Von der Schrift zum Buch - vom Ich zum Autor
Zur Text- und Autorkonstitution in Überlieferung und Rezeption des "Fließenden Lichts der Gottheit" Mechthilds von Magdeburg
0915
2010
978-3-7720-5362-7
978-3-7720-8362-4
A. Francke Verlag
Balázs J. Nemes
Vor dem Hintergrund der altgermanistischen Diskussion um den Umgang mit früh- und vormoderner Textualität und den Instanzen der Textautorisation findet im vorliegenden Buch eine kritische Auseinandersetzung mit dem,Ein Werk/ein Autor'-Modell der Mechthild-Forschung statt. Diese erfolgt in zwei Schritten. Zunächst gilt es, den textgeschichtlichen Status der beiden Überlieferungszweige des >Fließenden Lichts< neu zu verhandeln und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Verfasserschaft zu reflektieren. Erwartungsgemäß ist die Herangehensweise an die Frage nach der Autorschaft des>Fließenden Lichts< in diesem Zusammenhang eine primärtextgeschichtliche bzw. produktionstechnische. Diese Sicht wird in einem zweiten Schritt in eine rezeptionsorientierte Perspektive überführt, so dass nach der ,Buchwerdung der Schrift' die Frage nach der ,Autorwerdung des Ich' im Mittelpunkt steht. Die Schlagworte dabei lauten: ,Autorkonkretisation' und ,Re-Personalisierung der Autorrolle'.
<?page no="0"?> Balázs J. Nemes Von der Schrift zum Buch - vom Ich zum Autor Zur Text- und Autorkonstitution in Überlieferung und Rezeption des ›Fließenden Lichts der Gottheit‹ Mechthilds von Magdeburg Bibliotheca Germanica A. Francke Verlag Tübingen und Basel <?page no="1"?> Bibliotheca Germanica HANDBÜCHER, TEXTE UND MONOGRAPHIEN AUS DEM GEBIETE DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE HERAUSGEGEBEN VON HUBERT HERKOMMER , SUSANNE KÖBELE UND URSULA PETERS 55 <?page no="3"?> Balázs J. Nemes Von der Schrift zum Buch - vom Ich zum Autor Zur Text- und Autorkonstitution in Überlieferung und Rezeption des ›Fließenden Lichts der Gottheit‹ Mechthilds von Magdeburg A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort und der Landesgraduiertenförderung des Landes Baden-Württemberg. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: CompArt satz+edition, Mössingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0067-7477 ISBN 978-3-7720-8362-4 <?page no="5"?> Für meine Frau <?page no="7"?> Vorwort Das vorliegende Buch wurde im Juli 2008 unter dem Titel «Eya herre got, wer hat dis buoch gemachet? Textstatus und Autorschaft des ›Fließenden Lichts der Gottheit‹ Mechthilds von Magdeburg» als Dissertation bei der Gemeinsamen Kommission der Philologischen, Philosophischen, Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg eingereicht. Die Promotion erfolgte im März 2009. Für den Druck wurde der Text leicht überarbeitet und bibliographisch auf den neuesten Stand gebracht. Dabei konnte die kurz vor dem Abschluss des Manuskripts erschienene Bekanntmachung des sensationellen Mechthild-Fundes aus Moskau durch Natalija Ganina und Catherine Squires nur noch punktuell berücksichtigt werden. Ich möchte mich bei allen bedanken, die mich bei meiner Arbeit unterstützt haben. An erster Stelle sei hier Prof. Dr. Hans-Jochen Schiewer genannt, der die Dissertation betreut und dafür gesorgt hat, dass ich unter optimalen Bedingungen arbeiten konnte. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Freimut Löser (Augsburg), der sich bereit erklärt hat, die Aufgabe des Zweitgutachters zu übernehmen. Das Drittgutachten wurde von Prof. Dr. Peter Walter, dem Zweitbetreuer der vorliegenden Arbeit, erstellt. Auch ihm sei hier ausdrücklich gedankt. Zu Dank verpflichtet bin ich außerdem Prof. Dr. Nigel F. Palmer (Oxford), Prof. Dr. Burkhard Hasebrink und Prof. Dr. em. Ernst Hellgardt (München) für anregende Gespräche sowie für die kritische Vorablektüre von Teilen der Arbeit. Das Korrekturlesen des für den Druck eingereichten Manuskripts übernahm dankenswerterweise Dr. Almut Suerbaum (Oxford). Ebenso zu Dank verpflichtet bin ich den Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds, der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg sowie der Internationalen Graduiertenakademie der Universität Freiburg, dass sie mein Dissertationsprojekt gefördert haben. Dank gebührt auch der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Universität Freiburg sowie dem Promotionskolleg «Lern- und Lebensräume. Hof - Kloster - Universität. Komparatistische Mediävistik 500-1600». Durch ihre Hilfe konnte ich aufwändige Bibliotheksfahrten unternehmen, kostenspielige Reproduktionen von Handschriften erwerben und an wissenschaftlichen Tagungen im In- und Ausland teilnehmen. Last but not least sei der Graduiertenförderung des Landes Baden-Württemberg gedankt, dass sie mir durch eine großzügige finanzielle Unterstützung ermöglichte, den Hilary Term des akademischen Jahres 2006/ 07 als Academic Visitor an der University of Oxford zu verbringen. Vorwort Vorwort <?page no="8"?> Von entscheidender Bedeutung für das Zustandekommen der vorliegenden Untersuchung war meine Mitarbeit im DFG-Sachmittelprojekt «Texteditionen lateinischer Mystik aus dem Kloster Helfta», Teilprojekt «Die Edition der Lux divinitatis Mechthilds von Magdeburg», das von Prof. Dr. em. Ernst Hellgardt (München) und Dr. Elke Senne (Berlin) initiiert wurde (mit der Publikation der Neuedition der Lux divinitatis bei de Gruyter ist 2011 zu rechnen). Nicht weniger förderlich für den Fortgang der Arbeit waren die Foren, in denen ich Teile meiner Dissertation vorstellen und diskutieren konnte. Das waren das Freiburger Promotionskolleg «Lern- und Lebensräume. Hof - Kloster - Universität. Komparatistische Mediävistik 500-1600» und das seit 2004 alljährlich stattfindende internationale Graduiertentreffen der altgermanistischen Seminare und Institute der Universitäten Freiburg/ Br., Freiburg/ CH, Genf und Oxford. Ferner waren es Vorträge an den Workshops der Forschungsprojekte «Literarische Topographie des alemannischen Raumes im 14. Jahrhundert» (Gemeinschaftsprojekt der Universitäten Freiburg/ Br., Freiburg/ CH, Genf, Oxford und Harvard) und «The Gottesfreunde and the textual culture of vernacular mysticism in the Rhineland and the Low Countries (1300-1550)» (Gemeinschaftsprojekt der Universitäten Freiburg/ Br., Leiden, Groningen und Oxford), die die Arbeit sachlich und methodisch vorangebracht haben. VG WORT und die Graduiertenförderung des Landes Baden-Württemberg ermöglichten durch ihre Zuschüsse die zügige Drucklegung. Freiburg i. Br., im Mai 2010 Balázs J. Nemes VIII Vorwort <?page no="9"?> Inhalt I Einleitung. Kritische Bemerkungen zu einigen Grundannahmen der Mechthild-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I.1 Zugänge zur Autorschaft in der Mechthild-Forschung . . . . . . . . . . . 2 I.1.1 Textsicherung und Autorkonstituierung als Forschungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 I.1.2 Die vertexteten Stimmen des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I.1.3 Der Autor als textliches Konstrukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I.2 Die Textausgaben des ›Fließenden Lichts‹ und das Postulat des einen Autortextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 I.3 Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›Fließenden Lichts‹ vor dem Hintergrund der aktuellen altgermanistischen Diskussion um vormoderne Textualität und die Instanzen der Textautorisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 II Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹. Die deutsche und lateinische Überlieferung im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 II.1 Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 II.1.1 lector predictus dicta huius mehtildis omnia collegit … Zum Anteil Heinrichs von Halle an der Textgenese aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 II.1.2 in sex partes illud distinxit … Zur Buch- und Kapitelfolge der Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 II.1.3 sicut legentibus nunc apparet. Zur Authentizität der Buch- und Kapitelfolge des ›Fließenden Lichts‹ . . . . . . . . . . 125 II.2 Varianz in Textbestand und Textfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 II.2.1 Varianz in Textfolge. Umstellungen im deutschen und lateinischen Überlieferungszweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 II.2.2 Varianz in Textbestand. Ergänzungen im deutschen und lateinischen Überlieferungszweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 II.2.3 Die ›Lux divinitatis‹ als Bearbeitung. Zu einigen Aspekten der Übersetzungsprogrammatik . . . . . . . . 192 II.2.4 Exkurs zum Entstehungsort der ›Lux divinitatis‹ und zu der Frage nach den möglichen Überlieferungswegen des deutschen und lateinischen Textes nach Basel . . . . . . . . . . . . . . . 208 II.3 Von der Schrift zum Buch. Oder: Wie original ist das Original des ›Fließenden Lichts‹? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Inhalt Inhalt <?page no="10"?> III Vom Ich zum Autor. Autorkonstitution im Vollzug der Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 III.1 Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 III.2 Die Genese der Autorsignatur und ihre Präsenz in der Überlieferung und Rezeption des ›Fließenden Lichts‹ . . . . . . . . 317 III.3 Biographisierung der Autorrolle in der ›Lux divinitatis‹ . . . . . . . . . . . . 342 III.4 Die Frage nach dem Autor. Plädoyer für einen erweiterten Autorbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 IV Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 V Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 V.1 Vermeintliche Rezeptionszeugnisse des ›Fließenden Lichts‹ . . . 389 V.2 Ungedruckte Texte aus der Teil- und Exzerptüberlieferung des ›Fließenden Lichts‹ - Mit Kurzbeschreibung der Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 V.2.1 Augsburg, UB, Cod. III. 1. 4° 8 (Ha) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 V.2.2 Augsburg, UB, Cod. III. 1. 4° 32 (M 2 ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 V.2.3 Colmar, Bibliothèque de la Ville, Ms. CPC 2137 (C) . . . . . . . . 401 V.2.4 Heidelberg, UB, Cpg 418 (H) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 V.2.5 Karlsruhe, BLB, Cod. St. Georgen 78 (Ka) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 V.2.6 München, BSB, Cgm 116 (Mü 1 ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 V.2.7 München, BSB, Cgm 172 (Mü 2 ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 V.2.8 München, BSB, Cgm 181 (Mü 3 ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 V.2.9 München, BSB, Cgm 411 (Mü 4 ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 V.2.10 Privatbesitz von Joseph Maria von Radowitz, Karlsruhe (verschollen) (R) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 V.2.11 Salzburg, St. Peter, Stiftsbibl., b III 30 (Sa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 VI Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 VI.1 Abkürzungen von Zeitschriften und Serien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 VI.2 Sonstige Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 VI.3 Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 VII Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 VIII Handschriftenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 IX Namen-, Werk- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 X Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 X Inhalt <?page no="11"?> I Einleitung.Kritische Bemerkungen zu einigen Grundannahmen der Mechthild-Forschung Blickt man auf die Anfänge der zunächst vor allem pastoraltheologisch und kirchenhistorisch, später jedoch auch germanistisch motivierten Beschäftigung mit dem ›Fließenden Licht‹ zurück, stellt man fest, dass es vor allem die Auseinandersetzungen um die Lebensgeschichte Mechthilds gewesen sind, die das Forschungsinteresse bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein dominiert haben. Der Text wurde auf historisch-biographisches Material hin durchforstet, man war bestrebt, ein mit möglichst präzisen Jahresangaben versehenes Curriculum der Autorin anhand von textinternen Aussagen zu erstellen. Diese an Mechthild als historische Autorpersönlichkeit interessierte Forschung sah sich allerdings schon früh mit textkritischen Fragen konfrontiert. Es stand zur Debatte, ob die heutige Reihenfolge der Kapitel der Chronologie der Aufzeichnungen entspricht bzw. inwieweit mit nachträglichen Ergänzungen und Bearbeitungen diverser Provenienz zu rechnen ist. Die Antwort auf diese Fragen war nicht nur bei der Klärung der Textgenese und der Erschließung der Lebensgeschichte Mechthilds von unmittelbarer Bedeutung. Sie hatte auch Auswirkungen auf die Verfasserfrage und die Bestimmung des textgeschichtlichen Status des allein in einer Einsiedler Handschrift vollständig enthaltenen ›Fließenden Lichts‹, stand doch die Authentizität des überlieferten Textes und damit die Verfasserschaft Mechthilds zur Debatte. Die Bemühungen der älteren Forschung, eine Autorin zu konstituieren und sie mit einem Text auszustatten, sollen in Kapitel I.1.1 skizziert werden. Dabei geht es vor allem um den Argumentationsgang und die Prämissen einer vornehmlich an Fragen der Text- und Lebensgeschichte interessierten Forschung, die zur Etablierung Mechthilds als Autorin geführt haben. Diese Prämissen werden in den beiden folgenden Teilkapiteln (I.1.2 und 3) mit den seit Anfang der achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts aufgekommenen neuen Paradigmen im Umgang mit Text und Autorfigur konfrontiert, denen die Mechthild-Forschung wertvolle Einsichten in die Mechanismen verdankt, wie Geltung textuell erzeugt wird und welche Folgen sich daraus für den Umgang mit der (textimmanent konstruierten) Autorfigur ergeben. Es wird sich zeigen, dass die Prämissen, auf welche die ältere Forschung rekurrierte, um eine Autorin aus der Taufe zu heben, ihre frühere Selbstverständlichkeit weitgehend eingebüßt haben. Es wäre zu erwarten, dass dies nicht nur für den interpretatorischen, sondern auch für den textkritischen Umgang mit dem überlieferten Text Folgen hatte. Doch ist das nicht der Fall. Sind im Bereich der Interpretation Einleitung Zugänge zur Autorschaft in der Mechthild-Forschung <?page no="12"?> in den letzten beiden Jahrzehnten auch beachtliche Fortschritte erzielt worden, so befindet sich die Textkritik wegen des in diesem Bereich nach wie vor vorherrschenden emphatischen Autorbegriffes auf einem Forschungsstand, der in etwa dem der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts entspricht. Dies macht, wie es in Kap. I.2 zu zeigen gilt, nicht nur die von H ans N eumann in jahrzehntelanger Forschungsarbeit besorgte und 1990 posthum erschienene Edition des ›Fließenden Lichts‹, 1 sondern auch die Neuausgabe des Textes durch G isela V ollmann -P rofe aus dem Jahre 2003 deutlich, 2 letztere vor allem auch deshalb, weil sie in wesentlichen Fragen der Verfasserschaft sowie der Text- und Überlieferungsgeschichte N eumann und damit den Prämissen der älteren Forschung verpflichtet ist. Diese Prämissen werden in Kap. I.3 mit jener in der germanistischen Mediävistik seit einiger Zeit geführten Diskussion konfrontiert, die um die Frage nach der adäquaten editorischen Erschließung und literaturwissenschaftlichen Bewertung vormoderner Textualität entbrannt ist. Vor diesem Hintergrund gilt es, den Text- und Autorbegriff der Mechthild-Forschung neu zu diskutieren. 3 Diese Diskussion impliziert nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit den Vorgaben und Debatten der bisherigen Forschungsgeschichte, die in den eigentlichen Untersuchungsteilen II und III nachgezeichnet werden, sondern auch eine grundsätzliche Neuausrichtung im Umgang mit den Kategorien Text und Autor. Statt, wie so oft, einen an den Bedingungen der Buchkultur des 19. Jahrhunderts orientierten Autor- und Textbegriff a priori zu setzen, kommt es in der vorliegenden Arbeit darauf an, die Konstitution von Text und Autor von der Überlieferung und Rezeption des ›Fließenden Lichts‹ her zu problematisieren und die Implikationen dieses Prozesses von Buchwerdung bzw. Autorwerdung für unseren Text- und Autorbegriff zu reflektieren. I.1 Zugänge zur Autorschaft in der Mechthild-Forschung I.1.1 Textsicherung und Autorkonstituierung als Forschungsaufgaben Auf die geistliche Sammelhandschrift 277 des Einsiedler Benediktinerstiftes hat der seit 1835 dort amtierende Bibliothekar und Benediktinermönch, Pater G all M orel , als erster hingewiesen. Im Zuge der Katalogisierung der Klosterbestände ist er auf den Kodex 277 gestoßen. Zum Inhalt des im ersten Teil der Handschrift enthaltenen Textes vermerkt er, es handle sich um die Offenbarungen einer Nonne. 4 Zunächst ist dieser Offenbarungsschrift keine Auf- 2 Einleitung 1 N eumann (1990, 1993). 2 V ollmann -P rofe (2003). Vgl. jetzt auch V ollmann -P rofe (2008a) und (2010). 3 Einen kurzen Abriss über die Argumentation, die in der vorliegenden Arbeit verfolgt wird, findet man bei N emes (2008a). 4 Vgl. M orel (1840), S. 360 bzw. (1843), S. 742. <?page no="13"?> merksamkeit geschenkt worden. 5 Die damalige (germanistische) Mystikforschung interessierte sich eher für die im Codex Einsidlensis 277 mitüberlieferten (Pseudo-)Eckhart-Texte. 6 Erst etwa 20 Jahre nach dem Hinweis von M orel auf die hier enthaltenen ‹Offenbarungen› sind die ersten Textdrucke erschienen. Es handelt sich um Textproben in neuhochdeutscher Übersetzung (vorwiegend aus den ersten beiden Büchern), die der Sankt Galler Bischof C arl G reith in seine für ein breiteres, vor allem religiös interessiertes Publikum bestimmte Ausgabe von Texten der deutschen Mystik aufgenommen hat. 7 Was den textgeschichtlichen Status der von M orel aufgefundenen Handschrift betrifft, ist G reith der Ansicht, der Einsiedler Textzeuge sei mit dem Original der Offenbarungsschriften identisch, die «Schwester Mechtilde Prediger-Ordens» (S. 53) in einem der Klöster Thüringens oder Sachsens in ihrer alemannischen Mundart aufgezeichnet habe. In Bezug auf die Art der schriftlichen Fixierung stellt er fest, die Aufzeichnung der Offenbarungsberichte dürfte auf «einzelnen fliegenden Blättern» (S. 207) erfolgt sein. Die ursprünglich losen Blätter sollen anschließend von Mechthilds dominikanischem Beichtvater «nach der scholastischen Weise in sieben Bücher und jedes derselben in bestimmte Kapitel eingetheilt und niedergeschrieben [worden sein]» (S. 55). Der Ansicht, auf den oberdeutschen Originaltext der Autorin Mechthild - wenn auch in einer Abschrift des 14. Jahrhunderts - gestoßen zu sein, war auch M orel selbst. Er hat den nach wie vor einzig bekannten, das ›Fließende Licht‹ vollständig überliefernden Textzeugen nicht nur entdeckt (s. Anm. 7), sondern auch im Jahre 1869 in einem unkritischen Textabdruck vorgelegt. 8 Wie schon G reith führt auch M orel das Überlieferte auf die eigenhändigen Aufzeichnungen der nun als Autorin geltenden Schwester Mechthild zurück, die mit dem Beinamen ‹von Magdeburg› versehen wird. Diesen verdankt Mechthild unter anderem einer lateinischen Randglosse, die M orel auf den Ort ihrer Schreibtätigkeit schließen ließ. 9 Es handelt sich um die Marginalie zu FL VI.3, die den in diesem Kapitel genannten Domherren als canonic[us] de Megdeburg identifiziert. Die anonyme swester des deutschen Vorberichts, der dis b v ch geoffent [wart] in túsche (Vorbericht: 12,6 [Vorbericht, Z. 34]), 10 heißt Zugänge zur Autorschaft in der Mechthild-Forschung 3 5 M orel (1844), S. 280 selbst hat zunächst nur das auf dem inneren Spiegel des hinteren Deckels eingetragene abecedarische Gedicht auf Nikolaus von Flüe abgedruckt. 6 Vgl. P feiffer (1851), S. 238-243 und (1857), S. VIII. Zu diesen Texten s. zuletzt W ebster (2005), S. 191-254. 7 Vgl. G reith (1861), S. 222-277. Die Aufgabe, die in Cod. 277 enthaltenen «Visionen einer Nonne […] auszugsweise herauszugeben», hat ihm M orel übertragen, s. G reith ebd., S. 53, Anm. 1 bzw. M orel (1843), S. 742. Die in der Forschungsliteratur kursierende Ansicht, die Entdeckung der Einsiedler Handschrift sei G reith zu verdanken, ist demnach ein Irrtum. 8 Vgl. M orel (1869), S. XXIIf. Die Einsiedler Textversion stellt auch für den Rezensenten W inter (1870), S. 432 das Original dar. Ähnlich W inter (1871), Bd. 2, S. 83 und 85. 9 Vgl. M orel (1869), S. XXVI. S. auch W inter (1870), S. 430. 10 Den Text des ›Fließenden Lichts‹ (im Folgenden: FL) zitiere ich, wenn nicht anders angegeben, nach V ollmann -P rofe (2003) unter Angabe der Buch- und Kapitelzählung <?page no="14"?> von nun an Mechthild von Magdeburg. 11 Zwar verschweigt M orel nicht, dass einige Zeilen später von einem Predigerbruder die Rede ist, der das b v ch samente und schreib (Vorbericht: 12,13 [Vorbericht, Z. 39]), doch weist er ausdrücklich darauf hin, dass es sich lediglich um einen «scheinbare[n] Widerspruch» zur Autorschaft Mechthilds handle, ein Widerspruch, der «seine Lösung in dem Worte g e s a m m e l t [findet], so dass mit Greith (S. 207) anzunehmen ist, dieser Bruder habe die von Mechthild geschriebenen einzelnen Blätter gesammelt und abgeschrieben.» 12 Wohl gehören die Ansichten von G reith und M orel (genauso wie ihre Textausgaben) der Zeit der vorwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem ›Fließenden Licht‹ an, doch deutet sich schon bei ihnen die Tendenz an, den Anteil fremder Instanzen an der Textgenese möglichst gering zu halten. Das ist auch an den Arbeiten des Münchener Kirchenhistorikers W ilhelm P reger abzulesen, der die Mechthild-Forschung auf neue Grundlagen gestellt hatte. Zwar konnte er nachweisen, dass der in Einsiedeln überlieferte Textzeuge keineswegs das Original der Aufzeichnungen, sondern nur eine hochdeutsche Übersetzung des ursprünglich (mittel)niederdeutsch geschriebenen Werkes darstellt, die im Kreis der Basler Gottesfreunde um Heinrich von Nördlingen 1343-1345 entstanden sein soll. 13 Was den Status des Einsidlensis betrifft, geht P reger jedoch von denselben Prämissen aus wie seine Vorgänger. Die Tatsache, dass «Mechthild mit eigner Hand die einzelnen Stücke geschrieben und dass sie diese ohne sachliche Ordnung, so wie sie in der Zeit nacheinander entstanden waren, zusammengeschrieben hat», 14 steht auch für ihn außer Frage. Diese Sicht auf die Entstehung des Textes ist insofern verständlich, als das Postulat der erhalten gebliebenen Reihenfolge der Aufzeichnungen P reger ja überhaupt erst ermöglichte, aus der Kombination textinterner Angaben auf biographische Details, wie das Jahr der Geburt und des Todes sowie den Zeitpunkt für Mechthilds (angeblicher) ‹Flucht› in die Magdeburger Beguinage, zu schließen. 15 Doch nicht nur in der Frage der bewahrten Chronologie der Aufzeichnungen stimmt 4 Einleitung sowie der Seiten- und Zeilenzahlen. In Klammern referiere ich auch die Buch-, Kapitel- und Zeilenzählung der Edition von N eumann (1990). 11 Skeptisch äußert sich D inzelbacher (2004), S. 157f. zur Lokalisierung Mechthilds in Magdeburg. D inzelbacher fragt sich: «Beweist die Erwähnung einer bestimmten lokalen Körperschaft [des oben genannten Domherren Dietrich] schon den Aufenthalt des Autors an diesem Ort? […] Anders gesagt: Mechthild kann genausogut in Merseburg, Naumburg, Halle oder sonstwo in der Umgebung gelebt und von dort aus die Verhältnisse im kirchlich im Mittelpunkt stehenden Erzbistum kritisch beobachtet haben» (S. 158). Auch V oigt (2007a), S. 384 weist darauf hin, dass selbst eine heute solch selbstverständlich scheinende Ansicht wie Mechthilds Magdeburger Aufenthalt noch immer nicht befriedigend geklärt sei (und wohl auch nicht befriedigend geklärt werden kann). 12 M orel (1869), S. XXII (Sperrung von M orel ). 13 Vgl. P reger (1869a), S. 98-100 und (1869b), S. 153-156. Zur Frage nach der Identität des Basler Übersetzerkreises s. S. 239f. weiter unten und vor allem N emes (2011). 14 P reger (1873), S. 202. Ähnlich P reger (1881), S. 453. 15 Vgl. P reger (1874), S. 91f., Anm. 1. Ähnlich bereits B oehmer (1871), S. 106, Anm. 11. <?page no="15"?> P reger mit G reith und M orel überein. Auch was die Rolle des im lateinischdeutschen Vorbericht genannten Dominikaners betrifft - er wird anhand der in Basel aufgefundenen Handschriften der ›Lux divinitatis‹, der lateinischen Übersetzung des ›Fließenden Lichts‹, mit Heinrich von Halle identifiziert 16 -, ist er der Ansicht, dass es sich um einen Sammler und Kopisten handeln muss, der Mechthilds chronologisch geordnete Aufzeichnungen zusammengetragen, in Büchern eingeteilt und abgeschrieben hat. Größere Lizenzen im Umgang mit dem Text räumt P reger Heinrich allein bei der ›Lux divinitatis‹ ein: Hat Heinrich bei der Entstehung des ›Fließenden Lichts‹ eine eher marginale Rolle gespielt, avanciert er bei der ›Lux divinitatis‹ zum Übersetzer und Bearbeiter, der eine neue Einteilung der Offenbarungen vornimmt, die chronologische Ordnung aufhebt und die Stücke sachlich neu ordnet. 17 Die Beschränkung von Heinrichs Eigenanteilen auf die des Sammlers und Abschreibers ist allem Anschein nach die Voraussetzung für die Annahme, der deutsche Text hätte die ursprüngliche Chronologie der Niederschriften bewahrt. Die ungestörte chronologische Reihenfolge wird ihrerseits zum Garanten für die Authentizität des überlieferten Textes und zum schlagenden Beweis für Mechthilds Autorschaft. Man trifft auf diesen Argumentationsgang nicht nur bei P reger , sondern auch bei einem Großteil der späteren Forschung, bis hin zur Akademie-Abhandlung von H ans N eumann (s. dazu weiter unten). Wie eng der Konnex zwischen der postulierten chronologischen Ordnung der Kapitelfolge und der Marginalisierung des Redaktors ist, macht, über M orel und P reger hinaus, der Kommentar von H einz T illmann zu FL II.26 deutlich. Der Text handelt von einem schriber, der das Buch nach Mechthild (na mir) geschrieben haben soll (138,9 [II.26,34f.]). T illmann identifiziert den anonymen Schreiber kurzerhand als Heinrich von Halle. Wie bereits M orel den Hinweis des deutschen Vorberichts, dis b v ch samente und schreib ein br v der des selben [predier] ordens als einen nur «scheinbare[n] Widerspruch» zur Verfasserschaft Mechthilds deutete und in dem anonymen Predigerbruder nur einen Sammler sehen wollte (s. oben Anm. 12 mit Text), so ist auf ähnliche Weise bei T illmann im Zusammenhang mit der genannten Stelle von «scheinbaren Widersprüchen» gegenüber den sonstigen Beteuerungen Mechthilds, selber geschrieben zu haben, die Rede. 18 Was FL II.26 betrifft, Zugänge zur Autorschaft in der Mechthild-Forschung 5 16 Vgl. P reger (1869b), S. 158-160. Auf die Handschrift B IX 11 (Sigle: Rb) der Basler Universitätsbibliothek hat unabhängig von P reger auch W inter (1870), S. 432f. hingewiesen. Die andere Basler Handschrift (Cod. A VIII 6, Sigle: Ra) wird zuerst bei P reger (1873), S. 203, Anm. 1 genannt. Auf der Grundlage dieser beiden Handschriften wurde die Textausgabe durch die Solesmenser Mönche unter der Leitung von L ouis P aquelin (zur Identität des Herausgebers s. den Hinweis bei R ottmanner 1884/ 1908, S. 243 und A ncelet -H ustache 1926, S. 8) angefertigt, s. Rev. Die Neuausgabe der lateinischen Übersetzung ist in Vorbereitung, s. H ellgardt / N emes / S enne (2011). Ich zitiere nach dem Typoskript (im Folgenden: LD). 17 Vgl. P reger (1873), S. 204 und (1869b), S. 159. 18 Vgl. T illmann (1933), S. 2, Anm. 7. <?page no="16"?> betont T illmann nachdrücklich: «H. v. Halle hat abgeschrieben, aber n i c h t g e ä n d e r t.» 19 Die Emphase, mit der für den Erweis der ursprünglichen Folge der Aufzeichnungen eingetreten wird, dient nicht nur dazu, Mechthilds Rolle als einzige Textproduzentin sicherzustellen. Welche Konsequenzen sich daraus ergeben, wenn die chronologische Ordnung nicht gewährleistet ist, kann dem Beitrag eines ‹Anti-Chronologisten› wie H ubert S tierling entnommen werden. S tierling versucht in seiner 1907 erschienenen Dissertation den Nachweis zu erbringen, dass die ursprüngliche Reihenfolge der Aufzeichnungen durch die redaktionellen Eingriffe Heinrichs von Halle in das von Mechthild gelieferte Textmaterial aufgehoben sei. 20 Heinrich soll den von Mechthild gelieferten Text zergliedert und nach thematischen Gesichtspunkten neu zusammengesetzt sowie gelegentlich ergänzt haben, so dass das Prinzip der inhaltlichen Gliederung über den lateinischen Text hinaus auch für die Einsiedler Handschrift gesichert sei. 21 S tierling kommt im Zuge seiner textarchäologischen Untersuchungen zu der Überzeugung, dass sich Heinrichs Anteil an der Entstehung des Buches nicht auf das bloße Sammeln und Abschreiben von Vorlagen beschränken lässt. 22 Die «bedeutendste» Folge dieser Erkenntnis für den Umgang mit dem ›Fließenden Licht‹, wie ihn die ‹Chronologisten› pflegten, sieht S tierling darin, «daß uns nun der Blick auf M.s Entwicklung für immer verschlossen ist […]. Wir wissen nicht, wie M. angefangen hat, nicht, welche Gedanken ihren Gesichtskreis erweiterten, nicht, wann sie die wunderbare Gewalt der Sprache gewonnen hat.» 23 Eine weitere nicht weniger bedeutende Folge seiner Untersuchungen hat S tierling indes gar nicht erst in Betracht gezogen. Ich meine die Konsequenzen, die sich aus der Aufwertung der Redaktorenrolle für die Autorschaft und die Bestimmung des textgeschichtlichen Status der Einsiedler Handschrift ergeben. Sie führen uns jedoch zu der Frage, die schon bei M orel und T illmann (vgl. oben Anm. 12 und 19 jeweils mit Text) impliziert war und vom Kirchenhistoriker A lbert H auck , einem der schärfsten Kritiker von S tierling , unüberhörbar zur Sprache gebracht wird: «Aber besitzen wir überhaupt ein Buch Mechthilds? » 24 H auck bewendet diese Frage mit dem Hinweis auf einige Stellen des deutschen Textes, die belegen sollen, dass Mechthild ihre Schriften eigenhändig verfasst und niedergeschrieben habe. 25 Bei S tierling selbst spielt diese Problema- 6 Einleitung 19 Vgl. T illmann ebd. (Sperrung von T illmann ). Ähnlich S trauch (1883), S. 368-373 und (1885), S. 155. 20 Vgl. S tierling (1907). Ähnlich M ichael (1901) und (1903), S. 187-199. 21 Dass Heinrich von Halle Mechthilds Blätter «nach einer gewissen Ordnung» eingeteilt haben kann, hat bereits J. M üller (1881), Bd. 2, S. XV erwogen, ohne allerdings seine Ansicht argumentativ zu begründen. 22 Vgl. S tierling (1907), S. 17-19. Ähnlich O ehl (1911), S. 16-18. 23 S tierling (1907), S. 19. 24 H auck (1911), S. 187. 25 Die Belege sind allerdings nicht unproblematisch, weil sie entweder nicht zutreffen oder sogar H auck widersprechen, vgl. T illmann (1933), S. 2, Anm. 7. <?page no="17"?> tik dagegen keine Rolle, denn die Verfasserschaft Mechthilds steht für ihn nicht zur Disposition. Die veränderte Reihenfolge der Niederschriften, die auf Heinrichs redaktionelle Eingriffe in den Textbestand zurückgeführt und mit dem fehlenden Interesse Mechthilds an der Sammlung und Anordnung ihrer eigenen Schriften begründet wird, 26 ist für S tierling nur im Hinblick auf den Umgang mit dem ›Fließenden Licht‹ als Quelle zur Erschließung der Lebensgeschichte und geistlichen Entwicklung Mechthilds von unmittelbarer Bedeutung: Mechthilds Autorschaft und die Authentizität des überlieferten Textes bleiben davon unberührt. Das ändert allerdings nichts daran, dass zwischen der Aufwertung der Rolle des Redaktors und der behaupteten Verfasserschaft Mechthilds ein Spannungsverhältnis besteht, ablesbar nicht nur an der oben zitierten Frage von H auck - eher provokativ als ernst gemeint -, sondern auch an der Argumentation von J eanne A ncelet -H ustache , die versucht, dieses Spannungsverhältnis aufzulösen. Wie schon H auck sieht sich A ncelet -H ustache mit folgendem Problem konfrontiert: «Dans quelle mesure le texte que nous possédons actuellement est-il conforme au texte de Henri de Halle, et d’autre part, Henri de Halle nous a-t-il oui ou non fidèlement transmis la pensée de Mechtilde? » 27 Der erste Teil der Frage zielt auf die Zuverlässigkeit der Überlieferung ab. A ncelet - H ustache ist der Ansicht, dass der geringe zeitlich-räumliche Abstand, der den überlieferten Text von Mechthild trennt, für schwerwiegende Entstellungen nicht gereicht hätte. Außerdem könne Heinrich von Nördlingen, dem (angeblichen) alemannischen Übersetzer ein sinnverstellender Umgang mit der seinerseits mit frommem Respekt («pieux respect») behandelten Vorlage nicht zugemutet werden. 28 Die Antwort auf den zweiten Teil der von A ncelet -H ustache gestellten Frage hängt davon ab, welche Rolle man bereit ist, Heinrich von Halle bei der Entstehung des Textes zuzuschreiben. A ncelet -H ustache argumentiert in der von M orel (s. oben Anm. 12 mit Text) und T illmann (s. oben Anm. 18 und 19 mit Text) her bekannten, defensiven Manier. Zwar wird die Tätigkeit des mit Heinrich identifizierten frater ordinis predicatorum im Vorwort des ›Fließenden Lichts‹ mit den Worten samente und schreib bzw. conscribere (im lateinischen Vorbericht) umschrieben und an einer Stelle der ›Lux divinitatis‹ vermerkt, Heinrich habe Mechthilds Worte (dicta) - wohlgemerkt nicht ihre Schriften! - gesammelt und zu einem Buch zusammengestellt (LD II.40, 12-17/ Rev. Bd. II.2, S. 517,5-7), doch gäbe es zum Glück («heureusement») auch Textstellen, die beweisen, dass Mechthild ihre Schriften selbst verfasst und Heinrich auf diese von ihr geschriebenen Blätter zurückgegriffen hätte. 29 Zugänge zur Autorschaft in der Mechthild-Forschung 7 26 Vgl. S tierling (1907), S. 26 und 62. Ähnlich M ichael (1903), S. 109 und O ehl (1911), S. 16 und S. 197, Anm. 1. 27 A ncelet -H ustache (1926), S. 13. 28 Vgl. A ncelet -H ustache ebd. Von einer «gewissen Pietät» bei der Übertragung der niederdeutsch-mitteldeutschen Vorlagehandschrift ins Oberdeutsche ist auch bei T ill mann (1933), S. 10 die Rede. 29 Vgl. A ncelet -H ustache (1926), S. 34: «Sans doute, les mots qui veulent expliquer la part prise par Henri de Halle à la redaction du livre sont parfois assez vagues «Liber iste … <?page no="18"?> Wohl ist A ncelet -H ustache wie S tierling der Ansicht, dass Heinrich die ursprüngliche, chronologische Reihenfolge aufgehoben hat (S. 35 und 43), doch tangiere seine Redaktion die Verfasserschaft Mechthilds und die Authentizität des überlieferten Textes nicht im Geringsten: Lediglich die Stationen der seelischen Entwicklung Mechthilds seien durch den Eingriff Heinrichs in der Folge der Kapitel nicht mehr rekonstruierbar (S. 35). Die hier skizzierte Forschungskontroverse bildet den Hintergrund zu den Arbeiten von H ans N eumann , die im Vorfeld zu seiner erst 1990 und damit posthum publizierten textkritischen Ausgabe des ›Fließenden Lichts‹ erschienen sind. In einer Reihe von Einzeluntersuchungen, die aus seiner unveröffentlicht gebliebenen Göttinger Habilitationsschrift «Problemata Mechthildiana» (1947) hervorgegangen in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts publiziert wurden, 30 behandelte N eumann Fragen, die im Zusammenhang mit der Textgeschichte des ›Fließenden Lichts‹ und der Lebensgeschichte Mechthilds den Gegenstand der kontrovers geführten Forschungsdiskussionen gebildet hatten. Dabei kam er zu Ergebnissen, die zu communis opinio geworden sind, vor allem was so zentrale Fragen der Mechthild-Philologie wie Mechthilds Verfasserschaft und den Status des in der Einsiedler Handschrift überlieferten Textes betrifft. Diese Ergebnisse bestimmen, wie in Kapitel I.2 zu zeigen sein wird, auch die vorliegenden Textausgaben des ›Fließenden Lichts‹. Das ist insofern bemerkenswert, als N eumann s Forschungsergebnisse auf einer Vorstellung von Autor und Text basieren, die zu dem Zeitpunkt, als seine textkritische Ausgabe in den Druck ging, in weiten Teilen der germanistischen Mediävistik bereits als problematisch angesehen wurden (s. dazu Kap. I.3). P reger war noch der Meinung, die Einsiedler Handschrift sei mit dem Basler Übersetzungsoriginal identisch. 31 Die seitdem bekannt gewordene, mehr oder weniger umfangreiche Exzerpte des Gesamttextes umfassende Parallelüberlieferung hat jedoch gezeigt, dass mit mehreren Zwischenstufen zwischen dem Original der alemannischen Umschrift und dem Einsiedler Kodex zu rechnen ist. Es ist das Verdienst von N eumann nachgewiesen zu haben, dass der Einsiedler Text nicht den Basler Archetyp der alemannischen Übersetzung, sondern nur einen «sterile[n] Seitentrieb einer reicher entwickelten Überlieferung» 32 darstellt, von welcher - wie die bislang aufgefundenen Handschriften 8 Einleitung conscriptus a fratre quodam», «De fratre Henrico lectore qui compilavit librum istum»; un autre passage peut même paraître inquiétant: «lector praedictus dicta hujus Mechtildis omnia collegit et in unum volumen redegit», mais nous trouvons heuresement d’autres textes qui nous permettent d’affirmer que Henri de Halle a recueilli, non des paroles, mais des pages écrites par Mechtilde elle-même» (Kursivierung durch A ncelet - H ustache ). 30 Vgl. S tackmann (1992), S. 189-192. 31 Vgl. P reger (1869a), S. 100 bzw. (1869b), S. 155f. 32 N eumann (1954a), S. 217. Dass die Einsiedler Handschrift die oberdeutsche Übertragung lediglich in einer späteren Abschrift überliefert, scheint O ehl (1911), S. 25 als Erster angedeutet zu haben. <?page no="19"?> belegen - keine unmittelbaren Impulse auf die spätere Überlieferung ausgegangen sind. 33 Angesichts des beträchtlichen zeitlichen und räumlichen Abstands, der die ihm bekannte Überlieferung vom Ort und Zeitpunkt der Textentstehung trennt, hatte N eumann zunächst der Frage nachzugehen, in welchem Verhältnis der einzige vollständige Textzeuge des ›Fließenden Lichts‹ zum postulierten ‹Original› der Niederschriften Mechthilds steht. N eumann geht davon aus, dass konservativ eingestellte Schreiber und der den Text mit «behutsamer Pietät» 34 behandelnde Basler Kreis von ‹gottesfreundlichen› Übersetzern um Heinrich vo Nördlingen dafür gesorgt haben, dass das Original den Literaturtransfer vom Norden nach Süden unversehrt übersteht, so dass wir es in der Abschrift der Einsiedler Handschrift - N eu mann datiert sie auf die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts 35 - weitgehend in der Form vor uns haben, wie es Mechthild zwischen 1250-1282 konzipiert hatte. 36 Seine Ansicht über den behutsamen Umgang mit Mechthilds Werk im Basler Gottesfreundekreis begründet N eumann sowohl mit textkritischen als auch mit psychologisierenden Argumenten. Zum einen hebt er die Integrität des Einsiedler Wortlauts gegenüber einer Überlieferung hervor, die «kurze Fetzen aus Mechthilds Werk nur noch als Geröllstücke oder als ganz abge- Zugänge zur Autorschaft in der Mechthild-Forschung 9 33 Dies gilt auch für die Textzeugen, die erst im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Vorschein kamen, vgl. N eumann (1990), S. XIV-XVIII. Ergänzend kommen jene Handschriften hinzu, die ein von N eumann bei der Konstitution seines kritischen Textes nicht berücksichtigtes Exzerpt aus FL I.22 (38,21-40,19 [I.22,7-34]) im Rahmen der Spruchsammlung des Pseudo-Engelhart von Ebrach tradieren (H, Mü 1 -Mü 4 , Sa, s. Kap. V.2 passim), sowie ein «stark verkürzendes Gedächtnis-Zitat» (N eumann 1963, S. 322) aus dem gleichen Kapitel, das in eine von P feiffer (1857), S. 169,1ff. abgedruckte Predigt des Codex Einsidlensis 278, der Schwesterhandschrift von Cod. 277, eingegangen ist (N eumann 1963, S. 322 spricht fälschlicherweise von einer Straßburger Handschrift). - Zudem ist auf eine bislang völlig übersehene Exzerptüberlieferung von FL III.10 in einer als verschollen geltenden Handschrift aus dem Besitz von Joseph Maria von Radowitz hinzuweisen (Sigle: R), identifiziert von B anz (1908), S. 51, Anm. 1 und dann wieder von S chwarz -M ehrens (1985), S. 9, Anm. 2 und S. 157, Anm. 2, abgedruckt bei M one (1846), Bd. 1, S. 129-131 (s. dazu S. 165ff. und 477ff. weiter unten). - Wie sich das vor einigen Jahren aufgefundene Bonner Fragment aus dem Privatbesitz von Oliver Kessler (s. http: / / www.handschriftencensus.de/ 7397, Sigle: Bo) zu E verhält, kann vorerst nicht festgestellt werden. - Unabhängig von E, ja von der Basler Tradition überhaupt, ist der vor kurzem geglückte Sensationsfund aus Moskau, ein mit niederdeutschen Elementen vermengtes mitteldeutsches Fragment eines wohl niederdeutsch-sprachigen Kopisten aus der Zeit vor bzw. um 1300 (Sigle: Mo), vgl. G anina / S quires (2009) und (2010). 34 N eumann (1948/ 1950), S. 161. 35 Vgl. N eumann (1987a), Sp. 261. V ollmann -P rofe (1990), S. 42 dagegen spricht sich für das dritte Viertel des 14. Jahrhunderts aus (ähnlich W ebster 2005, S. 28-41 und S cheepsma 2007, S. 263, mit Berufung auf ein Gutachten von Karin Schneider). Deutlich früher wird die Handschrift von K. S chneider (2009), Bd. 2, S. 150 datiert: «nach den sehr konservativen Buchstabenformen zu schließen wohl kaum sehr lang nach der Jahrhundertmitte geschrieben.» 36 Ähnliche Argumentation bei A ncelet -H ustache , s. oben Anm. 28 mit Text. <?page no="20"?> schliffene Kiesel im Bachbett einer schreibseligen Buchmystik» 37 bietet. In Auseinandersetzung mit den in der älteren Literatur geäußerten Ansichten, beim oberdeutschen Text handle es sich um eine «aus dem Ganzen gestaltende Neuschöpfung» 38 bzw. eine im Vergleich zu den Briefzitaten Heinrichs von Nördlingen weniger geglückte Übersetzung, 39 weist N eumann wiederholt darauf hin, dass das ›Fließende Licht‹ in der Einsiedler Handschrift konservativer überliefert ist als in den sonstigen Textzeugen. 40 Die mitteldeutsch-niederdeutschen Sprachrelikte sprächen außerdem dafür, dass die Basler Übersetzer ihre Vorlage mit einer «gewissen mechanischen Pedanterie» 41 ins Alemannische übertragen hätten. Nach der Sichtung der überlieferten Handschriften auf ihre Zuverlässigkeit und ihren textkritischen Wert hin kommt N eumann zum Ergebnis, dass «E den besten Wortlaut besitzt und den Anspruch erheben darf, der Urschrift Mechthilds nahe zu bleiben.» 42 N eumann argumentiert aber nicht nur textkritisch, sondern auch psychologisierend, um den besonderen Wert des Einsiedler Textes als eine originalnahe Abschrift herauszustellen. Er spricht sich energisch dafür aus, dass «Ehrfurcht und Treue als erhaltende Faktoren» nicht unterschätzt werden dürfen, denn «das Problem der textlichen Integrität ist […] nicht allein eine Sache textkritischer und stilkundlicher Beobachtung, sondern zugleich auch eine psychologische Frage, die sich auf das seelische Verhältnis des Überliefernden zum Überlieferten hinrichten muß.» 43 Wie schon A ncelet -H ustache und T illmann - sie sprachen von ‹frommem Respekt› («pieux respect») bzw. einer «gewissen Pietät» im Umgang der Basler Devoten mit Mechthilds Text, ohne selber textkritisch zu argumentieren (s. oben Anm. 28 mit Text) - attestiert auch N eumann der Überlieferung und vor allem Heinrich bzw. seinen Geistesverwandten «behutsame Pietät» und «abstandsvolle Ehrfurcht» vor dem Werk der «großen» Magdeburger Visionärin, denn «sie müßen gespürt haben, daß hier jede Zutat nur entstellen konnte, jeder willkürliche Pinselstrich das Bild entwerten würde.» 44 10 Einleitung 37 N eumann (1948/ 50), S. 152. 38 M uschg (1935), S. 302. 39 S trauch (1882), S. 380 hat im Zusammenhang der von ihm entdeckten Mechthild- Zitate, die Heinrich von Nördlingen in seine an Margareta Ebner gerichteten Briefe einfließen ließ, die Vermutung geäußert, Heinrich könnte - da er die alemannische Übersetzung zum Zeitpunkt des Briefschreibens nicht mehr hatte - das «Original» (d. i. die mittelniederdeutsche Übersetzungsvorlage) «aufs Neue eingesehen haben; so erklären sich dann auch die Abweichungen zwischen seiner früheren Übersetzung und unserm Citate. HvN scheint das zweite Mal richtiger übersetzt zu haben […].»Ähnlich S tierling (1907), S. 4. 40 Vgl. N eumann (1948/ 50), S. 145-155, (1954c), (1963) sowie (1967). 41 N eumann (1948/ 50), S. 167. Ähnlich T illmann (1933), S. 10. 42 N eumann (1954c), S. 175. Zur Kritik dieser Position s. Kap. I.2 weiter unten. 43 N eumann (1948/ 50), S. 144. 44 N eumann ebd., S. 172. <?page no="21"?> Sollte diese von Ehrfurcht und Bewunderung bestimmte Rezeptionshaltung gegenüber der aus dem Norden stammenden Übersetzungsvorlage die Basler Übersetzer davon abgehalten haben, in den Wortlaut einzugreifen und ihn zu verfälschen, bliebe immer noch zu klären, ob ihre Vorlagehandschrift überhaupt einen im textkritischen Sinn authentischen Text geboten hat. Ein pietätvolles Verhältnis zum Text postuliert N eumann in seiner weite Teile der Mechthild-Forschung bis heute prägenden Akademie-Abhandlung von 1954 nicht nur bei der Überlieferung, sondern auch bereits bei der Entstehung des ›Fließenden Lichts‹. Demzufolge soll Mechthilds angeblicher Beichtvater und Redaktor ihrer Schriften, Heinrich von Halle, eine «ehrfürchtige Treue» 45 im Umgang mit den Aufzeichnungen seiner Beichttochter offenbart haben. In Übereinstimmung mit den ‹Chronologisten› (s. oben) behauptet N eumann , Heinrich habe die ursprüngliche Reihenfolge der Aufzeichnungen bewahrt und jeden Eingriff in den Textbestand gescheut. Seine Rolle im Verschriftlichungsprozess wird auf die Strukturierung des Geschriebenen beschränkt. Er soll die Bücher I-V umfassende Erstausgabe der Schriften Mechthilds lediglich geprüft, in Bücher und Kapitel eingeteilt und mit Kapitelüberschriften versehen sowie anschließend eine saubere, kalligraphische Abschrift davon erstellt haben. 46 Zwar zog N eumann später auch die Möglichkeit in Betracht, Heinrich hätte manche Kapitel (besonders die des ersten Buches) in kleinere Texteinheiten geteilt, doch lässt er dies nicht gelten, weil die Aufgliederung des Textes in Kapitel in den meisten Fällen wohl auf Mechthild selbst zurückgeht. 47 Den unwiderlegbaren Beweis für den postulierten, von Ehrfurcht geprägten Umgang Heinrichs mit den Schriften Mechthilds sieht N eumann vor allem darin, dass «der Einsiedler Text keiner auch nur irgendwie faßbaren Ordnung gehorcht, sondern selbst ein buntes Gemengsel von Niederschriften bietet, wie sie nach und nach die Pergamentlagen auf Mechthilds Tisch gefüllt haben.» 48 Mit dem Hinweis auf die fehlende inhaltliche Gliederung des Textes, wie sie etwa in der lateinischen Übersetzung durchgeführt wurde, rehabilitiert N eumann die von P reger (s. oben Anm. 14 mit Text) vertretene Position, so dass die oberdeutsche Übersetzung auch für ihn die prozessuale und ungesteuerte Entstehung der eigenhändigen Aufzeichnungen Mechthilds wiederspiegelt, die Art und Weise, wie Mechthild ihre Offenbarungen sukzessive aufgezeichnet hat, handelt es sich doch um «ein sehr fraulich, unsystematisches Werk.» 49 Wohl räumt N eumann ein, dass es Interpolationen und einzelne Kapitel gibt, die gegen die chronologische Ordnung des Ganzen zu verstoßen scheinen, doch führt er sie nicht etwa auf die ordnende Hand einer außenstehenden Zugänge zur Autorschaft in der Mechthild-Forschung 11 45 N eumann (1954b), S. 39. 46 Vgl. N eumann ebd., S. 65 und (1987a), Sp. 262. 47 Vgl. N eumann (1993), S. 201. 48 N eumann (1954b), S. 61. 49 N eumann ebd., S. 68. Auch H auck (1911), S. 188 erklärt die fehlende thematische Struktur des deutschen Textes wie folgt: «so planlos entstehen die Bücher der literarisch Ungebildeteten.» <?page no="22"?> Person (etwa des Beichtvater-Redaktors) oder auf überlieferungsbedingte Umstände zurück, sondern auf Mechthild selbst: Sie habe manche erklärenden Textpassagen und sogar ganze Kapitel in ihr Buch eingefügt, als die Bücher I-V in die Erstpublikation gingen. 50 Das ist das Zugeständnis, welches bereits H auck angesichts der von M ichael und S tierling (s. oben Anm. 20) vorgetragenen Kritik machen musste, 51 ohne indes die Überzeugung aufzugeben, es ließe sich nicht nachweisen, «dass so eingreifende Umgestaltungen vorgenommen wurden, dass die ganze Gestalt des Buchs durch sie eine Änderung erlitt.» 52 Ähnlich ist N eumann der Ansicht, die Nachträge vermochten den Gesamteindruck nicht trüben, dass «die Hauptmasse der Kapitel in den Büchern I bis V in ihrem ursprünglichen chronologischen Gefüge stehengeblieben ist.» 53 Gegen die Meinung der älteren Forschung, Mechthild habe sich um die Ordnung ihrer Schriften nicht bemüht, sondern diese Aufgabe dem Sammler Heinrich überlassen, 54 geht N eumann entscheidend in die Offensive, wenn er behauptet, Mechthild habe ihr Buch «mit eigener Hand zu einem Ganzen gestaltet.» 55 Folglich muss die übliche Vorstellung ausscheiden, Mechthild hätte ihrem Beichtvater lediglich einen Haufen von durcheinandergeworfenen losen Blättern zur Verfügung gestellt, woraufhin dieser sie zu einem Sammelband vereinigte. 56 Verständlicherweise tangiert Heinrichs Redaktorenrolle die Autorschaft Mechthilds nicht im Geringsten, da ihm lediglich ein «gewisse[r] Anteil» 57 bei der Textentstehung eingeräumt wird. Dies ist N eumann s Replik auf die jahrzehntelang vor ihm so kontrovers diskutierte Frage, inwieweit der Einsiedler Text noch die ursprüngliche Folge von Mechthilds Niederschriften widerspiegelt. N eumann s Haltung in diesem Streit ist genauso verständlich wie problematisch. Um die Biographie und das Seelenleben Mechthilds sowie die Entfaltung ihres schriftstellerischen Ausdrucks aus dem überlieferten Text selbst zu erschließen, ist er auf das Postulat, die heutige Reihenfolge der Kapitel bezeuge die prozessuale Entstehung des Textes, geradezu angewiesen, denn «[d]er Zeugniswert ihrer [Mechthilds] inneren Biographie muß weithin fragwürdig bleiben, wenn die Zeitkategorie der Entwicklung nicht anwendbar erscheint, weil die Blätter der Niederschrift heillos durcheinandergeworfen oder planvoll umgeordnet sind.» 58 Um jedem 12 Einleitung 50 N eumann (1954b), S. 60f. und 66-68. 51 H auck (1911), S. 190 hat immerhin offen gelassen, ob Einschiebseln auf Rechnung eines Redaktors oder Mechthilds selbst kommen. 52 H auck ebd., S. 192. 53 N eumann (1954b), S. 68. 54 In diesem Sinne äußern sich S tierling , M ichael und O ehl , s. Anm. 26 mit Text. 55 N eumann (1954b), S. 60. N eumann schließt sich in diesem Punkt der Position von B ecker (1951), S. 45f., Anm. 1, S. 138 und 197 an. 56 Vgl. N eumann (1954b), S. 42. 57 N eumann ebd., S. 60. 58 N eumann ebd., S. 29. N eumann argumentiert hier gegen S tierling (s. Anm. 23 mit Text). Die Unordnung des Textes muss auch noch in neueren Untersuchungen für die bewahrte <?page no="23"?> Zweifel an der chronologischen Ordnung des Ganzen zuvorzukommen, muss N eumann , wie alle ‹Chronologisten›, die Text- und Entstehungsgeschichte dem Einfluss fremder Hände entziehen und sie in die alleinige Veranwortung Mechthilds legen. Erst dieser taktische Zug schafft die Voraussetzungen für die von N eumann avisierte Textausgabe. Diese setzt sich zum Ziel, ausgehend von der Einsiedler Handschrift zu einem Text vorzustoßen, von dem behauptet werden kann, er stünde dem verlorenen Original näher und sei deshalb auch authentischer als jede andere überlieferte Handschrift N eumann s Ansichten über die Verfasserschaft des ›Fließenden Lichts‹ und den textgeschichtlichen Status der Einsiedler Handschrift haben demnach ihre (forschungsgeschichtlich bedingten) Prämissen, werden doch die text- und entstehungsgeschichtlichen Überlegungen einem primär an der inneren und äußeren Lebensgeschichte Mechthilds orientierten Interesse untergeordnet. Ein solcher Zugang zu Autor und Werk ist in den letzten Jahrzehnten allerdings problematisch geworden. Infolge der seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts anhaltenden Diskussion um die Literarizität des ›Fließenden Lichts‹ hat N eumann s Vertrauen auf den Text als authentisches Zeugnis für Mechthilds innere und äußere Biographie viel von seiner früheren Selbstverständlichkeit eingebüßt. Damit wird an den Grundlagen des von N eumann entworfenen entstehungsgeschichtlichen Modells gerüttelt. Es ist zu erwarten, dass die neuen Erkenntnisse über die literarische Machart des Textes nicht ohne Folgen für die Bestimmung der Urheberschaft des ›Fließenden Lichts‹ und des textgeschichtlichen Status der Einsiedler Handschrift bleiben. I.1.2 Die vertexteten Stimmen des Autors Es war nicht nur die lose Folge der angeblich chronologisch geordneten Einzelkapitel, die das ›Fließende Licht‹ für einen Teil der älteren Forschung als Tagebuch ausweisen sollte. Auch aus dem Charakter des Werkganzen meinte man, auf ein lebensbegleitendes Schreiben schließen zu können. So war die leidenschaftliche Minnesprache des ersten Buches für N eumann ein eindeutiges Indiz dafür, dass die hier enthaltenen Kapitel «sichtlich im ersten Sturm der poetischen Selbstbefreiung […] aufs Pergament geworfen worden» 59 sind. Auch T illmann war der Ansicht, die dichterischen Anfänge Mechthilds hätten «unter dem ersten unmittelbaren Eindruck ihrer Ekstase» gestanden, wohingegen in den späteren Büchern ein «langsames Abklingen» 60 zu registrieren sei. Daran anschließend schreibt W olfgang M ohr , im ›Fließenden Licht‹ Zugänge zur Autorschaft in der Mechthild-Forschung 13 ursprüngliche Reihenfolge des Textganzen herhalten, um die Entwicklung der theologischen Gedankenwelt Mechthilds zu erschließen, vgl. V erlaguet (2005). 59 N eumann (1954b), S. 57. 60 T illmann (1933), S. 21. In der nachlassenden Vitalität der Autorin sah auch L. M eyer (1951), S. 24 den Grund dafür, dass der individuelle Brautbegriff im Verlauf der sieben Bücher von einem pluralistischen abgelöst wird. <?page no="24"?> schienen sich «die Erfahrungen einer ekstatischen Mystik unmittelbar in Sprache und sprachliche Form umzusetzen», 61 so dass man so etwas wie einen «Jugend- und Altersstil» unterscheiden könne, der sich im Fortgang der sieben Bücher dokumentiere, da Heinrich von Halle die Bücher und Kapitel «offensichtlich nicht systematisch, sondern soweit wie möglich biographisch» 62 geordnet habe. Schreiben aus Affekt, Poesie als Ausdruck der unbändigen Vitalität einer noch jungen Dichterpersönlichkeit, Erlebnisfrische und Unmittelbarkeit als Kennzeichen eines elementaren poetischen Äußerungswillens. Diese der romantischen Dichtungstradition entnommenen Theoreme, die mit T ill mann Eingang in die Mechthild-Forschung gefunden haben, waren dazu berufen, der These vom Tagebuchcharakter des ›Fließenden Lichts‹ eine zusätzliche Evidenz zu verleihen. 63 Schon der N eumann -Schüler E rnst B ecker äußerte Zweifel daran, ob die Bezeichnung ‹Tagebuch› und ‹Autobiographie› für ein Schriftwerk des Mittelalters nicht «wohl doch einen zu vagen Begriff» 64 darstellt. Außerdem liege einer solchen Begrifflichkeit die Ansicht zugrunde, das Werkganze hätte sich organisch entwickelt (S. 146), ein Postulat, das dem Bedürfnis der (damals) modernen Literaturwissenschaft, ein literarisches Werk nach den Kategorien «Entwicklung» und «Zeitfrage» (S. 137) zu beurteilen, entgegenkommt. Dass die dem ›Fließenden Licht‹ immer wieder nachgesagte Unmittelbarkeit nicht affektbedingt ist, sondern eine besondere Qualität des Textes, einen einkalkulierten Effekt darstellt, arbeiteten in jüngster Zeit W alter H aug und K laus G rubmüller heraus. H aug gibt zu bedenken, dass die Verschriftlichung jeder Erfahrung aus der Distanz und im Hinblick auf ein bestimmtes Publikum erfolgt. Dies führe «zwangsläufig zu einer Stilisierung des mystischen Vorgangs bei der Niederschrift, ja möglicherweise schon der Erfahrung selbst.» 65 Zwar leugnet H aug den beim Lesen des ›Fließenden Lichts‹ sich gleichsam von selbst einstellen- 14 Einleitung 61 M ohr (1963) S. 375. Auf eine solche Beurteilung des ›Fließenden Lichts‹ trifft man auch noch in der Folgezeit. W ehrli (1980), S. 629 sieht in Mechthilds Werk «eine wilde, wahrhaft ursprüngliche Welt […] in ihrem Rang und ihrer Unmittelbarkeit unvergleichlich.» Auch R uh (1985a), S. 247 ist der Ansicht, im ›Fließenden Licht‹ teile sich dem Leser «die Echtheit und Unmittelbarkeit der religiösen Erfahrung in spontaner Weise mit.» Für J. H einzle (1984), S. 107f. erweckt der Text den Eindruck, «als seien die festen Konventionsformen der literarischen Tradition zurückgenommen in die Ursprünglichkeit eines elementaren Äußerungszwanges.» 62 M ohr (1963), S. 378. Hinter einer solchen Sicht auf das Geschriebene steht eine biologistische Einschätzung des Phänomens Mystik, ablesbar etwa an der folgenden Äußerung von G ürsching (1950), S. 44: «Die Mystik stellt sich ja überhaupt, geschichtlich und literarisch, als eine Art Jugendbewegung dar.» 63 In dieser Tradition steht das vielzitierte und vielfach abgewandelte Dictum von M ohr (1963), S. 378, das ›Fließende Licht‹ stelle «Fragmente einer inneren Biographie» dar. Zu ähnlichen Ansichten s. auch Z inter (1931), S. 6 und B ihlmeyer (1933), S. 518. 64 B ecker (1951), S. 46, Anm. 1. 65 H aug (1984/ 1995), S. 556. <?page no="25"?> den Eindruck nicht, der Text könnte aus der Unmittelbarkeit der Einheitserfahrung entstanden sein, doch betont er nachdrücklich, es handle sich um eine «vermittelte Unvermitteltheit» (S. 574), die mit literarischen Mitteln erzeugt werde. Die postulierte Unmittelbarkeit des Textes unterminiert H aug auch dadurch, dass er die längst fällige Dissoziation von autobiographischem und Erzähler-Ich einführt (S. 556). H aug tut dies in Abgrenzung zu einer Forschungsrichtung, die von einem weitgehend ungebrochenen lebensweltlichreferenzialisierenden Sprechen des sich im Text artikulierenden Subjekts, das kurzerhand mit der genuinen Autorenstimme Mechthilds identifiziert wurde, ausgeht und den überlieferten Text als eine durch das Ich-bezogene Sprechen der Autorin verbürgte Autobiographie und als ein Dokument versteht, in welchem das ursprüngliche religiöse Erlebnis unmittelbar und unverfälscht in die Sprache übergeht, so als ob vom Text aus wieder auf das dahinter liegende Erfahrungssubstrat geschlossen werden könnte. 66 Die von H aug eingeführte Unterscheidung von autobiographischem und Erzähler-Ich und die von ihm minutiös ausgearbeiteten literarischen Techniken der Präsenzerzeugung (vor allem in dialogischen Partien), um die Unio- Erfahrung (diese wird als außerliterarisches Faktum postuliert) mittels des an sich Distanz schaffenden Mediums, des Textes und der Sprache selbst, wieder einzuholen, lenkte die Aufmerksamkeit der neueren Forschung auf den Text als literarisches Artefakt, auf seine Erzählstruktur und Erzählperspektiven. Zur Erzählhaltung im ›Fließenden Licht‹ stellte G rubmüller in einem wegweisenden Aufsatz fest: Mechthild «vervielfacht die Sprecherposition und vermengt die Perspektiven; das Subjekt der Botschaft entzieht sich in eine undeutliche, aber suggestive Pluralität des Redens und Erfahrens.» 67 War Mechthild in der älteren Forschung der Referenzpunkt des Textes schlechthin, 68 erscheint sie nun substituierbar, ihr Ich löst sich in einem situationsbedingten Rollenpluralismus auf. Denn «[d]argestellt und ins Wort umgesetzt wird ein von vielen Beteiligten getragener Prozeß: der der präzisen Sonderung nicht mehr bedürftige, sie viel mehr überschreitende Vorgang der unio, die sich in der Verschmelzung der Personen, der Perspektiven, der Sprechweisen abbildet.» 69 Diese auf inhaltlicher Ebene diagnostizierte Unbestimmtheit der Sprecherpositionen erklärt G rubmüller mit der Entstehungsgeschichte des Textes. Zugänge zur Autorschaft in der Mechthild-Forschung 15 66 Weiterführend dazu B ildhauer (2007). 67 G rubmüller (1992), S. 343. Auf die Variationenfülle, die die Präsentation des Ich im ›Fließenden Licht‹ auszeichnet, hat bereits M ohr (1963), S. 380 hingewiesen. 68 Man vergleiche etwa die Emphase bei T illmann (1933), S. 82f.: «Im Mittelpunkt des Werkes steht s i e, das ganze Werk handelt von i h r und i h r e m Verhältnis zu Gott […]. Zusammengehalten wird es nur durch s i e. Es sind i h r e Offenbarungen. Es ist i h r Tagebuch» (Sperrungen von T illmann ). 69 G rubmüller (1992), S. 345. Dass die von G rubmüller behauptete Undefiniertheit der Sprecherpositionen allerdings nicht für das ganze Buch gleichermaßen gilt, betonen K asten (1995), S. 9-16 und V ollmann -P rofe (1994), S. 150. <?page no="26"?> Er stellt - anders als N eumann 70 - dem heute als Buchwerk par excellance organisierten Text eine ursprünglich lockere, keinesfalls feste Sammlung von Einzelstücken gegenüber. War das von Mechthild Geschriebene ein von ihr in der Reihenfolge der Stücke zwar festgelegtes, aber nicht durch Buchcharakteristika organisiertes und kommentiertes Ganzes, so stellt sich auf der Ebene der Textkomposition, so argumentiert G rubmüller , derselbe Eindruck ein, der auch bei den Sprecherrollen beobachtet werden konnte: «[Derjenige] der Simultanität unterschiedlichster Formen, Inhalte und Sprecherhaltungen, eines im Flusse sich herstellenden, sich der Verfestigung entziehenden, auf Syn- Opsen und Syn-Ästhesien gerichteten Textes, der seine Einheit erst im Rezipienten findet und so den Prozeßcharakter der mystischen Erfahrung (im A n s c h e i n einer gemachten, geplanten, nicht naturwüchsigen Unmittelbarkeit) gegen die Bedrohung einer unangemessenen Erstarrung rettet» (S. 347, Sperrung von G rubmüller ). Die Folge einer solchen, auf die «Minimalisierung des Kontextes» 71 hin tendierenden Präsentationsform - man begegnet ihr auch heute noch vor allem im ersten Buch, sofern man die Überschriften wegdenkt - ist, dass das Ich undefiniert bzw. mehrdeutig bleibt. 72 Während die ältere Forschung den Konvergenzpunkt aller Ich-Rollen in der Person Mechthilds sah und sie einseitig biographisch deutete, konstatiert man heute ihre «Substituierbarkeit» und «Inkonsistenz». 73 Behauptet wird eine unvollzogen gebliebene Individuation des Sprecher-Ich: «Es bestehen keine absoluten Grenzen, die dieses Sprecher-Ich als eigenständiges Gebilde zusammenhalten und es von anderen Gestalten trennen.» 74 Zwar wird nicht ausgeschlossen, dass das autobiographische Ich eine der Stimmen des Textes darstellen und mit dem Erzähler-Ich vor allem dort ein hohes Maß an Identität erlangen kann, wo dieses Ich sein Sprechen und Schreiben reflektiert, 75 «absolut fallen sie jedoch nicht zusammen.» 76 Diese neuen Erkenntnisse über 16 Einleitung 70 Für N eumann schreibt Mechthild, wie oben gezeigt, nicht auf lose Blätter, sondern sie verfasst vom Anfang an ein Buch. Vgl. dazu auch das Kommentar von N eumann zu FL II.26: 136,15f.: «Auch diese Stelle [es geht um eine Buchallegorese, B.J.N.] spricht gegen die These, daß ein oder auch mehrere Stapel loser Blätter Mechthilds Manuskript gebildet hätte» (N eumann 1993, S. 46, Anm. zu II.26,11f.). 71 H aas (1989), S. 217. 72 Paradigmatisch dafür, welche Interpretations- und Identifikationsmöglichkeiten sich auftun, wenn ein unbezeichnetes Ich als sprechendes Subjekt erscheint, ist die Diskussion um das Prooemium zum ›Fließenden Licht‹. Das Sprecher-Ich wurde in der Forschung verschiedentlich mit Mechthild oder mit Gott identifiziert, um die Frage letztlich damit zu bewenden, dass die Sprecheridentität bewusst und durchaus im Einklang mit dem gesamten Text offen gehalten wird, s. dazu zusammenfassend und weiterführend D icke (2003), S. 267-270 (mit Angaben zur älteren Literatur). 73 H asebrink (2000), S. 161. 74 V olfing (2003), S. 257. Auch B eling (2000), S. 110 stellt fest, die Autorin sei «textimmanent zersplittert und historisch kaum zu fassen.» 75 Vgl. K asten (1995), S. 6. 76 H aug (1984/ 1995), S. 556. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Hinweis von S uer baum (2009), S. 27f. auf die «Versuchung», das sprechende Ich umstandslos mit der <?page no="27"?> die «Poetik literarischer Ich-Rollen» 77 und über die «Strategien der Geltungssicherung» 78 haben nicht nur dem naiven Unmittelbarkeitsglauben und dem Vertrauen der älteren Forschung auf den Text als authentisches Dokument des mystischen Innenlebens Mechthilds den Boden entzogen, sondern erschweren es auch, die genuine Autorenstimme im Text zu identifizieren. 79 Damit wurde das oben referierte, der romantischen Dichtungstradition entstammende Genesemodell - berufen, um der These der chronologischen Ordnung der Kapitelfolge und damit indirekt der Autorschaft Mechthilds eine zusätzliche Stütze zu verleihen - ihrer eigentlichen Prämissen beraubt. 80 Nicht viel anders steht es um die Prämissen des von N eumann vorgetragenen entstehungsgeschichtlichen Modells, das eine klare Aufgabenverteilung zwischen Autorin und Beichtvater favorisiert, um die Auswertbarkeit des Textes auf die (äußere) Lebensgeschichte Mechthilds hin zu garantieren. Auch dieses Argument hat in den letzten Jahren deutliche Kritik einstecken müssen. I.1.3 Der Autor als textliches Konstrukt «In der Textgeschichte dokumentiert sich die Lebensgeschichte der Autorin.» 81 So resümiert C hrista O rtmann all jene Interpretationsmodelle, die im ›Fließenden Licht‹ eine historische Quelle, ein autobiographisches Zeugnis bzw. den Beleg einer vergangenen mystischen Erfahrung Mechthilds von Magdeburg sehen wollen. Mit Hinweis auf die von G rubmüller angestoßene Diskussion um die Literarizität des Textes fordert sie: «Um die literarische »Machart« des ›Fließenden Lichts‹ […] funktional zu beschreiben und als bewußtes Gestaltungsprinzip aufzuweisen, das das Werk als Typus kennzeichnet, muß ein Rahmen aufgesucht werden, in dem Autobiographie und Mystik als außerliterarisch bezogene »Sach«-Phänomene keine determinierende Funktion haben» (S. 166). Um die von O rtmann geforderte Bestimmung des literarischen Status des ›Fließenden Lichts‹ geht es vor allem dem von U rsula P eters begründeten, an der neueren Hagiographieforschung orientierten gattungs- und diskursanalytischen Ansatz. 82 Im Gegensatz zu einer Forschung, die in einem Zirkelschlussverfahren vom literarischen Text auf die außerliterarische Realität und von hier aus wiederum zurück auf die Literatur geschlossen hat, lenkt P eters die Aufmerksamkeit auf die Selbstreferenzialität und Konzeptionalität frauenmystischer Zugänge zur Autorschaft in der Mechthild-Forschung 17 Autorin zu identifizieren, um den Text anschließend «einer Autorin namens Mechthild zuzuschreiben und ihn dann als biographischen Bericht zu lesen.» 77 H asebrink (1998), S. 150. 78 H asebrink (2006), S. 392. 79 Vgl. P oor (2006), S. 196: «The intermingling of traditions and voices in combination with the dialogic form make a single authorial voice difficult to isolate.» 80 Vgl. dazu auch H asebrink (1998), S. 150 und 152. 81 O rtmann (1992), S. 163. 82 Zu den theoretischen und methodischen Voraussetzungen dieses Ansatzes s. P eters (1985), S. 192-197 und (1999), S. 185-191. <?page no="28"?> Texte. Der Titel ihrer grundlegenden Monographie, «Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum» 83 ist durchaus als Programm zu verstehen. Es besagt, im Falle des seit dem 13. Jahrhundert aufkommenden frauenmystischen Schrifttums handle es sich - und das mag tautologisch erscheinen - vor allem und in erster Linie um Literatur, die den Gattungsnormen der Hagiographie unterworfen gattungsspezifische Konzepte der Heiligkeit transportiere. Deshalb sei zu erwarten, dass die textimmanent präsentierte ‹Auto(r)biographie› von Konzepten, die auf die Heiligkeit einer Person abzielen, nicht unbeeinflusst bleibt. Doch nicht nur die thematisch-ideologische Ausrichtung und das Autorschaftskonzept von Texten aus dem Bereich der Frauenmystik stehen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses von P eters , sondern auch die kulturhistorischen und organisatorischen Voraussetzungen der Entstehung einer solchen Literatur. P eters ist der Meinung, dass die Herausbildung einer aszetisch-mystischen Literatur religiös bewegter Frauen im 13. Jahrhundert nach wie vor von wenig abgesicherten, generellen Forschungshypothesen hinsichtlich ihrer Entstehung überschattet sei. Um diesen Hypothesen entgegenzuwirken, wird eine Untersuchung vorgelegt, die «als eine kritische Überprüfung wirkungsmächtiger Forschungspositionen und damit zugleich als ein Beitrag zur Genese und Funktion frauenmystischer Literatur gedacht ist.» 84 Da der Ansatz, Texte aus dem Bereich der Frauenmystik unter dem Aspekt ihrer institutionellen Einbindung sowie ihres programmatischen und funktionalen Impetus zu deuten, Schule gemacht und Nachfolger gefunden hat, 85 empfiehlt es sich, auf diese Forschungsposition detaillierter einzugehen, zumal die hier diskutierten Fragen sowohl für den Autorbegriff, als auch für die Entstehungsgeschichte des ›Fließenden Lichts‹ von unmittelbarer Relevanz sind. Diese Forschungsrichtung bietet ein avanciertes, wenn auch nicht unproblematisches, Gegenmodell zu dem von N eumann bzw. seinen Vorgängern entworfenen und weiterhin wirksamen Bild von Mechthild als Autorin des ›Fließenden Lichts‹ und zu den Umständen der Textgenese. Zu den von P eters kritisierten, wirkungsmächtigen Forschungspositionen gehört sowohl die Einschätzung, Mechthild sei eine Begine gewesen, als auch die Auffassung, die Entstehung des ›Fließenden Lichts‹ würde auf ein spezifisches Zusammenwirken der Visionärin Mechthild mit ihrem Beichtvater Heinrich von Halle zurückgehen. Was den Status Mechthilds als Begine betrifft, konstatiert P eters zunächst das Fehlen von textexternen Dokumenten im Sinne eines historischen Zeugnisses. 86 Die Kenntnis von Mechthilds Beginenstatus verdankt die Forschung 18 Einleitung 83 P eters (1988a). Die Hauptthesen dieses Buches haben sich schon in einem früheren Aufsatz von P eters angekündigt, s. P eters (1984). 84 P eters (1988a), S. 8. 85 Vgl. R uhrberg (1995), N isters (1997) sowie die Publikationen von B ürkle in der Literaturliste. 86 Vgl. P eters (1988a), S. 54. <?page no="29"?> in der Tat nicht etwa Urkunden oder historischen Quellen im engeren Sinne des Wortes. Mechthilds semireligiose Existenz wurde (und wird) aus dem Text selbst abgeleitet, und zwar aus den immanenten Anspielungen auf ein vermeintlich feindlich gesinntes Umfeld bzw. aus den Prologen zum deutschen und lateinischen Überlieferungszweig. Beide Ebenen, die des vermeintlichen Selbst- und diejenige des Fremdzeugnisses, liefern dabei Puzzleteile, aus welchen die Forschung die Lebensskizze einer in der Welt lebenden mulier religiosa zusammenmontiert hat. P eters ist der Meinung, dass diese Textpartien uns nicht etwa über Mechthild als historische Person informieren, sondern eher «die prägnanten Spuren einer in der Vitenliteratur des 13. Jahrhunderts gängigen, geradezu idealtypischen vita religiosa» 87 zeigen. Diese im deutschen Text verstreuten Informationen über das heiligmäßige Leben der Protagonistin, die sich unter den Anfeindungen der Welt bewähren muss, wurden, so P eters , in den programmatischen Einleitungskapiteln zur Einsiedler Handschrift und der lateinischen Übersetzung aufgegriffen, systematisiert und mit weiteren scheinbar detailrealistischen Fakten zur einer Lebensgeschichte amplifiziert. Doch sind sie nicht etwa als realbiographische Aussagen zu verstehen, sondern «sie gehören […] in erster Linie zur biographischen Präzisierung eines spezifischen lebensweltlichen Konzepts von Gotteserfahrung, zur programmatischen Stilisierung und hagiographischen Konkretisierung des Mechthild-Korpus.» 88 Sie verweigern damit eine rein autobiographische Lesart und lassen keine Rückschlüsse auf Mechthilds Magdeburger Beginenexistenz zu. P eters geht sogar einen Schritt weiter und behauptet, der Text liefere keinerlei Erkenntnisse über die literarischen Aktivitäten einer Begine. 89 Nachdem P eters die Beginenthese und ihre Implikationen für die Textgenese relativiert hat (zur Kritik an diesem überzogenen Skeptizismus von P eters s. S. 323ff. weiter unten), will sie Entstehung, redaktionelle Bearbeitung und Distribution des ›Fließenden Lichts‹ in Helfta verorten. 90 Damit steht aber der Beichtvaterstatus Heinrichs von Halle und sein Anteil an der Textgenese auf dem Prüfstand. Wie im Fall der ‹Lebensgeschichte› rechnet P eters auch bei der textimmanenten Darstellung der Werkgeschichte mit einer erst nachträglich erfolgten Ver- Zugänge zur Autorschaft in der Mechthild-Forschung 19 87 P eters ebd., S. 57. Dazu gehören unter anderem die Unwissenheit des Kindes, frühe religiöse Erfahrungen, der freiwillige Verzicht auf ein angenehmes Leben im Elternhaus, die Abkehr von Verwandten und Freunden und der Rückzug aus der Welt. S uerbaum (2003), S. 248-255 ergänzt dieses Bild um weitere Elemente, wie die Stellvertreterfunktion beim Bittgebet, die Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit und gleichzeitige Auserwähltheit im Leiden, die kaum einer Heiligenvita fehlen. Dass die Heiligkeit Mechthilds sich nicht nur in ihrem geistigen Wesen, sondern auch in ihrem literarisch konstruierten körperlichen Erscheinungsbild manifestiert, zeigt N isters (1997), S. 32-44. 88 P eters (1988a), S. 58. 89 Vgl. P eters ebd. und P eters (1988b), S. 92f. Auch R uhrberg (1995), S. 173, Anm. 115 ist der Ansicht, «dass es kein textproduktives Milieu unter Beginen gab.» 90 Vgl. P eters (1988a), S. 65f. <?page no="30"?> netzung und Amplifikation von quasi bio-bibliographischen Informationen zum eindrucksvollen Entstehungsszenario in der ›Lux divinitatis‹. Das in LD II.40 (Rev. Bd. II.2, S. 516-517) entworfene Szenario hat die Forschung, so P eters , dazu veranlasst, in Heinrich von Halle den Beichtvater und Förderer Mechthilds bzw. Bearbeiter ihrer Schriften zu sehen. Doch wie verlässlich sind eigentlich die Angaben der lateinischen Textpartien und der ›Lux divinitatis‹? P eters argumentiert wie folgt: «Man wird […] sie gelegentlich eher als hagiographische Versuche einer detailrealistischen lebensweltlich-biographischen Konkretisierung mehr oder weniger persönlich gehaltener historisch-biographischer Anspielungen des deutschen Textes betrachten müssen.» 91 Demnach ist P eters nicht bereit, die Aussagen der ›Lux divinitatis‹ als einen Hinweis auf eine langjährige literarisch-spirituelle Zusammenarbeit Mechthilds mit ihrem Beichtvater Heinrich zu deuten. Eher wird man davon ausgehen müssen, «daß Heinrich von Halle, der überhaupt nur in der lateinischen Übersetzung genannt wird, bestenfalls an dieser Fassung von Mechthilds Text beteiligt gewesen sein kann.» 92 Überhaupt sei es wenig wahrscheinlich, meint P eters , dass ein Geistlicher an der Entstehung des volkssprachlichen Textes Teil genommen hat. Zum einen sei die Stelle, die immer wieder als Beleg dafür zitiert wird, dass Mechthild auf die Veranlassung ihres bihter angefangen habe, ihr b v ch zu schreiben, wenig aussagekräftig, denn «der Beichtvater ist hier [in FL IV.2: 236,33] nicht mehr als eine schematische Rollenfigur, die keine kulturhistorische Kommentierung des Schreibbefehls im Sinne eines literarischen Zusammenwirkens von Mechthild mit ihrem Seelsorger erlaubt.» 93 Zum anderen wüssten die in Helfta entstandenen Visionstexte über eine literarische Zusammenarbeit zwischen Mechthild und einem Dominikaner, der von der Forschung mit Heinrich von Halle identifiziert wird und als Beichtvater um die Redaktion der von Mechthild eigenhändig niedergeschriebenen geistlichen Erfahrungen gekümmert haben soll, nichts zu berichten. Deshalb frage man sich, «ob die Vorstellung eines engen Zusammenwirkens Mechthilds von Magdeburg mit ihrem dominikanischen Berater Heinrich von Halle nicht eher zu den Mythen einer Mystikforschung gehört, die die Entstehung frauenmystischer spiritueller Erfahrungstexte vornehmlich unter dem Gesichtspunkt einer Kooperation der begnadeten Frauen mit ihren Seelsorgern gesehen hat.» 94 Die Tatsache, dass literarische Texte auch ohne die Mitwirkung eines gelehrten Geistlichen, in diesem Fall im Kreis von literarisch ambitionierten Schwestern entstehen können, demonstriert P eters anhand des Helftaer Schrifttums. 95 Wenn der Beichtvater-Komplex als literarischer Topos lediglich zur Legitimation des Schreibaktes dient und die vom Text gebotene Lebensgeschichte 20 Einleitung 91 P eters ebd., S. 121. 92 P eters ebd., S. 120. 93 P eters ebd., S. 118. 94 P eters ebd., S. 125. 95 P eters ebd., S. 125-129. <?page no="31"?> nichts anderes als eine exemplarische vita religiosa bietet, stellt sich die Frage, was man über Mechthild als Autorin und die konkreten Umstände der Textgenese überhaupt noch sagen kann. P eters ist der Meinung, dass wir zur biographisch-historischen Autorexistenz allein anhand von literarischen Texten nie vorstoßen werden. Was uns unmittelbar zugänglich ist, ist die literarische Szenerie der Autorbilder, Autorrollen und Autorstilisierungen. Dass sich die Merkmale der literarischen Autorexistenz zu Autorentypen, d.h. zu typenspezifischen Autor-Stilisierungen zusammenfassen lassen, zeigt P eters in einem späteren Aufsatz. 96 Demnach scheinen die frauenmystischen Texte des 13. und 14. Jahrhunderts einen ausgeprägten Autorinnentypus zu profilieren, den Typus einer Frau, die - im klösterlichen Milieu oder in saeculo - «ein striktes Leben der Abgeschiedenheit und Selbstkasteiung, der humilitas und wechselnden Gotteserfahrungen führt und nach langen Jahren der Askese, der körperlichen Leiden und Visionen ihre göttlichen Begnadungen niederschreibt oder aufzeichnen läßt; eine Autorin wider Willen, die nicht aus eigener Initiative, sondern im Gehorsam gegenüber Gottes Befehl bzw. der Aufforderung ihres Beichtvaters aus der Abgeschiedenheit ihrer vita religiosa heraustritt, um mit der Niederschrift ihrer Gnadenerfahrungen, ihres Lebens der Askese und göttlichen Wunder das gnadenvolle Wirken Gottes in der Welt zu dokumentieren.» 97 Was die Historizität dieser textuell präsentierten Autorfigur betrifft, ist P eters der Ansicht, das Bild der begnadeten, schreibenden Schwester informiere weniger über die faktische Entstehung der frauenmystischen Werke als vielmehr über ihre Programmatik. Dazu gehört nicht nur eine exemplarisch gestaltete, von göttlichen Gnadentaten gezeichnete und sich in der Welt bewährende Lebensführung, sondern auch die in den Texten immer wieder angesprochene «Vorstellung der heimlichen, von Gott und dem Beichtvater gewünschten Aufzeichnungen der begnadeten Schwestern.» 98 Demzufolge ist außer Gott und dem Beichtvater auch die Figur der schreibenden Frau, die eine text- und typenspezifische Konkretisierung erfährt, ein konstitutiver Bestandteil des literarischen Entstehungsszenarios. 99 P eters resümiert: «Die in der Heimlichkeit ihrer vita religiosa schreibende, illiterate mulier religiosa ist eine in den Texten angelegte Autorinnenrolle, die zwar einen guten Eindruck von dem vornehmlich an Frauen demonstrierten Programm mystischer Gottesliebe vermitteln mag, uns jedoch keine hinreichenden Informationen über die faktische Entstehung frauenmystischer Texte, über das gesellschaftliche und spirituelle Umfeld ihrer Verfasserinnen liefert.» 100 Auch S usanne B ürkle ist der Ansicht, dass die Figur der begnadeten Mystikerin und göttlich inspirierten Visionärin seit Mechthild von Magdeburg um Zugänge zur Autorschaft in der Mechthild-Forschung 21 96 Vgl. P eters (1991). 97 P eters ebd., S. 42. 98 P eters ebd., S. 45. 99 Vgl. P eters ebd., S. 45f. S. auch P eters (1988a), S. 173-175 und vor allem B ürkle (1999), S. 294-306. 100 P eters (1991), S. 47. <?page no="32"?> die der Autorin erweitert worden sei. 101 Die Figurierung der Mystikerin als schreibende Autorin, die sich ihres Schreibens in einem selbstreflexiven Akt immer wieder vergewissert und das Schreiben des b v ches literarisch als Niederschrift vorausgegangenen Lebens bzw. aktueller Erfahrung deutet, stellt laut B ürkle ein typenspezifisches Merkmal einzelpersönlicher Viten- und Offenbarungsliteratur dar, eines Typus, dem auch das ›Fließende Licht‹ zuzurechnen sei. 102 Im Gegenzug zur Etablierung der Handlungsrolle der ‹schreibenden Mystikerin› wird die Figur des vertrauten frater in diesen Texten zum Akteur des Schreibbefehls, zum Initiator und gelegentlich zum spiritus rector der Schrift degradiert. 103 Wie P eters wirft B ürkle der Forschung vor, die in volkssprachlichen Viten- und Offenbarungstexten sich wiederholenden Äußerungen zum Anlass des Schreibens und zum Verschriftlichungsprozess, die thematisierte Zusammenarbeit von Seelsorger und Nonne als bloße Reformulierungen von faktischer Textgenese und tatsächlichen Entstehungsimpulsen frauenmystischer Texte (miss)verstanden zu haben. Da in den einzelpersönlichen Viten- und Offenbarungstexten sowohl die Beichtvaterthematik, als auch die Präsentation der Autorschaft eine typenspezifische Gestaltung erfährt, sei es unmöglich, so B ürkle weiter, über die Programmatik des Textes hinaus zur faktischen Schreib- und Produktionssituation vorzustoßen: «Die allmähliche, geradezu sukzessiv erscheinende Verschriftlichung des Gnadengeschehens, das Spannungsreiche des Öffentlichmachens der sich in der heimlichkeit vollziehenden Begnadung, der ‹Veröffentlichung› der an die swester gerichteten Offenbarungen der tougen Gottes geben nicht etwa Auskunft über den faktischen Entstehungsprozess der Texte, sondern sind sehr direkt in den spirituellen ‹Weg› des ‹Mystikerin› zu Gott und damit in die grundlegende Thematik der Gottesbegegnung eingebunden.» 104 Trotz der behaupteten Unmöglichkeit, etwas über die Entstehungsumstände des Textes aussagen zu können, betrachtet B ürkle das ›Fließende Licht‹ als «‹Gemeinschaftsprojekt› eines personell wie auch immer zusammengesetzten Autorenkollektivs.» 105 Ob dieses Autorenteam in Helfta zu suchen ist, wie P eters vorschlägt (s. oben Anm. 90 mit Text), lässt B ürkle allerdings offen. Die hier skizzierte, den Erkenntnissen der neuen Hagiographieforschung verpflichtete Kritik richtet sich gegen den in der Frauenmystikforschung lange Zeit als selbstverständlich geltenden Zirkelschluss vom Text zur außerliterarischen Realität, ein Verfahren, das auch N eumann s Umgang mit der Textge- 22 Einleitung 101 Vgl. B ürkle (1994), S. 139. 102 Vgl. B ürkle (1999), S. 265f. 103 Vgl. B ürkle ebd., S. 267. 104 B ürkle (1994), S. 139f. Vgl. auch S uerbaum (2003), S. 250: «Wenngleich diese das eigene Sprechen und Schreiben reflektierenden Kapitel immer wieder wegen ihrer möglichen biographischen Bezüge untersucht worden sind, enthüllen sie doch mehr über die in aller Demut sich der eigenen von Gott geoffenbarten Autorität bewußten Sprecher- Rolle als über konkrete Lebensumstände.» 105 B ürkle (1994), S. 138. <?page no="33"?> schichte des ›Fließenden Lichts‹ und Lebensgeschichte Mechthilds bestimmt und seine Ergebnisse präjudiziert. B ürkle und P eters sind der Ansicht - um es noch einmal auf den Punkt zu bringen -, dass sowohl die textintern präsentierte Lebensgeschichte Mechthilds (eine exemplarische vita religiosa), als auch die Werkgeschichte zur Programmatik des Textes gehören und sich einer lebensweltlich-referenzialisierenden Lesart entziehen. Über die Umstände der Textentstehung lasse sich deswegen nichts sagen, weil sowohl der Beichtvater, der ihrer geistlichen Tochter den Befehl zum Aufschreiben der besonderen Gnadenerweise erteilt und den Schreibprozess begleitet haben soll, wie die schreibende Mystikerin selbst, die über ihre heimlicheit eigenhändig, d.h. ohne die Vermittlung eines Dritten, Rechenschaft ablegt, literarische Rollen darstellen. Wurde der Anteil des Beichtvaters am ›Fließenden Licht‹ schon in der früheren Forschung auf das gebotene Mindestmaß reduziert, erscheint er nun aus dem Schreibprozess ganz verdrängt. Bemerkenswert ist dabei, dass die Verabschiedung des Beichtvaters als textliches Konstrukt nicht dazu führt, dass dem überlieferten Text ein Mehr an Authentizität (auch im textkritischen Sinn) zugeschrieben wird. Die Weigerung von P eters und B ürkle , in Heinrich, dem vermeintlichen Beichtvater Mechthilds, den Initiator und Begleiter des Schreibprozesses zu sehen, ist wohl damit zu erklären, dass der in FL IV.2 formulierte Schreibbefehl eines Beichtvaters (236,34 [IV.2,130]) den Eindruck erweckt, als stünden selbstgeschriebene Aufzeichnungen ganz privater Art am Anfang der Textgeschichte, literarisch wenig anspruchsvolle Notizen also, die den Ausgangspunkt eines mehrstufigen Redaktions- und Literarisierungsprozesses bildeten. Dieses Postulat verleite den Philologen dazu, argumeniert B ürkle , eine angeblich ursprünglichere, i.e. literarisch noch nicht umformte, Textschicht durch die Anwendung der analytischen Mittel der Literaturwissenschaft und Textkritik aufzudecken, ähnlich wie es etwa S iegfried R ingler bei der Untersuchung der Textgeschichte der Adelheid Langmann-Vita getan hat. 106 B ürkle befürchtet, dadurch werde der authentische Erlebnisgehalt als Kategorie dieser Texte «quasi durch die Hintertür» 107 wieder eingeführt. Dass diese Befürchtung im Falle des ›Fließenden Lichts‹ nicht ganz unbegründet ist, zeigen N eumann s Versuche, die Anteile von Mechthild und Heinrich am b v ch säuberlich voneinander abzuheben, indem Heinrichs Beitrag zur Text- und Buchgenese auf «Beiläufiges» 108 begrenzt wird. Darin sieht N eumann nicht nur die inhaltliche, sondern auch die textkritische Authentizität des ›Fließenden Lichts‹ gewährleistet. Einer Lektürepraxis, die in der postulierten Urschrift tagebuchartige Aufzeichnungen eines religiösen Subjekts und die Manifestationsform eines zur Artikulation drängenden Initialerlebnisses sehen will, setzen P eters und stärker noch B ürkle die Konzeptionalität, Funktionalität und dezidierte Literari- Zugänge zur Autorschaft in der Mechthild-Forschung 23 106 Vgl. R ingler (1980), S. 79-82. 107 B ürkle (1999), S. 272ff. S. auch B ürkle (2000), S. 487ff. 108 So R uh (1993), S. 249. <?page no="34"?> zität frauenmystischer Texte entgegen. Sie tun dies im Bewusstsein, dass die Texte nicht hintergehbar sind und auf ein vermeintliches Erfahrungssubstrat hin nicht befragt werden können, 109 dass auch in den so genannten ursprünglichen Aufzeichnungen der Frauen etablierte literarische Formen stecken. 110 Dies zu betonen, hält P eters im Falle von Mechthild für umso wichtiger, als ihr immer wieder angenommener Beginenstatus einer subjektbezogenen Interpretation Vorschub leistete, die in den Texten den unmittelbaren Ausdruck einer semireligiosen, an der Grenze zur Heterodoxie stehenden Lebensform sah. Das habe die Forschung dazu verleitet, die Beginenmystik als konventikelhafte, nicht-offizielle, ausgegrenzte Literatur zu sehen, die abseits der geistlichen Institutionen bzw. im kleinsten Kreis religiöser Frauen quasiverborgen entstanden und verbreitet gewesen sein soll, 111 ein Literaturbegriff, der «merkwürdig quer zu unseren sonstigen Informationen über die literarische Produktion im Mittelalter steht.» 112 P eters gibt zu bedenken, dass die «Möglichkeit einer im Umkreis einer geistlichen Institution unter der geistlichen Führung der Bettelorden lebenden geachteten Beginenexistenz» noch nicht einmal in Erwägung gezogen wurde. P eters verortet den Text in der «institutionell abgesicherte[n] Gemeinschaft eines Nonnenkonvents, die die literarischen Aktivitäten ihrer Mitglieder fördert.» 113 Nichts liegt näher, als die Entstehung, Redaktion und Distribution des ›Fließenden Lichts‹ nach Helfta zu verlegen. 114 Diese Anbindung an eine Klostergemeinschaft soll dem Text jene Öffentlichkeit sichern, die die Partizipation an etablierten literarischen 24 Einleitung 109 Vgl. auch H aas (1986), S. 322: «Denn was haben wir anderes als Texte? Wir haben nicht die Erfahrung, sondern nur die Texte, in denen von ihnen berichtet wird. An diese objektiv vorhandenen Gegebenheiten müssen wir uns halten», und weiter S. 329: «Die mystische Erfahrung […] begegnet uns, sofern sie uns überhaupt begegnet, in Form von Sprache, Mystologie.» 110 Vgl. dazu K üsters / L anger (1991), S. 40. B ürkle (2000), S. 488 betont in Abgrenzung zu R ingler (1980), S. 80, der eine zurückgedrängte «autobiographische Komponente der Urschrift» hinter der überlieferten Adelheid Langmann-Vita sehen wollte, eine solche Urschrift sei «durch keinen Text der Viten- und Offenbarungsliteratur i n d i e s e r F o r m » belegbar (Sperrung von B ürkle ). 111 P eters (1988b), S. 92 referiert die Ansicht von R uh (1977/ 1984), S. 243, wonach Mechthild «nie von sich aus daran gedacht hat, ihre Aufzeichnungen einer Öffentlichkeit preiszugeben.» Zu ähnlichen Ansichten aus der älteren Forschung s. Anm. 26 mit Text. 112 P eters (1988a), S. 58 und (1988b), S. 92f. 113 P eters (1988a), S. 67. 114 Vgl. P eters ebd., S. 65f. und daran anschließend R uhrberg (1995), S. 172, Anm. 115, N isters (1997), S. 34f., Anm. 57, K asten (1995), S. 9 und 10f. bzw. (1999), S. 19 und H ubrath (1996), S. 36. Überraschend ist dabei die Selbstverständlichkeit, mit der die von den Helftaer Texten gebotenen Buchentstehungsgeschichten als literatursoziologisch verwertbare Fakten gelesen werden. Dass das von ›Liber specialis gratiae‹ Mechthilds von Hackeborn transportierte, mit Nonnen konnotierte ‹heimliche Schreiben über andere› möglicherweise über mehr als die faktische Textentstehung informiert, deutet B ürkle (1999), S. 243-245 mit Rekurs auf Beispiele aus dem (frauen)mystischen Schrifttum des 14. Jahrhunderts an. <?page no="35"?> Formen garantiert und zugleich die Vorstellung im Keime erstickt, es handle sich um prädiskursive, private Aufzeichnungen einer literarisch nicht ambitionierten und unerfahrenen Frau, um Textdokumente also, in welchen die subjektive Perzeption der Autorin bzw. ihre individuell-praktischen Erfahrungen wegen der fehlenden Literarizität und Konzeptionalität des Textes unmittelbaren Niederschlag gefunden haben. Trotz der nicht unproblematischen Postulate des N eumann schen Modells der Textgenese und der von P eters und B ürkle vorgeschlagenen Neubestimmung des literarischen Status des ›Fließenden Lichts‹ mit all ihren Implikationen für die Entstehungsgeschichte des Textes und für den interpretatorischen Umgang mit dem Thema Autorschaft trifft man auch heute noch auf Ansichten, die «den prinzipiellen Fortbestand der von Hans Neumann gesetzten Prämissen bestätigen.» 115 So stellt das ›Fließende Licht‹ - um ein besonders prominentes Beispiel zu nennen - für G isela V ollmann -P rofe das «Dokument eines personalen Entwicklungsu. Reifungsprozesses» 116 dar, der den von Buch I bis VII beobachtbaren Wandel der Inhalte und Darbietungsformen, aber auch denjenigen des auktorialen Selbstverständnisses bedingt haben soll, handelt es sich doch um ein «in seiner Form einmaliges Werk der biographischen Gattung, nicht als Lebensbeschreibung angelegt und geplant, aber durch lebensbegleitendes Schreiben dazu geworden.» 117 Seine Einmaligkeit sieht V ollmann -P rofe «in der Einmaligkeit der Form, in einem ›persönlichen Erfahrungsstil‹ und einer ›biographischen Struktur‹.» 118 Um Missverständnisse zu vermeiden, stellt sie fest, die letzten beiden Singularitätsausweise zielten nicht darauf ab, «ob die historische Mechthild die geschilderten Erfahrungen gemacht hat.» Eher geht es, so V ollmann -P rofe weiter, um «die literarische Konzeptionierbarkeit persönlicher Erfahrungen.» 119 In diesem Punkt steht V ollmann -P rofe dem von P eters und B ürkle vertretenen Standpunkt nahe. Was sie indes verweigert, ist eine Lesart des Textes, die ihn als literarische Inszenierung versteht mit all ihren Implikationen für die Entstehungsgeschichte und Autorschaft. 120 In der Gegenbeweisführung von V ollmann -P rofe Zugänge zur Autorschaft in der Mechthild-Forschung 25 115 N isters (1997), S. 27, Anm. 24. Hier werden einige «exemplarische Beispiele» geboten. Sie ließen sich beliebig vermehren, so etwa mit der Charakterisierung des ›Fließenden Lichts‹ als «Chronik eines Frauenlebens» durch L ückel (2005), S. 181. 116 V ollmann -P rofe (1990), S. 41. Ähnlich V ollmann -P rofe (2007b), S. 60. 117 V ollmann -P rofe (1994), S. 156. 118 V ollmann -P rofe (2000), S. 153. 119 V ollmann -P rofe ebd., S. 153. 120 Besonders deutlich wird dies in einem kürzlich erschienen Aufsatz von V ollmann - P rofe (2008b), in dem es um die Frage geht, ob und, wenn ja, in welcher Form die Béguinage «zu einem neuen Bewusstsein - Selbstbewusstsein - der Frauen führte» (S. 203). Noch vor der Frage nach einer möglichen Konzeption neuer Frauenrollen lässt V oll mann -P rofe diejenigen Rollen Revue passieren, die Mechthild vertraut sein konnten. In diesem Zusammenhang wird auch auf die «Rolle der schreibenden Frau» hingewiesen, «die gerade erst dabei war, sich zu etablieren und der Mechthild neue Züge hinzufügte» <?page no="36"?> spielt, wie schon in N eumann s Argumentation gegen die ‹Anti-Chronologisten›, die referierte «Einmaligkeit der Form» eine entscheidende Rolle: Sie soll dem ›Fließenden Licht‹ eine «Sondersituation» 121 unter den sonstigen Texten der Viten- und Offenbarungsliteratur des 13. und 14. Jahrhunderts sichern, eine «besondere Situation», 122 deren Grund in der langen Entstehungszeit des Textes und dessen Veröffentlichung in mehreren Publikationsschüben gesehen wird. Wie man unschwer erkennen kann, muss hier wieder einmal die Struktur des Textes für dessen Authentizität herhalten - ein nicht unproblematisches Argument, wie es noch zu zeigen gilt (s. dazu S. 150f. weiter unten). Unter diesen Voraussetzungen verwundert es nicht, wieder auf das N eumann sche Modell der Textgenese mit ihrer klaren Rollenverteilung zu stoßen, wobei V ollmann -P rofe den Anteil Heinrichs - infolge eines Missverständnisses - weiter einschränkt: Mit Hinweis auf N eumann bezieht sie die Feststellung von LD II.40 (Rev. Bd. II.2, S. 516-517), Henricus dictus de Hallis habe Mechthilds Schriften in sex partes […] distinxit sicut legentibus nunc apparet, auf die Anordnung der sechs Bücher im lateinischen Text und behauptet, Heinrichs Redaktorentätigkeit tangiere die These von einem in «Teilveröffentlichungen» bekannt gewordenen Werk keineswegs. 123 N eumann bezog LD II.40 jedoch auf den deutschen Text. 124 Die Tradition, in der V ollmann -P rofe steht und die sie weiterführt, baut auf eine problematische Argumentation (s. dazu Kap. I.1.1). Das soll indes nicht dahingehend interpretiert werden, als könnte man dem von P eters und B ürkle vorgeschlagenen Alternativmodell blindlings vertrauen. P eters ’ Plädoyer für die Anbindung der Entstehung, der redaktionellen Bearbeitung (! ) und der Distribution des ›Fließenden Lichts‹ ans Kloster Helfta hat ebenfalls ihre Prämissen (Ablehnung der Beginenthese, Demaskierung des Beichtvaters als «schematische Rollenfigur», institutionelle Verankerung der Textgenese zwecks Partizipation an etablierte literarische Traditionen). Außerdem lässt P eters offen, mit welchen Modalitäten der Textentstehung in einem Kloster zu rechnen ist, wo Berichte über das Gnadenleben von Mitschwestern Ergebnis einer literarischen Zusammenarbeit sind, und ob bzw. inwieweit Mechthild unter solchen Umständen überhaupt noch und wenn ja, in welchem Sinne, als Autorin des ›Fließenden Lichts‹ gelten darf. Was man in P eters ’ Überlegungen vermisst, ist eine text- und überlieferungsgeschichtliche Fundierung des von ihr 26 Einleitung (S. 204). Bemerkenswert ist, dass sich diese Feststellung auf Mechthild als historische Person und nicht auf das textuell evozierte Bild der ‹schreibenden Mystikerin› bezieht. 121 V ollmann -P rofe ebd., S. 146, Anm. 3. 122 V ollmann -P rofe ebd., S. 146f. 123 Vgl. V ollmann -P rofe (1994), S. 147, Anm. 5. Ähnlich V ollmann -P rofe (2003), S. 798 (hier mit Hinweis auf P eters ). 124 Vgl. N eumann (1954b), S. 43. Ähnlich N eumann (1993), S. 26, Anm. zu II.26,34f. Zur Frage, ob die Notiz über Heinrichs Anteil an der Textgenese auf das ›Fließende Licht‹ oder die ›Lux divinitatis‹ zu beziehen ist, s. Kap. II.1.1. <?page no="37"?> vorgetragenen Modells der Textgenese. 125 Dasselbe gilt auch für die Feststellung von B ürkle , das ›Fließende Licht‹ sei das Werk einer Autorengruppe. Sie argumentiert wie folgt: «Rekonstruktionen der handschriftlichen Überlieferung lassen in Verbindung mit den entsprechenden Textbefunden nicht nur die dominikanischen Nonnenbücher, sondern auch die Offenbarungen Mechthilds von Magdeburg oder das Christine-Ebner-Corpus weniger deutlich als Produkte einer individuellen Autorin erkennen als vielmehr als ‹Gemeinschaftsprojekte› eines personell wie auch immer zusammengesetzten Autorenkollektivs.» 126 Diese Behauptung mag auf die Schwesternbücher und das Ebner-Corpus zutreffen. Beim ›Fließenden Licht‹ jedoch sind die vorliegenden textgeschichtlichen Untersuchungen darauf angelegt, genau das Gegenteil zu erweisen, postuliert doch N eumann einen von Mechthild in eigener Regie verfassten Text. Wohl war N eumann bereit einzugestehen, dass es «viele fremde Hände» gab, die «von der ersten Redaktion der Mechthildschen Urschriften durch den Dominikaner Heinrich von Halle bis zum letzten Schreiber der uns einzig das ganze Werk in deutscher Sprache bewahrenden Einsiedler Handschrift […] an Mechthilds Aufzeichnungen gewerkelt» 127 haben, doch spricht er sich dafür aus, dass die Authentizität des Wortlauts weder an der redaktionellen Bearbeitung durch Heinrich noch an der langen Überlieferung, die den Wechsel aus einer Schriftsprache in eine andere mit einschließt, Schaden genommen hat, so dass die Einsiedler Handschrift als eine mit dem mechthildischen Original nahezu identische Kopie gelesen werden kann, dem nun das Interesse des Editors gelten soll. Mit welchen methodischen Problemen eine solche editorische Zielsetzung belastet ist, wird im folgenden Kapitel zu zeigen sein. Eingegangen wird jedoch nicht nur auf N eumann s Textausgabe, sondern auch auf die vor einigen Jahren erschienene Edition von G isela V ollmann -P rofe , die in ihrer Zielsetzung zwar anders ist, in den Grundannahmen über den Status des in Einsiedeln überlieferten Textes und seiner Urheberschaft jedoch N eumann s Forschungsergebnissen verpflichtet bleibt. I.2 Die Textausgaben des ›Fließenden Lichts‹ und das Postulat des einen Autortextes Trotz bedeutender Handschriftenfunde im Laufe des 20. Jahrhunderts, die durch den erst vor kurzem bekannt gewordenen Sensationsfund in Moskau überboten werden (s. dazu oben Anm. 33), hat sich die Textgrundlage, auf welche der Herausgeber des ›Fließenden Lichts‹ seine Ausgabe aufbauen Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 27 125 Vgl. dazu K üsters / L anger (1991), S. 40: «Redaktionsgeschichtliche Analysen, wie sie P eters vorlegt, setzen Textkritik, Literarkritik und formgeschichtliche Untersuchungen voraus.» 126 B ürkle (1994), S. 138. 127 N eumann (1948/ 50), S. 144. Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes <?page no="38"?> muss, seit M orel s Erstdruck aus dem Jahre 1869 nicht wesentlich verändert: Nach wie vor muss der Codex Einsidlensis 277 als Leithandschrift für jede Mechthild-Edition genommen werden. Eine denkbar ungünstige Überlieferungslage für einen Editor, der, wie N eumann , vom Überlieferten ausgehend nicht nur den Inhalt, sondern auch den Wortlaut als authentisch, d.h. dem Original nahe stehend, erweisen, gegebenenfalls aber auch erschließen will. 128 Nicht ohne Resignation musste deshalb N eumann 1967 feststellen: «Über einen bereinigten Handschriftenabdruck der alemannischen Version hinaus zum niederdeutsch-mitteldeutschen Original vorzustoßen, erweist sich beim heutigen Stand der Überlieferung als nicht angängig.» 129 Für die Neuausgabe des ›Fließenden Lichts‹ gilt jedoch das, was etwa im Zusammenhang von FL I.22: 38,26-40,19 als editorisches Ziel formuliert wird: «der Ausdrucksweise Mechthilds möglichst nahe zu kommen.» 130 Ungeachtet der zugegebenermaßen ungünstigen Überlieferungssituation geht es N eumann also darum, ans mechthildische Original so nahe heranzuführen, wie es mit den Mitteln der Textkritik nur möglich ist. Für den editorischen Umgang mit der Leithandschrift bedeutet das: «Wo der Text des Einsidlensis offenkundig verderbt ist, wird dieser verbessert, teils aufgrund der Parallelüberlieferung, teils per coniecturam.» 131 Die Lektüre des N eumann schen Textes zeigt, dass das Urteil, eine Verderbnis sei «offenkundig», nicht nur für mechanische Fehler wie Zeilensprünge, sinnlose Lesungen, Kako- und Dittographie etc. gilt, sondern vor allem für Lesarten, die dem am präsupponierten Mechthildischen orientierten iudicium des Editors als Fehlleistungen der Überlieferung erscheinen. Zur Behebung einer als solche verstandenen Korruptel geht N eumann von Stelle zu Stelle unterschiedlich vor. Eine wichtige Rolle bei der Bewertung einer Lesart spielt die ›Lux divinitatis‹, die lateinische Übersetzung, die bekanntlich nur die ersten sechs Bücher des ›Fließenden Lichts‹ überliefert. Da sie auf eine textgeschichtlich ältere Stufe zurückführt als die N eumann einzig bekannte, erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts einsetzende oberdeutsche Überlieferung (die N eumann noch unbekannten Moskauer Fragmente datieren auf die Zeit vor bzw. um 1300), deren Textzeugen zudem um mehrere Textstufen vom Übersetzungsoriginal entfernt sind, ist die ›Lux divinitatis‹ dazu berufen, Lesarten des deutschen Textes entweder zu bestätigen oder, wenn es sich um 28 Einleitung 128 So S tackmann (1992), S. 190. Mit welchen Argumenten sich N eumann über die mit der Überlieferung des ›Fließenden Lichts‹ verbundenen Unabwägbarkeiten hinweggesetzt hat, dürfte aus Kap. I.1.1 deutlich geworden sein. 129 N eumann (1967), S. 45f. 130 N eumann (1993), S. 14, Anm. zu I.22,12-34. Ähnlich ist an anderen Stellen von der «Rekonstruktion des originalen Wortlauts» (N eumann 1993, S. 24f., Anm. zu I.44,64-68) bzw. von Annäherung an den «von der Autorin intendierten [Sinn]» (N eumann 1993, S. 51, Anm. zu III.1,173) die Rede. Vgl. auch oben Anm. 42 mit Text. 131 Vgl. Prolegomena N eumann (1990), S. XXI (die Prolegomena gehen zwar auf G isela V ollmann -P rofe zurück, doch legen sie über die Prinzipien Rechenschaft ab, nach denen N eumann die Ausgabe erstellt hat, s. das Vorwort von H ans F romm ebd., S. VIII). <?page no="39"?> offenkundige oder mutmaßliche Korruptelen handelt, zu korrigieren. 132 Auf diese Weise will N eumann dem postulierten Original ein gutes Stück näher kommen. Bietet die lateinische Übersetzung keine Hilfe, werden Emendationen nach der deutschen Parallelüberlieferung - soweit vorhanden - vorgenommen. Bei der Rekonstruktion des ‹ursprünglichen›, d.h. des von N eumann angenommenen mechthildischen Wortlauts bedient sich der Herausgeber aber nicht nur der deutschen und lateinischen Überlieferung, sondern auch seiner Kenntnis des Mittelniederdeutschen und seinem bewundernswerten sprachhistorischen Gespür. Die auf diese Weise erschlossenen und für Mechthild bzw. das Original reklamierten Lesarten werden zudem durch Parallelen aus dem Text bzw. der geistlichen Literatur gestützt, die in der deutschen Überlieferung identifizierten Fehler sprachhistorisch und schreiberpsychologisch erklärt. Im Hinblick auf die Aufsätze, die N eumann im Vorfeld zu seiner Textausgabe vorgelegt hatte, stellte K urt R uh 1956/ 57 fest, hier sei «eine Feinheit der Methode» 133 am Werk, eine Diagnose, die für die 1990 erschienene Edition zweifelsohne nicht minder gilt. Es genügt, N eumann mit dem von M orel vorgelegten unkritischen, vor stillschweigenden Konjekturen nicht zurückschreckenden und von zahlreichen Lesefehlern belasteten Handschriftenabdruck zu vergleichen, um den «unermeßlichen Fortschritt» 134 zu sehen, der erzielt wurde. Man hat indes über die Ausgabe auch geurteilt, sie böte einen Text, dem sich der Leser «restlos anvertrauen darf», 135 mit dem man «verläßlich arbeiten kann.» 136 Als verlässlich darf die Ausgabe in der Tat insofern gelten, als im Unterschied zu M orel jede Abweichung von der Leithandschrift dokumentiert und begründet wird. Anders ist dagegen das Editionsprinzip zu beurteilen, das die Überlieferung zur Rückgewinnung des e i n e n Textes benutzt, um den Eindruck zu vermitteln, es habe ein einziger Text, ein einziges Original, am Anfang der Textgeschichte gestanden. Problematisch ist dieses Urteil und die darauf aufbauende editorische Vorgehensweise nicht allein wegen der neueren Erkenntnisse über die Bedingungen der Produktion, Distribution und Rezeption mittelalterlicher Literatur und der Folgen, die sich daraus für den editorischen Umgang mit überlieferten Texten ergeben (s. dazu Kap. I.3). Vielmehr liegen die mit einer solchen editorischen Zielsetzung verbundenen Probleme in der Text- und Überlieferungsgeschichte des ›Fließenden Lichts‹ selbst: Sie werden von der N eumann schen Ausgabe eher verdeckt als offengelegt, wie den folgenden Ausführungen zu entnehmen ist. Bei der Auffindung und Heilung von Korruptelen rekurriert N eumann immer wieder auf Parallelstellen, die er dem Gesamttext entnimmt. P aul Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 29 132 Vgl. N eumann (1967), S. 45. 133 R uh (1956/ 57), S. 138. 134 H ellgardt (1996a), S. 140. Ähnlich S chröder (1996/ 1999), S. 154. 135 R uh (1995a), S. 99. 136 M ichel (1995a), S. 30. <?page no="40"?> M ichel gab im Hinblick auf das ›Fließende Licht‹ zu bedenken, die Beweiskraft solcher Parallelstellen verringere sich, «je größer die Vielfalt der Textsorten [innerhalb des ›Fließenden Lichts‹] ist, weil so immer mit der je verschiedenen Monosemierung des entsprechenden Wortes zu rechnen ist.» 137 Der Hinweis auf Parallelformulierungen unterstelle zudem, «daß der Text über das Corpus homogen und über die Lebensspanne konstant geblieben ist (Mechthilds Aufzeichnungen erstrecken sich über 30 Jahre).» 138 Darüber hinaus suggeriere das Argument der Parallelstellen eine Textkohärenz, die nur schwer nachvollziehbar sei, sind doch für Mechthild «thematische Neueinsätze und spätere leicht schräge Wiederaufnahmen, plötzlich einschießende Gedanken, kühne Metaphern und Bild-Überblendungen, abrupte Wechsel der ‹Darbietungsformen› (W. Mohr), eigenwillige Verschiebungen von Topoi, Paradoxien» 139 als typisch anzusehen. Diese Textphänomene erklärt M ichel zwar damit, dass wir es mit einer Autorin zu tun haben, die «gegen die Tradition anschreibt», doch zieht er immerhin in Betracht, es könnte «eine Überschichtung von verschiedenen Redaktionen» vorliegen, «wobei es sich durchaus auch um ein und denselben Redaktor in verschiedenen Lebensphasen handeln kann.» 140 Ob dieser Redaktor Mechthild selbst ist, wie es M ichel mit Rekurs auf N eumann s Akademie-Abhandlung nahe legt, 141 oder aber ein «kongenialer Sachwalter», 142 soll an dieser Stelle nicht problematisiert werden (s. dazu ausführlich Kap. II.3). Wichtig scheint mir, dass es offenbar für möglich erachtet wird, die oben genannten Textphänomene nicht nur als eine Frage des Stils und der literarischen Technik anzusehen, sondern auch von der Text- und Entstehungsgeschichte her anzugehen. Letztere sollte bei der argumentativen Verwendung von Parallelstellen umso mehr beachtet werden, als nicht nur die Entstehung des ›Fließenden Lichts‹, sondern - und das wird meist übersehen - auch seine Umsetzung ins Alemannische ein langer Prozess, eine mehrere Jahre andauernde Arbeit am Text war. Zudem waren an der alemannischen Übertragung mehrere Personen beteiligt. Unter diesen Bedingungen stellt sich verstärkt die Frage nach der Berechtigung einer Vorgehensweise, die auf die Beweiskraft von Parallelstellen vertraut, um über die Echtheit bzw. Unechtheit einer Formulierung zu urteilen. Dazu folgende Hinweise: 30 Einleitung 137 M ichel (1995b), S. 174. 138 M ichel (1995a), S. 31. M ichel scheint damit andeuten zu wollen, dass die Möglichkeit eines Stilwandels mitbedacht werden muss, vgl. M ichel (1986), S. 522. Reserviert äußert sich dazu H aug (1984/ 1995), S. 555. Auch V olfing (2003), S. 265 mahnt, man sollte sich davor hüten, das ›Fließende Licht‹ allzu linear zu deuten. 139 M ichel (1995a), S. 31. S. auch M ichel (1995c), S. 62. 140 M ichel (1995b), S. 175. 141 Vgl. M ichel ebd., Anm. 9. 142 Den Ausdruck habe ich D icke (2003), S. 268, Anm. 5 entliehen. D icke führt ihn im Zusammenhang der Frage ein, wer der Verfasser des ersten Prooemiums zum ›Fließenden Licht‹ sein kann, eines Textes wohlgemerkt, der aus lauter Versatzstücken besteht, die unterschiedlichen Kapiteln des Gesamttextes entnommen worden sind. <?page no="41"?> Aus einem an Margareta Ebner und ihre Medinger Mitschwestern gerichteten Brief Heinrichs von Nördlingen, der auf das Jahr 1345 datiert wird, erfahren wir, dass die Übertragung des ›Fließenden Lichts‹ ins Alemannische ein Gemeinschaftsunternehmen war. Nach einer detaillierten Lektüreanweisung, wie der Text aufzunehmen sei, vermerkt Heinrich: […] und wolchiü wort ir nit verstandint, die zeichend und schribentz mir, so betützsch ichs euch, wan es ward uns gar in fremdem tützsch gelichen, das wir wol zwai jar flisz und arbeit hetint, ee wirs ain wenig in unser tützsch brachtint. 143 Aus dem unvermittelten Numeruswechsel in der zitierten Briefstelle - Heinrich spricht plötzlich von uns und wir - darf mit N eumann darauf geschlossen werden, 144 dass mehrere Personen an der Übertragung des Textes aus dem fremden in unser tützsch beteiligt waren. 145 Offen bleibt dabei, welchen Anteil Heinrich selbst daran hatte. 146 Heinrichs flüchtige Notiz über die Entstehungsumstände der alemannischen Umschrift ist, wie D agmar G ottschall neulich treffend feststellte, der «Dreh- und Angelpunkt der Mechthild-Forschung.» 147 Sie wirft die Frage auf, wie man sich die hier angedeutete Zusammenarbeit vorzustellen hat und wie sich die Übertragung aus dem einen, offenbar als fremd empfundenen Dialekt in einen anderen auf die Textkonstitution und die Text- und Autorschaftsfrage der Mechthild-Forschung auswirkt. Bekannte Parallelfälle - es handelt sich um Übertragungen aus dem Mittelniederländischen in oberdeutsche Dialekte - und einzelne textgeschichtliche Indizien helfen, etwas Licht in diese entscheidende Phase der Überlieferungsgeschichte des ›Fließenden Lichts‹ zu bringen. Das ist der Weg, den auch G ottschall einschlägt, um die oben gestellten Fragen ‹von außen› anzugehen. Die interessanten Einzelbeobachtungen, die G ottschall dadurch gewinnt, werde ich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen machen, um die Probleme aufzuzeigen, die mit dem Rekurs auf Parallelstellen als Kontroll- und Beglaubigungsmittel editorischer Entscheidungen im Dienste der Autorin Mechthild verbunden sind. Ergänzend dazu werde ich die neu aufgefundenen Moskauer Bruchstücke einer mittelniederdeutschen Exzerpthandschrift des ›Fließenden Lichts‹ (Sigle: Mo) heranziehen. Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 31 143 S trauch (1882), S. 246f.,134-138 (Brief Nr. XLIII). 144 Vgl. N eumann (1948/ 50), S. 162. 145 Dies übersieht etwa M c G inn (2008), S. 686, wenn er an mehreren Stellen seiner Mystikgeschichte Heinrich als Übersetzer postuliert. Was die Identität des oder der Übersetzer des ›Fließenden Lichts‹ ins Alemannische anbelangt, so findet man unterschiedliche, teilweise wiedersprüchliche Ansichten in der Mechthild-Forschung, s. dazu mein Referat in N emes (2011). 146 Eines dürfte gewiss sein: Heinrich wird an der alemannischen Umschrift als Schreiber nicht beteiligt gewesen sein, denn «es fehlt […] jede eindeutige Spur seines mütterlichen Schwäbisch in den erhaltenen Handschriften und Fragmenten, während seine Briefe es überall aufweisen» (N eumann 1948/ 50, S. 163). Dass Heinrich mit der Übertragung des ›Fließenden Lichts‹ ins Alemannische zu tun hat, bezweifeln auch R uh (1956/ 57), S. 225 und S chmidt (1969), S. 173*. S. dazu auch meine Überlegungen auf S. 239f. weiter unten und vor allem N emes (2011). 147 G ottschall (2007), S. 159. <?page no="42"?> Ausgehend von der sprachlichen Differenz, die zwischen Oberlant und Niderlant schon in der Wahrnehmung der Zeitgenossen bestand, 148 fragt sich G ottschall , auf welche Art und Weise ein ‹Oberländer› die Kenntnis eines fremden Dialekts erwerben konnte und wer in Basel als Übersetzer überhaupt in Frage kam. Mit Hinweis auf Heinrichs Zeitgenossen und Landsmann Konrad von Megenberg - er bietet in seinem ›Buch von den natürlichen Dingen‹ einige mundartliche Varianten im Bereich der Lexik - vermutet sie, es müsse jemand gewesen sein, der seine Kompetenz im fremden Dialekt durch einen längeren Aufenthalt in der entsprechenden Region erworben hat. Eine solche Erklärung liegt durchaus im Bereich des Denkbaren, wie die oberdeutsche Rezeption der Traktate Jans van Leeuwen illustriert. 149 Auf seinem Weg vom Kloster Böddeken (bei Paderborn) über das Augustinerchorherrenkloster Kirschgarten (bei Worms) nimmt Peter van Zutphen ein niederländisches Exemplar der Traktate mit nach Rebdorf (bei Eichstätt), wo er sie ins Deutsche überträgt. Die Sprache der Übersetzung ist allerdings nicht das Bairische, sondern ein persönliches Idiom von Peter. Er schreibt die Sprache eines Niederländers, der sich ein westliches Mitteldeutsch infolge seines langjährigen Aufenthalts in Böddeken angeeignet hat. Aufschlussreich für den Transformationsprozess, dem ein nur partiell eingedeutschter Text unterworfen ist, ist das weitere Schicksal dieser Übertragung. Sie ist in Peters Autograph erhalten: Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Bibliothek, Cod. 280/ 2881. Man findet, so R uh , besonders im ersten Traktat der Handschrift häufig stehengebliebene niederländische, im Deutschen unverständliche oder doch kaum gebräuchliche Wörter in interlinearer Technik durch einen wirklich deutschen, d.h. in diesem Fall bairischen, Begriff ersetzt. Ob es sich um die nachbessernde Hand Peters oder eine zweite (wenig spätere) Hand handelt, kann nicht entschieden werden. 150 «Wie immer es sich verhält», stellt R uh fest, «wir werden hier auf einen Prozeß aufmerksam gemacht, den wir auch häufig bei Übertragungen aus dem Latein beobachten können: die a l l m ä h l i c h e, durch die Tätigkeit mehrerer Schreiber erfolgte Eindeutschung.» 151 Einen vergleichbaren Transformationsprozess darf man auch bei der mundartlichen Umsetzung des ›Fließenden Lichts‹ ins Alemannische annehmen. G ottschall stellt sich dies im Einzelnen so vor: Ein des Mitteldeutsch-Nie- 32 Einleitung 148 Dazu grundlegend W illiams -K rapp (1986) und (2003). 149 Zu den folgenden Ausführungen s. R uh (1964/ 1984), S. 105-107 und (1999a), S. 103. 150 Peter wird sich bald nach seiner Ankunft in Rebdorf gewisse Kenntnisse des Bairischen angeeignet haben, denn die anderen Handschriften, in denen er als Schreiber identifiziert werden kann (München, BSB, Cgm 371, fol. 254 ra- 313 vb und Cgm 798), weisen ein bereits leicht bairisch gefärbtes westliches Mitteldeutsch auf, s. W illiams -K rapp (2003), S. 48, Anm. 30. Ob Peter auch in diesen Fällen Übersetzer war, wäre zu untersuchen, meint W illiams -K rapp (2006), S. 71. 151 R uh (1964/ 1984), S. 114 (Sperrung von R uh ). Zu vergleichen wäre in diesem Zusammenhang auch der Fall des aus Köln stammenden und in Sankt Gallen auf Alemannisch schreibenden Benediktinermönches Friedrich Kölner, s. dazu S tocker (1996). <?page no="43"?> derdeutschen mächtiger Berufsschreiber wird beim Kopieren des Buches - es handelt sich ja um einen den alemannischen Übersetzern des ›Fließenden Lichts‹ nur geliehenen Text - eine erste sprachliche Anpassung vorgenommen haben. 152 Diese Adaptation kann sich allerdings als nicht gelungen erwiesen haben, «sonst würde Heinrich nicht von zweijähriger Arbeit sprechen, in der die Gruppe den Erstentwurf überarbeitete. Bis zur letzten Perfektion ist er nie gelangt, wie Heinrich zugeben muss.» 153 Wie man sich den Übertragungsprozess im Einzelnen auch vorzustellen hat, wichtig ist die Frage, was über die Arbeitsweise der an der alemannischen Übertragung Beteiligten gesagt werden kann. Ausgehend von den mittelniederdeutschen Formen im Bereich der Lexik und stellenweise auch der Syntax, 154 die in den Handschriften des oberdeutschen Überlieferungszweiges stehengeblieben sind bzw. in Kenntnis des Mittelniederdeutschen erschlossen werden können, sprach N eumann von einer «gewissen mechanischen Pedanterie» 155 im Umgang der Basler Übersetzer mit ihrer Vorlage. Das ist, wie G ottschall mit Hinweis auf die etwa gleichzeitig erfolgte Umsetzung Ruusbroecs ›Geestelijcke brulocht‹ ins Alemannische im Kreis der Straßburger Gottesfreunde feststellt, nichts Ungewöhnliches, sondern geradezu die Regel 156 und findet seine Bestätigung in Mo. 157 G ottschall gibt indes zu bedenken, dass das Wort- und Begriffsmaterial der Ausgangssprache wohl ohne nennenswerte Probleme in die Zielsprache übernommen werden kann, so dass Synonyma gar nicht erst gesucht werden müssen. «Doch das bedeutet, dass die feinen Bedeutungsunterschiede bei gleichem Vokabular unberücksichtigt bleiben.» 158 In der Tat ließe sich anhand von Textbeispielen zeigen, so G ottschall , dass bei der Übertragung des ›Fließenden Lichts‹ in den Basler Stadtdialekt nicht nur keine Professionalisten auf dem sprachlichen Sektor herangezogen wurden, sondern dass man es auch unterlassen hat, Theologen zu konsultieren (für G ottschall waren die Übersetzer Laien, die aus dem Kreise der sogenannten ‹Gottesfreunde› rekrutierten). Für das Rezeptionsverhalten der alemannischen Übersetzer gelte es: «Entscheidend war die sprachliche Oberfläche, der Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 33 152 Dass die Umsetzung von Texten in die Sprachform des Entstehungsraums und der Entstehungszeit einer Handschrift ‹au fil de la plume› eines Kopisten erfolgt, dürfte im Mittelalter eine Selbstverständlichkeit gewesen sein, ablesbar vor allem daran, dass der Prozess der Verdeutschung erst dann thematisiert wird, wenn Schwierigkeiten auftauchen. Für Beispiele s. S eidel (2003a), S. 145 und 151. Zu den Änderungen, die im Zuge eines interdialektalen bzw. interlingualen Texttransfers auftreten, s. jetzt T. K lein (2009). 153 G ottschall (2007), S. 162. 154 Zu der in E bewahrten mittelniederdeutschen Stellung der Komparative in Korrelativsätzen s. N eumann (1963). 155 N eumann (1948/ 50), S. 167. 156 Ähnliche Beobachtungen macht man auch bei anderen in oberdeutsche Dialekte übertragenen Werken aus dem mittelniederländischen Raum, s. R uh (1964/ 1984), S. 112-117, E ichler (1968), S. 211 und F reienhagen -B aumgardt (1998), S. 59. 157 Vgl. Textabdruck und Apparat bei G anina / S quires (2010). 158 G ottschall (2007), S. 164. <?page no="44"?> schöne Klang, das ästhetische Erlebnis, das stimulierend wirkte, und nicht philosophische Spekulation.» 159 G ottschall resümiert: «Dank ihrer Liebe zu erbauenden Texten hat Mechthilds Fließendes Licht der Gottheit bis heute überlebt, doch weniger als philologisch exakte Adaptation, sondern als Offenbarungsbuch der Gottesfreunde.» 160 Bevor ich die methodischen Probleme erörtere, die das zur Konjektur scheinbar problematischer Lesarten eingesetzte Argument der Parallelstellen beim Vorliegen einer arbeitsteiligen Übersetzungstechnik mit sich bringt, möchte ich hier auf eine Textstelle näher eingehen, die - nimmt man Arbeitsteiligkeit als Übersetzungsprinzip ernst - in ein neues Licht gerückt wird und die Frage aufwirft, wie zuverlässig eigentlich der in E überlieferte Text ist. G ott schall ist, wie wir gesehen haben, der Meinung, das ›Fließende Licht‹ stelle weniger eine philologisch exakte Adaptation als das Offenbarungsbuch der ‹Gottesfreunde› dar. Zwar steht diese Setzung in einer gewissen Spannung zu dem von N eumann behaupteten Vertrauen, die oberdeutsche Mechthildrezeption biete «einen mit Geschick und Sorgsamkeit mundartlich umgeschriebenen Text, der erstaunlich treu seiner Vorlage folgt.» 161 Allerdings relativiert G ottschall ihre Behauptung insofern selbst, als sie feststellt: «da keine Zeile von Mechthilds Original bzw. der Redaktion des Heinrich von Halle erhalten ist, bleibt jede Beurteilung der Übertragungsleistung zu einem Teil immer Spekulation.» 162 Wohl ist die Übersetzungsvorlage des ›Fließenden Lichts‹ nicht erhalten, doch gibt es - und das ist G ottschall entgangen - ein Kapitel, das möglicherweise einen, wenn auch nur flüchtigen Blick in die Werkstatt der Übersetzer gewährt. Es handelt sich um ein Kapitel, das in E doppelt überliefert ist, und zwar einmal im Buch VI als Nr. 22 und ein zweites Mal im Buch VII als Nr. 45. Über das Textstück lässt sich mit N eumann folgendes sagen: 163 Da es in der lateinischen Übersetzung keine Entsprechung hat, geht man davon aus, dass das Kapitel vor seiner Verdoppelung im siebten Buch seinen Platz gehabt hat. In seiner heutigen Doppelform wird es im Rahmen des Ganzen eine längere unabhängige Überlieferung hinter sich haben, denn FL VI.22 und VII.45 können nicht unmittelbar voneinander abgeschrieben worden sein. Die entscheidende Frage lautet nun, wann diese Verdoppelung aufgetreten ist. N eu mann will sie erst für das oberdeutsche Übersetzungsoriginal ansetzen. «Aber schwerlich viel später: dafür sind der Abweichungen nun schon wieder zu viele.» 164 Da die Art der Varianz, die die beiden Kapitel voneinander trennt, im weiteren Verlauf meiner Argumentation eine Rolle spielen wird, sollen die Abweichungen aufgelistet werden: 165 34 Einleitung 159 G ottschall ebd., S. 168. 160 G ottschall ebd., S. 169. 161 N eumann (1948/ 50), S. 169. 162 G ottschall (2007), S. 160. Ähnlich E ichler (1969), S. 36f. 163 Vgl. N eumann (1948/ 50), S. 147f. 164 N eumann ebd., S. 149. 165 FL VI.22 zitiere ich nach der Ausgabe von N eumann (den Text von FL VI.22, wie ihn E überliefert, findet man bei N eumann unter FL VII.45 abgedruckt! ), FL VII.45 nach deres <?page no="45"?> mir VII.45 (S. 616,5): mir es VI.22 (VII.45,4) - m o ge vergessen VII.45 (S. 616,5f.): vergesse VI.22 (VII.45,4) - versumekeit VII.45 (S. 616,9): dú versumekeit VI.22 (VII.45,6) - Das ander ist VII.45 (S. 616,11): Das ander VI.22 VII.45,7) - herre, das ich VII.45 (S. 616,11): das ich herre VI.22 (VII.45,7) - mir VII.45 (S. 616,12): fehlt VI.22 (VII.45,8) - din unr u wig gerunge VII.45 (S. 616,14): die fúrige gerunge VI.22 (VII.45,9) - iemer VII.45 (S. 616,15): in mir VI.22 (VII.45,10) - der VII.45 (S. 616,16): din VI.22 (VII.45,10) - von dem andern VII.45 (S. 616,24): von den andern VI.22 (VII.45,16) - was das si wirken VII.45 (S. 616,23): was si wirken VI.22 (VII.45,16) - ieglicher VII.45 (S. 616,24): iegliches VI.22 (VII.45,17) - usgelúhen VII.45 (S. 616,25): usgeleit VI.22 (VII.45,17) - die er hie … beginnet VII.45 (S. 616,26f.): die hie … beginnet VI.22 (VII.45,18f.) - enpfinden VII.45 (S. 616,29): v u len VI.22 (VII.45,21) - wunnenklich VII.45 (S. 616,30): wie wunnenklich VI.22 (VII.45,21) - wie rich VII.45 (S. 616,30f.): wie unzergenglicher vr o den vol VI.22 (VII.45,22) - der eweclich in im wonen sol VII.45 (S. 616,31): 166 der da eweklich wonen sol VI.22 (VII.45,22f.) - in VII.45 (S. 616,32): fehlt VI.22 (VII.45,23) - die sint vil manigvalt ane zal vnd ane geschen iemer me erlich gezogen wand si swebent vs von dem lebendigen gotte VII.45 (S. 616,33-618,1): fehlt VI.22 (vgl. VII.45,24f.) - vliessent VII.45 (S. 618,2): vlússet VI.22 (VII.45,26) - úberswenkig VII.45 (S. 618,2f.): úberswendig VI.22 (VII.45,26f.) - ane VII.45 (S. 618,4): doch ane VI.22 (VII.45,28). N eumann deutet den Befund wie folgt: Mängel und Vorzüge der Textgestalt sind fast gleichmäßig verteilt. 167 Die Abweichungen erweisen sich, abgesehen von den «eingesprengten Trümmersätzchen» in FL VII.45, als «einfache Flüchtigkeiten, unerhebliche Wortumstellungen und inhaltlich belanglosere Auslassungen.» Man könne, argumentiert N eumann , demnach davon ausgehen, dass «der Sinngehalt des Kapitels innerhalb der Basler Texttradition offenkundig so wenig Einbuße erlitten [hat] wie die Ausdrucksform.» 168 Der Befund kann aber auch anders gedeutet werden. Ausgehend von der oberdeutschen Überlieferung von Jan van Ruusbroec ›Van den blinckenden Steen‹ hat W olf gang E ichler vier Stufen der Tradition eines übersetzten Textes unterschieden: 1. die umschriftliche Aneignung, 2. die geringfügig bearbeitete, von Zusätzen und Auslassungen geprägte, an der Substanz des Textes jedoch noch nichts zersetzende Redaktion, 3. das in einen verwandten Zusammenhang gestellte Exzerpt und 4. die Verwertung in einem fremden Zusammenhang. 169 Vergleicht man die oben aufgezeigten Divergenzen zwischen FL VI.22 und VII.45 mit dem von E ichler entwickelten Vier-Stufen-Modell, so lassen sie auf eine Textgestalt schließen, die der zweiten Tradierungsstufe eines übersetzten Textes zuzuordnen ist. Dafür sprechen die von N eumann (verharmlosend) als «eingesprengte Trümmersätzchen», «unerhebliche Wortumstellungen», «inhaltlich belanglosere Auslassungen» bezeichneten Abweichungen. Zudem haben wir es an zwei Stellen mit einem Wortersatz zu tun, der im Zeichen der sprachlandschaftlichen An- Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 35 jenigen von V ollmann -P rofe . Auch N eumann (1948/ 50), S. 147f. bietet ein Variantenverzeichnis. Es ist aber stellenweise mit Fehlern belastet. 166 N eumann (1990), S. 291 liest im Apparat bi im statt in im und vermerkt: «verb. aus eweclich in nu? » 167 Vgl. N eumann (1948/ 50), S. 148. 168 N eumann ebd., S. 149. 169 Vgl. E ichler (1968), S. 213. <?page no="46"?> passung des Textes steht: aus v u len (VI.22) wird enpfinden (VII.45), 170 úberswendig (VI.22) wird zu úberswenkig (VII.45) ‹verlesen›, letzteres «eine Art Modewort der nacheckhartischen Mystik.» 171 Angesichts der Mängel und Vorzüge, die beiden Kapiteln zueigen sind und eine Entscheidung über die Echtheit des einen gegenüber dem anderen erschweren, 172 fragt man sich, ob die Textveränderungen, die beide Kapitel auszeichnen, erst in der oberdeutschen Texttradition aufgetreten sind (das ist die Position von N eumann ) oder ob sie schon während der Übertragung des ›Fließenden Lichts‹ ins Alemannische entstanden sein könnten. Letzteres würde voraussetzen, dass die Verdoppelung des Kapitels nicht erst, wie von N eumann vermutet, im alemannischen Übersetzungsoriginal, sondern bereits in seiner mittelniederdeutschen Vorlage aufgetreten war. Dies hat auch N eumann erwogen. Der Grund war dafür allerdings, ein zusätzliches Argument für die These von der Worttreue der Basler Übertragung zu gewinnen. Man liest bei ihm: «Falls der [! ] alemannische Übersetzer bereits in seiner Vorlage diese Doppelung des Kapitels […] vorgefunden haben sollte und die immerhin um 64 Kapitel entfernten Abschnitte unabhängig voneinander zweimal übertragen hätte, dann wäre das freilich ein Beweis für die Genauigkeit der Wiedergabe von Wort zu Wort, wie er schlagkräftiger nicht gedacht werden könnte.» 173 Interessanterweise spricht N eumann an dieser Stelle von d e m alemannischen Übersetzer, während einige Seiten weiter von einer Gemeinschaftsarbeit die Rede ist. Dort wird die Ansicht vertreten, dass Heinrich, insofern er wirklich an der Übersetzung beteiligt war, Mithelfer zur Verfügung standen. 174 Wenn dies der Fall ist, so müssen die Divergenzen zwischen FL VI.22 und VII.45 nicht unbedingt erst im Zuge der oberdeutschen Überlieferung aufgetreten sein, sondern könnten bereits in der Entstehungssphase der alemannischen Übersetzung verortet werden. 175 Demnach wären sie nicht als überlieferungsbedingte Korruptele anzusehen, sondern von der arbeitsteiligen Übersetzungstechnik des Basler Kreises her zu deuten. 176 Die 36 Einleitung 170 S. dazu V izkelety / K ornrumpf (1968), S. 295 und N eumann (1993), S. 25, Anm. zu I.44,86. 171 Vgl. N eumann (1993), S. 159, Anm. zu VII.45,26f. 172 Dies machen auch die Editionen deutlich: N eumann hält die Überlieferung im siebten Buch für weniger zuverlässig, deshalb legt er FL VII.45 den Text aus dem sechsten Buch zugrunde. V ollmann -P rofe dagegen druckt im siebten Buch jene Version des Kapitels ab, die in E dort tatsächlich überliefert ist. 173 N eumann (1948/ 50), S. 149. 174 Vgl. N eumann ebd., S. 162. 175 In der mittelniederdeutschen Vorlage der lateinischen Übersetzung war die Verdoppelung noch nicht aufgetreten, wie es den Verweisen auf die Buch- und Kapitelzählung des deutschen Textes in den Überschriften von Rb und den Querverweisen in E zu entnehmen ist (s. dazu Kap. II.1.2). Das Inhaltsverzeichnis, das dem sechsten Buch vorangestellt ist, enthält das heutige Kapitel FL VI.22 allerdings bereits. Es muss also hier eingeschoben worden sein, nachdem der deutsche Text zur Übersetzung freigegeben wurde, spätestens anlässlich der Gesamtredaktion des alle sieben Bücher umfassenden Corpus. 176 Der Vergleich doppelt überlieferter Textstellen in der ›Lux divinitatis‹, die in Wortwahl und Satzfügung «recht weit auseinander [liegen]», hat auch B ecker (1951), S. 40f. zu der Schlussfolgerung geführt, die Abweichungen wären aus der Tätigkeit zweier Übersetzer zu erklären, vgl. LD V.25,18-23 (Rev. Bd. II.2, 610,30ff.) und LD VI.8,2-6 (Rev. Bd. II.2, S. 625,12ff.) bzw. LD Prol. 5,17-24 (Rev. Bd. II.2, S. 442,28ff.) und LD VI.24,2-7 (Rev. Bd. II.2, S. 642,4ff.). Von zwei Übersetzern spricht auch N eumann (1987a), Sp. 262. <?page no="47"?> Abweichungen, die die Dublette auszeichnen, sprächen demnach dafür, dass das Prinzip der Texttreue nicht für jeden innerhalb der Gruppe gleichermaßen galt. Wenn es zutrifft - und dies wird man wohl in Erwägung ziehen müssen -, dass die Umsetzung des ›Fließenden Lichts‹ ins Alemannische die Gemeinschaftsarbeit einer Gruppe von Übersetzern aus dem Umfeld Heinrichs war, die bei ihrer Übersetzungsarbeit mit der Vorlage unterschiedlich treu und theologisch kompetent vorgegangen sind, so stellt sich die Frage, was das für die von N eumann zur Textkonstitution oft angewandte Methode, die Authentizität bestimmter Lesarten mit dem Hinweis auf Parallelstellen aus dem Gesamttext zu begründen, bedeutet. Das Argument der Parallelstellen übersieht nicht nur die je nach Textsorte verschiedene Monosemierung des gleichen Wortes, wie M ichel zu bedenken gibt (s. oben Anm. 137 mit Text), sondern täuscht auch über mögliche Differenzen hinweg, die mit einer auf Arbeitsteilung beruhenden Übersetzungstechnik einhergehen. Zudem werden diese Differenzen im Sinne einer präsupponierten mechthildischen Ausdrucksweise nivelliert. Ein Beispiel für die mit dem Argument der Parallelstellen einhergehende Nivellierung bietet jener aus Korrelativsätzen bestehende Teil von FL I.22, der wie ein erratischer Block innerhalb des Kapitels anmutet. Der Gleichlauf der Sätze ist stellenweise gestört, was nicht verwundert, da das jeweils mit der Konjunktion ie ansetzende zweigliedrige Schema die Entsprechungssätze für mechanische Abschreibefehler (wie etwa Zeilensprung) überaus anfällig macht. Einen solchen gestörten Korrelativsatz stellt FL I.22: 40,1 (I.22,18) dar. E liest: ie si gebietiger ist (der zweite Teil des Vergleichssatzes fehlt). N eumann emendiert gebietiger (‹gewaltiger›) in gebeitiger (‹geduldiger›). Dabei beruft er sich zum einen auf den lateinischen Überlieferungszweig, der longanimior (LD I.29,11/ Rev. Bd. II.2, S. 474,18) bzw. langwiriger (LG I.29,17) 177 liest, zum anderen argumentiert er, gebietig fehle sonst im ›Fließenden Licht‹, gebeitig sei dagegen gut bezeugt. 178 Der auf Nivellierung abzielende Eingriff in den Text ist in diesem Fall umso auffälliger, als auch Heinrich von Nördlingen in einem seiner Briefzitate gebietiger bietet. 179 Allerdings verfügen Heinrichs Briefzitate für N eumann über wenig Beweiskraft, denn er traut ihm grundsätzlich wenig Authentisches zu, vor allem dann nicht, wenn es sich um Lesarten handelt, die (anders als das eben angeführte Beispiel) von E abweichen und von der lateinischen Übersetzung nicht gestützt werden. Dieses Misstrauen ist insofern bemerkenswert, als die in Heinrichs Briefe eingegangenen Zitate die überhaupt ältesten Zeugnisse der oberdeutschen Übertragung des ›Fließenden Lichts‹ darstellen und zeitlich viel näher an das alemannische Übersetzungsoriginal heranreichen als die erst einige Jahrzehnte später entstandene Handschrift E. 180 Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 37 177 Die alemannische Rückübersetzung zitiere ich nach S enne (2002) (im Folgenden: LG). 178 Vgl. N eumann (1993), S. 15, Anm. zu I.22,18. 179 Vgl. S trauch (1882), S. 252,46 (Brief XLVI). V ollmann -P rofe (2003), S. 40,1 lässt die E-Lesart gemäß den von ihr verfolgten Editionsgrundsätzen unverändert stehen, s. dazu weiter unten. 180 Zwar sind Heinrichs Briefe an Margareta Ebner nur in einer Handschrift aus dem 17., womöglich sogar dem 18. Jahrhundert (nicht 1598! ) überliefert (London, British Library, <?page no="48"?> N eumann s ablehnende Haltung den Lesarten gegenüber, die Heinrich abweichend von der Einsiedler Handschrift bietet, ist forschungsgeschichtlich bedingt. P hilipp S trauch deutete die Eigenständigkeit der von Heinrich in seine Briefe eingeflochtenen Zitate aus dem ›Fließenden Licht‹ wie folgt: Heinrich dürfte «Mechthilds Original aufs Neue eingesehen haben; so erklären sich dann auch die Abweichungen zwischen seiner früheren Übersetzung und unserm Citate. H. v. N. scheint das zweite Mal richtiger übersetzt zu haben.» 181 Dass N eumann diese Ansicht nicht akzeptieren kann, ist von seiner Position her gesehen nur allzu verständlich, geht es ihm doch darum, die besondere Qualität der Einsiedler Handschrift und ihren originalnahen Status zu erweisen. Denn sollte S trauch Recht behalten, so wäre die Leithandschrift der Edition, wie es N eumann selbst zugibt, «mit dem argen Makel einer geringeren Treue in der Wiedergabe ihrer Vorlage» 182 belastet. Im Folgenden geht es mir nur um jene Abweichungen zwischen den Briefzitaten Heinrichs und E, die auf eine ältere Textstufe zurückzuführen scheinen. 183 Sie lassen die Lesarten von E entweder als überlieferungsbedingte sekundäre Lesung oder als Ergebnis der redaktionellen Überarbeitung einer früheren Textstufe der alemannischen Umschrift im Sinne von G ottschall erscheinen (s. oben Anm. 153 mit Text). Die erhaltenen Textzeugen gehen nicht nur im Falle von FL I.22: 40,1 (I.22,18), sondern auch bei FL I.22: 38,27 (I.22,13) auseinander. In E liest man: Ie si vr o licher lebt, ie si mer ervert. ervert entspricht in der lateinischen Tradition experitur (LD I.29,9/ Rev. Bd. II.2, S. 474) bzw. erfart (LG I.29,14). Heinrich von Nördlingen bietet dagegen entweret. 184 Die Handschriften der Spruchsammlung des Pseudo-Engelhart von Ebrach, in die dieser Abschnitt von FL I.22 eingegangen ist, lesen wirwet/ wirbet (Mü 1 , Ka, M 2 ) bzw. werket (Mü 4 ). 185 S trauch hat aus den divergierenden Lesarten der ihm bekannten Handschriften für Mechthilds Original auf eruuert/ entuuert (‹wird zunichte›) geschlossen, das im deutschen und lateinischen Überlieferungszweig über erwert/ entwert zu ervert verlesen wurde. Er war der Ansicht, Heinrich käme der ursprünglichen Lesart am nächsten. 186 N eumann hielt die Konjektur von S trauch in seinem Beitrag von 1948/ 50 zwar für «überzeugend» und meinte, das Original habe «zweifellos» entuuert gehabt, 187 in seiner kritischen Ausgabe bietet er jedoch trotzdem ervert. Das heißt, eine früher als authentisch angesehene Lesart, die zudem mittelniederdeutsch belegt ist - ein wichtiges Kriterium bei N eumann s editorischen Entscheidungen für oder gegen die Authentizität einer Lesart -, wird entgegen der sonst geltenden Edi- 38 Einleitung Add. 11430, s. dazu demnächst F ederer 2010), die konservative Schreibweise lässt jedoch darauf schließen, dass eine wesentlich ältere, in der Mitte des 14. Jahrhunderts zu verortende Vorlage abgeschrieben wurde, vgl. S trauch (1882), S. XXIX und N eumann (1954c), S. 162f. S. dazu weiterführend Kap. III.4. 181 S trauch (1882), S. 380. 182 N eumann (1948/ 50), S. 157. 183 Die restlichen Abweichungen lassen sich dagegen als Aufschwellungen im Sinne des sonstigen Sprachgebrauchs Heinrichs oder als Angleichungen an die sprachlichen Gepflogenheiten des alemannischen Raumes charakterisieren, vgl. N eumann (1948/ 50), S. 157-160. 184 Vgl. S trauch (1882), S. 252,43 (Brief XLVI). 185 Vgl. die entsprechenden Textabdrucke in Kap. V.2 passim bzw. bei K. S chneider (2006), S. 60, Nr. 133,6. 186 Vgl. S trauch (1882), S. 380. Zustimmend L üers (1926), S. 46. 187 N eumann (1948/ 50), S. 157. <?page no="49"?> tionsprinzipien in den Text nicht übernommen. Warum eigentlich? N eumann argumentiert in der von FL I.22: 40,1 (I.22,18) her bekannten Manier (s.o.): Es ließen sich keine Parallelen für erwerden und entwerden im ›Fließenden Licht‹ nennen, Mechthild kenne sie also nicht. Stattdessen spricht er sich für die Ursprünglichkeit von ervaren aus, das wie die konkurrierende Lesart Heinrichs mittelniederdeutsch bezeugt, vor allem aber durch die ›Lux divinitatis‹ gedeckt ist. 188 Es stellt sich die Frage, ob entwerden über E hinausweist und eine ältere Textstufe der alemannischen Übertragung erkennen lässt. In den Kontext der paradoxen Korrelativa, die den ersten, auf den Gleichlauf von syntaktisch identischen Entsprechungssätzen gründenden Teil von FL I.22 eröffnen, passt entwerden genau so gut wie das angeblich echte ervaren. 189 Die mit ›Lux divinitatis‹ übereinstimmende Lesart von E spricht nicht gegen die Priorität von entwerden, denn diese Übereinstimmung kann folgenden Grund haben. Wie schon die lateinischen Übersetzer bzw. die zu ihrer Vorlage hinführende mittelniederdeutsche Tradition könnte auch die zu E hinführende oberdeutsche Überlieferung mittelniederdeutsches entwerden/ erwerden missverstanden bzw. ‹zurecht gelesen› haben. Liegt im ersten Fall ein Übersetzungs- oder ein früher Überlieferungsfehler vor, so wäre der zweite ein Beleg dafür, dass die oberdeutsche Textgeschichte des ›Fließenden Lichts‹ «die Geschichte seiner allmählichen Integration ins Oberdt.» 190 darstellt. Dass die Möglichkeit einer in beiden Überlieferungszweigen unabhängig voneinander erfolgten Fehllesung des gleichen mittelniederdeutschen Wortes nicht auszuschließen ist, lässt sich anhand von folgenden Textstellen zeigen. So erwägt N eumann im Zusammenhang von volgere (statt volgare, ‹ganz fertig gekocht›) in FL V.14: 348,17 (V.14,11): «Beide dt. Hss. und die ›Rev.‹ haben den Text mißverstanden.» 191 In der Tat liest man in E und C: Als si [der armen pfaffen selen] denne nach irem [gemeint sind die geiste und túfel im Fegefeuer] willen volgere warent, so vrassen si si mit iren sneblen. Die lateinische Übersetzung bietet: sicque pro libitu crvciatos rostris laniatos crvdelibus deuorabant (LD VI.9,8f./ Rev. Bd. II.2, S. 627,15, LG VI.9,14f.: vnd do sie diese also grúelich hettent gepinigt zerrissent sie die selbigen mit den schnabeln grielichen zúfiessen). Allerdings könnte hier genauso gut ein früher Fehler vorliegen, der schon im Basistext des deutschen und lateinischen Überlieferungszweigs enthalten war (s. dazu S. 263f. weiter unten) Aussagekräftiger ist eine andere Stelle. In FL VI.8: 446,25 (VI.8,9) heißt es: Ja, ein ieglich tugent, die hie in ertrich wirt gefrúmet mit g v tem willen sunder valsch […], das sint in himmelrich die seiten etc. Statt gefrúmet liest man in C gevormet bzw. formam accipit in LD VI.14,5 (Rev. Bd. II.2, S. 631,21f., ähnlich LG VI.14,8). E bietet N eumann zufolge die Primärlesart, weil sie im Mittelniederdeutschen in der Bedeutung ‹schaffen›, ‹gewinnen› belegt sei, was für das von C und dem lateinischem Text nahe gelegte vormen indes nicht zutrifft. 192 N eumann erklärt die Abweichungen damit, dass mnd. vromen «durch die häufige, aber nicht konsequent durchgeführte Metathese des r im mittelnie- Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 39 188 Vgl. N eumann (1993), S. 14f., Anm. zu I.22,13. 189 So auch V ollmann -P rofe (2003), S. 714, Anm. zu 38,27. Ausschlaggebend für die Beibehaltung der E-Lesart ist für V ollmann -P rofe wie für N eumann selbst die Beobachtung, dass Mechthild entwerden, erwerden nicht kennt. 190 V izkelety / K ornrumpf (1968), S. 300. 191 N eumann (1993), S. 90. Ähnlich V ollmann -P rofe (2003), S. 799. 192 Vgl. N eumann (1993), S. 116, Anm. zu VI.8,9. <?page no="50"?> derdeutschen Text als vormen erscheinen konnte, was die Hallenser Übersetzer im Sinn von formare verstanden und ebenso wohl auch die Verfasser der alem. Übertragung nach Ausweis von C. In E ist dagegen das Verb richtig erkannt und in seine obd. Gestalt überführt worden.» 193 Vor allem dieses letztere Beispiel macht im Hinblick auf FL I.22: 38,27 (I.22,13) deutlich, dass das Zusammengehen von E und den Handschriften des lateinischen Textes gegenüber dem Briefzitat des Heinrich von Nördlingen an sich kein Kriterium ist, um über die Authentizität von entweret zu entscheiden. Es kann sich auch um unabhängig voneinander entstandene Fehllesungen desselben Wortes handeln. Diesen gegenüber kann Heinrichs Lesart in dem Sinne primär sein, als sie auf eine dem Übersetzungsoriginal näher stehende Textstufe zurückführt als E, vielleicht durch einen Rückvergleich der alemannischen Übertragung mit dem mittelniederdeutschen Text entstanden. Dass diese von S trauch erwogene Erklärung des textgeschichtlichen Befundes nicht ganz von der Hand zu weisen ist, zeigen die Textgeschichten anderer Werke, die ähnlich wie das ›Fließende Licht‹ dem Prozess der innerdeutschen Übertragung unterzogen wurden. 194 Zu verweisen wäre dabei nicht nur auf die oberdeutsche Überlieferung des ›Brulocht‹, 195 sondern vor allem auf den ›Spieghel der volcomenheit‹ des Niederländers Hendrik Herp, der im oberdeutschen Raum in der bairischen Übersetzung des Nürnberger Dominikaners Heinrich Haß Verbreitung fand. 196 Die beiden, dem Übersetzungsoriginal des ›Spieghel‹ sehr nahe stehenden Nürnberger Handschriften - sie allein überliefern den vollständigen Text innerhalb der Gruppe *X1 - enthalten von der Schreiberhand eingetragene Korrekturen, die eine erneute Konsultation der mittelniederländischen Quelle vermuten lassen. Bis auf eine Handschrift - sie bewahrt zusammen mit den beiden genannten Kodizes die Übersetzung von Haß am ursprünglichsten - wurden diese Verbesserungen in die sonstigen Textzeugen des Überlieferungszweiges *X1 weitgehend eingearbeitet. Demnach kann nicht erst der Schreiber der zweibändigen Nürnberger Handschrift die Korrekturen vorgenommen haben, sondern er muss sie in seiner Vorlage vorgefunden haben. Ob sie auf den Übersetzer selbst zurückgehen, bleibt freilich offen. Ähnlich ließe sich die Genese der Sonderlesart Heinrichs von Nördlingen erklären. Man sollte sich dabei gar nicht erst darum bemühen, die Variante, wie von S trauch behauptet, auf einen von Heinrich selbst vorgenommenen nochmaligen Vergleich mit der 40 Einleitung 193 N eumann ebd. Zur Metathese s. auch ebd., S. 145, Anm. zu VII.3,1. 194 Hier sei darauf hingewiesen, dass die Geschichte der innerdeutschen Übertragungen immer noch nicht geschrieben ist, vgl. V ölker (1967), S. 36, Anm. 2. Zum Thema «Der Schreiber als Dolmetsch. Sprachliche Umsetzungstechniken beim binnensprachlichen Texttransfer in Mittelalter und Früher Neuzeit» s. jetzt die Beiträge im gleichnamigen Sammelband hg. von B esch (2009). 195 E ichler (1969), S. 65 macht darauf aufmerksam, dass die von Rulman Merswin verwendeten Ruusbroec-Exzerpte «gelegentlich, wenn auch sehr selten, beim Versagen der gesamten übrigen Überlieferung dem mittelniederländischen Original am nächsten kommen.» Dies sei zwar nur ein Indiz für Merswins Beteiligung an der Übertragung des ›Brulocht‹ ins Alemannische, doch würde der Befund immerhin dafür sprechen, «daß Rulman auch die mittelniederländische Vorlage kannte, beziehungsweise auf sie zurückgreifen konnte.» Vgl. auch E ichler (1992), S. 279. Zum «außergewöhnlichen» Phänomen des Rückvergleichs mit Quellentexten s. S chubert (2003), S. 135. 196 Zu den folgenden Ausführungen s. F reienhagen -B aumgardt (1998), S. 61f. <?page no="51"?> Übersetzungsvorlage des ›Fließenden Lichts‹ oder auf eine zweite, ad-hoc-Übersetzung Heinrichs zurückzuführen. Sie kann, sei es als Korrektur am Rande oder als Bestand des Textes, schon in seiner Vorlage gestanden haben. 197 entweret kann demnach durchaus eine Primärlesart darstellen, die auf dem Weg zu E - sei es infolge von Kopialüberlieferung oder einer dem Gesamttext angediehenen Überarbeitung - einer graphisch näher liegenden alemannischen Wortform weichen musste. Die E-Lesart würde damit einen weiteren Beleg für jenen von R uh an der oberdeutschen Rezeption der Traktate Jans van Leeuwen beobachteten Prozess der allmählichen, durch die Tätigkeit mehrerer Schreiber erfolgten Eindeutschung liefern (s. Anm. 151 mit Text). 198 Man wird in dieser Annahme bestärkt, wenn man in FL I.22 weiter liest. FL I.22: 38,31 (I.22,17) lautet: ie si tieffer wonet, ie si breiter ist. Heinrich bietet, wieder abweichend, beraiter (‹bereitwillig›, ‹dienstfertig›). 199 N eumann hält E für die ursprüngliche Lesart, weil es sich hier um den Kontrast mystischer Dimensionsbegriffe handle. 200 Demnach wäre breiter mit ‹ausgedehnter› zu übersetzen, um die hinter dieser Vorstellung stehende Tradition der mystischen Theologie zu verdeutlichen. 201 Doch ist die Stelle keineswegs eindeutig, denn breit kann auch die synkopierte Form von bereit darstellen. 202 Damit wäre aber die von Heinrich gebotene Lesart bestätigt, der übrigens auch die lateinische Tradition nahe steht: Ra liest patiencior, dem Rw fridlicher (LG I.29,17) entspricht. Rb hatte hier ursprünglich patior, doch hat es eine jüngere Hand zu patiencior geändert, indem sie enci über das Wort eingetragen hat (LD I.29,11/ Rev. Bd. II.2, S. 474). N eumann erwägt, ob die Rb-Variante auf patencior (‹offener ausgebreitet›, ‹zugänglicher›) zurückgeht, so dass die Dimensionsvorstellung zumindest in Rb noch mitschwingen würde. Doch stellt er gleich fest, dass breit in der lateinischen Übersetzung sonst mit latus oder spaciosus übertragen bzw. substantivisch durch latitudo bzw. amplitudo umschrieben wird. 203 Dennoch besteht N eumann auf der Authentizität der von E gebo- Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 41 197 Dass diese Vorlage nicht das Übersetzungsoriginal selbst, sondern ein bereits in die Kopialüberlieferung eingegangenes Exemplar der alemannischen Übertragung war, ist etwa am Überlieferungsfehler trüw (S trauch 1882, S. 256,18, Brief XLVIII) für r v we E (FL V.6: 334,16 [V.6,12]) bzw. requies (LD IV.16,10/ Rev. Bd. II.2, S. 553,32, wegen Ausrissverlust fehlt eine Entsprechung in Rw, vgl. LG IV.15) abzulesen, vgl. V ölker (1967), S. 45f. 198 Ein greifbares Beispiel für dieses Phänomen liefert E selbst. So findet man in FL I.29: 48,29 und 30 (I.29,5 und 6) über abegunst bzw. vare (auch in Mo bezeugt) die alemannischen Formen nide bzw. lage von einer zeitgenössischen Hand nachgetragen. 199 Vgl. S trauch (1882), S. 252,46 (Brief XLVI). 200 Vgl. N eumann (1948/ 50), S. 157 und N eumann (1993), S. 15, Anm. zu I.22,17. Zustimmend M ichel (1995a), S. 28. 201 In diesem Sinne übersetzt V ollmann -P rofe (2003), S. 41,1 breiter mit ‹weiter›. 202 Vgl. die Übersetzung von S chmidt (1995), S. 21: «Je tiefer sie (in Gott) wohnt, um so aufnahmefähiger wird sie.» Wie schwer breit und bereit auseinander zu halten sind, macht auch FL V.11: 342,28 (V.11,28) deutlich: E liest breite sinne. Zwar greift N eumann (1993), S. 88 in den Text an dieser Stelle nicht ein, doch argumentiert er mit Hinweis auf eine Parallelformulierung, breit dürfte «wohl» ‹ausgedehnt› meinen. Dessen ungeachtet liest die lateinische Texttradition sensus compositos (LD V.4,22f./ Rev. Bd. II.2, S. 591,32) bzw. zïchtig sinn (LG V.3,33). Auch V ollmann -P rofe (2003), S. 343,35 übersetzt mit ‹aufnahmebereit›. 203 Vgl. N eumann (1993), S. 15, Anm. zu I.22,17. Zwar emendiert N eumann in diesem Fall nicht aufgrund von Parallelstellen aus der ›Lux divinitatis‹, der Hinweis ist trotzdem methodisch problematisch, da die lateinische Übertragung das Werk von mindestens <?page no="52"?> tenen Lesart und nimmt sie in seine Edition auf. Ihm könnte man insofern beipflichten, als die graphische Nähe von breit und bereit nicht nur in der adverbialen, sondern auch in der verbalen Form Anlass für Verwechslungen gab. 204 N eumann s Konjektur ist an der referierten Stelle jedoch problematisch, weil weder der lateinische Übersetzer noch Heinrich den Passus als einen in der Tradition der mystischen Dimensionsvorstellungen stehenden verstanden. Ganz abgesehen von dem Problem der Präsumtivvarianz, von Varianten also, die, weil gleichermaßen sinnvoll, gleichwertig nebeneinander stehen und die Ermittlung der einen authentischen Lesart erschweren, 205 fragt man sich, ob N eumann den alemannischen Übersetzern bzw. Überlieferern mehr theologische Kompetenz zuspricht, als sie womöglich hatten. 206 Diesen Eindruck gewinnt man in der Tat, denkt man nur an die Leichtigkeit, mit der N eumann an einer Stelle wie FL VII.8: 548,11 (VII.8,3) breiter konjizieren kann: Obwohl im unmittelbaren textlichen Umfeld die Dimensionsangaben Tiefe, Größe, Höhe als Darstellungsmittel der Unermeßlichkeit der eigenen Not auftauchen, liest E bitterer. 207 Was N eumann s Umgang mit breiter, aber auch mit gebietiger bzw. ervert in FL I.22 betrifft (s.o.), ist folgendes festzuhalten. Nicht nur nivelliert das in diesen Fällen angewandte Argument der Parallelstellen den Text, sondern verdeckt auch mögliche Brüche, die infolge einer zwei Jahre andauernden, von mehreren Personen in Angriff genommenen Übersetzungs- und Korrekturarbeit entstanden sein könnten. Zudem werden mögliche Hapaxlegomena - ob echt oder unecht ist unerheblich - systematisch hinwegpurgiert. 208 N eumann s Konjekturen laufen im Grunde auf eine Vereinheitlichung des Wortgebrauchs im Sinne der präsupponierten mechthildischen Ausdrucksweise hinaus. So musste in FL I.40,3 das handschriftliche sch o ner dem Adjektiv klarer weichen (anders V ollmann -P rofe , vgl. 56,7). Zwar kann N eumann seine Konjektur mit einer Handschrift der deutschen Parallelüberlieferung (W) und der lateinischen Übersetzung (LD IV.11,15/ Rev. Bd. II.2, S. 549,5 bzw. LG IV.10,23) stützen, für die Ursprünglichkeit von klarer spricht seiner Meinung nach aber vor allem, dass das Epitheton klar für Sonne auch sonst in der Einsiedler Handschrift mehrfach auftrete. 209 Es 42 Einleitung zwei Übersetzern sein kann (s. oben Anm. 176), die dasselbe Wort nicht nur unterschiedlich übersetzt, sondern auch variiert haben können. Das Stilphänomen der variatio kann in der ›Lux divinitatis‹ in der Tat immer wieder nachgewiesen werden, s. V ollmann -P rofe (2000), S. 149. 204 Vgl. etwa FL V.23: 368,36 (V.23,102) bereitet sich (E, C) gegen diffundens se (LD I.14,30/ Rev. Bd. II.2, S. 460,22) bzw. g o ß sich uß (LG I.14,43). N eumann (und daran anschließend V ollmann -P rofe ) konjiziert hier zu Recht in breite sich, weil die E/ C-Lesart grammatikalisch falsch ist. 205 Vgl. etwa lenger bei Heinrich für lauter in E und der sonstigen deutschen Überlieferung (FL I.22: 40,8 [FL I.22,24]). Diese Differenz wird, wie N eumann (1948/ 50), S. 158 feststellt, durch alcius der lateinischen Übersetzung (LD I.29,15/ Rev. Bd. II.2, S. 474,24, h o her LG I.29,23) nicht gedeutet. Vor die Frage gestellt, was das Authentische ist, gibt N eumann freilich der E-Lesart den Vorzug. 206 Vgl. G ottschall (2007), S. 168. 207 Diese Lesart charakterisiert allerdings nur den E-Schreiber bzw. seine Vorlage. Dass bitterer einen Lesefehler darstellt, leuchtet ein. Fraglich ist indes, ob das Übersetzungsoriginal hier breiter oder bereiter bot. 208 Das betont M ichel (1995a), S. 31. 209 Vgl. N eumann (1993), S. 22, Anm. zu I.40,3. <?page no="53"?> gibt indes zwei Stellen in E, die sch o ne sunne bieten: FL I.18: 36,17 (I.18,3) und V.27: 388,17 (V.27,13). Letzteres steht für N eumann allerdings «im Verdacht der Unechtheit.» 210 Er argumentiert wie folgt: Zwar stehe die lateinische Übersetzung mit in solis claritate (LD I.20,14/ Rev. Bd. II.2, S. 466,14 bzw. LG I.20,18) einer vierfachen deutschen Überlieferung mit sch o ne gegenüber (E, C, W und Ha), doch könne die ›Lux divinitatis‹ ein ursprüngliches klar wiedergeben, denn «Mechthild verwendet fast nie das gleiche Adj. [sc. sch o ne] zweimal dicht hintereinander.» 211 Aus ähnlichen Überlegungen heraus dürften m u ssen bzw. m v s in FL V.1,48 (anders V ollmann -P rofe , vgl. 320,28) und FL V.33,8 (anders V ollmann -P rofe , vgl. 402,10) eliminiert worden sein. Zwar kommentiert N eumann den Eingriff in den Text in diesen beiden Fällen nicht, doch spielt bei seiner Konjektur die Prämisse, Mechthild verwende weder das gleiche Adjektiv noch das gleiche Verb zweimal dicht hintereinander, eine Rolle. 212 Der Rekurs auf Parallelstellen gründet auf die Überzeugung, im Sinne des auch sonst beobachtbaren mechthildischen Sprachgebrauchs vorgehen zu dürfen. Dies betrifft nicht nur das Ersetzen einzelner Wörter, sondern auch Konjekturen, die aus ästhetischen Überlegungen heraus vorgenommen wurden. N eumann ist allem Anschein nach abgeneigt, einer Autorin von Format bzw. ihrem Original stilistische Lapsus, wie die oben genannten, zu unterstellen. Es scheint, als würde N eumann für sich beanspruchen, klare Vorstellungen von Mechthilds Stil und Sprachgebrauch zu haben. Dies lässt sich vor allem aufgrund seines Umgangs mit stilistischen Phänomenen wie Kolonreim und formaler Parallelismus demonstrieren. In beiden Fällen wird entweder die Parallelüberlieferung zu Rate gezogen, um das vermeintlich Ursprüngliche wiederherzustellen, oder N eumann fügt selbständig, aber immer mit dem Anspruch, im Sinne Mechthilds zu handeln, Ergänzungen ein. Dazu folgende Beispiele: In FL I.24 wird der das Kapitel abschließende Kolonreim vermisst. In E und W lesen wir: Das ich dich lange minne, das ist von miner ewekeit, wan ich ane ende bin. Der fehlende Schlussstein soll im deutschen Überlieferungszweig ausgefallen, im lateinischen jedoch - wenn auch mit Umstellung (qui nec principium habeo neque finem, LD IV.10,8/ Rev. Bd. II.2, S. 548,8, ähnlich LG IV.9,11) - erhalten geblieben sein, so dass das Fehlende aus dem Lateinischen rückübersetzt werden kann. Die Rückübersetzung Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 43 210 N eumann ebd. 211 N eumann (1993), S. 102f., Anm. zu V.27,13. sch o ne wird auch in der auf V.27: 388,17 (V.27,13) folgenden Zeile in Verbindung mit den Augen verwendet. 212 Vgl. auch N eumann s Überlegungen zu folgenden Stellen: II.17,4f. (din flug ist snel und du bist alze snel z v der erde): «Dagegen ist das zweimalige snel in E kaum echt, vielmehr bewahrt hier C mit drate das Ursprüngliche» (N eumann 1993, S. 34); VI.19,14 (Der g v te wille, den der g v te mensche hat): «Die Wiederholung von g v t an dieser Stelle könnte Verdacht erregen, doch ist die Verbindung der g v te mensch »der fromme Mensch« auch sonst im ›FL‹ bezeugt» (N eumann 1993, S. 124) sowie VI.16,8 (Wer mag die menscheit so sanfte betwingen, wer mag die sele so sanfte ufrukken): «sanfte ist in E mechanisch wiederholt, während C sicher das Echte überliefert, das auch in den ›Rev.‹ abhanden gekommen ist» (N eumann 1993, S. 122). <?page no="54"?> und ane aneginne wird nach ane ende bin eingefügt (vgl. I.24,5, anders V ollmann - P rofe , vgl. 44,15). N eumann sieht diese Ergänzung dadurch bestätigt, dass minne bei Mechthild auch sonst mit aneginne im Reim steht. 213 Der lateinische Text dürfte in zwei weiteren Fällen bei N eumann s Überlegungen, den Reim wieder herzustellen, eine Rolle gespielt haben. In FL I.34 will N eumann pinunge (statt pine E) den Vorzug geben: erstens aus Reimgründen, zweitens in Entsprechung zu súfzunge und beitunge. 214 Im Apparat wird LD V.23,10f. (Rev. Bd. II.2, S. 609,15) zitiert. Hier reimt tatsächlich tribulacione auf affectione und expectatione. Auch in FL I.46,54 (entspricht 70,28 bei V ollmann -P rofe ) überlegt N eumann behaltnisse in behaltunge zu ändern, in Entsprechung zu gerunge, und begründet: «Kolonreim am Kapitelschluß ist die Regel.» Alternativ ließe sich aber, so N eumann , im Hinblick auf den lateinischen Text auch an behaltnisse des lones denken im Reime zu krone. 215 Bei diesen Überlegungen wird wieder die ›Lux divinitatis‹ N eumann beeinflusst haben, denn sie bietet einen perfekt durchgereimten und formal parallel gebauten Kapitelschluss, der wiederum im Apparat zitiert wird: Wisheit und kummer, gerunge und behaltnisse entspricht in der lateinischen Übersetzung decor sapiencie . paupertatis diuicie . desideriorum adinplecio . et premiorum conseruacio (LD IV.50,28f./ Rev. Bd. II.2, S. 579,6-8). N eumann stellt den Kolonreim aber nicht nur im Rückgriff auf die (lateinische) Parallelüberlieferung her, sondern auch selbständig. So fügt er in FL I.22,69 (anders V ollmann -P rofe , vgl. 42,30) wol ein und begründet dies wie folgt: «Bindungen von vol : wol sind häufig.» 216 Ohne Kommentar wird dagegen in not in Entsprechung zu uf den tot in FL II.25,66 (anders V ollmann -P rofe , vgl. 130,17) ergänzt, und das sogar gegen eine dreifach bezeugte deutsche Überlieferung. 217 In die Leithandschrift wird auch dann berichtigend eingegriffen, wenn der formale Parallelismus der Sätze oder Satzteile nicht gegeben ist. Auch in diesem Fall wird entweder nach eigenem Ermessen konjiziert oder anhand der Parallelüberlieferung emendiert. Für die erstgenannte Vorgehensweise stehen folgende Beispiele. In FL I.23,3 (anders V ollmann -P rofe , vgl. 44,6) wird minne mich, in FL VI.9,14 (anders V ollmann - P rofe , vgl. 450,19) heisset eingefügt. Im letzteren Fall lautet die Begründung: «in solchen Reihungen wird von Mechthild gewöhnlich das Verb für alle Glieder wiederholt.» 218 In manchen Fällen wird die zu erwartende parallele Struktur stillschweigend hergestellt, so bei FL V.8,5 (anders V ollmann -P rofe , vgl. 336,1) und FL VII.53,17 (anders V ollmann -P rofe , vgl. 636,13). Die letztere ist übrigens eine Stelle, auf welche im Zu- 44 Einleitung 213 Vgl. N eumann (1993), S. 18. 214 Vgl. N eumann ebd., S. 21. 215 Vgl. N eumann ebd., S. 29. Ob Mechthild mit dem letztgenannten Reimschema zu tun hat, ist wenig wahrscheinlich, denn krone steht in einem adhortativen Satz, der wie andere kapitelabschließende Adhortativa womöglich erst bei der Endredaktion des alle sieben Bücher umfassenden Corpus Eingang in den Text gefunden hat, s. dazu S. 297f. weiter unten. 216 N eumann (1993), S. 18. Vgl. auch FL VI.42,5 sowie die Anmerkung dazu bei N eumann (1993), S. 142. 217 N eumann dürfte eine Stelle wie FL II.2: 78,12-13 (II.2,30f.) in den Ohren gehabt haben: Hier reimt tatsächlich not auf tot. 218 N eumann (1993), S. 117. <?page no="55"?> sammenhang der Herstellung des kapitelabschließenden, aus formaler Sicht kontrastiv aufgebauten Kolonreims in FL VI.13: 458,24 (VI.13,47) zurückgegriffen wurde. 219 Zur Heilung vermeintlich gestörter formaler Parallelismen in E wird auch die Parallelüberlieferung zu Rate gezogen. So vermutet N eumann hinter ussewendig in FL V.11,10 eine Lücke und erwartet eine Kontrastierung mit innewendig (in Entsprechung zum weiteren Verlauf des Kapitels). Man findet sie tatsächlich in LD V.4,8f. (Rev. Bd. I./ 2, S. 591,11f., LG V.3,12f.), so dass N eumann den Teilsatz ins Deutsche rückübersetzen kann (anders V ollmann -P rofe , vgl. 342,6). 220 Auch in FL VI.32,31 (entspricht 498,10 bei V ollmann -P rofe ) scheint für N eumann eine Ergänzung aus Gründen des Parallelismus geboten, und zwar in Korrespondenz zu LD V.21,22f. (Rev. Bd. II.2, S. 607,18f., LG V.16,35f.). 221 In Anlehnung an LD V.17,2 (Rev. Bd. II.2, S. 604,4, LG V.12,3) und gemäß der im Kapitel vorherrschenden parallelen Satzstruktur konjiziert N eumann in FL VI.12,2 (anders V ollmann -P rofe , vgl. 454,12f.) handschriftliches dich kleine machen mit grosser diem u tekeit (E,W) in diem u tig sin. 222 Auf einen weiteren Fall hat W erner S chröder hingewiesen. Des wünschenswerten Parallelismus wegen ist in FL I.44,74 (entspricht 62,33 bei V ollmann -P rofe ) ein in E und W fehlendes, in B vorhandenes brut eingeschleust. S chröder gibt zu bedenken: «War Mechthild wirklich immer darauf bedacht, Ratschläge der Rhetorik streng zu befolgen, wie vielleicht erst der Schreiber von B? » 223 In der Tat lassen sich vermeintlich gestörte Parallelismen in E immer wieder feststellen, wenn man B zum Vergleich heranzieht. N eumann nimmt diese angeblich authentischen, weil mechthildischen, Lesarten in seinen Text auf. Bereits einige Zeilen vor FL I.44,74 findet sich ein weiteres Beispiel für die von S chröder vermutete Vorliebe des B-Bearbeiters für formale Parallelismen. E und W lesen: Der visch mag in dem wasser nit ertrinken, der vogel in dem lufte nit versinken, das golt mag in dem fúre nit verderben (FL I.44: 62,26f. [I.44,68f.]). N eumann fügt nach vogel stillschweigend mag ein. Seine Vorgehensweise hat er in einem vergleichbaren Fall damit begründet, Mechthild würde gewöhnlich in solchen Reihungen das Verb für alle Glieder wiederholen (s. oben Anm. 218 mit Text). Hat N eumann dort selbständig ergänzt, geht er hier nach B vor. Damit folgt er aber weniger Mechthild als dem Stilempfinden des B-Redaktors. Dass dieser Redaktor eine gewisse Affinität für Parallelitäten hatte, lässt sich an weiteren Stellen belegen. FL VI.32 besteht aus dreigliedrigen Vergleichsbetrachtungen, deren drittes Bauglied einen Relativsatz aufweist, der den Imitatio- Charakter der Aussage begründet. Dieser Relativsatz fehlt in der zweiten Betrachtung nicht nur in E, sondern auch im gesamten lateinischen Überlieferungszweig (vgl. FL VI.32: 496,7 [VI.32,6] und LD V.21/ Rev. Bd. II.2, S. 606f. bzw. LG V.16). B bietet dagegen: der mi aller geduld all sein nät erlaid. Auch wenn G isela K ornrumpf zu bedenken gab, es könnte sich um einen «geschickten Versuch (des Redaktors? )» handeln, «den bei Mechthild durchgebrochenen Parallelismus konsequent durchzuführen», 224 hält Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 45 219 Vgl. N eumann (1993), S. 119. Von V ollmann -P rofe (2003), S. 818 wird der Passus als «notwendige Ergänzung» übernommen. 220 Vgl. N eumann (1993), S. 88. 221 Vgl. N eumann ebd., S. 135. 222 Vgl. N eumann ebd., S. 119. 223 S chröder (1996/ 1999), S. 152f. 224 V izkelety / K ornrumpf (1968), S. 297. Einige Seiten weiter (S. 303) äußert K ornrumpf die Vermutung, der Text könnte in einem späteren Stadium der Überlieferung einmal <?page no="56"?> N eumann am Passus fest. Wohl räumt er ein, B sei «ein echtes Textstück kaum zuzutrauen, das E und den ›Rev.‹ fehlt», doch wendet er gegen K ornrumpf ein, es sei angesichts der Formstrenge Mechthilds ganz unwahrscheinlich, dass der Parallelismus bei ihr durchbrochen war. Den Befund erklärt er wie folgt: «Es kann sich hier um einen sehr frühen Textverlust der mittelniederdeutschen Urfassung handeln, den der Bearbeiter der B-Redaktion bemerkt und etwas zu mager ergänzt hat.» 225 Diesen Defiziten zum Trotz übernimmt N eumann den Satz und begründet seine inhaltliche Authentizität mit Parallelstellen aus dem Gesamttext. 226 Ich verzichte darauf, weitere Belege für die Arbeitsweise des B-Redaktors anzuführen. Man findet sie, wenn auch etwas versteckt, im Apparat der textkritischen Ausgabe. 227 N eumann dürften sie bekannt gewesen sein, hat er doch im Apparat nicht nur die für die Textkonstitution wichtigen Varianten, sondern auch Fälle verzeichnet, die ihm geeignet erschienen, «charakteristische Erscheinungen des Einsidlensis oder der jeweiligen Parallelüberlieferung hervorzuheben.» 228 Allerdings macht die Unterbringung solcher ‹charakteristischen Fälle› im Lesartenapparat es nicht gerade leicht, sie wieder aufzufinden und als solche zu identifizieren. 229 Das eigentlich Unbefriedigende ist aber etwas anderes: Solche für den jeweiligen Überlieferungsträger als charakteristisch verbuchten Fälle werden immer wieder bei der Textkonstitution herangezogen. Damit erscheinen sie nicht mehr nur als ‹charakteristisch› (bezogen auf den jeweiligen Überlieferungsträger), sondern geradezu als ‹mechthildisch›. Man darf indes nicht glauben, N eumann wäre sich der Gefahren nicht bewusst, die mit der (Re-)Konstruktion von Parallelitäten anhand der Parallelüberlieferung verbunden sind. Im Zusammenhang mit FL VI.29 überlegt er: «Der strenge Parallelismus des Satzbaus und der oft betonte Hinweis auf d i e s e s göttliche Himmelsfeuer lassen auch an den Stellen das Demonstrativum vermuten, wo es in E nicht steht.» 230 Nun ist das Demonstrativum in LD I.3 mit Ausnahme der Übersetzung von FL VI.29: 490,28 (VI.29,39, entspricht LD I.3,24/ Rev. Bd. II.2, S. 449,20 bzw. LG I.3,36) überall dort vorhanden, wo ›Lux divinitatis‹ nahe am deutschen Text bleibt. N eumann verzichtet in diesem Fall auf die Herstellung des formalen Gleichlaufs der Sätze mit der Begründung: «Ob Mechthild ganz konsequent verfuhr, oder ob der Übersetzer an einigen Stellen von sich aus ein Demonstrativum einführte, bleibt offen; immerhin sind in E auch sonst mehrfach Störungen zu erwartender Parallelismen festzustellen.» 231 Doch 46 Einleitung durchgehend überarbeitet worden sein. Dass auch die Herstellung von formalem Parallelismus zu dieser Überarbeitung gehörte, bleibt unerwähnt. 225 N eumann (1993), S. 134. 226 Vgl. N eumann ebd. N eumann ergänzt den von B gebotenen Passus in Anlehnung an FL VII.1,69 (entspricht 528,4 bei V ollmann -P rofe ) mit und marter. 227 Vgl. etwa die Apparate zu FL I.44,66, II.25,86f., V.1.15f. und vielleicht auch zu V.4,43f. 228 N eumann (1990), S. XXV. Doch fanden nicht alle Lesarten von B im Apparat Berücksichtigung. Begründung: «Angesichts der zahllosen Willkürlichkeiten der Handschrift B ist die Angabe aller ihrer Varianten im Apparat der Edition nicht zu rechtfertigen.» Was geboten wird, ist «eine Auswahl textlich relevanter Lesarten», N eumann (1967), S. 45. 229 S. dazu R uh (1995a), S. 101. 230 N eumann (1993), S. 130, Anm. zu VI.29,4. (Sperrung von N eumann ). 231 N eumann ebd. Auf die Wiederherstellung des Parallelismus anhand des lateinischen Textes wird auch im Falle von FL I.3: 24,23f. (I.3,10f.) und I.29: 50,5f. (I.29,11) verzichtet, s. dazu N eumann (1993), S. 8 und S. 20. Anders geht N eumann bei FL V.8,11 vor. Hier <?page no="57"?> es ist gerade die hier angesprochene Erwartungshaltung, die N eumann immer wieder dazu verleitet, in den Text einzugreifen, ihn im Sinne der vermuteten mechthildischen Ausdrucksweise zu gestalten. Dadurch wird ein Element der Willkür in die von ihm entwickelte und höchst elaborierte Editionsmethode eingeschleust. 232 Kein geringer als S chröder - selbst ein überzeugter Verfechter der produktionsästhetisch orientierten Editionsphilologie - bringt es auf den Punkt, wohin eine solche Vorgehensweise führt: «Beobachtete Aussageweisen, Stilgewohnheiten, Bildgebrauch schießen zu einem Personalstil zusammen, den man überall bestätigt sehen möchte, auch dort, wo er zwar zu erwarten wäre, aber nicht manifest ist, falls man dem/ den Textzeugen Glauben schenkt.» 233 Dennoch gelte, laut Sch röder , der editorische Grundsatz: «Vor die Wahl gestellt zwischen dem Abschreiben von Abschreibern und einer Philologie, die sich in erster Linie Autor und Werk verpflichtet weiß, wird man mich immer auf der Seite der letzteren finden, selbst wenn ihre Diener manchmal geirrt haben» (ebd.). Aus einer solchen Haltung heraus lässt sich auch N eumann s Orientierung am Autortext erklären. Auch seine Überzeugung, man könnte Mechthilds Text aus der vorhandenen Überlieferung per emendationem bzw. per coniecturam erschließen, findet in dem von S chröder referierten Credo ihren eigentlichen Grund. Die Rückkoppelung editorischer Entscheidungen an eine Autorpersönlichkeit bzw. ihren usus scribendi erscheint aus mehreren Gründen problematisch. Von einer allgemein-methodischen Warte aus betrachtet lässt sich dazu Folgendes sagen: Dass wir den Großteil der kanonisch geltenden literarischen Texte des Mittelalters in Handschriften überliefert haben, die meist in geraumem zeitlichen Abstand zu ihrer Entstehung geschrieben wurden, ist eine Tatsache, mit der nicht nur der Herausgeber des ›Fließenden Lichts‹ zurecht kommen muss. Zwar lässt sich unter günstigen Bedingungen etwas Licht in die jeweilige Textgeschichte bringen, doch bleiben, wie es T homas B ein vor allem in Bezug auf die Minnesang-Überlieferung festgestellt hat, zwischen dem vermuteten Original und einer einigermaßen greifbaren Sternchenstufe immer noch Jahrzehnte unerschließbar. 234 Dennoch lesen wir - und das gilt nicht nur für den Minnesang, sondern gerade auch für das ›Fließende Licht‹ - die überlieferten Texte meistens unter einer produktionsorientierten Perspektive: Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 47 gilt es: «Trotz der Bezeugung in E, C, W ist des nicht ursprünglich, denn alle Parallelstellen dieses Kapitels zeigen dis (vgl. Z. 17, 25 und 36); das gleiche erweist der Text der ›Rev.‹», N eumann (1993), S. 87. Die E-Lesart wird von V ollmann -P rofe (2003), S. 336,9 beibehalten. 232 Dies zeigen auch die von E und der gesamten oberdeutschen Mechthild-Überlieferung unabhängigen Moskauer Bruchstücke: Eine Reihe von vor allem reimbedingten Konjekturen, die N eumann als zwingend notwendig (weil mechthildisch) vorkamen, findet hier keine Entsprechung, s. dazu Textabdruck und Apparat bei G anina / S quires (2010). 233 S chröder (1996/ 1999), S. 153. Dass man sich von einer Einstellung, die ästhetische Einheitlichkeit von allen Bereichen einer Dichtung einfordert, hüten muss, betont auch G erhardt (1991), S. 116 und weist auf die Gefahren einer solchen Vorgehensweise hin: Es kann vorkommen, dass man die Dichtung besser macht, als sie der Autor verfasst hat. 234 Vgl. B ein (2002a), S. 99. <?page no="58"?> «Wir interpretieren Lieder aus der Manesseschen Handschrift nicht als ästhetische Gegenstände des frühen 14. Jahrhunderts, sondern z.B. als Lieder Walthers von der Vogelweide oder Heinrichs von Morungen aus der Zeit von um 1200 oder 1220.» 235 Diese produktionsorientierte Sicht macht sich auch der dem Autor und seinem Werk verpflichtete Editor zueigen, wenn es darum geht, durch recensio, durch die kritische Durchsicht der Überlieferung, eine Handschrift zu bestimmen, die den postulierten Autortext nach seinem Urteil und gemessen an der vorhandenen Überlieferung am treuesten wiedergibt. Dadurch gerät er allerdings in einen hermeneutischen Zirkel: «Die Qualität der einzelnen Handschriften, ihr Authentizitätsgrad, soll festgestellt werden im Hinblick auf ein Original, das erst aus diesen Handschriften und nach dem Maßstab ihrer Originalität erschlossen werden kann.» 236 Der Zirkelschluss ist aber nicht nur bei der Auswahl der besten, der autornächsten Handschrift, sondern auch bei der Rekonstruktion des ursprünglichen, dem vermuteten usus scribendi am nächsten stehenden Wortlauts vorprogrammiert, denn «wie können wir [den] ‹Willen des Urhebers› anders feststellen als aus der Deutung jener Texte, deren Authentizität wir doch erst bestimmen wollen? » 237 Zusätzlich erschwert wird die Bindung des iudicium an eine Autorintention und der damit einhergehende Anspruch, das Authentische zu identifizieren, gegenbenenfalls auch zu erschließen, durch ein Phänomen, das sich in der Text- und Überlieferungsgeschichte des ›Fließenden Lichts‹ immer wieder beobachten lässt. Ich meine die Nachahmung eines Schreibstils, der als ‹mechthildisch› empfunden wurde, eines Schreibens im ‹mechthildischen Ton›. Dazu einige Hinweise: Formaler Parallelismus und Kolonreim waren für N eumann einige der wichtigsten stilistischen Spezifika mechthildischen Schreibens, die ihm als Orientierungspunkte dienten, seine Version des ›Fließenden Lichts‹ zu konstituieren. Dass er mit dieser Einschätzung des ‹typisch Mechthildischen› nicht allein steht, zeigt auch die Neigung des B-Redaktors zur Herstellung von Parallelitäten, sei es im Dienste einer postulierten mechthildischen Schreibweise oder - will man diese Schreibweise nicht gleich personalisieren - eines Stilideals, das nach seinem Empfinden in der ihm vorliegenden Überlieferung nur unzureichend realisiert ist (s. oben). Auch den lateinischen Übersetzern des ›Fließenden Lichts‹ wird man eine gewisse Affinität für die stilistischen Eigentümlichkeiten ihrer Vorlage unterstellen dürfen. Es lässt sich bei ihnen die Bestrebung nachweisen, den Kolonreim mittels cursus ins Lateinische hinüber zu retten. Ja, mehr noch: Der Kolonreim wird selbst dort durchgeführt - die oben genannten Beispiele LD V.23, 48 Einleitung 235 B ein ebd. Dabei handelt es sich um ein «grundsätzliches Problem» der mediävistischen Literaturwissenschaft. H ausmann (2005), S. 748 zufolge resultiert dies daraus, dass es nach wie vor unklar ist, «wie ein im wesentlichen produktionsästhetisches Interpretationskonzept, das auf Vorstellungen wie Autorschaft und Autortext beruht, auf mittelalterliche Überlieferungsverhältnisse angewendet werden kann, welche kaum jemals einen Autortext bieten, sondern variant überlieferte Fassungen.» 236 H ilgers (1973), S. 12. 237 M artens (2004), S. 48. <?page no="59"?> 10f. und IV.50,28f. belegen dies (s. S. 44) -, wo er im deutschen Text nicht auftaucht, aber - unterstellt man Mechthild eine konsequente Handhabung rhetorischer Kunstregeln - zu erwarten wäre. 238 Es ist nicht auszuschließen, dass stilistische Glättung und Vereinheitlichung im Sinne der im ›Fließenden Licht‹ sonst beobachteten Schreibtendenzen auch dort eine Rolle gespielt haben, wo die deutsche Überlieferung einen gestörten, oder vorsichtiger formuliert, nicht realisierten formalen Parallelismus nahe legt, der im lateinischen Überlieferungszweig indes behoben zu sein scheint (s. dazu die Ausführungen zu LD V.4,8f., V.17,2 und V.21,22f. oben auf S. 45). Ein «gewisses Bewußtsein für formale und stilistische Feinheiten» vor allem in Bezug auf den Kolonreim lässt sich auch bei der alemannischen Rückübersetzung der ›Lux divinitatis‹ feststellen. 239 Dasselbe trifft auf die Vorgehensweise Dietrichs von Apolda bei der Konstitution ‹seines› Mechthild-Textes zu: Dietrich hat erkannt, dass seine ›Lux divinitatis‹-Handschrift Reime aufwies, und «hat diese in seiner veränderten Wortwahl reichlich nachzubilden versucht.» 240 Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang auch auf die Marginalie semper salutem optarem zu LD VI.22,9f. (Rev. Bd. II.2, S. 640,32f.) quorum si uiuerem, die vom Korrektor von Rb eigenständig eingefügt wurde. 241 Das hier beschriebene Phänomen lässt sich nicht nur in der lateinischen Überlieferung beobachten, sondern auch mit einem der Zitate Heinrichs von Nördlingen belegen. Im Brief Nr. XLVIII greift Heinrich auf FL V.6 zurück und exzerpiert die auf eine Doxologie hinauslaufenden Anrufungssätze. Diese Anrufungen sind an die einzelnen Personen der Trinität adressiert und laufen nach dem gleichen Schema ab. Ich zitiere nach E: Herre ewiger vatter, wan ich aller menschen unwirdigeste p ch us dinem herzen gevlossen bin geistlich und ich, herre Jhesu Christe, geborn bin us diner siten vleischlich und ich, herre got und mensche, mit úwer beder geist gereineget bin (FL V.6: 334,7-10 [V.6,5-9]). Nicht nur wegen der Satzstruktur, auch wegen des Kolonreims wäre am Ende des letzten Anrufungssatzes ein Adjektiv zu erwarten, das die Art des subjektiven Betroffenseins des Ich-Sprechers umschreibt. Tatsächlich findet man ein solches Adjektiv bei Heinrich belegt: meinigklich. 242 Kolonreime, die über die in E (wenn auch in verschütteter Form) enthaltenen hinausgehen, bieten auch Ha mit betwungen: worden (FL I.1: 20,10f. [I.1,18]), M 1 mit bl v t: g v t (FL I.1: 20,14 [I.1,20f.]), S mit minnet: beginnet (FL I.10: 32,28f. [I.10,6]). Dazu kommt vielleicht die Zeile Glosa: das ist úber Seraphin, die FL I.9 abschließt (32,16f. [I.9,4]) und auf vorangehendes h o hin reimt: Sie ist allein im westoberdeutschen Überlieferungszweig enthalten und dürfte frühestens mit *ECW in den Text gedrungen sein. 243 Zu verweisen wäre aber auch auf die wieder aufgefundene Radowitz-Handschrift (s. dazu S. 171f. weiter unten) oder auf das erste Prooemium. Letzteres Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 49 238 Vgl. V ollmann -P rofe (2000), S. 152 und S enne (2004), S. 148. 239 S. dazu S enne (2002), S. 62f. 240 S. dazu S tierling (1907), S. 10. 241 Der Grund für diese Ergänzung dürfte Textausfall gewesen sein, denn der zweite Teil des Satzes ist in der von Rb unabhängigen Handschrift Rw enthalten: vnder welcher fúeß ich mich vnderwerffen wolt solt ich lenger leben (LG VI.22,16f.). Der Rw-Text aber entspricht ziemlich genau FL VI.28: 486,24f. (VI.28,16f.): blibe ich langer hie, ich w o lte mich under ir f u sse legen. 242 Vgl. S trauch (1882), S. 256,13 (Brief XLVIII). 243 Vgl. Apparat zu FL I.9,4 (entspricht 32,16f. bei V ollmann -P rofe ) und Stemma bei N eu mann (1990), S. XIII. V ollmann -P rofe (2003), S. 710 ist indes der Ansicht: «Möglicherweise späterer Zusatz, aber doch wohl auf M. zurückgehend.» <?page no="60"?> endet mit der wahrscheinlich erst in der Basler Überlieferung in den Text geratenen Lektüreempfehlung Alle, die dis b v ch wellen vernemen, die s o llent es ze nún malen lesen (18,6f., s. dazu S. 145f. weiter unten). N eumann bewertet die Authentizität der genannten Belege - sie erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit - ganz unterschiedlich. Wird im Falle von B und der lateinischen Übersetzung die Echtheit der gebotenen Varianten erwogen, stellenweise sogar als erwiesen angesehen (zu FL I.9 äußert sich N eumann nicht), gelten die Belege aus Heinrichs Korrespondenz und den drei Exzerpthandschriften Ha, M 1 und S nur als ‹charakteristisch› (im Sinne der Prinzipien der Apparatgestaltung), 244 aber keineswegs als authentisch. Der Grund liegt darin, dass N eumann Heinrich von Nördlingen und der späteren Exzerptüberlieferung des ›Fließenden Lichts‹ wenig zutraut, was textkritisch ein Wert hat. Und man wird wohl nicht bestreiten können, dass zumindest die oben angeführten Belege aus Ha und M 1 Sekundärlesarten darstellen. Die Frage, was echt oder unecht ist, ist indes nicht der Punkt, auf den es mir ankommt. Wie der moderne Interpret Mechthilds, der anhand von immer wieder beobachteten Stilphänomenen Vermutungen über den usus scribendi des Autors anstellt und diese im Einzelfall auch bestätigt sehen möchte, haben mittelalterliche Rezipienten ihre Vorstellungen von der Arbeitsweise des Autors oder, vorsichtiger formuliert, von einem anzustrebenden Stilideal in die Konstitution der je eigenen Textversion einfließen lassen, wie es beispielsweise an den hergestellten Kolonreimen und Parallelismen abzulesen ist. 245 Mögen wir auch unter günstigen Überlieferungsbedingungen zwischen Primär- und Sekundärvarianten unterscheiden, angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der die textliche Oberfläche im Dienste eines bestimmten Stilempfindens geglättet und vereinheitlicht wird, muss jedoch eine gewisse Skepsis in Bezug auf die zweifelsfreie Identifizierung eines «personalen Ausdruckswillens», der sich in der «Diktion der Sprache, ihre[r] rhythmischen Bewegung, ihr[em] Klang» 246 manifestiert, übrig bleiben. Auf jeden Fall zeigen die angeführten Beispiele die 50 Einleitung 244 So hält N eumann (1993), S. 87 meinigklich für einen Zusatz, der zusammen mit den anderen Varianten in Heinrichs Brief eine «stilistische Änderung» darstellt und lediglich «dem rhetorischen Aufputz seiner geistlichen Diktion» dient. 245 Zusätzlich zu den oben genannten Belegen liefern die vom Redaktor herrührenden Zusätze in B weitere illustrative Beispiele für das ‹Schreiben im mechthildischen Ton›, s. Apparat zu FL II.25,86f. und 134 bei N eumann (1990) und den Textabdruck bei N eu mann (1993), S. 283, Z. 213f. und S. 284, Z. 238-241: Hier wird der Text unter der Verwendung des ‹mechthildischen› Vokabulars fortgeschrieben, s. V izkelety / K ornrumpf (1968), S. 285. Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang auch auf das um die Mitte des 14. Jahrhunderts möglicherweise in Engelthal entstandene mystische Gedicht ›Der Minne Spiegel‹, das mit seinen zahlreichen Anspielungen und Entlehnungen aus dem ›Fließenden Licht‹ «Zeuge einer sehr lebendigen Nachwirkung der älteren dt. Frauenmystik des 13. Jahrhunderts durch die Mechthildübertragung der Basler Gottesfreunde» ist, s. N eumann (1955), Sp. 688. 246 R uh (1993), S. 284. <?page no="61"?> Grenzen einer Konjekturalkritik auf, die sich als Anwalt des Autors (auch gegen die Überlieferung) versteht. Unter diesen Umständen wird die Rückkoppelung editorischer Entscheidungen an eine Autorpersönlichkeit bzw. ihren usus scribendi zu einer methodisch heiklen Angelegenheit. Und man fragt sich angesichts der in der Mechthild-Überlieferung feststellbaren Praxis der Glättung und Vereinheitlichung im Dienste eines Stilideals, das seitens der Rezipienten als ‹mechthildisch› empfunden wurde, und im Hinblick auf die von G ottschall (s. oben Anm. 159 mit Text) gemachten Beobachtungen, ob nicht auch die alemannischen Übersetzer Mechthilds im Sinne der beobachteten stilistischen Phänomene hier und da nachgebessert haben könnten, 247 so wie es auch N eumann bei der Konstitution seiner eigenen Version des mechthildischen Textes tut, um das ästhetische Erlebnis und den schönen Klang in ihrem eigenen Dialekt und für den avisierten Rezipientenkreis erlebbar werden zu lassen. 248 In der Tat kann Heinrich von Nördlingen, in dessen Umfeld die Übertragung erfolgt sein muss, eine gewisse Affinität für die ästhetischen Qualitäten des ›Fließenden Lichts‹ nicht abgestritten werden, apostrophiert er doch das buch des von ihm zutiefst bewunderten grosz gotzfründ 249 als das lustigistz tützsch und das innerlichst rürend minenschosz, das er in tützscher sprach je gelesen hat. 250 Ob die sich in diesen Worten artikulierende Bewunderung der im fremden tützsch geschriebenen Vorlage oder der bereits alemannisch vorliegenden Übersetzung gilt, ist hier nicht zu entscheiden. Jedenfalls dürfte das ›Fließende Licht‹ seine rasche Verbreitung im oberdeutschen Raum der sprachlich und stilistisch ansprechenden Überführung des mittelniederdeutschen Textes ins Alemannische verdankt haben. 251 Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 51 247 Auch S chwarz -M ehrens (1985), S. 18, Anm. 1 stellt mit Hinblick auf die Reimprosa des ›Fließenden Lichts‹ fest: «Welchen Anteil die oberdeutsche Übertragung hieran hat, muß offenbleiben.» 248 Vgl. dazu J.-D. M üller (1999), S. 158. M üller macht gegenüber ursprungsmythischen Konnotationen von Autorschaft, vom Autor als der ‹reinen Quelle› folgenden Einwand geltend: «Nicht nur sind angesichts der Überlieferungspraxis die Worte des ersten Verfassers in der Regel nicht erreichbar, es darf auch nicht vorausgesetzt werden, daß sie als die ›originalen‹ auch die besten sind. […] sie können ›verbessert‹ werden». Zum Phänomen s. auch S chubert (2003), S. 137f. 249 Vgl. S trauch (1882), S. 257,44 (Brief XLVIII). Wenn Heinrich von Nördlingen auf das ›Fließende Licht‹ zu sprechen kommt, nennt er Mechthild nie beim Namen, sondern spricht von der junckfroulicher himelscher orgelkunigin, durch die got ditz himelschs gesang hat usz gesprochen (S trauch 1882, S. 246,128-130, Brief XLIII) oder von einer hoch gezogner sel in got (S trauch 1882, S. 257,23f., Brief XLVIII). S. dazu auch S. 328ff. weiter unten. 250 Vgl. S trauch (1882), S. 246,117-121 (Brief XLIII). 251 Angesichts der nur sporadisch erfolgten oberdeutschen Rezeption von Texten aus dem niderlant, allen voran aus dem niederländischen Raum, vermutet W illiams -K rapp (2006), S. 65, ihre ausgebliebene Breitenwirkung könnte daran gescheitert haben, dass sie keine so einfühlsamen Übersetzer wie etwa das ›Fließende Licht‹ gefunden haben. <?page no="62"?> Die vorangehenden Ausführungen zeigen die methodischen Probleme, die mit dem von N eumann verfolgten Editionsziel und der von ihm gewählten Vorgehensweise verbunden sind. Die Probleme resultieren nicht allein aus der Art und Weise, wie die Überlieferung editorisch aufbereitet wird. Vielmehr wurzeln sie in der Überlieferung selbst, die wegen ihrer vielen Unabwägbarkeiten sowohl die Rekonstruktion des Autortextes erschwert, als auch die Unterscheidung zwischen echt und unecht als eine kaum zulässige Kategorie der Textkonstitution erscheinen lässt. Deshalb stellt sich die Frage: «Wenn er [der Autortext] aber, was niemand bezweifelt, unerreichbar ist, warum muß dann daran festgehalten werden? Könnte man nicht auch im oberdeutschen Gebrauchstext das Editionsziel erblicken? » 252 Dieser von K urt R uh erhobenen Forderung nach einer Gebrauchsausgabe ist V ollmann -P rofe vor einigen Jahren nachgekommen. Wie schon N eumann gründet V ollmann -P rofe ihre Ausgabe auf die Einsiedler Handschrift. Diese erfährt bei ihr allerdings eine andere Bewertung. War die Handschrift bei N eumann nur Instrument zur Annäherung ans Original, so erlangt sie hier einen Eigenwert. V ollmann -P rofe sieht ihre Aufgabe als Editorin darin, «diesen späten Textzeugen, dem die Spuren eines langen Weges der ‹Buchwerdung› und einer schwer durchschaubaren Überlieferungsgeschichte irreversibel eingeprägt sind, in seiner vorliegenden Gestalt zu dokumentieren. Denn E ist der einzige Textzeuge, in dem Mechthilds Werk als ganzes auf uns gekommen ist, und er repräsentiert […] die Form, von der wir sagen können, daß Mechthilds Schrift […] in ihr volkssprachlich rezipiert wurde und gewirkt hat.» 253 Aus einer solch veränderten editorischen Zielsetzung erklärt sich, dass die methodischen Probleme, die mit der N eumann schen Autorausgabe verbunden waren, hier vermieden werden. So werden aus stilistischen Überlegungen heraus vorgenommene Konjekturen nicht übernommen. Dies betrifft nicht nur stilistische Unebenheiten, die N eumann Mechthild nicht so recht zutrauen wollte, 254 sondern auch den formalen Parallelismus. 255 Zudem wird auf die Wiederher- 52 Einleitung 252 R uh (1995a), S. 98. 253 V ollmann -P rofe (2003), S. 682. Der selbst gesetzte Anspruch, Mechthilds Werk in seiner in E greifbaren Gestalt zu dokumentieren, bezieht sich allerdings nur für das Corpus der sieben Bücher. Die Marginalien dagegen werden (wohl aus typographischen Gründen) trotz ihres hohen Alters (s. dazu Kap. II.1.2) gänzlich übergangen. Wohl findet man sie (auf den Vorschlag von V ollmann -P rofe ) bei N eumann (1993), S. 209-232 abgedruckt, doch erscheinen sie nicht an den von der Handschrift vorgesehenen Stellen platziert, sondern in den Untersuchungsband ‹abgeschoben›, vgl. R uh (1995), S. 102 und S enne (2002), S. 22. 254 Es gibt indes eine Stelle, wo eine Konjektur, die N eumann aus stilistischen Gründen als notwendig erschien, stehen geblieben ist. Handschriftliches sanfte musste bei N eumann in FL VI.16,8 der C-Lesart snelle weichen. N eumann (1993), S. 122 vermutete eine mechanische Wiederholung des vorangehenden Adjektivs, «während C sicher das Echte überliefert.» V ollmann -P rofe (2003), S. 468,10 übernimmt die Verbesserung nach C, ohne indes den Leser über deren Provenienz aufzuklären. 255 Hier gibt es wieder Ausnahmen, wo Ergänzungen aus Analogiegründen bzw. wegen der vorauszusetzenden Parallelität der Sätze vorgenommen wurden, s. FL II.7: 94,25f. (wie <?page no="63"?> stellung der Reime verzichtet, um den nach der Meinung von V ollmann - P rofe für die literarische Situation im Basel des 14. Jahrhunderts nicht uninteressanten Befund nicht zu verunklären, der Reimschmuck wäre den Übersetzern ins Oberdeutsche gleichgültig gewesen. Denn «gerade die Leichtigkeit, mit der sich die Kolonreime an manchen Stellen wiederherstellen lassen, [zeige,] daß nicht etwa übersetzungbedingte Schwierigkeiten den Verzicht auf den formalen Schmuck erzwangen.» 256 Dazu muss indes angemerkt werden, dass es zwar begrüßenswert ist, dass sich V ollmann -P rofe bei der Textkonstitution auf mehr oder weniger überzeugende Spekulationen bezüglich des Reimgebrauchs nicht einlässt, doch sollte der Befund etwas differenzierter bewertet werden. V ollmann -P rofe gründet ihr Urteil auf den von N eumann konstituierten Text. N eumann hat allerdings - weil vom präsupponierten Personalstil geleitet - Mechthild einen viel konsequenteren Reimwillen zugeschrieben, als dies womöglich der Fall war. 257 Zudem darf nicht übersehen werden, dass die Parallelüberlieferung, deren Handschriften einer Textstufe zugehören, die vor E liegt, 258 immer wieder Kolonreime bietet, die es in E nicht oder nicht mehr gibt. 259 Freilich stellt sich, wie wir es oben gesehen haben, im Einzelfall immer wieder die Frage, ob es sich um Herstellung oder Wiederherstellung handelt, ob also Vorhandenes reproduziert oder Nicht-Vorhandenes im Sinne eines bestimmten Stilempfindens, das wir ‹mechthildisch› zu nennen pflegen, seitens der Schreiber und Redaktoren kompensiert wird. Die Neuausgabe des ›Fließenden Lichts‹ tritt mit dem erklärten Ziel auf, die Einsiedler Handschrift in ihrer vorliegenden Gestalt zu dokumentieren. Das bedeutet indes nicht, dass die Leithandschrift für V ollmann -P rofe unantastbar ist. 260 So werden Korruptelen korrigiert, falls ein offensichtlicher Schreibfehler vorliegt oder wenn der Sinn der Aussage beeinträchtigt erscheint. Dabei Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 53 II.7,11f.) - VI.23: 480,23 (anders VI.23,16 mit Anm.) - VI.28: 486,16 und 19 (wie VI.28,10 und 12) - VI.38: 510,17 (wie VI.38,12) - VI.4: 438,23 (wie VI.4,26). 256 V ollmann -P rofe (2003), S. 683. 257 Zu den oben (S. 43ff.) genannten Beispielen kämen etwa folgende hinzu: FL I.6,9 und 12, I.22,68, II.6,7, II.24,84 u.ö. 258 Das heißt, dass keiner der überlieferten Textzeugen von E abgeleitet werden kann. Offen bleibt dabei die Stellung der kleineren Mechthild-Exzerpte. Ihr Umfang erlaubt keine sicheren Rückschlüsse darauf, ob ihre Vorlagen jünger oder älter als die Vorlage von E waren, s. V ölker (1967), S. 48. N eumann (1954c), S. 167 und (1967), S. 44f. ist dagegen der Ansicht, der Vergleich mit der fragmentarischen Überlieferung mit E zeige, dass alle Textzeugen von früheren Stufen der alemannischen Fassung abzweigen. Dies gilt auch für die neu aufgefundene Radowitz-Handschrift, s. S. 165ff. weiter unten. 259 Vgl. in der N eumann schen Ausgabe das Apparat zu FL I.1,8 (S), FL I.1,29 (B), FL I.43,3 (W), FL I.44,11 (W, B), FL I.44,66 (B), FL II.19,27 und 48f. (C), FL II.24,41 (C), FL II.25,32 (C), FL II.25,68 (B, MSp), FL II.25,85 (B, C) und R zu FL III.10,24f., zu diesem letzten Beispiel s. S. 171 weiter unten sowie S. 78, App. zu R 7. Zu vergleichen wäre auch Mo, s. Textbadruck bei G anina / S quires (2010). 260 Völlig unzutreffend ist die Ansicht von L ückel (2005), S. 181, wonach V ollmann -P rofe «auf eine vollständige Akzeptanz der Übertragung aus dem 14. Jahrhundert» setzt. <?page no="64"?> handelt es sich meistens um an der Parallelüberlieferung orientierte Konjekturen, die V ollmann -P rofe der N eumann schen Ausgabe verdankt. 261 Öfters werden zudem Korrekturen in den Text hineingenommen, die N eumann - erschien ihm eine Textstelle als hoffnungslos verderbt und mit editorischen Mitteln kaum mehr reparierbar - im Anmerkungsband zur Diskussion gestellt hat. 262 Die Neuedition enthält aber auch Besserungen, die über die von N eu mann vorgenommenen hinausgehen. Für manche von ihnen zeichnet sich V ollmann -P rofe verantwortlich, 263 andere übernimmt sie aus der älteren Forschung, allen voran von K ornrumpf , 264 deren Korrekturvorschläge in die Anmerkungen der N eumann schen Ausgabe nicht konsequent eingearbeitet zu sein scheinen. 265 Das eigentliche Ziel der Neuausgabe ist wohl darin zu sehen, einen gut lesbaren und verständlichen Text vorzulegen. Diese Zielsetzung ist insofern auch berechtigt, als es sich um eine für weitere Rezipientenkreise bestimmte Leseausgabe handelt, die den wissenschaftlichen Anspruch zwar nicht vermissen lässt, dem Leser aber «ein hohes Maß an Vertrauen abverlangt», 266 vor allem was die Konjekturen betrifft. Bei aller Abhängigkeit von N eumann , zu der sich V ollmann -P rofe offen bekennt, 267 geht die Neuedition zuweilen eigene Wege. Für die textkritische Auseinandersetzung mit dem ›Fließenden Licht‹ bleibt die alte Ausgabe indes unverzichtbar, weil die neue, wie meine punktuellen Hinweise gezeigt haben, den Leser immer wieder allein lässt, wenn er sich über die Provenienz so mancher Eingriffe in den überlieferten Text Klarheit verschaffen möchte. 268 Gerade 54 Einleitung 261 Diese Verbesserungen werden meistens im Kommentarteil erläutert, doch ist dies nicht immer der Fall, so dass man auf die Ausgabe N eumann s angewiesen ist, will man sich Klarheit über einzelne Lesarten verschaffen, vgl. etwa FL V.4: 324,19 und V.4,1 - V.9: 338,22 und V.9,11 - V.9: 340,17 und V.9,28 - V.22: 358,13 und V.22,5 - VI.6: 442,2 und VI.6,5 - V.24: 382,6 (Kursivierung fehlt! ) und V.24,61 - VI.38: 510,1f. (Kursivierung fehlt! ) und VI.38,1 usw. 262 Vgl. FL IV.6: 252,20 und N eumann (1993), S. 69, Anm. zu IV.6,4 - V.19: 356,1 und N eu mann (1993), S. 92, Anm. zu V.19,27f. - VI.31: 494,14 und App. zu VI.31,23. Nicht übernommen wurden u.a. N eumann (1993), S. 85, Anm. zu V.4,35 (s. 328,2) sowie N eumann (1993), S. 139, Anm. zu VI.37,21 (s. 506,19) usw. 263 Leider fehlt auch in diesen Fällen oft der Kommentar, vgl. FL V.11: 342,21 und V.11,22 - V.25: 384,8 und V.25,7 - V.26: 386,20 und V.26,14 - V.23: 364,1 und V.23,19 - VI.39: 512,22 und VI.39,18 usw. 264 Vgl. FL I.44: 64,14 mit Anm. - II.25: 128,28 mit Anm. - V.1: 320,28 mit Anm. - V.13: 348,2 (Anmerkung fehlt), vgl. dazu N eumann (1993), S. 89, Anm. zu V.13,8. 265 Vgl. etwa V izkelety / K ornrumpf (1968), S. 295 (zu FL V.4: 328,34f. [V.4,60]), S. 296 (zu IV.12: 262,37f. [IV.12,82], II.25: 128,34 [II.25,49], III.22: 216,17f. [III.22,12], IV.12: 264,29f. [IV.12,106]) usw. 266 G ottschall (2005), S. 304. 267 Vgl. V ollmann -P rofe (2003), S. 682. 268 Das betonen auch die Rezensenten P almer (2003), S. 170, G ottschall (2005), S. 304, S chröder (2005), S. 303 sowie A ndersen (2007), S. 34. Angesichts der Einschränkungen, denen sich der Editor bezüglich der Apparatgestaltung bei der Reihe ‹Bibliothek des Mittelalters› des Deutschen Klassiker Verlags unterwerfen muss, fordert auch J. H einzle (1993), <?page no="65"?> diese Eingriffe zeigen, dass V ollmann -P rofe der Mut zur Konjektur keineswegs fehlt. Das verwundert insofern, als die von ihr verfassten Prolegomena zur textkritischen Ausgabe von N eumann auf eine eher distanzierte Haltung gegenüber der Konjekturalkritik schließen lassen. Man liest hier, in die Konjekturen hätten sowohl Ergebnisse der älteren Forschung als auch Verbesserungsvorschläge Eingang gefunden, «die dem Herausgeber aufgrund seines langen Umgangs mit dem Text notwendig zu sein s c h e i n e n.» 269 Die sich hier artikulierende Zurückhaltung speist sich mit Sicherheit aus der Erkenntnis der methodischen Schwierigkeiten, die mit dem emphatischen Argument des Mechthildischen als Richtschnur editorischer Entscheidungen verbunden sind. Erwartungsgemäß lautet eine der leitenden Editionsprinzipien der neuen Ausgabe: «Zweitens werden Varianten der Parallelüberlieferung auch dann nicht übernommen, wenn sie wahrscheinlich oder sicher das Ursprüngliche bieten.» 270 Für die konkrete Arbeit mit dem Text bedeutet das, der Vorrang soll dem Überlieferten gelten, insofern dies einen guten Sinn ergibt. 271 Zwar erteilt die Neuausgabe der Suche nach dem Original eine deutliche Absage und tritt stattdessen mit dem Anspruch auf, das Vorliegende zu dokumentieren. Problematisch erscheint mir jedoch der in den Anmerkungen immer wieder anzutreffende Hinweis, das in E Überlieferte entspräche dem Ursprünglichen wohl kaum, worauf unmittelbar danach die Parallelüberlieferung oder eine Konjektur N eumann s zitiert wird, die das «wohl Ursprüngliche» bieten. 272 Im Kommentarteil wird demnach genau das zurückgenommen, was in der Einleitung der Ausgabe als editorisches Programm formuliert wurde. Und es ist nur konsequent, wenn W erner S chröder in seiner von Polemik keineswegs freien Rezension V ollmann -P rofe vorwirft: «Etwas für ursprünglich Gehaltenes und sogar vom Sinn Gebotenes muß dem hergestellten Text fernbleiben, weil der dürftige Schreiber E es nicht hat! » 273 Dieses in der Neuausgabe zwischen dem methodologischen und praktischen Teil bestehende Spannungsverhältnis resultiert meiner Ansicht nach aus der Kontami- Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 55 S. 56, der Apparat sollte «mindestens die gebesserte Lesung der Leithandschrift angeben und […] über die Bezeugung bzw. die Herkunft der Besserung informieren.» Allerdings handelt es sich dabei um nichts mehr als ein «Mindestprogramm.» Es kann jedoch zufrieden stellen, hebt J. H einzle hervor - und das spricht für die von V ollmann -P rofe gewählte Vorgehensweise -, wenn es bereits eine Ausgabe gibt, die den Leser über alle ihn interessierenden Varianten informiert. 269 N eumann (1990), S. XXI (Sperrung von mir). 270 V ollmann -P rofe (2003), S. 683. 271 Vgl. etwa V ollmann -P rofe (2003), S. 707, Anm. zu 22,30f. (FL I.2) - ebd., S. 709, Anm. zu 28,5 (FL I.5) - ebd., S. 712, Anm. zu 36,27 (FL I.19) - ebd., S. 714, Anm. zu 38,27 (FL I.22) - ebd., S. 739f., Anm. zu 116,27f. (FL II.23) - ebd., S. 761f., Anm. zu 204,11f. (FL III.19) usw. 272 Vgl. etwa V ollmann -P rofe (2003), S. 705, Anm. zu 18,25 (FL I.1) - ebd., S. 707, Anm. zu 22,20 (FL I.2) - ebd., S. 720, Anm. zu 58,28 (FL I.44) - ebd., S. 721, Anm. zu 62,33 (FL I.44) - ebd., S. 806, Anm. zu 384,14 (FL V.25) — ebd., S. 815, Anm. zu 442,8 (FL VI.6) usw. 273 S chröder (2005), S. 302. <?page no="66"?> nation zweier Sicht- und Vorgehensweisen, die auseinander gehalten werden sollten. Gemeint ist die rezeptionsorientierte Methode des Editors und die produktionsästhetische Perspektive des Interpreten. Die Spuren dieser Kontamination erkennt man bei V ollmann -P rofe immer wieder. Dazu folgende Hinweise: Die Orientierung am überlieferten und historisch tatsächlich rezipierten Text führt in der Neuausgabe dazu, dass diejenigen Konjekturen nicht übernommen werden, die N eumann aus sprachhistorischen und dialektgeographischen Gründen vorgenommen hat, um - wie es in den Prolegomena der kritischen Ausgabe heißt - «wenigstens indirekt einen Eindruck von der ursprünglichen mittelniederdeutschen Sprachform zu vermitteln.» 274 Selbst wenn V ollmann -P rofe das Überlieferte nicht an den Kriterien des Echten und Ursprünglichen misst, verzichtet sie an manchen Stellen doch nicht darauf, eigene, an mittelniederdeutschen Wortformen orientierte Korrekturen anzubringen. So wird über N eumann (vgl. FL V.22,38) hinausgehend und im Rückgriff auf die lateinische Überlieferung (LD V.8,27/ Rev. Bd. II.2, S. 595,36) handschriftliches g o tlich in g u tlich (360,26) konjiziert. Die Begründung lautet: «Die Rev. geben mit pietatis opera »fromme Werke« sicher das ursprünglich Gemeinte wieder: g o tlich ist mißverstandenes mnd. gotlik »gut«.» 275 Aus denselben Gründen und in Anlehnung an einen von N eumann erwogenen Korrekturvorschlag wird einige Zeilen weiter nothaftlich in nutzhaftlich geändert (FL V.22: 360,31): «hier haben die [alemannischen] Übersetzer mnd. nuthaftich »nützlich«, »brauchbar« mißverstanden.» 276 Es fällt zudem auf, dass V ollmann -P rofe Stellen, die für N eumann sekundären Charakter hatten, immer wieder für möglicherweise mechthildisch erklärt. Zu dem in S und der lateinischen Tradition (LD IV.8/ Rev. Bd. II.2, S. 546) fehlenden Schlusssatz von FL I.9 (32,16f. [I.9,4]) wird vermerkt: «Möglicherweise späterer Zusatz, aber doch wohl auf M. zurückgehend.» 277 FL III.9,15 setzt N eumann in eckige Klammen, weil es sich «gewiß» 278 um einen jüngeren Einschub handelt. V ollmann -P rofe ist dagegen der Ansicht: «doch kann der Text sehr gut ursprünglich sein.» 279 Auch und lip bzw. der vorangehende glossenartige Zusatz das ist des menschen sele in FL VII.62,48 wird von N eumann in Zweifel gezogen, wohingegen V ollmann -P rofe meint: «doch ist letzteres gut 56 Einleitung 274 N eumann (1990), S. XXI. 275 V ollmann -P rofe (2003), S. 801, Anm. zu 360,25f. 276 V ollmann -P rofe (2003), S. 801, vgl. dazu N eumann (1993), S. 94f., Anm. zu V.22,42. Weitere Beispiele: FL II.21: 112,4 (s. dazu Anm. auf S. 738), IV.2: 232,34 und 234,18 (beidesmal heling in Anlehnung an md. helinc, vgl. ebd., S. 770) sowie III.20: 204,28 (handschriftliches us konserviert die mittelniederdeutsche Form, vgl. ebd., S. 762). 277 V ollmann -P rofe (2003), S. 710, Anm. zu 32,16f. N eumann hat zwar nur das Fehlen des Passus in der Parallelüberlieferung notiert, ohne sich über seine Echtheit zu äußern. Doch dürfte er ihm wohl unecht erschienen sein, denn er schreibt in einem vergleichbaren Fall: «Das Fehlen in W und Rb legt es nahe, an einen Zusatz von E zu denken», s. N eumann (1993), S. 58, Anm. zu III.10,38f. V ollmann -P rofe scheint ihrerseits an der Authentizität der letztgenannten Stelle keine Bedenken zu hegen, denn sie lässt sie unkommentiert passieren, vgl. 184,24. 278 N eumann (1993), S. 55. 279 V ollmann -P rofe (2003), S. 755, Anm. zu 174,27f. <?page no="67"?> mechthildisch.» 280 Auch sonst formuliert V ollmann -P rofe , dies oder das sei für Mechthild ganz untypisch, 281 anderes dürfte man ihr dagegen doch wohl zutrauen, 282 weil es ihrem Sprachgebrauch entspräche. 283 In diesen Zusammenhängen kommt das von N eumann her bekannte Argument der Parallelstellen immer wieder zum Einsatz, zwar nicht als textkonstitutives Element, 284 so doch als Beleg zum Erweis der inhaltlichen Authentizität der zur Diskussion stehenden Lesart. In diesen Rahmen fügen sich auch die Anmerkungen, in denen die Unechtheit bestimmter Stellen erwogen bzw. nachgewiesen wird. 285 Zu fragen ist also, wie sich eine letztendlich an den Merkmalen ‹echt/ unecht› orientierte Argumentation mit dem Anspruch, das ›Fließende Licht‹ in seiner überlieferten Gestalt zu dokumentieren, vereinbaren lässt. Wohl ediert V oll mann -P rofe das ›Fließende Licht‹ mehr oder weniger in der Gestalt, wie es in der Einsiedler Handschrift enthalten ist, doch interpretiert sie es nicht als Produkt der Überlieferung, sondern als das Werk Mechthilds von Magdeburg. Kontaminiert werden bei V ollmann -P rofe aber nicht nur zwei unterschiedliche Erkenntnisinteressen, und zwar das produktionsästhetische mit dem rezeptionsorientierten, sondern auch die beiden Überlieferungszweige des ›Fließenden Lichts‹. Da V ollmann -P rofe bezüglich des textgeschichtlichen Status der lateinischen Übersetzung die Ansichten N eumann s und der gesamten Forschung perpetuiert, wird auf diesen Punkt im Folgenden näher eingegangen. Bei der Herstellung eines kritischen deutschen Textes hat die ›Lux divinitatis‹ schon immer eine wichtige Rolle gespielt, wie es etwa den betont textkritisch orientierten Arbeiten von S tierling (1907) und B ecker (1951) zu entnehmen ist. 286 Auch N eumann zieht die lateinische Übersetzung im Apparat und An- Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 57 280 V ollmann -P rofe (2003), S. 853, Anm. zu 656,1. N eumann s Bedenken gegenüber der Echtheit von E werden auch an den folgenden Stellen nicht geteilt: V ollmann -P rofe (2003), S. 801, Anm. zu 360,36f. (FL V.22), ebd., S. 805, Anm. zu 378,10 (FL V.24) und ebd., S. 744, Anm. zu 134,9 (II.25). In FL VII.45 nimmt V ollmann -P rofe (2003), S. 616,30f. einen Teilsatz aus dem in Buch VI enthaltenen Zwillingskapitel 22 auf, die N eumann (1993), S. 159, Anm. zu VII.45,22 als «wohl unechter Zusatz» bezeichnet hat. 281 Vgl. V ollmann -P rofe (2003), S. 703, Anm. zu 18,1-7 (Prooemium I). 282 Vgl. V ollmann -P rofe (2003), S. 800, Anm. zu 358,7 (FL V.21). 283 Vgl. V ollmann -P rofe (2003), S. 832, Anm. 544,18 (FL VII.7) und S. 854, Anm. zu 660, 26 (FL VII.63). 284 Eine Ausnahme stellt FL II.25: 130,19 (II.25,68) dar: Wie schon N eumann (1993), S. 44 ändert V ollmann -P rofe liebú herze in herzeliebe in Entsprechung zu anderen Stellen des Gesamttextes. 285 Vgl. V ollmann -P rofe (2003), S. 749, Anm. zu 154,9f. (bei N eumann nicht als unecht markiert, vgl. III.1,123! ) - ebd., S. 799, Anm. 348,1 (wieder ein über N eumann hinausgehender Unechtheitsbeweis, vgl. V.13,8! ) - ebd., S. 801, Anm. 358,15f. (FL V.22) - ebd., S. 818, Anm. zu 456,22f. (FL VI.13) usw. 286 S tierling (1907) verglich die deutschen Bücher I-III mit dem lateinischen Text, B ecker (1951) die Bücher IV-VI. <?page no="68"?> merkungsband reichlich zurate. 287 Hier wie dort ist sie dazu berufen, Lesarten des deutschen Überlieferungszweiges entweder zu bestätigen oder, wenn es sich um offenkundige oder mutmaßliche Korruptelen handelt, zu korrigieren, lag ihr doch «eine uns sonst unerreichbare Frühstufe der deutschen Überlieferung» 288 zugrunde. Denn während sich der deutsche Text unter besonders günstigen Überlieferungsbedingungen - eher die Ausnahme als die Regel 289 - nur bis zum Archetyp der Mitte des 14. Jahrhunderts entstandenen alemannischen Übertragung zurückverfolgen lässt, wird die lateinische Übersetzung «gewiß», meint N eumann , aus einer Vorlage hervorgegangen sein, «die dem Original sehr nahe stand.» 290 Demnach besteht die Funktion der ›Lux divinitatis‹ bei N eumann nicht allein in der Aufdeckung und Heilung überlieferungsbedingter Korruptelen, um zu einer älteren Stufe der Textgeschichte des ›Fließenden Lichts‹ vorzustoßen, sondern der Rückgriff auf den lateinischen Text dient zudem dazu, Lesarten des Originals zu sichern bzw. zu erschließen. Das heißt, die mithilfe der lateinischen Übersetzung gesicherten oder erschlossenen Lesarten des deutschen Textes sind nicht wegen ihres textgeschichtlichen Primats besser und ursprünglicher als die in den Handschriften enthaltenen, womöglich auch sinnvollen Varianten: Besser und ursprünglicher sind sie vor allem wegen ihrer angeblichen Authentizität. Unter diesen Prämissen erscheint es N eumann als durchaus legitim, ausgehend vom lateinischen Text als Korrektiv Echtes vom Unechten, Mechthildisches vom Nicht-Mechthildischen abzuheben, um das von den beiden Überlieferungszweigen gebotene Authentische zu identifizieren und es in den edierten Text aufzunehmen. N eumann s Vorgehensweise wird deutlicher, wenn man ihr die Ausgabe von V ollmann -P rofe gegenüberstellt. Die von N eumann anhand der ›Lux divinitatis‹ vorgenommenen Konjekturen und Emendationen übernimmt V ollmann -P rofe nur, wenn E einen Eingriff unbedingt notwendig macht, weil der Text unverständlich geworden ist. 291 Ergibt die Handschrift einen guten 58 Einleitung 287 Dabei wird leider darauf verzichtet, bei den einzelnen Kapiteln jeweils die Fundstelle der bekanntlich anders organisierten lateinischen Übersetzung anzugeben, ein Defizit, das auch H ellgardt (1996a), S. 138 beklagt. Die lateinischen Pendants können, wenn auch etwas umständlich, mithilfe der Überlieferungskonkordanz am Ende des Anmerkungsbandes ausfindig gemacht werden. 288 N eumann (1954b), S. 28. 289 Vgl. N eumann (1990), S. XXI und V izkelety / K ornrumpf (1968), S. 294. Zu den Ausnahmen gehört auch Mo. 290 N eumann (1967), S. 44. 291 Vgl. FL I.6: 30,10 (mit Anm. auf S. 709), I.22: 40,34 (mit Anm. auf S. 714) usw. Des Öfteren werden aber Konjekturen auch stillschweigend übernommen, das heißt, es fehlt an einem Kommentar, der den Leser über ihr Zustandekommen aufklärt, vgl. FL V.9: 340,17 (s. dazu V.9,28) - V.24: 382,6 (s. dazu V.24,61) - V.34: 404,30 (s. dazu V.34,28) - VI.1: 422,23 (s. dazu VI.1,56) usw. Problematisch bleiben in diesem Zusammenhang die in Gefolge von N eumann , ja über ihn hinausgehend, durchgeführten Tilgungen von möglichen Hapaxlegomena, vgl. FL I.22: 38,21 (s. dazu I.22,7) - I.22: 42,29 (s. dazu <?page no="69"?> Sinn, so lässt sie V ollmann -P rofe unangetastet, ganz im Sinne ihres editorischen Grundsatzes, E in seiner vorliegenden Textgestalt zu dokumentieren. Das heißt, die E-Lesart wird beibehalten, selbst wenn das von der ›Lux divinitatis‹ gebotene Äquivalent das präsupponierte Ursprüngliche bietet. 292 Deutlicher noch als beim Wortersatz treten die Unterschiede zwischen den beiden Ausgaben an jenen Stellen hervor, wo N eumann Rückübersetzung aus dem Lateinischen bietet, und zwar entsprechend dem sonstigen Wortgebrauch Mechthilds. Dies macht sein Anliegen deutlich, alles, was sich von der Überlieferung her als authentisch anbietet, in den edierten Text zu holen. Übernommen wird der bis auf S allen Handschriften des deutschen Überlieferungszweiges fehlende Halbsatz in FL I.1,8 (vgl. 18,25), wird doch seine Authentizität durch die ›Lux divinitatis‹ (LD IV.3,7/ Rev. Bd. II.2, S. 542,7f.) verbürgt. Ähnlich wird mit dem in FL II.25,134f. anzitierten Lied verfahren. Der lateinische Text zeichnet sich dadurch aus, dass er eine Fassung bietet, die am Ende zwei Zeilen mehr aufweist als die hier besonders breite deutsche Parallelüberlieferung, vertreten durch die Handschriften E, C und B. N eumann nimmt eine Rückübersetzung der beiden in E fehlenden Zeilen (LD IV.7, 22f./ Rev. Bd. II.2, S. 545,28f.) vor. Die Begründung lautet: Die Schlusszeilen müssen in der deutschen Überlieferung ausgefallen sein, deuten doch noch E und C durch ein etc. an, dass das Lied offenbar nicht zu Ende geführt wurde. 293 Ergänzungen werden nach der ›Lux divinitatis‹ auch in FL V.11,10f. und FL II.23,25f. vorgenommen. Im ersten Fall wird der Eingriff damit begründet, der im deutschen Text nicht mehr vorhandene Gedankenparallelismus mache eine Ergänzung nach LD V.4,8f. (Rev. Bd. II.2, S. 591,11f.) notwendig, im zweiten Fall weist N eumann auf die im deutschen Überlieferungszweig ausgefallene Antwort der Seele hin (vgl. LD IV.1,26f./ Rev. Bd. II.2, S. 540,17f.). Keine von diesen an der ›Lux divinitatis‹ orientierten Ergänzungen übernimmt V ollmann -P rofe in ihre Ausgabe, notiert allerdings, dass die eine oder andere Ergänzung sehr wohl ursprünglich sein könnte. 294 Stattdessen versucht sie mit dem Überlieferten auszukommen. Ein besonders instruktives Beispiel dafür bietet ihr Umgang mit jener Stelle, an der N eumann eine ausgefallene Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 59 I.22,68) - I.28: 48,14 (s. dazu I.28,5, hier über N eumann hinausgehend! ) - II.25: 130,19 (s. dazu II.25,68) - IV.14: 266,22 (s. dazu IV.14,12). 292 Vgl. FL I.44: 58,28 (mit Anm. auf S. 720) - I.44: 62,33 (mit Anm. auf S. 721) - IV.2: 232,22f. (vgl. IV.2,63) - V.4: 328,15f. (vgl. V.4,46) - V.35: 410,4 (vgl. V.35,31) usw. An manchen Stellen wird indes E nach dem lateinischen Text nachgebessert, obwohl der E-Text an der betreffenden Stelle nicht ganz unmöglich ist, wie es auch V ollmann - P rofe immer wieder zugibt, vgl. FL I.30: 50,20 (mit Anm. auf S. 717) - IV.3: 240,27 (mit Anm. auf S. 771) - IV.4: 248,12 (mit Anm. auf S. 774) usw. 293 Vgl. FL II.25,138-139. S. dazu N eumann (1954b), S. 64. 294 Vgl. V ollmann -P rofe (2003), S. 705, Anm. zu 18,25 (entspricht I.1,8) oder S. 797, Anm. zu 342,6 (entspricht V.11,10f.). <?page no="70"?> Antwort der Seele vermutet (FL II.23,25f.). 295 V ollmann -P rofe spaltet die unmittelbar darauf folgende Rede der minne in zwei Redeeinheiten. Den ersten Teil legt sie in den Mund der stumpfen sele, den zweiten weist sie der minne zu (vgl. 116,28-32). Eine solche Redezuweisung wird von einer von P aul M ichel gemachten Beobachtung gestützt. «Merkwürdig» findet M ichel in der von N eumann durch Anführungszeichen als ‹Rede der Minne› ausgewiesenen Passage (FL II.23,26-30), dass die minne «von der ‹Minne› spricht, als sei es eine ganz andere Instanz: warum sagt sie nicht ‹in meine Gewalt›? » 296 Legt man, wie V ollmann -P rofe , diese Aussage in den Mund der stumpfen sele, so verschwindet die monierte Ungereimtheit, 297 die für M ichel freilich keine ist, da «Einschachtelungen von Rollen» 298 bei Mechthild keineswegs selten sind. Trotz der selbst auferlegten Beschränkung auf das Überlieferte findet man bei V ollmann -P rofe mitunter auch Stellen, an denen der Text in Form einer freien Rückübersetzung der ›Lux divinitatis‹ hergestellt wird. Dies findet seine Begründung darin, dass es sich um Textstellen handelt, die nach dem Urteil der Herausgeberin nicht ohne weiteres verständlich sind und nach einer Nachbesserung verlangen. Bei ihren diesbezüglichen Berichtigungsversuchen entfernt sich V ollmann -P rofe allerdings weit mehr vom Überlieferten, als dies bei N eumann der Fall ist. 299 N eumann hat an den entsprechenden Stellen seiner Ausgabe versucht, den E-Text, soweit nur möglich, zu bewahren selbst auf die Gefahr hin, dass seine Ausgabe hier und da einen möglicherweise schlechten Text bietet. Hier einige Beispiele: Die lange Periode FL VI.19,5-8 hat in E keinen Hauptsatz. N eumann druckt sie ohne Eingriff ab. Im Apparat bringt er allerdings einen Ergänzungsvorschlag, der eine Rückübersetzung aus der entsprechenden Stelle der ›Lux divinitatis‹ (LD V.29,5f./ Rev. Bd. II.2, S. 612,24f.) darstellt. V ollmann -P rofe nimmt diesen Ergänzungsvorschlag in den Text auf (vgl. 474,7). FL I.2,12f. lautet in E wie folgt: Warumbe si [die Seele] nút beriht wirt, dis ist dú erste sache von drien. Weil die lateinische Übersetzung an dieser Stelle von E erheblich abweicht und daher zum Verständnis des deutschen Textes wenig beiträgt, sah sich N eu mann genötigt, drien in drien personen zu konjizieren, um über den offensichtlich verderbten Text Herr zu werden. Er erklärt: «Die erste sache von drien personen wäre 60 Einleitung 295 Dass es sich dabei tatsächlich um einen Textausfall in der oberdeutschen Tradition des ›Fließenden Lichts‹ handelt, bestätigt Mo. Man liest hier: Swen ich ein bezzer weiz. so bin ich bereite (zitiert nach G anina / S quires 2010, S. 81, Z. 8f.). Die im Rückgriff auf den lateinischen Text vorgenommene Ergänzung von N eumann lautet: Wiste ich, was das beste were, so w o lte ich das beste welen. 296 M ichel (1995c), S. 57. 297 Alternativ zu V ollmann -P rofe bestünde auch die Möglichkeit, den referierten Abschnitt der vorangehenden Rede der Minne (FL II.23: 116,26f. [II.23,24f.]) anzuschließen und ihn als eine explikative Ausführung des dort Gesagten aufzufassen. 298 M ichel (1995c), S. 57. 299 Dies betont auch S chröder (2005), S. 301. <?page no="71"?> dann »die erste Ursache der Trinität.«» 300 Anders V ollmann -P rofe : Obwohl die lateinische Übersetzung eigene Wege geht, ergänzt sie den deutschen Text nach LD IV.21, 10f. (Rev. Bd. II.2, S. 557,29f.), so dass sich die referierte Stelle bei ihr wie folgt anhört: Warumbe si nút beriht wirt, des wirt si ze stunde gewiset […] (22,6f.). 301 Ein weiteres Beispiel findet sich in FL V.23. V ollmann -P rofe liest: Die scheffenisse der bilden das was alles von der schulde und von der not, die den grossen got also sere bewegeten, das er die vl v t sante und wie er behielt mit sinem gesinde Noe den rehten man und lies alle die welt undergan (370,27-31). Das recte Wiedergegebene stellt wieder eine freie Übersetzung nach dem lateinischen Text, hier nach LD I.16,9f. (Rev. Bd. II.2, S. 461,22f.), dar. 302 N eumann dagegen ließ den Text unangetastet, ohne diese Stelle zu kommentieren (vgl. V.23,126). Unkommentiert ließ N eumann auch FL VI.4,3-5 passieren: Owe ich vil arme, ich klagen gotte von himmelriche, das ich nu arger bin denne ich was vor drissig jaren, wan die creaturen, die mir da hulfen tragen min ellende, die d o rften nit also edel sin, sol der arme lip genesen. Anders als N eumann ist V ollmann -P rofe der Ansicht, dass der E-Text unvollständig ist, weil ihm ein mit die d o rften nit also edel sin korrespondierender Vergleichssatz fehlt. Obwohl ›Lux divinitatis‹ wieder einmal von E abweicht und den Sinn verschiebt (es bietet cibos statt creatura), bringt die Herausgeberin eine am lateinischen Text orientierte Ergänzung, hat sich doch in nunc autem […] necesse est (LD VI.18,3/ Rev. Bd. II.2, S. 637,29f.) das in E fehlende Vergleichsglied erhalten. Die Ergänzung, die man schwerlich als Übersetzung bezeichnen kann, lautet: also die nu m u ssent sin (S. 436,25). Wie V ollmann -P rofe den Passus verstanden wissen will, geht aus der synoptisch abgedruckten hochdeutschen Übersetzung hervor: «O weh, ich Ärmste, ich klage es Gott im Himmelreich, daß ich nun schlechter bin als vor dreißig Jahren; denn die Geschöpfe, die mir damals mein Elend tragen halfen, die hätten nicht so edel zu sein brauchen (wie die, deren Hilfe jetzt nötig ist), wenn der arme Leib genesen soll (437,26-30).» Als Leser fragt man sich: Wer sind die, deren Hilfe der Ich-Sprecher jetzt so nötig hat? Die Erklärung liefert der Kommentarteil. 303 Dieser macht deutlich, dass V oll mann -P rofe das Verständnis des Kapitels in eine bestimmte Richtung lenken will, und zwar in eine von N eumann vorgetragene. N eumann meinte aus manchen Kapiteln des sechsten Buches herauslesen zu können, dass die alternde, von Krankheit und Verfolgung gezeichnete Begine zeitweilig Magdeburg verlassen hätte und in die «Obhut ihrer Familie» 304 zurückgekehrt wäre. Dies soll vor allem aus FL VI.4 hervorgehen, da die sich hier artikulierende Furcht vor den irdischen Dingen, die in ein girekeit vil ze habende oder lange ze bruchende (438,1f. [VI.4,9]) verleiten, eine weltliche Umgebung voraussetzt. 305 Auch im Falle von FL VI.7 sei es nicht zwingend, so N eumann , eine Magdeburger Beginengemeinschaft als lokalen Hintergrund zu postulieren: Zwar sei Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 61 300 N eumann (1993), S. 5. 301 Zu den Problemen, die mit der von V ollmann -P rofe gebotenen Übersetzung von ibi (! ) eidem protinus innotescit verbunden sind, s. G ottschall (2005), S. 302. 302 Auch hier fragt man sich, wie die deutsche Übersetzung von ut omnem diluuio carnem perderet zustande gekommen ist, vgl. G ottschall (2005), S. 303. 303 Vgl. V ollmann -P rofe (2003), S. 814, Anm. zu 436,20-440,9. 304 N eumann (1954b), S. 72. 305 Vgl. N eumann ebd., S. 73 und V ollmann -P rofe (2003), S. 814, Anm. zu 436,20-440,9. <?page no="72"?> im Text von ein[em] geistlich[en] mensch[en] aus Mechthilds geselleschaft die Rede, von dem sie wegen seines üblen Verhaltens viel erdulden müsse - ›Lux divinitatis‹ trägt die Überschrift De begina distorta moribus et conuersacione tandem corrupta (LD III.8/ Rev. Bd. II.2, S. 526)! -, doch meine der Ausdruck in miner geselleschaft (in societate mea) «hier nicht mehr als ‹mir beigesellt, mit mir zusammen lebend› […], und es ließe sich - wie bei Margareta Ebner - an die pflegende Begine denken, die Mechthild begleitete, als sie schwer krank zu ihren Verwandten verbracht wurde.» 306 Es ist diese pflegende Begine, die V ollmann -P rofe mit ihrer Rückübersetzung in den deutschen Text einschleust. Diese Konjektur baut jedoch auf eine Interpretation, die aus dem Text mehr herausliest, als dort womöglich enthalten ist. Zudem ist sie einer Lesart verpflichtet, die den Text als historische Quelle und Abbild der realen Lebenswelt Mechthilds versteht. Vor allem diese letztgenannten Beispiele zeigen mit aller Deutlichkeit, worauf es V ollmann -P rofe mit der Neuausgabe eigentlich ankommt: Ihr geht es in erster Linie darum, einen schlüssigen Lesetext zu erstellen. 307 Zwar wird der ›Lux divinitatis‹ kein so breiter Raum eingeräumt wie bei N eumann , an entscheidenden Stellen muss sie jedoch korrigierend und ergänzend einspringen. Symptomatisch für das hier postulierte textgeschichtliche Verhältnis der beiden Überlieferungszweige erscheint eine mit Verweis auf den lateinischen Text erwogene Ergänzung in FL IV.28, einem Kapitel, das V ollmann -P rofe unvollständig vorkommt. 308 Bei einer solchen Vorgehensweise erscheint es aus methodischer Sicht problematisch, dass V ollmann -P rofe , ähnlich wie N eumann , zwei unterschiedliche Textstufen miteinander vermischt. Ging die lateinische Übersetzung nach N eumann s Ansicht «gewiß» aus einer Vorlage hervor, die dem Original sehr nahe stand (s. oben Anm. 290 mit Text), repräsentiert die alemannische Übertragung eine textgeschichtlich jüngere Gestalt des ›Fließenden Lichts‹. Freilich können die Ausgangstexte der beiden Traditionszweige, weder das ‹Original›, i.e. die mittelniederdeutschen Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹, noch der Archetyp der alemannischen Tradition bzw. die mittelniederdeutsche Vorlage der Basler Übersetzer, auch nur annähernd vollständig rekonstruiert werden. 309 Angesichts dieses Überlieferungsbefunds behelfen sich die Herausgeber Mechthilds damit, dass sie das eine Original postulieren, das beiden Überlieferungszweigen zugrunde liegen und ihren Ausgangspunkt gebildet haben soll. Man findet diese Annahme in der Tat an Stellen bestätigt, wo der deutsche und der lateinische Text wörtlich übereinstimmen. Dies ist allerdings nicht immer der Fall. N eumann selbst räumt ein, dass die lateinische Übersetzung «nur selten den Wortbestand des deutschen 62 Einleitung 306 N eumann (1954b), S. 75. 307 Ähnlich G ottschall (2005), S. 304. 308 Vgl. V ollmann -P rofe (2003), S. 790. 309 Vgl. N eumann (1990), S. XX-XXI. Die Moskauer Bruchstücke, die der Textgenese sowohl räumlich als auch zeitlich am nächsten stehen, bieten Textteile aus den Büchern I (Kapitel 29, 32 und 36), II (Kapitel 11, 13-14, 21 und 23), III (Kapitel 6) und VII (Kapitel 65), vgl. G anina / S quires (2010). <?page no="73"?> Textes sichern kann», lässt doch «die andere Sprachform einen sinnvollen Vergleich von Einzelwörtern oft nicht zu […].» 310 Aus den Stellen, die wörtlich übereinstimmen, wird jedoch abgeleitet, dass beide Überlieferungszweige auch dort, wo sie sich nur inhaltlich überschneiden oder gar voneinander abweichen (weil die lateinische Übersetzung eigene Wege geht), einen weitgehend identischen Text geboten haben. Selbstverständlich weiß N eumann um die «viele[n] fremde[n] Hände», die bis zum letzten Schreiber der uns das ›Fließende Licht‹ einzig vollständig bewahrenden Einsiedler Handschrift an Mechthilds Aufzeichnungen «gewerkelt» 311 haben. In seiner kritischen Ausgabe ist auch er bestrebt, ihren Beitrag, so weit es geht, erkennbar zu machen. So findet man bei N eumann immer wieder Texte in eckigen Klammern, die vor der vermeintlichen oder tatsächlichen Unechtheit der jeweiligen Stelle warnen. Interessanterweise ist es immer wieder das Fehlen einer Lesart im lateinischen Text, das N eumann daran zweifeln lässt, ob E an der entsprechenden Stelle echt ist. 312 Dies ist merkwürdig angesichts der oben genannten, von N eumann selbst eingestandenen Probleme, gesicherte Aussagen über den Wortlaut der mittelniederdeutschen Vorlage der lateinischen Übersetzung zu treffen. Da aber N eumann ohnehin von der Annahme ausgeht, der lateinischen Übersetzung hätte dieselbe Version der Bücher I-VI vorgelegen, die auch in E überliefert ist, kann er sich über solche Schwierigkeiten leicht hinwegsetzen. Die Annahme, dass ein einziges Original am Anfang der deutschen und lateinischen Überlieferung stand, gründet, wie oben ausgeführt, letztlich in der Überzeugung, ein von Ehrfurcht und Treue bestimmtes Rezeptionsverhalten hätte die an der Überlieferung des ›Fließenden Lichts‹ Beteiligten davon abgehalten, allzu schwerwiegend in den Text einzugreifen. Das sind die Prämissen, die es auch V ollmann -P rofe erlauben, die vermeintliche Unvollständigkeit von FL IV.28 mit Hinweis auf die lateinische Übersetzung zu belegen. Vor allem um diese Prämissen und ihre Berechtigung geht es in der vorliegenden Arbeit. Die Textausgaben des ›FL‹ und das Postulat des einen Autortextes 63 310 N eumann (1990), S. XXV. Dass die ›Lux divinitatis‹ für die Textkritik nur «bedingt von Nutzen» ist, konstatiert N eumann auch in seinem Verfasserlexikon-Artikel, vgl. (1987a), Sp. 262. Im Lesartenapparat seiner kritischen Textausgabe zieht er sie nichtsdestoweniger reichlich heran. Dazu vermerkt R uh (1995a), S. 99: Obschon N eumann den textkritischen Wert der ›Lux divinitatis‹ kennt, überschätzt er ihre Bedeutung bei der konkreten Arbeit am Text. Die eigentliche Bedeutung der lateinischen Übersetzung sieht R uh in der Übersetzungs- und Bearbeitungsleistung. 311 N eumann (1948/ 50), S. 144. 312 Vgl. etwa FL II.25,129 (134,9 bei V ollmann -P rofe ), III.9,15 (174,27f.), III.10,38f. (184,24), III.13,7 (188,28), VI.7,15 (444,19), VI.27,2 (484,21), VI.31,22 (494,13), VI.37,2 (504,26) usw. <?page no="74"?> I.3. Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›Fließenden Lichts‹ vor dem Hintergrund der aktuellen altgermanistischen Diskussion um vormoderne Textualität und die Instanzen der Textautorisation Eine der wichtigsten Aufgaben, der sich die Forschung nach der Wiederentdeckung des ›Fließenden Lichts‹ Mitte des 19. Jahrhunderts widmen musste, war, wie in den vorangehenden Kapiteln ausgeführt, die Frage, wie sich der in der Einsiedler Handschrift zum ersten Mal greifbare Text zum präsupponierten mittelniederdeutschen Original der Aufzeichnungen Mechthilds verhält. Interessanterweise war es weniger die Tatsache, dass der überlieferte Text in einem beträchtlichen räumlichen und zeitlichen Abstand zum angenommenen Ort und Zeitpunkt der Textgenese steht sowie vom Wechsel in einen anderen, den alemannischen Schreibdialekt geprägt und in dieser Form selbst vom ‹Original› der alemannischen Übersetzung um mehrere Textstufen getrennt ist, die die in Kapitel I.1.1 skizzierte Forschungskontroverse ausgelöst hat, als manche textinternen Angaben, die die Figur eines Beichtvaters bzw. Predigerbruders - im nachhinein mit Heinrich von Halle identifiziert - als textkonstitutive Instanz einführen. Dies legte den Gedanken nahe, der Text könne in einem nur schwer abzuschätzenden Maß bearbeitet sein. Die kontrovers geführte Diskussion der älteren Forschung über die Frage, wie sich Heinrichs Redaktion zum Original der Niederschriften Mechthilds bzw. zu der im alemannischen Raum verbreiteten Textgestalt des ›Fließenden Lichts‹ verhält, hat N eumann zu einem «vorläufigen Abschluss» 313 geführt, indem er den Anteil fremder Instanzen, wie Beichtväter, Schreiber und Mitschwestern, am Buchwerdungsprozess marginalisierte und den an der Überlieferung Beteiligten eine von Ehrfurcht und Treue geprägte Haltung attestierte. Das Postulat, Mechthilds Aufzeichnungen hätten weder bei der Entstehung noch bei der Überlieferung tief greifende Änderungen erlitten, sondern lägen uns in der eigenhändig niedergeschriebenen Form vor, bot N eumann eine elegante Lösung für die lange Zeit umstrittene Frage, wie das verlorene Original und der überlieferte Text in ein kommensurables Verhältnis zu setzen sind. Darüber hinaus erwies sich das von N eumann entwickelte Modell der Textgeschichte als geeignet, um mit der Überlieferung editorisch zu Recht zu kommen. Denn die Annahme, die Textgenese stelle einen geradlinig ablaufenden Verschriftlichungsprozess dar, der von dem von Gott Offenbarten über dessen Niederschrift durch die Mystikerin hin zur respektvollen Überlieferung des Aufgezeichneten durch Dritte führt, war die conditio sine qua non für N eumann s editorisches Unterfangen, ausgehend vom Einsidlensis und im Rekurs auf einen emphatischen Autorbegriff zu einem Text vorzustoßen, von dem behauptet werden kann, er stünde dem verlorenen Original näher und sei deshalb authentischer als jede andere überlieferte Handschrift. Dieses Vertrauen auf die Überliefe- 64 Einleitung 313 R uh (1993), S. 250. Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ <?page no="75"?> rung und die Leistungsfähigkeit der eigenen Methode erlaubte N eumann , in der Einsiedler Handschrift eine Textgestalt zu sehen, die trotz mancher überlieferungsbedingter Verderbnisse und des fremden Sprachgewands sehr wohl den Anspruch erheben darf, «der Urschrift Mechthilds nahe zu bleiben.» 314 Nicht viel anders verhält es sich mit der von V ollmann -P rofe vorgelegten Mechthild-Edition. Wohl verfolgt die Neuausgabe keinen produktionsästhetischen, auf die weit möglichste Rekonstruktion des Originals ausgerichteten Ansatz mehr, sondern definiert den textlichen Bezugspunkt editorisch neu, indem sie bewusst beim Überlieferten ansetzt. In der Frage nach dem Status der in Einsiedeln vorliegenden Textgestalt blieb V ollmann -P rofe , wie in Kap. I.2 gezeigt, jedoch N eumann verpflichtet, was angesichts der text- und überlieferungsgeschichtlichen Unabwägbarkeiten, die, wie oben ausgeführt, aus einer arbeitsteiligen Übersetzungspraxis und der Tendenz zur ‹Mechthildisierung› des Überlieferten resultieren, allerdings nicht unproblematisch ist. Auch was das Verhältnis des deutschen und lateinischen Überlieferungszweiges des ›Fließenden Lichts‹ betrifft, teilt V ollmann -P rofe die Meinung der ihr vorangehenden Forschung, die sich mit G ottschall wie folgt resümieren lässt: Der deutsche und lateinische Text beruhen «auf zwei unterschiedlichen Entstehungsphasen des Originals», eines Originals, das zwar nicht erhalten ist, an das aber textgeschichtlich die lateinische Tradition am weitesten heranreicht, da sie «vielleicht sogar direkt mit einer von Mechthild autorisierten Fassung» 315 arbeitet. Die Annahme, der lateinische Text stelle eine Vorstufe des in E enthaltenen Textes dar, ermöglichte der Forschung, ›Lux divinitatis‹ als Lieferanten von authentischen Zusätzen bei der Konstitution des deutschen Textes heranzuziehen, wie auch umgekehrt, den lateinischen Text nach dem deutschen zu berichtigen. 316 Demnach sind beide Traditionszweige untereinander frei austauschbar und können zur gegenseitigen Korrektur benutzt werden. Die Vergleichbarkeit der lateinischen Übersetzung ist dabei freilich insofern eingeschränkt, als sie einen Text bietet, der «vielfach erheblich verändert.» 317 Sie stellt also eine Bearbeitung dar. Als bearbeitet gilt jedoch nicht nur die lateinische Übersetzung, sondern auch der alemannische Überlieferungszweig, stand doch «zwischen der U r s c h r i f t und der alem. F a s s u n g […] eine R e d a k t i o n, die man Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 65 314 N eumann (1954c), S. 175. 315 G ottschall (2005), S. 300. Vgl. auch S tadler (2001), S. 21: «Beide Textzeugen [gemeint sind E und Rb - nur diese scheint S tadler zu kennen! ] verweisen auf eine ihnen zugrunde liegende ältere Version» (Kursivierung von S tadler ). 316 Man vergleiche etwa die Textausgabe der Solesmenser Mönche, die das ›Fließende Licht‹ bei der Herstellung der lateinischen Textversion immer wieder zur Korrektur und Ergänzung (stillschweigend) herangezogen haben, eine Vorgehensweise, von der auch die spätere Forschung Gebrauch gemacht hat, vgl. B ecker (1951), S. 20f., 25 u.ö. und N eu mann (1993), S. 105, Anm. zu VI.31,28, S. 110, Anm. zu VI.1,81-83, S. 122, Anm. zu VI.16,8 u.ö. 317 N eumann (1987a), Sp. 262. <?page no="76"?> nach Hinweisen der Textüberlieferung dem langjährigen Seelenführer Mechthilds, Heinrich von Halle, zuzurechnen gewöhnt ist.» 318 Freilich tangiert Heinrichs Redaktion die Authentizität des ›Fließenden Lichts‹ nicht im Geringsten. Das bedeutet, die Termini Bearbeitung/ Redaktion und Original/ Urschrift werden nicht in einem untergeordneten, sondern, wider Erwarten, in einem nebengeordneten Verhältnis zueinander gesehen. 319 Ja, mehr noch: Bedenkt man das pietätsvolle, von Treue gegenüber dem vorgefundenen Text geprägte Verhältnis, das den sowohl an der Entstehung als auch an der Überlieferung des ›Fließenden Lichts‹ beteiligten Instanzen attestiert wird, so wird der Begriff Fassung im Grunde auf dieselbe Ebene projiziert wie die Urschrift. Wie wenig Unterschied zwischen Mechthilds «Urschrift» und Heinrichs «Redaktion» einerseits sowie dem «Original» und der «alem. Fassung» (s. Zitat oben) anderseits in N eumann s Verständnis der Textgeschichte besteht, zeigt sich vor allem an dem Umstand, dass N eumann den Gedanken der Rückübersetzung der in E überlieferten Textgestalt ins Elbostfälische, in Mechthilds angenommene Muttersprache, im Vorfeld zu seiner Edition ernsthaft in Erwägung gezogen hat. Diese Idee wurde nur deshalb verworfen, «weil die »Zielsprache« nicht genau bestimmbar ist.» 320 Die Termini ‹Original›, ‹Fassung› und ‹Bearbeitung›, mit denen hier operiert wird, sind offenbar frei substituierbar. Dies gilt indes nicht nur für N eumann s Verständnis der Textgeschichte, sondern auch für das von V ollmann -P rofe . Erst die prinzipielle Austauschbarkeit der genannten Begriffe liefert für ihr editorisches Unternehmen, «Mechthilds Werk» «in seiner vorliegenden Gestalt zu dokumentieren», 321 die notwendigen text- und überlieferungsgeschichtlichen Voraussetzungen. Zwar spricht V ollmann -P rofe vom Original nur noch in Anführungsstrichen und sieht es nicht mehr als Aufgabe des Editors an, die Herstellung eines mehr oder weniger originalnahen Textes anzustreben. Die Vorstellung, dass es das eine Original gab, wird jedoch nicht in Frage gestellt. Die Einsiedler Handschrift gilt auch für sie als eine späte Erscheinungsform des Originals. V ollmann -P rofe stellt fest, «Mechthilds Text» sei in dieser Handschrift trotz einer Überlieferung, die sich «viel weiter vom ›Original‹ entfernt, als wir das bei mittelalterlichen Texten ohnehin gewohnt sind» (S. 672), inhaltlich «wohl mehr oder weniger unbeeinträchtigt erhalten», wie dies im Übrigen auch von der lateinischen Übersetzung bestätigt werde (S. 673). Diese die gesamte Mechthild-Forschung bestimmende Einschätzung des text- und überlieferungsgeschichtlichen Befundes resultiert aus der in Kap. I.1.1 ge- 66 Einleitung 318 N eumann (1954b), S. 28 (Sperrungen von mir). 319 «Original» und «redigierende Bearbeitung Heinrichs von Halle» werden von B ecker (1951), S. 46 ausdrücklich gleichgesetzt. 320 N eumann (1990), S. XX. Zu ähnlichen Bestrebungen in der Veldeke-Forschung, die sogar zur Rückübersetzung des nur hochdeutsch überlieferten ›Eneit‹ in die vermutete maasländische Sprache des Originals geführt haben, s. zusammenfassend W olff / S chröder (1981), Sp. 909f. 321 V ollmann -P rofe (2003), S. 682. <?page no="77"?> Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 67 schilderten Forschungsdebatte, einer Debatte, die sich beim Erweis von Mechthilds Verfasserschaft und der Echtheit der überlieferten Textgestalt auf eine, in ihren Prämissen problematische Argumentation gründet (dazu Kap. I.1.2 und 3) und Editionen den Weg ebnete, die die überlieferte Textgestalt je nach Standpunkt entweder dem angenommenen Original annähern (N eumann ) oder in ihrer rezipierten Form dokumentieren wollen (V ollmann -P rofe ). Postuliert wird in beiden Fällen ein einziger autorisierter Text, ein Original, als Ausgangspunkt der Überlieferung. Die vorliegende Arbeit zielt darauf ab, die Berechtigung des von den beiden maßgeblichen Mechthild-Ausgaben trotz eingestandener überlieferungs- und textgeschichtlicher Unabwägbarkeiten aufrechterhaltenen ‹ein Werk - ein Autor›-Modells zu diskutieren, indem der textgeschichtliche Status des deutschen und lateinischen Überlieferungszweiges neu verhandelt und die aus dieser Neubestimmung resultierenden Konsequenzen für die Autorschaft des ›Fließenden Lichts‹ reflektiert werden (s. dazu Kap. II.2 und 3). Um Aufschluss über den von mir verwendeten Text- und Autorbegriff zu geben, gehe ich zunächst auf die sich in der germanistischen Mediävistik seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts anbahnende, seit den Neunzigern intensivierte und mit den Arbeiten von J oachim B umke , allen voran seinem Buch über «Die vier Fassungen der Nibelungenklage» (1996), in die entscheidende Phase eingetretene Diskussion um die adäquate Beschreibung des Status mittelalterlicher Textualität ein. Methodisch knüpfe ich mit der vorliegenden Arbeit an die aktuelle Diskussion um den Fassungsbegriff an und erweitere den Ansatz, indem ich nach den Bedingungen eines Autorbegriffes frage, der für die Überlieferungssituation des ›Fließenden Lichts‹ adäquat und historisch differenziert ist (s. dazu Kap. III). Lange Zeit galt es in der Literaturwissenschaft als geradezu selbstverständlich, vom Autor als einer dem Text «vor- und übergeordnete[n] Urheberinstanz» 322 und gleichzeitig dessen Subjekt zu sprechen. Komplementär dazu war von ‹Werk› als unveräußerlichem Produkt der Urheberinstanz und der «(end)gültige[n] Objektivation» 323 ihrer Intentionen die Rede. ‹Autor› und ‹Werk›, beide konstitutiven Größen der Literaturwissenschaft werden jedoch durch die Literaturtheorie, allen voran durch die Thesen von R oland B arthes und M ichel F oucault , seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend infrage gestellt. 324 Die von B arthe s und F oucault - wohlgemerkt an literarischen Beispielen der Moderne - gebildeten und erprobten Theoreme zielen im 322 H ausmann (2000), S. 33. 323 H ausmann ebd. 324 Vgl. die grundlegenden Aufsätze «La mort de l’auteur» von B arthes (1968) und «Qu’est-ce qu’un auteur? » von F oucault (1969) jetzt in deutscher Übersetzung in: J annidis (2000), S. 185-193 und 198-229. <?page no="78"?> Grunde darauf ab, den literarischen Text vom Autor-Individuum als der allein verpflichtenden sinnkonstitutiven Instanz zu befreien, damit der Text aus sich heraus als autonomes linguistisches Gebilde oder in seiner Dependenz von anderen Texten bzw. seiner Interaktion mit den Rezipienten wahrgenommen werden kann. 325 Parallel zu dieser grundsätzlichen Neuorientierung der neuen Philologien im Umgang mit Texten vollzog sich in der Altgermanistik, allen voran im Editionswesen, die Hinwendung zur Handschrift als Träger und Vertreter eines tatsächlich rezipierten und historisch wirksam gewordenen Textes. Diese Hinwendung speist sich aus der Erkenntnis, dass das hehre Ziel der klassischen Textkritik L achmann scher Prägung, den einen vom Autor gewollten Text aus dem Dickicht der Überlieferung ans Tageslicht der Textausgabe zu führen, in vielen Fällen de facto nicht realisierbar ist, weil die Methode mit Prämissen operiert, die auf die mittelalterliche Überlieferungswirklichkeit volkssprachlicher Literatur oft nicht übertragbar sind. 326 Zur Verabschiedung von einer autor- und originalzentrierten Sicht hat neben solchen methodenkritischen Bedenken auch der Zweifel an der Vertretbarkeit einer editorischen Vorgehensweise geführt, die sich bei der Konstituierung des Autortextes oft durch eine als normativ gesetzte Vorstellung vom Autor, von seinem Stil und seinen Intentionen leiten ließ. 327 Zu erklären ist dieser als Binsenweisheit geltende Tatbestand durch einen Mangel an Subjekt-Objekt-Differenzierung, 328 ein Phänomen, das auch beim Umgang mittelalterlicher Schreiber und Redaktoren mit Autor und Text beobachtet werden kann: «In der Aneignung des Textes durch den Schreiber werden Subjekt- und Objektebene nicht getrennt, so daß die subjektiven Annahmen über den Autor (aber auch andere Präjudizierungen) einen ‹objektiven› Status annehmen, dem sich dann das eigentliche Tradierungsobjekt - der Text - unterordnen muß.» 329 Einer solchen Indienst- 68 Einleitung 325 Die verschiedenen Strömungen innerhalb der postmodernen Literaturtheorie (Poststrukturalismus, Rezeptionstheorie, Intertextualität, Diskurstheorie usw.) gewichten bei ihren Zugängen zum Text und beim Urteil über den Anteil eines Subjektes (nicht unbedingt dasjenige des Autors! ) an der Sinnkonstitution unterschiedlich, ja zum Teil wiedersprüchlich, s. dazu R. S chnell (1998), S. 27-39. 326 S. dazu den wegweisenden Aufsatz von S tackmann (1964/ 1997), S. 6f. Ergänzend dazu H ilgers (1973), S. 4-12, H över (1978) und S chweikle (1993). Kritisch zu dieser mittlerweile zum Forschungskonsens gewordenen Methodenkritik äußert sich S chröder (1996), S. 38-43. 327 Ein extremes Beispiel bietet die Reinmar-Ausgabe von C arl von K raus (1919), s. dazu H ausmann (1999), S. 4-6 und 27. Umsichtiger, aber dezidiert autorzentriert, geht auch N eumann in seiner Mechthild-Ausgabe vor, s. dazu meine Ausführungen in Kap. I.2. 328 Zur Frage nach dem Einfluss von vorgeprägten Autorkonzepten auf den edierten Text s. S tackmann (1983/ 1997) und S chnyder (2002). Vgl. auch H ausmann (1999), 29: «Wer den Autor nur als Produzenten in den Blick nimmt, ignoriert leicht den an sich trivialen Sachverhalt, daß er selbst den ‹Autor› als rezipientenseitige Vorstellung mit Hilfe des Textes erst hervorbringt.» 329 H ausmann (2000), S. 51. <?page no="79"?> nahme des Autors, genauer der «Funktion Autor», 330 für Editions- und Interpretationszwecke steht man heute distanziert gegenüber, obwohl es nach wie vor ein Verständnis von Philologie gibt, methodische Bedenken gegenüber einer subjektzentrierten Position vor allem dann zu ignorieren, wenn der Philologe meint, durch die «diffuse Überlieferung» hindurch eine «Persönlichkeit mit eigener Handschrift», ein «dichterisches Talent» erkennen zu können, ein Individuum also, dem gegenüber er sich zur «Rückgewinnung eines ursprünglichen oder doch dem Ursprung angenäherten Textes» 331 verpflichtet fühlt. Um den methodischen Problemen zu entgehen, die bei kopialer und nicht autorisierter Überlieferung mit einem autorzentrierten und originalorientierten Ansatz verbunden sind, arbeitet man seit den sechziger Jahren zunehmend auf überlieferungsorientierter Basis. 332 Das Interesse richtet sich auf die Handschrift als «eine Größe sui generis und nicht nur Hilfsmittel auf dem Weg zurück zum Autor», 333 auf das historische Zeugnis also, das nicht für etwas anderes (das verlorene Original oder die verschüttete Autorintention), sondern in erster Linie für sich steht und in seiner spezifischen geschichtlichen Verfasstheit sowohl vom Editor als auch vom Literaturhistoriker ernst zu nehmen ist. Diesen Standpunkt vertrat die Würzburger Forschergruppe um K urt R uh am dezidiertesten. Ihre Forderung lautet, «das Leben der Texte im Spannungsfeld des Autors, der Bearbeiter, der vermittelnden Schreiber und Drucker sowie Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 69 330 F oucault definiert die «Funktion Autor» in seinem viel beachteten Essay «Was ist der Autor? » (in: J annidis 2000, S. 214) wie folgt: «Sie ist das Ergebnis einer komplizierten Operation, die ein gewisses Vernunftwesen konstruiert, das man Autor nennt» und weiter: «tatsächlich aber ist das, was man an einem Individuum als Autor bezeichnet (oder das, was aus einem Individuum einen Autor macht) nur die mehr bis minder psychologisierende Projektion der Behandlung, die man Texten angedeihen läßt.» 331 So S tackmann (1998), S. 30 und 32. Eine solche, von einer genieästhetisch fundierten Autor-Konzeption bestimmte Sicht auf die Überlieferung lässt selbst die neue Ausgabe des ›Fließenden Lichts‹ durch V ollmann -P rofe erkennen. Dies ist abzulesen nicht nur an einer Reihe von Anmerkungen im Kommentarteil, die den editorischen Grundsatz, nicht mehr nach dem Echten und Ursprünglichen zu fahnden, durchkreuzen (s. dazu ausführlich S. 56f. oben), sondern vor allem an einer Äußerung, in der V ollmann -P rofe (2003) ihr Verständnis gegenüber dem von N eumann befolgten, primär produktionsästhetischen Interesse mit der Begründung zum Ausdruck bringt, ein solches Interesse sei «angesichts eines so singulären Werkes wie des Fließenden Lichts nur zu verständlich» (S. 682). Vgl. auch V ollmann -P rofe (1994), S. 156, wo das ›Fließende Licht‹ als ein «in seiner Form einmaliges Werk der biographischen Gattung» definiert wird, und V ollmann -P rofe (2000), S. 153, wo die überlieferungsgeschichtliche «Sondersituation» (S. 146, Anm. 3) des Textes «in der Einmaligkeit der Form, in einem ›persönlichen Erfahrungsstil‹ und einer ›biographischen Struktur‹» gesehen wird. V ollmann -P rofe rekurriert auf diesen Singularitätsbeweis um Mechthild als «Herrin ihres Textes» (V oll mann -P rofe 2008b, S. 208) zu erweisen und auf diese Weise den Text für eine subjektorientierte Interpretation zu reservieren. 332 Zum Wandel der Editionsprinzipien in der germanistischen Mediävistik s. F romm (1995), S tackmann (1998) und B ein (2000). 333 F romm (1976), S. 50. <?page no="80"?> des rezipierenden Publikums» 334 zu analysieren und editorisch zu dokumentieren, damit die «Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte» 335 führt. Die Abwendung von einer «Denkmäler-Literaturgeschichte» 336 und die Überzeugung, dass das Interesse des Editors und Interpreten dem sich im Überlieferungsprozess konstituierenden Text gelten soll, bedeutet für die Forschergruppe allerdings nicht, dass der Autortext zur «quantité négligable» 337 wird. Ihn wieder zu gewinnen, wird indes nur als eine der möglichen Optionen angesehen und grundsätzlich von der Beschaffenheit der Überlieferung abhängig gemacht. Denn der neue überlieferungsorientierte Editionstyp will im Unterschied zu einer dem persönlichen Ermessen des Herausgebers - altehrwürdig iudicium genannt - viel zu breiten Raum gewährenden Philologie «gerade an der Grenze, an der die »bloße Vermutung der Philologen« beginnt, haltmachen und sich auf das historisch Belegbare zurückziehen, auf die Redaktionen.» 338 Es wird demnach nicht nur dokumentiert, um die Entfaltung des Textes in die Überlieferung hinein editorisch zu verfolgen und die Filiation, die genealogische Abhängigkeit der einzelnen Zeugen zu bestimmen, sondern auch rekonstruiert, und zwar auf die Ausgangshandschrift der Überlieferung hin, die es allerdings auch im Plural geben kann. Ob man im Einzelfall eine oder mehrere Handschriften an den Anfang der Überlieferung setzt, herrscht dennoch Einigkeit darüber, dass die durch Textkritik und Stemma erschließbare Handschrift nicht notwendig den Autortext darstellen muss, sondern auch ein Redaktionstext sein kann. 339 Unabhängig davon, ob man sich nun für den Autor- 70 Einleitung 334 Zitiert aus dem ‹Gründungsmanifest› der Forschergruppe aus dem Jahre 1973, s. G rubmüller / J ohannek / K unze / M atzel / R uh / S teer (1973), S. 171. 335 So der Aufsatztitel von R uh (1985b). Mit einem solchen, die Geschichtlichkeit der Literatur betonenden Ansatz tut sich die Literaturgeschichtsschreibung allerdings immer noch schwer, s. B ein (2001), S. 28 bzw. (2002b) sowie neuerdings B umke (2005), S. 46. Einen vielversprechenden Ansatz, um der Geschichtlichkeit der Literatur Rechnung zu tragen, böte die von T hali (2009), S. 235 angeregte Untersuchung von Varianzphänomen im Kontext einer überlieferungsorientierten und regional perspektivierten Literaturgeschichte. 336 R uh (1985b), S. 172. 337 G rubmüller u.a. (1973), S. 160. Diese Ansicht teilen alle Vertreter der Würzburger Forschergruppe, s. S teer (1985a), S. 39, W illiams -K rapp (2000), S. 18 und L öser (2005a), S. 286. 338 S teer (1985a), S. 49. Die Tatsache, dass die literarhistorische Vorentscheidung des Editors die Textausgabe prägt, war den früheren Herausgebergenerationen zwar bekannt, allerdings haben sie den damit verbundenen methodischen Problemen wenig Bedeutung zugemessen, vgl. B ein (1999), S. 75f. Eine kritisch selbstreflexive Haltung im Umgang mit dem editorischen Mittel des iudicium ist indes durchaus angebracht, denn die Textausgabe wird nicht nur durch die Vorannahmen des Editors, sein prae-iudicium bestimmt (s. dazu oben Anm. 328), sondern auch durch die Tatsache, dass «jeder Herausgeber eines Textes mehr oder weniger bewusst in eine kulturell bzw. fachgeschichtlich vorgeprägte Editorenrolle schlüpft», die die Annahme einer «hypotetische[n] Autorenrolle» impliziert, so S tolz (2005), S. 27. 339 Exemplarisch für eine Edition auf der Grundlage kritisch erstellter Redaktionstexte ist die Ausgabe der ›Rechtssumme‹ Bruder Bertholds durch S teer (1987a), s. dazu S teer <?page no="81"?> oder einen Redaktionstext als Editionsziel entscheidet, ist es wichtig, auf den vollzogenen Perspektivenwechsel im Umgang mit mittelalterlicher Textüberlieferung hinzuweisen, demzufolge es «grundsätzlich keine ›guten‹ und ›schlechten‹ (›verdorbenen‹, ›minderwertigen‹) Textzeugen» 340 gibt. Alle Handschriften haben einen «Eigenwert», 341 so dass sie «gleichermaßen sorgfältig zu untersuchen und zu beschreiben [sind].» 342 Trotz des textkritischen und stemmatologischen Vorgehens bei der Konstitution eines Editionstextes, das notwendigerweise zur Hierarchisierung der Überlieferung führt, fehlt - und das ist das eigentlich Neue und Wegweisende am Ansatz der Würzburger Forschergruppe - die Vorstellung eines «Authentizitätsgefälles.» 343 Dies liegt daran, dass die Überlieferung nicht an ihrer präsupponierten Autornähe gemessen wird. Die Handschriften werden also nicht nach dem Grad ihrer Fähigkeit taxiert, den authentischen Text zu bezeugen. 344 Dies befreit die Methode von jenem Subjektivismus, der einer nach den Kriterien ‹richtig›/ ‹falsch›, ‹echt›/ ‹unecht› urteilenden Philologie notwendigerweise anhaftet. Die überlieferungsgeschichtliche bzw. überlieferungskritische Edition wurde für Texte entwickelt, die «durch ihren vielfachen Gebrauch mit unterschiedlicher Zweckbestimmung eine offene Überlieferungsform aufweisen, d.h. zahlreichen Textmutationen ausgesetzt waren, ja z.T. in verschiedenen Redaktionen erscheinen.» 345 Der neue Editionstyp fragt nicht nach dem Text als statisches, vom Autor gesetztes Gebilde, sondern nach der Wirklichkeit eines «lebenden Textes.» 346 Er operiert also mit einem Textbegriff, der den Text als «dynamische Größe» versteht, die «sich erst im Prozeß der Überlieferung konstituiert.» 347 Seit der Forderung von K arl S tackmann , jede germanistische Textausgabe solle «aus vollständiger Kenntnis der Überlieferungsgeschichte hervorgehen», 348 ist ein solches Verständnis vom Text auch in anderen Bereichen der germanistischen Mediävistik festzustellen. Ausdruck für diesen Wandel, der die fach- Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 71 (1978) und S teer (1985b). Die ›Klage‹-Edition von B umke (1999) knüpft an diesen Editionstyp an (s. dazu weiter unten). 340 R uh (1978), S. 36f. 341 S teer (1978), S. 126. 342 R uh (1978), S. 37. Der Materialität der Überlieferung wird vor allem in den von der Forschergruppe herausgegebenen Untersuchungsbänden Rechnung getragen. Beobachtungen, die sich aus der spezifischen Materialität und Textualität der Überlieferungsträger ergeben, werden dann für die Interpretation von Textvermittlungsprozessen fruchtbar gemacht. Die Frage nach den Grenzen der Interpretierbarkeit von überlieferungsgeschichtlichen Daten in Verbindung mit textgeschichtlichen Befunden ist allerdings noch nicht ausdiskutiert, stellt W illiams -K rapp (2000), S. 13 auch im Blick auf die im editorischen und interpretatorischen Bereich aktuelle Diskussion um den Umgang mit Varianz fest. 343 H ilgers (1973), S. 403. 344 Vgl. S teer (1978), S. 122. 345 R uh (1978), S. 35. 346 H över (1978), S. 131. 347 K irchert (1985), S. 54. 348 S tackmann (1964/ 1997), S. 24. <?page no="82"?> interne Diskussion um einen adäquaten editorischen und interpretatorischen Umgang mit mittelalterlichen Texten aus dem Bereich der volkssprachlichen Literatur seit einiger Zeit bestimmt, ist die Rede vom ‹offenen› oder ‹unfesten› Text. 349 Auslöser dieses verstärkten Interesses an der mittelalterlichen Überlieferungswirklichkeit und Textualität, das spätestens seit Anfang der neunziger Jahre die engeren Grenzen der Editionswissenschaft überschritten hat, war die New Philology, 350 die mit ihren zum Teil provokativen Thesen das Fach zur Neubestimmung seines Selbstverständnisses zwang. Ich greife im Folgenden nur die für meine weitere Argumentation wichtigen Aspekte der altgermanistischen Debatte um Text, Autor und Edition heraus, die von der New Philology ausgelöst wurde. Die Offenheit der Texte zu propagieren, ist auch für die Vertreter der New Philology eine wichtige Angelegenheit, was auch nicht weiter verwundert, wenn man sich vergegenwärtigt, aus welchen Quellen sich der Ansatz eigentlich speist. Dies ist die moderne Literaturtheorie im Gefolge von B arthes und F oucault , die gegen jede Festlegung des Sinnes, vor allem durch die Autorinstanz, seit den sechziger Jahren Sturm läuft. 351 So behauptet etwa B arthes : «Sobald ein Text einen Autor zugewiesen bekommt, wird er eingedämmt, mit einer endgültigen Bedeutung versehen, wird die Schrift [écriture] angehalten.» 352 Mit anderen Worten: Erst die Verabschiedung vom Autor - B arthes fordert bekanntlich seinen Tod - garantiert, dass die «écriture» weiter geht. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Leser, denn «écriture» setzt sich ja erst im Dialog mit ihm fort. Diesen Theoremen begegnet man bei B ernard C erquiglini , einem der einflussreichsten Theoretiker der New Philology, in einer auf die mittelalterlichen Überlieferungsverhältnisse angewandten Form wieder. 353 C erquiglini ist der Ansicht, der vom Autor gesetzte Text zähle im Mittelalter wenig 72 Einleitung 349 Den Begriff des ‹offenen Textes› hat K ühnel (1976) als erster geprägt. Vom ‹unfesten Text›, dessen Kennzeichen sei, dass er «nicht durch ein Autorbewußtsein in der Tradierung konsistent gehalten wird», ist meines Wissens zuerst bei F romm (1976), S. 49 und S pechtler (1976), S. 229 die Rede. Von einer solchen überlieferungsgeschichtlich bedingten Offenheit des mittelalterlichen Textes ist der postmoderne Gebrauch des Begriffes kategorisch zu trennen, s. dazu R. S chnell (1998), S. 28 und B aisch (2006), S. 30f. 350 Vgl. die Beiträge in der Zeitschrift Speculum. A Journal of Medieval Studies 65 (1990), Nr. 1 sowie C erquiglini (1989). 351 Zu den theoretischen Hintergründen des ‹neo-philologischen› Ansatzes s. R. S chnell (1998) und L öser (2004).Vgl. dazu demnächst auch L öser (2010). 352 B arthes «Der Tod des Autors», in: J annidis (2000), S. 191. 353 Dass sich der von C erquiglini vorgetragene Textbegriff «strukturell affin zum écriture- Konzept in der Nachfolge von Roland Barthes und Jacques Derrida» erweist, betont auch B aisch (2006), S. 26. B aisch weist jedoch auch darauf hin, dass bei dem von C er quiglini vorgenommenen Transfer eine Verwechslung der begrifflichen Ebenen vorliegt, denn die mit «écriture» implizierte Offenheit des Textes ist in der poststrukturalistischen Literaturtheorie eine semiotische Kategorie, die sich «auf den Aspekt der Textbedeutung schlechthin [bezieht], der zunächst unabhängig von der linguistischen Varianz gedacht ist» (S. 30f.). <?page no="83"?> gegenüber der «incessante récriture d’une œuvre qui appartient à celui qui, de nouveau, la dispose et lui donne forme.» 354 Mit seinem Konzept von «récriture» antwortet C erquiglini auf die Forderung von B arthes , die Schrift («écriture») nicht anzuhalten. Ist es in dem von B arthes entwickelten Modell der Leser, der das Fortbestehen von «écriture» garantiert, so wird bei C er quiglini und den ‹Neuen Philologen› seine Funktion vom mittelalterlichen Schreiber übernommen: Seine «récriture» soll immer neue Lesarten und (immer sinnvolle) Varianten hervorgebracht haben. C erquiglini wendet sich, wie die Autoren des Speculum-Bandes «The New Philology», gegen eine Philologie, die, weil auf die Rekonstruktion des einen stabil gedachten Autortextes fixiert, auf die größtmögliche Reduktion der Varianz gedrängt hat. Ein solches Verständnis von mittelalterlicher Textualität verkennt, wie C erquiglini betont, die Wirklichkeit einer tradition vivante, da folgendes gilt: «l’écriture médiévale ne produit pas des variantes, elle est variance» (S. 111). Demzufolge muss der Philologe sein Interesse der Handschrift, dem konkreten Produkt des mittelalterlichen «manuscript culture» 355 widmen. Er wird angehalten, die Handschrift in ihrer jeweiligen historischen Erscheinungsform zu interpretieren und zu edieren. Auf Hierarchisierungsversuche mittelalterlicher Überlieferungsträger mittels Textkritik soll er, fordert C erquiglini , verzichten und das Überlieferte in seiner Varianz präsentieren, und zwar in Form von unbearbeiteten Handschriftenabdrucken, gilt es doch die «pensée textuaire» (S. 43) der alten, K arl L achmann verpflichteten Editorenschule durch eine «philologie posttextuaire» (S. 115f.) zu überwinden, 356 denn: «chaque manuscrit est un remaniement, une version» (S. 62). Die hier avisierte Justierung der Philologie betrifft indes nicht nur die Editorik, sondern auch den ihr und der Literaturwissenschaft überhaupt zugrunde liegenden Text- und Autorbegriff. Das Postulat, die mittelalterliche Überlieferung sei grundsätzlich variant und alle Handschriften seien in ihrer Varianz als gleichwertig anzusehen, verbietet für C erquiglini nicht nur die (textkritisch motivierte) Frage nach dem Original, sondern die Idee des Originals überhaupt. Es gibt nur das «œuvre scribal» (S. 58), und auch dies nur als Pluraletantum. Wenn wir aber nur noch mit Texten, deren Kennzeichen «variance» ist, und mit Schreibern zu tun haben, denen als Produzenten von «variance» eine quasi-auktoriale Position zukommt, dann muss man sich von der Vorstellung sowohl vom Original als auch vom Autor verabschieden. Tatsächlich liest man bei C erquiglini : «L’auteur n’est pas une idée médiévale.» 357 Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 73 354 C erquiglini (1989), S. 57. 355 Vgl. den programmatischen Aufsatz von N ichols (1990). 356 Vgl. auch F leischmann (1990), S. 25: «The philologist’s task should be comparison, not archeology, since the latter reduces to singularity what acquires meaning precisely through plurality, through variation.» F leischmann schließt hier unmittelbar an C er quiglini (1989), S. 68 an: «l’analyse doit être comparative, et non pas archéologique.» 357 C erquiglini (1989), S. 25. Vgl. dazu B arthes «Der Tod des Autors», in: J annidis (2000), S. 186: «Der Autor ist eine moderne Figur» («L’auteur est un personage moderne»). <?page no="84"?> Konfrontiert man die Forderungen der New Philology mit dem Wandel, der in vielen Bereichen der Altgermanistik, genauer der Editorik, seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts nachzuweisen ist und mit der Würzburger Forschergruppe eine institutionalisierte Form erlangt hat, so erweist sich das angeblich Neue in vielen seinen Facetten als altbekannt und von der überlieferungsgeschichtlichen Methode vielfach antizipiert. 358 Die Rückbesinnung auf die Materialität und Medialität der mittelalterlichen Überlieferung, das Hinnehmen ihrer Varianz und der Versuch, sie editorisch adäquat zur Darstellung zu bringen, sowie die Revision von einseitig auf Autor- und Echtheitsprobleme bezogenen Betrachtungsweisen, all dies ist in die altgermanistische Editionspraxis längst eingegangen. 359 Die New Philology hat hier einiges übersehen. 360 Neu ist hingegen die Verbindung philologischer Fragestellungen mit den Thesen unterschiedlicher Strömungen der postmodernen Literaturtheorie. 361 Vor allem die Kritik des traditionellen Autor- und Werkbegriffes scheint eine Faszination ohnegleichen auf die Vertreter der New Philology ausgeübt zu haben. Man hat den Eindruck, als hätte der Ruf nach der Verabschiedung vom Autor zugunsten des Schreibers und nach der Auflösung des Werkes in eine Vielzahl von Einzeltexten mit Originalitätsanspruch seine eigentliche Stoßkraft von der Theoriediskussion und nicht von der Forschung zur Überlieferung gewonnen. 362 Dies würde die Frage nach der Gültigkeit der Thesen der New Philology für das deutsche Mittelalter aufwerfen, gäbe es nicht kritische Ansätze innerhalb der ‹Älteren Philologie›, die in die gleiche Richtung weisen (s.o.). Diese Koinzidenz ist selbst dann bemerkenswert, wenn man der Art 74 Einleitung Dabei muss mit B aisch (2006), S. 40 betont werden, dass B arthes wie auch F oucault nicht die Existenz des ‹Autors-als-Produzenten› problematisieren, sondern gegen den ‹Autorals-Interpretament› argumentieren, eine Unterscheidung, die bei C erquiglini fehlt. 358 Zu den Konfliktpunkten der ‹alten› und ‹neuen› Philologie aus einer systematischen Perspektive s. S trohschneider (2002). 359 Vgl. die ausgewogene Würdigung des ‹neuphilologischen› Ansatzes durch S tackmann (1993) und (1994). Inzwischen wurde New Philology in Material Philology umgetauft und damit auch die eigentliche Stoßrichtung des Ansatzes terminologisch genauer gefasst: «Material philology takes as its point of departure the premise that one should study or theorize medieval literature by reinserting it directly into the vif of its historical context by privileging the material artefact(s) that convey this literature to us: the manuscript», N ichols (1997), S. 10f. (Kursivierung von N ichols ). 360 Angesichts der Tatsache, dass ähnliche Entwicklungen auch in den romanischen Philologien, aus denen die Vertreter der New Philology ja rekrutieren, stattgefunden haben (vgl. R. S chnell 1998, S. 42f., Anm. 117), fragt man sich, ob die fehlende Notiz über die Entwicklungen in der Altgermanistik und Alt-Italianistik aus Unkenntnis zu erklären ist oder ob es sich um den Versuch handelt, mit der vermeintlich diskursbestimmenden L achmann -Methode ein Feindbild aufzubauen und eine Kontrastfolie zu schaffen, damit die eigene Position ein umso deutlicheres Profil erlangt. 361 Dies begründet die immer noch nicht versiegte Wirkung der New Philology, meint G ärtner (2007), S. 12. 362 So R. S chnell (1997), S. 85 bzw. (1998), S. 13 und 15. <?page no="85"?> und Weise, wie Vertreter der New Philology moderne Theoreme auf die mittelalterliche Literatur übertragen, nämlich mechanisch und undifferenziert, skeptisch gegenüber steht. Skeptisch stimmt der ‹neo-philologische› Kurzschluss, aus der Nicht-Rekonstruierbarkeit eines Originals die These des gänzlichen Fehlens von Originalen in den volkssprachlichen Literaturen des Mittelalters abzuleiten - wobei Original nicht notwendigerweise nur das Produkt eines einzigen schöpferischen Individuums darstellen muss. 363 Auch der These, der Autor sei keine mittelalterliche Idee, wird man schwerlich zustimmen können. 364 Nicht viel anders verhält es sich mit der von C erquiglini und den Autoren des Speculum-Sonderheftes angestrebten «Essentialisierung des Begriffs Varianz», 365 aus der die Forderung nach der Verabschiedung vom textkritischen Denken abgeleitet wird. Dem wird zum einen entgegengehalten, dass nicht alle Varianten, die die mittelalterliche kopiale Überlieferungspraxis hervorbringt, gleich sinnvoll und interpretationsrelevant sind, 366 da unter ihnen zuweilen auch Fehler zu finden sind, die auch als solche erkannt werden können und erkenntlich gemacht werden müssen. Zum anderen wird in Abgrenzung zu einer Position, die an die Stelle des einen Extremen, des als absolut stabil gedachten Textes, das andere Extrem, den absolut instabilen, Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 75 363 Ausgehend vom «›kollektive[n]‹ Autograph» der ›Schwarzwälder Predigten‹ macht H.-J. S chiewer (1996), S. 60-63 auf das bislang wenig beachtete Phänomen der arbeitsteiligen Literaturproduktion aufmerksam: Hier sind Originale grundsätzlich als Produkte einer Autoren- oder Arbeitsgruppe anzusehen. S. dazu auch S. 305ff. weiter unten. 364 Da ich auf die Frage, wie angesichts der mittelalterlichen Überlieferungsverhältnisse angemessen und historisch differenziert von Autorschaft gesprochen werden kann, im Laufe der Arbeit (vgl. Kap. III) näher eingehen werde, verweise ich hier auf die Beiträge von R. S chnell (1998) und L öser (2005a), die diesen Fragekomplex vor dem Hintergrund der ‹neo-philologischen› Provokation eingehend diskutieren. 365 W arning (2007), S. 18, Anm. 83. 366 Bereits S tackmann (1964/ 1997) hat aus editionstechnischen Gründen die Unterscheidung zwischen iterierenden und Präsumptivvarianten eingeführt. Auch die überlieferungsgeschichtliche Methode hat nie daran gezweifelt, zwischen Primär- und Sekundärvarianten unterscheiden zu können, ohne dabei die Absicht zu hegen, daraus einen Authentizitätsbeweis abzuleiten. Dies soll freilich nicht ausschließen, dass Entstehungs- und Überlieferungsvarianten unter besonders günstigen Bedingungen voneinander geschieden werden können, vgl. R. S chnell (1998), S. 51f. und L öser (2005a), S. 287. Die Frage nach der Hierarchisierung der Varianten ist indes nicht nur im Bereich der Editorik, wo es ja um die adäquate und übersichtliche Präsentation der Überlieferung geht, von besonderer Bedeutung, sondern auch für die Interpretation, wohlwissend, dass beide schwer voneinander zu trennen sind. In diesem Sinne fordert S chubert (2000), S. 43 in seinem Referat zum «Stand und Fortgang der Varianzforschung» eine «Systematik der Varianten, welche die Entstehungsmöglichkeiten klassifiziert und ihre Relevanz für die Textuntersuchung bestimmt.» Vgl. dazu auch S chubert (2003) und jetzt H asebrink (2009) bzw. demnächst die Freiburger Dissertation «Erstellung einer Varianztypologie für mittelhochdeutsche Verserzählungen» (Arbeitstitel) von H elen K urss . Einem alles nivellierenden Umgang mit Varianz, wie sie von der New Philology propagiert wird, steht man also skeptisch gegenüber. <?page no="86"?> nicht einem Herausgeber im traditionellen Sinne, sondern nur noch der Transliteratoren bzw. Dokumentatoren bedürfenden Text setzt, davor gewarnt, nicht alle Varianten über einen Kamm zu scheren und auch dem Phänomen der invariance Rechnung zu tragen. 367 Erst eine solch differenzierte Vorgehensweise, die ohne die von der New Philology verschmähte Textkritik und einen mit Bedacht gehandhabten Fehlerbegriff kaum denkbar ist, ermöglicht es, Varianz zum Sprechen zu bringen. Denn in der überlieferten Handschrift dokumentieren sich unter Umständen mehrere Schichten des Gebrauchs, die erst aufgedeckt werden müssen, um im Idealfall die Eigenanteile der Varianz generierenden Schreiber zu bestimmen, die jeweilige Textschicht historisch zu situieren und Varianzphänomene interpretierbar zu machen. Die von der New Philology vorgeschlagene Editionsform des schlichten Paralleldruckes, «der alles Überlieferte nebeneinander stellt, leistet das nicht, weil er das historisch Differente ahistorisch auf eine Ebene projiziert und so den Überlieferungsbefund gerade verfehlt.» 368 Es wäre indes ungerecht, nur auf die philologischen Defizite der New Philology hinzuweisen. Die situative Anbindung der Handschrift in einen historischen Rezeptionszusammenhang, der Versuch ihrer Rekontextualisierung, zwei Anliegen also, die sich der in ‹Material Philology› umgetaufte Ansatz auf die Fahnen geschrieben hat, erlauben es, ihn auch für kommunikationstheoretische und -pragmatische Fragestellungen fruchtbar zu machen. 369 Zudem fügt sich der Ansatz, der sich von der Idee des einen Textes und einer mehr oder weniger verfälschenden Überlieferung trennt und sich stattdessen dem Prozess der (autorunabhängigen) Wieder- und Neuverschriftlichung zuwendet, in einen Wandel, der sich in der Altgermanistik schon seit längerer Zeit anbahnt. Es geht dabei um ein Textverständnis, das den Text als «transitorisches Resultat von ›Arbeit‹» begreift, von «Arbeit an einem Stoff, einem literarischen Motiv, 76 Einleitung 367 S. dazu J.-D. M üller (1999), S. 162f. und W olf (2002), S. 180-185. Weiterführend R. S chnell (1997), S. 93 und S trohschneider (1997). Dass das Mittelalter nicht nur die «Éloge de la variante» (C erquiglini ), sondern auch eine «Éloge de l’invariabilité» (M artin B aisch ) erlaubt, dass es also neben Varianzphänomenen auch ein Bewusstsein von und ein Bedürfnis nach festen Texten gibt, betont R. S chnell (1998), S. 58-62. S. dazu auch die Aufsätze von K laus G rubmüller und B runo Q uast mit zahlreichen Belegen zu einem produzentenseitigen Originalitätsbewusstsein in P eters (2001a), S. 8-33 und 34-46 sowie meine Hinweise zu einem rezipientenseitigen Interesse am Original auf S. 361ff. weiter unten. 368 J. H einzle (2003), S. 10 (Kursivierung von J. H einzle ). 369 Vgl. S trohschneider (1997), S. 72f. Von hier aus entwickelt S trohschneider die Vorstellung vom ‹Text als Handlung›, eingelassen in die zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit oszillierenden Kommunikationszusammenhänge mittelalterlicher Kultur, s. S troh schneider (1999). Hinführend auf das von N ichols vertretene Konzept der «Material- Philology» wirkt das Votum von P eters (2007), S. 85-88 für ein «materialphilologisches Textverständnis» (S. 88), das die Wideraufnahme der germanistischen Text-Kontext- Diskussion der siebziger Jahre propagiert und sich für deren Rückbindung an die Überlieferung, den konkreten Rezeptionszeugen, plädiert. <?page no="87"?> einem Konzept.» 370 Für dieses Phänomen wurde kürzlich der Begriff «Retextualisierung» geprägt. 371 Anschlussfähig erwies sich der Ansatz auch aus der Sicht der Diskussion, die innerhalb der altgermanistischen Editionswissenschaft seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts geführt wird und um die Fragen kreist, wie mit Varianz editorisch und interpretatorisch adäquat umzugehen ist und welche Auswirkungen sie auf den Text- und Autorbegriff hat. Als ausgemacht gilt, dass die New Philology wenig Substantielles zur Klärung dieser Probleme, allen voran im Bereich der Editorik, beigetragen hat. Ihre forschungsgeschichtlich wichtige Funktion ist dennoch nicht abzustreiten, hat sie doch zur Stärkung des Problembewusstseins des Faches und zur Bündelung vorhandener Forschungsenergien geführt. Die Folge ist, dass nun methodisch reflektiert und philologisch fundiert an einer Beschreibung des Status mittelalterlicher Textualität gearbeitet wird. Einen wichtigen Beitrag zu dieser Diskussion stellt die «monumentale Streitvorlage» (H ans -J ochen S chiewer ) von J oachim B umke aus dem Jahre 1996 dar. 372 Ihr sollen meine folgenden Ausführungen gelten, weil hier vor dem Hintergrund der Überlieferungsgeschichte und der Textkritik der höfischen Epik zentrale Fragen literaturwissenschaftlichen Arbeitens diskutiert werden: Wie sieht ein Textbegriff aus, der sich nicht an den Bedingungen der Buchkultur des 19. Jahrhunderts orientiert, sondern der Überlieferungswirklichkeit mittelalterlicher Literatur (Varianz, unfeste Textlichkeit) gerecht werden will? Wie setzt man einen solchen, historisch determinierten Textbegriff mit Autor und Werk, den beiden klassischen Größen der traditionellen Literarhistoriographie, in Relation? Ist eine solche Relationierung überhaupt gerechtfertigt angesichts der Pluralität der Instanzen, die sich durch ihre Beteiligung an der (Re-)Produktion und Distribution von Texten sich zwischen den Autor und den heutigen Leser schieben? Fast zur gleichen Zeit, als C erquiglini und die Autoren des Speculum- Sonderheftes «The New Philology» das «Lob der Variante» verkünden und der Suche nach der einzig authentischen Lesart die Absage erteilen, veröffentlicht B umke einen Aufsatz, in dem er Varianten eine «prinzipiell[e] Gleichgewichtigkeit» zugesteht und dazu auffordert, man solle sich bei der Sichtung der Überlieferung von der Vorstellung befreien, «daß von zwei konkurrierenden Lesungen immer eine richtig und die andere falsch sein müsse, allenfalls beide fehlerhaft, aber nicht beide richtig.» 373 Ein früher New Philologist unter den Altgermanisten, würde man meinen, hieße es nicht gleich im Anschluss an die eingeforderte prinzipielle Gleichgewichtigkeit der Varianten: «Gleichgewichtigkeit bedeutet natürlich nicht Gleichwertigkeit: nicht selten ist die eine Lesart deutlich besser, passender, anspruchsvoller oder dem Wortgebrauch Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 77 370 J.-D. M üller (1995), S. 450. 371 Vgl. dazu die Beiträge in B umke / P eters (2005) sowie S teinmetz (2005). 372 Vgl. B umke (1996a). 373 B umke (1991), S. 266. <?page no="88"?> des Autors [! ] gemäßer als die andere.» 374 Wenn B umke bei der Unterscheidung der Varianten auf das wertende Urteil des Philologen abhebt, der bei seinen textkritischen Entscheidungen gegebenenfalls auch den Wortgebrauch des Autors zu berücksichtigen hat und gleichzeitig für einen unvoreingenommenen Zugang zur Überlieferung plädiert, damit die Varianz in ihrer prinzipiellen Gleichgewichtigkeit ernst genommen wird, so scheint sich in diesem Aufsatz von B umke noch eine Auffassung von mittelalterlicher Textualität widerzuspiegeln, die das Existenzrecht des Autortextes - den es auch im Plural geben kann 375 - und den Anspruch, ihn zu erschließen, nicht grundsätzlich in Frage stellt, sondern ergänzend dazu eine eingehende Beschäftigung mit den historischen, von Varianz gezeichneten Existenzformen des Autortextes, den Fassungen, einfordert. Man liest nämlich: Die Aufgabenstellung der traditionellen Textkritik wird davon [vom Vorliegen von Fassungen] kaum berührt. Die Frage nach dem echten Text behält ihr Gewicht; und von diesem Standpunkt aus wird es als die vordringliche Aufgabe erscheinen, in möglichst vielen Fällen zu klären, welche Fassung jeweils den Rang einer Autorversion beanspruchen kann und welche als sekundär anzusehen ist. Es geht nicht darum, das klassische Ziel der Textkritik, die Wiedergewinnung des originalen Wortlauts, weniger ernst zu nehmen als bisher; vielmehr plädiert dieser Exkurs dafür, daß die textkritische Forschung im Bereich des höfischen Romans daneben auch dem Phänomen der «gleichwertigen Parallelversionen» ihre Aufmerksamkeit zuwendet. 376 Fünf Jahre später heißt es dagegen: Man kann daran festhalten, daß ein höfisches Epos von einem bestimmten Autor verfaßt worden ist, daß der Originaltext verlorengegangen ist und daß mehrere Fassungen überliefert sind, von denen nicht sicher ist, in welchem Verhältnis sie zum Original stehen. Aber das ist sozusagen nur ein theoretischer Standpunkt. Die Realität der Überlieferung sieht so aus, daß man es immer schon mit verschiedenen Fassungen zu tun hat, so weit man die Überlieferungsgeschichte zurückverfolgen kann. […] Was textgeschichtlich vor diesen Fassungen liegt, läßt sich nicht berechnen. Damit verschiebt sich der Werk-Begriff vom Original auf die Fassungen. 377 Der Autor als Begründungsinstanz textkritischer Entscheidungen taucht 1996 nicht mehr auf, der Wiedergewinnung des originalen Wortlauts wird eine klare Absage erteilt. Diesen Sinneswandel meinte W erner S chröder - er spricht von der «Enteignung der mittelhochdeutschen Dichter zugunsten von Schreibern, Redaktoren, Herstellern von handschriftlichen Versionen» 378 - 78 Einleitung 374 B umke ebd. 375 Vgl. B umke ebd., S. 301, Anm. 178. 376 B umke ebd., S. 301. 377 B umke (1996a), S. 48. 378 S chröder (1998), S. 172. <?page no="89"?> mit der Begegnung B umke s mit C erquiglini erklären zu können. Dem muss aber entgegnet werden, dass B umke s Beweisführung und sein streng überlieferungs- und textgeschichtlich orientierter Ansatz nirgends den Einfluss der Theoreme erkennen lassen, die die New Philologists aus der Übertragung postmoderner Theorien auf das Mittelalter entwickelt haben. 379 Denn B umke zeigt keinerlei Interesse, sich mit diesen Theoremen zu beschäftigen, geschweige denn kritisch auseinanderzusetzen, obwohl es zweifellos gewisse Gemeinsamkeiten zumindest in der Stoßrichtung gibt. 380 Wie schon die New Philology zweifelt auch B umke an der Berechtigung der Annahme, die Überlieferung sei ein stetig voranschreitender Prozess der Textverschlechterung, des Abfalls von dem einen, stabil gesetzten und auktorial autorisierten Text, dem Original, ein Prozess, dem editorisch dadurch abzuhelfen sei, dass man ihn umkehrt und die Varianzphänomene reduziert, bis die ursprüngliche Textgestalt hinter der Vielfalt der Überlieferungsformen wieder aufscheint. Während der ‹neo-philologische› Ansatz, der von der Überzeugung ausgeht, die «variance» der mittelalterlichen Überlieferung mache die Rekonstruktion des Originals obsolet, und der dieser Vorgehensweise mit einem gänzlichen Verzicht auf textkritisches Denken begegnet und für die Gleichgewichtigkeit, ja, die prinzipielle Gleichwertigkeit aller handschriftlichen Zeugnisse plädiert, hält B umke daran fest, dass Varianten klassifiziert und Handschriften hierarchisiert werden können und sogar müssen. Denn sonst gäbe es keine Möglichkeit, die mittelalterliche Überlieferung in ihrer viel besagten Unfestigkeit und Offenheit zu erfassen und angemessen zu beschreiben. Den Zugang zur Beschreibung der Dynamik der mittelalterlichen Handschriftenkultur sucht B umke nicht über die Einzelhandschrift, wie die New Philology, sondern über die Bestimmung von Handschriftengruppen. Diese Gruppen werden Fassungen genannt. Von Fassungen spreche ich wenn 1. ein Epos in mehreren Versionen vorliegt, die in solchem Ausmaß wörtlich übereinstimmen, daß man von ein und demselben Werk sprechen kann, die sich jedoch im Textbestand und/ oder in der Textfolge und/ oder in den Formulierungen so stark unterscheiden, daß die Unterschiede nicht zufällig entstanden sein können, vielmehr in ihnen ein unterschiedlicher Formulierungs- und Gestaltungswille sichtbar wird; und wenn 2. das Verhältnis, in dem diese Versionen zueinander stehen, sich einer stemmatologischen Bestimmung widersetzt, also kein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der klassischen Textkritik vorliegt, womit zugleich ausgeschlossen wird, daß die eine Version als Bearbeitung der anderen definiert werden kann; viel- Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 79 379 Auch S trohschneider (1998), S. 107 macht darauf aufmerksam, dass der Autor hier «nicht auf dem Wege einer (post-)strukturalistischen Kategorienreflexion, sondern auf sozusagen handfest empirisch-philologische Weise […] zur jedenfalls historisch uneinholbar gewordenen Kategorie erklärt wird.» 380 Freilich situiert B umke seinen Ansatz in der aktuellen, von der New Philology angestoßenen Diskussion um den Umgang mit mittelalterlicher Textualität, s. B umke (1996a), S. 55. <?page no="90"?> mehr muß aus dem Überlieferungsbefund zu erkennen sein, daß es sich um «gleichwertige Parallelversionen» handelt. 381 Wie der Definition entnommen werden kann, wird Gleichwertigkeit nicht nur an inhaltlich-formale Kriterien gebunden, sondern zusätzlich stemmatologisch abgesichert. Fassungen sind demnach nicht per se gegeben, sondern müssen rekonstruiert werden. Dabei geht B umke traditionell textkritisch vor. Die Überlieferung wird gesichtet und in Handschriftengruppen aufgeteilt, die Handschriften innerhalb der Gruppen hierarchisiert, der dem Ausgangspunkt der einzelnen Gruppen (oft sind es zwei) am nächsten stehende (oft der älteste) Textzeuge ermittelt und seine mit Sicherheit identifizierbaren Individualvarianten unter kritischer Berücksichtigung der sonstigen Handschriften der jeweiligen Gruppe auf den ursprünglichen Fassungstext hin zurückgeführt. Nach der Nähe des auf diese Weise erschlossenen Fassungstextes zum Original wird nicht gefragt. Dass dies kein Zugeständnis an die New Philology darstellt, muss gegenüber einigen Rezensenten betont werden, die das Verdienst von B umke gerade darin sehen wollten, «daß er gegenüber dem auktorial autorisierten Original bzw. dem einen Archetypus der alten Philologie wie gegenüber der offenen Vielzahl je einzelner Handschriften bei den New Philologists gewissermaßen die Zwischenstufe einer begrenzten Anzahl von ‹Fassungen› stark macht.» 382 Doch haben wir es nicht mit einem «‹New Philology›-Ansatz» 383 zu tun, sondern mit einer in der germanistischen Mediävistik bekannten und oft mit Erfolg angewandten Methode, die eine breite und variante Überlieferung editorisch aufzuarbeiten vermag. Es handelt sich um den bereits angesprochenen überlieferungsgeschichtlichen Ansatz, genauer um das von G eorg S teer für die Ausgabe der ›Rechtssumme‹ Bruder Bertholds entwickelte Verfahren, das bei B umke s ›Klage‹-Edition Pate gestanden zu haben scheint. 384 S teer charakterisiert seine Vorgehensweise wie folgt: «Der editorische Schnitt wurde nicht an der ‹Spitze› der Textüberlieferung (Original, Archetyp) [Paradigma der ‹alten› Philologie, B.J.N.] oder deren ‹Ende› (Einzelhandschrift) [Programm der ‹neuen› Philologie, B.J.N.] gelegt, sondern in der ‹Mitte›, auf der Ebene der Redaktionen.» 385 An der gleichen Stelle legt auch B umke seinen «editorischen Schnitt» an, nur spricht er nicht von Redaktionen, sondern von Fassungen (zum konzeptionellen Unterschied zwischen diesen beiden Termini s. weiter unten). 80 Einleitung 381 B umke (1996a), S. 32. Zitat im Zitat: S tackmann (1964/ 1997), S. 22. 382 S trohschneider (1998), S. 114. Ähnlich L ienert (2000), S. 368, H ausstein (1999), S. 44 und S tackmann (2001), S. 381. Kritisch dazu W illiams -K rapp (2000), S. 11f. 383 So W olf (2002), S. 186. 384 Zwar lässt B umke (1996a), S. 4 im Zusammenhang mit der seit den siebziger Jahren zu beobachtenden methodischen Neuorientierung des Faches die überlieferungsgeschichtliche Methode nicht unerwähnt, verzichtet jedoch darauf, die Überschneidungen zwischen seiner Methode und der von der Würzburger Forschergruppe in filigranen Nachweisketten zu dokumentieren. 385 S teer (1985a), S. 46. <?page no="91"?> Die Tatsache, dass B umke diesen Ansatz von S teer zum Vorbild nimmt, um über die verzweigte Überlieferung der ›Klage‹ editorisch Herr zu werden und ein umfassendes theoretisches Modell über die Entstehung und Überlieferung von den Texten aus dem Bereich der höfischen Epik zu entwerfen, erkennt man gleich, wenn man sich jenem Aufsatz von S teer zuwendet, dem der gerade eben zitierte Passus entstammt und dem B umke die zentrale Frage seiner «Untersuchungen» verdankt. Diese Frage lautet: «Wie weit müssen Textausformungen eines Werkes divergieren, daß sie als unterschiedliche Fassungen dieses Werkes angesprochen und unter editorischem Aspekt als verschiedene Texte behandelt werden müssen? » 386 Um diese Frage beantworten zu können, müssen Fassungen, so S teer , zunächst einmal erschlossen werden, und zwar auf dem Weg der Rekonstruktion: «Die Textform, die letztlich als Fassung angesprochen werden kann, muß in textarchäologischer Feinarbeit aus dem Chaos der Varianten eines Textes herausgelöst werden.» 387 Diese rekonstruierten Textformen können ihrerseits nur dann als Fassungen bezeichnet werden - mit Hinblick auf sein Fallbeispiel, die ›Rechtssumme‹ Bertholds, spricht S teer allerdings von «Redaktionen» -, wenn sie genetisch nicht unmittelbar miteinander verbunden sind, ergo nicht voneinander abgeleitet werden können. Die editorische Konsequenz lautet, dass solche stemmatologisch voneinander unabhängigen Texte als «parallele Redaktionen» 388 anzusehen - S teer hat, wie schon erwähnt, die Textgeschichte der ›Rechtssumme‹ vor Augen - und synoptisch zu präsentieren sind. Die von S teer formulierte Grundvoraussetzung zum Vorliegen von Redaktionen, d.h. der Nachweis der fehlenden genealogischen Verbindung zwischen zwei, aus der Überlieferung erschlossenen Textformen, scheint in B umke s Fassungsdefinition eingegangen zu sein (s. oben Anm. 381 mit Text). Diese methodischen Gemeinsamkeiten dürfen indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass grundsätzliche Unterschiede in der Bewertung jener Textformen auszumachen sind, die bei S teer Redaktionen, bei B umke Fassungen genannt werden. Im Unterschied zu S teer , der die Begriffe Fassung und Redaktion synonym zu verwenden scheint (s. Zitate im vorangehenden Absatz), spricht B umke konsequent von Fassungen und nimmt eine zusätzliche Differenzierung zwischen Fassung und Bearbeitung vor: Unter einer Bearbeitung verstehe ich eine Textfassung, die eine andere Version desselben Textes voraussetzt und sich diesem gegenüber deutlich als sekundär zu erkennen gibt. Für Fassungen dagegen ist kennzeichnend, daß sie keine Bearbeitungen sind, das heißt gegenüber anderen Versionen nicht als sekundär zu erweisen sind, sondern Merkmale der Originalität aufweisen. 389 Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 81 386 B umke (1996a), S. 32 zitiert hier S teer (1993), S. 115. 387 S teer (1993), S. 117 (Kursivierung von S teer ). 388 S teer ebd. 389 B umke (1996a), S. 45f. <?page no="92"?> Dass B umke s Fassungen nicht gegen S teer s Redaktionen ausgetauscht werden können, erkennt man am folgenden Umstand: Zwar ließe sich das Kriterium des eigenen Formulierungs- und Gestaltungswillens, den B umke für Fassungen reklamiert (s. oben Anm. 381 mit Text), auch auf S teer s «parallele Redaktionen» übertragen 390 - hier zeigt sich, wie unscharf die Grenze zwischen Fassung und Bearbeitung unter inhaltlich-formalen Aspekten gesehen eigentlich ist -, doch Originalität kann und will S teer für sie nicht beanspruchen. Dies liegt daran, dass S teer eine Unterscheidung von prä- und postredaktionellen Textzuständen, d.h. von Autortext und Bearbeitung, im Falle der ›Rechtssumme‹ prinzipiell für möglich hält (der Grund dafür ist das Vorliegen des von Berthold bearbeiteten lateinischen Quellentextes). Praktisch bereitet eine solche Trennung freilich Probleme. Deshalb macht S teer bei der konkreten Editionsarbeit an der «Grenze, an der die »bloße Vermutung der Philologen« beginnt», 391 halt und zieht sich auf das historisch Belegbare zurück, wohl wissend, dass sich selbst «unter größtem Aufwand, nur ein hypothetischer Urtext rekonstruieren [läßt], dessen Verbindlichkeit auf weite Strecken hin zweifelhaft bleiben muß.» 392 Nichtsdestoweniger wird der textgeschichtliche Status der erschlossenen Redaktionstexte vom vermuteten Original Bruder Bertholds her bewertet: Sie gelten als abgeleitete Textformen, als Bearbeitungen. B umke teilt die Sicherheit, mit der S teer zwischen Autor- und Redaktortext zu unterscheiden versteht, nicht. Diese Skepsis spricht nicht gegen S teer s Untersuchungsergebnisse, sondern entspringt den Einsichten, die B umke seiner eigenen Beschäftigung mit der Textgeschichte der ›Klage‹ sowie der kritischen Überprüfung der Prämissen verdankt, nach welchen die Überlieferung der höfischen Epik beurteilt und ihre Texte ediert worden sind. Weder der Autor, die viel beschworene Begründungsinstanz editorischer Entscheidungen, noch der Autortext, das eigentliche Ziel und der Maßstab editorischer Bemühungen, spielen in B umke s Fassungsbegriff eine Rolle. Dies lässt sich wie folgt erklären. Angesichts des überlieferungsgeschichtlichen Faktums, dass sich die Ausgangstexte der Handschriftengruppen einer eindeutigen Bestimmung ihres stemmatologischen Abhängigkeitsverhältnisses widersetzen, empfiehlt B umke äußerste Zurückhaltung, einen Autortext identifizieren zu wollen. Das Vorliegen von Mehrfachfassungen konnte die ältere, einem emphatischen Autorbegriff verpflichtete Forschung allerdings nicht davon abhalten, nur eine Fassung als echt, die anderen dagegen als Bearbeitungen des ursprünglichen Textes zu betrachten. Eine wichtige Rolle spielten dabei Wertungen, die auf ästhetischen Qualitätsurteilen basieren, sowie das intuitive Argument, etwas 82 Einleitung 390 Eine der wichtigsten Aufgaben des von ihm textüberlieferungsgeschichtlich genannten Ansatzes sieht S teer (1985b), S. 16 in der Erfassung der «textgestaltenden Intentionen der Textmacher» sowie in der Beschreibung der «sich im Überlieferungsprozeß ausformenden Texte.» 391 S teer (1985a), S. 49. 392 S teer ebd., S. 43. <?page no="93"?> entspräche oder widerspräche der vermuteten sprachlich-stilistischen Eigenart des Autors. Alternativ dazu hat man in manchen Fällen erwogen, der Autor selbst könnte verschiedene Fassungen seines Werkes hergestellt haben. Als konsensfähig haben sich diese Ansichten jedoch nicht erwiesen, denn sie alle sind auch wieder bestritten worden. In Anbetracht dieses Befunds, ohne jedoch ausschließen zu wollen, dass es neben Überlieferungsvarianten auch Entstehungsvarianten geben kann, hält B umke es für ratsam - und damit haut er den gordischen Knoten der Epenforschung durch -,«den Begriff ‹Fassung› von der Autorbindung freizuhalten: ob verschiedene Fassungen auf denselben Autor zurückgehen oder nicht, muß in den meisten Fällen offenbleiben.» 393 Die Dispensierung des Autors aus der Fassungsdiskussion erfolgt allerdings nicht nur aus einer forschungskritischen Argumentation heraus. Den eigentlichen Grund liefern die (postulierten) Entstehungsbedingungen und Verbreitungsformen der Hofepik: «Auf Grund der vorwaltenden Mündlichkeit des höfischen Literaturbetriebs ist für die Frühphase der Überlieferung mit Teilveröffentlichungen, Mehrfachredaktionen und wechselnden Vortrags- und Aufführungssituationen zu rechnen.» 394 Sie können zu situationsbedingten Umformungen des Stoffes, zu Umwidmungen und Neufassungen geführt haben. Dafür spricht, so B umke , die für die Frühgeschichte der epischen Überlieferung typische Instabilität der Texte, die sich im Reichtum der Varianten manifestiert. Angesichts dieser Umstände stellt sich für B umke die Frage, mit welcher Textausformung das Original zu identifizieren ist bzw. ob es überhaupt identifiziert werden kann. Denn es ist in Betracht zu ziehen, argumentiert B umke weiter, dass frühe Parallelfassungen nicht unbedingt vom Dichter- Autor herrühren müssen, sondern auch durch frühe (mündliche oder schriftliche) Weitergabe des Textes entstanden sein können. Deshalb gilt: «Eine klare Unterscheidung zwischen Autorfassungen und Gebrauchsfassungen ist nicht möglich. Man sollte deswegen besser von autornaher Überlieferung sprechen.» 395 Auf dieser frühen, oft in die Lebzeiten der Autoren zurückreichenden Stufe der Überlieferung verortet B umke die Genese von Fassungen: Sie werden vom Autorbezug frei gehalten und nicht an einem postulierten originalen Textzustand gemessen, weil der textkonstitutive Anteil des Autors nicht von dem der Redaktoren unterschieden werden kann. 396 Unter diesen Umständen mutet es sich wie ein Widerspruch an, dass B umke Formulierungs- und Gestaltungswillen (s. oben Anm. 381 mit Text) sowie Merkmale der Originalität (s. oben Anm. 389 mit Text) für die Fassungen reklamiert. Man hat ihm vorgeworfen, er würde Kategorien wie Autor und Originalität nicht eigentlich als «historisch kontingente, klassizistische Kon- Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 83 393 B umke (1996a), S. 45. 394 B umke ebd., S. 67. 395 B umke ebd., S. 66. 396 Vgl. in diesem Zusammenhang auch B umke (1996b), S. 127 und (1997), S. 112 sowie A chnitz (1997), S. 112. <?page no="94"?> zepte» verabschieden, sondern lediglich vom Autortext auf die Fassungen verschieben. 397 Problematisch sei auch der Ausdruck «Gestaltungswille», weil er Fassungsgenese und Fassungsidentität an eine Subjektposition binde und sie mit dem Kriterium der Intentionalität versehe. 398 Zudem könne das Vorliegen eines Gestaltungswillens nicht mit der Differenz zwischen zwei oder mehreren Fassungen erwiesen werden, denn es sei nicht auszuschließen, dass die Unterschiede «auf eine Vielzahl kleiner Eingriffe auf verschiedenen Überlieferungsstufen zurückgehen.» 399 Ohne die Berechtigung dieser Einwände zu bezweifeln, scheint es mir im Hinblick auf meine Ausführungen zum ›Fließenden Licht‹ und seiner lateinischen Übersetzung (vgl. Kap. II.2) dennoch wichtig, darauf hinzuweisen, in welchem Zusammenhang B umke auf Gestaltungswillen und Originalität zu sprechen kommt. Beide Begriffe werden von den ›Iwein‹-Fassungen A und B her induktiv entwickelt. Verglichen werden die beiden Fassungen des ›Iwein‹ im Hinblick auf Divergenzen in Formulierung und Textbestand. Was die Formulierungen betrifft, kann B umke zeigen, dass sich die Unterschiede nicht im Sinne von richtig oder falsch klassifizieren lassen. Wie schon in dem oben zitierten Aufsatz aus dem Jahre 1991, wo von «prinzipiell[er] Gleichgewichtigkeit» 400 der Varianten die Rede war, behauptet B umke in seiner Monographie, sie seien «gleich richtig». 401 Hier wie dort gilt freilich die Einschränkung, Gleichgewichtigkeit der Lesarten bedeute nicht Gleichwertigkeit (s. oben Anm. 374 mit Text). Anders als 1991 lautet dieses Mal allerdings die Begründung: «manchmal erscheint die eine, manchmal die andere passender oder besser.» 402 Auf den Autorbezug wird demnach verzichtet und stattdessen die «Durchsetzung eines je eigenen Formulierungswillens» (ebd.) betont. Davon betroffen sind auch die Pluspartien in ›Iwein‹ B, die schon seit den Anfängen der ›Iwein‹-Philologie als unecht galten. B umke betont, sie würden sich nach Versbau, Wortschatz und Stil nicht vom ‹echten› ›Iwein‹-Text unterscheiden: «Sie haben daher 84 Einleitung 397 Vgl. S trohschneider (1998), S. 115. 398 S trohschneider ebd. 399 H ausmann (2001), S. 79. Ähnlich H ausmann (2000), S. 35. In die gleiche Richtung zielt die Kritik von R. S chnell (1997), S. 87 und W illiams -K rapp (2000), S. 13 an der New Philology. Ihren Vertretern wird vorgeworfen, aus den Varianten vorschnell auf die Intention des jeweiligen Schreibers bzw. die historische Gebrauchsfunktion geschlossen zu haben, ohne zu realisieren, dass Varianten, «den vorläufigen Endpunkt unüberschaubarer textgeschichtlicher Prozesse darstellen» (W illiams -K rapp ). Dieser Vorwurf ist im Fall der New Philology umso schwerwiegender, als bei Mehrfachüberlieferung die Möglichkeit durchaus gegeben ist, Bearbeitungsprozesse, die in einer Handschrift als das (End)Produkt mehrerer Rezeptionsstufen ineinandergeschichtet sind, bis zu einem gewissen Grad aufzudecken. Bei Fassungen ist der Nachweis allerdings insofern schwierig, als sich Fassungen in B umke s Verständnis gerade dadurch auszeichnen, dass textgeschichtlich nicht über sie hinaus zurückgegriffen werden kann. 400 B umke (1991), S. 266. 401 B umke (1996a), S. 36. 402 B umke ebd. <?page no="95"?> denselben Anspruch auf Originalität.» 403 Eine Autorbindung ist damit nicht impliziert, denn B umke kann und will angesichts der postulierten Entstehungs- und Überlieferungsbedingungen der höfischen Epik nicht entscheiden, ob Fassungen vom Dichter-Autor oder von Redaktoren stammen (s.o.). Ihm kommt es lediglich auf den Nachweis an, dass zwischen den Fassungen kein Authentizitätsgefälle besteht, dass sie sich nicht im Sinne von ‹echt›/ ‹unecht›, ‹richtig›/ ‹falsch› hierarchisieren lassen, sondern gleichwertig im Sinne von gleich ‹echt› und ‹richtig› sind. Insofern sind sie alle als ‹original› anzusehen. Die Gleichwertigkeit der Fassungen bindet B umke nicht nur an Inhalt und Ausdruck, sondern er sucht sie auch stemmatologisch zu erweisen. Der Grund wird einerseits wohl darin zu sehen sein, dass er edieren will, was die Klassifizierung und Hierarchisierung der Varianten erforderlich macht, um die Überlieferung in ihren textgeschichtlichen Zusammenhängen präsentieren zu können. Andererseits wird B umke die Kriterien von Formulierungs- und Gestaltungswille allein wohl für nicht ausreichend gehalten haben, um über das Vorliegen von Fassungen entscheiden zu können, ist doch, wie B umke selbst zugeben muss, der eigene Gestaltungswille auch für Bearbeitungen als charakteristisch anzusehen. 404 Deshalb legt er seinem Fassungsbegriff auch ein stemmatologisches Schema zugrunde und führt die Unterscheidung zwischen Fassung und Bearbeitung ein. Damit ebnet er nicht nur den Weg für eine überzeugende, wenn auch nicht einzig mögliche, editorische Präsentation der Textgeschichte von Werken der Hofepik (in diesem Fall der ›Klage‹). 405 Er trägt damit auch der Tatsache Rechnung, dass nicht alle Varianten textgeschichtlich gleich sind, sondern dass es vielmehr eine historische Staffelung von (selbst sinnvollen) Varianten gibt. Fassungskonstitutiv werden dabei solche Varianten angesehen, die textkritisch nicht hintergehbar sind, weil sich eine vorangehende Textstufe - anders als bei Bearbeitungen - stemmatologisch nicht mit Sicherheit rekonstruieren lässt. Nicht Abhängigkeit zeichnet demnach solche Varianten aus, sondern textkritische Gleichwertigkeit. Sie sind nicht vertikal, sondern horizontal miteinander verwandt. Ein an stemmatologische Kriterien gebundener Begriff von Fassung ist allerdings eine relative Größe. Dies erkennt man an B umke s Umgang mit den so genannten Kurzfassungen höfischer Epen. Lange Zeit hat man sie im Zeichen eines genieästhetisch orientierten Literaturverständnisses als fehlerhafte Abweichungen von einem als authentisch angesetzten Textzustand interpretiert. Von Konventionalisierung, De-Rhetorisierung, Reduzierung der Komplexität Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 85 403 B umke ebd., S. 41. 404 Vgl. B umke ebd., S. 46. In dem schon öfter zitierten Aufsatz aus dem Jahre 1991 nannte B umke nur das Vorliegen eines erkennbaren «eigenen Gestaltungswillens» als Voraussetzung, um von Fassungen sprechen zu können. Von einer stemmatologischen Begründung war dort noch nicht die Rede, vgl. B umke (1991), S. 290, Anm. 120 und S. 301, Anm. 180. 405 Ein Alternativmodell, wie breit überlieferte und umfangreiche epische Texte ediert werden können, präsentiert S tolz (2002). <?page no="96"?> eines ursprünglichen Werkes war die Rede. Eine Neubewertung erfahren die Kurzfassungen seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. 406 Ihre Urheber werden nicht mehr als ehrfurchtlose Verfälscher, als dem Autor nachgestellte Instanzen minderen Geistes angesehen, sondern als Glieder eines im Grunde bearbeitend verfahrenden Literaturbetriebs, dessen wichtigstes Merkmal die produktive Aneignung von Motiven, Stoffen, Inhalten, Darstellungsformen ist (vgl. oben Anm. 370 und 371 mit Text) und der, wie in Kap. I.2 (S. 48f.) gezeigt, nicht nur für die mittelalterliche weltliche Literatur, sondern, wenn auch weniger ausgeprägt, auch für das ›Fließende Licht‹ als konstitutiv gelten kann. B umke s Umgang mit diesen Textausformungen steht in einer gewissen Spannung zu seinem Fassungsbegriff. B umke nennt sie Fassungen, obwohl er mit dem Hinweis auf die ›Klage‹ einräumt, die Kurz- und Langfassungen des Textes seien «im Hinblick auf die Ursprünglichkeit ihrer Textgestalt nicht gleichgewichtig.» 407 Tatsächlich wird den Kurzfassungen - B umke spricht auch von Nebenfassungen - ein textgeschichtlich nachgeordnetes Verhältnis zu vorangehenden Versionen unterstellt. 408 Das zweite, (aber diesmal) stemmatologisch begründete Kriterium der von B umke vorgeschlagenen Fassungsdefinition wird demnach bei den Kurzfassungen suspendiert, obwohl Kurzfassungen sich von ihrer textgeschichtlichen Stellung her betrachtet im Grunde nicht von Bearbeitungen unterscheiden. B umke reklamiert den Fassungsbegriff trotzdem für sie, was daran liegt, dass er keinen Anlass sieht, Kurzfassungen zeitlich wesentlich später als Langfassungen anzusetzen, so dass auch sie autornahe Überlieferung darstellen können. 409 Bearbeitungen dagegen zeichnen sich dadurch aus, dass sie erst auf einer späteren Stufe der Textgeschichte erfolgt sind und sich auch als solche zu erkennen geben. 410 Dies führt zu einer weiteren Schwachstelle des stemmatologisch begründeten Fassungsbegriffes. Fassungen sind nicht nur durch eine spezifische Art von Differenz, nämlich durch gleichwertige Varianz, zu identifizieren, sondern auch durch «partielle Textidentität», 411 die ja erst ermöglicht, bestimmte Textformationen aufeinander zu beziehen und sie als Variationen zu erkennen. Variationen - aber wovon? Dass dies nicht der stabil gesetzte Text einer «das Textmaterial zentrierenden und organisierenden Kohärenzfigur», 412 d.h. eines von der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts her gedachten Autors sein kann, dürfte aus den vorangehenden Ausführungen deutlich geworden sein. B umke s stemmatologisches Begründungsprinzip bringt jedoch mit sich - und dies trotz anderslautender Beteuerungen -, dass ein Archetypus, wenn auch 86 Einleitung 406 S. dazu H enkel (1992) und (1993), S trohschneider (1991) und B umke (1991). 407 B umke (1996a), S. 316. 408 Vgl. B umke ebd., S. 260 und 389. 409 Vgl. B umke ebd., S. 267. S trohschneider (1991), S. 427 spricht von «Quasi-Synchronie» von Kurz- und Langfassungen. 410 Vgl. B umke (1996a), S. 81. 411 P lachta (1997), S. 567. 412 B aisch (2004), S. 94. <?page no="97"?> heuristisch, postuliert wird, 413 weisen doch die von B umke am Beginn des dokumentierbaren Textvermittlungsprozesses angesetzten Fassungen «alle Merkmale von primären Archetyp-Filiationen» 414 auf. Unter diesen Voraussetzungen erscheinen B umke s gleichwertige Parallelfassungen nicht eigentlich in einem historischen Sinn gleichwertig, «sondern allenfalls in einem methodischen, nämlich aufgrund ihrer »gleichen« Positionen im Stemma.» 415 Selbst wenn die von B umke angestrebte stemmatologische Bindung ein Höchstmaß an Objektivität bei der Identifizierung von Fassungen verspricht, kann sie, wie H ans -J ochen S chiewer betont, auch destabilisierend wirken und zu einer «labilen Gleichwertigkeit von Fassungen» 416 führen, denn letztendlich ist es der überlieferungsgeschichtliche Zufall, der über den Status entscheidet: «Ein neuer Handschriftenfund kann morgen aus der Fassung von heute eine Bearbeitung machen» (S. 40). S chiewer plädiert dafür, die wertende bzw. hierarchisierende Kategorisierung ‹(Parallel)Fassung› versus ‹Bearbeitung› aufzugeben und stets nur noch von Fassungen zu sprechen. Er begründet dies damit, dass die (postulierten) «performanzbedingten Gegebenheiten des säkularen mittelalterlichen Literaturbetriebs […] stemmatologische Argumente außer Kraft [setzen], weil wir mit auktorialen, semiauktorialen bzw. redaktionellen Textänderungen rechnen müssen, die nicht ausschließlich und lückenlos auf kontinuierlicher Schriftlichkeit und Vertikalität beruhen müssen» (S. 39). Folglich bindet S chiewer den Fassungsbegriff nicht an eine stemmatologisch begründete Gleichwertigkeit von Varianten und schon gar nicht an ein Autorsubjekt als Hierarchisierungs- und Authentisierungskategorie - das tut, wie wir es gesehen haben, auch B umke nicht -, sondern führt die Kategorie «kohärenzstiftende Varianz» (S. 41) ein. Gemeint sind thematisch-semantische Veränderungen auf der Ebene der Textkohärenz, die zu Neufokussierungen bzw. Fokusverschiebungen führen. 417 Sie können im schriftlichen Vermittlungsprozess entstanden sein («usuelle Varianz») oder den Einbruch der Mündlichkeit in den schriftlichen Bereich markieren («performative Varianz»). 418 Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 87 413 Vgl. S trohschneider (1998), S. 114. 414 H ausmann (2001), S. 76. 415 H ausmann ebd., S. 78. 416 H.-J. S chiewer (2005), S. 39f. Dass die Gunst oder Ungunst der Überlieferung die editorischen Annahmen eines Editionsunternehmens bis in den Grund erschüttern kann, betont auch S teer (2005a), S. 55. 417 Einen vom Ansatz her vergleichbaren Fassungsbegriff propagierte auch S teer schon im Jahre 1979 für den Umgang mit Textvarianten der Heldenepik, s. S teer (1979), S. 112f. Auch hier wird Fassung nicht von der Entstehungsgeschichte des Textes her bestimmt, sondern auf der Ebene der Textkohärenz verortet, sofern diese eine totale oder auch nur partielle Änderung des Gehalts bzw. der Gesamtkonzeption erkennen lässt. Mit einem ähnlichen Fassungsbegriff operiert auch S teinmetz (2000), S. 31-35. S. dazu demnächst auch die Freiburger Dissertation «Narrative Kohärenz. Untersuchung zu Fassungskonstitution von Virginal und Laurin» von B jörn M ichael H arms . 418 Vgl. den Titel eines von S chiewer angekündigten Aufsatzes, H.-J. S chiewer (2005), S. 44, Anm. 31. <?page no="98"?> «Literaturgeschichtliche Relevanz» (S. 40) wird für jede Art von Varianz beansprucht, die das Textprofil - wenn auch nur partiell - verändert. Die Konzentrierung auf die je eigene semantische Relation einer Fassung bedeutet indes nicht, dass der Fassungsbegriff (wie bei den New Philologists) 419 auf die Einzelhandschrift übertragen und damit dem textgeschichtlichen Denken eine Absage erteilt wird. Zwar wurde das Textbeispiel (der ›Arme Heinrich‹ Hartmanns von Aue), an dem S chiewer sein theoretisches Modell praktisch erprobt, im «Bewusstsein der Besonderheit jedes Falles» (S. 44) gewählt, argumentiert wird jedoch nicht auf der Ebene einer Einzelhandschrift, sondern anhand einer im textkritischen Verfahren erschlossenen Sternchenstufe (›Arme Heinrich‹ B*). Es wird auch damit gerechnet, dass sich unterschiedliche Schichten der Textgenese (vgl. S. 44 und S. 49) bzw. des Rezeptionsprozesses in den Fassungen dokumentieren, dass also die prinzipielle Gleichwertigkeit der Varianten keine historische Gleichzeitigkeit impliziert (S. 47). Dies alles scheint S chiewer gar nicht in Abrede stellen zu wollen. Worauf es ihm ankommt, ist der Nachweis, dass die Produktions-, Rezeptions- und Distributionsbedingungen der mittelalterlichen weltlichen Literatur das stemmatologische Konzept stören, weil sie die Textgeschichte dynamisieren. Unter diesen Voraussetzungen erweist es sich als problematisch, einen punktuellen Ausgangspunkt der Textgeschichte, sei es auch nur theoretisch, anzusetzen. 420 Für ein weniger restriktives Verständnis des Fassungsbegriffes plädiert auch H arald H aferland . 421 Er reklamiert den Status einer Fassung auch für solche Textversionen, deren Verhältnis zueinander nicht durch Gleichwertigkeit, sondern durch Abhängigkeit charakterisiert werden kann, die also im B umke schen Sinne eigentlich als Bearbeitungen, bestenfalls als Nebenfassungen, aber keineswegs als Fassungen im engen Sinn anzusehen sind. Fassungskonstitutiv ist für H aferland , wie zuvor für S chiewer , nicht die Position der Fassung in einem Stemma, sondern die Bildung neuer Formulierungen. Wie tiefgreifend solche Neuformulierungen sein müssen, damit man von Fassungen sprechen kann, will H aferland im Unterschied zu S chiewer nicht festlegen. Im Hinblick auf das ›Nibelungenlied‹ stellt er lediglich fest, dass sich seine Fassungen «in einer nicht unerheblichen Anzahl variierter Formulierungen [unterscheiden], und es hat sich eingebürgert, sie deshalb als Fassungen zu bezeichnen» (S. 177). Anders als S chiewer hält H aferland es bei der Analyse von Fassungen nicht für ratsam, eine «im weiteren Sinne stemmatologisch inspirierte Rekonstruktion ganz preiszugeben» (S. 178). Angestrebt wird dabei nicht ein stemma codicum, 422 sondern die Rekonstruktion der Stationen der 88 Einleitung 419 Vgl. C erquiglini (1989), S. 62: «La variance de l’œuvre médiévale romane est son caractère premier […] et que la publication devrait prioritairement donner à voir. Cette variance est si générale et constitutive que […] on pourrait dire que chaque manuscrit est un remaniement, une version.» 420 Vgl. H.-J. S chiewer (2005), S. 39 und 47 sowie (2002a). 421 H aferland (2006). 422 S. dazu G ärtner (2003) und T impanar o (1971), S. 73-92. <?page no="99"?> Fassungsgenese. H aferland stellt ein Modell vor, das nicht - wie von B umke vorgeschlagen - mit einer Ansammlung von parallelen, sondern einer «Folge unmittelbar auseinander entstandener Fassungen» (S. 180) operiert. 423 Zwar werden sie als «Originale eigener Art» (S. 180) angesehen, doch werden sie nicht als Autorfassungen definiert. Denn für H aferland dokumentiert sich in der Folge der ›Nibelungenlied‹-Fassungen *B, *d, *C der Arbeitsprozess eines Dichter-Sängers (nicht des ›Nibelungen‹-Autors! ) am eigenen (Vortrags)Manuskript, von dem zu verschiedenen Zeiten Abschriften genommen wurden, so dass der Arbeitsprozess in Form von Zwischenfassungen auch in die Überlieferung Eingang gefunden hat (S. 198). 424 Ohne auf die weiteren textgeschichtlichen Implikationen dieses Modells (wie etwa die Genese von so genannten Kontaminationen) einzugehen, will ich hier nur darauf hinweisen, dass H aferland den Gedanken, eine unmittelbar vorgängige Fassung könnte dem Ausgangstext der Folge näher stehen und wegen ihrer vermeintlichen Autorennähe einen höheren Grad an Authentizität für sich beanspruchen, für eine «triviale Annahme» (S. 180) hält. Zwar geht er davon aus, dass es einen «gemeinsamen Grundtext» der von ihm ermittelten Fassungsfolge des ›Nibelungenliedes‹ gegeben hat. Dennoch ist die Vorstellung eines Authentizitätsgefälles zwischen den einzelnen Fassungen auch seinem Modell fremd. Die vorangehenden Ausführungen bezeugen einen hohen Grad an Reflexionsniveau seitens der jüngeren altgermanistischen Forschung, was den Umgang mit Termini betrifft, die zur Beschreibung der Erscheinungsformen mittelalterlicher Textualität verwendet werden. Infolge der Methodendiskussion der letzten Jahre und Jahrzehnte wird wohl niemand mehr Begriffe wie ‹Autor› und ‹Werk›, ‹Original›, ‹Fassung› und ‹Bearbeitung› unbedacht gebrauchen, ohne sich dem Verdacht der methodischen Naivität auszusetzen. Es gilt: «Spätestens seit 1996 sind aus ‹weichen› ‹harte› Begriffe geworden, über deren Bedeutung und Nutzen bei Verwendung jeder Rechenschaft abzulegen hat.» 425 Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 89 423 Der Ansicht, dass von Fassungen nicht nur bei einem Nebeneinander, sondern auch beim Nacheinander von Textversionen die Rede sein kann, ist auch bei F. W enzel (2005), S. 66. Es sei hier noch darauf hingewiesen, dass es L ienert (1998), S. 246 zufolge durchaus Argumente für eine Priorität von ›Klage‹ *B gegenüber *C gibt. Das heißt, beide Fassungen könnten in einem ähnlich genealogischen Verhältnis zueinander stehen, wie es H aferland für die Fassungen des ›Nibelungenliedes‹ vermutet. 424 Sollte H aferland Recht haben, so wäre an ein «‹mehrschichtiges› Autograph» (H one mann / R oth 2005 S. 223) zu denken, das stellenweise mehrere ‹Originaltexte› geboten haben kann. Man kennt solche Autographa aus anderen Bereichen der mittelalterlichen Literatur, vgl. etwa R oth (2004), S. 191. Indizien sprechen dafür, dass man mit Codices, die den Verlauf der Fassungsgenese dokumentieren, auch für den Bereich des höfischen Romans zu rechnen ist, vgl. H.-J. S chiewer (2005), S. 44 und 49. 425 H.-J. S chiewer (2005), S. 38. <?page no="100"?> Einen solchen Rechenschaftsbericht wird man auch der vorliegenden Arbeit abverlangen dürfen, zumal sie sich zum Ziel setzt, den Text- und Autorbegriff der Mechthild-Forschung im Lichte der aktuellen Textualitätsdebatte neu zu diskutieren. Die Mechthild-Philologie ließ sich von den skizzierten neueren Entwicklungen innerhalb der Altgermanistik bislang nicht sonderlich beeindrucken, was insofern verwundert, als die erst vor einigen Jahren erschienene Mechthild-Ausgabe von V ollmann -P rofe den textlichen Bezugspunkt editorisch neu definierte. Ganz im Sinne der in den letzten Jahrzehnten vollzogenen Neubewertung der Überlieferung distanziert sich die Neuausgabe des ›Fließenden Lichts‹ von dem von N eumann verfolgten produktionsästhetischen, dem mechthildischen Original verpflichteten Editionsprinzip, indem sie einen nur bereinigten Abdruck der Einsiedler Handschrift bietet. Allerdings erhebt die Neuedition den Anspruch, eine Textgestalt zu dokumentieren, von der behauptet werden kann, sie repräsentiere «Mechthilds Werk». 426 Dabei wird als selbstverständlich vorausgesetzt, dass das Verhältnis zwischen der Überlieferung und Mechthild als historischer Person solcher Art ist, dass der Text für eine subjektorientierte Interpretation, die der Profilierung Mechthilds als dichterische Autorpersönlichkeit dient, beansprucht werden kann. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass V ollmann -P rofe eigentlich nicht unterstellt werden kann, sie wäre sich der Unabwägbarkeiten nicht bewusst, die aus der Überlieferungssituation des ›Fließenden Lichts‹ resultieren. Man liest im Nachwort: Es ist gut vorstellbar, daß Geistliche in Mechthilds Umgebung, die von dem ‹Buch› wußten und es für wichtig hielten, ähnlich wie später im Fall der lateinischen Übersetzung, Abschriften anfertigten und diese dann einem mehr oder weniger großen Kreis von Interessierten zugänglich machten. Man darf annehmen, daß im Zusammenhang mit jeder neuen Abschrift, sei es von der Autorin selbst, sei es von den Schreibern, Ergänzungen, vielleicht auch die eine oder andere Umstellung vorgenommen wurden […]. Wann und von wem die einzelnen Ergänzungen vorgenommen wurden, läßt sich freilich nicht genau bestimmen, denn die frühe Überlieferungsgeschichte des Werkes liegt für uns weithin im dunkeln. 427 Ein ähnliches Problembewusstsein kann auch der neueren Mechthild-Forschung attestiert werden. Allerdings bleiben solche Überlegungen stets marginal und ohne Relevanz für die jeweilige Lektüre- und Interpretationspraxis. Der Text wird also, trotz der erheblichen Probleme, die die Überlieferung bereitet, nach wie vor daraufhin ausgelegt, was er über die Gedankenwelt, den Erfahrungshorizont, die poetische Technik usw. der Autorin Mechthild aussagt. So stellt etwa S tadler in der «Leben und Werk» gewidmeten Einleitung 90 Einleitung 426 V ollmann -P rofe (2003), S. 682. 427 V ollmann -P rofe ebd., S. 671f. <?page no="101"?> ihrer Dissertation zwar fest, es ließe sich «grundsätzlich» sagen, dass «der Anteil von redaktionellen Eingriffen in den Text nur schwer abzuschätzen ist», 428 doch behandelt sie dann den für redaktionell überarbeitet gehaltenen Einsiedler Text im Grunde als Autortext und lässt eine ausführliche Abhandlung über Mechthilds Metapherngebrauch folgen. 429 Ähnlich räumt S ara S. P oor am Anfang ihrer Monographie ein, es sei «in fact impossible to know precisely what words were indeed written mit iren henden (by her hand) and which ones were added or changed by a compiler, translator, or copying scribe», so dass es anzunehmen sei, «Mechthild of Magdeburg is not the only maker of the book as we have received it.» 430 Daran, dass der Text auf Mechthilds Sprachbewusstsein, ihre Stellung zum Säkularklerus und der dominikanischen Innenmission hin befragt werden kann, zweifelt P oor dennoch nicht. 431 Die Bereitwilligkeit, mit der seitens der jüngsten Mechthild-Forschung eingeräumt wird, der Anteil von vr o mden henden (FL VII.64: 662,11 [VII.64,8]) am überlieferten Text ließe sich nur schwer abschätzen, überrascht angesichts der in puncto Text- und Überlieferungsgeschichte nach wie vor grundlegenden Arbeiten von N eumann , die eigentlich genau das Gegenteil zu erweisen suchen und auf die Überzeugung gründen, das Verhältnis der an der Überlieferung beteiligten Beichtväter, Mitschwestern, Schreiber, Übersetzer zum Text zeichne sich durch eine besondere Treue aus (s. dazu Kap. I.1.1). Was man in den neueren Arbeiten zu Mechthild vermisst, ist eine auf der Basis der Text- und Überlieferungsgeschichte geführte, grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Prämissen des von N eumann entworfenen entstehungsgeschichtlichen Modells, das auf die Marginalisierung von Schreibern, Beichtvätern und Mitschwestern aus dem Umfeld der Textgenese und der Überlieferung abzielt, handelt es sich doch um Instanzen, die bei der Diskussion um Autorschaft und Textstatus traditionell dem Autor nach- und untergeordnet bleiben. Und da eine solche Auseinandersetzung nicht stattfindet, kommt es bei den Interpreten Mechthilds dazu, was sich schon beim Umgang der Editoren mit dem überlieferten Text beobachten ließ (s. S. 65f.): Bearbeitung und Original, genauer die alemannische Fassung und die vermeintliche Urschrift Mechthilds, werden im Grunde gleichgesetzt. Daher wundert man sich wenig, dass in der Arbeit von P oor , die sich der Erschließung des sich in der handschriftlichen Überlieferung des ›Fließenden Lichts‹ dokumentierenden rezipientenseitigen Mechthild-Bilds verschrieben hat, ausgerechnet jene Handschrift übergangen wird, der wir eigentlich unsere Kenntnis von Mechthild verdanken: der Einsiedler Kodex 277. Erklären lässt sich dies wohl damit, dass die Einsiedler Handschrift von P oor nicht als Rezeptionszeugnis, sondern als authentischer Ausdruck von Mechthilds auktorialem Selbstverständnis gelesen wird. Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 91 428 S tadler (2001), S. 22. Ähnlich K öbele (1993), S. 72 und S eelhorst (2003), S. 84. 429 S. dazu N emes (2004a), bes. Abs. 13. 430 P oor (2004), S. 11 und 49. 431 S. dazu N emes (2006). Ergänzend dazu S. 310ff. weiter unten. <?page no="102"?> Angesichts der Möglichkeit, dass fremde Hände ihre Spuren im überlieferten Text hinterlassen haben können - eine Möglichkeit wohlgemerkt, die von der älteren Forschung als eine durchaus reale Gefahr wahrgenommen wurde (vgl. Kap. I.1.1) -, und im Hinblick auf die aktuelle Textualitätsdebatte empfiehlt es sich, die folgenden Ausführungen zur frühen Textgeschichte von der Frage abzukoppeln, was als echt oder unecht, richtig oder falsch, auktorial oder redaktionell bearbeitet gelten kann. Kritisch hinterfragt werden soll die von den vorliegenden Ausgaben des deutschen Textes und seiner lateinischen Übersetzung aufrecht erhaltene Illusion einer linearen Textgeschichte, deren Beginn ein einziger Originaltext gebildet haben soll. Denn, so meine These, nur die bezweifelbare Prämisse, dass die Überlieferung auf ein einziges, dem deutschen und lateinischen Traditionszweig gemeinsames und autorisiertes Exemplar des ›Fließenden Lichts‹ zurückzuführen ist, erlaubte den bisherigen Editoren, je nach Editionsziel entweder alles ‹Echte› und ‹Mechthildische› aus allen Überlieferungszeugen herauszufiltern und zu einem Text zusammenzustellen (so N eumann ) oder aber die jeweilige Leithandschrift anhand der Textzeugen des jeweils anderen Überlieferungszweiges zu ergänzen (so V ollmann - P rofe und die Herausgeber der Rev.). Eine solche Vorgehensweise war nur möglich, weil man die Ansicht vertrat, die lateinische Übersetzung wäre «gewiß aus einer Vorlage [hervorgegangen], die dem Original sehr nahe stand.» 432 Für mich stellt sich jedoch die Frage, ob es berechtigt ist, das eine, dem deutschen und lateinischen Überlieferungszweig gemeinsame Original zu postulieren - man beachte die suggestive Formulierung «gewiß»! -, wenn, wie es N eumann selbst zugeben musste, ein sinnvoller Vergleich auf der Ebene der Einzelwörter oft nicht möglich ist, weil die lateinische Übersetzung «nur selten den Wortbestand des deutschen Textes sichern kann.» 433 Erschwerend kommt hinzu, dass sich der deutsche und lateinische Traditionszweig des ›Fließenden Lichts‹, genauer die Ausgangshandschrift der zu E hinführenden deutschen Tradition und die Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹ (diese gilt es, im Laufe der Arbeit zu konturieren), auch in Textbestand und Textfolge nicht unerheblich voneinander unterscheiden. Jeder von ihnen weist Varianten auf, die von dem jeweils anderen Überlieferungszweig her betrachtet als Auslassungen, Ergänzungen oder Umstellungen definiert werden können. Bei der Bewertung dieser Textphänomene durch die Forschung lässt sich die Tendenz beobachten, nur die Varianten des deutschen Textes als echt und mechthildisch anzusehen. Als Begründung dafür gilt, dass Mechthild ihrem Werk wohl eine gewisse Überarbeitung angedeihen ließ, nachdem ein Teil davon zur Übersetzung freigegeben wurde. 434 Anders fällt das Urteil aus, 92 Einleitung 432 N eumann (1967), S. 44. Ähnlich R uh (1993), S. 252 und G ottschall (2005), S. 300. 433 N eumann (1990), S. XXV. R uh (1995a), S. 99 ist der Meinung, dass N eumann die Bedeutung der lateinischen Übersetzung bei der Konstitution eines kritischen und autorzentrierten Textes überschätzt hat. 434 Vgl. N eumann (1954b), S. 60f. <?page no="103"?> wenn die ›Lux divinitatis‹ ein Mehr oder Weniger an Text aufweist als das ›Fließende Licht‹ oder wenn sie umstellt (die inkommensurable Größe ‹Textformulierung› muss unberücksichtigt bleiben). Da man davon ausgeht, dass die lateinische Übersetzung einen Text bietet, der (trotz seiner Nähe zum ‹Original›) «vielfach erheblich verändert» 435 - als Vergleichsgröße wird die Einsiedler Handschrift, eine textgeschichtlich wohlgemerkt jüngere Version des ›Fließenden Lichts‹ herangezogen -, gelten diese Varianten bis auf wenige Ausnahmen, auf welche an späterer Stelle eingegangen wird (dazu Kap. II.2.1 und 2), als Ausfallprodukte redaktioneller oder überlieferungsbedingter Prozesse und damit als unecht. Man fragt sich jedoch, ob man der lateinischen Überlieferung überhaupt gerecht wird, wenn man nur das als authentisch gelten lässt, was durch den deutschen Text verifiziert werden kann. Und dies gleich aus zwei Gründen. Zum einen ist der Rückgriff auf das intuitive Argument des Mechthildischen methodisch bedenklich, zum anderen von der Entstehung und Überlieferung des ›Fließenden Lichts‹ her problematisch. Selbst wenn man mit N eumann die Folgen der arbeitsteiligen Übersetzungspraxis der Basler Devoten in Hinblick auf den Erhalt des Ursprungstextes nicht allzu hoch veranschlagt - diese Annahme ist, wie in Kap. I.2 (S. 48f.) gezeigt, nicht zwingend -, wird man doch stärker als die jüngste Forschung in Betracht ziehen müssen, dass an der Herstellung des Textes außer Mechthild weitere Instanzen beteiligt sein können, ohne dass ihr Beitrag von demjenigen Mechthilds mit Sicherheit abzugrenzen wäre. Zudem muss die schon von N eumann erwogene Möglichkeit mitbedacht werden, es könnte schon zu Mechthilds Lebzeiten Teilveröffentlichungen (beispielsweise der Bücher I-V) gegeben haben, die, wie V ollmann -P rofe vermutet (s. oben Anm. 427 mit Text), in die kopiale Überlieferung eingegangen sind. Die postulierten Entstehungs- und Verbreitungsbedingungen dynamisieren die Textgeschichte, so dass der Text schon in einer frühen Distributionsphase der auktorialen Kontrollinstanz entzogen wird. Daher ist man gut beraten, wenn man darauf verzichtet, den deutschen und lateinischen Text am Kriterium des Mechthildischen zu messen. Die Varianten, die sich von dem jeweils anderen Überlieferungszweig her gesehen als Ergänzungen, Auslassungen oder Umstellungen erweisen, können auf eine autornahe Überlieferung im B umke schen Sinn zurückgehen, wobei jedoch nicht mit Sicherheit behauptet werden kann, dass sie allein schon deshalb auch als authentisch anzusehen sind (s. dazu S. 272ff. weiter unten). Auf die Varianten des lateinischen Traditionszweiges bezogen, bedeutet das, dass sich diese bereits in der mittelniederdeutschen Vorlage der lateinischen Übersetzer, auf die es mir im Folgenden vor allem ankommt, befunden haben konnten. Und in der Tat sind diese Varianten nicht weniger ‹original› (im oben vorgetragenen B umke schen Sinn) als die des deutschen Textes (s. dazu Kap. II.2.1 und 2). Vor diesem Hintergrund schlage ich vor, die im Zusammenhang der Entwicklung eines adäquaten Rasters zur Beschreibung der Textualität höfischer Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 93 435 N eumann (1987a), Sp. 262. <?page no="104"?> Epik und Lyrik aufgekommene Diskussion um die so genannten ‹Fassungen› auch auf den Bereich des mystischen Schrifttums, hier auf das ›Fließende Licht‹ Mechthilds von Magdeburg, auszuweiten. Der Umstand, dass mystische Offenbarungsschriften des Spätmittelalters in der seit einigen Jahren intensiv geführten Diskussion um den Umgang mit früh- und vormoderner Textualität und den Instanzen der Textautorisation bislang eigentlich kaum berücksichtigt worden sind, 436 verwundert insofern, als dieses Schrifttum eine Reihe von Problemen bei der genauen Fixierung des jeweiligen Autor- und Werkbegriffes aufwirft, sind doch die kollektiven, jedenfalls kooperativen Entstehungsumstände geradezu ein Kennzeichen der von B ernard M c G inn so genannten «neuen Mystik», 437 die Fragen nach dem Autortext obsolet erscheinen lassen. 438 Die Tatsache, dass die frauenmystische Literatur, speziell das ›Fließende Licht‹, von der Grundsatzdiskussion über den Status der überlieferten Texte bislang kaum tangiert wurde, erklärt sich wohl mit einer Lektüre- und Interpretationspraxis, die (zumindest in der germanistischen Mediävistik) zwar nicht mehr nach dem authentischen Erlebnisgehalt der Texte fragt, aber nach wie vor an einem emphatischen Autorbegriff orientiert ist und subjektzentriert argumentiert. Diese Situation scheint mir auch für die aktuelle Mechthild-Forschung kennzeichend zu sein, und zwar selbst nach der von P eters eingeläuteten «Abkehr vom reduzierten Textbegriff des spontanen Erlebnisberichts.» 439 Den Grund dafür sehe ich in der bislang ausgebliebenen Auseinandersetzung mit den Prämissen des von N eumann entworfenen entstehungsgeschichtlichen Modells - ein Desideratum, das nicht einmal von P eters eingelöst wurde. Zwar hat P eters ein avanciertes Gegenmodell zu N eumann s Konzept der Textgenese entwickelt und vor diesem Hintergrund den literarischen Status des ›Fließenden Lichts‹ neu zu definieren versucht, doch hat sie unterlassen, die Konsequenzen zu ziehen, die sich aus ihren Thesen für die Bestimmung des textgeschichtlichen Status der Einsiedler Handschrift ergeben. Anders als die bisherige Mechthild-Forschung, welche ‹Fassung› lediglich als Hilfsmittel betrachtete, um aus der Überlieferung - notfalls durch Fassungskontamination - e i n e n Text herzustellen, plädiere ich dafür, den alemannischen und lateinischen Überlieferungszweig des ›Fließenden Lichts‹ nicht, wie bislang üblich, in ihrem Verhältnis zu einem Dritten, dem ‹Original› oder dem 94 Einleitung 436 Das betont H ubrath (2002), S. 281. 437 M c G inn (1999), S. 12. Zustimmend und weiterführend K eller (2000), S. 205f. 438 S. dazu H ubrath (1999) und H.-J. S chiewer (2002b). Man wäre geneigt in diesem Zusammenhang auch auf die Arbeiten von P eters und B ürkle hinzuweisen, würden sie nicht darauf beharren, die in den Texten artikulierte literarische Zusammenarbeit von begnadeter Frau und theologisch geschultem Seelsorger einseitig als literarische Inszenierung zu verstehen. Dennoch halten P eters und B ürkle an den kollektiven Entstehungsumständen frauenmystischer Schriften, inklusive der so genannten einzelpersönlichen Viten (zum Begriff s. R ingler 1980, S. 4f.) fest, wobei das ›Fließende Licht‹ letzteren zugerechnet wird. S. dazu ausführlich Kap. I.1.3. 439 B ackes (2001), S. 252. <?page no="105"?> Werk Mechthilds, sondern in ihrem Verhältnis zueinander zu beschreiben und in ihrer textuellen Eigenart zu würdigen. Mein Interesse gilt dabei dem Verhältnis der lateinischen Übersetzung bzw. ihrer deutschen Vorlage zu jener Version des Textes, die wir von der Basler Tradition her kennen. Ich benutze den terminologisch noch nicht vorbelasteten Begriff ‹Version› und reserviere den Begriff ‹Fassung› für die höfische Epik und Lyrik. Denn dort stehen unterschiedliche Ausprägungen eines Textes in derselben Sprache gegenüber, hier dagegen ein deutscher und ein lateinischer Text. Würde uns die von der ›Lux divinitatis‹ gebotene Textform auf Deutsch vorliegen, so wäre die Überlieferungslage mit derjenigen der höfischen Lyrik und vor allem der Epik vergleichbar. Varianten könnten in diesem Fall auf allen drei von B umke für den Fassungsbegriff für relevant erklärten Ebenen (die des Textbestands, der Textfolge und der Textformulierung) mit Sicherheit identifiziert werden. Auch ließe sich ein die Kohärenzstrukturen im Ganzen verändernder Formulierungs- und Gestaltungswille (B umke ), eine Tendenz zu thematischer Neufokussierung bzw. Fokusverschiebung (S chiewer und H aferland ) feststellen. Das ist jedoch nicht der Fall, denn die andere Sprache macht aus der Kategorie der Textformulierung eine inkommensurable Größe. Wenn auch nicht auf der Ebene des Wortlauts, so lassen sich die beiden vorliegenden Versionen des ›Fließenden Lichts‹ doch auf der Ebene des Textbestands und der Textfolge vergleichen. Es wird sich zeigen, dass jene Version der Bücher I-VI, die uns in der oberdeutschen Überlieferung entgegen tritt, höchstwahrscheinlich nicht mit der Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹ identisch ist (s. dazu Kap. II.2.1 und 2). Zu dieser Annahme veranlassen mich nicht die schon immer beachteten Ergänzungen, die Mechthild in ihrem Handexemplar vorgenommen haben soll, als Teile davon zur Übersetzung freigegeben wurden. 440 Vielmehr sind die im deutschen Text fehlenden Partien der ›Lux divinitatis‹, die meiner Ansicht nach für ein Exemplar als Übersetzungsvorlage sprechen, das von jener Version des ›Fließenden Lichts‹ abwich, die von Mechthild nachträglich bearbeitet und um ein siebtes Buch vermehrt worden sein soll. Dazu kommt die Varianz in Textfolge. Diese werden, wie schon erwähnt, als Umstellungen angesehen und den Übersetzern zugeschrieben. Dass die lateinischen Übersetzer bearbeitend mit dem Text umgegangen sind, will ich damit freilich nicht ausschließen, handelt es sich doch um eine Übertragung in eine Sprache mit anderen semantischen Gegebenheiten und Sensibilitäten, was Form und Inhalt bestimmter Aussagen betrifft (s. dazu Kap. II.2.3). Wir müssen demnach davon ausgehen, dass sich in der lateinischen Übersetzung mehrere textgeschichtliche Schichten überlagern. Dies mahnt zur Vorsicht, die genannte Varianz des lateinischen Textes, allen voran die so genannten Ergänzungen, Auslassungen und Umstellung, vorschnell als sekundär abzutun, weil sie sich angeblich des bearbeitenden Umgangs mit einer Vorlage verdanken, die eine mit der oberdeutschen Fassung weitgehend identische, allerdings am Original näher ste- Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 95 440 Vgl. N eumann (1954b), S. 60f. <?page no="106"?> hende Textgestalt geboten haben soll. Erklären lässt sich diese Ansicht mit der Annahme, am Anfang der deutschen und lateinischen Überlieferung hätte ein Ausgangstext gestanden, der mit Hilfe beider Überlieferungszweige erschlossen werden kann. Diese Prämisse, die die Textkonstitution der vorliegenden Editionen bestimmt, ist zu diskutieren, wohingegen die Frage, welche der Varianten als authentisch, möglicherweise authentisch, vielleicht unecht oder ganz sicher unecht gelten kann, vernachlässigt werden darf. Schon allein die Tatsache, dass Lesarten hierarchisiert und skaliert werden können (man denke an die Bewertung der Authentizität bestimmter Lesarten im Kommentarteil der Edition von V ollmann -P rofe , vgl. S. 56f.), weist auf die Schwierigkeiten hin, die mit der Bestimmung und der intersubjektiven Vermittelbarkeit des Echten zusammenhängen. Deshalb bleibt die Frage nach dem Authentischen aus der folgenden Diskussion ausgeklammert. Nur auf diese Weise kann ein unvoreingenommener Zugang zur Überlieferung und Textgeschichte gewährleistet werden, ein Zugang, der dem Überlieferten einen Eigenwert zugesteht, ohne es im Hinblick auf etwas vermeintlich Authentischeres abzuwerten. Dass dies keinen Verzicht auf Textarchäologie impliziert, versteht sich von selbst. Aus diesem archäologischen Blick auf die Überlieferung erklärt sich, warum bei den Stellenangaben auch die Edition von N eumann referiert wird - den Text selbst zitiere ich nach der überlieferungskritischen Ausgabe von V ollmann -P rofe 441 -, verfügt doch N eumann s Text über einen Apparat, in dem die Lesarten der Parallelüberlieferung verzeichnet sind. Freilich ist dieser auf die Ziele der Ausgabe zugeschnitten, denn es werden vor allem Lesarten berücksichtigt, die für die Konstitution eines kritischen Textes von unmittelbarer Bedeutung sind. Nichtsdestoweniger bietet der Apparat einen umfassenden, wenn auch nicht vollständigen Überblick über die Parallelüberlieferung und über die textgeschichtlichen Abläufe. Der lateinische Text wird nach dem Typoskript der von E rnst H ellgardt , E lke S enne und mir vorbereiteten Neuausgabe der ›Lux divinitatis‹ zitiert (s. oben Anm. 16). Im Unterschied zur Edition der Solesmenser Mönche verzichtet diese auf jede jegliche Konjektur und Emendation nach der deutschen Überlieferung und bietet lediglich den Abdruck der einzig vollständigen Handschrift der lateinischen Übersetzung. 442 Der Verzicht auf die Ermittlung des Authentischen bedeutet indes nicht, Autorschaft zu einer irrelevanten Kategorie zu erklären. An der Autorbindung kann man zwar festhalten, man sollte sie jedoch nur noch als «formales Kriterium der textimmanenten Zuweisung gelten lassen […], auch wenn Dritte am Werk weitergearbeitet haben.» 443 Es erscheint mir in diesem Zusammen- 96 Einleitung 441 Abweichungen vom Text der Ausgabe werden dokumentiert und diskutiert. 442 Fehler, die das Textverständnis beeinträchtigen, werden freilich (gegebenenfalls auch nach dem deutschen Text) korrigiert, abweichende Lesarten der (lateinischen) Parallelüberlieferung im Apparat verzeichnet, Textzeugen, die von ihrer Vorlage stärker abweichen, im Anhang abgedruckt. Ergänzend zum lateinischen Text wird die alemannische Rückübersetzung (›Das Liecht der Gotheit‹) in synoptischem Abdruck geboten. 443 H.-J. S chiewer (2005), S. 40. Ähnlich T ervooren (1995), S. 197. <?page no="107"?> hang von einigem Interesse, die Genese der Autorsignatur aufzudecken und ihre Wirkung in der Rezeptionsgeschichte zu verfolgen. Wohl ist der Autor keine Authentisierungsinstanz, er bleibt aber, wie es S chiewer in einem anderen Zusammenhang festgestellt hat, eine Autorisierungs- und Auratisierungsinstanz. 444 Deshalb würde es sich empfehlen, die bisherige produktionsästhetische Sicht auf Autorschaft in eine rezeptionsorientierte Perspektive zu überführen bzw. beide Sichtweisen zusammenzuführen (s. dazu Kap. III). Die rezeptionsorientierte Behandlung der Autorschaft hat den Prozess der Autorkonstituierung, die ‹Autorwerdung des Ich›, unter der Berücksichtigung der Text- und Überlieferungsgeschichte diachron zu vertiefen und rezeptionsgeschichtlich zu perspektivieren. Autorschaft diachron zu vertiefen, bedeutet, die einzelnen Stationen und den literarsoziologischen Ort des Buchwerdungsprozesses zu eruieren, um von hier aus nach der Autorschaft und dem Status des überlieferten Textes zu fragen. Die rezeptionsgeschichtliche Perspektivierung zielt auf die Relevanz der ‹Funktion Autor› in der Überlieferung und Rezeption ab. Es gilt also zu klären, (1) welcher Zusammenhang zwischen Mechthild und dem ›Fließenden Licht‹ in der Überlieferung hergestellt wurde und (2) welchen Zusammenhang wir zwischen Mechthild und einem Text herstellen können, der in der überlieferten Form keineswegs mehr auf sie bzw. auf sie allein zurückgehen kann, sondern bereits als Rezeptionszeugnis zu werten ist. Vorüberlegungen zu Textstatus und Autorschaft des ›FL‹ 97 444 Vgl. H.-J. S chiewer (2005), S. 49f. <?page no="109"?> II Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹. Die deutsche und lateinische Überlieferung im Vergleich II.1 Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? Der Gedanke, dass es eine von E abweichende Version des ›Fließenden Lichts‹ gegeben hat, die zur Grundlage der lateinischen Übersetzung wurde, ist keineswegs so neu, wie es sich von der aktuellen Textualitätsdebatte her betrachtet vielleicht zunächst anhört. Es gab in der Mechthild-Forschung durchaus Stimmen, die behaupteten, der deutsche und der lateinische Überlieferungszweig des ›Fließenden Lichts‹ stellten zwei Versionen dar. Zur Begründung verwies man darauf, dass die ›Lux divinitatis‹ ihre Buch- und Kapitelfolge einer gliederungsgleichen deutschen Vorlage verdankt haben kann, einer Handschrift, die wie die lateinische Übersetzung einen bereits nach sachlichen Gesichtspunkten umgruppierten Text bot. Die Berechtigung dieser Annahme soll im Folgenden untersucht werden (Kap. II.1.2). Da sie forschungsgeschichtlich eng mit der Frage verbunden ist, ob Heinrich von Halle, der vermeintliche Beichtvater Mechthilds, bei der Entstehung des deutschen oder des lateinischen Textes als Redaktor beteiligt war, wird zunächst auf diesen Punkt einzugehen sein, zumal diesbezüglich widersprüchliche Vorstellungen in der Forschung kursieren (Kap. II.1.1). Im Anschluss daran gilt es zu fragen, ob die Kapitelfolge des ›Fließenden Lichts‹ als authentisch angesehen werden kann, authentisch insofern, als sie das allmähliche Voranschreiten des Verschriftlichungsprozesses dokumentiert, die Art und Weise, wie die Aufzeichnungen «nach und nach die Pergamentlagen auf Mechthilds Tisch gefüllt haben» 1 (Kap. II.1.3). II.1.1 lector predictus dicta huius mehtildis omnia collegit … Zum Anteil Heinrichs von Halle an der Textgenese aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht In seinem ADB-Artikel beschreibt S trauch die frühe Textgeschichte des ›Fließenden Lichts‹ wie folgt: «Dem göttlichen Willen gehorchend hat M. ihre Betrachtungen und Offenbarungen ‹Das fließende Licht der Gottheit› eigenhändig aufgezeichnet. […] Der ihr befreundete Dominikanerbruder Heinrich 1 N eumann (1954b), S. 61. Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? <?page no="110"?> von Halle, Lector zu Rupin (der vor M. starb) sammelte die einzelnen Stücke, so wie sie der Zeit nach hinter einander entstanden waren und schied sie in 6 Theile. Später ordnete er das Ganze nach dem sachlichen Inhalt gleichfalls in 6 Bücher und diese letztere Gestalt wurde Grundlage für die lateinische freie Uebersetzung ‹Lux divinitatis›, die ein anderer, gleichfalls M. nahestehender Bruder Heinrich, Lector des Predigerordens bald nach ihrem Tode herstellte.» 2 Mit der hier postulierten zweifachen Redaktion des deutschen Textes durch Heinrich von Halle wendet sich S trauch gegen P reger , der der Ansicht war, dass die sachliche Neuordnung der «one [! ] Rücksicht auf den Inhalt nur der Zeit nach zusammengestellten Stücke» erst bei der Übersetzung stattfand, die Heinrich von Halle zuzuschreiben wäre. 3 Merkwürdigerweise rekurrieren beide Forscher bei der Stützung ihrer Thesen auf dieselbe Textstelle der ›Lux divinitatis‹, interpretieren diese allerdings unterschiedlich. Die referierte Textstelle findet sich am Ende des zweiten Buches, und zwar im Anschluss an die Übersetzung von FL V.12, einem Kapitel, das an einen Meister Heinrich adressiert diesen wegen seines Zweifels an der Inspiriertheit des b v ches tadelt. Es handelt sich um folgende Notiz: Hic litteratus et bonus vir lector predictus [frater heinricus dictus de hallis lector rupinensis] dicta huius mehtildis omnia collegit et in unum uolumen redegit ac in sex partes illud distinxit sicut legentibus nunc apparet (LD II.40,12-14/ Rev. Bd. II.2, II.22, S. 517,5-7, LG II.37,17- 19: Diser gelerter man vnd lesemeister hatt alle gedicht diser Mechtildis zúsammen gesamlet vnd gebracht in ein búch vnd hatt es geteilt in sechs teil als nún befindent die das lesent). Mit der ambivalenten Bewertung des zitierten Passus stehen S trauch und P reger keineswegs allein. Auch V ollmann -P rofe rekurriert auf LD II.40, um einem möglichen Gegenargument zu ihrer Vermutung zu begegnen, derzufolge es sich bei der jetzigen Bucheinteilung des ›Fließenden Lichts‹ insgesamt um alte Veröffentlichungsabschnitte handelt, um Teilpublikationen also, die auf ein sukzessives Bekanntwerden der Aufzeichnungen Mechthilds schließen lassen. V ollmann -P rofe argumentiert: «Die Feststellung der ›Revelationes‹ Henricus dictus de Hallis habe Mechthilds Werk in sex partes … distinxit sicut legentibus nunc apparet (II 22) tangiert unsere Überlegungen nicht; sie bezieht sich auf die Textanordnung in den sechs Büchern der ›Revelationes‹.» 4 Zur Stützung ihres Argumentes beruft sich V ollmann -P rofe auf S. 42 des Akademie-Vortrags von N eumann . Hier liest man in der Tat einen Satz wie: «Das nunc apparet macht zunächst den Eindruck, als sei die radikale Umgruppie- 100 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 2 S trauch (1885), S. 154f. Vgl. auch S trauch (1883), S. 371f. 3 Vgl. P reger (1881), S. 453 und (1873), S. 204. 4 V ollmann- P rofe (1994), S. 147, Anm. 5. Ähnlich V ollmann- P rofe (2003), S. 798. Während V ollmann- P rofe hier Heinrich für die Übersetzung verantwortlich zeichnet, spricht sie an anderen Stellen vom Übersetzer allgemein oder den Hallenser Dominikanern, s. V ollmann- P rofe (2000), S. 135, 135, 152 u.ö. bzw. V ollmann- P rofe (2003), S. 672. Zur Frage nach dem Entstehungsort der ›Lux divinitatis‹ s. Kap. II.2.4. <?page no="111"?> rung im lat. Text gemeint […].» 5 Doch will N eumann dies nicht gelten lassen, denn er ist überzeugt, die «vielfältig eigenwillige und vor Verfälschung nicht zurückschreckende Übersetzung» 6 könne Heinrich nicht zugeschrieben werden, zumal sie laut Hinweisen im Text erst nach seinem und Mechthilds Tod entstanden ist. 7 Konsequenterweise bezieht N eumann das nunc apparet und die Angaben zur redaktionellen Tätigkeit Heinrichs nicht auf den lateinischen, sondern auf den deutschen Text und paraphrasiert, der deutsche Band (uolumen) erscheine «den Lesern jetzt (wie dem Übersetzer selbst) in 6 Bücher eingeteilt, wie die Bücher I-VI des Einsiedelner Codex ihn den heutigen Lesern darbieten.» 8 Offenbar konnte in der Frage, an welcher Textversion Heinrich als Redaktor beteiligt war, bislang kein Konsens erzielt werden. So behaupten die einen, die redaktionelle Notiz in LD II.40 meine Heinrichs Umgang mit dem deutschen Text, so dass nicht er, sondern ein dritter als Übersetzer in Frage käme, 9 wohingegen die anderen die Verben colligere, redigere, distinguere auf die lateinische Übersetzung bezogen wissen wollen, wodurch Heinrich zugleich als Übersetzer qualifiziert wird. 10 Im letzteren Sinn liest auch P eters den referierten Passus aus der ›Lux divinitatis‹: «Man wird davon ausgehen müssen, daß Heinrich von Halle, der überhaupt nur in der lateinischen Übersetzung genannt wird, bestenfalls an dieser Fassung von Mechthilds Text beteiligt gewesen sein kann.» 11 Sie ist der Ansicht, inzwischen hätte sich die Auffassung durchgesetzt, «daß Heinrich von Halle nur an der lateinischen Fassung des Textes beteiligt gewesen sei: nicht unbedingt als Übersetzer oder Bearbeiter, sondern eher als Initiator bzw. als eine Art Auftraggeber, der sechs Kapitel [! ] von Mechthilds Text neu habe ordnen und übersetzen lassen, vor der Vollendung Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 101 5 N eumann (1954b), S. 42. 6 N eumann ebd. 7 Vgl. LD II.40,14f. (Rev. Bd. II.2, S. 517,8f.): huius animam [gemeint ist Heinrichs Seele] soror Mechtildis que postmodum superuixit uidit in aspectu domini in celo etc. bzw. LD Prol. 1,38-40 (Rev. Bd. II.2, S. 436,39f.): Nunc a sponso uirginum assumpta uirgo sancta ipso perfruitur (perfinitur Rb) quem amauit cuius caritas mirabilis suam multis decorauit miraculis dilectricem (LG II.37,19-21: Dises brúder heinrichs seell den mechtildis vberlebet hatt · hat sye gesehen im himmel vor dem angesicht gottes etc. bzw. Vorrede 1,56-59: Nún ist disse heilige iungfrow von dem gespons der iungfrowen im himmel entpfangen vnd durchnúist den / den sy liebhat welches wúnderbarliche liebin sin liephaberin geziret hat mit vil mirackel). 8 N eumann (1954b), S. 43. Vgl. auch N eumann (1993), S. 46, Anm. zu II.26,34f. 9 Außer S trauch (Anm. 2 mit Text) und N eumann (Anm. 6 mit Text) wäre hier u.a. hinzuweisen auf M ichael (1903), S. 190f., O ehl (1911), S. 18, A ncelet -H ustache (1926), S. 34f., P almer (1989), S. 77 und (1992), S. 223 sowie K eul (2004), S. 25. 10 Außer P reger (Anm. 3 mit Text) und V ollmann- P rofe (Anm. 4 mit Text) wäre in diesem Zusammenhang zu nennen B oehmer (1874), S. 3, G rössler (1887), S. 12, S tierling (1907), S. 36 und 101, H auck (1911), S. 188, L üers (1926), S. 47, B ecker (1951), S. 194, K öbele (1993), S. 33 und S uerbaum (2003), S. 253. 11 P eters (1988a), S. 120. <?page no="112"?> jedoch gestorben sei, so daß man mit späteren Zusätzen rechnen müsse.» 12 Ganz abgesehen davon, dass diese von P eters als vermeintlicher Forschungskonsens präsentierte Position die Einzelmeinung und den keineswegs überzeugenden Versuch von B ecker darstellt, zwischen zwei Lagern zu vermitteln, 13 ist sie in eine Argumentation eingebettet, die darauf abzielt, die «schematische Rollenfigur» des im nachhinein mit Heinrich von Halle identifizierten Beichtvaters und Redaktors Mechthilds aus der Nähe der Textgenese zu verdrängen, um im Gegenzug die Entstehung des ›Fließenden Lichts‹ institutionell ans Kloster Helfta anzubinden, an eine Gemeinschaft, die sich nicht nur als der «geeignete Ort für die Niederschrift und Verbreitung von Mechthilds Text» erweist, sondern auch «an der Redaktion, vielleicht auch an der Übersetzung [? ! ] der Schriften einer ihrer Angehörigen ein besonderes Interesse gehabt haben dürfte.» 14 Die Antwort auf die Frage, ob sich Heinrich am deutschen oder am lateinischen Text als Redaktor betätigt hat, hängt demnach wesentlich davon ab, auf welche Textversion man die Angaben in LD II.40 (Rev. Bd. II.2, S. 517) bezogen wissen will. Dies ist nicht leicht zu entscheiden. Zwar trägt der lateinische Text die Überschrift De fratre heinrico lectore qui compilauit librum istum, doch ist (wie schon bei nunc apparet) im Grunde unklar, ob der deutsche oder der lateinische liber gemeint ist. B ecker bezieht die Überschrift auf das vorliegende Buch der ›Lux divinitatis‹ und argumentiert, das gleiche Demonstrativum finde sich auch in LD Prol. 7,2 und 11f. (Rev. Bd. II.2, S. 444,29 und 445,11). 15 Im ersten Fall (Deuote suscipiendus est liber iste de quo sic loquitur deus, LG Vorrede 6,3: Dis buch ist anzunemmen andechtiglich von welchem got also spricht) handelt es sich um eine genaue Übersetzung der Überschrift des ersten Prooemiums zum ›Fließenden Licht‹ (Dis b v ch sol man gerne enpfan, wan got sprichet selber dú wort), so dass in diesem Fall nicht zu entscheiden ist, auf welches Buch sich das Demonstrativpronomen eigentlich be- 102 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 12 P eters ebd., S. 120, Anm. 31. 13 Zum einen galt es gegen Meinungen, die im Übersetzer einen Dritten sehen wollten, Heinrichs Beteiligung an der Entstehung der ›Lux divinitatis‹ zu wahren, zum anderen musste der ihm zuerkannte Anteil an der Übersetzung mit LD II.40 (Rev. Bd. II.2, S. 517) harmonisiert werden, wonach Heinrich noch vor Mechthild gestorben war (s. Anm. 7 oben). Dies hat B ecker (1951) dazu veranlasst, eine vermittelnde Position zu beziehen, indem er Heinrich als den «Schirmherren des Werkes» (S. 195) apostrophiert und vorschlägt, die Verben collegit, redigit, distinxit phraseologisch adäquater mit ‹ließ zusammenstellen etc.› zu übersetzen (S. 196). Ablehnend äußert sich dazu N eumann (1954b), S. 43 und schlägt vor, die Übersetzer im Hallenser Konvent der Dominikaner zu suchen, dem auch Heinrich von Halle zugehört haben soll, s. N eumann (1948/ 50), S. 145 und (1987a), Sp. 261. Dies darf als (vorläufiger) Forschungskonsens gelten, vgl. R uh (1993), S. 252 und neulich L anger (2004), S. 234. Zur Kritik dieses Forschungskonsenses s. Kap. II.2.4. 14 P eters (1988a), S. 65. Zu den Hintergründen und zur Stoßrichtung dieser Argumentation s. Kap. I.1.3. 15 Vgl. B ecker (1951), S. 196f., Anm. 2. <?page no="113"?> zieht. Aussagekräftiger ist der zweite Beleg, weil er einen eigenständigen Kommentar des Prologverfassers zur vorgefundenen oder von ihm in Angriff genommenen Übersetzung darstellt: Et erit liber iste in perpetuum inconcussus dicit dominus etc. (LG Vorrede 6,16f.: Vnd dis Búch wirt sin ewiglich vnbeweglich spricht der herr etc.). Eine zur Unterscheidung von Vorlage und vorliegendem Buch erforderliche terminologische Stringenz ist dem lateinischen Text jedoch nicht abzugewinnen. Dafür spricht nicht nur die Inkonsequenz bei der Übersetzung der deutschen Formel dis b v ch einmal mit liber iste und ein anderes Mal mit hic liber, 16 sondern vor allem die Überschrift des letzten Prologkapitels. Da sie kein Äquivalent im ›Fließenden Licht‹ hat und dem nachfolgenden Textcorpus als Ganzen gilt, wäre im Sinne von B ecker eigentlich zu erwarten, dass liber iste verwendet wird. Doch ist dies nicht der Fall. Die Überschrift lautet: De nomine et perpetuitate huius libri (LD Prol. 7/ Rev. Bd. II.2, S. 444, LG Vorrede 6: Von dem namen vnd von der ewigkeit dises buchs). 17 Und wenn gleich in der ersten Zeile des Kapitels von liber iste und dann wieder von hic liber die Rede ist, wird man mit einigem Recht annehmen dürfen, dass es sich lediglich um eine stilistische Variation seitens des Übersetzers handelt. 18 Vollends gegen B ecker spricht die Tatsache, dass der Prologverfasser den deutschen Text barbara lingua conscriptum librum istum (LD Prol. 2,5f./ Rev. Bd. II.2, S. 437,9) nennt. Aufschlussreich für die Frage, auf welchen liber die Angaben in LD II.40 (Rev. Bd. II.2, S. 517) bezogen werden können, ist der Blick auf die handschriftliche Überlieferung der ›Lux divinitatis‹. Dem Prolog vorangestellt liest man in Rb die Überschrift: Prologus fratris henricus lectoris de ordine fratrum Predicatorum. P reger identifizierte den hier genannten frater henricus kurzerhand mit jenem quodam frater predicti ordinis [predicatorum], von dem im lateinischen Vorbericht zum deutschen Text berichtet wird, er hätte das vorliegende Buch (liber iste) zusammengeschrieben (conscriptus). Bruder Heinrich, Lektor des Predigerordens, ist in P reger s Auffassung aber nicht nur der Sammler, sondern auch der Übersetzer von Mechthilds Schriften und mit jenem Heinrich von Halle, Dominikanerlektor zu Ruppin, identisch, von dem in LD II.40 die Rede ist. 19 Den Widerspruch zwischen dieser Behauptung und Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 103 16 Vgl. etwa die Übersetzung von dis b v ch (Überschrift von FL III.20 und erste Zeile) in LD Prol. 5 (Rev. Bd. II.2, S. 442), wo es in der Überschrift mit liber iste, in der ersten Zeile dagegen mit hunc librum wiedergegeben wird. Ähnlich wechseln sich hic liber und liber iste in der redaktionellen Bemerkung des Prologverfassers im Anschluss an LD Prol. 7 (Rev. Bd. II.2, S. 445,11) ab. Vgl. in diesem Zusammenhang auch LD VI.25 (Rev. Bd. II.2, S. 642). 17 Mit dieser Überschrift versieht Ra auch das zweite Kapitel der der ›Lux divinitatis‹ vorgeschalteten Verteidigungsschrift. In Rb wurde die Überschrift an der gleichen Stelle nicht ausgeführt. 18 Zu dem von den Übersetzern häufig angewandten Stilprinzip der variatio s. V ollmann- P rofe (2000), S. 149f. 19 Vgl. P reger (1869b), S. 158f. <?page no="114"?> der Tatsache, dass Heinrich zum Zeitpunkt der Übersetzung nicht mehr lebte, weil er noch vor Mechthild gestorben war (s. Anm. 7 oben), versucht P reger dadurch zu lösen, dass er die in LD II.40 (Rev. Bd. II.2, S. 517) genannte soror mechthildis mit Mechthild von Hackeborn identifiziert und damit den Tod Heinrichs um einige Jahre weiter nach hinten verschiebt (Mechthild von Hackeborn dürfte um 1298 gestorben sein). 20 Diese Identifikation hat S trauch zu Recht als unhaltbar zurückgewiesen. 21 Im Gegenzug schreibt er die Übersetzung jenem Bruder Heinrich zu, der durch die Überschrift zum ›Lux divinitatis‹- Prolog als eine weitere Referenzfigur in die Fachdiskussion eingegangen ist. 22 S tierling hat ausgehend vom handschriftlichen Befund Zweifel an S trauch s Identifizierung des Übersetzers mit Bruder Heinrich signalisiert. Er weist darauf hin, die Überschrift in Rb habe keinen Bezeugungswert, da sie deutlich die Züge einer anderen Hand trägt. Die Überschrift stelle demnach lediglich ein Kolumnenfüllsel dar. 23 Auch für S tierling ist Heinrich von Halle der Übersetzer, wohingegen der Prolog und die Notiz über Heinrich in LD II.40 (Rev. Bd. II.2, S. 517) einem unbekannten Dritten zugeschrieben werden. 24 In ein neues Licht gerückt wurde das angebliche Kolumnenfüllsel in Rb mit der Entdeckung der alemannischen Rückübersetzung der ›Lux divinitatis‹, ›Liecht der Gotheit‹ genannt. 25 Dieser unikal in einer Handschrift von 1517 überlieferte Text versieht den Prolog mit einer Rb ähnlichen Überschrift (Die vorred heinrici ruppinensis) und kündigt diesen wie folgt an: Nun volgt hiernach ein vorred des geistlichen vatters henrici Ruppinensis leszmeisters in das buch so genant ist das liecht der gotheit welches von christo ist geoffenbart worden der heiligen frawen Mechtildi von Helpede. 26 Da Rw nicht von Rb abstammt, sondern auf eine stellenweise bessere lateinische Vorlage zurückgeht, 27 ist die Möglichkeit auszuschließen, dass der Rw-Schreiber die Notiz Rb entnommen hat. Ob diese Angabe über die gemeinsame Vorlage zurückgehend im Archetyp der lateinischen Überlieferung enthalten war oder ob es 104 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 20 Vgl. P reger (1873), S. 205. Ähnlich B oehmer (1874), S. 4. 21 Vgl. S trauch (1883), S. 372, Anm. 2. Ähnlich A ncelet -H ustache (1926), S. 36. 22 Vgl. S trauch ebd. und S tierling (1907), S. 36. Ähnlich bereits die Solesmenser Benediktiner, s. Rev. Bd. II.2, S. 428f. 23 Vgl. S tierling (1907), S. 36, Anm. 2. 24 Vgl. S tierling ebd., S. 36f. Diesen wollte A ncelet -H ustache (1926), S. 36f. mit jenem frater N. Ordinis Praedicatorum identifizieren, von dem im ›Liber‹ Mechthilds von Hackeborn (V.7) berichtet wird, dass er das donum Dei tam fideli corde in sorore Mechtildi dilexisset (Rev. Bd. II.1, S. 330). Ich verzichte hier auf eine Auseinandersetzung mit dieser keineswegs zwingenden Annahme. Die Gegenargumente liefert A ncelet -H ustache ebd., S. 40f. selbst. 25 Die ehemals Wolhusener, heute in der ZB Luzern aufbewahrte Handschrift (Sigle: Rw) hat E mil S piess aufgefunden, s. O ehl (1927) und S piess (1935). Detaillierte Beschreibung und Edition findet sich bei H ellgardt / N emes / S enne (2011). 26 Vgl. S enne (2002), S. 95. 27 Vgl. B ecker (1951), S. 30-33 sowie S enne (2002), S. 17 und 58. <?page no="115"?> sich um eine Ansicht handelt, die zu der Zeit, als die beiden Handschriften entstanden sind, gemeinhin geglaubt wurde, lässt sich nicht feststellen. 28 Man kann jedoch mit Sicherheit sagen, dass Rb und Rw nicht die einzigen Rezeptionszeugnisse sind, die die Angaben in LD II.40 (Rev. Bd. II.2, S. 517) auf den lateinischen Text beziehen und in Heinrich von Halle den Übersetzer Mechthilds ins Lateinische sehen. Im ›Liber de Viris Illustribus Ordinis Praedicatorum‹ des Reformers und Ordenshistoriographen Johannes Meyer findet sich folgender Eintrag: 29 (Nr. 25) Heinricus iterum fuit et alius theutonicus dictus de hallis lector doctus deuotus et graciosus qui inter alia sua opera dicta et scripta beate et venerabilis sororis Mechtildis de monasterio helpede digne memorie collegit et in vnum volumen redegit et in sex partes illud distinxit et sic per scripturam eiusdem voluminis multa sibi premia comparauit quibus in conspectu sanctorum apparuit gloriosus. Es ist ohne weiteres ersichtlich, dass die Quelle dieser Notiz die ›Lux divinitatis‹ war. 30 Sie stimmt mit der lateinischen Übersetzung des ›Fließenden Lichts‹ an zwei Stellen sogar wörtlich überein. 31 Auch seine Kenntnis über Balduin und Albrecht von Minden verdankt Meyer der ›Lux divinitatis‹. 32 Man fragt sich, wo Meyer mit diesem Text in Berührung kam. Als Vorlage für Meyers biographische Notizen muss die Handschrift Ra oder ein ihr verwandter Text ausscheiden. 33 Dieser Befund verwundert insofern nicht, als Ra einen etwas isolierten Ableger der lateinischen Texttradition des ›Fließenden Lichts‹ darstellt, denn Ra ist im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts in der Kartause Basel entstanden 34 und wurde aller Wahrscheinlich- Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 105 28 Vgl. B ecker (1951), S. 30. Dass der Prolog der ›Lux divinitatis‹ von Heinrich von Halle verfasst wurde, ist demnach keineswegs gesichert, gegen K öbele (1993), S. 33 und P al mer (2005) S. 252. 29 Zitiert nach L oë (1918), S. 27. 30 Der Herausgeber L oë scheint sich dessen allerdings nicht bewusst gewesen zu sein, denn er weist sowohl in der Einleitung (S. 7) als auch in den Fussnoten (vgl. S. 27 und 28) nur auf die M orel sche Textausgabe hin. Dabei hat er nicht nur die seit 1877 vorliegende Edition der ›Lux divinitatis‹ durch die Solesmenser Mönche übersehen, sondern auch den Hinweis von P reger (1869b), S. 159, Anm. 2, der auf Meyers Kenntnis der lateinischen Übersetzung des ›Fließenden Lichts‹ als erster aufmerksam gemacht hat. 31 Collegit - distinxit entspricht LD II.40,13 (Rev. Bd II.2, S. 517,6f.), per scripturam - gloriosus LD II.40,16f. (Rev. ebd., S. 517,10-13). 32 Der Eintrag über Baldowinus Theutonicus (L oë 1918, S. 27f., Nr. 26) entspricht LD II.39 (Rev. Bd. II.2, S. 515f.), derjenige über Albertus de Minda Theutonicus (L oë ebd., S. 28, Nr. 27) LD II.36 (Rev. Bd. II.2, S. 513). 33 Dies macht der Variantenapparat von LD II.36, 39 und 40 in der Neuedition der ›Lux divinitatis‹ deutlich, vgl. H ellgardt / N emes / S enne (2011). 34 B ecker (1951), S. 11 datiert die Handschrift auf das ausgehende (um 1470? ), M eyer / B urckhardt (1966), Bd. 2, S. 179 auf das frühe 15. Jahrhundert. Meine Datierung basiert auf den Wasserzeichen: Buchstabe P mit Querstrich durch den unteren Schaft, vgl. P iccard (1977), Abt. IV, Nr. 285 und 286 (Oberrhein, 1471/ 1472). Das den vorangehenkeit <?page no="116"?> nach direkt von Rb oder einer von Rb unmittelbar abhängigen Handschrift abgeschrieben. 35 Bemerkenswert ist dabei, dass die ›Lux divinitatis‹ weitere Verbreitung innerhalb der Mauern der Basler Kartause über Ra gefunden hat. So konnten mehrere Exzerpte in zwei Gebetbuchhandschriften identifiziert werden, 36 zu deren Vorlage direkt oder indirekt Ra diente. Die eine dieser Handschriften befindet sich in der UB Basel (Cod. A VII 68, olim: B XI 4), 37 die andere in der BB Bern (Cod. A 82). 38 Im Falle von Cod. A VII 68 (Sigle: Ba) handelt es sich um eine Mischhandschrift im Oktavformat (129 102 mm), entstanden um die Mitte bzw. gegen das Ende des 15. Jahrhunderts. 39 Bis auf ein Textstück (LD VI.21/ Rev. Bd. II.2, S. 640), das von einer späteren Hand - diese hat die Handschrift auch an anderen Stellen mit Nachträgen und Anmerkungen verschiedentlich ergänzt - am unteren Blattrand von fol. 272 r eingetragen wurde, findet man die Mechthild-Exzerpte immer im Haupttext: LD VI.17,47-90 (Rev. Bd. II.2, S. 635-637) auf fol. 272 r- 274 r und LD III.1,25-31 (Rev. Bd. II.2, S. 520, 14-23) auf fol. 274 r . Dass Ba von Ra abstammt, erkennt man an einigen charakteristischen Lesarten. 40 Dies gilt nicht nur für den Grundbestand, sondern auch für den von einer anderen Hand herrührenden Nachtrag. Der wiederholte Rückgriff auf die Handschrift Ra bzw. eine Abschrift davon, die nachweislich den Ausgangspunkt der Exzerptüberlieferung in Ba bildet, deutet darauf hin, dass nicht nur der Schreiber von Ba, sondern auch der spätere Benutzer der Handschrift in der Basler Kartause zu suchen ist. Auch der Berner Cod. A 82 (Sigle: Br) ist eine Gebetbuchhandschrift. 41 Es handelt sich um einen Band im Kleinoktavformat (105 70 mm) aus der Basler Kartause, entstanden im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts, vgl. 1477 (fol. 69 v ) und 1475 (fol. 86 r ). Mehrere Gebetstexte sind Ba und Br gemeinsam, so auch die Mechthild-Exzerpte auf 106 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ den Blättern eigene Wasserzeichen ist vergleichbar P iccard ebd., Abt. IX, Nr. 1046 und 1047 (Basel 1465, 1466). Wenn auch die Identifizierung wegen der Nähe der Wasserzeichen zur Bindung nicht definitiv ist, datieren beide Typen auf das letzte Viertel respektive auf die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts und wiederlegen damit die von M eyer / B urckhardt vorgeschlagene Frühdatierung. 35 Auf eine Beweisführung wird hier verzichtet, denn man findet die entsprechenden Ausführungen im Einleitungsteil der Neuedition der ›Lux divinitatis‹, vgl. H ellgardt / N emes / S enne (2011). 36 Zur kartusianischen Gebets- und Frömmigkeitskultur s. A chten (1983), (1989), (1991), (1992) sowie O chsenbein (1980). 37 Auf diese Handschrift, die auch Exzerpte (genauer die breit überlieferten fünf ›Ave Maria‹) aus dem ›Liber‹ Mechthilds von Hackeborn auf fol. 254 v -255 r enthält (nicht verzeichnet bei Z ieger 1974 und M. S chmidt 1987), bin ich durch das Initienregister von S teinmann (1982), S. 65 bzw. 106 aufmerksam geworden. 38 Den Hinweis auf diese Handschrift verdanke ich Nigel F. Palmer (Oxford). 39 Eine handschriftliche Beschreibung findet man in B inz / R oth (o.J.), S. 481-491. Textabdruck bietet die Neuausgabe der ›Lux divinitatis‹, vgl. H ellgardt / N emes / S enne (2011). 40 S. dazu die Dokumentation in H ellgardt / N emes / S enne (2011). 41 Zur Handschrift s. H agen (1875), S. 100f., S carpatetti (1983), Bd. 2/ 1, S. 13 (Nr. 26) und Bd. 2/ 2, S. 222 (Abb. 520). <?page no="117"?> fol. 71 r -76 r (= Ba fol. 272 r -274 r ) und fol. 76 v -77 r (= Ba fol. 274 r ). 42 Der Nachtrag auf Ba fol. 272 r fehlt dagegen der Berner Handschrift. Dafür überliefert sie ein in Ba nicht enthaltenes Zitat aus der ›Lux divinitatis‹. Auf zwei zwischengeschobene Textstücke (ein Bernhard-Dictum und ein Exzerpt aus einer Predigt zum Fest der Beschneidung) folgt folgende Zeile: Voluptates valde debemus pertimescere propterea quod christus dominus et saluator noster tam multas acutas penas et tribulationes in hoc mundo pro nobis pertulit Ex libro qui dicitur lux divinitatis sancte Mechtildis virginis (fol. 78 v ). Der Text ist in Anlehnung an LD Prol 5,23-24 (Rev. Bd. II.2, S. 443,1-4) formuliert, vgl. Voluptatem eciam precipue pertimesco pro eo quod christus tam multas acutas penas et tribulaciones pertulit in hoc mundo (= Ra fol. 104 v , in hoc mundo pertulit Ra fol. 159 r ). 43 Dass Br von einer mit Ba gemeinsamen (mittelbar oder unmittelbar von Ra abhängigen) Vorlage abstammt, lässt sich an der mit Ba weitgehenden identischen Textgestalt ablesen. Was die textgeschichtlichen Zusammenhänge betrifft, lässt sich Folgendes feststellen: 1. Br kann nicht von Ba abgeschrieben worden sein (die Pluszeile in Br fehlt Ba), 2. es muss einen umfangreicheren Auszug aus Ra in der Basler Kartause gegeben haben, der das Ba und Br jeweils eigene Sondergut an Mechthild-Zitaten enthielt - vorausgesetzt, das jeweilige Sondergut in Ba und Br wurde nicht direkt aus Ra abgeschrieben. Vollständigkeitshalber sei darauf hingewiesen, dass das in Ba und Br eingegangene Gebet LD VI.17,47-90 (Rev. Bd. II.2, S. 635,3u-S. 637) in weiteren Handschriften überliefert ist: Augsburg, Staats- und StB, 8° Cod. 17, fol. 242 r -243 v (Sigle: Au), 44 Weimar, HAAB, Oct 54 (Sigle: We1) und Oct 58 (Sigle: We2). 45 Au stammt aus dem Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra in Augsburg und besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil datiert auf das 2. Viertel des 15. Jahrhunderts und enthält unter anderem Texte, die mit dem ersten Versuch zur Einführung der Melker Observanz in St. Ulrich und Afra 1441 unter Abt Johannes IV. von Hohenstein (1439-1458) in Zusammenhang stehen. Der zweite, aus nur drei Lagen bestehende Teil fokussiert auf die Passionsthematik und entstand nach der Schrift beurteilt vor 1450. Um diese Zeit dürften die beiden Teile in der Augsburger Werkstatt ‹Lilien-Quadrat vierfach II› zu einem Sammelband vereinigt worden sein. 46 Das aus der ›Lux divinitatis‹ exzerpierte Kapitel befindet sich im zwei- Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 107 42 Z ieger (1974), S. 73 nennt die Handschrift, die die gleichen Exzerpte aus dem ›Liber‹ wie Ba enthält, in seiner Liste der «Mechtild [von Hackeborn] zugeschriebene[n] Stücke.» 43 Ra bringt LD Prol 5 (Rev. Bd. II.2, S. 442f.) an zwei Stellen: Die zweite Hälfte des Kapitels (Z. 14-24, Rev. Bd. II.2, S. 442,24-443,4) in der Praefatio (fol. 104 v ), das ganze Kapitel in den Nachträgen (fol. 159 r ). 44 S. dazu demnächst: Die Handschriften der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg 8° Cod 1-232, bearbeitet von W olf G ehrt und J uliane T rede . Die vorläufige Beschreibung unserer Handschrift durch J uliane T rede findet man unter http: / / www.manuscripta-mediaevalia.de/ hs/ projekt-Augsburg-pdfs/ OctCod017.pdf (Stand: 9. Januar 2008). Über diese Beschreibung hinausgehende Angaben verdanke ich brieflichen Mitteilungen von Frau Trede. 45 Zu den beiden Weimarer Handschriften s. B ushey (2004), S. 289-308 und 327-338 (das Mechthild-Exzerpt blieb in beiden Fällen unidentifiziert). Den Hinweis auf die Weimarer Handschriften verdanke ich Matthias Eifler (Leipzig). 46 Es gibt bei den Augsburger Oktavhandschriften noch einen zweiten Band aus dieser Werkstatt, die ebenfalls Melker Reformtexte enthält und auf das 2. Viertel des 15. Jahrhunderts datiert: Augsburg, Staats- und StB, 8° Cod. 114. Denselben Einband weisen <?page no="118"?> ten Teil von Au auf fol. 242 r -243 v , der, wie gesagt, auf das Thema der Passion ausgerichtet ist. Das Explizit charakterisiert die hier versammelten Texte als oraciones (fol. 243 v ). Den Schlussstein bietet unser Mechthild-Exzerpt, das wie folgt angekündigt wird: Oracio generalis sororis Mechthildis ora libenter. - We1 kommt aus der Bibliothek der Erfurter Benediktinerabtei St. Peter und Paul. Die aus zwei Teilen bestehende Handschrift wurde von Heinrich Wunne, einem Angehörigen des Klosters, 1443 geschrieben. Das Mechthild-Exzerpt findet sich im zweiten Teil der Handschrift auf fol. 107 v -109 v (Oracio beate Mechildis monialis viriginis) mitten in einer umfangreichen Sammlung von Gebeten. — Auch We2 war im Mittelalter im Besitz einer Erfurter Bibliothek, und zwar derjenigen der Kartause Salvatorberg (im mittelalterlichen Bibliothekskatalog unter der Signatur F 33). Es handelt sich um eine aus sechs Teilen zusammengesetzte theologische Sammelhandschrift, die auf das erste Drittel des 15. Jahrhunderts datiert. In engem Zusammenhang mit dem Kartäuserorden stehen die in Faszikel I und VI enthaltenen, von mehreren unbekannten Händen herrührenden Texte. LD VI.17,48-91 (Rev. Bd. II.2, S. 635,3u-637,24) findet sich in dem nachweislich in der Erfurter Kartause geschriebenen ersten Faszikel auf fol. 6 v -8 r (Oratio generalis efficax et deuota). Die Mitüberlieferung bilden auch hier Gebete. Gegenüber Ra, Ba und Br bilden Au, We1 und We2 eine eigene Gruppe *y, deren Charakteristikum ein stark bearbeitender (vor allem aufschwellender) Umgang mit dem Text ist. 47 Die Mutterkopie dieser Handschriftengruppe geht auf einen von Rb unabhängigen Traditionszweig der ›Lux divinitatis‹ zurück, der in die Nähe der lateinischen Vorlage der alemannischen Rückübersetzung bzw. einer ihrer Vorstufen führt. Ob dies zu der Annahme berechtigt, der Ausgangspunkt der Überlieferung sei in Basel zu suchen, steht keineswegs fest, zumal die aus We1 und We2 bestehende Untergruppe *y1 auf eine frühe, ins erste Drittel des 15. Jahrhunderts zurückreichende Rezeption von LD VI.17,48-91 (Rev. Bd. II.2, S. 635,3u-637,24) in Erfurt schließen lässt. 48 Ähnlich ungewiss ist, ob die Tradierung des in den *y-Handschriften exzerpierten Gebets im Kartäuser- oder im Benediktinerorden ihren Anfang nahm. 49 Außer Ra und den neu aufgefundenen Exzerpthandschriften Ba und Br ist die ›Lux divinitatis‹ ein weiteres Mal, wenn auch nur indirekt, für die Kartause in 108 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ außerdem die ebenfalls Augsburger Handschriften 2° Cod. 184 und 186 und vielleicht 8° Cod. 116 auf, die wie Au aus dem Besitz von St. Ulrich und Afra stammen. 47 Zur Dokumentation s. H ellgardt / N emes / S enne (2011). 48 Einen weiteren Beleg für die frühe Präsenz der ›Lux divinitatis‹ in der Kartause Erfurt liefert ein bislang übersehener Reflex (von B ushey 2004, S. 386 nicht identifiziert) auf LD VI.7,8/ Rev. Bd. II.2, S. 624,22f. in der Handschrift Weimar, HAAB, Oct 64, fol. 77 v aus dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts: S. Mechildis . christus perto m (? ) S. mechtildis purgatorium . dedit mille animas ei et 1000 liberabat (den Hinweis auf die Handschrift verdanke ich Matthias Eifler, Leipzig). Die restlichen Hinweise auf eine hl. Mechthild in Oct 64 und Oct 61 beziehen sich nicht auf die ›Lux divinitatis‹, sondern wohl auf den ›Liber specialis gratiae‹. 49 Zu den engen Beziehungen (auch literarischer Art) der beiden Orden am Beispiel von Erfurt s. B. F rank (1973), S. 118f. und meine Ausführungen auf S. 229f. weiter unten. Ergänzend dazu R üthing (1989) und die Hinweise auf die Beziehungen zwischen der Kartause Buxheim und St. Ulrich und Afra bei Graf (1995), S. 123 und W etzel (2009), S. 321. <?page no="119"?> Basel bezeugt. In dem um das Jahr 1515 angelegten ›Repertorium universale veteris ac nove Librarie Carthusiensium minoris Basilee‹ des Urbanus Moser 50 wird unter der Rubrik Opera Mechtildis virginis auf fol. 208 v (und noch einmal auf fol. 202 r ) neben Auszügen und Vollhandschriften des ›Liber specialis gratiae‹ Mechthilds von Hackeborn auf zwei Textzeugen der ›Lux divinitatis‹ hingewiesen: lux divinitatis [Mechthildis virginis, fol. 202 r ] C lxviii und De bonitate religionis ac prauitate quorumdam religiosorum ex libro qui dicitur lux divinitatis E xv [= fol. 202 r ]. Mosers Katalog ist seit S tierling der Mechthild-Forschung bekannt. 51 S tierling war der Ansicht, die hier genannte lux divinitatis sei mit Rb zu identifizieren. 52 Dass dies nicht zutrifft, beweist die auf den Kurztitel folgende römische Zahl C lxviii (auf fol. 202 r irrtümlich als Cx lxviii geschrieben), eine Signatur der veteris librarie der Basler Kartause. Sie findet sich auf fol. 1 r der Handschrift A VIII 6 (Ra). 53 Eine weitere Mechthild- Handschrift verbirgt sich hinter dem zitierten Eintrag De bonitate religionis … E xv. Es handelt sich um einen Auszug aus der ›Lux divinitatis‹, genauer um LD V.4 (Rev. Bd. II.2, S. 590). 54 Außer diesem Mechthild-Exzerpt enthielt die Handschrift E xv mit Sicherheit weitere Texte. Zwei von ihnen konnte ich in Mosers ›Repertorium‹ (fol. 50 r ) auffinden: Vita Sancti Bernhardi und Speculum monachorum. Obwohl uns nun drei Texte bekannt sind, die in E xv enthalten waren, ist es mir nicht gelungen, der Handschrift im Bestand der Universitätsbibliothek Basel auf die Spur zu kommen. 55 Zwar weist die Handschrift B XI 19 die alte Signatur E xv auf, doch sind die von Moser genannten Texte hier nicht enthalten. 56 Auf die Signatur E xv stößt man auch in dem von Georg Carpentarius erstellten Standortregister der Alten Bibliothek mit der Angabe, es handle Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 109 50 Zu Moser s. H ogg (1982). Der Hinweis auf diesen Aufsatz fehlt bei K raume (1987). 51 Vgl. S tierling (1907), S. 15f. und N eumann (1993), S. 173. Gegen S enne (2003), S. 159, Anm. 55 ist festzuhalten, dass Mosers ›Repertorium‹ nicht abhanden gekommen ist, sondern nach wie vor in der UB Basel aufbewahrt wird, und zwar unter der Signatur Hs. AR I 4 a (dies übersieht auch F rüh 1994, S. 172). Zum Repertorium im Einzelnen s. S exauer (1978), S. 113f. und H onemann (1982), S. 14f. 52 Vgl. S tierling (1907), S. 15. Ähnlich S enne (2002), S. 37 und (2003), S. 159. Auch Ra meint S tierling bei Moser zu finden, und zwar hinter dem letzten Eintrag auf fol. 208 v : Aliqua excerpta ex revelationibus Mechtildis E 10. Dagegen ist allerdings Folgendes einzuwenden: Bis auf die beiden oben zitierten Einträge, in denen auf die ›Lux divinitatis‹ ausdrücklich verwiesen wird, werden unter der Rubrik Opera Mechtildis virginis ausschließlich Handschriften des ›Liber specialis gratiae‹ Mechthilds von Hackeborn subsumiert. Vgl. auch B ecker (1951), S. 12, Anm. 2. 53 S tierling (1907), S. 15 scheint den Zahlen keine Bedeutung zugemessen zu haben, denn er verzichtet darauf, sie mit den Katalogeinträgen abzudrucken. Anhand der bei Moser verzeichneten Signaturen ist es mir gelungen, einige der auf fol. 208 v genannten Handschriften des ›Liber specialis gratiae‹ im Bestand der Universitätsbibliothek Basel aufzuspüren, vgl. H ellgardt / N emes / S enne (2011). 54 Vgl. S tierling (1907), S. 15f. 55 Auch die von S tierling (1907), S. 15 sowie N eumann (1993), S. 173, Anm. 9 initiierten Suchaktionen sind erfolglos geblieben. 56 Vgl. M eyer / B urckhardt (1966), S. 1028-1044. <?page no="120"?> sich um den Tractatus Homo quidam Gerardi. 57 Gemeint ist Gerards Zerbolt van Zutphen ›De reformatione virium anime‹. Ob das Mechthild-Exzerpt und die beiden anderen oben genannten Schriften in diesem Band enthalten waren, kann nicht ermittelt werden. 58 Es ist nicht auszuschließen, dass sie zusammen mit anderen Handschriften anlässlich der Überführung der Kartäuserbibliothek in den Besitz der Basler Universitätsbibliothek im Jahre 1590 abhanden kamen. 59 Johannes Meyer an diese im späten 15. Jahrhundert offenbar über die Basler Kartause verlaufende Rezeption der ›Lux divinitatis‹ anzuknüpfen, verbietet der textgeschichtliche Befund. 60 Man fragt sich, wie sich die von Meyer gebotenen Exzerpte zu den anderen Handschriften der Basler Tradition der ›Lux divinitatis‹ verhalten. 61 Diese Frage stellt sich insofern, als die Provenienz des nur in Meyers Autograph vorliegenden ›Liber de viris illustribus‹ 62 aus der Bibliothek der Basler Dominikaner eine unmittelbare Abhängigkeit der hier eingegangenen Mechthild-Exzerpte von Rb nahelegt. 63 In der Tat spricht der textgeschichtliche Befund für eine größere Nähe der von Meyer benutzten Vorlage zu Rb als zu jener lateinischen Tradition, an deren Ende Rw steht. 64 110 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 57 Basel, UB, Hs. AR I 2, fol. 34 r . Zu diesem Katalog s. S exauer (1978), S. 115-119 und H onemann (1982), S. 16f. 58 Gerards Werk war in der Basler Kartause mit mindestens zwei weiteren Exemplaren vertreten: Basel, UB, A VI 30 und A II 36. In keinem der beiden findet man die von uns gesuchten Texte. 59 Vgl. G erz von B üren (1973), S. 97f. 60 Der Vollständigkeit halber sei hier auf Berlin, SBB-PK, Ms. theol. lat. 4° 324.4, fol. 111 v - 113 v (Sigle: Be) aus der Kartause Buxheim hingewiesen. Möglicherweise ist die Vermittlung dieser Handschrift bzw. ihrer Vorlage (vgl. Textabdruck in H ellgardt / N emes / S enne 2011) nach Buxheim dem Kartäuser Jakob Louber, früheren Prior bzw. Bibliothekar der Basler Kartause und späteren Prior von Buxheim, zu verdanken, s. dazu J aricot (1988), S. 121. Für den Basler ‹Export› spricht auch die Mitüberlieferung in der Berliner Handschrift, das sind die Schriften des Basler Kartäusertheologen Heinrich Arnoldi. Das Mechthild-Exzerpt bildet hier eine Art Appendix zu den Werken Arnoldis, die Jakob Louber noch in seiner Basler Zeit in einem Band gesammelt hat. A chten (1984), S. 122 weist darauf hin, dass dieses Werk nur durch ein Register und durch mehrere Auszüge in den Handschriften der Basler Kartause bekannt war. Da aber das Basler Register mit dem Register des Buxheimer Sammelkodex übereinstimmt, könnten, so A chten weiter, «die Berliner Codices eine Abschrift der Basler Handschrift sein, die vielleicht von Jakob Louber selbst, während seines Priorates in Buxheim (1502-1507), veranlaßt wurde.» Vgl. auch A chten (1983), S. 15. Verbindungen zu Kartäuserkreisen in Basel bestehen nicht nur bei Be, sondern womöglich auch bei Rw, s. dazu S enne (2003), S. 159f. 61 Anders als A ncelet -H ustache (1926), S. 32 bin ich der Ansicht, dass Meyer seine Kenntnisse über Heinrich von Halle, Balduin und Albrecht von Minden nicht einer früheren Ordensbzw. Klosterchronik oder einem Obituar, sondern einer nicht erhaltenen Handschrift verdankt. 62 Es handelt sich um die Handschrift Basel, UB, Cod. E III 12 (olim: D IV 9), fol. 1 r -46 v . Zu ihrem Status als Autograph s. F echter (1987), Sp. 479. 63 Vgl. B ürkle (1999), S. 29, Anm. 76. 64 Zur Dokumentation s. H ellgardt / N emes / S enne (2011). <?page no="121"?> Trotzdem bleibt denkbar, dass Johannes Meyer eine bislang unbekannte Handschrift benutzte und dies umso mehr, als er sich bis kurz vor der Fertigstellung seines ›Liber‹ im Jahre 1466 nicht in Basel, sondern als Beichtvater im reformierten Dominikanerinnenkloster Schönensteinbach aufhielt. 65 Damit rückt das Elsass in den Blickwinkel der Mechthild-Überlieferung. Vertreter dieser, im Vergleich zu Basel eher spärlichen elsässischen Tradition wird man in jenen Handschriften sehen dürfen, die durch den ›Catalogus codicum manuscriptorum in bibliotheca sacri ordinis Hierosolymitani Argentorati asservatorum‹ des J ohann J acob W itter (Straßburg 1746) bezeugt sind und einer Straßburger Bibliothek (des Johanniterklosters? ) gehörten. 66 Die hier gebotenen text- und überlieferungsgeschichtlichen Beobachtungen zur ›Lux divinitatis‹ machen deutlich, dass eine quellenmäßige Abhängigkeit zwischen Johannes Meyer und den Handschriften Rb und Rw auszuschließen ist. Umso interessanter ist, die Notiz in LD II.40 (Rev. Bd. II.2, S. 517) über Heinrichs redaktionellen Anteil an der Buchwerdung der dicta et scripta sororis Mechtildis auf den lateinischen Text bezogen zu sehen. Im Unterschied zu einigen Rezeptionszeugnissen, auf welche ich im Folgenden noch kurz eingehen werde, handelt es sich hierbei nicht um ein ‹Wissen aus zweiter Hand›, um eine Ansicht also, die übernommen wurde, weil sie Meyer als Traditionsgut empfangen hat. Eher haben wir es hier mit Meyers eigener Deutung Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 111 65 Deshalb wäre durchaus angebracht gewesen, wenn N eumann (1993), S. 171-174 in der Rubrik ‹Vorbemerkungen zur Überlieferung› - hier werden die verlorenen, aber bezeugten Handschriften der deutschen und lateinischen Überlieferung aufgelistet - auch auf Meyer bzw. seine unbekannte Vorlage hingewiesen hätte. Zusammen mit den oben genannten Exzerpten Ba, Br, Au, We1 und We2 deuten diese bezeugten, aber nicht erhaltenen Überlieferungsträger auf eine weitaus breitere Rezeption der lateinischen Übersetzung im Spätmittelalter hin, als das aufgrund der von Rb, Ra und Rw vertretenen «schmalen Überlieferung» (R uh 1993, S. 253) bis jetzt angenommen wurde. Ergänzend kommt ein Exzerpt in Växjö, StB (olim: Stiftsoch läroverksbiblioteket), Ms. 4° 401, fol. 219 r (Sigle: Vä, s. dazu N emes 2008b) und eine weitere Handschrift der Weimarer HAAB (Oct 51, fol. 104 v , 109 r , 113 r , 115 v , Sigle: We3, s. dazu demnächst M atthias E ifler , Katalog der lateinischen mittelalterlichen Handschriften der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, 2. Teil: Quarthandschriften) mit einer Reihe von Exzerpten aus der ›Lux divinitatis‹ hinzu. Hinzuweisen wäre zudem auf mehrere (z.T. neu entdeckte) sekundäre Rezeptionszeugen der ›Lux divinitatis‹, s. dazu S. 335ff. weiter unten. 66 N eumann (1993), S. 174 weist auf den Katalog und den Sammelband hin, verzeichnet jedoch nur die Excerpta ex Libello cui titulus Lux divinitatis fluens semper in corda veritatis (zu dieser Handschrift mit der alten Signatur D 73.4 s. jetzt R oth (2004), S. 97). Dass es sich hierbei nicht um einen Textzeugen der deutschen Mechthild-Überlieferung handelt, geht aus der Übereinstimmung des Titels mit LD Prol. 7,9/ Rev. Bd. II.2, S. 445,7f.: Lux diuinitatis fluens semper in corda ueritatis hervor (vgl. hierzu auch Anm. 561 weiter unten). Außerdem stößt man im W itter schen Katalog auf weitere Rezeptionszeugen (auch Vollhandschriften? ) der ›Lux divinitatis‹ (den Hinweis verdanke ich Richard F. Fasching, Fribourg), vgl. die Signaturen B 165.4 [? ] (W itter 1746, S. 21), C 24.2 (ebd., S. 25) und C 131.9 (ebd., S. 35). <?page no="122"?> der entsprechenden Textstelle zu tun, ist doch an seinen Exzerpten aus der ›Lux divinitatis‹ zu erkennen, dass ihm eine vollständige Handschrift des lateinischen Textes vorgelegen hat. Freilich ist es nicht auszuschließen, dass er bei seiner Lektüre durch eine Notiz gelenkt wurde, die etwa derjenigen ähnlich ist, die Rb und Rw am Anfang des Textcorpus bieten: Prologus fratris henricus lectoris de ordine fratrum Predicatorum etc. (Rb fol. 52 va ) bzw. Die vorred heinrici ruppinensis (Rw Bl. I). Johannes Meyers Deutung der Rolle Heinrichs bei der Entstehung der ›Lux divinitatis‹ ist in die dominikanische Ordenshistoriographie eingegangen. 67 So verweist der Kölner Dominikaner Petrus de Prussia in seiner 1487 fertig gestellten Albertus-Vita auf Frater Henricus de Hallis, Teutonicus, Doctor deuotus & gratiosus, Ordinis Fratrum Praedicatorum, qui scribit Librum eumdem, affirmat dicens, non hunc Librum praesumptuosa audacia compilatum, sed sui Praelati consilio & praecepto. 68 Dass Petrus seine Informationen über Heinrich von Halle dem ›Liber de viris illustribus‹ verdankt, sieht man an den Epitheta Teutonicus sowie deuotus & gratiosus, die ziemlich genau der Charakterisierung Heinrichs durch Johannes Meyer entsprechen (vgl. Textabdruck auf S. 105 oben). Allerdings steigert Petrus die Würde Heinrichs, indem er aus dem Hallenser Lektor einen Doktor der Theologie macht. 69 Welchen liber hat Heinrich nach der Meinung von Petrus de Prussia geschrieben? Es ist weder das ›Fließende Licht‹ noch die ›Lux divinitatis‹, sondern der ›Liber specialis gratiae‹ Mechthilds von Hackeborn: hic vero Liber ex reuelatione Saluatoris, Liber spiritualis gratiae vocatur, habens hunc Prologum: Benignitas & humanitas Saluatoris nostri Dei, &c. incipit autem sic: Fuit Virgo quaedam ab infantia a Deo in benedictionibus praeuenta, etc. (S. 328) Offenbar ist Petrus einer Verwechslung der beiden Mechthilden zum Opfer gefallen. 70 Der Anlass dürfte die dem ›Lux divinitatis‹-Prolog entnommene Angabe Meyers gewesen sein, Heinrich von Halle hätte die dicta et scripta der 112 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 67 Ergänzend zu den Quellen, die weiter unten genannt werden, wären etwa diese Werke einzusehen: G eorg E pp , ›De illustribus viris ac sanctimonialibus sacri ordinis praedicatorum‹, Basel 1506; K onrad S ittard (= C onradus Z ittardus ), ›Kurtze Chronica das ist Historische beschreibung neben andern mercklichen Puncter der General Maister Prediger Ordens, und was zu eines jeden zeit f u r F u rnehme, Hochgelehrte auch Heylige Br u der und Schwestern im Prediger Orden Gelebt Haben‹, Dillingen 1596 und F riedrich S teill , ›Geistlicher Lustgarten des Prediger-Ordens‹, Coeln 1676. 68 P etrus de P russia , Vita B. Alberti Doctoris Magni ex Ordine Praedicatorum Episcopi Ratisponensis, Amsterdam 1621, S. 327f., Kapitel LVI. 69 Auch Johannes Meyer nennt ihn doctor. Diese Angabe findet man allerdings nicht im Text, sondern im Register des Autographs von Meyer, vgl. Basel, UB, Cod. E III 12 (olim: D IV 9), fol. 2 r (Nr. XXV). Man fragt sich, ob Petrus das Basler Autograph des ›Liber de viris illustribus‹ benutzt hat. 70 Nicht erkannt von S cheeben (1931), S. 136. <?page no="123"?> seligen und ehrwürdigen Schwester Mechthild de monasterio Helpede zu einem Buch verfasst. In der Tat gibt Petrus für die von ihm exzerpierte Reuelatio de gloria Venerabilis Alberti & beati Thomae eius quondam discipuli (Kapitelüberschrift) als Quelle an: 71 Est etiam Libellus quidam continens reuelationes & visiones factas cuidam sanctae virgini, nomine Machtildis de Helpede, Ordinis Cisterciensis, quae ab infantia suam virginitatem Domino consecrauerat … (S. 327) Auf der Albertus-Vita des Petrus de Prussia basiert der Vermerk bei J acques Q uetif und J acques E chard über Heinrich von Halle als einen bedeutenden dominikanischen Schriftsteller des 13. Jahrhunderts. Wie schon Petrus bieten die beiden Gelehrten des 18. Jahrhunderts weitere quasi-biographische Angaben zu Heinrichs Person, indem sie die in der Albertus-Vita enthaltenen und Heinrich betreffenden Angaben weiter ausgestalten. So ist Heinrich bei ihnen nicht mehr doctor, sondern Professor der Theologie, ein Schüler des Albertus Magnus. 72 Sie machen aber auch darauf aufmerksam, dass die bei Petrus genannte Mechthild wohl eine andere war als die bekannte Zisterzienserin von Helfta: F. Henricus de Hallis [am linken Rand: *1280] Saxo a patria ad Salam fluvium inter Torgam et Lipsiam et a professione sic nuncupatus, sacrae theologiae professor, vir pius et eruditus aetate Alberti Magni florebat, nec diu ei superstes fuit. Scripsit libellum quo continentur visiones et revelationes factae cuidam sanctae virgini Machtildi de Helpede dictae ordinis Cisterciensis. […] Hanc virginem Mechtildem solo nomine notam Menologium Cisterciense ascribit ad xxv. febr. Bollandus et Henschenius in Actis SS. ad eamdem diem sibi penitus ignotam fatentur; nosse autem poterunt, qui eis succenturiant ex codice hujus nostri Henrici qui vel extat Coloniae apud nostros, vel in aliqua bibliothecarum Saxoniae praefertim olim nostrarum. 73 Heinrich von Halle scheint in der Wahrnehmung der spätmittelalterlichen Rezipienten der ›Lux divinitatis‹ derjenige gewesen zu sein, der die Visionen Mechthilds schriftlich fixiert und in die buchliterarische Welt überführt hat, und zwar in der Form, wie sie in der lateinischen Übersetzung enthalten sind. 74 Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 113 71 Zu seinen Quellen äußert sich Petrus auch im Prolog. Hier liest man allerdings nur: aliqua etiam ex reuelationibus alterius virginis Sanctimonialis (S. 73), s. dazu P elster (1920), S. 4. 72 Auf die von Q uetif / E chard gelieferten Daten gehen sowohl die Artikel ‹Henricus de Hallis› und ‹Mechtildis› in J ohann H einrich Z edler s Grosses vollständiges Universal- Lexikon, Bd. 12, Halle/ Leipzig 1735, Sp. 1560 und Bd. 20, Halle/ Leipzig 1739, Sp. 38 zurück, als auch die in der (Mechthild-)Forschung immer wieder anzutreffende Ansicht, Heinrich von Halle wäre ein Schüler von Albertus Magnus gewesen, s. P reger (1874), S. 94 und 109, O ehl (1911), S. 17, B ihlmeyer (1933), S. 518, S piess (1935), S. 324, B erg (1977), S. 103, H aas (1987), S. 246 und F innegan (1991), S. 15. 73 Q uetif / E chard (1719), S. 384a. 74 Auch bei K aeppeli (1975), Bd. 1, S. 180f. wird Heinrich als der Übersetzer des ›Fließenden Lichts‹ angeführt. <?page no="124"?> Gut in dieses Bild des schriftliterarisch aktiven Bruders passt die etwas isoliert stehende Überlieferung des Pirnaer Dominikaners Johannes Lindner (um 1525): Heinricus von Halle in Sachsen, berurten [prediger] ordens von closter Rupyn, hat etliche bücher wider di keczir geschryben, eines guten lebens, 75 und vor allem der den Mechthild-Exzerpten vorausgeschickte bio-bibliographische Vermerk in der Handschrift Ra: Incipiunt capitula in librum qui dicitur lux divinitatis editus a quadam sancta puella virgine Mechtildis nomine per diuinam graciam inspiratam sed per fratrem heinricum collectus est (fol. 99 r ). Dass dieses Urteil über den Anteil Heinrichs an der Entstehung des lateinischen Textes in einem gewissen Spannungsverhältnis zu bestimmten textinternen Aussagen steht, hat die Rezipienten der ›Lux divinitatis‹ offenbar nicht irritiert. Denn nach den Angaben von LD II.40 (Rev. Bd. II.2, S. 517) war Heinrich ja vor Mechthild gestorben, ihrer aber wird im lateinischen Prolog ebenfalls als einer Verstorbenen gedacht (s. S. 101, Anm. 7). Diese Textpassagen sprechen dagegen, dass Heinrich der Verfasser des Prologs und Übersetzer des ›Fließenden Lichts‹ war. Wenn dem aber so ist, so stellt sich erneut die Frage, ob mit den Verben colligere, redigere, distinguere die Herstellung eines deutschen Bandes (uolumen) gemeint ist, der eine mit der lateinischen Übersetzung identische Buch- und Kapitelfolge aufwies, ob also das nunc apparet in LD II.40 (Rev. Bd. II.2, S. 517) auf eine solch beschaffene Vorlage zu beziehen ist. N eumann ist der Ansicht: «Man darf sich keinesfalls allein durch das nunc apparet zu dieser Ansicht bestimmen lassen, denn der Redaktor arbeitet ja, die Augen auf den Grundtext gerichtet und liest ihn selbst bei seiner Arbeit im gegenwärtigen Augenblick in der Gestalt, die er sachlich und sprachlich umzuformen sich bemüht.» 76 Die folgenden Ausführungen - sie gründen auf der Auswertung der Buch- und Kapitelverweisungen in den Tituli von Rb sowie auf den Querverweisen in E - zeigen, dass man N eumann in dieser Frage Recht geben muss. Was man indes nicht ausschließen kann, ist die Möglichkeit, dass die Übersetzungsvorlage eine partiell von E abweichende Anordnung der Kapitel geboten hat. II.1.2 in sex partes illud distinxit … Zur Buch- und Kapitelfolge der Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹ Die Frage, ob die deutsche Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹ eine mit E identische Buch- und Kapitelzählung aufwies, ließe sich mit Hinweis auf P reger schnell klären. Über die Verweisungen auf die Buch- und Kapitelzählung des deutschen Textes, die sich in den Überschriften der von ihm in Rb entdeckten lateinischen Übersetzung finden, äußert sich P reger wie folgt: 114 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 75 Excerpta Saxonica, Misnica et Thuringica ex Monachi Pirnensis seu vero nomine Johannis Lindneri sive Tillani onomastico autographo quod exstat in Bibliotheca Senatoria Lipsiensi, in: M encken (1728), Sp. 1447-1632, hier Sp. 1480. 76 N eumann (1954b), S. 42. <?page no="125"?> «Diese Angaben über die Stellung der Capitel in der Urschrift treffen in den meisten Fällen mit der Aufeinanderfolge in der mittelhochdeutschen Uebersetzung zusammen.» 77 Die Beweiskraft der Überschriften der ›Lux divinitatis‹ ist allerdings insofern eingeschränkt, als die lateinische Übersetzung mit dem deutschen Text - sei es mit der alemannischen Übertragung oder mit der mittelniederdeutschen Übersetzungsvorlage - in Basel verglichen wurde. Davon zeugen die zahlreichen Marginalien in Rb, auf welche ich im Zusammenhang mit dem Phänomen der Kontamination an einer anderen Stelle näher eingehen werde (s. S. 362ff. weiter unten). Die Übereinstimmungen zwischen Rb und E in der Buch- und Kapitelzählung könnten also Ergebnis dieser in Basel erfolgten vergleichenden Benutzung von Rb mit einer Handschrift des ›Fließenden Lichts‹ sein. 78 Der Blick auf Rw, die andere Vollhandschrift der ›Lux divinitatis‹, die mit Sicherheit auf eine von Rb unabhängige Vorlage zurückgeht (s. S. 104, Anm. 27 mit Text), scheint dies tatsächlich zu bestätigen, denn dort fehlen die Querverweise auf die Kapitel des deutschen Textes gänzlich. Deshalb vermutet S enne , Rw habe keinerlei Kenntnis von ihnen gehabt. 79 Diese Annahme erscheint mir keineswegs zwingend. Zwar ist nicht auszuschließen, dass die Kapitelverweise auf dem Weg zu Rw (vielleicht schon in der lateinischen Vorlage von Rw) aus den Tituli eliminiert worden sind, denkbar ist jedoch auch, dass erst Rw sie ausfallen ließ, weil ihre Funktion nicht mehr verstanden wurde, lässt sich doch die Kenntnis des deutschen Textes an keiner Stelle nachweisen. 80 Ähnlich dürfte es den in Rb noch so zahlreich vertretenen Marginalien ergangen sein: Der Rw-Schreiber scheint kein Interesse an ihnen gehabt zu haben. Die Tatsache, dass seine Vorlage sie aufwies, erkennt man jedoch an den wenigen Nota-Vermerken, die Rw und Rb gemeinsam haben (s. dazu S. 260 weiter unten). Es gibt gewisse Indizien, die darauf hindeuten, dass die Buch- und Kapitelverweisungen nicht erst in Rb in die Überschriften des lateinischen Textes eingefügt wurden. B ecker macht darauf aufmerksam, dass die Verweise auf den deutschen Text in den Überschriften keine nachträgliche Ergänzung darstellen, wie dies etwa bei der Kapitelzählung im Registerteil von Rb der Fall ist, sondern einen älteren Schrifttyp aufweisen. Daraus leitet B ecker ab, dass sie sicherlich schon in der Vorlage von Rb standen. Sie dürfen wohl sogar für das Übersetzungsoriginal anzusetzen sein. 81 Dafür sprechen laut B ecker auch die vielen Fehler und Mängel in der Zählung, deutliche Zeichen einer längeren Kopialüberlieferung. 82 So fehlen in manchen Fällen Buch- oder Kapitelangaben Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 115 77 P reger (1873), S. 204. 78 So auch W ebster (2005), S. 66. 79 Vgl. S enne (2002), S. 56. 80 Vgl. B ecker (1951), S. 2 und S enne (2002), S. 18 und 74. 81 B ecker (1951), S. 7, Anm. 3. 82 B ecker ebd., S. 142. Ähnlich bereits B oehmer (1874), S. 4. <?page no="126"?> oder aber auch beides, 83 an anderen Stellen stößen wir auf Verschreibungen, 84 wieder anderswo werden unterschiedliche Kapitel des deutschen Textes unter ein und derselben Buch- und Kapitelzahl subsumiert. 85 Ob diese Indizien genügen, um die Verweise in Rb die Buch- und Kapitelzählung bis zur mittelniederdeutschen Übersetzungsvorlage zurückzuversetzen, erscheint zunächst fraglich. Das hohe Alter der Kapitelverweise kann jedoch auf andere Weise zweifelsfrei nachgewiesen werden, und zwar durch den Vergleich der Angaben in den Rb-Überschriften mit den Stellenverweisen von E, die sich ihrerseits über die Basler Tradition hinaus bis zur mittelniederdeutschen Textversion zurückverfolgen lassen. In einem der vorangehenden Teile der Arbeit (Kap. I.2) wurde auf ein Kapitel hingewiesen, das in E doppelt überliefert ist, einmal als VI.22 und ein zweites Mal als VII.45. Wie dort ausgeführt, dürfte diese Verdoppelung auf einer frühen Stufe der Überlieferung aufgetreten sein, denn der lateinischen Übersetzung fehlt es an einer Entsprechung. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um ein Kapitel, das ursprünglich im siebten Buch stand. Ins sechste Buch wird es erst nach der Freigabe des ›Fließenden Lichts‹ zur Übersetzung gelangt sein, denn wenn man die Buch- und Kapitelverweise in den Überschriften der lateinischen Übersetzung untersucht, so wird deutlich, dass sie sich auf ein sehr frühes Exemplar des ›Fließenden Lichts‹ beziehen, in dem das heutige FL VI.22 noch nicht vorhanden war. So bleibt die Zählung in den Tituli von Rb ab FL VI.25 bis zum Ende des sechsten Buches des ›Fließenden Lichts‹ um je eine Einheit zurück. 86 Dies geht aus der folgenden Zusammenstellung deutlich hervor: 87 116 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 83 Vgl. etwa P[rima]p[arte] in LD IV.10 (Rev. Bd. II.2, S. 547) für FL I.11 oder caput xxxvi in LD IV.11 (Rev. Bd. II.2, S. 548) für FL I.36. Der Verweis auf die Buch- und Kapitelzählung des deutschen Textes fehlt in der Überschrift von LD I.22 (Rev. Bd. II.2, S. 467), LD II.19 (Rev. Bd. II.2, S. 497) usw. 84 Vgl. etwa P[rima]p[arte] vlv. c. in LD I.21 (Rev. Bd. II.2, S. 466) für FL I.44 oder S[ecunda]p[arte] xvi in LD Prol. 6 (Rev. Bd. II.2, S. 443) für FL II.26. 85 So wird etwa unter [Secundus parte] 2 c in LD IV.39 (Rev. Bd. II.2, S. 570) nicht nur FL II.2 verzeichnet, sondern auch FL II.5 (vgl. LD IV.19/ Rev. Bd. II.2, S. 556f.), II.11 (vgl. LD IV.29/ Rev. Bd. II.2, S. 563f.), II.12 (vgl. LD IV.44/ Rev. Bd. II.2, S. 572f.), IV.19 (vgl. LD IV.28/ Rev. Bd. II.2, S. 563) und VI.30 (vgl. LD IV.32/ Rev. Bd. II.2, S. 565). Ähnlich werden unter tercia parte ij c. bzw. quinqua parte ij c. außer den entsprechenden Kapiteln aus dem ›Fließenden Licht‹ jeweils zwei weitere subsumiert. 86 Diese Verschiebung um einen Zähler gegenüber E ist bereits B oehmer (1874), S. 3 und N eumann (1993), S. 311 aufgefallen. 87 LD IV.58 (Rev. Bd. II.2, S. 585) liest wegen Zahlentausch sexta parte 23 für FL VI.32. Wie die letzten vier Belege in der Tabelle zeigen, zieht die lateinische Übersetzung häufig zwei aufeinanderfolgende Kapitel des ›Fließenden Lichts‹ unter einer Überschrift zusammen. In den Überschriften werden stets nur die Buch- und die Kapitelzahl des ersten der beiden zusammengezogenen Kapitel angegeben. <?page no="127"?> E Rb FL VI.25 FL VI.24, vgl. LD IV.42 (Rev. Bd. II.2, S. 571) FL VI.27 FL VI.26, vgl. LD VI.21 (Rev. Bd. II.2, S. 640) FL VI.28 FL VI.27, vgl. LD VI.22 (Rev. Bd. II.2, S. 640f.) FL VI.31 FL VI.30, vgl. LD IV.51 (Rev. Bd. II.2, S. 579) FL VI.32 FL VI.31, vgl. LD V.21 (Rev. Bd. II.2, S. 606f.) FL VI.33.34 FL VI.32.33, vgl. LD IV.58 (Rev. Bd. II.2, S. 585) FL VI.36.37 FL VI.35.36, vgl. LD II.8 (Rev. Bd. II.2, S. 488) FL VI.39.40 FL VI.38.39, vgl. LD I.35 (Rev. Bd. II.2, S. 479) FL VI.41.42 FL VI.40.41, vgl. LD II.3 (Rev. Bd. II.2, S. 482) Ein Exemplar des ›Fließenden Lichts‹, dem das genannte Zusatzkapitel im Buch VI fehlte, lag auch der deutschen Tradition zugrunde. 88 Denn um einen Zähler zurück bleiben nicht nur die Angaben in den Tituli von Rb, sondern auch die am Rande von E stehenden Querverweise, die eine Art ‹weiterführende Literatur› darstellen. 89 In FL III.12 findet sich zu FL III.12: 188,7 (III.12,6) der Verweis vi libro vi xxvi. Der Passus, auf den sich dieser Stellenverweis bezieht, enthält eine Reihe von Aufforderungen, wie sich die Seele halten soll. Dieser paränetische Zug - er wird in der Kapitelüberschrift aufgegriffen (Du solt loben, danken und geren und biten) - ist das verbindende Merkmal der beiden indizierten Kapitel. FL VI.6 trägt die Überschrift: In der jungesten zit soltu haben minne, gerunge, vorhte, rúwe drierleie. FL VI.26 bietet in E nichts Entsprechendes. Das ist aber auch nicht das Kapitel, auf das sich der Stellenverweis bezieht, sondern FL VI.27: Wie du solt danken und bitten. Das heißt: Zu dem Zeitpunkt, als das Verweissystem im ›Fließenden Licht‹ eingeführt wurde, war die Zählung im sechsten Buch wegen des damals fehlenden Kapitels VI.22 um eine Einheit zurückversetzt. Es gibt in den Marginalien weitere Hinweise dafür, dass das heutige Kapitel VI.22 zu der Zeit, als die Stellenverweise entstanden sind, noch nicht vorhanden war. So liest man etwa in der Höhe von FL IV.16: 272,9 (IV.16,6f.): vi libro xxiiii. FL IV.16 handelt von der minne und den Voraussetzungen, die der Mensch erfüllen soll, um sie zu erkennen. Die erste Voraussetzung - das ist die Textstelle, auf die sich der Querverweis bezieht - besagt, man solle in der heiligen Dreifaltigkeit gänzlich verbrennen und die selbstbezogene Existenz aufgeben. Die Verbindung zu dem durch die Marginalie indizierten Kapitel wird über das Stichwort verbrant als eine der Eigenschaften der minne hergestellt. Wiederum ist nicht das in E unter VI.24 stehende Kapitel, sondern das darauf folgende gemeint: FL VI.25 handelt laut Überschrift Von der verbranten minne. 90 Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 117 88 Vgl. den Hinweis bei N eumann (1993), S. 207. 89 Zum Verweissystem und zu seiner Funktion als eine Art «‹virtual compilation› of excerpts» s. W ebster (2005), S. 137-141. 90 Ein weiteres Beispiel liefert möglicherweise der Verweis Infra xxx s und xxxvi do zu FL VI.13: 456,20f. (VI.13,16f.), den N eumann (1993), S. 230 nicht zuordnen konnte: Es scheint, als gälte der Verweis FL VI.31 und 37. <?page no="128"?> Die Angaben in den Überschriften von Rb und den Stellenverweisen von E stimmen nicht nur in Bezug auf das Fehlen der Kapitelverdoppelung überein, sondern sie zeigen auch bei der Bestimmung der Kapitelgrenze zwischen FL II.2 und II.3 Gemeinsamkeiten. Kapitel II.2 in E entspricht in der Textausgabe von V ollmann -P rofe 76,14-28 (II.2,2-16), FL II.3 setzt sich aus FL II.2: 76,29-78,29 (II.2,17-44) und FL II.3 zusammen. 91 Ein ähnliches Bild bietet die Kapitelgliederung in Rb: LD IV.39 (Rev. Bd. II.2, S. 570) umfasst FL II.2: 76,14-28 (II.2,2-16) und verweist auf 2 c des deutschen Textes (FL II.1 geht ihm unmittelbar voran und wurde als secunda parte i c angekündigt). Die Kapitel LD I.26-28 (Rev. Bd. II.2, S. 471f.) stellen laut Kapitelverweis in der Überschrift Secunda parte iii c des ›Fließenden Lichts‹ dar und entsprechen FL II.2: 76,29-78,29 (II.2,17-44) und II.3. Diese Aufteilung der Kapitel FL II.2 und 3 lag nicht nur in der Handschrift vor, nach der die lateinische Übersetzung erstellt wurde, sondern sie ist bereits zu dem Zeitpunkt nachweisbar, als die Stellenverweise im deutschen Text eingeführt wurden. Dies ist den Marginalien zu FL I.44: 62,28f. (I.44,71f.) zu entnehmen, einer Stelle, die die naturgegebene Gottähnlichkeit der menschlichen Seele zum Thema hat. Verwiesen wird hier unter anderem auf ii libro iii d, das FL II.2: 78,10f. (II.2,28f.) entspricht. 92 Auf die gleiche Stelle verweist auch die Marginalie ii libro iiii [recte iii] zu FL III.23: 218,24f. (III.23,9f., s. Anm. 92 unten). Auf FL II.3: 80,28 (II.3,23) bezieht sich der Rückverweis ii libro iii M in FL V.26, bestätigt durch den Vorverweis [v] libro xxvi in FL II.3 selbst. Auf welcher Textstufe sind die Kapitelverweisungen in den Rb-Überschriften und die Querverweise in E zu verorten? Dass die Textgestalt, auf welche an den genannten Stellen Bezug genommen wird, vor E liegt, beweisen die Übereinstimmungen bezüglich des Fehlens der Dublette FL VI.22/ VII.45. Aber wie weit führen sie in der Textgeschichte zurück? Diese Frage lässt sich nur vom System der Stellenverweise her beantworten. Es gibt gewichtige Indizien dafür, dass es vorgelegen haben muss, als das ›Fließende Licht‹ ins Latei- 118 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 91 Es wird vermutet, dass die Überschrift von FL II.3 vorgezogen wurde, s. N eumann (1993), S. 29f., Anm. zu II.2,17. Zustimmend V ollmann- P rofe (2003), S. 725f. 92 Die Verbindung wird, wie so oft, über ein Stichwort (hier: nature) hergestellt. Folgende Kapitel werden außerdem als weiterführende Lektüre empfohlen: v libro vi b (FL V.6: 334,7f. [V.6,5f.]), ii libro xxi b (FL II.21: 112,13f. [II.21,12f.]? ), xxii c (FL II.22: 114,8f. [II.22,12f.]), iiii libro ii b (FL IV.2: 228,21f. oder 230,16f. [IV.2,8f. oder 26f.]), xii b d e (FL IV.12: 258,27f., 260,4f. bzw. 10f. [IV.12,18f., 27f. bzw. 32f.]), [iv libro] xxiiii d (FL IV.24: 294,25f. [IV.24,19f.]) [v] libro vi und v libro ii (? ). Ob mit [iii libro] xxiiii b FL III.24: 220,25f. (III.24,9f.) oder III.23: 218,24f. (III.23,9f.) gemeint ist, ist schwer zu entscheiden, denn beide bieten das Stichwort nature. Für FL III.23 könnte der Rückverweis auf i libro xliiii g und ii libro iiii [recte iii] sprechen. Allerdings ist unklar, ob i libro xliiii g FL I.44: 62,28f. (I.44,71f.) oder I.44: 64,10f. (I.44,83f.) meint, denn auch der Randbereich zu 64,10f. weist Vorverweise (u.a. auf FL III.23) auf, die sich ebenso um das Stichwort nature gruppieren: iii libro ix iiii libro xiiii [iii] libro xxiii. <?page no="129"?> nische übersetzt wurde und dass es sogar konstitutiv für die Kapitelfolge der ›Lux divinitatis‹ war. 93 Dass die Querverweise nicht erst in E eingeführt wurden, bezeugen nicht nur die vielfachen Fehler und Mängel des Systems, die auf eine längere kopiale Tradierung hinweisen, sondern vor allem die Parallelüberlieferung. Bereits K ornrumpf äußerte die Vermutung, dass der B-Redaktor bei der Textauswahl von Marginalien beeinflusst worden sein könnte. K ornrumpf weist darauf hin, dass sich die Reihenfolge FL V.29 und 33 in B einem Verweis verdankt, der in E bei FL V.29: 392,2 (V.29,8) erhalten blieb: xxxiii f. 94 Der Buchstabe f steht für eine alte Abschnittsgliederung, die auf dem Weg zu E verloren ging (dazu weiter unten). Der Verweis in FL V.29 bezieht sich auf FL V.33: 402,16 (V.33,13f.). Das Stichwort, das die beiden Stellen miteinander verbindet, ist túfel. 95 K ornrumpf vermutet zudem, dass auch der kleine Einschub FL VI.23: 480,15-20 (VI.23,10-14) in FL V.4, wie ihn B überliefert, einem ähnlichen Querverweis (mit Abschnittsgliederung mittels Kleinbuchstaben? ) zu verdanken ist. 96 Angesichts dieses Befunds fragt man sich, ob es nur ein Zufall ist, dass FL V.29 in B auf FL V.25 folgt, folgen doch beide Kapitel auch in Rb (LD V.9.10/ Rev. Bd. II.2, S. 596f.) unmittelbar aufeinander. 97 Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 119 93 N eumann (1993), S. 207 war dagegen der Ansicht, die Querverweise stellten eine «wohl etwas jüngere Gruppe» dar als die sonstigen Wortmarginalien, die aller Wahrscheinlichkeit nach schon in der Vorlage der lateinischen Übersetzung gestanden haben. Ähnlich V ölker (1967), S. 57. 94 Vgl. V izkelety / K ornrumpf (1968), S. 286. FL V.29 und 33 folgen auch im Mosaik aufeinander, das in der Spruchsammlung des Pseudo-Engelhart von Ebrach steht, vgl. H, Ka usw. (Kap. V.2 passim). 95 Auf den Abschnitt FL V.33 f wird auch am Rande von FL II.24: 122,28f. (II.24,49f.) verwiesen. Die Verbindung wird auch hier über die Teufelsthematik hergestellt. Die Marginalie lautet: Von gewalt der wisheit und bosheit des túfels ii libro xix e iiii libro ii [iiii] libro xviii G e [v libro] xxix e f g xxx [recte xxxii] f xxiii [recte xxxiii] f. Die Verweise sind im Einzelnen wie folgt aufzulösen: FL II.19: 106,26f. (II.19,51f., zu dieser Stelle gehörte einst eine Marginalie, die nur noch in W in Form der Zwischenüberschrift de triplici celo und in Rb als Nota de triplici celo am Rande von LD IV.48,4f./ Rev. Bd. II.2, S. 576,23 nachweisbar ist, zu W s. S chleussner 1929, S. 175,10), FL IV.2: 230,34f. (IV.2,43f.), FL IV.18: 280,3f. und 278,16 (IV.18,52f. und 32), FL V.29 (auf welche Abschnitte die Buchstaben e f g sich genau beziehen, kann nicht festgestellt werden), FL V.32: 400,24 (V.32,19f., hier findet man die Glosse Von túfelen an ende; auf diese Stelle bezieht sich der Querverweis v libro xxxii zu FL III.15: 196,19 [III.15,49f.]) und FL V.33: 402,16 (V.33,13f.). Schon dieses eine Beispiel zeigt, welch dichtes Geflecht von Querverweisen die unterschiedlichen Stellen des ›Fließenden Lichts‹ miteinander verbindet. 96 Vgl. V izkelety / K ornrumpf (1968), S. 285f. 97 Auch hier wird wohl ein Randvermerk in der Vorlage dem B-Redaktor den entsprechenden Hinweis geliefert haben. Dass er beim Exzerpieren von der Kapitelauswahl der einzelnen Bücher der lateinischen Übersetzung beeinflusst war, wie es N agy (2001), S. 135 glaubhaft machen will, lässt sich nicht beweisen. Dennoch gibt es durchaus Indizien dafür, dass manche Lesarten von B auf einen Vergleich mit der ›Lux divinitatis‹ zurückgehen könnten, vgl. V izkelety / K ornrumpf (1968), S. 302. <?page no="130"?> Auf die textkonstitutive Wirkung von Stellenverweisen stoßen wir auch in W. W (S chleussner 1929, S. 177,10-19) enthält einen Abschnitt aus FL III.1: 154,32-156,1 (III.1,141-146), der mit der Überschrift Von den IX chor der engel überschrieben wird. Darauf folgt ein kurzer Einschub aus demselben Kapitel (FL III.1: 148,15-17 [III.1, 39-41]) und anschließend wieder ein mit Laus Angelorum überschriebener Abschnitt, entnommen aus FL II.20: 110,20-26 (II.20,25-30, vgl. S chleussner 1929, S. 177,26- 178,19). Auf diese beiden Abschnitte aus FL II.20 und III.1 über die neun Engelchöre bezieht sich ein Querverweis zu FL I.6 (Überschrift: Von den nún k o ren, wie si singent) in der Einsiedler Handschrift: iii libro i g ii libro xx g. Ähnliche Beobachtungen macht man auch bei C. Hier folgen FL III.15 und 17 bzw. FL IV.27 und VI.15 jeweils aufeinander (vgl. Textabdruck auf S. 407-409 und 413-419 weiter unten), begünstigt durch nur in E erhaltene Marginalien wie [iii libro] xvii xxi f ii libro viii v libro v xiiii xv zu FL III.15: 192,28f. (III.15,1f.) bzw. vi libro xv d e f sowie s v ch hie von me vi vel [recte libro] xv zu FL IV.27: 308,20f. und 310,18f. (IV.27,141f. und 169f.). Sprechen diese Belege zunächst nur dafür, dass das System der Stellenverweise nicht erst in E eingeführt wurde, sondern der gesamten Basler Tradition eigen ist, so lässt sich auch nachweisen, dass sich das Vorhandensein der Querverweise über den oberdeutschen Text hinaus bis hin zur Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹ zurückverfolgen lässt. 98 Bereits oben wurde darauf hingewiesen, dass FL V.29 und 25 nicht nur in B, sondern auch in Rb unmittelbar aufeinander folgen. Das trifft auch auf FL IV.27 und VI.15 zu: Sie treten nicht nur in C, sondern auch in Rb (LD III.10- 15/ Rev. Bd. II.2, S. 528-535) nebeneinander auf. Von daher verwundert es wenig, am Anfang des sechsten Buches der ›Lux divinitatis‹ auf all die Kapitel zu stößen, die in E als weiterführende Lektüre zu FL III.15 empfohlen werden (s. oben die Angaben zu C), denn das Thema ‹Fegefeuer› verbindet sie miteinander. Ein ähnlicher Fall liegt beim LD-Prolog vor: Hier finden wir sämtliche Kapitel versammelt, auf welche in FL II.26 hingewiesen wird: i libro i a (d.i. das Prooemium zum ›Fließenden Licht‹, vgl. S. 253, Anm. 671 weiter unten) iii libro xx iiii libro ii a b g (FL IV.2: 228,14f., 19f. und 236,32f.? [IV.2,4f., 7f. und 128f.? ]) 99 xiii [v] libro xxxiiii vi libro xx. Im Einzelnen wäre noch auf folgende Stellen hinzuweisen: LD III.7.8 (Rev. Bd. II.2, S. 525f.) lässt FL IV.6 und VI.7 aufeinander folgen, entsprechend der nur noch in E bezeugten Marginalie vi libro viii [recte vii] c zu FL IV.6: 254,1f. (IV.6,16f., mit Bezug auf FL VI.7: 444,20f. [VI.7,15f.], verbindendes Merkmal: Verzicht auf sündhaftes Handeln) - LD IV.16,10f. und IV.17 (Rev. Bd. II.2, S. 553f.) lassen FL V.7 und III.2 aufeinander folgen, entsprechend iiii 120 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 98 Auf die Übereinstimmungen zwischen den Stellenverweisen in E und den Umstrukturierungsprinzipien der lateinischen Übersetzung weist auch S enne (2002), S. 22 am Beispiel der Marginalien zu FL I.7 hin. 99 Mit dem Abschnitt b wird wohl nicht FL IV.2: 230,13f. (IV.2,26f.) gemeint sein - das Thema ‹Buch/ Schreiben› fehlt hier gänzlich -, selbst wenn sich in FL V.1: 320,11f. (V.1,33f.) folgender Verweis findet: Von vierleie engelen der sele iiii libro ii b. Dieser Verweis bezieht sich mit Sicherheit auf FL IV.2: 230,13f. (IV.2,26f.), denn an beiden Stellen ist vom Engel, der dem Menschen in der Taufe gegeben wird, die Rede. Es ist zu vermuten, dass im Verweis zu FL V.1 ursprünglich ein d stand, das zu b umgeschrieben wurde. Auch in FL I.44: 60,20f. (I.44,41f., Stichwort nature) findet sich ein Hinweis auf iiii libro ii b, der allerdings nicht zugeordnet werden kann. <?page no="131"?> [recte iii] libro ii d xvii [? ] zu FL V.7 (mit Bezug auf FL III.2: 160,17f. [III.2,11f.], verbindendes Merkmal: hymnische Anpreisung) - LD IV.21-23 und IV.24 (Rev. Bd. II.2, S. 557f.) lassen FL I.2 und 4 aufeinander folgen, entsprechend Infra iiii d et xxxv a am Ende von FL I.2 (mit Bezug auf FL I.4: 26,31f. [I.4,8] und I.35, verbindendes Merkmal: Zunichtewerden) - LD III.4 und 5 (Rev. Bd. II.2, S. 522f.) lassen FL IV.8-10 und VI.21 aufeinander folgen, entsprechend vi libro xxi c in FL IV.9 (mit Bezug auf FL VI.21: 478,12f. [VI.21,10f.], verbindendes Merkmal: Pfaffenlehre, vgl. Glosse zu FL VI.21: Von welichen pfaffen die got wil nidern) - LD II.11-13 (Rev. Bd. II.2, S. 490f.) lässt FL IV.20 und V.24 aufeinander folgen, entsprechend [v] libro xxiiii e g in FL IV.20 (mit Bezug auf FL V.24: 380,13f. und 20f. [V.24,37f. und 43f.], verbindendes Merkmal: Dominikus) 100 und ferner LD II.5-7 und II.8 (Rev. Bd. II.2, S. 484f.) lässt FL II.4 und VI.36 aufeinander folgen, entsprechend ii libro iiii zu FL VI.36: 504,3f. (VI.36,8f., verbindendes Merkmal: die Messe von Johannes dem Täufer). Es gibt zudem Indizien, die darauf hinweisen, dass die Vorlage der ›Lux divinitatis‹ auch eine mit den Buchstaben des Alphabets bezeichnete Untergliederung der Kapitel kannte. Darauf deuten die seltenen Fälle hin, wo es im lateinischen Text zu einer Aufspaltung der deutschen Kapitel kam, um thematisch verwandte Textteile (nicht nur Kapitel! ) zusammen zu führen. 101 Freilich kann die Tatsache, dass es zu Kapitelaufteilungen kam, um den jeweiligen Teil an der thematisch passenden Stelle zu inserieren, mit einer souveränen Kenntnis des Textes erklärt werden. Es gibt aber zwei Stellen, die das Vorhandensein der Abschnittsgliederung mittels Kleinbuchstaben wahrscheinlich machen. Bei FL IV.27 finden sich in E zwei Querverweise, die auf FL VI.15 Bezug nehmen: einmal S v ch hie von me vi vel [recte libro] xv am Ende des Kapitels und vi libro xv d e f als Anmerkung zu FL IV.27: 308,21 (IV.27,141f.). Im Falle des letzten Querverweises wird die Verbindung zu FL VI.15 über das Stichwort ‹Enoch und Helias› hergestellt, und zwar zum Text ab VI.15: 462,23f. (VI.15,29). Tatsächlich folgt der mit 462,24 ansetzende Kapitelteil in dem mit De aduentu enoch et elye überschriebenen Kapitel LD III.14 (Rev. Bd. II.2, S. 534f.) unmittelbar auf FL IV.27. 102 Ein weiteres Beispiel liefern die am Anfang von Buch VI der lateinischen Übersetzung zusammengeführten Kapitel. Innerhalb dieser Kapitelgruppe gehören LD VI.7 und 8 (Rev. Bd. II.2, S. 624f.) Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 121 100 Auf die angegebenen Passagen aus FL V.24 bezieht sich auch die Marginalie v libro xxiiii d f iiii libro xx zu FL II.24: 122,23f. (II.24,44f., gemeinsamer Bezugspunkt: Dominikus). Welche der beiden Abschnittsgliederungen zutrifft, kann nicht mehr entschieden werden. 101 Vgl. LD Prol. 5,17-24 (Rev. Bd. II.2, S. 442f.) mit FL VI.20: 476,4-12 (VI.20,4-11) im Anschluss an FL III.20 (als Ganzes ist FL VI.20 als vorletztes Kapitel noch einmal überliefert, s. LD VI.24/ Rev. Bd. II.2, S. 642) - LD I.12-17 (Rev. Bd. II.2, S. 456f.) mit FL V.23: 362,7-374,26 (V.23,4-180) und davon abgetrennt FL V.23: 374,27-376,2 (V.23, 181-190) als LD I.34 (Rev. Bd. II.2, S. 478f.) - LD III.10-15 (Rev. Bd. II.2, S. 528-535), bestehend aus FL IV.27 und VI.15: 462,23-466,22 (VI.15,29f.); FL VI.15: 460,10-462,22 (VI.15,3-29) fehlt, weil es wohl übersehen wurde - LD V.25 (Rev. Bd. II.2, S. 610f.) mit FL III.15: 192,31-194,28 (III.15,4-28) und LD VI.8 (Rev. Bd. II.2, S. 625f.) mit FL III.15: 194,29-198,5 (III.15,24-67). 102 Der Anfangsteil von FL VI.15 (460,19-462,22, VI.15,3-29) wurde dabei übergangen. Er hätte sicherlich anderswo inseriert werden müssen, scheint jedoch vergessen worden zu sein. Daher kommt es, dass eine Entsprechung zu FL VI.15: 460,19-462,22 in der ›Lux divinitatis‹ fehlt. <?page no="132"?> enger zusammen. Die lateinische Übersetzung lässt hier FL II.8 und III.15: 194,29- 198,5 (III.15,24-67) aufeinander folgen, entsprechend dem nur noch in E bezeugten Querverweis iii libro xv g (= FL III.15: 196,36f. [III.15,63f.]) am Ende von FL II.8. 103 Es gibt demnach gute Gründe für die Annahme, dass die Einheit der Bücher I-VI, die zur Übersetzung ins Lateinische vorlag, mit einem komplexen System von Stellenverweisen ausgestattet war. Für eine davor liegende Textstufe, etwa für die Einheit der Bücher I-V, lassen sich Querverweise nicht mehr mit Sicherheit nachweisen. 104 Wenn nachgewiesen werden kann, dass die Stellenverweise (1) bis zum alemannischen Übersetzungsoriginal des ›Fließenden Lichts‹ zurückreichen, (2) sich bis auf das Zusatzkapitel VI.22 auf eine mit E identische Buch- und Kapitelfolge bzw. -zählung beziehen und (3) für die Kapitelgliederung in der lateinischen Übersetzung konstitutiv waren, so darf wohl davon ausgegangen werden, dass auch der ›Lux divinitatis‹ ein mit E weitgehend gliederungsgleiches Exemplar des ›Fließenden Lichts‹ vorgelegen hat. Demnach werden die Buch- und Kapitelverweisungen in den Überschriften von Rb sehr wohl alt sein und sich auf die Zählung der mittelniederdeutschen Übersetzungsvorlage beziehen. Freilich ist nicht auszuschließen, dass die Kapitel, die in der lateinischen Übersetzung fehlen, von den Stellenverweisen in E jedoch erfasst sind, erst zu einem späteren Zeitpunkt (wie FL VI.22) in das Corpus der Mechthild zugeschriebenen Schriften aufgenommen und mit anderen Kapiteln mittels Querverweisen ‹verlinkt› wurden. 122 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 103 Außerdem wird hier auf iii libro xvi [recte xvii] et vi libro x hingewiesen. Den indizierten Kapiteln ist das Thema ‹Erlösung der Seelen aus dem Fegefeuer› gemeinsam. FL VI.10 folgt in Rb unmittelbar auf die Kapitelgruppe am Anfang des sechsten Buches der ›Lux divinitatis‹, die Übereinstimmungen im Bestand zu den Stellenverweisen in FL III.15 aufweist. 104 Der Index rerum, der bekanntlich nur die ersten fünf Bücher berücksichtigt, erweckt stellenweise den Eindruck, als hätte sich dessen Verfasser bei der Kapitelauswahl nicht allein an den Überschriften orientiert (s. dazu B ecker 1951, S. 138-145), sondern auch Kenntnis von Querverweisen gehabt. Dies lassen vor allem zwei Kapitelangaben vermuten, die in den Überschriften keine Entsprechung zum indizierten Thema haben. So wird für die Sachgruppe De trinitate auf II.3 (= FL II.2: 76,29-78,29 [II.2,17-44] und II.3, s.o.), III.9, IV.12 und 14 sowie V.26 hingewiesen. Dass in FL V.26 auch von der Dreifaltigkeit die Rede ist, geht aus der Überschrift (Wie got sich lobet und singet) nicht hervor. Allerdings stellt die Marginalie [v] libro xxvi zu FL II.3: 80,28 (II.3,23) die Verbindung zu FL V.26 über das Stichwort ‹musizierende Dreifaltigkeit› her (in FL V.26 findet man den Rückverweis ii libro iii M). Auch die Überschrift von FL IV.12 bietet nichts, was dem Verfasser des Index rerum ermöglich hätte, das Kapitel in die Sachgruppe De trinitate aufzunehmen. Den entsprechenden Querverweis iii [recte iiii] libro xii Responsio bietet wieder das alte Kapitel II.3 (= FL II.2: 78,7 [II.2,25], Stichwort: ‹Gottesfremde›). Zwar haben diese beiden Belege eine große Suggestionskraft, für den zweifelsfreien Nachweis von Querverweisen in den Büchern I-V reichen sie jedoch nicht. Denn in beiden Fällen liefert die erste Zeile des Kapitels das Stichwort drivaltekeit. Eine oberflächliche Lektüre dürfte den Verfasser des Index rerum dazu verleitet haben, in den beiden Kapiteln Material für seine Zwecke zu vermuten. <?page no="133"?> Ein längerer Abschnitt vom Anfang des Kapitels FL VI.15 fehlt in der lateinischen Übersetzung. Es ist anzunehmen, dass er versehentlich übergangen wurde, als man das Kapitel aufgeteilt und anderweitig inseriert hat. Das sieht man an LD III.14 (Rev. Bd. II.2, S. 534f.), wo der zweite Teil von FL VI.15 im Anschluss an FL IV.27 überliefert ist (s.o.). Aufschlussreich für die Frage, ob die Übersetzungsvorlage den Eingangsabschnitt von FL VI.15 enthielt, ist der Querverweis vi libro xv d e f zu FL IV.27: 308,21 (IV.27,141f.). Denn er stellt die Verbindung zu FL VI.15 über das Stichwort ‹Enoch und Helias› her. Das Untergliederungszeichen d bezieht sich auf den mit VI.15: 462,23 (VI.15,29) ansetzenden Abschnitt. Dies lässt darauf schließen, dass die Kleinbuchstaben a-c den ersten Teil des Kapitels erfassten. Man darf demnach mit Sicherheit davon ausgehen, dass FL VI.15 den Übersetzern in seiner heutigen Form vorlag, was auch die reiche Glossierung für den Anfangsteil (460,19-462,22 [VI.15,3-29]) wahrscheinlich macht. Anders zu beurteilen ist der in LD III.1 (Rev. Bd. II.2, S. 519f.) nicht vorhandene Eingangsabschnitt FL VI.2: 432,3-9 (VI.2,3-8). Der fehlende Bezug zum folgenden Text, die ausgebliebene Glossierung und die Tatsache, dass er von der Überschrift nicht angekündigt wird, lassen darauf schließen, dass dieser Abschnitt erst später an den Anfang von FL VI.2 geraten ist. Der gedanklich und formal abgeschlossene Charakter des Textstückes lässt an ein ursprünglich selbstständiges Kapitel denken, welches ohne erkennbaren Grund FL VI.2 vorangeschaltet wurde. Ähnliches wäre auch für FL III.23 zu überlegen, denn es fehlt in der lateinischen Übersetzung. 105 Allerdings findet sich in FL I.44 ein Vorverweis auf dieses Kapitel, dem ein Rückverweis auf FL I.44 und II.3 in FL III.23 entspricht (s. S. 118, Anm. 92). Ein klarer Fall, würde man meinen, der das Vorhandensein von FL III.23 zum Zeitpunkt der Einführung der Stellenverweise bestätigt und auf bewusste oder unbewusste Auslassung in der ›Lux divinitatis‹ schließen lässt. 106 Dies setzt allerdings voraus, dass die Stellenverweise alle zur gleichen Zeit entstanden sind. Dass man mit Nachträgen rechnen muss, legt die Marginalie zum ersten Prooemium nahe. Verwiesen wird hier auf v libro xxxiii [recte xxxiiii] ii libro xxvi vi libro in ende. All diese Angaben beziehen sich auf die Sendung des b v ches durch Gott: Die ersten beiden geben die Kapitel an, aus welchen das Prooemium kompiliert wurde, 107 die letzte bezieht sich mit Sicherheit auf FL VI.43, worin von der schrift die Rede ist, die us got gevlossen ist (Überschrift). Der Stellenverweis vi libro in ende lässt vermuten, dass es sich um ein Textstück neueren Datums handelt, 108 vielleicht um einen Schreibervermerk, der noch nicht als eigenständiges Kapitel galt, weshalb ihm auch die Kapitelzählung fehlte. Doch nicht nur die fehlende Kapitelzählung spricht für einen Nachtrag, sondern auch das Register zum sechsten Buch: FL VI.43 ist hier nicht verzeichnet. Und wenn das Schlussstück des sechsten Buches des ›Fließenden Lichts‹ auch noch in der ›Lux divinitatis‹ fehlt, wird man wohl davon ausgehen müssen, dass es zum Zeitpunkt, als die Übersetzung entstand, noch nicht vorlag, denn es ist wenig wahrscheinlich, dass Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 123 105 B ecker (1951), S. 38 Anm. 1 und N eumann (1993), S. 64 vermuten, FL III.23 könnte wie VI.22 aus dem siebten Buch ins dritte versetzt worden sein. 106 V ollmann- P rofe (2003), S. 765 zufolge hätten die Übersetzer am Inhalt des Kapitels (Liebeszauber) Anstoß genommen und es deshalb übergangen. 107 Stellennachweise bei N eumann (1993), S. 3. 108 Vgl. in diesem Zusammenhang auch S. 288, Anm. 794 weiter unten mit Text. <?page no="134"?> die Übersetzer es unterlassen hätten, dieses Kapitel in den bio-bibliographisch ausgerichteten Prolog aufzunehmen. 109 Man muss also mit nachträglichen Ergänzungen und Umstellungen rechnen, was die Kapitelfolge betrifft. Das gilt nicht nur für die Texttradition, an deren Ende E steht, sondern vielleicht auch für die mittelniederdeutsche Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹. Denn trotz einer mit E weitgehend identischen Buch- und Kapitelzählung und des annähernd gleichen Kapitelbestandes fallen einige Abweichungen auf, die die Kapitelverweisungen von Rb gegenüber E auszeichnen. Ich meine hier nicht Fälle wie LD IV.31 (Rev. Bd. II.2, S. 564f.), wo statt FL IV.16 die Kapitelzahl IV.18 angegeben wird oder LD V.35 (Rev. Bd. II.2, S. 616f.), wo V.13 statt V.16 steht. 110 Es kann sich immerhin um Verschreibungen handeln. Nicht mehr durch eine kopiale Überlieferungspraxis bedingt dürften dagegen Abweichungen sein, die ab FL V.26 zwischen den Kapitelverweisungen von Rb und der Zählung von E auszumachen sind. Die Kapitelzählung in den Tituli der lateinischen Übersetzung bleibt gegenüber E stellenweise um zwei Einheiten zurück bzw. weist Umstellungen auf, wie der folgenden Tabelle zu entnehmen ist: E Rb FL V.26 FL V.24 vgl. LD I.2 (Rev. Bd. II.2, S. 447f.) FL V.27 FL V.25 vgl. LD I.20 (Rev. Bd. II.2, S. 465f.) FL V.28 FL V.27 vgl. LD II.36 (Rev. Bd. II.2, S. 513) FL V.30 FL V.30 vgl. LD IV.26 (Rev. Bd. II.2, S. 560f.) FL V.31 FL V.29 vgl. LD IV.27 (Rev. Bd. II.2, S. 562) Als Zwischenfazit ist festzuhalten: Die von Teilen der älteren Forschung vertretene Ansicht, die ›Lux divinitatis‹ verdanke ihre Buch- und Kapitelfolge einer gliederungsgleichen deutschen Vorlage, einer Handschrift also, die den gleichen, nach sachlichen Gesichtspunkten umgruppierten Text bot, kann vor dem Hintergrund der Ausführungen von oben endgültig ad acta gelegt werden. Die nachweislich bis zum Übersetzungsoriginal zurückreichenden Buch- und Kapitelverweise in den Überschriften der ›Lux divinitatis‹ - sie stimmen, soweit ersichtlich, mit den ebenso alten Querverweisen in E überein - zeigen mit aller Deutlichkeit, dass die mittelniederdeutsche Übersetzungsvorlage bis auf einige spätere Ergänzungen im deutschen Überlieferungszweig (FL VI.2: 432,3-9 [VI.2,3-8], VI.22, VI.43 und vielleicht III.23) eine mit E weitgehend identische Kapitelfolge und -zählung geboten hat. Allerdings scheint die An- 124 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 109 Anders N eumann (1954b), S. 65: N eumann ist der Ansicht, die Übersetzer hätten FL VI.43 bewusst übergangen, «weil die lateinische Version weder mit dem Wortlaut noch mit dem Aufbau der Vorlage also getrúwelich verfuhr» wie Heinrich von Halle, dem dieses testimonium veritatis am Ende des sechsten Buches angeblich zu verdanken ist. 110 Vgl. auch LD IV.59 (Rev. Bd. II.2, S. 586): IV.2 statt FL IV.5; LD III.7 (Rev. Bd. II.2, S. 525f.): IV.5 statt FL IV.6 oder LD I.18 (Rev. Bd. II.2, S. 464): VI.18 statt FL VI.24. <?page no="135"?> ordnung der Kapitel an einigen Stellen eine andere Reihenfolge als E aufgewiesen zu haben. Dies dürfte bei einem grundsätzlich auf Addition beruhenden Textcorpus wie dem ›Fließendem Licht‹ nicht weiter verwundern, macht doch gerade die offene Struktur den Text für Ergänzungen und Umstellungen auf der Ebene der Kapitelfolge anfällig. 111 Dieser Tatsache war sich auch die ältere Forschung bewusst, doch hinderte sie diese nicht daran, das Nacheinander der Kapitel in der deutschen Überlieferung für authentisch, d.h. sukzessiv entstanden und in ihrer Reihenfolge von der Autorin (und nicht etwa durch die ordnende Hand eines Redaktors) festgelegt, zu erklären. Auf diesen Punkt gilt es im Folgenden einzugehen. II.1.3 sicut legentibus nunc apparet. Zur Authentizität der Buch- und Kapitelfolge des ›Fließenden Lichts‹ Die Schlussfolgerung, dass E Mechthilds Aufzeichnungen so überliefert, wie sie der Reihe nach entstanden sind, zog man, wie wir in Kapitel I.1.1 und 2 gesehen haben, zum einen aus dem Charakter des Werkganzen, zum anderen aus dem Verständnis des Textes als einer Ansammlung von tagebuchartigen Notizen. Entscheidend für die Lesart des ›Fließenden Lichts‹ als Tagebuch war nicht nur die lose Folge von Einzelkapiteln ohne erkennbare sachliche Ordnung sowie die Ich-Perspektive, die die Erzählhaltung bestimmt. Auch und vor allem waren es die im Text verstreuten, sich auf einzelne Lebensstationen der Protagonistin beziehenden Jahresangaben (vor drissig jaren und me, bi zwanzig jaren, dirre trost hette gewert aht jar usw.), die die Verfechter der Tagebuch-These veranlasst haben, sich in ihrer Annahme bestätigt zu sehen. Die Aufschlüsselung dieser an sich, d.h. ohne einen zeitlichen Bezugspunkt, nicht aussagekräftigen Angaben mittels der wenigen mit einiger Sicherheit datierbaren Anspielungen auf urkundlich bezeugte Personen und zeitgeschichtliche Ereignisse hat nämlich nur das bestätigt, was man vom Charakter des Werkganzen her ohnehin vermutet hat: Es handelt sich um einen Text, der Ergebnis eines langandauernden und lebensbegleitenden Schreibens ist, an dem der Wandel des künstlerischen Ausdrucks und der religiösen Erfahrungswelt Mechthilds sowie die Erweiterung ihres geistigen Horizontes abgelesen werden können. Eine erneute Prüfung der Argumente, die man ins Feld führte, um einzelne Lebensstationen Mechthilds (das Jahr der Geburt und des Todes, den Zeitpunkt der ‹Flucht› in die Magdeburger [? ] Beguinage sowie des Eintritts ins Kloster Helfta) und die Phasen der Buchgenese zu datieren, zeigt, dass die These von der erhalten gebliebenen chronologischen Reihenfolge der Aufzeichnungen auf der Grundlage der textinternen Jahrangaben nicht erwiesen werden kann. Das siebte Buch enthält zwei Kapitel, die schon immer eine wichtige Rolle spielten, wenn es darum ging, das Todesjahr Mechthilds zu ermitteln und Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 125 111 Vgl. O rtmann (1992), S. 181. <?page no="136"?> die bewahrte chronologische Reihenfolge der Aufzeichnungen zu erweisen. FL VII.28 ruft ein zeitgeschichtliches Ereignis in Erinnerung. Es ist von der not eines urlúges (Überschrift) die Rede, von einer Kriegsnot also, die Sachsen und Thüringen heimgesucht hat. Einige Kapitel weiter meldet sich die Sprecherin wieder zu Wort und beklagt, Gott möge sie wissen lassen, ob sie weiter schreiben solle. Warumbe? Das ich mich nu also sn o de und unwirdig weis, als ich was vor drissig jaren und me, do ich es beginnen m v ste (FL VII.36: 598,7-9 [VII.36,3f.]). S tierling war der Ansicht, das in FL VII.28 Berichtete stünde im Zusammenhang mit dem Einfall König Adolfs von Nassau im Jahre 1294, einem Ereignis, das auch in der zeitgenössischen und späteren chronikalischen Literatur Erwähnung fand. 112 Als besonders grausam hätten die Chronisten die Tatsache empfunden, dass selbst Kirchen von den Einbrechern und Plünderern nicht verschont blieben. Eine Anspielung auf dieses schwere Kriegsverbrechen meint S tierling in folgender Passage des ›Fließenden Lichts‹ zu finden. Ich zitiere den Passus in der Lesart von S tierling : Die die sache sint des urlúges, die sint grúweliche an in selber und grimme an iren werken, das si die bilde mines gotzhuses get o rent angriffen (vgl. FL VII.28: 584,23-25 [VII.28,14- 16]). 113 Da Mechthild dieses Ereignis offenbar noch erlebt hatte, dürfte sie, so S tierling , erst nach 1294 gestorben sein. Die Datierung des Todes Mechthilds und damit auch die des siebten Buches in das letzte Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts fand wenig Zustimmung. 114 Die Forschung vor und nach ihm geht davon aus, dass Mechthild aller Wahrscheinlichkeit nach schon um 1282 starb. 115 Bei der Argumentation zugunsten dieses Datums spielte das oben zitierte Kapitel 36 des siebten Buches eine entscheidende Rolle. Der Anfang der Schreibtätigkeit wird dort auf «vor dreißig Jahren und mehr» geschätzt. Ohne zu wissen, wann das 36. Kapitel abgefasst wurde, ist diese Angabe an sich allerdings wenig aussagekräftig. Deshalb wurde sie zuerst von S trauch , dann aber auch von anderen Mechthild-Forschern mit dem lateinischen Vorbericht zu E in Verbindung gebracht, in dem behauptet wird: Anno domini M°CC°L° […] liber iste fuit teutonice cuidam begine […] inspiratus. 116 Durch die Rückkopplung von FL VII.36 an den Vor- 126 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 112 Vgl. S tierling (1907), S. 19-22. 113 S tierling ebd., S. 20 zitiert M orel (1869), S. 243,14u. Er korrigiert dabei stillschweigend handschriftliches grúwelicher in grúweliche. Zu den Auswirkungen dieser Konjektur für die Interpretation der Stelle s. weiter unten. 114 S tierling folgten lediglich H ünicken (1934/ 35), S. 107 und M. S chmidt (1955), S. 15 bzw. (1995), S. 397, Anm. 292. 115 Man wollte sich in puncto Todesjahr mit dem Hinweis von B oehmer (1871), S. 104 nicht zufrieden geben, wonach Mechthild frühestens 1270 gestorben ist, da Helfta - hier soll sie nach dem Prolog zur ›Lux divinitatis‹ die letzten zwölf Jahre ihres Lebens verbracht haben - erst 1258 gegründet wurde. 116 M orel s Konjektur der handschriftlichen Lesart inspiratus (bezogen auf liber) in inspirata (bezogen auf begina) wird von S trauch stillschweigend rückgängig gemacht. <?page no="137"?> bericht ermittelt S trauch 1281 als das Abfassungsjahr des Kapitels. Vor diesem Hintergrund errechnet er das Sterbejahr Mechthilds wie folgt: «nehmen wir hinzu dass das 36 capitel nicht das letzte des 7. buches ist, sondern noch 29 capitel folgen, so dürfen wir Mechthilds tod aller wahrscheinlichkeit nach frühestens um 1282 ansetzen.» 117 Die Beweisführung von S trauch hat überzeugt und zu einem Forschungskonsens geführt. 118 Trotzdem sind Bedenken an diesem Datierungsansatz anzumelden. Problematisch erscheint mir zum einen der Versuch, FL VII.36 recht genau auf das Jahr 1281 zu datieren. Nach meinem Dafürhalten besagt vor drissig jaren und me nicht, dass die Sprecherin einunddreißig Jahre nach dem Schreibbeginn um Dispens von der ihr auferlegten Schreibpflicht gebeten hat. Nimmt man mit dem lateinischen Prolog an, dass das Schreiben des Buches tatsächlich 1250 seinen Anfang nahm, 119 so käme ein beliebig anderer Zeitpunkt zwischen 1281 und 1289 als das Abfassungsjahr von Kapitel 36 genauso in Frage. Anlass zu Bedenken gibt mir außerdem der Schluss, den S trauch aus der Datierung von FL VII.36 für das Todesjahr Mechthilds zieht. Das Sterbejahr wird danach berechnet, wieviel Zeit die Abfassung der verbleibenden 29 Kapitel des siebten Buches in etwa in Anspruch genommen haben kann. Diese Argumentation baut auf zwei Postulate, denn zum einen wird angenommen, dass die Arbeit am b v ch lebensbegleitend war, so dass man vom Ende der Schreibtätigkeit auf den Tod der Autorin schließen kann. 120 Zum anderen soll es sich um einen sukzessiv voranschreitenden Schreibprozess gehandelt haben, der sich in der heutigen Reihenfolge der Kapitel dokumentiert. Dem muss aber entgegnet werden, dass wir nicht wissen können, ob Mechthild dem Schreiben in regelmäßigen Zeitabständen nachgegangen ist und ob sie bis zu ihrem Tod am Buch gearbeitet hat. Fraglich ist auch - das soll im weiteren Verlauf dieses Kapitels gezeigt werden -, ob die lose Struktur dahingehend interpretiert werden kann, dass sie der ursprünglichen Chronologie der Niederschriften entspricht. Doch kehren wir zunächst zur Frage nach der Datierung des in FL VII.28 angesprochenen Ereignisses zurück. Die Berechnung des Sterbejahres Mechthilds anhand von FL VII.36 auf 1282 fand eine zusätzliche Stütze durch die von H auck vorgeschlagene Neudatierung von FL VII.28, einem Kapitel, das S tierling auf 1294 datieren wollte. Gegen diese Datierung geht H auck entschieden in die Offensive. Zwar ist er bereit zuzugeben, dass die von S tierling zitierten chronikalischen Quellen «einen vorzüglichen Hintergrund für das Gebet Mechthilds» in FL VII.28 Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 127 117 S trauch (1883), S. 371. Zustimmend B ecker (1951), S. 202. 118 Vgl. N eumann (1954b), S. 46 und (1987a), Sp. 261. 119 Inwieweit die im Prolog enthaltenen scheinbar biographischen Daten und konkreten Jahresangaben zuverlässig sind, steht hier nicht zur Diskussion (s. dazu S. 141ff. weiter unten). 120 Unter dieser Annahme interpretiert etwa W eiss (2008), S. 147f. das letzte Kapitel des siebten Buches. <?page no="138"?> darstellen, doch meldet er gleich Bedenken an. 121 H auck weist darauf hin, dass (1) der Krieg von 1294 die sächsische Grenze nach der Darstellung der von S tierling zitierten Chronik des Erfurter Petersklosters nur berührt hat. Eisleben sei der äußerste Punkt gewesen, bis zu dem Adolf vorgerückt sei. Nun meint H auck , Mechthild beziehe auch Sachsen in den Krieg mit ein, während sich für den Erfurter Chronisten der Krieg allein in Thüringen abgespielt habe. Die Chronik zeige außerdem, dass es (2) vor allem Frauenklöster waren, die in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Dass auch das Kloster Helfta davon betroffen gewesen wäre, sei dem ›Fließenden Licht‹ nicht zu entnehmen. Es passe auch nicht zum Bericht aus dem Erfurter Peterskloster, dass (3) von den Urhebern gesagt wird, dass si die bilde mines gotzhuses get o rrent angriffen. Mit Hinweis auf die lan ich werden gevangen und libelos (vgl. FL VII.28: 584,22 [VII.28,14]) 122 ist H auck schließlich der Ansicht, (4) mit dem hier angedeuteten Krieg seien die Kämpfe der Jahre 1280/ 81 gemeint. Daran beteiligt waren Landgraf Albrecht der Entartete einerseits und seine Söhne Friedrich und Dietrich andererseits. Da Akteure beider Seiten in Gefangenschaft geraten sind, soll die zitierte Stelle aus dem ›Fließenden Licht‹ H auck zufolge auf dieses Ereignis anspielen, so dass alle Indizien für die kriegerischen Auseinandersetzungen der Jahre 1280/ 81 sprächen. 123 Gegen das letztgenannte Argument stellt N eumann richtig, dass die von H auck zitierte und unzulässigerweise aus dem Kontext isolierte Stelle nicht das Schicksal der Hauptakteure des Krieges behandelt. Eher werden diejenigen getadelt, die durch den Kriegsdienst zu Räubereien gezwungen werden, und zwar dahingehend, dass Gott sie gefangennehmen und ihres Lebens verlustig gehen lassen möge, damit sie zu ihm kommen können. 124 Nichtsdestoweniger hält N eumann an H auck s Datierung fest, doch muss er dafür zunächst eine Schwachstelle in der Argumentation seines Vorgängers entkräften. N eumann scheint erkannt zu haben, dass das von H auck gegen S tierling angeführte dritte Argument nicht stichhaltig ist, da die Aggressoren in der Peterschronik wenn nicht als Ikonoklasten, so doch als Altar- und Kirchenschänder apostrophiert werden. 125 Das bedeutet indes nicht, dass N eumann in der Frage der Referentialisierung des genannten Passus S tierling das Wort redet, denn nach seinem Verständnis geht es hier gar nicht darum, dass die Kriegsteilnehmer gewagt hätten, die Kirchen anzugreifen: «Mechthild charakterisiert vielmehr nur paradigmatisch die Schwere ihrer Sünde dadurch, dass Gott diese Kriegsstifter für schlimmer erklärt als selbst Kirchenschänder sind, die den 128 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 121 Vgl. H auck (1911), S. 196f. 122 H auck ebd., S. 197 korrigiert stillschweigend handschriftliches liebelos in libelos. 123 Ähnlich A ncelet -H ustache (1926), S. 48-50. 124 Vgl. N eumann (1954b), S. 44-46. 125 Vgl. etwa folgende Stelle aus der Erfurter Chronik: […] ad ecclesias convertuntur, fores effringuntur, vix a sacerdote celebrante manus cohibentur, altaria nudantur, vestes sacre, missales libri cum calicibus distrahuntur etc. (zitiert nach S tierling 1907, S. 21). <?page no="139"?> ewigen Tod als Strafe empfangen.» 126 In diesem Sinne ändert N eumann handschriftliches grimme in einen Komparativ (nach dem Vorbild des vorangehenden grúwelicher) und ergänzt den Vergleichsatz mit denne. Demnach lautet die Stelle in seiner Lesart: Die die sache sint des urlúges, die sint grúwelicher an in selben und grimmer an iren werken denne das si die bilde mines gotzhuses get o rrent angriffen (FL VII.28,14-16). Die Berechtigung für diesen editorischen Eingriff sieht N eumann darin, dass einfaches das nach dem Komparativ im Vergleichsatz neben denne das im ›Fließenden Licht‹ - von wenigen Ausnahmen abgesehen - kaum vorkommt. 127 Eine dieser wenigen Ausnahmen findet sich in FL VI.41: Die wunne, die ere, die clarheit, die trútunge, die warheit, die sint ob mir also gros, das ich stum wurde vúrbas me ze sprechende, das ich bekenne (FL VI.41,3-5). 128 Es verwundert, dass N eumann den unvollständigen Komparativsatz in FL VI.41 unverändert stehen lässt, in FL VII.28 dagegen berichtigend eingreift. Man hat den Eindruck, als hätte N eumann FL VII.28 textkritisch zurechtgestutzt, damit es die von ihm gewünschte Stütze für die Datierung des hier angesprochenen Ereignisses liefert. Bedenklich stimmen auch die wiederholten Eingriffe in den Text im Sinne des vermuteten mechthildischen Sprachgebrauchs. Anders als N eumann versucht V ollmann - P rofe ohne einen interpretatorischen Überbau zu Recht zu kommen und, soweit es geht, nahe an der Handschrift zu bleiben. Auch sie greift in das zweifelsfrei gestörte Satzgefüge ein, konjiziert jedoch nur an einer einzigen Stelle: Die die sache sint des urlúges, die sint grúweliche [grúwelicher, E] an in selber und grimme an iren werken, das si die bilde mines gotzhuses get o rent angriffen (FL VII.28: 584,23-25). Damit erscheint allerdings die von N eumann bestrittene S tierling sche Lesart rehabilitiert (vgl. S. 126, Anm. 113 mit Text), wie es auch der Übersetzung von V ollmann -P rofe zu entnehmen ist: «Die Urheber des Krieges aber sind grauenhaft in ihrem Inneren und Schrecken verbreitend in ihren Taten, da sie es sogar wagen, sich an den Bildwerken meines Gotteshauses zu vergreifen» (FL VII.28: 585,33-587,36). S tierling s Vorschlag hat nicht nur Ablehnung, sondern auch Zustimmung gefunden. So hat H ünicken S tierling s Datierungsansatz übernommen und ihn mit einem zusätzlichen Argument zu stützen versucht. 129 H ünicken geht es um den Nachweis, dass Mechthilds angeblicher Beichtvater, der Dominikaner Heinrich von Halle, und pater H. (! ) a Veriungerede, der in der ›Epistola apologetica‹ der ersten Kölner Druckausgabe des ›Legatus divinae pietatis‹ Gertruds von Helfta (1536) genannt und mit dem Hallenser Konvent (der Dominikaner oder Franziskaner? ) in Verbindung gebracht wird (dum in monasterio moraretur Hallensi), identisch sind. Würde die Identifizierung der beiden Henricis zutreffen - und das ist höchst unwahrscheinlich - so hätte Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 129 126 N eumann (1954b), S. 45. 127 Vgl. N eumann (1993), S. 141, Anm. zu VI.41,5. 128 S. dazu N eumann ebd., S. 153, Anm. zu VII.28,15. 129 Vgl. H ünicken (1934/ 35), S. 107. <?page no="140"?> Heinrich von Halle nicht, wie bisher angenommen, nur Mechthilds Buch redigiert, sondern auch das von Gertrud selbst geschriebene zweite Buch des ›Legatus‹ durchgelesen und begutachtet. H ünicken fährt fort: Da Gertrud ihr Buch in den Jahren 1289/ 90 verfasst habe, so dürfte Heinrich frühestens 1290, auf jeden Fall noch vor Mechthild gestorben sein (s. S. 101, Anm. 7), deren Todesjahr mit S tierling ja frühestens um 1294 anzusetzen sei. Zwar ist das von H ünicken zur Stützung von S tierling s Datierungsansatz zusätzlich ins Spiel gebrachte Argument nicht haltbar, 130 aber die Spätdatierung ist dennoch nicht ganz von der Hand zu weisen. 131 H auck hat, wie gesagt, gegen die Datierung von FL VII.28 auf 1294 eingewandt, dass sich die kriegerischen Auseinandersetzungen aus dem Jahre 1294 für den Erfurter Chronisten, den Gewährsmann von S tierling , auf thüringischem Boden abspielten, wohingegen das Kriegsgeschehen im ›Fließenden Licht‹ in Sahsen landen und in Dúringen landen verortet wird. Die Erfurter Chronik ließe außerdem erkennen, so H auck weiter, dass es vor allem Frauenklöster waren, die von König Adolfs Heereszug in Mitleidenschaft gezogen wurden. FL VII.28 sei dagegen nicht zu entnehmen, dass auch das Kloster Helfta von diesen Ereignissen betroffen gewesen wäre. Nun gibt es aber aus dem Kloster Helfta selbst Berichte, denen die von H auck bemängelten Informationen abzugewinnen sind, und zwar das Kapitel IV.11 des ›Liber specialis gratiae‹ Mechthilds von Hackeborn und das Kapitel III.48 des ›Legatus divinae pietatis‹ Gertruds von Helfta: Alio tempore, cum plurimum timeremus a facie regis, eo quod non longe nostro esset coenobio, orabat Dominum ut ipse Rex omnium regum Dominus nos dignaretur defendere sua paterna benignitate, ne aliquod damnum a regis exercitu pateremur. Cui Dominus: «Tu nullum de suo exercitu unquam videbis.» At illa cogitabat quia si ipsos non videret, tamen claustrum ab eis laedi posset. Cui Dominus: «Nullus eorum coenobio vestro appropinquabit; sed ego ab his defendam vos.» Quod et contigit; nam adeo misericorditer nos Dominus custodivit, quod nullum omnino ab eis sumpsimus damnum, cum tamen multa monasteria ab eis plurima incurrissent damna. (Rev. Bd. II.1, Lib. IV.11, S. 268) 132 130 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 130 Vgl. N eumann (1954b), S. 30, 41 und 69-71 bzw. R uh (1993), S. 248f. 131 Auch M. S chmidt (1955), S. 15 und (1995), S. 397, Anm. 292 spricht sich mit Hinweis auf S tierling und H ünicken für die Spätdatierung aus, übersieht allerdings die gegen H üni ckens fragwürdigen Identifikationsversuch von Heinrich von Halle mit Pater H. von Vernigerode erhobenen berechtigten Einwände von N eumann und R uh (s. Anm. 130 oben). 132 «Zu einer andern Zeit, da wir gar Vieles vom Könige fürchteten, weil er sich unfern des Klosters befand, bat sie den Herrn, daß er, der König und Herr aller Könige, uns mit seiner väterlichen Güte beschützen möchte, damit wir nicht von des Königs Heer Schaden erlitten. Der Herr antwortete ihr: ‹Du wirst keinen Mann aus seinem Heere je sehen.› Sie aber dachte, wenn sie dieselben auch nicht zu sehen bekäme, möchte doch das Kloster von ihnen beschädigt werden. Der Herr sprach zu ihr: ‹Keiner von ihnen wird sich eurem Kloster nahen, sondern ich werde euch gegen sie Alle gnädig vertheidigen.› Dies traf auch ein; denn so barmherzig beschützte uns der Herr, dass wir gar keinen Schaden von ihnen erlitten, obschon viele Klöster durch sie zu gar großem Schaden gekommen waren.» Übersetzung zitiert nach J. M üller (1881), S. 271. <?page no="141"?> Cum conventus timeret a facie inimicorum qui dicebantur fortiter armati prope coenobium adventuri, et pro tali necessitate in communi persolveretur Psalterium distinctum cum versu … (Leg. SC Bd. 143, Kap. III.48, S. 214) 133 Diese in der einschlägigen Diskussion bis jetzt unberücksichtigt gebliebenen Textstellen 134 sind aufschlussreich, weil sie zusammen mit dem von S tierling zwar abgedruckten, 135 von H auck jedoch unterbewerteten Bericht des Erfurter Chronisten über das Vordringen Adolfs in obersächsisches Gebiet erahnen lassen, in welch bedrohlicher Lage sich der Helftaer Konvent mitten in der von Adolfs Truppen belagerten Eislebener Gegend befand. Im Spiegel dieser Berichte und angesichts der Tatsache, dass das siebte Buch des ›Fließenden Lichts‹ aller Wahrscheinlichkeit nach in Helfta entstand, ist nicht mehr auszuschließen, dass auch FL VII.28 (und FL VII.10? ) auf dieses im ›Liber‹ und ›Legatus‹ referierte Ereignis Bezug nimmt. Die Spätdatierung würde erlauben, für die zwölf Jahre, die Mechthild nach dem Ausweis des LD-Prologs in Helfta verbracht hat, die letzten beiden Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts und damit die literarisch aktivste Phase des Helftaer Klosters zu reservieren, 136 vorausgesetzt, es handelt sich nicht um eine Interpolation von fremder Hand (beispielsweise von einer der Helftaer Mitschwestern Mechthilds), sondern um ein Kurzkapitel, das Mechthild selber zu Pergament brachte oder bringen ließ (im Falle eines Diktat, vgl. S. 289f. weiter unten). Mir kommt es hier und im Folgenden nicht darauf an, neue Datierungsvorschläge vorzutragen. Eher geht es darum aufzuzeigen, welche Probleme mit den bisherigen Ansätzen verbunden sind. Nehmen wir ein anderes Beispiel. FL VI.21 stellt einen einzigen Klageruf über den verwahrlosten Zustand der Kirche dar. Am Schluss wird der amtierende Papst selbst angesprochen und von Gott angemahnt: Sun babest, dis soltu vollebringen! So mahtu din leben lengen; das nu din vorvaren also unlange lebeten, das kumt da von, das si mines Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 131 133 «Einst war die Genossenschaft in großer Furcht vor Feinden, von denen es hieß, daß sie stark bewaffnet schon auf das Kloster heranzögen. In dieser Not wurde das Psalterium mit eingeschaltetem Verse […] gebetet.» Übersetzung zitiert nach W eissbrodt (1932), S. 226. 134 Beide Kapitel werden mit dem von König Adolf geführten Krieg in Beziehung gesetzt, zu Lib. V.11 s. P reger (1869b), S. 161f., Anm. 5 und (1873), S. 193, Rev. Bd. II.1, S. 268 mit Anm. sowie S pitzlei (1991), S. 22, Anm. 13. - Zu Leg. III.48, s. Rev. Bd. I, S. 217 und A nkermann (1997), S. 26 und 199. 135 Vgl. S tierling (1907), S. 22. 136 Dafür spräche auch die Tatsache, dass eine soror M. bzw. soror Mechtildis in den Offenbarungsschriften der beiden anderen visionär begnadeten Helftaer Mitschwestern gelegentlich auftritt. Allerdings bieten die Texte keinen Anhaltspunkt, der eine zweifelsfreie Identifizierung der in den Helftaer Revelationsschriften genannten Schwester M. bzw. Schwester Mechthild mit der uns bekannten Mechthild von Magdeburg erlauben würde, s. dazu P eters (1988a), S. 122-125. Man muss auch bedenken, dass es im Kloster Helfta eine Reihe von Schwestern mit dem gleichen populären Namen Mechthild gab, s. dazu S trauch (1883), S. 278-280, N eumann (1954b), S. 41, Anm. 43 und A nkermann (1997), S. 37. <?page no="142"?> heimlichen willen nit vollebrahten (FL VI.21: 478,31-33 [VI.21,26-28]). Die Mahnung soll sich nach einhelliger Meinung der Forschung an Papst Gregor X. richten, der nach der jeweils nur dreijährigen Amtszeit seiner Vorgänger Clemens IV. und Urban IV. und nach einer nochmals dreijährigen Sedisvakanz 1271 inthronisiert wurde und immerhin fünf Jahre lang herrschte. 137 Verschwiegen wird allerdings, dass sich weitere vier Päpste mit auffallend kurzer Amtszeit auf Gregor den X. folgten: Innozenz V. (1276), Hadrian V. (1276), Johannes XXI. (1277) und Nikolaus III. (1277-1280). 138 Damit ließe sich aber die Anrede auf einen der Päpste aus der zweiten Hälfte des Jahrzehnts ebenso gut beziehen wie auf Gregor den X. 139 Dass die Forschung diese Möglichkeit nicht in Erwägung gezogen hat, lässt sich wohl mit der zeitlichen Bedrängnis erklären, in die man sonst geraten wäre. Nimmt man nämlich an, dass zu dem Zeitpunkt, als nach der vorherrschenden Meinung der Forschung FL VII.36 entstanden ist (das ist das Jahr 1281), bereits mehr als die Hälfte des siebten Buches vorlag, so hätte Mechthild die ersten 36 Kapitel des siebten und die zweite Hälfte des sechsten Buches in fünf (von Innozenz V. an gerechnet), möglicherweise auch nur in zwei Jahren (von Nikolaus III. an gezählt) fertig stellen müssen. Dagegen musste sie bei einem präsupponierten Beginn der Arbeit am sechsten Buch um 1260 (s. dazu weiter unten) mehr als 15 Jahre für die Abfassung von nur zwanzig Kapiteln (des sechsten Buches) gebraucht haben. Die Datierung von FL VI.21 auf die zweite Hälfte oder sogar das Ende der siebziger Jahre scheint deshalb nicht in Betracht gezogen worden zu sein, weil sie (1) mit der Vorstellung einer kontinuierlichen Schreibtätigkeit, aus welcher in regelmäßigen Zeitabständen neue Kapitel hervorgegangen sind, nur schwer vereinbar gewesen wäre, 140 und (2) weil ein späterer Abfassungszeitpunkt als die Amtszeit Papst Gregors X. Zweifel an der Datierung des Todesjahres auf 1282 nach sich gezogen hätte. 141 Wie man das Kapitel auch datieren mag, es 132 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 137 Vgl. P reger (1874), S. 99 und 100, Anm. 1, H auck (1911), S. 195 und N eumann (1954b), S. 49. 138 Vgl. die entsprechenden Einträge in: BBKL, 19 Bde, Hamm 1975-2001. 139 M. S chmidt (1955), S. 438, Anm. 149 und (1995), S. 393, Anm. 254 datiert das Kapitel (unmotiviert) in die Zeit des Nikolaus III. 140 Wie schwer man sich damit tut, einen so großen Zeitraum für die Abfassung von nur einigen wenigen Kapiteln zu veranschlagen, sieht man daran, dass selbst bei dem jetzt gültigen Datierungsansatz eine Erklärung gefunden werden musste, warum Mechthild mehr als 10 Jahre gebraucht hat, um knapp zwanzig Kapitel aufs Pergament zu bringen. So haben B ecker (1951), S. 204 und N eumann (1954b), S. 72-75 durch eine methodisch bedenkliche referenzialisierende Lesart aus den Anfangskapiteln des sechsten Buches herauslesen wollen, dass Mechthild in den sechziger Jahren wegen Krankheit und Anfechtung seitens des Magdeburger Klerus in die Obhut ihrer Familie zurückgekehrt sei, was mit der Unterbrechung der Schreibtätigkeit einherging, s. dazu auch S. 61f. oben. 141 Es dürfte wohl kein Zufall sein, dass sich ausgerechnet M. S chmidt für die Spätdatierung von FL VI.21 ausspricht (s. Anm. 139 oben), zählt sie doch zu denjenigen, die Mechthilds Todesjahr nach 1294 setzen wollen (s. Anm. 131 oben). <?page no="143"?> steht fest, dass sowohl in dem einen als auch in dem anderen Fall außer dem siebten das Großteil des sechsten Buches entstehungsgeschichtlich nach Helfta hätte lokalisiert werden müssen 142 - dies allerdings nur unter der Bedingung, dass Mechthild tatsächlich um 1270 in das Zisterzienserinnenkloster eingetreten war. Das können wir jedoch nicht wissen, denn die Berechnung des Sterbejahres, das als Referenzpunkt der zwölf nach dem LD-Prolog in Helfta verbrachten Jahre dient, ist mit erheblichen Unsicherheiten belastet (s.o.). Zudem gründen die Berechnungen auf der Prämisse, dass das Schreiben ein Unterfangen war, das prozessual erfolgte und in seiner genetischen Reihenfolge weitgehend unangetastet blieb. Diese Prämisse bestimmt auch den Umgang der Forschung mit anderen, wegen zeitgeschichtlicher Anspielungen relativ sicher datierbaren Kapiteln. Dazu folgende Hinweise: FL IV.27 kam bei der Berechnung des Geburtsjahres von Mechthild und ihrer vermeintlichen Flucht in die Beguinage eine Zeit lang eine Schlüsselfunktion zu. So rekurrierte P reger auf FL IV.27, um die in FL IV.2 genannten, scheinbar ‹autobiographischen› Angaben in Hinblick auf Mechthilds Curriculum zum Sprechen zu bringen. 143 Er weist darauf hin, dass Mechthild den in FL IV.2 enthaltenen Rückblick auf ihr Leben als 43jährige verfasst habe, bekennt sie doch selbst: Ich unwirdigú súnderin wart gegr u sset von dem heligen geiste in minem zw o lften jare […] Der vil liebe gr v s was alle tage und machte mir minnenklich leit aller welte s u ssekeit und er wahset noch alle tage. Dis geschach úber eins und drissig jar (FL IV.2: 228,21-27 [IV.2,8-13]). Bei der Berechnung des Geburtsjahres von Mechthild stellte sich nun die Frage nach der Datierung von FL IV.2. In diesem Zusammenhang kommt P reger auf FL IV.27 zu sprechen, das die Jahreszahl Anno domini M°CC°LVI° als Marginalie und eine Anspielung auf die Anfechtungen bietet, die der Dominikanerorden durch «falsche Meister» (FL IV.27: 298,17f. [IV.27,3]) erdulden musste. P reger ist der Ansicht, hier handle es sich nicht um eine Anspielung aus zeitlicher Ferne auf den von Wilhelm von St. Amour initiierten Kampf der Pariser Magister gegen die Mendikanten, sondern das Kapitel selbst datiere ins Jahr 1256. Von FL IV.27 zurückgerechnet kann P reger die Entstehungszeit von FL IV.2 bestimmen, wobei er von der Annahme ausgeht, das zweite Kapitel des vierten Buches könne «wohl kaum mehr als 1-2 Jahre zurück[liegen], ist also um 1255 geschrieben.» 144 Weil Mechthild nach eigenem Bekunden zum Zeitpunkt der Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 133 142 Obwohl N eumann (1954b), S. 50 in seiner Akademie-Abhandlung die Entstehung des sechsten Buches zwischen 1260 und ca. 1275 datiert hat, d.h. in die Zeit nach 1270, dem vermeintlichen Datum des Eintritts von Mechthild ins Kloster Helfta, wird allgemein nur das siebte Buch mit Helfta in Verbindung gebracht (vgl. etwa R uh 1993, S. 249 oder L anger 2004, S. 234). Dies lässt sich mit dem 2 VL-Artikel von N eumann erklären, worin das sechste Buch überraschend präzise auf die Jahre «zw. 1260-1270/ 71» datiert wird, vgl. N eumann (1987a), Sp. 262. Anders P reger (1873), S. 95 und B ecker (1951), S. 204: Sie wollen die Entstehung der letzten beiden Bücher in Helfta verorten. 143 Vgl. P reger (1873), S. 202 und (1874), S. 91, Anm. 1. 144 P reger (1873), S. 202 bzw. (1874), S. 94. <?page no="144"?> Abfassung von FL IV.2 dreiundvierzig Jahre alt war, muss sie, so P reger , um 1212 geboren sein. In der weiteren Forschung spielte FL IV.27 keine Rolle mehr, wenn es darum ging, Mechthilds Geburtsjahr zu ermitteln. Es bestand nicht mehr die Notwendigkeit, FL IV.2 zu datieren, wusste man doch aus dem lateinischdeutschen Vorbericht, dass Mechthild 1250 mit dem Schreiben angefangen hat. Nun rechnete man unter Berücksichtigung der in FL IV.2 figurierenden Jahresangaben von 1250 zurück und gab 1207 als Mechthilds Geburtsjahr an . Die Berechtigung einer solchen Vorgehensweise ist mehr als zweifelhaft, zeigt doch gerade FL IV.2 «die prägnanten Spuren einer in der Vitenliteratur des 13. Jhs. gängigen, geradezu idealtypischen vita religiosa,» 145 die sich aus hagiographischen Versatzstücken, wie die Unwissenheit des Kindes, frühe religiöse Erfahrungen, der freiwillige Verzicht auf ein angenehmes Leben im Elternhaus, die Abkehr von Verwandten und Freunden (das vielzitierte ‹Flucht›-Motiv! ) 146 und der Rückzug aus der Welt, zusammensetzt. Die viel beachteten, scheinbar autobiographischen Aussagen zum Lebenswandel der Protagonistin stehen demnach nicht für sich, sondern haben einen semantischen Mehrwert. Auch die Zahlen scheinen nicht zufällig gewählt worden zu sein. 147 Die Zahl zwölf, die im ›Fließenden Licht‹ das Lebensjahr angibt, in dem der Visionärin ihr erstes Gotteserlebnis zuteil geworden sein soll, erinnert nicht nur an eine Episode aus dem Leben Christi (der zwölfjährige Jesus im Tempel, vgl. Lc 2,41ff.), 148 sondern sie taucht auch in anderen Texten der mystischen Literatur auf. Mechthilds Magdeburger (? ) Zeitgenossin Margareta contracta soll sich nach dem Bekunden des Hagiographen ihrer Auserwähltheit erst bewusst geworden sein, als sie das «Alter der Unterscheidung» (annus discretionis), d.i. das 12. Lebensjahr, erreicht hat. 149 Berthold von Bombach berichtet in der von ihm um 1350 verfassten Vita der Luitgart von Wittichen, Luitgard hätte in ihrem zwölften Lebensjahr beschlossen, ihre Familie zu verlassen und ein geistliches Leben - sei es als Begine oder als Klosterfrau - zu führen. 150 Hinzuweisen wäre auch auf Magdalena von Freiburg: Ihr sollen besondere Gnadenerweise zuteil geworden sein, als sie 12 Jahre alt wurde. 151 Es scheint, als markiere das zwölfte Lebensjahr eine entscheidende Phase im spirituellen Reifeprozess des geistlichen Menschen, einen Zeitpunkt, an dem sich eine besondere Affinität für religiöse Fragen bzw. eine religiöse Lebensführung entwickelt. 152 Vorsicht ist auch im Umgang mit der Zahl 31 geboten: 134 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 145 P eters (1988a), S. 57. 146 Soweit ich sehe, zuerst bei N eumann (1965), S. 231 belegt und mit dem 2 VL-Artikel zu Mechthild (1987a, Sp. 260) in den wissenschaftlichen Diskurs eingeschrieben. 147 Das betonen auch A ndersen (2000), S. 48 und S eelhorst (2003), S. 84, Anm. 3. Nichtsdestoweniger wiederholt zumindest A ndersen ebd., S. 46 das von N eumann vor allem anhand von FL IV.2 erschlossene und mit Zahlen gefestigte Curriculum Mechthilds. 148 Darauf weist K emper (1979), S. 113f., Anm. 26 hin. Dass im ›Fließenden Licht‹ ein Bewusstsein für den symbolischen Mehrwert von Zahlen vorhanden ist, belegt beispielsweise FL IV.27: 304,2-14 (IV.27,69-79). 149 Vgl. P.-G. S chmidt (1992), S. 3. 150 Vgl. J ust (2000), S. 76. 151 Vgl. S chleussner (1907), S. 27 und G orelli (1997), S. 25 und 30f. 152 Das wird auch von der ›Legende vom zwölfjährigen Mönchlein‹ nahegelegt, s. den Text in: B oor (1965), S. 351-355, hier S. 351, Z. 44ff. Dazu R uh (1999b), Sp. 1650. <?page no="145"?> Bedenkt man, dass FL IV.2 im Grunde darauf abzielt, darzulegen, wie und wann es zur Abfassung des b v ches kam, so erweckt die Zeitangabe am Anfang des Kapitels den Eindruck, als hätte Mechthild erst nach mehr als 31 Jahren Zurückgezogenheit gewagt, an die literarische Öffentlichkeit zu treten. 153 Modellgebend könnte wiederum das Leben Christi gewesen sein, wonach sich Jesus erst im Alter von 30 Jahren dem Volk offenbarte (vgl. Lc 3,23). 154 Dass wir hier womöglich mit einem etablierten Modell der Selbststilisierung zu tun haben, kann am ›Liber‹ Mechthilds von Hackeborn abgelesen werden. Denn wie der Herr erst nach 30 Jahren Anonymität vor die Öffentlichkeit des Volkes trat, so soll auch Mechthild ihr Schweigen erst nach dreißig Jahren aufgegeben und ihre Offenbarungen den Helftaer Mitschwestern mitgeteilt haben (vgl. Rev. Bd. II.1, Lib. I.1, S. 6). Ähnliches wird auch über Christine Ebner berichtet, deren erstmals öffentlich gewordene Entrücktheit nach den Angaben der Gnadenvita in ihr 30. Lebensjahr zu datieren ist. 155 Unabhängig davon, ob Mechthild nun 1212 oder 1207 geboren wurde, ist für mich die Frage entscheidend, wie die spätere Forschung über die Datierung von FL IV.27 gedacht hat. P reger war, wie gesagt, der Meinung, das Kapitel noch ins Jahr 1256 datieren zu können. Zur Begründung verwies er zum einen auf die Marginalie Anno domini M°CC°LVI°, zum anderen auf Mechthilds Bitte um die Wiederherstellung der Ehre des Predigerordens, die seiner Ansicht nach nicht den Eindruck erwecke, als hätte sie die am 5. Oktober 1256 gefallene Entscheidung des Papstes für die Angefochtenen gekannt. 156 An dieser Datierung knüpfte die spätere Forschung an. So lässt N eumann Mechthild an der Seite führender Dominikanertheologen, wie Albertus Magnus und Thomas von Aquin, in den Pariser Gelehrtenstreit eingreifen. In diesem Streit soll Mechthild die von Wilhelm von St. Amour in seinem ›Tractatus brevis de periculis novissimorum temporum‹ im Rückgriff auf joachimistisches Gedankengut entwickelten Argumente gegen die Mendikanten als endzeitliche pseudosive falsi prophetae und seductores periculosi im Vorspann des Antichrist aufgegriffen und richtig gestellt haben, indem sie, anders als Wilhelm, die von Joachim von Fiore angekündigten viri spirituales nicht einfach mit den Mendikanten gleichsetzt, sondern auf einen idealen endzeitlichen Orden bezieht, der im ›Fließenden Licht‹ allerdings unübersehbar dominikanisch geprägt ist. Diese ‹Erwiderung› soll Mechthild kurz nach dem Bekanntwerden der Schmähschrift von Wilhelm, d.h. nach März 1255, aller Wahrscheinlichkeit nach in der zweiten Hälfte desselben Jahres verfasst haben, denn sie lässt, so N eumann mit P reger (s. o.), nicht erkennen, dass Mechthild den päpstlichen Entschluss von 1256 kannte. 157 Zwar ist N eumann s Beobachtung, FL IV.27 stelle einen Gegen- Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 135 153 Vgl. V ollmann- P rofe (1994), S. 153: «Wenn die Autorin von sich sagt, daß sie vor dem Beginn der Schreibarbeit der einvaltigosten menschen eines (IV 2,5) war, so gilt dies ganz speziell auch für ihre mangelnde Erfahrung mit ‹literarischer Öffentlichkeit.›» 154 Vgl. K emper (1979), S. 113f., Anm. 26. 155 Vgl. B ürkle (1999), S. 291. 156 Vgl. P reger (1873), S. 202. 157 Vgl. N eumann (1954b), S. 53. <?page no="146"?> entwurf zu Wilhelms ›Tractatus‹ dar, sehr ansprechend, man sollte jedoch diesen Befund für die Datierung des Kapitels nicht strapazieren. Das Einzige, was sich mit Sicherheit sagen lässt, ist, dass sich FL IV.27 auf Ereignisse bezieht, die sich in den Jahren 1255/ 56 abspielten. Die Ansicht, dass auch die Aufzeichnung in diese Zeit fällt und dass die Angabe Anno domini M°CC°LVI° in der Marginalie die Entstehungszeit des Kapitels meint, muss hingegen eine Vermutung bleiben. Zwingend ist sie nicht. 158 Das nächste Textstück, das sich zumindest im Sinne eines terminus post quem datieren lässt, ist FL V.34. Laut Überschrift handelt das Kapitel von fúnfleien núwen heligen. Genannt werden Elisabeth von Thüringen, Dominikus, Franziskus, Petrus Martyr und Jutta von Sangerhausen. Von der letztgenannten «neuen Heiligen» behauptet Gott: Swester Jutte von Sangerhusen, die han ich den heidenen gesant ze botten mit irme heligen gebette und mit irme g v ten bilde (FL V.34: 406,7-9 [V.34,38-40]). Dieser Bericht wird in der ›Lux divinitatis‹ - historisch durchaus präzise und nicht etwa im Sinne einer scheinbar «lebensweltlich-biographischen Konkretisierung» 159 - mit weiteren Details ergänzt: Eo tempore quo gens trachtarorum per mundum crassabatur et multos occiderent . dixit dominus ad me . Sororem iuctam de sancherhusen viduam . piam et deuotam misi in exilium ad gentiles . ut suis oracionibus eos adiuuet et conuertat et exemplis bonis prouocet et annunciet nomen meum (LD II.18,2-5/ Rev. Bd. II.2, S. 496,4-10, LG II.18,3-8: In der selbigen zeytt do das volck tractatorum also genant durch die welt lieff vnd vil todet sprach der herr zú mir · Sye schwester lúcta von Sangerhusen ein witwe gütig vnd andechtig hab ich gesendet in das ellend zu den heiden das sy mit yrem gebett ynen húlff · vnd bekere vnd berúefft mit gúetem exempell · vnd verkúndet meinen namen). Für die Datierung von FL V.34 erwies sich die Frage, ob Mechthild Jutta für eine noch lebende oder eine bereits verstorbene Person hält, von besonderer Bedeutung. Berichte über das Leben von Jutta findet man bis auf FL V.34, das die älteste Überlieferung über Jutta aus dem Mittelalter darstellt, 160 nur noch in neuzeitlichen Quellen, allen voran in dem anlässlich der Kanonisationsversuche von 1637 erstellten und in polnischer Sprache abgefassten ›Wundersamen Beispiel christlicher Vollkommenheit. Das höchst vorbildliche Leben der Heiligen Jutta 136 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 158 Ähnlich H auck (1911), S. 194. S. auch V erlaguet (2005), S. 10: «La note en marge peut correspondre à une datation du conflit et non de l’écriture du chapitre.» 159 P eters (1988a), S. 121. 160 Ein beiläufiger Hinweis auf einen lokalen Jutta-Kult, den es Anfang des 15. Jahrhunderts gegeben haben muss, findet sich in der 1521 anhand von älteren Vorlagen zusammengestellten Kanonisationsakte, dem so genannten ›Processus in causa canonisacionis‹ der 1394 verstorbenen Dorothea von Montau, vgl. S tachnik (1978), S. 27f., abgedruckt auch bei H irsch (1863), S. 375. Dies findet seine Bestätigung in einem Hymnus, der in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden ist und für die Liturgie des Jutta- Festes am 5. Mai bestimmt gewesen sein dürfte (Textabdruck bei W estpfahl 1938, S. 545-547). Zu Jutta s. zuletzt R öckelein (2006) und N emes (2009a). <?page no="147"?> einer Deutschen‹ (Thorn 1638) des Krakauer Moraltheologen und Jesuiten Frideric Schembek die Rede. 161 Diesen Berichten zufolge hat die Witwe Jutta die letzten vier Jahre ihres Lebens als Eremitin im Deutschordensland Preußen nahe des Kulmer See verbracht. 162 In der Frage, auf welchen Zeitraum diese vier Jahre zu beziehen sind, gehen die Quellen allerdings auseinander. Die ausführlichste Lebensbeschreibung, das genannte Werk von Schembek, datiert Juttas Tod auf das Jahr 1264, jüngere chronikalische Quellen dagegen auf 1260. Während sich H auck in der Frage, ob die Abfassung von FL V.34 in die Lebzeiten von Jutta fällt, aufgrund der Unsicherheiten, die die Quellen mit Blick auf die zeitliche Fixierung von Juttas Preußen-Aufenthalt bereiten, nicht festlegen wollte und nur eine Datierung nach 1253 (das Kanonisationsjahr des nördlich der Alpen zuerst im ›Fließenden Licht‹ genannten Petrus Martyr 163 ) akzeptierte, 164 plädiert N eumann mit Hinweis auf die für die Jutta-Forschung grundlegende Arbeit von H ans W estpfahl dafür, 165 das Kapitel auf die Jahre zwischen 1256 und 1260 zu setzen. 166 Für die Datierung von FL V.34 zu Juttas Lebzeiten waren für N eumann folgende Beobachtungen ausschlaggebend: Er weist darauf hin, dass Jutta im deutschen Text nur als swester angeredet wird, während die erst sekundär entstandene Kapitelüberschrift wie deren lateinische Übersetzung sie als eine Heilige vorstellen. 167 Zudem sei Jutta unter den fünf in FL V.34 genannten ‹neuen Heiligen› die einzige, die nicht kanonisiert wurde. Dies alles soll nach N eumann dafür sprechen, dass Jutta für Mechthild anders als für den Verfasser der Kapitelüberschrift und den lateinischen Übersetzer keine Verstorbene, sondern eine noch lebende Gottesbotin war, 168 da sie damals (zur Zeit der Abfassung des Kapitels, d.h. vor 1260) noch nicht als Heilige bezeichnet werden konnte. 169 Auf dieser Grundlage zu argumentieren, erscheint mir unzulässig, vor allem wenn man bedenkt, dass auch die ›Lux divinitatis‹ in der Übersetzung von Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 137 161 Das Quellenmaterial ist abgedruckt und übersetzt G erlinghoff (2006). 162 Die Identifizierung der im ›Fließenden Licht‹ genannten Jutta mit der gleichnamigen Äbtissin des Magdeburger Zisterzienserinnenklosters St. Agnes (gestorben 1270) durch M one (1867), S. 31 und K arl J anicke , in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 2 (1867), S. 339-341, hier S. 340, Anm. 1 ist ein Irrtum. S. dazu P reger (1869b), S. 156f. und (1874), S. 96. 163 Zu Petrus s. D ondaine (1953), V auchez (1986) und W illiams -K rapp (1998), S. 155f. 164 Vgl. H auck (1911), S. 194. Ähnlich M. S chmidt (1955), S. 436, Anm. 140 und (1995), S. 390, Anm. 231. 165 W estpfahl (1938), S. 534, 542f. und 556. Zusammenfassend in: DS 8 (1974), Sp. 1648- 1649. 166 Vgl. N eumann (1954b), S. 50-52. 167 Vgl. Überschrift von LD II.18 (Rev. Bd. II.2, S. 496), wo sie soror iucta sancta genannt wird. 168 Vgl. N eumann (1954b), S. 51. Ähnlich B oehmer (1871), S. 104, Anm. 7, P reger (1874), S. 96, Anm. 1, A ncelet -H ustache (1926), S. 263, Anm. 1 (A ncelet -H ustache datiert allerdings mit Schembek Juttas Tod auf 1264) und W estpfahl (1938), S. 519. 169 Vgl. N eumann (1954b), S. 52. <?page no="148"?> FL V.34: 406,7-9 (V.34,38-40) es unterlässt, Jutta als eine Heilige zur Geltung zu bringen (Zitat s.o.). Wüsste man nicht, dass die lateinische Übersetzung erst einige Zeit nach Juttas Tod entstanden ist, müsste man der N eumann schen Argumentation folgend annehmen, dass auch sie Juttas als einer noch lebenden Person gedenkt. Auch auf die Beweiskraft der Überschriften des deutschen und des lateinischen Textes ist wenig Verlass. Dass hier Jutta heilig genannt wird, muss nicht heißen, dass sie für den Verfasser der Überschriften als Verstorbene gilt, konnte doch eine noch lebende, im Rufe der Heiligkeit stehende Person auch ohne formelle Kanonisierung als heilig apostrophiert werden. 170 Auch die in der ›Lux divinitatis‹ erwähnte Bedrohung durch die Tataren hilft nicht weiter. Wohl ist das anzitierte Ereignis historisch wahr, es lässt sich jedoch nicht genau datieren, weil es in der Region, wo Jutta lebte, und zu der Zeit, als das ›Fließende Licht‹ entstanden ist (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts) immer wieder zu Tatareneinfällen kam. 171 In welchem Jahr der sich in FL V.34 befindliche Bericht über Jutta abgefasst wurde, muss demnach offen bleiben. 172 Bei Mechthilds Lokalisierung in Magdeburg spielten die Kapitel FL VI.2 und 3 eine wichtige Rolle. Der Movens des Sprechens in FL VI.2 ist die An- 138 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 170 Vgl. W illiams -K rapp (2002), S. 208. 171 Vgl. A ltaner (1924), S. 118. Bemerkenswert ist, dass sich die Kreuzprediger aus den Reihen der Dominikaner rekrutierten (s. dazu ebd., S. 160-181). Daher fragt man sich, ob die Nachricht über Jutta im ›Fließenden Licht‹ der dominikanischen Vermittlung zu verdanken ist. Dieser Gedanke drängt sich umso mehr auf, als in mehreren neuzeitlichen Quellen berichtet wird, Bischof Heidenreich hätte Jutta das Viaticum gereicht. Heidenreich (gestorben 1263 oder 1264) aber war ein Dominikaner, Angehöriger des Leipziger Konvents und der erste Bischof von Kulm, vgl. K aeppeli (1960) und A rnold (1981). 172 Einen Anhaltspunkt für die Datierung von FL V.34 könnte möglicherweise die ›Legenda aurea‹ des Jacobus a Voragine liefern, die dank einer «verordnete[n] Rezeption» (so F leith 1991, S. 429) bald nach ihrer Entstehung in den fünfziger Jahren des 13. Jahrhunderts im Dominikanerorden, dem das ›Fließende Licht‹ entstehungsgeschichtlich nahe steht (vgl. S. 239f und 300ff. weiter unten), über das Schulsystem weiträumig verbreitet wurde (zum Magdeburger Hausstudium der Dominikaner s. P ätzold 2001). Auffällig ist, dass vier von den fünf in FL V.34 genannten núwen heligen (exklusive Jutta von Sangerhausen) auch in der Legendensammlung des Jacobus auftauchen, und zwar als ‹Neuzugang› in der communio sanctorum. Zudem fällt auf, dass die von Jacobus im Zusammenhang mit Dominikus’ Plänen zur Gründung eines Ordens erzählte Traumvision Innocenz des III. von der einsturzgefährdeten Laterankirche auch in FL V.34: 406,10f. (V.34,41f.) aufgegriffen wird (allerdings findet sich diese Geschichte auch in der Vorlage des Jacobus, der im Jahre 1260 vom Generalkapitel der Dominikaner approbierten Dominikus-Vita des Humbert von Romans, der in diesem Punkt wiederum der 1246-1247 entstandenen Dominikus-Vita des Konstantin von Orvieto verpflichtet ist, s. dazu S chürer 2002, S. 363, Anm. 91): Die Vision wird anlässlich der Vorstellung eines sechsten ‹neuen› Heiligen, des ›Fließenden Lichts‹ selbst, eingeführt. Außerdem sei auf die Apostrophierung des Petrus Martyr als der núwe marterer (FL V.34: 404,13 [V.34,14]) hingewiesen, denn auch Jacobus nennt ihn nouus martyr, vgl. M aggioni (1998), LXI.7, S. 421: Petrus nouus martyr de ordine predicatorum, ähnlich LD II.17,2 (Rev. Bd. II.2, S. 495,14): Sanctus petrus de ordine predicatorum nouus martyr. <?page no="149"?> frage eine[s] herren an die Ich-Sprecherin, Gott möge ihm kundtun, wie er sich halten sol (Überschrift). Zwar wird sein Verlangen nach diem u tigem lebenne von Gott bestätigt, ihm aber auch auferlegt: doch sol er rehte beliben da er ist (FL VI.2: 432,14 [VI.2,12]). Daraufhin werden die regele aufgezählt, nach welchen er sein von Askese geprägtes Leben richten soll. Während im Haupttext nur von eine[m] herren die Rede ist, identifiziert ihn die Überschrift als kanoniken. Diese Zusatzinformation kann auf das Spezialwissen des Überschriftverfassers zurückgeführt werden, wahrscheinlicher ist jedoch, dass sie dem nachfolgenden Kapitel entnommen wurde: FL VI.3 sagt, dirre selber herre wäre ze techan erwählt worden (FL VI.3: 436,2 [VI.3,2]). 173 Es liegt nahe, anzunehmen, dass er vorher Domherr gewesen ist, wie es auch die lateinische Übersetzung verdeutlichend ausgedrückt: Iste de quo loquor uenerabilis uir / secundum uoluntatem dei electus est a concanonicis in decanum (LD III.2, 1f./ Rev. Bd. II.2, S. 521). FL VI.3 informiert uns nicht nur über die geistliche Würde dieses herren, sondern gibt auch seinen Namen preis: her Dietrich. Dass Dietrich Dekan in Magdeburg war, erfahren wir aus der lateinischen Übersetzung, die ihn als dominus Th. venerabili magdeburgensis ecclesie decanus vorstellt (LD III.1,1/ Rev. Bd. II.2, S. 519). Ähnliches bietet eine Marginalie in E: De predicto canonico de Megdeburg. Der in FL VI.2 und 3 genannte Dietrich (von Dobin) ist seit 1228 als Domherr in Magdeburg urkundlich erfasst. Als Dekan des Domkapitels ist er zwischen 1262-1269 bezeugt. Diese Funktion dürfte er 1260 oder 1261 übernommen haben. 174 Was die Datierung von FL VI.2 und 3 betrifft, musste von der an der Lebensgeschichte Mechthilds und der Werkgeschichte des ›Fließenden Lichts‹ interessierten Forschung wieder einmal geklärt werden, ob das hier Gesagte eine noch präzisere Eingrenzung der Entstehungszeit beider Kapitel erlaubt. Im Unterschied zur älteren Forschung, die sich für eine Datierung unmittelbar nach Dietrichs Wahl ausgesprochen hat, 175 rückt H auck die Abfassung beider Kapitel näher an die Zeit um 1270 heran. In der oben zitierten Antwort Gottes, doch sol er [Dietrich] rehte beliben da er ist, klingen nach H auck Rücktrittsgedanken an, die unmittelbar nach seiner Wahl zum Dekan «schwer erklärlich» seien: «Sie sind erst verständlich, nachdem Dietrich eine Zeitlang die Last des Dekanats getragen hatte.» 176 In Abgrenzung zu H auck rekurriert N eumann auf den älteren Datierungsansatz mit dem Hinweis, beide Kapitel müssten vor dem Hintergrund den Amtsantritts von Dietrich sowie eschatologischer Vorstellungen um 1260 gelesen werden. 177 Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 139 173 Dass der herre in FL VI.2 eine Person geistlichen Standes war, könnte auch folgende Zeile nahe gelegt haben: Er sol betten iemer alsemer als ane underlas nach pf a flicher ordenunge (FL VI.2: 432,16f. [VI.2,13f.]). 174 Archivalische Informationen zu Dietrich (von Dobin) findet man bei N eumann (1954b), S. 46f. und bei W entz / S chwineköper (1972), S. 345-346 und 417. 175 Vgl. B oehmer (1871), S. 104, Anm. 8 und M ichael (1901), S. 180. 176 H auck (1911), S. 195. 177 Vgl. N eumann (1954b), S. 47f. <?page no="150"?> Inwieweit Dietrichs asketische Haltung mit dem erwarteten Einbruch des joachimitischen Geisteszeitalters zu erklären ist, steht hier nicht zur Diskussion. 178 Problematisch scheint mir wieder, dass die vom Text gebotenen Indizien für eine solch präzise Datierung, wie sie von N eumann angestrebt wird, eigentlich nicht ausreichen. Man vermisst beispielsweise eine temporale Angabe, die den zeitlichen Bezug auf die angeblich kurz vor der Abfassung des Kapitels erfolgte Dekanatswahl unüberhörbar herausstellt. Wie temporale Adverbien zur Verdeutlichung der Schreibbzw. Sprechsituation eingesetzt werden, lässt sich an FL VII.41 zeigen. Hier wird berichtet: Ich bekante vor vierzig jaren einen geistlichen man; dennoch warent geistliche lúte einvaltig und minnenvúrig (FL VII.41: 612,4f. [VII.41,2f.]). Wenige Zeilen später stellt ein temporales Adverb die Verbindung zur aktuellen Redesituation her: Der ist nu hinnan gevaren. 179 Selbst wenn wir Näheres über diesen geistlichen man in Erfahrung bringen könnten - die Überschrift verrät lediglich, dass es sich um einen predierbr v der handelt -, müssten wir auf jeden Datierungsvorschlag äußerst zurückhaltend reagieren. 180 Denn wer kann mit Sicherheit behaupten, dass zwischen einer Vision bzw. Fürbitte wie in FL VI.2 und 3 vorgetragen und ihrer tatsächlichen Niederschrift unter Umständen nicht Jahre vergehen? Diese Frage hat sich für die ältere Forschung gar nicht erst gestellt, war sie doch davon überzeugt, dass Erfahrungen im ›Fließenden Licht‹ unmittelbar in Sprache bzw. Schrift übergehen. N eumann versucht, die Datierung von FL VI.2 und 3 auf die Jahre 1260/ 61 durch den Hinweis auf das nachfolgende Kapitel FL VI.4 zusätzlich zu stützen. Ein Ich - es wird in der ›Lux divinitatis‹ durch die Inquit-Formel Cvm senuisset soror M. dixit zu Mechthild personalisiert (LD VI.18,2/ Rev. Bd. II.2, S. 637) - beklagt Gott, das ich nu arger bin denne ich was vor drissig jaren, wan die creaturen, die mir da hulfen tragen min ellende, die d o rften nit also edel sin, sol der arme lip genesen (FL VI.4: 436,22-25 [VI.4,3-5]). 181 N eumann bezieht diese Zeilen kurzerhand auf Mechthilds Eintritt ins Magdeburger Beginenleben, 140 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 178 Eine solche Kontextualisierung mag auf FL VI.3 zutreffen, in FL VI.2 scheint es mir jedoch eher darum zu gehen, die allzu einseitige Neigung des Domherren ze diem u tigen leben auszubalancieren, indem darauf hingewiesen wird, dass Amt und Charisma einander nicht notwendig widersprechen müssen. Implizit geht es hier also um das rechte Verhältnis von contemplatio zu actio. Dass actio - sie umfasst im Falle von Dietrich amtsbedingte Verpflichtungen wie die innere Aufsicht und Disziplinargewalt über die Kapitelsangehörigen sowie gottesdienstliche Obliegenheiten, s. S chwineköper (1968) S. 101 - oft als störend empfunden wurde, zeigen die Schwesternviten des 14. Jahrhunderts, s. dazu L anger (1987), S. 124-127. 179 Vgl. auch FL VI.7: 446,14 (VI.7,33). 180 N eumann (1954b), S. 46 tut gut daran einzuräumen, die Zahlenangabe in FL VII.41 müsse für die absolute Chronologie des siebten Buches unergiebig bleiben. 181 V ollmann- P rofe (2003), S. 436,25 zufolge fehlt dem Text ein Vergleichsglied (nach sin). Sie ergänzt ihn im Sinne von LD VI.18,3 (Rev. Bd. II.2, S. 637, nunc autem […] necesse est) mit also die nu m u ssent sin, s. dazu auch das Kommentar von V ollmann- P rofe auf S. 814 und Kap. I.2 (S. 61) dieser Arbeit. <?page no="151"?> dessen Datum er anhand des ‹autobiographischen› Kapitels FL IV.2 auf 1230 wie folgt berechnet: In FL IV.2 berichtet die Ich-Sprecherin, sie hätte ihren magen und fr o mden frúnden den Rücken gekehrt und wäre dur gotz liebi in ein stat gefahren, um sich einem Leben in smacheit und luter gotz liebi widmen zu können (vgl. FL IV.2: 230,2-7 [IV.2,18-21]). Im weiteren Verlauf des Kapitels ist von Anfechtungen des Leibes die Rede, denen die Ich-Sprecherin ausgesetzt gewesen sein soll, als sie z v geistlichem leben kam und z v der welte urlop nam (FL IV.2: 234,37f. [IV.2,103]). Diese Anfechtungen sollen bi zwenzig jaren gedauert haben (FL IV.2: 236,13 [IV.2,113]). N eumann bringt beide Stellen miteinander in Beziehung und schließt anhand der im lateinisch-deutschen Vorbericht mitgeteilten Jahreszahl auf 1230 als das Jahr, als sich Mechthild für ein geistliches Leben in Armut und Entsagung entschieden hat. 182 Demnach bestätigt die Angabe vor drissig jaren in FL VI.4, so N eumann , die Einordnung der Eingangspartie des sechsten Buches in die Jahre 1260/ 61. 183 Die Tatsache, dass Mechthild um 1230 in Magdeburg ankam, erschloss sich für N eumann auch aus dem lateinischen Vorbericht zum ›Fließenden Licht‹, demzufolge Mechthild mehr als vierzig Jahre (plus quam XL a annos) den Spuren des Dominikanerordens gefolgt sei. Anders als S tierling , der veranlasst durch die perfektischen Verbformen fuit, sevivit, conscriptus den Standpunkt vertrat, der Prologverfasser gedenke Mechthilds als einer Verstorbenen, 184 bezieht N eumann das im Prolog Gesagte auf einen ganz bestimmten Abschnitt im Leben Mechthilds, und zwar auf die Jahre, als sie als Begine der Aufsicht der Dominikaner, allen voran ihres (angeblichen) Beichtvaters Heinrich von Halle unterstand. Dieser Abschnitt soll die Zeit zwischen 1230-1270 umfasst haben. 185 Dass 1270 den Abschluss einer bestimmten Lebensphase darstellt, schien auch in dem von Mechthilds Sterbejahr (ca. 1282) her errechneten Zeitpunkt des Klostereintritts seine Bestätigung zu finden. Wie spekulationsbelastet die Berechnungen des Sterbejahres und von hier aus die des Klostereintritts sind, haben wir bereits gesehen (s. oben S. 125f.). Auch im Umgang mit den Angaben des Vorberichts ist Vorsicht geboten. Die Zahl vierzig kam bereits H auck eher gerundet als präzise vor. 186 In der Tat handelt es sich um eine symbolisch aufgeladene Zahl. Denke man nur an die vierzig Jahre der peregrinatio des Volkes Israel in der Wüste (Nm 14,29) oder an das Alter vierzig, das als Wendepunkt in der geistig-geistlichen Entwicklung des Menschen galt. 187 Der Vorbericht als Ganzes scheint ferner eine bestimmte Funktion zu erfüllen, die darin besteht, einen bio-bibliographischen Vorspann zum deutschen Text, eine Art von Kurzvita zu Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 141 182 Vgl. N eumann (1954b), S. 54-56. 183 Vgl. N eumann ebd., S. 49. 184 Vgl. S tierling (1907), S. 61. 185 Vgl. N eumann (1954b), S. 33, Anm. 24. Ähnlich S trauch (1883), S. 371f. und B ecker (1951), S. 202f. 186 Vgl. H auck (1911), S. 189. Ähnlich V ollmann- P rofe (1994), S. 147, Anm. 4. 187 S. dazu W eiler (1961), S. 325-331 und R öll (1975). <?page no="152"?> bieten. Dass hier die hagiographische Tradition anzitiert wird, erkennt man an einigen konstitutiven Elementen. Als erstes wäre die genaue Jahreszahl Anno domini M°CC°L zu nennen. Solche Jahreszahlen finden sich auch in den Prologen der aus süddeutschen Dominikanerinnenklöstern stammenden Gnadenleben, so etwa in dem des Friedrich Sunder. Der Prolog zum Gnadenleben des Engelthaler Kaplans beginnt mit einer dem ›Fließenden Licht‹ vergleichbaren genauen Zeitangabe: Anno domini M°ccc°xxv° wonet ain seliger vnd g o tlicher vatter […]. R ingler zufolge ist die Jahreszahl 1325 ohne Begründung gesetzt und bleibt ohne Bedeutung: «Erklärbar ist dies aus der Typik des Prologs: wesentlich ist nicht, welches Datum erscheint, sondern daß eines angegeben wird: dies genügt zur historischen Beglaubigung des Geschehens.» 188 Man ist geneigt, dasselbe auch für das ›Fließende Licht‹ anzunehmen. Dabei ist nicht gänzlich auszuschließen, dass der Prologverfasser das Jahr 1250 sogar aus dem Text selbst abgeleitet hat, indem er ausgehend von den wenigen, anhand von zeitgeschichtlichen Anspielungen mit einiger Sicherheit datierbaren Kapiteln und unter der Annahme eines prozessualen Schreibens - in diesem Verfahren der älteren Forschung durchaus ähnlich - auf den vermeintlichen Beginn der Schreibtätigkeit geschlossen hat. Dies würde die zuerst von H auck , dann aber von P eters geäußerte Annahme bestätigen, der Verfasser des lateinischen Prologs hätte keine eigenständige Kenntnis von Mechthild gehabt, sondern bleibe bei seinen biographischen Informationen bis auf einige konkrete Daten und Angaben zur Lebens- und Werkgeschichte - wobei selbst diese, wie gesagt, zu hinterfragen wären - «innerhalb des Rahmens des von Mechthild vorgegebenen Lebensbildes.» 189 Auch im weiteren Verlauf bestimmen Versatzstücke, die der Hagiographie entstammen, das im Vorbericht gezeichnete Bild der Visionärin. Ihre Charakterisierung als virgo sancta corpore et spiritu ruft nicht nur die paulinische Formel ut sit sancta corpore et spiritu (I Cor 7,34) in Erinnerung, sondern knüpft auch an der aus dem scholastischen und aszetischen Schrifttum bekannte Vorstellung von der doppelten Jungfräulichkeit an. 190 Genauso wenig zu individualisieren (etwa im Sinne der Zugehörigkeit Mechthilds zum zweiten oder dritten Orden der Dominikaner 191 ) ist die Behauptung, sie wäre den Fussstapfen des Predigerordens gefolgt (sequens perfecte vestigia fratrum ordinis predicatorum) und hätte von Tag zu Tag Fortschritte gemacht und sich immer weiter verbessert (de die in diem semper proficiens semper melior se fiebat). Auf diesen im Grunde auf die Frage der Obödienz abzielenden Nachfolgegedanken stößen wir etwa im ›Geistlichen Rosengarten‹, der deutschsprachigen Übersetzung der Vita der Katharina von Siena. Im sechsten Kapitel berichtet der Beichtvater, der Dominikaner Raimund von Capua, Katharina hätte schon als Kind den Dominikanerorden in sol- 142 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 188 R ingler (1980), S. 153. Auf ähnlich präzise Jahresangaben treffen wir auch im Prolog der Gnadenvita der Christine Ebner (vgl. B ürkle 2000, S. 490) und in den Offenbarungen der Margareta Ebner (vgl. dazu B ürkle 2003, S. 90). 189 P eters (1988a), S. 56. Ähnlich bereits P reger (1869b), S. 158 und H auck (1911), S. 189 sowie neulich O rtmann (1992), S. 162 und A ndersen (2000), S. 58 und 129. Vgl. dazu auch S. 285f. und 323ff. weiter unten. 190 S. dazu B ernards (1955), S. 87f. 191 Zur Annahme, Mechthild sei eine Dominikanerin gewesen, s. G reith (1861), S. 53 und M orel (1869), S. XXIII. Für Mechthilds Status als dominikanische Terziarin spricht sich A ncelet -H ustache (1926), S. 55 aus. Dem schließt sich S piess (1935), S. 304 an. <?page no="153"?> chen Ehren gehalten, dass sie, wenn sie die Prediger durch ihre Tür eintreten sah, die Stelle in ihrem Gedächtnis behielt, do ir f u ße gegangen waren. Die kußt es [das Kind Katharina] denn so sy heyn komen. 192 Hier handelt es sich um eine eigenwillige Ausformung des zu einem hagiographischen Topos gewordenen Nachfolgegedankens. 193 Auch das Motiv des geistlichen Fortschritts gehört zum Repertoire der hagiographischen Erzählweise. So fängt die Vita der Katharinentaler Schwester Anna Clara von Hohenberg - sie hat durch den in ihrer Vita dokumentierten Streit um den Kult der beiden Johannes eine gewisse Prominenz in der germanistischen Forschung erlangt 194 - in dem von Johannes Meyer bearbeiteten ›Katharinentaler Schwesternbuch‹ mit der Feststellung an: Dise selige schwester kame in jhrer Jugent jn das Closter st. Catharina thall, nohme in dem orden an jahren vnd thugenten zu. 195 Zu verweisen wäre auch auf den ›Liber‹ Mechthilds von Hackeborn. Hier wird von Mechthild berichtet: Proficiens ergo die in diem, omnium virtutum summam apprehendit etc. (Rev. Bd. II.1, Lib. I.1, S. 6). Auch die Angaben zur Niederschrift, die im lateinischen Vorbericht zum ›Fließenden Licht‹ geschlechtsspezifisch in gottinspirierte Mystikerin und schreibenden Geistlichen ausdifferenziert werden (vgl. liber iste fuit teutonice cuidam begine […] inspiratus, […] conscriptus autem a quodam fratre predicti ordinis [sc. predicatorum]) sind topisch und stellen einen festen Bestandteil von Prologen dar. 196 Vor dem Hintergrund dieser recht unspezifischen Ausführungen zur Lebens- und Werkgeschichte und angesichts solch auffällig ungenauer Angaben wie fere per annos xv, plus quam xl a annos, cuidam begine oder a quodam fratre, die den Vorbericht allgemein charakterisieren, stellt sich die Frage, ob er überhaupt in der zeitlichen und räumlichen Nähe der Textgenese zu verorten ist, ob der Vorbericht also dem Original einer bestimmten Veröffentlichungseinheit (beispielsweise der Bücher I-V, I-VI oder gar I-VII) oder einer bereits in die kopiale Überlieferung eingegangenen Abschrift - welcher Teilveröffentlichung auch immer - gilt. N eumann s Antwort auf diese Frage ist widersprüchlich. Zum einen räumt er mit H auck (s. S. 141, Anm. 186 mit Text) ein, der Vorbericht sei «kaum aus naher Vertrautheit mit den Lebensumständen der Begine geschrieben», wenn er auch «gewiß eine gute Tradition» 197 verwerte. Zum anderen betont er gegen H auck den Zeugniswert des Vorberichts für die Biographie Mechthilds und die Chronologie ihrer Schriften, indem er ihn gegen S tierling (s. S. 141, Anm. 184 mit Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 143 192 Zitiert nach B rakmann (2005), S. 475. 193 Vgl. dazu auch die von Jakob von Vitry in seiner Marie-von-Oignies-Vita erzählte «hübsche Episode» (R uh 1993, S. 87), wonach das Kind Marie - es bewunderte die dem Elternhaus benachbarten Zisterzienser - in die Fussstapfen getreten sei, die die vorübergehenden Mönche auf der Straße zurückgelassen haben. 194 S. dazu H.-J. S chiewer (1993) und demnächst J ochen C onzelmann , Die Johannsen-Devotion im Dominikanerinnenkonvent St. Katharinental bei Dießenhofen. Ein Modellfall für Literaturrezeption und -produktion in oberrheinischen Frauenklöstern zu Beginn des 14. Jahrhunderts? , in: Predigt im Kontext. Internationales Symposium am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin vom 5.-8. Dezember 1996, hg. von V olker M ertens [u.a.], Tübingen: Niemeyer. 195 Vgl. R. M eyer (1995), S. 180. 196 Vgl. R ingler (1980), S. 151 und S. 392,53-59. Die im lateinischen Vorbericht zu E entworfene Figurenkonstellation könnte allerdings für die Textgenese einen modellhaften Charakter haben, vgl. S. 281ff. weiter unten. 197 N eumann (1954b), S. 32. <?page no="154"?> Text) in die Lebzeiten Mechthilds datiert (ca. 1270) und auf die Einheit der Bücher I-V bezieht. Letzteres soll aus dem auf den Vorbericht folgenden Index rerum - hier werden nur Kapitel der ersten fünf Bücher berücksichtigt - sowie aus der Angabe hervorgehen, das vorliegende Buch (liber iste) wäre in den Jahren 1250 bis ungefähr 1265 (fere per annos xv) von Gott cuidam begine eingegeben worden (inspiratus). 198 Sollte dies der Fall sein, so müsste man - denkt man N eumann s Hypothese zu Ende - eigentlich unterstellen, dass sich die Version der Bücher I-V schon zu Mechthilds Lebzeiten in einem Maße aus ihrem Einflussbereich entfernt hat, dass ein an den Lebensbedingungen Mechthilds und den Entstehungsumständen des ›Fließenden Lichts‹ interessierter Kopist nur noch auf die Tradition (N eumann ) bzw. auf den Text (P eters ) angewiesen war, um sich und seine Leser über bio-bibliographische Informationen in Kenntnis zu setzen. Zudem müsste man angesichts der Tatsache, dass wir ja nicht fünf, sondern sieben Bücher überliefert haben, die wir alle Mechthild zuschreiben, annehmen, dass die in die kopiale Überlieferung eingegangene Einheit der Bücher I-V zu einem späteren Zeitpunkt wieder in Mechthilds Besitz gelangt ist, denn nur so konnte sie mit den Büchern VI und VII ergänzt werden. 199 Alternativ wäre zu überlegen, ob der Einheit der Bücher I-V die sich als separate Publikationen in Umlauf gebrachten Bücher VI und VII angefügt wurden. Doch stellt sich die Frage, ob es überhaupt zutrifft, dass der Prolog dem ersten Veröffentlichungsabschnitt, demjenigen der Bücher I-V, gilt. N eumann spricht sich für die Teilpublikation I-V aus, weil er das Zeugnis des Prologs braucht, um den erschlossenen Lebensdaten Mechthilds (Ankunft in Magdeburg um 1230, Eintritt ins Kloster Helfta um 1270) und den errechneten Phasen der Werkgenese (Buch I-V spätestens um 1260, I-VI frühestens um 1271) eine zusätzliche Stütze zu verleihen. Sollte er recht behalten, dann wäre zu erwarten, dass der Vorbericht auch in der nächsten Veröffentlichungsstufe - diesmal in der der Bücher I-VI - auftaucht, in jener Version also, die in ihrer in E überlieferten Form zur Grundlage der lateinischen Übersetzung geworden sein soll. Tatsächlich fehlt der Vorbericht in der ›Lux divinitatis‹, ja nicht einmal einzelne seiner Angaben zur Lebens- und Werkgeschichte fanden in die Übersetzung Eingang. Dies verwundert angesichts des im LD-Prolog dokumentierten bio-bibliographischen Interesses der Übersetzer. Man ist geneigt anzunehmen, dass der lateinische Vorbericht zu dem Zeitpunkt bzw. in der Textversion, nach welcher die Übersetzung angefertigt wurde, nicht enthalten war (wie übrigens auch FL VI.43 nicht, vgl. S. 287f. weiter unten), denn es ist schwer vorstellbar, dass die Übersetzer ihn übergangen hätten. Ist es also berechtigt, den lateinischen Vorbericht mit der aus den ersten fünf Büchern bestehenden Teilpublikation des ›Fließenden Lichts‹ in Verbindung zu bringen? Lässt er sich überhaupt datieren? 200 144 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 198 Vgl. N eumann ebd., S. 33. 199 Ein Beispiel dafür, dass das (in diesem Fall noch unfertige) Manuskript dem Autor schon zu seinen Lebzeiten entzogen (hier: entwendet) werden konnte, liefert die im ›Eneit‹- Roman des Heinrich von Veldeke erzählte Werkgeschichte: Erst als die Handschrift wieder in seinen Besitz zurückgeführt worden war, konnte die Arbeit am Werk - offenbar handelte es beim entwendeten Manuskript um Heinrichs persönliches Arbeitsexemplar - fortgesetzt werden, s. dazu W eicker (2001). Zudem kann bei Autorfassungen vorkommen, dass die spätere Fassung durchaus von einer sekundären Textstufe abgeleitet ist (Paradebeispiel: Goethes ›Werther‹), s. P almer (1983), S. 79. 200 Hier sei darauf hingewiesen, dass N eumann mit der Annahme, der lateinische Vorbericht gelte den Büchern I-V, in Widerspruch zu seinen eigenen Berechnungen der <?page no="155"?> Was man mit einiger Sicherheit feststellen kann, ist die Priorität des lateinischen Vorberichts vor dem deutschen. 201 Dies kann an folgender Stelle abgelesen werden: que [bezogen auf die cuidam begina] in humili simplicitate, in exulari paupertate, in oppresso contemptu, in celesti contemplatione […] servivit. Dieser Passus steht FL III.1: 148,15-17 (III.1,39-41, In der diem u tigen einvaltekeit und in dem ellendigen arm u te und in der verdrukten smacheit hat mir got sinú wunder erz o get) näher als der Übersetzung dieser Stelle in LD II.28,5-7 (et in humili simplicitate . et in exili paupertate / depressaque despectione quo ad deum quo ad creaturas quo ad proximum / ostendit michi deus mira sua, Rev. Bd. II.2, S. 505,4-6, LG II.25,7-9: in meiner einfltigen demútigkeyt vnd ellende armút . vnd nider getrúckt ferachtún . macht mir gott offenbar seine wúnder). 202 Dass hier tatsächlich auf den deutschen Text zurückgegriffen wurde, ist nicht zuletzt der Quellenberufung ut in scriptura ista patet im lateinischen Vorbericht zu entnehmen. 203 Diese Quellenberufung fehlt im deutschen Vorbericht. Auch weicht dieser von dem Wortlaut ab, den FL III.1: 148,15-17 (III.1,39-41) bietet. Man liest hier: Si dienete gotte andehtekliche in dem u tiger einvaltekeit, in ellender arm v t, in himmelschem contemplierende, in verdrukter versmehte. Offensichtlich hat der Übersetzer des Prologs sich nicht der Mühe unterzogen, das markierte Zitat im ›Fließenden Licht‹ nachzuschlagen. Folglich unterschlug er die Quellenberufung und übersetzte dem Wortlaut des lateinischen Vorberichts gemäß, wobei er die Reihenfolge der beiden letzten Glieder der Aufzählung änderte. Das ist indes nicht der einzige Unterschied, der die beiden Vorberichte im Textbestand voneinander trennt. Der deutsche Prolog schließt mit dem Satz Das solt du gel p blich, diem u teklich und andehteklich núnstunt úberlesen. Diese Angabe fehlt an der entsprechenden Stelle des lateinischen Vorberichts, findet sich jedoch am Ende des nachfolgenden Index Rerum: (et de multis inauditis,) que intelliges, si cum credulitate, humilitate et devotione novies perlegeris librum istum. Hic est prophecia de preterito, presenti et futuro. Hic est etiam distinctio trium personarum v° libro xxvi° capitulo. Dass das Buch neunmal gelesen werden muss, wird auch im ersten Prooemium wiederholt, nicht jedoch in seiner lateinischen Übersetzung (vgl. LD Prol. 7,6/ Rev. Bd. II.2, S. 444). N eumann äußert im Anmerkungsband seiner Edition die Vermutung, der Schlusssatz des Prooemiums Alle, die dis b v ch wellen vernemen, die s o llent es ze nún Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 145 Entstehung der ersten Veröffentlichungseinheit gerät: In den im Prolog angegebenen 40 Jahren - diese Angabe wird von N eumann , wie gesagt, auf Mechthilds Magdeburger Zeit (bis 1270) bezogen - sollten demnach die Bücher I-V und nicht, wie von N eumann anderswo behauptet, FL I-VI entstanden sein. 201 Gegen W inter (1870), S. 431. 202 quo ad deum - proximum] steht mit Einweisungszeichen am rechten Rand von Rb fol. 65 rb . Den Passus findet man auch in Ra fol. 127 r am unteren Rand mit Einweisungszeichen nachgetragen, nicht jedoch in Rw (vgl. LG II.25,7-9). Auf eine vergleichbare Glosse stößt man auch im deutschen Überlieferungszweig: E bietet am Rande die Angaben Humilitas ad deum | Paupertas ad creaturas | Paciencia ad proximum. In W (S chleuss ner 1929, S. 177,20-25) stehen diese Randnachträge im Text: Humilitas ad deum. In der demutigen einvalticheit. Paupertas in creaturis uel ad creaturas. In dem elende arm u te. Patientia ad proximum. Und in der fordruchin smacheit hatt got mir sine wndir erzogit. 203 So auch B ecker (1951), S. 189, Anm. 1 gegen S tierling (1907), S. 61. Zur Unterscheidung primärer und sekundärer Textschichten aufgrund der sprachlichen Gestalt von Zitaten s. P almer (1983), S. 79. <?page no="156"?> malen lesen könnte dem lateinischen Vorbericht, genauer dem abschließenden Teil des Index Rerum entnommen worden sein. 204 Diesen auf inauditis folgenden Teil hielt er 1954 für einen jüngeren Nachtrag, da er im Erfurter Registrum des Jakob Volradi, worin auf ein vollständiges Exemplar des ›Fließenden Lichts‹ und eine Exzerpthandschrift der ›Lux divinitatis‹ verwiesen wird, 205 keine Parallele findet. 206 N eumann ist der Ansicht, die Aufforderung zum neunmaligen Lesen dürfte erst im Basler Überlieferungszweig ins Prooemium geraten und von hier (samt anderen Nachträgen) in den Schlussteil des Index Rerum bzw. in den deutschen Vorbericht übernommen worden sein. 207 Wenn dies tatsächlich der Fall ist, dann muss sie anlässlich der Übertragung des ›Fließenden Lichts‹ ins Alemannische oder zumindest kurz danach eingefügt worden sein, denn Heinrich von Nördlingen spielt an einer Stelle seines Briefes an Margareta bzw. den Medinger Konvent darauf an: uberlesent es dri stund, es stat dran IX. 208 Denkbar ist indes auch, dass die Lektüreempfehlung des Prooemiums bereits in der mittelniederdeutschen Vorlage der Basler Übersetzer vorhanden war. Ob sie vor oder nach der Übertragung des ›Fließenden Lichts‹ ins Lateinische hier eingetragen wurde, ist allerdings unklar. Beides ist möglich, wenn man annimmt, dass der ›Lux divinitatis‹ eine Version des deutschen Textes vorgelegen hat, die von E abwich (s. dazu Kap. II.2). Der lateinische Vorbericht ist demnach älter als sein deutsches Pendant. Ausschlaggebend für seine Datierung war der Hinweis et continet multa bona prout in titulis prenotatur. Man hat die Angabe in titulis auf den nachfolgenden Index bezogen, 209 der, wie gesagt, nur Kapitel aus den ersten fünf Büchern verzeichnet und sie - wie die ›Lux divinitatis‹ selbst - nach ihrem dogmatisch-heilsgeschichtlichen Stellenwert ordnet, wobei am Beginn die Trinität, Maria, die Engel und die Heiligen, am Schluss die Endzeit mit dem Antichrist stehen. Dass der Index für die Bücher I-V gilt, wird man mit gutem Recht annehmen dürfen. Ob die Angabe prout in titulis prenotatur zu der gleichen Annahme berechtigt, wird man dagegen bezweifeln dürfen, zumal die deutsche Übersetzung des Vorberichts titulis nicht auf den Index, sondern auf die Register vor den einzelnen Büchern des ›Fließenden Lichts‹ bezieht, wenn er übersetzt: als in den tavelen ist vor gezeichent. 210 Wahrscheinlicher ist jedoch, dass mit titulis die Kapitelüberschrif- 146 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 204 Vgl. N eumann (1993), S. 3, Anm. zu I Prol. 3-6. 205 Vgl. L ehmann (1928), S. 432f. 206 Vgl. N eumann (1954b), S. 32. 207 Vgl. N eumann ebd, S. 34. Ähnlich S trauch (1883), S. 371, Anm. 2 (mit Zuschreibung an Heinrich von Nördlingen), B ecker (1951), S. 198, Anm. 1 und P almer (1992), S. 234, Anm. 54. Die Aufforderung zum neunmaligen Lesen wird in der Forschung immer wieder für Mechthild reklamiert, vgl. etwa S cholz (1980), S. 54f., K asten (1999), S. 19, L ückel (2005), S. 179 und neulich wieder G ottschall (2007), S. 154. 208 S trauch (1882), S. 247,138f. (Brief XLIII). Der Brief datiert auf 1345. Die Lektüreanweisung muss spätestens zu diesem Zeitpunkt vorgelegen haben, betont auch W ebster (2005), S. 176. 209 Vgl. S trauch (1883), S. 372, B ecker (1951), S. 143 und N eumann (1954b), S. 33. 210 Gegen O rtmann (1992), S. 161. Dass tavele mit ‹Register› zu übersetzen ist, kann etwa der Überschrift entnommen werden, mit der Tauler-Predigten in den Handschriften angekündigt werden. So trägt die Handschrift Berlin, SBB-PK, Ms. germ. oct. 68 (ca. 1400) die Überschrift: Dis ist das ander b u chelin des Tauwelers predigen mit einre vorgonden tafeln in der die meynunge vnd der syn einer iegelichen predigen kurtzlich alle vor genemet sint vnd mit der zale gezeichnet. Die selbe zale dar nach an alle bletter einer iegliten <?page no="157"?> des deutschen Textes gemeint sind. 211 Sie sind nicht erst für das Corpus der sieben Bücher angelegt worden, sondern waren bereits in der Vorlage der lateinischen Übersetzung (Buch I-VI) vorhanden. 212 Ihre Existenz kann sogar bis zur Teilveröffentlichung der Bücher I-V zurückverfolgt werden. 213 Selbst wenn man die Angabe prout in titulis prenotatur nicht, wie bis jetzt üblich, auf den Index, sondern auf die Kapitelüberschriften bezöge, gäbe es keinen Anlass zu bezweifeln, dass der lateinische Vorbericht nicht doch für die Veröffentlichungseinheit I-V konzipiert worden ist. Dagegen spricht jedoch sein Fehlen in der lateinischen Übersetzung. Demnach muss er entweder zu einem Zeitpunkt eingefügt worden sein, als die Bücher I-VI zur Übersetzung bereits freigegeben waren, oder anlässlich einer späten Abschrift der Bücher I-VII entstanden sein. Vor dem Hintergrund des Gesagten darf man bezweifeln, dass sich der lateinische Vorbericht dazu eignet, Anhaltspunkte für die Berechnung von Mechthilds Eintritt ins Kloster Helfta und ihrer Ankunft in Magdeburg zu liefern. Wie steht es nun aber mit dem Zeugnis von FL VI.4, in dem N eumann die Bestätigung für die zeitliche Einordnung der Eingangspartie von Buch VI in die Jahre 1260/ 61 sehen will? Hinter der Angabe vor drissig jaren 1230 zu vermuten, überzeugt nur, wenn man, wie N eumann , das hier angesprochene Ereignis (Hilfeleistung einiger Personen, das ellende zu ertragen) als einen biographischen Reflex versteht und auf einen konkreten Zeitpunkt des Magdeburger Exils, und zwar auf seinen Beginn (und nicht etwa auf einen beliebigen anderen Moment) bezogen wissen will. 214 Zudem muss man, um den Referenzpunkt des in FL VI.4 angesprochenen Ereignisses berechnen zu können, erst einmal darauf vertrauen, dass die in FL IV.2 gemachten Jahrangaben auf die Biographie Mechthilds hin referenzialisierbar sind. Nicht zuletzt ist man auf das Postulat der weitgehend ungestört gebliebenen Entstehungsreihenfolge der Niederschriften angewiesen, will man die einzelnen Phasen der Werkgenese und die Lebensdaten Mechthilds aus den im b v ch verstreut vorkommenden und ohne einen Bezugspunkt an sich wenig aussagekräftigen Zeitangaben erschließen. Dass dies ohne ein gehöriges Maß an Spekulation und einen gewissen Sinn für Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 147 chen predigen sunderlichen geschrieben stot (fol. 1 r ). Hierauf folgt das Register zum Predigtcorpus. Einen vergleichbaren Fall bietet eine andere Tauler-Handschrift: Stuttgart, WLB, Cod. theol. et phil. 2° 155, fol. 1 r (15. Jh.). Hinzuweisen wäre auch auf die Handschrift Augsburg, UB, Cod. III. 1. 2° 36 der ›St. Georgener Predigten‹, s. dazu S eidel (2003b), S. 287f. Auch P almer (1989), S. 77 bezieht tavele auf die Kapitelverzeichnisse an den Buchanfängen. 211 Titulis werden die Kapitelüberschriften des deutschen Textes in den im dritten Viertel des 14. Jahrhunderts entstandenen Glossen zu Rb genannt, vgl. etwa In originali ponitur talis titulus quod oraciones misse audicio uerbi dei in predicationibus uita bonorum jejunium carene liberant animas de purgatorio (Rb fol. 88 vb ), Glosse zu LD VI.13 (Rev. Bd. II.2, S. 630). 212 Vgl. B ecker (1951), S. 44f. und N eumann (1993), S. 201f. 213 Vgl. B ecker (1951), S. 138-145. 214 Nicht auf den Beginn von Mechthilds Magdeburger Beginenexistenz bezogen behandelt E rat -S tierli (1985), S. 124 den Begriff ellende. <?page no="158"?> Kombinatorik nicht funktioniert, dürfte aus dem bisher Gesagten deutlich geworden sein. Wohl können wir vom vorletzten Kapitel des vierten Buches an einige Abschnitte datieren, allerdings liefern sie nur Anhaltspunkte für eine Datierung terminus post quem. Zwar lässt sich die Abfolge von FL IV.27, V.34 und VI.2-3 eine gewisse Chronologie erkennen, doch muss offen bleiben, ob dies für die restlichen Kapitel gleichermaßen gilt. Denn es ist damit zu rechnen, dass Kapitel nachträglich eingeschoben und (selbst über die Buchgrenzen hinweg) umgestellt werden konnten (s. dazu S. 122f. oben). Das bedeutet freilich nicht, dass das Geänderte der ursprünglichen Chronologie der Aufzeichnungen entsprechen und allein schon wegen seiner Priorität authentischer als die neu entstandene Kapitelfolge sein muss. Denn die von einem Teil der älteren Forschung für ursprünglich gehaltene Reihenfolge der Kapitel kann selbst Ergebnis eines mit dem Textmaterial bewusst schaltenden Redaktors sein. Dazu folgende Hinweise: Bücher I-IV geben - abgesehen von FL IV.27 - keinen Anhaltspunkt für eine Datierung her. Unübersehbar ist dagegen eine auch von N eumann registrierte Konzentration von termini technici der hoheliedinspirierten Minnesprache und von bestimmten Bildkomplexen, die in den späteren Büchern nicht mehr auftreten. 215 Geht man wie N eumann von der biographischen Determiniertheit literarischer Artikulation aus, so könnte man mit ihm eine unbändige «poetische Temperatur» bei den ersten vier Büchern diagnostizieren, eine «ungestüme[] Unioleidenschaft» (S. 60), wie sie für die Jugendzeit der Mystiker typisch sein soll, der der Altersstil der späteren Bücher gegenüber stünde. Die von N eumann gemachte Beobachtung kann aber genauso gegen seine Tagebuch-These ausgespielt werden: Die auffällige atmosphärische Einheitlichkeit der Bücher I-IV wäre damit nichts Naturwüchsiges, nicht das Ergebnis eines elementaren Äußerungswillens, der unmittelbar nach dem Erlebnis sich in der Schrift niederschlägt, sondern etwas Konstruiertes, das den Gestaltungswillen eines Textarchitekten voraussetzt. 216 Dies hat K emper dazu veranlasst, nach der kompositorischen Grundstruktur der ersten vier Bücher zu fragen, 217 deren Geschlossenheit durch eine Notiz im Schlusskapitel des vierten Buches unüberhörbar herausgestellt wird: Dis b v ch ist begonnen in der minne, es sol p ch enden in der minne (FL IV.28: 312,3f. [IV.28,3]). K emper meint eine «kompositorische Analogie zum Hohelied» 218 an der Vierzahl der Bücher ablesen zu können, gliederte man doch das Hohelied in der Kommentartradition ebenfalls in vier Abschnitte. Die Bücher sollen demnach einzelne Stadien des geistlichen Lebens, die der minne und gerunge, rúwe und vorhte präsentieren. Die Vierteilung des Minnewegs entnimmt K emper zwar dem sechsten 148 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 215 Vgl. N eumann (1954b), S. 59f. 216 In diesem Sinne äußert sich bereits V ozáry (1937), S. 10, Anm. 22, Resümee auf Deutsch in: Germanistische Hefte 7, hg. von H einrich S chmidt , Szeged 1937, S. 1-10. 217 Zu den folgenden Ausführungen s. K emper (1979), S. 96-98 mit Anmerkungen. 218 K emper (1979), S. 114, Anm. 28. <?page no="159"?> Buch (FL VI.6: 442,2f. [VI.6,5f.]), doch stellt er fest: «Diese auch in den ersten vier Büchern mehrfach in Variationen und Synonymen auftauchenden Begriffe lassen sich als Leitprinzipien für die thematische Gestaltung der ersten vier Bücher wiedererkennen» (S. 96). K emper parallelisiert die vier Minnestationen nicht nur mit der von der Exegese herausgearbeiteten Struktur des Hohenliedes, sondern geht einen Schritt weiter, wenn er den vier ersten Büchern das Schema des vierfachen Schriftsinns unterlegt (S. 97f.). Das Phänomen, eine exemplarische geistliche Biographie in einen theologischen Rahmen einzuspannen, ist zwar nicht unbekannt, 219 doch erscheint die von K emper für die ersten vier Bücher angenommene planvolle Zusammenstellung forciert. 220 Ihm könnte mit N eumann entgegnet werden, 221 dass gerade die augenscheinlich fehlende Kohärenz des deutschen Textes eine so durchgreifende Umstrukturierung des Kapitelbestandes erforderlich gemacht hat, wie sie zunächst in den Querverweisen, dann aber in der lateinischen Übersetzung mit aller Konsequenz durchgeführt wurde. Allerdings erweckt gerade die ›Lux divinitatis‹ den Eindruck, als hätte es eine zumindest für den/ die lateinischen Übersetzer erkennbare thematische Schwerpunktsetzung der einzelnen Bücher des ›Fließenden Lichts‹ gegeben. B ecker macht darauf aufmerksam, dass der in didaktischer Absicht an Priester gerichtete liber tertius die deutschen Bücher IV und VI bevorzugt, während der an der Minnethematik interessierte liber quartus aus den in LD III gänzlich fehlenden ersten beiden Büchern des ›Fließenden Lichts‹ schöpft. Außerdem ist die Zahl der aus bestimmten Büchern entnommenen Abschnitte zum Teil merkwürdig gering. Denn LD I bringt nur ein Kapitel aus FL IV und zwei aus FL II, LD II nur je eines aus FL I und III, LD VI eines aus FL II und zwei aus FL IV. 222 Offenbar vermochten die Übersetzer, thematische Schwerpunkte innerhalb der einzelnen Bücher ihrer deutschen Vorlage zu erkennen. Den Nachweis, dass eine solch programmatische Ausrichtung einzelnen Büchern des ›Fließenden Lichts‹ nicht abgesprochen werden kann, führt M ark E manuel A mtstätter . Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 149 219 Vgl. etwa das zweite Buch der Vita der Marie Oignies, in welchem der Hagiograph Jakob von Vitry das innere Leben von Marie im Sinne der sieben Gaben des Hl. Geistes in ihrer aufsteigenden Ordnung schildert, s. dazu R uh (1993), S. 87f. Hinzuweisen wäre auch auf die ›Vita‹ des Heinrich Seuse, die den spirituellen Reifeprozess des Dieners der Ewigen Weisheit als ein Voranschreiten vom anfangenden zum fortgeschrittenen bis hin zum vollkommenen Leben stilisiert, s. dazu B lank (1993) oder auf die Vita einer Zeitgenössin von Mechthild, der in FL V.34 genannten Jutta von Sangerhausen, worin die beiden Abschnitte ihres Lebens (vor und nach der Umsiedlung nach Preußen) zur Illustration zweier geistlicher Lebenskonzepte, das der vita activa und contemplativa, dienstbar gemacht wurden, s. dazu N emes (2009a). 220 Zurückhaltend äußern sich auch H aas (1989), S. 216 und G rubmüller (1992), S. 346f., Anm. 41. R uh (1993), S. 251 meint dagegen, K emper s Beobachtung sei «nicht von der Hand zu weisen.» 221 Vgl. N eumann (1954b), S. 61f. 222 Vgl. B ecker (1951), S. 185-188. <?page no="160"?> Einen Hinweis von V ollmann -P rofe 223 aufgreifend attestiert er für das erste Buch eine formal kunstvolle Komposition und einen handlungslogisch schlüssigen Aufbau. 224 A mtstätter benennt auch die Konsequenz, die das dem ersten Buch unterstellte «intendierte Gewachsen-Sein» 225 für die Werkgenese bedeutet. Demnach muss die Vorstellung einer mehr oder weniger planlosen, nur von der Entstehungsreihenfolge der einzelnen Teile bestimmten Textsammlung, wie sie von den Vertretern der Tagebuch-These bis hin zu N eumann kultiviert wurde, ausscheiden. Selbst wenn man sich nicht für bereit erklärt, eine wie auch immer geartete Tiefenstruktur in der heute greifbaren Organisationsform des Textes zu erblicken, wird man nicht mehr behaupten können, als dass die letzten beiden Bücher chronologisch richtig stehen. Ob dies für die Bücher der ersten dokumentierbaren Veröffentlichungseinheit (FL I-V) trotz des formal abgeschlossen wirkenden Charakters des vierten (und vielleicht auch des zweiten und des dritten) Buches gleichermaßen gilt und ob die Kapitel innerhalb der einzelnen Bücher des ›Fließenden Lichts‹ die ursprüngliche Reihenfolge der Aufzeichnungen konservieren, muss im Grunde offen bleiben. 226 Es stellt sich sogar grundsätzlich die Frage, ob der produktionsästhetisch motivierte Zugriff zur Erklärung der zugegebenermaßen ungewöhnlichen Struktur des ›Fließenden Lichts‹ allein ausreicht und ob er nicht vielmehr durch eine rezeptionsästhetische Betrachtungsweise ergänzt werden muss, zumal sich in den letzten Jahren die Einsicht durchgesetzt hat, dass die diesem Text schon immer unterstellte Unmittelbarkeit nicht Ausdruck von Affekt, sondern ein mit literarischen Mitteln erzeugter Effekt ist, der zum Generieren einer bestimmten Rezeptionshaltung dient (s. dazu Kap. I.1.2). In diesem Zusammenhang hat P eters den Blick auf die Struktur des ›Fließenden Lichts‹ gelenkt und auf die «Vielfalt von Themenbereichen und literarischen Diskurstypen» 227 hingewiesen, die den Eindruck erweckt, als folge der Text einer inneren Chronologie religiöser Erfahrungen der Mystikerin, als dokumentiere das Geschriebene Abschnitte und Phasen eines spirituellen Lebens. Auf dasselbe Phänomen, die «Kombinatorik variierender Schreibweisen» 228 ist B ürkle bei sämtlichen groß angelegten einzelpersönlichen Viten- und Of- 150 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 223 Vgl. V ollmann- P rofe (1994), S. 147, Anm. 5. Hier ist von der «besonderen Gestalt» des ersten Buches die Rede. 224 Vgl. A mtstätter (2003). S. dazu N emes (2004b). 225 A mtstätter (2003), S. 15. 226 Ähnlich B ecker (1951), S. 206. 227 P eters (1991), S. 44. 228 B ürkle (1999), S. 267. Mit der «Kombinatorik variierender Schreibweisen» sind literarische Heterogenität (Vielfalt der Textformen, ständiger Wechsel der Erzählpositionen bzw. Rollenfigurationen), konzeptionelle Offenheit und unvermitteltes Abbrechen gemeint, Charakteristika also, die auf das ›Fließende Licht‹ genauso zutreffen wie auf die dominikanischen einzelpersönlichen Offenbarungstexte des 14. Jahrhunderts, s. dazu B ürkle ebd., S. 267-269 und (2000), S. 490-500. <?page no="161"?> fenbarungstexten aufmerksam geworden. Sie spricht von einem typenspezifischen Merkmal und betont die «gezielte[] ›Gemachtheit‹» 229 der lockeren Fügung, der scheinbar geringen konzeptionellen Stringenz und heterogenen Vielfalt dieser Texte, denen sie das ›Fließende Licht‹ dem Typus nach zurechnet. B ürkle ist wie P eters der Ansicht, die Anlage dieser Texte, ihre weder konsequent handlungslogische noch stringent lebensgeschichtlich-lineare Organisation beruhe auf einem «produktionsästhetisch ›gewollte[n]‹ Konzept», 230 das auf die Evokation einer konkret-sinnlichen Unmittelbarkeit des Schreib- und Entstehungsprozesses abzielt. 231 Die Unmittelbarkeit der Erfahrung kann jedoch nicht nur durch die Komposition, d.i. die Nichtlinearität des Erzählten, evoziert werden. Auch der bekenntnishafte Gestus und das Text-Ich, das als ‹schreibende Mystikerin› figuriert - ein weiteres typenspezifisches Merkmal der volkssprachlichen einzelpersönlichen Viten- und Offenbarungsliteratur (s. dazu S. 21f. oben) -, dienen dazu, das Geschriebene als persönlich verbürgten Bericht eigener Erfahrung, als Dokument autobiographischen Charakters zu präsentieren. Mechthilds b v ch soll wirken, betont auch D icke mit Blick auf die Struktur und den Charakter des Werkganzen, «als habe es den Filter der Reflexion nie passiert, als entbehre es jeden literarischen Formwillens, als sei es ihr »unmittelbar« von ihren Sinnen eingegeben.» 232 Angesichts solch ausgeklügelter Strategien, die dem Geschriebenen Authentizität im Sinne von Erlebnisfrische und Unmittelbarkeit verleihen, stellt sich die Frage, ob der explizite Hinweis auf das Deutsche als die Sprache der göttlichen Selbstoffenbarung an cuidam begine im lateinischen Vorbericht nicht mehr meint als das offensichtliche Faktum, dass das ›Fließende Licht‹ in der Volkssprache abgefasst ist. Auch im Prolog zum ›Büchlein der Ewigen Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 151 229 B ürkle (2000), S. 487. 230 B ürkle ebd., S. 487. Die ältere Forschung ging dagegen von der Annahme aus, das ›Fließende Licht‹ wäre «aus keinem literarischen Ehrgeiz geschrieben, sondern aus religiöser Notwendigkeit», so K ayser (1944), S. 11. Ähnlich N eumann (1965), S. 240. Auch in jüngster Zeit trifft man auf solche Äußerungen, vgl. etwa die Ansicht von S chröder (1996/ 1999), S. 153: «sie [Mechthild] war überhaupt nicht auf Poesie aus, sie protokollierte die Fülle der Gesichte, die ihr zuteil wurden […]»und D ers . (2005), S. 302: «Auch die verworfenheit, der sie [Mechthild] sich in Stunden der Gottferne anklagt, ist nicht theologisch ausgedacht, sondern persönlich erfahren und erlitten […].»Für weitere Belege s. S. 13f. oben. 231 Vgl. B ürkle (1994), S. 121. Nicht weit von dieser Position liegt V ollmann- P rofe (2000), S. 153: Zwar sieht sie die «Einmaligkeit» des ›Fließenden Lichts‹ in einem «‹persönlichen Erfahrungsstil›» und einer«‹biographischen Struktur›», betont jedoch,«‹persönlicher Erfahrungsstil›» und«‹biographische Struktur›» ziele nicht auf die Frage der lebensweltlichen Relationierbarkeit des Textes ab, vielmehr gehe es um die «literarische Konzeptionierbarkeit persönlicher Erfahrungen.» Trotzdem besteht sie darauf, dass das ›Fließende Licht‹ in einer «im wesentlichen in jahrzehntelangen Anlagerungen gewachsene[n] Form» (ebd., S. 152) vorliegt. Ähnlich V ollmann- P rofe (2007b), S. 60. 232 D icke (2003), S. 274. Vgl. in diesem Zusammenhang demnächst die Freiburger Dissertation von A ndrea Z ech . Zu den poetischen Mitteln der Inszenierung des ›Fließenden Lichts‹ als ‹Zeugnisschrift› s. jetzt auch H erberichs (2009), S. 281-285. <?page no="162"?> Weisheit‹ des Heinrich Seuse findet sich eine Stelle, wo ausdrücklich darauf hingewiesen wird, die folgenden Betrachtungen seien dem Diener der Ewigen Weisheit auf Deutsch eingegeben worden: Und dar umb so screib er die betrahtunge an und tet daz ze tútsche, wan sú im och also von gotte waren worden. 233 Seuse qualifiziert hier das Deutsche als Offenbarungssprache. Es mag überraschen, wenig später auf eine Äußerung zu stößen, die den defizitären Status des Deutschen auszudrücken scheint. Seuse konfrontiert hier die lebendige Sprache des Herzens, welche dur einen lebenden munt ertönt, mit jener Sprache, die auf dem ‹toten Pergament› festgelegt worden ist, und betont, der Gegensatz zwischen den beiden könne im Deutschen besonders stark empfunden werden: Ein ding sol man wússen: als unglich ist, der ein s u zes seitenspil selber horti s u zklich erklingen gegen dem, daz man da von allein h o rt sprechen, als ungelich sint dú wort, dú in der lutren gnade werdent enpfangen und usser einem lebenden herzen dur einen lebenden munt us fliezent gegen den selben worten, so sú an daz t p t bermit koment, und sunderliche in tútscher zungen; wan so erkaltent sú neiswe und verblichent als die abgebrochnen r p sen […]. 234 Hier geht es nicht etwa um die Geringschätzung des Deutschen 235 - Seuse selbst bezeichnet es als die Sprache, die Gott zur Vermittlung seiner Offenbarungen auserkoren hat (s. o.) -, sondern um seine Nobilitierung, wird doch seine besondere Empfindlichkeit in Bezug auf die Wahrnehmung des Abkühlungsvorgangs betont, dem die göttliche Rede beim Eintritt in die menschliche Sphäre ausgesetzt ist. 236 Die Volkssprache scheint in Seuses Einschätzung die ursprüngliche Lebendigkeit der in der lauteren Gnade, d.h. in der Unio, empfangenen Worte am ehesten erahnen zu lassen, 237 weshalb sie sich besonders gut eigne, «Überbringerin einer unmittelbaren göttlichen Botschaft» 238 zu sein. Dieselbe Qualität der Volkssprache (hier: des Niederländischen) artikuliert sich auch in Geert Grootes Kommentar zu der von ihm angefertigten lateinischen Übersetzung von Ruusbroecs ›Geestelijcke brulocht‹. Groote 152 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 233 B ihlmeyer (1907), S. 197,10f. 234 B ihlmeyer ebd., S. 199,14-22. 235 In diesem Sinne verstehen die Stelle M ichel (1992), S. 303f. und daran anschließend H asebrink (1992), S. 376f. 236 So B indschedler (1965/ 1985). Zustimmend und weiterführend K öbele (1993), S. 36, Anm. 69 und A. S chneider (2000), S. 157-160. 237 Seuses Gegenüberstellung der lebendigen, in der lauteren Gnade empfangenen Worte und der erstarrten Schriftsprache liefert einen weiteren Beleg für jene von anderen Mystikern beschriebene und von K urt R uh untersuchte Metasprache, die ohne artikulierte Sukzession, simultan und in actu erfolgt. Um die Wirkungsform dieser mystischen Metasprache - Seuse spricht ausdrücklich von worten - begreiflicher zu machen, verweist R uh , wie übrigens auch Seuse, auf die Musik, die ja auch jenseits des artikulierten Wortes angesiedelt ist, nichtsdestotrotz ihre eigene Artikulation hat, vgl. R uh (1986), S. 38 und (1988) sowie L au (2008). 238 B indschedler (1965/ 1985), S. 169. <?page no="163"?> räumt ein, aus Respekt vor dem mystischen Gehalt des Werkes nicht mehr als eine bloße Wiedergabe der einzelnen Worte geleistet zu haben: «So kommt es, daß die lateinische Übersetzung jenen frischen Geschmack (id sapide viriditatis) eingebüßt hat, den der für die Ohren in diesen Dingen ungewohnte, aber angemessene neue Gebrauch der deutschen Worte dem Gegenstand verleiht.» 239 Offenbar wird dem Deutschen bzw. dem Niederländischen im inspirationstheologischen Kontext eine besondere Qualität zuerkannt, eine Qualität, in welcher R uh den «spirituellen Mehrwert der Volkssprache» 240 gegenüber dem Lateinischen sah. Auf diesen Mehrwert des Deutschen scheint es auch dem Verfasser des lateinischen Vorberichts anzukommen, vor allem wenn man berücksichtigt, dass der Hinweis auf das Deutsche als Offenbarungssprache in einen Rahmen eingespannt ist, der die Tradition der sancta simplicitas evoziert. Anders als jener quodam frater predicti ordinis [predicatorum], der den schriftstellerisch tätigen Part bei der Bekanntmachung der göttlichen Offenbarungen übernimmt, fungiert die quodam begine lediglich als Inspirierte und Ungelehrte, die die Offenbarungen Gottes teutonice, d.h. in der Sprache der illiterati, empfängt. Der Hinweis auf den illiteraten Status der Offenbarungsempfängerin und auf das Deutsche als Offenbarungssprache dient jedoch nicht allein informativen Zwecken, sondern ist möglicherweise auch Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 153 239 Zitiert nach S taubach (2002), S. 270. 240 R uh (1986), S. 25. In einer späteren Publikation drückt sich R uh zurückhaltender aus: Er spricht nur noch vom «Eigenwert» der Volkssprache, s. R uh (1989a), S. 45 und (1990), S. 18, Anm. 10. Sein Urteil gründet auf der von ihm gegebenen Antwort auf die Frage, warum Meister Eckhart auch dort auf die Volkssprache zurückgreift, wo er vom Bildungsniveau seiner Zuhörer her gesehen eigentlich gar nicht dazu gezwungen ist. Die Erklärung sieht R uh in der einseitigen Entwicklung des Latein als Gelehrtensprache, die «nicht mehr oder nur in Ausnahmefällen in der Lage zu sein [schien], Innovatorisches, Charismatisches, jenseits der üblichen Erfahrungswelt Liegendes auszudrücken» (R uh 1990, S. 19). Zwar kann R uh eine nur auf die Volkssprache beschränkte Wahrnehmung der Literatur des europäischen Mittelalters keineswegs unterstellt werden, sein Urteil über das Lateinische wirkt trotzdem befremdlich. H asebrink (1992), S. 376, Anm. 32 betont, die These vom toten Latein dürfe «angesichts eines lange existierenden Problembewußtseins nicht unbefragt als Folie für die Lebendigkeit der Volkssprache herangezogen werden.» Suspekt kommt H asebrink nicht nur diese sprachessentialistische, sondern auch die von R uh gegebene erfahrungspsychologische Erklärung für den Eigenwert der Volkssprache vor. H asebrink argumentiert dabei auf der Basis des oben behandelten Seuse-Zitats. Er sperrt sich gegen eine Deutung dieser Stelle als Beleg für eine besondere spirituelle Neigung der Volkssprache (vgl. Anm. 235 oben). Dass die von H asebrink kritisierte sprachessentialistische und erfahrungspsychologische Deutung des Stellenwerts der Volkssprache durchaus der mittelalterlichen Sicht entspricht, verdeutlicht das Groote- Zitat (s.o.), das laut S taubach (2002), S. 270, Anm. 73 einen der «seltenen e x p l i z i t e n Belege» (Hervorhebung von mir) für R uh s These vom Eigenwert der Volkssprache darstellt. In dieselbe Richtung weisen m.E. auch Seuses sprachtheoretischen Äußerungen. Allerdings ist hier die Gegenüberstellung des Deutschen und Lateinischen mehr implizit als explizit. <?page no="164"?> Programm, um die Mitteilende mit der Aura einer unmittelbar Gottinspirierten und das Mitgeteilte mit dem Siegel des Selbst-Erlebten zu versehen. Der Verfasser des lateinischen Prologs wird dabei wohl an die Tradition angeknüpft haben, in welcher auch Seuse und Groote zu sehen sind. 241 Denkbar wäre auch, dass er ein bereits dem ›Fließenden Licht‹ inhärentes Konzept aufgegriffen hat. Sieht man hinter der Polemik, die der ‹ungelehrte Mund› der Visionärin ausgehend von der christlichen Idee der docta ignorantia und des sermo humilis, das heißt vor dem Hintergrund von inspirations- und inkarnationstheologischen Begründungsmustern, gegen die begrenzten Erkenntnismöglichkeiten der irdisch-profanen Wissenschaften (auch gegen diejenigen der zünftigen Theologie) immer wieder artikuliert, nicht nur eine erkenntnis-, sondern auch eine sprachtheoretische Positionierung, so wird man aus den diesbezüglichen Aussagen eine Legitimierung, ja eine Nobilitierung des ungebildeten Sprechens in der Volkssprache gegenüber der klerikalen Bildungssprache heraushören. 242 Geht man davon aus, dass Unmittelbarkeit eine Frage der literarischen Technik ist und die Pluralität der Schreibweisen dazu dient, den Eindruck eines lebensbegleitend-existenziellen Schreibens zu generieren, 243 so wird man den 154 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 241 Die Wurzeln jener Tradition, die der Volkssprache eine besondere Erfahrungsnähe attestiert, reichen bis zu der von Beda referierten Caedmon-Legende zurück. Auch hier figuriert ein illiteratus, der kraft göttlicher Inspiration (Erfahrungsbezug! ) instand gesetzt wird, die litterati zu belehren, und zwar in seiner eigenen Muttersprache, s. dazu K ellner (2005), S. 139-144 und D. K lein (2008), S. 19-21. Zu verweisen wäre auch auf die in verba vulgaria verfasste Vorlage der Beatrijs-von-Nazareth-Vita eines anonym bleibenden und nicht zu identifizierenden Zisterziensers, der diese im Prolog als experimentie liber bezeichnet. Ob es sich dabei um eine im textkritischen Sinne authentische, von Beatrijs selbst in ihrer eigenen Muttersprache geschriebene Quelle (so R uh 1993, S. 139f.) oder um Quellenfiktion handelt, die der Evozierung von Authentizität im Sinne von Erlebnisechtheit dient (so P eters 1988a, S. 32f. und B ürkle 1999, S. 201f.), ist umstritten, nicht zuletzt auch deshalb, weil es nicht zu entscheiden ist, ob der dem 14. Kapitel der Vita entsprechende niederländische Text ›Seven manieren van minne‹ den kümmerlichen Rest jenes vom Hagiographen erwähnten volkssprachlichen experimentie liber ist oder eine Übersetzung des 14. Kapitels der Vita darstellt, vgl. P eters (1988a), S. 33, R uh (1993), S. 145 und H ollywood (1999). 242 S. dazu K öbele (1993), S. 33-39 und W atson (1997), S. 122f. Keine programmatische Aussage über die Verwendung der Volkssprache stellt dagegen FL II.3: 82,24f. (II.3,48): Nu gebristet mir túsches, des latines kan ich nit dar, vgl. M argetts (1977), S. 136 und P al mer (1992), S. 227. Anders O rtmann (1992), S. 172: «Das Deutsche versagt, die volkssprachlichen Mittel reichen nicht aus, und […] Latein ist kein geeignetes Medium dieses Buches […] [Latein] ist nicht zuständig», und weiter: «[…] der lateinische Bereich der Buchgelehrsamkeit ist abgewiesen.» 243 Einen Beleg dafür, dass der von B ürkle postulierte Zusammenhang zwischen Werkgestaltung und intendierter Rezeptionshaltung dem Mittelalter nicht abgesprochen werden kann, findet man beispielsweise im Prolog des ›Horologium sapientiae‹ des Heinrich Seuse: Hier wird die artifizielle und wirkungsbewusst affektivische Gestaltung des Werkes - anders als in den von B ürkle untersuchten Texten - sogar Gegenstand von Re- <?page no="165"?> Bemühungen der älteren, aber auch der jüngeren Forschung (ich verweise hier nur auf V ollmann -P rofe , s. S. 25f. oben), die ungestört gebliebene Chronologie der Aufzeichnungen von der losen Folge der Kapitel her zu erweisen, skeptisch gegenüber stehen. Denn es handelt sich um ein Vorgehen, das unerlaubterweise «zwischen Überlegungen zur Genese dieser Texte und ihrer Machart bzw. Struktur einen Zusammenhang her[stellt].» 244 Wie man auch über die Ansichten der ‹neuen Antichronologisten› zu urteilen mag, eines steht fest: Die durch die Kapitelreihenfolge verbürgte Authentizität des ›Fließenden Lichts‹ - wobei authentisch hier die Befragbarkeit der Kapitelstruktur auf den tatsächlichen Schreibprozess und die geistig-geistliche Entwicklung der Protagonistin hin meint -, ist offenbar so wenig konsensfähig wie früher (vgl. Kap. I.1.1). Ein wesentlicher Unterschied zwischen den ‹alten› und ‹neuen› Antichronologisten kann allerdings nicht verschwiegen werden: Haben die einen Mechthild eine «deutliche Unfähigkeit» (S tierling ), strikte Dispositionen auf der Erzählebene und der Textstruktur zu halten, sowie ein Desinteresse an der Sammlung und Anordnung ihrer Schriften attestiert, 245 so ist bei den anderen eine gegenteilige Tendenz zu beobachten. Die Die Buch- und Kapitelfolge - Korpusvarianz? 155 flexion, s. dazu S taubach (1994), S. 201-204 und M ichel (1995c), S. 62 und 66f. Für ein weiteres Beispiel (›Soliloquium anime‹ des Thomas von Kempen) s. S taubach ebd., S. 223f. 244 B ürkle (2000), S. 487. Einen solchen Zusammenhang will S taubach (1994), S. 202, Anm. 8 dagegen weder für das ›Horologium‹ noch für das ›Fließende Licht‹ ausschließen. Ausgehend von Seuses wirkungsbewusst affektivischer Werkgestaltung, seinem auf die Belebung des Diskurses (ad ferventiorem modum tradendi) abzielenden Schreibstil, fragt sich S taubach , «ob auch Mechthild eine genuin literarische Technik entwickelt und erprobt, die auf Emotionalisierung, ad ferventiorem modum tradendi zielt, oder ob die Heterogenität und Regellosigkeit ihres Werks aus einem diskontinuierlichen Prozeß der Niederschrift, aus allmählichem Anwachsen und Zusammenfügen von Einzeltexten zu erklären ist.» Dass beide Aspekte der Werkgenese einander nicht ausschließen müssen, soll Seuse bezeugen. Im Prolog des ›Horologium‹ behauptet Seuse: Notandum quoque, quod originale huius operis certis temporibus et non nisi in praesentia magnae gratiae conscriptum fuerit (zit. nach S taubach ebd., S. 203, Anm. 10). Ob die sukzessive und additive Entstehung des ›Horologium‹ aus dieser Stelle herausgelesen werden kann, wie von S taubach behauptet, erscheint mir zweifelhaft, zumal die Aussage, das «Original des Werkes» sei «nur zu bestimmten Zeiten und in Gegenwart großer Gnade geschrieben worden», in einem inspirationstheologischen Begründungszusammenhang steht und offensichtlich dazu dient, das Schreiben als gottgewolltes Unterfangen zu legitimieren und das Geschriebene mit der Aura des Authentischen, des Selbst-Erlebten zu versehen. Eine ähnliche Authentisierungsstrategie findet sich in den ›Offenbarungen‹ der Margareta Ebner. Hier sind die spirituellen Erfahrungen allerdings nicht Movens, sondern Folge des Schreibens: Margareta betont, dass sie die vergangenen Gnadenerlebnisse im Akt des Schreibens noch einmal erfahre und zwar so heftig, daz ich ainz kum vor dem andern gescriben moht (S trauch 1882, S. 114,1-5), dazu P eters (1988a), S. 146. Zur Untrennbarkeit von Schreiben und Erfahren am Beispiel des ›Fließenden Lichts‹ s. B ildhauer (2007). 245 Vgl. S. 7, Anm. 26. In diesem Fahrwasser bewegt sich auch R uh (1977/ 1984), S. 243 mit der Feststellung, Mechthild hätte «nie von sich aus daran gedacht, ihre Aufzeichnungen einer Öffentlichkeit preiszugeben.» <?page no="166"?> Lizenzen, die die ‹alten Antichronologisten› bereit waren, Heinrich von Halle beim Umgang mit den Aufzeichnungen seiner (vermeintlichen) Beichttochter zuzugestehen, werden jetzt zurückgezogen und Mechthilds Kontrolle über alle Parameter ihres Textes behauptet. In diesem Sinne will B ecker nicht allein die Struktur, sondern auch die allgemein als sekundär angesehenen Kapitelüberschriften auf Mechthild zurückführen, «denn ihre Anteilnahme am Zusammenstellen ihrer Aufzeichnungen zu einem ‹b v che› ist gross.» 246 Auch K emper ist der Ansicht, dass die Rückkoppelung des subjektiv Erlebten an das Modell der gelehrten Hohenliedexegese das Werk Mechthilds sei. 247 Ähnlich macht A mtstätter den Gestaltungswillen Mechthilds für das von ihm aufgedeckte Strukturierungsprinzip des ersten Buches verantwortlich, «es sei denn, Heinrich von Halle war ein genialer Ordnungsstifter scheinbar zusammenhangslosen Textmaterials.» 248 In all diesen Fällen kommt ein emphatischer, der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts verpflichteter Autorbegriff zum Tragen. Zweifel an der Berechtigung eines solchen Autorbegriffes im Umgang mit volkssprachlichen literarischen Texten aus einer Zeit, für welche das Stichwort Alterität auch in Hinblick auf die Produktions- und Distributionsbedingungen von Literatur gilt, wurden von einer methodischen Warte aus bereits geäußert (s. S. 77ff. oben). Im Folgenden (Kap. II.2 und 3) soll es darum gehen, die Probleme und Fragen, die mit der Anwendung eines emphatischen Autorkonzeptes verbunden sind, auch an der Textgeschichte des ›Fließenden Lichts‹ aufzuzeigen, wobei mein besonderes Augenmerk der lateinischen Texttradition gilt. II.2 Varianz in Textbestand und Textfolge Eine Beschäftigung mit der ›Lux divinitatis‹, die bei textgeschichtlichen Fragen ansetzt, scheint in letzter Zeit etwas aus dem Blickfeld der Forschung geraten zu sein. R uh hielt N eumann , dem Herausgeber der textkritischen Ausgabe des ›Fließenden Lichts‹, vor, er hätte die lateinische Übersetzung im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Textkonstitution überschätzt, obschon er selber gewusst habe, dass sie «nur selten den Wortbestand des deutschen Textes» zu sichern vermag. 249 Die «eigentliche Bedeutung» der ›Lux divinitatis‹ sieht R uh auch nicht in ihrer textkritischen Funktion, sondern in der Übersetzungs- und Bearbeitungsleistung (ebd.). Auch V ollmann -P rofe sucht neue Wege im Umgang mit dem lateinischen Text. Anders als die frühere Forschung (S tierling 1907, B ecker 1951 und N eumann 1993), deren Bemühungen um 156 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 246 B ecker (1951), S. 45 und 197. Ähnlich N eumann (1954b), S. 60. 247 Vgl. K emper (1979), S. 96. 248 A mtstätter (2003), S. 12. 249 Vgl. R uh (1995a), S. 99. Zitat: N eumann (1990), S. XXV. Varianz in Textbestand und Textfolge <?page no="167"?> den Text so gut wie ausschließlich vom Interesse an den Emendationsmöglichkeiten des ›Fließenden Lichts‹ geleitet waren, versucht V ollmann -P rofe die ›Lux divinitatis‹ aus ihren eigenen Intentionen und Eigenarten heraus verständlich zu machen und zu würdigen. 250 An den inhaltlichen und formalen Textveränderungen im Übergang vom Deutschen zum Lateinischen ist auch E lke S enne interessiert, wenn sie danach fragt, was von der ursprünglichen Textgestalt des ›Fließenden Lichts‹ nach dem doppelten Sprachwechsel vom Mittelniederdeutschen ins Lateinische (›Lux divinitatis‹) und vom Lateinischen ins Alemannische (›Liecht der Gotheit‹) übrig geblieben ist. 251 Wie selbstverständlich wird in all diesen Fällen davon ausgegangen, dass sämtliche Textveränderungen in der lateinischen Übersetzung sich von jenem Text her beschreiben lassen, der uns in den Handschriften der oberdeutschen Überlieferung, allen voran in E, greifbar ist. Herrscht Konsens darüber, was übertragen wurde, kann sich die Forschung dem ‹Wie? › der Übertragung zuwenden und die Vorgehensweise der Übersetzer vor dem Hintergrund des Einsiedler Textes - der ja mit Mechthilds Original als weitgehend identisch gilt (vgl. Kap. I.1.1) - beschreiben. Aus textkritischer Sicht werden die Varianten der ›Lux divinitatis‹ von E aus gesehen traditionell als Auslassungen und Ergänzungen beschrieben. 252 Die Auslassungen reichen von der Kürzung bis zur Ausmerzung oder Umfärbung bestimmter (meist dogmatisch anfechtbarer oder erotisch als allzu freizügig empfundener) Textstellen. Die Ergänzungen decken ein weites Spektrum ab, das sich von der Hinzufügung einzelner Wörter, Teilsätze und Sätze über Umformulierungen bis zu regelrechten Aufschwellungen erstreckt. Bis auf wenige Ausnahmen werden die Ergänzungen, die der lateinische Text dem deutschen gegenüber aufweist, als Bearbeitungen und daher als nicht ursprünglich angesehen. Ausnahmen sind die von B ecker so genannten «unechten Zusätze». Im Unterschied zu den «echten Zusätzen», die «ausschliesslich auf das Konto des Übersetzer-Redaktors gehen, also nicht von Mechthild stammen können», haben wir es mit «unechten Zusätzen», laut B ecker , dann zu tun, «wenn die entsprechende deutsche Stelle für den Text der Vorlage verständnisnotwendig ist oder der Kontext der Einsiedler Hs. anderweitig eine Auslassung erkennen lässt.» 253 Mit anderen Worten: Da die «unechten Zusätze» der ›Lux divinitatis‹ «auf eine Verderbnis in der deutschen Überlieferung führen», 254 sind sie im textkritischen Sinn eigentlich als echt anzusehen. Varianz in Textbestand und Textfolge 157 250 Vgl. V ollmann- P rofe (2000) und die «Einführung» von E rnst H ellgardt in demselben Sammelband auf S. 119-122. Zu den unauffälligen, aber umso charakteristischen formalinhaltlichen Textveränderungen bei der Übertragung des deutschen Textes ins Lateinische s. auch G sell / S tockmar (1992), S. 145f. und demnächst S uerbaum (2011). 251 Vgl. S enne (2004). 252 Vgl. B ecker (1951), S. 37-43, V ollmann- P rofe (2000), S enne (2002), S. 37ff. und (2004), S. 144f. 253 B ecker (1951), S. 37. Beispiele werden auf S. 177, Anm. 325 genannt. 254 B ecker ebd., S. 38. <?page no="168"?> Sonstige Ergänzungen in der lateinischen Übersetzung gelten dagegen textkritisch als unecht. Anders werden dagegen die Textstellen beurteilt, die der deutsche Text dem lateinischen gegenüber zusätzlich überliefert. Zwar werden auch sie als Bearbeitungen eingestuft, doch sollen sie nicht redaktionell, sondern auktorial vorgenommen worden sein und werden gewöhnlich damit erklärt, dass Mechthild ihrem Text eine gewisse Überarbeitung angedeihen ließ. Der Frage, ob es möglich ist, (textkritisch) echte von unechten Zusätzen abzuheben, wird in den Kapiteln II.2.1 und 2 nachgegangen. Dabei soll gezeigt werden, dass es eine Reihe von «echten Zusätzen» (B ecker ) auch in der lateinischen Übersetzung gibt, Zusätze, die Anspruch auf Originalität im B umke schen Sinne (s. dazu S. 83f. oben) erheben, so dass es keinen zwingenden Grund gibt, diese als redaktionell zu qualifizieren. Mit anderen Worten: Sie können «unecht» im Sinne von B ecker sein und daher der mittelniederdeutschen Übersetzungsvorlage angehört haben. Dies schließt freilich nicht aus, dass die lateinische Übersetzung einen redaktionell umgeformten Text bietet, dass also die Übersetzer des ›Fließenden Lichts‹ bearbeitend mit ihrer Vorlage umgegangen sind. Dies soll in Kapitel II.2.3 anhand einiger inhaltlicher Veränderungen, die der deutsche Text bei seiner Überführung ins Lateinische erfahren hat, exemplarisch aufgezeigt werden. Daran schließt sich ein etwas längerer Exkurs (Kap. II.2.4) über den Entstehungsort der ›Lux divinitatis‹ und über mögliche Überlieferungswege des ›Fließenden Lichts‹ und seiner lateinischen Übersetzung in den deutschen Südwesten an. II.2.1 Varianz in Textfolge. Umstellungen im deutschen und lateinischen Überlieferungszweig Unter formal-inhaltlichen Aspekten hat man die Art und Weise, wie das ›Fließende Licht‹ ins Lateinische übertragen wurde, als Konventionalisierung beschrieben. Ein inkommensurables und ungewöhnliches Werk sollte kommensurabel gemacht und in Gewohntes überführt werden. 255 Am augenfälligsten zeigt sich dieses Bestreben an der Umorganisation des Textmaterials. Zwar wird die Zahl der sechs Bücher der mittelniederdeutschen Vorlage beibehalten, die Kapitel werden jedoch umgestellt, ihre Reihenfolge nach dogmatisch-theologischen Gesichtspunkten geändert. 256 Was auf diese Weise entstanden ist, ist ein Werk mit thematisch mehr oder weniger kohärent in Einzelbücher geordneten Offenbarungswahrheiten einer femina sancta, die zumindest in dem dem Textcorpus vorausgeschickten bio-bibliographisch orientierten Prolog und in der apologetisch motivierten Praefatio anonym bleibt. Mit Prolog und Praefatio am Anfang korrespondieren zwei Kapitel 158 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 255 Vgl. V ollmann- P rofe (2000), S. 152. 256 Die thematischen Schwerpunkte der einzelnen Bücher der ›Lux divinitatis‹ arbeitet B ecker (1951), S. 155-188 bis auf das fünfte Buch - ein «Beginenbuch» gibt es genau genommen nicht, vgl. S. 323ff. weiter unten - konzise heraus. <?page no="169"?> (FL IV.28 und VI.20) am Schluss, die epilogartig wirken und vornehmlich vom b v ch handeln. Ein dem Ganzen - und nicht allein den einzelnen Büchern wie in E - vorangestelltes Register, das aus Kapitelüberschriften besteht, erschließt das Corpus. 257 Doch nicht nur die Makrostruktur wurde verändert. Auch so manche Kapitel wurden neu konstituiert. Folgende redaktorische Eingriffe lassen sich auf der Ebene der Kapitel feststellen: 258 Zusammenfassungen (kürzere deutsche Kapitel werden in der Regel unter einer Überschrift mit mehreren anderen Kurzkapiteln oder einem längeren Kapitel zusammen aufgeführt), Aufgliederungen (betroffen davon sind vor allem lange deutsche Kapitel, die der Übersichtlichkeit halber in kleinere Texteinheiten aufgeteilt und mit Überschriften versehen werden) und vereinzelt Kapiteltrennungen (Schluss- oder Anfangsteil eines deutschen Kapitels werden getrennt und an verschiedene Stellen des lateinischen Textes versetzt). Stärkere Eingriffe dagegen, etwa die Entnahme eines Mittelstückes oder anderer Abschnitte und ihre Inserierung an einer anderen Stelle, sollen bis auf eine Ausnahme nicht vorgenommen worden sein. 259 Diese vermeintlich einzige Ausnahme findet sich in dem umfangreichen, mit zahlreichen apokryphen Elementen durchsetzten Kapitel FL V.23, das dem Thema ‹Geburt Christi› gewidmet ist. Die ›Lux divinitatis‹ stellt um und bringt das Textstück FL V.23: 366,5-12 (V.23,50-55) im Anschluss an 368,12 (V.23,83): und er [der Satan] sach das kint vil arglichen an (vgl. LD I.14, 6-13/ Rev. Bd. II.2, S. 458,12-22, LG I.14,10-19). Wie die Herausgeber der ›Revelationes‹, die das genannte Textstück stillschweigend an die von E vorgesehene Stelle zurück versetzt haben, ist auch B ecker der Ansicht, «dass die Stellung in E die ursprüngliche ist und in B [= Rb] (wie auch schon in Wol [= Rw]) nur ein Versehen vorliegt, denn der relativische Anschluss ‹quem› (Rev. 549,34 [= LD I.14,13]) bezieht sich natürlich auf ‹parvulum›.» 260 Mit anderen Worten: Die Stellung von FL V.23: 366,5-12 (V.23,50-55) in der ›Lux divinitatis‹ ist unecht, die in E dagegen echt. Eine Entscheidung über die Echtheit bzw. Unechtheit des genannten Textstückes, die allein aufgrund des Vergleichs mit E gefällt wird, halte ich für nicht gesichert. B ecker s Urteil gründet auf zwei Postulate. Zum einen geht er davon aus, dass die Textfolge in E authentisch ist, das heißt, auf Mechthild selbst zurückgeht, und zum anderen setzt er als selbstverständlich voraus, dass die mittelniederdeutsche Vorlage der ›Lux divinitatis‹ eine mit E identische Text- Varianz in Textbestand und Textfolge 159 257 Die Kapitelzählung mit arabischen Ziffern am Rande der einzelnen Überschriften ist im Rb-Register neueren Datums und fehlt auch nicht zufällig in Rw, vgl. B ecker (1951), S. 7. Auch Ra weist ein Register mit Kapitelüberschriften und Zählung auf. Allerdings haben wir es hier nicht mit einer Corpus-, sondern einer umfangreichen Exzerpthandschrift zu tun. 258 Vgl. B ecker (1951), S. 149f. 259 So B ecker ebd., S. 150. V ollmann- P rofe (2000), S. 151, Anm. 29 ist gar der Ansicht, dass Textumstellungen innerhalb der Kapitel nicht erfolgt sind. 260 B ecker (1951), S. 151. <?page no="170"?> gestalt bot. Diese letztere Annahme erscheint keineswegs zwingend, denn es ist durchaus möglich, dass die Umstellung schon in der deutschen Vorlage der lateinischen Übersetzung durchgeführt wurde. 261 Die Verbindung beider Textstellen erfolgt nämlich über ein Stichwort. FL V.23: 366,5-12 (V.23,50-55) berichtet, dass die Empfängnis und die Geburt Christi stattgefunden haben, ohne dass der hellen geist etwas davon erfahren hätte. Es ist dieses Motiv des getäuschten Satans, 262 das an jener späteren Stelle thematisiert wird, wo FL V.23: 366,5-12 (V.23,50-55) im lateinischen Text erscheint. Solche Verknüpfungen über das Stichwortprinzip sind auch in der als authentisch geltenden Handschrift E bezeugt, können also nicht von vornherein als redaktionell qualifiziert werden. Hier einpaar Beispiele: Um der These von der Zergliederung und Neuzusammensetzung von Kapiteln nach dem Stichwortprinzip durch Heinrich von Halle, den vermeintlichen Redaktor von Mechthilds Schriften, Evidenz zu verleihen, hat S tierling unter anderem auf FL VI.8 hingewiesen. Er ist der Meinung, dass 446,20 (VI.8,5f.) ze glicher wis alse sich die helige drivaltekeit hat erlich gesetzet 263 ob allen dingen in die wunnenklichen h o hin mit allen sinen tugentlichen vrúnden, da nach iemer erlichen, sch o ne und vr o denrich, alse si das lobeliche glichnisse siner g o tlichen tugenden mit inen bringent und 448,7f. (VI.8,17f.) Also ist der súndig túfel Lucifer versunken under allen dingen mit allen den alleine, die untugende minnent und meinent durch eine Interpolation auseinander gerissen wurden. 264 Zu dieser Annahme sieht sich S tierling nicht nur durch die Überschrift veranlasst, die den Inhalt des interpolierten Teils übergeht, sondern auch durch die ›Lux divinitatis‹: «Der Übersetzer hat nämlich die beiden Satzteile, die im Deutschen durch das ‹als … als› ihre Beziehung zu einander zwar zu erkennen geben, aber durch den zehnzeiligen Einschaltesatz in ihrer Zusammengehörigkeit unklar werden, zu zwei selbständigen Sätzen gemacht und das Vergleichsmoment, worauf es ankommt, beim zweiten n e u hinzugefügt: ‹Diabolus … sic … est demersus, sicut Deus … exaltatur› 631 6u [= LD VI.14,10].» 265 Dass im zweiten Satzteil tatsächlich an einen vorangehenden Gedanken angeknüpft wird, hat nicht nur der Übersetzer, sondern auch der Schreiber 160 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 261 Das Argument des relativischen Satzanschlusses, das den sekundären Charakter der Stellung von FL V.23: 366,5-12 (V.23,50-55) in ›Lux divinitatis‹ beweisen soll (s. Anm. 260 mit Text), greift nicht, denn quem bezieht sich auf infans im vorangehenden Satz 262 Zu diesem aus den Apokryphen (›Himmelfahrt Jesajas‹) sowie den Schriften der Theologen des 2. und 3. Jahrhunderts (Ignatius von Antiochien, Origenes) bekannten Motiv s. G. S chneider (1995), S. 308-313 sowie C rouzel (1962), S. 34f. 263 V ollmann -P rofe (2003), S. 816, Anm. zu 446,20f. konjiziert mit Blick auf den folgenden Satzteil, der sonst defektiv bleiben würde, wie folgt: Ze glicher wis alse die helige drivaltekeit hat er [Jesus Christus] sich gesetzet … Die Konjektur leuchtet ein, allerdings ist die Heilige Dreifaltigkeit auch in der lateinischen Übersetzung das Subjekt der Aussage (und nicht Christus), vgl. LD VI.14,2f.: Sancta trinitas super celsitudinem exaltata resedit … (Rev. Bd. II.2, S. 631,17f.). Offenbar liegt hier ein alter Fehler vor. Gemeinsame Korruptelen findet man auch sonst im deutschen und lateinischen Überlieferungszweig des ›Fließenden Lichts‹, s. dazu S. 263f. weiter unten. 264 Vgl. S tierling (1907), S. 73. 265 S tierling ebd., S. 74 (Sperrung von S tierling ). <?page no="171"?> der Handschriften Rb bzw. Rw erkannt: Die Schreiber beider Handschriften haben versucht, die Zusammengehörigkeit der beiden durch eine Interpolation auseinander gerissenen Textpartien auch optisch zum Ausdruck zu bringen, indem sie den Passus Dyabolus et sathanas … vom vorangehenden absetzen. 266 Es spricht demnach einiges für die Richtigkeit der Beobachtung von S tierling . Wie steht es nun aber mit dem Interpolierten selbst? Ohne die Ansicht von S tierling zu teilen, wonach der in FL VI.8 interpolierte Abschnitt FL II.3: 80,30f. (II.3,25f.) entnommen worden wäre, 267 halte ich es für durchaus denkbar, dass die Einbindung des neuen Textstückes über das Stichwort tugende erfolgte, vgl. … alse si das lobeliche glichnisse siner g o tlichen tugenden mit inen bringent. Ja, ein ieglich tugent, die hie in ertrich wirt gefrúmet … (FL VI.8: 446,23-25 [VI.8,7-9]). Auf eine solche Vorgehensweise trifft man auch sonst im ›Fließenden Licht‹. In dem FL V.24: 380,9-12 (V.24,34-36) vorangehenden Abschnitt ist von zwei Söhnen die Rede, die Gott von seiner Braut, der heiligen Christenheit gewonnen, und die sie an ihren Brüsten, dem alten und dem neuen Testament, aufgezogen hat. Bevor die zwei Söhne mit dem Dominikaner- und Franziskanerorden identifiziert werden, wird folgender Satz «ganz fremden Inhalts, in dem aber auch ‹die alte e und die núwe e› genannt werden», 268 eingeschoben: Dis sprach p ch únser herre: »Man solte nieman ze priester wihen, er k o nde denne beide, die alten e und die núwen e, wan uf einem f v sse mag nieman ze hove gan und p ch nit lange ze dienste stan.« Dass es sich um eine Interpolation handelt, ist offensichtlich. Dies hat selbst N eumann , einer der schärfsten Kritiker der S tierling schen Zerstückelungstheorie, nicht bestreiten wollen. Anders als S tierling , der solche und ähnliche Interpolationen 269 dem Redaktor zur Last legt, 270 scheint der «den Zusammenhang störende Einschub» - er fehlt im Übrigen in der lateinischen Übersetzung (vgl. LD II.14/ Rev. Bd. II.2, S. 493 bzw. LG II.14) - N eumann «von Mechthild selbst nachträglich eingesetzt zu sein, zumal der Hinweis auf den Hofdienst ihrer Vergleichssphäre entspricht.» 271 Und ein letztes Beispiel: FL VI.1 stellt das erste von insgesamt drei Kapiteln vom Anfang des sechsten Buches dar, die sich mit der rechten Lebensweise geistlicher Würdenträger (hier: von Ordensoberen) beschäftigen. In FL VI.1: 422,28-32 (VI.1,60-63) wird dem Ordensoberen nahegelegt, er solle die Bauwut seiner Mitbrüder bändigen und sie dazu anleiten, in ihrer Seele einen Palast für die heilige Dreifaltigkeit zu errichten, geziert mit dem zimber der heligen schrift und mit den steinen der edelen tugenden. Der darauf folgende, in der überlieferungskritischen Ausgabe vierzehn Zeilen um- Varianz in Textbestand und Textfolge 161 266 Vgl. Rb fol. 89 ra (LD VI.14,10/ Rev. Bd. II.2, S. 631,29) und Rw Bl. 208 (LG VI.14,16). Rb benutzt sogar die sonst für den Initialbuchstaben eines neuen Kapitels reservierte Lombarde, um den neuen Absatz zu kennzeichnen. 267 Vgl. S tierling (1907), S. 74. 268 S tierling ebd., S. 18. 269 Vgl. S tierling ebd., S. 17f. u.ö. Freilich sind nicht alle Belege, die S tierling zur Begründung seiner These von einer zumindest in Ansätzen planvollen Bearbeitung des ›Fließenden Lichts‹ anführt, so aussagekräftig wie die oben genannten. Dies hat dazu geführt, dass S tierling s Zerstückelungstheorie zum «peccatum originale seiner in manchem sonst nützlichen Arbeit» (N eumann 1954b, S. 65) erklärt wurde. 270 Vgl. S tierling (1907), S. 74. 271 N eumann (1993), S. 99, Anm. zu V.24,34-36. <?page no="172"?> fassende Passus (422,32-424,8 [VI.1,63-73]) - es ist immer noch der Prior, der spricht 272 - fehlt LD V.13/ Rev. Bd. II.2, S. 600 bzw. LG V.10. Das Verbindungsglied zu dem im lateinischen Text fehlenden Teil stellt das Stichwort der erste stein her. Anders als B ecker , der den in LD fehlenden Passus für eine spätere Interpolation hielt, da «einem hervorgehobenen ‹ersten stein› (173,24 [= FL VI.1: 422,32]) kein zweiter, dritter etc. folgt», 273 ist N eumann der Ansicht, der erste stein sei «wohl als »Grundstein« aufzufassen, nicht als Beginn einer (dann unterlassenen) Aufzählung von mehreren »Steinen«.» 274 Dieses Urteil ist vom Standpunkt N eumann s her betrachtet nur allzu verständlich, erinnert doch die Hypothese, FL VI.1: 422,32-424,8 (VI.1,63-73) sei nach dem Stichwortprinzip hier eingeschoben worden, an S tierling s ‹Zerstückelungstheorie›, wo solche Eingriffe ja einem mit dem Textmaterial frei schaltenden Redaktor zugeschrieben werden (s. Anm. 270 oben mit Text). Dies will N eumann freilich nicht gelten lassen, denn er möchte S tierling s Ansichten über die Textgeschichte des ›Fließenden Lichts‹ aus der Mechthild-Literatur am liebsten gänzlich verbannt sehen (s. Anm. 269 oben). Für ein solches Anathema liefert B ecker freilich keinen Anlass, denn für ihn steht außer Frage, dass es Mechthild selbst war, die den Abschnitt nachträglich eingeschoben hat. 275 Bemerkenswerterweise charakterisiert B ecker das in der ›Lux divinitatis‹ fehlende Textstück als «Auslassung» (ebd.), obwohl es von Mechthild erst eingeschoben worden sein soll, als der Text zur Übersetzung freigegeben wurde. Das heißt, die Übersetzer konnten die Passage noch nicht kennen, ergo auch nicht ausgelassen haben. Wenn sich Einschaltungen nach dem Stichwortprinzip auch sonst in E nachweisen lassen und wenn man mit B ecker und N eumann annehmen darf, dass sie von Mechthild selbst vorgenommen wurden, so wird man für das in der ›Lux divinitatis‹ um mehrere Zeilen versetzte Textstück FL V.23: 366,5-12 (V.23,50-55) die gleiche Originalität reklamieren dürfen wie für die sonstigen, nur aus E bekannten Interpolationen. Allerdings ist die Ansicht, Einschaltungen seien auktorial verantwortet, nicht zwingend und schon gar nicht beweisbar. Für Einschaltungen allgemein gilt das, was H auck in Bezug auf das Einschiebsel FL II.24: 380,9-12 (II.24,34-36, s.o.) festgestellt hat: «Freilich bleibt dabei die Frage offen, ob es auf Rechnung eines Redaktors oder der Verfasserin selber kommt.» 276 Die Frage nach der Zuweisung von Texten, die von dem jeweils anderen Überlieferungszweig her gesehen als Auslassung, Ergänzung oder Umstellung erscheinen, wird uns noch beschäftigen (s. dazu Kap. II.3). Mir kommt es hier auf etwas anderes an. Ich will darauf hinweisen, dass es keinen erkennbaren Grund dafür gibt zu behaupten, zur Versetzung von FL V.23: 366,5-12 (V.23,50-55) um mehrere Zeilen wäre es erst bei der Übersetzung gekommen, denn das zeilenversetzte Textstück könnte ja schon in der mittel- 162 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 272 Vgl. die Anrede Lieben br v dere, wir wellen buwen etc. (FL VI.1: 424,5 [VI.1,70f.]). Dass es sich um direkte Rede handelt, geht - anders als bei V ollmann- P rofe - aus der N eumann schen Ausgabe optisch nicht hervor. 273 B ecker (1951), S. 105. 274 N eumann (1993), S. 109, Anm. zu VI.1,63. 275 Vgl. B ecker (1951), S. 105. 276 H auck (1911), S. 190. <?page no="173"?> niederdeutschen Vorlage der lateinischen Übersetzung enthalten sein, deren Autornähe hier nicht zur Diskussion steht. Zu der Annahme, dass der ›Lux divinitatis‹ eine von E partiell abweichende Version des deutschen Textes vorgelegen haben kann, veranlasst mich die Tatsache, dass FL V.23: 366,5-12 (V.23,50-55) nicht, wie von B ecker (s. S. 159, Anm. 259 mit Text) behauptet, der einzige Beleg für Textumstellung in der lateinischen Übertragung ist, sondern ihm noch weitere an die Seite gestellt werden können, die allerdings nicht über das Stichwortprinzip vorgenommen, sondern meist durch Zeilentausch erfolgt sind. Auch hierfür seien einpaar Belege genannt: FL V.23 weist in der ›Lux divinitatis‹ eine Reihe von Abweichungen dem deutschen Text gegenüber auf, unter anderem auch Umstellungen. So wird FL V.23: 368,1 (V.23, 75): Die engele sungen gotte einen lobesang vorgezogen und nach brust (366,29 [V.23, 68]) eingefügt (vgl. LD I.13,24f./ Rev. Bd. II.2, S. 459,3f. bzw. LG I.13,40f.). Eine weitere unauffällige Umstellung findet sich gegen Ende des Kapitels. E liest: Aber blibet er [Jesus] reine von allen súnden und nimet man im sinen lip unverschuldet, so geh o rt er nit z v der helle, wand nie engel noch mensche wart ane schulde verd u met (374,17-20 [V.23,173- 175]). In der lateinischen Übersetzung schließt sich wand - verd u met dem im deutschen Text vorangehenden Satz an: mer er [Jesus] selber m v s mit den erbesúnden varen z v der helle (vgl. LD I.17,21-23/ Rev. Bd. II.2, S. 463,24-27 bzw. LG I.17,27f.). Im Kapitel FL III.9 wird an einer Stelle berichtet, noch vor der Erschaffung des Menschen hätte die Dreifaltigkeit den Entschluss gefasst, die Engel zu erschaffen. Gottvater willigte ein. Daraufhin liest man im deutschen Text: Do der engel geschaffen was, ir wissent wol, wie es geschach! Were der engel val vermitten, der mensch m u ste doch geschaffen wesen. Der helig geist teilte mit den engeln sine miltekeit, das si úns dienent und sich vr o went aller únser selekeit (174,32-176,4 [III.9,18-21]). Im lateinischen Text fehlt der an das Vorwissen der Leser appellierende Satz. Auch ist die Reihenfolge der beiden nachfolgenden Sätze vertauscht (vgl. LD I.5,13-16/ Rev. Bd. II.2, S. 451,3-6 bzw. LG I.5,19-23). FL IV.22 handelt von der Vision eines Dominikaners namens Heinrich. Vor der Schilderung seiner Aufnahme in den Himmel durch Gott bzw. Dominikus findet man eine Hommage auf den Ordensgründer, der wie ein Nachtrag wirkt: Sant Dominicus ist vor den andern [in 290,20 (! ) war von jenen Predigerbrüdern die Rede, die sich wie Heinrich wegen ihres Lebenswandels als würdig erwiesen haben, ausgezeichnet zu werden] unzellich sch o ne, wan er hat von ieglichem br v der sunderlich wirdekeit ze lone. Ich sach in sunderlich gekleidet an drierleie wirdekeit. Er treit ein wisses kleit der angebornen kúscheit, dar z v ein gr u n kleit der wahsenden gotz wisheit und da z v ein umbespenget rot kleit, wan er die marter geistlichen leit (290,27-32 [IV.22,27-31]). Unmittelbar danach stößt man auf folgenden Satz mit einem unvermittelten Subjektwechsel: Si [gemeint sind die in 290,20 genannten Predigerbrüder! ] hant ein herzeichen von des ordens wirdekeit, das nieman me treit: ein sch o nú baner gat in vor; den volgent alle die nach, die hie an irme rate stant. Den letzten Satz findet man in der lateinischen Übersetzung vorgezogen. Man liest hier: Sequebantur autem omnes predicatores . ac eorum consilijs adherentes insigneque preferebatur uexillum quod nulli nisi ipsorum erat congruum dignitati (LD II.35,30-32/ Rev. Bd. II.2, S. 512,14f., LG II.32,39-41: Do Varianz in Textbestand und Textfolge 163 <?page no="174"?> volgent hernach alle prediger vnd die so yren raeten haben angehangen · vnd Solcher wurdigkayt ward vorgetragen ein heerlichs fenlin). 277 FL V.4 enthält gegen Schluss eine Reihe von parallel laufenden Sätzen, die einzelne Eigenschaften der unverwandelten Seele herausstellen und sie mit denen einer verherrlichten Seele konfrontieren. In der lateinischen Übersetzung erscheint FL V.4: 328,34 (V.4,60): si ist also k u ne, si ist aber also stark nit um zwei Positionen weiter nach hinten verschoben und folgt erst auf vr o lich nit (328,36 [V.4,61], vgl. LD IV.36,17/ Rev. Bd. II.2, S. 569,5 bzw. LG IV.34,25). FL V.7 besteht aus einem fünfgliedrigen widerlob der Seele. Die beiden letzten Apostrophen der Seele: du bist ein v o gtin der túfeln, du bist ein spiegel der inwendigen anschowunge tauchen in LD IV.16,12f. (Rev. Bd. II.2, S. 554,1f.) in vertauschter Reihenfolge auf (Text von LG IV.15 beschädigt). FL I.29 weicht sowohl in der Reihenfolge als auch im Bestand der Passionsstationen von dem Text ab, den LD I.23,7f. (Rev. Bd. II.2, S. 468,3f.) als Übersetzungsäquivalent bietet (ähnlich LG I.23,8f.). Auf Umstellungen stößen wir auch im zweiten compassio-Kapitel des ›Fließenden Lichts‹ (III.10). Wie in FL I.29 ist die passio christi das strukturgebende Prinzip, allerdings ist es hier nicht mehr der Herr, der die Seele mit dem Verweis auf seine Passion zur Nachfolge aufruft, sondern die Seele selbst ist das Subjekt. Umgestellt werden Sätze an folgenden zwei Stellen der lateinischen Übersetzung: Si treit ir crútze in einem s u ssen wege, wenne si sich gotte werlich in allen pinen gibet. Ir h p bt wirt gesclagen mit einem rore, wenne man ir grosse helikeit glichet einem toren 184,5-8 (III.10,26-28), vgl. LD I.22,16f./ Rev. Bd. II.2, S. 467,24-26 bzw. LG I.22,24-26, und So wirt si denne in einem heligen ende von irem crútze genomen. So spricht si: »Vatter, enpfahe minen geist, nu ist es alles vollekomen« 184, 27-29 (III.10,40-42), vgl. LD I.22,26f./ Rev. Bd. II.2, S. 468,5-7 bzw. LG I.22,40-42. Die Umstellungen sind nicht jener Art, dass sie den Inhalt wesentlich verändern würden. Sie reichen nicht, um - setzt man sie für die deutsche Vorlage der ›Lux divinitatis‹ an - von «Neufokussierung» oder «Fokusverschiebung» (S chiewer ) sprechen zu können (s. dazu S. 87 oben). Auch sind sie nicht systematisch vorgenommen worden, sondern scheinen eher akzidentieller Natur zu sein, weshalb ich vor dem Hintergrund der von B umke angestoßenen Textualitätsdebatte auch dazu neige, nicht von Fassungen, sondern von Versionen zu reden: Dieser Begriff scheint mir terminologisch weniger vorbelastet zu sein. Wenn die genannten Umstellungen in der Forschung bis jetzt überhaupt registriert wurden, hat man sie den Übersetzern des ›Fließenden Lichts‹ zugeschrieben. 278 E kommt also die Funktion zu, die authentische 164 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 277 Das recte Gesetzte fehlt in Rb und Rw, nicht jedoch bei Dietrich von Apolda. Dies lässt auf einen Defekt in der oberdeutschen Handschriftentradition der ›Lux divinitatis‹ schließen, zu deren Heilung Dietrich auch sonst die eine oder die andere Lesart beizusteuern vermag. Zur Emendation von LD II.35,30f. (Rev. Bd. II.2, S. 512,14f.) s. S tier ling (1907), S. 10f. und B ecker (1951), S. 15. 278 Vgl. N eumann und B ecker zu FL V.23: 366,5-12 (V.23,50-55, s. S. 159, Anm. 260 mit Text). Ähnlich äußert sich T aigel (1955), S. 67, Anm. 2 zu FL III.9: 174,32-176,4 (III.9,18-21). <?page no="175"?> Satzfolge zu verbürgen. Wohl hat man vereinzelt erwogen, die ursprüngliche Reihenfolge könnte in der ›Lux divinitatis‹ erhalten geblieben sein, 279 doch war diese Erwägung mit der Annahme verbunden, im deutschen Überlieferungszweig liege eine Störung, ein ‹echter Zeilentausch› (B ecker ) vor, der nach der Variante der ›Lux divinitatis‹ zu beheben sei. Eine solche Einschätzung des textgeschichtlichen Befunds war nur möglich, weil man davon ausging, die ›Lux divinitatis‹ hätte eine mittelniederdeutsche Handschrift zur Vorlage gehabt, aus welcher auch E hervorgegangen ist. Dass die oben aufgeführten Varianten der lateinischen Übersetzung auf eine in der Textfolge von E partiell abweichende Version des ›Fließenden Lichts‹ zurückgehen können, zog man dagegen nicht in Betracht. 280 Mit dieser Möglichkeit ist jedoch zu rechnen, wie der Blick auf eine bislang übersehene Exzerptüberlieferung von FL III.10 zeigt. Wie sein lateinisches Pendant (s.o.) weist dieses Kapitel, das in einer heute als verschollen geltenden Handschrift überliefert ist, charakteristische Abweichungen in Textfolge und zum Teil in Textbestand gegenüber E auf, die durch kopiale Überlieferung entstanden sind. Überlieferungsbedingt können auch manche oben angeführten Umstellungen sein, die den lateinischen Text gegenüber dem deutschen auszeichnen. In diesem Fall wäre die deutsche Vorlage der ›Lux divinitatis‹ keine Handschrift, die, wie immer behauptet, dem Original besonders nahe stand, sondern ein bereits in die kopiale Überlieferung eingegangenes Exemplar des ›Fließenden Lichts‹, dessen Autornähe ich an dieser Stelle offen lassen will (s. dazu S. 272ff. weiter unten). Streng genommen haben wir es nicht mit einem Neufund zu tun. F ranz J oseph M one hat 1846 aus einer damals im Privatbesitz des Generalleutnant Joseph Maria von Radowitz (1797-1853) in Karlsruhe befindlichen Handschrift mehrere Texte veröffentlicht. 281 In jenem Teil seines Buches, das dem Thema ‹Leiden Christi bei den Mystikern› gewidmet ist, druckt M one unter dem handschriftlichen Titel Dis ist ein passio einer minnender sele, die si hat in der waren gottis liebi einen Text ab, 282 den R omuald B anz und E lisabeth S chwarz -M ehrens unabhängig voneinander als Exzerpt aus Mechthilds ›Fließendem Licht‹ (Kap. III.10) identifizierten (Sigle: R). 283 Obwohl die Dissertation von S chwarz -M ehrens keineswegs unbekannt ist, hat die Mechthild-Forschung von Varianz in Textbestand und Textfolge 165 279 Vgl. O ehl (1911), S. 95, Anm. 2 zu FL III.10: 184,5-8 (III.10,26-28): «Dieser und der nächste Satz sind im altdeutschen Text umgestellt, im lateinischen in rechter Folge.» Derselben Meinung sind die Herausgeber der ›Revelationes‹, vgl. Rev. Bd. II.2, S. 467,24- 26. Die Sicherheit, mit der O ehl an dieser Stelle zwischen richtig und falsch zu entscheiden versteht, verwundert eigentlich, geht er doch davon aus, dass die lateinische Übersetzung auf einer von E abweichenden deutschen Vorlage gründet (zu den Hintergründen s. Kap. II.1.1). 280 Dies gilt auch für die Kapitelfolge, wenn auch nicht in dem von Teilen der früheren Forschung vermuteten Umfang, s. dazu Kap. II.1.2. 281 Vgl. M one (1846). Zu den einzelnen Texten s. S. 477f. weiter unten (R). 282 Vgl. M one (1846), Bd. 1, S. 129-131. 283 Vgl. B anz (1908), S. 51, Anm. 1 und S chwarz -M ehrens (1985), S. 9, Anm. 2 und S. 157, Anm. 2. <?page no="176"?> dieser Handschrift keine Notiz genommen. Nicht einmal S chwarz -M ehrens selbst scheint sich dessen bewusst gewesen zu sein, dass es sich um eine bislang unbekannte Exzerptüberlieferung des ›Fließenden Lichts‹ handelt. Die Handschrift gilt als verschollen. 284 Den Nachlass des 1853 verstorbenen Generalleutnant Joseph Maria von Radowitz, der seit 1842 einige Zeit als preußischer Gesandter in Karlsruhe lebte, 285 hat die Königliche Bibliothek Berlin von einem Nachfahren, dem Generalmajor Clemens von Radowitz (1832-1890), im Jahre 1894 erworben. 286 Unser Band scheint nicht nach Berlin gekommen zu sein. Kurt Heydeck (Berlin) hat auf eine briefliche Anfrage von Klaus Klein (Marburg) hin die im Akzessions-Journal aufgeführten Handschriften aus dem Nachlass Radowitz überprüft, konnte jedoch keine Handschrift finden, die die von M one abgedruckten Texte aufweist. 287 Heydeck hält es für denkbar, dass Teile des Radowitz-Nachlasses anderswohin verkauft worden sind. 288 Alles, was wir über die Handschrift wissen, verdanken wir den lapidaren Mitteilungen von M one . Demnach haben wir es mit einem Band im Kleinoktavformat (Duodecim) zu tun. Beschreibstoff ist Pergament, was auf das hohe Alter der Handschrift schließen lässt. M one s Datierung in das 13. Jahrhundert 289 kann für den Auszug aus dem ›Fließenden Licht‹ (fol. 18ff.) unmöglich zutreffen, denn es handelt sich um einen Textzeugen der oberdeutschen Mechthild-Überlieferung (s. dazu unten). Im oberdeutschen Raum ist der Text nach unseren jetzigen Kenntnissen jedoch erst 1343-45 bekannt geworden. Von daher neigt man eher zu einer Datierung auf die Mitte bzw. die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts (s. dazu auch Anm. 299 weiter unten). Ins 14. Jahrhundert weist außer dem Mechthild-Exzerpt auch der dem bairisch-österreichischen Raum entstammende Beichtspiegel (fol. 1-4). 290 Nach einer Mitteilung von Ullrich 166 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 284 Als verschollen wird die Handschrift schon von S trauch (1910), S. 260 gemeldet. 285 Zu Radowitz s. ADB 27 (1888), S. 141-152 (R. von L iliencron ), DBE 8 (1998), S. 118 (H ans -C ristof K raus ) und NDB 21 (2003), S. 99f. (B ärbel H oltz ). 286 Vgl. Z iesche (2002), S. 169. Folgende Radowitz-Handschriften werden heute in der Staatsbibliothek Berlin aufbewahrt: Ms. theol. lat. oct. 140, Ms. theol. lat. qu. 277, Ms. germ. oct. 388 (Mua.: nürnbergisch), Ms. germ. fol. 1157 (Mua.: nordbair.), Ms. germ. fol. 1158 (Mua.: mittelbair.) und Ms. germ. fol. 1159 (Mua.: schwäbisch). 287 Mitteilung von Kurt Heydeck an Klaus Klein vom 21.10.2002, s. Handschriftencensus http: / / www.mr1314.de/ 1375 (Privatbesitz Joseph Maria von Radowitz, Karlsruhe, Stand: Februar 2009). 288 Zitiert aus der Mitteilung von Heydeck an Klein (Auskunft von Klaus Klein, Marburg). Wieviele Handschriften Radowitz gehört haben, ist unbekannt. Zwar gibt es einen Katalog der Sammlung aus dem Jahre 1864, Handschriften sind hier jedoch nicht verzeichnet, vgl. H übner -T rams (1864). 289 Vgl. M one (1846), Bd. 1, S. 129 und Bd. 2, S. 351. 290 Abgedruckt bei M one (1846), Bd. 2, S. 111-114. Dabei könnte es sich um eine Variante der von W eidenhiller (1965), S. 240-242 verzeichneten Beichtspiegel Nr. 4 (München, BSB, Cgm 827) oder Nr. 8 (München, BSB, Cgm 771) handeln. Vom Initium her sind sie einander ähnlich, unterscheiden sich jedoch im Textbestand. Weitere Beichtspiegel mit vergleichbarem Initium bieten: Augsburg, UB, Cod. III 1 8° 18, fol. 189 v- 191 v , Mainz, StB, Hs I 221, fol. 22 r- 23 v , München, BSB, Cgm 763, fol. 76 r- 78 v , Nürnberg, GNM, Hs 6805a, fol. 23 r- 24 r . Allerdings gehören gerade Beginn und Schluss zu den stabilsten Teilen eines Beichttextes. Sie ähneln sich daher häufig, während der meist aus Sünden- und <?page no="177"?> Bruchhold findet sich die Eingangsformel Ich gibe mich schuldik unserm herren und meiner frauwen sent Marien und allen gotes heiligen und eu priester an gotis stat etc. mit geringfügigen Abweichungen in einer Vielzahl von Beichttexten seit dem beginnenden 13. Jahrhundert. Der Zusatz an gotis stat tritt dagegen in den deutschsprachigen Beichten erst um 1300 auf, und zwar neben der Radowitz-Handschrift nur noch in einer gleichaltrigen Münchner und einer erst kürzlich aufgefundenen Frankfurter (Fragment)Handschrift, die ursprünglich aus dem Benediktinerkloster Engelberg stammt und aller Wahrscheinlichkeit nach auch dort geschrieben wurde (Datierung: 70er-80er Jahre des 14. Jahrhunderts). 291 Ullrich Bruchhold zweifelt an der Datierung von M one , denn ihm zufolge spricht der Sprachbestand des Beichtspiegels eher für das Bairische des 14. Jahrhunderts. Was die Provenienz von R betrifft, teilt uns M one Folgendes mit: «die Handschrift kommt aus Nürnberg.» 292 Allerdings ist der Aussagewert dieser Provenienzangabe sehr beschränkt, denn es ist unklar, ob dies bedeuten soll, dass sie in Nürnberg geschrieben wurde oder mit einem Nürnberger Besitzervermerk versehen war, in Nürnberg erworben wurde oder sich zu jener Zeit in Nürnberg befand. 293 Außer dem Mechthild-Exzerpt und dem Beichtspiegel druckt M one eine Abhandlung über die sieben Todsünden (fol. 31-40, Mua.: alem.) 294 und die Messauslegung ›Von den Zeichen der Messe‹ (Fassung A) Bertholds von Regensburg (fol. 5-12, Mua.: md.) ab. 295 Aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht ist die Berthold-Predigt von einem gewissen Interesse, denn sie ist auch in Mainz, StB, Hs I 221, fol. 61 r -76 r (Mitte/ 3. Viertel des 14. Jahrhunderts, Kartause Mainz, rheinfränk.) überliefert, in einer Handschrift wohlgemerkt, die auch den oben genannten Beichtspiegel auf fol. 22 r -23 v enthält. Aller- Varianz in Textbestand und Textfolge 167 Tugendkatalogen bestehende Hauptteil keine hohe textübergreifende Stabilität aufweist und häufig aus verschiedenen Quellen zusammengesetzt worden zu sein scheint. Deshalb sagt die angeführte Parallelüberlieferung - die Angaben beruhen auf den Initien und Schlusszeilen der in modernen Beschreibungskatalogen verzeichneten Beichtspiegel - nichts über die Verwandtschaft dieser Texte aus. Nach einer Mitteilung von Ullrich Bruchhold (Berlin/ München) dürften nur die wenigsten Beichten unmittelbar voneinander abhängen. Eine Handschrift des Beichttextes, der mit dem von M one abgedruckten verwandt wäre, findet sich unter der von B ruchhold gesichteten Überlieferung nicht, vgl. B ruchhold (2010). 291 Es handelt sich um München, BSB, Clm 213, fol. 187 r- 188 v (abgedruckt bei K oeniger 1908, S. 291-295) und Frankfurt, Stadt- und UB, Fragm. lat. III.41, fol. 3 vb (fragm.). Den Hinweis auf die Frankfurter Bruchstücke und Digitalisate verdanke ich Nigel F. Palmer. Für Angaben zur Datierung und zum Entstehungsort danke ich Mathias Stauffacher (Basel). Zur Handschrift s. demnächst W etzel / F lückiger / N emes / S tauffacher (2011). 292 M one (1846), Bd. 2, S. 351. 293 Das ist der Grund, warum die Provenienzangabe Nürnberg im Handschriftencensus unberücksichtigt blieb (briefliche Mitteilung von Klaus Klein, Marburg). Den Hinweis auf Nürnberg sollte man trotzdem nicht aus den Augen verlieren, zumal einer der von M one nach der Radowitz-Handschrift abgedruckten Texte (der Beichtspiegel) bairisch-österreichische Schreibsprache aufweist. Ins Bairische weisen auch die meisten nach Berlin gekommenen deutschen Handschriften aus dem Nachlass von Radowitz (s. Anm. 286 weiter oben). 294 Vgl. M one (1846), Bd. 1, S. 326-336. 295 Vgl. M one (1846), Bd. 2, S. 351-359. <?page no="178"?> dings bieten die Mainzer und die ehemals Radowitz-Handschrift unterschiedliche Fassungen der beiden Texte. 296 In mehreren Handschriften und in ähnlicher Zusammenstellung sind die Texte auf fol. 29 r -45 v der Mainzer Handschrift (unbekannte Hohelied-Predigten, ein Traktat über die Engel, ein Traktat über die Vollkommenheit, eine Ars-Moriendi-Predigt u.a.m.) ebenfalls überliefert: Dillingen, Kreis- und Studienbibliothek, Cod. XV 129 (um 1450, südrheinfränkisch), Mainz, StB, Hs I 51 (Mitte 15. Jahrhundert, Mainzer Kartause, rheinfränkisch), Hamburg, SUB, Theol. cod. 1082 (Mitte 15. Jahrhundert, rheinfränkisch) und Freiburg/ Br., UB, Cod. 63 (um 1455-58, Augustinereremiten St. Anna zum Grünen Wald in Freiburg, oberrheinisch, Vorlage: Mainz, StB, Hs I 51 oder Hamburg, SUB, Theol. cod. 1082). 297 Interessanterweise treten der Beichtspiegel und die Berthold-Predigt mit dem aszetisch-mystischen Textkomplex außer in der Mainzer Handschrift I 221 auch in der Dillinger Handschrift Cod. XV 129 im Überlieferungsverbund auf. Allerdings stehen die beiden Texte in der Dillinger Handschrift in zwei unterschiedlichen Faszikeln, die nur die Schreibsprache miteinander verbindet: Teil II datiert auf 1447 und ist von Johannes Syfer, Frühmesser in Sinsheim/ Rhein-Neckar-Kreis geschrieben und Teil III dürfte um die gleiche Zeit entstanden sein. 298 Der Dillinger Beichtspiegel stellt eine andere Fassung dar als diejenige, die in der Mainzer und Radowitz-Handschrift enthalten ist. Die Berthold-Predigt steht dagegen der Mainzer Fassung nahe. In welchem Überlieferungszusammenhang all diese Handschriften stehen, sollte näher untersucht werden. Kommen wir nun zum Mechthild-Exzerpt. Wie verhält es sich textgeschichtlich zur bekannten Überlieferung? Mit R liegt ein weiterer Textzeuge der Basler Übertragung des ›Fließenden Lichts‹ vor. Schreibdialektale Merkmale weisen auf den Oberrhein als Provenienzgebiet hin. 299 FL III.10 ist außer in R nur noch in E und W überliefert. Keine von beiden kann die unmittelbare Vorlage von R gewesen sein. Im Einzelnen lässt sich Folgendes sagen: E und W stehen einander näher, denn dort, wo E und W zusammengehen (*EW), bietet R Sonderlesarten (vgl. S. 478f. weiter unten, Apparat zu R). Gelegentlich kommt es allerdings auch vor, dass dort, wo E und W unterschiedliche 168 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 296 Zur Berthold-Predigt vgl. die Textabdrucke bei M one (Anm. 295 oben) und B entzinger (2000), S. 5ff. - Zum Beichtspiegel s. M one (Anm. 290 oben) und den Textabdruck nach der Mainzer Handschrift in der Münchner Dissertation von B ruchhold (2010). 297 Zu diesem Textverband s. N aser (1995), S. 235-237. 298 Vgl. W underle (2006), S. 274-281. 299 Nhd. Diphtongierung und Monophtongierung ist nicht durchgeführt. Mhd. <â> wird <a> geschrieben, mhd. <ei> bleibt <ei>. Das östliche Südalem. und das Schwäb. scheiden damit aus. Gegen das Ostalem. spricht auch die fehlende Gutturalisierung von <k>. Das Niederelsässische kommt ebenfalls nicht in Frage, weil die Rundung von <a> zu <o> nicht auftritt. Es bleibt das Westalemannische, genauer das Oberrheinische. Dafür sprechen folgende Merkmale: Wir stoßen auf <i> im Nebenton bei Substantiven wie liebi und gottis (s. dazu K leiber / K unze / L öffler 1979, S. 196 und Bd. 2, Karte 95). <s> steht für <sch> vor l in gehalsleget, geslagen, mensliche (s. dazu ebd., Bd. 1, S. 264 und Bd. 2, Karte 173). Außerdem begegnen uns die Endung -ent der 3. Pers. Sg. Präs. sowie die Wortformen dur (s. dazu ebd., Bd. 1, S. 301 und Bd. 2, Karte 210), nit/ niht (s. dazu ebd., Bd. 1, S. 119 und Bd. 2, Karte 24) und swenne (s. dazu ebd., Bd. 1, S. 270-271 und Bd. 2, Karte 179 und 180). Diese letztere Form sowie die <s>-Schreibung dokumentieren im Übrigen einen Sprachstand des 14. Jahrhunderts, vgl. K leiber / K unze / L öffler (1979), Bd. 1, S. 264 und S. 270. <?page no="179"?> Lesarten haben, R wechselweise mit einer der beiden zusammengeht, vgl. ez (das Fleisch) nit enweke R 5f.] si (die Seele) nit wenke E, sie nit weche W (s. dazu auch S. 480f. weiter unten, Anm. zu R 5f.) - verbunden R 7] verbunden E, ir verbunden W - ir got R 10] got ir E, got W - hat irkant R 14] bekennet E, bechant W (s. dazu auch S. 481 weiter unten, Anm. zu R 13f.) - ze zime lobe R 19] ze sinem lobe E, noch sinem lobe W - trunke R 23] trunke E, trucht W und gerne R 23] vil gerne E, gerne W. In manchen Fällen wird das textgeschichtliche Primat von Varianten, die in *EW und R scheinbar gleichwertig nebeneinander stehen, durch den lateinischen Text zugunsten von *EW entschieden, vgl. sunde R 11] súnden vleken E, súnden wegen von ir W, peccatorum maculas (LD I.22,8/ Rev. Bd. II.2, S. 467,10f., LG I.22,11f.: der massen yerer súnd) - ze liplichen dingen R 17] z v irem lichamen E (W), corpori suo necessaria (LD I.22,11f./ Rev. Bd. II.2, S. 467,18, LG I.22,17f.: dem leib notdorfft) - der minneklichen minne R 21f.] der starken minnel p ffe E (W), fortis amoris (LD I.22,18/ Rev. Bd. II.2, 467,28, LG I.22,27: der starcken liebin) - gef v ret R 26] geh o het E (W), erigitur (LD I.22,21/ Rev. Bd. II.2, S. 467,33, LG I.22,32: wirt vfferhebt) und flúzet R 27] vliessent us irem herzen E (W), de cuius corde profluit (LD I.22,23/ Rev. Bd. II.2, S. 468,1f., LG I.22,36: von welcher hertz herfúr fleúst). Manchmal verhält es sich jedoch auch umgekehrt, das heißt, die lateinische Übersetzung stützt R gegen *EW, vgl. der túfel … anvichtet R 12] die túfel … anvehtent E (W), a dyabolo … temptatur (LD I.22, 10/ Rev. Bd. II.2, S. 467,14, LG I.22,15: vom tufel wirt angefochten) - der ungesichteklichen minne R 27] der unschuldiger minne E (W), ceci amoris (LD I.22,23/ Rev. Bd. II.2, S. 468,1, LG I.22,35: der liebin), s. dazu auch S. 481f. weiter unten, Anm. zu R 27 - in ein grab R 29] in ein besclossen grab E (W), in sepulchro (LD I.22,27/ Rev. Bd. II.2, S. 468,7, LG I.22,43: in das grab) und mit einer wnneklichen schar der tugenden R 33f.] mit maniger tugentlicher schar E (W), cum uirtutum turmis (LD I.22,33/ Rev. Bd. II.2, S. 468,16, LG I.22,52: mit scharen der túgenden). Es wäre sicherlich vorschnell, weitreichende Schlussfolgerungen allein aus den Übereinstimmungen zwischen R und dem lateinischen Text zu ziehen, gäbe es nicht eine Stelle, die R bzw. *R in die Nähe der lateinischen Übersetzung rückt: Die E-Zeile wan si [die Seele] trunke vil gerne den lutern win von allen gotz kinden (FL III.10: 184,12f. [III.10,30f.]) entspricht in R unt trunke gerne lutern win, daz ist luters lebennes begert si von allen gottiskinden (Z. 22f.). daz ist luters lebennes begert si wirkt hier wie ein Einschub. Ein ähnliches Interpretament zu win - es dürfte sich ursprünglich um einen Randvermerk gehandelt haben, ablesbar an der Einleitungsformel das ist 300 - findet Varianz in Textbestand und Textfolge 169 300 Marginalien mit ähnlicher Einleitungsformel findet man in E und Rb immer wieder. Zu E vgl. Id est cum (zu FL I.44: 62,1 [I.44,52]) — Das ist Christus got unde mensche (zu FL II.21: 112,7 [II.21,6]) — i[d est] an der sul (zu FL III.10: 182,28 [III.10,17]) — Das ist den túfeln (zu FL V.1: 318,30 [V.1,24], ähnliche Glosse in Rb zu LD II.4,17/ Rev. Bd. II.2, S. 483,23, fehlt LG II.4). Zu Rb vgl. id est quam in celo habuimus ante casum nostrum (mit Einweisungszeichen zu LD I.17,10f./ Rev. Bd. II.2, S. 463,10, entsprechend FL V.23: 374,3 [V.23,162], fehlt LG I.17) und id est cum amaritudine (zu LD IV.2,10/ Rev. Bd. II.2, S. 541,5, entsprechend FL II.23: 118,12 [II.23,41f.], fehlt LG IV.2). Eine in den Text geratene Glosse stellt womöglich auch FL III.9: 178,21 (III.9,63f.): Dis ist der propheten sin dar. Dieser Satz ist sinnstörend. V ollmann- P rofe (2003), S. 756, Anm. zu 178,21-23 will durch Umstellung Herr über das Problem werden, das dieser Satz bereitet, und meint: «Es muß ein alter Fehler vorliegen: Die Rev. haben den Satz nicht übersetzt.» Diese Ansich <?page no="180"?> auch in der ›Lux divinitatis‹: uinum merum salutis […] cupiens (LD I.22,19/ Rev. Bd. II.2, S. 467,30). Allerdings begehrt die Seele hier nicht ein lauteres Leben wie in R, sondern den s u ssen wein des heils, wie es in der alemannischen Rückübersetzung (LG I.22,29) heißt. Es stellt sich die Frage, ob der Einschub in R in Anlehnung an den lateinischen Text formuliert wurde oder ob es sich um eine alte, bis zur mittelniederdeutschen Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹ zurückreichende Glosse handelt, die vom lateinischen Übersetzer in den Text gezogen, im anderen Überlieferungszweig des ›Fließenden Lichts‹ dagegen eine Zeit lang am Rande tradiert wurde, bis sie spätestens in *EW ausgefallen ist. Die Tatsache, dass die Handschrift, aus der R exzerpiert wurde, Glossen hatte, kann einer anderen Stelle entnommen werden. In der Höhe von Sie wirt geschreiget gesclagen findet man in E den Randvermerk: i[d est] an der sul. Mit dieser erläuternden und klar stellenden Wortglosse zu geschreiget - V ollmann -P rofe zufolge steht hinter der E-Lesart mhd. schreigat, ein nicht eben häufiges und daher leicht missverständliches Wort für Säule 301 - wurde der deutsche Text nicht erst in E versehen, denn sie taucht auch in R auf, allerdings nicht am Rande, sondern bereits im Text: so wirt si z v der súle geslagen (Z. 16). 302 Dies zeigt, dass das Glossenwerk, das den deutschen Text begleitet, unmöglich erst in E eingeführt worden sein kann, sondern um einige Textstufen zurück liegt. Man fragt sich, wie weit die Glossen zurückverfolgt werden können. Was die Querverweise betrifft, lässt sich mit großer Sicherheit sagen, dass sie bereits in der mittelniederdeutschen Vorlage der lateinischen Übertragung standen (s. dazu Kap. II.1.2). Dasselbe wird man auch für den Großteil der Wortmarginalien annehmen dürfen. 303 Demnach könnte die Glosse daz ist luters lebennes begert si sehr wohl ein Relikt im deutschen Überlieferungszweig sein, die sich bis R behauptet hat. Es ist also 170 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ nahme ist nicht zwingend, denn das Fehlen von FL III.9: 178,21 in LD I.8,14/ Rev. Bd. II.2, S. 452,35 bzw. LG I.8,20 lässt sich auch damit erklären, dass es sich ursprünglich um eine Glosse handelte (so T aigel 1955, S. 75, Anm. 2). Sie kann schon in der Vorlage der lateinischen Übersetzung gestanden haben (in diesem Fall wäre sie von den Übersetzern übergangen worden) oder erst in der zu E hinführenden Tradition in den Text gelangt sein. Die gleiche Provenienz ist für folgende Kapitelschlüsse anzunehmen: FL I.4: 28,3f. (I.4,11f.): Dis ist ein hovereise der minnenden sele, die ane got nút wesen mag (fehlt LD IV.24/ Rev. Bd. II.2, S. 559 bzw. LG IV.23) — FL I.9: 32,16f. (I.9,4): Glosa: das ist úber Seraphin (fehlt LD IV.8/ Rev. Bd. II.2, S. 546 bzw. LG IV.7) — FL I.11: 34,6 (I.11,3): Dis sint die vier, die gotte in sinem strite wol behagent (fehlt LD IV.10/ Rev. Bd. II.2, S. 547 bzw. LG IV.9) — FL I.35: 54,3 (I.35,15): So wonestu in der waren w u stenunge (fehlt LD V.23/ Rev. Bd. II.2, S. 609 bzw. LG V.18). Aber: FL I.28: 48,23 (I.28,10f.): Das ist der toren torheit: die lebent ane herzeleit (= LD IV.10,16/ Rev. Bd. II.2, S. 548,19f. und LG IV.9,23f.). Auch hier fragt man sich, ob es sich um Zusätze handelt, die auf Mechthild zurückgehen (so V ollmann- P rofe 2003, S. 710, Anm. zu 32,16f. in Bezug auf FL I.9: 32,16f. [I.9,4]), oder um Randvermerke von Rezipienten, die im Laufe der Überlieferung in den Text übernommen wurden. 301 Vgl. V ollmann- P rofe (2003), S. 757, Anm. zu 182,28. 302 Nach einem R vergleichbaren Prinzip emendiert V ollmann- P rofe (2003) handschriftliches Sie wirt geschreiget gesclagen in Si wirt an der schreigat gesclagen (182,28). Anders N eumann : Sie wirt gestreichet und gesclagen (III.10,17). 303 Vgl. V ölker (1967), S. 56 und N eumann (1993), S. 207. Ergänzend dazu S. 257ff. weiter unten. <?page no="181"?> nicht auszuschließen, dass sie den Übersetzer zur Formulierung uinum merum salutis […] cupiens veranlasst hat. Denkbar ist, wenn auch weniger wahrscheinlich, dass die Glosse erst in der oberdeutschen Tradition und in Kenntnis der ›Lux divinitatis‹ eingefügt wurde, liefern doch E und vielleicht auch B Indizien dafür, 304 dass die Möglichkeit, den deutschen Text mit dem lateinischen zu vergleichen, in der oberdeutschen Mechthild-Überlieferung immer wieder gegeben war. Trotz der Schwierigkeiten, die die Sonderlesarten bei der Bestimmung des genauen Verhältnisses von R zu *EW bereiten, eines lässt sich mit einiger Sicherheit feststellen: Zwischen R und der Basler Übertragung des ›Fließenden Lichts‹ liegen mehrere Abschriften, denn R teilt ein Korruptel mit *EW (s. S. 481 weiter unten, Anm. zu hern R 15) und weist eine Variante auf, die durch Abschreiben entstanden zu sein scheint, vgl. minne truwe R 33] minnerúwe E (W), FL III.10: 184,38 (III.10,47, amoris penitencia, LD I.22,31/ Rev. Bd. II.2, S. 468,12, LG I.22,48f.: in búßwertigkeyt seiner liebin). 305 An einer Stelle lässt R eine von N eumann aus *EW erschlossene mittelniederdeutsche Wortform noch durchschimmern (s. dazu S. 481 weiter unten, Anm. zu arcliche begriben R 13). R zeichnet ein ‹konsumatorischer› Umgang mit dem Kapitel III.10 des ›Fließenden Lichts‹ aus. Mehrere Passionsstationen fehlen, ohne dass ein Grund erkennbar wäre (vgl. S. 478f. weiter unten, App. zu R 4, 17, 19 usw.). Es kommt zu Zeilentausch (vgl. S. 479 weiter unten, App. zu R 11f.). Darüber hinaus - und das kann als typisch für R gelten - werden Sätze zersetzt, die Satzteile versetzt bzw. neu zusammengesetzt (vgl. S. 480 weiter unten, vor allem App. zu Z. 33-37). An einer Stelle taucht sogar eine Pluszeile auf: Nachdem die Seele von der Gewalt des Heiligen Geistes gebunden wurde (FL III.10: 182,13f. [III.10,8f.]), folgt der Satz: ir ougen werdent verbunden, so si sih h v tet vor unnutzen sehende ze allen stunden (R 7f.). Diese Pluszeile besteht aus einem Satzteil (ir - verbunden), der FL III.10: 184,3 (III.10,24f.) entnommen und hierher versetzt wurde. Das, was folgt, ist in E und W nicht bezeugt, fügt sich jedoch nahtlos in die Struktur des Kapitels. Das gilt auch für den Reim verbunden: stunden. Stünde uns die Parallelüberlieferung in E und W als Kontrollinstanz nicht zur Verfügung, gäbe es eigentlich keinen erkennbaren Grund, an der Authentizität der Pluszeile zu zweifeln, zumal das Reimpaar verbunden: stunden auch in dem als echt geltenden Mechthild-Corpus E bezeugt ist, vgl. entbunden: stunden (FL VII.35: 596,36 [VII.35,40]). Hier liegt ein weiterer Beleg für jenes ‹Schreiben im mechthildischen Ton› genannte und in der Überlieferung des ›Fließenden Lichts‹ auch sonst feststellbare Verfahren vor, das eine sichere Identifizierung des Echten und Authentischen erschwert (s. dazu S. 48f. oben). Vor diesem Hintergrund erscheint obsolet, eine Entscheidung darüber treffen zu wollen, ob die an zwei weiteren Stellen auftauchenden Reime - sie bestätigen überraschenderweise die am mechthildischen usus scribendi orientierten Konjekturen von N eumann - vom R-Redaktor hergestellt oder aus der Vorlage übernommen worden sind, vgl. gesant … Varianz in Textbestand und Textfolge 171 304 Zu E s. N eumann (1993), S. 27, Anm. zu I.45,3-18 — ebd., S. 56, Anm. zu III.9,70f. — ebd., S. 121, Anm. zu VI.15,43 — ebd., S. 209, Anm. 26 zu I.2,30 und ebd., S. 208. Zu B s. V izkelety / K ornrumpf (1968), S. 302. 305 Einen vergleichbaren Fall bietet die Parallelüberlieferung zu FL V.6: 334,16 (V.6,12): r v we E] trüw L (S trauch 1882, S. 256,18, Brief XLVIII), requies (LD IV.16,10/ Rev. Bd. II.2, S. 553,32; Text von LG IV.15 beschädigt), s. dazu V ölker (1967), S. 45f. und S. 41, Anm. 197 oben. <?page no="182"?> hat irkant (s. dazu S. 479 weiter unten, R 13f. mit Anm. auf S. 481) und diem v tikeit … weis (s. dazu S. 480 weiter unten, R 29 mit Anm. auf S. 482). Textausfälle sowie vertauschte und versetzte Zeilen, wie sie für FL III.10 außer in R auch in der ›Lux divinitatis‹ beobachtet werden können, scheinen Folgen einer handschriftlichen Reproduktionspraxis zu sein, die kopial verläuft. Die genannten Textveränderungen können mechanisch (durch Versehen beim Abschreiben) aufgetreten oder aber auch intendiert sein. Wichtig ist es mir im Hinblick auf die späteren Ausführungen, den Blick dafür zu schärfen, dass diese Veränderungen nicht erst bei der Übertragung des ›Fließenden Lichts‹ ins Lateinische vorgenommen worden sein müssen, sondern bereits in der deutschen Vorlagehandschrift der ›Lux divinitatis‹ enthalten sein können. Dasselbe gilt auch für solche mechanischen Fehler, wie Textausfall infolge von Augensprung (A) und Metathese, d.i. Lautumstellung bei graphisch verwandten Wörtern (B). Für Homöoteleuten-Lücken hat man sowohl die Übersetzer als auch die Überlieferung des lateinischen Textes verantwortlich gemacht. Metathese wurde dagegen vorzugsweise den Übersetzern zur Last gelegt, da man von der Annahme ausging, sie hätten nicht über ausreichende Kenntnisse des Mittelniederdeutschen verfügt, und dies obwohl die ›Lux divinitatis‹ in Halle entstanden sein soll (zur Neubestimmung des Entstehungsortes der lateinischen Übersetzung s. Kap. II.2.4). Ad A (Augensprung): FL I.22: 40,11 (I.22,27): Ie das minnebet enger wirt, ie die umbehalsunge naher gat diente schon immer als Beleg für das Bestreben der Übersetzer, weltlich-erotisch konnotierte Passagen zu übergehen (vgl. LD I.29/ Rev. Bd. II.2, S. 474 bzw. LG I.29). In Abgrenzung zu dieser Position und in Hinblick auf das ›Buch der Vollkommenheit‹ des Pseudo-Engelhart von Ebrach - FL I.22 ist bis auf 40,11 und deren nähere Umgebung in die Spruchsammlung eingegangen 306 - stellt S enne fest: «vielleicht hat sich aber auch einfach nur (aufgrund der anaphorischen Reihung, in die diese betreffende Passage eingebettet ist) der Zeilensprung eines Handschriftenschreibers bereits in die frühe Überlieferung des Textes eingeschlichen.» 307 Freilich denkt S enne an die frühe Überlieferung der ›Lux divinitatis‹. Dass der Textausfall in der frühen Überlieferung des ›Fließenden Lichts‹ erfolgt haben und folglich schon in der deutschen Vorlage der lateinischen Übersetzung enthalten sein kann, wird nicht bedacht. Den Auftakt zu FL III.2 bildet ein Dialog. Seele und Gott loben sich gegenseitig in Form von spiegelbildlich aneinandergereihten «identifikatorischen Metaphern». 308 Im deutschen Text lobt zunächst die Seele den Herren und apostrophiert ihn als sunne aller p gen, lust aller oren, stimme aller worten, kraft aller vromekeit usw. (160,8f. [III.2,6f.]). Der Herr greift die einzelnen Stichworte in seinem Gegenlob auf und identifiziert die Seele als lieht vor minen p gen, lire vor minen oren, stimme miner worten, meinunge miner vromekeit usw. (160,17f. [III.2,11f.]). LD IV.17,4f. (Rev. Bd. II.2, 172 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 306 Vgl. K. S chneider (2006), S. 61, Nr. 133,15f. 307 S enne (2004), S. 148f. 308 K öbele (1993), S. 77. <?page no="183"?> S. 554,7f.) zieht infolge eines vielleicht schon in ihrer deutschen Vorlagehandschrift aufgetretenen Augensprungs (vgl. stimme aller worten/ stimme miner worten) Lob und Widerlob zusammen: Domine tu es lux omnium oculorum delectacio aurium . vox uerborum meorum . intencio sanctitatis mee . honor sapiencie mee . uita in me uita . laus et ordinacio 309 in essencia mea (LG IV.16,1-4: Herr du bist das licht aller oúgen . vnd ein wollust der oren . Die stim meiner wort . Die volkommenheit meiner heiligkeyt . Die eer meiner weisheit . Das leben in mir lebt . Lob ist in meinem wesen). Auch das bereits mehrfach erwähnte Kapitel FL III.10 weist im lateinischen Text einen durch Zeilensprung entstandenen Fehler auf. Man liest in FL III.10: 182,23-27 (III.10,14-17): Si wirt ze Herode gesant, wenne si sich selber untúre und unwirdig bekennet und versmehet sich selber mit dem grossen here al irer danken. Pylato wirt si wider gegeben, wenne sie m v s irdenscher dingen phlegen. LD I.22,10f. (Rev. Bd. II.2, S. 467, 14f.) lautet dagegen: Ad herodem mittitur . cum inplicari terrestribus compellitur (LG I.22, 15-17: Sie wirt zú Herodes gesantso sy wirt gezwúngen by irdischen dingen sich zúverwickeln). Die Entsprechung zu wenne - gegeben fehlt also im lateinischen Text. FL IV.7 stellt eine kleine Meditation über Mt 6,21 dar. Die Folgen des Verzichts auf alles Kreatürliche für den Ich-Sprecher - die Überschrift identifiziert ihn als eine vriú sele - werden in folgende antithetische Formel gefasst: und darumbe, herre, das ich keinen irdenschen schatz habe, so enhan ich kein irdensche herze, wan du, herre, min schaz bist, so bist du p ch min herze, und du bist allein min g v t etc. Wohl infolge von Haplographie ist der Passus wan - herze in LD V.27/ Rev. Bd. II.2, S. 611 bzw. LG V.21 ausgefallen. B ecker macht auf eine andere Stelle aufmerksam. FL V.23: 370,36f. (V.23,131f.) lautet: do bi weren bekant die ungetrúwen girere, die allen iren trost hie s v chent uf der erden. Der Satz hat im Lateinischen keine Entsprechung. An seine Stelle ist eine im deutschen Text nur einige Zeilen weiter unten stehende Passage mit dem gleichlautenden Anfang (Da bi waren die bekannt, die alle tage etc., 372,3 [V.23,134-136]) gerutscht, vgl. LD I.16,13f./ Rev. Bd. II.2, S. 461,7f. bzw. LG I.15,20f. B ecker ist freilich der Ansicht, dass es sich um ein Versehen des Übersetzers handelt. 310 Hinzuweisen wäre auch auf FL V.25: 384,15f. (V.25,13): und das si hoher swebent denne die andern. Dieses Glied einer syntaktisch parallel laufenden Reihe von Steigerungen fehlt LD V.9/ Rev. Bd. II.2, S. 596 bzw. LG V.7). Man würde meinen, den Textausfall dem Übersetzer zuschreiben zu können, wird doch die anaphorische Reihe in FL V.25: 384,13-20 (V.25,11-16) in der lateinischen Übersetzung äußerst verknappt wiedergegeben. 311 Allerdings kann der Teilsatz auch schon der deutschen Vorlage gefehlt haben. Varianz in Textbestand und Textfolge 173 309 et ordinacio steht mit Einweisungszeichen am rechten Rand von Rb fol. 73 vb und bezieht sich auf LD IV.17,6/ Rev. Bd. II.2, S. 554,15 (Text von LG IV.16 beschädigt). Die Glosse geht wie so viele andere den lateinischen Text ergänzende und korrigierende Randnachträge auf den Vergleich von Rb mit einer Handschrift des ›Fließenden Lichts‹ zurück (s. dazu S. 362ff. weiter unten). Sie zeugt von einem weiteren Augensprung. Verantwortlich ist diesmal derjenige Benutzer von Rb, der den genannten Textvergleich durchgeführt hat. Das deutsche Wort für ordinacio steht nämlich nicht, wie von ihm angegeben, im Widerlob Gottes (du bist ein lop in minem wesende, 160,23 [III.2,13f.]), sondern in dem der ›Lux divinitatis‹ abhanden gekommenen Teil des Lobes der Seele, vgl. du bist dú ordenunge alles wesendes (FL III.2: 160,14 [III.2,8f.]). 310 Vgl. B ecker (1951), S. 91. Vgl. auch S enne (2002), S. 13. 311 Man trifft auf dieses Verfahren immer wieder in der ›Lux divinitatis‹, vgl. LD IV.13,30- 34/ Rev. Bd. II.2, S. 551,4-9 bzw. LG IV.12,48-52 und FL I.44: 60,32-62,17 (I.44,48-62) - <?page no="184"?> Ein illustratives Beispiel für Augensprung bietet auch die Einsiedler Handschrift. FL VII.55: 640,34f. (VII.55,40f.) liest: Das gehúgenisse gotz und der minnenden sele kumet zesamene glicher wis als dú sunne und der luft sin keltnisse und vinsternisse úberwindet. Von gleicher Hand mit Verweiszeichen zu luft nachgetragen findet man auf dem oberen Seitenrand folgenden Passus: mit der edelen gotz kraft sich zesamene mengent in eime s u ssen gedrenge das die sunne dem luft. Der Schreiber hat das Versehen rechtzeitig bemerkt und korrigiert. Es ist gut möglich, dass auch die eine oder andere durch Augensprung entstandene Lücke im lateinischen Text auf ein solches Versehen zurückgeht, ein Versehen wohlgemerkt, das bereits die deutsche Vorlage gekennzeichnet haben kann und nicht erst den Übersetzern unterlaufen sein muss. Ad B (Metathese): Ein Indiz dafür, dass die ersten sechs Bücher, die ins Lateinische übertragen worden sind, auf einen von E unabhängigen Überlieferungszweig zurückgehen, sind möglicherweise auch jene Wortvarianten, die gewöhnlich als Fehlübersetzungen eines des Mittelniederdeutschen nicht ganz mächtigen Übersetzers angesehen werden, beruhen sie doch, so B ecker , «zuweilen auf einem grotesken Missverständnis des originalen deutschen Textes.» 312 Wohl ist diese Möglichkeit nicht auszuschließen, 313 die von B ecker angeführten Varianten lassen sich jedoch nicht zwingend mit der sprachlichen Inkompetenz der Übersetzer erklären. Denn denkbar wäre, dass sie bereits in der Vorlage der Übersetzer standen. 314 B ecker nennt folgende Beispiele: 315 174 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ LD II.1/ Rev. Bd. II.2, S. 481 bzw. LG II.1 und FL I.6 - LD II.17,3f./ Rev. Bd. II.2, S. 495, 16f. bzw. LG II.17,5f. und FL V.34: 404,15-18 (V.34,15-18). Interessanterweise findet sich auch in E eine Stelle, die man vor dem Hintergrund von FL I.6 als Verknappung interpretieren könnte, vgl. FL II.20: 110,20-23 (II.20,26-28). Man fragt sich, ob die eine oder andere Verknappung in der ›Lux divinitatis‹ nicht ebenso ‹original› sein kann wie diejenige in E. 312 B ecker (1951), S. 35. Ähnlich N eumann (1954b), S. 28. 313 Vgl. etwa windesche minne (FL III.13: 190,23 [III.13,26]) und amor sclavicus (LD IV.37, 13/ Rev. Bd. II.2, S. 569,35, LG IV.35,20: búrische liebin), dazu N eumann (1993), S. 60 - wante (FL V.18: 352,20 [V.18,5]) und nam (LD IV.15,5/ Rev. Bd. II.2, S. 553,1, Entsprechung fehlt in Rw wegen Blattverlust), dazu N eumann (1993), S. 91 - mich getr o sten (FL VI.15: 464,35 [VI.15,68f.]) und me consolabor (LD III.15,3/ Rev. Bd. II.2, S. 535,8, LG III.15,4: mich trosten), dazu N eumann (1993), S. 121f. 314 Dies scheint auch N eumann (1993), S. 104, Anm. zu V.30,8 andeuten zu wollen. Er weist auf die Vermutung von O ehl (1911), S. 174, Anm. 1 hin, wonach «die Übersetzer ein burnde licht statt borde licht in ihrer Vorlage gelesen haben.» Allerdings ist bei O ehl nirgendwo von Vorlage die Rede. Er spricht vielmehr von «Irrtum» und geht von Verlesung seitens der Übersetzer aus. Ähnlich N eumann , der metathetisch entstandene Varianten immer als Fehllesungen bzw. Missverständnisse charakterisiert. Dass sie schon in der Übersetzungsvorlage gestanden haben können, wird nicht erwogen, vgl. N eu mann (1993), S. 53, Anm. zu III.5,12; ebd., S. 78, Anm. zu IV.21,16; ebd., S. 79, Anm. zu IV.22,37; ebd., S. 102, Anm. zu V.27,10; ebd., S.112, Anm. zu VI.1,160 usw. Anders verhält es sich mit Metathesen, die in beiden Überlieferungszweigen enthalten sind: Sie können in den Text eingeschlichen sein, bevor die Überlieferung in eine deutsche und lateinische Traditionslinie entzweigt ist, s. dazu S. 263ff. weiter unten. 315 Unerwähnt lasse ich FL IV.5: 252,15 (IV.5,25) Betest du denne tusent jar, weil es sich um einen alten, dem deutschen und lateinischen Überlieferungszweig gemeinsamen Fehler handelt, s. dazu S. 263f., Anm. 702 weiter unten. <?page no="185"?> Zweimal wird brunnen metathetisch als burnen/ bornen aufgefasst und mit ardor wiedergegeben, vgl. FL I.2: 20,26 (I.2,2) und LD IV.21,2/ Rev. Bd. II.2, S. 557,18 (LG IV.20,2: inbrunstige hitz) sowie FL IV.21: 288,20 (IV.21,16) und LD II.12,16/ Rev. Bd. II.2, S. 492,4 (LG II.12,21f.: brinnende gotheyt). FL V.30: 394,11 (V.30,8) du machest grosse burdin lichte liest die Übersetzung tu facis luminaria magnifice ardencia (LD IV.26,6/ Rev. Bd. II.2, S. 561,1, LG IV.25,8: dú machst heerlich oder groß die brinnende liechter). Statt daht ‹Docht› (FL III.24: 220,27 [III.24,11]) bietet LD IV.33,8/ Rev. Bd. II.2, S. 566,7f. operculum (LG IV.31,13: deckel). Letzteres führt auf mnd. dack, dake ‹Dach› im Sinne von ‹Deckel›. Mnd. dances oder dancens mude wurde mit tanzes m u de richtig ins Alemannische überführt (FL I.44: 60,24 [I.44,44]). Im lateinischen Text liest man dagegen cogitacionum circuitu lassata (LD IV.13,27/ Rev. Bd. II.2, S. 550,35f., LG IV.12, 43: mied worden von dem vmbl Y ff der gedancker). B ecker spricht bei diesem letzten Fall von Missverständnis, 316 S tierling von Verlesung, 317 V ollmann -P rofe vom Zurechtinterpretieren im Sinne der sonst beobachtbaren Tendenz des Übersetzers, den Abstand zwischen Gott und Mensch möglichst präsent zu halten. 318 Die Beispiele für Metathese ließen sich beliebig vermehren. 319 Dass Varianten, die durch Lautumstellungen innerhalb eines Wortes entstanden sind, überlieferungsbedingt auftreten können, lässt sich aus dem deutschen und lateinischen Überlieferungszweig des ›Fließenden Lichts‹ gleichermaßen belegen: wollen in E (FL IV.6: 252,23 [IV.6,6]) steht für verlesenes wolfen (LD III.7,4/ Rev. Bd. II.2, S. 525,21: luporum, LG III.7,6: der wolff) - b v sse E (FL IV.9: 256,4 [IV.9,3]) für bússe (LD III.4,13/ Rev. Bd. II.2, S. 522,28: loculo, LG III.4,18: bißlein) - heiden E (FL V.9: 338,20 [V.9,10]) für henden (LD I.19,8/ Rev. Bd. II.2, S. 465,6: manibus, LG I.19,13: mit den henden) - hellehunt E (FL V.23: 374,5 [V.23,164]) für hellemunt (LD I.17,13/ Rev. Bd. II.2, S. 463,12f.: infernalia labia, Entsprechung fehlt LG I.17) - munt E (FL V.30: 394,23 [V.30,15]) für m v t (LD IV.26,12/ Rev. Bd. II.2, S. 561,12: affectionis, LG IV.25, 19: begirden) - under E (FL V.30: 396,6 [V.30,26]) für wunder (LD IV.26,22/ Rev. Bd. II.2, S. 561,26: mirabilia, LG IV.25,32: mirackel). Andererseits dürfte pennis Rb (LD IV.36,22/ Rev. Bd. II.2, S. 569,12, LG IV.34,32: mit feddern) aus penis (pine, FL V.4: Varianz in Textbestand und Textfolge 175 316 Vgl. B ecker (1951), S. 36. 317 Vgl. S tierling (1907), S. 69. 318 Vgl. V ollmann- P rofe (2000), S. 140f. 319 Vgl. etwa FL IV.23: 292,13 (IV.23,3) und begraben bzw. insepultum (LD II.9,3/ Rev. Bd. II.2, S. 489,5, LG II.9,4: vnbegraben), s. dazu S. 265f., Anm. 708 weiter unten - FL V.11: 342,28 (V.11,28) breite sinne bzw. sensus compositos (LD V.4,22f./ Rev. Bd. II.2, S. 591,32, LG V.3,33: zïchtig sinn), s. dazu S. 41, Anm. 202 oben - FL VI.1: 430,7 (VI.1,160) korunge bzw. temptacione (LD V.14,33/ Rev. Bd. II.2, S. 602,32, LG V.10,47: anfechtúng), s. dazu N eumann (1993), S. 112 - FL V.27: 388,11 (V.27,10) min s v ne bzw. filius meus (LD I.20, 10f./ Rev. Bd. II.2, S. 466,9, LG I.20,14: min sun), s. dazu B ecker (1951), S. 96 und N eumann (1993), S. 102 - FL III.5: 168,26 (III.5,12) mines vundes bzw. mirabilium meorum (LD IV.18,9/ Rev. Bd. II.2, S. 555,13, LG IV.17,10f.: meiner wúnderbarlichen dinger), s. dazu N eumann (1993), S. 53 - FL II.24: 122,13 (II.24,35) júdeschen bzw. inuidos (LD II.20,2/ Rev. Bd. II.2, S. 498,16, LG II.19,45: nydischen), s. dazu S tierling (1907), S. 84 und V ölker (1967), S. 49 - FL VI.8: 446,25 (VI.8,9) gefrúmet E, gevormet C bzw. formam accipit (LD VI.14,5/ Rev. Bd. II.2, S. 631,21f., LG VI.14,8: nimpt die gestalt), s. dazu S. 39f. oben - FL VI.20: 476,18 (VI.20,15) trútunge und tumore, mnd. drintunge (LD VI.24,9/ Rev. Bd. II.2, S. 642,17, LG VI.24,15: geschwulst). <?page no="186"?> 330,9 [V.4,68]) verschrieben worden sein - inexoptabilis Rb (LD IV.8,19/ Rev. Bd. II.2, S. 546,29, LG IV.7,30: vnvßbegirliche) aus inexpedibilis (hinderunge, FL I.8: 32,9 [I.8,4]) 320 - mansueta Rb (LD V.30,16/ Rev. Bd. II.2, S. 614,9, LG V.23,26: sanffmietige) aus manifesta (offenbar, FL IV.4: 248,15 [IV.4,32]) - amoris Rb (LD V.13,9/ Rev. Bd. II.2, S. 600,29, LG V.9,61f.: der liebin) aus amotis (entwichen, FL VI.1: 424,18 [VI.1,82]) - infernalem mecum Rb (LD V.18,7/ Rev. Bd. II.2, S. 604,25, LG V.13,12: mich) aus infernalem maculam (hellevlekke, FL V.33: 402,15 [V.33,13]) - fons Rb (LD II.23,12/ Rev. Bd. II.2, S. 501,28, LG II.20,57: stirne) aus frons (vorh p bte, FL IV.3: 242,9 [IV.3,45]) 321 - cognita Rb (LD V.29,8/ Rev. Bd. II.2, S. 612,28, LG V.22,13: erkant) aus incognita (unbekant, FL VI.19: 474,11f. [VI.19,11f.]) - affecciones Rb (LD IV.34,2/ Rev. Bd. II.2, S. 566,25, LG IV.32,3: begerung) aus afflictiones (not, FL III.24: 222,11 [III.24,23]) - unica Rb (LD IV.27,21/ Rev. Bd. II.2, S. 562,30, LG IV.26,30: einige) aus unita (vereinitú, FL V.31: 398,22 [V.31,28]) - ignora Rb (LD IV.27,22/ Rev. Bd. II.2, S. 562,33, LG IV.26,32: vnbekante) aus ignivora/ ignara (vúrigú, FL V.31: 398,25 [V.31,31]). Macht man für Varianten, die durch Metathese entstanden sind, nicht die Übersetzer des ›Fließenden Lichts‹, sondern die Überlieferung verantwortlich, so wird man auch an manchen Stellen, wo der deutsche und lateinische Text inhaltlich auseinander gehen oder Präsumptivvarianten aufweisen, 322 in Erwägung ziehen müssen, dass die lateinischen Übersetzer womöglich einen partiell von E abweichenden deutschen Text vor sich gehabt haben. 323 Das Postulat der Forschung, die ›Lux divinitatis‹ sei aus einer Handschrift hervorgegangen, die - vermehrt um ein siebtes Buch und durch die Autorin 176 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 320 Allerdings ist die Änderungsrichtung in diesem Fall nicht ganz klar, denn hinderunge könnte, meint S tierling (1907), S. 69, aus minderunge verschrieben worden sein, so dass wir es im Grunde mit einer Präsumptivvariante zu tun haben. Das lässt N eumann (1993), S. 10 nicht gelten, weil «minderunge im ›FL‹ ganz fehlt.» Zur Problematik der Beweiskraft von Parallelstellen s. Kap. I.2. 321 Rw liest mit stirne richtig. Auch Ra fol. 170 r bietet frons, was aller Wahrscheinlichkeit nach eine eigenständige Korrektur des Ra-Schreibers darstellt. 322 Vgl. B ecker (1951), S. 36 sowie den textkritischen Apparat von N eumann (1990). Einige Beispiele seien hier genannt: einiges g v t E, eigins gut W (FL IV.5: 250,22 [IV.5,8]) und bonum eternum (LD IV.59,6f./ Rev. Bd. II.2, S. 586,8, LG IV.47,9: ewiges gútt), s. dazu N eumann (1993), S. 69 - unverborgen (FL II.3: 82,6 [II.3,34]) und incorrupta (LD I.28,7/ Rev. Bd. II.2, S. 473,16, LG I.28,10: vnzerst o rte) - vorhte (FL II.13: 100,3 [II.13,3]) und admiratio (LD IV,44,6/ Rev. Bd. II.2, S. 572,30, LG IV.39,8: verwundern) - vergolten (FL I.44: 58,28 [I.44,22]) und deauratur (LD IV.13,10/ Rev. Bd. II.2, S. 550,10, LG IV.12, 15: vbergúldet) - sere (FL III.17: 200,6 [III.17,4]) und molestia (LD VI.11,2/ Rev. Bd. II.2, S. 628,4, LG VI.11,4: kommer), entsprechend zu swere? - unbeginlicher (FL I.22: 38,16 [I.22,4]) und incomprehensibilis (LD I.29,3/ Rev. Bd. II.2, S. 474,5, LG I.29,4: vnbegriflichen) - edeler (FL III.1: 156,33 [III.1,173]) und crvdelior (LD II.33,19/ Rev. Bd. II.2, S. 510,4, LG II.30,25: grimmiger) - werlichen (FL VI.1: 422,1 [VI.1,40]) und paterne (LD V.12,8/ Rev. Bd. II.2, S. 599,15, LG V.9,35: vetterlichen) usw. 323 Vgl. die Überlegung von M ichel (1995c), S. 54 zu den inhaltlichen Divergenzen zwischen FL II.23: 116,19f. (II.23,21) und LD IV.1,20f. (Rev. Bd. II.2, S. 540,7f., LG IV.1, 28f.): «Die lateinischen Übersetzer (Rb) hatten entweder einen anderen mndt. Text vor sich oder dann die Stelle zurechtverstanden.» <?page no="187"?> selbst bearbeitet - auch der oberdeutschen Tradition des ›Fließenden Lichts‹ als Ausgangspunkt diente, tritt am deutlichsten dort zutage, wo es darum geht, über die Varianz im Textbestand beider Traditionszweige ein Urteil abzugeben. Geurteilt wird nicht nur über Wortvarianten - dies überrascht insofern, als die andere Sprachform zugegebenermaßen einen sinnvollen Vergleich von Einzelwörtern oft nicht zulässt 324 -, sondern auch über Teilsätze, Sätze oder längere Passagen, die von dem jeweils anderen Überlieferungszweig her gesehen als Ergänzungen oder Auslassungen definiert werden. Bis auf einige «unechte Zusätze» - unecht, weil sie eine frühe, das heißt erst nach der Freigabe des ›Fließenden Lichts‹ zur Übersetzung aufgetretene, Störung im deutschen Überlieferungszweig aufzeigen 325 - werden die Ergänzungen in der ›Lux divinitatis‹ allgemein als «echt» angesehen, echt, weil sie «ausschliesslich auf das Konto des Übersetzer-Redaktors gehen, also nicht von Mechthild stammen können.» 326 Anders als in der lateinischen Übersetzung werden die Ergänzungen in der deutschen Tradition bewertet. Hier gelten die echten Zusätze der ›Lux divinitatis‹ im textkritischen Sinn eigentlich als unecht, wohingegen das Varianz in Textbestand und Textfolge 177 324 Vgl. N eumann (1990), S. XXV. 325 Als unechter Zusatz gilt für B ecker (1951), S. 38 und 160 der Beginn von LD II.37 (Rev. Bd. II.2, S. 514). Er handelt von einem Mechthild verwandten Schüler, den Mechthild zur Theologie und zum Priesteramt hinführen wollte. Gott verfügte jedoch anders und der Schüler wurde geisteskrank, so dass er bis ans Ende seines Lebens seines Verstandes beraubt leben musste. Mechthild verlangt nach Klärung. Mit der Antwort Gottes setzt der deutsche Text ein (FL VI.11). In seiner Antwort bezieht sich Gott auf einen Er, dessen Identität ohne LD II.37 offen bleibt. Dem deutschen Text fehlt offensichtlich etwas. Dies macht nicht nur der Beginn des Kapitels deutlich - er ist «merkwürdig abrupt» (V ollmann- P rofe 2003, S. 817) -, sondern auch die Überschrift, in der von einem sch v ler die Rede ist: «Da das Wort sch v ler im Text des Kapitels nicht erscheint, muß diesem am Anfang ein Stück fehlen, in dem der Scholar genannt wird» (N eumann 1993, S. 118, Anm. z. d. St.). -- Kann man bei FL VI.11 in der Tat mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass ein Textverlust im deutschen Überlieferungszweig des ›Fließenden Lichts‹ vorliegt, ist die andere von B ecker (1951), S. 38 als Beispiel für einen «unechten Zusatz» angeführte Textstelle weniger eindeutig: LD IV.7,22f. (Rev. Bd. II.2, S. 545,28f.; LG IV.6, 35f.). Es handelt sich um die letzte Zeile eines Liedes, das in FL II.25: 134,18 (II.25,137) mit etc. abbricht. Der unvollständige Charakter des Liedes hat B ecker und N eumann dazu veranlasst, den deutschen Text nach dem lateinischen herzustellen (vgl. FL II.25, 138-139). Diese Ergänzung erscheint V ollmann- P rofe jedoch nicht zwingend. Sie fragt sich, «ob das etc. in E nicht einfach darauf hinweist, daß es sich bei dem Lied oder seinem Inhalt um etwas Bekanntes handelte» (V ollmann- P rofe 2003, S. 745). Dass diese Möglichkeit nicht auszuschließen ist, zeigt dasselbe Kürzel in den Predigten des ›Paradisus anime intelligentis‹: H asebrink (2009), S. 166 zufolge markiert es nicht nur eine Kürzung, sondern setzt ein spezielles Wissen voraus, «das die zutreffende Auflösung der Formel durch den Benutzer der Sammlung erlaubt.» Für weitere Beispiele s. S tammler (1956), S. 296 und 306f. Mit anderen Worten: etc. sagt nichts darüber aus, ob das Lied ursprünglich nur anzitiert oder auch zu Ende geführt wurde. Es ist also ungewiss, ob die letzte, im deutschen Text fehlende Zeile einen «unechten Zusatz» in der lateinischen Übersetzung darstellt. 326 B ecker (1951), S. 37. <?page no="188"?> ›Fließende Licht‹ in seiner in E überlieferten Gestalt textkritisch als echt angesehen wird. Davon ausgenommen sind nur einige Textstellen, die N eumann mit einiger Wahrscheinlichkeit als fremdverantwortet identifizieren zu können glaubt. Abgesehen vom lateinisch-deutschen Vorbericht, den Überschriften sowie FL VI.43, wo von Mechthild in dritter Person gesprochen wird, Partien also, die nicht von ihr selbst geschrieben sein können, sind es nur wenige Stellen im ›Fließenden Licht‹, deren Authentizität zur Diskussion steht. N eu mann macht in seiner Textausgabe auf solche unechten Lesarten unterschiedlich aufmerksam. ‹Eindeutige› Fälle stehen bei ihm in eckigen Klammern, auf Verdächtiges wird im Apparat oder in den Anmerkungen hingewiesen. Gesondert (etwa im Vorwort seiner Ausgabe) hat N eumann keine Rechenschaft darüber abgelegt, aufgrund welcher Kriterien er Echtes von Unechtem zu scheiden versteht. Die Sichtung der von ihm für unecht oder verdächtig gehaltenen Textstellen zeigt jedoch, dass es vier Gründe waren, die N eumann veranlasst haben, an der Authentizität der jeweiligen Lesart der Leithandschrift zu zweifeln: (1.) Eine fehlende Entsprechung in der deutschen und/ oder der lateinischen Parallelüberlieferung, 327 (2.) inhaltliche und argumentationslogische Gründe, 328 (3.) Formalien (gestörter Gedankenparallelismus oder Kolonreim), 329 und damit zusammenhängend (4.) nicht mechthildisch wirkende Formulierungen. 330 Es waren wohl diese Stellen, die N eumann im zweiten, posthum erschienen Band seiner textkritischen Ausgabe zu der Feststellung veranlasst haben, man müsse auch mit späteren Ergänzungen rechnen, und zwar nicht nur durch Mechthild selbst, sondern auch durch Bearbeiter. 331 Was als auktorial bzw. redaktionell vorgenommene Ergänzung zu gelten hat, lässt sich allerdings allein aufgrund der Parallelüberlieferung oder eines gewissen Gespürs für das Mechthildische nicht sicher beantworten. Letzteres zeigt sich vor allem dort, wo Lesarten, die N eumann sekundär vorkamen, von V ollmann -P rofe für möglicherweise mechthildisch erklärt werden (s. dazu S. 56f. oben). Doch nicht nur die Intuition, auch die Parallelüberlieferung eignet sich nur bedingt, 178 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 327 Vgl. FL I.1,3; I.44,46; II.19,69f.; II.25,129; III.9,15; III.10,38f.; III.13,7; V.22,7; VI.7,15; VI.10,7 und 8; VI.15,57; VI.27,2; VI.31,22 und VI.37,2. 328 Vgl. N eumann (1993), S. 89, Anm. zu V.14,4 - ebd., S. 90, Anm. zu V.15,5 - ebd., S. 99, Anm. zu V.24,7 - ebd., S. 100, Anm. zu V.24,53f. - ebd., S. 119, VI.13,18 - ebd., S. 141, Anm. zu VI.41,7 und ebd., S. 142, Anm. zu VI.42,3. 329 Vgl. N eumann (1993), S. 88, Anm. zu V.11,25 - ebd., S. 94, Anm. zu V.22,34 - ebd., S. 121, Anm. zu VI.15,63 - N eumann (1990), S. 250, App. zu VI.40,6 - ebd., S. 250, App. zu VI.41,13-15 - ebd., S. 235, App zu VI.27,2 (Verdacht auf Unechtheit ist nicht nur durch die fehlenden Entsprechung von ser in Rb motiviert, sondern wohl auch durch den gestörten Parallelismus der Invokationen) und ebd., S. 247, App. zu VI.37,54. 330 Vgl. N eumann (1993), S. 95, Anm. zu V.22,46f. - N eumann (1990), S. 229, App. zu VI.19,14 und (1993), S. 124, Anm. z. d. St. - N eumann (1993), S. 124, Anm. zu VI.19,22 - ebd., S. 139, Anm. zu VI.37,32 - ebd., S. 151, Anm. zu VII.21,25 und ebd. S. 167, Anm. zu VII.65,17. 331 Vgl. N eumann (1993), S. 201. Ähnlich V ollmann- P rofe (2003), S. 672. <?page no="189"?> um ein gesichertes Urteil über die Authentizität einer Lesart abzugeben. Auf welch unsicherem Boden man sich bewegt, wenn man etwa die Echtheit von Reimen aufgrund des intuitiven Arguments des Mechthildischen erweisen will, zeigen nicht nur die in Kap. I.2 (S. 48f.) genannten Textbeispiele, die ein Schreiben im mechthildischen Ton belegen, sondern auch die neu aufgefundene Handschrift R (s. S. 171f. oben). Nicht weniger riskant sind Versuche, die die Unechtheit einer Lesart durch ihr Fehlen in den sonst bekannten Handschriften zu begründen versucht. So sah sich N eumann durch die in W und Rb fehlende lokale Adverbialangabe gegen der ewigen sunnen der lebendigen gotheit (FL III.10: 184,24 [III.10,38f.]) zu der Annahme veranlasst, es könnte sich um einen Zusatz von E handeln. Dieser vermeintliche Zusatz findet sich jedoch in der von *EW unabhängigen Handschrift R (s. S. 480 weiter unten, R 35f.). Ob die Bezeugung der in W und Rb fehlenden E-Lesart in R ihr ein höheres Maß an Authentizität verleiht, steht nicht zur Diskussion. Mir kommt es hier lediglich darauf an zu zeigen, dass die Entscheidung darüber, was als echt bzw. unecht zu gelten hat, wesentlich von der Beschaffenheit der Überlieferung, genauer vom überlieferungsgeschichtlichen Zufall abhängt: Eine heute als ‹wahrscheinlich unecht› geltende Lesart kann morgen zu einer ‹möglicherweise mechthildischen› mutieren, und dies nicht nur infolge eines Neufundes, sondern auch durch die Neubewertung einer bislang textkritisch als unecht geltenden Textstelle. 332 Damit komme ich auf die im deutschen und lateinischen Text nachweisbaren oder auch nur vermuteten Zusätze und ihre je nach Überlieferungszweig unterschiedliche Bewertung durch die Forschung zu sprechen. Zunächst wird es um die Ergänzungen im deutschen Text gehen. Abgesehen von den in Anm. 327-330 angeführten Belegen, die N eumann zufolge überlieferungs- oder redaktionell bedingte Eingriffe in den Wortlaut des ›Fließenden Lichts‹ dokumentieren, gelten Plustexte des ›Fließenden Lichts‹ nicht als Überlieferungs-, sondern als Entstehungsvarianten. II.2.2 Varianz in Textbestand. Ergänzungen im deutschen und lateinischen Überlieferungszweig Die These der Antichronologisten besagt, wie in Kap. I.1.1 gezeigt, dass die genetische Reihenfolge der Niederschriften Mechthilds infolge von Heinrichs Redaktorentätigkeit aufgehoben sei. Dieser These hat N eumann entgegen gehalten, die teilweise gestörte chronologische Reihenfolge der Aufzeichnungen sei damit zu erklären, dass Mechthild selbst der Erstausgabe der Bücher I-V eine «gewisse Überarbeitung» 333 angedeihen ließ, indem sie einzelne Kapitel Varianz in Textbestand und Textfolge 179 332 Vgl. etwa die von V ollmann- P rofe für ‹möglicherweise mechthildisch› erklärten, N eu mann jedoch ‹wahrscheinlich unecht› vorkommenden Stellen im ›Fließenden Licht‹, dazu S. 56f. oben. 333 N eumann (1954b), S. 60. <?page no="190"?> nachträglich eingeschoben oder umgestellt 334 bzw. Ergänzungen zum ursprünglichen Wortlaut eingefügt hat. 335 Von den von N eumann genannten Textbeispielen - es handelt sich ausnahmslos um erläuternde Zwischenbemerkungen - könnte man am ehesten das zweite Prooemium und FL V.22: 358,33-360,6 (V.22,20-24) als Belege für jene Interpolationen gelten lassen, die noch während der Erstredaktion der Schriften Mechthilds erfolgt sind. 336 Beide finden sich auch in der lateinischen Übersetzung (vgl. LD Prol. 7,6-9/ Rev. Bd. II.2, S. 445,2-8 bzw. LG Vorrede 6,8-14 und LD V.8,14-16/ Rev. Bd. II.2, S. 595,16-19 bzw. LG V.6,20-24). Anders verhält es sich mit FL II.24: 124,21-27 (II.24,71-76), III.20 und IV.2: 228,14-20 (IV.2,4-8). Dazu folgende Hinweise: Auf FL II.24: 124,21-27 (II.24,71-76) hat bereits S tierling hingewiesen und sie als Beleg dafür angeführt, Heinrich von Halle hätte die von Mechthild ohne jegliche Ordnung aneinander gereihte Einzelblatt-Sammlung hier und da zu thematischen Einheiten zusammenfügt. FL II.24 stellt ein Kapitel dar, in dem nach Christus und der Gottesmutter eine Reihe von Heiligen litaneiartig aufgerufen wird. S tierling ist der Ansicht, dass die litaneiartige Struktur an manchen Stellen durch Aufschwellungen beeinträchtigt sei, «die aber auf Mechthild zurückgehen mögen.» 337 Anders verhält es sich dagegen mit dem letzten Abschnitt (124,13f. [II.24,65f.]): «Mit ‹herre himelscher vatter› beginnt zweifellos etwas neues», stellt S tierling (ebd.) fest und spricht von einer Reihe von «Einschaltungen» durch den Redaktor. Er nennt inhaltliche und argumentationslogische Gründe: «Verwunderlich ist es nun, den folg. Passus über Gott Vater am Schluß des Kapitels zu finden, nachdem Christus, Maria und zehn Heilige bereits ausführlich bedacht sind. Man sollte eher erwarten, daß dieser Satz über Gott Vater das ganze Kapitel einleite» (ebd.). Auch sonst scheint ihm der Schluss des Kapitels nicht in Ordnung zu sein, denn «der noch folgende Rest steht mit dem eigentlichen Kapitel we- 180 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 334 Vgl. N eumann ebd., S. 66-68. 335 Vgl. N eumann ebd., S. 60f. 336 Ergänzend wäre auf Stellen hinzuweisen, die N eumann in den Untersuchungen zu seiner kritischen Ausgabe nennt, vgl. (1993), S. 36, Anm. zu II.19,66-69 (entspricht bei Vr ollmann -P rofe 108,7-10 = LD IV.48,18-21/ Rev. Bd. II.2, S. 577,7-11 bzw. LG IV.40, 80-82) - ebd., S. 61, Anm. zu III.15,14-17 (entspricht 194,10-13 = LD V.25,10-12/ Rev. Bd. II.2, S. 610,18-22 bzw. LG V.20,16-19) - ebd., S. 65f., Anm. zu IV.2,76f. (entspricht 234,3f. = LD Prol. 3,62f./ Rev. Bd. II.2, S. 440,2f. bzw. LG Vorrede 2,99f.). Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang auch FL I.22: 38,21-40,19 (I.22,7-34): ein eigenständiges Gesprächssegment (= LD I.29/ Rev. Bd. II.2, S. 474 bzw. LG I.29), das entweder auf eine «Assoziation Mechthilds» zurückgeht oder «aufgrund eines redaktionellen Stichwortzusammenhangs brútegom/ brut» vorgenommen wurde (M ichel 1986, S. 511, anders V ollmann- P rofe 2003, S. 713). Prinzipiell könnten auch folgende Stellen hierher gehören: FL V.24: 380,20-37 und 382,1-11 (V.24,43-56 und 57-64): Exkurs über die Vorbildhaftigkeit des hl. Dominikus und Handlungsanweisung für einen Ordensoberen (= LD II.15/ Rev. Bd. II.2, S. 493f. bzw. LG II.15); FL VI.8: 446,24-448,6 (VI.8,8-16): nach dem Stichwortprinzip (tugent) hier eingeschoben (= LD VI.14/ Rev. Bd. II.2, S. 631 bzw. LG VI.14) und FL VI.19: 472,17-474,14 (VI.19,2-14): nach dem Stichwortprinzip (g v te willen) dem Kapitel vorangestellt, von der Überschrift nicht erfasst (= LD V.29/ Rev. Bd. II.2, S. 612 bzw. LG V.28). 337 S tierling (1907), S. 85. <?page no="191"?> der in inhaltlichem noch in stilistischem Zusammenhang.» S tierling unterscheidet drei thematische Gruppen: Erstens die ungebundene Minne (124,17-21 [II.24,68-71]), zweitens Salomon und David (124,21-27 [II.24,71-76]) und drittens die gebundene Minne (124,27-126,4 [II.24,76-87]). Was den Absatz über Salomon und David betrifft, ist S tierling der Ansicht, er wirke wie «ein Keil zwischen der 1. und 3. Gruppe»: «Bei näherem Zusehen wird man erkennen, daß er nur nach dem Prinzip des Redaktors hierhergezogen ist, weil er einen neuen Beleg oder besser noch eine Illustration zur ‹ungebundenen minne› bildet» (S. 86). N eumann teilt, wie oben angedeutet (s. S. 161, Anm. 269), S tierling s Ansicht von der Zersetzung und Neuzusammensetzung des Textmaterials nach inhaltlichen Gesichtpunkten durch Heinrich nicht. Stattdessen betont er den «assoziativen Charakter» 338 von Mechthilds Schilderungen. Nichtsdestoweniger pflichtet N eumann an vorliegender Stelle S tierling insofern bei, als er einräumt, 124,21-27 (II.24,71-76) könnten eine Zwischenbemerkung darstellen. Freilich macht er für die Interpolation nicht den Redaktor, sondern Mechthild verantwortlich: Das Textstück soll eingefügt worden sein, als Mechthild der Erstausgabe der Bücher I bis V eine Überarbeitung angedeihen ließ. 339 Sollte es zu dieser Einschaltung tatsächlich anlässlich der ‹Erstredaktion› gekommen sein, so wäre eigentlich zu erwarten, dass der Passus über Salomon und David auch in der lateinischen Übersetzung der Bücher I-VI auftaucht. Das ist jedoch nicht der Fall, vgl. LD II.21/ Rev. Bd. II.2, S. 499 bzw. LG II.19). Ähnlich verhält es sich mit den beiden anderen von N eumann genannten Belegen (FL IV.2: 228,14-20 [IV.2,4-8] und III.20), die als Beispiel für eine von Mechthild durchgeführte Redaktion der Erstpublikation angeführt werden. Der Anfang des großen Rückblickskapitels (FL IV.2: 228,14-20 [IV.2,4-8]) liest sich für N eumann «wie der spätere Zusatz einer seelisch gereiften und trotz aller Anfeindung durch die Gegner innerlich festgewordenen Persönlichkeit.» 340 Zwar lässt sich die Kenntnis dieser Passage in der ›Lux divinitatis‹ dieses Mal nachweisen, doch bleibt völlig offen, ob sie den Übersetzern in ihrer heutigen Form vorgelegen hat. Denn zu zahlreich sind die Abweichungen, die LD Prol 3,7-10/ Rev. Bd. II.2, S. 437,29-438,3 (entspricht LG Vorrede 2,12-16) FL IV.2: 228,14-20 (IV.2,4-8) gegenüber aufweist. 341 Dasselbe gilt auch für FL III.20. N eumann führt dieses Kapitel als Beleg für die in den Jahren 1257/ 58 erfolgte «ergänzende Durchsicht des Corpus der ersten fünf Bücher» an und fordert: «Wie weit man auch sonst derartige Nachträge in Betracht ziehen muß […], das müßte in minutiösen Einzeluntersuchungen über die beiden Textschichten in der Erstausgabe des Fl.L. noch geklärt werden, bevor es gelingt, Mechthilds frühere Niederschriften von den späteren Stücken abzuheben.» 342 Ob ein solches Unterfangen realisierbar ist, erscheint mir fraglich. Denn Varianz in Textbestand und Textfolge 181 338 N eumann (1993), S. 93. 339 Vgl. N eumann (1954b), S. 61. Dass N eumann hier von Erstausgabe spricht, wirkt zunächst verwunderlich, rechnet er doch mit früheren Textcorpora von unterschiedlichem Umfang (Buch I-II und I-IV), vgl. ebd., S. 38 und 39. Erklären lässt sich die Rede von Erstredaktion damit, dass N eumann im Index rerum (und im lateinischen Vorbericht) das erste handgreifliche Zeichen dafür sieht, dass das Textcorpus einer Leserschaft zugänglich gemacht bzw. für eine Leserschaft aufbereitet wurde. 340 N eumann ebd., S. 61. 341 Das Fehlen von das ie in geistlichem lebende erschein im lateinischen Text ist im Apparat zu FL IV.2,5f. nicht verzeichnet, vgl. N eumann (1990), S. 109. 342 N eumann (1954b), S. 68. <?page no="192"?> anhand welcher Kriterien will man frühere Niederschriften von denjenigen abgrenzen, die anlässlich einer ergänzenden Durchsicht der Bücher I-V vorgenommen worden sein sollen? Die von N eumann angeführten Textstellen eignen sich, wie wir gesehen haben, als Belege nicht, denn sie fehlen in der lateinischen Übersetzung. Dasselbe gilt auch FL III.20: Eine Reihe von Textpartien (204,24-26, 30f., 206,1f., 4, 6f. und 11f. [III.20,9-11, 14, 16f., 19, 20f. und 24f.]) fehlt in LD Prol. 5/ Rev. Bd. II.2, S. 442 bzw. LG Vorrede 4, so auch das wörtliche Zitat aus dem Hohelied in III.20: 206,1f. (III.20,16f.): Du bist alles sch o ne, min frúndinne, und kein vlekke ist an dir (vgl. Ct 4,7: tota pulchra es amica mea et macula non est in te). 343 Dies verwundert insofern, als die ›Lux divinitatis‹ sonst jede Möglichkeit ergreift, den Wortlaut an die Formulierungen der Bibel anzunähern. 344 Mit redaktionellen Zusätzen aus Mechthilds Feder, die zum ursprünglichen Wortlaut hinzugetreten sind, müsse man, so N eumann , nicht nur bei der vermeintlichen ‹Erstredaktion›, sondern auch in den späteren Büchern rechnen. In seiner Akademie-Abhandlung hat N eumann in diesem Zusammenhang auf einige, vor allem mit Glosa eingeleiteten Passagen hingewiesen (vgl. FL VI.2: 434,22 [VI.2, 46f.], VII.5: 542,12f. [VII.5,3f.] und VII.56: 642,8f. [VII.56,4f.]). 345 Weitere Beispiele nennt er im Untersuchungsband der textkritischen Ausgabe. Hier werden Zusätze aufgrund ihres Fehlens in der lateinischen Übersetzung ausfindig gemacht. 346 Auf dieser Grundlage ließe sich die Belegzahl der nachträglichen Ergänzungen und Einschaltungen leicht vermehren, vgl. FL II.24: 124,21-27 (II.24,71-76): wohl nach dem Stichwort minne hier eingefügt (s.o.) - FL IV.2: 234,19-22 (IV.2,89-91): explikative Ausführung zu heimlichú unkúscheit (fehlt LD Prol. 4/ Rev. Bd. II.2, S. 442ff. bzw. LG Vorrede 3) - FL V.24: 380,9-12 (V.24,34-36): nach dem Stichwortprinzip (alte e und núwe e) eingeschobene Passage (fehlt LD II.14/ Rev. Bd. II.2, S. 492ff. bzw. LG II.14) - FL VI.1: 422,32-424,8 (VI.1,63-73): ebenfalls nach einem Stichwort (stein) hier eingeschoben (fehlt LD V.13/ Rev. Bd. II.2, S. 600ff. bzw. LG V.9). Bis auf einige Textstellen, die N eumann verdächtig vorkamen (vgl. Anm. 327- 330 weiter oben mit Text), werden diese Zusätze als echt angesehen, wobei dies nicht nur in Bezug auf ihren Inhalt gilt, sondern auch in Bezug auf ihre Position. Sie stellen also keine Textbausteine dar, die anderen Zusammenhängen entnommen und vom Redaktor an der jeweiligen Stelle eingebaut wurden, sondern nachträgliche Ergänzungen und Bearbeitungen, die Mechthild ihrem 182 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 343 L anczkowski (1990), S. 18 hat diese Textstelle übersehen, denn sie ist der Ansicht, ein wörtliches Zitat aus dem Hohenlied fehle im ›Fließenden Licht‹ gänzlich. 344 Vgl. dazu V ollmann- P rofe (2000) und die Neuausgabe der ›Lux divinitatis‹ (H ellgardt / N emes / S enne 2011), wo in einem eigenen Apparat wortwörtliche Zitate aus der Bibel bzw. Allusionen an die Bibel nachgewiesen werden. 345 Vgl. N eumann (1954b), S. 61. 346 Vgl. N eumann (1993), S. 63, Anm. zu III.21,130-132 (entspricht bei V ollmann -P rofe 214,32-34) - ebd., S. 64, Anm. zu III.23 - ebd., S. 66, Anm. zu IV.2,101-103 (entspricht 234,34-37) - ebd., S. 99, Anm. zu V.24,34-36 (entspricht 380,9-12) und ebd. S. 112, Anm. zu VI.2,3-8 (entspricht 432,3-9). <?page no="193"?> eigenen Handexemplar angedeihen ließ, als das ›Fließende Licht‹ zur Übersetzung ins Lateinische bereits freigegeben war. Als bearbeitet gilt auch die ›Lux divinitatis‹. Allerdings werden die Plustexte, welche die ›Lux divinitatis‹ dem ›Fließenden Licht‹ gegenüber zusätzlich überliefert, bis auf einige Ausnahmen (s. dazu S. 177, Anm. 325) hier als «echte Zusätze» im Sinne von B ecker , d. h. vom Übersetzer-Redaktor herrührend, angesehen. 347 Doch lässt sich in manchen Fällen keine klare Trennlinie zwischen «echten» und «unechten Zusätzen» ziehen. Das zeigt sich etwa in der Umetikettierung eines bis jetzt als «echt» geltenden Zusatzes zu einem «unechten» durch V ollmann -P rofe . Anders als N eumann , der in der letzten Zeile des Schlusskapitels der lateinischen Übersetzung (Respondit enim uoci mee per mortis acerbitatem interficiens me ueritati testimonium perhibentem, LD VI.25,6f./ Rev. Bd. II.2, S. 643,4-6) 348 eine Aufschwellung von FL IV.28: 312,10 (IV.28,8): wan si lonete mir mit dem bitteren tode sah, 349 ist V oll mann -P rofe der Ansicht, FL IV.28 sei in E «wohl unvollständig.» 350 Mit B ecker gesprochen bietet LD VI.25 einen «unechten Zusatz». Dass dieser Zusatz im textkritischen Sinne echt ist, begründet V ollmann -P rofe mit dem Hinweis auf eine Parallelstelle: FL II.24: 120,12 (II.24,10f.) soll beweisen, dass die Pluszeile in der ›Lux divinitatis‹ sachlich und inhaltlich zu Mechthild passt. Spricht V ollmann -P rofe von der Unvollständigkeit der von E vertretenen oberdeutschen Texttradition, so setzt sie eine der deutschen und lateinischen Überlieferung gemeinsame mittelniederdeutsche Vorlage voraus, die nach dem intakten lateinischen Text zu ergänzen wäre. Die Möglichkeit, dass den lateinischen Übersetzern eine andere Version des ›Fließenden Lichts‹ vorgelegen haben könnte als diejenige, welche in der Basler Tradition greifbar ist, wird nicht erwogen. Dies verwundert insofern, als die den Textbestand betreffenden Varianten sich nicht auf B ecker s «unechte Zusätze» (vgl. S. 177, Anm. 325) bzw. auf die von V ollmann -P rofe ermittelte neue Stelle beschränken lassen. Will man sich ein Bild verschaffen von den Abweichungen, die vom jeweils anderen Überlieferungszweig her gesehen als Umstellungen, Ergänzungen oder Auslassungen definiert werden können, so ist man auf den unmittelbaren Vergleich des deutschen und lateinischen Textes angewiesen, denn die Varianten der ›Lux divinitatis‹ wurden in N eumann s textkritischer Ausgabe nur soweit berücksichtigt, als sie bei der Herstellung eines autornahen Textes dienlich waren. Von den vermeintlichen Umstellungen der lateinischen Übersetzer war bereits die Rede (Kap. II.2.1). Nun soll es um die so genannten Ergänzungen Varianz in Textbestand und Textfolge 183 347 Vgl. etwa N eumann (1993), S. 27, Anm. zu I.45,19: «Erweiterung» in LD I.21,10-14/ Rev. Bd. II.2, S. 466,30-35 bzw. LG I.21,16-23) - ebd., S. 54, Anm. zu III.5,27: «triviale Begründung» in LD IV.18,21f./ Rev. Bd. II.2, S. 555,30f. bzw. LG IV.17,27) - ebd., S. 85, Anm. zu V.3,9-11: «Auslassung» in LD III.16/ Rev. Bd. II.2, S. 536 bzw. LG III.16). 348 Vgl. LG VI.25,11-13: Wan sie gab antwúrt miner stim durch die bitterkeyt des todes . Vnd schlúg zú t o d mich der do zúignús gab der warheyt. 349 Vgl. N eumann (1990), S. 149, App. zu IV.28,8. 350 V ollmann- P rofe (2003), S. 790. <?page no="194"?> gehen, das heißt um die Plustexte des lateinischen Überlieferungszweigs. Nicht wenige von ihnen beanspruchen, wie es nun zu zeigen gilt, dieselbe Originalität, die V ollmann -P rofe für den von ihr neu entdeckten «unechten Zusatz» in LD VI.25 reklamierte. In LD II.35 (Rev. Bd. II.2, S. 511-512) berichtet die Visionärin in Ich-Form von der ihr zuteil gewordenen Schau eines verstorbenen Bruders namens Heinrich. Nach der himmlischen Erhöhung und Krönung Heinrichs durch Gott und den Heiligen Dominikus fordert ihn Dominikus in Anlehnung an Mc 25,21 auf, in die Freude des Herrn einzugehen. Daraufhin erblickt die Visionärin die Seele des Verstorbenen in der Umarmung der Heiligen Dreifaltigkeit: Tunc in iubilo michi influente diuinitus uidi felicem illam animam . summe trinitatis beatis amplexibus dulciter et inseparabiliter inherentem . Vere non est acceptio personarum apud deum [Act 10,34] . Ecce enim mendicus cum gloria susceptus . sicut signaculum positus inter brachia [Ct 8,6] altissimi delectatur (LD II.35,38-42/ Rev. Bd. II.2, S. 512,25-30). 351 Diese Apotheose des verstorbenen Predigerbruders fehlt in der deutschen Überlieferung (vgl. FL IV.22: 292,5f. [IV.22,39]), was Grund genug für die Annahme ist, es handle sich um einen (echten) Zusatz der ›Lux divinitatis‹. 352 Deutlich günstiger urteilt B ecker , der einen «unechten Zusatz» vermutet und daraus folgert: «In E wird daher nach ‹alleluja› (Morel 113,21 [= FL IV.22: 292,6]) das Entsprechende im Laufe der Ueberlieferung ausgefallen sein.» 353 So unterschiedlich, ja widersprüchlich die Bewertung des Befundes auch ist, ausgegangen wird hier wie dort von der Existenz einer einzigen, ja einzig authentischen Version des ›Fließenden Lichts‹. Unberücksichtigt bleibt die Möglichkeit, dass die oben angeführte Textstelle in einer anderen Version des Textes als E gestanden haben kann und in dieser Form als Vorlage der lateinischen Übersetzung diente. Dafür sprechen weitere ‹Ergänzungen›, für die nicht einfach die Übersetzer-Redaktoren verantwortlich gemacht werden können, da sie nicht weniger ‹original› zu sein scheinen als das allgemein als authentisch geltende Textcorpus E. FL IV.3 enthält eine groß angelegte allegorische Darstellung der Kirche als herrscherliche Jungfrau. Besonders lange verweilt der Text bei der Beschreibung der Krone, die die Jungfrau auf ihrem Haupt trägt. Die Krone wird mit einer Burg mit Zinnen verglichen, die vom Teufel und seinem Gefolge belagert wird. Die Anwohner der Burg sind die Gerechten, angeführt von Christus, ihrem Burgherren. Allegorisch ausgelegt werden auch einzelne architektonische Elemente der Burg, beispielsweise die mit kostbaren Edelsteinen geschmückten Zinnen, die Verteidigungsbastion und der Turm. Im letzteren werden die Seligen verortet, die nicht mehr gegen den Teufel kämpfen müssen. Weiter heißt es hier: Da mag aber nieman uf komen, im werde von minne aller sin irdenscher wille benomen (FL IV.3: 242,32f. [IV.3,63f.]). In LD II.24,11 (Rev. Bd. II.2, 184 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 351 Die Solesmenser Mönche lesen mit Rb fol. 66 vb sinnloses uilicem animam illam für uidi felicem illam animam. Die korrekte Lesart bietet Dietrich von Apolda, s. B ecker (1951), S. 14f. Auch die alemannische Rückübersetzung liest richtig, vgl. LG II.32,51-55: Do war mein seel in Júbel vnd sach dise selige seell anhangenn dem vmfahen der h o chste tryfaltigkayt . Warlich bey gott ist nit vffnemúng der person . Wan diser bettler ist mit eer empfangen . vnd frewet sich zwuschen den armen des allerhochsten als ein wúnderzeichen. 352 Vgl. S enne (2002), S. 23. 353 B ecker (1951), S. 68. <?page no="195"?> S. 502,19f.) liest man zusätzlich: Beati omnes qui in hac turri meruerunt habitare. 354 Eine ähnliche Exklamation findet sich in der ›Lux divinitatis‹ am Ende der allegorischen Vision, wo sich die Jungfrau als die heilige Kirche zu erkennen gibt. Der deutsche Text beschließt die Vision mit dem explikativen Vermerk: Dis ist der seligen pfaffen juncfr p we, die si so dikke lieplich ansch p went (FL IV.3: 244,8f. [IV.3,73f.]). LD II.24, 19f. (Rev. Bd. II.2, S. 502,32f.) fügt hinzu: Beati qui eam in sincera caritate custodiunt. 355 Von einem Zusatz des lateinischen Übersetzers zu reden, 356 ist in den beiden Fällen insofern nicht zwingend, als sich solche biblisch inspirierten Anrufungen (vgl. etwa Apc 19,9, Lc 12,38 usw.) auch sonst im ›Fließenden Licht‹ finden und von daher in der lateinischen Übersetzung ‹original› sein können, vgl. Wol im, das er ie mensche wart, der das rehte einist enpfindet (FL IV.18: 278,9f. [IV.18,26f.], vgl. LD V.1,22f./ Rev. Bd. II.2, S. 588,8f. bzw. LG V.1,34f.) - Wol im, das er ie mensche wart, der disen namen vor gotte hat (FL IV.18: 282,27f. [IV.18,100f.], vgl. LD V.3,32f./ Rev. Bd. II.2, S. 590,29f. bzw. LG V.2,86f.) - Wol dem der nu vaste stat (FL VI.29: 490,5f. [VI.29,21], vgl. LD I.3,16f./ Rev. Bd. II.2, S. 449,8 bzw. LG I.3,25) - Wol im, der sich hie an in vlisset (FL VII.17: 564,9 [VII.17,37]) und Wol im, der da eweklich wonen sol (FL VII.45: 616,31 [VII.45,22f.]). Nicht auszuschließen ist freilich, dass der biblische Duktus erst in der Übersetzung realisiert wurde und die Vorlage nur das ‹Rohmaterial› lieferte. 357 Wie dem auch sei, in beiden Fällen muss mit mehr Text in der Übersetzungsvorlage gerechnet werden. FL IV.23 handelt vom verstorbenen Evangelisten Johannes, dessen Leichnam in einem topographisch nicht näher eingrenzbaren Bereich zwischen Himmel und Erde gesehen wird. Zwar befindet sich der Leichnam in einem verklärten Zustand, doch teilt er das Schicksal anderer Verstorbener insofern, als er durch eine Wand, so dünn wie die Haut eines Eies, von der endgültigen Verklärung am Jüngsten Tag getrennt ist. Damit endet der deutsche Text. Der lateinische schließt dagegen mit dem Satz: hec que de pariete hic dicuntur michi allegorice intelligenda uidentur (LD II.9,16f., Rev. Bd. II.2, S. 489, 24f.). 358 Vertrauen wir, wie N eumann und V ollmann -P rofe , auf die Beweiskraft von Parallelstellen, so haben wir es wieder einmal mit einer Aussage zu tun, die sachlich und inhaltlich mechthildisch sein kann (man beachte die Ich-Perspektive! ). Zu verweisen wäre auf ein Kapitel, von dem im Zusammenhang der Interpolationen nach dem Stichwortprinzip bereits die Rede war. FL VI.8 beschäftigt sich mit dem Fegefeuer und den Qualen, die der Mensch wegen seiner Sünden noch in dieser Welt, noch mehr aber nach seinem Tod erleiden muss. Das Kapitel schließt mit der Anmerkung: Es ist aber in geistlicher wise also, das sie sele von irdenischen dingen kein pine mag geliden, swenne si kumt von disem libe (FL VI.8: 448,29f. [VI.8,34f.]). Auf eine ähnliche Anmerkung, die dazu dient, den allegorischen Charakter des Gesagten herauszustellen, stößen wir auch Varianz in Textbestand und Textfolge 185 354 Vgl. LG II.21,16f.: Sellig sind alle die . dy do vordienent han zuwonen in disem thúrn. 355 Vgl. LG II.21,28f.: Selig sind die die behutend in rayner liebin. 356 So B ecker (1951), S. 53. 357 Ich denke an einen Fall wie FL IV.27: 306,10f. (IV.27,105): Der denne dar gat und mit inen gestat, der ist ein seliger man wird in LD III.13,15f. (Rev. Bd. II.2, S. 532,15) mit Beati qui tunc eos audiunt et assistunt (LG III.13,22f.: Selig werden die sein · so sye in der selbigen zytt choren werdent vnd bey ynen ston) wiedergegeben. 358 Vgl. LG II.9,20f.: Dise ding do gesprochen von der wand soll man vff ein andern sin als mich bedunckt verstonn. <?page no="196"?> am Ende von FL III.6: Eya, wie dike das gotz brúten geschiht geistlich (III.6: 172,2 [III.6,6f.]) und in FL VII.48: 622,8f. (VII.48,6): Dis sol man geistlich vernemen. Allegoriesignale, wie die eben genannten, findet man auch sonst im ›Fließenden Licht‹, vgl. FL IV.3: 242,3 (IV.3,40): das ist …, IV.3: 242,5 (IV.3,42): das sint …, IV.3: 242,10 (IV.3,46): das bezeichent …, IV.18: 276,22 (IV.18,13): dis betútet … usw. 359 Als letzter der in FL V.34 genannten Boten wird das ›Fließende Licht‹ selbst (dis b v ch) zu den geistlichen Menschen geschickt, und zwar sowohl zu den Guten als auch zu den Bösen. Die Begründung lautet: swenne die súle vallent, so mag das werk nit gestan (FL V.34: 406,12f. [V.34,42f.]). LD II.18,5-7 (Rev. Bd. II.2, S. 496,9-12) übersetzt sinngemäß: Librum istum tanquam nuncium dirigo omnibus spiritualibus religiosis bene uiuentibus . uel male agentibus . quia cum columpne nutant . tunc structura supereminens non subsistet. 360 An columpne anknüpfend fügt LD II.18,7f. hinzu: Columpne ecclesie spirituales homines et uiri religiosi sunt. 361 Man wäre geneigt, diesen in E fehlenden Satz als erklärenden Zusatz der Übersetzer abzutun, gäbe es nicht eine Stelle im ›Fließenden Licht‹, die einen vergleichbaren Fall bietet. Ich meine FL VI.3, das Kapitel, das von den Domherren handelt, die wegen ihres ungeistlichen Lebenswandels Böcke genannt werden. Da Gott jedoch aus den Böcken Lämmer machen will, empfiehlt er ihnen den zum Dekan gewordenen Herren Dietrich als Vorbild: Wellent si [die Domherren] das v v ter essen, das in her Dietrich in die krippfen leit, das ist die helige b v sse und der getrúwe rat in der bihte, so s o nt si einer hande lamber werden, die man heisset wider, lamber mit hornen (FL VI.3: 436,12-15 [VI.3,10-12]). Was mit den Hörnern gemeint ist, wird nachfolgend erläutert: Die horn das ist geistliche gewalt, der si heilekliche gebruchen z v gottes lobe. Dieser Satz fehlt in LD III.2 (Rev. Bd. II.2, S. 521; LG III.2). Dennoch gilt er als original. Dieselbe Originalität (im Sinne von B umke ) wird man auch für die zitierte explikative Ausführung in LD II.18 zu den Säulen der Kirche reklamieren dürfen, es sei denn, wir haben es an beiden Stellen mit einem erläuternden Einschub welcher Provenienz auch immer zu tun, der über eine Glosse in den Text geraten ist. 362 Dass mit dieser Möglichkeit gerechnet werden muss, zeigt ein Blick 186 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 359 Die von K öbele (1993), S. 77 herausgearbeitete Differenz zwischen dem ›Fließenden Licht‹ und dem Helftaer Schrifttum in Bezug auf den Gebrauch von Metaphern ist demnach keineswegs so ausgeprägt, wie die von ihr vorgenommene Gegenüberstellung ‹identifikatorische Metaphorik hier/ Allegoriesignale dort› suggeriert. Auch im ›Fließenden Licht‹ finden sich Stellen, wo Erzählstruktur und Allegorie, Literal- und Spiritualebene auseinander gehalten werden, vgl. in diesem Zusammenhang O rteno V illena (2007), S. 307f. 360 Wie im deutschen ist dieser Passus im lateinischen Text ein weiteres Mal überliefert, und zwar im Prol. 7,2f./ Rev. Bd. II.2, S. 444,30-33 (entspricht LG Vorrede 6,4-6). Hier ist allerdings nur von religiosi die Rede. beidú b o sen und g v ten bleibt unübersetzt. Diese «deplatzierte Adressatenschelte» - eine Interpolation, meint R uh (1950), S. 7 (Apparat) - soll der Übersetzer anstößig gefunden und getilgt haben, so N ellmann (1989), S. 201. Ob dies stimmt, bleibt offen, denn anders als im Prolog wird die Wendung beidú b o sen und g v ten - eine wohl von Mt 22,10 beeinflusste Formel - in FL V.34 übersetzt (s.o.). 361 Vgl. LG II.18,10f.: Die seúl der kirchen seint die geistlichen menner. 362 Wie eine solche Glosse ausgesehen haben kann, zeigt der Randnachtrag Cornua sunt potestas spiritualis zu LD III.2,12f. (Rev. Bd. II.2, S. 521,20) in der Handschrift Rb, der freilich hier in Anlehnung an FL VI.3: 436,16 (VI.3,12f.) formuliert wurde und erst in Basel eingefügt wurde, s. dazu S. 362ff. weiter unten. <?page no="197"?> auf den Umgang der Forschung mit manchen verdächtig vorkommenden Textstellen in E. So hält N eumann den in LD V.8 (Rev. Bd. II.2, S. 596; LG V.6) fehlenden Satz das ist gottes herze, owe miner schuldigen smerze (FL V.22: 360,36f. [V.22,46f.]) für einen «unechte[n] glossierende[n] Einschub.» 363 Ähnlich überlegt V ollmann -P rofe , ob die in LD IV.8/ Rev. Bd. II.2, S. 546 (entspricht LG IV.7) fehlende Schlusszeile von FL I.9 (Glosa: das ist úber Seraphin) einen späteren Zusatz darstellt. Allerdings fügt sie gleich hinzu: «doch wohl auf M. zurückgehend.» 364 In der Tat scheint es, dass mit solchen in den Text geratenen Randnachträgen immer wieder zu rechnen ist. 365 Auch der oben zitierte erläuternde Einschub zu columpne in LD II.18 kann solchen Ursprungs sein, da er am Rande der deutschen Vorlagehandschrift der ›Lux divinitatis‹ gestanden haben und vom Übersetzer in den Text gezogen worden sein könnte. Zwar erhebt er Anspruch auf Originalität, ob dieser wie die anderen genannten glossierenden Einschübe jedoch von Mechthild herrühren, bleibt offen. Dasselbe gilt für den folgenden, in FL II.24 fehlenden Passus: LD II.19,25-27 (Rev. Bd. II.2, S. 498,9-12) kommentiert die tröstenden Worte des Herrn Du jungfr p we, gehabe dich wol! Die gr o ssi mines wunders sol úber dich gan, die l o wen s o llent dich v o rhten, die beren s o llent dir sicheren, die wolfe s o llent dich vliehen, das lamp sol din geselle sin (122,3-7 [II.24,27-30]) wie folgt: Hoc est superborum elacio / et inuidorum delacio . auarorum ambicio deficiet et persequi deseret . christus autem te numquam derelinquet. 366 Hinzuweisen wäre auch auf LD VI.11,12-14 (Rev. Bd. II.2, S. 628,19-21). Das Kapitel handelt vom Fegefeuer eines geistlichen menschen. 367 Der lateinische Text Varianz in Textbestand und Textfolge 187 363 N eumann (1993), S. 95. 364 V ollmann- P rofe (2003), S. 710. Vgl. auch das Urteil von V ollmann- P rofe (2003), S. 801 über den von N eumann (Anm. 363 mit Text) «ganz unmechthildisch» gehaltenen Satz in FL V.22: 360,36f. (V.22,46): «doch scheint mir die Formulierung durchaus möglich.» 365 Vgl. auch folgende Sätze und Teilsätze (sie sind in LD nicht enthalten): FL III.7: 172,14 (III.7,9f.): wan das ist ein vorhimelrich, s. dazu V izkelety / K ornrumpf (1968), S. 297 - FL II.19,69f. (fehlt bei V ollmann- P rofe 108,10): die beginnen alsust: Der ware gotz gr v s, der da kumt von der himelschen fl v t [C, bl v t E], s. dazu S tierling (1907), S. 80 - FL IV.2: 234,19-22 (IV.2,89-91): Swenne ein mensche in einem heiligen leben gemach sines fleisches ane rechte notdúrftekeit und an allen sinen fúnf sinnen s v chet, so werdent si unkúsche, das ist: grob und las; und wirt verkaltet dú ware gotz minne, s. dazu B ecker (1951), S. 50 - FL V.13: 348,1 (V.13,8): antphrasis, s. dazu V ollmann- P rofe (2003), S. 799. Ich verweise außerdem auf FL III.21: 210,16 (III.21,57) wir sehen, wes wir hie pflegen und FL IV.27: 302,5f. (IV.27,44) Si [die Brüder des endzeitlichen Ordens] s o nt p ch mit keiner witwen ze herberge wesen (von jüngerer Hand am Rande von Rb fol. 69 va nachgetragen, vgl. LD III.11,31/ Rev. Bd. II.2, S. 530,14f.). Für weitere Beispiele s. S. 169f., Anm. 300. 366 Vgl. LG II.19,39-41: Das ist der hoffertigen erhebúng . vnd der nideschen vorklagúng . vnd der geitigen ytell eer wirt abgon vnd wirt vffhoren zúúerfolgen Aber christús wirt dich nymmer verlassen. 367 Der in der Überschrift von FL III.17 hergestellte Bezug zum predier orden wird in LD VI.11 (LG VI.11) nicht realisiert: In der Überschrift des lateinischen Kapitels ist von cuiusdam religiosus die Rede, obwohl sich der Protagonist immer wieder als Ordensbruder zu erkennen gibt, vgl. Nobilitas ordinis mei non sinit quod etc. (Z. 15f./ Rev. Bd. II.2, S. 628,23f. bzw. LG VI.11,23f.) und finem purgatorij mei dicere nolo tibi ne ex hoc fratres mei ordinis contristentur (Z. 22f./ Rev. Bd. II.2, S. 628,33f. bzw. LG VI.11,33f.). Man fragt sich, ob der Hinweis auf den Dominikanerorden erst auf dem Weg zu *EC in den Text geraten ist, vgl. auch N eumann (1993), S. 125, Anm. zu VI.21,2. <?page no="198"?> berichtet mit dem deutschen übereinstimmend: Zwenne drakken lagen z v sinen f v ssen, die sugen im allen den trost us, den er enpfahen solte von der heligen cristanheit wider den sin cranken gehorsam, das er sunder not nach sinem willen und nit nach siner prelaten lere wolte gan (FL III.17: 200,19-22 [III.17,14-17]), fügt allerdings anschließend hinzu: horror culpe / et ignis pene / ipsum in draconum specie crvciabant quod percipere non poterat suffragia qua ecclesie karitas offerebat. 368 Dieser und der zuvor genannte Passus unterscheiden sich formal und inhaltlich in keiner Weise von jenen Zwischenbemerkungen, die Mechthild selbst eingeschoben haben soll, als sie den Büchern I- VI (? ) eine «zweite Redaktion» 369 angedeihen ließ, vgl. FL IV.2: 234,19-22 und 34-37 (IV.2,89-91 und 101-103, fehlen LD Prol 3-4/ Rev. Bd. II.2, S. 438f. bzw. LG Vorrede 2-3) bzw. FL V.24: 380,9-12 (V.24,34-36, fehlt LD II.14/ Rev. Bd. II.2, S. 493 bzw. LG II.13). 370 Eine Variante anderer Art stellt der Anfang von LD I.23 dar. Setzt FL I.29 mit Vide me, sponsa! Sich, wie sch o ne min p gen sint etc. recht unvermittelt ein, so wird dem entsprechenden lateinischen Kapitel ein LD II.37 (Rev. Bd. II.2, S. 514) vergleichbarer Situationsbericht, der, laut B ecker , einen «unechten Zusatz» zu FL VI.11 darstellt (s. S. 177, Anm. 325), vorgeschoben: Die quadam dum sorores omnes ad audiendum verbum dei properarent remansit soror mehtildis sola in quodam cubiculo clausa . Cepit ergo 371 contristari et mesta esse . dicens in corde suo . Hev me domine quod uerbo tuo ascultando propter infirmitatem non ualeo misera interesse . Mox apparuit ei consolator merencium in habitu predicatorum et dixit ei . Vide me sponsa etc. (LD I.23,2-6/ Rev. Bd. II.2, S. 468). 372 Diese Einleitung stellt insofern keinen Fremdkörper im Corpus der Schriften, die man Mechthild zuzuschreiben gewohnt ist, dar, als ähnliche Situationsberichte auch sonst im ›Fließenden Licht‹ zu finden sind, vgl. Eya lieber herre wie nútze das si, das ein mensche von g v tem willen sie, nochdenne das si der werke nit vermag, das wisete únser lieber herre einer armen dirnen, do si nit me mohte, alleine si doch leider z v sinem dienste nit endohte. Do sprach si alsust ze gotte: »Eya lieber herre min, sol ich hútte ane messe sin? « (FL II.4: 84,5-10 [II.4,4-8]) 373 bzw. Sust klaget sich ein ellende sele […] und sprach: »Eya herre, nu bin ich vil arm an minem siechen lichamen und bin vil ellendig an miner armen sele also, herre, an geistlicher ordenunge, das nieman din zit vor mir liset noch nieman dines heligen anbahtes der messe vor mir pfliget! « (FL III.5: 168,12-19 [III.5,3-8]). 188 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 368 Vgl. LG VI.11,19-21: der erschreck der schuld vnd die pin des fúirs pinigenten yn . in der gestalt der trachen / das er nit mocht empfaen die hulff der kirchen Die . die liebin vffopffert. 369 S. dazu N eumann (1993), S. 66, Anm. zu IV.2,101-103. 370 S. dazu N eumann ebd., S. 99. 371 ergo fehlt Rev. Bd. II.2, S. 468,32. N eumann (1993), S. 19, Anm. zu I.29,3 liest graviter. 372 Vgl. LG I.23,2-8: Eins tages do alle schwestern gingen zúhoren das wort gottes blib schwester Mechtildis allein in einem kemmerlin beschlossen Do fing sy an trúrig sein sprechent in yren hertzen / Hew wee mir o herr das ich vmb kranckheit wegen nit kann dinem wort vffh o ren / Glich erschin ir der troster der trúrigen in dem kleid prediger ordens vnd sprach zú ir O sponsa sich mich an etc. 373 Ich zitiere nach E wegen der vielen zwar gut begründeten, aber nicht zwingenden Eingriffe seitens der Herausgeber. So streicht N eumann (1990), S. 41 die Anrede Eya lieber herre vom Anfang des Kapitels und ändert nit me mohte in nit z v der messe komen mohte, eine Ergänzung, die sich «vom Zusammenhang her» nahelegt, wie auch V ollmann- P rofe (2003), S. 730 betont. <?page no="199"?> Auch in diesen unhinterfragt als authentisch geltenden Passagen wird Krankheit als Grund angegeben, der den Ich-Sprecher daran hindert, an den kultischen Handlungen teilzunehmen. 374 Hier wie dort provoziert die Beschwerde des Kranken über seine nicht selbst verantwortete Lage die göttliche Absolution. Freilich fragt man sich angesichts einer in der ›Lux divinitatis‹ zweifelsohne vorhandenen Tendenz zu biographischen und zeitgeschichtlichen Erweiterungen (vgl. etwa LD II.18,2f./ Rev. Bd. II.2, S. 496, LD II.39 und 40/ Rev. Bd. II.2, S. 515f.), ob der Einleitungstext zu FL I.29 auch in der deutschen Vorlage der lateinischen Übersetzer von ähnlichem Umfang und ähnlicher Ausführlichkeit war. 375 Denkbar ist, dass die Vorlage nur die mit einer Inquit- Formel eingeleitete direkte Rede Hev me domine etc. enthielt, gefolgt von der Vision Christi in Gestalt eines Predigerbruders. 376 Ob die Inquit-Formel aus der Ich- oder der allgemein verbindlichen Perspektive eines menschen bzw. einer sele formuliert war (vgl. die Situationsberichte in FL II.4 und III.5), bleibt freilich offen, zumal die Übersetzer dazu neigen, das im Text Gesagte bzw. Geschilderte auf Mechthild als erlebende Person zu beziehen (s. dazu S. 345ff. weiter unten). Wie auch immer der Beginn von FL I.29 in der deutschen Vorlage der ›Lux divinitatis‹ ausgesehen haben mag, dass es dort einen Situationsbericht gegeben haben muss, belegt nicht nur das entsprechende lateinische Kapitel, sondern auch das folgende Kapitel (FL I.30), das in der lateinischen Übersetzung (! ) inhaltlich an FL I.29 unmittelbar anknüpft. E trägt die Überschrift Von den siben ziten und lässt ein auf verschiedene Aspekte bzw. Erfahrungsweisen der Liebe ausgerichtete Tageszeitgebet folgen. 377 Die Überschrift des entsprechenden lateinischen Kapitels - es befindet sich nicht in unmittelbarer Nähe zum Übersetzungsäquivalent von FL I.29! - lautet: De septem horis canonicis quas infirma dicebat (LD IV.53/ Rev. Bd. II.2, S. 580). 378 Darauf folgt FL I.30 zunächst auf Deutsch, dann auf Latein. Am Ende des lateinischen Tageszeitgebets findet sich ein weiterer quasi-biographischer Vermerk: Hec septem uerba femina sancta corpore debilitato per spiritus feruore uel eciam per languorem amorem delectantem (? ) decantare domino consueuit (LD IV.54,6-8/ Rev. Bd. II.2, S. 581,4-6). 379 Wie schon in FL I.29 fehlt eine situative Einbindung des Kapitelinhalts auch in FL I.30. In der ›Lux divinitatis‹ verbindet dagegen ein durch Krankheit und Leibesschwäche evozierter situativer Rahmen beide Kapitel miteinander, und dies obwohl die Übersetzungsäquivalente für FL I.29 und 30 hier weit auseinander liegen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als hätte die deutsche Vorlage am Anfang von FL I.29 und 30 einen LD I.23 und IV.54 vergleichbaren kontextualisierenden Einschub (von welchem Varianz in Textbestand und Textfolge 189 374 Zu diesem in der hagiographischen Literatur verbreiteten Motiv s. R ingler (1980), S. 317f. 375 Vgl. N eumann (1993), S. 118 zu dem in FL VI.11 fehlenden Auftakt in LD II.37/ Rev. Bd. II.2, S. 514 bzw. LG II.34. 376 Vgl. dazu die Vision des verstorbenen Scholaren in FL VI.11: 454,5f. (VI.11,4f.), der einem predier gelich gesehen wird, oder die Visionen in FL VII.11 (wie únser herre wart glich gesehen einem arbeitendem manne, Überschrift) und VII.13 (Wie únser herre wart gesehen glich einem pilgerin, Überschrift). 377 Vgl. V ollmann- P rofe (2003), S. 717. 378 Vgl. LG IV.44: Hie sind beschriben die vijzit [sic! ] die sie in der kranckheit sprach. 379 Vgl. LG IV.44,17-20: Dise vij wort hatt dise heilige fraw . nach yr gewonheit gesongen gott dem herren dúrch den inbrunst des geistes . oder durch kranckheit . auch im schwach gemachtem leip . darzú gereitzet durch die liebin. <?page no="200"?> Umfang auch immer) geboten. Und man fragt sich, ob die Überschrift des in die ›Lux divinitatis‹ aufgenommenen deutschen Tageszeitgebets nicht einen Hinweis auf die Existenz eines solchen Einschubs bietet, zumal wenn das deutsche Tageszeitgebet der mittelniederdeutschen Übersetzungsvorlage selbst entnommen worden sein sollte. 380 Mit einer Einleitung versehen ist auch FL IV.21 in der lateinischen Übersetzung. Im deutschen Text gehört dieses Kapitel mit dem vorangehenden eng zusammen, handeln doch beide von Dominikus bzw. dem Dominikanerorden. Anders als im ›Fließenden Licht‹, wo die temporale Angabe Hie nach FL IV.21 eröffnet, wird das Kapitel in LD II.12 wie folgt eingeleitet: Exordium huius ordinis primitiuum . ardenti caritatis deifice feruebat calore . eximieque puritatis mundicia candens . uelud lilium fragrabat odore . fictionis ypocrisisque nescius . uestitus vere simplicitatis effulsit decore (Z. 2-4/ Rev. Bd. II.2, S. 491,19-22). 381 Dieser Kapitelauftakt scheint FL V.24: 380,31f. (V.24, 52f.): Dirre orden [der Dominikaner] was in den ersten ziten reine, einvaltig und dar z v vol der brennenden gotz liebi nachempfunden worden sein, einem Kapitel, das in der ›Lux divinitatis‹ unmittelbar auf die Übersetzung von FL IV.21 folgt, vgl. LD IV.13 (Rev. Bd. II.2, S. 492). 382 Man fragt sich angesichts dieses Befunds, ob der Beginn von 190 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 380 Außer diesem Textstück gibt es einige Glossen, die auf Deutsch in die ›Lux divinitatis‹ eingegangen sind. Manche dieser Glossen stellen Lemmata dar und zeigen laut V ölker (1967), S. 56 «deutlichere Spuren ihrer niederdeutschen Herkunft als die entsprechenden Textteile der oberdeutschen Übertragung.» Dies soll auch auf den Lautstand von FL I.30 zutreffen. V ölker ebd. weist auf die nicht durchgeführte Diphtongierung in sûze, kûlen und vûlen hin. Der Ansicht, das in Rb eingegangene Textstück entstamme nicht der ober-, sondern der niederdeutschen Tradition des ›Fließenden Lichts‹, scheint auch V ollmann- P rofe (2003), S. 717 zuzuneigen, wenn sie feststellt: «Die Hallenser Übersetzer haben sie [die Stoßgebete in FL I.30] zwar ins Lateinische übertragen, zugleich aber auch die deutsche Fassung abgeschrieben.» B oehmer (1874), S. 4, B ecker (1951), S. 172, Anm. 1 und N eumann (1990), S. 23, App. zu FL I.30 sind dagegen der Ansicht, nicht der mittelniederdeutsche Text, sondern die Basler Übertragung sei in LD IV.53 zitiert. Auf dieser Grundlage hat B oehmer (1874) Rb auf die Mitte des 14. Jahrhunderts datiert. B ecker dagegen wollte die Handschrift ziemlich genau auf 1310 setzen (S. 7), und dies obwohl er der Ansicht ist, FL I.30 sei hier «durchaus im hd. Lautstande» (S. 172, Anm. 1) überliefert. Hochdeutsch ist jedoch das ›Fließende Licht‹ jedoch erst seit den 40er Jahren des 14. Jahrhunderts bezeugt. Auf Anfrage von Ernst Hellgardt datierte Karin Schneider Rb auf die Zeit um bzw. kurz vor 1350. Aus der Datierung und der Provenienz von Rb aus dem Dominikanerkloster in Basel lässt sich demnach höchstens auf die Kenntnis der Basler Übertragung schließen, der das deutsche Textstück in LD IV.53 entnommen worden sein könnte. Gegen eine erst in Rb erfolgte Aufnahme von FL I.30 in die ›Lux divinitatis‹ spricht jedoch Rw. Denn auch hier ist das deutsche Gebet enthalten, obwohl Rw nicht von Rb abstammt, sondern auf eine davon unabhängige Vorlage zurückgeht. Allerdings scheint selbst diese Vorlage keine von Basel unabhängige Tradition des lateinischen Textes zu repräsentieren 381 Vgl. LG II.12,2-5: Der erst aúffgang dises ordens glúet mit brinnender hitz der g o tliche liebin unt mit reinigkeyt einer hohen púrheyt / glitzet als ein lilie . gab ein wolrichenden geschmack on stifftung der gleißnery vnd der erdichtung . vnd scheint becleidt mit zierde der waren einfaltigkayt. 382 In der lateinischen Übersetzung lautet der zitierte Passus aus FL V.24: Hic ordo primis temporibus mundus fuit . simplex . et uigebat in eo caritas (Z. 9f./ Rev. Bd. II.2, S. 493, 34f.). <?page no="201"?> LD II.12 sich überhaupt dafür eignet, die Existenz einer von E abweichenden Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹ zu belegen, zumal sich die Übersetzer bei der Neugestaltung des Kapitelbeginns von FL IV.21 vom Inhalt des bei ihnen unmittelbar darauf folgenden Kapitels leiten lassen konnten. Dieses Verfahren der Wiederverwertung vorhandenen Textmaterials kennt man jedoch auch aus dem ›Fließenden Licht‹, genauer aus dem Prooemium I, das eine Art Mosaik darstellt und aus Sätzen anderer Kapitel besteht, und vor allem aus dem siebten Buch. Man denke an FL VII.1: 532,4f. (VII.1, 129f.) und VII.18: 564,13-17 (VII.18,3-7). Das letztgenannte Kapitel enthält Tageszeitgebete unter anderem zu Matutin. Es wird durch fünf Anrufungen eingeleitet, die auch FL V.20 eröffnen. Wie beim Prooemium I, dessen mosaikartige Struktur entweder Mechthild oder dem Redaktor (vorzugsweise Heinrich von Halle) zugeschrieben wird, 383 gehen die Meinungen auch bei FL VII.18 auseinander, was die Frage nach dem Urheber des neuen Arrangements betrifft. Für N eumann handelt es sich um «eine bewußte Wiederverwendung seitens der Verfasserin», 384 wohingegen V ollmann -P rofe der Ansicht ist, die nochmalige Verwendung der Anrufungen im Buch VII «dürfte kaum auf M. zurückgehen.» 385 Anders wird FL VII.1: 532,4f. (VII.1,129f.) beurteilt, eine Stelle wohlgemerkt, die am ehesten eine Parallele zu dem in LD II.12 anzutreffenden Verfahren bietet. Denn auch hier wird anverwandelnd auf eine frühere Formulierung zurückgegriffen, vgl. Ist dise rede iht ze lange, das ist des schult, das ich in der cronen manigleie wunne vant bzw. Ist dirre brief ze lang, das ist des schult: Ich was in der matten, da ich manigerleige bl v men vant (FL I.3: 26,19f. [I.3,27f.]). Anders als der Beginn von FL VII.18 hat die Vorgehensweise am Ende von FL VII.1 kein Misstrauen seitens der Forschung erweckt: Es ist Mechthild, die eine frühere Formulierung wieder aufgegriffen und neu ausgestaltet haben soll. 386 Sollten die genannten Beispiele der récriture tatsächlich auf Mechthild zurückgehen, so gäbe es im Grunde keinen Anlaß, daran zu zweifeln, dass der Einleitungstext zu FL IV.21 in LD II.12 nicht ähnlich ‹original› sein kann. Als letztes verweise ich auf einen längeren Passus in LD I.4, der keine Entsprechung in FL II.21 hat: Dicam hoc expressius ut intelligas luculenter . Accedens ad contemplandum deum . emunda prius oculos mentis . intellectum uidelicet et affectum . Si peccandi libidinem . inuidie odijque rubiginem . ac iracundie insaniam . a uoluntate tua absterseris . affeccionis oculus est purgatus . Age penitenciam emunda conscienciam expelle desidiam . Apprehende pacienciam et sic illustrata intelligencia . in montem istum leua oculos tuos . et ueniet tibi auxilium a deo tuo (Z. 12-17/ Rev. Bd. II.2, S. 450, Varianz in Textbestand und Textfolge 191 383 Für Mechthild sprechen sich B ecker (1951), S. 197, N ellmann (1989), S. 205 und O rteno V illena (2007), S. 324 und 336 aus, für eine redaktionelle Zutat S tierling (1907), S. 61f., A ndersen (2000), S. 125f. und V ollmann- P rofe (2003), S. 702f. Fürs Letztere spricht ein Textstück in B (abgedruckt bei N eumann 1993, S. 284,238-242): Es ist «ohne Parallele bei Mechthild, verwendet aber ihr Vokabular», V izkelety / K ornrumpf (1968), S. 285. 384 N eumann (1993), S. 92. 385 V ollmann- P rofe (2003), S. 837. 386 Vgl. T aigel (1955), S. 39f. und V ollmann- P rofe (2003), S. 831, Anm. zu 532,4-6. Hier sei darauf hingewiesen, dass dieses Verfahren der récriture für das siebte Buch, das auch sonst aus der Reihe tanzt, charakteristisch zu sein scheint, vgl. S. 295ff. weiter unten. <?page no="202"?> 10-18). 387 Zwar vermag ich keine Stellen aus dem ›Fließenden Licht‹ zu nennen, die die potenzielle Originalität dieses Textstückes belegen können - stilistisch und inhaltlich erinnert es am ehesten an die via purgationis in FL I.44: 58,4-11 (I.44,4-9) -, doch ist dieser Passus für etwas anderes aufschlussreich. Sollte es sich hier wie bei allen anderen Partien der ›Lux divinitatis‹, die über E hinausgehend ein Ich setzen und damit eine auktoriale Erzählperspektive einführen, um einen Zusatz der Übersetzer handeln, so spräche dies dafür, dass Ich-bezogenes Sprechen kein Authentizitätsbeweis ist, kann doch auch ein Redaktor im Namen des Autors Ich sagen (s. dazu S. 347ff. weiter unten). Es gibt offenbar eine Reihe von Zusätzen in der ›Lux divinitatis‹, die nicht zwingendermaßen «echt» im B ecker schen Sinn sein müssen. Dies bedeutet freilich nicht, dass die ›Lux divinitatis‹ an anderen Stellen keine «echten» Zusätze, «echten» Auslassungen und «echten» Umformulierungen aufweist. Sie resultieren aus der anders gearteten grammatikalischen Struktur und den semantischen Gegebenheiten der Zielsprache (Präzisierung der Tempusebenen, Verlust spezifisch deutscher Anklänge an höfische Kulturelemente durch notwendig anders konnotierte lateinische Termini) sowie aus der Anwendung von Stilphänomenen, die für das Lateinische charakteristisch sind (Neigung zu variatio und amplificatio, Durchsetzung des Textes mit Biblizismen). 388 Darüber hinaus ist mit inhaltlichen Modifikationen des Ausgangstextes zu rechnen, die textkritisch durchaus als Auslassungen bzw. Umformulierungen verbucht werden können. Damit möchte ich auf einige Bearbeitungstendenzen der ›Lux divinitatis‹ hinweisen, die den Inhalt tangieren. II.2.3 Die ›Lux divinitatis‹ als Bearbeitung. Zu einigen Aspekten der Übersetzungsprogrammatik Im Zusammenhang der inhaltlichen Veränderungen, die der deutsche Text bei seiner Überführung ins Lateinische erfahren hat, hat man schon immer auf die Abschwächung bzw. Eliminierung von besonders kühnen Formulierungen geistlicher Erotik sowie von theologisch bedenklichen Stellen hingewiesen. 389 In neueren Untersuchungen wird allerdings betont: «Wohl gibt es Korrektu- 192 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 387 Vgl. LG I.4,16-24: Ich sag dir das clarlicher das dú es bas vorstandest So dú wilt von gott zúbeschawen . vor an reinige die oúgen dines gemúets dein vornúnfft vnnd begird So dú den lúst zú súnden . den roßt vnd vnflot des haß vnd nides vnd des zorns vnsinnigkeyt abtrúcknest von dinem willen so ist gereinigt das oúg der begirden . Wirck b u ß . reinige dein gewißne vßrib die fúligkeyt Hergreiff die gedúlt vnd also mit erleichteter vorstantnus heb vff din oúgen in disen berg so wirt dir húlff kommen von dinem gott. 388 S. dazu G sell / S tockmar (1992), V ollmann- P rofe (2000), S enne (2004) und S uerbaum (2011). Einen Eindruck davon, in welchem Maß die ›Lux divinitatis‹ von Biblizismen durchsetzt ist, wird die Neuausgabe vermitteln, vgl. H ellgardt / N emes / S enne (2011). 389 Zu den «enterotisierenden» (S eelhorst ) Eingriffen der ›Lux divinitatis‹ s. L üers (1926), S. 48-54, K öbele (1993), S. 86, Anm. 208 und S. 111, Anm. 287, S eelhorst (2003), S. 104-107 und P oor (2004), S. 86-88. <?page no="203"?> ren, doch erfolgen diese weder - bezogen auf den Einzelfall - besonders gründlich, noch - im Blick auf das Gesamtwerk - sehr konsequent.» 390 Um dies zu veranschaulichen, greife ich zwei Bereiche heraus, die von ‹dogmatischen› Berichtigungen besonders betroffen sind. Dazu zählen zum einen Textstellen, die von theopoiesis, der Vergöttlichung des Menschen aufgrund einer zwischen Mensch und Gott bestehenden Wesensgleichheit handeln (und zwar nicht allein in dem bis jetzt immer wieder beachteten uniomystischen Kontext! ), zum anderen Aussagen mariologischen Inhalts. Auf diese inhaltlichen Veränderungen hat man vereinzelt zwar hingewiesen, eine umfassende und vor allem systematische Auswertung haben die betroffenen Stellen bislang jedoch nicht erfahren. Doch genau in diesen beiden Bereichen zeigt sich eine Bearbeitungstendenz, die auf theologische Richtigstellung zielt, besonders deutlich. Zunächst zu den Textstellen mariologischen Inhalts. Die augenfälligsten Eingriffe werden in FL V.23 vorgenommen und betreffen die Schilderungen der Empfängnis und des Gebärens Marias. Beidesmal erscheint die Heilige Dreifaltigkeit in die Ereignisse involviert. Das Moment der Empfängnis Mariens wird als Eingang (FL V.23: 364,12-17 [V.23,28-32]), das des Gebärens als Ausgang der Trinität aus Maria (FL V.23: 364,32-366,1 [V.23,43-47]) inszeniert. Do trat dú ganze helige drivaltekeit mit der gewalt der gotheit und mit dem g v ten willen der menscheit und mit der edelen gev v gheit des heligen geistes dur den ganzen lichamen ires magt v mes in die vúrigen sele irs g v ten willen und saste sich in das offen herze ires allerreinosten vleisches etc. (FL V.23: 364,12-17 [V.23,28-32]) bzw. Der almehtige got mit siner wisheit, der ewige sun mit siner menschlichen warheit, der helig geist mit siner cleinlichen s u ssekeit ging dur die ganzen want Marien lichamen mit swebender wunne ane alle arbeit. Das was also schier geschehen, als dú sunne gibet iren schin nach dem s u ssen t p we in minnenklicher r v we. Do Maria ir sch o ne kint angesach etc. (FL V.23: 364,32-366,1 [V.23,43-48]) An beiden Stellen greift der Übersetzer ein: Ad hanc uocem deprimentis se humillime virginitatis . et desiderantis ardentissime caritatis sancte trinitatis . infinita maiestas . et inmensa benignitas exultauit Stabat enim caritas Capite rore pleno ad ostium uirginis et pulsabat . Moxque ut dilatati cordis per fidem pessulum apperuit spiritu sancto superueniente uirtuteque altissimi obumbrante . ex purissimis uirginis sanguinibus conceptus est desideratus cunctis gentibus (LD I.12,28-33/ Rev. Bd. II.2, S. 457,12-19) 391 Varianz in Textbestand und Textfolge 193 390 V ollmann- P rofe (2000), S. 152. Ähnlich B ecker (1951), S. 39 und S enne (2004), S. 148f. 391 Vgl. LG I.12,42-50: Zú disem wort der demútigen iúngfrowschafft begirlicher vnd aller inbrúnstigen liebin . hett sich erfrowet die vnentliche herschafft vnd vngemessene gútigkeyt . der heilige tryfaltigkeyt Wan die liebin stond vor der thúr der iúngfrow mit dem vollen haúbt vom thow . vnd thet anklopffen Bald sy den rigel des vßgespreiten hertzen <?page no="204"?> bzw. In uia nascitur uia . ne erremus per deuia dum in hac tenebrosa peregrinus uia . lucente stella maris preuia . Aspiciens autem iam natum virgo filium … (LD I.13,7-9/ Rev. Bd. II.2, S. 457,36-458,2 bzw. 8f.) 392 Im ersten Fall ersetzt der Übersetzer Trinität mit caritas und lässt den Heiligen Geist Maria im Sinne von Lc 1,35 überschatten. Dieser Eingriff verwundert insofern, als die inhabitatio trinitatis, die Vorstellung von der Einwohnung des dreifaltigen Gottes in Maria, kein heterodoxes Gedankengut darstellt. Im zweiten Fall wird noch radikaler in den Text eingegriffen. Der Grund dürfte darin zu sehen sein, dass der deutsche Text den Anschein erweckt, als wäre nicht allein der Sohn, sondern die ganze Trinität aus Maria hervorgegangen, 393 eine Vorstellung, die aus der Verknüpfung der Inkarnations- und Trinitätsthematik in der inhabitatio-Lehre resultiert. Bemerkenswert ist, dass diese Vorstellung nicht der Einbildungskraft einer häresiegefährdeten, da ungelehrten Begine entspringt. Vielmehr bildet sie den Gegenstand schultheologischer Auseinandersetzungen des 12. und 13. Jahrhunderts. 394 Berichtigend eingegriffen wird auch in FL V.23: 364,28-32 (V.23,40f.). In E liest man: Maria wiste der zit nit vor, wenne got wolte von ir werden geboren, e si in in irme schossen sach in der strasse in der naht ze Betleeme in der vr o meden stat, da si selber was ein arm ungeherbergete gast. Davon ist in der Übersetzung übrig geblieben: Processit itaque natus in bethleem diuersorio . mundi conditor carens hospicio . ut nos in celesti collocaret palacio (LD I.13,6f./ Rev. Bd. II.2, S. 457,34-36). 395 Übergangen wurde demnach die Passage, die von der Unwissenheit Mariens handelt. Es scheint Absicht dahinter zu stehen. Auch in der Übersetzung von FL II.3 fehlt eine Zeile, die den Eindruck er- 194 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ durch den gloúben vffthett . Do ist vom oben herab kommenden heiligen geist / vnd vß umbschattender krafft des allerhóchstens . vß dem reinsten blutt der iúngfrow empfangen der . der do was begert von allen volkern. 392 Vgl. LG I.13,12-15: Der weg wirt geborn im weg . das wir nit irren dúrch die vnwegsame steett . Die wil wir wandlent in disem finstern weg . so vns thut leuchten der vorgendig morgenstern. Der lateinische Text operiert mit Vokabeln, die auch in Marienhymnen auftauchen, vgl. etwa Stella maris praevia, / Salvos nos duc per devia (›De beata Marie V.‹, in: B lume / D reves 1899, S. 159, Nr. 114, Str. 17), Errantes per devia; / Salva servos, stella maris (›De incarnatione D. N.‹, in: D reves 1888, S. 162, Nr. 27, Str. 3) und Et stella nostra praevia / Praecedens, per te devia / Incerti ambulamus (›Aureum Alma B. M. V.‹, in: B lume / D reves 1898, S. 286, Nr. 161, Str. 9). 393 In diesem Sinne versteht die Stelle auch E scherich (1909), S. 113. 394 S. dazu K ern (1971), S. 220-224. Diese zeitgenössische Diskussion um die Frage, ob alle Personen der Trinität die Menschheit annahm, übersieht G össmann (1957), S. 187 bei ihrer Kritik an E scherich s Deutung von FL V.23: 364,32-366,1 (V.23,43-48), s. Anm. 393 mit Text. 395 Vgl. LG I.13,10-13: Also ist durch gebúrt in die welt gangen der ersch o pffer der welt in einer hútten zú betlehem . Wan er manglete einer herberg das er vns wer setzen in den himlischen pallast. <?page no="205"?> weckt, als wäre die besondere Würde Mariens in der Heilsordnung geschmälert: der [gemeint ist die grosse zierde, die Gott am Jüngsten Tag allen Auferstandenen verleihen wird] m v s únser fr p we noch enbern, die wile das dis ertrich swebet uf dem mere (FL II.3: 80,34-82,1 [II.3,29f.], fehlt LD I.28/ Rev. Bd. II.2, S. 473 bzw. LG I.28). Eine unscheinbare, aber umso charakteristische Änderung findet man auch in der Übersetzung von FL I.22: 42,30f. (I.22,69f.): Woltostu nit s o gen me, so tete dir dú milch vil we entspricht in LD I.32,7f. (Rev. Bd. II.2, S. 476,15f.) Que si recusares prebere sicientibus lac miseracionis . et sitis nostre ariditas te urgeret. 396 Ist im deutschen Text von einem an Maßregelung grenzenden «naturhafte[n] Zwang» 397 die Rede, so ist die Drastik dieser Vorstellung in der ›Lux divinitatis‹ abgeschwächt: Es ist der Durst der Menschen, der Maria dazu bringt, ihre Brüste den Dürstenden nicht zu entziehen. Nicht eingegriffen wurde dagegen in FL I.2, an einer Stelle wohlgemerkt, die vom Liebesspiel der Seele mit Gott handelt. Es wird behauptet, dieses Spiel kenne weder der in eime s u ssen schlaffe (FL I.2: 20,32 [I.2,7f.]) zurückgelassene Leib noch die d o rper bi dem phl v ge noch die ritter in dem turnei noch sin minnenklichú m v ter Maria (FL I.2: 22,10f. [I.2,15f.], vgl. LD IV.21,13f./ Rev. Bd. II.2, S. 558,3f. bzw. LG IV.20,18f.). Offenbar liegt hier ein weiterer Beleg (diesmal aus dem Bereich der Mariologie) für jene Inkonsequenz vor, die im Umgang der Übersetzer mit erotisch überladenen oder theologisch nicht vertretbaren Aussagen des deutschen Textes von der Forschung schon öfters beobachtet wurde. Dies wird auch von jenen Stellen bestätigt, an denen man überraschender Weise auf die in FL V.23 hinwegpurgierte Vorstellung vom Eingang der Trinität in Maria trifft, vgl. FL III.9: 180,4-17 (III.9,79-89) und LD I.9,16-30/ Rev. Bd. II.2, S. 453,25-454,12 (entspricht LG I.9,23-43) bzw. FL I.22: 38,16f. (I.22,4f.) und LD I.29,3f./ Rev. Bd. II.2, S. 474,5f. (entspricht LG I.29,4f.). Ein weiterer aussagekräftiger Beleg für einen theologisch motivierten Eingriff in eine mariologische Aussage findet sich am Anfang von FL III.4 und LD I.33 (Rev. Bd. II.2, S. 477). Es geht um die Frage, ob Maria wie jeder andere Mensch sündigen konnte. Zwar wird dies abschlägig beantwortet - Begründung: Maria war ohne Sünde aufgrund ihrer göttlichen Erwählung -, trotzdem wird am Anfang des Kapitels eine gewisse Sündenneigung postuliert: wan du were ein volgemachet mensche von gotte in aller vr o welicher nature und an aller megtlicher sch o pffenisse, und du were nit lam an diner nature (FL III.4: 166,7-10 [III.4,6-8]). V ollmann -P rofe erklärt diesen ungewöhnlichen Zugang zum Immaculata-Thema wie folgt: Eine a priori gesicherte Sündenfreiheit würde «gewissermaßen Mariens Verdienst schmälern. So nimmt sie [Mechthild] eine grundsätzliche Möglichkeit zur Sündenneigung an, damit Marias Keuschheit umso heller erstrahlen könne.» 398 Die lateinische Überset- Varianz in Textbestand und Textfolge 195 396 Vgl. LG I.32,11f.: ob dú schon nit gern b o test den durstigen milch der erbermd so zwúng dich doch die dirri vnsers dúrsts. 397 M. S chmidt (1989), S. 109. 398 V ollmann- P rofe (2003), S. 751f. <?page no="206"?> zung hat für solche relativierenden Überlegungen kein Verständnis. Zwar lesen wir in den Handschriften Rb und Ra quod culpas committere humanitus potuisti, doch ist der lateinische Satz nicht in Ordnung, da das Negationspartikel zum Verb fehlt, vgl. die Fortsetzung: quoniam in uera humanitatis femineaque natura . nulloque eiusdem nature defectu . omnipotentis dei dextera te creauit (LD I.33,5-7/ Rev. Bd. II.2, S. 477). Tatsächlich liest man in Rw: das dú nit hast mogen volbringen menschlich schuld . Wan die gerechte des almechtigen gottes hatt dich erschaffen in warer menschlicher vnd fr o licher natúr . on allen gepresten der selbigen natúr (LG I.33,5-8). Das ist indes nicht die einzige, ja nicht einmal die wichtigste Umakzentuierung, die FL III.4 in der ›Lux divinitatis‹ erfährt. Der Übersetzer meint auch gegen eine Lesart Position beziehen zu müssen, die Mariens Sündenlosigkeit auf ihre natürliche Veranlagung zurückführt. So lautet die Überschrift zum lateinischen Text: Quod uirgo beata immunis ab omni peccato fuit in hac vita per graciam non per naturam. Stein des Anstoßes scheinen zwei Stellen des ›Fließenden Lichts‹ gewesen zu sein: Zum einen die einschränkende Bemerkung und du were nit lam an diner nature (s.o.), zum anderen die Apostrophierung Mariens als g o ttinne (III.4: 166,12 [III.4,10]). Zwar sind die Übersetzer sonst darum bemüht, die Heilsgröße Mariens in ihrer Unvergleichlichkeit zur Geltung zu bringen - und dies sogar gegen ihre Vorlage (s.o.) 399 -, die Verwendung des Ehrentitels Göttin scheint jedoch dem Übersetzer in einer Abhandlung über die Sündenlosigkeit Mariens über das theologisch Vertretbare hinauszugehen: 400 Um jeden Anschein einer Maria qua nature zukommenden Vollkommenheit zu unterbinden, fügt er per graciam hinzu. Es heißt also theologisch richtig: super omnes homines deificata per graciam inmunis ab omni peccato extitisti (LD I.33,8/ Rev. Bd. II.2, S. 477,10f.). 401 Die Apostrophe ‹Göttin› bleibt im deutschen Text nicht auf Maria beschränkt. Auch die Seele wird g o ttinne genannt, vgl. FL III.9: 178,5 und 29 (III.9,51 und 70). Im Blick auf die folgenden Ausführungen, die sich einem 196 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 399 Ergänzend zu den oben angeführten Belegen verweise ich auf LD I.34/ Rev. Bd. II.2, S. 478 (entspricht LG I.34), ein Kapitel, das in seinem Marienlob deutlich über das hinausgeht, was man in FL V.23: 374,27-376,2 (V.23,181-190) zu lesen bekommt. 400 Bezeichnenderweise wird die Apostrophe g o ttinne für Maria in einem anderen Zusammenhang (FL III.1: 150,27 [III.1,77f.]) stehen gelassen, an einer Stelle wohlgemerkt, wo auch im deutschen Text von der Unvergleichlichkeit Mariens die Rede ist, vgl. Ir sun ist got und si g o ttinne, es mag ir nieman gliche gewinnen und LD II.29,13f. (Rev. Bd. II.2, S. 506) filius eius deus est . ipsaque dea . Nullus ei potest in gloria similari . quia nec primam similem uisa est. Die alemannische Rückübersetzung bietet dagegen: Ir sun ist gott vnd sye ist ein getrw . keiner mag ir gleichen in der glorj wan keine vor yr ist yer gleich gefúnden worden . vnd mag ir kein nachkommerin gleich werden (LG II.26,18-21). 401 Auch M. S chmidt (1995), S. 366 ist um dieses theologisch richtige Verständnis der Textstelle bemüht, wenn sie darauf hinweist, der Marientitel g o ttine sei «im Sinn der Vergöttlichung durch Gnade [zu verstehen], wie in Schrift (Joh 10,34f.) und Tradition (Gnade als theosis) geläufig.» Vgl. auch M. S chmidt (1989), S. 106. <?page no="207"?> weiteren, aus dogmatischer Sicht problematischen Punkt widmen werden, ist es aufschlussreich, darauf hinzuweisen, wie der Übersetzer mit den beiden Stellen umgeht. In FL III.9: 178,5 (III.9,51) bezeichnet sich Gottvater als gott aller g o tten und nennt die Seele aller creaturen g o ttinne. In LD I.8,2f. (Rev. Bd. II.2, S. 452) lesen wir dagegen: Ego sum deus deorum . et dea creature (LG I.8,3f.: Ich bin gott aller g o tter . vnd ein g o ttin aller creatúren). An der anderen Stelle ist von der Seele die Rede, die durch den Sündenfall verschaffen und grúlich geworden ist. 402 Gott klagt, die höchsten Engel hätten die Dienstleute der Seele sein können, wäre diese in ihrem ursprünglichen Zustand geblieben, und er fügt hinzu: Ja, were p ch Lucifer an sinen eren bliben, si s o lte sin g o ttinne sin gewesen (FL III.9: 178,29 [III.9,70]). Der Passus wird bis auf g o ttinne in LD I.9,5f. (Rev. Bd. II.2, S. 453) übernommen: cui et lucifer si in sua perstitisset gloria seruus esset (LG I.9,7f.: welcher aúch lúcifer (so er wer bestanden in siner glori) ein diener wer). Was der Seele an den beiden Stellen des lateinischen Textes verwehrt wird, ist eine Stellung, die nicht allein auf der Gottebenbildlichkeit, sondern auf der Wesensgleichheit der göttlichen und menschlichen Natur gründet. 403 Es ist, wie wir gleich sehen werden, diese Wesensgleichheit mit Gott, die den Übersetzer immer wieder dazu veranlasst, berichtigend in den Text einzugreifen. 404 Anstößig ist dabei nicht die Vorstellung der theosis, die an sich kein heterodoxes Gedankengut darstellt, 405 sondern es geht im Grunde um die Klarstellung, dass die deificatio als Gnade und nicht als natürliche Veranlagung des Menschen zu verstehen ist, d.h. als könnte der Mensch dank seiner Natur oder aus eigener Kraft und Leistung vergottet werden. Die Brisanz dieser Eingriffe wird besonders deutlich, wenn man die Reaktionen der Inquisition auf ähnliche Aussagen einer als häretisch geltenden Wesenseinheit der Seele mit Gott in Betracht zieht. Zu denken ist dabei nicht nur an den Pariser Prozess gegen den ›Miroir des simples âmes‹ der Marguerite Porète, der zur Verurteilung des Buches und zur Verbrennung der Autorin im Jahre 1310 geführt hat, oder an das Dekret ›Ad nostrum‹ des Konzils von Vienne (1311/ 12), das eine Liste von acht Irtümern, die den Beginen und Begarden in Deutschland zur Last gelegten wurden, enthält, oder auch an die Straßburger Beginenverfolgungen von 1317/ 19, sondern vor allem an eine Liste von 97 Sätzen, die von einem Unbekannten jeweils den spätantiken Häre- Varianz in Textbestand und Textfolge 197 402 Zu dieser Stelle s. K eller (1995) und ferner S tadler (1999). 403 Darüber hinaus stellt die lateinische Übersetzung die im deutschen Text außer Kraft gesetzte Ontologie mit der Hierarchie Gott - Engel - Mensch wieder her. Zur «ontologisch degradierten» (K öbele ) Stellung der Engel im ›Fließenden Licht‹ s. K öbele (2007c), S. 152- 155 und vor allem S tuder (2009). 404 Daher greift die These von H eimerl (2002), S. 226f. zu kurz, die besagt: «Da Mechthilds Sicht aber die Liebe Gottes und des Menschen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zur Unio stellt, entgeht sie weitestgehend der Gefahr häresieverdächtiger Spekulationen über eine ontologische Einheit von Gott und Seele - wohl auch deshalb, weil ihr das Begriffsinventar dazu fehlt.» Vgl. auch H eimerl ebd., S. 280. 405 Vgl. D enifle (1951), S. 135 und 164. <?page no="208"?> sien zugewiesen werden: In einer Mainzer Handschrift, datiert um die Wende des 13./ 14. Jahrhunderts, wird diese Liste Albert dem Großen zugeschrieben und auf die Häresie im schwäbischen Ries bezogen. H erbert G rundmann hat diese Häresie in die Jahre 1270/ 73 datiert und mit der mystischen Frauenfrömmigkeit der Zeit in Verbindung gebracht. 406 Als einer seiner Kronzeugen fungiert dabei Mechthild. G rundmann zeigt anhand ausgewählter Textbeispiele, dass die lateinischen Übersetzer des ›Fließenden Lichts‹ gerade in jene Aussagen immer wieder eingegriffen haben, die man auch aus der Liste der 97 Irrtümer kennt. Es handelt sich dabei um konkret-sinnliche Schilderungen des connubium spirituale, 407 übersteigerte Vorstellungen aus dem Gedankenkreis der imitatio Christi 408 und vor allem die Idee des deificatum esse, welches im Brennpunkt aller Aussagen der so genannten Häresie im schwäbischen Ries steht. 409 Wie konsequent die Übersetzer gerade in diesem Bereich berichtigt haben, zeigen die folgenden Fälle. Bleiben wir bei dem bereits erwähnten Kapitel FL III.9, in dem die zuerst bei Wilhelm von St. Thierry bezeugte Vorstellung des consilium trinitatis - bei Wilhelm «nur eine Skizze, ein beiläufiger Einfall» 410 - zu einer anschaulichrealistischen szenischen narratio ausgestaltet wird. Darin geht es um die Erschaffung des Menschen, die Konsequenzen des Sündenfalls im Hinblick auf seine physisch-geistige Verfassung sowie um die renovatio in der Menschwerdung der zweiten göttlichen Person. 411 Liest man die Ausführungen zur Erschaffung von Adam und Eva, so wird deutlich, warum die Apostrophe der noch nicht ‹verschaffenen› Seele als g o ttinne (FL III.9: 178,29 [III.9,70]) in der lateinischen Übersetzung übergangen wurde. Denn sie gründet auf der Überzeugung, die Beschaffenheit der menschlichen Natur sei die gleiche wie diejenige von Gott, vgl. Adam und Eva waren gebildet und adellich genatúret na dem ewigen sune (FL III.9: 176,22f. [III.9,34f.]) und Hette úns dú helige drivaltekeit alsust egesclich geschaffen, so enm o hten wir úns von siner edelen nature siner geschafnisse niemer geschamen (FL III.9: 176,37-178,2 [III.9,47-49]). Diese schöpfungstheologische Begründung der Wesensgleichheit zwischen Mensch und Gott, die in der Wendung adellich genatúret zum Ausdruck kommt, 412 lässt der Übersetzer nicht gelten. An der einen Stelle rekurriert er auf die imago-Lehre und betont den doppelten Abstand des Menschen zu Gottvater: filius dei . imago patris est . qua adam et eua insignes creati sunt 198 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 406 Vgl. G rundmann (1977), S. 402-438. Dass diese sog. Häresie im schwäbischen Ries nicht als frühes Zeugnis für die Existenz einer Häresie des Freien Geistes im 13. Jahrhundert interpretiert werden kann, betont W ehrli -J ohns (2000), S. 235-237. 407 Vgl. G rundmann (1935/ 1977), S. 412f. 408 Vgl. G rundmann ebd., S. 425. Vgl. auch L üers (1926), S. 53 (Nr. 24). 409 Vgl. G rundmann ebd., S. 415f. Ähnlich L erner (1972), S. 19. 410 R uh (1993), S. 280. 411 S. dazu E. R einhardt (2007), S. 236-238. 412 Zum Begriff natûre allgemein s. G rubmüller (1999). Speziell zu Mechthild s. R uh (1984), S. 256. <?page no="209"?> (LD I.7,3f./ Rev. Bd. II.2, S. 452,1f.); 413 an der anderen Stelle ersetzt er edele nature durch ‹Kraft› und unterbindet damit die Vorstellung von der Wesensverwandtheit der menschlichen und der göttlichen Natur der Trinität: Quod si in tali deformitate deus trinitas nos creasset . ex ui creatoris homo erubescere non ualeret (LD I.7,11f./ Rev. Bd. II.2, S. 452,13f.). 414 Um Gottes Souverenität zu wahren, umgeht der Übersetzer den Begriff nature immer wieder, wenn der Verdacht auf die Vermischung der Naturen besteht 415 oder der Kontext erkennen lässt, dass eine angeborene Gottgleichheit gemeint ist. 416 Das gilt nicht nur für Aussagen über den Menschen bzw. die Seele, sondern auch für solche über Maria (s. Anm. 401 weiter oben mit Text), ja sogar über die Engel. 417 Besonders auffällig sind die Änderungen vor allem dort, wo es um die unio mystica geht. Die Aufstiegsbewegung der Seele kulminiert in FL VI.1: 426,5f. (VI.1,101f.) darin, dass die Seele mit got ein got wird, also das er wil, das wil si und si m o gent anders nit vereinet sin mit ganzer einunge. Gänzlich hinwegpurgiert wird in LD V.13,19f. (Rev. Bd. II.2, S. 601,8-11) die Vorstellung von der deificatio des Menschen. Auch in der Frage, wie man sich die Vereinigung Varianz in Textbestand und Textfolge 199 413 Vgl. LG I.7,6f.: Der sun gottes ist das bildt des vatters nach welchem bildt Adam und Eúa eerlich erschaffen sind. 414 Vgl. LG I.7,17-19: hett vns gott tryfaltig in solcher vngestalt erschaffen vß krafft des sch o pffers m o cht sich der mensch nit schamen. 415 Vgl. FL IV.14: 268,5-7 (IV.14,18-20) und LD I.11,2f./ Rev. Bd. II.2, S. 455,4f. bzw. LG I.11,3f., dazu V ollmann- P rofe (2003), S. 781, Anm. zu 268,5-7. 416 Vgl. FL I.25: 46,6f. (I.25,5): si [die Seele] vr o wet sich von nature ze irem herren; von nature fehlt LD V.15,4/ Rev. Bd. II.2, S. 603,6f. bzw. LG V.11,8f. - FL I.44: 62,30f. (I.44,73): Ich m u ste von allen dingen in got gan, der min vatter ist von nature; qui michi pater uenerabilis est, LD IV.13,42/ Rev. Bd. II.2, S. 551,22; bzw. LG IV.12,67. - FL V.4: 328,1f. (V.4,34): Die Abstiegsbewegung der Seele und ihr Verzicht auf jede Art von Tröstung wird hier wie folgt kommentiert: Das ist ir vil bekeme von der edelen nature, die got und si in einer meinunge erfúllent. LD IV.35,21f. (Rev. Bd. II.2, S. 568,5-7) lautet dagegen: cedit donis dei que menti eius utilia sunt . quia nobilitate intencionis deus et mens [meus, Rb, Ra, korrigiert nach gemiet Rw] conueniunt (ähnlich LG IV.33,34-36: wicht den gaben gottes welche sinem gemiet nútz seind . Wan im adel der meinúng kompt zusammen gott vnd das gemiet). 417 Vgl. FL II.22: 114,3f. (II.22,8f.): Engel, die nicht mehr lieben, loben und bekennen können, denne in an ist geborn. Anders LD II.2,6 (Rev. Bd. II.2, S. 481,17-19): angeli […] qui nec laudare nec amara nec agnoscere amplius possunt quam eis per graciam est donatum (LG II.2,8f.: engel … welchi nit mogen meher loben . liebhaben . erkennen . dan ynen dúrch gnad zúgelassen ist). - Womöglich hängt die Streichung der oben genannten Aussagen über den ontologischen Status des Geschöpfes mit jener «brisante[n] zeitgenössische[n] Diskussion über Ewigkeit bzw. Geschaffenheit der Schöpfung» zusammen, die K öbele (1989), S. 31, Anm. 16 andeutet und als Erklärung für die Tilgungen anführt, die in LD IV.13,42 und 50f. (Rev. Bd. II.2, S. 551,23 und 34f., ähnlich LG IV.12,67f. und 78f.) gegenüber FL I.44: 62,33 und 64,11 (I.44,74 und 84) vorgenommen worden sind: Gestrichen wurde sowohl die Charakterisierung des brautschaftlichen Verhältnisses der Seele zu Gott als ane anegenge als auch die Vorstellung von der Unio als etwas, was der Braut eweklich gegeben ist. <?page no="210"?> zwischen Seele und Gott vorzustellen hat, bezieht der Übersetzer eine klare Position. Eine Transformation des Geschöpfs, die Vorstellung einer unio als Vereinigung von Substanzen will er nicht gelten lassen: ‹Wahre› Einheit mit Gott ist für ihn eine Einheit im Willen: Que cum sursum scandere ceperit . omnis peccati puluis decidit . fitque vna cum deo / ut quod ipse uult uelit / et hec est uera unio conformitas uoluntatum (ebd.). 418 Zu verweisen wäre in diesem Zusammenhang auch auf die viel beachtete Aussage in FL I.44: 64,9f. (I.44,82): Fr p w sele, ir sint so sere genatúrt in mich, das zwúschent úch und mir nihtes nit mag sin. Diese Auffassung von der Minneunio als Wesenseinheit galt als häretisch. K urt R uh weist auf die oben genannte, Albert dem Großen zugeschriebene Liste von 97 Irrtümern der so genannten Häresie im schwäbischen Ries hin, wo die Aussage quod anima sit sumpta de substantia zu manichäischer Ketzerei erklärt wird. 419 Die Sicherheit zu behaupten, die Einigung mit Gott sei eine Einigung im Wesen, speist sich aus der Überzeugung, die menschliche Natur unterscheide sich im Grunde nicht von der göttlichen. Dies kommt auch in FL I.44 selbst zum Ausdruck, und zwar nur wenige Zeilen vor der gerade zitierten Stelle. Hier apostrophiert die Seele Gott als min vater von nature (FL I.44: 62,31 [I.44,72]). Dass es sich dabei um eine Ansicht handelt, die der kirchlichen Lehre zuwiderläuft, «derzufolge allein Jesus Christus Sohn des Vaters der Natur nach ist, der Mensch aber dank des Wirkens der göttlichen Gnade teilhat an der »natura divina«», 420 kann jenem Einwand entnommen werden, der von Rezipientenseite artikuliert wurde und an einer späteren Stelle des Buches aufgegriffen wird. Dieser besagt: Alles, das got mit úns hat getan, das ist alles von gnaden und nit von nature (FL VI.31: 492,20f. [VI.31,4f.]). Die Antwort lautet: Du hast war und ich han p ch war. Wenn auch die folgende explicacio quorundam verborum (Überschrift von LD IV.51/ Rev. Bd. II.2, S. 579) weitgehend unverändert in die lateinische Übersetzung übernommen wurde (zum möglichen Grund für die unkritische Übernahme s. Anm. 429 weiter unten), so haben die Übersetzer in FL I.44 empfindlich in den Text eingegriffen: statt min vater von nature liest man pater uenerabilis (LD IV.13,42/ Rev. Bd. II.2, S. 551,22, LG IV.12,67: ein erwúrdiger vatter); für genatúrt steht unio naturarum, allerdings mit dem wichtigen Zusatz ineffabilis gracia (ebd., Z. 49/ Rev. Bd. II.2, S. 551,33, LG IV.12, 76f.: ein vnvssprechliche gnad), der das Verständnis der Textstelle in die richtige Bahn lenkt (zu weiteren Eingriffen in der unmittelbaren Umgebung dieser 200 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 418 Vgl. LG V.9,75-78: Das do es anfacht vbersich steigen / so felt hinweg aller kútter der sund . vnd sye wirt eins mit gott . das sy w o lle was gott will Vnd das ist die ware fereinigúng / einhelligkeyt der willen. Ein vergleichbarer Fall bietet sich bei der Umsetzung der Genitivmetapher nahtegall der getemperten einunge mit gotte (FL I.44: 58,30 [I.44,23f.]) ins Lateinische: Aus der Einheit der Seele wird die Eintracht der Vollkommenen, vgl. LD IV.13,10f./ Rev. Bd. II.2, S. 550,11f. bzw. LG IV.12,17f.), dazu S eelhorst (2003), S. 105. 419 Vgl. R uh (1977/ 1984), S. 245 und R uh (1985a). 420 H eimbach (1989), S. 41 (Kursivierung von H eimbach ). <?page no="211"?> Textstelle s. Anm. 417 weiter oben). Wie sehr es dem Übersetzer darauf ankommt zu betonen, Gottes Zuwendung an den Menschen sei eine Frage der Gnade (und nicht der natürlichen Veranlagung oder gar des Verdienstes), zeigt auch die Übersetzung von FL VI.6: 442,23-30 (VI.6,21-26). Während der deutsche Text einer Werkgerechtigkeit das Wort redet und die am g v ten werk reiche Seele mit folgenden Worten von Gott empfangen lässt: Nim, min allerliebstú, dise manigvaltigen wirdekeit, die hastu selber verdienet (FL VI.6: 442,29f. [VI.6,26f.]), präzisiert LD VI.19,18f. (Rev. Bd. II.2, S. 639,23): Wohl empfängt auch hier die Seele die possessio in celestibus quasi pro merito, doch geschieht dies per dei graciam (ähnlich LG VI.19,30f.). 421 Eine ähnlich kritische Haltung gegenüber der Ansicht von der göttlichen Natur der Seele bezeugt auch das im dritten Viertel des 14. Jahrhunderts höchstwahrscheinlich im fränkischen Dominikanerinnenkonvent Engelthal entstandene Dialoggedicht ›Der Minne Spiegel‹, 422 ein Text wohlgemerkt, der in Kenntnis und unter dem Einfluss des ›Fließenden Lichts‹ geschrieben wurde. 423 Dies belegen die zahlreichen intertextuellen Bezüge. 424 Einer der für uns aufschlussreichen Bezüge findet sich gegen Ende des Gedichts. Zunächst formuliert der unbekannte Verfasser (oder die unbekannte Verfasserin) in Anlehnung an FL I.44: 64,9-12 (I.44,82-84): du bist sêr genatûret in mir, daz [mensche] niht ist zwischen mir und dir. ez wart nie engel alsô hêre, dem ein stunt würde verlihen dîn êre, die dir êwiclich ist geben. Dann fügt er bzw. sie aber hinzu: v o n m î n e n g n â d e n hâst du diz leben. 425 Varianz in Textbestand und Textfolge 201 421 Es sei hier darauf hingewiesen, dass die Frage nach dem Stellenwert von Eigenleistung und Gnade auch im ›Liber‹ Mechthilds von Hackeborn thematisch und zugunsten der umsonst verliehenen Gnadentat Gottes entschieden wird, vgl. Lib. IV.15 (Rev. Bd. II.1, S. 271). H aas (1982/ 1984), S. 225 und 232 macht darauf aufmerksam, dass die Rechtfertigung des Menschen durch die göttliche Gnade ein Merkmal der vom ›Liber‹ vertretenen Mystik ist. 422 Unikal überliefert in einer Handschrift des 15. Jahrhunderts (Nürnberg, StB, Cent. VI.43d, fol. 80 v -100 v ) aus dem Besitz der Nürnberger Patrizierwitwe Katharina Tucher. Ausgabe: B artsch (1858), S. 242-277. 423 Dass der Engelthaler Konvent im Besitz des ›Fließenden Lichts‹ war, geht aus einem der Briefe Heinrichs von Nördlingen an Margareta Ebner sowie aus Erwähnungen in den Offenbarungen Christine Ebners hervor, s. dazu N eumann (1948/ 50), S. 164. Allerdings wird das ›Fließende Licht‹ im Engelthaler Bücherverzeichnis von 1447 nicht explizit aufgeführt. Das gilt auch für das mystische Dialoggedicht ›Der Minne Spiegel‹, vgl. T hali (2003), S. 270f. 424 S. dazu N eumann (1954a) und (1955). 425 B artsch (1858), S. 274,965-970 (Sperrung von mir). <?page no="212"?> Dazu N eumann : «Hier ist die Ablehnung von Mechthilds Aussagen über die göttliche Natur der Seele […] als Symptom einer kritischen Haltung von Belang.» 426 Hinzuweisen wäre auch auf eine frühere Stelle. Hier wird man wohl an FL I.44: 62,30f. (I.44,71f.): Ich m u ste von allen dingen in got gan, der min vatter ist von nature denken müssen, wenn es heißt: Mîn gemahel, rihte ûf dînen sin, wan daz ich von natûre [selbe] bin, daz soltu v o n g e n â d e n sîn. 427 Trotz aller Bemühungen der Übersetzer, die substantielle Differenz zwischen Gott und Mensch zu wahren, 428 findet sich im ›Fließenden Licht‹ eine Stelle, die unzensiert übernommen wurde, nämlich FL III.24: 220,23-27 (III.24,9- 11). Wie in FL I.44 geht es um die Vereinigung zweier Naturen, die hier durch die traditionelle Feuer-Wachs-Metapher veranschaulicht wird: Got bútet sinen heligen geist den reinen geisten […] Do komen zwo reine nature zesamene: Das heisse fúr der gotheit und das vliessende wahs der minnenden selen. Dem entspricht LD IV.33,6f. (Rev. Bd. II.2, S. 566,3-7): Mundis corde […] infundit omnipotens spiritum suum . conueniuntque due nature limpide scilicet feruens ignis deitatis . et anima fluens uelud cera . amore karitatis (ähnlich LG IV.31, 11f.: die do sind eines reinen hertzens […] denen gúist in der almechtig seinen geist . vnd komment zúsammen zwú heller natúr . das inbrúnstig fúir der gotheit . vnd die seel . die do flúist als ein wachs in der liebin). Was man hier vermisst, ist jene einschränkende Bemerkung, die man vor allem von FL I.44 her kennt und die besagt, die Vereinigung der Naturen sei ein Akt der Gnade. 429 202 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 426 N eumann (1987b), Sp. 561f. Diesen Aspekt übersieht R uh (1993), S. 291, wenn er die angeführte Stelle um die entscheidende letzte Zeile verkürzt zitiert. 427 B artsch (1858), S. 263,625-627 (Sperrung von mir). 428 Vgl. auch die Beobachtung von V ollmann- P rofe (2000), S. 139, die Übersetzer würden Wörter aus dem emotional-zärtlichen Bedeutungsbereich beiseite lassen bzw. abweichend übersetzen, um den Abstand zwischen Gott und Mensch zu betonen. S. dazu auch S uerbaum (2011). 429 Oder ist es die Perspektive selbst, die Tatsache also, dass Gott selbst seinen Geist in den Menschen eingießt, was die Aussage exkulpiert, um den Eindruck zu vermeiden, als stünde der Geist Gottes dem Menschen qua Natur zu, als wäre er auf Gottes Gnade, auf den Akt des Eingießens, gar nicht mehr angewiesen? Interessanterweise wird die in FL I.44 geäußerte Aussage, Gott sei der Vater der Seele von nature, in FL VI.31 mit einem vergleichbaren Argument zurückgenommen: Anzitiert wird nicht nur die imago-Lehre, betont wird auch das Moment des Eingießens der göttlichen Natur in den Menschen, vgl. Da mit [mit den von Gott erleuchteten Augen] sihet si in die ewige gotheit, wie die gotheit gewúrcht hat mit ir nature in der sele. Er [Gott] hat si gebildet nach im selber; er hat si gepflanzet in im selber; er hat sich allermeist mit ir vereinet under allen creaturen; er hat si in sich besclossen und hat siner g o tlichen nature so vil in si gegossen, das si anders nit gesprechen mag, denne das er mit aller einunge me denne ir vatter ist (FL VI.31: 492,29-494,5 [VI.31,12-15]). Diese Begründung wird von den Übersetzern akzeptiert und in den lateinischen Text unverändert übernommen: uidet eternam deita- <?page no="213"?> Nicht nur hier wird ein traditionell zur Beschreibung der unio verwendetes Bild, das jedoch die Vermischung der Substanzen impliziert, ohne einen kommentierenden Zusatz übernommen. Auch die Wasser-Wein-Metapher in FL I.4: 26,31f. (I.4,7) ließen die Übersetzer unzensiert passieren, vgl. LD IV.24,6f./ Rev. Bd. II.2, S. 559,20f. bzw. LG IV.23,9f. An diesen Stellen treffen wir auf dieselbe Inkonsequenz, die beim Umgang mit Aussagen mariologischen Inhalts beobachtet werden kann. Dies gilt im Übrigen auch für die von E rnst H ellgardt so genannten «alltagssprachliche[n] Kraftausdrücke» 430 sowie für Ausdrucksformen extremer Selbsterniedrigung. 431 Wie lässt sich die hier skizzierte Inkonsequenz in der Ausmerzung erotisch oder häretisch gefärbter Stellen erklären? B ecker macht dafür zwei Übersetzer verantwortlich, die gleichzeitig am Werk waren, 432 erwägt allerdings auch eine andere Möglichkeit: «Vielleicht wird man jedoch einen Teil dieser Ausmerzungen und Umfärbungen noch auf das Konto der Ueberlieferung setzen müssen.» 433 Dies aufgrund der bisher bekannt gewordenen Überlieferung zu erweisen, ist insofern problematisch, als die aufgezeigten Eigentümlichkeiten Varianz in Textbestand und Textfolge 203 tem et quomodo comparata est sua natura in anima inprimens ei suam imaginem . Ipse eam generat in seipso . uniens se cum illa pre omni et super omnem creaturam et conclusit eam in seipso . Ipse eam sic sua diuinitate . repleuit quod aliter loqui . nequid quam quod in perfecta unione plus quam pater eius sit (LD IV.51,8-12/ Rev. Bd. II.2, S. 579,19-24, LG IV.42,11-17: sy sicht die ewige gotheit Vnd wie sein natúr gewúrckt hat in der seel / so er ir eintrúckt hatt seine bildúng . also gebúrt sye in ym selbs vnd vereiniget sich mit yr / fúr alle vnd vber alle creature vnd hatt sye in ym selber beschlossen . Er hatt sye also mit seiner gotheit erfult das man anderst nit reden mag . dan das (vmb der volkomme voreinigung wegen) er mer dan yr vatter sey). 430 H ellgardt (1996b), S. 319. Beispiele: FL II.20: 108,15 (II.20,4f., Vergleich mit dem lahmen Hund, fehlt LD II.38/ Rev. Bd. II.2, S. 514 und LG II.35) - FL II.24: 122,35 (II.24,53, Vergleich mit dem kranken Mann, dem das Gedärme ausfällt, fehlt LD II.20/ Rev. Bd. II.2, S. 498 und LG II.19) - FL V.13: 348,1 (V.13,8) und V.33: 402,13 (V.33,11, Selbstapostrophe als unseliger Sack bzw. lahmer Hund, fehlt LD V.5/ Rev. Bd. II.2, S. 592 und LD V.18/ Rev. Bd. II.2, S. 604 bzw. LG V.4 und 13). Siehe dagegen die Hund-Vergleiche in FL III.5: 170,3 (III.5,17, auch in LD IV.18,12f./ Rev. Bd. II.2, S. 555,18 bzw. LG IV.17,15) - FL IV.1: 228,9 (IV.1,7, auch in LD V.24,6/ Rev. Bd. II.2, S. 610,1 bzw. LG V.19,11f.) - FL VI.15: 462,26 (VI.15,31f., auch in LD III.14,32/ Rev. Bd. II.2, S. 534,12 bzw. LG III.14,48). 431 Vgl. FL I.5: 28,13f. (I.5,8): Ja, si [die Seele] wolte, das er [der Herr] si z v der helle senden wolte (cunctis exponi penis cupiens LD IV.8,7/ Rev. Bd. II.2, S. 546,10f., LG IV.7,10f.: begert darzugeben werden in all pein) - am Rande von Rb steht die nach dem deutschen Text vorgenommene Ergänzung etiam infernali) und FL V.4: 328,23 (V.4,52) Erniedrigung der Seele under Lucifers zagel (sub lvcifero LD IV.36,10/ Rev. Bd. II.2, S. 568,29, LG IV.34,14f.: vnder den lúcifer) - in B gänzlich übergangen bzw. durch FL VI.23: 480, 15f. [VI.23,10f.] ersetzt, vgl. N eumann 1993, S. 278,19-24). Siehe dagegen FL V.1: 318,15f. (V.1,13, auch in LD II.4,10/ Rev. Bd. II.2, S. 483,13 bzw. LG II.4,15) - FL VI.23: 480,15f. (VI.23,10f., auch in LD IV.41,7/ Rev. Bd. II.2, S. 571,9f. bzw. LG IV.37,10) - FL VI.1: 426,35 (VI.1,124, auch in LD V.14,9f./ Rev. Bd. II.2, S. 601,33f. bzw. LG V.10,12f.). 432 Vgl. B ecker (1951), S. 40. 433 B ecker ebd., S. 39. <?page no="214"?> der lateinischen Übersetzung außer in Rb, der einzig vollständigen Handschrift der ›Lux divinitatis‹, auch in Rw zu finden sind, in einer Handschrift wohlgemerkt, die auf eine von Rb unabhängige Vorlage zurückgeht. B ecker s Erwägung könnte für ‹denkbar, aber nicht beweisbar› erklärt werden, läge nicht Ms. 4° 401 der Stadtbibliothek Växjö/ Schweden (Vä) vor. 434 Es handelt sich um eine Handschrift, die einen Text bietet, der dem Wortlaut des ›Fließenden Lichts‹ näher steht als dem Übersetzungsäquivalent der ›Lux divinitatis‹. Dieser Neufund legt den Gedanken nahe, der in den bisher bekannten Handschriften vorliegende lateinische Text stelle die Bearbeitung einer anderen, dem deutschen Ausgangstext näher stehenden Version der ›Lux divinitatis‹ dar, so dass die oben genannten ‹dogmatischen› und ‹moralischen› Berichtigungen in der Tat nicht auf das Konto der Übersetzer, sondern auf dasjenige der Überlieferung zu setzen und damit späteren Redaktoren des lateinischen Textes zuzuschreiben wären. Dies trifft jedoch nicht zu, denn gewichtige Gründe sprechen dafür, dass die in Vä enthaltene Version von LD VI.12 (Rev. Bd. II.2, S. 629f.) durch den Vergleich des lateinischen Textes mit dem entsprechenden Kapitel des deutschen Textes (FL V.5) entstanden ist. Es gibt indes auch eine dritte Möglichkeit, den Befund zu erklären: Schon die deutsche Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹ könnte einen Text geboten haben, der in der Weise, wie oben geschildert, bereinigt war. Wie man sich dies vorzustellen hat, zeigen die ›Offenbarungen‹ der Elsbeth von Oye, die in der Handschrift Cod. Rh 159 der Züricher Zentralbibliothek angeblich in autographer Form vorliegen. 435 Was den autographen Status der Offenbarungen Elsbeths in der genannten Züricher Handschrift betrifft, ist bei S chneider -L astin nichts mehr von jener vorsichtigen Wortwahl zu spüren, die noch P eter O chsenbein zu Formulierungen, wie «höchtswahrscheinlich», «mit größter Wahrscheinlichkeit», «vermutlich», veranlasste. 436 Ausschlaggebend für die Apostrophierung von Cod. Rh 159 als Autograph scheint der zweite Teil der Handschrift gewesen zu sein: Im Unterschied zum ersten, umfangreicheren Teil, der die Reinschrift einer oder mehrerer Konzepte zu sein scheint, gilt der zweite als eine «wohl unmittelbare Niederschrift der Auditionen», die «rasch aufs Pergament geworfen» 437 worden sind. Zu diesem Urteil sieht sich die Forschung durch den nachlässigen Duktus der Aufzeichnungen und die zahlreichen Abkürzungen veranlasst. Es wird aber nicht nur abgekürzt, sondern Wörter werden auch ausgelassen oder aber nur Satzanfänge bzw. Teilsätze auf das Pergament notiert, so dass die Entschlüsselung des Geschriebenen «oft schwierig ist bzw. hypothetisch bleiben muß.» 438 Man sieht in diesen Aufzeichnungen eine «Urschrift», einen «Rohentwurf» (S chneider - L astin ). Doch sollte meiner Ansicht nach auch die Möglichkeit einer Niederschrift nach Diktat in Erwägung gezogen werden. Auf eine solche Genese gehen bekanntlich die 204 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 434 Zu der Handschrift s. N emes (2008b). 435 Zu den folgenden Ausführungen s. S chneider -L astin (1994). 436 Vgl. O chsenbein (1986), S. 425 und 437 sowie (1988), S. 355 und 359. 437 O chsenbein (1986), S. 425. Vgl. auch L öser (2005a), S. 285. 438 S chneider -L astin (1994), S. 56. <?page no="215"?> Offenbarungen Mechthilds von Hackeborn zurück. 439 Besonders interessant scheint mir in diesem Zusammenhang das Buch der Margery Kempe. Auch Margery lässt ihre Erfahrungen aufzeichnen. Allerdings entsteht bei der ersten Schriftfassung - Margery bittet einen Freund um Hilfe, der nach langem Aufenthalt in Deutschland nach England zurückgekehrt ist - ein Text, der sich sowohl auf der Ebene der Graphie als auch in Bezug auf allgemeine Kohärenzkriterien als schwer zugänglich erweist. In der werkimmanent erzählten Buchentstehungsgeschichte liest man: «The booke was so evel wretyn that he [gemeint ist ein Geistlicher, den Margery um die Reinschrift des vom genannten Freund besorgten Stenographs gebeten hat] cowd lytyl skyll theron, for it was neithyr good Englysch ne Dewch, ne the lettyr was not schapyn ne formyd as other letters ben. Therfor the prest leved fully ther schuld nevyr man redyn it, but it wer special grace.» 440 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob sich im zweiten Teil der Züricher Handschrift Cod. Rh 159 die Aufzeichnungen eines Amanuensis (der freilich auch eine Sie sein kann) dokumentieren. Sollte dies der Fall sein, so wird man auch die Reinschrift im ersten Teil schwerlich Elsbeth zuschreiben können, vorausgesetzt, es handelt sich tatsächlich um dieselbe Schreiberhand. Ob Autograph oder Abschrift nach Diktat, wichtig ist in unserem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der Text eine beträchtliche Zahl von Änderungen (auch im Sinne von Beseitigung des Geschriebenen) mittels Rasur, Ausstreichen, Einschwärzen, Einfügen oder einer Kombination aus diesen Techniken aufweist. Dazu kommen Zusätze, die über der Zeile, am Textrand oder in Form von beigegebenen Zetteln nachträglich in den Text hineingenommen wurden. Was speziell jene Tilgungen betrifft, die - weil nicht besonders sorgfältig durchgeführt - noch den alten Text erkennen lassen, lässt sich feststellen, dass sie Offenbarungsworten gelten, die ganz bestimmte Sachverhalte zum Ausdruck bringen. Dazu gehören die Einmaligkeit von Elsbeths Stellung bei Gott, ihre Vergöttlichung oder der Blut- und Markaustausch mit Christus. 441 Dass es sich hierbei um theologisch beanstandetes Gedankengut handelt, geht aus dem um 1400 entstandenen apologetischen Nachtrag am Ende der Züricher Handschrift hervor, in dem einige inkriminierte Sätze in scholastischer Manier (durch Verweis auf die Bibel und die Kirchenlehrer) verteidigt werden. Der vermutlich dominikanische Apologet Elsbeths sieht retrospektiv vier Themen, die den Eingriffen zum Opfer fielen: An vier sinnen ist din lesen getilget: zem ersten, da sie redet von eim wider infliessen in g o tlich natur, zem andren mal von vereinung oder vermischung, zem dritten vom sac- Varianz in Textbestand und Textfolge 205 439 Vgl. H ubrath (1999), S. 240f. 440 Zitiert nach W indeatt (2000), S. 47f., Z. 99-103. «The book was so ill-written that he could make little sense of it, for it was neither good English nor German, nor were the letters shaped or formed as other letters are. Therefore the priest fully believed that nobody would ever be able to read it, unless it were by a special grace» (Übersetzung nach E mmelius 2004, S. 60, Anm. 48). 441 Zu den Inhalten der Elsbethschen Offenbarungen s. O chsenbein (1986), S. 430-437 und (1988), S. 360-372. <?page no="216"?> rament, zem vierden, daz got von ir spis und trank hab genommen. 442 Auch der Verfasser der kurz nach Elsbeths Tod entstandenen ersten Redaktion der ›Offenbarungen‹, ›Leben und Offenbarungen‹ genannt 443 - es handelt sich um eine Gnadenvita 444 -, sieht sich gedrängt, seine Ordensschwester vor Missverständnissen und Angriffen in Schutz zu nehmen: Vil wörtlein sol man einvaltiklich nach irem einvaltigenn sinn nehmen als die wort, do gesprochen ward: ›als einer lauttern creatur müglichen ist.‹ Das meint sie nit nach dem allerhöchsten pünctlein über alle geheiligten heiligen. 445 Wichtig sind für mich nicht die beanstandeten Aussagen, die sich überraschenderweise in puncto Wesensvereinigung mit jenen Stellen des ›Fließenden Lichts‹ berühren, welche in der lateinischen Übersetzung ausgefallen sind (s.o.), 446 und die Art der Apologie, mit der sie verteidigt werden - auch in diesem Punkt sind die Parallelen zum ›Fließenden Licht‹ nicht zu übersehen 447 -, sondern die auffällige «I n k o n s e q u e n z d e r B e a r b e i t u n g» im vermeintlichen Autograph selbst, die 206 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 442 Zitiert nach S chneider -L astin (2009), S. 395-467, hier S. 459, Z. 27-30. 443 Abgedruckt bei S chneider -L astin (2009), S. 405-448. S. dazu S chneider -L astin (1995) sowie (2004). 444 S. dazu G sell (2000), S. 459f. 445 S chneider -L astin (2009), S. 406, Z. 30-33. 446 Zur Vorstellung einer per naturam gegebenen Sohnschaft des Menschen (im Sinne der eckhartischen Gottesgeburt in der Seele) s. H asebrink (2008b), S. 270f. Hier sei darauf hingewiesen, dass der von H asebrink ebd. referierte Abschnitt aus FL I.44 über das genatúrt-Sein des Menschen in Gott (64,9f. [I.44,82f.]), anders als von ihm behauptet, nicht «mit einem Verweis auf das Wirken der göttlichen Gnade beschlossen wird.» Wäre dies der Fall, so hätte der Übersetzer nicht so konsequent im Sinne des per gratiam- Konzeptes richtig stellen müssen, s. dazu ausführlich S. 200f. oben. 447 Ich verweise hier (1) auf Zitate aus der Bibel und den Werken der Kirchenväter, die den deutschen und lateinischen Text in E und Rb in Form von Glossen begleiten, ein Verfahren übrigens, das selbst in dem als orthodox geltenden ›Legatus‹ Gertruds von Helfta anzutreffen ist und im Prolog sogar thematisch wird, vgl. Leg. SC Bd. 139, S. 116,5-9, dazu D oyère ebd., S. 83-91; (2) auf die zahlreichen Biblizismen der lateinischen Übersetzung, die wohl nicht nur der «Demonstration der theologischen Bildung des Autors» (V ollmann- P rofe 2000, S. 142), sondern auch der Absicherung des Gesagten durch die Autorität des Bibeltextes dienen, und (3) auf die Aufforderung im Prolog der ›Lux divinitatis‹: Legenda est autem hec scriptura pie et religiose intelligenda . et secundum morem aliarum sanctarum scripturarum sane et fideliter . sic nullum in ea lector scandalum habebit uel offendiculum ipsaque scriptura nullam calumpniam perfidie sustinebit (LD Prol 1, 23-26/ Rev. Bd. II.2, S. 436,16-20, LG Vorrede 1,31-34: Aber disse schrifft sol gutiglich gelesen werden vnd geistlich vorstanden werden vnd nach gewonheit anderer heiliger geschrifften vnd glaúblich / also wirt der leser mir kein ergernús oder irrúng hon . vnd wirt oúch kein schmoch der mißglaúbung liden). Vgl. auch LD Prol 7,11-13 (Rev. Bd. II.2, S. 445,11-14): Et erit liber iste in perpetuum inconcussus dicit dominus quia uniuersorum acceptacio gratum . et dilectio firmum . eiusque perfectio stabilem constituent . ut nulla contradictio ualeat obuiare (LG Vorrede 6,16-19: Vnd dis Búch wirt sin ewiglich vnbeweglich spricht der herr Wan aller annemúng vnd liebin vnd volkommenheyt werden es machen angenem fest vnd bestendig / Das ym kein widersprecher mag entgegen gan). <?page no="217"?> Tatsache also, «daß ähnliche, ja sogar identische Begriffe und Wendungen an der einen Stelle getilgt, an anderen aber beibehalten wurden.» 448 Bemerkenswerterweise wird eine Reihe von Tilgungen wieder beschriftet. Dabei wird nicht, wie bisher vermutet, der alte Wortlaut restauriert. Eher zeigt sich dort, «[w]o Reste der ursprünglichen Beschriftung noch erkennbar sind, […] eine oft signifikante Differenz zwischen altem und neuen Text.» 449 Anders als die ältere Forschung, die der Ansicht war, Elsbeths wiederbeschriftete Tilgungen von den redaktionellen Änderungen zweier weiterer Hände - eine davon vom Anhangschreiber - abgrenzen zu können, 450 schreibt S chneider -L astin die Ersetzungen der Autorin zu, obwohl er weiß, dass die «eindeutig nach Elsbeths Tod vorgenommene Restaurierung radierter Stellen durch zwei Hände […] nicht immer klar von einer Beschriftung durch die Autorin unterschieden werden [kann].» 451 Auch hinter den Rasuren, die die ältere Forschung auf das Konto einer Aufsichtsperson setzte, sieht S chneider -L astin die Autorin selbst am Werk. 452 Sein Argument lautet: «Eine von der Forschung bisher bemühte Aufsichtsperson hätte inkriminierte Stellen dagegen mit Sicherheit fein säuberlich und vor allem konsequent getilgt.» 453 Dass diese Unterstellung keines- Varianz in Textbestand und Textfolge 207 448 S chneider -L astin (1994), S. 59 (Sperrung von mir). 449 S chneider -L astin ebd., S. 61. 450 Vgl. N eumann (1980), Sp. 512. Dieser Lexikonartikel basiert auf den Ergebnissen der von N eumann betreuten Dissertation von H aenel (1958). 451 S chneider -L astin (1994), S. 63. 452 Vgl. S chneider -L astin ebd., S. 59 und (2009), S. 396. 453 S chneider -L astin ebd. Als weitere Gründe für den autographen Status der Züricher Handschrift nennt S chneider -L astin den Charakter der Tilgungen («ohne Sorgfalt, den Text verstümmelnd, wohl häufig im Affekt») und das Zeugnis des Prologs von ›Leben und Offenbarungen‹: Anders als der Apologet Elsbeths vom Ende des 14. Jahrhunderts, der, so S chneider -L astin , sich die Rasuren aus der zeitlichen Distanz nur von fremder Hand ausgeführt denken kann, charakterisiert der Verfasser von ›Leben und Offenbarungen‹ Elsbeth, «die ihm mit Sicherheit persönlich bekannt war, als Ausführende der Rasuren und als Autorin, die Skrupel an der schriftlichen Umsetzung ihrer göttlichen Offenbarungen hatte: ‹Vil hoher antwurt hat si selber untergetan und verdilget›», S chnei der -L astin ebd., S. 61. In einem späteren Aufsatz scheint S chneider -L astin von dieser Position allerdings abzurücken, denn er paraphrasiert dieselben Worte aus dem Prolog von ›Leben und Offenbarungen‹ wie folgt: «Durch Kritik von außen habe Elsbeth selbst einen Teil ihrer Offenbarungen vernichtet und damit der Öffentlichkeit entzogen», s. S chneider -L astin (2000), S. 520 (ähnlich S chneider -L astin 2009, S. 397). Die Worte untergetan und verdilget werden hier nicht mehr nur auf die Rasuren, sondern auch auf die nicht erhaltenen (weil vernichteten) Schriften Elsbeths bezogen. Dass es sich dabei womöglich um einen Bescheidenheitstopos handelt (vergleichbar etwa dem, der sich am Anfang der Seuse-Vita findet), wird nicht erwogen. Hinzuweisen wäre auch darauf, dass es nicht zwingend ist, die Rasuren im vermeintlichen Autograph Elsbeths als «Kennzeichen von auktorialer Kompetenz» (S chneider -L astin 1994, S. 58) zu deuten, vor allem dann nicht, wenn sich Rasuren auch in der in einer nürnbergischen Umschrift vorliegenden Vita der Adelheit von Freiburg nachweisen lassen, vgl. S chneider -L astin (1995), S. 202 und (2000), S. 526. Auch die ehemals Donaueschinger, jetzt Karlsruher Handwegs <?page no="218"?> zwingend ist, zeigt die ›Lux divinitatis‹. Damit ist zugleich auch gesagt, welche der oben aufgezeigten Möglichkeiten ich für die am wahrscheinlichsten halte, um die herausgearbeiteten Inkonsequenzen der Übersetzer des ›Fließenden Lichts‹ im Bereich der dogmatischen und sonstigen Berichtigungen erklären zu können. Ich bin mit B ecker der Ansicht, dass sie aus der Tätigkeit zweier Übersetzer resultieren, die gleichzeitig am Werk waren. 454 Die oben aufgezeigten Inkonsequenzen werden also wohl nicht schon in der Übersetzungsvorlage gestanden haben, sondern gehen auf den bearbeitenden Umgang der Übersetzer mit dem ›Fließenden Licht‹ zurück. Hier schließt sich nun die Frage an, wo die ›Lux divinitatis‹ entstehungsgeschichtlich zu verorten ist. II.2.4 Exkurs zum Entstehungsort der ›Lux divinitatis‹ und zu der Frage nach den möglichen Überlieferungswegen des deutschen und lateinischen Textes nach Basel In weiten Teilen der Forschung herrscht Einigkeit darüber, wo die Übertragung der Bücher I-VI des ›Fließenden Lichts‹ erfolgte, und zwar im Dominikanerkloster von Halle. 455 Obwohl die Entstehung der ›Lux divinitatis‹ oft wie selbstverständlich mit den Hallenser Dominikanern in Verbindung gebracht wird, trifft man gelegentlich auch auf relativierende bzw. eine gewisse Unsicherheit artikulierende Bemerkungen wie «wohl», 456 «möglicherweise», 457 «vermutlich», 458 «wahrscheinlich». 459 Wie auch immer geurteilt wird, man be- 208 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ schrift Nr. 97 des ›Nüwen‹ oder ›Rappoltsteiner Parzifal‹, die die «erste Reinschrift» (B umke 2005, S. 25) des bekanntlich in Zusammenarbeit mehrerer Personen (ein Übersetzer, zwei Dichter und ein Schreiber) entstandenen Werkes darstellt, weist eine Reihe von Rasuren auf. Zusammen mit Texteingriffen anderer Art (Ergänzungen, Verbesserungen, Überklebungen) müssen diese Rasuren nicht, betont B umke (1997), S. 95, unter der Aufsicht der Dichter entstanden sein: «Die zahlreichen, sehr sorgfältig ausgeführten Korrekturen stammen wahrscheinlich vom Redaktor», das heißt vom Schreiber Henselin (so B umke 2005, S. 25). Auch O ltrogge / S chubert (2002), S. 348, Anm. 3 und S. 365, die die Rasuren einer eingehenden Untersuchungen unterzogen haben, weisen darauf hin, dass die Aufgaben und Tätigkeiten von Dichter und Redaktor so dicht verflochten sind, «daß eine personelle Trennung kaum möglich sein dürfte». Sie bescheinigen beiden «textformende Kompetenz.» Es muss demnach offen bleiben, ob allein Elsbeth für die Korrekturen verantwortlich gemacht werden kann. 454 S. dazu auch meine Ausführungen zu den Dubletten in ›Fließendes Licht‹ und ›Lux divinitatis‹, S. 34f. und vor allem S. 36, Anm. 176 oben. 455 Vgl. etwa N eumann (1987a), Sp. 261, N eumann (1993), S. 52, Anm. zu III.3,35 und ebd., S. 78, Anm. zu IV.22,16, V ollmann- P rofe (2003), S. 672, S enne (2004), S. 142 und G ott schall (2005), S. 300. 456 R uh (1993), S. 252 und L anger (2004), S. 234. 457 P almer (1992), S. 217. 458 K öbele (1993), S. 72, Anm. 166 und H asebrink (1998), S. 151. 459 P eters (1988a), S. 121, S pitzlei (1991), S. 35 und K eul (2004), S. 22. <?page no="219"?> ruft sich auf die Akademie-Abhandlung von N eumann aus dem Jahre 1954, wo an mehreren Stellen Halle als Entstehungsort der lateinischen Übersetzung genannt wird. 460 1948/ 50 war von N eumann allerdings noch zu vernehmen: «v e r m u t l i c h im Halleschen Dominikanerkloster hergestellt.» 461 Wie kam N eumann auf die Idee, die Entstehung der ›Lux divinitatis‹ nach Halle zu verlegen? Eine Begründung sucht man vergeblich. Nur Indizien lassen sich nennen, die N eumann - und Teile der älteren Forschung - dazu bewogen haben, Halle ins Spiel zu bringen. Als erster hat P reger die Aufmerksamkeit auf Halle gelenkt. Er beruft sich dabei auf Indizienbeweise. Zunächst erwägt P reger , die von ihm in Basel aufgefundene Handschrift Rb ins 13. Jahrhundert zu datieren. Dann stößt er auf die In originali-Vermerke und meint, aus ihnen gehe hervor, dass sie aus der Vergleichung der in Rb vorliegenden Abschrift des lateinischen Textes mit dem Original von Mechthilds Aufzeichnungen entstanden sind. Und schließlich verweist P reger auf den Vermerk Scripsit enim manu sua bibliam in qua legitur ad mensam in conuentu hallensium am Rande von LD II.39 (Rev. Bd. II.2, S. 516), einem Kapitel wohlgemerkt, das aus dem Zusammenschluss von FL IV.26 und VI.42 entstanden und Frater baldewinus germanus gewidmet ist, der wiederum laut einer biographischen Skizze am Beginn des Kapitels der Bruder von Schwester Mechthild gewesen sein soll. Wir vernehmen zudem, dass Balduin wegen der Verdienste seiner Schwester in den Dominikanerorden aufgenommen wurde, wo er an Tugenden und an Weisheit zunahm, so dass ihm seine Mitbrüder das Amt des Subpriors übertragen haben. 462 Aus all dem schlussfolgert P reger : «Der Abschreiber oder der Vergleicher zeigt, dass er im Dominikanerkloster zu H a l l e bekannt ist, dass er den Übersetzer Heinrich von H a l l e gekannt hat und dass er auch mit dem Kloster Helfta im Verkehr stand.» 463 P reger suggeriert, Halle könnte der Ort der Entstehung der ›Lux divinitatis‹, ja auch der von ihm auf das 13. Jahrhundert datierten Handschrift Rb gewesen sein. Varianz in Textbestand und Textfolge 209 460 Vgl. N eumann (1954b), S. 28, 43 u.ö. Ähnlich in den späteren Beiträgen (1954c), S. 176 und (1967), S. 44. 461 N eumann (1948/ 50), S. 145 (Sperrung von mir). 462 Erst an dieser Stelle setzt FL IV.26 ein und handelt von den Amtsbeschwernissen eines Predigerbruders. Die Überschrift identifiziert ihn als br v der Baldewinus. Dass er der leibliche Bruder Mechthilds war, erfahren wir aus diesem Kapitel, dem der oben genannte Randvermerk eigentlich gilt, nicht. Erst in FL VI.42 findet sich der entsprechende Hinweis. Die Überschrift berichtet: Dis schreib swester Mehthilt an einer cedelen irem br v der B. predier orden. Im Text taucht dann die Anrede lieber b v le auf. Beide deutsche Kapitel wurden in LD II.39, wie gesagt, zu einer Texteinheit zusammengezogen, obwohl es keinen erkennbaren Grund dafür gibt, den in FL IV.26 genannten Bruder Balduin mit dem leiblichen Bruder B. zu identifizieren, so auch N eumann (1954b), S. 40 und P eters (1988a), S. 120f. Man fragt sich, ob die Namensnennung in der Überschrift von FL IV.26 die Übersetzer auf die Idee gebracht haben könnte, die Kürzel B. in der Überschrift von FL VI.42 mit Balduin aufzulösen und den Subprior des Hallenser Dominikanerklosters mit Mechthilds Bruder zu identifizieren. 463 P reger (1873), S. 203 (Sperrungen von P reger ). <?page no="220"?> Bis auf den Randvermerk zu LD II.39 spielten die von P reger gesammelten Indizien für die Lokalisierung der ›Lux divinitatis‹ nach Halle in der weiteren Diskussion keine Rolle, was auch nicht weiter verwundert, ist doch seine Argumentation unhaltbar. 464 Auch P reger greift seine eigenen Argumente in einer späteren Publikation nicht mehr auf. Daran, dass die Übersetzung in Halle entstanden sei, hält er allerdings fest. So sieht er in Heinrich von Halle nicht nur den Übersetzer des ›Fließenden Lichts‹, sondern auch einen Angehörigen des Hallenser Dominikanerkonvents. Dies kommt in der Überlegung, was Mechthild dazu bewogen haben könne, von Magdeburg nach Helfta zu wechseln, zum Ausdruck. P reger s Antwort lautet: «Vermutlich trug auch die Nähe von Halle, wo ihr Freund Heinrich lebte, zur Wahl dieses Klosters bei. In ihrem 53. Jahre 1265 trat sie daselbst ein.» 465 Auf dieses Argument stoßen wir auch bei N eumann , der Mechthilds Ankunft in Helfta auf das Jahr 1270/ 71 berechnet und wie P reger auf folgende Koinzidenz hinweist: «Aber es dürfte kaum ein Zufall sein, daß Heinrich nach Wichmanns [von Arnstein] Tode in das 1271 gegründete Hallische Predigerkloster überwechselte und damit wieder in Mechthilds Nähe gelangte, die ja ebenfalls etwa 1270/ 71 im unweit gelegenen Helfta bei den Cistercienserinnen Zuflucht gefunden hatte, wenn ihr Todesjahr mit 1282/ 83 richtig berechnet ist.» 466 Doch nicht nur Heinrich soll nach Halle gezogen sein, sondern auch Mechthilds Bruder Balduin könne an der Neugründung in Halle beteiligt gewesen sein, meint N eumann . 467 In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass 210 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 464 Es sei nur darauf hingewiesen, dass Rb mit den erwähnten In originali-Vermerken höchstwahrscheinlich erst in Basel versehen wurde, wobei offen bleibt, ob original das alemannische Übersetzungsoriginal oder dessen mittelniederdeutsche Vorlage meint (s. dazu S. 364, Anm. 219 weiter unten). Auch in der Frage der Datierung von Rb hat sich P reger vertan, vgl. S. 190, Anm. 380. P reger s Datierung findet allerdings auch noch bei M. S chmidt (1980), Sp. 878 Erwähnung. 465 P reger (1874), S. 95. Dass Heinrich zu einem Anhegörigen des Hallenser Dominikanerkonvent erklärt wird, verwundert insofern, als LD II.40 (Rev. Bd. II.2, S. 517) ihn als Lektor zu Ruppin vorstellt. Nun ist gerade diese Stelle, die P reger als Beleg dafür anführt, Heinrich sei der Übersetzer des ›Fließenden Lichts‹ gewesen, s. P reger (1873), S. 204 und (1881), S. 453. Was man bei P reger vermisst, ist eine Erklärung darüber, wie das in LD II.40 behauptete Ruppiner Lektorat Heinrichs mit seiner postulierten Zugehörigkeit zum Dominikanerkloster in Halle und der angeblich dort erfolgten Übertragung des ›Fließenden Lichts‹ ins Lateinische zu vereinbaren ist. Das gilt im Übrigen auch für all diejenigen, die, wie P reger , die Verben colligere, redigere, distinguere in LD II.40 auf die lateinische Übersetzung bezogen wissen wollen, um Heinrich als Übersetzer zu erweisen, vgl. S. 101, Anm. 10. 466 N eumann (1954b), S. 70. Zu Wichmann s. weiter unten. 467 Vgl. N eumann ebd. Auf dieser Grundlage kann R uh (1993), S. 299 über die «intensive[n] Verhandlungen» spekulieren, die Mechthilds Aufnahme in Helfta begleiteten und die «von Mechthilds Bruder Balduin oder ihrem Beichtiger Heinrich von Halle geführt wurden.» Ähnlich F innegan (1991), S. 15. Auch R. D. S chiewer (2002), S. 438 referiert die These von N eumann und ergänzt sie um ein weiteres quasi-historisches Detail: «Da der Haller Konvent erst 1271 gegründet wurde, ist es nicht undenkbar, daß <?page no="221"?> der oben erwähnte Brief Schwester Mechthilds an Balduin (FL VI.42) «zweifellos schon aus der Helftaer Zeit» 468 stammt. Und um dieses Bild von den vielfältigen Beziehungen persönlicher und literarischer Art zwischen Helfta und dem Dominikanerkloster Halle zu vervollständigen, vermerkt N eumann : «Allem Vermuten nach wurde der Helftaer Frauenkonvent damals schon von den Dominikanern aus Halle geistlich betreut, wie sich auch aus den Schriften Mechthilds von Hackeborn und der Großen Gertrud zu ergeben scheint.» 469 Noch merkwürdigere Blüten trieb die Spekulation über die Bedeutung des Dominikanerkonvents von Halle für das geistliche Leben der Region bei R olf H ünicken . 470 Ihm zufolge soll Heinrich in Halle «einen Kreis literarisch und mystisch gestimmter Männer» (so auch Mechthilds Bruder Balduin) um sich gesammelt und mit «auswärtigen Dominikanergelehrten» wie Dietrich von Apolda in enger Verbindung gestanden haben. Zusammen mit Dietrich und einer Reihe anderer Theologen soll er - Heinrich wird mit dem in der ›Epistola apologetica‹ der ersten Druckausgabe des ›Legatus‹ (Köln 1536) genannten pater H. (! ) a Veriungerede identifiziert - das zweite Buch des ›Legatus‹ Gertruds von Helfta begutachtet haben. 471 Auch literarisch soll er in Erscheinung getreten sein. H ünicken behauptet, Heinrich habe nicht nur Mechthilds Buch redigiert, sondern auch andere Werke verfasst, so etwa Schriften wider di keczir, welche bis ins 16. Jahrhundert bekannt gewesen seien. 472 Seine Verfasserschaft wäre zudem, so H ünicken , für die lateinische Legende über seinen «Freund und Lehrer» Wichmann von Arnstein zu untersuchen. Nicht von Heinrich, wohl aber von einem seiner Schüler, dem im ›Liber‹ Mechthilds von Hackeborn genannten frater N. Ordinis Praedicatorum, soll die Übersetzung des ›Fließenden Lichts‹ stammen, entstanden im Predigerkonvent in Halle. 473 Doch zurück zu N eumann . Problematisch sind N eumann s Ansichten über die Entstehungsumstände der ›Lux divinitatis‹ deshalb, weil sie größtenteils auf H ünicken s ‹Vorarbeiten› beruhen. 474 Zwar kann N eumann kein unkritischer Umgang mit H ünicken s Thesen unterstellt werden, jedoch ist auch bei ihm die Tendenz zu beobachten, Personen und Ereignisse in freier Assoziation miteinander zu verbinden. Das gilt auch für die vermeintlichen Beziehungen von Wichmann von Arnstein zu Mechthild. 475 Den Hinweis verdankt N eumann Varianz in Textbestand und Textfolge 211 Balduin zuvor zusammen mit Heinrich von Halle im Kloster von Neuruppin gelebt hatte.» 468 N eumann (1954b), S. 77. 469 N eumann ebd., S. 76. 470 Zu den folgenden Ausführungen s. H ünicken (1941), S. 210f. Vgl. auch H ünicken (1934/ 35). 471 Zur Kritik dieser These von H ünicken s. die auf S. 130, Anm. 130 genannte Literatur. 472 H ünicken s ‹Quelle› ist zum einen Johannes Meyer, zum anderen der Pirnaer Dominikanermönch Johannes Lindner, s. dazu S. 105f. und 114 oben. 473 Zu dieser A ncelet -H ustache entlehnten These s. S. 104, Anm. 24. 474 N eumann beruft sich auf H ünicken s Aufsatz von 1934/ 35. 475 Zu Wichmann s. L echeler (1996/ 1997). <?page no="222"?> ebenfalls H ünicken . Dieser Gedanke wurde später von K urt R uh aufgegriffen und zu der These weiter entwickelt, Wichmann sei Mechthilds erster Beichtvater in Magdeburg gewesen. Dazu folgende kritische Bemerkungen: H ünicken schloss durch die Identifizierung Heinrichs von Halle mit dem in der ›Epistola apologetica‹ genannten pater H. a Veriungerede auf das Dorf Werenrode (ca. 60 km nordwestlich von Halle) als Geburtsort Heinrichs und behauptete, Heinrich hätte in «unmittelbarer landsmännischer Beziehung» 476 zu Wichmann gestanden. Darüber hinaus vertrat er ausgehend von der Tatsache, dass Wichmann Prior des 1246 gegründeten Dominikanerkonvents Ruppin und Heinrich Lektor desselben Klosters (nach LD II.40/ Rev. Bd. II.2, S. 516,23f.) war (ab wann? ), die These, die beiden hätten «in persönlichem Verkehr» 477 gestanden, was an sich freilich nicht unwahrscheinlich ist. Spekulativer ist jedoch der Gedanke, Heinrich könnte seine geistliche Laufbahn in Magdeburg begonnen haben, 478 eine Vermutung, die von N eumann bereits als Tatsache verhandelt wird. 479 Auf dieser Grundlage kann N eumann Überlegungen darüber anstellen, ob Mechthild auch zu Wichmann in einem persönlichen Verhältnis stand und ob sie «ihn mit jenem ‹einzigen Freund› meinte, den sie 1230 bei ihrem Eintritt ins Magdeburger Beginenleben vorfand.» 480 Freilich sieht er auch die Probleme, die mit dieser Behauptung verbunden sind: «Fraglich aber scheint dies letztere deswegen, weil man gerade von Wichmann kaum erwarten dürfte, daß er gegen Mechthilds Weg in die Niedrigkeit der vita apostolica Einwände erhob, da er selbst der Armutsbewegung zuneigte und den Dominikanern bereits vor seinem Übertritt in ihrem Orden günstig gemeint war.» 481 Dennoch greift R uh diese These in einem Aufsatz von 1991 auf und versucht, auch «einen literarischen Bezugspunkt» zwischen Wichmann und Mechthild herauszuarbeiten. 482 R uh verweist zunächst auf ein Exemplum in einer der Predigten Taulers, wo ein Wigman, unser brúder, genannt wird. Er wird überzeugend mit Wichmann von Arnstein identifiziert. Wichmann werden folgende Worte zugeschrieben: der bekante […] das er sine stat niergent konde vinden denne in dem aller tiefsten grunde der helle under Lucifer. R uh kann auch die Textstelle benennen, die Tauler zitiert. Sie findet sich im zweiten der ›Miracula Wichmani‹ und lautet: Deberem merito esse immundus bufo propter maliciam meam, et esse in inferiori parte inferni cum omnibus dyabolis. R uh betont die Divergenzen zwischen Tauler und Wichmann in der Lokalisierung des Höllen- 212 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 476 H ünicken (1934/ 35), S. 110. 477 H ünicken ebd. zitiert an dieser Stelle B ünger (1926), S. 4. 478 Vgl. H ünicken (1934/ 35), S. 110. 479 Vgl. N eumann (1993), S. 103, Anm. zu V.28,7. Ähnlich L oë (1910), S. 30 und zuletzt D riller (2005), S. 51. Diese Behauptung muss Spekulation bleiben, denn Namenslisten des Magdeburger Konvents St. Paulus sind aus dem 13. Jahrhundert nicht erhalten, s. P. G. S chmidt (1992), S. X. 480 N eumann (1954b), S. 71. Solche Überlegungen finden sich bereits bei M öllenberg (1928), S. 29 und L öhr (1931), S. 91. 481 N eumann (1954b), S. 71. R. D. S chiewer (2002), S. 436, Anm. 1 versucht N eumann s Zweifel an der Stichhaltigkeit der eigenen Behauptung zu zerstreuen. 482 Zu den folgenden Ausführungen s. R uh (1991). Ähnlich R uh (1993), S. 286-288 bzw. 292-295 und (1999c). <?page no="223"?> sitzes und weist auf FL V.4: 328,23 (V.4,52) hin, worin sich die Formulierung under Lucifers zagel findet. Die Folgerungen, die R uh aus dieser Beobachtung zieht, sind schwer nachzuvollziehen. Er meint, under Lucifers zagel stelle «eine für Mechthild typische drastische Variante von under Lucifer» dar, eine Lesart, die eine «ursprüngliche Aussage Wichmanns» (S. 323) gewesen sein soll. R uh will in diesem Diktum eine mündlich vermittelte Aussage sehen, die Mechthild und der Verfasser der ›Miracula‹ aufgegriffen und unterschiedlich ausgestaltet hätten. Wichmann und Mechthild werden also näher aneinander gerückt als bei N eumann . R uh verweist in diesem Zusammenhang auf die Vermutung N eumann s, Wichmann sei jener frúnt gewesen, den sie allein in der ihr fremden Stadt kannte. Ja mehr noch: Er könnte sogar Mechthilds erster Seelsorger gewesen sein (S. 324). R uh s Ausführungen halte ich an zwei Stellen für problematisch. Zunächst zu seinem Argument, woher Tauler das vermeintlich ursprünglichere Wichmann-Dictum genommen hat. Er ist der Ansicht, Tauler habe ein Text vorgelegen, «der dem ›Fließenden Licht‹ näher steht als dem Wichmann-Miraculum» (S. 323). R uh schließt dabei die Möglichkeit ausdrücklich aus, Tauler könne die ›Miracula‹ vor sich oder in Erinnerung gehabt und cum omnibus diabolis durch das viel plastischere under Lucifer ersetzt haben, das er aus dem ›Fließenden Licht‹ kannte, wobei er den zagel als zu drastisch beiseite ließ (S. 323f., Anm. 4). Zwar hält er es für nicht unwahrscheinlich, dass Tauler das ›Fließende Licht‹ kannte, zweifelt aber daran, «daß Tauler bei der Lektüre oder in der Erinnerung an Wichmanns Dictum eine einzelne Stelle aus Mechthilds Buch eingefallen ist» (ebd.). Eine solche mnemotechnische Leistung ist indes keineswegs auszuschließen. Man denke etwa an jenes «Gedächtnis-Zitat» (N eumann ) aus FL I.22, das in eine der Predigten des Codex Einsidlensis 278, der Schwesterhandschrift von Cod. 277, eingegangen ist (s. dazu S. 9, Anm. 33) oder an den «offensichtlich aus dem Gedächtnis hergestellten Auszug» aus dem ›Liber‹ Mechthilds von Hackeborn in zwei Göttinger Handschriften, der «nur noch durch einpaar charakteristische Wendungen identifiziert werden kann.» 483 Es ist auch daran zu erinnern, dass die Schilderung der resignatio ad infernum in FL V.4: 328,19-23 (V.4,48-52) gerade diejenige Stelle ist, die in der Rezeption des ›Fließenden Lichts‹ gewisse Aufmerksamkeit erregt und Irritationen ausgelöst hat. So wird der Ausdruck under Lucifers zagel in B infolge einer Interpolation (FL VI.23: 480,15-20 [VI.23,10-14]) mit vnder die tiefel ersetzt. 484 Auch die ›Lux divinitatis‹ hat Anstoß an der Formulierung in FL V.4: 328,23 (V.4,52) genommen und tauscht sie gegen sub lvcifero LD IV.36,10/ Rev. Bd. II.2, S. 568,29 (LG IV.34,14f.: vnder den lúcifer) aus, eine Formulierung, die genau zu der von Tauler gebotenen Lesart under Lucifer passt. 485 Varianz in Textbestand und Textfolge 213 483 Vgl. Z ieger (1974), S. 87. Vor diesem Hintergrund erhält H aferland s (2006) Versuch, die Genese unterschiedlicher Fassungen des ›Nibelungenliedes‹ aufgrund von «Gedächtniskontamination» (S. 196) zu erklären, mehr Gewicht. 484 Vgl. Textabdruck bei N eumann (1993), S. 278,19. 485 Man fragt sich deshalb, ob Tauler die ›Lux divinitatis‹ gekannt haben konnte. Dies ist m.E. nicht auszuschließen, wenn man berücksichtigt, dass Tauler über eine Art «Handbibliothek» (G ottschall ) von (frauen)mystischer Literatur verfügt zu haben scheint. So findet man in seinem Besitz Seuses ›Horologium Sapientiae‹ und den ›Liber specialis gratiae‹ Mechthilds von Hackeborn. Das Tauler angehörende Exemplar des ›Liber‹ ist in der St. Gallener Handschrift Nr. 583 sogar erhalten, s. dazu demnächst W ehrli -J ohns <?page no="224"?> Nicht weniger problematisch ist der Versuch, Mechthilds Beeinflussung durch Wichmann, ja Wichmanns Beichtvaterstatus, 486 allein anhand des Höllen-descensus erwiesen zu sehen. 487 Auf dieses Motiv stößt man außer bei Wichmann und Mechthild auch in der Vita der Margareta Contracta, einer Zeitgenossin Mechthilds. Johannes von Magdeburg, der Beichtvater und Hagiograph Margaretas, charakterisiert die Geisteshaltung seiner Beichttochter mit folgenden Worten: Et ita abiecta in se fuit, quod pro dilectione Dei et ad laudem Dei infernum pro celo elegisset, dum modo equaliter Domino placuisset. 488 Aus dieser Übereinstimmung zwischen Margareta und Mechthild darauf zu schließen, beide Frauen könnten in ihrer Sehnsucht nach der Hölle von Wichmann angeregt worden sein, 489 ist freilich genauso wenig zwingend wie die These von R uh , Mechthild sei von Wichmann beeinflusst worden, zumal wenn man bedenkt, dass sich das Motiv der Sehnsucht nach der Hölle als Ausdruck des selbst gewählten Verworfenseins auch in den Viten der brabantischen Frauen findet. 490 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die zeitliche Koinzidenz, die zwischen dem Eintritt Mechthilds in die Magdeburger Beguinage und dem Übertritt Wichmanns in den Dominikanerorden bestehen soll, keineswegs so sicher ist, wie die communis opinio der Forschung bezüglich der Datierung der Ankunft Mechthilds in Magdeburg es vermuten lässt (s. dazu ausführlich S. 138ff. oben). Das heißt, der bisherige Datierungsansatz (um 1230) taugt nicht zur zeitlichen Eingrenzung der «frühen Magdeburger Zeit» 491 Mechthilds, als Wichmann ihr Beichtvater gewesen sein soll. 214 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ (2011). Auch der ›Liber scivias‹ und andere Schriften der Hildegard von Bingen dürften Tauler bekannt gewesen sein. Zu diesen Angaben s. G nädinger (1993), S. 36f., H indsley (1998), S. 187 und neulich H amburger (2005), S. 22-24. Ausgehend von der Tatsache, dass Heinrich von Nördlingen in seinen Briefen auf das ›Horologium‹ und den ›Liber‹ Bezug nimmt - das erste identifiziert er ausdrücklich als Taulers Besitz, aus dem zweiten zitiert er, wobei das Zitat dem Wortlaut der St. Galler Handschrift des ›Liber‹ eng verwandt ist (s. Z ieger 1974, S. 86) -, schließt G ottschall (2007), S. 148f. darauf, Tauler könnte Heinrich von Nördlingen seine Handbibliothek zur Verfügung gestellt haben. Auch Mechthilds Text - G ottschall denkt ans ›Fließende Licht‹ - könnte, so G ott schall , durch Taulers Vermittlung in die Hände von Heinrich von Nördlingen gelangt sein. Tauler soll im Übrigen derjenige sein, der die Vorlage der oberdeutschen Übertragung von Ruusbroecs ›Geestelijcke brulocht‹ an Rulman Merswin vermittelt hat, vgl. E ichler (1992) und neulich W arnar (2003), S. 57. 486 An R uh anschließend bezeichnet J anota (2004), S. 90 Wichmann als «Berater» Mechthilds. 487 Dasselbe gilt auch für die Umstellung der Richtung der Beeinflussung, die bei V erla guet (2005), S. 271f. der Fall zu sein scheint. Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang auch auf M ulder -B akker (2005), S. 163. Hier wird die Idee des Höllen-descensus für Margareta reklamiert, Mechthild dagegen eine Vertrautheit mit Margaretas Vorstellungen attestiert (zum Hintergrund dieser Behauptung s. S. 389ff. weiter unten, Nr. II). 488 P. G. S chmidt (1992), S. 5. Vgl. auch Et si dictum fuisset ei ‹to pro dilectione Dei sedebis in inferno›, per hoc territa non fuisset. Talia etiam sepe proposuit ei dictus frater (ebd., S. 10), s. dazu W eiss (1995a), S. 68-69 bzw. 106-113 sowie L ewis / L ewis (2001), S. 133f. 489 So W eiss (1995a), S. 112, Anm. 128. 490 Vgl. W eiss ebd., S. 110f. 491 R uh (1991), S. 324. Vgl. auch die Parallelisierung von Mechthilds «Flucht aus dem Elternhause» mit der «Flucht Wichmanns aus dem Kloster UL.Fr. [= Unser Lieben Frauen]» <?page no="225"?> Wie steht es nun mit N eumann s Vermutung, Helfta sei von den Hallischen Dominikanern betreut worden? Es ist zwar nicht auszuschließen, dass die Dominikaner aus Halle an der cura monialium der Helftaer Nonnen beteiligt waren, allerdings kann die weit verbreitete Ansicht, Helfta hätte unter der geistlichen Leitung der Dominikaner aus Halle gestanden, 492 nur «partielle Richtigkeit» 493 beanspruchen. Wohl ist in den Helftaer Urkunden sowie den Schriften Gertruds von Helfta gelegentlich von Dominikanern die Rede, sie treten allerdings nie als Beichtväter, Prediger oder geistliche Lehrer, sondern nur im Zusammenhang von Bittgebeten auf. 494 Auch bleibt es offen, welchen Niederlassungen des Ordens sie angehört haben. Sie können neben Halle, ebensogut aus den Konventen in Halberstadt, Erfurt oder Magdeburg gekommen sein. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass Helfta vielfältige Beziehungen zu anderen Orden, so zu Benediktinern, Franziskanern und zum Deutschen Orden (in Halle) 495 , unterhielt. Unter diesem Aspekt erscheint zweifelhaft, «[o]b es überhaupt eine Ausschließlichkeit bezüglich der ›cura monialium‹ gegeben hat.» 496 Den eigentlichen Grund für die Verortung der Entstehung der ›Lux divinitatis‹ in Halle bildet die Überzeugung, Heinrich wäre von Ruppin in den 1271 gegründeten Dominikanerkonvent Halle übergetreten, nachdem sein Ruppiner Prior Wichmann 1270 gestorben war. 497 Damit schien der Zeitpunkt des Eintritts von Mechthild in Helfta zu korrelieren, dies allerdings nur, schränkt Varianz in Textbestand und Textfolge 215 bei M öllenberg (1928), S. 29 und die Überlegung: «Hier scheint mir mehr als ein zufälliges Zusammentreffen von Ereignissen vorzuliegen.» 492 Vgl. etwa G ottschalk (1955), S. 66, M. S chmidt (1987), Sp. 252, R uh (1992), S. 2, Anm. 4, V oaden (1997), S. 76, K eul (2004), S. 31 und ferner A chten (1991), S. 145, Anm. 11, wo (ohne Quellenangabe) darauf hingewiesen wird, dass «die mystischen Schriften der Zisterzienserinnen [von Helfta] von einigen Dominikaner-Lesemeistern des Klosters nach Südwestdeutschland hinüber gerettet [worden sind]». Auf die Ansicht, die Dominikaner hätten die Helftaer Zisterzienserinnen von Halle aus geleitet, trifft man zuerst bei W ilms (1928), S. 99 (mit Berufung auf J. M üller 1881). 493 B angert (1999), S. 34. Zur Geschichte des Klosters Helfta im Spiegel der erhaltenen Quellen s. neulich O efelein (2004), S. 95-143. 494 Stellennachweise bei S pitzlei (1991), S. 34. Dieser Befund erklärt sich laut V oigt (2008), S. 99 dadurch, dass die Dominikaner ebenso wie die Franziskaner in der Regel keine offiziellen geistlichen Funktionen in nicht inkorporierten Frauenklöstern innegehabt haben. Selbst wenn eine solche Beziehung nachweisbar ist, beschränkt sie sich, betont V oigt ebd., S. 104, Anm. 86, auf eine bestimmte Angehörige der Gemeinschaft. Daher ist der im Zusammenhang der Frage nach der geistlichen Betreuung von Helfta gelegentlich anzutreffende Hinweis auf die dominikanische cura der Nonne Lukardis aus der Frauenzisterze Oberweimar kein Beleg, der sich für Generalisierung eignet. 495 Vgl. W ojtecki (1971), S. 53. 496 B angert (1999), S. 35. Zustimmend O efelein (2004), S. 131. Ähnlich hat sich bereits S pitzlei (1991), S. 36 zur Frage der geistlichen Betreuung Helftas geäußert. Wie es mit der cura der Nonnen (Neu-)Helfta im Spätmittelalter aussieht, muss aus Mangel an Quellenbelegen offen bleiben, s. R üttgardt (1998), S. 205. 497 Vgl. N eumann (1954b), S. 70 und (1987a), Sp. 261. <?page no="226"?> N eumann selbst ein, «wenn ihr Todesjahr mit 1282/ 83 richtig berechnet ist» (s. oben Anm. 466 mit Text). Dass die Richtigkeit der Berechnungen des Todesjahres und von hier aus die Bestimmung des Zeitpunktes, zu dem der Klostereintritt erfolgt sein soll, in der Tat Zweifeln aufkommen lässt, wurde bereits in Kap. II.1.3 (S. 125ff.) gezeigt. Wie sieht es nun mit Heinrichs Aufenthalt in Halle aus? Historische Quellen gibt es darüber genauso wenig wie über seine Ruppiner Zeit. H ünicken konnte allerdings eine am 15. Juli 1273 in Pforta ausgestellte Urkunde ausfindig machen, in der anlässlich einer Schenkung an das Kloster als Zeuge ein frater Heinricus de Hallis ordinis predicatorum genannt wird. 498 Dass mit ihm der ehemalige Ruppiner Lektor gemeint ist, dürfte, so H ünicken , «außer Zweifel stehen» (ebd.). Ob dies zutrifft, sei dahingestellt. Wichtig ist, welche Folgerungen H ünicken aus der Kenntnis dieser Urkunde für das Curriculum Heinrichs zieht: «seit 1271 oder bald darauf in Halle, in dessen Nähe er am 15.7.1273 urkundlich erwähnt wird» (S. 105). Dies allein reicht dem verdienten Historiker der Stadt Halle, Heinrich zu einem Angehörigen des Hallenser Dominikanerklosters zu machen. 499 N eumann schließt sich in diesem Punkt H ünicken kritiklos an. Dadurch handelte sich N eumann jedoch ein Problem ein, das ihm zunächst nicht auffiel. In einem seiner früheren Aufsätze datierte N eumann die Entstehungszeit des sechsten Buches auf die «anderthalb Jahrzehnte von etwa 1260 bis ungefähr 1275, zumindest aber bis in die Jahre nach 1271». 500 Wir befinden uns also in Mechthilds Helftaer Zeit, die nach N eumann s Berechnungen mit 1270/ 71 ihren Anfang genommen hat und die eigentlich für das siebte Buch reserviert ist. Es sei nun daran erinnert, dass N eumann die Angaben in LD II.40 (dicta huius mehtildis omnia collegit et in unum uolumen redegit . ac in sex partes illud distinxit, Rev. Bd. II.2, S. 516,5f.) auf die sechs Bücher des ›Fließenden Lichts‹ bezieht (s. dazu S. 100f. oben). Wenn das zutrifft, so stellt sich die Frage, warum Heinrich in LD II.40 lector ruppinensis genannt wird, fällt doch der Abschluss und die Redaktion der ersten sechs Bücher des ›Fließenden Lichts‹ in eine Zeit, als sich Heinrich bereits in Halle aufgehalten haben soll. Diese Unstimmigkeit in der eigenen Argumentation scheint N eumann erkannt zu haben, denn er lässt in seinem Verfasserlexikon-Artikel Mechthild just in dem Jahr das sechste Buch beenden, als sie nach Helfta und Heinrich nach Halle gezogen sein soll, das heißt im Jahre 1270/ 71. 501 Im Lichte dieses kritischen Gangs durch die Forschung ist man gut beraten, daran zu zweifeln, dass die lateinische Übersetzung des ›Fließenden Lichts‹ mit dem Dominikanerkloster Halle zu verbinden ist. Was kann man diesem negativen Befund entgegen halten? Zunächst ist festzustellen, dass die Umsetzung des deutschen Textes ins Lateinische in einem theologisch gelehrten Um- 216 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 498 Vgl. H ünicken (1934/ 35), S. 102. 499 Vgl. auch den Gedankengang von R emmler (1975), S. 70: «Um 1270, dem Todesjahr Wichmanns, verließ Heinrich Neuruppin und gründete das Dominikaner-Kloster Halle/ Saale, wodurch er als Heinrich von Halle bekannt wurde.» 500 N eumann (1954b), S. 50. 501 Vgl. N eumann (1987a), Sp. 262. Vgl. dazu auch Anm. 466 oben mit Text. <?page no="227"?> feld (nicht unbedingt in einem Männerkloster) erfolgt sein muss. Dafür sprechen die oben (Kap. II.2.3) aufgezeigten dogmatischen Richtigstellungen. Als erstes würde man sicherlich ans Kloster Helfta als Entstehungsort denken, wo Mechthild nach der Auskunft des LD-Prologs die letzten zwölf Jahre ihres Lebens verbrachte und wo aller Wahrscheinlichkeit nach das siebte Buch des ›Fließenden Lichts‹ entstand. Anders als Halle, über dessen geistig-literarisches Leben nichts bekannt ist, liefert Helfta tatsächlich die besten Voraussetzungen dafür, die Entstehung der ›Lux divinitatis‹ hier zu verorten. Denn das Kloster zeichnet sich durch ein hohes Bildungsniveau aus und beherbergt eine literarisch ambitionierte Schwesterngemeinschaft, die eine über das übliche Kopieren und Illuminieren von Handschriften hinausgehende literarische Aktivität aufweist und ein ausgeprägtes Interesse daran zeigt, das begnadete Leben einzelner ihrer Mitglieder im offiziellen Auftrag, das heißt auf Veranlassung der Klosterleitung, zur kollektiven Identitätsstiftung und zur Belehrung der folgenden Schwesterngenerationen aufzuzeichnen. 502 In der Tat trifft man in der Forschung vereinzelt auf die Ansicht, nicht nur die Entstehung, Redaktion und Distribution des ›Fließenden Lichts‹, 503 sondern auch seine Umsetzung ins Lateinische habe in Helfta stattgefunden. Allerdings sind die in diesem Zusammenhang genannten Argumente wenig überzeugend. 504 Will man Helfta auch als Ort der Entstehung der ›Lux divinitatis‹ erweisen, empfiehlt es sich, nach stichhaltigeren Belegen zu suchen. Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang etwa auf die Abweichung, die in der Publikumsanrede am Ende von FL I.44 und seiner lateinischen Übersetzung festzustellen ist: Die Wiedergabe von gottes frúnd (64,25 [I.44,94]) durch amica dei 505 in LD IV.13,60 (LG IV.12,92: frúndin gotz, die Solesmenser Mönche bieten dagegen amicus dei, vgl. Rev. Bd. II.2, S. 552,10) lässt an eine adressatengerechte Umformung der Publikumsapostrophe denken und scheint die Ausrichtung der lateinischen Übersetzung an eine weibliche Leserschaft zu Varianz in Textbestand und Textfolge 217 502 S. dazu H ubrath (1996), S. 36-48. 503 S. dazu die Literaturhinweise auf S. 24, Anm. 114 oben. 504 B ecker (1951), S. 155, Anm. 1 spricht von der «gegenseitigen Beeinflussung zwischen unserer lat. Fassung und dem liber spec. grat. (sic! )» und begründet dies damit, dass die Zusammenführung von thematisch verwandten Kapiteln zu Traktaten (tractatus) außer in den ersten beiden Büchern der ›Lux divinitatis‹ auch im ›Liber‹ belegt sei, und zwar durch das «einmalige [! ] ‹Incipit tractatus de beata virgine›». Anders als B ecker , der nur den Einfluss der ›Lux divinitatis‹ auf Helfta postuliert, erwägt H ans U rs von B althasar , Mechthilds kirchlicher Auftrag, in: M. S chmidt (1955), S. 21 auch ihre Entstehung im dortigen Konvent. Er sieht «emsige Übersetzerinnen» am Werk, die «das leuchtende Deutsch in ein freundliches, blumiges Latein mit vielen Erläuterungen aus der Helftaer Bildungswelt zähmen», räumt jedoch selbst ein, die Annahme sei nicht beweisbar: «nur die Stilverwandtschaft scheint sie zu schützen» (ebd., Anm. 1). Ohne weitere Begründung verlegt O rtmann (1992), S. 160 die lateinische Übersetzung nach Helfta. 505 N eumann (1990), S. 32 unterlässt, diese Sonderlesart des lateinischen Überlieferungszweiges im Variantenapparat zu verzeichnen. <?page no="228"?> implizieren. 506 Dem sind jedoch Stellen entgegen zu halten, worin der Text der Übersetzung eher auf eine männliche Leserschaft zugeschnitten ist. Ich denke hier vor allem an die Übersetzung von FL VI.1. Das deutsche Kapitel enthält generelle Anweisungen und richtet sich an Angehörige von Männer- und Frauenkonventen gleichermaßen. Dies kann nicht nur der Überschrift Wie ein prior oder ein priorinne oder ander prelaten sich s o llent halten gegen iren undertan (Überschrift), sondern auch den im Text verstreuten Doppelformen prior/ priorinne (Überschrift sowie 418,15 und 422,17 [VI.1,4 und 51f.]), br v der/ swester (418,20, 422,21 und 23 [VI.1,7f., 54 und 56]), meister/ meisterinne (420,28f. [VI.1,32]) entnommen werden. Die lateinische Übersetzung fokussiert dagegen auf Männerklöster: Sie übersetzt De periculo prelatorum und spricht von prelatus und subditi, vgl. LD V.11-13/ Rev. Bd. II.2, S. 598-600 bzw. LG V.9-10. Dasselbe gilt für die Übersetzung von FL V.11. Doch ist hier nur die Überschrift von der Neufokussierung betroffen (statt Von den swestern gelas, wie sie betten und arbeiten s o nt mit gotte liest man De bonitate religionis et quorumdam religiosorum prauitate, LD V.4 (Rev. Bd. II.2, S. 591, LG V.3: Von der geistlichen gutheit vnd von etlicher Geistlichen bosheit), die Hinwendung an eine einzelne Schwester im Kapitel selbst bleibt in der lateinischen Übersetzung erhalten. Hilfsreicher als die Publikumsanreden scheinen die Struktur und die in Kap. II.2.3 aufgezeigten Bearbeitungstendenzen der ›Lux divinitatis‹ (Enterotisierung und Richtigstellungen im Bereich der Gnadenlehre) zu sein. Von ihrem Aufbau her stellt die Übersetzung des ›Fließenden Lichts‹ insofern keinen Fremdkörper im Helftaer Schrifttum dar, als sie nicht chronologisch, sondern wie der ›Legatus‹ und ›Liber‹ thematisch geordnet ist. 507 Auch in der Tendenz, sinnlich-erotische Metaphorik zu meiden, und in der auffälligen Konzentration auf die Bedeutung und Wirkung der Gnade stimmt die ›Lux divinitatis‹ 218 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 506 Es sei hier darauf hingewiesen, dass die Schlusszeile von FL I.44 in der Handschrift B fehlt. Dazu stellt N agy (2001), S. 139 fest, das Fehlen dieser Zeile sei «wenig überraschend», «wenn man an das anvisierte [weibliche] Publikum denkt.» Die maskuline Form der Anrede hat die bisherige Forschung zwar nie dazu verleitet, sie als einen Hinweis auf das Geschlecht der Adressaten Mechthilds zu deuten - im Anschluss an O rtmann (1992), S. 181, Mechthild wende sich mit ihrem Buch an gleichgesinnte geistliche lúte, an einen Adressatenkreis also, der «sich ständeübergreifend durch seine spirituelle Lebenspraxis definiert», versteht V ollmann- P rofe (1994), S. 153 die Publikumsapostrophe lieber gottes frúnt als eine Umschreibung für die Idealrezipienten des ›Fließenden Lichts‹ -, dies schließt die Möglichkeit jedoch keineswegs aus, dass der B-Redaktor diese Wendung, vorausgesetzt, sie war bereits in seiner Vorlage enthalten, nicht in diesem Sinne verstanden und sie folglich als eine für seine weibliche Leser- oder Hörerschaft inadäquate Form der Anrede empfunden hat. Zur Handschrift s. zuletzt N emes (2005). 507 V ollmann- P rofe (2000), S. 152 weist darauf hin, dass sich dem Übersetzer bei der Überführung des volkssprachlichen Textes ins Lateinische im Grunde zwei Modelle angeboten haben, dasjenige der Vita und das der Offenbarungsschrift. Entschieden haben sie sich, wie gesagt, für das letztere. <?page no="229"?> mit der Helftaer Revelationsliteratur, genauer mit dem ›Liber‹, überein. 508 Das sind jedoch keine zwingenden Gründe, die Entstehung der ›Lux divinitatis‹ nach Helfta zu versetzen, denn diese Gemeinsamkeiten lassen sich auch als von der lateinischen Sprachtradition her mitbestimmt erklären (s. dazu weiter unten). Dem Text der Übersetzung können, wie gesagt, nur wenige Informationen bezüglich der Lokalisierung des Entstehungsortes der ›Lux divinitatis‹ abgewonnen werden. Aufschlussreich ist dagegen der Blick auf die Überlieferung, die zeigt, dass die Übersetzung des ›Fließenden Lichts‹ neben dem kartäusischen (wohl erst im 15. Jahrhundert) in einem dominikanischen Umfeld rezipiert bzw. tradiert wurde. Man denke etwa an die Sekundärüberlieferung im ›Liber de Viris Illustribus Ordinis Praedicatorum‹ des Johannes Meyer (s. dazu S. 105ff. oben). Vielleicht wird man auch Johannes Tauler die Kenntnis, wenn nicht sogar den Besitz eines Exemplars der lateinischen Übersetzung des ›Fließenden Lichts‹ unterstellen dürfen (s. dazu Anm. 485 oben mit Text). Außer diesen Rezeptionszeugnissen sei an die erhaltenen oder auch nur bezeugten Handschriften der ›Lux divinitatis‹ erinnert. Wohl stammt ein Großteil dieser Textzeugen aus Kartäuserbibliotheken, die Vorlagen scheinen die Kartäuser jedoch von den Dominikanern bezogen zu haben. So steht am Beginn der Rezeption der ›Lux divinitatis‹ in der Basler Kartause die Handschrift Rb aus der lokalen Dominikanerbibliothek. 509 Dasselbe könnte man vielleicht auch bei der 1372 gegründeten Kartause St. Salvatorberg in Erfurt annehmen. Für die Bekanntheit der ›Lux divinitatis‹ in Erfurt sprechen jedenfalls die im Bibliothekskatalog unter der Signatur J 2 primo und J 6 verzeichneten Handschriften 510 und eine Reihe von Neufunden, die erst im Zuge der Arbeiten an der Neuedition der ›Lux divinitatis‹ aufgetaucht sind. Ich denke hier nicht nur an We1, We2, We3 sowie Weimar, HAAB, Oct 64, fol. 77 v (s. dazu S. 107f. oben), sondern auch an ein vom Ende des 15. Jahrhunderts stammendes Exzerpt (Vä), das ein einziges Kapitel der lateinischen Übersetzung (LD VI.12/ Rev. Bd. II.2, S. 629f.) im Anhang des ›Quadragesimale de casibus conscientiae‹ des Bartholomaeus de Rinonico Pisanus OFM überliefert. 511 Interessant ist dieses Textstück vor allem deshalb, weil es unter der Heranziehung des entsprechenden deutschen Kapitels (FL V.5) erstellt wurde. Vieles spricht dafür, dass Vä in der Erfurter Kartause entstanden ist, 512 an einem Ort wohlgemerkt, wo es nach dem Bibliothekskatalog des Jakob Volradi außer den genannten Handschriften der ›Lux divinitatis‹ eine Vollhandschrift des ›Fließenden Lichts‹ gab (Signatur: J 5 primo ). 513 Varianz in Textbestand und Textfolge 219 508 S. dazu K öbele (1993), S. 107-112 und H aas (1982/ 1984), S. 225-232. 509 Zur Provenienz von Rb s. M eyer / B urckhardt (1966), Bd. 1, S. 182. Zu der über Basel bis zur Kartause Buxheim und Erfurt bzw. dem Benediktinerstift von Augsburg und Erfurt reichenden Rezeptionskette der ›Lux divinitatis‹ s. S. 105ff. oben. 510 Vgl. L ehmann (1928), S. 431,5f. und 432,28-30. 511 Abgebildet bei H edlund (1980), Abb. 72. 512 S. dazu N emes (2008b). 513 Vgl. L ehmann (1928), S. 432,16-23. <?page no="230"?> Nun ist aber Erfurt auch der Ort, wo das ›Fließende Licht‹, genauer seine lateinische Übersetzung, zum ersten Mal rezeptionsgeschichtlich greifbar ist: Man denke an die Exzerpte der ›Lux divinitatis‹, die in die Dominikus-Vita des Dietrichs von Apolda, eines Angehörigen des Erfurter Dominikanerkonvents, eingegangen sind. 514 Nicht nur das älteste Rezeptionszeugnis, sondern auch die älteste erhaltene Handschrift der lateinischen Übersetzung des ›Fließenden Lichts‹ kommt, wie schon angedeutet (s. Anm. 509 mit Text), aus einem Dominikanerkloster, genauer aus der Bibliothek des Basler Konvents. Für die dominikanische Provenienz von Rb spricht nicht nur der (rekonstruierte) Besitzervermerk auf fol. 1 r , sondern auch die Mitüberlieferung (Marienlob des Berthold von Nürnberg OP, fol. 1-50) 515 und vor allem eine Reihe von Annotationen zu Textstellen mit dominikanischem Bezug, vgl. die in Anlehnung an die Überschrift von FL IV.21 formulierte Glosse Nota 6 quo deo in ordine placent zu LD II.12/ Rev. Bd. II.2, S. 491 (entspricht FL IV.21) sowie folgende Randvermerke: Nota zu LD II.14,12/ Rev. Bd. II.2, S. 493,15 (entspricht FL V.24: 380,13f. [V.24,37f.]) - Nota de gloria predicatorum zu LD II.29, 22f./ Rev. Bd. II.2, S. 506,29 (entspricht FL III.1: 152,19 [III.1,99]) - Qualiter Sanctus Dominicus suscipit fratres suos zu LD II.35,21f./ Rev. Bd. II.2, S. 512,2 (entspricht FL IV.22: 290,19f. [IV.22,20f.]) - Scripsit enim manu sua bibliam in qua legitur ad mensam in conuentu hallensium zu LD II.39,10f./ Rev. Bd. II.2, S. 516,3 (entspricht FL IV.26) - Nota zu LD VI.11,14/ Rev. Bd. II.2, S. 628,22 (entspricht FL III.17: 200,24 [III.17,18]). Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang auch auf die in Rb nachgetragene Prologüberschrift Prologus fratris henricus lectoris de ordine fratrum Predicatorum, die sich auch in der von Rb unabhängig entstandenen Handschrift Rw findet und älteren Datums sein könnte (s. dazu S. 104f. oben). Ob das in dieser Überschrift Behauptete stimmt, steht hier nicht zur Diskussion. In jedem Fall dokumentiert sich in ihr ein dominikanisches Interesse an der ›Lux divinitatis‹. Dasselbe gilt für die oben genannten Annotationen, denn wie bei der Prologüberschrift kann auch bei diesen, auf Textstellen dominikanischen Inhalts verweisenden Vermerken nicht mit Sicherheit festgestellt werden, ob sie schon in der Vorlage von Rb - sei 220 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 514 Vgl. Acta Sanctorum Augusti, Bd. 1, Antwerpen 1733 (ND Brüssel 1970), S. 604 (Nr. 251- 254) und S. 627-629 (Nr. 383-397). Die meisten Exzerpte stehen am Ende der Vita. Zur Aufschlüsselung der von Dietrich zu Rate gezogenen Quellen s. A ltaner (1922), S. 175- 181, hier S. 178 (D 251-254) und S. 181 (D 383-397). A ltaner hat die Zusammengehörigkeit der aus der ›Lux divinitatis‹ herausgezogenen Kapitel zwar erkannt, die Quelle konnte er jedoch nicht identifizieren. Dasselbe gilt auch für R ener (1994), S. 214 und 217. Dies überrascht insofern, als die durch S tierling (1907), S. 5-15 erfolgte Identifizierung der in die Dominikus-Vita eingegangenen Mechthild-Exzerpte durch B raun schon 1912 der Dietrich-Forschung bekannt gemacht wurde, vgl. B raun (1912), S. 122f. Auf die «gelegentlichen Zitate aus der lat. Mechthild-Überlieferung» weist auch L omnitzer (1980), Sp. 109 hin. 515 Die einzige bekannte Parallelüberlieferung findet sich in Gotha, Universitäts- und Forschungsbibl., Memb. I 80, fol. 41 r- 67 r , s. dazu H opf (1994), S. 57-58. <?page no="231"?> es auch nur teilweise - enthalten waren. Anzunehmen wäre dies für die Glosse zu LD II.39,10f. (der Text handelt von Bruder Balduin). Denn sie zeugt von einer gewissen Vertrautheit mit dem Lebensumfeld Mechthilds und führt möglicherweise in die unmittelbare zeitliche Nähe der Genese der ›Lux divinitatis‹ zurück. 516 Die genannten Indizien zeigen, dass der Dominikanerorden an der Rezeption und Distribution der ›Lux divinitatis‹ maßgeblich beteiligt war. Man ist deshalb geneigt, nicht nur die Verbreitung, sondern auch die Entstehung der lateinischen Übersetzung des ›Fließenden Lichts‹ im dominikanischen Umfeld zu verorten. Die frühe Präsenz des Textes in Erfurt - Dietrich hat die Dominikus-Vita zwischen 1296 und 1298 abgeschlossen - und das Vorhandensein von Handschriften des ›Fließenden Lichts‹ und seiner lateinischen Übersetzung in der dortigen Kartause lenken den Blick auf den Erfurter Konvent der Dominikaner, der um 1300 seine Glanzzeit erlebte. Hierzu einige bekannte Fakten: Im letzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts verfasst Dietrich von Apolda die im Spätmittelalter so populäre Lebensbeschreibung der heiligen Elisabeth von Thüringen. 517 Zu dieser Zeit entsteht auch die Vita des Ordensgründers Dominikus, mit deren Abfassung Dietrich vom Ordensgeneral selbst beauftragt wurde. 518 Diese Auftragsarbeit bringt Dietrich zwischen 1296 und 1298, wenige Jahre vor seinem Tod, zum Abschluss. Zu dieser Zeit war Meister Eckhart Prior des Erfurter Dominikanerkonvents und Vikar der Ordensprovinz Thüringen (1294-1298). In diese Jahre datieren ›Die rede der underscheidunge‹, jene Kollationen also, die Eckhart mit seinen Konventsbrüdern geführt und wohl auch selbst schriftlich niedergelegt hat, und zwar in deutscher Sprache. 519 Varianz in Textbestand und Textfolge 221 516 Allerdings datiert diese Glosse, wie die Randeinträge von Rb überhaupt, später als die Handschrift. Die Marginalien scheinen zudem auf mehrere Hände zurückzugehen, ohne dass im Einzelfall zwischen den einzelnen Händen mit Sicherheit unterschieden werden kann. Die älteste Schicht der Glossen - von den korrigierenden Nachträgen der Schreiberhand sehe ich hier ab - stammt nach einer brieflichen Mitteilung von Karin Schneider an Ernst Hellgardt aus dem dritten Viertel des 14. Jahrhunderts (die Handschrift selbst datiert Frau Schneider auf die Zeit um bzw. kurz vor 1350). Dies würde dazu verleiten, im Vermerk zu Bruder Balduin den «hagiographischen Versuch[] einer detailrealistischen lebensweltlich-biographischen Konkretisierung mehr oder weniger persönlich gehaltener historisch-biographischer Anspielungen» (P eters 1988a, S. 121) zu sehen, gäbe es nicht auch solche quasi-detailrealistischen Anspielungen, die nachprüfbar sind und sich auch als wahr erweisen. Ich denke hier nicht nur an den kontextualisierenden Einschub und die biographischen Angaben zu Jutta von Sangerhausen in LD II.18 (Rev. Bd. II.2, S. 496), sondern vor allem an die Identifizierung des in FL VI.2 zunächst anonymen, dann Dietrich genannten Kanonikers (vgl. FL VI.3) als Dekan in Magdeburg in der Überschrift von LD III.1 (Rev. Bd. II.2, S. 519). Zu Jutta s. N emes (2009a), zu Dietrich s. S. 139, Anm. 174. 517 S. dazu R ener (1994), S. 242-245 und (1995). 518 Für Literaturhinweise s. Anm. 514 weiter oben. 519 Dass Eckhart Prior von Erfurt und Vikar von Thüringen war, wissen wir allein aus der Überschrift zu den ›Rede der underscheidunge‹: Daz sint die rede, die der vicarius von <?page no="232"?> Von den deutschen Werken Eckharts, die zu seiner Erfurter Zeit, das heißt in den Jahren vor bzw. nach dem Pariser Magisterium 1302/ 03, entstanden sein können, wäre hier auf die Predigten ›Laetare sterilis, quae non paris‹ (DW Pr. 99), ›Omne datum optimum‹ (DW Pr. 4), eine in der Salzburger Handschrift M I 476 nur in Exzerpten erhaltene Predigt, den Zyklus ›Von der êwigen geburt‹ (DW Pr. 101-104) und vielleicht auch auf ›Sedebat Jesus docens in templo‹ (DW Pr. 90) sowie ›Quasi stella matutina‹ (DW Pr. 9) hinzuweisen. 520 Auch mit der Arbeit am ›Opus tripartitum‹ wird Eckhart schon kurz nach seiner Rückkehr aus Paris in Erfurt begonnen haben. Dies hat L oris S turlese aus dem Cod. Amplon. F 181 erschlossen, einer Handschrift, die noch zu Lebzeiten Eckharts im Erfurter Dominikanerkloster entstanden ist. 521 Als das wohl prominenteste Zeugnis für Eckharts literarische Predigttätigkeit in Erfurt und als exklusives Dokument der intellektuellen Potenz des Dominikanerkonvents um 1300 gilt der ›Paradisus anime intelligentis‹, eine Sammlung von 64 Predigten, die zur Hälfte Eckhart gehören. Die andere Hälfte verteilt sich auf elf Prediger. Bis auf zwei - womöglich auch nur einen 522 - handelt es sich um Dominikanerlektoren, größtenteils aus Thüringen. K urt R uh datiert die ursprüngliche Sammlung - das Überlieferte stellt die kürzende Auswahl eines ursprünglich wohl umfangreicheren Corpus von ›Paradisus‹-Predigten dar - in das erste Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts und lokalisiert sie im Erfurter Dominikanerkloster. Dem unbekannten Redaktor gehe es, so R uh , darum, «die illustre Schar bedeutender Männer des Ordens, die in der Glanzzeit des Hauses in Erfurt tätig waren oder mit Erfurt in näherer Beziehung standen, in einem Erinnerungsbuch zu bewahren.» 523 R uh s Hausbuch-These wird auf den zweiten, den Text kürzenden Redaktor, der im vierten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts aller Wahrscheinlichkeit nach in Erfurt tätig war, wohl zutreffen. 524 Ob sie auch für den Erstredaktor, den so genannten ›Paradisus‹-Kompilator, gleichermaßen gilt, ist umstritten. 525 Auch ist 222 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ türingen, der prior von erfurt, br v der eckhart predigerordens mit solchen kindern hâte, diu in dirre rede vrâgeten vil dinges, dô sie sâzen in collationibus mit einander, s. Q uint (1963), S. 185,1-6, dazu S enner (2005), S. 109-113. 520 Vgl. S teer (2002) S. 249 und (2005b), S. 41-46 und 50 sowie L öser (2005b), S. 62f. und 70f. 521 Vgl. S turlese (1995). 522 Außer dominikanischen Autoren werden ein anonymer Barfüßer und ein Meister Hane der Karmelit genannt. Es gibt Indizien, dass letzterer ein böhmischer Dominikaner gewesen sein könnte, s. L öser (2005b), S. 73f. 523 R uh (1989b), Sp. 300. 524 So S teer (2005b), S. 52f. 525 Neben Erfurt steht Köln als Ort der Entstehung und Verbreitung der Sammlung zur Diskussion, vgl. S teer (1987b), S. 332 und (2002), S. 259f. sowie S turlese (1989). Gegen Köln als Ausgangspunkt der Überlieferung sprechen jedoch die Sprachuntersuchungen von P almer (2009), S. 107, die er an den beiden Haupthandschriften der ›Paradisus‹-Sammlung durchgeführt hat. Sie haben «keine dialektalen Besonderheiten zu Tage gebracht, die als ripuarische Interferenzen […] gedeutet werden könnten.» Vgl. auch B eck (2008), S. 111-116. <?page no="233"?> offen, wieviele der hier versammelten Predigten in Erfurt gehalten wurden. Anders als R uh , der der Ansicht war, es handle sich um eine Sammlung mit lauter Predigten aus der Zeit von Eckharts Provinzialat (1303-1311), 526 wird in der jüngsten Forschung davon ausgegangen, die Predigtsammlung als Ganze würde Eckharts literarische Tätigkeit in Erfurt nicht wiederspiegeln: «einige Predigten dürften jedoch in ihr bewahrt sein, die er tatsächlich in Erfurt gehalten hat.» 527 Das wird man wohl auch für die Predigten der sonstigen hier versammelten Dominikaner annehmen dürfen, allen voran für die des Florentius von Utrecht, Giselher von Slatheim und Helwic von Germar. 528 Vielleicht wird man auch brudir Th/ Tho von Apolde der prediger, der mit einer Predigt vertreten ist, in Erfurt suchen müssen. F reimut L öser weist darauf hin, dass die Auflösung der handschriftlichen Kürzel Th/ Tho zu Thomas erst durch die modernen Herausgeber der ›Paradisus‹-Sammlung erfolgte. 529 Denkbar wäre auch die Auflösung mit Theodorich, die an eine Identität des genannten Bruders mit Dietrich von Apolda denken ließe. Mögliche Zusammenhänge mit Person und Werk von Dietrich wurden bisher nicht untersucht. Die Bezeugung der ›Lux divinitatis‹ in Erfurt durch die Dominikus-Vita des Dietrich von Apolda erfolgt also zu einer Zeit, als das Dominikanerkloster eine literarisch besonders produktive Phase erlebt, die von Zweisprachigkeit und einer breiten Streuung von Gattungen geprägt ist: Geistliche Unterweisung mittels Traktat und Predigt wird auf Deutsch, hagiographisches und universitätstheologisches Schrifttum auf Latein festgehalten. Der in dem Jahrzehnt vor und nach 1300 literarisch hochproduktive Erfurter Konvent scheint demnach besonders günstige Bedingungen zu liefern, die Entstehung der ›Lux divinitatis‹ hier zu verorten, und dies vor allem auch deshalb, weil es Kontakte zwischen Erfurt und Helfta, dem vermeintlichen Ort der Endredaktion des ›Fließenden Lichts‹, nachweislich gab. So findet man Dietrich von Apolda und Hermann von Loveia in dem aus Mitgliedern des Dominikaner- und Franziskanerordens bestehenden Theologenkreis, der den ›Legatus divinae pietatis‹ Gertruds von Helfta approbiert haben soll. 530 Hermann wird als lector ordinis fratrum praedicatorum in Lipzk [Leipzig] vorgestellt. 531 Er ist einer der Autoren der ›Paradisus‹-Sammlung und wohl auch ein Erfurter «Gastprediger», 532 in- Varianz in Textbestand und Textfolge 223 526 Vgl. R uh (1989a), S. 63. 527 S teer (2005b), S. 54. Ähnlich L öser (2005b), S. 66f. 528 Vgl. R uh (1996), S. 393f., 400f. und 403f. 529 Vgl. L öser (1995), Sp. 809. 530 Vgl. Leg. (SC Bd. 139), S. 104,15f. und 106,22f. Das Approbationsschreiben ist nicht in allen Handschriften der lateinischen Überlieferung des ›Legatus‹ enthalten. In den Handschriften der oberdeutschen Auswahlübertragung(en) dagegen bildet es einen festen Bestandteil des Textes, s. W ieland (1973), S. 61f., 73 und 74f. «Gelinde Zweifel» an der Echtheit der überlieferten Form der Approbation äußert R uh (1993), S. 318. 531 Zu Hermann s. S eppänen (1981) und R uh (1996), S. 398f. 532 R uh (1996), S. 274. <?page no="234"?> sofern man zumindest die zweite, auf die Predigten Eckharts und seiner thüringischen Mitbrüder konzentrierende Redaktion des ›Paradisus‹ als literarisches Denkmal von Erfurt als herausragende Stätte dominikanischer Predigt versteht. Direkt nach Erfurt und zum dortigen Dominikanerkloster führt der Hinweis des Approbationsschreibens: Frater quoque Theodoricus dictus de Apoldia saepius cum ea [Getrud] 533 colloquium habens sermones et sensum illius per omnia approbavit. Dieser Vermerk lässt auf einen persönlichen Umgang zwischen Dietrich und Gertrud schließen und auf Kontakte, die zwischen Helfta und dem Erfurter Dominikanerkloster im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts bestanden haben. 534 In diesem Zusammenhang kann ein Exemplar des zunächst sechs Bücher umfassenden ›Fließenden Lichts‹ nach Erfurt gelangt, dort übersetzt und von Dietrich für seine Dominikus-Vita exzerpiert worden sein. 535 In der Tat muss Dietrich neben dem lateinischen Text eine Handschrift des ›Fließenden Lichts‹ benutzt haben. Darauf lässt der einzige Querverweis in Rb (triplex alludens gaudium Canticum virginum in 2 libro c. 25 puerorum [recte predicatorum] hic Cantus trinitatis in 5 libro 26 c) schließen, der dem deutschen Text gilt und alt sein muss, denn er scheint die Folge der von Dietrich exzerpierten Textteile bestimmt zu haben (s. dazu ausführlich S. 264f. weiter unten). Kontakte literarischer Art nach Erfurt sind auch noch für das 14. Jahrhundert belegt. Allerdings verlaufen sie nicht mehr über die dominikanische, sondern womöglich über die benediktinische Schiene, was mit dem Wandel des geistlichen Status der Helftaer Nonnen im 14. Jahrhundert zusammenhängen könnte. Galt Helfta im 13. Jahrhundert als ein de iure nicht inkorporiertes Zisterzienerinnenkloster, so werden die (Neu-)Helftaer Nonnen - nach seiner Zerstörung durch Albrecht von Braunschweig im Jahre 1342 wurde das Kloster 1346 vor den Mauern Eislebens neu errichtet - vom 14. Jahrhundert an (zumeist durch Vertreter des geistlichen Standes und der kirchlichen Obrigkeit) als Benediktinerinnen bezeichnet. 536 Deshalb verwundert es nicht, auf die Prä- 224 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 533 Irrtümlich bezieht B raun (1912), S. 123 diese Stelle auf Mechthild von Magdeburg. 534 Und man fragt sich, ob sich das Approbationsschreiben nicht dazu eignet, Einblick in das Netzwerk von Beziehungen zu gewähren, die Helfta zu Dominikaner- und Franziskanerkonventen der näheren und weiteren Umgebung (Erfurt OP, Halle, Hildesheim, Halberstadt OFM, Leipzig OP) geknüpft hat. 535 Ob bei Dietrichs ausschließlichem Interesse für Kapitel der ›Lux divinitatis‹ über Dominikus und den Dominikanerorden der Beschluss mehrerer Generalkapitel des 13. Jahrhunderts eine Rolle gespielt hat, wonach jedes Wunder, jede Vision und jede erbauliche Geschichte, die sich im Orden oder wegen des Ordens ereignete, dem Ordensmagister mitzuteilen sei, damit sie in schriftlicher Form zum Nutzen der folgenden Generationen festgehalten werden kann, bleibt offen. Auszuschließen ist dies keineswegs, zumal wenn man berücksichtigt, dass Dietrich die Dominikus-Vita im offiziellen Auftrag des Ordens verfasst hat. Zum genannten Generalkapitelbeschluss s. S chreiner (1992), S. 68. 536 Vgl. R üttgardt (1998), S. 200. Belege bei A nkermann (1997), S. 33, Anm. 75. Tatsächlich wurden die Neuhelftaer Nonnen 1468 von den Benediktinerinnen aus Marienberg bei Boppard reformiert. Bis zu seiner Auflösung im Jahre 1525 präsentierte sich Neuhelfta <?page no="235"?> senz des Helftaer Schriftums im Besitz des Benediktinerklosters St. Peter und Paul in Erfurt zu stößen. 537 Ich meine hier nicht jenes Exemplar des ›Legatus‹ Gertruds von Helfta, das sich in einer Abschrift vom Ende des 15. Jahrhunderts im Besitz der Erfurter Benediktiner befand (Weimar, HAAB, Q 49, fol. 163 r - 208 v ), 538 sondern die indirekte Bezeugung einer Handschrift des ›Liber specialis gratiae‹ Mechthilds von Hackeborn in einem bislang wenig beachteten Eislebener Textzeugen (s. dazu weiter unten). Aufschlussreich in unserem Zusammenhang könnte auch der Kodex Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 1003 Helmst., der als einziger Textzeuge alle sieben Bücher des ›Liber specialis gratiae‹ Mechthilds von Hackeborn überliefert und der nachweislich in Erfurt entstand. Bemerkenswert ist, dass diese Abschrift anhand eines Exemplars durchkorrigiert wurde, die aus Helfta stammt. Darüber informiert ein Vermerk auf fol. 1 r : Incipit liber specialis gratiae de sanctimoniali quadam Mechthildis nomine que vixit circa annum Dominum m m cc m lxxx m in claustro dicto Helpede quod monasterium est translatum ad civitatem Ysleben anno Domini m° ccc° lvj° [! ] in die sancti Severi episcopi [22. Oktober] primo intraverunt Et ego Albertus sacerdos eram ibi post quam librum istum conscripsi et domina abbatissa monstravit michi librum quem ibi habuit et perscrutatus sum veram veritatem […] 539 Varianz in Textbestand und Textfolge 225 als «ein Kloster strenger Observanz im Geiste Bursfelds» (O efelein 2004, S. 113). Nichtsdestoweniger scheint das Bewusstsein, einer zisterziensischen Gründung (von St. Jakob aus Halberstadt aus) zu entstammen, bei den Helftaern präsent geblieben zu sein, s. R üttgardt (1998), S. 200 und O efelein (2004), S. 133. 537 Mit dem Erfurter Peterskloster stand Helfta in Gebetsverbrüderung, vgl. die Einträge in den Erfurter Konfraternitätsbriefen von 1314, abgedruckt bei B. F rank (1973), S. 390 und 392. Diese Quelle zur Geschichte Helftas ist O efelein (2004) unbekannt geblieben. 538 Zur Handschrift s. T heele (1920), S. 188 und demnächst den von Matthias Eifler erstellten Katalog der Weimarer Quart-Handschriften (ich danke Herrn Eifler für die Überlassung der Beschreibung von Q 49). Diese von einem Angehörigen des Erfurter Petersklosters um 1490-1494 geschriebene Handschrift ist P ierre D oyère , der die Neuausgabe des ›Legatus‹ besorgte, entgangen, vgl. Leg. (SC, Bd. 139), S. 58-64. Dasselbe gilt für ein illuminiertes Gebetbuch mit Auszügen aus dem ›Legatus‹ sowie einer Miniatur Gertruds (mit Äbtissinstab! ): Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, Inventar.-Nr. 78 B 1a, pag. 903 (um 1444, Miniatur/ Deckfarben auf Pergament, Kölnische Schule, Art Stefan Lochner, Blattmaß: 9,3 7,0 cm), s. http: / / bpkgate.picturemaxx.com/ preview. php? WGSESSID=d0108c64039efa1909a9a52cbfc42d30&UURL=7e8c2c7f702ff97c898 fafaa34317d63&IMGID=00026554. 539 Zitiert nach Z ieger (1974), S. 12, abgedruckt auch in Rev. Bd. II.1, S. VIII. Das genaue Datum mit Tag und Monat (das Jahr stimmt nicht, s. allerdings O efelein 2004, S. 108) für die Umsiedlung nach Eisleben kennt man sonst nur noch aus dem am 10. Januar 1451 geschriebenen Brief der Äbtissin von Helfta, Sophia von Stolberg, an das Mutterhaus St. Jacobi in Halberstadt, in dem über die Geschichte des Klosters berichtet wird, und zwar anhand einer inzwischen verschollenen Klosterchronik (ex nostra cronica), vgl. K rühn (1888), Nr. 145, S. 223-226, hier S. 225, dazu O efelein (2004), S. 96 und 103. Angesichts der wörtlichen Übereinstimmung zwischen der Handschrift aus Wolfenbüttel und dem Brief von Sophia, was die Zeitangabe in die sancti Severi episcopi betrifft, fragt man sich, ob sich die geschichtliche Notiz in der Wolfenbütteler Handschrift der Kenntnis der Helftaer Klosterchronik verdankt. Dass der Schreiber Albertus in Helfta war, sagt er ja selber. <?page no="236"?> Aus dem Kolophon (fol. 204 v ) erfahren wir, dass der Schreiber, Priester Albertus, Vikar der Erfurter Pfarrkirche St. Paul war und die vorliegende Handschrift 1370 vollendete. 540 Er hat demnach seine (schon aus zweiter Hand) stammende Abschrift mit dem Helftaer ‹Original› verglichen. 541 Traut man dem Schriftbild dieser Handschrift - es sind keine «nennenswerten Korrekturen von der Hand des Schreibers» 542 zu sehen -, so scheint er keine gravierenden Unterschiede zwischen den beiden Textzeugen gefunden zu haben. Die Wolfenbütteler Handschrift stellt das einzige vollständig erhaltene Exemplar des ›Liber‹ dar. Außerdem galt diese lange Zeit als eines der ältesten Textzeugen. Neuerdings hat man auf eine andere, um einige Jahre ältere Handschrift (erneut) aufmerksam gemacht. Sie gelangte 1835 nach Eisleben und befand sich 1887 in der Lehrerbibliothek des Königlichen Gymnasiums zu Eisleben, wo sie von H ermann G rössler aufgefunden und beschrieben wurde. 543 Heute ist sie im Besitz der Stiftung Luthergedenkstätten/ Luthers Geburtshaus Eisleben (Signatur: H 546). Textgeschichtlich ist diese Handschrift interessant, weil sie eine fünf Bücher umfassende Version des ›Liber‹ in zum Teil stark komprimierter Form präsentiert. 544 In unserem Zusammenhang ist die Eislebener Handschrift (im Folgenden: Eisl) von Interesse, weil sie wie die neulich aufgefundenen Exzerpthandschriften der ›Lux divinitatis‹ We1, We2, We3, Vä (vgl. S. 107f. oben mit Anmerkungen) aus Erfurt, genauer aus dem dortigen Kartäuserkloster, kommt und - das wurde bislang übersehen - die Kenntnis Mechthilds von Magdeburg bzw. der ›Lux divinitatis‹ erkennen lässt. Wie dem Schreibervermerk zu entnehmen ist, wurde die Handschrift Eisl sub anno domini m° ccc° lxi° in vigilia palmarum (fol. 73 v ) vollendet. Dass die Abschrift des ›Liber‹ 226 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 540 Vgl. Anno Domini m° ccc° lxx° sequenti die post festum sancti Luce ewangeliste Albertus sacerdos vicarius sacti Pauli Erfordensis libros istos conscripsit et finivit. Deo gracias, zitiert nach Z ieger (1974), S. 12, abgedruckt auch in Rev. Bd. II.1, S. VIII-IX. Leider bleibt Albertus eine quellenmäßig ungreifbare Persönlichkeit. In den gedruckten Erfurter Urkundenbüchern, die den infragestehenden Zeitraum abdecken, ließ sich keine Spur von ihm finden, vgl. B eyer (1889/ 1897). 541 Es ist Z ieger (1974), S. 80 wohl zuzustimmen, dass die Formulierung perscrutatus sum veram veritatem in diesem Sinne zu verstehen ist. Dies findet womöglich seine Bestätigung in der Rezeption des Wolfenbütteler Textes in einer Handschrift des 15. Jahrhunderts, die im Folgenden vorgestellt werden soll. 542 Z ieger ebd. 543 Vgl. G rössler (1887), S. 35-38. Auf die Handschrift wurde schon vor ihrer ‹Wiederentdeckung› im Rahmen der Zisterzienserausstellung in Eisleben von 1998 hingewiesen, s. W olf (1973), S. 220f. und R abenau (1985/ 86), S. 91f. Dessen ungeachtet ist die Eislebener Handschrift der Mechthild-Forschung unbekannt geblieben, vgl. die Handschriftenlisten bei Z ieger (1974) und M. S chmidt (1987). Ohne erkennbaren Grund wird die Handschrift bei K rämer (1989), T. 1, S. 343 als Besitz von Helfta ausgewiesen und der hier enthaltene Text Mechthild von Magdeburg zugeschrieben. 544 Vgl. H ubrath (1998), S. 169. Laut H ubrath (2002), S. 283 gehört die Eislebener Handschrift zur Handschriftengruppe B. <?page no="237"?> im Erfurter Kartäuserkoster selbst erstellt wurde, 545 ist eine irrige Annahme, denn zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Kartause in Erfurt. Diese wurde nämlich erst 1372 gegründet. 546 Die Handschrift muss demnach erst zu einem späteren Zeitpunkt in die Bibliothek der Erfurter Kartäuser gelangt sein. Dass sie sich dort befand, kann dem Besitzervermerk Carthus prope Erfford (fol. 34 v oberer Blattrand) entnommen werden. 547 Die Handschrift Eisl wurde in Erfurt mit einem anderen Exemplar des ›Liber‹ verglichen, was ablesbar ist an manchen Randvermerken, die in der Handschrift verstreut vorkommen. 548 Derjenige, der den Vergleich durchgeführt hat, moniert den Exzerptcharakter der Handschrift und weist auf fehlende Kapitel hin, vgl. Hic deficiunt 2 vel 3 capitula satis pulcra et longa (fol. 67 v ) und In isto libro quinto valde abbreuiato multa capitula deficiunt et videtur esse quodammodo excerptum (fol. 68 r ). Diese Anmerkungen lassen darauf schließen, dass die Korrekturvorlage eine vollständigere Handschrift des ›Liber‹ war. Zudem befand sich diese im Besitz des Erfurter Benediktinerklosters, was einer Notiz zu entnehmen ist, die unmittelbar auf das oben zitierte Kolophon folgt und von einer anderen Hand des späten 15. Jahrhunderts stammt. 549 Die Schreibernotiz erweckt den Eindruck, als wäre das Korrekturexemplar der im Jahre 1370 vollendete, mit dem Helftaer ‹Original› verglichene und den ›Liber‹ einzig vollständig überliefernde Wolfenbütteler Kodex Cod. Guelf. 1003 Helmst. (im Folgenden: Wo) gewesen: Item sciendum quod nusquam habetur in hoc libro vbi gloriosum corpus huius gloriose et egregie virginis mechildis requiestat Tamen pro certo percepi requiscere in claustro monialium dicto helfede quod translatum est apud ciuitatem Yssleben que ciuitas est sub dominio comitum de mansueld Et hec ista virgo vixit circa annum domini m. cc. lxxx m Ita reperi in libro vno que intitulatur liber specialis gracie sancte mechtildis et accommodatus nobis fuit iste liber a prioribus ecclesie sancti petri huius ciuitatis et omnino concordauit cum libro isto sed tamen in nomine non [non steht über der Zeile] quod eadem [sic! ] liber habet mechtildis Varianz in Textbestand und Textfolge 227 545 So G rössler (1887), S. 38, H ubrath (1998), S. 169 und O efelein (2004), S. 134. 546 Zur Gründung des Klosters s. K urt (1989), S. 32-48 und O ergel 1906), S. 7-10. 547 Ob die Angabe P[rimu]m (? ) auf fol. 1 r oben rechts als Bibliothekssignatur aufzufassen ist, bleibt offen. Die im Bibliothekskatalog unter den Signaturen J 2 primo und J 5 primo verzeichneten Exemplare des Liber spiritualis gratie können jedenfalls nicht gemeint sein, vgl. L ehmann (1928), S. 431,4f.: Registrum [! ] in librum spiritualis gratie s. Mechildis virginis cum oracionibus devotis eiusdem libri und S. 432,5ff.: Revelaciones b. Mechildis virginis et appellantur Liber spiritualis gracie […] in quinque [! ] libros distinquitur. 548 Neben den textgeschichtlich interessanten Randvermerken, die sich der vergleichenden und korrigierenden Benutzung einer weiteren Handschrift des ›Liber‹ verdanken (s. dazu unten), finden sich in Eisl Glossen (meist Nota-Hinweise) von einer anderen Hand, die den Inhalt der referierten Textstellen kurz zusammenfassen. Eisl ist ein weiteres Zeugnis für die kartäusische ‹Textkritik›, die pflegliche Tradierung des festen Buchstabens, die P aul L ehmann in einem viel beachteten (und, laut C hristoph F asbender , oft missverstandenen) Aufsatz beschrieben hat, vgl. L ehmann (1926/ 1960), dazu F asbender (2000), S. 134f. Weitere Belege für dieses Phänomen (diesmal nicht aus dem kartäusischen Bereich) findet man in Kap. III.4. 549 G rössler (1887), S. 38 meint dagegen, sie wäre von einer «nicht viel spätere[n] Hand» als die Haupthand eingetragen worden. <?page no="238"?> Et hic iste liber in titulo habet mechildis Item in predicto libro patrum benedictinensium habetur vnus specialis liber de extremis et obitu felicis huius sancte virginis mechtildis continens circa xx ti capitula Sed nos non habemus (fol. 73 v ). 550 Die Tatsache, dass Mechthild um 1280 Nonne in Helfta war und dass das Kloster nach Eisleben verlegt wurde, könnte der Schreiber Wo entnommen haben (s. Textabdruck S. 225 oben). Für Wo als Korrekturvorlage scheint auch die Beobachtung zu sprechen, dass der auf der gleichen Seite wie die zitierte Notiz stehende Nachtrag aus dem ›Liber‹ (es geht um Kap. V.32) bis auf einige, nicht allzu schwerwiegenden Varianten mit dem Wortlaut der Wolfenbütteler Handschrift identisch ist. 551 Hinzuweisen wäre zudem auf die Notiz des Schreibers, die besagt, das Exemplar der Benediktiner-Patres enthalte ein zusätzliches Buch über das Lebensende und den Tod Mechthilds, welches aus etwa 20 Kapitel bestehe und ‹unserer› Abschrift fehle. Angespielt wird hier auf das siebte Buch des ›Liber‹, 552 das aus 22 Kapiteln besteht und in Wo überliefert ist. Nicht unerwähnt will ich den Hinweis der Korrekturhand auf die divergierenden Schreibweisen des Namens Mechthild (mechildis/ mechtildis) lassen, die die ihm vorliegende Abschrift und das Korrekturexemplar aufwiesen. Es ist wieder Wo, die die abweichende Namensform Mechtildis bietet. Eisl dagegen liest konsequent Mechildis, so etwa im Lobpreis auf fol. 2 r (fehlt Wo) 553 bzw. im Zusatz pro eadem felice Mechilde zur Lektüreanleitung des Prologs Rogamus etiam omnes qui ipsum [librum] lecturi vel audituri sunt aliquam laudem Christo pro eadem foelice persona referent […] (fol. 3 r , vgl. Rev. Bd. II.1, Lib. Prol., S. 3). Auch im Titel des Buches gibt es eine signifikante und vom Notiz-Schreiber monierte Abweichung. So trägt das dem Notiz-Schreiber (fol. 73 v ) von den Erfurter Benediktinern geliehene Exemplar die Überschrift liber specialis gracie, während Eisl spiritualis schreibt. 554 Wieder einmal ist es die Handschrift Wo, die die beanstandete Variante aufweist, denn auch sie liest specialis (s. Textabdruck S. 225 oben). 228 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 550 Abbildung bei H ubrath (1998), S. 171. Die Transkription von G rössler (1887), S. 38 ist fehlerhaft. 551 Vgl. dominus jhesus Eisl] Dominus Wo - notatum Eisl] praenotatum Wo - ipsa itaque Eisl] ipsaque ista Wo - illud Eisl] istud Wo - omnem agnoscerem Eisl] agnoscerem omnem Wo - In infusione Eisl] Infusione Wo, vgl. Rev. Bd. II.1, S. 371-372 (Lib V.32) und die Abbildung von Eisl bei H ubrath (1998), S. 171. Die Abweichungen können vom Schreiber von Eisl herrühren. Sie können aber auch zu Lasten der Solesmenser Mönche gehen, denn nicht nur ihr Umgang mit den Handschriften der ›Lux divinitatis‹ zeugt davon, dass sie sich nicht an den Wortlaut ihrer Leithandschrift gehalten haben (s. dazu S enne 2002, S. 22f.), sondern auch beim ›Liber‹ haben sie nach Belieben konjiziert und emendiert, ohne dies im Einzelnen kenntlich zu machen, s. H ubrath (1999), S. 234, Anm. 5. 552 Das erste Kapitel trägt die Überschrift De extremis felicis sororis Mechtildis, gloriosae virginis sanctimonialis in Helfede (Rev. Bd. II.1, Lib. VII.1, S. 391). 553 O maiestas infinita o dulcedo inexhausta o bonitas etc. deus meus laudo et glorifico te jhesu bone sponse virginum elegantissime pro omnibus bonis quae ab initio mundi fecisti electis et preelectis tuis quibus tua spiritualia reuelare dignatus es sacrosancta misteria specialiter pro illa electa et preelecta columba sponsa filia et amica tua fidelissima mechilde quod eam a primeua etate sua traxisti ad te tanta gracia dulcedinis tue cui non poterat resistere. 554 Vgl. den auf dem Aufkleber der vorderen Außenseite der Handschrift in Minuskelschrift eingetragenen und teilweise erhaltenen Buchtitel Liber spiritualis gracie … Mechildis, eine Titelangabe, die auch in der Handschrift benutzt wird (so auf fol. 1 r oben, 2 r und 3 r ). <?page no="239"?> Es gibt offenbar eine Reihe von Indizien, die dafür sprechen, dass die Handschrift, die den Erfurter Kartäusern von den Benediktinern von St. Peter und Paul zur Korrektur ausgeliehen wurde, mit der heute in Wolfenbüttel aufbewahrten Handschrift der Offenbarungen Mechthilds von Hackeborn identisch ist. Bedauerlicherweise lässt sich die Herkunft von Wo aus der Bibliothek des Benediktinerklosters durch entsprechende Provenienzvermerke in der Handschrift selbst nicht stützen, 555 denn diejenigen Teile des Kodex (Einband, Vorsatzblätter), die die entsprechenden Einträge hätten aufweisen können, sind heute nicht mehr vorhanden. 556 Der Grund dafür ist die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erfolgte Neubindung der Handschrift, die notwendig geworden zu sein scheint, nachdem die Handschrift offenbar jahrzehntelang ohne schützenden Einband herumlag. 557 Die Entfernung des Einbands dürfte das Werk von Matthias Flacius Illyricus gewesen sein (er verfuhr auf diese Weise mit vielen Büchern seiner Bibliothek, die sich auf diese Weise leichter transportieren ließen und keine verräterischen Spuren der Vorbesitzer mehr trugen). Flacius, von dem im weiteren Verlauf der Arbeit noch die Rede sein wird (vgl. S. 338f. weiter unten), muss den Band 1557 bereits besessen haben, denn im Handschriftenverzeichnis, das Marcus Wagner, Flacius Mitarbeiter, in diesem Jahr in Regensburg für die Erstellung der ›Magdeburger Centurien‹ anfertigte (Wien, ÖNB, Cod. 5580, fol. 28 r -33 v ), wird unser Codex auf fol. 28 v genannt. 558 Zu diesem Anlass dürfte einer der Zenturiatorensekretäre auch den Besitzvermerk fol. 1 r Matthias Flacius Illyricus eingetragen haben. Dieser ist nicht eigenhändig, sondern diente den Zenturiatoren als Nachweis, dass der Band von Flacius persönlich beigesteuert worden war und nach der Bearbeitung entsprechend an diesen zurückgegeben werden musste. Zusammenfassend ist festzuhalten: Zwar ist unbekannt, wann und wo Flacius die Handschrift erwarb, doch ist angesichts der oben genannten Übereinstimmungen zwischen dem Wolfenbütteler Kodex und dem Exemplar des ›Liber‹, das von den Erfurter Benediktinern an die Kartäuser von Salvatorberg zur Korrektur von Eisl ausgeliehen wurde, nicht auszuschließen, dass es sich bei Wo möglicherweise um den Besitz des Erfurter Petersklosters handelt. Wichtig ist mir an dieser Stelle nicht die überaus interessante Tatsache, dass die Kartäuser in Erfurt die in Eisl enthaltene Version des ›Liber‹ mit dem ‹originalnahen› Exemplar des dortigen Benediktinerklosters verglichen haben konnten, 559 sondern die daraus hervorgehende Mitteilung, die von den guten literarhistorischen Kenntnissen Varianz in Textbestand und Textfolge 229 555 Die Handschrift ist weder bei T heele (1920) noch in den ‹Nachträgen› von L ehmann (1925, 1926) verzeichnet. Zur Bibliothek des Erfurter Benediktinerklosters s. demnächst die Jenaer Dissertation von Matthias Eifler. 556 Bei den folgenden Ausführungen zur Provenienz von Wo rekurriere ich (z.T. wörtlich) auf eine schriftliche Mitteilung von Herrn Bertram Lesser (Wolfenbüttel). 557 Dies bestätigt der Helmstedter Handschriftenkatalog von 1644 (Wo war mit den übrigen Codices Flaciani 1597 von Herzog Heinrich Julius gekauft und 1618 in die Universitätsbibliothek Helmstedt überführt worden), worin es heißt (Cod. Guelf. 27.2 Aug. 2°, fol. 15 r , Gruppe Theologici in quarto): Vita S. Mechtildis, In Membrana. Ohne Band. Dem Katalogeintrag korrespondiert die Helmstedter Signatur auf fol. 1 r : T. 4 to 31. 558 Vgl. H eimpel (1982), Bd. 2, S. 984 und H artmann (2001), S. 64 und 89. 559 Zu den engen Beziehungen zwischen den beiden Klöstern s. B. F rank (1973), S. 118- 119, M ärker (2008), S. 540-544 und demnächst die Dissertation von Matthias Eifler (s. Anm. 555 oben). <?page no="240"?> ihres Urhebers zeugt, versteht er doch zwischen verschiedenen Personen gleichen Namens aus dem Kloster Helfta zu unterscheiden: De hac sanctissima virgine et sorore eius abbatissa gertrude multa habentur in memoriali habundancie suauitatis divine sanctissime virginis trute videlicet in libro quinto eiusdem perlongum que in eodem monasterio fuit Ibidem eciam fuit mechtildis altera ab hac eciam virgine sanctissima sicut habetur videlicet in prologo reuelacionum eiusdem virginis (fol. 68 r ). Die beiden letzten Sätze lassen erkennen, dass dem Verfasser dieser literarhistorischen Bemerkung zwei Personen mit dem Namen Mechthild bekannt waren. Auch weiß er darum, dass beide revelationes hinterlassen haben. Mit mechtildis altera ist mit Sicherheit Mechthild von Magdeburg gemeint. Besondere Beachtung verdient die Schreibweise mechtildis gegenüber der in Eisl üblichen mechildis für Mechthild von Hackeborn. Auf eine solch präzise Unterscheidung der beiden Mechthilden treffen wir auch in dem in den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts vermutlich von Jakob Volradi angelegten Bibliothekskatalog. Verzeichnet werden in der für Offenbarungs- und Visionsliteratur reservierten Signaturengruppe J 560 eine vollständige Handschrift des ›Fließenden Lichts‹ (J 5 secundo ) und ein 27 Kapitel umfassendes Exzerpt der ›Lux divinitatis‹ (J 6). 561 Darüber hinaus - und das wurde bislang weitgehend übersehen - wird unter J 2 primo auf ein anderes Exemplar der ›Lux divinitatis‹ hingewiesen. 562 Im Zusammenhang der Handschrift J 6 wird vor Verwechslungen mit der gleichnamigen Visionärin Mechthild (von Hackeborn) gewarnt: et nota, quod diverse fuerunt persone Mechildis et Mechtildis, ut claret ex principiis et finibus librorum ambarum virginum, ubi invenitur diversitas vite earum et conscriptorum, sunt autem hee revelaciones hic abbreviate. 563 Der literarhistorisch versierte Volradi wusste demnach sehr wohl zwischen den beiden Mechthilden zu unterscheiden, 564 was sich auch in der von ihm verwendeten Schreibweise der beiden Namen wiederspiegelt. Verzeichnet er in seinem Katalog den ›Liber specialis gratiae‹, so schreibt er ihn konsequent sanctae bzw. beatae Mechildis zu, 565 230 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 560 Zu dieser Signaturengruppe s. M angei (2002), S. 312f. 561 Vgl. L ehmann (1928), S. 432,16-23 und 25-30. Der deutsche Text wird Lux divinitatis genannt und als revelaciones antique cuiusdam begine in vulgari sermone, que sancta fuit vorgestellt. Der lateinische Text wird unter dem Titel Revelaciones b. Mechtildis katalogisiert. Zur Unterscheidung der beiden Bücher wird auch deren werkinterne Titelangabe zitiert. Zum ›Fließenden Licht‹ heißt es: et dicitur liber Lux divinitatis influens in corda, que vivunt sine dolo falsitatis (vgl. FL Prooemium II, 10-11), der lateinische liber der Offenbarungen Mechthilds wird Lux divinitatis fluens semper in corda veritatis genannt, vgl. LD Prol. 7,9 (Rev. Bd. II.2, S. 445,7f.). 562 Vgl. L ehmann (1928), S. 431,5f.: Registrum in librum eiusdem [s. Mechildis (! ) virginis], qui dicitur Lux divinitatis. S. dazu die Ausführungen von weiter unten. 563 L ehmann (1928), S. 432,25-28. 564 Zur theologischen Bildung des Jakob Volradi und zum spirituellen Programm des von ihm in Zusammenarbeit mit einem unbekannten Mitbruder erstellten Bibliothekskatalogs s. K leineidam (1962), W assermann (1994), H onemann (2008a) und M ärker (2008). 565 Vgl. L ehmann (1928), S. 431,4f. und 432,5f. Auch im Falle von J 4 (L ehmann 1928, S. 431,35) wird es sich wohl um Textzeugen des ›Liber‹ handeln. <?page no="241"?> die Namensform Mechtildis bleibt dagegen für die heute als Mechthild von Magdeburg bekannte Visionärin reserviert. 566 Es gibt nur einen einzigen Fall, der diese von Volradi beanspruchte Deutlichkeit an Zuweisung vermissen lässt. Das unter J 2 primo geführte Collectarium ex libris devotarum feminarum überliefert unter anderem (varia et multa ex libris sanctarum Brigitte, Mechildis, cuiusdam s. Margarete, Katharine de Senis et Hildegardis) ein Registrum in librum spiritualis gratie s. Mechildis virginis cum oracionibus devotis eiusdem libri. Während hier Buchtitel und Namensform eindeutig auf Mechthild von Hackeborn schließen lassen, steht man der unmittelbar darauf folgenden Inhaltsangabe irritiert gegenüber: Registrum in librum eiusdem [! ], qui dicitur Lux divinitatis. 567 Werden hier die beiden Mechthilden bereits verwechselt? 568 Mehr Deutlichkeit wünscht man sich auch, was die Beschaffenheit des hier genannten liber betrifft. Man wird mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen dürfen, dass Lux divinitatis die lateinische Übersetzung des ›Fließenden Lichts‹ meint, denn es gibt nichts, was darauf hindeutet, dass die im Collectorium versammelten Texte nicht lateinisch waren. 569 Anders als beim ›Liber‹, wo immerhin auch einige Gebete exzerpiert wurden, 570 beschränkt sich der Auszug aus der ›Lux divinitatis‹ auf das Register. Wie verwunderlich eine solche Exzerpierweise auch sein mag, von Bedeutung ist diese bislang weitgehend übersehene Angabe insofern, als sie bezeugt, dass außer einem 27 Kapitel umfassenden Exzerpt (Signatur J 6) auch ein vollständiges und offenbar nicht katalogisiertes Exemplar der ›Lux divinitatis‹ in der Kartause Erfurt vorhanden war, vorausgesetzt, die Exzerpthandschrift mit der Signatur J 2 primo ist in der Kartause selbst geschrieben worden. Dafür könnte eine Stelle bei Johannes Hagen, einem der führenden Theologen der Erfurter Kartause im 15. Jahrhundert, sprechen, auf die J oseph K lapper hinweist. 571 In seinem Schriftenverzeichnis vom Jahre 1465 vermerkt Johannes Hagen, er habe sich aus den Schriften der heiligen Frauen Hildegard (von Bingen), Elisabeth (von Schönau), Birgitte (von Schweden), Dorothea (von Montau), Katharina von Siena und S. Mechthildis abbatisse einiges, freilich nicht viel, abgeschrieben, sie aber größtenteils vollständig, Einzelnes wiederholt gelesen: Et de quibusdam aliis revelacionibus factis feminis extraxi quedam, non tamen multa, licet pro maiori parte integra legi et quedam sepius. 572 K lapper will die von Johannes Hagen genannte Äbtissin Mechthild Varianz in Textbestand und Textfolge 231 566 Mechtildis ist die in den Handschriften der deutschen und lateinischen Überlieferung des ›Fließenden Lichts‹ übliche Schreibweise für Mechthild, vgl. Kap. III.2. 567 L ehmann (1928), S. 431,5f. 568 P oor (2004), S. 178 schreibt, es könnte «one or both Mechthilds» gemeint sein. 569 Bei sämtlichen Inhaltsangaben fehlt die zur Bezeichnung von volkssprachlichen Texten übliche Formel in vulgari (vgl. etwa L ehmann 1928, S. 320,14) bzw. in vulgari sermone (vgl. etwa L ehmann 1928, S. 312,4, 325,36f. und 432,16f.). Die deutschsprachigen Texte aus dem Erfurter Katalog findet man nachgewiesen bei B auer (1996), S. 36, Anm. 35. 570 Ähnlich wurde auch bei anderen Texten in dieser Handschrift vorgegangen, vgl. Exerptum de libro b. Trute, scilicet oraciones devote et bone doctrine cum registro libri eiusdem. Exerptum de libro b. Katharine de Senis cum registro, vgl. L ehmann (1928), S. 431,6-8. 571 K lapper (1960/ 1961). Zu Johannes Hagen s. jetzt E ifler (2009). 572 Zitiert nach K lapper (1961), S. 126. Von einer Handschrift, die Excerpta Indaginis ex diversis libris et auctoribus enthielt, berichtet der Bibliothekskatalog (s. L ehmann 1928, S. 428,37ff.). Dieser Band weist bemerkenswerterweise jene mittelalterliche Signatur H 142 auf, die auf dem Signaturzettel der Trägerhandschrift des Mechthild-Exzerptes <?page no="242"?> mit Mechthild von Magdeburg identifizieren und beruft sich dabei auf die an Mystica reichen Handschriften der Erfurter Kartause, so auch auf J 2 primo . 573 Ob diese Zuweisung zutrifft, ob also Johannes Hagen zwischen Visionärinnen mit dem Namen Mechthild unterscheiden konnte, muss freilich dahingestellt bleiben (wahrscheinlich ist es nicht, vgl. S. 394f. weiter unten, Nr. VIII). Entscheidend ist sein Zeugnis, welches belegt, dass ein exzerpierender Umgang mit den Schriften von und über heiligmäßige(n) Frauen in der Kartause in Erfurt üblich war. Daher kann J 2 primo sehr wohl in Erfurt entstanden und das hier enthaltene Exzerpt der ›Lux divinitatis‹ einem in Erfurt vorhandenen vollständigen Exemplar der lateinischen Übersetzung des ›Fließenden Lichts‹ entnommen worden sein. Für das Vorhandensein eines solchen Exemplars sprechen im Übrigen auch die bislang bekannt gewordenene Exzerpthandschriften der ›Lux divinitatis‹ We2, We3, Vä und eine Marginalie in Weimar, HAAB, Oct 64, fol. 77 v (s. dazu S. 107f. oben mit Anmerkungen). Das sich im Bibliothekskatalog dokumentierende Wissen um die Identität zweier gleichnamiger Visionärinnen wird man auch den Urhebern der literarhistorischen Bemerkung sowie der Schreibernotiz in Eisl unterstellen dürfen, nicht umsonst wird in der letzteren darauf hingewiesen, das Korrekturexemplar (Wo) würde in allem (omnino) mit dem vorliegenden Buch (cum libro isto) übereinstimmen, ausgenommen den Namen: sed tamen in nomine non quod eadem [sic! ] liber habet mechtildis. Der Verfasser dieser Notiz ist zu Recht verwirrt, denn Wo verwendet zur Bezeichnung der Verfasserin des ›Liber‹ die in Erfurt für Mechthild von Magdeburg reservierte Schreibweise Mechtildis. Die Nachtragshände in Eisl haben offenbar Volradis Warnung vor der Verwechslung der beiden visionären Frauen namens Mechthild gekannt und beherzigt, was auch nicht weiter verwundert, denn bei einer dieser Hände - von ihr stammt der oben zitierte Vermerk über die beiden Mechthilden - handelt es sich um einen jener Schreiber, die den Katalog im Laufe des späten 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts verschiedentlich ergänzt haben. 574 Ein einheitlicher Umgang mit den Schreibweisen mechildis für Mechthild von Hackeborn und mechtildis für Mechthild von Magdeburg konnte sich in Erfurt allerdings nicht durchsetzen. Davon zeugt nicht nur J 2 primo (s.o.), sondern auch das mit Sicherheit in der Erfurter Kartause entstandene Exzerpt Vä, das sich, wie gesagt, einer vergleichenden Benutzung des lateinischen und deutschen Textes verdankt. 575 232 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ aus Växjö (Vä) - auch diese enthält ein Werk des Johannes Hagen, und zwar den Traktat ›De gradibus humilitatis‹ (s. L ehmann 1928, S. 419,14-18) - durchgestrichen und mit H 103 ersetzt wurde, s. dazu N emes (2008b), S. 356. 573 Vgl. K lapper (1960), T. 1, S. 78f. und (1961), T. 2, S. 177. Die im eigenen Kloster aufbewahrten Werke der Frauenmystik waren nicht nur Johannes Hagen, sondern auch dem Erfurter Kartäuser Jakob von Paradies wohl vertraut. Besonders hinzuweisen ist auf ›De actionibus humanis et de mystica theologia‹, denn hier werden die visionär begnadeten Frauen und ihre Offenbarungen den Mönchen und professionellen Theologen als Vorbild empfohlen, vgl. A uer (1981), S. 33-52 und M ertens (1982), S. 43. 574 Zum Anteil dieses Schreibers am Katalog s. L ehmann (1928), S. 235 («andere Hand»). Auf seine Hand stößt man auch in dem 1480-90 entstandenen ersten Teil der Weimarer Handschrift Q 51 mit einer Reihe von Exzerpten aus der ›Lux divinitatis‹ (Sigle: We3). Erwartungsgemäss werden hier die Exzerpte konsequent sancte mechtildis zugeschrieben (die Identifizierung der Schreiberhand verdanke ich Matthias Eifler, Leipzig). 575 Textabdruck bei N emes (2008b), S. 358. <?page no="243"?> Dem Urheber dieser kontaminierenden Überlieferung scheint die von Volradi vorgenommene Unterscheidung nicht bekannt gewesen zu sein. Denn er bezeichnet seine Quelle zwar als liber dictus lux divinitatis, doch schreibt er sie nicht mechtildis, sondern der beate mechilde zu. Auf dieselbe Inkonsequenz in der Schreibweise (hier sogar innerhalb einer Zeile) stößen wir auch in einer anderen, bislang unbeachteten Handschrift aus der Erfurter Kartause aus dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts: Weimar, HAAB, Oct 64, fol. 77 v (dazu S. 108, Anm. 48). Will man den Informationsgehalt der literarhistorischen Bemerkungen strapazieren, die sich in Eisl sowie im Standortregister des Erfurter Bibliothekskatalogs zu J 6 finden, so könnte man auch aus diesen Quellen (zusätzlich zu der oben besprochenen Angabe in J 2 primo ) auf die Existenz einer vollständigen Handschrift der ›Lux divinitatis‹ in der Kartause schließen. An beiden Stellen wird der Leser auf den Prolog der revelationes verwiesen, sofern er mehr über die Visionärin mechtildis erfahren möchte. Hier noch einmal die entsprechenden Zitate: Ab hac eciam virgine sanctissima sunt multa in prologo reuelacionum eiusdem virginis [mechtildis] (Eisl) bzw. ubi [principiis et finibus librorum ambarum virginum] invenitur diversitas vite earum et conscriptorum (Volradi zu J 6). Dass Volradi mit dem referierten liber unmöglich J 6 selbst meinen kann, geht aus dem unmittelbar folgenden Satz hervor: sunt autem hee revelaciones hic abbreviate. Volradi charakterisiert also den Mechthild-Text in J 6 als Auszug. Tatsächlich verrät er wenig später: et habet 27 capitula et ponitur in principio libri (J 6 ist eine geistliche Sammelhandschrift). Volradi empfiehlt dem Leser, der an bio-bibliographischen Informationen über Mechthild und über ihr Offenbarungsbuch interessiert ist, im Prolog desselben Werkes nachzuschlagen. Dies lässt auf das Vorhandensein bzw. die Kenntnis eines vollständigen Exemplars der ›Lux divinitatis‹ in Erfurter Kartäuserkreisen schließen, vorausgesetzt, prologus (Eisl) bzw. princeps libris (Volradi) meinen nicht den lateinischen Prolog am Anfang des ›Fließenden Lichts‹. Zwar ist noch unerforscht und daher unbekannt, woher die Erfurter Kartäuser ihre Handschriften bezogen, 576 jedoch ist der Dominikanerkonvent vor Ort als eine der möglichen Provenienzen nicht auszuschließen. Obwohl von der Bibliothek dieses Klosters wenig übrig blieb, 577 zeigen die Eckhart-Handschriften der Bibliotheca Amploniana, dass dominikanische Literatur in Erfurt selbst bezogen werden konnte. Varianz in Textbestand und Textfolge 233 576 Hier nur einige Hinweise: Text- und Handschriftenaustausch gab es nachweislich zwischen dem Nürnberger Dominikanerkloster und der Erfurter Kartause, vgl. W ilpert (1964). Ebenso in Nürnberg wurde die heute unvollständige Tauler-Handschrift Berlin, SBB-PK, Ms. germ. fol. 1257 durch Kauf erworben, s. M ayer (1999), S. 205f. und 32-34. Auch aus dem Elsass hat die Kartause Texte bezogen. Ich denke an die neulich von B urk hard H asebrink aufgefundene Eckhart-Predigt 52 in einer Handschrift der Berliner Staatsbibliothek (Ms. theol. lat. oct. 214) mit überwiegend lateinischen Texten, s. H asebrink (2007a) und (2008a). Die Schreibsprache der Predigt verweist ins Elsass. Hinzuweisen wäre auch auf die Handschrift der ›Vierundzwanzig Alten‹ Ottos von Passau aus der Schönbornschen Bibliothek in Pommersfelden (Cod. 2741/ 320), die nachweislich im Elsass entstanden ist und sich Anfang des 16. Jahrhunderts im Besitz der Erfurter Kartause befand (im Bibliothekskatalog nicht verzeichnet), vgl. W. S chmidt (1936), S. 78-81. Für Verbindungen zu anderen Klöstern, die auch durch Handschriftenaustausch dokumentiert sind, s. M ärker (2008), S. 332, 345 und 458f. 577 K rämer (1989), S. 214 verzeichnet lediglich zwei Handschriften als Besitz der Dominikaner in Erfurt. <?page no="244"?> Denn mindestens zwei von den drei Handschriften des ›Opus tripartitum‹ dürften, so L oris S turlese , in Erfurt entstanden und dort von Amplonius Rating de Berka um 1400 erworben worden sein. 578 Ähnliches lässt sich für die ›Lux divinitatis‹ annehmen, da nicht nur die Dominikus-Vita des Dietrich von Apolda, sondern auch der Bibliothekseintrag zu J 6 und die neu aufgefundenen Exzerpthandschriften belegen, dass die ›Lux divinitatis‹ im mittelalterlichen Erfurt vorhanden war. 579 Es muss nicht gegen Erfurt als Entstehungsort der ›Lux divinitatis‹ sprechen, wenn sich beobachten lässt, dass die in der lateinischen Übersetzung gegen den deutschen Text in dogmatisch berichtigender Manier herausgestellte Gnadenabhängigkeit des Menschen, ja der Kreatur überhaupt (s. dazu Kap. II.2.3), geradezu das Kennzeichen auch des ›Liber specialis gratiae‹ ist. Im ›Liber‹ wird ganz in der Tradition der augustinischen Anthropologie die Differenz zwischen Urbild und Abbild betont. Dies hat zur Folge, dass Unio-Darstellungen stark auf die Vermitteltheit des Ereignisses abheben: So wird die Einheit der Seele mit Gott als Angleichung (vgl. Lib. I.1, Rev. Bd. II.1, S. 9), als Gnadenakt (vgl. Lib. II.35, Rev. Bd. II.1, S. 182) oder als Einklang des Willens beschrieben (vgl. Lib. I.24, Rev. Bd. II.1, S. 84f. und Lib. III.27, Rev. Bd. II.1, S. 231). 580 Wie peinlich genau auf die Wahrung des ontologischen Abstandes zwischen Gott und Kreatur geachtet wird, ist auch Lib. V.32 zu entnehmen, einem Kapitel, das von der erschaffenen Seele Christi handelt. Wohl wird hierin der privilegierte Status der Seele Christi hervorgehoben - im Augenblick ihrer Erschaffung gießt sich die Trinität in sie hinein und schenkt ihr all das, was ihr, der Trinität, gehört, d.h. die Appropriationen der einzelnen göttlichen Personen -, doch ist gleich im Anschluss aus dem Mund Christi auch folgender Satz zu vernehmen: ita ut anima mea haberet omnia per gratiam quae Divinitas habet per naturam (Rev. Bd. II.1, S. 371). Interessanterweise ist zu beobachten, dass dieses ontologische Trennungsprinzip auch auf die sprach- 234 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 578 Vgl. S turlese (1995), S. 438f. Hinter dem Eintrag [D] 18 Paradisus anime in vulgari cum quibusdam profundissimis et misticis sermonibus in vulgari. Hic iste libellus, qui intitulatur Paradisus anime, est de virtutibus moralibus et theologicalibus des Erfurter Bibliothekskatalogs steht wahrscheinlich doch keine ›Paradisus‹-Handschrift, wie von L öser (2005b), S. 74 angenommen, sondern eine deutsche Übersetzung von Ps.-Albertus Magnus, ›Paradisus animae‹, s. P almer (2009), S. 76 und B eck (2008), S. 120f. Zum pseudo-albertinischen Traktat s. S öller (1987). 579 Zu der im Bibliothekskatalog unter der Signatur J 5 secundo genannten Vollhandschrift des ›Fließenden Lichts‹ lässt sich Folgendes sagen: Sollte sie das deutsche Vergleichsexemplar für das in Vä exzerpierte Textstück aus der ›Lux divinitatis‹ abgegeben haben, so wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Textzeugen der schon immer vermissten (und kürzlich durch den Moskauer Fund überraschend bestätigten) mittel(nieder)deutschen Überlieferung des ›Fließenden Lichts‹ dargestellt, wohl aber eine ältere Textstufe geboten haben als *EC, die gemeinsame Vorlage der Einsiedler (E) und der Colmarer Handschrift (C). Sie allein überliefern das in Vä herangezogene deutsche Kapitel FL V.5, s. dazu N emes (2008b), S. 361f. 580 Zu den genannten Textstellen s. R uh (1993), S. 308-310. <?page no="245"?> liche Form der Gestaltung auswirkt, dass die Organisation der literarischen Ebene von der Bedeutungsebene her geschieht. Dieses sprachlich gestaltete ontologische Trennungsprinzip manifestiert sich, wie S usanne K öbele zeigt, in einer durch Deutungen gebrochenen Bildlichkeit und einem in den Irrealis überführten Redegestus, der Distanz schafft. Dadurch wird auch sprachlich der Eindruck von Vermitteltheit evoziert, und dies vor allem im Zusammenhang von Unio-Darstellungen. 581 K öbele weist darauf hin, dass sich dieses dualistische Denk- und Darstellungsmodell auch in der ›Lux divinitatis‹ findet, wo es insofern augenfällig ist, als wir einen volkssprachlichen Text mit gegenläufigen Gestaltungsprinzipien als Kontrastfolie haben. 582 Die Nähe der lateinischen Übersetzung des ›Fließenden Lichts‹ zum ›Liber‹ sucht K öbele nicht literatursoziologisch zu erklären, so als stelle das dem ›Liber‹ und der ›Lux divinitatis‹ gemeinsame theologische Denk- und sprachliche Gestaltungsmodell ein Indiz für die gemeinsame Herkunft beider Texte dar. Vielmehr werden die Übereinstimmungen, die diese lateinischen Texte miteinander verbinden und sie von Teilen des ›Fließenden Lichts‹ abgrenzen, von dem je unterschiedlichen historischen Sprachstatus her erklärt. 583 Hinzuweisen wäre hier auch auf U rsula P eters , die den gleichen Weg einschlägt und die Opposition von Latein und Volkssprache als typenbestimmenden Faktor für die literarischen und strukturellen Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede verantwortlich macht, die das lateinische Schrifttum Helftas dem volkssprachlichen ›Fließenden Licht‹ gegenüber auszeichnen. 584 Ohne einer dichotomischen Gegenüberstellung von ‹beweglicher› Volkssprache und ‹fixierter› Sakralsprache das Wort zu reden, sehe auch ich den Grund für die augenfällige Zurückhaltung der Helftaer Schriften und der ›Lux divinitatis‹ gegenüber den Bildern einer spirituellen Sinnlichkeit in dem der Volkssprache gegenüber stärker dogmatisierten Charakter des Lateinischen, der wohl auch für die Konformität dieser Schriften mit der offiziellen kirchlichen Lehrmeinung in puncto Gnadenlehre verantwortlich ist. Reicht beim ›Liber‹ der Hinweis auf die Sprache, um seine besondere Orthodoxie zu erklären, 585 so muss bei der ›Lux divinitatis‹ außer dem sprachlichen Faktor auch die Abwehrhaltung gegenüber dogmatisch bedenklichen Aussagen mit berücksichtigt werden, die den Natur-Begriff betreffen und den ontologischen Abstand zwischen Gott und Mensch zu verwischen drohen (s. dazu Kap. II. 2.3). Die vom deutschen Text postulierte Ursprungs-Relation wird im lateinischen Varianz in Textbestand und Textfolge 235 581 S. dazu K öbele (1993), S. 107-122. 582 Vgl. K öbele ebd., S. 76-96. Allerdings gibt nur ein Teil des ›Fließenden Lichts‹ diese Kontrastfolie ab. Das heißt, das von K öbele herausgearbeitete Gestaltungsprinzip gilt nicht für den ganzen Text, vgl. S. 186, Anm. 359 mit Text. 583 Vgl. K öbele ebd., S. 112 und 121. Vgl. auch ebd., S. 44-51. 584 Vgl. P eters (1988a), S. 65f. 585 Mitkonstitutiv für die besondere «Katholizität» (K urt R uh ) des Helftaer Schrifttums dürfte außerdem seine Funktionsbestimmung gewesen sein: Identitätsstiftung nach innen und Repräsentation nach außen, s. dazu H ubrath (1996), S. 36-48. <?page no="246"?> in eine Ähnlichkeits-Relation zurückgenommen, ganz im Sinne des augustinischen Teilhabe-Paradigmas. Damit liefert die lateinische Übersetzung des ›Fließenden Lichts‹ einen der ersten Belege für jene in späterer Zeit häufiger vorkommende Justierung eines religiösen Diskurses, der seine Vollkommenheitslehre auf Kosten der traditionellen augustinischen Anthropologie entwickelt und mit derselben oft in Konflikt gerät. Hinzuweisen wäre hier nicht nur auf die Kurskorrektur, die das ›Fließende Licht‹ in dem gegen Mitte des 14. Jahrhunderts entstandenen Gedicht ›Der Minne Spiegel‹ erfährt (s. S. 202, Anm. 427 mit Text), oder auf den apologetischen Nachtrag, mit dem Elsbeths Offenbarungen Ende des 14. Jahrhunderts versehen wurden (s. S. 206, Anm. 442 mit Text). Auch und vor allem wäre an die literarischen Reaktionen zu denken, die die auf der Grundlage des Postulats von der wesensmäßigen Ununterschiedenheit Gottes und der Seele vorgetragenen kühnen Einheits-Spekulationen Eckharts ausgelöst haben und in der Rezeption zugunsten des traditionellen Teilhabe- und Ähnlichkeits-Modells zurückgenommen worden sind. 586 Der hier nur angedeutete (volkssprachliche) religiöse Diskurs - ihm wäre das verketzerte Buch der französischen Begine Marguerite Porète, ›Miroir des simples âmes‹ genannt, zuzurechnen - rückt das ›Fließende Licht‹ und die Schriften, genauer die Predigten, Meister Eckharts, zusammen. 587 Es wäre naheliegend, auf diese Beobachtung eine Untersuchung folgen zu lassen, die die Kenntnis des ›Fließenden Lichts‹ seitens Eckhart in der Art und Weise durchdiskutiert, wie es etwa K urt R uh für Marguerite Porète getan hat. 588 Ob eine solche Untersuchung den erhofften Nachweis bringt, ist allerdings fraglich. 589 Doch auch ohne Eckharts Zeugnis scheint mir das im vorliegenden Kapitel Zusammengetragene genügend Indizien zu liefern, um den mit Kloster Helfta 236 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 586 Beispiele bei Z umkeller (1975), K öbele (2004), S. 129-132, (2007a) und (2009), H ase brink (2007a), S. 56 sowie S cheepsma (2008a), S. 31. Zu ähnlichen Tendenzen in der Rezeption anderer mystischer Werke s. O tto (2003), S. 148-161 bzw. 172-173 und B ur ger (2007), S. 105-109. 587 In seinem kurzen Aufriss nennt D avies (1991), S. 45-48 drei gemeinsame Themen, die Mechthild und Eckhart verbinden, unter anderem auch die Wesensverwandtschaft Gottes und des Menschen per naturam. Ergänzend dazu T obin (1994). Unergiebig ist der Aufsatz von W eiss (1995b). 588 Vgl. R uh (1989a), S. 95-108. Zu den Eckhart und Marguerite Porète gemeinsamen theologischen Lehrelementen s. auch die entsprechenden Beiträge in: M c G inn (1994) sowie H ollywood (1995). Zu der Annahme, dass Eckhart schon in Erfurt mit den oben genannten Themen einer in der Volkssprache artikulierten und (deshalb? ) am Rande der Heterodoxie bewegenden Vollkommenheitslehre konfrontiert gewesen sein könnte, s. K oda (1997), S. 251-253 und L öser (2008), S. 44 und 62. 589 Trotzdem wäre ein solcher Vergleich insofern lohnenswert, als Übereinstimmungen helfen könnten, den Traditionsbezug deutlicher aufzuzeigen und mögliche Quellen des ›Fließenden Lichts‹ zu erschließen. Zudem könnten sie dazu beitragen, eine «German vernacular tradition» (T obin 1994, S. 49) zu konturieren, an der beide, sowohl das ›Fließende Licht‹ als auch das deutsche Predigtwerk Eckharts partizipieren. Vgl. in diesem Zusammenhang auch S. 293f. weiter unten. <?page no="247"?> in Verbindung stehenden Erfurter Dominikanerkonvent als Entstehungsort der lateinischen Übersetzung des ›Fließenden Lichts‹ in die Diskussion einzubringen. Auf dieser Grundlage möchte ich abschließend auf zwei mögliche Überlieferungswege hinweisen, durch welche der deutsche und lateinische Text in den deutschen Südwesten gelangt sein könnten. In jüngster Zeit mehren sich die Indizien, dass sich die literarischen Verbindungen zwischen dem ostmitteldeutschen und oberrheinischen Raum im 14. Jahrhundert nicht auf das ›Fließende Licht‹ beschränken. 590 Dass es sie gegeben hat, lange bevor Heinrich von Nördlingen den Text in Süddeutschland bekannt gemacht hat, ist einem der vier (lateinischen) Sendbriefe zu entnehmen, die vom bereits genannten Wichmann von Arnstein an religiös interessierte Frauen gerichtet wurden. Im vierten Brief wendet sich der devotus earum frater Wic[hmanus], prior Rupinensis, ordinis fratrum predicatorum, an domine udel[hildis], comitesse de oti[ngensis], necnon et filiabus suis, sanctimonialibus in zimbern. 591 Gemeint sind die Gräfin Adelheid von Oettingen (Adelheid von Hirschberg, gest. 1274) und ihre (geistlichen? ) Töchter im Zisterzienserinnenkloster Zimmern. 592 Der Brief datiert auf die 50er-60er Jahre des 13. Jahrhunderts. Auch die zweite Verbindung in den deutschen Südwesten - sie führt zeitlich näher an die Überlieferung des ›Fließenden Lichts‹ - wird interessanterweise durch Wichmann geschaffen. Ich meine jene Predigtstelle, wo sich Tauler auf Wichmann bezieht und aus dem zweiten Buch der ›Miracula‹ zitiert (s. S. 212ff. oben). Ein drittes Bindeglied, wieder einmal über Wichmann, konnte R egina D. S chiewer in der Handschrift Cgm 531 der Bayerischen Staatsbibliothek München ausfindig machen. Es handelt sich um die Übersetzung eines kurzen Textstückes aus dem ersten ›Miraculum‹, inseriert in eine der so genannten ›Hochalemannischen Predigten‹, eine Sammlung, die im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts entstanden ist und mit den Dominikanerinnen von St. Katharinental bei Dießenhofen in Verbindung gebracht wird. 593 Einen weiteren, nicht-literarischen Beleg für Verbindungen zwischen dem süd- und ostmitteldeutschen Raum liefert das nur in Bruchstücken erhaltene Protokoll eines Provinzialkapitels der Dominikaner, das ins letzte Viertel des 13. Jahrhunderts datiert wird und wohl in Norddeutschland verfasst wurde. Unter den Gönnern, die der Orden in seine Fürbitten einschließt, werden hier außer den Herren von Barby, Lindow und Arnstein mit ihren Frauen, ducissa Varianz in Textbestand und Textfolge 237 590 Ein Resümmee über den älteren Forschungs- und Erkenntnisstand findet man bei M. S chmidt (1986) und (1993). 591 Zitiert nach B ünger (1926), S. 26,23-27,2. Die Übersetzung des Briefes findet man bei O ehl (1931), S. 208-210. 592 S. dazu zuletzt P almer (2005), S. 255-258. 593 Vgl. R. D. S chiewer (2002). Zu den ›Hochalemannischen Predigten‹ s. H.-J. S chiewer (2000) und (2004). Ergänzend dazu N emes (2009b), S. 176-182. <?page no="248"?> Bavariae et comitissa de Hertisberch, comite de Otingen genannt. Dazu vermerkt E ugenie L echeler : «Diese enge Zusammenstellung der beiden sächsischen und bayerischen Familien [die von Arnstein und von Oettingen] in einem Protokoll, das sonst kaum süddeutsche Namen nennt, ist wohl kaum zufällig. Offensichtlich sind beide Familien, Wichmanns Verwandte und die der Adressaten seiner Briefe zur selben Zeit für den Orden so wichtig gewesen, daß sie beide nebeneinander wegen ihrer Verdienste ins Gebet eingeschlossen werden sollten.» 594 Diese Nachricht erklärt, warum sich Wichmann, selbst Angehöriger und Förderer des Dominikanerordens und bekanntlich derjenige, der die Predigerbrüder 1224 nach Magdeburg geholt hat, brieflich an eine Angehörige der dem Orden wohl gesonnenen Familie derer von Oettingen wendet und sie in geistlicher Lebensführung berät. Es stellt sich die Frage, ob es ähnliche überregionale Kontakte auch zwischen Helfta und Zimmern gab. D agmar G ottschall hält dies für möglich. 595 Zur Begründung weist sie darauf hin, dass Zimmern als Zisterzienserinnenkonvent ein Schwesterkloster zu Helfta war. G ottschall vermutet, die Vermittlung des ›Fließenden Lichts‹ könnte über diesen Konvent gelaufen sein, war er doch in das Netzwerk der Klöster eingebunden, mit denen Heinrich von Nördlingen in Kontakt stand. 596 Auch weist G ottschall darauf hin, dass Zimmern der Zisterze Kaisheim unterstellt war, einem Konvent, in dem das ›Fließende Licht‹, genauer seine lateinische Übersetzung, bekannt war 597 und dessen Abt, Ulrich III. Niblung, in freundschaftlicher Beziehung zu Heinrich stand. Für G ottschall s Vermutung könnte auch das 47. Kapitel des höchstwahrscheinlich in Helfta entstandenen siebten Buches des ›Fließenden Lichts‹ sprechen, insofern man die hier angeprangerte súnde einiger cristanen lúten, die vorgeben, so heilig zu sein, das si sich in die ewigen gotheit wellent ziehen und legen bi der ewigen menscheit únsers herren Jhesu Christi (FL VII.47: 620,11f. [VII.47,8-10]), auf die Häresie im schwäbischen Ries bezieht. 598 Doch ist dieser Bezug nicht eindeutig. Sicher ist nur, dass die Kritik einer Ketzerei gilt, welche die Bedeutung Christi relativiert. 599 238 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 594 L echeler (1996/ 1997), S. 44. Die Grafen von Oettingen und von Hirschberg sind als Gönner der Dominikaner im fränkischen Raum bekannt, s. dazu ebd., S. 44, Anm. 101. 595 Zu den folgenden Ausführungen s. G ottschall (2007), S. 149f. 596 In einem Brief von 1335 an Margareta Ebner berichtet Heinrich von dem über einen Zeitraum von achtzehn Jahren erlebten Minneleiden der Ellin von Crewelsheim, Nonne in Zimmern, vgl. S trauch (1882), S. 196,63-78 (Brief XVI), dazu P almer (2005), S. 245f. 597 In einem Brief von 1346 liest man folgende Bitte Heinrichs an Margareta: send mir auch Lucem divinitatis das buch, sei es euch worden von Keiszheim und habent irs genugt, S trauch (1882), S. 248f.,52-54 (Brief XLIV). P almer (2005), S. 255 nennt gute Gründe, dass die Werkbezeichnung Lux divinitatis wohl nicht den deutschen, sondern den lateinischen Text meint. Ähnlich bereits M uschg (1935), S. 300. 598 In diesem Sinn E rnst (2000), S. 387f. 599 Vgl. N eumann (1993), S. 160, Anm. zu VII.47,18: «Der Schlußsatz des Kapitels richtet sich deutlich gegen die Vorstellung von homines perfecti, als welche sich die Mitglieder ketzerischer Sekten, e t w a der im Nördlinger Ries, verstanden» (Sperrung von mir). <?page no="249"?> Es erscheint mir wenig wahrscheinlich, dass die Vermittlung des ›Fließenden Lichts‹ in den Süden über die Achse Helfta-Zimmern bzw. Kaisheim verlief. Denn es findet sich weder im deutschen noch im lateinischen Überlieferungszweig des ›Fließenden Lichts‹ einen Hinweis, der auf zisterziensische Provenienz hindeuten würde, wohl aber auf dominikanische (dazu weiter unten). Sollte Helfta literarische Kontakte zu Zimmern bzw. Kaisheim gepflegt haben, so wäre zu erwarten, dass auch die hauseigene Revelationsliteratur über diese Kontakte den Weg nach Süden gefunden hat. Das scheint jedoch nicht der Fall zu sein. 600 Am ehesten könnte die Verbreitung der Schriften von bzw. über Wichmann von Arnstein über Zimmern bzw. die Grafen von Oettingen gelaufen sein, dies allerdings nur, wenn der Brief Wichmanns an die Gräfin Adelheid nicht allein der Angehörigen einer wichtigen Gönnerfamilie des Dominikanerordens (s.o.), sondern auch dem Mitglied eines mit den Arnsteinern befreundeten Grafengeschlechts gegolten hat. In diesem Fall wäre zu erwägen, ob die dem Zisterzienser- und Dominikanerorden gleichermaßen nahe stehenden Oettinger Grafen für die Kenntnis der ›Miracula‹ in Dominikanerkreisen des deutschen Südwestens gesorgt haben. Davon findet sich in der Überlieferung allerdings keine Spur. Wohl haben die ›Miracula‹ früh den Weg in den Süden gefunden - die ›Hochalemannischen Predigten‹, in die der Auszug aus dem ersten ›Miraculum‹ aufgenommen wurde, datieren ja ins erste Viertel des 14. Jahrhunderts -, doch deutet nichts darauf hin, dass die Grafen von Oettingen bei deren Vermittlung eine Rolle gespielt hätten. Eher denkt man an ordensinterne Vermittlungswege. Auch das ›Fließende Licht‹ wird wohl auf dominikanischer und nicht auf zisterziensischer Schiene in den oberrheinischen Raum gelangt sein. 601 Das überhaupt erste handschriftliche Zeugnis der alemannischen Übertragung des ›Fließenden Lichts‹ (es wird von S chneider 2009, Bd. 2, S. 150 auf die Zeit kurz nach der Mitte des 14. Jahrhunderts datiert) tritt uns in einem textlichen Umfeld entgegen, das «markedly Dominican in character» 602 ist. Dominikanisch geprägt ist nicht nur der Inhalt des Einsiedler Cod. 277, sondern auch der seiner Schwesterhandschrift, des Cod. Einsiedl. 278. 603 Besonders interessant ist die Parallelüberlieferung jener Texte, die in Cod. 277 auf das ›Fließende Licht‹ folgen. Wie es den von W ebster verwendeten Siglen zu entnehmen Varianz in Textbestand und Textfolge 239 600 Zur Überlieferung des ›Liber‹ s. die punktuellen Hinweise bei Z ieger (1974), S. 79-88 und 292-296. Z ieger fokussiert auf die volkssprachliche (vor allem die niederländische und oberdeutsche) Rezeption des ›Liber‹. Zum ›Legatus‹ bzw. seiner oberdeutschen Rezeption s. Leg. (SC, Bd. 139), S. 58-64 und W ieland (1973). Ergänzend zu den von W ieland verzeichneten Handschriften kommt der Auszug in Ms. 26, fol. 84 vb -85 vb der Leopold-Sophien-Bibliothek in Überlingen hinzu, vgl. H eitzmann (2002), S. 66 (Text von H eitzmann nicht identifiziert). 601 Ähnlich P almer (2005), S. 254. 602 W ebster (2005), S. 63. 603 Eine Aufschlüsselung des Inhalts beider Handschriften findet man bei M. S chmidt (1969), S. 55*-61* (Cod. 278) und W ebster (2005), S. 343-418 (Cod. 277). <?page no="250"?> ist, handelt es sich ausnahmslos um ‹Eckhart-Handschriften›. Drei von ihnen stimmen sogar über längere Textpartien mit dem Einsiedler Cod. 277 überein, denn sie überliefern mehr als die Hälfte der von W ebster verzeichneten Titel: Basel, UB, Cod. B XI 10 (alemannisch, 2. Hälfte 14. des Jahrhunderts, Kartause Basel, Sigle: Ba1), Nürnberg, StB, Cent. IV.40 (bairisch, 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts, St. Katharina Nürnberg, Sigle: N1) und Straßburg, BNU, Cod. germ. 2715, olim: L germ. 618 (bairisch, 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts, Klosterneuburg, Sigle: Str2). 604 Bemerkenswerterweise sind es nicht selten die gleichen ‹Eckhart-Handschriften› Ba1, N1 und Str3, die eine Parallelüberlieferung zu den Texten bieten, die in die Schwesterhandschrift 278 Eingang gefunden haben, vgl. 2 VL 2 (1980), Sp. 801 zu Cod. 278, fol. 219 v -222 v (Johannes Franke OP), 2 VL 2 (1980), Sp. 1165 zu Cod. 278, fol. 345 r -346 v (›Die geistliche Jagd‹), 2 VL 3 (1981), Sp. 46 zu Cod. 278, fol. 198 v -201 v (Giselher von Slatheim OP), 2 VL 3 (1981), Sp. 525 zu Cod. 278, fol. 295 r -299 v (Hartmann von Kronenberg OP), 2 VL 3 (1981), Sp. 718 zu Cod. 278, fol. 181 v -194 r (Heinrich von Ekkewint OP), 2 VL 6 (1987), Sp. 430 zu Cod. 278, fol. 347 r -382 r (›Die geistliche Spur‹) und 2 VL 6 (1987), Sp. 1158 zu Cod. 278, fol. 323 v (Nikolaus von Straßburg OP? ). Um Aufschluss über die Vorgeschichte der in den Einsiedler Schwesterhandschriften versammelten Texte zu gewähren, wäre eine ähnliche Untersuchung notwendig, die K urt R uh schon 1972 für N1 (s.o.) gefordert hat: «Um die Vorlagen näher zu fassen, gälte es den Textbestand in Redaktion und Reihung mit der gesamten Parallelüberlieferung zu vergleichen.» 605 Die auffällige Konzentration von volkssprachlicher dominikanischer Literatur in den beiden Einsiedler Handschriften findet ihre Erklärung in der Person der Vorbesitzerin, einer dem Dominikanerorden eng verbundenen Basler deo devota, Margareta zum Goldenen Ring. 606 Deshalb geht man in der Annahme wohl nicht fehl, wenn man in den Basler Dominikanern die Zusteller von Vorlagen vermutet. 607 Und vielleicht sind auch die Schreiber von Cod. 277 und 278 daselbst zu suchen, 608 in einem Konvent wohlgemerkt, der über volkssprachliche Handschriften verfügt haben muss. So wäre die Provenienz der oben genannten Eckhart-Handschrift Ba1 aus der Bibliothek des Basler Dominikanerklosters zu überdenken, zumal die Schreibsprache auf das südwestliche Oberrheingebiet hindeutet. 609 V olker H onemann erwägt, ob diese Hand- 240 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 604 Zur Datierung und Lokalisierung von Str2 s. S cheepsma (2007), S. 264. 605 In: J ostes (1895/ 1972), S. 205. Zu N1 s. neulich S teer (2002), S. 263f. Die von R uh angeregte text- und überlieferungsgeschichtliche Untersuchung zur Mitüberlieferung des ›Fließenden Lichts‹ klammert W ebster (2005), S. 340 bewusst aus. 606 Zur Person Margaretas s. M. S chmidt (1969), S. 62 * -65 * und W ebster (2005), S. 42-47. 607 So M. S chmidt (1969), S. 65 * . Unzutreffend ist die Annahme von J anota (2004), S. 126f. und 142, Heinrich von Nördlingen habe Margareta zum Goldenen Ring «die (heute Einsiedeler) Handschrift des ‹Fließenden Lichts der Gottheit› Mechthilds von Magdeburg» vermittelt. 608 Anders W ebster (2005), S. 79 und 109: Sie will (mit wenig überzeugenden Argumenten) die Entstehung der Schwesterhandschriften, die mit Sicherheit in einer Werkstatt oder einem Skriptorium zusammengestellt wurden, im Basler Dominikanerinnenkonvent Klingental verorten. 609 Vgl. S cheepsma (2007), S. 261. <?page no="251"?> schrift, die die alte Signatur E xxvi der Laienbibliothek der Basler Kartause trägt, einen Beitrag der Dominikaner zur «Gründungsausstattung» der Kartause darstellt. 610 Die dominikanische Provenienz ist umso denkbarer, als es sich um eine Handschrift handelt, die eine Reihe von Texten mit Cod. Einsiedl. 277 gemeinsam überliefert. 611 Die Herkunft aus dem örtlichen Dominikanerkloster wäre zudem für die Handschrift von Rudolfs von Biberach ›De septem itineribus aeternitatis‹ (Basel, UB, Cod. B IX 25) 612 sowie für Teile von Basel, UB, Cod. B IX 15 zu erwägen. Dies gilt vor allem für jenen Teil von B IX 15, der die alemannische Übersetzung der ›Vitas patrum‹ enthält, denn überwiegend in derselben Reihenfolge sind die aus dem Leben der Altväter genommenen Exempla in Basel, UB, Cod. A V 41 (ca. 1370) überliefert. Diese letztere Handschrift stammt nachweislich aus dem Basler Konvent der Dominikaner. 613 Die gleiche Provenienz erwägt G ustav B inz für die folgenden beiden lateinischen Handschriften mit eingestreuten deutschen Texten: Cod. A V 33 (v.J. 1417) und A X 130 (v J. 1440). 614 Aus dem Besitz des Basler Dominikaners Stephan Irmi (1432-1488) stammt desweiteren die Handschrift Cod. A IX 2 mit lateinischen und deutschen Texten vorwiegend geistlichen Inhalts. 615 Aus dem Basler Predigerkonvent kommt auch Zürich, ZB, C 76 (hochalemannisch, letztes Viertel des 14. Jahrhunderts). 616 Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang auch auf die Buchgeschenke von Basler Dominikanern an den Dominikanerinnenkonvent St. Katharina in St. Gallen vom Ende des 15. Jahrhunderts. 617 Dass das ›Fließende Licht‹ in der Bibliothek des Dominikanerkonvents vorhanden gewesen sein muss, kann den Marginalien von Rb, einer aus dem Besitz des Basler Predigerklosters stammenden und sicherlich auf dominikanischer Schiene verbreiteten Handschrift der ›Lux divinitatis‹, entnommen werden. 618 Varianz in Textbestand und Textfolge 241 610 H onemann (1982), S. 147. Vgl. dazu den Hinweis von S exauer (1978), S. 47, jede Kartäuserbibliothek sei «zunächst ein Spiegelbild der Leseinteressen der örtlichen Umgebung […] nicht der Mönche.» 611 Die dominikanische Provenienz wird im Übrigen auch für die Ba1 und E1 (= Cod. Einsiedl. 277) vom Textbestand her verwandte Eckhart-Handschrift N1 (s.o.) vermutet, s. S teer (2002), S. 263. 612 Vgl. M. S chmidt (1969), S. 172*, Anm. 1. 613 Vgl. W illiams (1996), S. 127*. 614 B inz (1907), S. 43-54 und 206-233. 615 Vgl. http: / / www.handschriftencensus.de/ 12728 (K laus K lein / J ürgen W olf , April 2009). 616 Vgl. S eidel (2003b), S. 111-117. 617 S. dazu demnächst M engis (2010). 618 Für eine längere Tradition der lateinischen Übersetzung des ›Fließenden Lichts‹ im Rahmen des Dominikanerordens spricht eine Reihe von Annotationen zu Textstellen mit dominikanischem Bezug (s. S. 220 oben). Dass sich Rb, die einzige vollständige Handschrift der ›Lux divinitatis‹, Ende des 15. Jahrhunderts in der Basler Kartause befand, wie von B ecker (1951), S. 4 behauptet, ist ungewiss. Wohl diente Rb unmittelbar als Vorlage für eine dort entstandene Abschrift (Ra), doch gibt es keine Indizien, die darauf hindeuten würden, dass die Handschrift im Besitz der Kartäuser war. B ecker verweist auf das Inhaltsverzeichnis, das er dem Prior und Bibliothekar der Basler Kartause, Jakob Louber zuschreibt. Davon ist bei M eyer / B urckhardt (1966), S. 182 keine Rede. Unter Berufung auf P. S chmidt (1919), S. 227, Nr. 338 weisen sie die Handschrift dem Predigerkloster zu <?page no="252"?> Eine Reihe von Randnachträgen zeugen davon, dass Rb mit dem ›Fließenden Licht‹ verglichen wurde, wobei der deutsche Text in einer Handschrift vorgelegen haben muss, die eine andere, stellenweise bessere Abschrift des ›Fließenden Lichts‹ geboten hat als das aus dem Besitz der Margareta zum Goldenen Ring überlieferte Exemplar. 619 Mit dem Dominikanerorden ist auch die Colmarer Handschrift des ›Fließenden Lichts‹ (C) in Verbindung zu bringen. Wegen des dominikanischen Interesses, das sich in diesem Auszug dokumentiert, glaubte P aul -G erhard V ölker , C als «pro-domo-Überlieferung eines Dominikanerklosters» 620 bezeichnen zu können. S ara S. P oor war gar der Ansicht, «we have here a vernacular codex aimed at an audience of friars who need help less with their sermons than with their inner lives in the face of their conversations in the world (with beguines and the laity).» 621 Tatsächlich wurden die Mechthild-Exzerpte in C nie von einem Dominikaner gelesen, denn die Handschrift kommt aus dem Besitz des Colmarer Bürgers Hans Schedelin, der sich Mitte des 15. Jahrhunderts eine sechs Bände umfassende Privatbibliothek geistlicher Literatur angelegt hatte, indem er Texte entweder eigenhändig abschrieb bzw. abschreiben ließ oder ganze Bände käuflich erwarb. Die Vorlagen zu seinen Abschriften werden ihm die Dominikaner zur Verfügung gestellt haben. Dafür spricht der Charakter der Sammlung, die Parallelüberlieferung einer Reihe von Texten und nicht zuletzt die Tatsache, dass nicht nur Hans Schedelin, sondern die Schedelins überhaupt enge Beziehungen zum städtischen Dominikanerkloster pflegten. 622 242 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ und komplettieren den Besitzereintrag auf Bl 1 r wie folgt: iste l(iber est fratrum ordinis predicato)rum domus basiliensis. 619 Vgl. N eumann (1993), S. 97, Anm. zu V.23,117f., ebd., S. 112, Anm. zu VI.2,33 und ebd., S. 118, Anm. zu VI.10,1f. Auf eine bessere Vorlage deutet vielleicht auch die Glosse gratis zu LD IV.6,8 (Rev. Bd. II.2, S. 544,18, fehlt LG IV.5,10f.) hin. Die deutsche Überlieferung (E, C, B) bietet an der gleichen Stelle vergeben (statt vergebens), s. N eumann (1990), S. 65, App. zu II.25,78 (entspricht 130,29 bei V ollmann- P rofe ). Hinzuweisen wäre auch auf die Marginalie quo multi illuminentur zu LD IV.33,9f. (Rev. Bd. II.2, S. 566,8f.) lucebit procul dubio ibi lux a longe contemplantis ueritatis (LG IV.31,13f.: so wúrt on zwyfel luchten das liecht der von fern anschowender warheit): Es fehlt an einer Entsprechung zu E, vgl. FL III.24: 220,28 (III.24,11f.): so wirt da ein sch o n lieht, da man verre von gesiht. In Ra fol. 180 v steht die Rb-Marginalie bereits im Text. Ein vergleichbarer Fall findet sich in LD IV.48,20 (Rev. Bd. II.2, S. 577,9): Eine Entsprechung für testitudine fehlt in LG IV.40,80f. und FL II.19: 108,8f. (II.19,67). Die Rb-Marginalie ist in Ra fol. 183 v dagegen enthalten. Auf eine in E ausgefallene Randglosse lässt die Marginalie Nota de triplici celo zu LD IV.48,4 (Rev. Bd. II.2, S. 576,23) schließen: Sie findet sich auch in W (S chleussner 1929, S. 175,10), und zwar als Zwischenüberschrift de triplici celo (zu FL II.19: 106,22 [II.19,48]). Dass wir es hier in der Tat mit einer auf dem Weg zu E ausgefallenen Glosse zu tun haben, bekräftigt der Rückverweis ii libro xix e, der sich in E etwa in der Höhe von FL II.24: 122,28f. (II.24,48f.) findet und sich auf die genannte Stelle in FL II.19 bezieht. Allerdings wird die Verbindung über das Stichwort túfel hergestellt (der erste Himmel gehört laut FL II.19: 106,22 dem Teufel). 620 V ölker (1967), S. 32. Ähnlich N eumann (1993), S. 235. 621 P oor (2004), S. 130. 622 S. dazu im Einzelnen N emes (2009b). <?page no="253"?> Anders als in Basel (s.o.) treten die Dominikaner in Colmar - so das Zeugnis der aus ihrer Bibliothek überlieferten Handschriften - als Rezipienten volkssprachlicher geistlicher Literatur nicht in Erscheinung. Dieselbe Beobachtung macht man im Übrigen auch in Nürnberg. W erner W illiams -K rapp vermutet, die Dominikaner hätten volkssprachliche Literatur für nicht bibliothekswürdig erachtet. 623 Nichtsdestoweniger lassen sich zumindest für Colmar und Nürnberg gewichtige Indizien dafür nennen, dass die dortigen Konvente der Dominikaner an der Beschaffung und Vermittlung von deutschsprachiger religiöser Literatur beteiligt waren, oblag doch ihnen außer der cura der Frauenklöster des eigenen Ordens (genauer des Dominikanerinnenkonventes St. Katharina) die geistliche Betreuung der städtischen Laien. 624 Die Handschriften der Margareta zum Goldenen Ring sprechen dafür, dass wir es auch in Basel mit einer ähnlichen Konstellation zu tun haben. Deshalb erscheint es mir irreführend, wenn H elen W ebster die in der Einsiedler Handschrift 277 versammelten Texte als «Gottesfreundeliteratur» 625 liest, und dies obwohl sie selbst mit Nachdruck darauf hinweist, die Handschriften der Margareta seien «markedly Dominican in character» (s.o.). Beim Urteil über die Einsiedler Handschrift 277 als ‹gottesfreundlich› scheint der Umstand eine wichtige Rolle gespielt zu haben, dass die Handschrift aus dem Besitz einer Devoten aus dem unmittelbaren Umfeld Heinrichs von Nördlingen kommt 626 und einen Text überliefert, der auf die Veranlassung Heinrichs im Netzwerk der mit ihm befreundeten Klöster und Personen gelesen und verbreitet wurde: das ›Fließende Licht‹. Doch genau bei diesem Text wäre zu fragen, ob er nicht eher mit den Dominikanern als mit einer wie auch immer gearteten ‹Gottesfreundeliteratur› zu tun hat. Dass das ›Fließende Licht‹ schon früh in einem dominikanischen Umfeld rezipiert wurde, erkennt man am Index rerum. In diesem ‹Verzeichnis der behandelten Dinge› werden unter der Rubrik De prerogativa quorundam sanctorum zwei Kapitel indiziert, die von Dominikus handeln (FL IV.20 und 22). Außerdem wird auf FL IV.27 hingewiesen und vermerkt, das Kapitel handle de predicatoribus in fine mundi tempore Antichristi (im Text selbst ist von den nach dominikanischem Vorbild gezeichneten ‹Jüngsten Brüdern› die Rede). Bereits dieser Vermerk zeugt von einem dominikanisch geprägten Blick auf das Textcorpus, genauer auf die Einheit der Bücher I-V. 627 Deutlicher tritt die Varianz in Textbestand und Textfolge 243 623 Vgl. W illiams -K rapp (2004), S. 322. Zur Absenz deutschsprachiger Handschriften in klösterlichen Bibliothekskatalogen s. B auer (1996), S. 33-36. 624 Zu den (literarischen) Verflechtungen des Nürnberger Dominikanerkonvents mit der Laienwelt und den lokalen Frauenklöstern (nicht nur des eigenen Ordens) s. W illiams - K rapp (2004) und B rakmann (2005), S. 330-338. Zu Colmar s. N emes (2009b). 625 So W ebster (2005), S. 110 und 312. 626 Eine detaillierte Liste von Namen und Orten, die in Heinrichs Briefen genannt werden, findet man bei S chultz (1976) und J anota (2007). 627 Das betont auch L eppin (2007), S. 544f. Freilich geht L eppin von der Einheit des Prologs und des nachfolgenden Index rerum aus. Dies ist jedoch keineswegs zwingend, vgl. S. 143ff. oben. <?page no="254"?> Vereinnahmung des b v ches durch den Dominikanerorden im lateinischen Prolog hervor, worin die von Gott inspirierte begina als eine dem Dominikanerorden besonders nahe stehende Person vorgestellt wird (servivit sequens perfecte vestigia fratrum ordinis predicatorum), wobei die Verschriftlichung der göttlichen Offenbarungen an einen Predigerbruder delegiert wird (liber iste … per gratiam a domino inspiratus … conscriptus autem a quodam fratre predicti ordinis). Manche Überschriften fokussieren auf Dominikaner, und dies obwohl ein solcher Bezug aus dem Inhalt des Kapitels nicht ableitbar ist: 628 Während im Falle von FL II.16 (Von siben gaben eins br v ders), 629 VI.15 (… von den jungesten prediern …) und VII.41 (Wie ein predierbr v der wart gesehen) offen bleiben muss, wann es zu diesen prodominikanischen Eingriffen kam, kann die Sekundärvariante predieren in E zu FL VI.21 (im Text wie in den Registern von E und C liest man br v der) darauf verweisen, «daß E oder eine Vorstufe in einem Predigerkloster geschrieben worden ist.» 630 Der Steigerung des dominikanischen Elements im ›Fließenden Licht‹ dient auch der Randvermerk Frater ordinis. Dieser bezieht sich auf FL IV.6 und FL VI.14. 631 An beiden Stellen ist im Text selbst nur von einem menschen die Rede. Es scheint demnach eine gewisse Kontinuität gegeben zu haben, was die Trägerschaft der Mechthild-Überlieferung anbelangt. Sie rekrutiert offenbar von allem Anfang an aus den Reihen der Dominikaner. Zieht man nun den dominikanischen Charakter der Handschriften der Margareta zum Goldenen Ring in Betracht und berücksichtigt man die Tatsache, dass Rb mit dem deutschen Text verglichen werden konnte, so geht man in der Annahme wohl nicht fehl, wenn man im Basler Dominikanerkonvent die Schaltstelle der oberdeutschen Mechthild-Überlieferung sieht. Ja, mehr noch: Es ist nicht auszuschließen - ich greife eine Vermutung von M argot S chmidt auf -, dass die Übertragung des ›Fließenden Lichts‹ ins Alemannische eben dort (und nicht, wie immer vermutet, 632 in einem personell vor allem mit Bürgern und Adligen 244 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 628 L eppin (2007), S. 547f. und 551f. weist zudem darauf hin, dass die Überschriften stärker als das nachfolgende Kapitel Akzentverschiebungen zugunsten der Dominikaner vornehmen. 629 V ollmann- P rofe (2003), S. 735, Anm. zu 100,22 erklärt die Überschrift, die aus dem Inhalt des Kapitels nicht ableitbar ist, wie folgt: «Der Verfasser der Überschrift wußte also offenbar, daß eine bestimmte Seele gemeint war.» Es wird vermutet, es könnte sich «um eine kurze briefliche Mitteilung (auf Anfrage? ) an ein befreundetes Mitglied des Prediger-Ordens handeln.» Die «Brief-Situation» soll die lateinische Übersetzung verdeutlichen, weil sie das Kapitel in der Anredeform wiedergibt. V ollmann- P rofe übersieht, dass LD IV.44 (Rev. Bd. II.2, S. 572,13-573,16) mehrere deutsche Kapitel zusammenzieht. Dabei kommt es zur Angleichung der Sprechposition in FL II.16 an die des vorangehenden Kapitels FL II.13. 630 N eumann (1993), S. 125. Ähnliches wäre auch für FL III.17 anzunehmen, vgl. S. 187, Anm. 367 mit Text. 631 Vgl. N eumann (1993), S. 223 und 230. 632 Vgl. etwa S chultz (1976), S. 140 und 143, J anota (2004), S. 125 und G ottschall (2007), S. 162 und 168. <?page no="255"?> besetzten Kreis der Basler Gottesfreunde) erfolgt ist. 633 Ob jenes Exemplar des ›Fließenden Lichts‹, das Heinrich von Nördlingen den Dominikanerinnen von Medingen und Engelthal zukommen ließ, aus der Handbibliothek Taulers 634 oder aus der Klosterbibliothek der Basler Dominikaner stammt, ist zwar nicht zu entscheiden. Wichtig ist es mir jedoch, auf die dominikanische Provenienz eines der wohl prominentesten Texte der so genannten ‹Gottesfreundeliteratur› hinzuweisen. 635 Bei der Vermittlung des ›Fließenden Lichts‹ bzw. seiner lateinischen Übersetzung nach Basel könnte Tauler eine wichtige Rolle gespielt haben, der die Jahre von 1338/ 39 bis 1342/ 43, vielleicht bis 1346, vorwiegend im Basler Predigerkloster verbrachte. Bezeugt sind für diese Zeit wiederholt Reisen nach Köln, die mit Handschriftenkopie und -austausch verbunden waren. 636 Angesichts von Taulers Interesse für die Texte der älteren Frauenmystik (s. S. 213f., Anm. 485) ist nicht auszuschließen, dass er auch mit Mechthilds Offenbarungen in Berührung kam. H ans N eumann hat mit dem Gedanken gespielt, berichtet G isela V ollmann -P rofe , Tauler könnte in den 30er Jahren ein Exemplar des ›Fließenden Lichts‹ im Mantelsack nach Basel gebracht haben. 637 D agmar G ottschall ist gar der Ansicht, das ›Fließende Licht‹ wäre in Köln in Taulers Hand gekommen. 638 Ob dies tatsächlich der Fall war, wissen wir nicht. Wahrscheinlicher ist dies bei der ›Lux divinitatis‹, die Tauler gekannt haben könnte (s. dazu S. 213f., Anm. 485 mit Text). Der Gedanke, dass das ›Fließende Licht‹ und seine lateinische Übersetzung in Köln verfügbar waren, dort von Tauler erworben werden konnten und durch ihn an die Dominikaner in Basel vermittelt worden sind, muss dagegen bis auf weiteres eine «reizvolle Hypothese» (V ollmann -P rofe ) bleiben. Varianz in Textbestand und Textfolge 245 633 Vgl. M. S chmidt (1969), S. 173*. Ähnlich G ooday (1973), S. 236. M. S chmidt (1969) zufolge könnte auch die Übersetzung des ›De septem itineribus aeternitatis‹ des Rudolf von Biberach ins Alemannische im Basler Dominikanerkonvent erfolgt sein (ebd., S. 172*). Die in Kap. I.2 angedeuteten theologischen Unsicherheiten brauchen nicht gegen die Annahme zu sprechen, das ›Fließende Licht‹ wäre von Dominikanern ins Alemannische übertragen worden. Eklatante theologische Ungereimtheiten finden sich auch im ‹kollektiven Autograph› der ›Schwarzwälder Predigten‹, einer Predigtsammlung, die in einem Franziskanerkloster entstanden ist, vgl. H.-J. S chiewer (1996), S. 57. 634 So G ottschall (2007), S. 148f. 635 Entsprechend einem Vorschlag von R. D. S chiewer (2007), S. 246 kann diese Literatur sehr wohl ‹gottesfreundlich› genannt werden, insofern sie innerhalb einer ‹reading community› der Propagierung eines bestimmten Frömmigkeitsideals diente, nicht jedoch das Netzwerk selbst. S. dazu auch N emes (2011). 636 Vgl. G nädinger / M ayer (1995), Sp. 635f. und G nädinger (1993), S. 34-39. 637 Vgl. V ollmann- P rofe (2000), S. 155. 638 Vgl. G ottschall (2007), S. 149. Auch Sc hultz (1976), S. 144 vermutet, das niederdeutsche Exemplar des ›Fließenden Lichts‹ könnte durch Vermittlung Taulers zusammen mit der lateinischen Übersetzung nach Basel gekommen sein. <?page no="256"?> II.3 Von der Schrift zum Buch. Oder: Wie original ist das Original des ›Fließenden Lichts‹? 1955 hat M argot S chmidt eine Neuausgabe des ›Fließenden Lichts‹ vorgelegt, die - obschon eine Übersetzung - einen gewissen philologischen Anspruch in der Textkonstitution nicht verkennen lässt. Wegen zahlreicher Lesefehler, mit denen der unkritische Handschriftenabdruck von G all M orel (1869) belastet ist, entscheidet sich S chmidt dafür, nicht einfach den von M orel präsentierten Text zu übersetzen, sondern greift auf die Einsiedler Handschrift selbst zurück. Kritisch verhält sich S chmidt indes nicht nur gegenüber der Edition, sondern auch gegenüber der Überlieferung. Man liest in ihren Ausführungen zur Textgestaltung: «Soweit E von den anderen Quellen verbessert und ergänzt wurde, sind diese mit in die Übersetzung hineingearbeitet und im kritischen Apparat am Schluß vermerkt worden.» 639 Ergänzt wird nicht nur nach der deutschen, sondern auch nach der lateinischen Parallelüberlieferung, wobei die nach der ›Lux divinitatis‹ vorgenommenen Ergänzungen ausdrücklich als «Zusätze» bezeichnet und in eckige Klammern gesetzt werden. Was ihre Rolle bei der Textkonstitution betrifft, stellt S chmidt fest: «Die Zusätze des lateinischen Textes […] wurden dann berücksichtigt, wenn sie zur Erhellung des Originals beitrugen.» 640 Übernommen werden aus dem lateinischen Text nicht nur Sprecherbezeichnungen, Erläuterungen, kontextualisierende Vermerke und Namensnennungen, sondern vereinzelt auch Verspaare. So wird FL II.23 gleich an zwei Stellen ergänzt: nach 116,27 (II.23,25, entsprechend Cum quod melius est cognouero . hoc eligere parata ero, LD IV.1,26f./ Rev. Bd. II.2, S. 540,7f., LG IV.1,36f.: So ich wúrt erkennen was das best ist dasselbig bin ich bereit mir vßerwelen) und nach 118,19 (II.23,47, entsprechend vnge oculos tuos collirio ut uideas [vgl. Apc 3,18] eum cum quo semper maneas, LD IV.2,16f./ Rev. Bd. II.2, S. 541,13f., LG IV.1,68f.: Salb deine augen mit augen salben das dú ansihest den bey dem dú allwegen blibest). Bei S chmidt heißt es: «Könnt ich das Bessere wissen, / Ich wär es zu tun beflissen.» (S. 109) bzw. «Salbe sie, daß sie ihn erkennen / Um dich niemals von ihm zu trennen» (S. 111). Ähnlich wird bei FL IV.15: 270,18 (IV.15,10) vorgegangen. Hier bietet LD IV.30,7f. (Rev. Bd. II.2, S. 564,17f.) zusätzlich zum deutschen Text: (illa hora) illuxerit atque transierit . miro mentis gaudio fruitur (LG IV.29,10f.: So dan einleuchtet vnd vergat [die selig stúnd] … so núist sy [die liebhabende seel] in wúnderbarlicher freúd ires gemúets). Obwohl sich hier nichts Gereimtes findet, lautet die Übersetzung: «Und sie [die minnende Seele! ] sich öffnete und überkam / und im Staunen und Freuen zu kosten bekam» (S. 193). 246 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 639 M. S chmidt (1955), S. 7. Berücksichtigt werden zudem die von der Forschung vorgebrachten Verbesserungsvorschläge. 640 M. S chmidt ebd., S. 8. Von der Schrift zum Buch <?page no="257"?> Solche ‹Zusätze› finden sich in der ›Lux divinitatis‹ immer wieder. 641 Manche von ihnen hat S chmidt in die Übersetzung mit aufgenommen. 642 Wohl markiert S chmidt die nach der ›Lux divinitatis‹ vorgenommenen Ergänzungen als «Zusätze», doch erweckt ihre Vorgehensweise, allen voran ihr Umgang mit den in die Übersetzung geretteten Verspaaren den Eindruck, als würden die Ergänzungen nicht allein zur «Erhellung», sondern auch zur Bereicherung des Originals um weiteres, möglicherweise authentisches Material beitragen. In Von der Schrift zum Buch 247 641 Vgl. etwa LD Prol. 4,12 (Rev. Bd. II.2, S. 441,6f.) requiem haberet caro mea (LG Prol. 3,16: min fleisch rw hett) zusätzlich zu FL IV.2: 236,13 (IV.2,113) - LD I.33,8f. (Rev. Bd. II.2, S. 477,11f.) (ab omni peccato extitisti) in tota uita tua [bezogen auf Maria] similis angelice puritati permansisti (LG I.33,11f.: vnd in deinem gantzem leben gleich der engellischen reinigkeyt bliben) zusätzlich zu FL III.4: 166,13 (III.4,11) - LD I.35,12f. (Rev. Bd. II.2, S. 479,19f.) et laudans in deum qui est fons et largitor omnium graciarum (LG I.35,20f.: vnd spilen in gott welcher ist der brún vnd geber aller gnaden) zusätzlich zu FL VI.39: 512,20 (VI.39,17) - LD II.19,25-27, s. dazu S. 187, Anm. 366 mit Text - LD II.29, 14 (Rev. Bd. II.2, S. 506,19f.) quia nec primam similem uisa est [bezogen auf Maria] nec habere sequentem (LG II.26,19-21: wan keine vor yr ist yer gleich gefúnden worden vnd mag ir kein nachkommerin gleich werden) zusätzlich zu FL III.1: 150,28 (III.1,78) - LD III.5,11f. (fehlt in Rev. Bd. II.2, S. 524) et fructus tuus perijt et perditus est de terra (LG III.5,15f.: vnd dein frúcht ist vordorben vnd vorloren von der erde) zusätzlich zu FL VI.21: 478,11 (VI.21,9) - LD IV.2,8f. (Rev. Bd. II.2, S. 541,3f.) Ibi ei erit bene super bene et pax super pacem exsuperans sensum omnem (LG IV.1,57: do wirt ir wol vber wol sin vnd der frid vber frid der do vbergatt allen sin) zusätzlich zu FL II.23: 118,12 (II.23,41) - LD IV.45,28 (Rev. Bd. II.2, S. 574,20f.) cum suis karissimis et saciantur ex hoc et siciunt (LG IV.39,70f.: mit seinen allerlibsten vnd von ym werdent sye ersettiget vnd dúrstig) zusätzlich zu FL III.3: 164,16 (III.3,30) - LD IV.47,14f. (Rev. Bd. II.2, S. 576, 10f.) (experiencia) michi singulariter infusa (LG IV.40,42f.: welchi mir ist súnderlich ingegossen) zusätzlich zu FL II.19: 106,8 (II.19,35, nach bevindunge von gotte) - LD IV.59, 11 (Rev. Bd. II.2, S. 586,14f.) et compleantur consolacione accepta dies luctus mei [Is 60, 20] (LG IV.47,15f.: vnd volendet werd mit dem empfangenen trost die tage meines weinens) zusätzlich zu FL IV.5: 250,29 (IV.5,13) - LD V.4,9 (Rev. Bd. II.2, S. 591,11f.) et in uerissima sanctitate intrinsecus (LG V.3,12: von innen in vil heiligkeyt) zusätzlich zu FL V.11: 342,6 (V.11,10f.) - LD V.5,6f. (Rev. Bd. II.2, S. 593,1f.) vt mea ibi iugiter anima remaneret et corpus meum temporalem uitam hic finiret [I Sm 1,23] (LG V.4,11f.: vff das min seel alwegen do blibt vnd mein leip hie endet das zytlich leben) zusätzlich zu FL V.13: 348,2 (V.13,9) - LD V.6,31 (Rev. Bd. II.2, S. 594,10) et mortem euadit (LG V.4, 56: vnd entrinnet kúm dem tode) zusätzlich zu FL V.8: 338,2 (V.8,36) - LD V.11,9f. (Rev. Bd. II.2, S. 598,24) vt nos ad sublimia eleuaret (LG V.9,13: das er vns vfferhúpt zú den hohen dingen) zusätzlich zu FL VI.1: 420,7 (VI.1,14f.) - LD V.16,5f. (Rev. Bd. II.2, S. 603,26f.) quia nihil fit sine causa et prouidencia dei super terram (LG V.11,27f.: wan nichtzs beschicht vff erden on vrsach vnd on die vorsichtigkeyt gottes) zusätzlich zu FL I.27: 48,2 (I.27,7). 642 Vgl. M. S chmidt (1955), S. 102 (= FL II.19: 106,8 [II.19,35]) entsprechend LD IV.47, 14f. - ebd., S. 174 (= FL IV.2: 236,13 [IV.2,113]) entsprechend LD Prol. 4,12 - ebd., S. 112 (= FL II.24: 122,7 [II.24,30]) entsprechend LD II.19,25-27 und ebd., S. 229 (= FL V.11: 342,6 [V.11,10f.]) entsprechend LD V.4,9. Für zahlreiche weitere (Wort)Ergänzungen, die nach der ›Lux divinitatis‹ vorgenommen worden sind, s. M. S chmidt passim. <?page no="258"?> der Tat stößt man unter den Textpartien, die von S chmidt aus der lateinischen Bearbeitung übernommen werden, zuweilen auf Textstücke, die H ans N eumann für echt genug halten wird, um sie in seine kritische Ausgabe aufzunehmen und wie schon S chmidt entsprechend «dem sonstigen Wortgebrauch Mechthilds» 643 ins Deutsche ‹zurück› zu übersetzen. 644 Ohne ausschließen zu wollen, dass die ›Lux divinitatis‹ an manchen Stellen einen im Zuge von kopialer Überlieferung korrupt gewordenen deutschen Text zu berichtigen gegebenenfalls auch zu ergänzen vermag (beeindruckende Belege liefert das neu entdeckte, sowohl zeitlich als auch räumlich der Textgenese am nächsten stehende Fragment Mo), 645 erweckt das Verfahren von S chmidt den Eindruck, als würde noch so manch Originales in der ›Lux divinitatis‹ nur darauf warten, wieder aufgefunden zu werden. Und in der Tat: Kap. II.2.2 der vorliegenden Arbeit zeigt mit aller Deutlichkeit, dass die lateinische Bearbeitung eine Reihe von Textstücken enthält, die Anspruch auf Originalität erheben. 646 Nun wäre naheliegend, eine Neuausgabe des ›Fließenden Lichts‹ zu fordern, besteht doch offenbar die Hoffnung, das Bekannte durch zusätzliches authentisches Material aus der Parallelüberlieferung - man denke auch an die ‹originale› Zusatzzeile sowie an die ‹mechthildischen› Reime in R 248 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 643 N eumann (1993), S. 39, Anm. zu II.23,25f. 644 Vgl. etwa FL II.23: 116,27 (II.23,25f.) und FL V.11: 342,6 (V.11,10f.). 645 So bestätigt Mo (abgedruckt bei G anina / S quires 2010, S. 81, Z. 8f.) die in FL II.23: 116,27 (II.23,25f.) nach dem lateinischen Text vorgenommene Konjektur von N eumann (s. dazu S. 59f. oben). Auch sonst können Mo an zwei Stelle Primärvarianten entnommen werden, vgl. wunne Mo (delicijs, LD I.4,6/ Rev. Bd. II.2, S. 450,1, LG I.4,9: lústigkeyt) gegen minne E/ C (FL II.21: 112,12 [II.21,11]), s. dazu den Konjekturvorschlag von S tierling (1907), S. 83 und N eumann (1993), S. 38. Hinzuweisen wäre auch auf einen Textausfall in FL II.23: 116,24 (II.23,23f.), zu dem es wohl in bzw. auf dem Weg nach Basel kam. In den Handschriften der oberdeutschen Texttradition (E, C, K) liest man: wiste ich, wa er were, so m o hte ich mich noch bekeren. Dem enspricht in Mo: wistich war he were. vnde … he were so mohte ich mich noch bekeren. Die Punkte im Textabdruck von G anina / S quires (2010), S. 81, Z. 3 verweisen darauf, dass der Text wegen mechanischer Beschädigung des Schreibstoffes (es handelt sich um Makulaturblätter! ) schlecht lesbar ist. In Kenntnis der ›Lux divinitatis‹, die überraschenderweise G anina / S quires gänzlich außer Acht lassen, lässt sich die Stelle mit wo ergänzen entsprechend si scirem quis et vbi esset (LD IV.1,23/ Rev. Bd. II.2, S. 540,12f., LG IV.1,32f.: wisset ich wo vnd wer er were). Auf dem Weg nach Basel scheint demnach die Entsprechung zu et quis esset ausgefallen zu sein. 646 Auch manche der mit ut bzw. quia eingeleiteten Nebensätze der lateinischen Bearbeitung - einige davon wurden oben in Anm. 641 genannt -, könnten ‹original› sein, denn es ist nicht recht einzusehen, warum sie unecht sein sollten, während ähnliche, mit den selben Konjunktionen eingeleitete Sätze, die im ›Fließenden Licht‹ (genauer in E) stehen, in der ›Lux divinitatis‹ (genauer Rb bzw. Rw) jedoch fehlen, unhinterfragt als echt gelten, vgl. FL VI.4: 440,1f. (VI.4,37f.) uf das in hungeren m o ge nach dem himmelschen troste (fehlt LD VI.18/ Rev. Bd. II.2, S. 638 bzw. LG VI.18) und FL II.26: 138,17f. (II.26,40f.) wan dú vrie minne m v s ie das h o hste an den menschen wesen (fehlt LD Prol. 6/ Rev. Bd. II.2, S. 444 bzw. LG Prol. 5). <?page no="259"?> (dazu S. 171f. oben) - anzureichern. 647 Gegen ein solches Unterfangen wäre aus der Sicht der Mechthild-Forschung sachlich nichts einzuwenden, da man davon ausgeht, dass die lateinische und deutsche Überlieferung «auf zwei unterschiedlichen Entstehungsphasen des Originals basieren.» 648 Lassen sich also plausible Gründe dafür nennen, dass die ›Lux divinitatis‹ Texte enthält, die (1.) über den Bestand des ›Fließenden Lichts‹ hinausgehen und (2.) Anspruch auf Originalität haben, so wäre nach dem aktuellen Stand der Mechthild-Forschung anzunehmen, dass es sich um «unechte Zusätze» (im Sinne von E rnst B ecker vgl. S. 157f.) handelt, die in den deutschen Text gehören, weil sie ihm im Laufe der Überlieferung abhanden gekommen sind. Die Berechtigung dieser Annahme, die auf dem Postulat des einen Originals gründet, gilt es im Folgenden in Hinblick auf die frühe Text- und Überlieferungsgeschichte des ›Fließenden Lichts‹ zu problematisieren. Dies impliziert eine kritische Auseinandersetzung mit dem von N eumann geprägten und nach wie vor vorherrschenden Modell der Textgenese. Den ersten und bislang einzigen Versuch, ein umfassendes Modell für die Entstehung des ›Fließenden Lichts‹ zu präsentieren, hat N eumann in seiner Göttinger Habilitationsschrift unternommen. Wohl ist diese Arbeit ungedruckt geblieben, ihre Ergebnisse sind jedoch in Einzelaufsätze eingegangen, die Aufschluss darüber geben, wie N eumann über die frühe Text- und Überlieferungsgeschichte ›Fließenden Lichts‹ im Allgemein und über die Stellung des Originals zur lateinischen und deutschen Überlieferung im Besonderen denkt. Im Gegensatz zu P hilipp S trauch , der der Ansicht war, «Mechthilds Original» 649 selbst hätte die Vorlage der Übertragung des ›Fließenden Lichts‹ ins Alemannische abgegeben, betont N eumann : «das O r i g i n a l war diese Vorlage so wenig wie der Text, aus dem der größte Teil von Mechthilds Schriften ins Lateinische übersetzt wurde.» Denn: «Zwischen dem A u t o g r a p h und dem Zwiesel unserer Überlieferung liegt die redigierende Abschrift des Ruppinschen Dominikanerlektors Heinrich von Halle, der als Mechthilds geistlicher Berater ihre Aufzeichnungen einer Durchsicht unterzog.» 650 Diese Textstelle ist insofern von Bedeutung, als sie Aufschluss darüber gibt, wofür das vielzitierte und als editorisches Ziel definierte Original bei N eumann in Wirklichkeit steht: für das Autograph Mechthilds. Von der Schrift zum Buch 249 647 Zu einer ähnlichen Vorgehensweise vgl. die Neuausgabe des ›Armen Heinrich‹ durch G ärtner (2001). Der edierte Text wird hier infolge eines Neufunds um zusätzliche authentische Verse ergänzt. 648 G ottschall (2005), S. 301. 649 S trauch (1882), S. 380. 650 N eumann (1948/ 50), S. 145 (Sperrungen von mir). Vgl. auch N eumann ebd., S. 156f. <?page no="260"?> Vom Original unterscheidet N eumann die Redaktion Heinrichs (= F 1 , Diagramm 1). Ihr Abstand zu Mechthilds Autograph-Original ist für ihn allerdings kein prinzipieller und schon gar nicht ein inkommensurabler, denn N eu mann ist überzeugt, Heinrich hätte «kaum» 651 in den Wortlaut von Mechthilds Aufzeichnungen eingegriffen, sondern sich auf die Abschrift und Einteilung der Niederschriften beschränkt. 652 Allem Anschein nach wird dem redigierten Text ein ähnlicher Status attestiert wie dem Autograph-Original selbst (vgl. in diesem Zusammenhang auch S. 65f. oben). Deshalb ist es aus der Sicht von N eumann auch kein Widerspruch, wenn er der lateinischen Bearbeitung des ›Fließenden Lichts‹ (= LD, Diagramm 1) unterstellt, sie wäre «gewiß» aus einer Vorlage hervorgegangen, «die dem Original sehr nahe stand», 653 gleichzeitig jedoch darauf hinweist, eben diese Vorlage sei mit der «Redaktion Heinrichs von Halle» 654 identisch. Was veranlasst N eumann zu der Annahme, dass die Redaktion Heinrichs (und nicht das Autograph-Original Mechthilds) die Vorlage der ›Lux divinitatis‹ abgab? Dies ist zum einen die Notiz in LD II.40 (Rev. Bd. II.2, S. 517), Heinrich hätte Mechthilds Schriften (eigentlich dicta) gesammelt, zu einem Buch (uolumen) zusammengestellt und in sechs Teile (partes) geschieden. N eumann bezieht diese Aussagen, wie in Kap. II.1.1 (S. 100f. oben) gezeigt, auf den deutschen Text 655 und führt sie als Beweis dafür an, dass die buchmäßige Struktur des ›Fließenden Lichts‹ Heinrichs Werk ist und dass die ›Lux divinitatis‹ auf einer mittelniederdeutschen Handschrift beruht, die eben diese auf Heinrich zurückgehende Struktur aufwies (zur Diskussion um die Kapitelgliederung der LD-Vorlage s. Kap. II.1.2). Zum anderen scheint bei der Ableitung der ›Lux divinitatis‹ aus der redigierenden Abschrift der Bücher I-VI durch Heinrich die Beobachtung eine Rolle gespielt zu haben, dass die lateinische und die deutsche Überlieferung gemeinsame Fehler aufweisen. 656 Unterschieden wird indes nicht nur zwischen einem autograph-originalen und einem redigierten Zustand der Bücher I-VI, wobei letzterer zur Grundlage der lateinischen Bearbeitung wurde. Auch das Autograph-Original selbst wird als ein in sich mehrschichtiges Gebilde begriffen. Folgt man N eumann s Ausführungen, so ist das Autograph der Bücher I-VI nur in ihrem letzten, sechsten Teil tatsächlich autograph. Der Rest stellt dagegen die in das spätere Gesamtwerk eingegangene Erstausgabe der Bücher I-V dar, die der gleiche Hein- 250 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 651 N eumann (1954b), S. 28. Zur Argumentation, die zu dieser Schlussfolgerung führt, s. Kap. I.1.1. 652 Vgl. N eumann ebd., S. 65. 653 N eumann (1967), S. 44. Vgl. auch G ottschall (2005), S. 301: «Die lateinischen ›Revelationes‹ reichen überlieferungsgeschichtlich am weitesten an Mechthilds Original heran, sie arbeiteten vielleicht sogar mit einer von Mechthild autorisierten Fassung.» 654 N eumann (1954c), S. 169. In diesem Sinne werden «Original» und die «redigierende Bearbeitung Heinrichs von Halle» von B ecker (1951), S. 46 explizit gleichgesetzt. 655 Vgl. N eumann (1954b), S. 43. 656 Vgl. N eumann (1948/ 50), S. 157 und (1954c), S. 169f. Zu den gemeinsamen Fehlern beider Überlieferungszweige s. auch meine Ausführungen von weiter unten. <?page no="261"?> rich, der die ‹erweiterte Zweitausgabe› besorgte, abgeschrieben, in Büchern eingeteilt und mit Überschriften versehen haben soll (= E 2 , Diagramm 1). 657 Auch innerhalb der Erstpublikation wird weiter differenziert. Der Erstausgabe der Bücher I-V soll eine von Mechthild selbst vorgenommene Abschrift und Redaktion ihrer eigenhändigen Aufzeichnungen vorausgegangen sein (= E 1 , Diagramm 1). 658 Dieser Erstredaktion durch die Autorin wird eine zweite (= F 2 , Diagramm 1) an die Seite gestellt, die N eumann zufolge erfolgt sein muss, nachdem die von Heinrich besorgte Teilpublikation der Bücher I- VI zur Übersetzung freigegeben wurde. Begründet wird dies mit dem Hinweis auf die in der ›Lux divinitatis‹ fehlenden Plustexte des deutschen Überlieferungszweiges. Die dritte Publikationsphase ist schließlich mit der Aufnahme des aller Wahrscheinlichkeit nach im Kloster Helfta entstandenen siebten Buches ins Corpus der Bücher I-VI erreicht. Eine uns namentlich nicht bekannte Person soll daran beteiligt gewesen sein, die auch für Buch VII die Kapiteleinteilung und die Überschriften besorgte (= G 1 , Diagramm 1). N eumann denkt dabei an einen Hallenser Dominikaner. 659 Schematisch lässt sich das von N eumann entworfene entstehungsgeschichtliche Modell des ›Fließenden Lichts‹ wie folgt darstellen: Sollte es zutreffen, dass es sich bei den jetzigen Bucheinteilungen insgesamt um alte «Veröffentlichungsabschnitte» 660 handelt, um Teilveröffentlichungen also, die den «jeweiligen Aggregatzustand des schriftlich fixierten Werks» 661 darstellen - eine Idee, die auch von N eumann erwogen wurde (s. dazu weiter unten) -, so ließe sich das gezeichnete Schema geringfügig wie folgt ergänzen (A 1 , B 1 usw. stehen für die postulierten Zwischenabschriften des Werks, die die Teilveröffentlichungen abgegeben haben sollen): Von der Schrift zum Buch 251 657 Vgl. N eumann (1954b), S. 65. 658 Vgl. N eumann ebd., S. 60f. und (1987a), Sp. 262. 659 Vgl. N eumann (1954b), S. 40. 660 V ollmann- P rofe (1994), S. 147, Anm. 5 und (2003), S. 671. 661 O rtmann (1992), S. 185, Anm. 47. Zu diesem Phänomen am Beispiel des ›Parzival‹ s. N ellmann (2010). E (I-V) E 1 E 2 F (I-VI) F 1 F 2 G (I-VII) G 1 LD Diagramm 1 A (I) A 1 B (I-II) B 1 … E (I-V) E 1 E 2 F (I-VI) F 1 F 2 G (I-VII) G 1 LD Diagramm 2 <?page no="262"?> Die These, die besagt, dass die ersten vier Bücher des ›Fließenden Lichts‹ Corpora darstellen, die stufenweise in die Publikation gegangen sind, ist nicht leicht zu widerlegen, zumal sie zum Forschungskonsens geworden zu sein scheint. 662 So hat neulich M ark E manuel A mtstätter den formal-kompositorischen Aufbau des ersten Buches zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung gemacht. In Abgrenzung zur N eumann s These von der Chronologizität der Kapitelfolge unterstellt er dem ersten Buch «ein intendiertes Gewachsen- Sein» 663 und begründet dies damit, dass es sich um ein formal kunstvoll komponiertes und handlungslogisch schlüssig aufgebautes Textcorpus handelt. A mtstätter sieht in ihm die älteste Teilveröffentlichung des Gesamtwerkes. 664 Auch mit dem zweiten Buch scheint Mechthild an einem vorläufigen Endpunkt des Schaffensprozesses angelangt zu sein. So setzt die im Schlusskapitel von Buch II «sichtbar werdende Gegnerschaft gelehrter Geistlicher» für N eu mann voraus, «daß Mechthilds Buch bereits einen gewissen Umfang angenommen hatte und in weiteren Kreisen, zumindest unter Magdeburger Klerikern, bekannt geworden war.» 665 Als Indiz gewertet wird in diesem Zusammenhang auch die Bitte um Schutz für den schriber und das Buch im selben Kapitel II.26. 666 Und schließlich ist auf FL IV.28 hinzuweisen, denn N eumann sieht hier «den Schluß eines größeren Arbeitsabschnittes» 667 und G isela V ollmann -P rofe eine Teilpublikation, die «einem interessierten Publikum zugänglich gemacht wurde.» 668 Nichts von diesen vermeintlichen Teilpublikationen ist in der Überlieferung nachzuweisen. 669 Dies gilt freilich auch für die vorläufige Werkeinheit der Bücher I-V, doch mehren sich hier die Indizien, dass wir es hier tatsächlich mit 252 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 662 Vgl. das Resümee bei S enne (2004), S. 140. 663 A mtstätter (2003), S. 15. 664 Vgl. A mtstätter ebd., S. 20. Auch O rtmann (1992), S. 185, Anm. 47 sieht im ersten Buch eine «alte Einheit» und weist auf den Gebetsschluss Got gebe úns allen die krone! Amen am Ende des Buches hin (FL I.46: 70,29 [I.46,54]). Allerdings kann diese Schlussformel nicht als Hinweis für eine alte Veröffentlichungseinheit in Anspruch genommen werden. Eher handelt es sich um eine der wenigen Spuren jener redaktionellen Bearbeitung, der das gesamte Textcorpus der Bücher I-VII posthum unterzogen wurde (s. dazu S. 297f. weiter unten). 665 N eumann (1954b), S. 38. 666 Vgl. B ecker (1951), S. 205, O rtmann (1992), S. 185, Anm. 47 und V ollmann- P rofe (1994), S. 147, Anm. 5. Anders N eumann (1987a), Sp. 262: Die schriber-Stelle gilt für ihn als Beweis dafür, dass es die Reinschrift der Bücher I-V (= E 2 , Diagramm 2) gegeben hat. 667 N eumann (1954b), S. 39. 668 V ollmann- P rofe (1994), S. 147, Anm. 5. Ähnlich B ecker (1951), S. 205. 669 Das gilt auch nach der Entdeckung von Mo, einer Exzerpthandschrift des ›Fließenden Lichts‹ (mit Texteilen aus FL I.29.32.36, II.11.13.14.21.23, III.6 und VII.65), und trifft im Übrigen, um einen ähnlich gelagerten Fall zu nennen, auch auf einen Text wie für Boccaccios ›Decameron‹ zu, der, wie wir es aus Boccaccios Vorreden wissen, in Form von einzelnen Novellen schon vorweg im Umlauf war. «[I]n der Überlieferung gibt es davon keine Spur», vermerkt G rubmüller (2002), S. 9. <?page no="263"?> einem Corpus zu tun haben, das für eine breitere Rezeption bestimmt war. So entspricht der «großen Gebetsconclusio» 670 am Ende des fünften Buches (FL V.35) die programmatische Einleitung am Anfang des ersten. Sie besteht aus zwei Textstücken, die Aufschluss darüber geben, wie man das vorliegende b v ch empfangen soll (als Gottes Wort), wer es gemachet hat (Gott) und wie es heißen soll. Der erste Teil dieses Prooemiums ist sekundär aus Sätzen anderer Kapitel zusammengestückelt. 671 Da die verwendeten Zitate bis einschließlich Buch V reichen, geht man (wohl zu Recht) davon aus, dass der Vorspruch für das Corpus der Bücher I-V geschaffen wurde. 672 Dies wird man auch für den Index rerum (nicht jedoch für den lateinischen und deutschen Prolog! ) annehmen müssen, denn erfasst werden hier nur die ersten fünf Bücher. Ein weiteres Indiz dafür, dass die überhaupt erste Teilveröffentlichung Buch I-V umfasste, liefern die Kapitel 31 und 36 des sechsten Buches. Auffällig ist, dass erst hier auf jene laut gewordene Kritik reagiert wird, die sich an bestimmten Aussagen in FL I.44 und II.4 entzündete. Hätte es mehrere frühere Teilveröffentlichungen gegeben, so könnte man sich fragen, warum die Kritik erst im sechsten Buch (und nicht im dritten [= C/ C 1 , Diagramm 2], 673 im vierten [= D/ D 1 , Dia- Von der Schrift zum Buch 253 670 N eumann (1954b), S. 34. 671 Das ist der Grund, warum das Prooemium nicht allein für Buch I konzipiert worden sein kann, und dies obwohl es Indizien dafür gibt - und das wurde bislang übersehen -, dass das Prooemium schon auf einer frühen Überlieferungsstufe als Teil des ersten Kapitels von Buch I galt. Man trifft nämlich in einem der Querverweise zu FL II.26 auf den Hinweis I libro I a (vgl. N eumann 1993, S. 220, Glosse zu II.26,10), der mit Sicherheit das Prooemium I meint (im Prooemium I selbst gibt es einen Vorverweis auf ii libro xxvi). Die Einsiedler Handschrift selbst lässt nicht mehr erkennen, dass die beiden Prooemientexte ursprünglich zu FL I.1 gehörten, es sei denn, man wertet die in E fehlende Zählung für das erste Kapitel als Indiz für eine gewisse Unsicherheit seitens des Schreibers, was den eigentlichen Anfang des ersten Kapitels betrifft. Von einer solchen Unsicherheit ist im Register keine Spur. Dort ist die Überschrift von FL I.1 mit der Kapitelzahl I versehen (vgl. N eumann 1990, S. 3,2). Wie lässt sich dieser Befund deuten? Vorausgesetzt, das System der Querverweise war schon in der Teilpublikation der Bücher I-VI (= F 1 , Diagramm 2) enthalten - dafür gibt es überzeugende Indizien (s. S. 119ff. oben) - und der Hinweis auf I libro I a in FL II.26 ist nicht späteren Datums - auch mit dieser Möglichkeit ist zu rechnen (s. S. 123f. oben) -, dann muss man davon ausgehen, dass das Prooemium erst anlässlich der Erstellung des Registers vom ersten Kapitel abgekoppelt wurde. Man fragt sich, ob dies zu einem Zeitpunkt stattfand, als man den Büchern I-VI eine Zweitredaktion angedeihen ließ (= F 2 , Diagramm 2). 672 Vgl. N eumann (1954b), S. 34. V ollmann- P rofe (2003), S. 702 erwägt dagegen: «da diese [die ‹Erstausgabe› der Bücher I-V] aber mit dem lat. Vorbericht bzw. seiner Übersetzung eine eigene Einführung besitzt, ist es nicht auszuschließen, daß Prologteil I erst für die folgende ›Edition‹ kompiliert wurde.» Dieser Einwand trägt insofern nicht, als die Übersetzung des lateinischen Vorberichts zum ›Fließenden Licht‹ mit Sicherheit späteren Ursprungs ist, was höchstwahrscheinlich auch für den lateinischen Vorbericht selbst gilt. S. dazu im Einzelnen S. 143ff. oben und die vorangehende Fussnote. 673 Dafür, dass die ersten drei Bücher ursprünglich eine separate Werkeinheit bildeten, konnten bislang keine Belege genannt werden. Ein Indiz stellt möglicherweise das letzte <?page no="264"?> gramm 2] oder im fünften [= E/ E 1 , Diagramm 2]) aufgegriffen wird. Die Erklärung scheint mir darin zu liegen, dass es «Teilpublikationen» (V ollmann - P rofe ) des ›Fließenden Lichts‹ vor Buch V eigentlich gar nicht gab. Dass einzelne «Aggregatzustände» (C hrista O rtmann ) des schriftlich fixierten Werkes existierten, will ich damit freilich nicht ausschließen, doch scheint mir vom textgeschichtlichen Befund her angemessener, von (unveröffentlichten) «Arbeitsabschnitten» (N eumann ) als von «Teilpublikationen» zu sprechen. 674 Durchaus denkbar ist allerdings, dass es Reinschriften von den einzelnen Arbeitsabschnitten gab. Die erste textgeschichtlich greifbare Veröffentlichungseinheit des ›Fließenden Lichts‹ stellt demnach das Corpus der Bücher I-V dar. Sie soll, wie oben angedeutet, eine «von M. schon ergänzte und von ihrem Beichtiger geprüfte (V.12), in Bücher und Kapitel eingeteilte, mit Kapitelüberschriften versehene und in Reinschrift übertragene Fassung (II.26)» 675 gewesen sein. Dazu ist Folgendes anzumerken: Ob der Erstausgabe der Bücher I-V eine von Mechthild selbst vorgenommene Abschrift und Redaktion ihrer eigenhändigen Aufzeichnungen (= E 1 , Diagramm 2) voranging, lässt sich, wie in Kap. II.2.2 (S. 180f.) gezeigt, mit den von N eumann angeführten Argumenten nicht plausibel nachweisen. Man wird jedoch mit gutem Recht annehmen dürfen, dass das Corpus der Bücher I-V die von N eumann genannten Buchcharakteristika 254 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ Kapitel dar. S tierling (1907), S. 105 macht darauf aufmerksam, dass FL III.24 aus drei Abschnitten besteht, die in keinem organischen Zusammenhang miteinander stehen: Abschnitt 1: 220,16-222,9 (III.24,2-21, innerhalb dieser Einheit stellen die Zeilen 220, 30-222,2 [III.24,13-16] laut S tierling ebd. einen Einschub nach dem Stichwortprinzip dar); Abschnitt 2: 222,10-17 (III.24,22-28) und Abschnitt 3: 222,18-24 (III.24,29-33). In der ›Lux divinitatis‹ wird das Kapitel folgendermaßen aufgeteilt: LD IV.33/ Rev. Bd. II.2, S. 565f. (LG IV.31) entspricht Abschnitt 1, LD IV.34/ Rev. Bd. II.2, S. 566f. (LG IV.32) bilden die Abschnitte 2 und 3. Auf das gleiche Phänomen stößen wir am Ende des vierten und des siebten Buches: IV.28: 213,3-5 (IV.28,3-5) und 312,6-10 (IV.28,5-8) haben inhaltlich nichts miteinander zu tun (V ollmann- P rofe 2003, S. 789, Anm. zu 312,1-10 charakterisiert ihr Verhältnis zueinander als «schwierig»). Aus drei selbständigen Teilen besteht T illmann (1933), S. 14 zufolge FL VII.65: Abschnitt 1: 662,28-664,11 (VII.65,2-12), Abschnitt 2: 664,12-26 (VII.65,13-24) und Abschnitt 3: 664,27-31 (VII.65,25-28). Es stellt sich die Frage, ob es sich bei all diesen Schlusskapiteln um loses Textmaterial handelt, das in das jeweils vorangehende Buch nicht eingearbeitet werden konnte, sondern einfach abgeschrieben und zumindest formal zu einem Kapitel geformt wurde. 674 Hier sei daran erinnert, dass die These, die einzelnen Bücher des ›Fließenden Lichts‹ wären in Teilpublikationen bekannt geworden, für V ollmann- P rofe (1994) deshalb von Bedeutung ist, weil sie das Schreiben als eine lebensbegleitende Tätigkeit und den Text, als das «Dokument eines personalen Entwicklungs- und Reifungsprozesses» verstanden wissen will (vgl. und S. 25f. und 100f. oben). Gegen diese These ist zu betonen, dass es sich nicht feststellen lässt, ob die ersten fünf Bücher über mehrere Jahre hinweg entstanden und in der ursprünglichen chronologischen Reihenfolge erhalten geblieben sind. Vgl. Kap. II.1.3. 675 N eumann (1987a), Sp. 262. <?page no="265"?> aufwies, lässt doch der Index rerum auf das Vorliegen einer entsprechenden Buchstruktur schließen. 676 Offenbleiben muss dabei, wer für die buchmäßige Aufmachung dieser überhaupt ersten Publikationseinheit verantwortlich war. N eumann denkt, wie gesagt, an Heinrich von Halle (s. oben Anm. 657 mit Text), den er als Mechthilds «Beichtiger» (s. oben Anm. 675 mit Text) identifiziert. Warum er dies tut, liegt in der Annahme begründet, Heinrich hätte nicht nur die Ausgabe der Bücher I-VI, sondern auch die der Bücher I-V besorgt, wozu sich N eumann durch den lateinischen Prolog zum ›Fließenden Licht‹ veranlasst sieht, worin der nachfolgende liber als conscriptus a quodam fratre predicti ordinis [predicatorum] angekündigt wird. 677 Was bei N eumann überrascht, ist die Selbstverständlichkeit, mit der der anonym bleibende Bruder mit Heinrich von Halle und Heinrich von Halle selbst mit Mechthilds Beichtvater gleichgesetzt wird. 678 Das resultiert aus einer Bestrebung seitens von N eumann , die disparaten textinternen Angaben zur Entstehung des Buches zu einer langjährigen Zusammenarbeit zwischen Mechthild und Heinrich zu verdichten. 679 Dies findet seinen Ausdruck nicht nur in der Identifizierung des quodam frater des Prologs mit jenem frater heinricus dictus de hallis, der in LD II.40 (Rev. Bd. II.2, S. 517) genannt wird, sondern auch in der Personalisierung des Beichtvaters des Schreibbefehls in FL IV.2 zu Heinrich von Halle, und zwar im Vorgriff auf FL V.12, die Übersetzungsvorlage von LD II.40. 680 Dieser letzte Kurzschluss verwundert insofern, als einige Seiten später von N eumann selbst zu vernehmen ist: «Ob unter dem Beichtvater, von dem die Begine nach zwanzig Jahren visionärer Begnadung und harter Askese den geistlichen Consens zur Niederschrift ihrer Gesichte erhielt, wirklich Heinrich von Halle zu verstehen ist - wie allgemein angenommen wird -, steht keineswegs sicher.» 681 Dem ist nur zuzustimmen, vor allem wenn man auch den literarisch-programmatischen Gestus (Topos des Schreibbefehls) 682 berücksichtigt, der hier artikuliert wird. Mit anderen Worten: Die bihter-Episode in FL IV.2 lässt eine kontinuierliche Beziehung zwischen Mechthild und Heinrich im Sinne eines Seelsorgeverhältnisses nicht erkennen. Ja, man könnte sogar so weit gehen, zu behaupten, der Beichtvater sei «hier nicht mehr als eine schematische Rollenfigur, die keine kulturhistorische Kommentierung des Schreibbefehls im Sinne eines literarischen Zusammenwirkens von Mechthild mit ihrem Seelsorger erlaubt.» 683 An der Existenz eines Herausgebers (und wohl auch Von der Schrift zum Buch 255 676 S. dazu die Nachweise bei B ecker (1951), S. 138-145. 677 Vgl. N eumann (1954b), S. 65. 678 Ähnliches findet man bei L eppin (2007), S. 544. 679 S. dazu die berechtigte, aber in manchen Punkten überzogene Kritik von P eters (1988a), S. 116-122. 680 Vgl. N eumann (1954b), S. 39. Ähnlich V ozáry (1937), S. 9, K rebs (1943), Sp. 323, F inne gan (1991), S. 17 und T obin (1995), S. 3. 681 N eumann (1954b), S. 69. Ähnlich P eters (1988a), S. 121f. 682 S. dazu R ingler (1980), S. 175-177. 683 P eters (1988a), S. 118. <?page no="266"?> eines Beichtvaters), der dem Dominikanerorden angehörte, sollte man trotzdem nicht zweifeln, 684 da sich in dem der ersten Teilveröffentlichung vorangestellten Index rerum ein dominikanisches Interesse am Inhalt des Buches dokumentiert. 685 Freilich lässt sich die Frage, ob der Herausgeber mit dem Beichtvater identisch ist und wer dieser Beichtvater überhaupt war, nicht beantworten. Entscheidend ist aber etwas anderes. Der Dominikanerorden hatte allem Anschein nach am Bekanntwerden des ›Fließenden Lichts‹ ein besonderes Interesse, das auch beim Erscheinen der Zweitausgabe vorhanden war. Dieses Interesse hält an, denn sowohl die Übertragung des volkssprachlichen Textes ins Lateinische als auch die Überlieferung beider Textversionen fand, wie wir in Kap. II.2.4 gesehen haben, im Kontext des Dominikanerordens statt. Will man die im vorangehenden Abschnitt geäußerte Kritik an dem von N eumann entworfenen und von V ollmann -P rofe ergänzten Modell der Genese des ›Fließenden Lichts‹ ins Visuelle übertragen, so ließe sich das im Diagramm 2 gezeichnete entstehungsgeschichtliche Schema wie folgt präzisieren: Die nächste Veröffentlichungseinheit des ›Fließenden Lichts‹, die diesmal auch textgeschichtlich greifbar ist, bilden die Bücher I-VI (= F 1 , Diagramm 3). Es handelt sich, so N eumann , um eine von Mechthild um ein zusätzliches Buch vermehrte (= F, Diagramm 3) und von Heinrich mit Kapitelüberschriften versehene bzw. in Reinschrift übertragene ‹Neuauflage› des Corpus der Bücher I-V. Diese ‹Neuauflage› soll eine Bearbeitung (= F 2 , Diagramm 3) erfahren haben, wobei Bearbeitung in diesem Fall nicht die redigierende Durchsicht Heinrichs, sondern diejenige von Mechthild meint und einen Zuwachs 256 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ [A (I) A 1 B (I-II) B 1 … ]E (I-V) E 2 F (I-VI) F 1 F 2 G (I-VII) G 1 LD Diagramm 3 684 Und dies selbst dann nicht, wenn man in den Angaben der ›Lux divinitatis‹ über den Anteil Heinrichs von Halle an der Genese des volkssprachlichen Textes mit P eters (1988a), S. 121 nur «hagiographische Versuche einer detailrealistischen lebensweltlich-biographischen Konkretisierung mehr oder weniger persönlich gehaltener historisch-biographischer Anspielungen des deutschen Textes» sieht, Versuche, die womöglich darauf abzielen, den Text bzw. Mechthild für ordenspolitische Zwecke zu vereinnahmen. Zu denken wäre etwa an die Präsentation des Dominikanerordens als einen Orden, der um die schriftliche Fixierung von göttlichen Gnadenerweisen, die Frauen zuteil wurden, besonders bemüht ist. Dieser Aspekt kommt im lateinisch-deutschen Prolog unzweideutig zum Ausdruck (s. dazu weiter unten). 685 So werden unter der Rubrik De prerogativa quorundam sanctorum zwei Kapitel indiziert, die von Dominikus handeln. Auch wird auf FL IV.27 hingewiesen mit dem Vermerk, das Kapitel handle de predicatoribus in fine mundi tempore Antichristi (die Jüngsten Brüder selbst tragen dominikanische Züge). S. dazu auch L eppin (2007), S. 547-553. <?page no="267"?> an authentischem Material aus der Feder Mechthilds bedeutet. Ausfindig gemacht wird dieses neu hinzugekommene Material durch einen Vergleich mit der lateinischen Übersetzung (= LD, Diagramm 3), der ja die ‹Neuauflage› des ›Fließenden Lichts‹, die den ursprünglichen Wortlaut «kaum» (s. oben Anm. 651 mit Text) verändernde «Redaktion Heinrichs von Halle» (s. oben Anm. 654 mit Text), zugrunde gelegen haben soll. Als gesichert darf gelten, dass der deutsche und der lateinische Überlieferungszweig auf eine gemeinsame Vorstufe zurückgehen, die nicht ein Autograph-Original, sondern eine fremdverantwortete Abschrift war. N eumann rekurrierte noch auf LD II.40 (Rev. Bd. II.2, S. 517), um diese Vorlage als ein in sechs Bücher eingeteiltes, in Kapitel untergliedertes und mit Kapitelüberschriften versehenes Exemplar zu erweisen. Auch ohne die Berufung auf diese umstrittene Stelle (vgl. S. 99ff. oben) wird man N eumann zustimmen müssen. So legen die nur in einer Handschrift des deutschen Überlieferungszweiges (E) erhalten gebliebenen Querverweise, die die Kapitelfolge in der lateinischen Übersetzung nachweislich beeinflussten (s. dazu Kap. II.1.2), davon Zeugnis ab, dass schon die Vorlage der ›Lux divinitatis‹ eine mit E weitgehend identische Buch- und Kapitelfolge aufwies. Doch nicht nur die Einteilung in Bücher und Kapitel sowie die Querverweise, sondern auch die Kapitelüberschriften müssen schon in dieser Vorlage vorgelegen haben. N eumann selbst macht im Untersuchungsband folgende Beobachtung: «Reflexe der dt. Kapitelüberschriften lassen sich - auch wenn die Umgruppierung des Stoffes und die Modifikation des Inhalts gewöhnlich zu einer Neufassung der Überschrift führten - bisweilen noch in ihrer Übersetzung erkennen.» 686 Darüber hinaus weist N eumann mit Berufung auf P aul -G erhard V ölker darauf hin, «daß ein Teil der erhaltenen Marginalien bereits in der Vorlage der lat. Übersetzung gestanden haben muß.» 687 Auch an der Richtigkeit dieser Beobachtung wird man wohl nicht zweifeln dürfen. Eine gegenteilige Position vertritt E rnst B ecker , der behauptet, die Glossierung des lateinischen Textes sei ein «Spezificum der Hs. B [= Rb].» 688 Anders als die Randbemerkungen in E, die «ganz offenbar aus der Vorlage übernommen» (S. 24) sind, können die Glossen in Rb, so B ecker , nicht älteren Ursprungs, sondern erst zu einer Zeit entstanden sein, «als die alemannische Umschrift durch Heinrich von Nördlingen und seinen Freundeskreis erfolgte» (S. 23). Er begründet dies folgendermaßen: Mehrere Nachträge beweisen, «dass sie aus der Kenntnis der deutschen, heute vollständig nur noch von E repräsentierten Fassung des Fliessenden Lichtes stammen» (ebd.). Daher datiert B ecker die Glossierung in die vierziger Jahre des 14. Jahrhunderts, in eine Zeit also, als die Übertragung des ›Fließenden Lichts‹ ins Alemannische stattfand, und meint, die Glossen seien «durchweg von einer etwas jüngeren Hand» (S. 7) geschrieben (die Handschrift selbst wird ziemlich genau auf 1310 gesetzt 689 ). B ecker ist der Ansicht, Von der Schrift zum Buch 257 686 N eumann (1993), S. 201. Ergänzend dazu B ecker (1951), S. 44f. 687 N eumann (1993), S. 207. 688 B ecker (1951), S. 22f. 689 Auch O ehl (1911), S. 19 datiert die Handschrift auf den Anfang des 14. Jahrhunderts. <?page no="268"?> Heinrich von Nördlingen könnte der Glossator gewesen sein, «denn dass er die lateinische Version offenbar doch gekannt hat, geht aus einer Bemerkung in seinem Briefwechsel hervor: ›Send mir auch lucem divinitatis› (Strauch, Brief 248)» (S. 24). Auch was die Randbemerkungen in E betrifft, ist B ecker der Ansicht, dass es nicht mehr sicher auszumachen sei, ob sie «schon aus der Vorlage Heinrichs übernommen sind, also noch in die nd/ md Ueberlieferung reichen.» Für die Glossen in E gilt dasselbe, was für die Randvermerke in Rb konstatiert wurde: «Ich glaube aber, dass weitaus die meisten in beiden Versionen das Resultat der intensiven Beschäftigung der Basler Gottesfreunde mit dem Werke Mechthilds sind» (ebd.). Zunächst sei darauf hingewiesen, dass die von B ecker gemachte Beobachtung, das den deutschen Text begleitende Glossenwerk könne nicht erst in E eingeführt worden sein, sondern müsse um einige Textstufen zurückliegen, unzweifelhaft richtig ist. Dafür spricht eine nicht unbeträchtliche Zahl von Marginalien, die E und Rb gemeinsam sind und die zuweilen auch in den Exzerpthandschriften des deutschen Überlieferungszweigs auftauchen. 690 Gelegentlich kommt auch vor, dass gerade die deutsche Exzerptüberlieferung es ist, die eine mit Rb gemeinsame Glosse bietet, während E eine Entsprechung fehlt. 691 Bezeugt ist auch der Fall, dass es unterschiedliche Glossen in der deutschen und lateinischen Überlieferung gibt, die sich jedoch auf die gleiche Textstelle beziehen. 692 Und schließlich gibt es eine Anzahl von Marginalien, die nur in Rb enthal- 258 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 690 Vgl. V ölker (1967), S. 53-57 und N eumann (1993), S. 209-232 mit Anmerkungen. Ergänzend kommen hinzu: id est demonibus (Rb fol. 61 ra , zu LD II.4,17/ Rev. Bd. II.2, S. 483,23): Das ist den túfeln (E fol. 76 v , zu FL V.1: 318,29f. [V.1,24]) - Nota sola propria voluntas alligat dyabolo et soluit (Rb fol. 69 ra , zu LD III.8,9f./ Rev. Bd. II.2, S. 526,17f.): Nota bene de arbitrio proprio (Rw Bl. 94, zu LG III.8,15f.): M v twille ist b o se und schadet úns (E fol. 109 v , zu FL VI.7: 444,13 [VI.7,10f.]) - Commendatur anima de tribus (Rb fol. 78 rb , zu LD IV.46,4f./ Rev. Bd. II.2, S. 575,6f.): Dú sele ist drivaltig (E fol. 23 v , zu FL II.19: 104,7 [II.19,5f.]): die sele ist driveltig (C fol. 137 r ) - Armatura anime 1 (Rb fol. 78 rb , zu LD IV.46,6/ Rev. Bd. II.2, S. 575,8f.): Das erste das si in dem stritte si menlich wider drier hande viende (E fol. 23 v , zu FL II.19: 104,11 [II.19,8f.]), dz erste dz si in dem stritte menlich wider driier hande viende (C fol. 137 v ) - -2- (Rb fol. 78 rb , zu LD IV.46,12/ Rev. Bd. II.2, S. 575,18f.): Notlich das ander glicheti einer gezierten jungfr p wen (E fol. 23 v , zu FL II.19: 104,22f. [II.19,17f.]), n o tlich dz ander glicheit si einer gezierten jvncfr p wen (C fol. 137 v ) - Item 7 natura (Rb fol. 82 va , zu LD V.9,12/ Rev. Bd. II.2, S. 596,28): Merke sibene (E fol. 94 r , zu FL V.25: 384,12 [V.25,10]). Hinzuweisen wäre auch auf so wirt si z v der súle geslagen (R, zu FL III.10: 182,28 [III.10,17], dazu S. 170f. oben). 691 Vgl. Nota (Rb fol. 78 va , zu LD IV.47,18/ Rev. Bd. II.2, S. 576,16): blinde lúte dvncket dz lieht ein túsche (C fol. 138 r , zu FL II.19: 106,14 [II.19,40f.]) - Responsio anime (Rb fol. 78 va , zu LD IV.48,3/ Rev. Bd. II.2, S. 576,20): die sele (C fol. 138 r , zu FL II.19: 106,18 [II.19,44f.]) - Nota de triplici celo (Rb fol. 78 va , zu LD IV.48,4/ Rev. Bd. II.2, S. 576,22), s. dazu S. 242, Anm. 619. Hinzuweisen wäre auch auf daz ist luters lebennes begert si (R 22f., zu FL III.10: 184,12f. [III.10,30f.], dazu S. 169f. oben). 692 Vgl. venenum est peccatum (Rb fol. 55 va , zu LD I.8,10f./ Rev. Bd. II.2, S. 452,28f.): Ade spise gab im den schaden iiii [libro] xxvii f (= FL IV.27: 308,9f. [IV.27,133f.]) (E fol. 41 r , zu FL III.9: 178,14f. [III.9,58f.]) - Modus orandi virginum (Rb fol. 56 ra , zu LD I.12,2f./ Rev. Bd. II.2, S. 456,10): Alsus sol man betten (E fol. 88 r , zu FL V.23: 362,7 [V.23,4]) - Nota gloriosum fructum [B ecker 1951, S. 74 liest irrtümlich factum] penitencia (Rb fol. 61 ra , zu LD II.4,14f./ Rev. Bd. II.2, S. 483,19): Rúwe hat gotz schin der ist offen in drien stetten (E fol. 76 v , zu FL V.1: 318,23f. [V.1,19f.]) - Oracio preparatoria ad attentam <?page no="269"?> ten sind, in den uns bekannten Handschriften des deutschen Überlieferungszweiges dagegen ausgefallen sein dürften, denn «[d]ie Art dieser Randzusätze unterscheidet sich nicht von denen, die E allein oder mit C oder B zusammen überliefert.» 693 Dies alles spricht dafür, dass die Marginalien in Rb, sollten sie, wie von B ecker vermutet, tatsächlich der Kenntnis der deutschen Überlieferung zu verdanken sein, trotz der bemerkenswerten zeitlichen und räumlichen Nähe von Rb zu E (die Handschrift dürfte S chneider 2009, Bd. 2, S. 150 zufolge «kaum sehr lang nach der Jahrhundertmitte geschrieben» worden sein) unmöglich E selbst entnommen sein können. Diese Beobachtung findet ihre Bestätigung auch darin, dass der deutsche Text, mit dem Rb in Basel im dritten Viertel des 14. Jahrhunderts verglichen wurde, nachweislich eine andere, stellenweise bessere Handschrift des ›Fließenden Lichts‹ war als E (s. dazu S. 104, Anm. 27 und S. 242, Anm. 619). Es muss also eine weitere Handschrift des deutschen Textes gegeben haben, die die in Rb und der sonstigen Parallelüberlieferung enthaltenen kommentierenden Randbemerkungen enthielt. Diente aber diese auch als Vorlage für die in Rb enthaltenen Glossen? Gegen die These von B ecker , das Glossensystem stelle ein Spezifikum von Rb dar, ließe sich ins Feld führen - und das wurde bislang übersehen -, dass auch die Hand- Von der Schrift zum Buch 259 oracionem (Rb fol. 81 va , zu LD V.4,28f./ Rev. Bd. II.2, S. 592,6): Wie si sont arbeiten (E fol. 83 v , zu FL V.11: 342,36 [V.11,34]). 693 V ölker (1967), S. 56. V ölker führt einige Beispiele an, die jedoch nicht immer zutreffend sind. Ergänzend dazu nenne ich folgende Belege: S u m m a t i o n e n (Item 4 or , Rb fol. 60 vb , zu LD II.2,10/ Rev. Bd. II.2, S. 481,19, bezieht sich auf FL II.22: 114,10f. [II.22,14f.] - Nota 4 or in quibus excellent, Rb fol. 69 rb , zu LD III.11,2/ Rev. Bd. II.2, S. 529,3, bezieht sich auf FL IV.27: 298,25f. [IV.27,9f.] - De 7 ci amore, Rb fol. 76 va , zu LD IV.33,16f./ Rev. Bd. II.2, S. 566,24, bezieht sich auf FL III.24: 220,30f. [III.24,13f.]); K o n k o r d a n z e n (videbam sathanam quasi fulgor de celo cadentem [Lc 10,18], Rb fol. 65 rb , zu LD II.28,23f./ Rev. Bd. II.2, S. 505,29, bezieht sich auf FL III.1: 150,4f. [III.1,60f.] - Col. 1 [recte: 3,14] Super omnia charitatem habentes quod est vinculum perfectionis Glossa Charitas omnis ligat ne abeant, Rb fol. 75 vb , zu LD IV.27,19f./ Rev. Bd. II.2, S. 563,2, bezieht sich auf FL IV.19: 284,3f. [IV.19,2f.] - Vide Cor. 13c Major autem horum est caritas [I Cor 13,13], Rb fol. 75 vb , zu LD IV.28,9f./ Rev. Bd. II.2, S. 563,12, bezieht sich auf FL IV.19: 284,13 [IV.19,11f.] - Psalmi ego sum vermis et non homo [Ps 21,7] ++ R[g] ++ Ipse quasi tenerrimus ligni vermiculus [II Sm 23,8], Rb fol. 80 vb , zu LD V.1,9f./ Rev. Bd. II.2, S. 587,14f., bezieht sich auf FL IV.18 - Sapientiae + 5 + Hij sunt quos aliquando habuimus in derisu etcetera [Sap 5,3], Rb fol. 81 rb , zu LD V.3,17f./ Rev. Bd. II.2, S. 590,5f., bezieht sich auf FL IV.18: 282,4f. [IV.18,82f.]) und I n h a l t s a n g a b e n (omnes sunt amministratorij spiritus, Rb fol. 56 ra , zu LD I.11,23f./ Rev. Bd. II.2, S. 456,3f., bezieht sich auf FL IV.14: 270,1f. [IV.14,44f.] - sponsus ostendit in se amabilia sponse, Rb fol. 58 va , zu LD I.23,6f./ Rev. Bd. II.2, S. 468,36, bezieht sich auf FL I.29: 48,26 [I.29,2] - Nota de regno celorum quare sic nominatur, Rb fol. 65 rb , zu LD II.28,9f./ Rev. Bd. II.2, S. 505,8f., bezieht sich auf FL III.1: 148,22 [III.1,44f.] - Nota de gloria predicatorum, Rb fol. 65 va , zu LD II.29,22f./ Rev. Bd. II.2, S. 506,28, bezieht sich auf FL III.1: 150,36f. [III.1,83f.] - Pulchre disceptacio excitantis et excusantis, Rb fol. 71 ra , zu LD IV.1/ Rev. Bd. II.2, S. 539, bezieht sich auf FL II.23: 114,22 [II.23,1] - Copiose describit anima dilectum suum, Rb fol. 72 rb , zu LD IV.9/ Rev. Bd. II.2, S. 547, bezieht sich auf FL I.13: 34,14 [I.13,1] - Nota ornatum sponse, Rb fol. 73 ra , zu LD IV.13,7/ Rev. Bd. II.2, S. 550,5f., bezieht sich auf FL I.44: 58,22f. [I.44,18f.] - Laus quadruplex, Rb fol. 80 rb , zu LD IV. 58,18/ Rev. Bd. II.2, S. 585,30f., bezieht sich auf FL VI.34: 500,27f. [VI.34,2f.]). <?page no="270"?> schrift der alemannischen Rückübersetzung, die auf ein anderes Exemplar der ›Lux divinitatis‹ zurückgeht als Rb bzw. die Vorlage von Rb, Reflexe einer in ihrer lateinischen Übersetzungsvorlage noch vorhandenen Glossierung aufweist. Von besonderem Interesse sind einige Nota-Hinweise und Zeigehände zu Textstellen, die auch in Rb markiert sind, sei es durch Tintenstriche oder durch Nota-Vermerke, vgl. LG I.4,17f. (Maniculus): LD I.4,12/ Rev. Bd. II.2, S. 450,11f. (Tintenstrich) - LG I.7,14 (Nota): LD I.7,8f./ Rev. Bd. II.2, S. 452,8f. (Tintenstrich) - LG III.1,46 (Maniculus): LD III.1,35/ Rev. Bd. II.2, S. 520,31f. (Notabile) - LG III.8,15f. (Nota bene de arbitrio proprio): LD III. 8,10/ Rev. Bd. II.2, S. 526,17f. (Nota sola propria voluntas alligat dyabolo et soluit) - LG IV.29,31 (Maniculus): LD IV.31,14/ Rev. Bd. II.2, S. 565,8f. (Nota) - LG IV.43,18 (Maniculus): LD IV.52,11/ Rev. Bd. II.2, S. 580,15f. (Nota) - LG VI.18,16 (Maniculus): LD VI. 18,10/ Rev. Bd. II.2, S. 638,4f. (Nota). Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang auch auf die Sprecherangabe Spricht die erkantnus, die in Rw im Text (LG IV.40,36), in Rb dagegen als cognicio am Rande steht (LD IV.47,10f./ Rev. Bd. II.2, S. 576,4). 694 Sie dürfte aus der lateinischen Vorlage der alemannischen Rückübersetzung in den Text gezogen worden sein. Diese Vorlage muss, weil nicht mit Rb bzw. der Vorlage von Rb identisch, einer älteren Überlieferungsstufe der ›Lux divinitatis‹ angehört haben. Ob diese Vorstufe die gemeinsame Vorlage für *Rw und *Rb war, bleibt offen. Auf jeden Fall zeigen die hier angeführten Belege, dass die These von B ecker , die Glossen seien ein «Spezificum der Hs. B [= Rb]», unhaltbar ist. Gegen B ecker muss zudem betont werden, dass die Handschrift Rb nicht 1310, sondern erst um bzw. kurz vor 1350 entstanden ist (s. S. 190, Anm. 380). Auch gehen die Glossen in Rb nicht, wie von B ecker behauptet, auf eine einzige, sondern auf mehrere Hände zurück, ohne dass zwischen den einzelnen Händen immer und überall mit Sicherheit unterschieden werden könnte. Zudem datieren sie deutlich später als von B ecker angenommen, und zwar auf das dritte Viertel des 14. Jahrhunderts (s. S. 221, Anm. 516). Ob sie von Heinrich von Nördlingen bzw. seinem ‹Gottesfreundekreis› stammen, wird man daher wohl nicht behaupten können. Tatsache ist jedoch - und in diesem Punkt muss man B ecker recht geben -, dass die Glossen in Rb nicht zum Grundbestand der Handschrift gehören, sondern Nachträge sind. Es scheint, als wären sie nachgetragen worden, als der Vergleich des lateinischen Textes mit einer Handschrift des ›Fließenden Lichts‹ erfolgte (s. dazu S. 362ff. weiter unten). Allerdings wurde die Abschrift der ›Lux divinitatis‹ in Rb aus diesem Anlass - auch das wurde bislang nicht registriert - nicht nur mit dem deutschen Text, sondern auch mit jenem Exemplar der ›Lux divinitatis‹ (der ursprünglichen Vorlage von Rb? ) rückverglichen, aus dem meiner Ansicht nach auch der Großteil der kommentierenden Randbemerkungen stammt. Für den hier postulierten doppelten Rückvergleich mit je einer Handschrift des deutschen und des lateinischen Textes sprechen zum einen die Ergänzungen, die die lateinische Übersetzung an den Wortlaut des als original verstandenen deutschen Textes annähern wollen (mehr dazu auf S. 362ff. weiter unten), zum anderen eine Reihe von Marginalien, die Abschreibefehler von Rb korrigieren. Diese sind von jenen marginalen oder interlinearen Korrekturen abzuheben, die auf den Schreiber von Rb selbst zurückgehen und gleich 260 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 694 In der gleichen Position (als Anmerkung zu FL II.19: 106,3 [II.19,31]) taucht die Sprecherangabe die bekantnisse auch in der deutschen Überlieferung auf, und zwar einmal am Rande von E fol. 24 r und das andere Mal in den Text integriert, doch mit Rubrum hervorgehoben in C fol. 138 r (s. Textabdruck S. 456f. weiter unten). <?page no="271"?> nach bzw. während der Abschrift vorgenommen wurden. Dass die erst im dritten Viertel des 14. Jahrhunderts in Rb eingetragenen Korrekturen zum ursprünglichen Bestand der ›Lux divinitatis‹ gehören und auf den Rückvergleich mit einer lateinischen Handschrift der ›Lux divinitatis‹ zurückgehen, erkennt man daran, dass das, was in Rb zur Korrektur von Abschreibefehlern am Rand nachgetragen wurde, in Rw, einem von Rb unabhängigen Textzeugen der lateinischen Übersetzung, im Text selbst steht. 695 Bei Von der Schrift zum Buch 261 695 Dass die folgenden Randeinträge nicht durch einen Vergleich mit dem ›Fließenden Licht‹ auf einer früheren, vor Rb liegenden Textstufe entstanden sind, erkennt man daran, dass es gelegentlich Ergänzungen in Rb gibt, die ohne Entsprechung im deutschen Text sind, daher ihm nicht entnommen werden konnten, vgl. prophete (Rb fol. 56 vb ) zu LD I.14,15/ Rev. Bd. II.2, S. 459,37: in Rw im Text, vgl. LG I.14,22 (= FL V.23: 368,16 [V.23,86]: die propheten) - cuius (Rb fol. 60 vb ) zu LD II.3,5/ Rev. Bd. II.2, S. 482,20: in Rw im Text, vgl. LG II.3,6 (Entsprechung fehlt FL VI.41! ) - necessitati (Rb fol. 62 va ) zu LD II.11,7/ Rev. Bd. II.2, S. 491,3: in Rw im Text, vgl. LG II.11,9 (Entsprechung fehlt FL IV.20! ) - (sacras) scripturas (Rb fol. 65 rb ) zu LD II.28,3/ Rev. Bd. II.2, S. 505,1: in Rw im Text, vgl. LG II.25,5 (Entsprechung fehlt FL III.1! ) - quam sanguinem fundere (Rb fol. 68 ra ) zu LD III.3,12/ Rev. Bd. II.2, S. 522,10f.: in Rw im Text, vgl. LG III.3,17 (= FL III.8: 174,8 [III.8,11]: bl v t giessen) - posset (Rb fol. 70 va ) zu LD III.14,45/ Rev. Bd. II.2, S. 534,31 (possit): in Rw im Text, vgl. LG III.14,69 (= FL VI.15: 464,16 [VI.15,53]: m o hte) - doctrinam (Rb fol. 70 vb ) zu LD III.15,9/ Rev. Bd. II.2, S. 535,16: in Rw im Text, vgl. LG III.15,12: nach meiner vorordenung (= FL VI.15: 466,6 [VI.15,75]: lere) - martir (Rb fol. 71 vb ) zu LD IV.5,11/ Rev. Bd. II.2, S. 544,3: in Rw im Text, vgl. LG IV.4,17 (= FL II.25: 130,10 [II.25,60]: marterer) - honorem tibi (Rb fol. 72 vb ) zu LD IV.11,2/ Rev. Bd. II.2, S. 548,22: in Rw im Text, vgl. LG IV.10,3 (= FL I.36: 54,6 [I.36,3]: solt du geheret werden) - quod … nullum poterit inter(venire) (Rb fol. 73 rb ) zu LD IV.13,49f./ Rev. Bd. II.2, S. 551,34: in Rw im Text, vgl. LG IV.12,77 (= FL I.44: 64,10 [I.44,83]: und nihtes nit mag sin) - homini (Rb fol. 75 vb ) zu LD IV.28,2/ Rev. Bd. II.2, S. 563,2: in Rw im Text, vgl. LG IV.27,4 (Entsprechung fehlt FL IV.19! ) - sint (mit Einweisungszeichen für sunt, Rb fol. 76 vb ) zu LD IV.36,4/ Rev. Bd. II.2, S. 568,20: in Rw im Text, vgl. LG IV.34,6 (= FL V.4: 328,13 [V.4,44]: [das si minnesam] sin) - uindictam non [expecto] (uinkorrigiert aus non, Rb fol. 78 ra ) zu LD IV.45,32/ Rev. Bd. II.2, S. 574,26f.: in Rw im Text, vgl. LG IV.39,77 erforsch ich nit rach (= FL III.3: 164,21f. [III.3,34]: leit … nit wreken) - et (Rb fol. 78 va ) zu LD IV.48,6/ Rev. Bd. II.2, S. 576,26: in Rw im Text, vgl. LG IV.40,58 (= FL II.19: 106,23f. [II.19,49]: und) - (simil)es es (similes korrigiert aus similis, Rb fol. 80 vb ) zu LD V.1,6/ Rev. Bd. II.2, S. 587,10 (similis es): in Rw im Text, vgl. LG V.1,10 (= FL IV.18: 276,15 [IV.18,8]: bist gelich) - animal (Rb fol. 81 ra ) zu LD V.3,7/ Rev. Bd. II.2, S. 589,31: in Rw im Text, vgl. LG V.2,53 (= FL IV.18: 280,30 [IV.18,73]: tier) - (fide)lem (Rb fol. 81 rb ) zu LD V.3,16/ Rev. Bd. II.2, S. 590,5: in Rw im Text, vgl. LG V.2,65 (= FL IV.18: 282,5 [IV.18,83]: getrúwelich) - amaritudine (Rb fol. 82 va ) zu LD V.9,7/ Rev. Bd. II.2, S. 596,21: in Rw im Text, vgl. LG V.7,10 (= FL V.25: 384,9 [V.25,8]: bitterkeit) - est (Rb fol. 82 va ) zu LD V.9,12/ Rev. Bd. II.2, S. 596,29: in Rw im Text, vgl. LG V.7,20 (= FL V.25: 384,24 [V.25,19]: ist) - perseuera (Rb fol. 85 ra ) zu LD V.24,2/ Rev. Bd. II.2, S. 609,28 (Entsprechung fehlt LG V.19 und FL IV.1! ) - (non) plus (Rb fol. 85 ra ) zu LD V.25,12/ Rev. Bd. II.2, S. 610,21: in Rw im Text, vgl. LG V.20,8 (= FL III.15: 194,11 [III.15,16]: nit mer) - (elonga)nt ut (Rb fol. 86 rb ) zu LD V.36,2/ Rev. Bd. II.2, S. 617,8: in Rw im Text, vgl. LG V.28,3 (= FL V.19: 354,2 [V.19,2]: jagent) - sub (Rb fol. 87 ra ) zu LD VI.3,22/ Rev. Bd. II.2, S. 621,21: in Rw im Text, vgl. LG VI.3,36 (= FL III.21: 210,21 [III.21,61]: under) - tuique spiritus infusione (Rb fol. 89 vb ) zu LD VI.17,22/ Rev. Bd. II.2, S. 634,34: in Rw im Text, vgl. LG VI.17,31 (= FL V.35: 410,5f. <?page no="272"?> den Ergänzungen dagegen, die in Rb vorgenommen wurden, um die lateinische Übersetzung im Rückgriff auf eine Handschrift des ›Fließenden Lichts‹ an den Wortlaut des deutschen Textes anzunähern, fehlt es an einer Entsprechung in Rw. Daher dürften allein diese, nicht jedoch die kommentierenden Randbemerkungen, ein Spezifikum von Rb darstellen (vgl. S. 362ff. weiter unten). Wie alt sind nun aber die kommentierenden Randbemerkungen in Rb? Man wird unter ihnen mit B ecker wohl einige vermuten dürfen, die erst in der Basler Tradition des ›Fließenden Lichts‹ bzw. seiner lateinischen Übersetzung in den Text eingedrungen sind. Auch mit der Möglichkeit, dass Randnotizen aus dem jeweils anderen Überlieferungszweig übernommen wurden, ist zu rechnen, 696 zumal es als erwiesen gilt, dass der deutsche und der lateinische Text in Basel verglichen wurden. Ich bezweifle jedoch, dass daraus geschlossen werden darf, dass die meisten Randvermerke in beiden Versionen des ›Fließenden Lichts‹ «das Resultat der intensiven Beschäftigung der Basler ›Gottesfreunde‹ mit dem Werke Mechthild» seien, wie von B ecker angenommen. Es fällt nämlich auf, dass nur die ersten sechs Bücher mit Randeinträgen aller Art übersät sind, während Marginalien im siebten Buch bis auf einige Ausnahmen gänzlich fehlen. 697 Wäre die Annotierung des ›Fließenden Lichts‹ das Werk der Basler ‹Gottesfreunde›, so wäre eigentlich eine durchgehende, alle sieben Bücher des volkssprachlichen Textes erfassende Glossierung zu erwarten. Das ist aber nicht der Fall. Dies könnte daran liegen, dass die oben aufgezeigten kommentierenden Randbemerkungen ursprünglich im lateinischen Überlieferungszweig beheimatet waren und von hier anlässlich eines Vergleichs der beiden Textversionen, mit dem wir in der Überlieferung des ›Fließenden Lichts‹ immer wieder rechnen müssen, in den deutschen Text übertragen wurden. Dazu könnte auf einer der Zwischenstationen des ›Fließenden Lichts‹ auf dem Weg nach Süden oder in Basel selbst anlässlich der Überführung des mittelniederdeutschen Textes ins Alemannische gekommen sein, keineswegs jedoch auf einer wesentlich späteren Überlieferungsstufe (etwa in *E), denn die Spuren jener kommentierenden Glossierung, das E bzw. *E auszeichnet, finden sich, wenn auch in unterschiedlicher Dichte (s.o.), auch in den restlichen Textzeugen des oberdeutschen Überlieferungszweiges. Es gibt indes auch eine andere, weitaus bessere Erklärung dafür, warum sich die Glossierung nur auf die ersten sechs der insgesamt sieben Bücher des ›Fließenden Lichts‹ erstreckt. Sie dürfte, wie das System der Querverweise, zwischen der ‹Neuauflage› des ›Fließenden Lichts‹ (= F 1 , Diagramm 3) und der Entstehung der lateinischen Übersetzung entstanden sein. 698 Sie reicht also bis zur mittelniederdeutschen Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹ zurück und wird von den lateinischen Übersetzern mit übersetzt worden sein. 262 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ [V.35,32]: umb dines heligen geistes ervúllunge), s. dazu N eumann (1993), S. 108 - in mel vertas (Rb fol. 89 vb ) zu LD VI.17,26/ Rev. Bd. II.2, S. 635,4f.: in Rw im Text, vgl. LG VI.17, 35f. (= FL V.35: 410,10 [V.35,35f.]: ze honig wellist machen), s. dazu B ecker (1951), S. 29 - me (Rb fol. 90 ra ) zu LD VI.17,60/ Rev. Bd. II.2, S. 636,15: in Rw im Text, vgl. LG VI.17, 83 (= FL VI.37: 506,13 [VI.37,16]: mich) - habitacio (Rb fol. 90 vb ) zu LD VI.19,17/ Rev. Bd. II.2, S. 639,20: in Rw im Text, vgl. LG VI.19,27 (= FL VI.6: 442,25 [VI.6,23]: wonunge). 696 S. dazu N eumann (1993), S. 208. In welche Richtung die Entlehnung stattgefunden hat, ist allerdings schwer zu sagen. 697 Vgl. N eumann ebd., S. 232. 698 Vgl. auch V ölker (1967), S. 57. <?page no="273"?> Für eine gemeinsame Vorstufe der deutschen und lateinischen Tradition des ›Fließenden Lichts‹ sprechen außerdem Fehler, die beiden Überlieferungszweigen gemeinsam sind. Die Tatsache, dass es diese gemeinsamen Fehler gibt, ist auch N eumann nicht entgangen. Man fragt sich jedoch, was diese Fehler für die frühe Überlieferungsgeschichte des Textes bedeuten. N eumann ging diese Frage nie systematisch an. Sie muss sich für ihn allerdings gestellt haben, wie den folgenden Ausführungen entnommen werden kann. Auf einige gemeinsame Fehler des deutschen und lateinischen Überlieferungszweigs hat N eumann schon in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts hingewiesen. Dazu kommen Belege, die in der Forschung, im Untersuchungsband zur textkritischen Ausgabe sowie im Kommentarteil der Edition von V ollmann -P rofe genannt werden. Doch muss gleich hier betont werden, dass es bei der Bestimmung dessen, was als fehlerhaft gilt, empfehlenswert ist, eine gewisse Vorsicht walten zu lassen. Dazu mahnt schon die Tatsache, dass jene Korruptelen, die N eumann in seinen frühen Aufsätzen genannt hat, in der kritischen Ausgabe nicht mehr als solche identifiziert werden. 699 Auch jenen Fällen, bei deren Identifizierung als Fehler das Postulat einer auf Formstrenge bedachten Autorin eine Rolle gespielt hat, wird man mit Vorsicht begegnen. 700 Dazu kommen einige Belege, die aus anderen Gründen nicht als gemeinsame Fehler gelten können. 701 Trotz dieser Abstriche bleiben genügend Beispiele übrig, die das Vorliegen einer Reihe von Fehlern, die der deutschen und lateinischen Tradition des ›Fließenden Lichts‹ gemeinsam sind, nahe legen. Es handelt sich um Textausfälle, Textverstümmelungen, Zusätze sowie um gemeinsame Fehllesungen. 702 Zwei von ihnen scheinen mir besonders aussagekräftig zu sein, weshalb sie gesondert genannt werden sollen. Von der Schrift zum Buch 263 699 Vgl. N eumann (1948/ 50), S. 157 und N eumann (1993), S. 14f. zu I.22,13 (s. dazu auch S. 38f. oben) sowie N eumann (1954c), S. 169 und N eumann (1993), S. 108 zu V.35,41f. Auch seine Überlegungen zu FL V.35: 410,26 (V.35,48) ließ N eumann (1990), S. 198 stillschweigend fallen, s. dagegen N eumann (1954c), S. 169f. 700 Vgl. N eumann (1993), S. 134f., Anm. zu VI.32,6 (s. dazu S. 45f. oben) und ebd., S. 10, Anm. zu I.23,4f. (anders V ollmann- P rofe 2003, S. 715, Anm. zu 44,7-9). 701 Ein frühes Verderbnis wird in FL V.5: 332,21 (V.5,23) vermutet, s. B ecker (1951), S. 77, V ölker (1967), S. 51, Anm. 1, N eumann (1993), S. 86 und V ollmann- P rofe (2003), S. 794, Anm. zu 332,21f. Liest man den Satz jedoch im Kontext, so stellt sich heraus, dass die angebliche Korruptele in der deutschen Überlieferung vielleicht gar keine ist, s. dazu N emes (2008b), S. 363f. - Ein «alter Fehler» soll V ollmann- P rofe (2003), S. 756, Anm. zu 178,21-23 zufolge auch in FL III.9: 178,20-23 (III.9,63-66) vorliegen. Doch ist eine solche Annahme nicht zwingend, vgl. S. 169f., Anm. 300. 702 Te x t a u s f a l l in FL I.2: 22,7 (I.2,13, dazu N eumann 1993, S. 5) und FL III.1: 152,38 (III.1,115, dazu N eumann 1993, S. 49) - Te x t v e r s t ü m m e l u n g in FL I.1: 20,22f. (I.1,24, dazu V izkelety / K ornrumpf 1968, S. 291, Anm. 1 und M ichel 1995b, S. 184); FL II.4: 84,7f. (II.4,5f., dazu V ollmann- P rofe 2003, S. 730); FL IV.2: 234,23 (IV.2,92, dazu N eumann 1993, S. 66); FL IV.23: 292,13 (IV.23,3, dazu N eumann 1993, S. 79); FL V.23: 374,36-376,2 (V.23,188-190, dazu N eumann 1993, S. 98f.); FL V.32: 400,9 (V.32,7, dazu N eumann 1993, S. 105f. und V ollmann- P rofe 2003, S. 808); FL VI.7: 444,16 (VI.7,12f., <?page no="274"?> Auf die «irrtümliche Kapitelgliederung», 703 die bei FL II.2 und 3 vorliegt, wurde schon in Kap. II.1.2 (S. 118) der vorliegenden Arbeit hingewiesen. Hier noch einmal die Fakten kurz zusammengefasst: Vorgezogen wird die Grenze zwischen den beiden Kapiteln nicht nur in E, sondern auch in den Handschriften der lateinischen Bearbeitung, was auf einen alten Fehler schließen lässt. Dass wir es hier tatsächlich mit einem Fehler zu tun haben, der schon der mittelniederdeutschen Vorlage der ›Lux divinitatis‹ eigen war, beweisen auch die Kapitelverweisungen in den Tituli von Rb und vor allem manche Querverweise von E. Das heißt, die irrtümliche Aufteilung der Kapitel FL II.2 und 3 lag schon zu dem Zeitpunkt vor, als die Stellenverweise im deutschen Text eingeführt wurden. Das andere Beispiel entnehme ich FL III.1. Ein längerer Abschnitt (152,19- 38 [III.1,99-115]) handelt von der Ehre, die den Predigern, Märtyrern und den heiligen Jungfrauen im Himmel zuteil wird. Auf die Beschreibung der Kleidung und Kopfbedeckung dieser drei Stände folgt eine festliche Tanzszene. drierlei spilunde vl v t kommt Predigern, Märtyrern und Jungfrauen von Gott entgegen, die ihren m v t so sehr erfüllt, dass sie anfangen, zu singen. Ausgeführt wird nur der Lobgesang der Prediger und Märtyrer, wohingegen derjenige der Jungfrauen fehlt. Er muss auf einer frühen Textstufe ausgefallen sein, 704 denn auch LD II.30 (Rev. Bd. II.2, S. 507) bzw. LG II.27,16f. bieten nichts Entsprechendes. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das Fehlen des Gesangs der Jungfrauen auch von den Rezipienten der ›Lux divinitatis‹ registriert wurde. So findet man auf dem oberen Blattrand von Rb fol. 65 vb den Hinweis: triplex alludens gaudium Canticum virginum in 2 libro c. 25 puerorum [recte predicatorum] hic Cantus trinitatis in 5 libro 26 c. Sollte diese Marginalie eingetragen worden sein, als die Übersetzung angefertigt wurde, so wäre sie ein weiterer Beleg dafür, dass die Übersetzungsvorlage einen schon in Bücher und Kapitel eingeteilten Text bot, denn der Verweis gilt FL II.25: 134,15f. (II.25, 134f.): der megde sang und FL V.26 (Überschrift: Wie got sich lobet und singet). 264 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ dazu N eumann 1993, S. 115 und V ollmann- P rofe 2003, S. 815); FL VI.8: 446,20 (VI.8,5f., dazu S. 160f. oben); FL VI.31: 494,27 (VI.31,32f., dazu N eumann 1993, S. 133f.) - Z u s ä t z e in FL I.22: 38,12-44,3 (I.22,12-34, dazu N eumann 1993, S. 14 und V ollmann- P rofe 2003, S. 712f.); FL V.24: 378,10 (V.24,7, dazu N eumann 1993, S. 99 und V ollmann- P rofe 2003, S. 805) - g e m e i n s a m e F e h l l e s u n g e n: betest in FL IV.5: 252,15 (IV.5,25) und rogaueris in LD IV.59,21/ Rev. Bd. II.2, S. 586,30 (LG IV.47,32: wurdest bitten) ist nach dem Kontext der Stelle als nd. bêdest für beitest aufzufassen, vgl. B ecker (1951), S. 36 und N eumann (1993), S. 69. Hinzuweisen wäre auch auf FL IV.27: 300,32f. (IV.27,37). Hier lesen wir über die Letzten Brüder: Si s o llent nieman nit bitten ze b v chen noch ze kleiden. E und C stimmen in der fehlerhaften Lesart b v chen (‹Bücher) mit den Handschriften der lateinischen Tradition überein. Auch letztere lesen libris (LD III.11, 25/ Rev. Bd. II.2, S. 530,6) bzw. bucher (LG III.11,38). Dazu N eumann (1993), S. 82: «Schon die mnd. Vorlage der ›Rev.‹ hatte den Fehler boken statt broken »Beinkleider«. 703 N eumann (1993), S. 30, Anm. zu II.2,17. 704 Vgl. N eumann (1993), S. 49, Anm. zu III.1,115. <?page no="275"?> Aber selbst wenn dies nicht zutreffen würde, wäre sie auf jeden Fall für das 13. Jahrhundert zu reklamieren, lässt doch Dietrich von Apolda erkennen, dass der Randeintrag schon in jener Vorlage enthalten war, der er die Dominikus betreffenden Abschnitte der ›Lux divinitatis‹ entnommen hatte. So wurde in dem mit Aliae mirabiles visiones de primitiva sanctitate Praedicatorum et magna eorum gloria in caelo überschriebenen Kapitel XXXIII ausgerechnet jener Abschnitt aus FL III.1 exzerpiert, der von den genannten drei Gruppen von Heiligen handelt. Unmittelbar darauf folgt das in Anlehnung an LD IV.7, 20-25 (Rev. Bd. II.2, S. 545,24-31) formulierte canticum virginum. 705 Offenbar konnte Dietrich ein (in Erfurt vorhandenes? ) Exemplar des ›Fließenden Lichts‹ zum Vergleich heranziehen. 706 Was sagen diese Fehler über die frühe Text- und Überlieferungsgeschichte des ›Fließenden Lichts‹? Da es sich um Abschreibefehler handelt, wäre vorstellbar, dass sie sich anläßlich der redigierenden Abschrift der Bücher I-VI (= F 1 , Diagramm 3) in den Text eingeschlichen haben. Nicht auszuschließen ist freilich, dass sie schon im ‹Autograph-Original› (= F, Diagramm 3) enthalten waren, 707 vor allem wenn man bedenkt, dass der redigierenden Abschrift der Bücher I-V (= E 2 , Diagramm 3) weitere Abschriften (= A 1 , B 1 usw., Diagramm 3) vorausgegangen sein könnten, die die Reinschrift einzelner Arbeitsabschnitte (= A, B usw., Diagramm 3) - nicht von Publikationseinheiten! (s. dazu S. 252f. oben) - darstellten. 708 Die dem deutschen und lateinischen Überlieferungs- Von der Schrift zum Buch 265 705 Vgl. Acta Sanctorum Augusti, Bd. 1, Antwerpen 1733 (ND Brüssel 1970), S. 628F-629B (Nr. 395-397). 706 Damit ist nicht gesagt, dass diese womöglich Erfurter Handschrift des ›Fließenden Lichts‹, deren Existenz aufgrund seiner sprachhistorischen Untersuchungen zu E auch N eumann (1987a), Sp. 262 vermutete, auch für die Textkonstitution von Dietrich konsultiert wurde, vgl. B ecker (1951), S. 14f. 707 G erhardt (1991), S. 104f. hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass es nicht statthaft ist, ein fehlerfreies und textlich überlegenes Original zu postulieren, um im Gegenzug den Archetyp für die allen Handschriften gemeinsamen Fehler verantwortlich zu machen. Dass das Autograph selbst mit kleineren und größeren Fehlern belastet sein kann, zeigen autographe Überlieferungen wie die Berliner Handschrift von Boccaccios ›Decameron‹ (dazu G rubmüller 2002, S. 9f.), die ›Offenbarungen‹ der Nürnberger Patrizierwitwe Katharina Tucher (W illiams / W illiams -K rapp 1998, S. 26 und Apparat) und diejenigen der Ötenbacher Schwester Elsbeth von Oye (S chneider -L astin 1994, S. 56f.). Das Züricher Exemplar der ›Offenbarungen‹ Elsbeths veranlasste schon N eumann zu der Feststellung, «daß einem Autor selbst sowohl bei der Reinschrift wie bei der Urschrift zahlreiche Fehler unterlaufen können, die man in der Regel erst Abschriften aus fremder Hand zuzuschreiben pflegt» (N eumann 1967, S. 47). Für Mechthild gelten indes andere Regeln, denn die am präsupponierten Mechthildischen orientierten Emendationen und Konjekturen von N eumann (im Bereich des Satz- und Gedankenparallelismus sowie des Reimgebrauchs) setzen ein fehlerfreies Autorexemplar voraus. Daher kommt es, dass der kritisch konstituierte Text zuweilen den Eindruck erweckt, mechthildischer als das Original selbst zu sein (s. dazu S. 43ff. oben). 708 Einen Beleg dafür, dass man mit dieser Möglichkeit zu rechnen hat, scheint auf den ersten Blick FL IV.23: 292,13 (IV.23,3) zu liefern. N eumann macht darauf aufmerksam, dass <?page no="276"?> zweig gemeinsamen Fehler ließen sich auch durch eine mehrgliedrige Traditionskette erklären. So könnten zwischen dem Redaktionsexemplar der Bücher I-VI und der Handschrift, an der sich die Überlieferung in zwei Stränge (einen deutschen und einen lateinischen) scheidet, mehrere Abschriften liegen. Und in der Tat stößt man in der Forschung auf Überlegungen, die in diese Richtung weisen. Ich nenne zwei Beispiele. In FL II.26 liest man folgende Fürbitte: Eya herre, ich súfzen und gere und bitte fúr dinen schriber, der das b v ch na mir habe geschriben, das du im p ch wellist die gnade geben ze lone, die nie menschen wart gelúhen; wan, herre, diner gabe ist tusent stunt me denne diner creaturen, die si m o gent nehmen. (138,8-12 [II.26,34-37]) Ist hier von einem einzigen Schreiber die Rede, so setzt die nun folgende Antwort Gottes mehrere Schreiber voraus, die nach Mechthild (na mir) das Buch geschrieben haben: 266 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ LD II.9,3/ Rev. Bd. II.2, S. 489,5 mit insepultum (LG II.9,4: vnbegraben) «offenbar richtig» liest, E und C (vnd begraben) dagegen falsch, vgl. N eumann (1993), S. 79. «Schwierigkeiten macht nur das begrebde der Überschrift», stellt N eumann ebd. fest. Diese Schwierigkeiten resultieren daraus, dass die Überschriften auf einer besonders frühen Phase der Überlieferung, spätestens in der Teilpublikation der Bücher I-V, eingefügt sein müssen. Infolgedessen wäre davon auszugehen, dass ein im ‹Autograph-Original› zu vnd begraben verlesenes unbegraben Schuld an begrebde der Überschrift ist. insepultum in LD II.9,3 ließe sich dann als eine nochmalige ‹Verlesung› (*vnd begraben > unbegraben) deuten, und zwar durch den Übersetzer oder im Rahmen weiterer Abschriften auf dem Weg zur Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹. N eumann ebd. erklärt den Textbefund anders. Er ist der Ansicht, das begrebde der Überschrift könnte «sekundär» durch einen fehlerhaften Text veranlasst worden sein, denn «[m]an müßte erwarten Von Sante Johannes Ewangelisten lichamen» (entsprechend der ersten Zeile des Kapitels). Ursprüngliches lichamen sollte also in der Überschrift zu einem Zeitpunkt, als sich der Fehler für unbegraben bereits in den Text eingeschlichen hatte, durch begrebde ersetzt worden sein. Diese Erklärung überzeugt nicht. Abgesehen davon, dass auch das Register zum vierten Buch begrebde bietet (s. N eumann 1990, S. 109,37), ist nicht recht einzusehen, was der Anlass für den Vokabelersatz lichamen/ begrebde gewesen sein sollte. Ich sehe zwei Möglichkeiten, die Differenz zwischen dem deutschen und dem lateinischen Text zu erklären. Entweder ist, wie oben gesagt, die Verlesung vnd begraben (für unbegraben) anlässlich der Abschrift der Bücher I-IV bzw. I-V entstanden, oder - und das halte ich für wahrscheinlicher - es verhält sich mit der Fehlergenese genau umgekehrt wie von N eumann angenommen. N eumann geht davon aus, dass insepultum (und entsprechend emendiertes unbegraben) richtig ist (so auch V ollmann- P rofe 2003, S. 292,13). Dies ist jedoch keineswegs sicher, denn das Motiv des Grabes taucht sowohl in der Legende als auch in der Ikonographie des Evangelisten auf, s. M. S chmidt (1995), S. 381, Anm. 170 und V olfing (2001), S. 48-59. Es könnte also durchaus sein, dass vnd begraben und begrebde in FL IV.23 gar keine Fehler sind. insepultum dagegen stellt entweder einen Lesefehler der Übersetzer dar oder die Übersetzer haben vnd begraben in ihrer Vorlage vorgefunden und entsprechend übersetzt. Dass diese letzte Möglichkeit nicht auszuschließen ist, zeigt eine Reihe von ähnlich gelagerten Fällen (dazu S. 174f. oben). <?page no="277"?> Do sprach únser herre: Si hant es mit guldinen b v chstaben geschriben, also s o nt allú disú wort des b v ches an irem obersten cleide stan eweklich offenbar in minem riche mit himmelschem lúhtendem golde ob aller ir gezierde wesen geschriben, wan dú vrie minne m v s ie das h o hste an den menschen wesen. (138,13-18 [II.26,37-41]) Die entsprechende Stelle der ›Lux divinitatis‹ bereitet keine solchen Schwierigkeiten für das Textverständnis, denn dort ist konsequent von scriptores die Rede: Et dixi ad dominum O domine cum gemitu cum desiderio peto pro scriptoribus qui hunc librum post me conscripserint . ut graciam tuam . eis in mercede conferas qualem ad huc alius non accepit In infinitum namque excedit donacio tua ualentem eam accipere . et Respondit dominus . Aureis hec conscripsere litteris ideo cuncta uerba in meo regno eorum amictum super omnem gloriam eorum ascripta perpetuo decorabunt (LD Prol 6,25-30/ Rev. Bd. II.2, S. 444, 6-14, ähnlich LG Vorrede 5,36-42) N eumann plädierte 1954 noch für folgende Lösung: «Man sollte besser die Anrede Gottes auf Mechthild u n d ihren Schreiber beziehen, während der Autor der Revel. sich selbst noch mit einschloß und so zum Plural pro scriptoribus kam. Es muß nämlich auffallen, daß sie Kapitelüberschrift: Von diseme b v che und von deme schriber dis b v ches (Morel 52,17) ebenso den Singular bietet und in diseme und deme das nd.-md. erhaltene -e der pronominalen Dativendung noch bewahrt hat, was sehr für die Güte der deutschen Version spricht! » 709 Dabei schließt N eumann die Emendation dinen schribere zu die schribere und dann entsprechend der > die und habe > hant, im > in (vgl. 138,8-12 [II.26,34- 37]) ausdrücklich aus, denn sie sind «schon ihrer Anzahl wegen nicht recht wahrscheinlich, obschon dann in der folgenden Antwort Gottes gleichfalls wie in Revel. die Aussage in der Pluralform aufgenommen wird» (ebd.). Erstaunlicherweise bietet die kritische Ausgabe von 1990 dann doch diese am lateinischen Text orientierte und 1954 für «nicht recht wahrscheinlich» gehaltene Emendation (vgl. FL II.26: 138,8-12 [II.26,34-37]). 710 V ollmann -P rofe kehrt zur ursprünglichen Position von N eumann zurück, denn auch sie geht von einem Schreiber aus. Die Emendationen von V ollmann -P rofe betreffen deshalb auch nicht die Fürbitte, sondern die Antwort Gottes (138,13-18 [II.26,37-41]). Die Zahl der Texteingriffe wird damit allerdings nicht weniger. Verändert werden folgende Stellen: Si > Er, hant > hat, irem > sinem und ir > siner. Wichtig ist in unserem Zusammenhang der Hinweis von V ollmann - P rofe auf die Entstehungsgeschichte, in der sie die Wurzeln des aufgezeigten Von der Schrift zum Buch 267 709 N eumann (1954b), S. 36 (Sperrung von N eumann ). 710 Um der Problematik, die die Textstelle bereitet, Herr zu werden, erwägt N eumann auch die Möglichkeit, es könnte eine Kopistin gemeint sein. In diesem Fall wäre die textkritische Lage einfacher, «weil dann nur schriberin (Z. 34), ir (Z. 35) und hat (Z. 37) zu emendieren wären.» Diese Möglichkeit lässt N eumann jedoch nicht gelten, denn «an der Mitwirkung Heinrichs v. Halle bei der Reinschrift des Corpus von Buch I-VI wird man nicht zweifeln dürfen.» Hier folgt der Hinweis auf LD II.40 (Rev. Bd. II.2, S. 517). <?page no="278"?> textkritischen Problems sieht. Sie erklärt: «Als M., sicher aus aktuellem Anlaß, die Fürbitte formulierte, dachte sie an einen konkreten Schreiber. Später, als mehrere Schreiber »nach ihr« das Buch abgeschrieben hatten, wurde der Plural eingesetzt (s. Rev.). E bietet eine inkonsenquente Mischung beider Phasen.» 711 V ollmann -P rofe rechnet demnach mit einer Reihe von weiteren Abschriften auf dem Weg zur Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹. 712 Auch bei N eumann deutet sich dieser Gedanke in einer der Anmerkungen des Untersuchungsbandes an. Verwiesen wird auf FL V.24: 378,10f. (V.24,7f.). Hier ist von sieben Söhnen die Rede, die Gott gewonnen hat. Dazu kommt ein vil sch o ne tohter bi únser m v ter der heligen cristenheit. Obwohl auch das entsprechende lateinische Kapitel diesen Satzteil bringt (vgl. LD II.13,4f./ Rev. Bd. II.2, S. 492,13f. bzw. LG II.13,6f.), vermutet N eumann einen frühen Zusatz zum mittelniederdeutschen Text. 713 Er begründet dies folgendermaßen: «Von einer »Tochter« ist im ganzen Kapitel nicht mehr die Rede, und es deutet auch nichts auf eine solche hin» (ebd.). Diesen Zusatz schreibt N eumann ausdrücklich einem Abschreiber (und nicht etwa Heinrich von Halle! ) zu, der den Hinweis auf Maria in diesem Zusammenhang vermisst haben soll. 714 Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht mehr zwingend, die von N eumann Heinrich von Halle zugeschriebene Redaktion des Corpus der Bücher I- VI für die unmittelbare Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹ zu erklären, kann doch zwischen der ‹Neuauflage› des ›Fließenden Lichts‹ (= F 1 , Diagramm 4) und jenem Exemplar, das an der Vergabelung der Überlieferung stand, eine mehrgliedrige Traditionskette (= F x , Diagramm 4) gestanden haben. Diese neu gewonnenen Erkenntnisse über die frühe Textgeschichte des ›Fließenden Lichts‹ lassen sich schematisch wie folgt darstellen: Nun stellt sich die Frage, ob es berechtigt ist, e i n e n Text zu postulieren, der, wie verschiedentlich behauptet, eine frühe Entstehungsstufe des Originals geboten und den u n m i t t e l b a r e n Ausgangspunkt der deutschen und latei- 268 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 711 V ollmann- P rofe (2003), S. 746. 712 Vgl. in diesem Zusammenhang auch V ollmann- P rofe (2003), S. 671f. (zitiert auf S. 90 oben). 713 Vgl. N eumann (1993), S. 99. 714 Wieder einmal nimmt V ollmann- P rofe (2003), S. 805, Anm. zu 378,10 einen Satz, dessen Authentizität von N eumann angezweifelt wird, für Mechthild in Anspruch (für weitere Beispiele s. S. 56f. oben). Allerdings basiert die Argumentation von V ollmann- P rofe auf einer Kette von sehr gewagten Assoziationen. Zu dieser Stelle s. auch L eppin (2007), S. 546f. [A (I) A 1 B (I-II) B 1 … ]E (I-V) E 2 F (I-VI) F 1 F x F 2 G (I-VII) G 1 LD Diagramm 4 <?page no="279"?> nischen Überlieferung dargestellt haben soll. Dieses von N eumann entworfene und von den vorliegenden Editionen aufrecht erhaltene Modell der Textgenese setzt eine lineare, wenn auch durch fremdverantwortete Abschriften unterbrochene, Entwicklung des Originals voraus und arbeitet mit der Prämisse, die jeweils neue Abschrift wäre nur einmal bearbeitet und dann gleich wieder abgeschrieben worden, so dass sich in den einzelnen Abschriften unterschiedliche Bearbeitungsphasen des Originals dokumentieren. Bearbeitung meint dabei die Erweiterung des Textbestands um einzelne Textstücke oder ganze Bücher durch die Autorin selbst. In diesem Sinne wird vermutet, dass die ›Lux divinitatis‹ (= LD, Diagramm 4), deren Vorlage eine dem Original «gewiß» (N eumann ) sehr nahe stehende und «vielleicht» (G ottschall ) von Mechthild autorisierte Handschrift war, eine frühe, genauer, die früheste handschriftlich dokumentierte Entstehungsstufe des Originals konserviert. Ihr wird eine zweite Phase gegenübergestellt, eine bearbeitete, d.h. geringfügig ergänzte Neuauflage des Corpus der ersten sechs Bücher (= F 2 , Diagramm 4). Beide sollen ein und dieselbe Handschrift als Vorlage gehabt haben und auf eine Version des ›Fließenden Lichts‹ zurückgehen, die bis auf die später hinzugekommenen Textteile eine in Text- und Kapitelfolge sowie in Formulierung mit E weitgehend identische Textgestalt war. Wie selbstverständlich diese Annahme ist, sieht man am Rekurs von N eumann auf den lateinischen Text, um das, was von Mechthild in einer zweiten Redaktion ergänzt wurde oder erst im Laufe der späteren Weitergabe in den deutschen Text eingedrungen war, zu identifizieren (s. dazu S. 180f. oben). Präsent ist das Postulat, dass es einen gemeinsamen Text gab, der den unmittelbaren Ausgangspunkt der deutschen und lateinischen Überlieferung bildete, auch dort, wo die Einstellung der Übersetzer zu ihrer Vorlage vor dem Hintergrund der in E erhaltenen Textgestalt wie folgt beschrieben wird: Anders als Heinrich von Halle, der «kaum» in den Wortlaut von Mechthilds Aufzeichnungen eingriff, sollen die Übersetzer «dem Text stark zugesetzt und ihn an zahlreichen Stellen abgeändert» 715 haben. Ungeachtet bleibt die Möglichkeit, dass ein solch beschaffener Re-Text auf einen Prä-Text zurückgehen kann, der von den monierten ‹Zusätzen› und ‹Änderungen› bereits gezeichnet war. Die Möglichkeit, dass die lateinischen Übersetzer einen in der Formulierung partiell von E abweichenden Text vor sich gehabt haben könnten, scheint bislang allein von P aul M ichel in Erwägung gezogen worden zu sein. 716 Dass dieser Möglichkeit mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, als dies bisher der Fall war, habe ich in den vorangehenden Kapiteln wiederholt ange- Von der Schrift zum Buch 269 715 N eumann (1954b), S. 28. 716 Den Anlass für diese Überlegung bieten die zwischen FL II.23: 116,19f. (II.23,21) und LD IV.1,20f. (Rev. Bd. II.2, S. 540,7f.; LG IV.1,28f.) feststellbaren inhaltlichen Divergenzen. Dazu vermerkt M ichel (1995c), S. 54: «Die lateinischen Übersetzer (Rb) hatten entweder einen anderen mndt. Text vor sich oder dann die Stelle zurechtverstanden.» Als Indiz für eine im Wortlaut von E partiell abweichende deutsche Übersetzungsvorlage könnten auch die Präsumptivvarianten veranschlagt werden, vgl. S. 176, Anm. 322. <?page no="280"?> deutet. So lassen die Divergenzen, die zwischen der Buch- und Kapitelzählung in den Querverweisen von E und den Verweisungen in den Tituli von Rb auszumachen sind, auf eine von der oberdeutschen Texttradition abweichende Version des ›Fließenden Lichts‹ schließen. Denn ähnlich den Textstücken, die in der zu E hinführenden Tradition nachträglich eingeschoben (wie FL VI.22, VI.43 und vielleicht auch III.23), aufgeteilt (FL I.1, s. dazu S. 253, Anm. 671) oder mit bestehenden Kapiteln vereinigt wurden (FL VI.2: 432,3-9 [VI.2,3-8] und I.3: 24,12f. [I.3,2] 717 ), können Kapitel in der Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹ umgestellt oder zusammengezogen worden sein. Dies wäre eine mögliche Erklärung für jene von der Einsiedler Handschrift abweichende Kapitelfolge und -zählung, die die Verweisungen in den Tituli von Rb im letzten Drittel des sechsten Buches erkennen lassen (dazu S. 117 oben). Gelegentlich stellt man Unterschiede auch in der Textfolge fest. Es handelt sich dabei, wie in Kap. II.2. gezeigt, um Umstellungen von Sätzen und Satzteilen innerhalb eines Kapitels. Hinzu kommt eine nicht unbeträchtliche Zahl von Varianten im Textbestand mit Plustexten auf beiden Seiten (dazu Kap. II.2.2). Den Umgang der bisherigen Mechthild-Forschung mit diesen Varianzphänomenen zeichnet die gleiche Einstellung aus, die sich auch in der Forschung zur höfischen Epik wiederholt beobachten und mit J oachim B umke wie folgt charakterisieren lässt: Man geht davon aus, «daß von zwei konkurrierenden Lesungen immer eine richtig und die andere falsch sein müsse, allenfalls beide fehlerhaft, aber nicht beide richtig.» 718 Auch in der Mechthild-Forschung besteht in den besagten Fällen die Tendenz, den deutschen Text allein für authentisch zu erklären. Der lateinischen Übertragung wird dagegen bescheinigt, sie hätte dem Text der Vorlage «stark zugesetzt und ihn an zahlreichen Stellen abgeändert» (s. oben Anm. 715 mit Text). Wohl hat man gelegentlich erwogen, die von E abweichende Textfolge bzw. der gegenüber E zusätzlich überlieferte Textbestand könnte stellenweise authentisch sein, doch war dies immer mit der Annahme verbunden, in der deutschen Überlieferung liege eine Störung (in diesem Fall Zeilentausch bzw. Textausfall) vor, die mittels des besseren lateinischen Textes zu beheben sei, handelt es sich doch um eine Version des ›Fließenden Lichts‹, die «gewiß» (N eumann ) aus einer originalnahen Vorlage hervorgegangen ist. Offenbar fungiert die ›Lux divinitatis‹ überall dort, wo sie «unecht» im Sinne von B ecker sein könnte, 719 als Lieferant von authentischen Text-Ersatz- 270 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 717 Vgl. T aigel (1955), S. 33f.: «Der erste Satz des Kap. ist ohne Zusammenhang mit dessen Inhalt.» 718 B umke (1991), S. 266. 719 B ecker (1951), S. 37f. unterscheidet, um noch einmal daran zu erinnern (vgl. S. 157f. oben), zwischen «echten» und «unechten» Zusätzen. Im Unterschied zu den «echten Zusätzen», die «ausschliesslich auf das Konto des Übersetzer-Redaktors gehen, also nicht von Mechthild stammen können», haben wir mit «unechten Zusätzen», so B ecker , dann zu tun, «wenn die entsprechende deutsche Stelle für den Text der Vorlage verständnisnotwendig ist oder der Kontext der Einsiedler Handschrift anderweitig eine Auslasteilen, <?page no="281"?> um einen defekt gewordenen deutschen Text, die Redaktion Heinrichs von Halle, zu reparieren. Ohne diese Möglichkeit gänzlich auszuschließen (s. dazu S. 248, Anm. 645), fragt man sich, ob es überhaupt berechtigt ist, einen einzigen, dem deutschen und lateinischen Überlieferungszweig des ›Fließenden Lichts‹ gemeinsamen und autorisierten Ausgangstext zu postulieren - beachte die suggestive Formulierung «gewiß»! -, wenn es (1.) feststeht, dass die lateinische Bearbeitung wegen ihrer Eigenständigkeit «nur selten den Wortbestand des deutschen Textes sichern kann», 720 und wenn es sich (2.) nachweisen lässt, dass es eine Reihe von Zusätzen und zumindest einen Zeilentausch in der ›Lux divinitatis‹ gibt, die nicht weniger ‹echt› sind als die Plustexte, die die angeblich von Mechthild bearbeitete ‹Neuauflage› des ›Fließenden Lichts‹ (= F 2 , Diagramm 4) gegenüber der ›Lux divinitatis‹ zusätzlich überliefert. Hinzu kommen Phänomene, wie Umstellungen, Zeilensprünge und metathetisch entstandene Lesarten, die auf eine mehrgliedrige Traditionskette schließen lassen, an deren Ende die Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹ steht. Wohl ist in Betracht zu ziehen, dass die lateinischen Übersetzer bearbeitend mit dem Text ihrer Vorlage umgegangen sind (vgl. Kap. II.2.3), oft kann jedoch nicht festgestellt werden, ob und, wenn ja, was verändert wurde. Folglich müssen Abweichungen von dem von E repräsentierten deutschen Text nicht immer und überall das Werk der Übersetzer sein. Gegenüber dem älteren bipolaren Denkmodell, das nur ein Original und eine mehr oder weniger textgetreu vorgehende lateinische Bearbeitung kennt, muss man stärker differenzieren und berücksichtigen, dass sich in der ›Lux divinitatis‹ womöglich mehrere textgeschichtliche Schichten überlagern. Manche von ihnen sind jüngeren Ursprungs und datieren in die Zeit, als die Übertragung der mittelniederdeutschen Vorlage ins Lateinische erfolgte, andere dagegen können einem älteren Textzustand angehören. Ich denke hier vor allem an jene ‹Zusätze› und ‹Umstellungen›, die Anspruch auf Originalität (im Sinne von B umke ) erheben, weil sie sich vom präsupponierten Mechthildischen in keiner Weise unterscheiden (s. dazu Kap. II.2.2). Solche Fälle sollte es eigentlich gar nicht geben, wenn die Entwicklung des Originals linear ablief und ein Corpus mit ständig wachsendem Textbestand zur Folge hatte. Dieses von N eumann entworfene und heute allgemein akzeptierte Modell der Textgenese wäre eine plausible Erklärung für den erweiterten Textbestand der Bücher I-VI des ›Fließenden Lichts‹, nicht jedoch für die ‹originalen› Plustexte der ›Lux divinitatis‹. Das Bild, das die Überlieferung des ›Fließenden Lichts‹ uns bietet, scheint mir in etwa mit dem vergleichbar zu sein, was wir vom ›Iwein‹ Hartmanns von Aue her kennen: «Wir können nicht sagen, ob die eine [Version] gekürzt oder Von der Schrift zum Buch 271 sung erkennen lässt.» Mit anderen Worten: Weil die «unechten Zusätze» der ›Lux divinitatis‹ «auf eine Verderbnis in der deutschen Überlieferung führen», sind sie im textkritischen Sinn eigentlich echt. Sonstige Ergänzungen in der lateinischen Übersetzung gelten dagegen textkritisch als unecht. 720 N eumann (1990), S. XXV. <?page no="282"?> die andere erweitert hat.» 721 Dies bedeutet, dass es keine objektivierbaren textkritischen Kriterien gibt, um die «historische Differenz» 722 zwischen den ‹Zusätzen› der beiden Versionen des ›Fließenden Lichts‹ zu ermitteln. Dasselbe gilt auch für die so genannten ‹Umstellungen› im lateinischen Text (s. dazu Kap. II.2.1). Der Begriff suggeriert, wir hätten es mit einem sekundären Textzustand zu tun. Zwar ist nicht auszuschließen, dass der eine oder andere Zeilentausch auf das Konto der Überlieferung bzw. der Übersetzer geht, ein unverständlicher Text ist auf diese Weise jedoch nicht entstanden. Man kann also nicht behaupten, die von E abweichende Textfolge in Rb sei fehlerhaft. Genau genommen bietet Rb an manchen Stellen einen ‹originalen› Text, der E in Nichts nachsteht. Ich denke hier nicht nur an die Einschaltung nach dem Stichwortprinzip in LD I.13,18f. (Rev. Bd. II.2, S. 458,34f.), eine Technik, die sich im ›Fließenden Licht‹ oft beobachten lässt und Mechthild zugeschrieben wird (s. dazu S. 159f. oben), sondern auch an die von W ilhelm O ehl ‹berichtigte› Textfolge in FL III.10: 184,5-8 (III.10,26-28) entsprechend LD I.22,16f./ Rev. Bd. II.2, S. 467,25f. (s. S. 165, Anm. 279 mit Text). Offenbar kann selbst bei den ‹Umstellungen› nicht mit Sicherheit festgestellt werden, welcher Zustand jeweils primär, welcher sekundär ist. Es bleibt demnach nichts anderes übrig, als zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ anzusetzen, die jeweils zum Ausgangspunkt der deutschen und lateinischen Überlieferung wurden. Dabei endet die Tradition, die zur Übersetzungsvorlage der ›Lux divinitatis‹ (= * LD, Diagramm 5) führt, in einer «textlichen Sackgasse»: 723 An dieser Textversion (= Y, Diagramm 5), die parallel zur anderen verläuft (= X, Diagramm 5), wurde nicht weiter gearbeitet. Das neu gewonnene Modell der frühen Text- und Überlieferungsgeschichte des ›Fließenden Lichts‹ sieht demnach folgendermaßen aus: Es wäre naheliegend, in X und Y Autorfassungen zu vermuten. Man fragt sich jedoch, ob sich Autortext und Redaktortext in unserem Fall exakt voneinander abgrenzen lassen. Dies ist bekanntlich die Frage, die auch die aktuelle, von der New Philology angestoßene Textualitätsdebatte bestimmt. Anders als die 272 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 721 J. H einzle (2003), S. 13f. Ähnlich H ausmann (2001), S. 74. 722 J. H einzle (2003), S. 13. 723 Diesen Ausdruck habe ich H aferland (2006), S. 195 entliehen. Er führt ihn im Zusammenhang mit der Beschreibung des textgeschichtlichen Status der *J-Fassung des ›Nibelungenliedes‹ («textliche Sackgasse und Parallelfassung zu *C») ein. X F 2 G (I-VII) G 1 [A (I) A 1 B (I-II) B 1 … ]E (I-V) E 2 F (I-VI) F 1 F x Y *LD LD Diagramm 5 <?page no="283"?> ältere Forschung, die am Anfang der Überlieferung den einen Ausgangstext, das Original, sah, steht die heutige Diskussion im Zeichen der «Abkehr von einem allzu einfachen Literaturmodell, das nur die Größe des als stabil zu denkenden Autortextes kennt.» 724 Dies erklärt sich, wie in Kap. I.3 gezeigt, aus der Erkenntnis, dass das hehre Ziel der klassischen Textkritik L achmann scher Prägung, den einen vom Autor gewollten Text aus dem Dickicht der Überlieferung ans Tageslicht der kritischen Textausgabe zu führen, in vielen Fällen de facto nicht realisierbar ist, weil die Methode mit Prämissen operiert, die auf die mittelalterliche Überlieferungswirklichkeit volkssprachlicher Literatur - sie ist von Anfang an variant, kopial und unautorisiert 725 - oft nicht übertragbar sind. Anders als in der New Philology hat die Erkenntnis über die Nicht- Rekonstruierbarkeit originaler Textzustände in der germanistischen Mediävistik nicht dazu geführt, dass man den Original- und Autorbegriff für gänzlich unbrauchbar erklärte. Verabschiedet wurde lediglich die Vorstellung, es hätte ein einziges Original gegeben, das am Beginn der Text- und Überlieferungsgeschichte stand. Man rechnet mit der Existenz mehrerer Originale, die den Ausgangspunkt der Überlieferung gebildet haben, und zwar vor allem bei Gattungen, die im Grenzbereich von Schriftlichkeit und Mündlichkeit angesiedelt sind (Mären, Heldendichtung, höfische Epik und Lyrik, geistliches Spiel). Da es sich hierbei um Literatur handelt, die aus dem Vortrag lebt, könnte, so wird vermutet, jede neue Aufführung Varianten und damit ein je neues Original hervorgebracht haben. Bemerkenswert ist dabei, dass die Frage, ob das jeweils neue Original vom Autor selbst stammt, nur bei Gattungen offen gelassen wird, deren Kennzeichen Anonymität ist (Heldendichtung, geistliches Spiel, Mären). 726 Wo wir dagegen einen Autornamen haben - bei den Texten der höfischen Epik und Lyrik ist das der Fall -, neigt man dazu, Autorfassungen anzusetzen. 727 Was dabei verwundert, ist die Bereitschaft, die ‹Arbeit am Text› 728 zu personalisieren, und dies obwohl es keinen erkennbaren Grund Von der Schrift zum Buch 273 724 S tackmann (1997), S. 132. Vgl. auch S pechtler (1976), S. 228. 725 Zu den Gegebenheiten volkssprachlicher Textüberlieferung im Mittelalter s. die informativen Überblicke von G rubmüller (1998) und M icha (1964). Obwohl die Trias kopialvariant-unautorisiert für weite Teile der volkssprachlichen mittelalterlichen Literatur gilt, schließt dies trotzdem nicht aus, dass es auch ein konservatives Reproduktionsverhalten gegeben hat. Für Beispiele aus dem Bereich der Schule s. H ausmann (2005), S. 759-760. Vgl. auch S. 362ff. weiter unten 726 Vgl. J. H einzle (1978), S. 100: «jeder Tradierende [ist] ein potenzieller Autor, dessen Werk als ‹Original› gelten kann. Mit anderen Worten: es gibt, extrem gesprochen, nicht ein Original, sondern grundsätzlich soviele Originale, wie es Fassungen gibt.» Für weitere Beispiele s. S chubert (2000), S. 37f. und H aferland (2006). 727 So gibt S tackmann (1993), S. 12 zu bedenken, man müsse ins Kalkül miteinbeziehen, «daß ein mittelalterlicher Autor selbst seinen Text als ‹offen› behandelt, ihn also im Laufe der Zeit verändert hat und daß die Überlieferung von verschiedenen Stadien dieses Textes ausgegangen sein kann.» Ähnlich S chweikle (1985) und neulich W enzel (2003), S. 82. 728 Damit ist ein Phänomen angesprochen, dem die germanistische Mediävistik seit geraumer Zeit wachsende Aufmerksamkeit schenkt und das in etwa C erquiglini s Konzept <?page no="284"?> dafür gibt, dass textgeschichtliche Prozesse bei signierter Überlieferung anders abgelaufen wären als bei einer anonymen Überlieferung. Es scheint, als stünde ein heimliches Anhängen an die Autorität des A u t o r n a m e n s hinter den Bemühungen, Varianten dadurch zu adeln, dass man sie zu Autorvarianten erklärt. 729 Eine solche Vorgehensweise ist methodisch insofern problematisch, als der historische Autor und seine Intention zumindest in der höfischen Lyrik und Epik zu editorisch uneinholbaren Kategorien geworden sind. 730 Dies hängt damit zusammen, dass zwischen Entstehungs- und Überlieferungsvarianten in diesem Bereich nicht eindeutig unterschieden werden kann, denn die Voraussetzung dafür, d.h. das Vorliegen einer autographen oder zumindest autorisierten Überlieferung, 731 ist hier oft nicht gegeben. 732 Wohl kann die Varianz bei besonders günstiger Überlieferungslage bis zu einem gewissen Punkt zurückverfolgt werden, doch muss man sich vor Augen halten, betont J oachim H einzle , «daß selbst im Optimalfall die Distanz des kritischen Textes zum Autortext erheblich sein dürfte, ohne daß wir in der Lage wären, sie zu kalkulieren.» 733 Das ist der Grund, warum die rekonstruierten «parallelen Fassungen» der ›Klage‹ von J oachim B umke nicht als Autorfassungen verhandelt werden und warum sich G eorg S teer mit der Erstellung von «parallelen Redaktionstexten» bei der Ausgabe der ›Rechtssumme‹ begnügt. Und selbst wenn man mit einer Folge von unmittelbar auseinander entstandenen Fassungen operieren sollte, ist der Gedanke, eine unmittelbar vorgängige Fassung könnte dem Ausgangstext der Folge näher stehen und wegen ihrer vermeintlichen Autorennähe einen höheren Grad an Authentizität für sich beanspru- 274 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ von «récriture» entspricht. Anders als das 19. Jahrhundert, das in der Überlieferung nur Abfall vom reinen Ursprungstext und in den Literaturverwaltern (den Übersetzern, Bearbeitern und Kompilatoren) nur Textverschlechterer sah, begreift man die mittelalterliche Literaturproduktion heute als einen Prozess der (autorunabhängigen) Wieder- und Neuverschriftlichung. Text bedeutet in diesem Zusammenhang «transitorisches Resultat von ›Arbeit‹», von «Arbeit an einem Stoff, einem literarischen Motiv, einem Konzept» (J an -D irk M üller ), s. dazu S. 76f. oben. 729 So S chubert (2000), S. 40. Vgl. auch H ausmann (1999), S. 19 und (2000), S. 33. 730 Konkret bedeutet dies den freiwilligen Verzicht des Editors darauf, dem eigenen ingenium einen allzu großen Raum bei der Textkonstitution zu gewähren. Obwohl die Autorintention mittlerweile für einen «emeritierten Gespenst» (W alter J aeschke ) erklärt wurde, scheint die Divinatorik als Methode aus der Textkritik immer noch nicht gänzlich verbannt zu sein. Ich sehe ihre Nachwirkungen in der angesprochenen Tendenz seitens mancher Editoren, in bzw. anhand der Überlieferung bezeugte respektive erschlossene Varianten zu hierarchisieren, um manche davon zu Autorvarianten zu nobilitieren. Divinatorisch geht man demnach nicht mehr in der Konjekturalkritik, wohl aber bei Emendationen vor. Hier scheint die Methode ihr letztes Refugium gefunden zu haben. 731 Vgl. S teer (2005a), S. 55: «Allseits befriedigend können Texte von Autoren nur dann ediert werden, wenn sie im Autograph erhalten sind, und das sind sie nur in wenigen Fällen.» 732 Zur autographischen Überlieferung mittelalterlicher deutscher Literatur s. H onemann (2000) und H onemann / R oth (2005). 733 J. H einzle (1993), S. 55. <?page no="285"?> chen, eine «triviale Annahme», betont H arald H aferland mit Blick auf die seiner Meinung nach genetisch voneinander abhängigen Textausformungen des ›Nibelungenliedes‹. 734 Vor diesem Hintergrund erscheint es als nur allzu konsequent, wenn B umke im Hinblick auf die Teilveröffentlichungen, Mehrfachredaktionen und wechselnden Vortrags- und Aufzeichnungssituationen, die schon in der Frühphase der Überlieferung speziell der höfischen Dichtung zu eigenständigen Fassungen geführt haben können, feststellt: «Welchen Anteil die Autoren daran hatten und wie weit Varianten erst bei der Wiedergabe der Texte entstanden sind, läßt sich nicht mehr feststellen.» 735 Der Text ist bereits in Autornähe eine instabile Größe. Dies gilt nicht allein für die höfische Epik und Lyrik sowie für die Heldendichtung, sondern auch für das ›Fließende Licht‹, wie es an jenen Varianten abzulesen ist, die sich von dem jeweils anderen Überlieferungszweig her gesehen als Zusätze und Umstellungen definieren lassen und die auf einer besonders frühen, noch in die Lebzeiten Mechthilds zurückreichenden Textstufe aufgetreten sind. Autornähe impliziert dabei nicht zwingend auktoriale Kontrolle über alle Parameter des Textes. Ich denke hier vor allem an die Interpolationen im deutschen Text. N eumann führt sie auf die ergänzende Durchsicht der Bücher I-V bzw. I-VI durch Mechthild zurück. 736 Einschaltungen können jedoch genauso gut von einem Redaktor herrühren. Für eine solche Zuweisung hat sich H ubert S tierling am deutlichsten ausgesprochen. Er sieht überall die Hand des Redaktors am Werk, der ursprünglich Zusammengehöriges auseinanderreißt und zu Versatzstücken verarbeitet, um sie an anderen Stellen, die ihm inhaltlich passender erscheinen, einzufügen. 737 Der Großteil der von S tierling gebrachten Belege hat nicht überzeugt. 738 Allein bei den Interpolationen nach dem Stichwortprinzip war man vereinzelt bereit, ihm zuzustimmen. So weist A lbert H auck auf das in LD II.14 (Rev. Bd. II.2, S. 493, LG II.14) fehlende Einschiebsel FL V.24: 380,9-12 (V.24,34-36) hin und bemerkt, «ob es auf Rechnung eines Redaktors oder der Verfasserin selber kommt», müsse offen bleiben. 739 Ähnlich äußert sich H einz T illmann zu dem aus «disparaten Textstücken» 740 bestehenden Kapitel FL I.22, das in seinem Mittelteil ein formal und inhaltlich Von der Schrift zum Buch 275 734 H aferland (2006), S. 180. 735 B umke (1996b), S. 127. 736 Vgl. N eumann (1954b), S. 60f. und den Untersuchungsband zur kritischen Textausgabe. Auch V ollmann- P rofe (2003) ist in ihrer Ausgabe bemüht, die Textstücke, die in der ›Lux divinitatis‹ nicht bezeugt sind, für Mechthild zu reservieren, und dies sogar in einem Maße, das deutlich über N eumann hinausgeht, vgl. S. 56f. oben 737 Vgl. S tierling (1907), S. 17-19 und den Untersuchungsteil seiner Arbeit zu den Büchern I-III des ›Fließenden Lichts‹. 738 Und sie sind in der Tat problematisch, vgl. H auck (1911), S. 190-192, T illmann (1933), S. 62-65, N eumann (1954b), S. 62-65 und T aigel (1955), S. 41-43. 739 H auck (1911), S. 190. Ähnlich S tierling (1907), S. 18. 740 T illmann (1933), S. 11. Ähnlich S tierling (1907), S. 65f. <?page no="286"?> eigenständiges Segment (38,21-40,19 [I.22,7-34]) enthält, ein Textstück wohlgemerkt, das auch separat überliefert ist. 741 «Wem die Komposition zuzuschreiben ist, ob sie ev. auf M. selbst zurückgeht, läßt sich mit unseren Mitteln nicht entscheiden», stellt T illmann fest. 742 Das, was sich im Falle des ›Fließenden Lichts‹ nicht entscheiden lässt, gilt bei den ›Offenbarungen‹ der Elsbeth von Oye als Ergebnis einer posthum erfolgten Redaktion der mutmaßlich autographen Aufzeichnungen der Ötenbacher Schwester durch einen Dominikaner, der Elsbeth «mit Sicherheit persönlich bekannt war.» 743 Was den Fall Elsbeth singulär macht, ist die Tatsache, dass die verschiedenen, «mehr oder weniger zeitgleich und am selben Ort» 744 entstandenen Bearbeitungen - wir befinden uns also auch hier in Autornähe - auch in handschriftlicher Überlieferung vorliegen. Dieser Textkomplex, der sich um das mutmaßliche Autograph der ›Offenbarungen‹ rankt, wird trotz seiner Singularität als «ein Paradigma mystischer Textgeschichte» 745 verhandelt, denn sein Beispiel erlaubt es, Rückschlüsse auf Texte zu ziehen, deren Geschichte weniger gut dokumentiert ist. In unserem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass jene Kompilationstechnik, deren Spuren die Überlieferung des ›Fließenden Lichts‹ noch erkennen lässt, im Elsbeth-Corpus auch handschriftlich bezeugt ist, und zwar in einem redaktionell überarbeiteten Text. Kurz nach dem Tod von Elsbeth wählte ein anonymer Dominikaner aus ihren mutmaßlich eigenhändigen Aufzeichnungen, die ihm im Züricher Kodex und in anderen (heute verlorenen) Büchlein vorlagen, Teile aus, die er zu einer 276 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 741 Zum einen findet sich das Textstück FL I.22: 38,21-40,19 (I.22,7-34) im ›Buch der Vollkommenheit‹ des Pseudo-Engelhart von Ebrach (H, Ka, M 2 , Mü 1 , Mü 2 , Mü 3 , Mü 4 und Sa), zum anderen in der Briefsammlung des Heinrich von Nördlingen (L) inseriert. 742 T illmann (1933), S. 11. Vgl. auch M ichel (1986), S. 511: «Ungewiß, ob der Übergang auf eine Assoziation Mechthilds zurückgeht oder aufgrund eines redaktionellen Stichwortzusammenhangs brútegom/ brut [vorgenommen wurde]; für letzteres spricht, daß die anschließende Stelle außer in E noch drei Mal [eigentlich mehrmals, s. oben Anm. 741] separat überliefert ist. Anderseits haben selbst die nach Themen umgruppierenden lateinischen Übersetzer die Abfolge so belassen, also keinen Bruch wahrgenommen.» Letzteres ist insofern kein Argument, als es in der lateinischen Bearbeitung nur selten vorkommt, dass ein Kapitel auseinandergerissen wird, um das ausgelöste Teil an einer inhaltlich passenderen Stelle zu inserieren, vgl. S. 121, Anm. 101. Dies ist umso bemerkenswerter, als schon die Übersetzungsvorlage Querverweise enthielt, die teilweise nach dem Stichwortprinzip konzipiert waren und es durchaus ermöglicht hätten, thematisch passende Textstücke zusammenzuführen. Die Übersetzer entscheiden sich nur in zwei Fällen dafür, die indizierten Kapitelteile zu einer Texteinheit zu verschmelzen, vgl. S. 121f., Anm. 102 und 103 jeweils mit Text. Ansonsten werden die durch den Querverweis angezeigten Kapitel einfach aneinander gereiht, vgl. dazu Kap. II.1.1. 743 S chneider -L astin (1994), S. 60. 744 S chneider -L astin (2000), S. 522. 745 N eumann (1967), S. 47. Vgl. auch die Überlegungen von S chneider -L astin (2000), S. 523 zur Modellhaftigkeit des Falls Elsbeth für die Ermittlung der redaktionellen Überarbeitungen der Vita der Adelheit von Freiburg. <?page no="287"?> Vita zusammenstellte, wobei er die Offenbarungen thematisch ordnete. Entstanden ist dadurch ein in Kapiteln eingeteiltes, mit Kapitelüberschriften und einem Register versehenes sowie durch einen Prolog eingeleitetes Gnadenleben, ›Leben und Offenbarungen‹ genannt. 746 Wie der Redaktor bei seiner Arbeit vorging, sagt er selbst: das es dest begreiffenlicher sei, so ist sein ein teil abgelassen und ist mit grossem fleiß recht geordenet und etliche ire wort verwandelt, doch in geleichem sinne (›Leben und Offenbarungen‹ Vorrede, S chneider - L astin 2009, S. 405, Z. 28-30). Was das Ordnungsprinzip der Textbausteine innerhalb eines Kapitels betrifft, so gruppiert der Redaktor die Textteile nach Stichworten. Dieses Vorgehen ist in manchen Fällen offenkundig, in anderen dagegen nicht. Letztere können aufgedeckt werden, weil wir zumindest eine der Vorlagen des Redaktors kennen, und zwar die Züricher Handschrift von Elsbeths ›Offenbarungen‹. 747 Ein Beispiel liefert gleich der Anfang des ersten Kapitels: Von meinen kintlichen tagen hab ich des begird gehabt, ob ich sein wirdig were gesein, das ich ein mitleiden sölte haben mit den blüenden minnezeichen unsers herren Jesu Christi, die er enpfing an seinem kreucze.› ‹Ich hette ze einer zeit herczenlichen durst d a r n a c h. Do wart gesprochen dise wort: ›Wie möchte ich dir dises verzeihen, darnach mich ewiklichen hat getürstet? Mein turst hat in diser sach vörkumen dein begirde.‹› (›Leben und Offenbarungen‹ Kap. I, S chneider -L astin 2009, S. 409, Z. 2-7) Dieser Passus setzt sich aus zwei separaten Textstücken der ›Offenbarungen‹ zusammen. darnach steht dabei für das Stichwort (minnezeichen), über das die Verbindung hergestellt ist: Von minen kintlichen tagen habe ich dez girde gehebt, ob ich sin wirdig were gesin, daz ich ein mitteliden solte habin mit dem sun d e r b l u t i n d e n m i n n e z e i c h e n, die er inpheng an sinem krúze. (›Offenbarungen‹ 105,1-7) und Ich hatte zi einer zit herziklichin <turst> n a c h d e r g l i c h e i t d e r b l u t i g i n m i n n e z e i c h e n unsers herren Jesu Christi. Do wart gisprochin diz wort: ›Wie m o chti ich dir dez verzichin, darnach mich ewiklich hat gitúrst? Min turst hat in dirre sache verkomen din bigirde.‹ (›Offenbarungen‹ 113,1-9) Hat der Redaktor in diesem Fall nicht nur umgestellt, sondern auch verwandelt, so begnügt er sich an anderen Stellen damit, den Text recht geordenet zu präsentieren. Ich zitiere eine andere Episode aus dem mit Von usser übünge und irm strengen leidende überschriebenen ersten Kapitel: ‹Ich zeigte got ze einer zeit, das mir mein creucz gar peinlichen were. Do ward gesprochen: › [= ›Offenbarungen‹ 19, Z. 14-20 und 20, Z. 1] ‹›Als mein götliche Von der Schrift zum Buch 277 746 Vgl. S chneider -L astin (1995), S. 208f. Textabdruck bei S chneider -L astin (2009). 747 Ich zitiere nach dem Typoskript der von Wolfram Schneider-Lastin (Zürich) vorbereiteten Edition der ›Offenbarungen‹. <?page no="288"?> nature gemenschet ward in der person meines sünes, also wirt dein menschliche nature vergottet in dem p e i n l i c h e n s e r e d e i n e s c r e u c z e s.› [= ›Offenbarungen‹ 20, Z. 8-12] ‹Das p e i n l i c h s e r e d e i n e s k r e u c z e s sol dir werden ein süsses niessen in der lebenden magenkraft meiner götlichen nature.› [= ›Offenbarungen‹ 21, Z. 4-7] (›Leben und Offenbarungen‹ Kap. I, S chneider - L astin 2009, S. 410, Z. 54-58) Ungleich häufiger als diese beiden Fälle kommt eine Technik zur Anwendung, die Textbausteine nach gewissen Stichworten mechanisch aneinanderreiht. So häufen sich gegen Ende des ersten Kapitels Abschnitte, die vom Kreuz als Marterinstrument handeln. In anderen Kapiteln werden nur Textstücke versammelt, die ein bestimmtes Stichwort aufweisen. Dieses Stichwort wird in der Überschrift genannt (recte gesetzt): Von gelossenheit in hertikeit (Kap. 10), Wi susiklich got in ir gewurcket hat (Kap. 11), Von dem adel der gehorsame und von dem nucze dez siechtagen (Kap. 12), Wie sie got kreftiget wider den feint (Kap. 18) usw. Führt man sich diese Beispiele vor Augen, so ist nicht auszuschließen, dass das ›Fließende Licht‹ Spuren einer vergleichbaren Redaktion aufweist. Das gilt freilich nicht nur für Stellen, wo der Text nach dem Stichwortzusammenhang hergestellt wurde, 748 sondern auch für Einschaltungen, die einen Sachverhalt erläutern bzw. kommentieren. 749 Freilich lässt sich nicht feststellen, ob das Interpolierte anderen und, wenn ja, welchen Teilen des ›Fließenden Lichts‹ entnommen wurde. Die Annahme, es hätte einzelne, frei stehende Textpartien gegeben, ist indessen keine bloße Hypothese eines «hyperphilologischen Rationalismus», 750 was an den Schlusskapiteln der Bücher III, IV und VII zu erkennen ist. Diese bestehen aus Textstücken, die in keinem organischen Zusammenhang miteinander stehen und den Eindruck erwecken, als handle es sich um übrig gebliebene Textbausteine, die zumindest formal zu einem Kapitel geformt wurden (s. dazu S. 253f., Anm. 673). Wie ein Textblock zu einer thematisch passenderen Stelle verschoben werden kann, zeigt die Stellung von FL V.23: 366,5-12 (V.23,50-55) in der ›Lux divinitatis‹ in augenscheinlicher Weise (s. dazu S. 159f. oben): Sollte die Versetzung, wie allgemein angenommen, das Werk eines Redaktors sein, der sich an Stichwörtern orientierte, so 278 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 748 Außer den beiden oben (S. 272) genannten Beispielen wäre hier auf FL III.24: 220, 30-222,2 (III.24,13-16, auch in LD IV.33/ Rev. Bd. II.2, S. 565f. bzw. LG IV.31), FL VI.1: 422,32-424,8 (VI.1,63-73, fehlt LD V.13/ Rev. Bd. II.2, S. 600 bzw. LG V.9), FL VI.8: 446,24-448,6 (VI.8,8-16, auch in LD VI.14/ Rev. Bd. II.2, S. 631 bzw. LG VI.14) und FL VI.19: 472,17-474,14 (VI.19,2-14, auch in LD V.29/ Rev. Bd. II.2, S. 612 bzw. LG V.22) hinzuweisen. Zu diesem Verfahren s. auch L öser (1999), S. 314f. 749 S. dazu FL II.24: 124,21-27 (II.24,71-76, fehlt LD II.21/ Rev. Bd. II.2, S. 516 bzw. LG II.19), FL IV.2: 234,19-22 und 34-37 (IV.2,89-91 und 101-102, fehlen LD Prol. 3-4/ Rev. Bd. II.2, S. 440 bzw. LG Vorrede 2-3) sowie die in Anm. 336 (S. 180) genannten Stellen und die Plustexte der ›Lux divinitatis‹ (Kap. II.2.2). 750 So N eumann (1954b), S. 65 über S tierling s ‹Zerstückelungstheorie›. <?page no="289"?> spräche im Grunde nichts dagegen, auch bei vergleichbaren Fällen im ›Fließenden Licht‹ die Einwirkung einer fremden Hand zu vermuten. 751 Dasselbe gilt für die im ›Fließenden Licht‹ verstreuten Rückverweise. Ihre Zahl ist nicht besonders groß. So stößt man in FL IV.25: 296,24f. (IV.25,17f.) auf den Hinweis: Wie si [die Seelen im Fegefeuer] aber behalten m o gen werden, das haben wir an einer anderen stat funden. Verwiesen wird hier auf FL III.21: 212,23-214,31 (III.21,93-129), wie auch der Marginalie iii libro xxi f entnommen werden kann. 752 Eine vergleichbare Glosse (In dem ersten teile xliiii) 753 ermöglicht auch bei FL VI.31: 492,19 (VI.31,3f.): Ich sprach an einer stat in diseme b v che, das dú gotheit min vatter ist von nature das Nachschlagen der referierten Stelle. In anderen Fällen muss der Leser ohne eine solche Hilfestellung auskommen, vgl. FL VII.48: 622,35f. (VII.48,26): Des wil ich nu swigen, wan das ist p ch in dem b v che [vgl. FL I.1] geschriben und vielleicht FL VI.21: 478,29f. (VI.21,24f.): Das s o llent die jungesten br v der wesen, als da vor ist geschriben. 754 Die Rückverweise werden als Beleg für die Fähigkeit Mechthilds zum Selbstzitat aufgefasst und gelten als Beweis, dass «die Autorin ihr Werk als ein schriftliches [beherrscht].» 755 Man stößt jedoch auch in der ›Lux divinitatis‹ auf Rückverweise, und zwar über den deutschen Text hinausgehend. FL IV.3 handelt laut Überschrift von drien gaben der wisheit. Den größten Teil des Kapitels bilden Ausführungen zur ersten Gabe der Weisheit (240,4-244,9 [IV.3, 12-74]). Während der hier gebotene eigenständige und groß angelegte Visionsbericht über die Kirche als herrscherliche Jungfrau den Leser des deutschen Textes bald vergessen lässt, dass es sich um das erste Glied einer Aufzählung handelt, ruft der lateinische Text den ursprünglichen Erzählzusammenhang mit folgenden Worten in Erinnerung: Secunda de qua prediximus sapiencia usw. (LD II.25,2/ Rev. Bd. II.2, S. 503, LG II.22,2: Die ander weysheyt von welcher wir vor geredet hand). Auf einen vergleichbaren Fall stößen wir bei Von der Schrift zum Buch 279 751 Freilich kann die Umstellung von FL V.23: 366,5-12 (V.23,50-55) in der ›Lux divinitatis‹ auch auf Mechthild zurückgehen. Sollte dies der Fall sein, so wäre dies ein unschlagbarer Beweis dafür, dass die Übersetzungsvorlage eine andere Version des ‹Originals› bot. 752 Diesem Rückverweis entspricht der Vorverweis iiii libro xxv d in FL III.21, der versehentlich um einige Zeilen nach unten gerutscht ist (er bezieht sich auf 214,2f. oder 8f. [III.21,106f. oder 111f.]) 753 Dieser Verweis weicht von dem üblichen Schema der Stellenverweise ab. Man fragt sich, ob er erst auf einer späteren Überlieferungsstufe in den Text gelangt ist (vgl. dazu auch S. 123f. oben). Ein Vorverweis auf FL VI.31 findet sich in FL I.44 jedenfalls nicht. 754 Es ist unklar, ob sich dieser Satz auf ein vorangehendes Kapitel (FL IV.27 bzw. VI.15) bezieht oder ob es sich um einen in den Text geratenen, den Inhalt der Textstelle referierenden Randeintrag handelt, denn von den Jüngsten Brüdern ist auch in 478,27 (VI.21,22) die Rede. Eine Entsprechung für diese Stelle fehlt in der ›Lux divinitatis‹. Man liest dort Folgendes: Hij sunt predicatores nouissimi quibus eam amiciens protegam aduersus fallacias et malicias antichristi (LD III.5,27f./ Rev. Bd. II.2, S. 524, LG III.5,39-41: Dise werdent sein die letsten prediger mit welchen ich sye cleiden wirt vnd beschirmen wider die falscheyt vnd bosheyt des endtechrists). 755 G rubmüller (1992), S. 337. Vgl. auch V ollmann- P rofe (2008b), S. 208. <?page no="290"?> der Übersetzung von FL III.15. Das deutsche Kapitel erscheint in der ›Lux divinitatis‹ zweigeteilt: Der erste Teil (192,31-194,28 [III.15,4-28]) steht in LD V.25/ Rev. Bd. II.2, S. 610f. (LG V.20), der zweite (194,23-198,5 [III.15,24-67]) in LD VI.8/ Rev. Bd. II.2, S. 625f. (LG VI.8). Der erste Teil von FL III.15 endet in der lateinischen Übersetzung mit dem Vorverweis: Exaudiuit dominus me sicut in hoc libro continetur (LD V.25,23/ Rev. Bd. II.2, S. 611, LG V.20,35f.: vnd der herr hatt mich erh o rt als do in disem buch begriffen wirt). Zweifelsohne rühren die letztgenannten Verweise von den Übersetzern her. Sie zeigen, dass es nicht zwingend ist, Mechthild als sprechend-schreibendes Subjekt hinter jenen Querverweisen des deutschen Textes zu vermuten, die aus einer Ich- oder das Ich mit einschließenden Wir-Perspektive formuliert sind. 756 Bemerkenswert ist - davon wird in Kap. III.3 (S. 348ff.) ausführlicher die Rede sein -, dass es immer wieder solche Ich-Aussagen im lateinischen Text gibt, die über das ›Fließende Licht‹ hinausgehen, sei es, weil der deutsche Text an der entsprechenden Stelle in dritter Person Singular formuliert, sei es, dass er überhaupt keine Entsprechung zu dem bietet, was in der ›Lux divinitatis‹ steht. Ich-bezogenes Sprechen eignet sich demnach nicht als Authentizitätskriterium, und dies selbst an jenen Stellen nicht, an denen das Ich sein eigenes Sprechen und Schreiben thematisiert. 757 Unter diesen Umständen wäre zu fragen, ob die These, das ›Fließende Licht‹ stelle das von Mechthild eigenhändig und in eigener Regie niedergeschriebene Werk dar, in ihrer Exklusivität aufrechterhalten werden kann. Exklusiv ist diese von N eumann zum Durchbruch verholfene Position insofern, als sie mit Hinweis auf das das Buch dominierende und sein Sprechen und Schreiben reflektierende Ich die Beteiligung von Schreibern, Beichtvätern und Mitschwestern an der Textgenese marginalisierte. Dass mit solchen, wie es im ›Fließenden Licht‹ selbst heißt, vr o mden henden (FL VII.64: 662,11 [VII.64,8]) in der Tat zu rechnen ist, kann Textstellen entnommen werden, die sich in das etablierte Bild von Mechthild als «Herrin ihres Textes» 758 so gar nicht fügen wollen. Dies zeigt sich am Umgang der Forschung mit diesen loci suspecti. 280 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 756 Die Möglichkeit, die Querverweise könnten auf den Redaktor zurückgehen, erwägt auch O ehl (1911), S. 197 mit Anm. Es wäre zu vermuten, dass sie erst eingefügt wurden, als der Text publiziert und damit einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurde. Dies schließe ich aus dem gänzlichen Fehlen von Vor- und Rückverweisen in den ›Offenbarungen‹ der Katharina Tucher (ediert von W illiams / W illiams -K rapp 1998), einer Schrift wohlgemerkt, die in der vorliegenden (autographen) Form wohl kaum je zur Verbreitung bestimmt war, vgl. K. S chneider (1999), S. 115 und J eep (2000), S. 241. 757 Vgl. auch S uerbaum (2003), S. 250: «Wenngleich diese das eigene Sprechen und Schreiben reflektierenden Kapitel immer wieder wegen ihrer möglichen biographischen Bezüge untersucht worden sind, enthüllen sie doch mehr über die in aller Demut sich der eigenen von Gott geoffenbarten Autorität bewußten Sprecher-Rolle als über konkrete Lebensumstände.» Hinzuweisen wäre auch die Überlegungen von B ürkle (1999), S. 139 zum Typus der «schreibenden Mystikerin», vgl. S. 21f. oben. 758 V ollmann -P rofe (2008b), S. 208. <?page no="291"?> Im lateinisch-deutschen Prolog des ›Fließenden Lichts‹ wird die schriftliche Fixierung der göttlichen Offenbarungen, die einer begina bzw. swester zuteil wurden, an einen Predigerbruder delegiert, wobei dessen Anteil am Zustandekommen des Buches mit conscribere bzw. samente und schreib umschrieben wird. A lbert H auck war der Ansicht, auf diese Angabe sei wenig Verlass, denn sie entstammt LD II.40,12-14 (Rev. Bd. II.2, S. 517). Dort liest man, Heinrich von Halle habe Mechthilds dicta gesammelt (collegit). Aus dem Sammeln soll der Prolog-Verfasser, so H auck , das Schreiben bzw. Verfassen des Buches gemacht haben. 759 Ähnlich skeptisch verhält sich N eumann gegenüber dem Prolog. Zwar gibt er zu bedenken, conscribere könne «auch die Tätigkeit des Zusammenschreibens aus Vorlagen wie die Niederschrift nach Diktat» 760 meinen, doch will N eumann das Verb in einem anderen Sinn verstanden wissen. Dafür weist er auf das Visionsbuch Mechthilds von Hackeborn hin. N eu mann zitiert eine Stelle aus dem Prolog des ›Liber specialis gratiae‹, wo die Helftaer Mitschwestern Mechthilds versichern: Illa ergo quae, ipsa nobis narrante, didicimus, pro modulo nostro […] conscribemus (Rev. II.1, Lib. Prolog, S. 2). 761 N eumann s Lesart besagt, dass die Schreiberinnen sich unmöglich als Verfasserinnen verstanden haben können. 762 Deshalb heißt conscriptus auch im Prolog des ›Fließenden Lichts‹ nichts anderes, so N eumann an anderer Stelle, als «eine saubere, vielleicht kalligraphische Abschrift aus den von Mechthild gelieferten Heften.» 763 Dass dem so ist, begründet N eumann auch mit dem Hinweis auf FL II.26, wo von einem schriber die Rede ist, der das Buch nach Mechthild (na mir) geschrieben haben soll. 764 Ob es zulässig ist, conscribere auf die Bedeutung von ‹abschreiben› zu reduzieren und sich dabei ausgerechnet auf den ›Liber‹ Mechthilds von Hackeborn zu berufen, erscheint angesichts der Entstehungsumstände dieser Offenbarungsschrift höchst zweifelhaft. Es sei daran erinnert, dass der ›Liber‹ mit Ausnahme einiger Briefe Mechthilds, die am Ende von Buch IV wiedergegeben sind, aus Fremdaufzeichnungen besteht, die auf zwei Helftaer Mitschwestern zurückgehen. 765 Diese Aufzeichnungen - sie gründen auf von Mechthild Von der Schrift zum Buch 281 759 Vgl. H auck (1911), S. 189. 760 N eumann (1954b), S. 35. 761 ‹Das also, was wir aus dem, was sie uns erzählt hat, erfahren haben, wollen wir nach unserem Vermögen […] aufschreiben.› 762 Vgl. N eumann (1954b), S. 35. 763 N eumann ebd., S. 65. 764 Vgl. N eumann ebd., S. 35. 765 Dass es sich um zwei Personen handelt, geht etwa aus Lib. V.22 (Rev. Bd. II.1, S. 355) hervor: Vidit [Mechthild] etiam de Corde Dei tres radios tendentes in corda duarum personarum quae hunc librum scribebant (‹Auch sah sie aus dem Herzen Gottes drei Strahlen ausgehen in die Herzen zweier Personen, die dieses Buch schrieben›), ähnlich Lib. V.31 (Rev. Bd. II.1, S. 369). In weiten Teilen der Forschung herrscht Einigkeit darüber, dass eine dieser personae Gertrud von Helfta war, vgl. etwa H aas (1982/ 1984), S. 222, G rubmüller (1981), Sp. 10 und R uh (1993), S. 302. Diese Annahme gründet auf <?page no="292"?> mündlich vermittelten Gnadenerlebnissen sowie auf Berichten einer ihr vertrauten Schwester 766 - sind weit mehr als eine mechanische Mitschrift des Gehörten. So berichten die beiden Schreiberinnen, dass Mechthild des Öfteren zusammenhangslos gesprochen habe und dass ihnen die Bedeutung des Gesagten manchmal verborgen blieb. Aufgeschrieben wird nur das, was sie meinen, verstanden zu haben. 767 Wir haben es also nicht mit einer mechanischen Übertragung des Gehörten ins Geschriebene zu tun, sondern mit einem Transformationsprozess, der eine Interpretation, d. h. eine Bearbeitung, voraussetzt. 768 Weiterhin geben die beiden Schwestern zu, dass sie nur einen Teil dessen, was Mechthild offenbart wurde, aufgezeichnet haben. 769 Allem An- 282 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ jenen Textpartien, die Lib. VII,1-10 und Leg. V.4 gemeinsam sind (Stellennachweise bei A nkermann 1997, S. 58, s. dazu auch S pitzlei 1991, S. 46, Anm. 132). Dazu vermerkt P eters (1988a), S. 126: «Sicher ist freilich nur, daß in beiden Texten dasselbe Material über Mechthilds Tod - einmal [im ›Legatus‹] ausdrücklich auf Gertrud, das andere Mal [im ›Liber‹] auf eine ungenannte Schwester bezogen - verarbeitet worden ist. Daß deshalb eine der Schreiberinnen des Mechthild-Buches die Heilige Gertrud gewesen sein muß, scheint mir weniger gesichert und zwingend zu sein.» Zustimmend H ubrath (1998), S. 172 und (1999), S. 239, Anm. 15 (es sei hier darauf hingewiesen, dass es vielfache intertextuelle Bezüge auch in dem als Produkt eines Autorenkollektivs geltenden Engelthaler Schrifttum gibt, vgl. R ingler 1980, S. 81, 89 und 371f., P eters 1988b, S. 109 sowie B ürkle 1999, S. 292f.). - Die andere Schreiberin will R uh (1992), S. 3f. mit jener Person identifizieren, die die Bücher I und III-V des ›Legatus‹ Gertruds von Helfta verfasst hat. Kritisch äußern sich dazu A nkermann / S roka (1996/ 1997), S. 275-282. Den Identifizierungsvorschlag von R uh kommentiert H ubrath in keinem ihrer Beiträge zum ›Liber‹ (s. Literaturliste), ja mehr noch, sie nimmt erstaunlicherweise nicht einmal Notiz davon. 766 Vgl. Lib. V.24 (Rev. Bd. II.1, S. 356): Nam illa persona quae hunc librum partim ex ore ipsius [sc. Mechthilds], partim ex ore sibi familiarissimae conscripsit, ante tres annos fere talem per somnum vidit visionem (‹Denn jene Person, die dieses Buch teils aus ihrem [Mechthilds] Mund, teils aus dem Mund ihrer Vertrauten zusammengeschrieben hat, sah eine Vision vor beinahe drei Jahren im Schlaf›). Von einer Vertrauten ist auch in Lib. II.43 (Rev. Bd. II.1, S. 193) die Rede: Ex tunc illa hunc librum ita bene recognovit, quem nunquam corporeis viderat oculis, ut familiari suae ostenderet quantitatem libri, et formam corii quo erat opertus ediceret, et zonae qua circumligatus fuerat (‹Von da an erkannte sie das Buch, das sie niemals mit leiblichen Augen gesehen hatte, so gut, dass sie ihrer Vertrauten die Größe desselben beschrieb, sowie das Aussehen der ledernen Hülle, von welcher es umgeben, und der Schnur, mit welcher es umwunden war›). 767 Vgl. Lib. II.31 (Rev. Bd. II.1, S. 177): Quandoque etiam tam latenti lingua loquebatur, ut eam bene intelligere non possemus; unde nihil de his, praeterea quae diligenter et veraciter audivimus, et conservare potuimus, ad laudem Dei et utilitatem scripsimus proximorum (‹Zuweilen sprach sie auch mit einer so dunklen Sprache, dass wir sie nicht gut verstehen konnten. Deshalb haben wir nur das, was wir gewissenhaft und wahrhaftig gehört haben und behalten konnten, zum Lob Gottes und zum Nutzen der Nächsten aufgeschrieben›). 768 Vgl. H ubrath (1999), S. 241. 769 Vgl. Lib. V.30 (Rev. Bd. II.1, S. 363): Tanta etiam praetermisimus quod haec quae scripta sunt, pauca, respectu eorum quae omisimus, videantur. Haec autem ad Dei solius gloriam <?page no="293"?> schein nach pflegen die Mitschwestern einen sehr souveränen Umgang mit Mechthilds dicta: Aufgeschrieben wird nicht nur, was sie meinen verstanden zu haben, sondern auch das, was s i e für nützlich und förderlich für das Seelenheil des Nächsten halten. Sie bleiben mitunter keine passiven Mitschreiberinnen, sondern werden in den Offenbarungsprozess mit einbezogen. Auf die Frage Mechthilds, woher sie wissen kann, ob all das wahr ist, was die beiden aufgeschrieben haben, wenn sie das Buch noch nicht gelesen und auch nicht approbiert hat, erwidert der Herr. Er sei mit den Herzen derer, die von ihr hören wollen; Er sei das Verständnis im Ohr der Hörenden, durch welches sie verstehen, was sie hören; Er sei im Munde derer, die davon sprechen; Er sei in der Hand der Schreibenden. Auf diese Weise sei alles, was sie in ihm und durch ihn sprechen oder schreiben, wahr. 770 Die Mitschwestern gelten offenbar als ko-inspirierte Personen. 771 Sie dürften ihre eigenen «Teilwahrheiten» 772 dem Werk beigesteuert und somit das, was schriftlich niedergelegt ist, wohl nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich geformt haben. 773 Daher ist es auch nicht verfehlt, sie, gegen N eumann , als Ko-Autorinnen des ›Liber‹ zu bezeichnen. 774 Dies gilt im Übrigen auch für jene Helftaer Schwester, die die Bücher III-V des ›Legatus divinae pietatis‹ nach mündlichen Mitteilungen von Ger- Von der Schrift zum Buch 283 et proximorum utilitatem protulimus […] (‹Wir haben auch Vieles ausgelassen, und das, was geschrieben ist, erscheint wenig im Vergleich mit dem, was wir übergangen haben. Was aber geschrieben ist, das haben wir einzig zu Gottes Ehre und des Nächsten Heil aufgezeichnet›). 770 Lib. V.22 (Rev. Bd. II.1, S. 354): Ego sum in corde desiderantium audire in te, excitando ad hoc desiderium earum. Ego sum intellectus in aure audientium, per quem intelligunt quod audiunt. Ego etiam cum in ore inde loquentium; ego sum in manu scribentium; in omnibus cooperator eorum et adjutor; sicque omne quod in me et per me veritatem dictant et scribunt, est verum. 771 So heißt es in Lib. V.22 weiter: Vidit [Mechthild] etiam de Corde Dei tres radios tendentes in corda duarum personarum quae hunc librum scribebant; per quod intellexit quod divina inspirante et confortante eas gratia, hoc opus peragebant […] (‹Sie sah aus dem Herzen Gottes drei Strahlen ausgehen in die Herzen zweier Personen, die dieses Buch schrieben; daraus erkannte sie, dass dieselben auf Eingebung und unter dem Beistand der göttlichen Gnade dieses Werk vollbrachten›), vgl. auch Lib. V.31 (ebd., S. 370): Noli timere; ego totum feci. Meum est ergo omne opus illud. Ego dedi tibi, et tam veraciter sicut de spiritu meo accepisti, ita vere eas [die Schreiberinnen] meus compulit Spiritus et scriberent et elaborarent (‹Fürchte dich nicht; ich habe Alles gemacht. Mein ist also jenes ganze Werk. Ich habe es dir gegeben, und so wahrhaftiglich du es von meinem Geiste empfangen hast, so wahrhaft hat mein Geist jene [die Schreiberinnen] angetrieben, dass sie schrieben und es ausarbeiteten›). 772 H aas (1982/ 1984), S. 223. 773 In welchem Maße das mündlich Mitgeteilte und das von einer anderen Person schriftlich Niedergelegte mitunter auseinander gehen können, zeigt der ›Liber de vere fidelium experientia‹ der Angela Foligno auf anschauliche Weise, der diese Diskrepanz auch thematisiert, s. dazu E mmelius (2004), S. 57. 774 H ubrath (1999), S. 238 spricht in diesem Zusammenhang von einem «open concept regarding the author.» <?page no="294"?> trud verfasst hat. 775 Ihren Anteil am Buch beschreibt der Herr mit folgenden Worten: In derselben Liebe, womit ich dir [Gertrud] alles in diesem Buch Geschriebene in gnädiger Zueignung einflößte, habe ich es auch dem Gedächtnis einer Zuhörerin anvertraut, indem ich es zusammenstellte und ordnete und durch ihre Hand zu meinem Wohlgefallen niederschreiben (conscribere! ) ließ. 776 Dazu R uh : «Zusammenstellen, ordnen, niederschreiben» bezeichnen genau die Tätigkeit einer Redaktorin, der Aussagen, Berichte, Bekenntnisse zur Verfügung stehen, die diese indes nach freiem Belieben bzw. nach der Zweckbestimmung des Buches, hier dessen Veröffentlichung, verwenden kann. Der Spielraum, der Schwester N zustand, war ein denkbar großer. Sie ist die eigentliche Autorin des ›Legatus‹ III-V und wohl auch - was indes erst mit philologischen Mitteln erhärtet werden müßte - des ›Liber specialis gratiae‹. 777 284 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 775 Dass die Bücher III-V der Schreiberin in die Feder diktiert wurden, wie es in weiten Teilen der Forschung heißt (vgl. etwa P ierre D oyère , Introduction, in: Leg., SC, Bd. 139, S. 9-91, hier S. 22 und A nkermann / S roka 1996/ 1997, S. 275), hält R uh (1992), S. 8, Anm. 15 für «eine bloße Annahme, die auf der Interpretation der Nota nach ‹Legatus› IV 25 beruht (s. dazu ‹Legatus› IV [SC, Bd. 255], S. 246, Anm. 2).» Auch sollte berücksichtigt werden, betont R uh ebd., dass «‹Diktat› im Mittelalter keineswegs einem Stenogramm [entspricht], verbürgt jedenfalls nicht den Wortlaut. Und daß mündliche Aussagen, zu welchem Zwecke auch immer, interpretiert, d. h. modifiziert, gekürzt und erweitert wurden, war dem mittelalterlichen Textverständnis so selbstverständlich wie legitim.» Dies findet seine Bestätigung in den in Angelas ›Liber‹ thematisierten Verschriftlichungsumständen ihrer Offenbarungen, s. oben Anm. 773. 776 Leg. V.33 (SC, Bd. 331, S. 266): Ego enim in eodem amore, quo omnia in libro isto conscripta gratuita pietate mea tibi infudi, eodem etiam amore eadem memoriae a te audientis commendavi, componens et ordinans ac per manus ejus secundum optimum beneplacitum meum conscribens universa. 777 R uh (1992), S. 6. Zur Kritik der These von R uh , die von ihm Schwester N. genannte Schreiberin hätte auch am ›Liber‹ mitgearbeitet, s. A nkermann / S roka (1996/ 1997), S. 275-282. Ansonsten sei darauf hingewiesen, dass die Entstehungsbedingungen des von R uh für authentisch gehaltenen zweiten Buches des ›Legatus‹ keineswegs geklärt sind. Wohl ist dieser Teil in Ich-Form gehalten und nach dem Zeugnis des Prologs von Gertrud selbst niedergeschrieben worden (vgl. SC, Bd. 139, S. 114: In secundo libro continentur quae ipsamet, instigante Spiritu Dei, per gratiarum actionem conscripserat de modo susceptae gratiae), doch sind selbst hier «verschieden zu kombinierende Varianten der Autorschaft» denkbar, betonen A nkermann / S roka (1996/ 1997), S. 277. Ihnen zufolge könnte Buch II «a) original von Gertrud stammen, b) von Gertrud niedergeschrieben und von fremder Hand redaktionell überarbeitet worden sein, c) eine oder mehrere Mitschwestern zur Verfasserin haben.» Für die Richtigkeit dieser Annahme sprechen die Untersuchungsergebnisse von A nkermann / S roka . Es wird darauf hingewiesen, «daß gerade die Elemente, in denen die später entstandenen Teile des Legatus divinae pietatis [das sind die Bücher III-V sowie I] von dem Buch II abweichen, in Übereinstimmung mit dem Liber specialis gratiae stehen» (S. 281), s. dazu auch A nkermann (1997), S. 182-241. Dass die Möglichkeiten b) und c) nicht ganz auszuschließen sind, bezeugt <?page no="295"?> Wenn es im Prolog vom ›Fließenden Licht‹ heißt, es handle sich um einen liber conscriptus, so bedeutet das im Lichte der obigen Ausführungen mitnichten, dass eine Abschrift gemeint ist. Eher wird man an ein Buch denken müssen, das nach Diktat oder schriftlichen Notizen Mechthilds zusammengestellt wurde. 778 Diese Bedeutungsnuancen des Verbes conscribere hat auch N eumann in Erwägung gezogen (s.o.). Dass er sie nicht gelten lässt, 779 ist von seiner Position her gesehen nur allzu verständlich, denn die Aufwertung der Rolle des quodam frater des Prologs hätte die Frage aufgeworfen, wie sich sein Anteil an der Entstehung des ›Fließenden Lichts‹ mit dem von Mechthild vereinbaren lässt. 780 Eine weitere Gefahr für Mechthilds auktoriale Integrität und schriftstellerische Souveränität sah man in jenem schriber, von dem in FL II.26 gesagt wird, er hätte das Buch nach Mechthild (na mir) geschrieben. H einz T illmann identifiziert den anonymen Schreiber kurzerhand als Heinrich von Halle und betont, Heinrich habe «abgeschrieben, aber n i c h t g e ä n d e r t.» 781 Dieser Ansicht ist auch N eumann , denn er sieht es als erwiesen an, dass das Corpus der Bücher I-V «eine von M. schon ergänzte und von ihrem Beichtiger geprüfte (V.12), in Bücher und Kapitel eingeteilte, mit Kapitelüberschriften Von der Schrift zum Buch 285 übrigens R uh selbst, wenn er darauf hinweist, ‹Hackebornisches› würde sich auch in dem als authentisch geltenden zweiten Buch des ›Legatus‹ finden. Freilich erklärt R uh (1992), S. 16 diesen Befund damit, dass Gertrud - sie ist für R uh eine der Schreiberinnen des ›Liber‹ (zur Kritik s. oben Anm. 765) - «gelegentlich dem Einfluß Mechthilds und der Schwester N erlegen ist.» 778 So auch H asebrink (1998), S. 156. Wie in ›Liber‹ und ›Legatus‹ steht conscribere auch im ›Liber visionum‹ der Elisabeth von Schönau für einen redaktionellen Umgang mit schriftlichen Notizen, die von einem Dritten (vom Bruder Elisabeths sowie von ihren Mitschwestern) herrühren, vgl. R oth (1884), S. 1: Ego autem Eckebertus […] conscripsi omnia hec, et alia, que de revelationibus eius leguntur, s. dazu C lark (1999), S. 36-39. Auf das deutsche Pendant des Terminus Technicus conscribere stößen wir in der Einleitung der Vita der Schwester Gerdrut von Engelthal: […] z v Engeltal, da ain swester waz die hieß Gerdrut, der bichtiger wir baid [ich br v der C v nrat Fridrich vnd ich br v der Hainrich, die baid caplan waren z v Engeltal] waren vnd dem sie je ains sait dem anderen ain anders, je als ir vnser herr gnad gab her z v vns. Vnd daz hab wir etlich tail z v ain ander geschriben, daz sie vns gesagt hat vnd was ir got all ir tag von kinthait vncz jn ir alter genaden hat getan, als wir es aller werlichest mochten vinden, zitiert nach R ingler (1980), S. 445. 779 R uh (1993), S. 250f. missversteht N eumann , wenn er die referierte Prolog-Stelle mit Berufung auf N eumann (1954b), S. 35 wie folgt paraphrasiert: «Von Mechthild wird gesagt, daß sie ‹in vollkommener Weise den Fußstapfen des Predigerordens gefolgt› sei, und ein Bruder dieses Ordens [Heinrich von Halle] habe das Buch ‹mitgeschrieben› (conscriptus), das heißt, nach Diktat aufgezeichnet.» 780 Diese Frage hat M orel (1869), S. XXII dahingehend beantwortet, dass er die Angabe des Prologs zu einem «scheinbare[n] Widerspruch» zur Autorschaft Mechthilds erklärte, einem Widerspruch, der «seine Lösung in dem Worte g e s a m m e l t [findet], so dass mit Greith (S. 207) anzunehmen ist, dieser Bruder habe die von Mechthild geschriebenen einzelnen Blätter gesammelt und abgeschrieben» (Sperrung von M orel ). 781 T illmann (1933), S. 2, Anm. 7 (Sperrung von T illmann ). <?page no="296"?> versehene und i n R e i n s c h r i f t ü b e r t r a g e n e Fassung war.» Letzteres wird mit FL II.26 begründet. 782 Eine andere Einschätzung von FL II.26 vermittelt N eumann in seiner Textausgabe (zur Textkritik s. S. 266f.). Mit Berufung auf die auf Mechthilds Fürbitte folgende Antwort Gottes, die von mehreren Schreibern handelt, und vor allem mit Hinweis auf die lateinische Übersetzung (O domine cum gemitu cum desiderio peto pro scriptoribus qui hunc librum post me conscripserint . ut graciam tuam eis in mercede conferas qualem ad huc alius non accepit, LD Prol 6,25f./ Rev. Bd. II.2, S. 444,7- 10, ähnlich LG Vorrede 5,36f.) wird schriber in schribere (FL II.26, 34) emendiert. Offenbar denkt N eumann nicht mehr an einen konkreten Schreiber, der Mechthild bei der Abfassung ihres Buches behilflich war, sondern an die zukünftigen Kopisten des ›Fließenden Lichts‹. In die gleiche Richtung weisen auch die Überlegungen von N igel F. P almer . Zwar hält er anders als N eumann an der handschriftlich bezeugten Lesart schriber fest, paraphrasiert jedoch die hier zur Diskussion stehende Stelle in einer Weise, die der von N eumann vorgetragenen Position entspricht: «Herr, ich seufze und bitte f ü r j e d e n S c h r e i b e r , der sich zu Deinem Werkzeug macht und dieses Buch n a c h m e i n e m H i n s c h e i d e n [na mir] abschreiben wird.» 783 Die Begründung lautet: «Die Stelle sollte indessen auf keinen Fall auf einen Amanuensis der Visionärin bezogen werden, der etwa ihr Buch zusammenstellte oder die fertige Abschrift besorgte. Damit wird nur das Offenbarungsmodell der lateinischen Übersetzung auf den deutschen Text übertragen» (ebd.). Die von N eumann und P almer vertretene Interpretation ist durch ein temporales Verständnis von na mir geprägt, und zwar im Sinne des von der ›Lux divinitatis‹ gebotenen post me (nach mir, LG Vorrede 5,37). Denkbar ist jedoch auch eine andere Lesart von FL II.26. Sie findet sich nicht nur in den unter Anm. 782 genannten früheren Arbeiten von N eumann , sondern auch in der von V ollmann -P rofe vorgeschlagenen Übersetzung der referierten Stelle. Wie P almer lässt V ollmann -P rofe schriber (138,8f.) unverändert stehen, was auch angebracht erscheint, weil sowohl in der Überschrift als auch im Register von einem einzigen Schreiber die Rede ist. Übersetzt wird jedoch wie folgt: «O Herr, ich seufze und wünsche und bitte für deinen Schreiber, der das Buch n a c h m e i n e r A n w e i s u n g geschrieben hat» (139,15, Sperrung von mir). Die Übersetzung gründet auf der Annahme einer wie auch immer gearteten Kooperation zwischen Mechthild und ihrem Schreiber. Diese Deutung ließe sich erhärten, wenn man die feinen Bedeutungsunterschiede im Bittgebet beachtet, die zwischen dem deutschen und dem lateinischen Text feststellbar sind. Anders als in der ›Lux divinitatis‹, die eher auf das richtige Abschreiben abhebt, erweckt die Bitte Mechthilds, Gott möge auch ihm (dem Schreiber) zum Lohn solche Gnade schenken, wie sie noch niemals einem Menschen zuteil wurde (das du im p ch wellist die gnade geben ze lone, die nie menschen wart 286 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 782 Vgl. N eumann (1987a), Sp. 262 (Sperrung von mir). Ähnlich N eumann (1954b), S. 36f. 783 P almer (1992), S. 225 (Sperrungen von mir). <?page no="297"?> gelúhen, FL II.26: 138,9f. [II.26,35f.]), im deutschen Text den Eindruck, als gälte sie einem bestimmten Schreiber, der in den Offenbarungsprozess mit einbezogen ist. Diese Vorstellung ist bei Offenbarungsschriften, die durch die Beteiligung eines Dritten entstanden sind, gar nicht so ungewöhnlich. Man denke nur an den Status der Schreiberinnen in den oben vorgestellten, unter dem Namen Mechthilds von Hackeborn bzw. Gertruds von Helfta laufenden Helftaer Offenbarungswerken. 784 Wenn die Existenz eines Schreibers anhand von FL II.26 wahrscheinlich gemacht werden kann, stellt sich die Frage, ob es sich um einen rein rezeptiven oder einen mitgestaltenden Schreiber handelt. 785 Sollte das ›Fließende Licht‹ teilweise nach mündlichen Mitteilungen Mechthilds von einem unbekannten Dritten aufgezeichnet worden sein, 786 so gälte es auch hier das, was R uh in Bezug auf den ›Liber‹ festgestellt hat: Der Anteil der an der Buchgenese beteiligten Instanzen «ist nicht zu bestimmen.» 787 Selbst wenn wir es nur mit jemandem zu tun hätten, der die Reinschrift des jeweiligen Aggregatzustands des in Entstehung begriffenen Werkes besorgte, sollte die Frage erlaubt sein, über welche «textformende Kompetenz» (O ltrogge / S chubert ) ein solcher Schreiber verfügt haben kann. 788 Dass wir mit frühen Abschriften in der Tat zu rechnen haben, zeigt nicht nur FL II.26, sondern auch das letzte Kapitel des sechsten Buches (FL VI.43), das in der Art eines testimonium veritatis bekräftigt, Schwester Mechthild hätte die schrift, die sich im vorliegenden Buch findet, mit iren henden niedergeschrieben. Zugleich wird vermerkt, das Buch sei gesetzet, ein Ausdruck, der wenn auch nicht auf redaktionelle Bearbeitung, so doch auf eine bereits in kopialer Überlieferung vorliegende Textgestalt schließen lässt, auf welche hier zurückgegriffen wird, wobei die Art der Wiedergabe getrúwelich gewesen sein Von der Schrift zum Buch 287 784 Auch Hildegard lässt außer sich selbst ihren symmista, den vertrauten Helfer des zu schreibenden Werkes (d.i. Volmar von Disibodenberg), durch Gott autorisieren, vgl. M eier (2004), S. 253. 785 So auch D inzelbacher (2004), S. 166. 786 Dies setzt voraus, dass die textinternen Angaben zur Schreibtätigkeit der Ich-Sprecherin an sich nicht beweiskräftig sind, vgl. G rubmüller (1992), S. 335: «Konnte Mechthild von Magdeburg schreiben? Konnte sie lesen? Absurde Fragen, wie es scheint, angesichts eines schriftstellerischen Werkes von Rang, ausgeprägter Formulierungskunst, geistlicher Bildung: Aber die Fragen sind nicht eigentlich beantworbar.» S. dazu auch Anm. 757 oben mit Text. 787 R uh (1992), S. 3. Ähnlich äußert sich D oyère zu den Büchern III-V des ›Legatus‹, s. Leg. (SC, Bd. 139), S. 23. 788 Illustrative Beispiele aus dem nicht-mystischen Bereich dafür, wie weitgehend die Schreiber an der Modellierung von Texten mitgearbeitet haben, liefern die von Oswald von Wolkenstein in Auftrag gegebenen Sammlungen seiner eigenen Gedichte (s. dazu S chweikle 1993, S. 129f.) und die einst Donaueschinger, heute Karlsruher Handschrift des ›Nüwen Parzifal‹, die die Reinschrift (so B umke 2005, S. 25) dieses von einer Autorengruppe verfassten Werkes darstellt (s. dazu O ltrogge / S chubert 2002, S. 365). Vgl. in diesem Zusammenhang auch B aisch (2006), S. 42-53. <?page no="298"?> soll. Wieviele Abschriften vorgenommen wurden, bis dieses Textstück eingefügt wurde, lässt sich nicht feststellen. Unbegründet ist jedenfalls die Annahme, der Urheber dieser Notiz, die anlässlich der «zweiten «offiziellen» Redaktion», 789 das heißt anlässlich der Ausgabe der Bücher I-VI (= F 1 , Diagramm 5), inseriert worden sein soll, sei Heinrich von Halle. 790 Wenn dem so wäre, dann müsste man eigentlich erwarten, dass FL VI.43 auch in der lateinischen Version auftaucht. Das ist jedoch nicht der Fall. Dazu erklärt N eumann : FL VI.43 «ist vom Übersetzer der Revelationes mit Grund nicht in seinen Text aufgenommen worden, weil die lateinische Version weder mit dem Wortlaut noch mit dem Aufbau der Vorlage also getrúwelich verfuhr», wie es Heinrich von Halle tat, dessen «ehrfurchtsvolle[s] Bekenntnis» in FL VI.43 «eine willkürlich verfahrende Redaktionsarbeit noch unter Mechthilds Augen gewiß aus[schließt].» 791 Wie man zu diesem Argument auch stehen mag, unerwähnt bleibt, dass FL VI.43 auch im Register des sechsten Buches fehlt. Es empfiehlt sich daher, den Befund mit E rnst B ecker wie folgt zu deuten: Dieses Schlusskapitel [FL VI.43] wird weder von Mechthild, noch von Heinrich, noch von dem zweiten Bearbeiter stammen. Es kann erst im weiteren Verlaufe der deutschen Ueberlieferung hierher gesetzt worden sein. Immerhin beweist es, dass die ersten sechs deutschen Bücher noch einige Zeit das Gesamtwerk Mechthilds darstellten, das siebente Buch also erst verhältnismässig spät den voraufgehenden Büchern zugefügt wurde. Denn dieses Schlusskapitel steht anscheinend für die Gesamtheit aller sechs Bücher. 792 Wir haben es also mit einem Schreiberkolophon zu tun, 793 der erst auf einer späteren Textstufe mit Überschrift und Kapitelzählung ausgestattet und so in die Kapitelfolge des ›Fließenden Lichts‹ eingereiht wurde. 794 Dies lässt auf eine längere Kopialüberlieferung schließen, in die das ›Fließende Licht‹ (genauer 288 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 789 R uh (1993), S. 251. 790 Außer auf R uh (Anm. 789) wäre hier auf O ehl (1911), S. 17, A ncelet -H ustache (1926), S. 43, F innegan (1991), S. 21 und H asebrink (1998), S. 150 hinzuweisen. Verwirrend sind die Angaben bei N eumann : Auf S. 65 seiner Akademie-Abhandlung (1954b) wird das «ehrfurchtsvolle Bekenntnis» in FL VI.43 expressis verbis Heinrich von Halle zugeschrieben, auf S. 34 ist dagegen nur von einem «Herausgeber» bzw. «Redaktor» die Rede, ähnlich N eumann (1990), S. 251, App. zu FL VI.43 («wohl Zusatz eines Redaktors») und D ers . (1993), S. 142f., Anm. zu VI.43,1-5 («vom Herausgeber des Corpus, welches die Bücher I-VI umfaßte»). N eumann wird mit Sicherheit an Heinrich von Halle gedacht haben, denn Heinrich ist ja derjenige, den N eumann als Herausgeber und Redaktor der Bücher I-VI des ›Fließenden Lichts‹ identifiziert. 791 N eumann (1954b), S. 65. Ähnlich N eumann (1993), S. 142, Anm. zu VI.43,1-5. 792 B ecker (1951), S. 205. 793 So auch S enne (2004), S. 149, Anm. 29 und W ebster (2005), S. 116. Vgl. auch T illmann (1933), S. 2, Anm. 7, H auck (1911), S. 190 und G rubmüller (1992), S. 337. 794 Dieser Schreiberzusatz dürfte noch keine Zählung gehabt haben, als das erste Prooemium unter anderem mit dem Querverweis vi libro in ende versehen wurde, s. dazu S. 123f. oben. <?page no="299"?> die Einheit der Bücher I-VI) schon früh eingegangen ist. In der Tat weist auch der textgeschichtliche Befund in diese Richtung (s. Diagramm 4 mit vorangehendem Kommentar). Auf einer dieser Abschreibestationen könnte auch der lateinische Prolog eingefügt worden sein, denn auch er fehlt der ›Lux divinitatis‹ (s. dazu S. 144f.). Des Weiteren ist B ecker zuzustimmen, dass die Bücher I-VI «noch einige Zeit das Gesamtwerk Mechthilds darstellten.» Besonders deutlich sieht man dies am multifunktionalen Glossenwerk, das diesen Teil des ›Fließenden Lichts‹ auszeichnet und auf einer frühen Textstufe, jedenfalls noch vor der Vergabelung der Textgeschichte in zwei Überlieferungszweige, eingefügt wurde (s. dazu Kap. II.1.2). Ohne ein solch gelehrtes Rahmenwerk muss dagegen das siebte Buch auskommen. Für diesen Teil des Textes gelten jedoch ohnehin andere Entstehungsbedingungen. Im vorletzten Kapitel des siebten Buches (FL VII.64) findet sich ein Gebet, in dem die Ich-Sprecherin - sie figuriert als betlerin - Gott für die Hilfe fremder Augen, fremder Herzen und fremder Hände dankt: Herre, ich danken dir, sit du mir benomen hast die maht miner p gen, das du mir nu dienest mit fr o mden p gen. Herre, ich danken dir, sid du mir benomen hast die maht miner henden, das du mir nu dinest mit fr o mden henden. Herre, ich danke dir, sid du mir benomen hast die maht mines herzen, das du mir nu dienest mit vr o mden herzen (662,8-13, [VII.64,6-10]) Dieser Dank gilt einer konkreten Personengruppe, was aus dem unmittelbar anschließenden Bittgebet deutlich wird: Herre, ich bitte dich vúr si, das du es in wellest lonen in ertrich (662,14f. [VII.64,11]). Es handelt sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die Angehörigen des Zisterzienserinnenklosters Helfta, wo Mechthild die letzten Jahre ihres Lebens verbracht hat. 795 Dies geht aus dem Prolog der ›Lux divinitatis‹ hervor: Tandem post multas tribulaciones in senectute uita sanctimonialium in helpede assumpta et per annos . xij . commorata omnium uirtutum perfeccione floruit. Bemerkenswert ist der folgende Zusatz: ut earundem testimonio conprobatur (LD Prol 1,33-35/ Rev. Bd. II.2, S. 436,30- 33). 796 Diese Berufung auf das Zeugnis der Helftaer Mitschwestern ist in der Forschung bislang unbeachtet geblieben. Man fragt sich, ob es sich um ein schriftliches Zeugnis handelt, das hier referiert wird. Diese Frage ist insofern berechtigt, als es tatsächlich eine soror M. in Helfta gibt, die in den dortigen Visionsschriften gelegentlich auftritt und die in der Forschung mit Mechthild Von der Schrift zum Buch 289 795 Auf eine Schwesterngemeinschaft gibt es immer wieder Anspielungen in diesem letzten Buch des ›Fließenden Lichts‹, vgl. mine vrowen (FL VII.4: 540,20 [VII.4,3]), si (FL VII.8: 550,11 [VII.8,23]), samenunge (FL VII.13: 558,5 [VII.13,16] und VII.53: 634,18f. [VII.53, 2]), under inen (FL VII.14: 558,25 [VII.14,14f.]). Völlig aus der Luft gegriffen ist die Annahme, Gertrud von Helfta hätte der erblindeten Mechthild als Schreiberin zur Seite gestanden, so L anczkowski (1987), S. 424. Zustimmend zitiert von K eul (2004), S. 201. 796 LG Vorrede 1,46-50: Zum letsten nach viel trúbseligkeyt in yrem alter ward sy angenommen in ein samlung der Closterfrawen zú Helpede vnd wonet do xij Jar vnd blúwet mit volkommenheit aller túgent als dan bewert wúrt vß der selbigen closterfrawen zugnús. <?page no="300"?> von Magdeburg identifiziert wird. 797 Sollten diese Stellen den Referenzpunkt der genannten Berufung auf die Zeugenschaft der Helftaer Mitschwestern darstellen, so würde dies für die Datierung des ›Lux divinitatis‹-Prologs bedeuten, dass der Prolog erst einige Jahre nach der eigentlichen Übersetzung, frühestens jedoch Anfang des 14. Jahrhunderts entstanden sein kann. 798 Allerdings ist auch nicht auszuschließen, dass es sich um eine topische Wendung handelt, die bezweckt, den vorbildlichen Lebenswandel der Protagonistin durch Augenzeugen zu bestätigen. In diesem Fall wäre die Stelle ohne jeglichen Aussagewert für die Datierung des Prologs. Irritierend wirkt jedoch, dass dem Prolog-Verfasser die Kunde von der Existenz eines siebten Buches fehlt. Erklären lässt sich dies wohl damit, dass dieses Buch erst nach der Abfassung des ›Lux divinitatis‹-Prologs gesammelt und dem bestehenden Corpus des ›Fließenden Lichts‹ angeschlossen wurde. 799 Die endgültige, sieben Bücher umfassende Gestalt des ›Fließenden Lichts‹ wird vermutlich ein Mitglied des Helftaer Konvents posthum besorgt haben. 800 Eine oder mehrere Mitschwestern scheinen auch bei der Niederschrift der Offenbarungen Mechthilds von Magdeburg und/ oder deren Redaktion beteiligt gewesen zu sein. 290 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 797 Vgl. P eters (1988a), S. 122-125. S. dazu auch S. 131, Anm. 136 oben. 798 Buch II des ›Legatus‹ stammt aus dem Jahr 1289, die restlichen Bücher wurden gegen 1301 aufgezeichnet. Zwischen der Niederschrift des zweiten Buches des ›Legatus‹ und der Bücher III-V bzw. I liegt die Niederschrift der Offenbarungen Mechthilds von Hackeborn in den Jahren 1290-1299. 799 O rtmann (1992), S. 160 u.ö. nennt das siebte Buch eine «Nachlese in Helfta». Hier sei darauf hingewiesen, dass sich gelegentlich in der Forschung die Ansicht findet, auch Buch VI sei in Helfta entstanden, vgl. P reger (1874), S. 95, G rössler (1887), S. 16 und 33, B ecker (1951), S. 204, H eimbach (1989), S. 163, K asten (1995), S. 11 und S uerbaum (2003), S. 250. Wenn überhaupt eine Begründung für diese Annahme gegeben wird, so werden jene Kapitel des sechsten Buches genannt, in denen ein recht spezifischer Personenkreis belehrt (vgl. FL VI.1: Priorin, VI.2: Kanoniker, VI.7: ein geistlich mensch), Kritik an Missständen, vor allem unter geistlichen lúten, geäußert (vgl. FL VI.3, 13 und 21) und auf Verdächtigungen selbstbewusst geantwortet wird (vgl. FL VI.31 und 36). Deutliche Anspielungen auf ein monastisches Umfeld gibt es nur im siebten Buch, vgl. FL VII.4: 540,19 (VII.4,2f.), VII.8: 550,11 (VII.8,22f.), VII.13: 558,5 (VII.13,16), VII.14: 558,11 (VII.14,4) und VII.53: 634,18f. (VII.53,2). Auch sonst hebt sich Buch VII von den vorangehenden Büchern ab, s. dazu weiter unten. 800 So N eumann (1993), S. 202. Im Jahre 1954 war N eumann noch anderer Meinung: Ausgehend von FL VII.41, das laut Überschrift von einem predierbr v der handelt, worüber der Text selbst jedoch nichts aussagt (hier liest man nur von einem geistlichen man), nimmt N eumann (1954b), S. 40 an, man müsse jene Person, die die Kapiteleinteilung und die Überschriften besorgte, «wohl» im Hallischen Dominikanerkloster suchen. H aas (1982/ 1984), S. 271 vermutet sogar, die Schlussredaktion des ›Fließenden Lichts‹ «dürfte» von Heinrich von Halle in Helfta (! ) vorgenommen worden sein. Dass die Überschrift von FL VII.41 ein starkes Indiz für eine in Dominikanerkreisen erfolgte Endredaktion wäre, ist zu bezweifeln, denn es lassen sich Beispiele dafür nennen, dass ein solcher Bezug auch in der Überlieferung hergestellt werden konnte, vgl. S. 187, Anm. 367 mit Text und S. 244 oben. Ein gewichtiges Indiz für die Rezeption des Gesamttextes im dominikanischen Bereich ist die Überschrift von FL VII.41 allemal. <?page no="301"?> Einen Hinweis darauf, dass Teile des siebten Buches auf Fremdaufzeichnungen zurückgehen, liefert der oben zitierte Passus aus FL VII.64. Diese Textstelle wird in der Forschung als Beleg dafür angeführt, dass die Helftaer Nonnen die Offenbarungen der im Alter allem Anschein nach erblindeten Mechthild nach ihrem Diktat aufgezeichnet haben. 801 Die Ausführungen von oben zeigen allerdings, dass das Schreiben nach Diktat in Helfta keine mechanische Mitschrift bedeutet. Die Schreiberinnen, die sich in den Dienst ihrer begnadeten Mitschwester stellen, können mitunter die Aufgabe des Kompilators, ansatzweise sogar diejenige des Kommentators übernehmen. 802 Deshalb empfiehlt es sich, ins Kalkül miteinzubeziehen, dass das vom ›Liber‹ und dem ›Legatus‹ her bekannte arbeitsteilige Prinzip, das als das Charakteristikum der Helftaer Literaturproduktion gilt, 803 auch die Modalitäten der Entstehung von Buch VII des ›Fließenden Lichts‹ bestimmt haben kann. Dagegen heißt es über das siebte Buch in der Forschung: «Eine Redaktion hat es allem Anschein nach nicht erfahren. So gesehen, kommt ihm der höchste Grad an Authentizität zu.» 804 K urt R uh , der sich für eine solche Einschätzung des letzten Buches des ›Fließenden Lichts‹ aussprach, weist zur Begründung darauf hin, dass das siebte Buch im Unterschied zu den früheren Entstehungsphasen ohne jeglichen Schlussvermerk endet (ebd.). Ob dies als Argument für eine fehlende Redaktion ausreicht, sei dahingestellt. N eumann selbst hat eine Redaktion jedenfalls nicht ausgeschlossen. Er weist darauf hin, «[d]aß an der heutigen Gestalt des ‹Fließenden Lichts› vor seiner Übertragung in alem. Sprachform eine dritte Hand beteiligt gewesen ist, die auch für Buch VII die Kapiteleinteilung und die Überschriftung besorgte.» 805 Vergleicht man die Überschriften von Buch VII mit denen der Bücher I-VI, so zeigt sich in der Tat, dass sie «um möglichst exakte Inhaltsangaben bemüht und auch formal stärker schematisiert (sie beginnen z.B. fast durchweg mit Wie oder Von) [sind].» 806 Von einer tiefgreifenderen Redaktion des siebten Buches will selbstverständlich auch N eumann nichts wissen. Dasselbe gilt im Übrigen auch für F rank T obin . Er ist der Ansicht, Buch VII sei im Vergleich zu den frühen Büchern des ›Fließenden Lichts‹, die «a certain role-playing on the part of the author-narrator» erken- Von der Schrift zum Buch 291 801 Vgl. etwa N eumann (1987a), Sp. 261 und (1993), S. 202, P almer (2005), S. 252 und V oll mann- P rofe (2007b), S. 59. Allerdings wird eine Mitarbeit der Helftaer Mitschwestern in all diesen Fällen nur für den Schlussteil des siebten Buches attestiert. 802 So H ubrath (1996), S. 54 über den Anteil der Schreiberinnen Mechthilds von Hackeborn an der Entstehung des ›Liber specialis gratiae‹. Zum Helftaer Literaturbetrieb s. auch N emes (2012). 803 Vgl. H.-J. S chiewer (2002b), S. 181-183 und (2004), S. 297-300 sowie P almer (2005), S. 253. 804 R uh (1993), S. 251 und daran anschließend S enne (2002), S. 7. 805 N eumann (1954b), S. 40. 806 N eumann (1993), S. 202. Einen besonders deutlichen Beleg für die Aufteilung eines ursprünglich wohl zusammenhängenden Textabschnittes liefern die Kapitel FL VII.22- 25, s. dazu V ollmann- P rofe (2003), S. 839, Anm. zu 576,11-578-24. Das Gleiche gilt im Übrigen auch für FL I.39-43. <?page no="302"?> nen lassen, literarisch gänzlich unprätenziös. 807 Diese Gegenüberstellung suggeriert, als sei die authentische Stimme Mechthilds im letzten Buch unverhüllter zu vernehmen als in den stärker literarisierten früheren Büchern. Zu erklären ist diese Sicht wohl damit, dass Buch VII allgemein als das am deutlichsten ‹didaktische› Buch des ›Fließenden Lichts‹ wahrgenommen und als solches von den vorangehenden ‹mystischen› Büchern abgehoben wird. 808 Der Forschung ist durchaus zuzustimmen, dass das siebte Buch im Hinblick auf Inhalt und Diktion sowie redaktionelle Bearbeitungsspuren eine Sonderstellung einnimmt. Allerdings ist es fraglich, ob man diese Sonderstellung zu einem Authentizitätsbeweis ummünzen kann. So wird man die Tatsache, dass sich der Großteil der lateinischen Zitate (aus Bibel und Liturgie) im siebten Buch befindet, «kaum im Sinne einer geradlinigen Zunahme der Lateinkenntnisse der älter gewordenen Nonne» 809 erklären. Dasselbe gilt auch für 292 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 807 Vgl. T obin (1994), S. 60f.: «In the early books one can detect a certain role-playing on the part of the author-narrator. She is conscious of being literary in her creation. She is able to turn her mysticism into an aesthetic experience. She both is and poses as a literary artist. In the final book, the pose is largely gone, replaced by a frankness lacking any literary pretension.» 808 S. dazu S uerbaum (2009), S. 31. 809 M argetts (1977), S. 126, Anm. 14. Bedingt aussagekräftig sind in diesem Zusammenhang die wenigen deutschen Direktzitate aus der Bibel, weil sie nicht nur im siebten Buch, sondern auch im ganzen Werk verstreut vorkommen, vgl. FL II.22: 78,2 (II.2,20): ein tag ist mir tusent jar, vgl. Ps 89,4 (mille anni ante oculos tuos tamquam dies) - FL II.19: 108,6 (II.19,64f.): got ist allú ding in allen dingen, vgl. I Cor 14,28 (ut sit Deus omnia in omnibus) - FL III.3: 162,17f. (III.3,5f.): Fr p we brut, ir sprechent in der minne b v ch úwerem lieben z v , das er von úch vliehe, vgl. Ct 8,14 (Fuge, dilecti mi) - FL III.10: 184,28f. (III.10,41f.): Vatter, enpfahe minen geist, nu ist es alles vollekomen, vgl. Lc 23,46 [= Ps 30,6] (Pater, in manus tuas commendo spiritum meum) bzw. Io 19,28 (iam omnia consummata) - FL III.20: 206,1f. (III.20,16f.): Du bist alles sch o ne, min frúndinne, und kein vlekke ist an dir, vgl. Ct 4,7 (tota pulchra es amica mea et macula non est in te), s. dazu H asebrink (2000), S. 159 - FL IV.12: 260,23f. (IV.12,42): Wir s o llen got sehen als er ist, vgl. I Io 3,2 (Quoniam videbimus eum sicuti est) - FL IV.12: 260,26 (IV.12,44): ist manigerleie wonunge in dem himmelriche, vgl. Io 14,2 (In domo Patris mei mansiones multae sunt) - FL IV.12: 260,29 (IV.12,46): Eya, entwich mir, lieber herre, vgl. Ct 8,14 (Fuge, dilecti mi) - FL V.23: 364,11f. (V.23,27f.): Ich gibe mich gotte ze dienste nach dinen worten, vgl. Lc 1,38 (Ecce ancilla Domini, fiat mihi secundum verbum tuum) - FL VI.11: 454,7f. (VI.11,6f.): Venite, benedicti patris mei, koment z v mir, alle seligen, und gant von mir, alle unselegen, vgl. Mt 25,34 und 41 (Venite, benedicti Patris mei bzw. Discedite a me, maledicti) - FL VI.29: 490,19f. (VI.29,32): Gant von mir, ir vervl v hten, in das ewige fúr, vgl. Mt 25,41 (Discedite a me, maledicti, in ignem eternum) - FL VI.33: 500,24 (VI.33,24): min vrid si iemer mit dir, vgl. Lc 24,36 u.ö. (Pax vobis) - FL VI.35: 502,13 (VI.35,2): Stand uf, min vil lieber, und erhole dich, vgl. Ct 2,13 u.ö. (Surge, amica mea, speciosa mea, et veni) - FL VII.7: 544,31f. (VII.7,16f.): als ein mensche sin antlitze besihet in eime claren spiegel, vgl. Iac 1,23 (hic comparabitur viro consideranti vultum nativitatis suae in speculo) - FL VII.25: 578,21f. (VII.25,10f.): das gesach nie menschen p ge, das gehort nie menschen ore, vgl. I Cor 2,9 (quod oculos non vidit nec auris audivit) - FL VII.46: 618,17f. (VII.46,10f.): Z v den wellen wir komen, min vatter und ich, und <?page no="303"?> das von R uh postulierte gesteigerte und präzisere theologische Sachwissen, das dem in Helfta geschriebenen siebten Buch eigen sein soll und das R uh auf Heinrichs Belehrung zurückführen will. 810 Darüberhinaus fragt man sich, ob die Dominanz der Lehre monastischer Disziplin und der entsprechenden literarischen Vermittlungformen im siebten Buch des ›Fließenden Lichts‹ allein dadurch zu erklären ist, dass Mechthild bestrebt war, den Interessen ihrer Rezipientinnen entgegen zu kommen. 811 Hier sei auf eine Besonderheit von Buch VII hingewiesen: Man stößt im siebten Buch des ›Fließenden Lichts‹ immer wieder auf Texte, deren narrative Struktur darauf schließen lässt, dass bestimmte, im monastischen Raum beheimatete Textsorten modellbildend wirkten. Zu nennen wäre etwa die Passionsmeditation auf die sieben Tagzeiten in FL VII.18, 812 der Einfluss der Herzkloster-Allegorie auf die Beschreibung des «Tugendklosters» 813 in FL VII.36, 814 das litaneiartige Lobgebet in FL VII.19, die Ave-Maria- Paraphrase in FL VII.20, Gebete in FL VII.30 und 51 (sie werden in den Überschriften auch als solche bezeichnet), an kirchliche Feste anknüpfende Visionen in FL VII.2 und 60, Gewissenspiegel und Dankgebet anlässlich des Eucharistieempfangs in FL VII.21. Auch für die vorangehenden Bücher wäre zu erwägen, inwieweit sie inhaltlich und formal an eine schon in der ersten Hälfte/ Mitte des 13. Jahrhunderts vorhandene volkssprachliche (mitteldeutsch/ niederdeutsche) geistliche Literatur anknüpfen, eine Literatur, die freilich nur spärlich erhalten ist, deren Existenz aber vorausgesetzt werden muss, will man das ›Fließende Licht‹ nicht, wie bisher, als ein gänzlich isoliertes Phänomen in der literarischen Landschaft des 13. Jahrhunderts sehen. 815 Das Fehlen einer solchen Untersuchung hat schon H erbert G rundmann beklagt. 816 Sie gilt immer noch als Desiderat, trotz gelegentlicher Hinweise in der Forschung. 817 So weist K laus G rubmüller auf eine im östlichen Niederdeutschen und in Thüringen gut bezeugte niederdeutsche Reimapokalypse aus dem 12. Jahrhundert hin und vermerkt, mögliche Bezie- Von der Schrift zum Buch 293 wellen ein wonung mit in machen, vgl. Io 14,23 (ad eum veniemus et mansiones apud eum faciemus) - FL VII.55: 640,18 (VII.55,26): Únser herre got hat úns allererst geminnet, vgl. I Io 4,19 (Deus prior dilexit nos) und FL VII.63: 660,8f. (VII.63,11): Herre, din wille geschehe und nit der min, vgl. Lc 22,42 (non mea voluntas sed tua fiat). 810 Vgl. R uh (1993), S. 249. Dieses Postulat von R uh wie auch ein eingehender Vergleich von Buch VII mit Buch I-VI einerseits und den Helftaer Offenbarungsschriften anderseits sind Forschungsdesiderate. 811 Vgl. V ollmann- P rofe (2003), S. 835, Anm. zu 554,1-32 über FL VII.11: «Die Darstellungsform, wonach der Herr «in Gestalt von» geschaut wird, ist den früheren Büchern fremd, kam den Rezipienten aber offenbar entgegen.» In der Tat lässt die Faktur des glichnisses in FL VII.11 (und in VII.13) ein allegorisch gedeutetes Exempel als Prätext erkennen, s. D icke (2003), S. 275. 812 S. dazu B aier (1977), S. 421. 813 V ollmann- P rofe (2003), S. 843, Anm. zu 598,5-602,12. 814 S. dazu G. B auer (1981), Sp. 1164: «früheste dt. Behandlung des ‹Herzkloster›-Themas». 815 Vgl. etwa die Formulierung von K eul (2004), S. 23: «Mechthilds Buch taucht aus dem Dunkel der Geschichte auf wie ein Blitz aus heiterem Himmel.» 816 G rundmann (1935/ 1977), S. 467. 817 Grundlegend: S chweitzer (1992). <?page no="304"?> hungen zum ›Fließenden Licht‹ seien im Einzelnen noch nicht geprüft. 818 Neulich hat C arola R edzich auf das Fragment einer ostmitteldeutschen Prosaübersetzung der Apokalypse aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts hingewiesen, das in einem der Frühdrucke des Klosters Neuhelfta vermakuliert wurde. 819 Das Anzitieren eines geistlichen Minneliedes vermutet V ollmann -P rofe in dem in FL II.25 (134,15f. [II.25, 134f.]) enthaltenen canticum animae. 820 Auf Übereinstimmungen zwischen FL II.25 und einer Passage aus dem Gnadenleben des Friedrich Sunder, ja sogar auf die Identität eines Verses (FL II.25: 130,21-22 [II.25,70-71]), weist S iegfried R ingler (1980), S. 250f. hin. Daraus schlussfolgert er: «Der identische Vers könnte etwa einer allgemein verbreiteten Liedzeile entstammen, die Übereinstimmungen in Begriffen und Reihenfolge aber durch den gleichen thematischen Vorwurf bedingt sein, angeregt durch eine gemeinsame Quelle.» R ingler denkt an ›Tochter Syon‹-Dichtungen, so auch an das um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstandene ›Tochter Sion‹-Gedicht des Lamprecht von Regensburg. 821 Für die Existenz einer solchen Quelle sprechen auch die «ganz konkrete[n] Textparallelen», die N eumann zwischen FL II.25: 132,2f. (II.25,88ff.) und den Werken Beatrijs’ von Nazareth ermittelt hat. 822 Last but not least sei auf einen Aufsatz von N igel F. P almer hingewiesen, in dem es indirekt auch um die Frage geht, welchen literarischen Hintergrund wir für solche Texte wie das ›Fließende Licht‹ im 13. Jahrhundert ansetzen können. 823 Einen Eindruck von diesem literarischen Hintergrund könnte die Mitüberlieferung in der neu aufgefundenen Moskauer ‹Mechthild-Handschrift› vermitteln. 824 Doch gerade diese unter die ‹Mechthild-Exzerpte› vermischten (anonymen) Texte lassen folgende Frage aufkommen: Ist es denkbar, dass es sich bei dem einen oder anderen Kapitel des heute unter dem Namen Mechthilds von Magdeburg laufenden ›Fließenden Lichts‹ um ursprünglich anonyme Texte ganz unterschiedlicher Provenienz handelte? Mit anderen Worten: Ist es möglich, dass sich ‹fremdes› Material unter die Kapitel des ›Fließenden Lichts‹ gemischt hat? Das Phänomen ist nicht unbekannt. Man denke etwa an die (erst durch philologischen Spürsinn identifizierten) Texte des Johannes von Sterngassen, die in die Offenbarungen der Adelheit 294 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 818 G rubmüller (1992), S. 342, Anm. 27. Zur Präsenz und Rezeption der Apokalypse (hier des Apokalypsenkommentars des Heinrich von Hesler) in Mitteldeutschland s. auch die Überlegungen von H onemann (2008b), S. 6-8. 819 Vgl. R edzich (2004), S. 166f. 820 V ollmann- P rofe (2003), S. 745, Anm. zu 134,18. S. dazu auch S. 177, Anm. 325 oben. 821 Ähnlich äußert sich R ingler (1980), S. 81 im Zusammenhang von Motiv- und Strukturparallelen zwischen dem ›Fließenden Licht‹ und den ›Offenbarungen‹ der Adelheid Langmann. In der Tat ist es nicht ausgeschlossen, dass es eine volkssprachlich-mystische (Lied)- Tradition sowohl im 13. als auch im 14. Jahrhundert gab, s. T heben (2010), S. 311. 822 N eumann (1965), S. 242. N eumann versteht diese Parallelen allerdings als Beweis für eine direkte Abhängigkeit. Ähnlich E piney -B urgard (1992). Kritisch dazu G ooday (1974) und S panily (2002), S. 152f. 823 P almer (2007), S. 97-100. Vgl. auch S tierling (1907), S. 35. 824 Irritierenderweise tauchen die nicht identifizierten Textpartien - sie stammen von einer anderen Schreiberhand - mitten in den Mechthild-Exzerpten auf. G anina / S quires (2010), S. 68 erwägen, es könnte sich um bislang unbekannte Texte von Mechthild handeln. Das ist jedoch aus den oben genannten Gründen keineswegs zwingend, selbst wenn man sich aufgrund von Duktus und Thema (vgl. FL IV.12 und V.4) ans ›Fließende Licht‹ erinnert fühlt. <?page no="305"?> von Freiburg Eingang gefunden haben. 825 Hinzuweisen wäre auch auf die für die Überlieferung des Minnesangs charakteristische Varianz von Autorzuschreibungen, die unter anderem damit erklärt wird, dass Texte, die im Anhang zu einem bestimmten Autorcorpus zunächst anonym überliefert sind, auf einer bestimmten Stufe der Rezeption bzw. Re-Produktion einem mit Autornamen ausgewiesenen Corpus angeschlossen werden. 826 Ähnlich hätte es auch den beiden kurzen Stücken ergehen können, die am Schluss des Einsiedler Cod. 277 enthalten sind. 827 Die Logik, die solche auf (Re)Integration hinauslaufenden Prozesse ansteuert, ist selbst in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den beiden Kapiteln noch zu spüren: Nach H ubert S tierling gehört eines der beiden Kapitel zu den Offenbarungen Mechthilds. 828 N eumann ist dagegen der Meinung, dass die beiden angehängten Textstücke nichts mit dem Mechthild-Corpus zu tun haben. 829 Würde die Einsiedler Handschrift keinen «sterile[n] Seitentrieb einer reicheren entwickelten Überlieferung» 830 darstellen, wäre es durchaus vorstellbar, dass beide Textpartien - infolge ihrer Vereinigung mit den vorangehenden losen Kapiteln des ›Fließenden Lichts‹ während des Reproduktionsprozesses - für die nachfolgende Generation von Rezipienten nicht mehr vom ‹eigentlichen› Text Mechthilds zu trennen gewesen wären. Buch VII hebt sich von den vorangehenden Büchern des ›Fließenden Lichts‹ auch dadurch ab, dass sich hier immer wieder Anklänge an frühere Formulierungen feststellen lassen. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Dublette in FL V.20: 356,6-10 (V.20,2-4) und VII.18: 564,13-17 (VII.18,3-7): FL V.20 FL VII.18 O grosser t p der edelen gotheit, O grosser t p w der edelen gotheit, o cleine bl v me der s u ssen maget, o cleiner bl v me der s u ssen maget, o nútzú fruht der sch o nen bl v men, o nútzú fruht der sch o nen bl v men, o heilig oppher des himelschen vatter, o heliges oppfer des himelschen vatter, o getrúwe l o sephant aller der welte o getrúwes l o sepfant aller welte N eumann zufolge «scheint es sich um eine bewußte Wiederverwendung seitens der Verfasserin zu handeln.» 831 V ollmann -P rofe dagegen ist der Ansicht, die nochmalige Verwendung der Anrufungen im siebten Buch «dürfte kaum auf M. zurückgehen.» 832 Auf ein vergleichbares Verfahren stößen wir auch in FL VII.8: 548,10-13 (VII.8,3-5). Den Prä-Text bildet hier FL I.40: 56,5-8 (I.40,2-4): Von der Schrift zum Buch 295 825 S. dazu S chneider -L astin (2000), S. 524f. 826 S. dazu K ornrumpf (1981), Sp. 582 und meine Überlegungen zur Authentizität der Gertrud von Helfta zugeschriebenen ›Exercitia spiritualia‹, s. N emes (2004c). 827 Abgedruckt bei M orel (1869) S. 282f. 828 S tierling (1907), S. 55, Anm. 2. 829 N eumann (1948/ 1950), S. 171. 830 N eumann (1954a), S. 217. 831 N eumann (1993), S. 92, Anm. zu V.20,2-4. 832 V ollmann- P rofe (2003), S. 837, Anm. zu 564,10-568,27. Zu einem vergleichbaren Fall aus der Überlieferung der ›Engelberger Predigten‹ s. S tauffacher (1982), S. 10/ 15. <?page no="306"?> FL I.40 FL VII.8 Herre, ich bringe dir min klein o ter: Herre, min pine ist Das ist gr o sser denne die berge, tieffer denne das das abgrúnde, es ist breiter denne die welt, min herzeleit ist breiter denne die welt, tieffer denne das mer, min vorhte ist gr o sser denne die berge, h o her denne die wolken, min gerunge ist h o her denne die sternen, sch o ner denne die sunne, manigvaltiger denne die sternen Des Weiteren nenne ich folgende Stellen: FL VII.1: 532,4f. (VII.1,129f.): Ist dise rede iht ze lange, das ist des schult, das ich in der cronen manigleie wunne vant und FL I.3: 26,19f. (I.3,27f.): Ist dirre brief ze lang, das ist des schult: Ich was in der matten, da ich manigerleige bl v men vant, FL VII.17: 562,13 (VII.17,12f.): ir [vr p gewissen] sint des túfels helle und gotz himmelrich und FL V.29: 390,31f. (V.29,6f.): so wurde er [gemeint ist derjenige, der sich rehte hielti nach dem zuge, der von gotte kumt] des túfels helle und gotes himmelrich bzw. FL VII.13: 556,20 (VII.13,5f.): »Min lieber pilgerin [gemeint ist der Herr], wannan kumestu? « Do sprach er: »Ich kum von Jerusalem …«) und FL VI.33: 500,9f. (VI.33,13f.): »Eya lieber bilgerin, wannan kumstu? « Do antwúrt er: »Ich kum von Jerusalem …«. Dieses letzte Beispiel ist auch deswegen aufschlussreich, weil es zeigt, dass im siebten Buch über einzelne Formulierungen hinaus auch narrative Strukturen (hier: die Vision des Herrn in Gestalt eines Pilgers) nachwirken, die man aus den früheren Büchern kennt, vgl. auch FL VII.1: 526,34-528,16 (VII.1,64-78) und I.6, FL VII.6 und III.15: 192,31f. bzw. 194,14f. (III.15,4f. bzw. 17f.), FL VII.17 und II.22, VII.37: 604,7-15 (VII.37,16-22) und I.44: 60,2-10 (I.44,29-35), FL VII.39 und V.23: 372,30- 374,26 (V.23,155-180). Diese Art von Wiederverwertung ist den früheren Büchern fremd. 833 Man kennt jedoch dieses Verfahren aus der Überlieferung des ›Fließenden Lichts‹. So enthält das canticum animae (FL II.25: 134,11-18 [II.25,131-137]) folgende zusätzliche Verse in der Handschrift B: 296 Die zwei Versionen des ›Fließenden Lichts‹ 833 Ich sehe hier von dem vermeintlichen Selbstzitat Ich sturbe gerne von minnen (FL II.4: 86,29 [II.4,51]) ab, das sich auf das in FL II.2: 76,14f. (II.2,2f.) präsentierte lied der minne beziehen soll (so P oor 2004, S. 70f.). Womöglich handelt es sich hier wie schon beim canticum animae in FL II.25: 134,15f. (II.25,134f., s. dazu S. 177, Anm. 325) um ein bekanntes Lied, das in FL II.4 lediglich anzitiert, in FL II.2 dagegen paraphrasiert oder gar übernommen wird. Damit ist zugleich auch gesagt, dass das Vorhandensein einer ähnlichen Formulierung in den ›Offenbarungen‹ der Margareta Ebner (das ich von minnen gern da stürb, S trauch 1882, S. 74,24f., vgl. auch S. 49,3f.: daz ich sterbe in siner minne) nicht, wie von M. S chmidt (1993), S. 120 behauptet und von G ottschall (2007), S. 157f. bestätigt, als Beweis für eine direkte Beeinflussung der ›Offenbarungen‹ durch das ›Fließende Licht‹ gelten kann, sondern eher als ein weiterer Hinweis aufzufassen ist, dass es eine von diesen mystischen Offenbarungsschriften unabhängig verlaufende volkssprachliche (Lied)Tradition sowohl im 13. als auch im 14. Jahrhundert gab, s. dazu S. 293f. oben. <?page no="307"?> wol mich herr das ich in erdreich ye ward geparen. Nu han ich den funden den ich. in erdreich han ercharen Nu czu dem ersten han ich als mein trawren. vnd als mein hertzenlaid verlaren Vnd überwunden. 834 «Dieses gereimte Mittelstück ist», wie G isela K ornrumpf feststellt, «ohne Parallele bei Mechthild, verwendet aber ihr Vokabular.» 835 Das gilt übrigens auch für Z. 7f. des neu aufgefundenen Mechthild-Fragmentes R (s. S. 171f. oben). Ein weitaus bekannteres