Sinn, wenn der Herpin von vornherein als Bestandteil des Saarbrücker Zyklus vorgesehen war, in dem von der Geburt Ludwigs erst in der Sibille berichtet wird. Sollte ein den gesamten Saarbrücker Zyklus umfassender redaktioneller Plan existiert haben, könnte der Herpin tatsächlich, wie Liepe vermutete, als erster Text aus dem Französischen übersetzt und bearbeitet, allerdings ebenso gut erst zu einem späteren Zeitpunkt übertragen worden sein. Durchaus möglich ist aber auch, dass an allen vier Texten in einem Skriptorium/ einer Werkstatt unter der Leitung eines maßgeblichen Redaktors/ einer Redaktorin (vielleicht Elisabeth? ) ungefähr gleichzeitig gearbeitet wurde. Nicht zuletzt die bis vor kurzem desolate Editionssituation dürfte dazu beigetragen haben, dass Malagis und Ogier (und mit Einschränkungen ebenfalls Reinolt von Montelban) als literarische Werke von der Forschung ausgeblendet worden sind, und in der Folge auch ihre zyklische Struktur nicht thematisiert wurde. Dass und wie, analog zu den anderen deutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik, ebenfalls Ogier, Malagis und Reinolt von Montelban einen, oder genauer gesagt zwei Erzählzyklen um Karl den Großen und seine Gegner bilden, ist erst in jüngster Zeit, dank der Editionen von Malagis und Ogier, wahrgenommen worden. 189 Da nur der Kodex Heidelberg, UB cpg 340 Malagis und Reinolt in der Reihenfolge der erzählten Ereignisse innerhalb der gleichen Handschrift überliefert, scheinen allein hier die Grundvoraussetzungen zyklischen Erzählens gegeben. In den übrigen Handschriften sind Malagis, Reinolt und Ogier einzeln überliefert, somit scheint nicht einmal das erste Zyklizitätskriterium erfüllt zu sein. Im Fall des im Jahr 1479 geschriebenen, allein den Ogier enthaltenden Kodex Heidelberg, UB cpg 363 erweist sich das jedoch als Trugschluss, wie noch deutlich werden wird. Zunächst aber soll der cpg 340, der auf den Folioseiten 1 r bis 323 v den Malagis, auf 324 r bis 553 r den Reinolt von Montelban enthält, 190 auf seine zyklische Struktur hin untersucht werden. Die beiden Texte unterscheiden sich zwar im Initialenschmuck auf der jeweils ersten Textseite (vgl. fol. 1 r und fol. 324 r ), wurden aber wohl vom gleichen Kopisten geschrieben. 191 Die ersten beiden Zyklizitätskriterien werden erfüllt durch die Aufnahme der beiden Texte in dieselbe Handschrift, wobei die Reihenfolge der Erzählchronologie beachtet ist. Da im Malagis wie im Reinolt weitestgehend dieselben Akteure Zyklische Potenziale 251 188 Vgl. von B loh , Ausgerenkte Ordnung, S.93f. u. Anm. 142. 189 Allerdings hat sich die Germanistik an dieser Diskussion bislang nicht beteiligt, auf Interesse gestoßen sind Malagis und Ogier praktisch nur in der Niederlandistik. 190 Vgl. auch das Volldigitalisat unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg340. 191 Vgl. die Beschreibung der Handschrift in der Einleitung zur Malagis-Ausgabe, S. XIII. <?page no="262"?> auftreten und zudem beide Texte die Genealogie der Haymebzw. Reinolt- Sippe thematisieren, ist ebenfalls das dritte Kriterium erfüllt (Vivien und Hayme, wichtige Protagonisten der Malagis-Erzählung, sind Großvater bzw. Vater von Reinolt, dem Helden der gleichnamigen Erzählung). Das Ende des Malagis wird eindeutig markiert durch die Wendung: Also han ich ußgericht/ Malagisen kindheit [...] Hie endet, que remede, Malagiß (22971-23004). Danach folgt ein nicht beschriebenes Blatt (fol. 323 a ), bevor auf fol. 324 r der Reinolt beginnt. Malagis und Reinolt sind somit als distinkte Erzähleinheiten gekennzeichnet (Kriterium 4). Durch ‹signaux cycliques dans les textes› sind sie gleichwohl eng miteinander verknüpft (Kriterium 5). So wird schon kurz vor den gerade zitierten Schlussversen des Malagis jene Erzählkonstellation aufgerufen, mit der der unmittelbar folgende Reinolt einsetzen wird: Und Haymyn der jüngeling Verleyb bij Karle dem konig, Dem dient also der stolcze man, Das er zu wibe sin swester gewan Und das lande zur Dardone, Sint gewan er vier sone, Die starcksten und die grosten, Von all dem rich die hochsten, Davon das welsch von spricht. Mal 22962-22969 Verweise auf zentrale Motive des Reinolt begegnen im Malagis auch schon zuvor. Mehrfach angespielt wird auf den zukünftigen, die narrative Struktur des Malagis wie die des Reinolt bestimmenden Konflikt zwischen Karl und den Haymonskindern (vgl. Mal 1130-1134; 4554-4561; 22686-22692; 22914-22930). Immer wieder betont wird im Malagis überdies die Unversöhnlichkeit des Hasses zwischen Karl und Malagis, die sich ebenfalls bis in die folgende Erzählung fortpflanzen wird (vgl. Mal 14000-14005; 16721-16760; 21990-21993). Als Karl aufgrund eines ihm unter falschen Voraussetzungen abgewonnenen Versprechens endlich doch formal Frieden mit Malagis schließt (vgl. Mal 22825- 22836), wird durch eine sprichwörtliche Wendung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Absprachen keinen Bestand haben werden, denn da lagen inn wolffes har (Mal 22839). Zumindest indirekt verweist der Malagis auf die folgende Branche, wenn sich die magischen Fähigkeiten des Zauberers Malagis, die im Reinolt noch eine bedeutende Rolle spielen werden, durch dessen Ausbildung an der Pariser Universität erklären. Ebenso werden durch den Malagis die übernatürlichen Kräfte des Zauberpferdes Beyart besser verständlich, das jedes andere Pferd hinter sich lassen, unglaubliche Entfernungen überwinden und zudem die menschliche Sprache verstehen kann, ohne dass man dafür im Reinolt eine Begründung erführe. Zurückgeführt werden die übernatürlichen Fähigkeiten auf dessen Abstammung von einem dromedarähnlichen Drachen (vgl. Mal 5746-5747; 6159-6164). Im Gegensatz zum Malagis, in dem zahlreiche Prolepsen auf die nächste Branche verweisen, findet sich im Reinolt nicht ein einziger Rückverweis auf 252 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption <?page no="263"?> den als unmittelbar vorausgehend vorzustellenden Text. Dieser Befund kann wohl dahingehend ausgelegt werden, dass die als ätiologische Vorgeschichte dienende Malagis-Erzählung erst nach dem Reinolt entstanden sein dürfte. Für Zyklen ist, wie an verschiedenen Beispielen immer wieder demonstriert werden konnte, eine Genese, die die interne Erzählchronologie umkehrt, typisch. Es ist daher davon auszugehen, dass die im deutschen Malagis und Reinolt zu konstatierende, ganz einseitige Verteilung der entsprechenden Querverweise sich bereits in der niederländischen Vorlage, vermutlich bereits sogar in deren französischer Quelle gefunden haben. Eventuell hat man sich auch in der Umgebung der Heidelberger Pfalzgrafen überhaupt erst um eine Malagis- Handschrift bemüht, nachdem der Reinolt bereits bekannt geworden und auf Gefallen gestoßen war. Da im cpg 340 die Arbeit eines Redaktors, durch die beide Texte mittels Vor- und Rückverweisen aufeinander bezogen würden, nicht erkennbar ist, stattdessen zwei ehemals eigenständige, wohl zu unterschiedlichen Zeiten entstandene Texte hintereinandergeschaltet wurden, ohne dass dadurch allerdings narrative Unschärfen oder gar handlungslogische Widersprüche auftreten würden, handelt es sich hier um den Fall einer zwischen sequenzieller und organischer Zyklizität oszillierenden Erzählreihe. Den durch einen Kolophon auf 1479 datierbaren Heidelberger cpg 363, 192 der außer dem Ogier keinen weiteren Text enthält, auf seine zyklische Struktur hin untersuchen zu wollen, mag auf den ersten Blick vielleicht überraschend erscheinen. Und doch macht ein solches Verfahren Sinn, denn die in der Literatur stets, aber im Grunde genommen unzutreffend, einfach als Ogier bezeichnete Bearbeitung besteht eigentlich aus zwei Texten, die beide von derselben Hand geschrieben sind. Es handelt sich dabei um die Adaptation der im Französischen als Chevalerie d’Ogier bezeichneten Chanson de geste, die aber in die Branchen Enfances Ogier (später von Adenet le Roi zu einer eigenständigen Fassung erweitert) und Chevalerie d’Ogier zerfällt. 193 Wie dies auch in französischen Handschriften üblich ist, vereinigt somit ebenfalls der cpg 363 zwei (eigentlich sogar drei, s. u.) Branchen der Erzählung um Ogier von Dänemark, wodurch die Kriterien 1 bis 3 folglich schon erfüllt sind. Die Eigenständigkeit der beiden Teile ist in der deutschen Fassung des 15. Jahrhunderts gut zu erkennen (Kriterium 4). Denn der auf fol. 1 r mit einem Prolog einsetzende erste Teil (die Enfances Ogier) endet auf fol. 80 r nach der Feststellung: Hie mit so ende ich min zale,/ Gotte befelhe ich dis alz u male (4130f.) mit einem Segenswunsch für den Schreiber (4132- 4135). Nachdem das restliche Blatt (ca. 6 Zeilen am unteren Rand von 80 r ) und die Rückseite von fol. 80 sowie zwei weitere Zyklische Potenziale 253 192 Vg. das Volldigitalisat unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg363. 193 Zur Geschichte des Ogier-Stoffes vgl. die hilfreiche Übersicht bei Knud T ogeby : Ogier le Danois dans les littératures européennes. Munksgaard 1969; die spätere französische Tradition untersucht P oulain -G autret . Ein Vergleich zwischen der Heidelberger Ogier- Fassung und der französischen Chevalerie d’Ogier, die indes nicht die unmittelbare Quelle der deutschen bzw. niederländischen Fassung gewesen sein dürfte, findet sich im Vorwort der Ausgabe des Heidelberger Ogier, S. XLI-XLV. <?page no="264"?> Blätter (in der modernen Foliierung als 80* und 80** bezeichnet) frei gelassen wurden, beginnt der zweite Teil (Chevalerie d’Ogier) auf 81 r nach der Überschrift: Hie vahet sich an die hystorie wie Ogier sines/ vatter kunigrich Dennemarck enpfing etc. mit einem längeren Prolog (4136-4234). Dieser zweite Teil besitzt ebenfalls einen eigenen, auch aus narratologischer Perspektive sehr interessanten Prolog. In ihm berichtet der Erzähler, wie ihn einst eine höfische Gesellschaft, von der er als clerick angeredet wird, aufgefordert habe, die kintheit tellen von Ogier (4203- 4205). Ganz offensichtlich wird durch diesen autoreferenziellen Rückbezug auf den unmittelbar vorausgehenden ersten Teil, die Enfances Ogier, angespielt. Weil die Gesellschaft, insbesondere die Damen, ihn gedrängt hätten, über das weitere Schicksal Ogiers zu berichten, habe er dann, so behauptet der Erzähler, die Mühe auf sich genommen, auch den nächsten Teil aus dem Französischen zu übersetzen und berichte jetzt Von Ogiern dem olthede (4207- 4234). Dieser zweite Teil, auf den sich der Titel vom ‹alten Ogier› bezieht, setzt ein mit einer vollständigen Analepse, durch die die in den Enfances Ogier erzählten Geschehnisse noch einmal insgesamt rekapituliert und so bis zu jenem Punkt der erzählten Zeit geführt werden, an dem der zweite Teil beginnt (4235-4273). Rückbezüge auf die erste Branche begegnen im zweiten Teil des Ogier wiederholt. So spielt etwa Karls Sohn Charlot im tödlichen Streit mit Ogiers Sohn Baldewijn auf die einstige Geiselhaft des jungen Ogier am Hof des Königs und auf die Lebensgefahr an, in der Ogier damals schwebte (5022- 5033); in einer anderen Szene wird daran erinnert, dass Karl einen besonderen Helm trägt, den Ogier einst vor Rom von den sarazenischen Feinden eroberte und ihn später dem König schenkte (6066-6069) und schließlich verweist der Text auf Ogiers früheres Amt als Träger der Olyflamme, der königlichen Fahne (9801f.). Anders als im cpg 340, in dem nur eine von zwei Branchen zyklische Verweise enthält, verweist im cpg 363 aber nicht nur die zweite Branche der Ogier-Erzählungen auf die Enfances Ogier, auch dieser erste Teil signalisiert durch eine Prolepse an pointierter Stelle, dass zur Zeit der Niederschrift (der niederländischen Vorlage des deutschen Textes) der Inhalt des zweiten Teils bereits bekannt gewesen sein muss. Denn auf die zentrale Szene der Chevalerie d’Ogier spielt bereits der Prolog der Enfances Ogier an, wenn es heißt: Munstrele singen in iren gesang, Wie Baldewyn, sin [Ogiers] kint, wart erslagen, Dem Karloet nam sin leben Die orgelieus was und fell. Ogyer hett sich gerochen wol, Enwere der engel von hymelrich, Der es ime verbot nemlich. Og 16-22 Beide Branchen sind in diesem Fall also durch ‹signaux cycliques dans les textes› verklammert und so aufeinander bezogen, dass das fünfte Zyklizitätskriterium ohne jeden Zweifel erfüllt wird. Im Sinne organischer Zyklizität könnte 254 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption <?page no="265"?> es als problematisch erscheinen, dass in den Prologen der beiden Teile sich jeweils ausschließende Entstehungssituationen fingiert werden. Während im Prolog der Enfances Ogier behauptet wird, die Geschehnisse der Chevalerie d’Ogier seien bereits allgemein bekannt (16-22), ohne dass jemals die Vorgeschichte dieser Ereignisse, etwa die Erringung von Ogiers Pferd und Schwert, erzählt worden sei, 194 setzt der Prolog des zweiten Teils, wie gesehen, eine umgekehrte Entstehungsgeschichte voraus. Dort gibt der Erzähler vor, zunächst über die kintheit Ogiers berichtet zu haben, bevor er dann auf Wunsch des Publikums von Ogiern dem olthede erzählt (4204-4234). 195 Andererseits lässt sich diese nicht eindeutig zu differenzierende Genese der beiden Teile aber auch als bewusste Verflechtung, als Ineinssetzen einer in ihrer chronologischen Sukzession ursprünglich distinkten Textgenese lesen. Damit würde dann umso mehr die Kohärenz einstmals selbstständiger Branchen herausgestellt. Die Prologe ließen sich in diesem Fall als weiteres Indiz einer entwickelten organischen Zyklizität deuten, die man dem cpg 363 insgesamt sicherlich attestieren muss. Dass eine Differenzierbarkeit zwischen den einzelnen Teilen keineswegs selbstverständlich ist, zeigt sich im letzten Abschnitt der zweiten Branche. Mit Vers 20975 (fol. 357 v ) beginnt dort ein neuer Erzähleinsatz, der, nachdem Ogier endlich mit Karl versöhnt ist, von weiteren Erlebnissen Ogiers berichtet, die sich nun im Orient abspielen. Dieser Neueinsatz wird allerdings nicht als eigenständiger Abschnitt ausgewiesen. Es existiert dort weder ein Prolog noch, wie das zuvor der Fall gewesen war, eine größere Initiale mit Gliederungsfunktion. 196 Die aus zwei Branchen bestehende Erzählung von Ogier, die von dessen Jugend bis zum Tod des Protagonisten reicht, endet mit einem Vorverweis auf weitere Erzählungen von Karl dem Großen: N u volget ander zale hie naer/ Von Karolo dem kunige, des sient wijß (23665f.). Die Prolepse wird jedoch nicht eingelöst, wenige Verse später bricht die Erzählung mit dem Tod Ogiers auf fol. 405 r ab, worauf dann noch vier unbeschriebene Blätter folgen (fol. 406 x - 409 x ). Man könnte vermuten, dass mit dem letzten Verweis vielleicht Malagis und Reinolt von Montelban, die anderen beiden im Umkreis des Heidelberger Hofs rezipierten Texte aus dem Bereich der französischen Heldenepik, in denen Karl in der Tat eine wichtige Rolle spielt, gemeint seien. Dem Wortlaut des Zyklische Potenziale 255 194 Vgl. Ogier 23-27: Dise hystorie k nnen wol/ Munstrele in tutscher zal,/ Me sie wissent nit da von,/ Wie er Broyfort gewan/ Und Corteinen das g t schwert. 195 Vgl. dazu Bart B esamusca : Zingende minstrelen, een jonge dichter en een voordracht in Vlaanderen. Over de twee prologen van Ogier von Dänemark. In: ders., Jaap Tigelaar (Hg.): Karolus Rex. Studies over de middeleeuwse verhaaltraditie rond Karel de Grote. Hilversum 2005 (Middeleeuwse Studies en Bronnen 83), S. 141-152; vgl. auch van D ijk , Ogier, S. 46f. 196 Dafür findet sich eine gliedernde Initiale sowie eine entsprechende Erzählerbemerkung an einer anderen Stelle der zweiten Branche, die ebenfalls einen Einschnitt in der narrativen Sukzession markiert (13997, fol. 242 v ); vgl. dazu auch meine Rezension der Ogier- Ausgabe in: PBB 127 (2005), S. 516-521. <?page no="266"?> Ogier nach zu urteilen, ist eine solche Lesart jedoch ausgeschlossen, da diesem Text zu entnehmen ist, dass dessen Erzählhandlung erst nach den im Rolandslied berichteten Ereignissen um die verheerende Ronceval-Schlacht anzusiedeln ist, in der Roland und die anderen Pairs durch den von Genelun begangenen Verrat ums Leben kommen. Karls Sohn Charlot wendet sich in einer Szene des Ogier nämlich an den Sohn des als Erzverräter geltenden Genelun: Der jung kunig rieff z u rade Guwelsen dem verrader, Der alt Guweloen was sin vader, Der Roelande verriet, als ich waene Og 5089-5092 Da aber in Malagis wie in Reinolt die durch Geneluns Verrat später getöteten Pairs Roland und Oliver wiederum wichtige Akteure sind, kann das dortige Erzählgeschehen zeitlich nur vor dem Desaster der Ronceval-Schlacht anzusiedeln sein. Das bedeutet allerdings zugleich, dass die in Malagis und Reinolt berichteten Ereignisse den im Ogier geschilderten als chronologisch vorausliegend gedacht werden müssen. Der den Ogier abschließende Hinweis auf ander zale hie naer/ Von Karolo dem kunige ist erzähllogisch folglich nicht auf Malagis und Reinolt beziehbar. 197 Die Heidelberger Chanson de geste-Übersetzungen formen mithin gleich zwei organische Erzählzyklen, bestehend aus Malagis und Reinolt einerseits und andererseits aus Enfances Ogier und Chevalerie d’Ogier. Zu einem sämtliche Texte umfassenden und zugleich den einschlägigen Kriterien gerecht werdenden ausgeprägt sequenziellen oder gar organischen Erzählzyklus lassen sie sich hingegen nicht zusammenziehen. Immerhin verbindet sie eine gemeinsame Thematik (Auseinandersetzungen Karls mit seinen Großvasallen) und gemeinsame Protagonisten. Doch weder bilden Reinolt, Malagis und Ogier durch ihre mise en page eine gemeinsame Gruppe (wie etwa die Hamburg/ Wolfenbütteler Prosachansons), noch stehen sie in einer einzigen Handschrift zusammen (wie etwa die Karlmeinet-Kompilation und die Willehalm- Trilogie in gleich mehreren Exemplaren). Und zudem sind die beiden Teilzyklen auch nicht durch gegenseitige Verweise und/ oder redaktionelle Angleichungen zu einer organischen Einheit verschmolzen worden. 256 Grundlagen deutscher Chanson de geste-Rezeption 197 Sehr wahrscheinlich stand die Prolepse bereits in der niederländischen Vorlage. Sie könnte sich dort eventuell auf die, bruchstückhaft erhaltene, weitere Fortsetzung der Ogier-Erzählung bezogen haben, die in die deutsche Fassung nicht übernommen wurde. Möglicherweise fehlte diese Fortsetzung, die von Ogiers Zug in den Orient berichtet, aber schon in der Handschrift, die als unmittelbare Übersetzungsvorlage der deutschen Fassung diente. Vgl. zu den entsprechenden niederländischen Ogier-Fragmenten und den Konsequenzen, die aus deren Nichtberücksichtigung in der deutschen Übersetzung resultieren, van D ijk , Ogier. Vgl. auch das Vorwort zur Malagis-Ausgabe, in dem Unterschiede in Sprache und Lexik zwischen Malagis und Reinolt einerseits und andererseits Ogier betont werden, S. LXVI. <?page no="267"?> * * * Bewertet man nach diesem längeren Durchgang die deutschen Chanson de geste-Adaptationen nach ihrem zyklischen Potenzial, kann man konstatieren, dass sie innerhalb der mittelalterlichen deutschen Großepik jenes Genre bilden, das die narrativen Möglichkeiten eines mehrere Texte umspannenden Erzählkontinuums am konsequentesten nutzt. Weder die deutsche Heldenepik (sie besitzt lediglich Ansätze zur Zyklusbildung) noch der Artusroman (er entwickelt erst relativ spät mit dem Rappoltsteiner Parzifal und dem Buch der Abenteuer Vergleichbares) oder der Antikenroman und andere Genres kennen eine ähnliche Konsequenz in der zyklischen Erzählweise. Vorbild und zugleich Auslöser für das zyklische Niveau der deutschen Bearbeitungen französischer Heroik dürfte die französische Chanson de geste-Tradition gewesen sein, die eine solche Narrativik vielfach erprobt und in verschiedenen Ausformungen umgesetzt hat. Gleichwohl beschränken sich die deutschen Bearbeitungen nicht auf eine simple Nachahmung der französischen Pendants. Schon früh kommt es im oberdeutschen Raum zu eigenständigen Entwicklungen, die, wie etwa die Verbindung von Karl und Willehalm, in der romanischen Epik kein Pendant besitzen. Dazu zählt auch der spezifische Entwurf einer Willehalm- Vorgeschichte durch die Arabel und die partiell eigenständige Fortsetzung von Wolframs Chanson de geste-Bearbeitung durch den Rennewart. Mit der Verbindung des Buchs vom heiligen Karl und des Buchs vom heiligen Wilhelm sind die zyklischen Möglichkeiten, die das Genre bot, dann geradezu idealtypisch umgesetzt worden. Auch in den deutschsprachigen Nideren Landen wurde, gleichfalls ohne französisches Vorbild, in der Zusammenstellung ehemals unabhängiger Erzählungen, in denen jeweils Karl der Große als Protagonist auftritt, ein außerordentlich hohes Niveau an Zyklizität erreicht. Die dadurch entstandene Karlmeinet-Kompilation muss, neben der altnordischen Karlamagnús saga aus dem 13. Jahrhundert, dem kymrischen Karlzyklus des 14. Jahrhunderts und neben den (historiographienahen) Werken der französischen Autoren Philippe Mousket, Girart d’Amiens und David Aubert, als eine der wichtigen europäischen Erzählsummen aus dem poetischen Material des ‹cycle du roi› gelten. Während die Heidelberger Epen Ogier von Dänemark, Malagis und Reinolt von Montelban auch in ihren zyklischen Valenzen vermutlich doch nah bei ihren niederländischen Vorbildern stehen, dürften die im Umkreis des Saarbrücker Hofes entstandenen Prosachansons von Herpin, Sibille, Loher und Maller und Huge Scheppel hingegen zu einem Erzählzyklus zusammengestellt worden sein, ohne dass die französischen Quellen ihnen dafür ein direktes Vorbild geboten hätten. Gegen Ende der deutschen Rezeption französischer Heldenepik bestätigt sich damit einmal mehr das hohe zyklische Niveau, das die deutschen Chanson de geste-Adaptationen von Anfang an auszeichnet. Zyklische Potenziale 257 <?page no="269"?> B Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption In den vorausgehenden Kapiteln wurde die zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert entstandene Textgruppe deutscher Chanson de geste-Bearbeitungen unter übergreifenden Fragestellungen der Überlieferung (A.3) und der Zyklizität (A.4) abgeschritten und gleichsam als Einheit behandelt. Dabei ergaben sich wichtige Ergebnisse für die deutsche Rezeption der französischen Heldenepik - gleichwohl: Die in Kapitel A.2 sich abzeichnenden Besonderheiten in den drei Wellen deutscher Chanson de geste-Rezeption, die dabei nur am Rande als allgemeine Ordnungsfaktoren benutzt wurden, gewannen auf diese Art noch keine sehr viel schärferen Konturen. Tendenziell wurden sie sogar nivelliert, indem z. B. in allen drei Phasen eine Neigung zur Zyklusbildung und wenigstens ähnliche Techniken zur Herstellung narrativer Kohärenz aufgezeigt werden konnten. Im zweiten Teil der Studie soll deshalb nun anders verfahren werden: Jede der drei deutschen Wellen von Chanson de geste-Rezeption wird zunächst für sich betrachtet und analysiert. Erst auf dieser Basis lassen sich Unterschiede und/ oder Gemeinsamkeiten erkennen und Folgerungen daraus ableiten. Begonnen werden soll dabei mit jenen deutschen Adaptationen französischer Heldenepik, die in der Forschung die bei weitem größte Aufmerksamkeit fanden, ja meist sogar als die deutsche Chanson de geste-Rezeption gelten: die oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen. Bevor aber die deutschen Texte auf ihre Besonderheiten hin untersucht werden, ist es zunächst nötig, eine Eigenart der französischen Chanson de geste zu beschreiben, die schon seit den frühesten Tagen der Forschung als Spezifikum des Genres benannt worden ist und - wie sich zeigen wird - ebenfalls für die deutsche Rezeption der französischen Heldenepik von entscheidender Bedeutung sein sollte: die enge Verschränkung von Heroik und Hagiographie. B.1 Gesta principium et vitas sanctorum - Chanson de geste und Legende in der Romania Die geläufigen älteren Vorstellungen zufolge durch Verrat, Gewalt, Krieg und Tod dominierte Erzählwelt der Heroik lässt sich anscheinend nur schwer vereinbaren mit dem Beharren auf einer dezidiert christlichen Ethik, etwa dem Verzicht auf körperliche Gewalt, dem Gebot der Feindesliebe oder dem Tötungsverbot, wie sie für viele geistlich geprägte Texte kennzeichnend ist. Aus Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption Chanson de geste und Legende in der Romania <?page no="270"?> dieser Perspektive könnten Heroik und Hagiographie daher als sich gegenseitig ausschließende Genera erscheinen. Ganz in diesem Sinne behandelt etwa C. M. Bowra in seiner Untersuchung heldenepische Literatur, wenn er ‹echte› Heroik, in der der Mensch immer ein sich selbst genügendes Wesen sei, von jenen vermeintlich nicht wirklich heldenepischen Erzählungen abzuheben versucht, in denen transzendente Mächte mittelbar oder unmittelbar in das Geschehen eingreifen. 1 Zugrunde liegt dieser Aufspaltung die anfangs bereits erwähnte romantische Auffassung einer ‹im Volk› über Generationen tradierten, direkt auf die kriegerischen Ereignisse des jeweiligen ‹heroic age› rekurrierenden, ‹authentischen› Erzähltradition, der eine völlig anders konzipierte, artifizielle, lateinisch-christlich orientierte Schriftkultur der clerici gegenübergestellt wird. Eine solche Differenzierung zwischen künstlerischer, gleichsam synthetischer und volkstümlicher, als ‹authentisch› geltender Literatur ist jedoch, wie bereits gezeigt wurde, problematisch und wird der mittelalterlichen Literatursituation kaum gerecht. Zudem erweist sich die Vorstellung einer scharfen Demarkationslinie zwischen Heroik und Hagiographie als fragwürdig, weil dabei mit fest umrissenen Typen von Gattungen (epische und geistliche bzw. hagiographische Literatur) operiert werden muss. Über die allgemein bekannte Problematik einer Gattungssystematik hinaus ist eine solche Unterscheidung in diesem Fall besonders inadäquat, weil die Hagiographie überhaupt kein Genre im klassischen Sinne bildet. Nach der durch M. van Uytfanghe entwickelten Definition hagiographischen Schrifttums etwa, der sich die neuere Forschung fast durchgehend angeschlossen hat, übersteigt die Hagiographie vielmehr die Frage der Gattungsgrenzen, so dass es weit sinnvoller erscheint, von hagiographischen Diskursen zu reden, die sich in unterschiedliche Texte in unterschiedlicher Intensität eingeschrieben haben. 2 Van Uytfanghe führt diverse Kriterien an (eine enge Relation der handelnden Personen zum Göttlichen; übernatürliche und wundertätige Fähigkeiten besitzende Protagonisten; hervorragende Tugenden des Helden/ der Heldin; eine Auserwähltheit des Helden/ der Heldin, dem/ der nahezu alles von Anfang an gegeben ist und dessen/ deren Lebensweg als prädestiniert erscheint; eine idealisierende, apologetische oder auch erbaulich-paränetische Funktion des jeweiligen Textes), von denen nicht alle, aber doch mehrere erfüllt sein müssen, damit von einem hagiographischen Diskurs gesprochen werden könne. Dabei sind die Kriterien bewusst so allgemein gewählt, dass sie ebenfalls auf nichtchristliche und nichtbiblische Literatur anwendbar sind. Nach van Uytfanghe existieren hagiogra- 260 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 1 Vgl. B owra , S. 5-8 und S. 26; vgl. zu B owra s Trennung auch Ursula E rnst : Studien zur altfranzösischen Verslegende (10.-13. Jahrhundert). Die Legende im Spannungsfeld von Chanson de geste und Roman. Frankfurt/ M. usw. 1989 (Europ. Hochschulschriften, Reihe XIII, 141), S. 59f., kritisch dagegen K üpper , Transzendenter Horizont. 2 Vgl. Marc van U ytfanghe : Art. Heiligenverehrung II (Hagiographie). In: Reallexikon für Antike und Christentum 14 (1988), Sp.150-183; vgl. auch ders .: L’hagiographie: Un «genre» Chrétien ou antique tardif? In: Analecta Bollandiana 111 (1993), S. 135-188. <?page no="271"?> phische Diskurse somit z. B. auch in antiker oder außereuropäischer Literatur. Überdies können ganz verschiedene literarische Typen Träger eines solchen Diskurses sein: Biographien ebenso wie enkomiastische Texte, romanhafte und novellistische Erzählformen ebenso wie Wundererzählungen oder weitere Register. 3 Innerhalb dieses in verschiedensten literarischen Typen sich manifestierenden hagiographischen Diskurses hat sich van Uytfanghe zufolge ein spezifisch christlicher Diskurs ausgebildet, für den wiederum bestimmte Merkmale charakteristisch sind. Dazu zählen: die imitatio Christi, der Kampf gegen das Böse, ein enger Konnex zwischen den im irdischen Leben erreichten Verdiensten und dem jenseitigen Schicksal und schließlich Wunder. Nach Maßgabe dieser Definition, die im Folgenden zugrunde gelegt werden wird, dürfte es evident erscheinen, dass hagiographische Diskurse auch heldenepischer Literatur verschiedenster Provenienz eingeschrieben sein können. Für die Heroik des europäischen Mittelalters gilt das um so eher, als im Verständnis der Zeit der/ die Heilige zugleich immer auch ein Held/ eine Heldin war und umgekehrt ein Held/ eine Heldin problemlos Züge von Heiligkeit tragen konnte: «Der Heilige läßt sich geradezu als ein Sonderfall des Helden auffassen: als der heilige Held eben, der seine Heldentaten weniger als Krieger und Liebender vollbringt denn als Zeuge für die Allmacht des christlichen Gottes.» 4 Insofern erweisen sich Heroik und Hagiographie teilweise sogar als konvergent - ein Zusammenhang, der im außerdeutschen Sprach- und Forschungsbereich allein schon durch die Terminologie bewahrt ist, wenn Texte, die im Deutschen als Sagen bezeichnet würden, ‹legends›, ‹légendes› oder ähnlich genannt werden. 5 An kaum einem Beispiel lässt sich diese thematische Konvergenz besser demonstrieren als an der französischen Heldenepik, der den durch M. van Uytfanghe entwickelten Kriterien zufolge zweifelsohne ein deutlicher hagiographischer Diskurs inhärent ist. Begegnen doch in französischen Chansons de geste häufig Motive und Erzählelemente, die dazu beigetragen haben, dass thematische Analogien zwischen der französischen Heldenepik und Legenden bzw. Viten bereits früh erkannt und mit unterschiedlichen Absichten und Konsequenzen diskutiert worden sind: 6 Etwa durch einen christlichen Protagonisten, meist in höchster Gefahr gesprochene, Gebete, die auf bekannte Chanson de geste und Legende in der Romania 261 3 U. W yss beschreibt den gleichen Sachverhalt für mittelalterliche Texte in einprägsamer Bildlichkeit, wenn er formuliert: «Anders als die matière de Bretagne oder die Tierfabel konstituieren die Legendenstoffe in den mittelalterlichen Literaturen keine epische Gattung. Legendenstoff vermag sich vielmehr an andere Themen anzuschmiegen, die Ästhetik anderer Gattungen zu übernehmen.» Ulrich W yss : Legenden. In: Epische Stoffe des Mittelalters, hg. v. Volker Mertens, Ulrich Müller. Stuttgart 1984 (Kröners Taschenausgabe 483), S. 40-60, hier S. 40. 4 Ebd., S. 43. 5 Vgl. dazu auch Klaus G raf : Art. Sage. In: LexMa 7 (1999), Sp. 1254-1257. 6 Auf dem hagiographischen Diskurs, der französischer Heldenepik eingeschrieben ist, basiert schon die These von B édier, Les légendes épiques. Vgl. auch Alison Goddard E lliot : Saints and Heroes: Latin and Old French Hagiographic Poetry. Ann Arbor 1979. <?page no="272"?> Szenen oder Personen der biblischen Geschichte rekurrieren und/ oder zentrale Aussagen des christlichen Glaubens umkreisen, 7 daneben auch die stets aufs Neue betonte Bereitschaft der Helden, für ihren Glauben zu sterben, ebenso der mit den typischen Signalen der sanctitas geschilderte märtyrerartige Tod mancher christlicher Helden und weiter: der am Ende des Lebens aus der Welt ins Kloster bzw. in die Eremitenklause führende Weg einiger jener Protagonisten, die nicht im (Glaubens)Kampf gefallen sind, vor allem jedoch die mannigfachen Wunder und Zeichen göttlicher Unterstützung für die christlichen Helden. Auch bestimmte formale Eigenheiten, wie etwa Metrik und Laissenstruktur, die sowohl frühe französische Chansons de geste als auch die ältesten Vitentexte in der romanischen Volkssprache auszeichnen, waren geeignet, den Eindruck der Ähnlichkeit zwischen den beiden Textsorten noch zu verstärken. Da man darüber hinaus in französischen Viten des 11. bis 13. Jahrhunderts ebenso heldenepische Erzählmuster ausmachte, spielten die Beziehungen zwischen beiden Genres auch in die jahrzehntelang kontrovers geführte Debatte um die Genese der französischen Heldenepik hinein. Dabei wurde sowohl die Position eines Rückgriffs der Chanson-Autoren auf das von lateinisch gebildeten clerici zuvor entwickelte Modell einer volkssprachigen Vitenliteratur vertreten als auch die umgekehrte Ansicht einer Ausbeutung der (in mündlicher Form) seit Jahrhunderten tradierten Heldenepik durch klerikale Autoren, die das Renommee der ‹im Volk› beliebten Gattung für die paränetischen Zwecke der volkssprachigen Viten und Legenden hätten nutzen wollen. Weder die eine noch die andere These hat sich allerdings entscheidend durchsetzen können. 8 Obschon Motivanalogien (van Uytfanghe würde von einem, allerdings unterschiedlich ausgeprägten, hagiographischen Diskurs sprechen) zwischen Viten und Chansons de geste nicht zu übersehen sind, dürfte gleichwohl keine der beiden Textsorten die jeweils andere im eigentlichen Sinne generiert haben. Zu überlegen wäre vielmehr, ob nicht ähnliche Entstehungsbedingungen und eine ähnliche Entstehungsumgebung für die formalen Analogien und die Diskursinterferenzen von Viten und den uns in buchepischer Ausprägung überlieferten Chansons de geste verantwortlich gemacht werden können. 9 Darauf deuten ebenfalls die kodikologischen Erkenntnisse, die J. Wolf in seiner Studie über ‹Buch und Text› an frühen französischen Le- 262 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 7 Vgl. dazu Jacques de C aluwé : La «prière épique» dans les plus anciennes chansons de geste françaises. In: Marche Romane 26 (1976), S. 97-116; ders .: L’originalité de quelques prières épiques. In: Marche Romane 20 (1970), S. 59-74; ders. : La Prière épique dans la tradition manuscrite de la Chanson de Roland. In: La Prière au moyen âge. Aix-en- Provence 1981 (Sénéfiance 10), S. 149-186. 8 Vgl. dazu den Forschungsüberblick bei Ursula E rnst, Studien, S. 23-26. 9 Schwierig ist ein solcher Nachweis u. a. deshalb, weil - weitere Analogie zwischen den Genres - sowohl Viten und Legenden als auch Chansons de geste meist anonym überliefert sind. Wenn sich aber doch einmal der Autor einer Chanson nennt, wie Jean Bodel als Verfasser der um 1200 entstandenen Chanson des Saisnes, ist es bemerkenswert, dass unter dem gleichen Autornamen ebenfalls ein Spiel (Jeu de Saint Nicolas) überliefert ist, in <?page no="273"?> genden und Chansons de geste gewonnen hat. Demnach diente das Verschriftlichungsverfahren der Heiligenlegenden als Vorbild für die Verschriftlichung der Heldenepik. Die Legenden enthaltenden Codices scheinen geradezu als Muster für die ersten Chanson de geste-Handschriften gedient zu haben. 10 Für die sich herausbildende Literatur in der französischen Volkssprache zeichnete sich demnach eine analoge Entstehungssituation ab wie für die deutsche, wo wenig später neben der eindeutig dominierenden geistlich-legendarisch geprägten Literatur (wie Bibelepik oder Legenden) etwa mit dem Annolied und der Kaiserchronik sowie mit Werken wie (vielleicht) dem Oswald zunächst - möglicherweise von eben den Autoren, die auch die volkssprachige Viten- und Legendenliteratur geschrieben hatten - volkssprachige Texte verfasst werden, in denen ‹profane›, (heils)geschichtliche und hagiographische Diskurse sich sehr stark überlagern, bevor die einzelnen Genres sich dann weiter ausdifferenzieren und charakteristische Konturen gewinnen. 11 Zwei bemerkenswerte Zeugnisse des 13. Jahrhunderts demonstrieren, dass die von der Forschung reklamierten diskursiven Verschränkungen zwischen französischer Viten- und Epenliteratur bereits von einigen Zeitgenossen als solche empfunden worden zu sein scheinen. Der erste Text stammt von Thomas von Chobham (oder Cabham), einem u. a. in Paris lehrenden englischen Theologen, 12 der sich in seinem um 1215 verfassten, nach gesellschaftlichen Ständen gegliederten und sehr erfolgreichen (über 100 erhaltene Hss.) Werk über die Beichte (Summa confessorum) u. a. auch mit Schauspielern (histriones) beschäftigt. Es gäbe, so schreibt er dort, drei Arten von Schauspielern (histrionum tria sunt genera). Die ersten beiden Arten - jene, die tanzten, gestikulierten und sich maskierten und ebenso jene, die die großen Höfe aufsuchten, um dort üble Nachreden über Abwesende zu verbreiten - seien zu verurteilen. Die dritte Art, jene, die mit Musikinstrumenten die Menschen unterhielten, zerfalle wiederum in zwei Gruppen: die erste besuche Trinkgelage und lascivas congregationes, um dort lascivas cantilenas zu singen, auch sie sei zu verurteilen. Die zweite Gruppe aber, qui dicuntur ioculatores, sänge von den Taten der Fürsten und von den Leben der Heiligen (gesta principium et vitas sanctorum), um den Menschen in deren Nöten und Ängsten Trost zu verschaffen. Sie, die mit Instrumentenbegleitung von den Taten der Fürsten und sonstigem Nützlichen sängen (cantant instrumentis suis gesta principum et alia utilia) statt sich mit Verwerflichem abzugeben, wie es etwa Tänzer und Tänzerinnen täten, könnten der Gnade teilhaftig werden, wie auch Papst Alexander dies ausdrücklich formuliert habe. 13 Chanson de geste und Legende in der Romania 263 dem, auf der Matrix einer Auseinandersetzung zwischen Christen und Heiden, geistliche Themen dominieren. 10 Vgl. J. W olf , Buch und Text, bes. S. 50f. 11 Vgl. dazu auch J. W olf , Wolframs ‹Willehalm›, S. 223-229. 12 Vgl. Jean L ongère : Art. Th. v. Chobham. In: LexMA 8 (1999), Sp. 715f. 13 Der Hinweis auf Papst Alexander III. (1159-1181) bezieht sich auf eine Begebenheit, die Th. v. Chobham im Anschluss an diese Kategorisierung berichtet. Es sei einmal ein <?page no="274"?> Die zweite bekannte Stelle findet sich in dem um 1300 entstandenen, in seiner Zeit indes kaum rezipierten Traktat De musica des französischen Musiktheoretikers Johannes de Grocheo (oder Grocheio). 14 In ausdrücklicher Absetzung von älteren, durch Autoritäten wie Boethius erarbeiteten musiktheoretischen Klassifikationen differenziert Johannes de Grocheo nach Musikarten, wie er sie selbst in Paris gehört haben will: musica simplex, musica composita und musica ecclesiastica. 15 Die musica simplex untergliedert er noch einmal in Lieder und Tänze. Zu den erstgenannten zählt Grocheo u. a. den cantus gestualis und erläutert diese Art des Singens als eine, in der von den Taten der Helden und dem Wirken der alten Väter berichtet werde sowie vom Leben und Martyrium der Heiligen und was diese in der Vergangenheit für 264 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption Spielmann zu jenem Papst gekommen und habe Alexander gefragt, ob er seine Seele retten könne, wenn er seinen Beruf weiter ausübe. Der Papst habe sich erkundigt, ob der ioculator seinen Lebensunterhalt auch auf andere Art bestreiten könne. Auf dessen verneinende Antwort hin habe ihm Alexander III. erlaubt, seinen Beruf weiter auszuüben, falls er sich von lascivis turpitudinibus fernhalte. Wegen der Bedeutung der Ausführungen des Thomas von Chobham, die in der Forschungsliteratur über Heldenepik bzw. Spielleute immer wieder einmal, meist allerdings ohne ihren Kontext, erwähnt werden, sei die Stelle hier im Zusammenhang zitiert (nach Thomae de Chobham Summa Confessorum. Hg. v. Frederick Broomfield, Louvain 1968 [Analecta mediaevalia Namurcensia 25], S. 291): Cum igitur meretrices vel histriones veniunt ad confessionem, non est eis danda penitentia nisi ex toto relinquant talia officia, quia aliter salvari non possunt [...] Sed notandum quod histrionum tria sunt genera. Quidam enim transformant et transfigurant corpora sua per turpes saltus vel per turpes gestus, vel denudando corpora turpiter, vel induendo horribiles loricas vel larvas, et omnes tales damnabiles sunt nisi relinquant officia sua. Sunt etiam alii histriones qui nihil operantur sed curiose agunt, non habentes certum domicilium, sed circueunt curias magnatum et loquuntur obprobria et ignominias de absentibus. Tales etiam damnabiles sunt, quia prohibet Apostolus cum talibus cibum sumere. Et dicuntur tales scurre vagi, quia ad nihil aliud utiles sunt nisi ad devorandum et ad maledicendum. Est etiam tertium genus histrionum qui habent instrumenta musica ad delectandum homines, sed talium duo sunt genera. Quidam enim frequentant publicas potationes et lascivas congregationes ut cantent ibi lascivas cantilenas, ut moveant homines ad lasciviam, et tales sunt damnabiles sicut et alii. Sunt autem alii qui dicuntur ioculatores qui cantant gesta principium et vitas sanctorum et faciunt solatia hominibus vel in egritudinibus suis vel in angustiis suis et non faciunt nimias turpitudines sicut faciunt saltatores et saltatrices et alii qui ludunt in imaginibus inhonestis et faciunt videri quasi quedam phantasmata per incantationes vel alio modo. Si autem non faciunt talia sed cantant instrumentis suis gesta principum et alia utilia ut faciant solatia hominibus sicut dictum est, bene possunt sustineri tales, sicut ait Alexander papa cum quidam ioculator quereret ab eo utrum posset salvare animam suam in officio suo. Quesivit enim papa ab eo utrum aliquod aliud sciret opus unde vivere posset, et respondit ioculator quod non. Permisit igitur papa quod ipse viveret ex officio suo, dummodo abstineret a predictis lasciviis et turpitudinibus. 14 Vgl. Horst L euchtmann : Art. J. de Grocheo. In: LexMA 5 (1999), Sp. 580. 15 Der Musiktraktat des Johannes de Grocheo nach den Quellen neu herausgegeben mit Übersetzung ins Deutsche und Revisionsbericht von Ernst Rohloff. Leipzig 1943 (Media Latinitas Musica II), S. 47. <?page no="275"?> den Glauben und die Wahrheit erlitten hätten, wie beispielsweise in der Vita des seligen Protomärtyrers Stephanus oder in der Geschichte von König Karl: Cantum vero gestualem dicimus, in quo gesta heroum et antiquorum patrum opera recitantur, sicuti vita et martyria sanctorum et proelia et adversitates, quas antiqui viri pro fide et veritate passi sunt, sicuti vita beati Stephani protomartyris et historia regis Karoli. 16 Solche Gesänge würden vorgetragen, so Grocheo, um die Älteren und die arbeitende Bevölkerung von ihrem schweren Los abzulenken und sie zu entspannen, damit sie ihr Unglück besser ertrügen, wenn sie vom Elend anderer gehört hätten. Insofern kämen diesen Liedern, mit Blick auf die Gesellschaft, eine entlastende Funktion zu: Cantus autem iste debet antiquis et civibus laborantibus et mediocribus ministrari, dum requiescunt ab opere consueto, ut auditis miseriis et calamitatibus aliorum suas facilius sustineat et quilibet opus suum alacrius aggrediatur. Et ideo iste cantus valet ad conservationem totius civitatis. 17 Sowohl gegenüber Grocheos Ausführungen als auch gegenüber den Klassifikationen des Thomas von Chobham ist im Hinblick auf Aussagen über Aufführungsbedingungen, Publikum und Funktion der französischen Heldenepik jedoch eine gewisse Skepsis angebracht. Denn beide entstammen, was in der Forschung nicht immer beachtet worden ist, 18 an bestimmten fachtheoretischen Fragestellungen interessiertem Schrifttum, das Aussagen über französische Viten- und Epenliteratur im Sinne seiner Theorien jeweils funktional einsetzt. Unabhängig vom Realitätsgehalt des Geschilderten fällt allerdings auf, dass in beiden Texten, die aus unterschiedlichen Zusammenhängen kommen und nicht zur gleichen Zeit entstanden, Chansons de geste und Viten zwar als eigene Textsorten aufgefasst werden (ansonsten hätte man auf die entsprechende Differenzierung [gesta principium et vitas sanctorum bzw. vita beati Stephani protomartyris et historia regis Karoli] wohl verzichten können), dass andererseits jedoch eine enge Affinität von vita und gesta bzw. historia sowohl von Thomas von Chobham als auch von Johannes de Grocheo als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Vita und Chanson de geste erscheinen in beiden theoretischen Schriften gleichsam als zwei Seiten einer Medaille. 19 Chanson de geste und Legende in der Romania 265 16 Ebd., S. 50. 17 Ebd. 18 Zu Grocheo vgl. etwa Wolf-Dieter L ange , Art. Chanson de geste In: LexMA 2 (1999), Sp. 1703-1707, hier Sp. 1706: «An dieser [...] Äußerung fällt auf, daß die afrz. Epik nicht primär für ein ritterl. Publikum bestimmt war. [...] Das Heldenlied wurde also offensichtl. zu polit. Zwecken herangezogen, es entspannte seine nicht aristokrat. Zuhörer und engagierte sie zugleich im nationalen Kampf.» 19 Eine Rezeption französischer Epen im kirchlichen und/ oder klösterlichen Umfeld, die schon B édier s Thesen zugrunde lag, vermutet nach dem Studium der entsprechenden, z.T. gerade angeführten Zeugnisse jetzt wieder Paula L everage : The Reception of the Chansons de Geste. In: Olifant 25 (2006), S. 299-312. Zu musiktheoretischen Beziehun- <?page no="276"?> Bei allen unübersehbaren formalen und thematischen Affinitäten, die mittelalterlichen wie modernen Rezipienten offenkundig nicht verborgen blieben, existieren selbstverständlich auch gravierende Unterschiede zwischen den frühen französischen Viten/ Legenden und den kontemporären Chanson de geste-Dichtungen. Der möglicherweise bedeutendste liegt in der Auffassung vom Kampf und vom Kämpfen. Während die Viten militia Christi im traditionellen Sinn als geistlich-geistigen Kampf gegen verschiedenste weltliche Anfeindungen verstehen, körperliche Gewalt also, ganz im Sinne der christlichen Lehre, negativ konnotiert ist, wird militia Christi in den Chansons de geste - zweifellos im Zusammenhang des im 11. Jahrhundert entstehenden Kreuzzugsgedankens und der Neudefinition der militia Christi durch Bernhard von Clairvaux - als legitimer bewaffneter Kampf gegen die Feinde der Christenheit verstanden. Sie ist folglich mit Gewalt, Verwundung und Tod, mit körperlicher Mühsal und Leid verbunden. Eben das aber verzahnt beide Genres dann doch wieder eng miteinander. Denn körperliche Mühsal und Leid haben nicht allein die Epenhelden zu erdulden, sondern ebenfalls die unter Verfolgungen, Martern und (freiwilliger) Askese leidenden Heiligen der Vitenliteratur. W. Haubrichs hat diesen Sachverhalt in einer instruktiven Studie unter das Schlagwort ‹labor heroum und labor sanctorum› gestellt. 20 Dabei geht er davon aus, dass sich im frühen Mittelalter dezidiert geistliche Texte die Nähe von heros und sanctus zunutze gemacht hätten, um christliche Glaubensinhalte in den überkommenen Bildern und Formeln der heldenepischen Literatur zu transportieren. Ganz in diesem Sinne werde etwa der Kreuzestod Christi in einem aus dem 8. Jahrhundert stammenden angelsächsischen Text über das Kreuzesholz (Dream of the Rood) beschrieben, wenn es dort heißt: «Der junge Held (haelid) bereitete sich vor [...] stark und tapfer bestieg er des Kreuzes Höhe, hohen Mutes - wie viele sahen -, denn er wollte die Menschheit befreien». 21 Ganz ähnlich interpretiert Haubrichs den Eingang des um die 266 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption gen zwischen französischer Chanson de geste und geistlichen Gesängen vgl. Jacques C hailley : L’école musical de Saint Martial de Limoges jusqu’a la fin du XI e siècle. Paris 1960, bes. Kap. III: Saint Martial et l’origine des chansons de geste; vgl. auch ders .: Histoire musicale du Moyen Age. Paris 2 1969, bes. S. 89-98. Eine enge Verbindung zwischen bestimmten Chanson de geste-Motiven und lateinischen Hymnen sowie anderen liturgischen Texten vermutet Dorothea K ullmann : «Père Jhesu.» Überlegungen zu einer theologisch bedenklichen Ausdrucksweise in den Chansons de geste. In: Literatur. Geschichte und Verstehen. Festschrift für Ulrich Mölk zum 60. Geburtstag, hg. v. Hinrich Hudde u. a. Heidelberg 1997 (Studia Romanica 87), S. 221-238. 20 Wolfgang H aubrichs : ‹Labor sanctorum› und ‹labor heroum›. Zur konsolatorischen Funktion von Legende und Heldenlied. In: Die Funktion außer- und innerliterarischer Faktoren für die Entstehung deutscher Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Christa Baufeld. Göppingen 1994 (GAG 603), S. 27-49. Eine prinzipielle Nähe heroischer und hagiographischer Stoffe betont auch Klaus von S ee : Was ist Heldendichtung? In: ders. (Hg.): Europäische Heldendichtung. Darmstadt 1978 (WdF 500), S. 1-37, bes. S. 10 und 28. 21 Zitiert nach H aubrichs , ebd., S. 32. <?page no="277"?> Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert entstandenen althochdeutschen Georgslieds, wo der mare crabo Gorio (‹der berühmte Graf Georg›), in heroischen Formeln dargestellt, mit mächtigem Kriegsvolk vor den [heidnischen] König zieht und seinen harten muot erst allmählich, im Verlauf des Liedes, als den heroischen Geist des Märtyrers enthüllt. 22 Die in frühmittelalterlicher Literatur sich manifestierende ‹Ausbeutung› heldenepischer Erzählweisen für geistliche Intentionen, etwa die Betonung einer Affinität zwischen epischen und christlichen Helden, die jeweils Mühe (labor) und Leid (passio) ertragen müssen, sei, in einer gleichsam gegenläufigen Bewegung, ab dem späteren 12. Jahrhundert dann von (geistlich gebildeten) Autoren dazu benutzt worden, der buchepisch werdenden weltlichen Heroik höhere Akzeptanz und Legitimation in einem klerikal-literalen Umfeld zu verschaffen. Jene besondere Gewichtung von passio und labor in buchepischer Literatur hätte sich nach Haubrichs beispielsweise in der auffälligen Akzentuierung des labor heroum in Form grôzer arebeit in der Eingangsstrophe der C-Fassung des Nibelungenlieds niedergeschlagen und unter Umständen ebenso in der aus der Dietrichepik bekannten Konzeption des armen Dietrîch. 23 Wohl noch besser als am Beispiel der deutschen Heldenepik, in der die christliche Variante des hagiographischen Diskurses lediglich in rudimentärer Form erscheint und die folglich «nur noch im Abglanz an der heiligen passio teilhat», 24 lässt sich die Transposition des konsolatorischen Konzepts der heiligen Mühsal bzw. der Mühsal der Heiligen auf buchepische Heroik an der französischen Heldenepik demonstrieren. 25 Exemplarisch zu verdeutlichen ist das Konzept z. B. an der als «ästhetisch überragendes Beispiel klerikaler Funktionalisierung des Epischen» 26 charakterisierten Chanson de Roland, in der insbesondere Roland, aber auch die anderen im Heidenkampf gefallenen christlichen Krieger zu Märtyrern stilisiert sind, die ihr Leben um des Glaubens willen hingeben. Auch das den Text durchziehende Motiv des leidenden, oft Tränen vergießenden Charlemagne, das vor allem nach Rolands heiligmäßigem Tod dominierend wird, und auf das (in der Oxforder Fassung) noch einmal in der Schlusswendung, also an sehr prominenter Stelle, verwiesen wird im Bild des seine Mühsal beweinenden Königs (ChdR 4000f.: ‹Deus! › dist Chanson de geste und Legende in der Romania 267 22 Ebd., S. 33. 23 Vgl. ebd., S. 44f. (zum Nibelungenlied) und S. 49, Anm. 54, allerdings nur vorsichtig erwägend, zur Dietrichepik. 24 Ebd., S. 37. Kritisch dazu Elisabeth L ienert : Der Körper des Kriegers. Erzählen von Helden in der ‹Nibelungenklage›. In: ZfdA 130 (2001), S. 127-142, hier S. 141f. 25 H aubrichs unternimmt dies indirekt, wenn er eine Reihe lateinischer Autoren - darunter Thomas von Chobham und Johannes de Grocheo - anführt, die in ihren Schriften auf die Möglichkeit einer auch konsolatorischen Lesart der Chanson de geste anzuspielen scheinen; vgl. H aubrichs , ‹Labor sanctorum›, S. 37-43. 26 W olfzettel , Traditionalismus innovativ, S. 14. <?page no="278"?> li reis, ‹si penuse est ma vie! ›/ Pluret des oilz, sa barbe blanche tiret), 27 lässt sich möglicherweise als bewusstes Ineinanderspielen von labor sanctorum und labor heroum verstehen. 268 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 27 Übersetzung (nach W. Steinsieck): «Gott«, sagte der König, «wie mühselig ist mein Leben»./ Er vergießt Tränen, und er rauft seinen weißen Bart. <?page no="279"?> B.2 Französische Heldenepik in Oberdeutschland - Die Hagiographisierung des Epischen Nach den bisherigen Ergebnissen stellt sich für eine Untersuchung der oberdeutschen Chanson de geste-Tradition die Frage, wie mit dem Rolandslied verfahren werden soll. Der Text müsste eigentlich zur Chanson de geste- Tradition der deutschsprachigen Nideren Lande gerechnet werden und wäre folglich im entsprechenden Abschnitt zu behandeln. Andererseits bildet das Rolandslied zweifellos die Folie, vor der Wolframs Willehalm zu lesen ist und stellt die direkte Vorlage für Strickers Karl dar, der seinerseits wiederum die Hauptquelle für das Buch vom heiligen Karl liefert. Insofern ist das Rolandslied ein Basistext auch für die oberdeutsche Chanson de geste-Rezeption. In dieser Funktion soll es daher den Ausgangspunkt einer Erarbeitung charakteristischer Merkmale der oberdeutschen Chansons de geste bilden; im Abschnitt über die Chanson de geste-Rezeption in den Nideren Landen wird auf den Text aber noch einmal zurückzukommen sein. Der wohl auffälligste und wichtigste Unterschied zwischen der Chanson de Roland und dem Rolandslied ist von der Germanistik bereits früh erkannt und seitdem in immer neuen Arbeiten bestätigt und interpretatorisch fruchtbar gemacht worden. Die Rede ist von der sogenannten ‹Vergeistlichungstendenz› des deutschen Textes. 1 Diese Spiritualisierung zeigt sich an einer ganzen Reihe von Änderungen, durch die das Rolandslied die auch in der Chanson de Roland bereits nachweisbaren hagiographischen Deutungsmuster noch wesentlich deutlicher herausstreicht. Anders als die Chanson de Roland beginnt das Rolandslied beispielsweise mit einem Prolog, wie man ihn aus theologischem Schrifttum, insbesondere aus Legenden kennt (RL 1-16). 2 Der Autor bittet den Schöpfergott darin um inspirierende Hilfe für die zu erzählende Geschichte und delegiert damit zugleich die Verantwortung für deren Wahrheitsgehalt an Gott. Sehr schnell macht der Prolog klar, was im Zentrum der nachfolgenden Erzählung stehen wird. Sie handelt von einem tiurlîchen man, wie er daz gotes rîche gewan. daz ist Karl, der keiser RL 9-11 Französische Heldenepik in Oberdeutschland 269 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption Französische Heldenepik in Oberdeutschland 1 Vgl. dazu schon die ältere Studie von Gabriele G latz : Die Eigenart des Pfaffen Konrad in der Gestaltung des christlichen Heldenbildes dargestellt auf Grund eines Vergleiches mit sämtlichen überlieferten Handschriften der altfranzösischen Chanson de Roland. Diss. (masch.) Freiburg 1948; vgl. auch Waltraut Ingeborg G eppert : Christus und Kaiser Karl im deutschen Rolandslied. In: PBB (Tüb.) 78 (1956), S. 349-373; Herbert B ackes : Bibel und Ars praedicandi im Rolandslied des Pfaffen Konrad. Berlin 1966 (Philologische Studien und Quellen 36), H ennings , Französische Heldenepik, S. 107f. 2 Vgl. dazu auch S chmitt , Inszenierung, S. 23-28. <?page no="280"?> Als Grund für Karls Aufnahme in daz gotes rîche wird sein Kampf gegen die Heiden angeführt. «Die drei Aspekte: Gottesnähe, Heidenkampf, Gewinn der Seligkeit, geben der Karlsdarstellung im deutschen Rolandslied auch im weiteren ihre spezifische Prägung.» 3 Erst nach diesem Prolog werden die aus der Chanson de Roland bekannten Ereignisse geschildert, denen in der deutschen Fassung allerdings noch eine längere Erzählpartie vorgeschaltet ist. Demnach habe ein Bote Gottes Karl während eines inständigen Gebets dazu aufgefordert, Spanien von den Heiden zu befreien (RL 47-66). Karl versammelt daraufhin ein Heer und hält vor dieser Heeresversammlung von einer Anhöhe herab eine Ansprache, die alle Kennzeichen zeitgenössischer Kreuzzugspredigten aufweist (RL 180-221). So fehlt weder der Bezug auf einschlägige Bibelstellen wie Mt. 19,29, swer wîp oder kint lât, hûs oder eigen, daz wil ich iu bescaiden, wie in got lônen wil: er gît ime zehenzec stunt sam vil, dar zuo sîn himelrîche RL 184-89 noch fehlt der typische Hinweis auf Boshaftigkeit und Grausamkeit der heidnischen Götzendiener, die Christen im heiligen Land schrecklich misshandeln würden (RL 199-209). 4 Nur folgerichtig erscheint es da, dass die Heeresversammlung die kerygmatische Ansprache des Kaisers mit einem einstimmigen ‹Amen› beantwortet (RL 222). Nachdem auch Bischof Turpin die von ihm als heilige pilgerîme (RL 245) Angesprochenen aufgefordert hat, sich das Kreuz anzuheften, bricht das Heer auf und erobert in mehreren Schlachten das gesamte heidnische Spanien - bis auf Saragossa. Etwa mit Vers 361 ist der deutsche Text dann am Beginn der Chanson de Roland angelangt. Etwas deplatziert inmitten jener militärisch-asketischen Kreuzzugs- und Märtyrerideologie, wie sie die deutsche Adaptation durchzieht, 5 wirkt die sogenannte Hoflager-Passage. In einer gegenüber der französischen Quelle er- 270 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 3 Annette G erok -R eiter : Figur und Figuration Kaiser Karls. Geschichtsbewußtsein in Rolandslied und Willehalm. In: Ars und Scientia im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Ergebnisse interdisziplinärer Forschung. Georg Wieland zum 65. Geburtstag, hg. von Cora Dietl, Dörte Helschinger. Tübingen, Basel 2002, S. 173-191, hier S. 180. 4 Vgl. C ramer, Kreuzzugspredigt; Ursula S chwerin : Die Aufrufe der Päpste zur Befreiung des Heiligen Landes von den Anfängen bis zum Ausgang Innozenz IV. Ein Beitrag zur Geschichte der kurialen Kreuzzugspropaganda und der päpstlichen Epistolographie. Diss. Berlin 1936. 5 Vgl. dazu auch Ulrich E rnst : ‹Kollektive Aggression› in der Chanson de Roland und im Rolandslied des Pfaffen Konrad. Die Idee des Gottesfriedens als Legitimationsmodell für Reconquista und welfische Expansionspolitik. In: Euphorion 82 (1988), S. 211-225; Martin P rzybilski : Ein Leib wie ein Fels oder: Von der Schönheit des Blutvergießens. Gewalt und Ästhetik im Rolandslied des Pfaffen Konrad. In: Euphorion 101 (2007), S. 255-272. <?page no="281"?> heblich erweiterten Szene empfängt Karl dort die das heimtückische Unterwerfungsangebot des heidnischen Königs Marsilie überbringenden Boten in einer Umgebung, die durch alle Attribute höfischer Zerstreuung gekennzeichnet ist (RL 641-708). Als die Boten sich Karls Lager nähern, erblicken sie eine Art Park, in dem Löwen und Bären miteinander kämpfen, Ritterspiele ausgetragen, Saitenspiel und Lieder vorgetragen werden; sie sehen Adler, die dazu abgerichtet sind, Schatten zu spenden und sie gewahren viele edle, schön gekleidete Frauen. Eine solche Pracht, so versichert der Text, habe es seit Salomos Zeiten nicht mehr gegeben. Karl selbst sitzt über eine Schachpartie gebeugt; dem Glanz seiner Augen, die wie Sterne leuchten, können die heidnischen Gesandten nicht standhalten. Unverständnis hat an dieser Szene, neben den rätselhaften schattenspendenden Adlern, 6 immer wieder die Anwesenheit von Frauen in Karls Hoflager hervorgerufen, die überhaupt nicht mit der sonst vorherrschenden Kreuzzugsatmosphäre des Textes zu harmonieren scheint. 7 Doch auch diese Schilderung betont, wie A. Gerok-Reiter gezeigt hat, unter bestimmten Bedingungen die «sakrale Herrlichkeit des Herrschers in bildlicher, formaler und ideologischer Hinsicht», nämlich dann, «wenn der Hof nicht als ein dem Herrscher Äußerliches aufgefaßt wird, sondern gleichsam als sein erweiterter Körper.» Die überaus prächtige, alle Bedingungen höfischer Idealität erfüllende Darstellung des Hofes dient dann als «Projektionsfläche, auf der die metaphysische Legitimation seiner [i. e. Karls] Herrschaft erst eigentlich zur Erscheinung kommen kann.» 8 Die Hoflagerszene gibt damit Französische Heldenepik in Oberdeutschland 271 6 Vgl. zu den bisherigen Deutungsversuchen der schattenspendenden Adler den Kommentar bei K artschoke , Rolandslied-Ausgabe, S. 652. 7 Vgl. zur Hoflagerpassage den Kommentar bei K artschoke , ebd., S. 649-655; vgl. auch Horst R ichter : Das Hoflager Kaiser Karls. Zur Karlsdarstellung im deutschen Rolandslied. In: ZfdA 102 (1973), S. 81-101. 8 Annette G erok -R eiter : Der Hof als erweiterter Körper des Herrschers. Konstruktionsbedingungen höfischer Idealität am Beispiel des Rolandsliedes. In: Courtly Literature and Clerical Culture. Selected papers from the Tenth Triennial Congress of the International Courtly Literature Society. Hg. v. Chr. Huber u. H. Lähnemann. Tübingen 2002, S. 77-92, hier S. 84 und 89. Zur sakralen Aufladung der Herrscherdarstellung passt insbesondere auch das in diesem Abschnitt begegnende rätselhafte Bild der schattenspendenden Adler. Denn Adler, die einem außergewöhnlichen Menschen Schatten spenden oder ihre Flügel zum Schutz vor Regen ausbreiten und solcherart den göttlichen Schutz und die Auserwähltheit eines Heiligen bezeugen, gehören zum geläufigen hagiographischen Motivinventar der Zeit. In dieser Funktion begegnen Adler etwa, um einen zeitlich nah am Rolandslied liegenden volkssprachigen Text zu wählen, im Servatius Heinrichs von Veldeke (Heinric van Veldeken, Sente Servas. Hg. und übers. von Jan Goossens, Rita Schlusemann und Norbert Voorwinden. Münster 2008 [BIMILI III], V. 1900- 1943) oder in den lateinischen Legenden des heiligen Bertolf und des heiligen Medard; vgl. dazu Hippolyte D elehaye : Die hagiographischen Legenden. Kempten, München 1907, S. 30. Das Motiv des schattenspendenden Adlers gehört gleichfalls zum Grundbestand byzantinischer Hagiographie, Chronistik und Ikonographie. Ein Adler, der einem in der Sonne liegenden Menschen (oft, aber nicht immer, einem Kind) Schatten spendet, zeigt dabei regelmäßig die spätere, gottgewollte Berufung dieses Menschen zum Basileios, <?page no="282"?> erste Hinweise darauf, dass zur Modellierung der zentralen Figur des Rolandslieds, und damit des Textes insgesamt, unabhängig von der französischen Vorlage auf unterschiedliche Diskurse zurückgegriffen wird. Am Beispiel der Karlsfigur lässt sich exemplarisch aufzeigen, mit welchen Mitteln die Stoffvorgabe des französischen Textes, hier also die Darstellung Charlemagnes als miles Christi und Sarazenenbezwinger, einem deutschen Publikum vermittelt wird. Blickt man über die erste Bearbeitung einer französischen Chanson de geste im deutschen Sprachgebiet hinaus, bietet sich die Gestalt Karls des Großen in einer Studie über die deutsche Rezeption französischer Heroik nicht zuletzt auch deshalb an, weil sie, gleichsam als Mittelpunkt des gesamten Genres, 9 ein Verbindungsglied zwischen sämtlichen europäischen Chanson de geste-Traditionen darstellt und somit auch in allen drei Phasen deutscher Chanson de geste-Rezeption begegnet. Die Karlsfigur funktioniert als eine Art Brennglas, in dem sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Typen deutscher Chanson de geste-Bearbeitungen konzentrieren. B.2.1 der Cristenheyt als nücz ... als kein czwelffbott - Karl in oberdeutschen Chanson de geste-Adaptationen Der zentralen Thematik des Rolandslieds entsprechend agiert Karl in diesem Text als Kreuzritter. Untersucht man aber näher, wie der als Idealkönig präsentierte Karl sich auf dem Kreuzzug gegen die spanischen Heiden verhält, macht man eine überraschende Entdeckung: Karl erweist sich, im Rolandslied noch stärker als in der Chanson de Roland, als ein anscheinend etwas zögerlicher miles Christi, der in beiden Texten, denen es wahrlich nicht an drastischen Schlachtschilderungen mangelt, nur selten sein Schwert gebraucht. 10 Zwar behauptet in der Chanson de Roland Marsilie, der Anführer der spanischen Sarazenen, dass Karl bislang schon viele Schläge auf seinen Schild erhalten und eine Reihe von heidnischen Königen erschlagen habe, 11 ein Motiv, das in die deutsche Fassung nicht übernommen wurde, innerhalb der Handlung selbst erscheint 272 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption zum Kaiser, oder zum Heiligen, oft auch zum Kaiser und Heiligen an; vgl. das reiche Text- und Bildmaterial in Gyula M oravçsik : Sagen und Legenden über Kaiser Basileios I. In: ders .: Studia Byzantina. Amsterdam 1967, S. 147-220, bes. S. 170-176. 9 Vgl. H orrent, L’histoire poétique, S. 57: «Charlemagne domine toute la geste française médiévale.» 10 Vgl. zum Folgenden ausführlicher meinen Beitrag: Heros und Heiliger - Literarische Karlbilder im mittelalterlichen Frankreich und Deutschland. In: F.-R. Erkens (Hg.): Karl der Große und das Erbe der Kulturen. Akten des 8. Symposiums des Mediävistenverbandes, Leipzig 15.-18. März 1999. Berlin 2001, S. 197-220. 11 ChdR 553-556: Par tantes teres est alet cunquerant,/ Tanz colps ad pris de bons espiez trenchanz,/ Quant ier il mais d’osteier recreant? Übers. nach W. Steinsieck: Durch so viele Länder ist er als Eroberer gezogen, so viele Schläge von guten scharfen Spießen hat er hingenommen, so viele mächtige Könige hat er getötet und im Felde besiegt, wann wird er jemals des Kriegführens überdrüssig sein? <?page no="283"?> Karl jedoch nur in wenigen Passagen als aktiv Kämpfender. In der ersten dieser Szenen kommt er im Verlauf der Racheschlacht dem durch Canabeus, einen Bruder des heidnischen Oberkönigs Baligan, schwer bedrängten Herzog Naimes zur Hilfe und rettet ihm im letzten Augenblick das Leben, indem er den Heiden tötet 12 - ein Akt, der sich wohl als Notwehr auslegen lässt. So scheint es jedenfalls der deutsche Bearbeiter verstanden zu haben, wenn er Karls Funktion als Retter in höchster Not noch dadurch unterstreicht, dass er dem Geretteten entsprechende Dankesworte in den Mund legt: er [Naimes] sprach: got selbe müeze dir lônen. vil nâch was ich dem tôde. RL 8353f. In der Chanson de Roland benutzt Karl sein Schwert auch im weiteren Verlauf der Racheschlacht - allerdings scheint es dazu erst der nachdrücklichen Aufforderung von Ogier zu bedürfen, der Karl, als dessen Armee vor einem Ansturm der Heiden auseinanderzubrechen droht, klarmacht, ja ihn geradezu anherrscht, dass er als gekrönter König vor Gott unwürdig sei, wenn er nicht unverzüglich eingreife, um die Schande zu rächen. Daraufhin stürzt Karl sich in die Schlacht. 13 Im Unterschied zu den bekannten Chanson de Roland-Versionen 14 fehlt diese Szene in der deutschen Adaptation. Es scheint sich demnach um einen gezielten Eingriff des deutschen Bearbeiters zu handeln, wenn sich an analoger Stelle, zwischen Karls Einsatz für Naimes und seinem Kampf Französische Heldenepik in Oberdeutschland 273 12 ChdR 3443-3450: Carles de France i vint, kil succerat./ Naimes li dux tant par est anguissables,/ E li paiens de ferir mult le hastet./ Carles li dist: «Culvert, mar le baillastes! »/ Vait le ferir par sun grant vasselage: / L’escut li freint, cuntre le coer li quasset,/ De sun osberc li desrumpt la ventaille,/ Que mort l’abat: la sele en remeint guaste. Übers. nach W. Steinsieck: Karl vom Frankenreich, der ihm zu Hilfe eilen wird, kommt dorthin. Herzog Naimes ist in höchster Not, und der Heide zwingt ihn [den König], schnell zuzuschlagen. Karl sagt zu ihm: «Schurke, zu Eurem Unglück habt ihr ihm so zugesetzt.» Mit all seiner Tapferkeit greift er ihn an, zerschlägt ihm seinen Schild, den er ihm auf dem Herzen zerschmettert, zertrümmert ihm den Kinnschutz seines Panzerhemdes, so dass er ihn tot niederstreckt: der Sattel bleibt leer. 13 ChdR 3531-3543: Li quens Oger cuardise n’out unkes; / Meillor vassal de lui ne vestit bronie./ Quant de Franceis les escheles vit rumpre,/ Si apelat Tierri, le duc d’Argone,/ Gefrei d’Anjou de Jozeran le cunte; / Mult fierement Carlun en araisunet: / «Veez paien cum ocient voz humes! / Ja Deu ne placet qu’el chef portez corone,/ S’or n’i ferez pur venger vostre hunte! »/ N’i ad icel ki un sul mot respundet: / Brochent ad eit, lor cevals laissent cure,/ Vunt les ferir la o il les encuntrent./ Mult be i fiert Carlemagnes li reis. Übers. nach W. Steinsieck: Graf Ogier war niemals feige; kein besserer Vasall als er hat jemals eine Brünne getragen. Als er sah, wie die Abteilungen der Franken auseinanderbrachen, rief er Thierry, den Herzog von Argonne, herbei, Geoffroy von Anjou und den Grafen Jozeran; höchst aufgebracht wendet er sich an Karl: «Seht die Heiden, wie sie eure Männer töten! Gott möge verhüten, dass ihr auf eurem Haupt eine Krone tragt, wenn ihr jetzt nicht dreinschlagt, um eure Schmach zu rächen! » Niemand erwidert auch nur ein einziges Wort. Sie geben kräftig die Sporen, lassen ihre Pferde losstürmen und greifen sie an, wo sie sie treffen. König Karl der Große schlägt gewaltig drein. 14 Verglichen wurden die Fassungen V 4 , V 7 , Châteauroux und Paris. <?page no="284"?> gegen Paligan, eine mit biblischer Typologie durchsetzte Bitte Karls an Gott findet, die Sonne nicht untergehen zu lassen, bis Rolands Tod gerächt sei (RL 8416-8438) - ein Wunsch, den Karl bei der Verfolgung der sarazenischen Truppen, die seine Nachhut vernichtet hatten, schon einmal äußerte, und der ihm durch ein göttliches Wunder auch gewährt worden war (RL 7017-7027). Der deutsche Text akzentuiert durch diese Änderung einmal mehr Karls Stellung als Auserwählter Gottes, Karls Rolle als Kämpfer wird dagegen zurückgenommen. Änderungen gegenüber den französischen Fassungen finden sich ebenfalls in der Schilderung des schlachtentscheidenden Zweikampfes zwischen Karl und Baligant/ Paligan. Wie im französischen (vgl. ChdR 3602-3620) ringen auch im deutschen Text beide lange Zeit erbittert miteinander, und wie in der Chanson de Roland verlassen auch in der deutschen Adaptation Karl langsam die Kräfte, so dass der Heide zu obsiegen scheint (vgl. RL 8439-8451). Während in der Chanson aber der Erzengel Gabriel den König in diesem Moment fragt, was er denn tue: Reis magnes, que fais tu? (ChdR 3611), und allein dieser kurze Kontakt mit dem Himmel Karl wieder Mut schöpfen lässt, so dass er mit einem gewaltigen Hieb dem heidnischen Oberkönig den Schädel spalten kann, spricht in der gleichen Situation im Rolandslied eine himmlische Stimme ausführlicher zu Karl und fragt: wes sparstû den man? diu urtaile ist über in getân. verfluochet ist al sîn tail. got gît dir daz hail. dîne vîante geligent unter dînen füezen. RL 8545-8549 Von höchster Stelle wird der Anführer der Christenheit damit explizit aufgefordert, seinen heidnischen Gegner nicht zu verschonen. Nach jener ausdrücklichen Erlaubnis zu töten, die zugleich als Exkulpierung Karls zu verstehen ist, verneigt der Anführer der Christen sich zunächst vor dem Himmel und holt erst anschließend zum tödlichen Schlag aus (vgl. RL 8550-8562). Am Himmel erscheint im gleichen Moment ein Licht, was wohl das göttliche Einverständnis zu dieser Handlung signalisieren dürfte: (RL 8563: von himele kom den christen ain liecht). Vergleichbar zur französischen Vorlage kämpft Karl also auch im Rolandslied nur in Ausnahmefällen. Anders als in der Chanson de Roland wird der Ausnahmecharakter dieser Situationen jedoch noch schärfer konturiert. Hinter dem Bild des nur selten und stets in speziellen Zusammenhängen sein Schwert gebrauchenden Königs verbirgt sich eine Auffassung, die schlaglichtartig erhellt, vor welchem Hintergrund die Person Karls des Großen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, also genau zur Zeit seiner Kanonisation, vom deutschen Bearbeiter des Karl-Stoffes verstanden und literarisch umgesetzt werden konnte. In zwei dem Rolandslied zeitlich nahestehenden, doch anderen Erzählregistern zugehörigen Werken lassen sich ganz ähnliche litera- 274 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption <?page no="285"?> rische Stilisierungen sehr viel unverstellter beobachten und deuten. Der eine dieser Texte ist die um 1150 entstandene Kaiserchronik. Dort bildet die ausgewählte Taten Karls beschreibende Partie (Kchr 14282-15091) den längsten einem Herrscher gewidmete Einzelabschnitt im gesamten Text. Der Hauptakzent liegt dabei auf der Darstellung von Karls überaus engen Kontakten zu Gott. Bereits vor der 1165 erfolgten Kanonisation galt Karl demnach, mindestens den Verfassern der Kaiserchronik, als ein Vermittler des göttlichen Heils auf Erden und somit als ein heiligmäßiger König. 15 An bestimmten Zügen des Karlsbildes lässt sich nun recht genau ablesen, in welche Traditionslinie die Kaiserchronik den offenkundig als heiligmäßig erachteten Herrscher stellt. In der Episode um den von aufständischen Römern geblendeten Papst Leo, der in der Kaiserchronik als Bruder Karls dargestellt wird (Kchr 14412- 14756), zieht Karl, nachdem ihn der blinde Papst in Ingelheim aufgesucht hatte, unverzüglich nach Italien, um die Römer zu bestrafen. 16 Endlich am Ziel der mühsamen Heerfahrt angekommen, macht er jedoch kurz vor den Toren Roms Halt und erklärt, dass er ohne die Einwilligung Gottes den Kampf nicht aufzunehmen gedenke (Kchr 14582-14584). Wenig später spricht dann eine himmlische Stimme zu Karl und befiehlt ihm, in die Stadt einzureiten und Rache zu üben: ‹got von himele gebiutet dir chunig niht langer dû nebît, hin ze Rôme dû rît. diu urtaile ist vor gote getân diu râche sol uber si regân›. Kchr 14591-14596 Erst nach dieser ausdrücklichen Aufforderung, die in einigen Formulierungen stark an die bereits beschriebene Szene des Rolandslieds erinnert, in der eine Stimme Karl vor der Erschlagung Paligans das Einverständnis des Himmels signalisiert (vgl. RL 8545-8549), besetzt der König die Stadt und statuiert an den für die Erhebung gegen den Papst Verantwortlichen ein schreckliches Exempel (14683-14688), die Unschuldigen bleiben hingegen verschont. Die Verfasser der Kaiserchronik haben sich augenscheinlich sehr bemüht, das unweigerlich mit Kampf und Blutvergießen verbundene Eingreifen des Königs sorgfältig zu legitimieren und auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken. Auch die weiteren Eroberungen des nunmehr zum Kaiser gekrönten Karl werden nur knapp referiert, ebenso wie Karls Zug gegen das nordspanische Galatiâm und die daraus resultierende Vernichtung der Nachhut des christlichen Heeres lediglich in charakteristischer Abwandlung Erwähnung finden (Kchr 14915-14920). Das in diesem Zusammenhang von anderen Quellen genannte blutige Ringen der christlichen Kämpfer und Märtyrer fehlt Französische Heldenepik in Oberdeutschland 275 15 Zur Auseinandersetzung mit der Rolle Karls in der Kaiserchronik vgl. auch G eith, Carolus Magnus, S. 48-83; H erkommer , S. 247; P etersen sowie N eudeck und G oerlitz. 16 Vgl. G eith, Carolus Magnus, S. 60-66. <?page no="286"?> beispielsweise vollständig, obschon den Verfassern der Kaiserchronik die entsprechende literarische Tradition, eventuell aus dem etwas früher entstandenen Pseudo-Turpin, bekannt gewesen zu sein scheint, 17 wie bestimmte Motivähnlichkeiten und Situationsanalogien nahelegen. 18 Um so gravierender ist es zu bewerten, wenn sich diese Episode jener Tradition ganz gezielt verweigert und statt dessen ein anderes Modell präferiert, durch das Karls Rache an den zunächst siegreichen Heiden beschrieben wird (vgl. Kchr 14925-14988): Von einem Engel wird der nach der Niederlage weinende und seine Sünden beklagende Kaiser getröstet und erhält den Auftrag, ein Heer junger Mädchen auszurüsten und zu den Pyrenäen kommen zu lassen (Kchr 14921-14938). 19 Karl folgt den Anweisungen des Himmels unverzüglich, und als heidnische Kundschafter aus einiger Entfernung später die anrückenden Mädchen in ihren Rüstungen beobachten, halten sie sie fälschlicherweise für einen Verband austrainierter junger Kämpfer, die Karl zur Vergeltung heranführe. Mit den Worten: sie sint grôz umbe die bruste (Kchr 14967) warnen die heidnischen Späher ihren König vor einer Schlacht gegen die vermeintlichen Krieger, woraufhin der Anführer der Heiden sich kampflos ergibt und zum Christentum bekehrt. Diese Passage muss im Zusammenhang mit der bereits besprochenen Episode um die Bestrafung der aufständischen Römer betrachtet werden. Denn genau wie dort soll Karl offenkundig ebenfalls hier als Herrscher präsentiert werden, der, wenn überhaupt, nur in außergewöhnlichen Situationen und mit der Einwilligung Gottes das Schwert gebraucht, ja, dem Gott es zuweilen sogar durch ein Wunder erspart, seine Feinde, gegen die christliche Ethik, töten zu müssen und ihm statt dessen einen kampflosen Sieg schenkt. Als Quintessenz jener Episode versichert der Text dann auch in aller Deutlichkeit: alse tet in got sigehaft/ âne stich unt âne slach (Kchr 14985f.). Das im Karlbild der Kaiserchronik auszumachende Modell des demütigen, friedliebenden, Krieg und Gewalt abholden Herrschers, dem Gott im Kon- 276 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 17 Die Chronik von Karl dem Großen und Roland. Der lateinische Pseudo-Turpin in den Handschriften aus Aachen und Andernach. Ediert, kommentiert und übersetzt von Hans- Wilhelm K lein . München 1986 (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters 13). 18 Die Ähnlichkeiten mit dem Pseudo-Turpin sind in dieser Passage so auffallend - vgl. neben der strukturellen Analogie eines kriegerischen Zuges nach Galatiam etwa auch das Wunder der blühenden Lanzen (Kchr 14989-15004), den Verweis auf die gleichfalls aus dem Pseudo-Turpin bekannte porta Caesaris (14943) oder das Karles tal (Kchr 14951) - dass G eith s Annahme, die Verfasser der Kaiserchronik hätten den Pseudo-Turpin nicht benutzt, sondern beide Texte gingen auf gleiche oder verwandte Quellen zurück, nicht unbedingt zwingend erscheint. Weder inhaltliche noch zeitliche Gründe (so die Argumentation von G eith , Carolus Magnus, S. 70-74) sprechen gegen eine Beeinflussung; vgl. zur Frage, ab wann der Pseudo-Turpin im deutschen Sprachraum bekannt wurde, Wolfgang D ecker : Über Rolandslied und Pseudo-Turpin. In: Euphorion 72 (1978), S. 133-142; Volker H onemann : Der Pseudo-Turpin und die deutsche Literatur des Mittelalters. In: Jakobus und Karl der Große. Von Einhards Karlsvita zum Pseudo-Turpin, hg. von Klaus Herbers. Tübingen 2003 (Jakobus-Studien 14), S. 161-172. 19 Vgl. dazu G eith, Carolus Magnus, S. 75-77. <?page no="287"?> fliktfall manchmal sogar einen unblutigen Sieg schenkt, ist aus der hagiographischen Literatur der Zeit gut bekannt. So wird etwa Heinrich II., der einzige andere deutsche König, der neben Karl zur Ehre der Altäre erhoben wurde (1146), in der nach einer lateinischen Vorlage von ca. 1145 gearbeiteten mittelhochdeutschen Legende von Heinrich und Kunegunde (um 1210/ 20) 20 in vergleichbaren Kategorien beschrieben, wenn von ihm behauptet wird: er gesîgete sunder vehten und âne aller slahte strît, doch machte er daz rîche wît. HuK 2088-2090 Noch auf dem Totenbett spricht Heinrich zu den um ihn versammelten Reichsfürsten im gleichen Sinn: ir habet mich ie geêret daz rîche ist wol gemêret von ûwer helfe nêhest gote. ich weiz ein dinc von sîme gebote: swie vil wir urlouge getriben daz wir al unschuldic bliben, unschuldic an der manslaht, uns hêre got ie fur uns vaht. HuK 2271-2278 Deutlich wird an der Legende Kaiser Heinrichs II. die Problematik einer Vereinbarkeit von idealer christlicher Lebensführung, wie Heinrich sie nach Meinung des Hagiographen mit seiner Demut, Askese und Gottesfürchtigkeit offenbar erfüllt, und dem für eine funktionierende mittelalterliche Herrschaft unablässigen politischen Handeln, das auf Gewaltanwendung, Kriegführung und die Tötung von Gegnern kaum verzichten kann. In Heinrichs Fall wurde dieses Dilemma vom Hagiographen bewältigt, indem er dem Kaiser militärische Auseinandersetzungen erspart, wenn z. B. auf dessen Gebet hin Wenden, Polen und Böhmen durch St. Georg, Laurentius und Hadrian ohne Blutvergießen besiegt werden (HuK 553-622), oder wenn Burgund durch ein göttliches Wunder Heinrich kampflos zufällt (HuK 2145-2174). 21 Französische Heldenepik in Oberdeutschland 277 20 Heinrich und Kunegunde von Ebernand von Erfurt, hg. von Reinhold Bechstein. Quedlinburg, Leipzig 1860; Vitae Heinrici et Cunegundis impp., hg. von Georg Waitz. MGH SS 4, S. 787-828. Zu Heinrich II. vgl. Bernd S chneidmüller: Neues über einen alten Kaiser? Heinrich II. in der Perspektive der modernen Forschung. In: Berichte des hist. Vereins Bamberg 133 (1997), S. 13-41; Stefan W einfurter : Heinrich der II. Herrscher am Ende der Zeiten. Regensburg 1999. 21 In der lateinischen Vita heißt es von Heinrich, Vitae Heinrici, S. 810: Et mirum, quod homo Dei, qui ecclesiasticas utilitates tanto studio et salutem animae suae flagrabat, in nullo provectum regni negligebat, quin immo sine effusione sanguinis, pietate et sapientia terminos regni sui dilatavit et imperialem dignitatem gloria et honore ampliavit et ornavit. [...] Burgundiorum quoque non humana sed divina fuit victoria [...] et sicut Moyses precibus magis quam armis triumphavit, ita gloriosissimus princeps per arma iusticiae omnia bella feliciter consummavit, ac minime funestam et incruentam semper habuit. <?page no="288"?> Schon seit der Spätantike war sich die (geistliche) Literatur der genannten Inkongruenzen zwischen christlichem Ideal und den Realitäten der Herrschaftsführung bewusst. Lange Zeit dominierte deshalb in hagiographischen und legendarischen Texten über Könige und Herrscher der Typus des quasi unpolitischen Monarchen, der sich nicht in weltliche Machthändel verstricken lässt, eher Gewalt duldet als sie selbst anzuwenden, eher den eigenen Tod erleidet als selbst zu töten. 22 Dieser Königstypus des leidenden, meist das Martyrium erduldenden Herrschers wird in der Forschung als ‹roi souffrant› bezeichnet. 23 Beispiele für jenen Typus sind die heilig gesprochenen angelsächsischen Könige Oswald und Edmund oder, in einer frühen legendarischen Tradition, der böhmische König Wenzel. Im späteren 11., mehr noch im 12. Jahrhundert zeichnet sich im Umfeld der Kreuzzüge dann aber allmählich ein neuer Typus des heiligmäßigen Herrschers ab, der das christliche und das adlig-kämpferische Ideal miteinander in Übereinstimmung zu bringen vermag. Gemeint ist das hagiographische Modell des im neuen, im kriegerischen Sinn verstandenen miles oder athleta Christi, der seine militärischen Fähigkeiten im Kampf für den christlichen Glauben einsetzen darf und soll. Einige der zuvor nach dem Muster des ‹roi souffrant› beschriebenen Könige, etwa Oswald und Edmund oder auch Wenzel, wurden in neu verfassten Legenden nunmehr nach dem aktuellen Muster des athleta Christi gezeichnet. Somit existierten im 12. Jahrhundert mehrere Vorstellungen eines idealen Königtums nebeneinander, die sich nicht völlig zur Deckung bringen ließen, sich teilweise sogar ausschlossen. Denn das beispielsweise in der Schilderung Heinrich II. sich manifestierende hagiographische Muster eines demütigen, asketisch-leidenden, keuschen und friedliebenden, wenn man so will also ‹klerikalen›, Königs ging nicht etwa unter, sondern wurde im späteren 12. Jahrhundert noch weiter ausdifferenziert und war auch im 13. Jahrhundert nach wie vor aktuell, wie sich an den Viten Edward des Bekenners und besonders König Ludwigs des Heiligen ablesen lässt. Als Idealtyp des damit kon- 278 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 22 Vgl. zum Folgenden Erich H offmann : Die heiligen Könige bei den Angelsachsen und den skandinavischen Völkern. Königsheiliger und Königshaus. Neumünster 1975; Susan J. R idyard : The Royal Saints of Anglo-Saxon England. A study of West Saxon and East Anglian Cults. Cambridge 1988; Robert F olz : Les saints rois du moyen âge en occident (VI e -XIII e siècles). Bruxelles 1984 (Subsidia Hagiographica 68); Jacques L e G off : Aspects religieux et sacrés de la monarchie française du X e au XIII e siécle. In: La royauté sacrée dans le monde chrétien, hg. von A. Boureau, C. S. Ingerflom. Paris 1992, S. 19-28; Gabor K laniczay : L’image chevaleresque du saint roi au XII e siècle. In: La royauté sacrée dans le monde chrétien, hg. von A. Boureau u. a. Paris 1992, S. 53-61; ders .: The paradoxes of royal sainthood as illustrated by central european examples. In: Kings and Kingship in Medieval Europe, hg. von Anne J. Duggan. London 1993, S. 351-374; ders .: Königliche und dynastische Heiligkeit in Ungarn. In: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. von Jürgen Petersohn. Sigmaringen 1994, S. 343-361. 23 Der Ausdruck wurde geprägt von André V auchez : La sainteté en Occident aux derniers siècles du Moyen Age d’après les procès de canonisation et les documents hagiographiques. Rom 1981, S. 187-197, S. 204-215. <?page no="289"?> kurrierenden Modells, also des für den christlichen Glauben aktiv streitenden Königs, kann wohl Karl der Große gelten. 24 Wie sich sowohl am Pseudo- Turpin als auch an der im unmittelbaren Zusammenhang der Heiligsprechung entstandenen Aachener Vita Karoli Magni 25 und, noch heute augenfällig, ebenfalls an den Dachreliefs des Aachener Karlschreins ablesen lässt, folgte die Kanonisation Karls im Jahr 1165 exakt jenem Modell. 26 Genau wie die Aachener Vita Karoli Magni oder der Pseudo-Turpin ruft gleichfalls das Rolandslied das im 12. Jahrhundert ebenso moderne wie für den Feudaladel attraktive Herrschermodell des athleta Christi ab. Doch dessen geistlich gebildeter Verfasser scheint diesem, dem kämpferischen Adelsideal so sehr entsprechenden Beschreibungsmuster für einen heiligmäßigen Herrscher offenbar eine gewisse Skepsis entgegen gebracht 27 oder es zur Charakterisierung Karls für nicht ausreichend gehalten zu haben. Und so schiebt sich im Rolandslied unter das Modell des athleta Christi der dem deutschen Bearbeiter anscheinend ebenso vertraute Entwurf eines ‹klerikalen› Herrschers, wie er sich etwa gleichzeitig auch im Karlteil der Kaiserchronik oder in der Legende Heinrichs II. nachweisen lässt. Wie präsent dem Autor des Rolandsliedes jener andere Diskurs des friedfertigen Königs war, und welche Schwierigkeiten dem clericus Konrad der Paradigmenwechsel von einem in der Furcht Gottes stehenden, gleichsam ‹pazifistisch› gesinnten, zu einem im göttlichen Auftrag Krieg führenden Herrscher bereitet haben mag, demonstriert nichts deutlicher als die exkulpierenden Änderungen, die jeweils eingefügt Französische Heldenepik in Oberdeutschland 279 24 Vgl. K laniczay , L’image chevaleresque, S. 55; vgl. zu den Reflexen, die die Vorstellung der militia Christi seit dem frühen 12. Jahrhundert im literarischen Karlbild hinterließ, auch Karl-Heinz B ender : La genèse de l’image littéraire de Charlemagne, élu de Dieu, au XI e siècle. In: Boletin de la Real Academia de Buenos Letras de Barcelona 31 (1965/ 66), S. 35-49. 25 Die Aachener Vita Karoli Magni bezeichnet Karl sogar explizit als fidelis dei athleta, vgl. S. 152, Ed. Deutz; vgl. auch die weiteren Titulierungen in diesem Sinn, in der Ausgabe verzeichnet auf S. 41, Anm. 242; vgl. zur Aachener Vita Karoli Magni ebenfalls Karl- Ernst G eith : Eine neue Handschrift der «Aachener Vita» Karls des Großen. In: Dorothea Walz (Hg.): Scripturus vitam. Lateinische Biographie von der Antike bis in die Gegenwart. Festgabe für Walter Berschin zum 65. Geb. Heidelberg 2002, S. 357-368. 26 Vgl. dazu etwa Klaus H erbers : Karl der Große und Spanien - Realität und Fiktion. In: Karl der Große und sein Schrein in Aachen, hg. von Hans Müllejans. Aachen 1988, S. 47-55; Renate K roos : Zum Aachener Karlsschrein. «Abbild staufischen Kaisertums» oder «fundatores ac dotatores»? In: Karl der Große als vielberufener Vorfahr. Sein Bild in der Kunst der Fürsten, Kirchen und Städte, hg. von Lieselotte E. Saurma-Jeltsch. Sigmaringen 1994 (Schriften des historischen Museums, hg. von Rainer Koch, Bd. 19), S. 49-61; Kerstin W iese : Der Aachener Karlsschrein - Zeugnis lokalkirchlicher Selbstdarstellung. In: Karl der Große und das Erbe der Kulturen, hg. von Franz-Reiner Erkens. Berlin 2001 (Akten des 8. Symposiums des Mediävistenverbandes Leipzig 15.-18. März 1999), S. 257-274; vgl. auch B elghaus . 27 Interessanterweise stellt ebenfalls der Autor der Aachener Vita Karoli Magni, unter Bezug darauf, dass Karls kriegerische Taten ansonsten ausführlich beschrieben seien, diese nur abbreviatorisch dar, vgl. Vita Karoli Magni, S. 58. <?page no="290"?> oder gegenüber der französischen Vorlage verstärkt werden, wenn Karl wirklich einmal aktiv in das Kampfgeschehen eingreift. Zu diesem subkutan gleichfalls präsenten Ideal des friedfertigen und demütigen heiligen Königs fügt sich sehr genau eine weitere Variation, die der deutsche Bearbeiter gegenüber der Chanson de Roland vornahm. An mehreren Stellen betet Karl im deutschen Rolandslied um Vergebung seiner Sündenschuld, die ihm, wie der Text versichert und wie zuvor die Kaiserchronik dies ebenfalls schon berichtet hatte (Kchr 15015-15068), mit Hilfe des heiligen Ägidius auf wunderbare Weise vergeben worden sei (RL 2996-3011; 3049-3065; 7447-7457). Vor allem die romanistische Forschung hat sich dabei besonders für die Art von Karls ungenannter Schuld interessiert, hinter der manchmal eine in späteren Quellen behauptete inzestuöse Verbindung zwischen dem König und seiner Schwester Gisela vermutet wird, der Roland entsprungen sein soll. 28 Gisela hätte später danach allerdings einen anderen Mann geehelicht, so dass Roland eher als Neffe des großen Frankenkaisers erscheinen mochte und wohl auch sollte. In dieser oder ähnlicher Form wird der Bericht vom inzestuösen Ursprung Rolands in der altnordischen Karlamagnús saga, 29 280 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 28 Vgl. etwa Rita L ejeune : Le péché de Charlemagne et la Chanson de Roland. In: Studia Philologica. Homenaje ofrecido á Dámaso Alonso, Bd. II. Madrid 1961, S. 339-371; Auguste D emoulin : Charlemagne, la légende de son péché et le choix de Ganelon pour l’ambassade. In: Marche romane 25 (1978), S. 105-126; Aurelio R oncaglia : Roland e il peccato di Carlomagno. In: Symposium in honorem M. de Riquer, hg. von Carlos Alvar u. a. Barcelona 1984, S. 315-347; Ulrich M ölk : Rolands Schuld. In: Das Epos in der Romania, hg. von S. Knaller u. a. Tübingen 1986, S. 299-308; vgl. auch ders .: Der hl. Roland: Französisches Rolandslied und lateinischer Pseudo-Turpin im Vergleich. In: Jakobus und Karl der Große. Von Einhards Karlsvita zum Pseudo-Turpin, hg. von Klaus Herbers. Tübingen 2003 (Jakobus-Studien 14), S. 79-88; Hans-Erich K eller : Le péché de Charlemagne. In: L’imaginaire courtois et son double, hg. von G. Angeli u. a. Napoli 1992 (Publicazioni dell’Università degli Studi di Salerno. Sezione Atti, Convegni, Miscellanee 35), S. 39-54; Miranda G riffin : Writing out the sin: Arthur, Charlemagne and the spectre of incest. In: Neophilologus 88 (2004), S. 499-519. 29 Karlamagnús saga, Buch I, Kap. 36, Übers.: Der König Karl begab sich wieder nach Aachen und traf dort seine Schwester Gisela. Er führte sie in sein Schlafgemach und schlief sehr nah neben ihr; und zwar deshalb, weil er großes Verlangen nach ihr empfand, solange bis sie sich vereinigten. Danach begab er sich zur Kirche und schickte sich an, Ägidius alle seine Sünden zu beichten - bis auf diese. Ägidius segnete ihn und hielt dann die Messe. Aber während er die Messe las, kam Gabriel, der Engel Gottes, der ihm ein Schreiben auf die Patene legte. In dem Schriftstück wurde gesagt, dass der König Karl nicht alle seine Sünden gebeichtet habe. ‹Er hat mit seiner Schwester geschlafen und hat mit ihr einen Sohn gezeugt, der Roland heissen soll; er soll sie an Milon d’Angres verheiraten, aber sieben (Hs A: zwölf) Monate, nachdem sie das gleiche Bett geteilt haben, wird sie gebären. Und er muss wissen, dass dies sein Sohn und der seiner Schwester ist; und dass er gut auf den Jungen achtgibt, denn er wird ihn nötig haben.› Ägidius nahm das Schriftstück von der Patene, ging unverzüglich, angetan mit dem Priesterornat, zu König Karl und las es ihm vor. Er gestand, fiel auf die Knie und flehte um Gnade; er versicherte, dass er diese Sünde nie mehr begehen würde und tat alles, was das Schreiben <?page no="291"?> im okzitanischen Ronsavals-Roman, 30 im Charlemagne des Girart d’Amiens 31 oder im Buch vom heiligen Karl 32 erzählt. Alle genannten Texte repräsentieren freilich eine relativ späte Stufe volkssprachiger Literatur über Karl den Großen. So entstand das Buch vom heiligen Karl, das im Übrigen Karls Inzest mit seiner Schwester als eine unwissentliche Tat vorstellt, um 1450/ 70, der okzitanische Ronsavals-Roman wurde im Jahr 1398 aufgezeichnet, geht aber eventuell auf ältere Vorstufen zurück, der Charlemagne des Girart d’Amiens datiert aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts und die Karlamagnús saga schließlich wurde um die Mitte des 13. Jahrhunderts am norwegischen Königshof nach französischen Quellen verfasst. Ältere volkssprachige Texte, wie die Chanson de Roland oder das Rolandslied, die beide noch im 12. Jahrhundert niedergeschrieben wurden, spielen hingegen auf die Vorstellung von der inzestuösen Geburt Rolands nicht an. Aus diesem Faktum resultiert die Aufspaltung der Forschung in zwei Lager. Dabei geht die eine Seite davon aus, dass die Inzestsünde Karls in Chanson de Roland und im Rolandslied bewusst verschwiegen werde, um den vorbildlichen König nicht zu belasten; die andere Seite geht hingegen vom Nichtinteresse des Rolandslied-Autors an dieser Erzähltradition bzw. von seiner Unkenntnis aus. Während mit Vehemenz R. Lejeune und in ihrer Nachfolge dann unter anderem Roncaglia oder Französische Heldenepik in Oberdeutschland 281 ihm auftrug: er verheiratete seine Schwester mit Milon und machte ihn zum Herzog der Bretagne. Das Kind kam auf den Tag sieben Monate später zur Welt. 30 Ronsavals, 1624-7: Bels neps, yeu vos ac per lo mieu peccat gran/ de ma seror e per mon falhimant,/ qu’ieu soy tos payres, tos oncles eyssamant,/ e vos, car senher, mon nep e mon enfant. (Übers.: Lieber Neffe, ich habe Euch mit meiner Schwester gezeugt; darin besteht meine große Sünde und meine Verfehlung. So bin ich Dein Vater und Dein Onkel zugleich, Und Ihr, guter Herr, mein Neffe und mein Kind.); vgl. dazu Angelika I vens , Annette K lein : Karl im Land der Trobadors: Das Karlsbild der altokzitanischen Epik. In: Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters. Konstruktion eines Mythos, hg. von Bernd Bastert. Tübingen 2004, S. 39-52, bes. S. 50f.; dort auch die angegebene Stelle samt Übersetzung. 31 Vgl. dazu G. J. B rault : The Legend of Charlemagne’s Sin in Girart d’Amiens. In: Romance Notes 4 (1962/ 63), S. 72-75. 32 BhK, 27,5ff.: Die drit sünd, die Karlus sündet wider gott, daz was, daz er sin schwester beschlieff unwüssend, daz er nit wüsset, daz es sin schwöster was. Und do er sin ynen ward do meint er nit, daz es im sünder wer, den ein ander unküsch werck, wo er es nit vor gewüst hett. Und bichtet es nit den ander unküsch werck. Und von der sünden wegen was er in gocz zorn komen, daz er sy nit wolt gen gott erkennen nach der grossi, als sy warend. Aber do im der heilig Egidius und der heilig Theodorus kunt tattent, als vor stat, do tet er buoß und hat rüw und erwarb gocz huld wider. Vgl. auch die Szene, in der Rolands Tod beschrieben wird, BhK, 68,8ff.: Do nun der selig Ruoland also lag in tocznötten, do kam Karlus mitt sim her. Und do er Ruoland sach also ligen, do fiel er ab sim roß von leid und von not und leit sich ze Ruoland und klagt in mit der aller herczlichosten clag, die nieman alle geschriben kann. Und under andren worten sprach er: ‹O min aller liebster sun, den ich lieber han gehan den alle miny kind, du bist min eigen kind gesin und von minem herczen komen. O kint mines, wie han ich dich so untröstlich funden! › <?page no="292"?> Mölk und Griffin auf unterschiedliche Weise plausibel zu machen versuchten, dass der Autor der Chanson de Roland sehr wohl um das Motiv oder, so Roncaglia oder auch S. Martinet, um das Faktum des Inzests Karls mit seiner Schwester gewusst und es implizit in seinen Text integriert habe, war die Gegenseite durch diese Ansicht nicht zu überzeugen und führte vor allem die nicht wegzudiskutierende Tatsache ins Feld, dass das Motiv nicht nur nicht erwähnt werde, sondern auch indirekt keine Rolle im Erzählgeschehen des Rolandslieds spiele. Zuletzt hat D. Kullmann die Argumente der ‹Inzest- Befürworter› kritisch hinterfragt und ist in ihrer sorgfältig abwägenden Analyse zu dem Schluss gekommen, dass es in der Chanson de Roland keinen sicheren Hinweis auf eine inzestuöse Geburt Rolands gebe: Das muß nicht heißen, daß der Dichter des Rolandsliedes die Geschichte von der Sünde Karls, selbst in der expliziten Version, nicht gekannt haben kann; falls er sie jedoch gekannt hat, hat er sie in seiner chanson nicht literarisch genutzt, sondern hat die Vorstellung einer Vater-Sohn-Beziehung bewußt zugunsten der Onkel-Neffe-Relation zurücktreten lassen. 33 Ausschlaggebend für die Aufnahme des gegenüber der Chanson de Roland sogar noch ausgeweiteten Motivs vom sündigen König ins deutsche Rolandslied dürfte gewesen sein, dass die auf wunderbare Weise vergebene Schuld einen Schnittpunkt darstellte, in dem die diesem Text eingeschriebenen Modelle von Königsheiligkeit zusammenfallen. Für den Typus des leidenden und bußfertigen heiligen Königs versteht sich der Bezug zu dem seine Sünden unter Tränen beklagenden Karl von selbst. 34 Doch auch für das andere hagiographische Modell, den Typus des mit der Waffe streitenden miles Christi, ergibt sich im Hinblick auf den durch göttliche Gnade von seiner Sündenschuld befreiten König ein interessanter Berührungspunkt: Wenn die christlichen Kämpfer im Rolandslied immer wieder als heilige marteraere bezeichnet werden, die mit der Kreuznahme und ihrem daraus eventuell resultierenden Tod das Reich Gottes 282 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 33 K ullmann , Verwandtschaft, S. 64. 34 Die Bußfertigkeit Karls im deutschen Rolandslied ist verschiedentlich bemerkt und thematisiert worden. Oft wird sie, wie etwa von N ellmann , Karl der Große, oder G eith , Carolus Magnus, S. 100-106, mit dem Typus des büßenden und demütigen König David in Zusammenhang gebracht und gilt als Bestandteil einer vorbildlichen Herrschaftsauffassung. Abgesehen davon, dass im Rolandslied selbst keine typologische Beziehung zwischen David und Karl hergestellt wird - der Verweis auf eine aus Strickers Karl zu ergänzende Lücke (G eith , Carolus Magnus, S. 102f.) bleibt methodisch unbefriedigend - deckt diese Annahme wohl nur einen Teilbereich des Bildes vom ‹roi souffrant› ab. Vgl. zum Motiv des durch einsame Gebete und Tränen seine Bußfertigkeit unterstreichenden Herrschers, das, frühmittelalterlicher hagiographischer Topik entsprechend, als Schilderung vorbildlicher Frömmigkeit zu verstehen ist, auch Stefan W aldhoff: Der Kaiser in der Krise? In: DA 54 (1998), S. 23-54; zu ‹politischen› Tränen des Königs, die hier jedoch kaum gemeint sein dürften, vgl. Gerd A lthoff : Der König weint. Rituelle Tränen in öffentlicher Kommunikation. In: ‹Aufführung› und ‹Schrift› in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart, Weimar 1996, S. 239-252. <?page no="293"?> koufen würden, wie der Text versichert (RL 3444-3449), dann lässt das beinahe unweigerlich an die Metapher vom prudens mercator in Bernhards von Clairvaux’ berühmtem Kreuzzugsbrief an die Deutschen denken, in dem es unter anderem heißt: Nolite diffidere, peccatores: benignus est Dominus. [...] Teneri vult debitor, ut militantibus sibi stipendia reddat, indulgentiam delictorum et gloriam sempiternam. Beatam ergo dixerim generationem, quam apprehendit tam uber indulgentiae tempus [...]. Habes nunc fortis miles, habes vir bellicose, ubi dimices absque periculo: ubi et vincere gloria, et mori lucrum. Si prudens mercator es [...], suscipe crucis signum, et omnium pariter, de quibus corde contritio confessionem feceris, indulgentiam obtinebis. 35 Bernhard stellt hier als Lohn für die Mühen des Kreuzzugs einen Nachlass der Sündenstrafen in Aussicht. Theologisch sind diese und ähnliche Aussagen übrigens keineswegs unproblematisch, da sie den wichtigen Unterschied zwischen Tilgung der Sündenschuld (=Buße) und Tilgung der Sündenstrafen, die nach katholischer Lehre zu wesentlichen Teilen erst nach dem Tod abgeleistet werden können, verwischen. Die Unschärfe in der Kreuzzugspropaganda scheint indes Methode gewesen zu sein. 36 Im Übrigen ist es sehr fraglich, ob die Masse der Kreuzfahrer derlei theologische Kasuistik überhaupt nachvollziehen konnte und wollte. Im Normalfall scheint als Botschaft angekommen zu sein, dass auf einem Kreuzzug «neben der Aussicht auf Beute noch der vorher nie angebotene Erlaß der zeitlichen Sündenstrafen, insbesondere des Fegefeuers [winkte]. Die Absolution nahm die Sündenschuld hinweg, die Kreuznahme bewirkte noch vor Antritt des Ablaßwerks die Tilgung aller Sündenstrafen.» 37 In eben dieser Weise thematisiert dann auch das Rolandslied den untrennbaren Zusammenhang von Heidenkampf und Nachlass der Sündenschuld. 38 So etwa, wenn Bischof Turpin vor dem entscheidenden Kampf im Angesicht einer ungeheuren sarazenischen Übermacht zu der von Roland angeführten Nachhut sagt: Französische Heldenepik in Oberdeutschland 283 35 Zitiert nach V. C ramer , S. 13f. Übers. nach C ramer : Habt Vertrauen, Ihr Sünder; gütig ist der Herr. [...] Er will als Schuldner gelten, um seinen Truppen als Sold den Nachlass ihrer Vergehen und ewige Herrlichkeit zu zahlen. Selig nenne ich das Geschlecht, dem so volle Nachlaßzeit zukommt [...]. Du tapferer Ritter, Du Mann des Krieges: jetzt hast Du eine Fehde ohne Gefahr, wo der Sieg Ruhm bringt und der Tod Gewinn. Wenn Du ein kluger Kaufmann bist, [...] nimm das Kreuzeszeichen, und für alles, was Du reuigen Herzens beichtest, wirst Du auf einmal Ablass erlangen. 36 Der gleichen traditionellen Argumentationsmuster bediente sich um 1200 Abt Martin aus dem Zisterzienserkloster Pairis bei Colmar; vgl. dazu Christoph T. M aier : Kirche, Kreuz und Ritual: Eine Kreuzzugspredigt in Basel im Jahr 1200. In: DA 55 (1999), S. 95-115. Für andere Beispiele, die alle stets den Sündenablass als Lohn für einen Kreuzzug betonen, vgl. M ayer , Kreuzzüge, S. 38f.; zur Thematik vgl. umfassend Philipp E ndmann : Die Entstehung des Ablasses für den Ersten Kreuzzug. In: Concilium medii aevi 6 (2003), S. 163-194. 37 M ayer , Kreuzzüge, S. 39, vgl. dazu ebenfalls J aspert , Kreuzzüge, S. 29. 38 Vgl. zur gleichen Thematik in der Oxforder Chanson de Roland auch M ölk , Der hl. Roland, bes. S. 84. <?page no="294"?> wâ mächt ir nû gewinnen alsô guoten soldât, sô er selbe gehaizen hât? volstêt ir an deme gelouben, mit vlaisclîchen ougen scult ir sîn antlütze gesehen unt iemer mit im vroelîchen leben. mit den worten sprechen wir iu antlâz. in der wârheit sage wir iu daz, vor gote birt ir enbunten von allen werltlîchen sünden sam ain niuborn westebarn. swaz ir der haiden hiute müget erslân, daz setze ich iu ze buoze. nach dirre rede süeze vielen si alle zuo der erde. dô segenôt si der hêrre. er sprach in indulgentiam. RL 3922-3939 Die indulgentia, die Turpin hier den Kämpfern gegen die Heiden gewährt, ist exakt jener terminus technicus für den Ablass, also den Nachlass der im Fegefeuer zu büßenden zeitlichen Sündenstrafen, den ebenfalls Bernhard von Clairvaux und andere in ihren Kreuzzugsaufrufen immer wieder versprochen hatten. Und wie um letzte Zweifel zu zerstreuen, heißt es zum Schluss der Passage ausdrücklich, dass der Ablass vor Gott im Himmel Gültigkeit besitze: Der antlaz was vor gote ze himele getan (RL 3940). Heidenkampf und Sündennachlass gehören, wie die Passage zeigt, untrennbar zusammen. Genau hier dürfte dann auch der Grund für die Inserierung des Motivs von der Ägidiusmesse in den Kontext des Rolandslieds zu suchen sein. Neben dem Bezug auf das Modell des leidenden und bußfertigen Königs wird dafür eben das Ineinanderspielen von Kreuzzug und Sündennachlass eine entscheidende Rolle gespielt haben. 39 Der gegen Ende des 12., Anfang des 13. Jahrhunderts absolut 284 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 39 Die Geschichte eines berühmten Heidenkampfes ist ebenfalls auf jenem Schrein abgebildet, der die Gebeine des 1165 kanonisierten Karl birgt; vgl. dazu auch die ausführliche Analyse von B elghaus . Es ist wohl kein Zufall, wenn die Dachreliefs des Aachener Karlsschreins gerade Szenen aus dem lateinischen Pseudo-Turpin zeigen, jenes, wie die Überlieferung zeigt, im Mittelalter bekanntesten Textes über Karls aufopferungsvollen und letztlich siegreichen Kampf gegen die spanischen Sarazenen. Eben dieser Kampf machte Karl nicht nur zum miles Christi und Kreuzritter, er demonstrierte auch eindrucksvoll Karls Bereitschaft zum Martyrium und war somit eine wesentliche Voraussetzung zur Kanonisation des großen Frankenkönigs. Über diesen Teil des Bildprogramms, der die ersten fünf Dachreliefs des Karlsschreins umfasst, hat man sich dann auch nie sehr gewundert. Sehr viel verwunderlicher erschien immer das unmittelbar anschließende sechste Dachrelief, das ausgerechnet die Beichte Karls beim heiligen Ägidius und die sogenannte Ägidiusmesse darstellt, während der eine verschwiegene Sünde dem König auf wunderbare Weise vom Himmel vergeben wird. Der scheinbare Bruch in <?page no="295"?> geläufige Konnex von Kreuzzug und Buße reicht dabei völlig aus, um die Erwähnung von Karls Sündhaftigkeit im Rolandslied (etwas schwächer ausgeprägt ebenfalls in der Chanson de Roland) sowie die Integration der bekannten Ägidiusgeschichte um eine nicht genannte Sünde Karls, die ihm ohne Beichte auf wunderbare Weise vergeben wurde, zu erklären. 40 Weder die Absolution Rolands und seiner Mitstreiter durch Bischof Turpin in der Chanson de Roland, in der die Forschung zum Teil einen Reflex von Rolands «Inzestmakel» erkennen will, 41 noch die (im deutschen Rolandslied sogar mehrfache) Erwähnung von Karls Sündhaftigkeit haben primär etwas mit dem Motiv der inzestuösen Herkunft Rolands zu tun. Das Motiv der inzestuösen Geburt Rolands in den erwähnten spätmittelalterlichen Karltexten muss daher auf andere Weise erklärt werden. Schon seit dem 9. Jahrhundert existierten im monastischen Umfeld entstandene visionäre Texte, die darauf abheben, dass Karl Verfehlungen begangen habe, für die er nach seinem Tod büßen müsse. 42 So wird etwa in der Visio pauperculae mulieris (9. Jh.) einer Französische Heldenepik in Oberdeutschland 285 der Erzählfolge ließ die kunsthistorische Forschung sogar einen Werkstattwechsel vermuten, da nun eine ganz andere, vom Spanienfeldzug unabhängige Thematik behandelt werde; in diesem Sinn etwa Ernst Günter G rimme : Das Bildprogramm des Aachener Karlsschreins. In: Karl der Große und sein Schrein in Aachen, hg. von Hans Müllejans. Aachen 1988, S. 124-135, hier S. 131. Auch B elghaus , die die Bedeutung der Reliefs grundsätzlich richtig darstellt, spricht, S. 110, davon, dass «mit diesem Relief der Erzählfaden reißt.» In Wirklichkeit reißt der Erzählfaden keineswegs, ist doch der in den ersten fünf Reliefs dargestellte Kreuzzug Karls gerade eine unabdingbare Voraussetzung für die im unmittelbar anschließenden Relief präsentierte wunderbare Vergebung einer verschwiegenen Sünde des Königs. Denn in der Vorstellung der Zeit gehören Kreuzzug und Ablass, zumal nach vorheriger Beichte, aufs engste zusammen. Die im Kreuzzug erlittenen Leiden Karls sind dann offenbar auch für den oder die Schöpfer der Dachreliefs des Aachener Karlsschreins die Leistung, die einen Nachlass der Sündenstrafen bzw. die Umwandlung der Todsünde in eine lässliche Sünde bewirkt. Gewährt wird diese Karl als Belohnung für seine im Heidenkampf erlittenen Leiden. Obschon Karl nicht alle Sünden gebeichtet hatte, werde dem miles Christi, wie die Ägidiusgeschichte in Verbindung mit dem Pseudo-Turpin plastisch vor Augen führt, durch den ausdrücklichen, schriftlich (durch einen Brief) übermittelten Willen Gottes seine Sünden vergeben. Ganz konsequent wird Karl daher auch erst in der Ägidiusmesse als mit einem Nimbus ausgezeichneter Heiliger präsentiert, denn, so W iese , S. 263: «Innerhalb der Argumentation der Bilderzählung stellt der Heidenkampf die Voraussetzung für den Erwerb dieser Auszeichnung dar»; vgl. auch B elghaus , S. 110-112. 40 Vgl. auch J aspert , Kreuzzüge, S. 29: «Der Kreuzzug aber, ein gefährliches Unternehmen mit ungewissem Ausgang, stellte eine besonders strenge Form der Buße dar. Urkunden und Briefe der Kreuzfahrer belegen, wie stark der Wunsch war, durch die Teilnahme daran für begangene Sünden Buße zu tun.» 41 Vgl. M ölk , Rolands Schuld, S. 306f. 42 Vgl. B. de G aiffier: La légende de Charlemagne. Le péché de l’empereur et son pardon. In: ders .: Études critiques d’hagiographie et d’iconologie, 1967, S. 260-275; E. D orn : Der sündige Heilige in der Legende des Mittelalters, 1967, S. 75-80; vgl. auch die Kaiserchronik 14924; 15015-15068. <?page no="296"?> Armen aus Laon mitgeteilt, dass der Kaiser durch die Nächstenliebe seines Sohnes Ludwig aus Höllenqualen errettet worden sei. Und die Visio Wettini weiß etwa um die gleiche Zeit zu berichten, dass Karl, weil er durch Wollust gesündigt habe, von einem Tier an den Genitalien zerfleischt werde. Die bereits mehrfach erwähnte Ägidiuslegende, die gleichfalls das Motiv von Karls Sünde kennt, ohne diese freilich zu spezifizieren, entstand im 10. Jahrhundert in Südfrankreich; ab dem 12. Jahrhundert wird sie auch in deutscher Sprache überliefert (Trierer Ägidius). Der Grund für diese und ähnliche Berichte über die Sündhaftigkeit Karls des Großen dürfte in den bis zum 11. Jahrhundert noch stark differierenden Vorstellungen von Adel und Klerus über die Ehe und über Sexualität im Allgemeinen zu suchen sein. So scheinen relativ lockere eheähnliche Verbindungen von Herrschern bis ungefähr in die Zeit Ottos I. nicht nur nicht unüblich gewesen zu sein, sondern außerhalb bestimmter klerikaler, vor allem monastischer Kreise auch keinen besonderen Anstoß erregt zu haben. Einhard berichtet noch ohne jeglichen pejorativen Beigeschmack von den zahlreichen Frauen und Nebenfrauen Karls, der ganz offenkundig «wie die merowingischen Könige [...] polygam in rechtlich nicht genau definierten Verbindungen lebte. Zu einer vollgültigen Ehe kam es nur mit Frauen, die mehr oder weniger ebenbürtigen Geschlechtern entstammten. Die Heiraten hatten dann auch die politische Funktion, diese Familien noch enger an das Herrschergeschlecht zu binden.» 43 Ab dem späteren 10. und dann insbesondere im 11. Jahrhundert änderte sich die Situation allerdings grundlegend. Die auf Unauflösbarkeit der Ehe und auf Monogamie pochenden kirchlichen Ideale setzten sich schließlich durch und mussten auch vom Adel akzeptiert werden. Karls zahlreiche Frauen und Nebenfrauen, die zu seinen Lebzeiten und auch noch einige Zeit später nicht ungewöhnlich für einen Herrscher gewesen waren und aus adliger Sicht wohl kaum anstößig gewesen sein dürften, mussten aus dem Blickwinkel des 12./ 13. Jahrhunderts als schwere Verfehlung des Kaisers erscheinen. Von da aus war es dann nur noch ein kleiner Schritt, die im Rolandslied zunächst lediglich im Kontext von Kreuzzug und Ablass erwähnte Sünde Karls mit einem sexuellen Vergehen in Eins zu setzen. Nimmt man noch die in der mittelalterlichen Literatur seit dem 13. Jahrhundert ohnehin häufig zu beobachtende sog. ‹Konkretisierungstendenz› hinzu, scheint es einleuchtender, dass Karls angeblicher Inzest der Phantasie der, mittelalterlichen wie modernen, Rezipienten des Karl/ Rolandstoffes entsprang, als auf irgendeine versteckte Realität anzuspielen, nach der Teile der Forschung so lange mit wenig Erfolg gesucht haben. Der Inzest als eine als besonders verwerflich geltende sexuelle Verfehlung steht dabei am Anfang der dunklen Seite des Karlbildes, das immer wieder auf Karls angeblich abnorme Sexualität rekurriert. Ungefähr seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts scheint die Idee eines inzestuösen Karl besonders in der Romania verbreitet gewesen zu sein. Dagegen besetzen deutschspra- 286 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 43 Matthias B echer : Karl der Große. München 1999, S. 109. <?page no="297"?> chige Texte aus der gleichen Epoche die seit dem Frühmittelalter in klerikaler Literatur verbreitete Vorstellung einer angeblichen sexuellen Verfehlung Karls auf andere Weise. In Enikels Weltchronik, aber auch in der Karlmeinet-Kompilation und der Weihenstephaner Chronik dient Karls angebliches Interesse an einer toten Geliebten, seine Nekrophilie also, als Beleg für eine sexuelle Abnormität des Königs. 44 Das Zürcher Buch vom heiligen Karl verbindet im 15. Jahrhundert dann beide Traditionen, wenn Karls Nekrophilie als erste von drei schweren Sünden aufgeführt wird, die er nicht habe beichten wollen und der unwissentliche Inzest mit seiner Schwester als die dritte. 45 Wie sich aus den angeführten Beispielen ergibt, wurde das Bild Karls des Großen im deutschen Rolandslied offenkundig aus unterschiedlichen, teilweise gegenläufigen hagiographischen Diskursen modelliert. Erreicht wurde durch diese Diskursverschränkung aber nicht etwa eine Diffusion oder ein Auseinanderdriften, sondern eher eine Verstärkung und Vereindeutigung der legendarisch-hagiographischen Valenzen des Karlbildes, die sich im Übrigen gut zu jener auch sonst nachweisbaren spirituellen Überformung fügen, die bereits mehrfach als charakteristisch für das deutsche Rolandslied beschrieben wurde. Die Änderungen erstrecken sich dabei über den gesamten Text. Sie reichen vom erwähnten legendentypischen Prolog bis zur letzten Epilogzeile, die mit der Wendung tu autem, domine, miserere nobis (RL 9094) die Schlussformel des Stundengebets bzw. der klösterlichen Tischlesung aufnimmt und damit den legendarischen Anspruch des Rolandsliedes an exponierter Stelle noch einmal unterstreicht. 46 Der auf den vorangehenden Seiten unternommene Versuch, am Beispiel der für das Rolandslied zentralen Figur Karls des Großen darzulegen, dass die in der Chanson de Roland bereits angelegten theologischen Deutungsmuster in der deutschen Adaptation durch zusätzliche hagiographische Schreibmuster noch erheblich verstärkt werden, wodurch das ursprüngliche Verhältnis von heldenepischem Substrat und hagiographischem Superstrat in der deutschen Adaptation umgekehrt wird, mag als einseitig erscheinen angesichts der Tatsache, dass andere im Text auszumachende Diskurse, etwa der herrschaftspolitische, Französische Heldenepik in Oberdeutschland 287 44 Jansen Enikels Weltchronik, 26269ff.; Karlmeinet-Kompilation 317,8-321,44, Weihenstephaner Chronik, Cgm 259, fol. 90 r -91 r . 45 Vgl. BhK, 24,16-26,11 (Nekrophilie); 27,6-14 (Inzest). 46 Die legendarischen Tendenzen des deutschen Rolandslieds wurden besonders von F. O hly herausgearbeitet, vgl. Friedrich O hly : Zum Dichtungsschluß Tu autem, domine, miserere nobis. In: DVjs 47 (1973), S. 26-68; ders .: Die Legende von Karl und Roland. In: Studien zur frühmittelhochdeutschen Literatur, hg. von L. P. Johnson u. a. Berlin 1974, S. 292- 343; vgl. ebenfalls G eith, Carolus Magnus, dessen Analyse des Rolandslieds in die Schlussfolgerung mündet, dass «für die Darstellung Karls bestimmte vorgegebene geistliche und auch literarische Beschreibungsmuster verwendet worden» seien; S. 106. Eine ganz ähnliche Funktion postulierte T aylor , Song, für die Oxforder Fassung der Chanson de Roland, die er, S.65, als «a bellicose Christian poem, suitable for reading aloud in the refectory or the hall» charakterisiert. <?page no="298"?> nicht in der gleichen Ausführlichkeit behandelt wurden. 47 Unterstützung erfährt eine Lesart, die das deutsche Rolandslied als primär hagiographischen Text liest, allerdings durch eine Auswertung des Überlieferungsbefundes. Zwar scheidet in diesem Fall der aussagekräftige Weg einer Untersuchung der Mitüberlieferungssituation aus, weil das Rolandslied in der einzig vollständig erhaltenen Handschrift als Einzeltext überliefert wird, 48 doch es gibt andere kodikologische Faktoren, die eine das Rolandslied als legendenähnlichen Text verstehende Rezeptionshaltung nahelegen. So entsprechen z. B. Einrichtung, Ausstattung und Format der Heidelberger Rolandslied-Handschrift wie der erhaltenen Fragmente exakt dem Typus kontemporärer lateinischer hagiographischer Codices aus dem 12. Jahrhundert. 49 In eine vergleichbare Richtung weist ebenfalls das Bildprogramm der Heidelberger Handschrift, das offenbar ähnlich für eine zweite, nur fragmentarisch erhaltene Handschrift (Fr. S) vorgesehen war. Ein großer Teil der 39 einfachen, hintergrundlosen Federzeichnungen unterstreicht auf der Bildebene zusätzlich das christlich-hagiographische Potenzial des Textes. So wird der Bilderzyklus durch eine programmatische Szene eröffnet, die im Erzählgeschehen nur eine untergeordnete Rolle einnimmt (vgl. RL 351-360): Dargestellt ist in einer halbseitigen Zeichnung, die allein schon durch ihr ansonsten im gesamten Kodex nicht mehr erreichtes Format ins Auge fällt, nicht etwa der unerbittliche Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Christen und Heiden, der das Erzählgeschehen über weite Teile bestimmt, sondern die Taufe bekehrungswilliger Heiden durch Bischof Turpin, kenntlich an Ornat, Mitra und dem von einem Helfer während des Taufakts getragenen Bischofsstab (fol. 5 r ). 50 Das Bildprogramm der Heidelberger Rolandslied-Handschrift setzt folglich ein mit dem für jede christliche Lebensführung fundamentalen Akt: dem Sakrament der Taufe. Turpin bestimmt in seiner Funktion als Sakramente spendender Bischof auch das weitere Bildprogramm dieser Handschrift in einem, verglichen mit dem im Text Berichteten, überproportionalen Maß. So zeigen ihn jeweils an bekannte Muster christlicher Ikonographie angelehnte Zeichnungen dabei, wie der Bischof den in die Schlacht ziehenden milites dei vor dem Kampf die Kommunion spendet (fol. 47 r ), 51 wie er, in der oben bereits 288 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 47 Vgl. dazu etwa O tt -M eimberg , Kreuzzugsepos. Konkurrierende Ordnungen im Rolandslied, u. a. «feudaladlige Gabenlogik» und einen «theologischen[n] Diskurs», beschreibt auch M. O swald in einem Kapitel ihrer Studie zum Gabentausch in der frühhöfischen Erzählliteratur; vgl. Marion O swald : Gabe und Gewalt. Studien zur Logik und Poetik der Gabe in der frühhöfischen Erzählliteratur. Göttingen 2004 (Historische Semantik 7), S. 251-316, hier S. 274. 48 Zur Integration einer gekürzten und in Teilen bearbeiteten Fassung des Rolandslieds in die Karlmeinet-Kompilation vgl. S. 98ff. 49 Vgl. W olf , Buch und Text, S. 66. 50 Vgl. auch die digitale Farbabbildung unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg112/ 0011. 51 Vgl. auch die digitale Farbabbildung unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg112/ 0095. <?page no="299"?> besprochenen Szene, den christlichen Kriegern Absolution erteilt und ihnen Nachlass ihrer Sünden für das im Kampf erlittene Leid bzw. den Tod gewährt (fol. 53 v ), 52 und wie er, ohne dass sich eine direkte Entsprechung im Text ausmachen ließe, Roland vor dessen letztem Ritt gegen die zahlenmäßig weit überlegenen heidnischen Kämpfer segnet (fol. 85 v ). 53 Und schließlich wird ebenfalls in der Darstellung von Turpins tödlicher Verwundung, wenn er am Boden kniend von den Lanzen ihn umgebender heidnischer Gegner durchbohrt wird (fol. 91 v ), 54 das ikonographische Muster eines Martyriums abgerufen, wie es aus zahlreichen bildlichen Darstellungen des Mittelalters bekannt ist. Bekannten ikonographischen Mustern nachempfunden ist gleichfalls die Darstellung jener Szenen, in der ein Engel Karl den Sieg über die Heiden verkündet (fol. 98 r ) 55 und des vor der entscheidenden Schlacht zum Gebet auf die Knie gesunkenen Kaisers (fol. 108 v ). 56 Christliche Ikonographie, und zwar die bildliche Umsetzung der Feuerzungen beim Pfingstwunder, bildet schließlich auch das Vorbild für die jener Szene beigegebene Federzeichnung (fol. 61 v ), 57 in der Gott erfrischenden Regen und einen kühlen Wind schickt, um die erschöpften christlichen Kämpfer wieder zu stärken (RL 4454-4459). Die im Text sich manifestierende Umkodierung heldenepischer Literatur zu hagiographischer Epik findet demnach auf der Bildebene ihre Entsprechung in der Verwendung christlicher ikonographischer Muster sowie in einem besonderen Interesse des Zeichners für Szenen, die christliche Sakramente darstellen. 58 Die im Rolandslied sich manifestierende, hier am Beispiel der Karlfigur vorgeführte Tendenz einer Vereindeutigung des schon in der Vorlage vorhandenen hagiographischen Substrats wird in Strickers Karl noch weiter ver- Französische Heldenepik in Oberdeutschland 289 52 Vgl. auch die digitale Farbabbildung unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg112/ 0108. 53 Vgl. auch die digitale Farbabbildung unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg112/ 0172. 54 Vgl. auch die digitale Farbabbildung unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg112/ 0184. 55 Vgl. auch die digitale Farbabbildung unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg112/ 0197. 56 Vgl. auch die digitale Farbabbildung unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg112/ 0218. 57 Vgl. auch die digitale Farbabbildung unter: http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg112/ 0124. 58 Ähnlich versteht das Bildprogramm der Heidelberger Rolandslied-Handschrift auch P. K ern : «Turpins kriegerisches Verhalten - er ist ja nach dem Epos einer der drei Haupthelden von Ronceval - tritt deutlich hinter seiner geistlichen Funktion zurück, die freilich auch schon von Konrad gegenüber seiner Vorlage stärker betont wird. Gleichzeitig ist damit, ob beabsichtigt oder nicht, erreicht, daß der starke geistliche Tenor der Dichtung des Pfaffen Konrad [...] im Bildprogramm (freilich auf ganz andere Weise) präsent gehalten wird»; Peter K ern : Bildprogramm und Text. Zur Illustration des Rolandslieds in der Heidelberger Handschrift. In: ZfdA 101 (1972), S. 244-270, hier S. 261; vgl. dagegen O tt , Pictura docet, der den Antrieb zur Illustration des Rolandslieds auf dessen Charakter als «Staatsroman» zurückführt. <?page no="300"?> stärkt, 59 ohne dass dadurch alle anderen Diskurse unterdrückt würden. 60 Anders als im Rolandslied, wo Karl zwar wie ein Heiliger beschrieben, doch nie explizit als Heiliger bezeichnet wird, stellt Strickers Fassung vom blutigen Ringen zwischen Christen und Heiden den König bereits im Prolog als heilige[n] man (K 100) vor, der bei Gott Fürbitte für die ihn Anrufenden einlegen könne (K 104-114). Im weiteren Verlauf der Erzählung wird über ihn behauptet, dass im was besessen sîn muot mit des heilegen geistes kraft. got hâte sîne meisterschaft an Karles lîbe schîn getân: er ist ouch heilic âne wân K 1258-1262 Und noch der letzte Vers des Textes bezeichnet ihn als sante Karle (K 12206), der den stuol der êwigen jugent erworben habe (K 12203). Doch nicht allein mittels solcher Epitheta, auch strukturell hat der Stricker das Rolandslied zu einer Art Heiligenvita umgeformt. Ganz in diesem Sinne nämlich erweitert er seine Vorlage so, dass die Überarbeitung nunmehr das gesamte Leben Karls umfasst. In das typische Schema der Beschreibung eines heiligmäßigen Lebens fügt sich bereits die Darstellung der ungewöhnlichen Umstände der Geburt des späteren Heiligen. Der Stricker greift dafür zurück auf die im Mittelalter verbreitete, nach dem Muster der vertauschten Braut gearbeitete Erzählung über Karls Eltern, Pippin und Berta, die er allerdings stark rafft. In aller Kürze wird geschildert, wie das Paar erst nach einer Reihe von Betrügereien und Missverständnissen zusammenfindet, und aus dieser Verbindung dann endlich Karl hervorgeht (K 124-142). Auch die nächste Station von Karls heiligmäßigem Leben - die nach der französischen Mainet-Erzählung gearbeitete und wieder auf ihren Erzählkern reduzierte Geschichte seiner Vertreibung durch Verräter, die Karl nach dem Leben trachten (beim Stricker sind es Winemann und Rapote, die als Karls Halbbrüder dargestellt sind; vgl. dazu ebenfalls S. 184f.) und seine schließliche Errettung - entspricht einem bekannten hagiographischen Erzählmuster. Zeigt sich in ihr doch, dass Gott noch Großes mit dem Kind vorhat: 290 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 59 Vgl. dazu auch O hly , Legende, und D. K lein , Strickers ‹Karl der Große›. Es ist eben diese gegenüber dem Rolandslied noch gesteigerte Hagiographisierung des Karl, die M eyer dazu veranlasst hat, Strickers Chanson de geste-Bearbeitung unter Gender-Gesichtspunkten als noch stärker ‹monologisiert› gegenüber dem Rolandslied und der Chanson de Roland zu bezeichnen; vgl. Matthias M eyer : Monologische und dialogische Männlichkeit in Rolandsliedversionen. In: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts, hg. von Martin Baisch u. a. Göttingen 2003 (Aventiuren 1), S. 25-50. 60 Als eine «hybride[n] Figur» charakterisiert G. W olf dann auch ganz zu Recht den Frankenkaiser in Strickers Karl, vgl. Gerhard W olf : ‹Sante Karle›, das Wesen der ‹list› und die Wirkung der ‹natûre›: Hybride Formen in der Rolandslied-Bearbeitung des Strickers. In: William J. Jones u. a. (Hg.): ‹Vir ingenio mirandus›. Studies presented to John L. Flood. Göppingen 2003 (GAG 710/ 711), S. 91-115, hier S. 112. <?page no="301"?> Daz Karl selbe niht verdarp, dô Pippîn sîn vater starp, daz quam von gotes râte K 143-145 Den für die Darstellung der Jugendgeschichte Karls benutzten Mainet-Stoff hat der Stricker, unter Benutzung eines verbreiteten Topos legendarischen Schrifttums, auf singuläre Weise variiert. 61 Während nämlich der zum spanischen Heidenkönig geflohene junge Karl üblicherweise in der in der gesamten Romania verbreiteten Erzähltradition eine Liebesaffäre mit der Tochter des Sarazenenkönigs hat, flieht in Strickers Bearbeitung der tugendhafte junge Königssohn vor den Avancen der attraktiven Schwester des heidnischen Königs Marsilie, die ihn liebt und für ihren Glauben gewinnen möchte, auf schnellstem Weg in die Heimat zurück, weil er dem Christentum treu bleiben will (K 213-226). Karls Verhalten entspricht hier dem aus Beschreibungen der Jugend eines Heiligen bekannten Muster eines puer senex, der allen erotischen Versuchungen widersteht. 62 Auch der weitere Lebensweg des heiligen Königs folgt bekannten hagiographischen Modellen der Herrscherdarstellung. Auf Karl bezogen sind dies, neben dem in Strickers Text dominierenden und permanent aufgerufenen Ideal des zum Martyrium bereiten miles Christi, wiederum das bereits aus dem Rolandslied bekannte Modell eines bußfertigen und alles andere als blutrünstigen Königs. So muss etwa in einer Szene eigens ein Engel Karl das Töten von Heiden erlauben, die sich nicht bekehren lassen wollen (K 358-363); in einer anderen wird betont, dass Karl nicht auf Kampf aus sei, aber Gott ihm geboten habe, gegen die Heiden vorzugehen (K 2803-2806); über die vermeintliche Beendigung des Heidenkampfes und den bevorstehenden Frieden zeigt der König sich höchst erfreut und dankt Gott dafür (K 3409-3413); gegenüber dem Rolandslied ist die Passage um den sich seiner Sünden bewussten Karl und die wunderbare Vergebung einer Sünde Karls auf Vermittlung des Hl. Ägidius noch erweitert (K 3529-3556); mehrfach betet der König um Vergebung seiner Sündenschuld (K 3570-3732); ein Engel muss den um Roland trauernden und leidenden König auffordern, die fliehenden Heiden im Auftrag Gottes zu verfolgen, erst dann ereignet sich das Wunder des Sonnenstillstandes (K 8380-8419); Karl tötet Paligans Sohn und Bruder in Notwehr, um seinen Vertrauten Naimes zu retten (K 9938-9982); erst nachdem Karl, wie im Rolandslied, von einem Engel im entscheidenden Kampf gegen Paligan ausdrücklich eine ‹Lizenz zum Töten› erhalten hat, holt er zum tödlichen Streich aus (K 10274-10300). Im Hintergrund präsent ist aber gleichfalls im Karl immer das Bild des leidenden Königs, des ‹roi souffrant›. So wird im Prolog versichert, Karl sei vor Gott wegen seiner arbeite (K 80f.), wobei das Leiden, die für jeden Heiligen Französische Heldenepik in Oberdeutschland 291 61 Zur Singularität der Strickerschen Variante vgl. H orrent , Les versions françaises, S. 202- 205. 62 Vgl. dazu B randt , S. 58-64. <?page no="302"?> unverzichtbare passio, die ihn als Nachfolger Christi erweist, im Karl meist als die im Glaubenskampf erlittene Mühe und Not dargestellt ist. In einer predigtartigen Ansprache vor der Entscheidungsschlacht gegen die Truppen Paligans versichert Karl, der werde gotes man (K 9020), seinen Mitkämpfern: swer mit gote wil gestân, dem ist diu porte ûf getân, da er got êweclîche siht, als unser herre selbe giht mit den worten, diu er sprach, do er die marter ane sach: ich wil, lieber vater mîn, daz alle die mit mir sîn, an den mîn wille volle quam. die füere ich selbe an den stam dâ si mit fröuden iemer sint. die heizent mîniu rehten erbekint. K 9021-9032 [...] swer arbeit unde smâcheit vil gerne lîdet durch got und behaltet sîniu gebot, swelh lîp sô nimt ende, daz waere ein missewende, solter mit der sêle niht erstân K 9076-9081 Mühe und Demütigung für Gott zu erleiden, eröffnet also den Himmel. Von daher kann der Text dann versichern: Die Kämpfer samt Karl fröuten sich der arbeit (K 9097). Insbesondere in den apotheotischen Schlussversen wird noch einmal ausdrücklich hervorgehoben, dass Karl aufgrund seiner erlittenen Leiden, seiner passio, in den Kreis der Heiligen aufgenommen worden sei: mit alsô kreftiger nôt was Karl, unz im der lîp erstarp: dâ mite er volleclîche erwarp den stuol der êwigen jugent. K 12200-12203 Dass Strickers Fassung des Karl/ Roland-Stoffes, die im ober- und später auch im mitteldeutschen Literaturgebiet zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert eine beachtliche Verbreitung fand, vom zeitgenössischen Publikum offenbar als ein stark geistlich überformter Text verstanden wurde, zeigt nicht zuletzt der bereits beschriebene Kontextualisierungsbefund sowie das Ausstattungsniveau der Handschriften. Noch stärker demonstriert dies vielleicht die zentrale Stellung des Strickerschen Karl im Zürcher Buch vom heiligen Karl. Hier findet die oberdeutsche Tradition eines als heilig verehrten Karl im Bereich der Chanson de geste-Bearbeitungen ihre konsequenteste Ausprägung. Von den zahlreichen Texten der französischen Heldenepik, in denen auf fast spielerische Art und Weise alle denkbaren Konstellationen und Situationen um den 292 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption <?page no="303"?> großen König vorgeführt werden, 63 fanden in der oberdeutschen Literatur offenbar nur solche Texte Resonanz, die ein zwar nicht eindimensionales, aber doch eindeutig positives, mittels verschiedener hagiographischer Schreibmuster generiertes Bild Karls des Großen propagieren. Auf diese Weise wird Karl in den oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen ganz auf die Rolle des vorbildlichen und heiligen Königs festgelegt. B.2.2 diz sî mîn hellebrennen - Die Leiden des heiligen Willehalm Eine ähnliche Hagiographisierung des Ausgangstexts, wie sie - ausgehend vom Rolandslied über Strickers Karl bis zum Buch vom heiligen Karl - für die (ober)deutschen Bearbeitungen der Karlepik demonstriert werden kann, lässt sich ebenfalls für den zweiten Strang der oberdeutschen Chanson de geste- Rezeption, den Willehalm, und weiter: für die gesamte Willehalm-Trilogie aufzeigen. Obschon im Willehalm das Problem der Auseinandersetzung zwischen den Religionen und Kulturen nicht so einseitig behandelt wird wie im Rolandslied und dessen amplifizierender Bearbeitung durch den Stricker, steht, trotz punktueller Berücksichtigung des ‹Rechts des Anderen› (K. Bertau), doch insgesamt die Überlegenheit des christlichen Glaubens außer Frage. Auch bei Wolfram erscheinen die christlichen Kämpfer gegen die Heiden, wie schon im Rolandslied und wie im Karl, als Kreuzritter, die der Ideologie der militia Christi entsprechend als Märtyrer unmittelbar der Anschauung Gottes teilhaftig werden, wenn sie ihr Leben im Kampf gegen heidnische Feinde verlieren (vgl. etwa Wh 14,8-11; 31,12-25 und vor allem die Darstellung des im Ruch der Heiligkeit sterbenden Vivianz: Wh 48,22-49,40; 69,12-16). Dieser narrativen Grundkonstellation verdankt es sich zweifelsohne, wenn Wolfram seiner Version der Auseinandersetzung zwischen Christen und Heiden, die sich auf der Ebene der ‹histoire› als eine Art Fortsetzung des Rolandslieds geriert, während sie auf ‹discours›-Ebene die im Rolandslied dominierende Ideologie oft konterkariert, Signale eingeschrieben hat, die seinen Rezipienten die geistlich-hagiographische Tönung der Erzählung von den beiden Schlachten auf Alischanz von Vornherein deutlich machen mussten. Die Forschung hat solche Signale - z. B. im Prolog, in dem Willehalm als Heiliger vorgestellt wird, den Ritter in Not und Gefahr als Fürsprecher anrufen können - seit langem erkannt und herausgearbeitet, so dass sich an dieser Stelle ein genaueres Eingehen darauf erübrigt. Die nicht zu übersehende geistliche Aufladung des Textes hat, ähnlich wie bei Rolandslied und Karl, dazu geführt, dass der Willehalm verschiedentlich als ‹Legende› bezeichnet worden ist. 64 Genau wie für Französische Heldenepik in Oberdeutschland 293 63 Vgl. dazu W underli . 64 Friedrich O hly : Wolframs Gebet an den heiligen Geist im Eingang des ‹Willehalm›. In: Wolfram von Eschenbach, hg. von H. Rupp. Darmstadt 1966 (WdF 57), S. 455-518; Konrad K unze : Deutschsprachige Hagiographie von den Anfängen bis 1350. In: Hagio- <?page no="304"?> Rolandslied und Karl ist jedoch eine so eindeutige Gattungszuschreibung auch für Wolframs Chanson de geste-Adaptation nicht ganz unproblematisch. Dies umso mehr, als Wolfram im Willehalm die typischen Genremerkmale offenbar gezielt unterläuft. 65 Statt sein mehrere Diskurse in sich vereinigendes - und damit in der Tradition der französischen Chanson de geste stehendes - ‹opus mixtum›, wie es von K. Ruh bezeichnet wurde, als Legende zu klassifizieren, erscheint es daher sinnvoller, ebenfalls für Wolframs Chanson de geste-Bearbeitung von Diskursinterferenzen auszugehen und vor diesem Hintergrund der Bedeutung der hagiographischen Diskurse nachzugehen, die dem Willehalm eingeschrieben sind. Die Kardinalfrage in diesem Zusammenhang war seit je, weshalb der Protagonist im Prolog als sanct Willehalm (Wh 4,13), also als Heiliger, bezeichnet werden kann, obschon der Erzählverlauf darauf anscheinend keine (eindeutige) Antwort zu geben scheint. 66 Eng verknüpft mit dem Problem der umstrittenen Heiligkeit Willehalms ist die Frage nach dem Fragmentcharakter des Textes, genauer: die Frage danach, wie und ob überhaupt Wolfram seine Bearbeitung der Chanson d’Aliscans zu Ende führen wollte. Da allerdings eine eindeutige Antwort darauf nicht gegeben werden kann, ist es müßig, darüber zu spekulieren. Umso mehr verbietet es sich aus methodischen Gründen, aus der jeweiligen Vermutung über einen potenziellen Willehalm-Schluss weitreichende Aussagen über die Heiligkeit des Protagonisten abzuleiten, etwa in der Art, dass Wolfram nach dem Vorbild der französischen Quellen vorgehabt habe, Willehalms Heiligkeit mittels eines ‹moniage› zu begründen. Höchst problematisch erscheint es auch, das Thema der nur im Prolog explizit erwähnten sanctitas mit Thesen über eine vermeintliche Entwicklung Willehalms zu verknüpfen, der sich, wie die ältere Forschung im Sinne des klassischen Entwicklungsromans konstatieren wollte, von einem gnadenlosen Heidenschlächter in der Arofel-Szene zu einem auf Ausgleich zwischen den Religionen bedachten Mediator in der Matribleiz-Szene gewandelt habe, mit der die unvollendete Erzählung Wolframs abbricht. Die neuere Forschung hat verdeutlicht, dass mit solchen Kategorien einem Text des 13. Jahrhunderts nicht beizukommen ist. Das Problem der Heiligkeit Willehalms kann folglich nur anhand des vorhandenen Textmaterials entschieden werden. Diese Prämissen berücksichtigend, hat vor einer Reihe von Jahren J. Bumke eine ebenso interessante wie anregende These vorgestellt. Er glaubt, dass die 294 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption graphies, Bd. II. Turnhout 1996, S. 211-238.; Franziska W essel -F leinghaus : Gotes hantgetat. Zur Deutung von Wolframs ‹Willehalm› unter dem Aspekt der Gattungsfrage. In: Litwiss. Jahrbuch 33 (1992), S. 29-100; Tomas T omasek : Legende und höfische Gesprächskultur. Überlegungen zum ‹Willehalm› Wolframs von Eschenbach. In: FMST 32 (1998), S. 183-195. 65 Vgl. K iening, Reflexion. 66 Zusammenfassung der Forschungsdiskussion vor 1959 bei B umke , Wolframs Willehalm, S. 99-124; bis 1998 bei M iklautsch , G reenfield , Willehalm, S. 188ff.; bis ca. 2003 B umke , Wolfram von Eschenbach, S. 278, S. 361f. <?page no="305"?> im Prolog erwähnte, dann aber nicht mehr ausdrücklich genannte sanctitas Willehalms sich in Wolframs Erzählung sehr wohl wiederfinden lasse - und zwar in der Schilderung der während und als Folge der Heidenkämpfe erlittenen außergewöhnlich großen körperlichen und seelischen Belastungen und Schmerzen des Protagonisten, die, wie immer wieder betont und mit zahlreichen Beispielen belegt worden ist, 67 den ostinaten Unterton von Wolframs Chanson de geste-Adaptation bilden. Jenes Leiden Willehalms an der Situation des unausweichlichen Kampfes gegen die Sarazenen, sein jâmer wie es im Text heißt, sei es, der Willehalms Heiligkeit verbürge: «sein jâmer bereitet ihm den Weg zu Gott.» 68 Stellen doch die in den Heidenkämpfen erlebten Qualen, wie der Text mittels eines inneren Monologs Willehalms verdeutlicht, für den Protagonisten gleichsam die bereits auf Erden erlittenen Qualen des Purgatoriums, sein hellebrennen, dar: 69 got, hât dîn erberme kraft al d’engele in ir geselleschaft müezen mîne vlust erkennen. diz sî mîn hellebrennen, daz diu sêle mîn deheine nôt vürbaz enpfâhe, sît mir tôt des lîbes vreude ist immer mêr. Altissimius sît sölhiu sêr mir hânt gegeben die heiden, nû bewar mich vor dem scheiden von dir am urtellîchem tage und vor der endelôsen klage, der dû niht pfligest ze wenden! dîn erbarme müeze senden mir sô trôstlîchen trôst, des diu sêle ûz banden werde erlôst. man mac an mîme helme sehen, daz ime sturme ist geschehen ûf mich manc ellenthafter slac. ouwê, daz ich niht tôt belac von des admirâtes handen! dô der keiser Ruolanden verlôs vor Marssiljen her und Olivieren, der wol ze wer was, und der bischof Turpîn - noch ist diu vlust groezer mîn. Französische Heldenepik in Oberdeutschland 295 67 Vgl. B umke, Wolframs Willehalm, S. 119. 68 Ebd., S. 120. 69 Vgl. auch Annette G erok -R eiter : Die Hölle auf Erden. Überlegungen zum Verhältnis von Weltlichem und Geistlichem in Wolframs ‹Willehalm›. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, hg. von Christoph Huber u. a. Tübingen 2000, S. 171-194. <?page no="306"?> ist mich von Kareln ûf erborn, daz ich sus vil hân verlorn? der was mîn herre und niht mîn mâc, dehein sîn sippe an mir lac. von wem ist mich ûf geerbet, daz ich sus bin verderbet? Wh 454,15-455,16 Wenn also Willehalm im Prolog als sanctus bezeichnet wird, so scheint dem die Vorstellung zugrunde zu liegen, dass sein Flehen erhört wurde, als er Gott um Gnade bat, «ihm das furchtbare Leid, das er im Heidenkampf besteht, als sein Purgatorium anzurechnen, seine Seele nicht noch einmal dem Gericht zu unterwerfen, sondern gleich zu sich zu nehmen.» 70 Insofern beruht die im Prolog erwähnte Heiligkeit Willehalms in der Tat ganz wesentlich auf seinem im Heidenkampf erlittenen jâmer, auf den der Text immer wieder rekurriert. Und umgekehrt verdankt sich die häufige, zuweilen fast penetrant wirkende Erwähnung von Willehalms mannigfaltigen physischen und seelischen Qualen offenbar just jener im frühen 12. und 13. Jahrhundert besonders virulenten Vorstellung, in der labor heroum und labor sanctorum konvergieren. Bumke sieht Willehalm durch das sündentilgende Leid, das er in den Heidenkämpfen erduldet, in die unmittelbare Nachfolge des heiligen Karl gestellt. Wird doch die Kanonisation des Frankenkaisers in einer von Barbarossa im Umfeld der Heiligsprechung für die Stadt Aachen ausgefertigten Urkunde gleichfalls unter anderem damit begründet, dass das Erdulden verschiedener Leiden sowie die gefährlichen Kämpfe und die täglich erwiesene Bereitschaft zu sterben, die Karl auf sich genommen habe, um die Ungläubigen zu bekehren, ihn zum Märtyrer gemacht hätten: diversarum tamen passionum tribulatio et periculosa certamina ac voluntas moriendi cottidiana pro convertendis incredulis eum martirem fecerunt. 71 Nicht zuletzt mit den Worten ist mich von Kareln ûf erborn,/ daz ich sus vil hân verlorn? habe Wolfram signalisieren wollen, so Bumke, dass Willehalms Heiligkeit «parallel zu der Karls des Großen gesehen werden kann und muß.» 72 Im Weiteren versucht er dann zu zeigen, dass Willehalm als der «eigentliche Karlsnachfolger» 73 - Karls Sohn Ludwig erweist sich als politischer und militärischer Organisator und Anführer im Heidenkampf als weitgehend unfähig - überdies an der kaiserlichen Amtsgnade teilhabe und die Heiligkeit Willehalms in dieser traditionellen sakralen Legitimation für die Zeitgenossen erst ihren eigentlichen Kulminationspunkt 296 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 70 B umke, Wolframs Willehalm, S. 121. 71 MGH Diplomata 10.2, S. 432-434. Die in Friedrich Barbarossas Namen ausgestellte Urkunde rekurriert damit auf jene Vorstellungen, die gleichfalls in der Aachener Vita Karoli Magni und im Bildprogramm der Dachreliefs des Karlsschreins die Heiligkeit Karls begründen. 72 B umke, Wolframs Willehalm, S.121. 73 Ebd., S. 123. <?page no="307"?> finde. 74 Die Analogie zwischen Willehalm und Karl, die der Text mit Bezug auf die von beiden ertragenen Leiden während kriegerischer Auseinandersetzungen mit Ungläubigen in der Tat häufiger aufruft, deutet jedoch - abgesehen von den zyklischen Implikationen, durch die der Willehalm als eine Art Fortsetzung des Rolandslieds erscheint - weniger auf eine direkte Verbindung zwischen Willehalm und Karl. Die Heiligkeit Willehalms folgt nicht unmittelbar aus der Kanonisation Karls im Jahr 1165. Es ist vielmehr so, dass beider Heiligkeit ihre zentrale Begründung in der von C. Erdmann so bezeichneten ‹Entstehung des Kreuzzugsgedankens› findet, also in der Idee der sowohl im Rolandslied (bzw. Karl) als auch im Willehalm und generell in der französischen Heldenepik (vor allem Epen des Typs A) präsenten Ideologie der militia Christi, die - und das ist das Wichtige im Zusammenhang der Vorstellung von der Heiligkeit Karls und Willehalms - in zahlreichen Texten des 12. und 13. Jahrhunderts eng mit Bußvorstellungen, genauer: der Idee des Nachlasses der Sündenstrafe verbunden wird, wie bereits am Beispiel der Karlfigur im Rolandslied demonstriert wurde. Karl ist, wie insbesondere die Dachreliefs des Karlsschreins verdeutlichen, die das gesamte Denkgebäude vom Heiligen Karl gleichsam überwölben, der Prototyp des durch Kreuzzugskampf und dem dabei erlittenen Leid von Sünden befreiten Ritterheiligen. 75 Dieser theologische Diskurs, der Heidenkampf und Buße bzw. Nachlass der Sündenstrafen zusammendenkt, ist dem Rolandslied genau wie dem Karl und augenscheinlich gleichfalls dem Willehalm eingeschrieben. Auch im Willehalm werden Karls Leiden im Heidenkampf erwähnt (vgl. Wh 51,12-15) und seine daraus resultierende Heiligkeit mitgedacht. Wie jeder andere miles Christi hat ebenfalls Willehalm an der Sündenvergabe durch Heidenkampf teil. Das Muster bestimmt die Tiefenstruktur der Texte. Abgesehen von den im Heidenkampf Getöteten ist Willehalms passio, sein jâmer, allerdings noch gewaltiger als die Qualen, die andere im Heidenkampf zu ertragen haben. Insofern ist Willehalms passio nur mit jenem Leid zu vergleichen, das der heilige Karl im Heidenkampf erlitten hat. Karl und Willehalm unter dem Gesichtspunkt des ‹Leids› miteinander zu vergleichen, ist also keineswegs «an den Haaren herbeigezogen», wie W. Schröder einst in einer Besprechung von Bumkes Studie konstatierte, 76 sondern im Gegenteil geradezu konstitutiv Französische Heldenepik in Oberdeutschland 297 74 Den Gedanken von Willehalm als wahrem Nachfolger Karls haben einige Fassungen der Weltchronik Heinrichs von München aufgenommen, wenn Willehalm als Sohn Karls bezeichnet wird, der auch unter dem Namen Ludwig bekannt sei; vgl. dazu Frank S haw : Willehalm as History in Heinrich von München’s Weltchronik. In: Wolfram’s «Willehalm». Fifteen Essays, hg. v. Martin H. Jones und Timothy McFarland, Rochester N.Y. 2002, S. 291-306. 75 Zum Zusammenhang von heiligem Krieg und Willehalms Buße vgl. Joachim B umke : Emotion und Körperzeichen. Beobachtungen zum ‹Willehalm› Wolframs von Eschenbach. In: Das Mittelalter 8 (2003), S. 13-32, hier S. 27. 76 Werner S chröder : Rezension zu Joachim Bumke «Wolframs Willehalm». In: Euphorion 55 (1961), S. 91-97, hier S. 95. Vgl. auch Alois W olf : Kampfschilderungen in Wolffür <?page no="308"?> das Verständnis von Wolframs Chanson de geste-Bearbeitung. Denn als Heiliger und als Fürsprecher, der aller rîter kumber kennt, kann Willehalm im Prolog gerade deshalb bezeichnet werden, weil das hellebrennen, das der entbehrungsreiche und quälende Kampf gegen die sarazenischen Verwandten seiner Frau für ihn bedeutet, Willehalms nach dem Tod zu erleidenden Höllenqualen schon ins irdische Leben vorverlegt. Aufgrund seines besonders schweren Leids kann er somit, von allen Sünden gereinigt und überdies ausgezeichnet durch sein unblutiges Martyrium, als ‹Märtyrer dem Willen nach› (martys ex voto) 77 unmittelbar in die ewige Seligkeit eingehen und zur Anschauung Gottes gelangen. Eben das ist gemeint, wenn es im Prolog heißt: swenn er gediende dînen haz mit sündehaften dingen, dîn erbarme kunde in bringen an diu werc, daz sîn manheit dînen hulden wandels was bereit. Wh 2,28-3,2 78 Dass Willehalm durch seine Waffentaten im Kampf gegen die Heiden die Vergebung seiner Sünden erreichen konnte, macht ihn als Adels- und Ritterheiligen (und nicht nur als Fürstenheiligen) so überaus attraktiv. Nicht zuletzt dieser Stilisierung des Protagonisten zum Ritterheiligen, der im Kampf seine Sünden büßt, dürfte es sich verdanken, wenn der als ritterlicher illiteratus auftretende Erzähler überdies in der Rolle des bußfertigen Sünders agiert (Wh 4, 14ff.) - und Wolfram durch diese Annäherung der Erzählerfigur an eine zentrale Thematik der Erzählung Tendenzen aufnimmt, die als charakteristisch für die Großepik dieser Epoche betrachtet werden können. 79 Zugleich unterstreicht jedoch die übereinstimmende Modellierung des Protagonisten und der Erzählerfigur als Sünder, die Vergebung erlangen oder erhoffen, einmal mehr die Bedeutung dieses theologischen Diskurses in Wolframs Bearbeitung von Aliscans. Denn die Durchdringung fast der gesamten Erzählung mit der zu Anfang des 13. Jahrhunderts äußerst populären Thematik von Sünde, im 298 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption rams ‹Willehalm›. In: ders .: Erzählkunst des Mittelalters. Komparatistische Arbeiten zur französischen und deutschen Literatur, hg. von Martina Backes u. a. Tübingen 1999, S. 25-56, hier S. 55. 77 Vgl. zum Typus des martys ex voto Arnold A ngenendt : Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart. München 2 1997, S. 55. 78 Die Sündhaftigkeit Willehalms ist hier ähnlich unspezifisch wie Karls Sünde im Rolandslied. Vgl. auch H einzle, Kommentar zur Willehalm-Ausgabe, S. 822 und H öcke, S. 145. 79 Vgl. Timo R euvekamp -F elber : Autorschaft als Textfunktion. Zur Interdependenz von Erzählerstilisierung, Stoff und Gattung in der Epik des 12. und 13. Jahrhunderts. In: ZfdPh 120 (2001), S. 1-23, hier S. 16: «Die Erzählerfigur Wolfram passt sich in ihrer Selbstdarstellung als erlösungsbereiter, sündiger Mensch - wie auch Erzähler lateinischer Heiligenlegenden - dem erzählten Stoff und seinem Protagonisten an.» Vgl. zur Erzählerfigur im Willehalm ebenfalls Y oung , Narrativische Perspektiven, S. 110-118; Sebastian C oxon : The presentation of authorship in medieval german narrative literature 1220-1290. Oxford 2001, S. 21f. <?page no="309"?> Heidenkampf erlittener Qual und Vergebung war in dieser Form und Intensität in der französischen Quelle nicht vorgegeben. Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, als ob Wolframs Willehalm auf den hier besonders herausgestellten theologischen Diskurs um die sanctitas Willehalms, die aus seinen als miles Christi erlittenen Leiden resultiert, beschränkt werden könnte. Der Text reagiert bekanntlich auf eine Reihe weiterer theologischer Diskussionen der Zeit, von denen die Frage nach der ‹Gotteskindschaft› der Heiden bzw. nach der Verwandtschaft aller Menschen und das damit zusammenhängende Problem der Berechtigung des bewaffneten Kampfes gegen Nichtchristen in den letzten Jahren und Jahrzehnten die größte Forschungsaufmerksamkeit erfahren haben. 80 Wolframs Chanson de geste-Bearbeitung auf die sicherlich wichtige Auseinandersetzung mit theologischen Fragen zu reduzieren und den Willehalm etwa als ‹Legende› oder ‹Problemlegende› klassifizieren zu wollen, würde einem der perspektivenreichsten Texte der mittelhochdeutschen Literatur jedoch ebenfalls nicht gerecht. Im Zusammenhang der vorliegenden Studie und dieses Kapitels aber, in dem es darum geht, übergreifende Charakteristika der oberdeutschen Chanson de geste-Rezeption herauszustellen, ist es wichtig zu erkennen, dass das Thema des auf einem Kreuzzug erlittenen Leides, das das hellebrennen vorwegnimmt und insofern von Sünden befreit und Heiligkeit bewirken kann, sowohl in Rolandslied und Karl als auch im Willehalm am Beispiel der Zentralfigur verhandelt wird. Die bereits für Rolandslied, Karl und das Buch vom heiligen Karl konstatierte Tendenz zur Hagiographisierung des Epischen lässt sich damit gleichfalls im Willehalm nachweisen. Für einen, vermutlich nicht ganz unerheblichen, Teil des mittelalterlichen Publikums scheint eben diese Tendenz der zentrale Aspekt von Wolframs Chanson de geste-Bearbeitung gewesen zu sein. So dürfte sich wohl die Rezeption des Willehalm, der in der Forschung meist als typische Adelsliteratur gilt, in geistlichen bzw. monastischen Kontexten erklären. 81 Offenbar noch um die Mitte des 13. Jahrhunderts wurde der Prolog des Willehalm (bis 3,24) ins Lateinische übersetzt und zusammen mit weiteren lateinischen Texten über die Trinität auf freigebliebene Blätter eines aus dem bayrischen Kloster Ranshofen stammenden Kodex eingetragen. 82 In der zwei- Französische Heldenepik in Oberdeutschland 299 80 Vgl. zur Diskussion um Heiden als Kinder Gottes die Zusammenfassung in G reenfield , M iklautsch, S. 134-136. Danach erschienen: Joachim H einzle : Noch einmal: Die Heiden als Kinder Gottes in Wolframs ‹Willehalm›. In: ZfdPh 117 (1998), S. 75-80; Neil T homas : The ecumenical ideal in Wolfram von Eschenbach revisited. In: ABäG 50 (1998), S. 111-129; Fritz Peter K napp : Und noch einmal: Die Heiden als Kinder Gottes. In: ZfdA 129 (2000), S. 296-302; John D. M artin : Christen und Andersgläubige in Wolframs ‹Willehalm›. In: ZfdA 133 (2004), S. 45-48. Zur Verwandtschaftsthematik vgl. P eters , Dynastengeschichte; P rzybilski , sippe und geslehte. 81 Vgl. zur Rezeption des Willehalm insgesamt K leinschmidt , Literarische Rezeption; K iening , ‹Willehalm›, S. 522-568. 82 Vgl. Erich K leinschmidt : Die lateinische Fassung von Wolframs ‹Willehalm›-Prolog und ihr Überlieferungswert. In: ZfdA 103 (1974), S. 95-114. Sicherlich ist das Interesse des Übersetzers, wie K leinschmidt erkennt, vor allem auf den Prolog und nicht auf den <?page no="310"?> ten Hälfte des 14. Jahrhunderts wurde eine deutsche Paraphrase des Willehalm- Prologs (1,1-1,18) unter der Überschrift von unserm herren ein gut gebet in eine volkssprachige Gebetssammlung eingereiht. 83 Und in einer im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts und im frühen 16. Jahrhundert von einem Mönch des Benediktinerklosters St. Ulrich und Afra in Augsburg zusammengestellten hausbuchartigen Sammelhandschrift findet sich unter den Notizen zum Jahr 1506 der Vermerk: Item sanctus wilhalmus quiescit seu sepultus est in dyocesi margilonie in montpasiliere cum coniuge sua kyburga. Sanctus rennwart habuit sororem sancti wilhelmi in coniugem uxorem filiam regis portepaliart prouincie etc. kyburga fuit soror renwart et ambo progeniti ex rege sarracenorum terramere. K. Gärtner charakterisiert diese Notiz zutreffend «als Zeichen für die Wertschätzung des Stoffes bei einem monastischen Publikum um 1500». 84 In den gleichen Zusammenhang gehört sicherlich das vermutlich ebenfalls in ein monastisches Umfeld des ausgehenden 15. Jahrhunderts weisende Buch vom heiligen Wilhelm. 85 Das Interesse, das der Willehalm, wie mindestens die Augsburger Notiz von 1506 und die Überlieferung des Buchs vom heiligen Wilhelm belegen, in monastischen Kreisen fand, verdankt sich dabei allerdings mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht allein der starken hagiographischen Aufladung des Willehalm, sondern der Integration des Wolframschen Textes in den Zusammenhang einer Trilogie, die im letzten Teil den heiligen Willehalm, die heilige Gyburc und den heiligen Rennewart als Mitglieder monastischer Gemeinschaften präsentiert. B.2.3 Rennewart als ‹Armer im Geiste› und Willehalm als keuscher Eroberer - Hagiographische Schreibmuster in den Willehalm-Ergänzungen Im Willehalm wird der hagiographische Diskurs zwar im Prolog signalisiert, manifestiert sich jedoch im Erzählverlauf, zumindest was die Figur des Protagonisten betrifft, nicht eben sehr deutlich und hat folglich die Forschungsdiskussion zwar stimuliert, insgesamt jedoch weniger bestimmt als andere 300 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption gesamten Text gerichtet. Doch ob sich daraus generell schließen lässt, dass «ein spezifisches Interesse an dem heiligen Wilhelm» (S. 97) beim Übersetzer nicht vorhanden gewesen sei, wäre noch einmal zu prüfen. 83 Vgl. Hartmut J akobi : Ein Kasseler Bruchstück der ‹Erlösung› und einer mhd. Gebetssammlung (mit einer Paraphrase zu Wolframs ‹Willehalm›-Prolog). In: ZfdA 117 (1988), S. 146-155. 84 Kurt G ärtner : Ein Zeugnis für die ‹Willehalm›-Rezeption um 1500. In: WS 6 (1980), S. 201-205. Übers. (nach K. Gärtner): Der heilige Willehalm ist in der Diözese Margilonie in Montpasiliere (Montpellier) mit seiner Gemahlin Gyburg zur letzten Ruhe gebettet. Der heilige Rennewart hatte die Schwester des heiligen Willehalm zur Ehefrau, die Tochter des Königs der Provinz Portepaliart usw. Gyburg war die Schwester Rennewarts, und beide stammten vom Sarazenenkönig Terramer ab. 85 Vgl. dazu D eifu ß , Hystoria, bes. S. 205-208. <?page no="311"?> Fragestellungen und Probleme, die Wolframs Chanson de geste-Bearbeitung aufwirft. Für die Fortsetzung des unvollendeten Willehalm gilt ein genau entgegengesetzter Befund. Der Rennewart firmiert in der wissenschaftlichen Literatur als ein Text, in dem der hagiographische Diskurs die unbezweifelbare narrative Dominante bilde, 86 während das problematisierende und irritierende Potenzial des Wolframschen Textes, durch das die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Religionen und Kulturen immer wieder, vor allem auch durch Erzählerbemerkungen, eingespielt und aus anderer Perspektive erörtert wird, zugunsten einer eindimensionalen Schwarz-Weiß-Zeichnung, also einer vereindeutigenden Dichotomie zwischen Christen und Heiden, zwischen Gut und Böse, eingeebnet worden sei. 87 Der Textbefund scheint die seit dem 19. Jahrhundert gültige Forschungsmeinung eines ‹Legendenromans› auf den ersten Blick mehr als deutlich zu bestätigen. Und doch erweist sich, wie zu zeigen sein wird (vgl. S. 328ff.), auch der Rennewart als Text, der unterhalb der glatten Oberfläche einige Verwerfungen aufweist. Mit einigen einschneidenden Änderungen gegenüber der französischen Quelle hat Türheim sicherlich wesentlichen Anteil daran, dass die Willehalm-Trilogie, wie die Rezeptionszeugnisse zeigen, ihr Publikum nicht nur am Hof, sondern ebenso im Kloster fand. Anders als in der französischen Vorlage (Moniage Guillaume I und II), wo Guiburcs Tod für Guillaume den Anstoß liefert, der Welt zu entsagen und ins Kloster zu gehen, lässt Türheim - wohl beeinflusst durch Wolfram, der Gyburc ausdrücklich als heilic vrouwe (403,1) bezeichnet und ihre Rolle gegenüber der Aliscans-Dichtung aufgewertet hatte - das Paar Gyburc-Willehalm, auf Gyburcs Anregung hin, gemeinsam in getrennte Konvente eintreten (vgl. Rw 33568-33689). Mit dieser Entscheidung verschwindet Gyburc zwar als aktiv handelnde Protagonistin aus der Erzählung, ihr Schicksal entspricht jedoch demjenigen Willehalms noch gegen Ende des Lebens und vor allem im Tod, denn Gyburc stirbt als Heilige (vgl. Rw 34160-34166). Das Paar bleibt selbst über den Tod hinaus vereint, denn nach Gyburcs Tod birgt Willehalm den Körper der verstorbenen Heiligen und überführt ihn als Reliquie in das von ihm selbst gegründete Kloster. Dass Gyburcs Tod von Türheim als Tod einer Heiligen inszeniert wird, hat sicherlich mit Wolframs Vorgaben zu tun, die von Türheim nachträglich einge- Französische Heldenepik in Oberdeutschland 301 86 Vgl. z. B. de B oor, S. 190: «Man fühlt sich nicht selten an die alten Legendenromane erinnert»; B umke , Geschichte der deutschen Literatur, S. 258: «Die Umgestaltung zur Heiligenlegende wird bei Türheim gegen Ende zum beherrschenden Konzept.» 87 Vgl. S trohschneider , Art. Ulrich von Türheim, wo er eine durch Türheims Rennwart bewirkte «orthodoxe Problemeindämmung» der durch Wolframs Willehalm aufgeworfenen Fragen andeutet. Ähnlich bewertet Ulrich M üller: Wolfram von Eschenbach. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, hg. von Horst Albert Glaser. Bd. 1: Aus der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit: Höfische und andere Literatur 750-1320. Reinbek 1988, S. 236-249, hier S. 249, Rennewart (und Arabel) als den «geistigen Sprengstoff des Willehalm entschärfende Texte»; vgl. auch K iening , Wolfram von Eschenbach, S. 63. <?page no="312"?> löst werden. Doch das allein erklärt die Abweichung gegenüber der französischen Quelle nicht. Türheims Darstellung von Gyburcs Schicksal dürfte daneben auch mit seinem Konzept einer konsequenten Hagiographisierung des heldenepischen Stoffes zusammenhängen. Denn nicht allein Gyburc und Willehalm sterben in Türheims Willehalm-Fortsetzung als Heilige. Anders als in den französischen Quellen werden überdies alle anderen christlichen Protagonisten bei ihrem Tod als Heilige bezeichnet: Rennewart (vgl. Rw 25630f.; 25851-25879) und dessen Frau Alise (vgl. Rw 9175-9185) ebenso wie deren Sohn Malefer sowie Pentesilea, dessen Frau (vgl. Rw 33131f.); unmittelbar ins Paradies gehen zudem Willehalms Brüder (vgl. Rw 25882-25894) und seine Schwester ein (vgl. Rw 36115-36117). Die von Wolfram begonnene Erzählung um das heilige Paar Willehalm und Gyburc weitet Türheim solchermaßen zur Darstellung der heiligen Willehalm-Sippe aus, deren Schicksal von vielfältigen Wundern und Zeichen göttlicher Hilfe umwittert ist. Angesichts der Amplifikation und Verstärkung des hagiographischen Diskurses verwundert es nicht, wenn Türheim bereits im Prolog seiner Willehalm-Fortsetzung zur topischen Wahrheitsbeteuerung auf einen Vergleich mit biblischen Schriften zurückgreift und den Erzähler versichern lässt, die nachfolgende Geschichte von sancte Willehalmen sei also war so ein[en] salmen (Rw 133f.). Der Erzähler präsentiert sich im Übrigen, wie die Erzählerfigur Wolfram, im Prolog in der topischen Rolle eines bußfertigen Sünders, der sich von seinen früheren, weltlichen Werken distanziert: Des beginnes ich hie beginne daz ich den hie so gespreche daz ez die s u nde breche. sprach ich ie daz gelogen was, daz man doch leider gerne las, wan ez gezoch sich gein der welte, herre, mit disem gelte wil ich die l u ge b u zen und wilz mit worten s u zen, daz nie t u tshe bezzer wart sit daz dir nihsnit ist verspart, so erkenne, herre Adonay, daz ditz getihte din dienst si Rw 114-126 Der seine Sünden bereuende, Vergebung erhoffende Erzähler korrespondiert auffällig mit den Figuren der erzählten Geschichte, die gleichfalls auf Sündenvergebung hoffen und dafür Leid, Mühe und arbeit auf sich nehmen. Der gesamte erste Teil des Rennewart, der mit dem siegreichen Ende der zweiten Alischanz-Schlacht gerade dort einsetzt, wo Wolframs Willehalm abbricht, im Anschluss dann über Rennewarts Hochzeit mit Alise, der Tochter des französischen Königs, berichtet, um danach mit der Erzählung von der Geburt des Sohnes von Rennewart und Alise fortzufahren, die der Mutter das 302 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption <?page no="313"?> Leben kostet und Rennewart letztlich dazu veranlasst, sich aus der Welt zurückzuziehen, nachdem sein neugeborener Sohn auch noch entführt wurde, wird in einer Erzählerbemerkung unter das Schlagwort leit gestellt: swer hat daz vorder leit gelesen dizz b v ches, der m u ste wesen in clage, als er ez gelas. Rw 10255-10257 Das spezifische leit Willehalms besteht im Rennewart allerdings weniger aus den Entbehrungen des Heidenkampfes (vgl. etwa 21009-21018), obwohl Kämpfe zwischen Christen und Sarazenen einen nicht unerheblichen Teil des Textes ausmachen, als vielmehr aus den Qualen, die er um den verlorenen oder in Lebensgefahr geglaubten Rennewart zu ertragen hat (vgl. 1263-1270; 1455; 9601-9612) und vor allem aus jenen Entbehrungen, die Willehalm gegen Ende der Erzählung als Mönch bzw. Eremit erdulden muss (vgl. 34326-34329; 35550-35552; 36241-36251). Wie die Protagonisten der Erzählung nimmt auch das Erzähler-Ich Mühe und Leid auf sich. Freilich nicht als miles Christi oder als Mönch. Seine arbeit ist vielmehr die Mühe des Schreibens (vgl. Rw 31596). Das Ich erhofft, wie es zu Beginn und zu Ende der Dichtung äußert, durch das Schreiben des Textes der göttlichen Gnade teilhaftig zu werden und durch die Vermittlung des heiligen Willehalm die Vergebung seiner Sündenschuld zu erreichen: so erkenne, herre Adonay, daz ditz getiht din dienst si Rw 125f. des helf uns, sand Willehalm, und erhore minen galm, und erkenne die arbeit die ich han an ditz buch geleit, dir zu dienste, herre min. nu tu mir dine hilfe schin, daz miner sele werde rat. Rw 36491-36497 Der bußfertige Rennewart-Erzähler, der sich durch Schreib-arbeit von seiner Sündenschuld befreien möchte, erweist sich mithin, ähnlich wie der Willehalm-Erzähler, als funktionales Produkt eines Textes, in dem der hagiographische Diskurs die Erzähldominante bildet. In diesen Zusammenhang gehören auch weitere Textsignale, wie man sie aus geistlicher Literatur kennt. Als eigentlichen Initiator der Erzählung, als Schreibursache, benennt der Text Christus: ich ennante iu aber den man durch den des b v ches ich began: er ist genant Messyas. Maria sin m v ter was, diu maget unwandelbaere. Rw 29691-29695 Französische Heldenepik in Oberdeutschland 303 <?page no="314"?> Bevor die Erzählung nach dem langen Einschub von Malefers Orientabenteuern wieder zu Willehalm zurückschwenkt, wird in einem weiteren Erzählereinschub Gott als Textorganisator des Rennewart präsentiert: ich weiz f u r war daz got vil wol kann der sinen shone pflegen. wie rehte hat erz gewegen, daz Willehalmes geswigen was und ein wort nieman von im las, und seite nit wan von Malfern. nu enwil des got niht enbern, er ensi der aben u tre wirt, daz im daz b v ch wider wirt Rw 33172-33180 Das alles kennen die französischen Quellen nicht. Die geradezu kategorial zu nennenden Differenzen zwischen französischer Heldenepik und Türheims deutscher Adaptation werden in einer Passage besonders augenfällig, die sowohl der deutsche wie der französische Text enthalten, allerdings jeweils ganz unterschiedlich gestalten - die Darstellung von Willehalms Weltabkehr und seinem Klosterleben. Schon direkt zu Beginn von Moniage Guillaume I, der vielleicht älteren Fassung von der Mönchwerdung Guillaumes, wird der Gegensatz zwischen Guillaume und seinen klösterlichen Mitbrüdern vorgeführt. Der Abt begrüßt dort den eintrittswilligen Novizen mit dem Vorwurf, Guillaume habe während seines bisherigen Lebens 20000 Sünden begangen, für die nun Buße zu leisten sei (MG I 125ff.). Komik entsteht dabei durch die hyperbolische Anzahl von Sünden, die der Abt eben jenem Guillaume vorwirft, der aufgrund seines unermüdlichen Einsatzes für die Sache Gottes jedem Rezipienten des ‹Cycle du Guillaume› als besonders eifriger Christ erscheinen musste, und der überdies in der jener Abtschelte unmittelbar vorausgehenden Szene (vgl. MG I 58ff.) als in persönlichem Kontakt mit Gott stehend dargestellt worden war. Humoristisch überformt erscheint ebenfalls das traditionelle Motiv einer kategorialen Differenz zwischen litterati und illitterati, wenn der Abt den nicht mehr ganz jungen adligen Novizen fragt, ob er singen und lesen könne, und Guillaume darauf die lakonische Antwort gibt: «Ja, ohne in ein Buch zu schauen.» (MG I 130f.). Auch dass für den riesigen Kämpen Guillaume keine passende Mönchskutte gefunden werden kann und er infolgedessen in seinem viel zu kurzen Habit eine nicht eben würdevolle Figur abgibt (MG I 150ff.), demonstriert augenfällig die Unterschiede zwischen den beiden Ständen. Hierzu zählt ebenfalls die Beschreibung Guillaumes als um die Einhaltung der strengen Klosterregeln bemühter Novize, der allerdings seine über viele Jahre anerzogenen bzw. angeborenen Affekte nie bezähmen kann und sich demzufolge als stets hungrig, durstig und vor allem als gewalttätig im Umgang mit seinen klösterlichen Mitbrüdern erweist. Die zu Beginn des Moniage Guillaume I bereits sorgfältig vorbereitete Darstellung der divergierenden Mentalitäten wird im weiteren Verlauf erzählerisch fruchtbar gemacht, wenn der Abt 304 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption <?page no="315"?> jenes Klosters, in dem Guillaume so unwillkommen ist, diesen zu beseitigen versucht, indem er Guillaume vorsätzlich auf eine lebensgefährliche Mission schickt, ihm jedoch, unter Verweis auf die Gelübde, verbietet, sich zu verteidigen (MG I 291ff.). Guillaume unterwirft sich zwar äußerlich dem ihm völlig unverständlichen Gebot, nutzt später allerdings ein dem Abt abgerungenes Zugeständnis (Guillaume dürfe sich einzig dann, allerdings nur mittels ‹Fleisch und Knochen›, verteidigen, wenn man ihn seiner Unterhosen berauben wolle), um - gleichsam durch sorgfältige Wortexegese - sein gewohntes Verhalten beibehalten zu können. Indem er nämlich Räuber, die er durch den Gesang eines ihn begleitenden Dieners eigens angelockt hat, 88 ausdrücklich auf einen sehr wertvollen Gürtel hinweist, den er trage, glaubt er sich berechtigt, in dem Augenblick die Angreifer töten oder in die Flucht schlagen zu dürfen, als sie ihm den prächtigen Gürtel rauben wollen, da er mit diesem schließlich seine Hosen halte (vgl. MG I 563ff.). Mit Guillaumes Rückkehr ins Kloster, seiner teilweise sogar blutigen Rache an den verräterischen Mönchen samt ihrem Abt und dem von Gott verfügten Verlassen des Klosters sowie Guillaumes Aufbruch in eine Eremitenklause bricht der Moniage Guillaume I ab. In der wesentlichen Handlungsstruktur identisch, in einzelnen Details allerdings abweichend, schildert das Geschehen um Guillaumes (scheiternde) Mönchwerdung und seinen Rückzug aus der Welt gleichfalls eine wohl später entstandene und sehr viel voluminösere Fassung (Moniage Guillaume II), die sich durch Konkretisierungstendenzen und das Bemühen um eine logische Begründung des Erzählgeschehens auszeichnet. Auch in dieser Fassung wird die aus dem Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Interessen des (Ex)-Kriegers und der Mönche resultierende Komik jedoch unentwegt erzählerisch ausgespielt. Alle burlesken Elemente seiner Vorlage hat Türheim sorgfältig eliminiert. Anders als in den französischen Quellen bereitet in seiner Fassung Willehalm das Klosterleben keine großen Schwierigkeiten, im Gegenteil: Willehalm erweist sich als vorbildlicher Mönch, der einträchtig mit seinen Mitbrüdern zusammenlebt und von ihnen, und insbesondere vom Abt des Klosters, seinerseits sehr geschätzt wird. In ihr Gegenteil verkehrt Türheim z. B. die Szene, in der der Abt den eintrittswilligen Novizen nach seiner Lesefähigkeit fragt. Während der Ex-Krieger in der Moniage Guillaume I darauf mit einem Scherz antwortet, erweist sich Türheims Willehalm als versierter litteratus, der von sich behaupten kann, ich bin die b v ch wol geleret (Rw 33767). 89 Doch nicht al- Französische Heldenepik in Oberdeutschland 305 88 Das Lied des Dieners, der offenkundig nicht weiß, wen er begleitet, ist ein besonderes Kabinettstück des an Komik ohnehin nicht gerade armen Moniage Guillaume I. Singt doch der Diener in einer autoreferenziellen Wendung (mise en abyme), die einiges über die genau kalkulierte Erzählstruktur des ‹Cycle du Guillaume› verrät, für seinen Herrn das Lied von der Eroberung Oranges durch den berühmten Guillaume und vom Gewinn Orables durch eben jenen Kämpfer, nicht ahnend, dass genau der sein Zuhörer ist (vgl. MG I 445ff.). 89 Ähnliches behauptet Odo von Cluny in der berühmten Vita des Gerald von Aurillac von dem Kriegerheiligen. <?page no="316"?> lein deswegen fügt Willehalm sich gut ins Klosterleben ein, 90 ausschlaggebend sind insbesondere seine Demut, seine Disziplin und sein Gehorsam gegenüber der Klosterregel. So gehorcht etwa Willehalm dem Abt, der ihm, dem im Weltleben Erfahrenen, die Verantwortung für die Gäste des Klosters auferlegt, obwohl er eigentlich keinerlei Kontakt mit der außermonastischen Welt mehr haben möchte (vgl. Rw 33840-33897). J.-D. Müller spricht in diesem Zusammenhang zutreffend davon, dass auf den Klosterbruder Willehalm zunächst Aufgaben zukämen, «die an die frühere Herrenexistenz erinnern.» 91 Wirklich zufrieden mit seiner Stellung im Kloster zeigt Willehalm sich indes erst, nachdem er das niedrigste Amt innehat, das niemand sonst verrichten möchte: die Pflege des Hühnerhofes (vgl. Rw 34103-34145). Keine dieser Szenen findet sich in der Moniage I oder II, Türheim hat durch sie vielmehr jene Erzählpassagen ersetzt, in denen in der französischen Quelle immer wieder schwere Auseinandersetzungen zwischen Guillaume und dem Konvent geschildert werden. Insofern handelt es sich bei der Schilderung von Willehalms Klosterleben durch Türheim in der Tat um eine «Amalgamierung ritterlicher und monastischer Lebensform», 92 verglichen mit der französischen Quelle also um einen ‹höfischen Kompromiss›. Deutlich wird dadurch einmal mehr, dass in der deutschen Adaptation das Genre der Heroik, in dem üblicherweise nicht der Kompromiss, sondern der Antagonismus zwischen Held und Mönch dominiert, verlassen wurde. 93 Überblendet hat Türheim seine Darstellung von Willehalms Klosterleben mit dem Muster des aus der lateinischen Vitenliteratur bekannten Adelsheiligen, der sein Weltleben durch Eintritt in einen Konvent oder als Eremit hinter sich lässt. 94 Stets fügt der Adelsheilige sich in diesen Viten, genau wie Wille- 306 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 90 Vgl. Rw 33823-33831: Willehalmes des markis/ des leben was in alle wis/ vil k u she und vil reine./ man vant in dicke eine/ an siner venie mit gebet. swaz er s u nden ie getet,/ die ruwen in vil sere./ durch die heren gotes ere/ las er vaste und sang. 91 Jan-Dirk M üller : Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 164. 92 Ebd., S. 167. 93 Bezeichnenderweise steht im Großen Rosengarten, also einem Vertreter der deutschen Heldenepik, ganz analog zu den französischen Epen, statt eines Kompromisses der drastische Gegensatz zwischen Krieger und Mönch im Vordergrund, wenn der Moniage eines Kriegers wie Ilsan geschildert wird; auch im Wolfdietrich kommt es zu keinem Ausgleich zwischen adeliger und monastischer Lebensform; vgl. dazu M üller , Kompromisse, S. 158-163. 94 Vgl. zu diesem Modell allgemein Karl B osl : Der «Adelsheilige». Idealtypus und Wirklichkeit, Gesellschaft und Kultur im merowingerzeitlichen Bayern des 7. und 8. Jahrhunderts. In: Speculum Historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung, hg. von C. Bauer u. a. München 1965, S. 167-187; Hagen K eller : ‹Adelsheiliger› und Pauper Christi in Ekkeberts Vita sancti Haimeradi. In: Adel und Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern, hg. von Josef Fleckenstein und Karl Schmid. Freiburg usw. 1968, S. 307-324; Herbert G rundmann : Adelsbekehrungen im Hochmittelalter. Conversi und Nutriti im Kloster. <?page no="317"?> halm, problemlos in das monastische Umfeld ein. Jenem Modell verdankt sich auch eine andere Szene der Willehalm-Fortsetzung Türheims, die sich in der französischen Quelle in dieser Art ebenfalls nicht findet. Mit ausdrücklichem Dispens des Abtes - ein, wie der Text ausdrücklich erwähnt, ehemals kampferprobter Ritter, nun aber ein conversus (vgl. Rw 10831-10872) - werden Willehalms kämpferische Qualitäten noch einmal aktiviert, wenn er gegen Holzdiebe antritt, die das closter rauben (Rw 33956). Was Türheim durch die Episode von den Holzräubern literarisch umsetzt, ist das in etlichen Viten von Mönchen, Nonnen oder Konversen begegnende Motiv adliger latrones oder raptores, die ein Kloster schädigen, indem sie die ihm zustehenden Rechte missachten. Doch wird dieses Motiv bei Türheim in charakteristischer Weise umgeformt: Nachdem Willehalm die Räuber, wie ihm vom Abt befohlen worden war, tatsächlich unschädlich gemacht und dadurch den Besitz des Klosters verteidigt hat, kommen ihm Zweifel an seiner Tat, bei der es nicht ohne Tote abging. Der Abt versichert ihm jedoch daraufhin, Willehalm brauche sich wegen des Totschlags an diesen Räubern, die zuvor als werde knappen bezeichnet worden waren (Rw 34021), nicht zu grämen, da sie in Wirklichkeit Sarrazine (Rw 34092) gewesen seien. Die reichlich unmotivierte Versicherung des Abtes stellt den Versuch dar, zwei unterschiedliche hagiographische Schreibmuster zu synthetisieren, wie das in deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen bereits zuvor schon beobachtet werden konnte. Wenn die von Willehalm besiegten raptores zu Sarazenen werden, wird der aus Mönchs- und Nonnenviten bekannte hagiographische Topos eines weltlichen Klosterschädigers durch das Modell der militia Christi überformt. Ganz ähnliche Tendenzen wie in Türheims Umformung von Willehalms Klosterleben zeichnen sich bei seiner Schilderung von Rennewarts monastischer ‹Karriere› ab, die in der französischen Fassung sogar noch skurriler beginnt als Guillaumes Klostereintritt. In der Moniage Rainouart drückt Rainouart die Tür des Klosters, in das man ihn nicht einlassen will, kurzerhand ein und tötet dabei den dahinter sitzenden Pförtner, der ihn zuvor aus seiner scheinbar sicheren Position heraus noch verspottet hatte - er fällt also im Wortsinn mit der Tür ins Haus (vgl. MR 176ff.). So turbulent, dass es der älteren Forschung als geradezu unmoralisch erschien, gestaltet sich ebenfalls der weitere Verlauf seines Klosterlebens. Nach seinem gewaltsamen Eindringen ins Kloster gelangt Rainouart, nachdem er, ganz dem Typus des unbändigen Helden entsprechend, mit großem Appetit die üppig gedeckte, von den Mön- Französische Heldenepik in Oberdeutschland 307 In: ders .: Ausgewählte Aufsätze. Teil 1, Religiöse Bewegungen. Stuttgart 1976 (Schriften der MGH 25,1), S. 125-149; Herbert G rundmann : Deutsche Eremiten, Einsiedler und Klausner im Hochmittelalter (10.-12. Jahrhundert). In: ders .: Ausgewählte Aufsätze, S. 93-124; Joachim W ollasch : Parenté noble et monachisme réformateur. Observations sur les ‹conversions› à la vie monastique aux XI e et XII e siècles. In: Revue Historique 264 (1980), S. 3-24. Bestandteil dieses Modells kann ebenfalls die Gründung eines Hausklosters mitsamt eines oder einer Hausheiligen sein, als die in Türheims Willehalm-Fortsetzung Gyburc aufgefasst werden muss. <?page no="318"?> chen beim Anblick des riesenhaften Eindringlings jedoch fluchtartig verlassene Tafel vollständig leergegessen und -getrunken hat, zunächst in die Kirche des Klosters. Als er dort ein großes Kruzifix erblickt, hält er die am Kreuz hängende Figur für einen Hilflosen, der von den Mönchen in feindlicher Absicht aufgehängt worden sei und bietet ihm Hilfe an: Quant Rainuars ot beü plenté et ot mengié le mangier dant abé, prent son tinel, n’i a plus demoré; cherke les angles environ de tous lés, mais il n’i trueve ne moine ne abé, car tout estoient muchié et trestorné. Et Rainuars a tant quis et alé, vient au moustier, s’a partout regardé, mais n’i trova home de mere né. Amont esgarde et si a tant visé qu’il a veü un crucefis doré; par grant meistrie l’ot on fait et ovré. Rainuars l’a perchut et ravisè; mervilla soit, si l’a araisoné: «Di va,» fait il, «qui t’a si haut levé? Descent cha jus tant qu’aie a toi parlè. Ou sont cil moine, quant n’en ai nul trové? Venés aval tant qu’aie a vous parlé; a aus me rent par bone volenté - Servirai Nostre Sire.» Dist Rainuars: «Vassal qui est lassus, n’aies poour, descent a moi cha jus, et si me di - se t’aime ait ja salus - ou est li couvens, quë est il devenus? Si te dirai pour coi sui ci venus: Rainuars sui, un caitif durfeüs; tant Sarrasin ai mors et confondus, se Dex nel fait, que tos serai perdus. Rendre me voel, ne sai qu’en die plus. Servirai Dieu qui maint tot haut lasus, car j’ai les dras et si les ai vestus; il ne me faut que rere.» Dist Rainuars: «Vassal, a moi parlés. Que fais du la, qui es si haut montés? Descent cha jus, ne soies effraés. U’ es li covens et li abes alés? » Ensi disoit Rainuars li dervés. Une lieuee est illuec arestés: «Vassal,» dist il, «a moi ne parlerés; or m’en irai et chïens remanrés. 308 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption <?page no="319"?> Tu me regardes ausi com uns dervés; as vis dïables soies tu commandés! » A tant s’en ist, en l’encloistre est tornés. MR 221-263 95 In diesem Duktus fährt der Moniage Rainouart ähnlich im weiteren Erzählverlauf fort. Es soll allerdings genügen, hier nur noch jene Szene zu erwähnen, in der der Riese tödlich beleidigt ist, weil die Mönche dem ebenso laut wie falsch Singenden die Teilnahme an den vom ganzen Konvent vorgetragenen Chorälen verbieten wollen. 96 Obwohl auch Türheim nicht völlig auf die Darstellung des Aufeinanderprallens der unterschiedlichen Lebensformen von Adel und Klerus und den daraus resultierenden Spannungen und komischen Momenten verzichten kann, Französische Heldenepik in Oberdeutschland 309 95 Le Moniage Rainouart I. Publié d’après les manuscrits de l’Arsenal et de Boulogne par Gerald A. Bertin. Paris 1973 (SATF); Übers.: Nachdem Rainouart seinen Durst gestillt hat und das Mahl des Herrn Abtes gegessen, nimmt er seine Stange (Tinel), ohne noch länger zu warten. Er sucht in allen versteckten Winkeln, er findet aber weder Mönch noch Abt, weil sie sich alle sehr gut versteckt haben. Und Rainouart hat überall gesucht und ist überall gewesen, er kommt zur Kirche, hat sich überall umgesehen, aber er findet dort keinen Menschen, der von einer Mutter geboren wurde. Als er aufschaut, wird seine Aufmerksamkeit durch ein goldenes Kruzifix angezogen, das man mit großer Meisterschaft erschaffen und gewirkt hat. Rainouart hat es bemerkt und genau angeschaut. Er wundert sich und hat es angeredet: «Sag mir», ruft er, «wer hat dich so hoch gehängt? Komm runter, damit ich mit dir sprechen kann (wörtl.: gesprochen habe). Wo sind die Mönche, ich hab nirgendwo einen gefunden? Komm also herab, damit ich zu dir spreche! Ich gehe freiwillig in den Konvent. Ich werde Unserem Herrn dienen.» Rainouart ruft: «Vasall, wer ist da oben? Hab keine Angst, komm zu mir herunter und sag mir, falls deine Seele schon gerettet sein sollte, wo sind die Mönche? Wo sind sie hin? Ich will dir sagen, weshalb ich hier bin: Ich heiße Rainouart - ein armer Schlucker. Ich habe so viele Sarazenen getötet und verletzt, dass, ohne die Hilfe Gottes, ich völlig verloren sein werde. Ich will Mönch werden; weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll. Ich werde Gott dienen, der alles von oben regiert, deshalb habe ich schon den Habit und bin damit ausgestattet. Es fehlt mir nur noch die Tonsur.» Rainouart sagt: «Vasall, sprich mit mir: Was machst du dort oben, so hoch aufgehängt? Komm herunter, hab keine Angst. Wo sind die Mönche und der Abt geblieben? » So redet Rainouart und sagt verrückte Sachen. Er ist einen Moment dort reglos stehen geblieben. «Vasall», sagt er, «ihr antwortet mir nicht! Ich werde deshalb gehen und ihr bleibt hier. Du scheinst mir nicht ganz richtig zu sein - scher dich doch zum Teufel! » Sogleich geht er und wendet sich dem Klostergebäude zu. 96 Treffend wird die Figur des französischen Rainouart von K napp charakterisiert, wenn er schreibt: «Rainouart bleibt immer derselbe: Reizt man ihn, so haut er alles kurz und klein und muß dann umständlich versöhnt werden; dazwischen ißt und trinkt er unmäßig, leidet an Gedächtnisschwund und vergißt seinen ‹tinel›»; Fritz Peter K napp : Rennewart. Studien zu Gehalt und Gestalt des «Willehalm» Wolframs von Eschenbach. Wien 1970 (Dissertationen der Universität Wien 45), S. 334. Zu durchaus zu verzeichnenden gegenläufigen Eigenschaften Rainouarts vgl. François S uard : Héros et action héroïque, des batailles de Larchamp au Moniage Guillaume. In: Andrea Fasso (Hg.): La Chanson de Geste e il cicolo di Guglielmo d’Orange. Atti del Convegno di Bologna 7-9 ottobre 1996. Rom 1997 (Medioevo Romanzo 21), S. 208-240. <?page no="320"?> wird Rennewarts Übergang vom Weltzum Klosterleben in der Willehalm- Fortsetzung weitaus unproblematischer dargestellt. Zwar hat auch Türheims Rennewart ob seines unbändigen Appetits und seiner kaum bezähmbaren Affekte Schwierigkeiten mit der monastischen Lebensform. Die Probleme resultieren in der deutschen Bearbeitung jedoch weniger aus der mit der mönchischen vita contemplativa unvereinbaren Lebensweise eines Ex-Kriegers, als vielmehr ganz konkret aus der mangelnden christlichen und klerikalen Bildung des Ex-Heiden und Ex-Kriegers. Bei Türheim entspricht er kaum mehr dem Typus des komischen, nicht unbedingt mit überragendem Intellekt gesegneten Kraftprotzes, wie man ihn aus der französischen Heroik kennt. Zudem wird die Rennewart-Figur, deren burleske Züge bereits in Wolframs Willehalm abgeschwächt worden waren, von Türheim zu einem Gottsucher stilisiert, der sich zwar bemüht, Glaubenswahrheiten auch mit dem Verstand zu begreifen und den Abt oder Willehalm danach fragt (vgl. etwa Rw 10885-10893; 11082-11086; 11284f.; 16310-16330). Von Gott besonders ausgezeichnet wird er aber schließlich gerade wegen seiner ‹heiligen Einfalt›. 97 Denn nicht der als Typus des schriftkundigen Adeligen dargestellte, theologisch hochgebildete Abt ist es, der Gott besonders nahe kommt, sondern der ungebildete Rennewart in seiner sancta simplicitas. Ganz in diesem Sinne gestaltet Türheim jene humorvolle Szene aus der französischen Quelle um, in der der einfältige Rainouart vergeblich mit dem Abbild des Gekreuzigten zu sprechen versucht. Bei Türheim redet Christus in einer an mirakulöse Texte erinnernden Passage hingegen tatsächlich vom Kreuz herab mit Rennewart, als dieser ein Zeichen für die Wahrheit des christlichen Glaubens begehrt: 98 «durch mine bet sprich etteswaz, so gelaube ich deste baz dinen tauf, und dine geburt, gistu mir ein antwurt, dine urstende, und dinen tot, und dine aengestliche not, und dine wunderliche uffart.» daz bilde sprach zu Rennewart: «ich bin der marter zeichen. swa du wilt an mich reichen, 310 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 97 Vgl. zum Typus des ‹pauper spiritu› Paul L ehmann : Die heilige Einfalt. In: ders .: Erforschung des Mittelalters. Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze, Bd. III. Stuttgart 1960, S. 213-224. 98 Sofern die Rennewart-Handschriften mit einem Bildprogramm ausgestattet sind, wird diese spektakuläre Passage einem ikonographischen Muster folgend illustriert, wie man es aus geistlichen Handschriften mit ähnlichen mirakulösen Szenen kennt; vgl. Wien, ÖNB, Cod. 2670, fol. 209 v und Wien, ÖNB, ser. nov. 2643, fol. 234 r ; den Hinweis darauf verdanke ich Henrike M anuwald . Dafür, dass sie mir eine Abbildung des Kreuzeswunders aus der letztgenannten Handschrift zur Verfügung stellte, danke ich Maria T heisen ; vgl. auch dies. : «History buech reimenweisz». <?page no="321"?> des wil ich dir g u nnen wol. grif die marterlichen dol, die ich an dem cr u ce leit durch dich und durch die kristenheit! von der marter sin gesheiden die juden gar und die heiden: die m u zen in ungnade wesen. wizze f u r war, du bist genesen, ob du blibest staete. swaz du s u nden ie getaete, die sint alle dir vergeben. behalt an mir din reines leben! und swa du durch mich vihtest und zu der heiden shaden pflihtest und in den ungelauben werst, swa du des libes sie beherst, dar an lit gar min wille.» da mit sweig ez do stille, daz bilde, und sprach niht mer. Rw 11201-11229 Türheim bemüht sich also offenkundig, auch der Ungebildetheit, der Nicht- Intellektualität des kraftstrotzenden Rennewart, die in der französischen Vorlage so spektakulär mit der monastischen Lebensweise kontrastierte, positive Züge zu verleihen und sie theologisch aufzuwerten, indem er Rennewarts Nonkonformität das theologische Muster des ‹Armen im Geiste› unterlegt, bei dem intellektuelle Gotteserkenntnis gerade nicht im Mittelpunkt steht. Die andere Ergänzung des Willehalm, die Arabel Ulrichs von dem Türlin, scheint aufgrund ihrer dezidiert weltlichen Thematik kaum geeignet zu sein für eine Beteiligung am theologisch-hagiographischen Diskurs, der in den bisherigen Ausführungen als typisch für die oberdeutschen Adaptationen französischer Heldenepik reklamiert wurde. Im Zentrum des Erzählgeschehens steht hier der Beginn der Liebe zwischen dem in heidnische Gefangenschaft geratenen Willehalm und der vorerst noch mit Tybalt verheirateten Heidenkönigin Arabel, die gefährliche Flucht und endlich die Hochzeit des Liebespaares. Der Glaubenskampf bildet dabei nicht das narrative Zentrum. 99 Und doch begegnen gleichfalls in dieser Ergänzung von Wolframs Chanson de geste- Bearbeitung, insbesondere in der Fassung *R, narrative Schemata, in denen Französische Heldenepik in Oberdeutschland 311 99 Vgl. H öcke , S. 161: Ulrich von dem Türlin «bemüht sich, eine geistliche Sinngebung des Kampfes zu etablieren. Im ganzen jedoch bleibt die religiöse Perspektive in der ‹Arabel› eher rudimentär und erreicht nicht die Tiefe des Wolframschen ‹Willehalm›. Das gesamte Schlachtgeschehen in Südfrankreich dient letztlich nur einem epischen Zweck: Es soll erzählt werden, wie Willehalm trotz couragierten Einsatzes und großer Kampftüchtigkeit gefangengenommen und in den Orient gebracht wird. Danach nimmt die Handlung einen ganz anderen Verlauf. Die Thematik des Heiligen Krieges scheint Ulrich im Grunde nur am Rande interessiert zu haben.» <?page no="322"?> theologische Modelle deutlich aufscheinen. Entsprechende Signale setzt bereits der Prolog, der bei aller Differenz dem paradigmatischen Willehalm-Prolog und dessen Dichtergebet wesentliche Anregungen verdankt (vgl. Ar *A 1, 1-8,31/ *R 1,1-7,39). 100 Bezeichnend ist, dass im Arabel-Prolog nicht das Bild vom kriegerischen Heidenkämpfer Willehalm dominiert, wie man es aus Wolframs Prolog kennt. Bei Türlin wird Willehalm vielmehr in einem Atemzug mit dem Apostel Thomas genannt, dem unkriegerischen Missionar des fernöstlichen Indien (Ar *A 6,25-31/ *R 6,25-31). Nicht als Krieger, sondern gleichsam als Missionar macht dann auch Türlins Willehalm seine wichtigste Eroberung, wenn er während einer Schachpartie mit Arabel in einer Katechese der Heidenkönigin Grundaussagen des christlichen Glaubens näher bringt, sie dadurch für die fremde Religion zunächst interessiert und schließlich vom Christentum überzeugt (Ar *A 101,1-114,31/ *R 100,1-114,31). Wie kunstvoll in dieser ersten geistlichen Schachallegorie in deutscher Sprache religiöser Diskurs und Minnediskurs miteinander verschmelzen, hat M. Urban demonstriert. 101 Zugleich konnte sie zeigen, dass nicht nur in dieser Passage die beiden Diskurse übereinander geblendet werden, sondern jene «Engführung», wie sie von Urban treffend genannt wird, ein konstitutives Moment des gesamten Textes bildet. Zentrale Bedeutung gewinnt es z. B. in der Taufszene, in der die völlig entkleidete Arabel einerseits in ihrer Schönheit und der daraus resultierenden erotischen Attraktivität präsentiert wird. Andererseits wird sie durch diesen Akt vom Makel ihres Unglaubens und ihrer Ehe mit einem Heiden reingewaschen und als nunmehr durch die Taufe Neugeborene und wieder ‹jungfräulich› Gewordene unter dem neuen Namen Gyburg zu einer idealen Ehepartnerin für Willehalm (Ar *A 274,16-281,31/ *R 279,16-286,31). 102 Zur Verschränkung von Minne- und religiöser Thematik fügt sich ein weiteres, die gesamte Erzählung durchziehendes und immer wieder erinnertes Motiv, das einmal mehr demonstriert, wie intensiv Ulrich von dem Türlin in seiner Chanson de geste-Bearbeitung auf geistlich geprägte Erzählmuster zurückgreift. Unmittelbar vor ihrer geplanten Flucht hat Arabel Willehalm durch eine List aus seinem Verlies befreit und versteckt ihn, bevor beide das Fluchtschiff besteigen, eine Nacht lang in ihrer Kemenate. 103 Der Erzähler wirft im 312 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 100 Zum Arabel-Prolog vgl. H öcke , S. 175-180; zu dessen religiösen Dimensionen vgl. U rban , S. 56-70. 101 Vgl. U rban , S. 176-186; vgl. auch H öcke , S. 208-217. 102 Zu den juristischen Hintergründen, die der Entführung Arabel/ Gyburgs und deren Ehe mit Willehalm sowie ihrer Taufe zu Grunde liegen, vgl. Monika S chulz : Eherechtsdiskurse. Studien zu König Rother, Partonopier und Meliur, Arabel, Der guote Gêrhart, Der Ring. Heidelberg 2005. 103 Vgl. zu Arabels Kemenate als einem spezifischen, der totalen männlichen Verfügungsgewalt entzogenen Raum Peter S trohschneider : Kemenate. Geheimnisse höfischer Frauenräume bei Ulrich von dem Türlin und Konrad von Würzburg. In: Jan Hirschbiegel, Werner Paravicini (Hg.): Das Frauenzimmer. Die Frau bei Hofe in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Stuttgart 2000 (Residenzenforschung 11), S. 29-45, bes. S. 33-39. <?page no="323"?> Rückblick auf diese Szene immer wieder die als Leitmotiv fungierende Frage auf, was wohl während jener Nacht auf dem matraz geschehen sein möge, verweigert jedoch - mit dem topischen Hinweis, er sei nicht dort gewesen - konsequent die Antwort darauf. 104 Die Spekulationen werden erst gegen Ende der Erzählung aufgelöst, als Willehalm während eines, als komplette Analepse gestalteten, ausführlichen Berichts über seine Gefangenschaft und Flucht zu verstehen gibt, dass er die Situation durch glaubens eren nicht ausgenutzt habe: «swen minne ie twanc, der sol versten, ob mich iht minne twunge da, do ich ir lac ane h v te so na. der min sel vnd min hertze gert, der minne da wart von mir entwert. minne s u ze vnd minne lihens, owe des verzihens an minne durch glaubens eren! mich kunde wol pinen leren manic s u zer vmmevanc. doch waz ich des niht so kranc, ich enhete wol minne dienst getan: sus bin ich noch ir minne an, daz weiz ich wol vnde got.» Ar *R 242,14-27, *A 237,14-27 Der rhetorisch ambitionierte und literarisch versierte Türlin beutet mit der immer wieder umspielten Frage, was in jener Nacht geschehen sein möge und der schließlichen Auflösung durch den Protagonisten ein bekanntes hagiographisches Erzählmuster auf ebenso raffinierte wie unterhaltsame Weise aus: Zugrunde liegt hier das etwa aus Barlaam und Josaphat oder Strickers Karl bekannte Motiv der standhaften Bewährung eines christlichen Ritters angesichts der Verführungskünste einer attraktiven Heidin. B.2.4 ‹Episches Substrat›, ‹Sagengedächtnis› und hagiographisches Superstrat - Französische Heroik in Oberdeutschland Wie der Durchgang durch den größten Teil der oberdeutschen Chanson de geste- Gruppe verdeutlicht hat, teilen alle Texte die Tendenz zu einer teilweise recht starken Überformung der französischen Vorlagen, die stets in die gleiche Richtung zielt: Die für die französische Heldenepik bereits charakteristische hagiographische Aufladung, die an anderer Stelle als hagiographisches Superstrat bezeichnet wurde, wird in sämtlichen deutschen Adaptationen noch erheblich verstärkt. Das kann wie im Rolandslied durch die Einschaltung zusätzlicher hagiographischer Schreibmuster geschehen; das kann ebenso geschehen durch die Einschaltung zusätzlichen Materials, durch das der Ausgangstext zu einer veritablen Vita erweitert wird wie beim Karl oder beim Französische Heldenepik in Oberdeutschland 313 104 Vgl. dazu H öcke , S. 217-224 und S. 241-243; U rban , S. 259-262. <?page no="324"?> Buch vom heiligen Karl. Anders geht Wolfram von Eschenbach vor: er diversifiziert und bricht zugleich die - freilich dort zuweilen komisierte - Kreuzzugsideologie seines Ausgangstextes. Das so entstehende kaleidoskopartige Gebilde findet, mindestens auf der Ebene der ‹histoire›, seinen Fluchtpunkt letzten Endes allerdings doch wieder im herre sanct Willehalm, den schon der Prolog als Zentralfigur der Erzählung präsentiert. Ulrich von Türheim greift die Problematisierungsstrategie des fortgesetzten Textes partiell durchaus auf, konzentriert sich andererseits jedoch aus dem Feld an Möglichkeiten, die seine französischen Quellen bereitstellen, auf den hagiographischen Diskurs, den er enorm verstärkt. Und auch in der Arabel Ulrichs von dem Türlin werden Erzählmuster sichtbar, wie sie aus legendarischen Texten vertraut sind. Das Konzept, das den oberdeutschen Bearbeitungen französischer Heldenepik zugrunde liegt, zeichnet sich damit deutlich ab: Es kommt zu einer Hagiographisierung der heldenepischen Vorlagen des französischen Literaturraums - die Helden der oberdeutschen Chanson de geste sind Heilige, heilige Helden des Kampfes zwischen Christen und Heiden, der das Ringen zwischen Gut und Böse symbolisiert. Zu diesem Befund passen sowohl die Auswertung des Überlieferungsbefundes und der erhaltenen Rezeptionszeugnisse als auch die oben konstatierte Konzentration der oberdeutschen Chanson de geste auf jenen Typus, der das Ringen zwischen Christen und Heiden thematisiert. Angesichts der oberdeutschen Konzentration auf den Typus A der französischen Chanson de geste-Tradition, der in den deutschen Bearbeitungen noch sehr viel schärfere Konturen gewinnt, kann man sich fragen, weshalb die zahlreichen, überaus spannenden und faszinierenden Texte des Typs B, die Konflikte zwischen verschiedenen Sippen und Vasallitätsprobleme verhandeln, im oberdeutschen Kultur- und Literaturraum augenscheinlich nicht rezipiert wurden. Vasallitätsthematik und dynastische Probleme hätten doch hier ebenfalls auf fruchtbaren Boden fallen müssen. In mindestens ebenso starkem Maße gilt das für Texte des Typs C. Die in ihnen behandelte Thematik, die meist Liebe und andere Leidenschaften umkreist, zudem die Protagonisten nicht selten in die ferne Wunderwelt des Orients verschlägt, ist wohl zu allen Zeiten und für alle Gesellschaften interessant. Weshalb also wurden nicht auch französische Chansons de geste des Typs B und C in Oberdeutschland adaptiert? Das Argument, Texte dieses Typs hätten in Deutschland bereits existiert, und deshalb habe kein Bedarf an weiteren Bearbeitungen existiert, verfängt nicht. Als Beleg für die Existenz einer deutschen ‹Empörerepik›, die die Rezeption dieser großen Untergruppe der französischen Heroik verhindert habe, lassen sich gerade einmal Strukturanklänge in zwei Texten, in Herzog Ernst und Heinrich von Kempten, beibringen. Beide Texte stießen, wie die Überlieferung zeigt, auf reges Interesse, Herzog Ernst wurde sogar ins Lateinische übersetzt. Rezeptionsbedarf für Texte dieses Typs war also durchaus vorhanden. Von daher wäre es ein Leichtes gewesen, auf den riesigen Vorrat an französischen Empörerepen zurückzugreifen und sie für ein deutsches Publikum entsprechend aufzubereiten. Ähnliches gilt für Texte des Chanson de geste- 314 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption <?page no="325"?> Typs C. Sie lassen sich entfernt mit den sogenannten Minne- und Aventiureromanen vergleichen, 105 die gleichfalls auf einiges Interesse stießen. Weshalb also griff man angesichts dieses Interesses nicht auf französische Quellen zurück, die in großer Anzahl vorlagen? Die Frage ist nicht leicht und nicht monokausal zu beantworten, es spielen mehrere Faktoren mit hinein. Trotzdem soll eine Antwort auf der Basis der bisher erzielten Ergebnisse über die Rezeption französischer Heldenepik in Oberdeutschland versucht werden. Ein nicht zu vernachlässigender Grund für die verhaltene deutsche Chanson de geste-Rezeption ist freilich außerhalb der Genregrenzen der französischen Heroik zu suchen. Denn zu einem nicht unerheblichen Teil lässt sich die in Deutschland eher schwach ausgeprägte Tendenz zur Bearbeitung französischer Texte aus dem Erzählregister der Chanson de geste auf das generelle Verhältnis der französisch-deutschen Literaturbeziehungen des Mittelalters zurückführen. Etwa ab der Mitte des 13. Jahrhunderts lässt der Einfluss der französischen Literatur auf die oberdeutsche in allen Bereichen merklich nach. Die seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandenen Chansons de geste hatten es damit sehr schwer, im oberdeutschen Kultur- und Literaturbereich überhaupt noch wahrgenommen, sodann ins Deutsche übertragen und adaptiert zu werden. Bis zu diesem Zeitpunkt lagen allerdings Texte des Typs A und B in vielfacher Variation vor, und auch der Typ C hatte sich in ersten Exemplaren bereits ausgeprägt, so etwa die aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts stammende anglonormannische Fassung des Beuve de Hantone. 106 Für das knappe Jahrhundert französisch-deutscher Literaturbeziehungen vor ca. 1250/ 60 muss daher nach anderen Begründungen für das offenkundig schwache deutsche Interesse am Erzählregister der französischen Heldenepik gesucht werden. 107 Im Kapitel über die französische Chanson de geste-Tradition (Kap. A.1) war bereits gezeigt worden, dass und wie die buchepische Heroik in der Romania stets auf der Folie des Sagengedächtnisses agiert. Die verschriftlichten französischen Chansons aller drei Typen nehmen darauf durch ein Bündel von formalen und strukturellen Eigenarten Bezug: etwa durch die archaisierende ‹heldenepische› Sprache, durch die ‹heldenepische› Laissenform, durch ihren formelhaften, redundanten, mündlich geprägten Französische Heldenepik in Oberdeutschland 315 105 Vgl. zu diesem Typus etwa R idder , Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane, und S chulz , Poetik des Hybriden. 106 Vgl. die Inhaltszusammenfassung bei H ennings , Französische Heldenepik, S. 88f. In Westflandern, wohl nicht weit entfernt vom mittelfränkischen Sprachraum, ist dieser Stoff noch im 13. Jahrhundert sehr wohl rezipiert worden, vgl. Hartmut B eckers : Boeuve van Hamtone. Ein neuentdecktes Düsseldorfer Bruchstück einer bisher unbekannten mittelniederländischen Versbearbeitung des altfranzösischen Bueve de Hantone. In: 200 Jahre Landes- und Stadtbibliothek Düsseldorf. Düsseldorf 1970 (Veröffentlichungen der Landes- und Stadtbibliothek Düsseldorf 6), S. 75-98. 107 Die gängigen Erklärungen, die J. B umke auf den Punkt gebracht hat, wurden bereits zu Beginn des Kapitels A.2.1 diskutiert. <?page no="326"?> Stil, durch fingierte Publikumsanreden eines in der Jongleur-Rolle auftretenden Erzählers, also die Performativität der französischen Texte, und schließlich durch gezielte Rekurse auf das ‹epische Substrat›, mit dem die zahlreichen, oft fiktiven, Pro- und Analepsen bezeichnet worden waren, die eine Einbindung der schriftepischen Chansons in ein nicht ganz deutliches, gleichwohl stets als präsent vorausgesetztes Reservoir heldenepischen Erzählens/ Wissens suggerieren. Der Rekurs auf jenes Sagengedächtnis verbürgt in der Romania die Wahrheit des Erzählten. Immer wieder wird in den Prologen der Chansons de geste auf das Alter und die daraus resultierende Dignität der alten maeren, wie man sie mit einem zeitgenössischen deutschen Terminus auch bezeichnen könnte, verwiesen. Der in einigen Texten zusätzlich bemühte Topos, dass der Erzähler/ Jongleur anhand eines alten Buches aus dem Besitz eines Klosters (meist ist dies St. Denis) die ‹originale›, d. h. einzig richtige Fassung des jeweiligen Stoffes habe eruieren können, und alle ansonsten umlaufenden Fassungen - wie explizit oder implizit daraus resultiert - folglich nicht korrekt sein könnten, rekurriert im Bild der ‹inkorrekten› sonstigen Fassungen zum einen auf die Vorstellung von alternativen, älteren oder auch kontemporären (mündlichen? ) Ausprägungen des gleichen Epenstoffes und appelliert somit an das Sagengedächtnis der Rezipienten, zum anderen deutet die Metapher einer schriftlich nachprüfbaren Richtigkeit des Erzählten an, dass im Entstehungsprozess der Chanson ebenso Schrift und Schriftkultur große Bedeutung besitzen, es sich mithin um ein verschriftlichtes Epos handelt. Im deutschen Kultur- und Literaturraum funktioniert diese in der Romania gängige Legitimationsstrategie allerdings nicht. Denn die Chanson de geste ist hier kein altez, sondern gilt schon den Zeitgenossen als ein ‹vremdez maere›: diu vert hie mit den gesten, wie Wolfram es im Willehalm-Prolog ausdrückt (Wh 5,7). 108 Fiktive Buchentstehungsgeschichten jener Art, wie man sie aus den Prologen der französischen Epen kennt, in denen also zugleich auf das ‹Sagengedächtnis› wie auf den Medienwechsel von mündlicher Epik zu Schriftepik verwiesen wird, begegnen in oberdeutschen Chanson de geste-Bearbeitungen demzufolge nicht. Die Entstehung der Texte wird hier jeweils, wie man dies zum Beispiel ebenfalls aus der zeitgenössischen Romanliteratur kennt, auf die bekannte Konstellation des durch einen Mäzen ergangenen Auftrags und die Umsetzung jenes Auftrags durch den Autor (bzw. den impliziten Autor) zurückgeführt. 109 Der Grund für diese gravierende Änderung der ober- 316 Typen deutscher Chanson de geste-Rezeption 108 Vgl. auch K iening , Umgang mit dem Fremden. 109 So im Epilog des Rolandslieds, im Prolog des Willehalm, im Prolog der Arabel (mittels eines Akrostichons) und in einem Einschub an strukturell bedeutsamer Stelle im Rennewart (Rw 10264-10287). Einzig der Karl verweist auf ein altez maere (K 115) als Quelle; evoziert wird damit aber keineswegs etwa ein Rückgriff auf das ‹Sagengedächtnis›, wie man ihn aus französischer (und analog: deutscher) Heldenepik kennt. Gemeint ist mit dem alte[n] maere vielmehr ganz konkret das Rolandslied, das der Stricker durch der werden gunst erniuwet (K 117) habe; auch im Karl klingt die übliche Konstellation von Auftrag und Ausführung also zumindest an. <?page no="327"?> deutschen Adaptationen gegenüber ihren französischen Quellen liegt auf der Hand: Eine epische Tradition, auf die man sich berufen und an die man den Stoff der Chanson de geste rückbinden könnte, existiert dort nicht. «Un seul fait est sûr: alors qu’en France l’époque carolingienne se met à Germer très tôt, Charlemagne n’est pas devenu en Allemagne le centre des Gestes analogues aux nôtres.» 110 Mit diesen Worten fasst R. Folz, einer der besten Kenner der Materie, aus traditionalistischer Perspektive den Hauptunterschied zwischen der französischen und der deutschen Karltradition zusammen. In seinem Bemühen, gleichwohl eine genuin deutsche Erzähltradition um Karl den Großen nachzuweisen, die ‹im Volk› seit den Tagen des ersten Frankenkaisers lebendig gewesen sei, 111 ist er indes wenig erfolgreich. Sämtliche Beispiele, die er als vermeintliche Belege dafür anführt, entstammen lateinischer, also klerikaler Tradition. Ebensowenig lässt sich e