Das Gedächtnis des "Mikrokosmos"
Gerhard Roths Landläufiger Tod und Die Archive des Schweigens
0119
2011
978-3-7720-5366-5
978-3-7720-8366-2
A. Francke Verlag
Gerald Lind
In seiner Studie "Das Gedächtnis des ,Mikrokosmos'. Gerhard Roths Landläufiger Tod und Die Archive des Schweigens" untersucht Gerald Lind das Hauptwerk des österreichischen Schriftstellers Gerhard Roth, den 800-seitigen Roman Landläufiger Tod (1984). Die literatur- und kulturwissenschaftliche Arbeit beschäftigt sich dabei mit außer- und innerliterarischen Gedächtnisdiskursen und -narrativen, mit Repräsentationen des ländlichen Raumes, mit erzähltechnischen Fragen und mit der Dialogizität des Romans mit dem siebenbändigen literarisch-dokumentarischen Zyklus Die Archive des Schweigens (1980-1991), dem er als dritter Teil angehört. Linds Studie ist die erste Monographie zu Roths monumentalem Roman und untersucht sowohl die symbolischen Feinstrukturen als auch die kulturellen Kontexte dieses Textes. Dabei appliziert Lind ein transdisziplinäres kulturwissenschaftliches Analyseinstrumentarium, das von Gedächtnis- und Raumtheorie über narratologische Aspekte bis hin zu metaethnographischen Ansätzen reicht.
<?page no="0"?> K U L T U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 1 3 Gerald Lind Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ Gerhard Roths Landläufiger Tod und Die Archive des Schweigens <?page no="1"?> KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk und Klaus R. Scherpe Band 13 · 2011 <?page no="3"?> Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ Gerhard Roths Landläufiger Tod und Die Archive des Schweigens von Gerald Lind <?page no="4"?> Ursprüngl. Diss.: Univ. Wien 2009 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Initiativkollegs Kulturen der Differenz der Universität Wien und der Steiermärkischen Landesregierung. Gefördert durch die Universität Wien. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8366-2 Umschlagabbildung: Gerhard Roth, Fotografie von Franz Killmeyer <?page no="5"?> Österreich hat kein Gedächtnis. (Karl Kraus) Ist das wirklich die einzige Art dieses zu erklären? (Georg Christoph Lichtenberg) Ein solches Buch muß nicht verstanden werden. (Walter Grond über Landläufiger Tod) So wie es scheint Ist nichts gemeint (Gerhard Roth) <?page no="7"?> Inhalt Siglenverzeichnis.......................................................................................................... 4 Vorwort ......................................................................................................................... 5 Einleitung ...................................................................................................................... 7 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ .................. 31 2 Erzählformen und Gedächtnis .................................................................... 69 2.1 Unzuverlässiges Erzählen............................................................................. 72 2.2 Schweigen - Denken - Schreiben ............................................................... 87 2.3 Multiperspektivisches Erzählen ................................................................ 110 2.4 Figuren- und Archivfortschreibungen ..................................................... 128 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ ........................................................ 141 3.1 Unfehlbares Gedächtnis: „Der Russe“...................................................... 144 3.2 Bürgerkriegsgedächtnis: „Drei Tote“........................................................ 171 3.3 Schuldgedächtnis: „Hahnlosers Ende“ ..................................................... 198 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis ....................................................................... 222 3.4.1 „Letzte Kriegstage“................................................................................ 227 3.4.2 „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“.............................. 259 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis .............................................................................. 295 3.5.1 „Gockel“ ................................................................................................. 295 3.5.2 Der automatische Mensch ................................................................... 313 3.5.3 Die Geschichte der Dunkelheit ............................................................. 329 4 Raum und Gedächtnis ................................................................................ 341 4.1 Machtorte des Gedächtnisses: „Der Tod des Generals“......................... 345 4.2 Archive in den Archiven des Schweigens .................................................. 374 4.3 „Die Vergessenen“....................................................................................... 390 Conclusio .................................................................................................................. 419 Bibliographie ............................................................................................................ 424 <?page no="8"?> Siglenverzeichnis Gerhard Roth: Die Archive des Schweigens Bd. 1: Im tiefen Österreich (1990) = ITÖ Bd. 2: Der Stille Ozean (1980) = DSO Bd. 3: Landläufiger Tod (1984) = LT Bd. 4: Am Abgrund (1986) = AA Bd. 5: Der Untersuchungsrichter (1988) = UR Bd. 6: Die Geschichte der Dunkelheit (1991) = GD Bd. 7: Eine Reise in das Innere von Wien (1991) = RIW Zyklus-Nebenwerke Grenzland. Ein dokumentarisches Protokoll (1981) = GL Dorfchronik zum „Landläufigen Tod“ (1984) = DLT <?page no="9"?> Vorwort Mein besonderer Dank gilt Gerhard Roth für das liebenswerte Entgegenkommen, die interessanten Gespräche, die freundliche Unterstützung mit Materialien und die Teilnahme an der Podiumsdiskussion „Raum, Gedächtnis, Literatur. Gerhard Roths Zyklus Die Archive des Schweigens“ im Rahmen der 3. Ringvorlesung des Initiativkollegs Kulturen der Differenz der Universität Wien im Jänner 2008. Einen weiteren besonderen Dank möchte ich meinem 2008 leider viel zu früh verstorbenen Doktorvater Wendelin Schmidt-Dengler aussprechen, der meine Arbeit an dieser Studie außerordentlich gefördert hat und mir mit vielen wichtigen Hinweisen und Anregungen, die gar nicht alle einzeln angeführt werden könnten, zur Seite gestanden ist. Wolfgang Müller-Funk danke ich sehr herzlich für die freundliche Übernahme der Betreuung und die konstruktive Kritik an meiner Arbeit, für sein zur Nachahmung anregendes intellektuelles Engagement sowie für seine beständige Aufforderung zur methodischen und theoretischen Weiterentwicklung. Ein herzliches Danke geht auch an Heidemarie Uhl stellvertretend für die Lehrenden des IK Kulturen der Differenz, die den Werdegang dieser Arbeit von Anfang an mit kritischen Kommentaren und innovativen Vorschlägen begleitet haben, sowie an Daniela Finzi stellvertretend für die Kollegiat/ inn/ en für den spannenden interdisziplinären Austausch und die gute Kommunikation. Den Lehrenden und Studierenden der Slowakischen Akademie der Wissenschaften, des Wissenschaftlichen Forschungszentrums der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste und der Doktorschule der Andrássy Universität Budapest danke ich für den wissenschaftlichen Austausch im Rahmen der gemeinsam mit dem IK veranstalteten Doktorand/ inn/ en-Workshops. Weiters danke ich den Referent/ inn/ en der vom IK Kulturen der Differenz organisierten Workshops zur Raumtheorie und zur Gedächtnistheorie, namentlich Stephan Günzel, Hermann Doetsch und Vittoria Borsò, für wichtige theoretische Hinweise. Johan Schimanski von der Universität Tromsø sei für seine Anregungen zur Beschäftigung mit Theorien und Aspekten der Grenze gedankt. Für die rege und kontinuierliche wissen- <?page no="10"?> Vorwort 6 schaftliche Zusammenarbeit sowie für manch netten Abend danke ich den Kolleg/ inn/ en des Instituts für Germanistik der Universität Zagreb. Daniela Bartens vom Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Universität Graz danke ich für die gute Kommunikation, Gerhard Fuchs für die freundliche Aufnahme an diesem Forschungsinstitut. Ein weiterer Dank gilt den Mitarbeiter/ inne/ n des Österreichischen Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek und der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien für das kollegiale Entgegenkommen. Meinen Kolleg/ inn/ en und Freunden danke ich für viele Diskussionen, die mich in meiner wissenschaftlichen Arbeit in Frage gestellt oder bestärkt haben. Johannes Wally danke ich außerdem für ein Lektorat einer früheren Fassung dieser Arbeit. Meinen Verwandten und den Freunden meiner Familie danke ich für die vielfältige Unterstützung. Meinen Geschwistern Doris und Katrin, meinen Großmüttern Stefanie und Aloisia (gest. 2009), meinem Vater Gerhard (gest. 1998) und vor allem meiner Mutter Josefa Lind danke ich von Herzen für ihren Glauben an mich und für großzügige finanzielle und ideelle Hilfestellungen während meiner gesamten Studienzeit. Ein ganz besonderer Dank gilt Andrea Mayr für das konzentrierte, geduldige und verständnisvolle Zuhören, für Ratschläge im akademischen und tatkräftige Hilfe im privaten Leben sowie für die Zuwendung und Liebe, die mir erst die Kraft gegeben haben, diese Arbeit zu verfassen. Abschließend sei für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung dieser Studie dem IK Kulturen der Differenz, der Steiermärkischen Landesregierung und der Universität Wien ausdrücklich gedankt. <?page no="11"?> Einleitung Gerhard Roths zwischen 1980 und 1991 publiziertem Zyklus Die Archive des Schweigens kann eine singuläre Position innerhalb der österreichischen Literatur nach 1945 zugewiesen werden. 1 Dieses aus sieben Teilen bestehende Projekt erzeugt über die Verschränkung von Fotografien und Texten intermediale Narrative, stellt Kohärenz erzeugende Plots durch die Applikation nicht-diskursiver Schreib- und Erzählweisen in Frage, erschreibt „différance“ (Jacques Derrida) zwischen Fakt und Fiktion, zwischen dem Realen und dem Phantastischen/ Surrealistischen, macht die Konstruktionsweisen kollektiver und individueller Identitäten lesbar, inszeniert individuelles Erinnern und befragt die Funktionsmuster kollektiver Gedächtnisse, betreibt und problematisiert Historiographie, erzählt periphere, urbane, symbolische und imaginäre Räume und Grenzen, kündet vom Ende der „großen Erzählungen“ (Jean- François Lyotard) und dem postmodernen Zerfall von Kontinuität und stellt gleichzeitig, nach Uwe Schütte, den Totalitätsanspruch „romantischer Enzyklopädistik“. 2 Die Vielseitigkeit und Vielfältigkeit des Zyklus hat Pamela S. Saur zur Überlegung veranlasst, Gerhard Roth habe mit den Archiven des Schweigens ein „new genre“ geschaffen, da diese Heptalogie auf jeden Fall „original in form“ sei. 3 Dem nach dem Prinzip der Bricolage entstandenen Zyklus wurde vom Autor nachträglich eine mehrstufige Ordnung eingeschrieben, die sich nicht mit der Entstehungschronologie der einzelnen Teile deckt. Aus formaler Sicht stehen drei quasi-dokumentarischen Bänden vier fiktionale gegenüber. Als Varianten des Dokumentarischen können der Foto-Text-Band Im tiefen Österreich (Band 1, 1990), der aus der Ich-Perspektive erzählte, in der außerliterarischen Realität verwurzelte, aber mit einer fiktionalen Rahmung versehene Lebensbericht des Wiener Juden Karl Berger Die Geschichte der Dunkelheit (Band 6, 1991) sowie die Essaysammlung Eine Reise in das Innere von Wien (Band 7, 1991) bezeichnet werden. Als fiktionale Texte sind Der Stille Ozean 1 Vgl. Walter Vogl: Arche Noah, auf hoher See gebaut. Zu dem Zyklus Die Archive des Schweigens. In: Uwe Wittstock (Hg.): Gerhard Roth. Materialien zu „Die Archive des Schweigens“. Frankfurt/ Main: Fischer 1992. S. 122-128, hier S. 122. 2 Uwe Schütte: Auf der Spur der Vergessenen. Gerhard Roth und seine Archive des Schweigens. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1997 (Literatur und Leben 50). S. 19. 3 Pamela S. Saur: Gerhard Roth’s Die Archive des Schweigens: A New Genre. In: Modern Austrian Literature Vol. 31 (1998), Nr. 3/ 4, S. 89-102, hier S. 89. <?page no="12"?> Einleitung 8 (Band 2, 1980), Landläufiger Tod (Band 3, 1984), Am Abgrund (Band 4, 1986) und Der Untersuchungsrichter (Band 5, 1988) klassifizierbar. Bei einer solchen Form der Einteilung der Archive des Schweigens in ,dokumentarische‘ und ,fiktionale‘ Teile muss allerdings der Konstruktcharakter auch so genannter ,faktischer‘ Texte (und Bilder) bedacht werden, der in dem als reflexive oder literary turn bezeichneten, mit der postmodernen „Krise der Repräsentation“ zusammenhängenden selbstreflexiven Schub in einer Reihe von geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen in den Blickpunkt gerückt ist. 4 Denkt man den Zyklus im Wortsinne als Kreislauf, so bilden die Bände 1, 7 und 6 aus gattungspoetologischer Perspektive als Foto-Text-Band, Essaysammlung und Bericht eine Einheit des dominant Realen, die Bände 2 bis 5 hingegen spielen in fiktionalen Welten, die aber natürlich mit der außerliterarischen Wirklichkeit vielfältige Überschneidungen aufweisen. Eine weitere Ordnungsebene lässt sich in Bezug auf Zentrum und Peripherie feststellen. Die ersten drei Zyklusteile haben als ruralen Schauplatz einen an der damaligen jugoslawischen, heute slowenischen Grenze gelegenen Landstrich der Südsteiermark, während die Bände 4, 5 und 7 im Großstadtraum Wien spielen beziehungsweise diesen thematisieren. Der vierte und fünfte Band, Am Abgrund und Der Untersuchungsrichter, enthalten jedoch auch Passagen, die auf dem Land spielen, während der sechste Band, die Re-Migrationserzählung Die Geschichte der Dunkelheit, sich diesem Schema vollständig entzieht. Der zeitlich vom Zyklus gespannte Bogen umfasst aufgrund der historischen Exkurse in Eine Reise in das Innere von Wien beinahe das gesamte zweite Jahrtausend, insgesamt den meisten Raum nimmt allerdings das 20. Jahrhundert ein. Hinzu kommen noch Passagen, wie zum Beispiel das Buch der Märchen in Landläufiger Tod, die in quasi-mythischen, von der Geschichtsschreibung nicht erfassbaren Zeiten spielen. Die inneren Zusammenhänge des Zyklus sind mit den Ordnungsebenen in Bezug auf Genre und Raum verbunden, doch gehen sie auch darüber hinaus. Um das zu verdeutlichen, könnte man sich auf der Folie des autorintentionalen Ordnungssystems den Zyklus als Gewebe vorstellen, das auf vielfältige, geordnet ungeordnete Weise aus sprachlichen, thematischen, figurenbezogenen, räumlichen und natürlich narrativen Fäden gesponnen ist. Dieses Gewebe besteht nicht nur aus den sieben Kerntexten. Verbindungslinien gibt 4 Vgl. das Kapitel zum „Reflexive Turn/ Literary Turn“ bei Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2006 (rowohlts enzyklopädie). S. 144-183. <?page no="13"?> Einleitung 9 es auch zu den so genannten ,Nebenwerken‘ (Fotobände, Dokumentar- und Spielfilme, Essays und Artikel für Zeitungen, Prosatexte und Theaterstücke, Interviews des Autors zu den Archiven) sowie zum zweiten Zyklus Roths, Orkus. Neben dem Gewebe wäre eine andere Metapher zur Veranschaulichung der Beschaffenheit des Zyklus - Uwe Schüttes eingangs erwähnte Formulierung aufgreifend - die Enzyklopädie. Andreas Okopenko hat in einem Gespräch auf den etymologisch herleitbaren Zusammenhang von Zyklus und Enzyklopädie hingewiesen, der ihn bei der Erstellung einer digitalisierten Version seines Lexikon-Romans (1970) beschäftigt habe, im Sinne von „Enzyklo-pädie“: alles in einem Kreis, der sich wieder schließt. Dem haben wir ein Wort entgegengesetzt, nämlich „Plektopädie“, einen Vernetzungscharakter, der nicht auf Vollständigkeit abzielt, sondern auf ein offenes System, was jederzeit ergänzt werden kann. 5 Roths Zyklus kann als so ein offenes, jederzeit ergänzbares System verstanden werden, als eine prädigitale, aber dennoch nicht analog deutbare, quasihypertextuelle „Plektopädie“ im Okopenko’schen Sinn. Diese Offenheit wird von Pamela S. Saur mit der Feststellung angesprochen, dass man den Zyklus nicht nur von der ersten bis zur letzten Seite lesen kann: „[I]t has multiple points of fruitful entry, many doors out, and many paths and threads within.“ 6 Allerdings sollte in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden, dass Okopenko davon spricht, dem Begriff der Enzyklopädie und somit dem etymologisch verwandten Wort Zyklus den Terminus der „Plektopädie“ „entgegengesetzt“ zu haben. Eigentlich ist ein solch offenes System also gerade kein Zyklus, weshalb tatsächlich trotz der oben dargestellten Verbindungslinien die Zyklizität der Archive des Schweigens eine eher schwache ist. Hier wird eine Reibefläche offenbar, die über die Pole des Postmodernen und des Zyklischen in Roths Werk näher bestimmt werden kann. Betont das zyklische Element Kontinuität und Homogenität, steht der postmoderne Aspekt für Diskontinuität und Heterogenität. Aufgrund dieser Grundkonstellation, das heißt dieser schwer kompatiblen Tendenzen, entsteht bei Roth das in sich widersprüchliche Genre des ,postmodernen Zyklus‘, der eine lose zusammen- 5 Andreas Okopenko: Gespräch mit Konstanze Fliedl. In: Klaus Kastberger und Kurt Neumann (Hg.): Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945. Erste Lieferung. Unter Mitarbeit von Michael Hansel. Wien: Zsolnay 2007 (Profile 14). S. 192- 196, hier S. 195. 6 Saur: Gerhard Roth’s Die Archive des Schweigens, S. 89. <?page no="14"?> Einleitung 10 hängende Abfolge von Bildern und Texten meint und eine schwache Form des Zyklus bezeichnet. Diese ,Schwäche‘ aus gattungspoetologischer Sicht ist allerdings gleichzeitig die Stärke der Archive des Schweigens. Im literarhistorisch etablierten Roman-, Novellen- oder Gedichtzyklus ist Serialität und der damit verbundene homogene Blickwinkel einer einzigen Gattung vorherrschend. 7 Bei den Archiven des Schweigens handelt es sich hingegen um eine Aneinanderreihung und Kumulation medial und genrespezifisch differenter Perspektiven. Das ist das Besondere an der Arbeit des Schriftstellers Gerhard Roth, sein distinktes Moment, welches ihn von anderen österreichischen Autoren wie Thomas Bernhard oder Peter Handke unterscheidet. Aus gattungspoetologischer Sicht mag es problematisch sein, dass diese Vielfalt unter dem Dach einer ,großen Form‘, nämlich des Zyklus, zusammengefasst wird. Die Wirkung der Analysen und Diagnosen allerdings kann über eine solche kompakte Form der Darreichung (zum Beispiel als Taschenbuchbox) an den Rezipienten nur intensiviert werden. In dieser Arbeit werden die Archive des Schweigens jedenfalls aufgrund der Etablierung des Terminus in der Forschungsliteratur mit dem auch vom Autor Gerhard Roth verwendeten Begriff des Zyklus bezeichnet. Inwiefern nun der Rezipient das Zyklische dieser sieben Bände in seiner Lektürearbeit herauspräpariert und die unterschiedlich starken Signale für die Einbindung der einzelnen Teile in ein großes Ganzes wahrnimmt, hängt von der Intensität und Zielsetzung der Rezeptionsleistung ab. Eine wichtige Rolle wird das Zyklische aber jedenfalls bei der Verschränkung der ,faktischen‘ mit den fiktionalen Zyklusteilen spielen. Nach dem linguistic turn kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass Sprache ein ungefiltertes Fenster auf die Wirklichkeit darstellt. Vielmehr konstruiert Sprache Wirklichkeit, genauso wie Fotografien oder Filme nur medial formatierte Wirklichkeitsausschnitte, -versionen oder -konstruktionen vermitteln können. Dennoch sollten zwischen dokumentarischen Fotografien und Texten, Essays und Romanen Differenzierungen vorgenommen werden. Je nach Genre und Medium sind unterschiedliche Regelwerke gültig, innerhalb derer quasi-ethnographische, historische und literarische Wirklichkeitsmodelle entworfen werden. Der Anglist und Kulturwissenschaftler Ansgar 7 Siehe zum aktuellen Stand der Zyklus- und Zyklisierungsforschung den Aufsatz von Siegfried Ulbrecht: Das literarische Verfahren der Zyklisierung in der Germanistik. Mit einem Ausblick auf die slavische Philologie sowie Ansätze einer europäischen Zyklusforschung. In: Weimarer Beiträge 54 (2008) 4, S. 612-623. <?page no="15"?> Einleitung 11 Nünning hat in seiner Auseinandersetzung mit Hayden Whites postmoderner Poetik der Historiographie jene Regelwerke bestimmt, welche faktische und fiktionale Repräsentationsweisen unterscheiden. Dabei wendet sich Nünning gegen eine Nivellierung der Unterschiede zwischen historiographischen und literarischen Schreibverfahren. Er verweist auf die entscheidende Differenz zwischen Konstruktivität und Fiktionalität sowie auf für fiktionale Texte elementare Fiktionalitätsindikatoren (Gattungsbezeichnungen, Nicht-Referentialisierbarkeit) und literarische Privilegien: Ein Romanautor muss sich nicht nur auf die dokumentierte Geschichte stützen, sondern kann auch, wie es Gerhard Roths Zielsetzung war, in dunkel gebliebene Gebiete vordringen, also im Prinzip „alles [beschreiben], worüber die geschichtliche Überlieferung schweigt. Aufgrund dieses Privilegs können Romane Bereiche der Geschichte erschließen, die dem an Quellen gebundenen Historiker verschlossen sind.“ 8 Ein Roman kann zugunsten einer Verdichtung auf Einzelreferenzen zu konkreten historischen Schauplätzen, Figuren oder Ereignissen verzichten und muss sich nicht nur auf faktische Quellen stützen. Die Erzählinstanz kann ins Geschehen involviert sein, subjektive Innenwelten können beschrieben, Dialoge können ,wortgetreu‘ wiedergegeben werden und eine vermeintlich objektive Position gegenüber dem Geschehen ist nicht notwendig. Gerhard Roth hat nicht nur verschiedene Medien und Genres unter der Bezeichnung „Zyklus“ aneinandergereiht und so das (auch intermediale) Wechselspiel zwischen Fakt und Fiktion inszeniert, sondern auf diese Weise die Funktionspotentiale unterschiedlicher Genres und Medien im Hinblick auf die Darstellbarkeit und Erzählbarkeit von Wirklichkeit erprobt. In diesen medial, sprachlich und genrespezifisch formatierten Perspektivierungen der ruralen und urbanen Wirklichkeit wird also wie nebenbei ein Vergleich unserer Blickfenster auf die Welt möglich. In der Zusammenschau dieser Blickfenster erfährt der Rezipient einen Mehrwert: Die mediale Oberfläche der Fotografien in Im tiefen Österreich erhält über die literarische Erzählung von Ängsten, Wünschen und subjektiven Motiven 9 der Landbewohner eine emotional konnotierte Tiefendimension, genauso wie die literarischen Texte mit den im Foto-Text-Band und im Essayband konstituierten ruralen, urbanen, 8 Ansgar Nünning: „Verbal Fictions? “ Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N. F. 40 (1999), S. 351-380, hier S. 370. 9 Vgl. ebenda, S. 376. <?page no="16"?> Einleitung 12 historischen und gegenwartsbezogenen Wirklichkeiten in ein Referenzsystem gesetzt werden können. Die Unterschiede zwischen Fakt und Fiktion bleiben aufrecht, werden aber - und hier ist der Zyklusrahmen von großem Nutzen - produktiv gemacht. Nach dieser Darstellung des größeren Bezugssystems unter besonderer Berücksichtigung der verwandten, ineinander greifenden Themen Zyklus/ Zyklizität sowie Fakt und Fiktion soll nun in einem kurzen Überblick auf den zentralen Untersuchungsgegenstand dieser Studie, den knapp 800 Seiten langen Roman Landläufiger Tod eingegangen werden, in dem laut Schütte „das übergreifende Konstruktionsprinzip und die Poetik des Zyklus sozusagen im kleinen enthalten ist“. 10 Dieser Text stellt, so lautet die Ausgangshypothese, das narrative und diskursive „Gravitationszentrum“ 11 oder „Kraftzentrum“ 12 der Archive des Schweigens dar. In den sieben Roman-Büchern spielt der Autor mit verschiedenen Erzählformen: „Dunkle Erinnerung“ (Buch 1) ist dominant in einem realistischen Stil verfasst, die Kapitel sind chronologisch geordnet und bieten eine Einführung in die südweststeirische Grenzregion, ihre Geschichte, Menschen und Landschaft. Im zweiten Buch, „Berichte aus dem Labyrinth“, bricht der Erzählfluß, aus der Außensicht wird eine Innensicht, die schizophrene und vorgeblich stumme Erzählerfigur Franz Lindner rückt in den Mittelpunkt, experimentelle Kurzsätze zerlegen die ländliche Welt in ihre Einzelteile. Im zentralen dritten Buch, „Mikrokosmos“, werden aus den Kurzsätzen Kurztexte, in einer Infragestellung der Grenzen von Zeit und Raum werden Erzählungen, Figuren und Schauplätze durcheinandergewirbelt. „Aufbruch ins Unbekannte“ (Buch 4) ist eine Zäsur, eine Epoche endet mit dem Tod des im Dorf lebenden greisen Generals von Kniefall, phantastische Reisen durch extreme Welten des Außen und Innen werden unternommen. Das fünfte Buch enthält die postmodernen, schizophrenen Märchen der Gebrüder Franz und Franz Lindner. Auf allegorische, sinnver-, ent- und -herstellende Weise wird das Märchengenre aktualisiert. Im „Tagebuch“ (Buch 6) steuert die vorgebliche oder tatsächliche Wirklichkeitszerrüt- 10 Schütte: Auf der Spur, S. 84. 11 Ebenda, S. 99. 12 Uwe Schütte: „Obschon die Häuser brennen, zeigt sich kein Nordlicht.“ „Landläufiger Tod“ ,revisited‘. In: Gerhard Roth: Atlas der Stille. Fotografien aus der Südsteiermark von 1976-2006. Hg. v. Daniela Bartens und Martin Behr in Zusammenarbeit mit dem Franz-Nabl-Institut Graz und dem Kulturhaus St. Ulrich im Greith. Wien, München: Christian Brandstätter 2007. S. 280-283, hier S. 280. <?page no="17"?> Einleitung 13 tung des Franz Lindner ihrem Höhepunkt zu, der mit dem finalen Wort des Romans bezeichnet oder beendet wird: „Nein! “ (LT 784) Das siebente Buch, „Dokumente“, überführt die Sprachwelten des Romans in Bildwelten und besteht aus Zeichnungen des bekannten österreichischen Künstlers und Roth- Freundes Günter Brus, die Franz Lindner zugeschrieben werden können. Wenn der Zyklus Die Archive des Schweigens, wie eingangs festgestellt, als Werk singulär in der österreichischen Literatur nach 1945 ist, so gilt das ebenso für Landläufiger Tod als Roman. Doch obwohl dieser Text, wie wiederum seine einzelnen Teile, als ein erratischer Block, als ein rätselhaftes, völlig für sich allein in der literarischen Landschaft stehendes Monument rezipiert werden kann, befindet er sich über seine Einbindung in Die Archive des Schweigens in einem größeren Zusammenhang, wird er zu einem Zentrum. Ausgehend von diesem Roman können die sich kommentierenden, ergänzenden und widersprechenden Narrative des Zyklus gelesen werden, durch dieses Zentrum laufen die wesentlichen Diskurse und Themenfelder der Archive des Schweigens wie Macht, Raum, Identität, Phantastik, Devianz, Differenz, Wahrnehmung, Repräsentation, Fakt und Fiktion sowie Gedächtnis und Erinnerung hindurch. Besonders wesentlich für den Roman und den Zyklus ist das „Begriffspaar“ 13 Gedächtnis und Erinnerung. Die Relevanz dieses Themas zeigt sich schon auf der paratextuellen Ebene 14 an dem im Zyklustitel hervorgehobenen Archiv- Charakter der sieben Bände. Der französische Historiker Jacques LeGoff schreibt in seinem 1977 erschienenen Buch Geschichte und Gedächtnis: „Es gilt, ein Inventar der Archive des Schweigens zu erstellen und Geschichte auf 13 Es gilt für den Titel wie den Gebrauch der beiden Begriffe in dieser Studie Aleida Assmanns Diktum: „Statt Gedächtnis und Erinnerung als Begriffsopposition zu definieren, sollen sie [...] vielmehr als Begriffspaar, als komplementäre Aspekte eines Zusammenhangs aufgefaßt werden“. (Aleida Assmann: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: dies. und Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Mit Beiträgen von Aleida Assmann (u. a.). Frankfurt/ Main: Fischer 1991. S. 13-35, hier S. 14.) 14 Der Begriff wurde geprägt von Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit e. Vorw. von Harald Weinrich. Aus d. Franz. von Dieter Hornig. Frankfurt/ Main, New York: Campus; Paris: Ed. de la Maison des Sciences de l’Homme 1992. Als Paratext versteht man Titel, Motti, den Verlagstext, Widmungen und Ähnliches, das heißt im Prinzip alle Texte eines Buches außerhalb des Haupttextes. <?page no="18"?> Einleitung 14 der Grundl[a]ge von Quellen und fehlenden Quellen zu erarbeiten.“ 15 Diese Anmerkung, drei Jahre vor dem ältesten Zyklusband Der Stille Ozean (1980) auf Französisch gemacht, nimmt nicht nur den Zyklustitel, sondern auch sein zentrales Anliegen vorweg, vor allem, wenn man „Quellen“ durch den Begriff „Narrative“ ersetzt: Es geht um das Zur-Sprache-bringen und Erzählen des Verschwiegenen. Direkte Verweise auf Geschichte, Gedächtnis und Erinnerung finden sich, wenn wir auf der Ebene der Paratexte bleiben, auch im Titel des sechsten Zyklusbandes Die Geschichte der Dunkelheit, sowie bei den Nebenwerken Dorfchronik zum „Landläufigen Tod“ (1984) und Erinnerungen an die Menschheit (1985). Archive haben aber auch eine auf mehreren Ebenen lesbare räumliche Dimension, und so spielen der ländliche, urbane, symbolische und imaginäre Raum sowie Bezüge auf Oberfläche und Untergrund/ Tiefe in einigen anderen Titeln von Zyklusteilen eine Rolle, nämlich bei Eine Reise in das Innere von Wien, Der Stille Ozean, Im tiefen Österreich und Am Abgrund. Ebenso auf den räumlichen Aspekt und die historische, kulturelle und soziale Vermessung des Landstrichs spielt der Titel des nicht in den Zyklus aufgenommenen Fotobandes Grenzland (1981) an, das gilt im Übrigen auch für die späteren Dokumentationen von Roths Fotoarbeit in der Südsteiermark, Atlas der Stille (2007), und in Wien, Im unsichtbaren Wien (2010). Dazu kommt das auf Gerhard Roths Vorgehensweise bei den Recherchen für den Zyklus anspielende Der Untersuchungsrichter. Der Titel Landläufiger Tod schließlich enthält sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Ebene: Der Tod, der auf dem Land vorkommt, der Tod, der über die Zeiten hinweg geläufig ist, also allgegenwärtig ist, der auch als substantiviertes Verb im aus Landläufiger Tod ausgegliederten Buch Das Töten des Bussards (1982) vorkommt, der über das Land hinwegfliegt und -läuft. Zu dieser Semantisierung mit dem Töten und Sterben, mit der dunklen Seite des Menschen, mit dem romantischen Nächtlichen, 16 passt dann auch der Titel des ersten der sieben Bücher von Landläufiger Tod: „Dunkle Erinnerung“. 15 Jacques LeGoff: Geschichte und Gedächtnis. A. d. Franz. v. Elisabeth Hartfelder. Frankfurt, New York: Campus; Paris: Ed. de la Maison des Sciences de l’Homme 1992 (Historische Studien 6). S. 228. 16 E. T. A. Hoffmanns Erzählungssammlung Nachtstücke (1817) spielt schon im Titel, der später zu einem Genre wurde, auf die nächtliche, dunkle Seite des Menschen an, die vom Licht der Aufklärung nicht beleuchtet werden kann. Vgl. dazu den Kommentar von Hartmut Steinecke in: E. T. A. Hoffmann: Nachtstücke. Klein Zaches. Prinzessin Brambilla. Werke 1816-1820. Hg. v. Hartmut Steinecke u. Mitarb. v. Gerhard Allrog- <?page no="19"?> Einleitung 15 Kommen wir nun nach dieser einleitenden, die paratextuelle Ebene der zentralen Themenbereiche Gedächtnis und Erinnerung sowie der räumlichen Aspekte von Roman und Zyklus erschließenden Beschreibung des Forschungsgegenstandes zur Darstellung des Forschungsstandes. Von der Literaturwissenschaft wurde Landläufiger Tod im Großen und Ganzen positiv behandelt. Manfred Durzak schreibt über diesen Text: „Es mag durchaus sein, daß sich dieser Roman als die bedeutendste erzählerische Leistung seiner Generation erweisen wird.“ 17 Der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller W. G. Sebald stellt in einem der wichtigsten Texte zu Landläufiger Tod fest: [Dieses] wunderbare Buch [...] [enthält] in der Synchronizität der Erzählzeit das gesamte diachronische Spektrum der menschlichen Imaginations- und Denkarbeit von der mythopoetisch-animistischen Weltsicht über die wissenschaftlichen Spekulationen bis auf den Punkt, an dem wir uns heute befinden, an dem auch unsere Wissenschaft nicht mehr auszulangen scheint. 18 Jedoch gibt es neben einer Reihe von kürzeren Aufsätzen und Kommentaren - die auch für diese Studie ausgewertet wurden - nur wenige fundierte ausführliche Analysen dieses Romans. Thomas Beckermann, Gerhard Roths ehemaliger Lektor beim Fischer-Verlag, schrieb 1995, dass Landläufiger Tod „noch nicht auch nur annähernd in seiner ästhetischen Vielfalt und Sprengkraft erkannt und beschrieben worden“ ist. 19 Uwe Schütte stellte 2007 fest, dass Beckermanns Einschätzung nach wie vor nicht revidiert werden muss: „Die unzureichende Rezeption des Landläufigen Tods ist ein beschämendes Manko der Literaturwissenschaft - in Deutschland wie Österreich, und angen. Frankfurt/ Main: Deutscher Klassiker Verlag 2009 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 36). S. 943-960, besonders S. 953-960. 17 Manfred Durzak: Nach der Studentenbewegung: Neue literarische Konzepte und Erzählentwürfe in den siebziger Jahren. In: Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2, aktual. u. erw. Aufl. München: C. H. Beck 2006 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 12). S. 602-658, hier S. 636. 18 W. E. [sic! ] Sebald: In einer wildfremden Gegend. Zu dem Roman Landläufiger Tod. In: Wittstock (Hg.): Materialien, S. 164-179, hier S. 173. 19 Thomas Beckermann: Die Entdeckung der Geschichte beim Schreiben. In: Günther Fischer (Red.): Gerhard Roth. München: Edition Text + Kritik 1995 (Text + Kritik 128). S. 10-21, hier S. 18. <?page no="20"?> Einleitung 16 derswo.“ 20 In einem anderen Aufsatz aus demselben Jahr, einer persönlichen Re-Lektüre von Landläufiger Tod, fragt Schütte wiederum: [W]o sind die Studien, Aufsätze und Essays, die sich einlassen auf dieses exzeptionelle Buch? Mit einigem Fug und Recht läßt sich sagen, dass der Landläufige Tod einer der unterschätztesten oder genauer: übersehensten Romane der gegenwärtigen Erzählliteratur aus Österreich ist. Ein Skandal, ein Armutszeugnis für die Germanistik im Grunde. 21 In seiner eigenen Arbeit Auf der Spur der Vergessenen. Gerhard Roth und seine Archive des Schweigens aus dem Jahre 1997 hat Schütte selbst die von der Ausführlichkeit und Form der Aufarbeitung profundeste Untersuchung von Landläufiger Tod vorgelegt. Schütte konzentriert sich auf die Themen des Wahnsinns, der Geschichte und des Ländlichen (Provinz) und bietet eine ausgezeichnete Einführung in den Roman. Ohne dezidiert den Begriff der Kulturwissenschaft zu verwenden, stellt Schütte Roths Roman und den Zyklus insgesamt unter anderem in Bezug zu Michel Foucaults Thesen zum Wahnsinn als kulturell und historisch formatiertem Diskurs, zu Hayden Whites Infragestellung der Faktizität historiographischer Texte oder zu Claude Levi- Strauss‘ Theorien zum „wilden Denken“. Allerdings fokussiert seine Studie eben den gesamten Zyklus Die Archive des Schweigens, weshalb dem Landläufigen Tod wie allen anderen Teilen nur ein, wenn auch gewichtiges, Kapitel des Buches gewidmet wird. Schwierig darzustellen ist bei einem solchen Studienaufbau die Vernetzung von Landläufiger Tod mit den anderen Zyklusbänden; in erster Linie handelt es sich bei Schüttes Arbeit deshalb um eine Serie von in sich geschlossenen Interpretationen der einzelnen Zyklusbände, die in dem kurzen „Vorsatz“ in Bezug zueinander gestellt werden. In der zweiten groß angelegten Monographie zu den Archiven des Schweigens versucht Matthias Auer eine Zyklus-Analyse anhand einzelner Figuren, obwohl sich die quasi-dokumentarischen Bände einer solchen Strukturierung entziehen. 22 Das entscheidende Manko von Auers 1999 publizierter Arbeit ist aber die fehlende Einarbeitung der von Schütte zwei Jahre zuvor veröffent- 20 Uwe Schütte: „Zumindest den Versuch, die vorgeschriebene Form zu durchbrechen, will ich wagen.“ Gerhard Roth: Das Labyrinth (2005). In: Kastberger/ Neumann (Hg.): Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945. S. 293-300, hier S. 293. 21 Schütte: „Obschon die Häuser brennen, zeigt sich kein Nordlicht.“, S. 281. 22 Vgl. Mathias Auer: Der österreichische Kopf. Gerhard Roths Zyklus „Die Archive des Schweigens“ als literarische Anatomie und (Psycho-)Analyse der Alpenrepublik. Herdecke: GCA-Verlag 1999 (Forschen und Wissen - Literaturwissenschaft, zugl. D 384, Diss. Universität Augsburg). <?page no="21"?> Einleitung 17 lichten Untersuchung. Uwe Schütte hat diesen Umstand in seine äußerst kritische Rezension von Auers Arbeit miteinbezogen und darauf hingewiesen, dass Auer sehr wohl Roths 1998, also ein Jahr nach Schüttes Studie, veröffentlichten Roman Der Plan behandelt. 23 Auers Arbeit ist nun nicht in allen Belangen misslungen, jedoch führt die mangelnde Aufarbeitung der vorhandenen Forschungsliteratur zu Redundanzen. Auer sagt weniges, was nicht auch bei Schütte zu finden ist, ohne jedoch die stilistische und intellektuelle Qualität von Schüttes Arbeit zu erreichen. Störend bei Auers „(Psycho-)Analyse der Alpenrepublik“ ist leider auch, dass manche Österreichbezüge von klischeehaften Vorstellungen beeinträchtigt sind. Bisweilen theoretisch und analytisch brilliant, mitunter aber auch viel zu sehr einer zum Selbstzweck gewordenen poststrukturalistischen Terminologie und Verfahrensweise verhaftet ist Wolfgang Tietzes Blick auf Roths Gesamtwerk inklusive ausführlicher Beschäftigung mit Landläufiger Tod. 24 Der versuchte ,freie‘ Umgang mit den Primärtexten ermöglicht die Herstellung überraschender und einleuchtender Querverbindungen, das Innovative, weil Experimentelle der Analyse führt aber dazu, dass Tietzes Buch kaum zitierbar ist und deshalb auch nur wenig Beachtung fand. Vergleichsweise klassisch literaturwissenschaftlich ist der Zugang von Peter Ensberg und Helga Schreckenberger in ihrer 1994 publizierten Gesamtdeutung von Roths Arbeiten bis zum Abschluss der Archive des Schweigens. Vor allem ihre Einteilung von Roths Werk in drei Phasen, nämlich in eine experimentelle Frühphase, eine traditionelle Phase mit den Reiseromanen Der große Horizont (1974), Ein neuer Morgen (1976) und Winterreise (1978), und schließlich eine im Rahmen der Archive des Schweigens unternommene Kombination der beiden bisher erprobten Schreibweisen, ist sinnvoll. 25 Schreckenberger und Ensberg bieten einen fundierten Überblick über das Gesamtwerk und eine mit exemplarischen Interpretationen versehene Zusammenfassung der einzelnen Texte Roths. Aufgrund des großen Primärcorpus beschränkt sich die Auseinandersetzung mit Landläufiger Tod auf eine Beschreibung der 23 Vgl. dazu Uwe Schütte: Verirrt, Verschwiegen, Versagt. Ein Versuch zu Gerhard Roths Die Archive des Schweigens. Auf: http: / / www.iaslonline.de/ index.php? vorgang_id=2394 (Einges. am 18. 5. 2009).] 24 Vgl. Wolfgang Tietze: Das mikroskopische Gedankenglas. Mythen und Techniken der Autorschaft - Ein Kommentar zum Werk Gerhard Roths. M. e. Vorw. v. Manfred Schneider. München: Wilhelm Fink 1995 (zugl. Diss.). 25 Peter Ensberg und Helga Schreckenberger: Gerhard Roth. Kunst als Auflehnung gegen das Sein. Tübingen: Stauffenburg 1994 (Stauffenburg-Colloquium 31). S. 9-10. <?page no="22"?> Einleitung 18 Grundtendenzen dieses Textes, ohne sich den textuellen Tiefenstrukturen widmen und die Ambiguität, Polyvalenz und Interdiskursivität dieses Romanes im Detail beschreiben zu können. Fassen wir also zusammen: Es gibt von Uwe Schütte eine ausgezeichnete Einführung in den Zyklus Die Archive des Schweigens. Bisher wurde keine Monographie zu Landläufiger Tod, dem zentralen Text dieses Zyklus, vorgelegt. Wichtige Kapitel dieses Romans wurden noch nie im Zuge von Intensivlektüren untersucht, sondern nur in Überblicken und mit Schlagworten abgehandelt. Es wurde keine befriedigende, von textuellen Feinstrukturen ausgehende Analyse der Bezüge zwischen Landläufiger Tod und den einzelnen Zyklusteilen unternommen. Es wurde trotz der sich dafür hervorragend eignenden Beschaffenheit des Untersuchungsmaterials keine explizit von kulturwissenschaftlichen Fragestellungen, Methoden und Theorien wie beispielsweise zum Raum oder zu Gedächtnis und Erinnerung 26 getragene Untersuchung von Landläufiger Tod und den Archiven des Schweigens publiziert. Die hier vorgelegte Studie möchte diese Desiderate der bisherigen Forschung beheben. Sie versteht sich dabei nicht als Zyklus-Einführung, hier kann ja auf Uwe Schüttes Buch verwiesen werden, sondern als Vertiefung und Spezialanalyse. Als erste Monographie zu Gerhard Roths Landläufiger Tod widmet sie ihr Hauptaugenmerk diesem Roman, unternimmt eine Analyse der textuellen Feinstrukturen und der gesamten Romanarchitektur. Über eine solche zentrierte Lektüre wird aber der Zyklus Die Archive des Schweigens permanent mitthematisiert, werden Bezüge zu und zwischen den einzelnen Zyklusbänden herausgearbeitet. 27 Das hierfür benötigte Instrumentarium ist aufgrund der in Zyklus und Roman verhandelten Themen und Diskurse den 26 Alois Griesmayrs Diplomarbeit „Formen literarischen Erinnerns am Beispiel von Gerhard Roths Die Archive des Schweigens“ (Salzburg 2003) geht zwar von einer auf Gedächtnis und Erinnerung basierenden Fragestellung aus, kann aber aufgrund großteils nur oberflächlicher Kenntnis der aktuellen theoretischen Zugänge wie des Primärmaterials so gut wie keine neuen Ergebnisse zu einer gedächtnistheoretisch fundierten Lektüre des Zyklus beitragen. 27 Vgl. für eine von Zugängen dieser Arbeit abhebende, den Zyklus aber nicht von seinem fiktionalen Zentrum, sondern von seinem essayistischen Ende her lesende Perspektive: Gerald Lind: Autonomie und Zyklizität. Gerhard Roths Eine Reise in das Innere von Wien und Die Archive des Schweigens. In: Gerhard Roth: Im unsichtbaren Wien. Fotografien aus Wien von 1986-2009. Hg. v. Daniela Bartens und Martin Behr in Zusammenarbeit mit dem Franz Nabl-Institut Graz. Wien, München: Christian Brandstätter 2010. S. 286-289. <?page no="23"?> Einleitung 19 Kulturwissenschaften entnommen. Eine thematische Engführung erfolgt im Hinblick auf das laut Forschungshypothese in Zyklus wie Roman besonders dominante Themenfeld Gedächtnis und Erinnerung. Berücksichtigt werden ebenfalls für die Archive des Schweigens besonders relevante Aspekte des Raumes, die im Zuge des spatial turn vermehrt in den Blickpunkt der Kultur- und Literaturwissenschaften gerückt sind. Der Aufbau dieser Studie ist sozusagen mimetisch an die Komposition von Landläufiger Tod angelehnt. Die Annäherung von Studien- und Romanstruktur ist eine Reaktion darauf, dass sich Landläufiger Tod gegen all das zur Wehr setzt, was Wissenschaft eigentlich leisten soll: Kontinuität und Kohärenz in der Argumentation, die Bestimmung eindeutiger Bedeutungen, die Auflösung von Widersprüchen, das Treffen von klaren, allgemein gültigen Aussagen. Deshalb war es notwendig, eine flexible, der Romanästhetik gerecht werdende Analyseform zu entwickeln, die punktuell aussagekräftig ist, aber nicht außer Acht lässt, dass es immer auch Passagen an anderen Stellen des Romans geben kann, die der gerade getroffenen Hypothese widersprechen - und dass es sich hier nicht um Ausnahmen, sondern um den programmatischen Kern des Textes handelt. Die Analyse soll also Gültigkeit und partielle Kohärenz beanspruchen können, ohne das Heterogene des Textes aufzulösen. Neben der quasi-mimetischen Struktur ist ein wesentliches Element der entwickelten Analyseform die Applikation einer Serie von Intensivlektüren ausgewählter Texte von Landläufiger Tod, die ausführlich in ihrer Korrespondenz mit der außerliterarischen wie innerliterarischen Wirklichkeit, in ihren Verortungen und Positionierungen in narrativen und diskursiven Bezugssytemen analysiert werden. Es ist ein wesentliches Anliegen dieser Arbeit, die enorme Dialogizität des Zyklus und von Landläufiger Tod im Hinblick auf außerliterarische und innerliterarische Diskurse, Fragen und Problemstellungen aufzuzeigen und ein vielfältiges Bezugssystem aufzuspannen, das dem Roman und dem Zyklus in seiner Komplexität gerecht wird. Hierzu werden folgende große Analyseschritte vorgenommen: Die Erzählung der Tante der Erzählerfigur von Landläufiger Tod, Franz Lindner, in dem Kapitel „Auf dem Schneeberg“ aus dem ersten Roman-Buch „Dunkle Erinnerung“, wird als exemplarisch für zyklusinterne wie mit der außerliterarischen Realität verbundene Gedächtnisnarrative und -diskurse gelesen. Dieser Analyseteil ist gleichzeitig eine Einführung in wesentliche Aspekte des österreichischen Gedächtnisses. <?page no="24"?> Einleitung 20 Daran anschließend wird der Text „Sieben nicht abgeschickte Briefe aus dem Irrenhaus“ aus dem zweiten Roman-Buch „Berichte aus dem Labyrinth“ in einer Doppellektüre auf aus diesem Text ableitbare narratologisch bestimmbare Formen des Erzählens (unzuverlässiges und multiperspektivisches Erzählen) in Landläufiger Tod und für den gesamten Zyklus gültige Rhetoriken des kollektiven Gedächtnisses gelesen. In diesem Abschnitt werden die narratologischen Grundlagen dieser Arbeit expliziert und gedächtnistheoretisch vernetzt. Kernstück der Analyse ist der dritte Studienteil, der sich mit dem „Gedächtnis des ,Mikrokosmos‘“ befasst. Er untersucht verschiedene Formen des Gedächtnisses anhand von Intensivlektüren einzelner, autonom lesbarer Texte aus dem dritten Buch von Landläufiger Tod, „Mikrokosmos“. In diesem Abschnitt wird die bisher in der Forschung meist nur gestreifte komplexe Symbolstruktur dieser, was die literarische Qualität betrifft, hochwertigen „Mikrokosmos“-Texte detailliert untersucht, werden Figuren im Hinblick auf ihre wesentlichen Merkmale analysiert und die symbolische Aufladung und Funktionalisierung von Schauplätzen fokussiert. Im letzten Teil stehen schließlich Fragen nach der Verschränkung von Raum und Gedächtnis im Zentrum. Das Kapitel „Der Tod des Generals“ des vierten Roman-Buchs „Aufbruch ins Unbekannte“ wird als Zäsur im Roman wie in der literarischen Dorf-Geschichte gelesen. Orte des Gedächtnisses werden in dem Abschnitt zu den „Archiven in den Archiven des Schweigens“ in den Blick genommen. Das letzte Kapitel nimmt seinen Ausgang von einem close reading von „Die Vergessenen“, einem Märchen aus dem fünften Roman-Buch, und perspektiviert ethnographische Gesten und symbolische Aufladungen im Verhältnis von Landschaft und Vergessen. Kurz zusammengefasst lautet also der vierteilige Aufbau dieser Arbeit: 1. erinnerungskultureller Kontext 2. narratologische Aspekte von Gedächtnis 3. Formen und narrative Formatierungen des Gedächtnisses 4. räumliche Aspekte von Gedächtnis. <?page no="25"?> Einleitung 21 Nach dieser überblickshaften Darlegung der Beschaffenheit des Zyklus, des Forschungstandes und der daraus abgeleiteten Vorgangsweisen und Strukturierung dieser Arbeit sollen im Folgenden in aller gebotenen Kürze gedächtnistheoretische Kernkonzepte dieser Untersuchung vorgestellt werden. Ausführlichere methodologische Erklärungen finden sich in den einzelnen Kapiteln. Die ersten beiden Studienteile erfüllen aber neben ihrem analytischen Anspruch auch eine Basisfunktion im Hinblick auf die Erörterung von Gedächtnisdiskursen und die Verschränkung von Narratologie und Gedächtnistheorie. In der Einleitung zum vierten Teil findet sich ein kurzer Abriss zu Raumtheorien im Gefolge des spatial turn. Die gewählte Streuung methodischer Erklärungen hat damit zu tun, dass die schon mehrfach betonte Heterogenität der Archive des Schweigens und von Landläufiger Tod eine bewegliche, auf den jeweils untersuchten Text zugeschnittene, an Zugängen der interdisziplinären Gedächtnisforschung orientierte kulturwissenschaftliche Methodenbricolage notwendig macht. Die für diese Arbeit entwickelte besondere Analyseform würde einen theoretischmethodologischen Teil erfordern, der sich nicht nur allgemein mit dem Methodendammbruch im Kontext des cultural turn sowie mit Gedächtnis- und Raumtheorien beschäftigen, sondern ebenso die in der Arbeit applizierten narratologischen, intertextuellen, kulturtheoretischen, semiotischen, philosophischen, psychoanalytischen, theologischen und (meta-)ethnographischen Zugänge vorstellen müsste. Um also einen überdimensionierten, vom Analyseteil abgekoppelten Methodenteil zu vermeiden, wird in dieser Arbeit die Explikation der Analysewerkzeuge im Interpretationszusammenhang vorgenommen. Zielführend erscheint jedoch eine einführende Darstellung jener wesentlichen Kategorien der Gedächtnistheorie, die sich wie ein transdisziplinärer roter Faden durch die gesamte Studie ziehen. Die Grundthese der Gedächtnisforschung hat George Orwell in seinem Klassiker 1984 (1948) schon früh auf den Punkt gebracht. Die Hauptfigur dieses dystopischen Romans, Winston Smith, arbeitet im „Ministry of Truth“, das sich ganz der Beschäftigung mit der Vergangenheit widmet: „Day by day and almost minute by minute the past was brought up to date. [...] All history was a palimpsest, scraped clean and re-inscribed exactly as often as was necessary.“ 28 Auf diese Weise ist die alles dominierende Partei in der Lage, ihre Herrschaft zu perpetuieren: „,Who controls the past‘, ran the Party slogan, 28 George Orwell: 1984. London: Penguin 2000 (Penguin Modern Classics 19). S. 42. <?page no="26"?> Einleitung 22 ,controls the future: who controls the present controls the past.‘“ 29 In den Worten von Aleida Assmann, einer der wichtigsten Proponentinnen der deutschsprachigen Gedächtnistheorie, wird dasselbe Prinzip unter Miteinbezug der in einer Demokratie herrschenden Kräfte folgendermaßen umrissen: Aus der Perspektive des Geschichtswissenschaft gesehen mag unser Bild von der Geschichte in einem allmählichen Prozess immer zuverlässiger und vollständiger werden, aus der Perspektive von Individuen, Generationen, Massenmedien und öffentlichen Darstellungen dagegen präsentiert sie sich als ein permanenter Revisionsprozess. 30 Im Unterschied zu einer an positivistischen Parametern orientierten Geschichtswissenschaft gibt es „im Rahmen der Gedächtnistheorie Ereignisse, Erzählungen, Erinnern und Vergessen, Gefühle, Gedenken, Traumata, immer bezogen auf individuelle und kollektive Subjekte.“ 31 Es sind vor allem diese ,weichen‘ Aspekte, welche das Gedächtnisthema für Literatur und Literaturwissenschaft so spannend machen. Umgekehrt wiederum hat die multidisziplinäre Gedächtnistheorie von Anregungen aus der Literaturwissenschaft profitiert und Erzählungen sowie Theorien des Narrativen in ihrer potentiellen Bedeutung für kollektive und individuelle Gedächtnis- und Identitätskonstruktionen erkannt. Denn das Narrative ist, wie Mieke Bal schreibt, „eine kulturelle Kraft, mit der man rechnen muß“, 32 und Wolfgang Müller-Funk stellt fest: Das Naheliegende ist stets in Gefahr, übersehen zu werden. Naheliegend wäre es, die konstitutive Bedeutung von Narrativen für Kulturen ins Auge zu fassen und Kulturen womöglich als mehr oder weniger (hierarchisch) geordnete Bündel von expliziten und auch impliziten, von ausgesprochenen, aber auch verschwiegenen Erzählungen zu begreifen. 33 29 Ebenda. S. 37. 30 Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München: Beck 2007 (Krupp-Vorlesungen zu Politik und Geschichte am Kulturwissenschaftlichen Institut im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen 6). S. 11. 31 Ebenda, S. 22. 32 Mieke Bal: Kulturanalyse. Hg. u. m. e. Nachw. vers. v. Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef. A. d. Engl. v. Joachim Schulte. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2006 (stb 1801). S. 9. Bal schlägt in dieser Aufsatzsammlung vor, die „cultural studies als Kulturanalyse aufzufassen“ (ebenda, S. 18), was unter anderem eine besondere Aufmerksamkeit für Begriffe/ Metaphern verstanden als Mininarrative und die Methode des close readings für die Auseinandersetzung mit kulturellen Objekten beinhaltet. 33 Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien, New York: Springer 2002. S. 17. <?page no="27"?> Einleitung 23 Aufgrund dieser und anderer Stimmen (Aleida Assmann, Vittoria Borsò, Renate Lachmann, Astrid Erll, Birgit Neumann, Ansgar Nünning), die durchaus innerhalb des Feldes einer auch auf das Narrative abzielenden Perspektivierung von Gedächtnis unterschiedliche Positionen einnehmen, hat sich in den letzten Jahren in der Gedächtnisforschung ein multidisziplinäres, fruchtbares Zusammenspiel ergeben. Im Zusammenhang mit diesen crossfertilizations und transdisziplinären travelling theories der Gedächtnisforschung hat sich ausgehend von der Grundannahme der Konstrukthaftigkeit und Gegenwartsbezogenheit der Vergangenheit und im Kontext eines gesamtgesellschaftlich zu denkenden „florierenden Geschichtsmarkts“, 34 ja einer „Geschichtsbesessenheit, die seit den 1980er Jahren über die Deutschen [und zum Teil auch Österreicher/ innen; G. L.] gekommen ist“, 35 in den Literatur- und Kulturwissenschaften ein regelrechter memory boom ereignet. „Kaum mehr zu überblicken scheint die Fülle der literaturwissenschaftlichen Studien, die den Gedächtnis-Begriff im Titel führen“, 36 schreiben darauf Bezug nehmend Astrid Erll und Ansgar Nünning in ihrer Überblicksdarstellung „Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis“. Erll und Nünning, Mitglieder des Sonderforschungsbereiches „Erinnerungskulturen“ der Justus-Liebig- Universität Gießen, führen in diesem Aufsatz auch einige wichtige Kategorien ein, die für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gedächtnis und Erinnerung fruchtbar gemacht werden können: Die drei gut operationalisierbaren Konzepte „Gedächtnis der Literatur“, „Gedächtnis in der Literatur“ und „Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses“ wurden mit Blick auf das „Gedächtnis der Literatur“ um die Subkategorien „Gattungen als Orte des Gedächtnisses“ und „Kanon und Literaturgeschichte als institutionelles Gedächtnis von Literaturwissenschaft und Gesellschaft“ ergänzt. 37 34 Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 12. 35 Aleida Assmann und Ute Frevert: Einleitung. In: dies.: Geschichtsvergessenheit. Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1999. S. 9-15, hier S. 10. Aleida Assmann hat den ersten, Ute Frevert den zweiten Teil des Buches verfasst, nur die Einleitung wurde gemeinsam geschrieben, weshalb die einzelnen Teile dieses Buches nach Autorin gesondert zitiert werden. 36 Astrid Erll und Ansgar Nünning: Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis. Ein einführender Überblick. In: dies. (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Unter Mitarbeit von Hanne Birk und Birgit Neumann. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005 (Media and Cultural Memory/ Medien und kulturelle Erinnerung 2). S. 1-9. 37 Vgl. Astrid Erll und Ansgar Nünning: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Ein Überblick. In: Astrid Erll, Marion Gymnich und Ansgar Nünning (Hg.): Literatur <?page no="28"?> Einleitung 24 Die Kategorie „Gedächtnis der Literatur“ leitet sich von Renate Lachmanns Feststellung ab: „Das Gedächtnis der Literatur ist seine Intertextualität.“ 38 Hierbei allerdings ist laut Erll und Nünning zu unterscheiden, ob man diese Kategorie als genitivus subjectivus im Sinne eines Gedächtnisses, das die Literatur (verstanden als Symbolsystem) hat, oder als genitivus objectivus im Sinne einer Erinnerung an Literatur (verstanden als Sozialsystem) auffasst: Intertextualität, Topiken und Gattungen sind Ergebnis des Gedächtnisses der Literatur als Symbolsystem. Die Erinnerung an Literatur hingegen erfolgt seit mehreren Jahrhunderten auf gesellschaftlich institutionalisierte Weise durch Kanonbildung und Literaturgeschichtsschreibung. 39 Diese Studie konzentriert sich eher auf ein Gedächtnis der Literatur, das diese als Symbolsystem versteht. Aus dieser Perspektive kann Intertextualität in den Blick genommen werden, eine für Gerhard Roths Schreiben wichtige Konstante, die von Walter Grond mit folgenden - im Hinblick auf die präzise Erll’/ Nünning’sche Terminologie etwas poetischeren - Worten erfasst wurde: „Wie dem Geisteskranken das Lallen zum Sprechen wird, gerät ihm [Gerhard Roth; G. L.] als Schriftsteller jedes Schreiben auch zur Erinnerung an Swift oder Melville, Dante Alighieri oder Joyce.“ 40 In einem spezifisch österreichischen Gedächtnis der Literatur stehen Die Archive des Schweigens, was das Thema des nationalsozialistischen Gedächtnisses betrifft. Zu diesem antifaschistischen literarischen Gedächtnis gehören zum Beispiel Ilse Aichingers Die größere Hoffnung (1948), Hans Leberts Die Wolfshaut (1960) und Der Feuerkreis (1971), Erich Frieds Ein Soldat und ein Mädchen (1960), Ingeborg Bachmanns Unter Mördern und Irren (1961), Herbert Zands Erben des Feuers (1961), Helmut Qualtingers und Carl Merz’ Der Herr Karl (1961), Otto Basils Wenn das der Führer wüßte (1966), Albert - Erinnerung - Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier 2003 (ELCH. Studies in English Literary and Cultural History 11). S. 3-27; Astrid Erll und Ansgar Nünning: Von der Echokammer der Texte zum Medium der Erinnerungskultur. Fünf Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. In: Nicolas Pethes und Jens Ruchatz (Hg.): Gedächtnisforschung disziplinär. Themenheft der Zeitschrift Handlung, Kultur, Interpretation. Zeitschrift für Sozial- und Kulturwissenschaften 12 (Mai 2003) Heft 1, S. 141-163. 38 Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1990. S. 35. 39 Erll/ Nünning: Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis. Ein einführender Überblick, S. 3. 40 Walter Grond: Genese eines Romans. Zum Landläufigen Tod. In: Wittstock: Materialien, S. 143-163, hier S. 156. <?page no="29"?> Einleitung 25 Drachs Unsentimentale Reise (1966), Gerhards Fritschs Fasching (1967), Peter Henischs Die kleine Figur meines Vaters (1975), Thomas Bernhards Werk vom frühen, Fragment gebliebenen Der Italiener (entstanden 1963) bis zu den späten Auslöschung (1986) und Heldenplatz (1988), Andreas Okopenkos Kindernazi (1984), Robert Schindels Gebürtig (1992), Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara (1995), Josef Haslingers Vaterspiel (2000), Robert Menasses Die Vertreibung aus der Hölle (2001), Doron Rabinovicis Suche nach M. (1997) und Ohnehin (2004) oder Elfriede Jelineks Theaterstück Rechnitz (Der Würgeengel) (2008), um nur einige wenige, unterschiedlich bekannte kritische Texte zu diesem Diskurs zu nennen. Dass es daneben natürlich auch eine antimodernistische, die schuldbehaftete Vergangenheit relativierende Traditionslinie in der österreichischen Literatur gibt (zum Beispiel Franz Tumler, Alexander Lernet-Holenia, Rudolf Henz), gegen die von den (österreich)kritischen Autorinnen und Autoren angeschrieben wurde, sollte ebenfalls bedacht werden. Diese Arbeit will die Repräsentationsformen von Gedächtnis und Erinnerung in den Archiven des Schweigens nicht auf den Aspekt der mittlerweile zu einem Schlagwort gewordenen „Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit“ reduzieren, diskutiert ihn aber an den gegebenen Stellen in der notwendigen Breite. 41 „Gattungen als Orte des Gedächtnisses“ haben insofern eine intertextuelle Dimension, als Regelwerke von Gattungen über (bekannte) Beispiele der Literaturgeschichte tradiert und, vielleicht auch dekonstruierend, konserviert werden. Für die Vielzahl an Gattungen von der Groteske, über den realistischen Roman, die phantastische Erzählung, das Tagebuch, den wissenschaftlichen Text, Träume, Gedichte, experimentelle Einzelsätze (die Sebald „Bild- 41 Es gibt eine Reihe von wissenschaftlichen Studien und Artikeln zum Thema der literarischen (Nicht-)Aufarbeitung des Nationalsozialismus und zur problematischen personellen Kontinuität von 1933/ 4 über 1938 bis 1945 in Österreich. Exemplarisch genannt sei hier die vor allem die Zeit bis zu den 1960ern analysierende Arbeit von Joseph McVeigh: Kontinuität und Vergangenheitsbewältigung in der österreichischen Literatur nach 1945. Wien: Braumüller 1988 (Untersuchungen zu österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts 10); das sich unter anderem mit Max Mell, Mirko Jelusich, Franz Tumler, Friedrich Schreyvogel und Karl Heinrich Waggerl beschäftigende Buch von Karl Müller: Zäsuren ohne Folgen. Das lange Leben der literarischen Antimorderne Österreichs seit den 30er Jahren. Salzburg: Müller 1990; sowie der Aufsatz von Uwe Baur: Kontinuität - Diskontinuität. Die Zäsuren 1933 - 1938 - 1945 im österreichischen literarischen Leben. Zum Problem des Begriffs „literarische Epoche“. In: Wendelin Schmidt-Dengler, Johann Sonnleitner und Klaus Zeyringer (Hg.): Literaturgeschichte Österreich. Prolegomena und Fallstudien. Berlin: Erich Schmidt 1995 (Philologische Studien und Quellen 132). S. 115 -126. <?page no="30"?> Einleitung 26 aphorismen“ nennt) 42 und theaterhafte, dialogische Elemente bis zu den Märchen in Landläufiger Tod besteht also ein gattungshistorischer Kontext: Diese Texte sind als Zitate aus dem Gattungsgedächtnis lesbar. Ebenso kann man solche intertextuell vernetzbaren Elemente von Landläufiger Tod als Spiel mit festgeschriebenen Kanones und institutionalisierter Literaturgeschichte im Hinblick auf Literatur als Sozialsystem verstehen. Wenn Franz Lindner in seiner Zeit in der psychiatrischen Klinik Feldhof plant, die Bibel neu zu schreiben, so ist das ebenso an einen Kanon, an ein institutionalisiertes Gedächtnis der Literatur gekoppelt wie Roths Aussage, er habe zwei Kapitel aus Landläufiger Tod an Inferno und Paradiso aus Dante Alighieris Göttlicher Komödie angelehnt. 43 Während das als „Paradiso“ gedachte „Zwischen Himmel und Erde“ im Roman bleibt, wird das „Inferno“ Das Töten des Bussards 1982 als eigenständiges Buch veröffentlicht. Gilt nun die Bibel als Buch der Bücher, dessen Zitation eine besondere Wirkung zeitigt, wie in dem Kapitel zu „Schweigen - Denken -Schreiben“ besprochen wird, so ist Dante für den amerikanischen Literaturwissenschaftler Harold Bloom neben dem für ihn alles überragenden Shakespeare das „second center“ des westlichen Kanons. 44 „Gedächtnis in der Literatur“ bezeichnet die vielfältigen Formen der literarischen Inszenierung und Problematisierung von individuellem und kollektivem Gedächtnis sowie von Prozessen individuellen Erinnerns. Diese letztere Mimesis des individuellen Erinnerns spielt in Landläufiger Tod eine ganz besondere Rolle, da sehr viele Texte orale Erinnerungserzählungen von Figuren aus dem kleinen Dorf in der Südweststeiermark sind. Wie die Mimesis beziehungsweise die narrative Nachbildung von Erinnerungsperformances nun erfolgt, welche Besonderheiten die jeweiligen Texte haben und welche narratologischen Kategorien bei deren Analyse appliziert werden können, wird in nahezu allen close readings im dritten Teil dieser Studie, „Das Gedächtnis des ,Mikrokosmos‘“, thematisiert. In ihrem Basisaufsatz „Von ,der‘ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte: Überlegungen zur Definition, Konzeptualisierung und Untersuchbarkeit von Multiperspektivität“ verweisen Vera und Ansgar Nünning darauf, dass der Roman mittels Weiterentwicklung und Neuausprägung „innovativer Erzählformen seit dem 18. Jahrhundert einen nicht zu unter- 42 Sebald: In einer wildfremden Gegend, S. 167. 43 Grond: Genese eines Romans, S. 160. 44 Harold Bloom: The Western Canon. The Books and School of the Ages. New York: Riverhead Books 1994. S. 72. <?page no="31"?> Einleitung 27 schätzenden Anteil daran hatte, Menschen für die Perspektivengebundenheit von Erfahrungen, Erkenntnis und Geschichte(n) zu sensibilisieren.“ 45 Romane wirken demnach auf kollektive Vorstellungen von Wirklichkeit, und zwar nicht nur über ihren Inhalt, sondern auch und gerade über ihre Form. Über die Form von Landläufiger Tod und die teilweise Verwendung multiperspektivischen Erzählens können also, worauf im zweiten Teil dieser Studie eingegangen wird, Vorstellungen von der Kontingenz und Ambivalenz kollektiver Gedächtnisse repräsentiert werden. Diese postmoderne Auffassung von der konstrukthaften Kohärenz von Geschichte wird von Gerhard Roth mustergültig vorgeführt. Das meint auch Pamela S. Saur, die zwar festgestellt hat, dass Die Archive des Schweigens in vielerlei Hinsicht innovativ seien, aber meint: „[I]n another sense the cycle is the opposite of new and original, for it can also serve as a textbook example of the postmodernist movement“. 46 Landläufiger Tod gehört aus dieser auf postmodernes Schreiben gerichteten und auf Fragen des Gedächtnisses bezogenen Perspektive zum von Ansgar Nünning in seiner Habilitationsschrift bestimmten Genre der historiographischen Metafiktion. Dieses Genre stellt die Regeln akademischer Geschichtsrepräsentationen in Frage und hilft so eine übergeordnete Reflexionsebene zu erschließen. 47 Aufgelöst werden kann die Perspektivierung von Geschichte als unzusammenhängende Abfolge von Ereignissen nur durch eine vom türkischen Nobelpreisträger Orhan Pamuk thematisierte, besondere emotionale Verfassung, wie sie keine der Figuren in Landläufiger Tod aufweist: Zwischen all diesen Erinnerungen gab es keinerlei Verbindung, und Ka [Dichter und Protagonist des Romans Schnee; G. L.] begriff sehr gut, daß das Leben nichts anderes war als eine Reihe sinnloser und gewöhnlicher Ereignisse ohne Zusammenhang, außer man war verliebt und glücklich. 48 „Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses“ schließlich erfasst den gesamten Komplex der Funktionalisierung und Positionierung von literarischen Texten in regionalen und nationalen Gedächtnispolitiken sowie ihre 45 Vera und Ansgar Nünning: Von ,der‘ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte: Überlegungen zur Definition, Konzeptualisierung und Untersuchbarkeit von Multiperspektivität. In: dies. (Hg.): Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2000. S. 3-38, hier S. 5. 46 Saur: Gerhard Roth’s Die Archive des Schweigens, S. 90. 47 Vgl. Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 1. Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans. Trier: WVT 1995 (Literatur, Imagination, Realität 11; zugl. Habil.-Schr. Univ. Köln 1994). 48 Orhan Pamuk: Schnee. Frankfurt/ Main: Fischer 2008. S. 287. <?page no="32"?> Einleitung 28 Eingliederung in spezifische erinnerungskulturelle Kontexte. Wichtig ist hier also, dass Literatur nicht nur selbst in Gedächtnisprozesse involviert ist (Intertextualität) oder diese repräsentiert (Mimesis von Erinnerung, Problematisierung von kollektivem Gedächtnis), sondern dass sie „überdies auch ,Gedächtnis‘ - von kulturspezifischen Schemata über Vergangenheitsversionen bis hin zu Vorstellungen von den Funktionsweisen des Gedächtnisses - in der Erinnerungskultur vermittelt.“ 49 Für den Zyklus gilt nun, dass durch den langen Entstehungszeitraum vom Ende der 1970er bis zum Anfang der 1990er Jahre eine Transformation der Erinnerungskultur mitbedacht werden muss. Landläufiger Tod, unser zentraler Text, erschien im Orwell’schen Jahr 1984, also zwei Jahre vor der großen Zäsur im österreichischen Gedächtnis nach 1945, der Affäre um den Umgang des vormaligen UN-Generalsekretärs und späteren Bundespräsidenten Kurt Waldheim mit seiner Kriegsvergangenheit. Trotzdem - oder deshalb - nimmt dieser Roman vieles vorweg, was erst im Gefolge der Affäre Waldheim in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert wurde, wobei Gerhard Roth, das sei nur an dieser Stelle explizit hervorgehoben, sich Gehör im Diskurs über die österreichische Vergangenheit zu verschaffen wusste und vehement und mutig Kritik an Österreichs „Weigerung, sich zu erinnern“, übte. 50 In den einzelnen Analysen wird eine Vernetzung mit verschiedenen Aspekten der Narrative und Diskurse der österreichischen Erinnerungskultur erfolgen. In ihrem grundlegenden Buch Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen hat Astrid Erll für die Bestimmung der Funktionalisierung von Vergangenheitsnarrativen im Hinblick auf literarische Texte und ausgehend von erzähltheoretischen Kategorien fünf Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses angeführt: 1. Monumentaler Modus, 2. Antagonistischer Modus, 3. Erfahrungshaftiger Modus, 4. Historisierender Modus und 5. Reflexiver Modus. 51 Diese Modi bezeichnen affirmative, widerständige, authentisierende, historisierende (quasi-geschichtswissenschaftliche) und problematisierende Perspektiven auf kollektive Gedächtnisse. Wie diese Modi, diese Redewei- 49 Erll/ Nünning: Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis. Ein einführender Überblick, S. 5. 50 Gerhard Roth: Der unhörbare Trauermarsch. Österreich und die Vergangenheit. In: ders.: Das doppelköpfige Österreich. Essays, Polemiken, Interviews. Hg. v. Kristina Pfoser-Schewig. M. e. Vorw. v. Josef Haslinger und Komm. v. Gerfried Sperl. Frankfurt/ Main: Fischer 1995. S. 43-48, hier S. 48. 51 Vgl. Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005. S. 167-193. <?page no="33"?> Einleitung 29 sen über Vergangenheit mit Landläufiger Tod und den Archiven des Schweigens in Verbindung gebracht werden können, ist ein durchgängiges Thema im zweiten, sich mit erzähltheoretischen Aspekten beschäftigenden Teil dieser Arbeit. Der übergreifende erinnerungskulturelle Kontext wird hingegen schon im ersten Teil, das heißt in der exemplarischen Analyse des Textes „Auf dem Schneeberg“, besonders fokussiert. Der Gefahr einer zu einseitigen, sich entweder nur auf literarischästhetische oder nur erinnerungskulturelle Elemente beschränkenden Lesart sollte jedenfalls mit Wendelin Schmidt-Denglers Auffassung einer sich wechselseitig ergänzenden Lektüre begegnet werden: Wer bei einem literarischen Werk von der Historie allein seinen Ausgang nimmt und nicht von ihm als einem Werk der Literatur, verfehlt darin die Geschichte, wie umgekehrt, der von einem literarischen Werk das verschweigt, was dessen geschichtliche Substanz ausmacht, und nur die Literatur darin sehen will, eben das verfehlt, was das Literarische an einem Text ist. 52 52 Wendelin Schmidt-Dengler: Das neue Land. Die Konzeption einer österreichischen Identität in der Literatur 1945-55. In: Roland Duhamel und Clemens Ruthner (Hg.): 50 Jahre 2. Republik - 1000 Jahre „Ostarrichi“. Beiträge zur Sprache, Literatur und Kultur in Österreich. Brüssel: BGDV 1996 (Germanistische Mitteilungen 43-44; Acta Austriaca-Belgica 2). S. 27-49, hier S. 27. <?page no="35"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 53 „Auf dem Schneeberg“ (LT 78-107), das dritte Kapitel des ersten Buches - „Dunkle Erinnerung“ - von Landläufiger Tod, ist in mehrerlei Hinsicht paradigmatisch für den Zyklus. Der Text inszeniert die Lebenserinnerungen der Tante des vorgeblich stummen und schizophrenen Imkerssohns Franz Lindner, der Roman-Erzählerfigur. Es handelt sich hier um eine für Landläufiger Tod typische Selbstnarration, wobei Narration im Sinne von Gérard Genette verstanden wird: Ich schlage vor, ohne weiter auf den im übrigen evidenten Gründen für diese Wahl zu insistieren, das Signifikat oder den narrativen Inhalt Geschichte zu nennen (auch wenn dieser Inhalt nur von schwacher dramatischer Intensität und ereignisarm sein sollte), den Signifikanten, die Aussage, den narrativen Text oder Diskurs Erzählung im eigentlichen Sinne, während Narration dem produzierenden narrativen Akt sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten sein soll, in der er erfolgt. 54 Bei einer kulturwissenschaftlichen Perspektivierung lassen sich anhand der dargestellten Lebensnarration für die Archive des Schweigens zentrale „Einblicke in kulturell vorherrschende Gedächtnis- und Identitätskonzepte, in stereotype Vorstellungen von Eigenem und Fremdem, in Erinnerungswürdiges sowie Nicht-Sanktioniertes“ 55 gewinnen. Aus einem auf die Mimesis des Erinnerns gerichteten Blickwinkel ist der Text ein anschauliches Beispiel für die literarische Inszenierung mündlicher Erinnerung. Bei einer zyklusorientierten Lesart zeigt sich die Figur der Tante als eine wesentliche, Zusammenhang konstituierende Konstante der Erzählung der südsteirischen Peripherie: Nicht 53 Vgl. für eine frühere und kürzere Version dieses Kapitels: Gerald Lind: „Von Politik aber verstanden wir nichts.“ Erinnerung und Identität im Kapitel „Auf dem Schneeberg“ aus Gerhard Roths Roman Landläufiger Tod. In: Wolfgang Müller-Funk und Marijan Bobinac (Hg.): Gedächtnis - Identität - Differenz. Kulturelle Konstruktionen des südosteuropäischen Raumes und ihr deutschsprachiger Kontext. In Zusammenarb. m. Gerald Lind und Rikard Puh. Tübingen, Basel: A. Francke 2008 (Kultur - Herrschaft - Differenz 12). S. 157-168. 54 Gérard Genette: Die Erzählung. A. d. Frz. v. Andreas Knop. M. e. Vorwort hg. v. Jürgen Vogt. München: Wilhelm Fink 1994 (UTB für Wissenschaft). S. 16. 55 Birgit Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Erll/ Nünning: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, S. 149-178, hier S. 165. <?page no="36"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 32 nur spielt sie eine bedeutende Rolle in Landläufiger Tod, sondern sie ist ident mit der Figur der Witwe Egger aus Der Stille Ozean, die für den aus der Stadt geflohenen Arzt Ascher kocht und ihm in mehreren Passagen des Romans aus ihrem Leben erzählt, wie aus Lindners Feststellung in einem mit „Ascher“ betitelten Text hervorgeht: „Ich selbst kannte den neuen Gemeindearzt nicht, obwohl ich schon oft von ihm gehört hatte. Angeblich, erzählte meine Tante, bei der er einige Monate Kostgänger war, sei ihm in der Stadt ein Kunstfehler unterlaufen, weswegen er sich nun auf dem Lande aufhalte.“ (LT 334-335) Als reales Vorbild der Witwe Egger/ Tante wird die Bäuerin Juliane aus Im tiefen Österreich erkennbar, wie auch in Der Untersuchungsrichter thematisiert. 56 Im ersten Teil des dreiteiligen Dokumentarfilms Menschen in Österreich fungiert diese Juliane (Rannegger) außerdem als Interviewpartnerin Gerhard Roths, wodurch über das Medium des Films ,reale‘ Erinnerungserzählung, Autorperspektive und literarische Transformationsarbeit in ein intermediales und an den Grenzlinien von Fakt und Fiktion angesiedeltes Relationssystem eingebunden werden. Die Bedeutung der realen Person Juliane Rannegger als Geschichtenerzählerin für den Autor Gerhard Roth zeigt sich aber nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Zyklus und wirft gleichzeitig eine Frage nach Repräsentation und Repräsentativität des Landlebens auf. Denn Julianes von Roth geschriebene Stimme ist in Im tiefen Österreich deutlicher als alle anderen Stimmen aus dem Dorf vernehmbar. So wird sie in dem historischen Fotografien gewidmeten ersten Teil von Im tiefen Österreich vier Mal erwähnt (vgl. ITÖ 10, 15, 28) und auch zwei Fotografien ihrer Hochzeit werden verwendet. Ansonsten werden im ersten Teil von Im tiefen Österreich nur noch der Vater des Kirchenwirtes (vgl. ITÖ 11) und ein Bauer aus Aug bei Wies (vgl. ITÖ 25) als Quellen für Fotografien erwähnt sowie Roths Vermieter, Herr Strohmaier, weil er dem Autor einen Plan des unterirdischen Stollensystems gezeigt hat (vgl. ITÖ 30). Weiters wird auf einem Foto der Bienenzüchter Zmugg identifiziert. Die anderen angegebenen Quellen stammen nicht aus dem Dorf: Der Historiker Egon Vajda als Autor einer „Geschichte Österreichs“ (ITÖ 17) und der in Österreich bekannte Journalist und Historiker Hugo Portisch (vgl. ITÖ 24). Im zweiten Teil von Im tiefen Österreich heißt es dann über Rannegger: „In ihrem Kopf ist die Chronik des Dorfes gespeichert.“ (ITÖ 97) 56 „Wenn ich zu Juliane gehe (zu ,Lindners Tante‘), begegne ich niemandem“. (UR 88) <?page no="37"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 33 Bei Juliane Rannegger handelt es sich, wie auch beim „Kirchenwirt Finsterl“ und dem „alten Mautner“, die ebenfalls im Dokumentarfilm Menschen in Österreich porträtiert wurden, um, wie es in der Ethnologie heißt, „privilegierte Informanten“, für die nach James Clifford charakteristisch ist, dass sie, „oft mit großem Einfühlungsvermögen, verstanden, was von einer ethnographischen Haltung einer Kultur gegenüber verlangt wurde.“ 57 Rannegger war also offensichtlich mit einem besonderen Gespür für jene Themen des Landlebens ausgestattet, die Gerhard Roth, der ja seine Recherchen als „eine Art ethnographische Arbeit“ 58 und sich selbst als „Ethnograph“ und „Archäologe“ 59 bezeichnet hat, besonders beschäftigten. Auf Rannegger kann deshalb auch folgende Bemerkung aus Im tiefen Österreich bezogen werden: „Ich habe mit den meisten Frauen im Dorf gesprochen, sie sind im allgemeinen verschlossener und vorsichtiger als Männer. Die wenigen Ausnahmen sind allerdings die besten Erzähler.“ (ITÖ 19) Ergänzt kann hier werden, dass dieser Feststellung ein Gender-Aspekt eingeschrieben ist, da Gerhard Roth als Mann vielleicht eher Zugang zu anderen Männern gefunden hat und ihm der Großteil der Frauen vielleicht weniger offen begegnet ist. Ranneggers Eindruck auf Roth ist jedenfalls weit über die Arbeit am Zyklus hinweg bestehen geblieben. In einem 2007 geführten Interview antwortete der Autor auf Helena Wallners Frage, was ihm im Rückblick auf die Zeit seiner Recherchen als besonders bewahrenswert erscheine: „Menschen, die damals gelebt haben und gestorben sind, wie Juliane Rannegger und andere, Juliane war [...] eine großartige Erzählerin.“ 60 Wenden wir uns nun nach diesen Hinweisen auf die größeren, mitzureflektierenden Bezugsrahmen dem Text selbst zu. Die Erinnerungserzählung der Tante in „Auf dem Schneeberg“ kann aufgrund der in den Erzählvorgang eingebundenen Personen (Neffe und Stiefschwester 61 ) im Kontext des Famili- 57 James Clifford: Über ethnographische Autorität. In: Eberhard Berg und Martin Fuchs (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1999 (stb wissenschaft 1051). S. 109-157, hier S. 146. 58 Gerhard Roth: Reise durch das Bewußtsein. Ein Monolog von Gerhard Roth über Die Archive des Schweigens, aufgezeichnet von Kristina Pfoser-Schewig. In: Wittstock: Materialien, S. 82-94, hier S. 83. 59 Ebenda, S. 93. 60 Gerhard Roth: Die Schönheit im Nebensächlichen erfahren. Interview von Helena Wallner. In: Roth: Atlas der Stille, S. 271-272, hier S. 271. 61 Auch die Stiefschwester beruht übrigens auf dem realen Vorbild der Stiefschwester von Juliane Rannegger, die Bezeichnung als „Tante“ leitet sich ursprünglich von ihr ab (vgl. <?page no="38"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 34 engedächtnisses verortet werden. Dieses wurde von Maurice Halbwachs beschrieben 62 und in seiner Wirkungsweise zum Beispiel von Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall erforscht. In der Untersuchung „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis konnten die drei Autor/ inn/ en feststellen, dass das Familiengedächtnis aufgrund seiner emotionalen Besetztheit von entscheidender Bedeutung für das Geschichtsbewusstsein der Familienmitglieder ist: „Die Ergebnisse unseres Projektes zeigen, dass die Tradierung von Vergangenheitsvorstellungen und bildern im Familiengespräch und im weiteren sozialen Umfeld offensichtlich den Rahmen dafür bereitstellt, wie das gelernte Geschichtswissen gedeutet und gebraucht wird.“ 63 Allerdings geht es in „Auf dem Schneeberg“ trotz des Settings weniger um das Gedächtnis der Familie, sondern vielmehr um die Repräsentation des Gedächtnisses des Dorfes, in dem Tante, Stiefschwester und Franz Lindner leben. Halbwachs hat den Zusammenhang zwischen kollektivem und individuellem Gedächtnis so bestimmt, „daß das Individuum sich erinnert, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt, und daß das Gedächtnis der Gruppe sich verwirklicht und offenbart in den individuellen Gedächtnissen.“ 64 Die Lebensgeschichte der Tante steht also, wie Uwe Schütte schreibt, „stellvertretend für alle Dorfbewohner“, 65 ist für das Dorf und für die ganze ländliche Region identitätsstiftend auf individueller und kollektiver Ebene. 66 Einen solchen Zusammenhang fasst Birgit Neumann ins Auge, wenn sie schreibt, dass „Konstruktionen der individuellen Vergangenheit […] tief greifend von soziokulturellen Faktoren geprägt sind“, weshalb „sich in der Praxis ITÖ 95-96). In Der Stille Ozean findet sich folgende Beschreibung der Stiefschwester: „Sie hatte ein rundes, fast starres Gesicht, in dem keine Gefühlsregung zu lesen war.“ (DSO 46) An anderer Stelle heißt es: „Schon längst hatte Ascher bemerkt, daß die Stiefschwester der Witwe vom Lastentragen verbogene Beine hatte.“ (DSO 75) 62 Vgl. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. A. d. Franz. von Lutz Geldsetzer. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1985 (stb wissenschaft 538). S. 203- 242. 63 Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Unter Mitarbeit von Olaf Jensen und Torsten Koch. Frankfurt/ Main: Fischer 2002 (Die Zeit des Nationalsozialismus). S. 13. 64 Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 23. 65 Vgl. Schütte: Auf der Spur, S. 121. 66 Auer: Der österreichische Kopf, S. 249, versteht „Auf dem Schneeberg“ als „beispielhafte [...] Biographie einer Landbewohnerin“. <?page no="39"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 35 der autobiographischen Erinnerung stets auch die Produktion einer überindividuellen Vergangenheit“ vollzieht. 67 Für die Romanarchitektur fungiert „Auf dem Schneeberg“ als „Rampe“, 68 wobei man durchaus das gesamte erste Buch von Landläufiger Tod als Rampe verstehen könnte. Bei „Auf dem Schneeberg“ ist diese Funktion allerdings besonders deutlich. Walter Hinck verwendet übrigens eine ähnliche Metapher und versteht, auf den zweiten Zyklusband verweisend, „Figuren und Örtlichkeiten“ aus Der Stille Ozean als einen „Brückenkopf“ für Landläufiger Tod. 69 In „Auf dem Schneeberg“ werden historische Ereignisse und wichtige dörfliche Figuren erwähnt sowie Diskurse und Fokalisierungen des Landlebens eingeführt, die im Laufe des Romans aus verschiedenen Perspektiven weiter- und umerzählt werden und vor allem mit den ersten beiden Zyklusbänden Im tiefen Österreich und Der Stille Ozean intertextuell und intermedial vernetzt sind. Der alljährliche Gang zum Friedhof einen Tag vor Allerheiligen bildet die Basiserzählung des Kapitels. Gehen und erinnern, Raum und Zeit sind miteinander verbunden, 70 es handelt sich hier um einen Chronotopos beinahe deutlicher noch als im Bachtin’schen Sinne: Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. 71 67 Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität, S. 158. 68 Diese Formulierung wird in Anlehnung an Heimito von Doderer verwendet, der seinen Roman Die Strudlhofstiege (1951) als Rampe für Die Dämonen (1956) bezeichnet hat. Vgl. dazu Dietrich Weber: Heimito von Doderer. Studien zu seinem Romanwerk. München: Beck 1963. S. 77. 69 Walter Hinck: Die aus den Fugen gehende Welt des Dorfes. Landläufiger Tod - Gerhard Roths Roman und seine Chronik. In: Marianne Baltl und Christian Ehetreiber (Hg.): Gerhard Roth. Graz, Wien: Droschl 1995 (Dossier 9). S. 293-300, hier S. 295. 70 Vgl. Michael Basseler und Dorothee Birke: Mimesis des Erinnerns. In: Erll/ Nünning: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, S. 123-147, hier S. 132. 71 Michail M. Bachtin: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. In: ders.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hg. v. Edward Kowalski u. Michael Wegner. A. d. Russ. v. Michael Dewey, Frankfurt/ Main 1989 (Fischer Wissenschaft 7418). S. 7-209, hier S. 8. <?page no="40"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 36 Bezeichnend für „Auf dem Schneeberg“ ist in diesem Kontext nämlich die mit den Räumen der Erinnerung korrespondierende, schon in der Ausgangssituation mit dem Gang zu den Gräbern zu Allerheiligen vorgezeichnete und auf Tod und Krankheit basierende symbolische Aufladung des durchquerten Raumes, welche über die Perspektive der Erzählerfigur Lindner erfolgt: Im Haus der Tante, in dem sie ihre Erzählung der familiären und regionalen Verhältnisse der Zwischenkriegszeit beginnt, stehen als Grabschmuck gedachte (Totenblumen) Astern auf dem Tisch, des Nachts kriechen Unmengen (krankheitsübertragender) Schaben aus allen Ritzen (vgl. auch DSO 191-192), in der Badewanne schwimmen geschlachtete Hühner (vgl. LT 79), an der Herdplatte riss sich der Onkel bei einer Explosion „die Finger einer Hand“ (LT 79) weg, die Stube wird nicht benützt, seit darin der Onkel (vgl. LT 81) und zuvor auch schon dessen Vater (vgl. LT 107) gestorben sind. Tante und Stiefschwester tragen selbstverständlich schwarze Kleidung (vgl. LT 81 u. 85). Als die Tante beim Gang durch den Wald von der Folterung eines Schmugglers erzählt, „[taumelt] das Laub wie vertrocknete, fliegende Blutfladen zu Boden“ (LT 87), bei der Erzählung vom Beginn der Naziherrschaft „schlagen einige Kastanien auf der Straße auf und zerplatzen.“ (LT 91) Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Tante ein phantastisch anmutendes Naturereignis mit dem Verlauf der Geschichte in einen indirekten Sinnzusammenhang stellt, indem sie ausführlich direkt nach der „Anschluss“-Erzählung von einem roten Nordlicht erzählt: „Unsere Gesichter und Hände schienen von Blut zu triefen, das rote Licht färbte Felder, Wiesen, Häuser, Vögel und Hunde, wir blickten uns an wie Verursacher eines Verbrechens.“ (LT 94) 72 Übrigens wird auch in Robert Menasses Roman Schubumkehr ein Nordlicht erwähnt. Wie bei Roth im Hinblick auf den Krieg hat auch bei Menasse das Nordlicht die Funktion des Unheilsverkünders: Menasse gibt in seinem Roman die Perspektive seiner Grenzgemeindenbewohner wieder, wenn er sie 72 Ein ähnliches Nordlicht war tatsächlich Anfang 1938 in der Steiermark zu sehen. Die Tante liefert als Jahresangabe hingegen 1939: „Im selben Jahr dann, als der Krieg ausbrach, erschien ein unvorstellbares Nordlicht am Himmel, wir hatten dergleichen noch nie gesehen.“ (LT 92) Vgl. dazu auch Schütte: Auf der Spur der Vergessenen, S. 148. Schütte schreibt übrigens, dass er mit „dem allergrößten Erstaunen“ auf eine Erwähnung dieses Nordlichts in Carl Zuckmayers Autobiographie gestoßen sei. Nur entre parèntheses und in Abgrenzung des persönlichen vom wissenschaftlichen Diskurs sei an dieser Stelle erwähnt, dass es sich bei besagtem Nordlicht um einen nicht unbekannten Inhalt des Regionalgedächtnisses handeln dürfte - meine 1938 in der Oststeiermark lebende Großmutter war Zeugin dieses Naturphänomens und erzählte mir mehrfach davon. <?page no="41"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 37 das Nordlicht als Boten einer drohenden Katastrophenzeit deuten lässt, die sich als Systemwechsel jenseits der österreichisch-tschechoslowakischen Grenze im November/ Dezember 1989 herausstellt. 73 Während des Aufenthalts auf dem Friedhof beginnt die Tante vom Krieg und seinen Folgen zu erzählen (vgl. LT 96-97), indessen wird der im Laufe des Weges einsetzende Schneefall stärker und schließlich zum Schneesturm, der die Schirme „wie schwarze Drachen“ (LT 100) in die Luft wirbelt. Bei einem kurzen Aufenthalt im Gasthaus, dem Kommunikationszentrum des Dorfes, erzählt die Tante von der wechselseitigen Bespitzelung in der Nazi- Zeit (vgl. LT 98). Auf dem Rückweg säumt schließlich eine Unzahl toter Vögel die Straße (vgl. LT 101, 105 und 106) und Lindner wird vom „schwarz[en] und deshalb umso furchterregender[en]“ (LT 101) Hund des Tischlers angefallen. Die Stiefschwester erwähnt - während die drei in der Werkstatt des mit der Tante verfeindeten Tischlers Unterschlupf gefunden haben -, dass „schon viele Menschen erfroren“ (LT 104) seien, worauf die Tante erzählt, wie sie während ihrer Arbeit im Pfarrhaus einmal gehört habe, wie einem Erfrorenen die Knochen gebrochen wurden, um ihn in den Sarg legen zu können: „Der Totengräber, der die Arbeit verrichtete, schimpfte vor Ekel so heftig, daß wir jedes seiner Worte verstehen konnten.“ (LT 104) Die letzte Etappe des Weges wird zum Schutz vor dem Sturm mit einem vom Tischler 74 geliehenen Sargdeckel auf dem Kopf bewältigt. (Vgl. LT 104-107) Dieser Deckel wird übrigens an anderer Stelle schließlich doch seiner Bestimmung zugeführt, denn in der Dorfchronik zum „Landläufigen Tod“ wird die Sonntagsorganistin, die immer wieder als Mutter Lindners ins Spiel gebracht wird, in dem vom Vater des Tischlers für den Eigenbedarf hergestellten, dann als Gewürztruhe und schließlich vom Tischler als Werkzeugtruhe benutzten Sarg (vgl. LT 89-90) bestattet: „Selbst den Deckel haben wir von der Witwe geholt, mit dem sie sich zusammen mit ihrer Stiefschwester und ihrem Neffen gegen den Schneesturm schützte.“ (DLT 75) Der Schneesturm indessen gewinnt eine quasi-apokalyptische Präsenz und scheint, ähnlich dem Nordlicht, die diskursive Logik zu durchbrechen: „Und was wir uns nicht erklären können ist, daß die Nacht sich plötzlich in ein dunkles Grau verwandelt, kurz aufhellt, um 73 Vgl. Robert Menasse: Schubumkehr. Roman. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1997 (stb 2694). S. 13-14. 74 Schütte: Auf der Spur der Vergessenen, S. 121, erkennt ebenfalls die Todessymbolik, schreibt allerdings von der Zufluchtnahme „in der Werkstatt eines Sargtischlers“, es handelt sich aber um einen gewöhnlichen Tischler. <?page no="42"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 38 sich sodann in noch tiefere Finsternis zu hüllen.“ (LT 107) Die Wahrnehmung der Landschaft wird durch den starken Schneefall beeinträchtigt, schließlich scheint der Boden unter den Füßen, in der Phänomenologie Husserls grundlegend für die Weltwahrnehmung, 75 zu verschwinden: „Für einen Moment habe ich meinen Körpersinn verloren, durch den starken Schneefall, das Schneegestöber, den Schneewirbel irritiert, weiß ich nicht mehr, wo oben und unten ist. Gehe ich auf dem Kopf? “ (LT 107) Der Schneesturm im Landläufigen Tod ist Intertext eines anderen berühmten Schneesturms der Literaturgeschichte, jenes in Thomas Manns Der Zauberberg. Auch dem Mann’schen Protagonisten Hans Castorp, der im Hochgebirge auf einer Skiwanderung vom Sturm überrascht wird, erscheint es an einer Stelle, „als sei mit dem Grund und Boden nicht alles in Ordnung“, 76 auch Castorp verliert vollständig die Orientierung. Doch während Castorp sein intuitives Navigieren im Kreise führt, gelangen Tante, Stiefschwester und Lindner schließlich doch zurück zum Haus. 77 Für Gerhard Roth passt der Schnee besonders zu der für die hügelige Landschaft gewählten Meeresmetaphorik. Schon im Melville-Zitat am Beginn von Der Stille Ozean heißt es: „Jetzt, da alles mit Schnee bedeckt ist, habe ich hier auf dem Lande das Gefühl, als wäre ich auf See.“ (DSO 5) In „Auf dem Schneeberg“ findet sich wiederum der Satz: „In der Wiese ragen die Heuschober wie Kiele von im Eismeer versinkenden Schiffen auf“. (LT 105) Bemerkenswert ist weiters, dass der Schnee mit der Figur der Tante verknüpft zu sein scheint, schon in der Erzählung ihrer Kindheit sagt sie, die Determiniertheit des dörflichen Lebens andeutend: „Wir sind eine Stunde zur Schule gegangen, im Winter war der Weg tief verschneit. Jeder ist in die Spuren des Vorgängers getreten, daran muß ich oft denken.“ (LT 83) Auch nicht zufällig erscheint im Kontext des Schneesturmes von Landläufiger Tod folgende Szene bei der Hochzeit im Stillen Ozean: „Einmal, bei der Damenwahl, trat die Witwe an ihn [Ascher; G. L.] heran und tanzte mit ihm den Schneewalzer.“ (DSO 161) Und schließlich handelt ja der hier zur Disposition stehende Romanab- 75 Vgl. Stephan Günzel: Einleitung [zu Teil II Phänomenologie der Räumlichkeit]. In: Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2006 (stb wissenschaft 1800). S. 105-128, hier S. 110-111. 76 Thomas Mann: Der Zauberberg. Roman. Frankfurt/ Main: Fischer 2004. S. 662. 77 Übrigens handelt auch Adalbert Stifters letzte Erzählung Aus dem bairischen Walde (1868) von einem gewaltigen Schneesturm, ein weiterer Intertext. <?page no="43"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 39 schnitt nicht nur von einem Gang durch den Schneesturm, sondern auch von einer Wanderung auf den niederösterreichischen Schneeberg. Der Erinnerungsprozess der Tante und Lindners Reaktionen darauf sollten im Hinblick auf den in der Erzählgegenwart des Textes möglichen Zugang zu (stabilen) Informationsmedien im peripheren Raum gelesen werden. Öffentliche Bibliotheken gab es - vielleicht mit Ausnahme von Pfarrbibliotheken - auf dem Land kaum, nur wenige besaßen Bücher, das Massenmedium Fernsehen hatte erst Mitte der 1970er Jahre Einzug in die meisten Haushalte der ländlichen Bevölkerung gehalten. Jedoch sollten auch Signale im Text berücksichtigt werden, die diesen Eindruck der (medialen) Abgeschnittenheit relativieren. So ist im Haus der Tante ein auf einen Transformationsprozess des ländlichen Lebens hinweisendes Nebeneinander auffindbar. Während im Vorzimmer eine mit Abbildungen aus Im tiefen Österreich (vgl. ITÖ 43-45) korrespondierende „Fotografie mit ihrem [der Tante; G. L.) Vater und k.u.k. Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg hängt“ (LT 80), ist in anderen Räumen das Aus-der-Zeit-gefallen-Sein aufgehoben, die Differenz zwischen Zentrum und Peripherie verwischt: „Die Zimmer meiner beiden Cousins sind mit Zeitungsbildern von Sportlern und Filmschauspielern geschmückt; ein Fernsehapparat, Tisch, Betten, Kästen, Teppiche aus Stoffresten bilden die Einrichtung.“ (LT 83) Dieser Unterschied zwischen den Generationen wird auch im Stillen Ozean thematisiert, und zwar im Zusammenhang mit Aschers Beobachtungen zur mangelhaften medizinischen Versorgung der Landbevölkerung und zum Fehlen von korrekt angepassten Sehhilfen: Viele aber lebten mit schlechten Augen und nahmen es hin. Denn das Lesen von Zeitungen war zumeist auf die Jüngeren beschränkt. Die Älteren setzten sich lieber in das Kaufhaus, am Abend sahen sie fern, und da der Empfang häufig schlecht war und die Geräte zumeist Schwarz-Weiß-Apparate und alte Modelle waren, fiel es nicht weiter auf, wenn die Bilder verschwommen waren. (DSO 147) 78 78 Walter Grond nimmt diese Gleichzeitigkeit von Neuem und Altem wahr, sieht darin aber nicht die Spur der Veränderung, sondern ein subkutanes Wechselspiel: „Die Ästhetik des Archaischen, die aus den Erscheinungen, die er [Roth; G. L.] auf dem Land untersucht, immer wieder hervortritt, schlägt zurück in die Gegenwart. Über Äcker fahren inzwischen Traktoren, aber Traktoren bringen diese Ästhetik nicht zum Verschwinden. Die Traktoren der modernen Welt überdecken, daß im Kern ein Widerspruch bleibt. Die Geschichte des heidnisch katholischen Landes ist nicht nur eine Geschichte einer Welt, die zugrunde geht. Was ausgegraben wird, ist als Fundstück nicht <?page no="44"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 40 Verschiedene Generationen rezipieren Wirklichkeit unterschiedlich, nehmen die Gegenwart anders wahr und haben differente Perspektiven auf die Vergangenheit. In Landläufiger Tod sind aufgrund der Rechercheweise von Gerhard Roth viele „Geschichten des Hören-Sagens“, 79 also Inszenierungen mündlicher Erinnerung, enthalten. Es ist hier die ältere Generation, die selbst Erlebtes in mündliche Geschichten fasst, die von ihrer Generation als einer Erzählgemeinschaft anders gedeutet werden als von den Jüngeren. Diese generationelle Diskrepanz hat nicht nur mit der Frage von eigener (ältere Generation) und fremder (jüngere Generation) Vergangenheit zu tun. Ebenso zu bedenken gilt das Spannungsfeld zwischen eigenem Erlebtem, dörflicher, das heißt engerer, Erzählgemeinschaft und den Transformationen der österreichischen master narratives zur Vergangenheit, dem kulturellen, medial vermittelten Gedächtnis der Nation. Die hierfür gültigen Parameter des österreichischen Nachkriegsgedächtnisses werden weiter unten in diesem Kapitel ausführlich bestimmt. Das Generationenthema wird in der Analyse von „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ in den Blick genommen. Der Funktion von Jüngeren als „sekundären Zeugen“ für begangene NS- Verbrechen wird in der Analyse von „Gockel“ und der Geschichte der Dunkelheit nachgegangen. Der intergenerationelle Monolog und Dialog ist aber, deshalb wurde bereits an dieser Stelle hingewiesen, als Kontext der Erzählung der Tante und der Rezipientenrolle Lindners mitzudenken. „,Den Krieg habe ich zu Hause, auf dem Hof arbeitend, verbracht‘, fährt meine Tante jetzt fort. ,Was wirklich geschah, wußten wir nicht.‘“ (LT 96) Natürlich verweist dieser Satz darauf, dass Frauen noch stärker an den dörflichen Raum gebunden waren als Männer, die zum Teil als Pendler auswärts arbeiteten und im 2. Weltkrieg am nationalsozialistischen Vernichtungskrieg teilnahmen. Allerdings sollte hier in Betracht gezogen werden, dass dieser Satz als Exkulpation und Marginalisierung der eigenen Rolle in der NS-Zeit interpretiert werden kann. Denn gerade die Frage nach dem Wissen über die nationalsozialistischen Verbrechen ist von hoher Relevanz für das Thema der Kollektivschuld. Das hat Hannah Arendt in ihrer Operationalisierung des Begriffes von einer direkten Beteiligung an den Verbrechen hin zu einer Komplizenschaft der für die nationalsozialistische Identitätspolitik so wichti- Zeuge einer fremden Welt, sondern Fremdes, das ein Licht auf die moderne Welt wirft.“ (Grond: Genese eines Romans, S. 158.) 79 Ebenda, S. 161. <?page no="45"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 41 gen „Volksgemeinschaft“ in den Diskurs eingeführt. 80 Mitwisserschaft könnte als Mittäterschaft ausgelegt werden, der Verweis der Tante auf ihre Nichtinformiertheit aufgrund der räumlichen Distanz zum Geschehen scheint auf eine solche mögliche Verknüpfung abzuzielen. Das erzählte Nichtwissen enthebt die Tante aber nicht nur einer damaligen Verantwortung, sondern kann auch als Vorwand für die Nichtauseinandersetzung mit der eigenen Verstricktheit in das NS-Regime in der Gegenwart herangezogen werden. Die reale Juliane Rannegger wird von Gerhard Roth übrigens in diesem Zusammenhang auf - in Anbetracht der emotionalen Nahbeziehung nachvollziehbare - identifikatorische Weise durch eine vorgängige, für sie handlungs- und denkleitende Zugehörigkeit zu einer anderen Wertegemeinschaft aus der Verantwortung genommen: „Die Bäuerin Juliane war keine Nationalsozialistin gewesen. Sie hatte geschwiegen, ,um zu überleben‘. Ihr Glaube, sagt sie, habe ihr die Augen geöffnet.“ (ITÖ 28) Es soll hier allerdings aus methodischen Gründen vermieden werden, den Implikationen aus diesem Verweis auf eine „innere Emigration“ nachzugehen, da die literarische Figur der Tante aus Landläufiger Tod keinen ähnlich gearteten Hinweis auf ihre ideologischkonfessionelle Ausrichtung gibt. Im Kontext gedächtnistheoretischer Zugänge ist schließlich die Absicht der Tante bemerkenswert, nämlich „meine Gedanken zu ordnen.“ (LT 78) Übersetzt man „Gedanken“ mit Lebensgeschichte, so deckt sich die Intention der Tante mit dem, was Siegfried J. Schmidt aus konstruktivistischer Perspektive in Bezug auf Ordnung und Erinnerung schreibt: „Die Ordnung des erzählten Geschehens ist eine Funktion des Erzählens, nicht der Ordnung des erzählten Geschehens. Im und durch Erzählen konstruieren wir die [...] Identität des Erzählers.“ 81 Maurice Halbwachs hat den Erinnerungsvorgang ähnlich beschrieben: Die Erinnerungen, an die man seit langer Zeit überhaupt nicht mehr gedacht hat, reproduzieren sich unverändert. Sobald aber die Überlegung ins Spiel tritt, sobald man - anstatt die Vergangenheit wieder erscheinen zu lassen - sie durch eine Denkbemühung rekonstruiert, geschieht es, daß man sie deformiert, weil man mehr Kohärenz in sie hineinbringen will. 82 80 Vgl. Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C. H. Beck 2006. S. 84. 81 Siegfried J. Schmidt: Gedächtnis - Erzählen - Identität. In: Assmann/ Harth: Mnemosyne, S. 378-397, hier S. 389. 82 Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 382. <?page no="46"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 42 Im dritten Buch von Landläufiger Tod, „Mikrokosmos“, wird dann die hier hervorgehobene Ordnungsfunktion und Kohärenzproduktion des Erzählens verabschiedet, ist eine umgekehrte Bewegung feststellbar: das Zerbrechen des Erzählflusses und somit der (chronologischen) Ordnung der Gedächtnisnarrative zugunsten einer Synchronizität im textuellen Raum. Die chronologisch geordnete Form des Erzählens ist nun nicht als Versuch einer vermeintlich getreuen Mimesis von Erinnerungserzählungen zu verstehen, sondern im Kontext der Rampen-Funktion von „Auf dem Schneeberg“ zu deuten, weshalb Schütte auch feststellt: „Zwar merkt man diesem Lebensbericht gelegentlich an, daß er sich eher an einen außenstehenden Leser als an Lindner wendet, doch beeinträchtigt das nicht dessen eindringliche Wirkung.“ 83 Die Erinnerungen der Tante folgen, wie schon angedeutet, einem soziokulturell codierten Erzählformat. Laut Birgit Neumann „ist weniger die Faktizität des Erinnerten als vielmehr dessen Anschließbarkeit an bestehende Gedächtnisstrukturen und aktuelle Relevanzkriterien“ entscheidend. 84 Die Tante, die in Tombach in der Südsteiermark geboren wurde (vgl. LT 79), „als der Erste Weltkrieg zu Ende ging“ (LT 79), versucht also mit ihren Erinnerungen an kollektive dörfliche und nationale Denkweisen anzuschließen und spricht von nichts, das ihre Zugehörigkeit zur beziehungsweise ihre Identifikation mit ihrer/ n Gruppe/ n grundlegend in Frage stellen würde. Das gilt für Landläufiger Tod ebenso wie für Der Stille Ozean. Als Ascher der Witwe Egger von der mutwilligen Tötung eines Hundes durch einen Jäger erzählt, hatte „die Witwe [...] jedoch aus Vorsicht geschwiegen. Sie hatte statt dessen über ihre Kindheit geredet, in der sie sich mit ihrer älteren Schwester ein Paar Schuhe hatte teilen müssen.“ (DSO 137) 85 Als Kontrastfolie zu den Erzählungen der Tante kann die Darstellung von Dorfgeschichte und -leben des schon seit dreißig Jahren in der Region tätigen, aber doch mit einer sich aus der Herkunft als Arztsohn und der beruflichen Position ableitbaren Distanziertheit zur Bevölkerung ausgestatteten Landarztes in Der Stille Ozean herangezogen werden. Der Landarzt ist mit den Narrativen und Funktionsweisen des Dorfgedächtnisses vertraut - „Fragen Sie die Älteren, alle wissen davon.“ (DSO 174), sagt er zu 83 Schütte: Auf der Spur der Vergessenen, S. 121. 84 Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität, S. 158. 85 In „Auf dem Schneeberg“ folgt übrigens auf diese Schuhepisode die Erzählung der Nazi-Zeit (vgl. LT 90-91). <?page no="47"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 43 Ascher -, thematisiert jedoch deutlicher als die Tante in einer Mischung aus Innen- und Außenperspektive dunkle Punkte in Vergangenheit und Gegenwart. So erzählt er von der Armut in den dreißiger Jahren: „Schauen Sie sich um: Manche haben damals Hunde und Katzen gegessen, vor allem Familien mit vielen Kindern.“ Das Schweinefleisch sei kostbar gewesen, so habe man das genommen, was umsonst war. „Die meisten wollen nicht mehr darüber reden, aber es gibt welche, die Ihnen das zugeben werden.“ (DSO 174) Der Arzt konstatiert eine Annäherung der ländlichen an die (vor)städtische Lebensweise, es bestehe „ein starker Drang nach dem ,modernen Leben‘. Sie möchten am liebsten alles zerstören und neu aufbauen.“ (DSO 175) Die Kombination aus Armut und dem Wunsch nach einem an städtischen Vorbildern orientierten höheren Lebensstandard führe dazu, dass die Landbewohner „von Kindheit auf Materialisten“ (DSO 176) seien. Wesentlich für das Zusammenleben sei, „daß sie einander kennen“ (DSO 176). Besonders problematisch „sei die spürbare Aggression der Menschen“, so empfänden viele „ein Lustgefühl“ (DSO 177) beim Töten: „Sie könnten sich stundenlang Geschichten über das Töten erzählen: Manche ,Heimkehrer‘ und Jäger seien diesbezüglich gleich. Die Jungen erbten den Fanatismus von den Vätern“ (DSO 177-178). Diese Beschreibung der Dorfbewohner unterscheidet sich erheblich von jener der Tante, auch wenn diese zum Teil die Besonderheit der Erzählsituation nützt, um den normativen Rahmen dörflicher Selbstnarrationen zu überschreiten. Denn impulsgebend für den Bruch des Schweigens der Tante über die Vergangenheit ist das Schweigen Lindners, des Adressaten der Erinnerung: „Du weißt, ich bin, was die Vergangenheit betrifft, nicht sehr gesprächig. Aber, da Du gezwungen bist zu schweigen, ist mir wohl bei der Vorstellung, einen verständigen Menschen zu finden, der mir zuhört.“ (LT 78) Diese Bemerkung ist aber nicht nur als Absicherung vor dem Weitererzählen, sondern auch als Sicherheit vor möglicherweise unangenehmen Fragen zu verstehen. Die zweite Zuhörerin, die Stiefschwester, bildet mit der Tante eine eng verbundene Erinnerungsgemeinschaft, ist als eigenständige Figur kaum wahrnehmbar und hat vor allem die Funktion, durch ihre affirmativen Reaktionen auf Aussagen der Tante die Authentizität des Erinnerten zu bestätigen. Die Betonung der Singularität der Erinnerungserzählung durch die Tante ist übrigens untypisch für das Familiengedächtnis, da Erinnerungen in Familien <?page no="48"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 44 regelmäßige Akte sind. 86 An anderen Stellen in Landläufiger Tod wird darauf hingewiesen, dass es sich bei den Erzählungen um zum Teil variierte Wiederholungen handelt, zum Beispiel als Lindners Vater seine Begegnung mit den Ustaša-Soldaten schildert: „Was nun kommt, erzählt mein Vater stets verschieden.“ (LT 483) Prägend für die von der Tante erzählte Zwischenkriegszeit ist die auch vom Landarzt als zentral für das dörfliche Leben aufgefasste Armut, die, wie bei Juliane Rannegger (vgl. ITÖ 15): zum frühen Tod von fünf Geschwistern der Tante führte (vgl. LT 79), medizinische Versorgung nahezu unerschwinglich machte (vgl. LT 84-85), weiterführende Bildung nicht gestattete (vgl. LT 83), Schulden beim Staat mit sich brachte und als Erklärung für den verbreiteten Alkoholismus herangezogen wird (vgl. LT 88-89). Die Schilderung der Lebensverhältnisse der Kindheit wird mit Beobachtungen der Erzählerfigur Lindner zur Gegenwart der Erinnerungserzählung verknüpft, die auf eine Kontinuität der Armut schließen lassen. So wird beispielsweise erwähnt, dass sich die Zehen der Tante „Löcher in die schwarzen Wollstrümpfe gebohrt haben, aus denen die Nägel ragen“ (LT 78) - im Stillen Ozean heißt es: „Der Strumpf hatte in der Ferse ein großes Loch.“ (DSO 96) - oder dass die Tante, nachdem sie vom Geldmangel ihrer Familie in den 1920ern und 30ern erzählt hat, verstummt, weil sie, wie Lindner vermutet, an ihren seit kurzem arbeitslosen Sohn denken muss (vgl. LT 83). Auch in Der Stille Ozean schließt die Witwe Egger einen Bericht über ihre materielle Lage mit der Feststellung, sie „habe [...] viele Schulden“ (DSO 125). Bei der Konstruktion von Identität spielt Kontinuität nun eine entscheidende Rolle, was Eveline Kilian so beschreibt: Kontinuität richtet den Blick auf die lebensgeschichtlich-temporale Dimension der Identität, auf die Einheit und Gestalthaftigkeit des Selbst über die Zeit hinweg. Hier spielen Erinnerung und die rückblickende Konstruktion identitätsrelevanter Zusammenhänge eine zentrale Rolle [...]. 87 Kontinuität der Armut kann aber nur deshalb zur Konstruktion von Identität beitragen, weil es sich, in der Darstellung, um kollektive Armut handelt. Die Tante erzählt nicht nur von ihrem Leben und ihrer Familie, sondern sie erzählt eine ganze Region, die sie als einheitlichen soziokulturellen Raum dar- 86 Vgl. Welzer, Moller und Tschugnall: „Opa war kein Nazi“, S. 21. 87 Eveline Kilian: Zeitdarstellung. In: Vera Nünning und Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies. U. Mitarb. von Nadyne Stritzke. Stuttgart, Weimar: Metzler 2004 (Sammlung Metzler 344). S. 72-97, hier S. 78. <?page no="49"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 45 stellt. „In der Beschreibung der Gesellschaft wird Mangel allenthalben feststellbar. Aus dem Mangel werden wir zur Handlung getrieben; der Mangel ist das, wodurch die Figuren identifizierbar werden.“, 88 schreibt Wendelin Schmidt-Dengler über die Darstellung des Landlebens in Der Stille Ozean. Aufgrund der Fixierung auf die Armut findet sich in den Erinnerungen der Tante nichts über ökonomische Unterschiede innerhalb der Landbevölkerung, während der alte Landarzt Ascher darauf aufmerksam macht, dass er sich einmal den materiellen „Unterschied zwischen der Tombacher und der Obergreither Seite anschauen solle.“ (DSO 174) Während nämlich in Tombach die Bergarbeiter ganz gut - nämlich wie in der Vorstadt - lebten, seien die Obergreither Kleinbauern mit ihren landwirtschaftlichen Betrieben kaum in der Lage, die Grundbedürfnisse abzudecken. 89 Aus der von der Tante vorgenommenen Konstruktion von Homogenität ergibt sich ein spezifisches Verhältnis zu sozialer, ethnischer und sprachlicher Alterität. Das geschlossene Sozialsystem Dorf 90 wird lesbar in der häufigen Verwendung der Personalpronomen „wir“ und „unser“ von der Erzählerfigur Lindner als auch von der Tante, 91 der Landarzt hingegen spricht von den Landbewohnern als „sie“. Die Wir-Identität impliziert eine Differenz zu anderen Identitäten, die nicht in das „Wir“ miteingeschlossen sind und als dynamische Elemente das statische Dorfkollektiv potentiell gefährden. So sagt die Tante über die meist aus der Stadt kommenden und sich durch Bildung und sozialen Status vom Rest der Bevölkerung unterscheidenden Lehrer: 88 Wendelin Schmidt-Dengler: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. Salzburg, Wien: Residenz 1995. S. 413. 89 Eine Zusammenschau der Lebensrealität, unter anderem der (teilweise statistisch erhobenen) Einkommens- und Arbeitsumstände, der südsteirischen Landbevölkerung um 1980 und ihrer literarischen Repräsentation in Der Stille Ozean bietet die Diplomarbeit von Li Hai-Yan: Sozialkritik und soziales Leben in Gerhard Roths Roman „Der Stille Ozean“. Graz 1985. 90 Es wird in dieser Studie zum Zwecke der Komplexitätsreduktion bisweilen vom „Dorf“ gesprochen, wenn teilweise aber auch die das Dorf umschließende Region mitgemeint ist. Tatsächlich ist es beispielsweise in Der Stille Ozean so, dass „[z]wischen den verschiedenen Dörfern dieser ländlich-agrarischen Region [...] eine rege Interaktion“ besteht, weshalb „der Roman die enge Fixierung auf einen einzigen Raum (Hof, Dorf), von der die meisten Exponenten der (älteren sowie neueren) Gattung“ Heimatroman bestimmt sind, durchbricht. [Andrea Kunne: Heimat im Roman: Last oder Lust? Transformationen eines Genres in der österreichischen Nachkriegsliteratur. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1991 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 95). S. 234.] 91 Vgl. Schütte: Auf der Spur der Vergessenen, S. 118. <?page no="50"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 46 „Für uns waren die Lehrer Eindringlinge. Im Grunde hat man ihnen mißtraut. Was würde aus der gesamten Ordnung werden, wenn die Knechte gescheiter wären als die Bauern? Wozu mußten die Söhne zur Schule gehen, warteten nicht Land, Holz, Haus und Tier, daß die Nachkommen alt genug wurden, um die Arbeit weiterzuführen? “ (LT 82) Ähnliche Äußerungen finden sich zu den arbeitslosen Stadtbewohnern, die in der Zwischenkriegszeit auf das Land kamen: „Wie Heuschreckenschwärme brachen die Handwerksburschen herein und verlangten Most und Brot“ (LT 87-88), und: „Die Menschenplage währte mehrere Jahre und ohne Unterbrechung, so daß sie gar nicht mehr wegzudenken war.“ (LT 88) Eine besondere Form der Setzung von Differenz zeigt sich in einem „Othering“, ein Terminus, den Johannes Fabian folgendermaßen definiert: „Othering bezeichnet die Einsicht, daß die Anderen nicht einfach gegeben sind, auch niemals einfach gefunden oder angetroffen werden - sie werden gemacht.“ 92 Das hier gemeinte Othering bezieht sich auf die jugoslawischen Nachbarn und manifestiert sich sprachlich in der Verwendung der Wörter „drüben“ für Jugoslawien und „herüben“ für Österreich (vgl. LT 86). Diese Bezeichnungen werden übrigens nach wie vor in der Region verwendet, wie Elisabeth Schober ausführt. 93 Als wie fern das nahe Jugoslawien gedacht wurde, zeigt sich darin, dass das Wort „drüben“ im Stillen Ozean von Zeiners Schwiegervater, der auf dem alten Mautner aus Im tiefen Österreich basiert, auch für das Jenseits verwendet wird, als er davon erzählt, dass ihm seine verstorbene Frau im Traum erschienen ist: „Daraufhin habe er sie gefragt, wie es ,drüben‘ sei. Sie habe geantwortet, sie lebe in einem unterirdischen Schloß und verrichte eine schöne Arbeit.“ (DSO 163) Eine analoge verbale Verräumlichung von Differenz beschreibt Gerhard Roth übrigens in dem 1981 erschienenen Foto-Text-Band Grenzland, dem ,Vorgänger‘ von Im tiefen Österreich, in dem es über Obergreith heißt: „Die in der Ebene Wohnenden sind für die Obergreither ,die unten‘, während sie sich selbst nicht ohne Stolz als ,wir heroben‘ bezeichnen. Tatsächlich liegt zwischen den Erhebungen der kleinen Berge und der Ebene so etwas wie eine imaginäre Grenze.“ (GL 7) Dieses Zitat muss allerdings aus seinem Kontext 92 Johannes Fabian: Präsenz und Repräsentation. Die Anderen und das anthropologische Schreiben. In: Berg/ Fuchs: Kultur, soziale Praxis, Text, S. 335-364, hier S. 337. 93 Vgl. Elisabeth Schober: Hinüberschauen und Wegsehen. Grenzdiskurse und Erinnerungen anlässlich der EU-Erweiterung 2004 an der südoststeirisch/ nordslowenischen Grenze. Graz, Bad Radkersburg: Artikel-VII-Kulturverein für Steiermark, Pavelhaus 2006 (Wissenschaftliche Schriftenreihe des Pavelhauses 10). <?page no="51"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 47 des ersten Kapitels von Grenzland, „Obergreith“, gelesen werden. In diesem Abschnitt porträtiert Roth nämlich das Dorf als äußerst abgeschiedenen, aus der Ebene unsichtbaren, verkehrstechnisch nicht erschlossenen und selbst von Bewohnern der Region kaum aufgesuchten Ort, um mithilfe dieser Praxis des Fremdmachens die Besonderheit des in dem Foto-Text-Band dargestellten Landlebens zu betonen. Aus diesem Fremdmachen/ -fühlen (von der ,Zivilisation‘) versucht Roth dann in Landläufiger Tod ein poetologisches Programm zu entwickeln, bei dem es ihm laut Sebald darum geht, „soweit wie nur irgend möglich hinter die Schule nicht nur der Psychologie, sondern des zivilisierten Denkens überhaupt zurückzulaufen.“ 94 Zur Problematik der Grenze schreibt Georg Simmel in seiner Soziologie des Raumes: Während diese Linie [die Grenze; G. L.] nur die Verschiedenheit der beiden Verhältnisse: zwischen den Elementen einer Sphäre untereinander und zwischen diesen und den Elementen einer anderen - markiert, wird sie zu einer lebendigen Energie, die jene aneinanderdrängt und sie nicht aus ihrer Einheit herausläßt und sich wie eine physische Gewalt, die nach beiden Seiten hin Repulsionen ausstrahlt, zwischen beide schiebt. 95 Roths Akzentuierung der Bindungskraft des Dorfkollektivs ergibt sich aus einer mit Simmel übereinstimmenden Perspektivierung der Grenze. Jedoch sollte der in Grenzland verwendete Begriff der „imaginären Grenze“ auch auf die jugoslawisch-österreichische Grenze appliziert werden. Als Gerhard Roth den Hauptteil seiner Recherchen auf dem Land durchführte, hatte diese Grenze nicht nur eine territoriale (zwischen zwei Staaten) und ideologische (zwischen zwei politischen Systemen) Funktion, sondern auch eine imaginäre (Vorstellungen, Ängste, Hoffnungen, Phantasien) Ebene, die vereinfacht als Bedrohungsangst vor einem als feindlich empfundenen kommunistischen System beschrieben werden kann. Aus dieser Angst entwickelte sich auf dem Land ein starker Antikommunismus, der seine Wurzeln im Austrofaschismus hat: „Vor und nach dem Zweiten Weltkrieg gab es im Dorf kaum Kommunisten.“ (ITÖ 23) Der Mörder Lüscher aus Der Stille Ozean flüchtet nach seinem Verbrechen über die Grenze und gibt als Grund dafür an: „Ich bin nach Jugoslawien, weil der Kommunismus ist mir lieber als das Gefängnis“. (DSO 94 Sebald: In einer wildfremden Gegend, S. 166. 95 Georg Simmel: Soziologie des Raumes. In: ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901- 1908. Bd. 1. Hg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1995 (Georg Simmel. Gesamtausgabe 7). S. 132-183, hier S. 141. <?page no="52"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 48 242) Roth hat dieses von Angst geprägte Imaginaire in seiner Einleitung zum zweiten Teil des Filmes Menschen in Österreich (1979) zur Erklärung für die Sozialstruktur der Region herangezogen. Nachdem der Autor, der selbst den Off-Kommentar spricht, auf die kleinen Landwirtschaften, den Mangel an Industrie und Gewerbe sowie auf die vielen Pendler verwiesen hat, stellt er fest: „Die Verkehrsverbindungen sind vergleichweise schlecht, unter anderem wegen der nahen jugoslawischen Grenze, an der alles endet. [Herv. G. L.] Das sind Gründe, weshalb es ein Bedürfnis nach Zusammensein, gemeinsamer Unterhaltung und ein starkes Vereinsleben im Dorf gibt.“ 96 Andrea Kunne hat übrigens in Bezug auf Der Stille Ozean ebenfalls die gegenüber anderen Räumen erfolgende Abgrenzung der Gegend um Obergreith erkannt. In diesem Roman würde einerseits die Entfernung zur Stadt (Graz) betont, zum anderen gilt die nahegelegene jugoslawische Grenze als deutliche Markierung zwischen den beiden aus der traditionellen Gattung [des Heimatromans; G. L.] bekannten Bereichen „Heimat“ und „Fremde“. Zwar sind nach beiden Seiten (d. h. nach Graz und Jugoslawien hin) Grenzüberschreitungen möglich, jedoch sind gerade in bezug auf die Überschreitung der Grenze zwischen dem „Großraum Heimat“ (= Österreich) und dem fremden Ausland klischeehafte Werturteile der traditionellen Gattung in den Roman eingegangen. 97 Aus der Armut erklärbare Aussagen wie jene eines beschäftigungslosen jungen Mannes in Der Stille Ozean sind demzufolge in den ,steirischen‘ Zyklusteilen äußerst selten: „,Von mir aus kann der Kommunist kommen‘, sagte er, ,schlechter kann es mir nicht gehen. Was ist für mich anders geworden? Ich arbeite wie früher. Habe ich einen Besitz? - Nein.‘“ (DSO 121) In „Auf dem Schneeberg“ ist die Grenze zum Königreich Jugoslawien Schauplatz eines subversiven Geschehens, das seine Wurzeln in der (Welt-) Wirtschaftskrise hat. Anfang der 1930er Jahre war diese Grenze noch nicht vollständig gefestigt, sondern noch in einem, nach Simmel, „status nascens“ 98 befangen, das ursprünglich vorhandene kulturelle und ökonomische Netz war noch nicht so vollständig gerissen, wie Karl Schlögel das für das Jalta-Europa nach 1945 annimmt 99 und es Roths Repräsentationen der südsteirischen Gegenwart in den 1970er und 80er Jahren eingeschrieben ist. Der Staat war noch nicht in der Lage, sein Territorium lückenlos zu überwachen. Diese Umstände 96 Menschen in Österreich 2. ORF 1979. 0: 00-0: 40. 97 Kunne: Heimat im Roman, S. 235. 98 Simmel: Soziologie des Raumes, S. 143. 99 Vgl. Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Frankfurt/ Main: Fischer 2007 (FTB 16718). S. 28. <?page no="53"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 49 spiegeln sich in einer von der Tante beschriebenen Grenzüberschreitung: „Da es uns von Jahr zu Jahr schlechter ging, entschlossen sich viele zum Viehschmuggel. Wir kauften ,drüben‘ [hier findet sich eine Fußnote mit der Erklärung: „In Jugoslawien“; G. L.] das Vieh und brachten es in der Nacht ,herüber‘.“ (LT 86) Die, trotz der von der Tante betonten Armut in Österreich, niedrigeren Preise in Jugoslawien ermöglichten den Schmugglern einen gewinnbringenden Verkauf in Österreich. 100 Geschmuggelt worden seien Rinder und Pferde. Für letztere wurde ein besonderer, die Überschreitung der Grenze gleichzeitig über die Spur belegender, andererseits aber durch das Vorwärtsgehen im Rückwärtsgehen die Trennlinie destabilisierender Trick angewandt: Wir „haben […] die Hufe verkehrt beschlagen, damit die uns verfolgenden Finanzer in die Irre geführt wurden und nicht wußten, ob sie die Spuren eines Pferdes vor sich hatten, das von herüben nach drüben oder von drüben nach herüben kam.“ (LT 87) Diese Überschreitung der Grenze ist, nach der von Michel de Certeau in Kunst des Handelns ausgeführten Theorie, ein Beispiel für Taktiken der Dorfbevölkerung, die Strategien des Staates, die staatlichen „Netze der Überwachung“ 101 zu umgehen. Die Tante erwähnt in ihrer Erinnerungserzählung keine konkreten Jahreszahlen, weshalb auch nicht eindeutig festgestellt werden kann, ob der beschriebene Viehschmuggel noch in der Zeit der demokratischen Republik (1918-1934) oder während des austrofaschistischen Regimes (1934-38) vonstatten ging, die Methoden der „Finanzer“ gegenüber gefassten Schmugglern lassen sich aber als Anspielung auf Zweiteres lesen. So berichtet die Tante, nicht ohne überdeutliche Metaphorik, dass „die Finanzer [einen] Gefaßten so übel zugerichtet hatten, daß sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verschwollen und die Hände zu Fleischklumpen geworden waren (die bewegungslos auf seinen Oberschenkeln lagen, wie erschlagene Tiere).“ (LT 87) Aber das Zugehörigkeitsgefühl zum Dorf ist in dieser Zeit noch stärker als die Furcht vor den Macht-Strategien des Staates, folgt man der personalisierten Kollektiv- 100 Beachte zur jugoslawisch-steirischen Grenze in der Zwischenkriegszeit: „Die Grenze, die einen Schnitt ins wirtschaftliche und soziale Leben bedeutete […], bot nur einen Vorteil im ökonomischen Bereich: die Preisunterschiede. Beim Erzählen der Geschichten über diese Zeit beschreiben Informanten lebhaft jene Tätigkeiten, die die Grenze des Erlaubten überschritten - das Schmuggeln.“ In: Johannes Moser und Elisabeth Katschnig-Fasch (Hg.): Blatten. Ein Dorf an der Grenze. Graz 1992 („Kuckuck“ - Notizen zu Alltagskultur und Volkskunde. Sonderband 2/ 1992). S. 72. 101 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. A. d. Frz. von Ronald Voullié. Berlin: Merve 1988 (Internationaler Merve Diskurs 140). S. 186. <?page no="54"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 50 sicht der Tante, die erzählt, sie habe der Bitte des Gefolterten entsprochen und in der Nacht geschmuggelte Pferde entgegengenommen, da es ihr „nicht gleichgültig war, einen Freund den Finanzern ausgeliefert zu sehen“. (LT 87) Während weder die Grenzziehung von 1919, noch die Februarunruhen und die Umwandlung Österreichs in einen faschistischen Staat 1934 in der Selbstnarration der Tante angesprochen werden, findet in Bezug auf den Nationalsozialismus ein Übergang vom privaten in den öffentlichen Diskurs statt. In ihrem Aufsatz Geschichtsphilosophische Ansätze in Gerhard Roths „Landläufiger Tod“ bezeichnet Monika Kraus in Anlehnung an Michel Foucault Staat, Dorf und Natur als die drei den Roman bestimmenden Machtdispositive und bezeichnet Dorf und Staat als „Mikro- und Makromacht“. 102 Folgt man dieser These, so liest sich der Einleitungskommentar der Tante zu ihrer Erzählung der Zeit des Nationalsozialismus als Beschreibung des Verhältnisses dieser beiden Machtdispositive: „Von Politik aber verstanden wir nichts. Wir verstanden weder etwas von der Monarchie noch von der Republik oder vom Nationalsozialismus. Insgeheim verachteten wir die Mächtigen, obwohl wir uns nach außenhin stets der Obrigkeit fügten und uns bemühten, ihr Wohlwollen zu gewinnen. Wir vertraten immer die Ansichten, die in der Luft lagen.“ (LT 91) Die Tante erzeugt hier eine Kontinuität im Umgang der Dorfbevölkerung mit staatlicher Macht, um die für ihre individuelle Identitätsbildung essentielle kollektive Dorfidentität nicht zu destabilisieren. Tatsächlich aber ist an den Erinnerungen der Tante ablesbar, dass die Überschreibung der Mikro- Herrschaftsstrukturen des Dorfes durch die Makro-Herrschaftsstrukturen des NS-Staates die Frage von Loyalität, Zugehörigkeit, Identität in einer ganz anderen Qualität stellte, als dies während der Zwischenkriegszeit der Fall war. Denn in diesen Jahren war das dominante Machtdispositiv für die Lebenspraxis der Tante, das Dorf, keinen wesentlichen Transformationsprozessen unterzogen. In seinen historischen Erläuterungen in Im tiefen Österreich deutet Gerhard Roth den Austrofaschismus deshalb als mehrheitsfähige, keine tiefgreifenden Adaptionen erfordernde Ideologie: „Im Prinzip entsprach der christlich-soziale Ständestaat der Mentalität eines großen Teiles der Bevölke- 102 Monika Kraus: Geschichtsphilosophische Ansätze in „Landläufiger Tod“ von Gerhard Roth. In: Walter Buchebner Literaturprojekt: Literatur in Graz seit 1960 - das Forum Stadtpark. Wien, Köln: Böhlau 1989 (Walter-Buchebner-Literaturprojekt 2). S. 83-93, hier S. 85. <?page no="55"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 51 rung, speziell außerhalb Wiens. Das ganze Land wurde ,provinzialisiert‘.“ (ITÖ 23) In der österreichischen Geschichtswissenschaft wie auch in der politischen Öffentlichkeit erfolgte bis Mitte der 1970er Jahre die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus aus einer auf Bürgerkrieg und Austrofaschismus ausgerichteten Perspektive. Meinrad Ziegler fasst in dem gemeinsam mit Waltraud Kannonier-Finster publizierten Standardwerk Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Zeit diesen Blickwinkel so zusammen: Die Konsequenzen aus der Geschichte werden nicht unmittelbar mit Blick auf den Nationalsozialismus gezogen, sondern aus jener gesellschaftlichen Entwicklung, von der man annahm, daß sie ihn ermöglicht habe: einerseits das Auseinanderbrechen der politischen Lager im Jahr 1933, die Entdemokratisierung der Ersten Republik und schließlich die gewaltsame Durchsetzung des autoritären Ständestaats im Jahre 1934; andererseits die geringe Verankerung eines eindeutig österreichischen Staatsbewußtseins. Auf diesen beiden Achsen ruhten die grundlegenden Orientierungen, die die Geschichte korrigieren sollten. 103 Das latente Konfliktpotential, das sich aus den Ereignissen des Jahres 1934 ergab, wurde zu entschärfen gesucht, der Nationalsozialismus hingegen aus der österreichischen Geschichte externalisiert und als Fremdherrschaft betrachtet. Von der Tante wird eine Gleichgültigkeit gegenüber den verschiedenen Systemen behauptet, die ähnlich wie der oben zitierte Satz vom Nichtwissen, was tatsächlich vor sich ging, gedeutet werden kann. Ob die Formulierung nun lautet „Von Politik aber verstanden wir nichts“ oder, wie der Gastwirt im Stillen Ozean sagt: „Im übrigen interessiere er sich nicht für Politik“ (DSO 226), beide Male geht es um eine Abwehr von historischer und aktueller politischer Verantwortung. Im Falle der Tante aber nicht nur persönlicher, sondern im Prinzip kollektiver, es wird ganz im Sinne der oben beschriebenen Wir-Identität keine Differenzierung zwischen einzelnen Akteuren vorgenommen. Wer nichts von Politik versteht, kann auch für nichts zur Rechenschaft gezogen werden. Der Satz der Tante geht über die von Ziegler und Kannonier-Finster genannten „sozial akzeptierten Gründe für die Verstrickt- 103 Meinrad Ziegler: Gedächtnis und Geschichte. In: ders. und Waltraud Kannonier- Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS- Vergangenheit. U. Mitarb. v. Marlene Weiterschan. M. e. Beitr. v. Mario Erdheim. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1993 (Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 25). S. 27-85, hier S. 32. <?page no="56"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 52 heit in das NS-Regime [...] [hinaus]: Irrtum, Verführtheit, wirtschaftliche Notlage, möglichst bei gleichzeitiger innerlicher Ablehnung.“ 104 Wer von Politik nichts versteht, kann sich auch nicht wissentlich am totalitären System beteiligt haben, er/ sie ist von vornherein in der passiven Position des Opfers, wobei aber von der Tante gleichzeitig - „Insgeheim verachteten wir die Mächtigen, obwohl wir uns nach außenhin stets der Obrigkeit fügten“ - auch eine innere Ablehnung bei äußerem Opportunismus angesprochen wird. Die Betonung der Opferrolle ist für das österreichische Gedächtnis nun von entscheidender Bedeutung und unterscheidet dieses auch von den Nachkriegsgedächtnissen der BRD und DDR, worauf im folgenden Absatz kurz eingegangen wird. Die Bonner Republik wurde bewusst in Abgrenzung zum Hitler-Regime konstruiert, es fand eine auch institutionell verankerte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus statt, in deren Zuge versucht wurde, die Erinnerung an diese Zeit von offizieller Seite wach zu halten. Für die DDR im Gegensatz zur BRD war der Bezugspunkt nicht der NS-Staat, von dem man sich auf konstruktive Weise abzugrenzen suchte, sondern die misslungene sozialistische Revolution der Jahre 1918/ 1919. Verbindungslinien zum Nationalsozialismus wurden in der DDR aufgrund des propagierten Wechsels zu einem anderen Gesellschaftstypus zumindest in der offiziellen Darstellung kaum thematisiert. In Österreich fand keine Internalisierung wie in der BRD, sondern, wie schon erwähnt, eine Externalisierung des Nationalsozialismus aus der österreichischen Geschichte statt. Deutschland wurde als verantwortlich und „die Deutschen“ als Tätervolk bezeichnet. Österreich galt hingegen in der öffentlichen Darstellung, die auf das Geschichtsbewusstsein des Einzelnen (auf unterschiedlich starke Weise) im Sinne des Halbwachs’schen sozialen Bezugsrahmens wirkte, als erstes Opfer, wie es schon in der Moskauer Deklaration von 1943 formuliert worden war. Ohne auf die einzelnen Etappen der Ausprägung dieser Opferthese einzugehen, sei hier nur festgestellt, dass sie weithin akzeptiert und institutionell eingesetzt wurde, und zwar als Ent-Schuldung und Entschuldigung Österreichs, das ja als Opfer keine Mit- Verantwortung an den Verbrechen haben konnte. Und wenn es doch eine Mit-Schuld gegeben habe, so sei diese längst durch das im Zweiten Weltkrieg erlittene Leid zumindest ausgeglichen worden. In den Nazi-Prozessen der Zweiten Republik - mit einer relativen Ausnahme der Volksgerichtsprozesse 104 Ebenda, S. 46. <?page no="57"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 53 in der unmittelbaren Nachkriegszeit - wurden ergo fast alle NS-Verbrecher und KZ-Schergen frei gesprochen, während die Entnazifizierung gemeinhein als unnötige Schikane der Besatzungsmächte aufgefasst wurde. 105 Es gilt also: Nicht die schuldhafte Verstricktheit, sondern die Moral des Opfers prägte den Diskurs [...]. Für die tatsächlichen Opfer war hier kein rechter Platz. Ihre Anerkennung hätte die Grundlagen des Selbstverständnisses der Zweiten Republik berührt und in der Öffentlichkeit nur schlechtes Gewissen hervorgerufen. 106 Zu ergänzen wäre hier, dass deshalb auch keine Auseinandersetzung mit den Tätern stattgefunden hat. Gerhard Roth fasst übrigens das kollektive österreichische Geschichtsbewusstsein in Grenzland ähnlich wie Ziegler zusammen: Nicht die Verbrechen, die der Nationalsozialismus verübte, [...] nicht die Morde in den Konzentrationslagern, nicht die Unterdrückung anderer Staaten, nicht die Hinrichtungen von Widerstandskämpfern, nicht der Tod von Millionen fremder Soldaten, sondern die eigenen Opfer veränderten das Bewußtsein. (GL 12) Dieser gedächtnisgeschichtlich spezifisch österreichische Hintergrund sollte für die Analyse der Ausführungen der Tante zur NS-Zeit wie für die Bestimmung des erinnerungskulturellen Entstehungskontextes der Archive des Schweigens mitgedacht werden. Der so genannte „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich am 12./ 13. März 1938 und die folgende Volksabstimmung am 10. April werden von der Tante mit einer bemerkenswerten Begebenheit erzählt. Sie berichtet, dass eine Frau aus Gasselsdorf als einzige gegen den „Anschluss“ gestimmt hat, worauf auf deren Stallwand „,Dieses Schwein wählt nein‘ geschmiert“ wurde. (LT 91; vgl. auch ITÖ 24, GL 11) Die mehrmaligen Versuche, diese Worte zu entfernen, scheitern, denn immer wieder werden sie an andere Stellen des Hofes (Haustür, Geräteschuppen, Tenne) geschrieben - und zwar von „jemand andere[m]“. (LT 91) In diese Aktionen sind also mehrere Personen involviert, deren Identität von der Tante aber auch nicht gegenüber ihrem schweigenden Neffen preisgegeben wird. Schließlich „ließ die Bäuerin den Satz endlich stehen, bis der Krieg zu Ende war. Und bald kümmerten auch wir uns nicht mehr darum.“ (LT 91) In einem Walter Vogl 1990 gegebenen Interview be- 105 Vgl. zu diesem Absatz wiederum die Argumentation in dem Aufsatz von Meinrad Ziegler: Gedächtnis und Geschichte. 106 Ebenda, S. 36. <?page no="58"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 54 zeichnet Gerhard Roth diese Begebenheit als „eine Geschichte in meinem Romanzyklus, die für das Gesamte stehen könnte“. 107 Ferner fügt er einen in Landläufiger Tod, Im tiefen Österreich und Grenzland nicht erzählten weiteren Verlauf hinzu und transzendiert sie in eine Gegenwart, die vom Aufstieg des rechtspopulistischen Politikers Jörg Haider und den Nachwirkungen der großen Zäsur im österreichischen Gedächtnis nach 1945, der Affäre um den Umgang des Bundespräsidenten Kurt Waldheim mit seiner Kriegsvergangenheit, geprägt war: Nach dem Krieg wurde sie [die Bäuerin; G. L.] aufgefordert, die Schrift zu entfernen. Das hat sie nicht gemacht, ich weiß nicht warum. Daraufhin haben Leute aus dem Ort die Aufschrift selbst überpinselt. Nun kommt es mir vor, als ob dauernd immer wieder jemand in Österreich diesen Satz hinaufschreibt, um zu erinnern. Die übrige Bevölkerung wartet bereits mit Pinsel und Farbe, um gleich danach wieder hinzulaufen und das zu übermalen. 108 Gerhard Roth erfasst mit diesem Bild für die Übermalung der Erinnerung an die Vergangenheit die für das österreichische Nachkriegsgedächtnis typische Kultur des Vergessens und Verdrängens, wobei das Motiv des Übermalens als Metapher für den Umgang mit der Vergangenheit in der österreichischen Literatur nach 1945 kein seltenes ist. Es findet sich zum Beispiel auch bei Christoph Ransmayr 109 und Thomas Bernhard. In Ransmayrs Roman Morbus Kitahara malt die Mutter der Figur Lily an Sonntagnachmittagen an einem Bild ihres verstorbenen Mannes, eines Nazi-Täters, das sie mithilfe einer Fotografie anfertigt, die ihren Mann lachend vor der Oper in Wien zeigte. Er trug eine schwarze Uniform mit allen Orden und eine Schirmmütze, die seine Augen im tiefen Schatten beließ. Die Mutter saß und malte und ersetzte die schwarze Uniform Pinstelstrich für Pinselstrich durch einen Lodenanzug mit Hirschhornknöpfen und die Schirmmütze durch einen Filzhut, dem sie ein Sträußchen Heidekraut aufsteckte. 110 107 Gerhard Roth: Meine Geschichten betreffen auch mich selbst. Gespräch mit Walter Vogl. In: Roth: Das doppelköpfige Österreich, S. 193-202, hier S. 196. 108 Ebenda. 109 Die Hinweise auf Ransmayr verdanke ich Andrea Kunne: Heimat und Holocaust. Aspekte österreichischer Identität aus postmoderner Sicht. Christoph Ransmayrs Roman Morbus Kitahara. In: Henk Harbers (Hg.): Postmoderne Literatur in deutscher Sprache: Eine Ästhetik des Widerstands? Amsterdam, Atlanta: Editions Rodopi B. V. 2000 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanstik 49 - 2000). S. 311-333, hier S. 327. 110 Christoph Ransmayr: Morbus Kitahara. Frankfurt/ Main: Fischer 1997. S. 122. <?page no="59"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 55 In Der Weg nach Surabaya wiederum findet sich der Text „Die vergorene Heimat“, in dem von einem Gemälde im Rathaus von Waidhofen an der Ybbs die Rede ist, bei dem, trotz hartnäckiger Versuche das zu verhindern, immer wieder unter der rot-weiß-roten Post-1945-Übermalung die Hakenkreuze durchschimmern. 111 In Thomas Bernhards Die Ursache ist es dann ein „Überhängen“, das die Schatten der Vergangenheit sichtbar macht. In dem ehemals nationalsozialistischen Schülerheim, dann katholischen Internat Johanneum, in dem Bernhard Teile seiner Jugend verbrachte, zeigen sich im Zuge des Systemwechsel kleine Veränderungen mit großer Symbolkraft. „[W]o das Hitlerbild an der Wand war, hing jetzt ein großes Kreuz“ und weiter: „Der ganze Raum war nicht einmal ausgemalt worden, dafür fehlte es offensichtlich an Geld, denn wo jetzt das Kreuz hing, war noch der auf der grauen Wandfläche auffallend weiß gebliebene Fleck zu sehen, auf welchem jahrelang das Hitlerbild hing.“ 112 Bei der von Roth erzählten Übermal-Episode ist auch wichtig, dass die Bäuerin aus Gasselsdorf zwar diskriminiert, tatsächlich aber nicht verfolgt wurde. Das „Nein“ bei der Volksabstimmung hatte offensichtlich keine größeren Konsequenzen wie zum Beispiel Verhaftung oder Deportation. Dass die Tante gerade diese Episode erzählt, von einer (eigenen oder allgemeinen) Begeisterung für Hitler und den Nationalsozialismus aber nichts erwähnt, zeugt von einer Unsicherheit bei der Bewertung des „Anschlusses“. Es ist nicht eindeutig klar, für wen die Tante Stellung bezieht, ob für die „Anschluss“-Gegnerin oder die Befürworter. In der Erzählung der Tante werden die Folgen des „Anschlusses“ jedenfalls als kurzfristig positiv beschrieben, in gewisser Weise als Bestätigung der Erwartungshaltung: „Alle unsere Schulden waren erlassen worden, für unsere Kinder bezahlte man uns einen monatlichen Geldbetrag, und die Menschenplage hörte über Nacht auf, denn man berief die Herumstreunenden zum Militär ein.“ (LT 91) Die in „Auf dem Schneeberg“ eher indirekte Erwartungshaltung wird von der Witwe Egger im Stillen Ozean deutlicher konstatiert, ebenso wie der breite Zulauf zum Nationalsozialismus: „Die Nationalsozialisten hätten jedoch zahlreiche Anhänger 111 Christoph Ransmayr: Die vergorene Heimat. Ein Stück Österreich. In: ders.: Der Weg nach Surabaya. Reportagen und kleine Prosa. Frankfurt/ Main: Fischer 1997. S. 41-62, hier S. 60. Direkt vor dieser Episode wird übrigens „ein ungeheures, rubinrotes Nordlicht“ (ebenda, S. 60) erwähnt, das im Jänner 1938 zu sehen war. 112 Thomas Bernhard: Die Ursache. Eine Andeutung. Salzburg, Wien: Residenz 1998. S. 67. <?page no="60"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 56 gehabt, weil es viele Verschuldete gegeben habe, die durch ein Gesetz über Nacht schuldenfrei geworden seien.“ (DSO 86) Für Birgit Neumann ist die [z]entrale Herausforderung, die sich dem rückblickenden Ich stellt, […] die sinnstiftende Überbrückung der zeitlichen und damit auch kognitivemotionalen Diskrepanz, d. h. die plausibilisierende Anbindung seiner Vergangenheit an die gegenwärtige Situation des Erinnerungsabrufs. 113 Die Schwierigkeit für die Tante bei der Erinnerung der nationalsozialistischen Vergangenheit ist, ihr damaliges Selbst mit dem aktuellen Selbst in einen Sinnzusammenhang zu bringen, vor allem, da eine teilweise Inkompatibilität zwischen ihren individuellen Erinnerungen, den dominanten Diskursen des kollektiven Dorfgedächtnisses, also ihrer sozialen Gruppe, und dem Gedächtnis „des politischen Kollektivs der Nation“ 114 besteht. Das führt zu zweideutigen Formulierungen wie: „Und schließlich glaubten wir Gedanken wiederzuerkennen, die wir uns schon längst gedacht hatten. Plötzlich kamen sie zum Vorschein, ohne daß jemand widersprechen durfte.“ (LT 92) Franz Lindner ist in seinen Kommentaren zu den Ausführungen der Tante ambivalent: ironisch, affirmativ und dekonstruktiv zugleich. So ist auch seine Betonung der „Fremdheit“ von Ideologie und Politik im Kontext der These vom Nichtverstehen politischer Zusammenhänge durch die Dorfbewohner zu verstehen: „Es sind fremde Wörter und Sätze, die wir dann sprechen. Und nur dadurch, daß wir diese fremden Ideen, diese fremden Witze und Gedankengänge immer und immer wieder bei jeder Gelegenheit wiederholen, werden sie die unseren …“ (LT 91) Roth selbst ist übrigens in dieser Sache direkter als seine literarische Figur: „Die Politik war immer etwas Fremdes. Die Regierung immer das Andere, das mit einem nichts zu tun hatte. Das Unsichtbare, das doch vorhanden war, das seine Macht zeigte, so lange bis man unverzüglich gehorchte.“ (GL 11) Bei aller ironischen Polyvalenz insinuiert aber doch auch Lindner eine autoritätsgläubige soziale Tiefenstruktur wie in der Fußnote zur Bemerkung der Tante, sie sei, wie alle, dem Bund Deutscher Mädel 115 beigetreten: „Wir bewundern es, wenn mit unerbitterlicher [sic! ] Hartnäckigkeit die Ordnung aufrechterhalten wird; verbietet man uns den Mund, so haben wir insgeheim Achtung vor dem Unterdrücker.“ (LT 92) 113 Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität, S. 166. 114 Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 23. 115 Die Tante spricht fälscherlicherweise vom „Bund deutscher Mädchen“ (LT 91). <?page no="61"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 57 Die Tante beschreibt das nationalsozialistische Machtdispositiv als typisch totalitäres System: „Wer etwas Abfälliges über den Nationalsozialismus sagte, wurde verhaftet und bis Kriegsende eingesperrt. So wurden wir vorsichtiger, schweigsamer und mißtrauischer.“ (LT 96) Zwar berichtet sie auch von subversiven Taktiken - „In der Nacht schlachteten wir das Vieh für den eigenen Bedarf in unseren Ställen und vergruben das Fleisch“ (LT 96) -, der Zusammenhalt des Dorfkollektivs wurde aber zusehends schwächer. Das thematisiert die Tante nur unter der Prämisse, dass die Zersetzung der Identität ihrer Gruppe nicht von der Vergangenheit in die Gegenwart fortgeschrieben wird, also eine Kontinuität der Instabilität entsteht: „Ein Kriegsgefangener hatte unseren Pfarrer darauf aufmerksam gemacht, daß es in der Gemeinde einen ,Spion‘ gegen ihn gab - ich will Dir nicht sagen, um wen es sich handelt (falls Du es jedoch weißt, behalte es für dich, denn es ist schon lange her) -, und da der Pfarrer ein gescheiter Mann war, hat er sich in die Politik nicht eingemischt.“ (96) Bei dem angesprochenen „Spion“ dürfte es sich um einen gewissen Koloman handeln, dessen Verhalten während des Nationalsozialismus in „Das Ohr des Rhinozeros“ (LT 465-468) von ihm selbst thematisiert wird. Dieser Koloman 116 wurde nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus wegen seiner Spitzeltätigkeit und seines Wissens über das Verhalten der Dorfbewohner während der NS-Zeit von der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen. 117 Von 1938 bis 1945 jedoch habe er gemäß seinem Auftrag, Denunziationen nachzugehen, großes Ansehen genossen, denn: „Es gibt niemand im Dorf, der nicht von irgend jemandem denunziert wurde, sei es, was abfällige Äußerungen betraf, sei es die Hinterziehung von Nahrungsmitteln, sei es geheimer Widerstand.“ (LT 466-467) Koloman erzählt nicht wie die Tante davon, dass der Pfarrer von einem Kriegsgefangenen gewarnt worden sei, und schildert 116 Die Namensgebung könnte eine Anspielung auf eine reale Person gleichen Vornamens sein: Koloman Wallisch, steirischer Arbeiterführer, wurde 1934 wegen seiner Beteiligung an den Februarkämpfen auf seiten des Republikanischen Schutzbundes hingerichtet. Bertolt Brecht widmete dem sozialdemokratischen Nationalratsabgeordneten die Koloman-Wallisch-Kantate, Anna Seghers die Erzählung Der letzte Weg des Koloman Wallisch. In Eine Reise in das Innere von Wien ist übrigens, ein weiterer möglicher Bezugspunkt, die traurige Geschichte des irischen Prinzen Koloman enthalten, der bei seiner Durchreise in Stockerau „für einen Spion gehalten und eingekerkert“ wurde. (RIW 163) Clemens Berger hat übrigens diesen Koloman zu einem zentralen Bezugspunkt seines Erzählbandes Der gehängte Mönch (2003) gemacht. 117 Tietze bezeichnet ihn „als das verborgene Ge/ Wissen des Landes“. (Tietze: Das mikroskopische Gedankenglas, S. 306.) <?page no="62"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 58 auch den „Anschluss“ ganz anders als die Tante: „Am 13. März 1938, dem Tag des Anschlusses an das Deutsche Reich, wurde der Kaplan verhaftet und von den Gendarmen der Staatspolizei ausgeliefert. Mit ihm der bisherige Bürgermeister, der von den Bergarbeitern gehaßt, von den Bauern aber geschätzt worden war.“ (LT 465) Koloman verweist darauf, dass er deshalb für seine „Nachforschungstätigkeit im zweiten Krieg“ herangezogen worden wäre, weil er „erkannte, daß jeder Blick schon, den sie [die Dorfbewohner; G. L.] sich zuwarfen, etwas bedeutete, jede Handbewegung, jede zufällig scheinende Bemerkung.“ (LT 468) Genau jene Kommunikation über ein nonverbales Zeichensystem, über „,Bewegungen, Gesten und Laute‘“ (LT 97), die auch von der Tante, in Anspielung auf Koloman und andere, aber aus entgegengesetzter „Wir und die Anderen“-Perspektive (wobei die Anderen möglicherweise vor dem Nationalsozialismus in das Wir inkludiert waren) beschrieben wird: „Bald schenkten wir dem Verhalten der anderen eine immer größere Aufmerksamkeit, um aus ihm zu lesen, bis wir mit Schrecken feststellten, daß wir von den anderen ebenso beobachtet wurden, wie wir sie beobachteten“ (LT 97). Diese faschistoide Beobachtungsmanie gibt es allerdings nicht nur in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern sie ist eine dörfliche Konstante: „Im Dorf ist man lebendig begraben, ein fortgesetztes Objekt der Neugier. Kein Schritt bleibt den Nachbarn verborgen, kein Huster ungehört, jahrein, jahraus dieselbe Heuchelei, ohne die ein Zusammenleben auf engstem Raum nicht möglich wäre.“, heißt es in Der Untersuchungsrichter. (UR 31) Jedenfalls wurde im Nationalsozialismus die schützende Funktion des Dorfkollektivs von der Makromacht invertiert, wobei diese Erfahrung der Diskontinuität bei der Tante affektiv besetzt, eine emotionale Belastung für sie ist: „Da wir uns alle seit unserer Kindheit kannten“, fährt sie plötzlich heftig [Herv. G. L.] fort, „da wir unsere Gesichtszüge, die Eigenart unserer Bewegungen kannten, da auch schon die vorgebliche Unbeteiligtheit für uns verräterisch ist, unterhielten wir uns, obwohl wir uns voreinander versteckten.“ (LT 98) In der Darstellung der Tante wirkt das Dorf als ideales Sozialgefüge für das nationalsozialistische Überwachungssystem, es gibt keine relative Anonymität wie in der Stadt, „selbst das Zurückziehen war ein Verstellen“ und „natürlich war es auch nicht möglich, sich allem und jedem zu entziehen.“ (LT 98) Die Tante schildert in diesen Ausführungen die Kontrollfunktion des Dorfkollek- <?page no="63"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 59 tivs als im Nationalsozialismus in extremis gesteigert, ohne jedoch, wenn auch doppeldeutig, die Möglichkeit zur Unmutsäußerung mit den bestehenden Verhältnissen zu leugnen: „[L]ieber wollten manche erkannt werden, als alleine sein.“ (LT 98) Diskontinuität in Bezug auf die von der Tante narrativ vollzogene Konstruktion eines beständigen und homogenen dörflichen Sozialraums wird in der Erzählung der NS-Zeit nicht nur über den „Spion“ und eine tendentiell paranoide Grundstimmung lesbar, sondern auch besonders deutlich bei jenen Menschen, die sich dem Nationalsozialismus, wie die Tito-Partisanen, aktiv widersetzten. Deshalb wünscht die Tante, dass über die Partisanen ebenso wie über den Spion in der Erzählgegenwart nicht gesprochen wird: „Manche der Ortsbewohner schlossen sich den Partisanen aus Überzeugung an, manche, da sie Deserteure waren, manche aber auch um des Vorteils willen. (Du wirst festgestellt haben, daß wir nicht darüber sprechen.)“ (LT 99) Auch bereits im kollektiven Gedächtnis gespeicherte Stereotype gegenüber den Menschen von „drüben“, den „Jugoslawen“, also dem Fremden, Differenten, Anderen, spielten für die Position gegenüber den Partisanen eine Rolle: „Die meisten Partisanen kamen noch dazu von ,drüben‘, daher ist es uns zusammen mit dem allgemeinen Mißtrauen doppelt schwergefallen, in ihnen eine Hilfe zu sehen.“ (LT 99) Der selbst nationalsozialistisch vorbelastete Carl Schmitt schreibt in seiner 1963 erschienenen Theorie des Partisanen, „daß in einem vom Feinde militärisch besetzten und von Partisanen durchsetzten Gebiet keineswegs nur der Partisan riskant lebt. In dem allgemeinen Sinne von Unsicherheit und Gefahr steht die ganze Bevölkerung des Gebietes unter einem großen Risiko.“ 118 Dies ist auch die Perspektive der Tante: Die Partisanen „brachten uns, auch wenn sie es nicht wollten, in neue Schwierigkeiten.“ (LT 99) Und Lindner ergänzt in einer Fußnote diese Aussage, indem er sie mit der Gegenwart der Basiserzählung verknüpft und so die Kontinuität des Partisanen-Diskurses bestätigt: „Noch heute ist ,Partisan‘ bei uns ein Schimpfwort, während so mancher ,ehemalige‘ Nationalsozialist mit seiner Gesinnung prahlt.“ (LT 99) Der Partisan arbeitet, laut Schmitt, in „Heimlichkeit und Dunkel […], auf die er ehrlicherweise nicht verzichten kann, ohne den Raum der Irregularität 118 Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin: Duncker & Humblot 1995. S. 33. <?page no="64"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 60 zu verlieren, das heißt: ohne aufzuhören, Partisan zu sein.“ 119 Deshalb war laut Tante „unsere Wirklichkeit in eine Tages- und eine Nachtwirklichkeit gespalten. Bei Tag taten wir so, als fügten wir uns den Nationalsozialisten, nachts fügten wir uns den Partisanen“ (LT 99). Bei der Erzählung von den Partisanen wird ein Subtext mitgeliefert, der einerseits auf in der breiten Bevölkerung gefürchtete Gebietsansprüche Titos in der Südsteiermark verweist, andererseits das ärmliche Aussehen der Partisanen, das mit ihrem „irregulären“ Kampf zu tun hat, mit einem negativ konnotierten, stereotypisierten Bild des „Jugoslawen“ verknüpft: „Nach Kriegsende lagerten die von ,drüben‘ um die Kirche. Ein Teil hatte (es war noch nicht warm), keine Schuhe, die meisten trugen Uniformen, nur manche hatten Gewehre.“ (LT 100) Für die Einschätzung der dörflichen Einstellung gegenüber den Partisanen an dieser Stelle und auch in Bezug auf den gesamten Roman Landläufiger Tod ist es an dieser Stelle wichtig, kurz auf die nationalsozialistische Grenzlandpolitik hinzuweisen. Kärnten und die Steiermark wurden in der NS-Zeit als „Südmark“ administrativ zusammengefasst und sollten als „Bollwerk“ „Mustergaue, Aushängeschilder nationalsozialistischer Leistungen an der Südostecke des Deutschen Reiches sein.“ 120 Die NS-Propaganda war geprägt „vom Grenzland- Bewusstsein, vom Grenzer-Mythos und von der Höherwertigkeit des Deutschen gegenüber den Slawen und Juden“. 121 1941, nach der Besetzung Jugoslawiens, wurde die 1918/ 19 abgetretene Untersteiermark (Spodna Štajerska) an die Steiermark angegliedert. Aussiedlung, Verfolgung und Ermordung der slowenischen Bevölkerung in diesem Gebiet folgten und „bildeten eine erstrangige Motivation für die starke Partisanen- und Widerstandstätigkeit, zunächst in den gemischtsprachigen Gebieten, ab 1944 größerflächig auch in den Industriezentren der Obersteiermark.“ 122 Widerstand der kommunistischen Partisanen, und zum Teil anderer Gruppen wie Sozialdemokraten, Katholiken, Konservative, wurde auf verschiedene Art und Weise ausgeübt, die Bandbreite reichte „von der artikulierten Verunglimpfung und Verspottung von NS-Dogmen [...] bis zum bewaffneten Kampf, zu Aktionen im Eisenbahnbereich [...], zur Sprengung von Strommasten, Verschleppung und 119 Ebenda, S. 42. 120 Stefan Karner: „... des Reiches Südmark“. Kärnten und Steiermark im „Dritten Reich“ 1938-1945. In: Emmerich Tálos (u. a.) (Hg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch. Wien: öbv und hpt 2000. S. 292-324, hier S. 301. 121 Ebenda, S. 308. 122 Ebenda, S. 301. <?page no="65"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 61 Ermordung von NS-Funktionären.“ 123 Auffällig ist übrigens im Zusammenhang mit Stefan Karners Hinweis auf die Bedeutung der Verfolgung der Slowenen für die Partisanentätigkeit, dass im Zyklus und auch in den Nebenwerken die slowenische Minderheit in der Südsteiermark nicht erwähnt wird. Dies kann im Zusammenhang mit der oben erwähnten imaginären Dimension der Grenze zu tun haben: die Furcht vor dem Kommunismus führte zu einer Politik der Nicht-Anerkennung der im Staatsvertrag festgeschriebenen Minderheitenrechte der steirischen Slowenen. So wurden diese zu einer klassischen „hidden minority“ 124 und erst nach 1989, vor allem auch durch den Artikel-VII-Kulturverein für Steiermark und das von diesem geführte Pavelhaus in Bad Radkersburg (Gorna Radgona), wurden sie wieder stärker von der Öffentlichkeit wahrgenommen und akzeptiert. 125 Die „Archive des Schweigens“ dieser Minderheit waren jedenfalls vor 1989 so gut verborgen, dass sie auch von dem akribischen Forscher Gerhard Roth anscheinend nicht aufgefunden wurden, eine Rolle könnte allerdings dabei spielen, dass in der engeren Region um St. Ulrich kaum steirische Slowenen ansässig waren und sind. Die Teilnahme von Dorfbewohnern am bewaffneten Widerstand der Partisanen gegen die nationalsozialistische Herrschaft verweist nun überdeutlich auf die Konstruiertheit des essentialistischen Konzepts der Wir-Identität. Vittoria Borsò schreibt in ihrem Aufsatz „Grenzen, Schwellen und andere Orte“ unter Berufung auf Jacques Derridas Konzept (oder Nicht-Konzept) der „différance“ und Homi K. Bhabhas (mittlerweile umstrittenen) Hybriditätsbegriff: Angesichts der nicht hintergehbaren Heterogenität erscheint die Vorstellung der Homogenität im Inneren als eine Abstraktion, die Praktiken der Gewalt nach sich zieht, im Versuch, das Heterogene auszustoßen. Eine solche Vor- 123 Ebenda, S. 320. 124 Vgl. Klaus-Jürgen Hermanik: Die versteckte slowenischsprachige Minderheit in der Steiermark. In: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Nr. 15 (Juni 2004) (http: / / www.inst.at/ trans/ 15Nr/ 04_01/ hermanik.htm#t14). [Einges. 26. 4. 2007] 125 Vgl. zu diesem für eine breitere (erinnerungs)kulturelle Kontextualisierung der in der Südsteiermark spielenden Zyklusteile nicht gänzlich unerheblichen Thema der steirischen Slowenen zum Beispiel: Christian Stenner (Hg.): Slowenische Steiermark. Verdrängte Minderheit in Österreichs Südosten. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1997 (Zur Kunde Südosteuropas II/ 23); Harald Heppner (Hg.): Slowenen und Deutsche im gemeinsamen Raum. Neue Forschungen zu einem komplexen Thema. München: R. Oldenbourg Verlag 2002 (Buchreihe der Südostdeutschen Historischen Kommission 38). <?page no="66"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 62 stellung ist auch eine gefährliche Fiktion, denn die Unterdrückung der Übergänge zwischen Innen und Außen kann nur Gewaltakte hervorrufen. 126 Auf diesen Zusammenhang spielt der Satz aus dem Kapitel „Das Alter der Zeit“ - „Jeder Erscheinung, die fremd ist, wird Gewalt angetan“ (LT 174) - ebenso an wie eine Stelle in dem „Mikrokosmos“-Text „Kalender“: „Einmal im Jahr verkleiden sich die Männer als die Fremden, die sie hassen.“ (LT 278) Der durch die Partisanen offenbar gewordenen „différance“, der verunmöglichten klaren Trennung in Fremdes und Eigenes, und der daraus abgeleiteten „Hybridität“, das heißt hier Verwundbarkeit, der Dorfgemeinschaft begegnet das (erfundene) Kollektiv laut Tante mit einer - durchgängiges Motiv des gesamten Zyklus - Gedächtnis-Politik des Schweigens: Bei uns spricht niemand von dieser Zeit. Einerseits leben noch ehemalige Nationalsozialisten, andererseits noch ehemalige Partisanen. Und da wir auf engstem Raum leben, tun wir voreinander so, als wüßten wir nichts. Und da weiter jeder von nichts wissen will, glauben wir uns gegenseitig aus eigennützigen Gründen unsere Ahnungslosigkeit. (Wir tauschen seit jeher unsere Ahnungslosigkeit aus.) (LT 100) Tatsächlich aber ist auch die Rede vom Schweigen eine Partizipation an einem dominanten Diskurs, der die von Borsò angesprochene Gewaltanwendung gegenüber dem Anderen ausblenden soll, das thematisiert die Aussage der Tante: „Wir haben später den Partisanen keine Gerechtigkeit widerfahren lassen“ (LT 99), vor allem aber die Erzählung „Gesucht und Gefunden“ (LT 354-361). In diesem Text wird eine Serie von gewaltsamen Toden in der Nachkriegszeit beschrieben, die Personen betrifft, die in die von der Tante in „Auf dem Schneeberg“ und der Witwe in Der Stille Ozean en passant erwähnten (vgl. LT 99; DSO 86), aber auch an anderen Stellen des Zyklus angesprochenen (vgl. GL 37, 127 ITÖ 27) und in „Das Ende eines Parteigängers“ (LT 322-324) literarisch ausformulierten Ermordung des nationalsozialistischen Bürgermeisters durch Partisanen zu Kriegsende involviert waren. Wobei aber das Schweigen, zumindest im Kontext von „Kriegserlebnissen“ und der Selbstdarstellung als Opfer, trotz der Aussage der Tante zum wechselseitigen 126 Vittoria Borsò: Grenzen, Schwellen und andere Orte. „… La geographie doit bien être au coeur de ce dont je m’occupe“. In: Vittoria Borsò und Reinhold Görling (Hg.): Kulturelle Topographien. Stuttgart: Metzler 2004 (M & P-Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung: Kulturwissenschaften). S. 13-41, hier S. 22. 127 „[D]ie Inschrift eines Grabsteines auf dem Friedhof von St. Ulrich erinnert daran, daß der nationalsozialistische Bürgermeister bei Kriegsende ,durch Mörderhand ums Leben kam‘, er war von Partisanen im Wald erhängt worden.“ <?page no="67"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 63 Be-Schweigen, nur als einseitiges verstanden werden sollte, wie Gerhard Roth in Grenzland ausführt: „[W]ährend Mitglieder des Kameradschaftsbundes offen von ihren Erlebnissen berichten, wagt niemand zuzugeben, daß er Partisan gewesen sei. […] Bei Nachforschungen stößt man auf eine Mauer des Schweigens.“ (GL 37-38) Gerade aus dem Schweigen, dem Nichtaufarbeiten ergibt sich aber die hohe emotionale Aufladung des Themas, weshalb die Tante die Erzählung von den Partisanen, als einzige des gesamten „Schneeberg“-Kapitels, auch zwei Mal wiedergibt, nämlich im Gasthaus und nach der Zufluchtnahme vor dem Schneesturm in der Werkstatt des Tischlers (vgl. LT 102). Die Partisanenerzählung(en) stehen am Ende der Ausführungen der Tante zum Krieg und zur Zeit des Nationalsozialismus. Was genau die Tante während der Kriegsjahre gemacht hat, welche Funktion sie im BDM gehabt hat, welche konkreten persönlichen Erlebnisse es mit (anderen) Nationalsozialisten gegeben hat, erzählt sie in „Auf dem Schneeberg“ nicht. Nur in einer an die Schmuggelepisode der Zwischenkriegszeit gemahnenden Bemerkung erwähnt sie, dass sie sich mit einem Pferd ihres Bruders vor den Partisanen im Wald versteckt gehalten hat (vgl. LT 99). Das fällt umso deutlicher auf, als ihre Erinnerungen von der Nachkriegszeit ähnlich jenen von der Kindheit auch eine starke persönliche Färbung annehmen: So berichtet die Tante ausführlich von ihrem Ende der 1940er Jahre begonnenen Dienst beim Pfarrer oder der nicht komplikationslosen Annäherung an ihren späteren Ehemann. Die abstrakten Beschreibungen der nonverbalen Kommunikation während der Nazizeit wirken aus dieser Perspektive hingegen vage und unkonkret. Von der viel zitierten „Stunde Null“ und der Ausrufung der unabhängigen Republik Österreich am 27. April 1945 ist bei der Tante - man denke im Vergleich dazu an die „Anschluss“-Episode - keine Rede, wichtig ist für sie vielmehr die Erfahrung der Zyklizität der Geschichte: „[W]ieder seien, sobald der Krieg zu Ende gewesen sei, die Städter über uns hereingebrochen“. (LT 102) Die Asymmetrie zwischen Zentrum und Peripherie in der unmittelbaren Nachkriegszeit wird von der Tante wie schon im Kontext der Wirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit als umgekehrt zu ökonomisch besseren Zeiten beschrieben. Sieder, Steiner und Tálos schreiben zu dieser außergewöhnlichen Situation: „In den Dörfern auf dem Land, die von den Zerstörungen durch den Bombenkrieg selten betroffen und insgesamt weitaus weniger arbeitsteilig organisiert waren, normalisierten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse <?page no="68"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 64 rascher als in den großen Städten“. 128 Die Erfahrung der materiellen Bevorzugung gegenüber den Städtern, die als „Hamster“ oder „Hamsterer“ bezeichnet wurden, korrespondiert mit der weiter oben angemerkten Benachteiligung zur Gegenwart des Erzählens und führte laut Tante auch zu einem Missbrauch der vertauschten Rollen: „Manche hätten die Hamsterer ausgenutzt, ihnen lächerliche Mengen Fleisch oder Schmalz für ihre Tauschgeschäfte angeboten“. (LT 102) Das „Hamstern“ ist mit der Biographie Gerhard Roths verbunden. In seinem autobiographischen Roman Das Alphabet der Zeit beschreibt Roth, wie er als Kleinkind von seinem Vater in der unmittelbaren Nachkriegszeit in die später in den Archiven des Schweigens literarischdokumentarisch dargestellte Region zum „Hamstern“ mitgenommen wurde. Für Roth war einerseits die bäuerliche Welt etwas Fremdes, Unbekanntes, andererseits machte er im Gefolge seines Vaters auf dem Land auch erste existentielle Erfahrungen von Diskriminierung und Mittellosigkeit. 129 Das Gefühl der relativen Privilegiertheit gegenüber den Städtern legt sich in der Erinnerung der Tante über das in der Beschreibung der um die Kirche lagernden Partisanen durchdringende Gefühl der Niederlage. Von den Besatzungsmächten wird nichts erzählt und auch die sich für viele Männer äußerst kompliziert darstellende Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft erscheint in der Darstellung der Tante als wenig problematisch: „,Als Dein Vater aus der Gefangenschaft zurückkam‘, spricht meine Tante mich an, ,hatte seine Familie die Bienenvölker verdoppelt, weshalb er gute Geschäfte machen und schließlich nur noch von dem Einkommen als Imker leben konnte.‘“ (LT 102-103) Dass diese Stelle nicht mit den Selbstnarrationen von Lindners Vater zu seinen Kriegserfahrungen übereinstimmt, sei hier nur angemerkt, in der Analyse des Textes „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ wird den Dissonanzen im Lebenslauf des Vaters nachgegangen werden. Über die so genannten „Heimkehrer“ schreiben Mattl und Stuhlpfarrer: „Manche von ihnen haben im vollen Wortsinn ihre ,Identität‘ verloren; sie wussten nicht, wie sie heißen, wo sie lebten, wer sie waren. Für den größeren Teil gilt es, die amtliche Identität wieder mit der sozialen Position zur De- 128 Reinhard Sieder, Heinz Steinert und Emmerich Tálos: Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in der Zweiten Republik. Eine Einführung. In: dies. (Hg.): Österreich 1945- 1995. Gesellschaft, Politik, Kultur. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1995 (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 60). S. 9-32, hier S. 16. 129 Vgl. Gerhard Roth: Das Alphabet der Zeit. Frankfurt/ Main: Fischer 2007. S. 148-196 (Kapitel „Hamstern“). <?page no="69"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 65 ckung zu bringen.“ 130 In dem Kurztext „Heimkehr“ aus Landläufiger Tod wird über die „Angehörigen der geschlagenen Armee“ berichtet, dass ihre Erzählungen „Entsetzen hervor[riefen]: von Frauen, denen sie Hühner in die Bäuche genäht, von Alten, die sie mitsamt ihren Häusern verbrannt hatten.“ (LT 469) Deshalb „zeigte sich keiner von ihnen. [...] Erst als sie den Eindruck hatten, daß sie vollständig vergessen waren, erschienen sie zaghaft im Dorf, um sich ihre unbegreiflichen Abenteuer zu bestätigen.“ (LT 469) Die Tante war schon während des Krieges mit einem Mann liiert, „auch während seiner Gefangenschaft ,drüben‘, die drei Jahre währte, wartete ich auf ihn, er aber fand sich, kaum daß er zurückgekehrt war, eine andere.“ (LT 104) Aus einer gesamtgesellschaftlichen Sicht könnte das Verhalten des Mannes der Tante mit dem „kollektive[n] Phänomen des ,Verdachts‘ [...] [der] das soziale Leben nach 1945“ 131 durchzieht, zu tun haben. Die Heimkehrer waren sexuell äußerst verunsichert, verdächtigten ihre Frauen und Freundinnen sich mit Besatzungssoldaten eingelassen zu haben oder fürchteten eine mögliche Vergewaltigung. Hinzu kam, dass die Frauen in der Abwesenheit ihrer Männer Berufe ergriffen hatten, auch die Tante hatte ja gerade zum Zeitpunkt der Rückkehr ihres künftigen Mannes (1948) die Stelle beim Pfarrer angetreten und im Alter von 30 Jahren „zum ersten Mal einen Lohn bekommen.“ (LT 103) So gesehen ist die Ablehnung seiner früheren Freundin durch Lindners Onkel als Teil einer die ganze Gruppe der „Heimkehrer“ betreffenden Identitätsproblematik deutbar: „Die Heimkehrer suchen ihre Identität nicht als ,Österreicher‘ oder als ,Deutsche‘, als ehemalige oder Noch-immer- Nationalsozialisten, als Konservative, Sozialisten oder Kommunisten. Sie suchen ihr Selbst als ,Mann‘“ 132 . Die Tante denkt die vorerst gescheiterte - und später aufgrund der Weigerung der neuen Verlobten von Lindners Onkel, im Kuhstall zu schlafen, schließlich doch vollzogene - Eheschließung nicht im Zusammenhang mit der Kriegsgefangenschaft; auch in den letzten Passagen ihrer Erinnerungserzählung, in der sie von der doppelten beruflichen Belastung ihres Mannes als Bergarbeiter und Teilzeitlandwirt berichtet, erwähnt sie nichts von etwaigen Kriegstraumata. Nach dem Krieg ist bei der Tante vor dem Krieg, könnte man sagen, sowohl was die Akzentsetzung auf wirtschaftliche Probleme als auch die Ausklammerung politischer Fragestel- 130 Siegfried Mattl und Karl Stuhlpfarrer: Abwehr und Inszenierung im Labyrinth der Zweiten Republik. In: Tálos: NS-Herrschaft in Österreich, S. 902-934, hier S. 907. 131 Ebenda. 132 Ebenda, S. 908. <?page no="70"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 66 lungen betrifft. In Der Stille Ozean erzählt ein Landarbeiter Ascher von der nächtlichen Wiederkehr von Kriegserfahrungen: „,Aber glauben Sie mir‘, ereiferte er sich, ,nach dem Kriegsende bin ich noch ein Jahr aus meinen Träumen aufgeschreckt, einmal im Winter nur mit der Unterhose bekleidet aufgesprungen und in die kalte Nacht gelaufen, weil ich mir eingebildet habe, die Russen greifen an.‘“ (DSO 151) Der Mann der Tante hingegen ist emotional aufgewühlt, weil er nach der Hochzeit nicht mehr im Kuhstall schlafen muss und einen ersten Schritt aus der Armut geschafft hat: „Dein Onkel aber, der mit mir zum ersten Mal in der Stube schlief und in einem überzogenen Bett, weinte, als er die weißen Leintücher sah.“ (LT 105) Und die Tante weint wiederum, weil sie nach der Hochzeit aus ihrem Elternhaus ausziehen muss (vgl. LT 105). Die den Titel für das Kapitel abgebende und dieses gleichzeitig schließende Wanderung auf den Schneeberg ist aus verschiedenen Perspektiven aufschlussreich. Zum einen ist die Reise mit ihrem Mann „in das Niederösterreichische“ (LT 106) für die Tante die erste räumliche Entfernung vom Dorf. Gerade in dieser Bewegung weg aus dem Dorf zeigt sich aber, dass dieses im Kopf der Tante mitgereist war, dass es als Bezugspunkt der Differenzsetzung fungiert: „Du mußt Dir vorstellen, zu Hause hatten wir noch nicht einmal eine Straße. [...] Wir kannten keinen elektrischen Strom, nähten, strickten, arbeiteten an langen Wintern im Petroleumlicht [...] Ich aber war mit deinem Onkel auf dem Schneeberg, wo noch nie jemand aus unserem Dorf gewesen war und lange niemand hinkommen würde.“ (LT 106) Indirekt wird hier die Abgeschiedenheit des Dorfes und die Immobilität seiner Einwohner betont, ein innerhalb der Zykluswerke vor allem für Der Stille Ozean zentraler Topos. Wichtig ist aber ebenso der in der südsteirischen Hügellandschaft so nicht mögliche Blick aus einer deutlich dem Umland enthobenen Position: „Den größten Eindruck habe der weite Ausblick auf sie gemacht, mein Onkel und sie hätten längere Zeit in die tiefen Täler hinuntergeschaut.“ (LT 106) Die besondere Erfahrung des Schneebergs als Gegenort ergibt sich aus der Erfahrung eines normalerweise eng abgesteckten Arbeitsraumes, der ja beim Onkel sogar ein Bergwerksstollen ist. Auf einer symbolischen Ebene ist die Vogelperspektive eine Umkehrung der Welterfahrung von unten, vor allem was Macht-Relationen betrifft. Das hat übrigens auch einen Gender-Aspekt, denn <?page no="71"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 67 in literarischen Texten findet laut Natascha Würzbach die „traditionell männlich konnotierte Haltung der Überlegenheit [...] in der Raumdarstellung ihren Niederschlag in einem erhöhten Standpunkt und panoramischer Erfassung des Raumes“, während „Nahsicht, Erfassung von Einzelheiten und Sensibilität für Stimmungen in der Raumdarstellung weiblich konnotiert sind.“ 133 Wenn die Tante in „ihren Träumen [...] die Landschaft tiefer unter sich liegen [sieht] und so verzerrt, als überblicke sie ein riesiges Gebiet“ (LT 106), so handelt es sich hier auch um die Verarbeitung einer Raumwahrnehmung, die nicht geschlechterstereotyp ist. 134 Weiters hat aber die Wanderung auf den Schneeberg auch einen Gedächtnisaspekt. Wolfgang Kos hat in seiner aufschlussreichen Darstellung „Imagereservoir Landschaft. Landschaftsmoden und ideologische Gemütslagen seit 1945“ gezeigt, dass die österreichische Politik nach 1945 die Landschaft zum positiv besetzten Gegenpol der negativ besetzten NS-Vergangenheit gemacht hat. Schon in der 1946 getexteten Bundeshymne werde „Österreichs Landschaft“ „in die politische Pflicht genommen“, da „ein Gefühl von Patriotismus durch die landschaftlichen Leitmotive Berge und Strom evoziert wird. Der Landschaft kommt also nationaler Signetcharakter zu.“ 135 Da aus der Donaumonarchie eine Alpenrepublik geworden ist, so Kos, kommt den Bergen, die 60 Prozent des Staatsgebietes ausmachen, eine besondere Signifikanz zu. Dies wird ersichtlich in einem vom Fremdenverkehrsminister Kolb verfassten Vorwort zum Bildband Schatzkammer Österreich, der 1948, also kurz vor der fiktiven Wanderung der Tante, die sie ja „noch vor der Geburt ihres ersten Sohnes“ (LT 106) unternommen hat, erschienen ist: „[S]ind Sie vielleicht einmal hinaufgestiegen zu den majestätischen Riesen unserer Hochalpen, […] in denen der Mensch, überwältigt von der Allmacht des Schöpfers, allen Zank und Streit, alles irdische Leid vergißt und Zwiesprache mit dem Himmel 133 Natascha Würzbach: Raumdarstellung. In: Nünning/ Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 49-71, hier S. 65. 134 Die Erzählung vom Schneeberg-Blick könnte Lindner zu seinem Wunsch veranlassen, in Am Abgrund „vor der Fahrt zur Hauptstadt den höchsten Berg des Landes zu besteigen“. (AA 26) Allerdings handelt es sich nicht um den Großglockner, den höchsten Berg Österreichs, sondern um den Dachstein, den auch in der Landeshymne, dem „Dachsteinlied“, besungenen höchsten Berg der Steiermark. 135 Wolfgang Kos: Imagereservoir Landschaft. Landschaftsmoden und ideologische Gemütslagen seit 1945. In: Sieder/ Steinert/ Tálos: Österreich 1945-1995. Gesellschaft, Politik, Kultur, S. 599-624, hier S. 601. <?page no="72"?> 1 Gedächtnisdiskurse und -narrative: „Auf dem Schneeberg“ 68 hält? “ 136 Zwar ist der Schneeberg nicht zu den Hoch-, sondern den Voralpen zu zählen, dafür ist der Name aber auch sprechend, der weiße Schnee soll die „,parteibraunen‘ Landschaften (Hans Lebert)“ 137 überdecken, 138 die Erinnerung an die Natur mit einer Kultur des Vergessens einhergehen: „,Noch oft habe ich davon geträumt‘, ruft sie [die Tante; G. L.], ,wie wir auf dem Schneeberg stehen und über dem Schauen alles vergessen.“ (LT 106) Diese Aussage fügt sich nahtlos ein in die von Wendelin Schmidt-Dengler beschriebene Funktionalisierung der Natur (nicht nur in der Literatur) in der Nachkriegszeit: Die Natur garantiert auch die ideale Form. Am ehesten ist die Natur in der Lage, Österreichs Identität zu garantieren: Sie ist das Restaurierende, das nicht restauriert zu werden braucht. An ihr wird alle Künstlichkeit zuschanden, sie ist das Eigene, das uns gehört; das Künstliche ist das Andere, das Fremde. 139 136 Ernst Kolb: Vorwort. In: Schatzkammer Österreich. Wahrzeichen der Heimat in Wort und Bild. Wien: Sator 1948. S. 21. Mit Korrekturen zit. nach Kos: Imagereservoir, S. 608-609. 137 Ebenda, S. 609. Kos weist das Zitat nicht aus, es ist aber aus Hans Lebert: Die Wolfshaut. Roman. M. e. Nachw. v. Jürgen Egyptien. Wien: Donauland Kremayr & Scheriau 1991, S. 185: „Vom Winde angetrieben, dann wieder gebremst (denn dieser schien gleichfalls die Richtung verloren zu haben), gelangte Maletta ans südliche Ende der Ortschaft und wankte in eine parteibraune Landschaft hinaus.“ Vgl. dazu Eva Reichmann: „Dampfende Dunghaufen hegend versinken die Dörfer im Schmutz.“ Hans Leberts Österreichbild - eine parteibraune Landschaft. In: Modern Austrian Literature Vol. 30 (1997), Nr. 3/ 4. S. 130-143, hier S. 131: „Das Werk von Thomas Bernhard oder Gerhard Roth ist ohne die Arbeit von Lebert eigentlich nicht vorstellbar.“ 138 Übrigens sieht Andrea Kunne in der ja teilweise über den Schnee vermittelten Meeresmetaphorik in Der Stille Ozean „eine deutliche Parallele zu Leberts Roman Die Wolfshaut“, dessen Protagonist nicht von ungefähr ein ehemaliger Matrose ist. (Kunne: Heimat im Roman, S 237.) 139 Schmidt-Dengler: Das neue Land, S. 34. <?page no="73"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis Franz Lindners Rolle als Erzählerfigur erfährt im Laufe von Landläufiger Tod eine grundlegende Umschreibung, die eng mit der Romanstruktur und den möglichen Les- und Analysearten des Textes verschränkt ist. Im ersten Buch von Landläufiger Tod, „Dunkle Erinnerung“, finden sich noch keine deutlichen textuellen Signale, die auf eine prinzipielle Unzuverlässigkeit der Erzählerfigur hinweisen. Das irritierende Moment des ersten Buches, die verstörende Grundierung des Textes ergibt sich aus Verhalten und Aussagen einzelner Figuren (Zirkusdirektor, automatischer Mensch, Ascher) und weniger aus einer im Text angelegten Problematisierung der Lindner’schen Repräsentationsmodi. Deshalb steht einer „Naturalisierung“ des ersten Buches als realistisch und ergo als glaubwürdiger Einführung in Sozialstruktur und Geschichte der südweststeirischen Peripherie (im Sinne einer mimetischen Abbildung extraliterarischer Realität) und in die damit verwobene fiktive Dorf- und Familienwelt des Romans im Wesentlichen nichts im Wege. Der Begriff der „Naturalisierung“ wurde übrigens von Jonathan Culler in den literaturwissenschaftlichen Diskurs eingeführt und stellt Interpretationen in einen Zusammenhang mit dem Erfahrungshorizont des Interpreten/ Lesers: „[T]o naturalize a text is to bring it into relation with a type of discourse or model which is already, in some sense, natural and legible.“ 140 Erst in der nachträglichen, von im weiteren Textverlauf erhaltenen Informationen zu Franz Lindner determinierten Lektürereflektion wird deutlich, dass der gesamte Roman an keiner Stelle ,rein‘ realistisch (oder aber auch ,rein‘ surrealistisch oder phantastisch oder schizophren) gelesen werden kann: Dementsprechend groß ist die Zahl der im Text auftauchenden Mischformen von Realismus und Phantastik, vor allem in den Abschnitten des 3. Buchs. Reinformen beider Kategorien sind eher selten zu finden, beziehen sich doch noch selbst die so abstrusen Einzelsätze des 2. Buchs auf Gesichtspunkte des dörflichen Lebens, wie auch die realistischen Kapitel des 1. Buchs bereits unwirkliche Elemente enthalten, welche die Plausibilität des Erzählten unterminieren (Maschinenmensch, blutrotes Nordlicht usw.). 141 140 Jonathan Culler: Structuralist Poetics. Structuralism, Linguistics and the Study of Literature. London: Routledge & Kegan Paul 1975. S. 138. 141 Schütte: Auf der Spur der Vergessenen, S.101. <?page no="74"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 70 Es gibt also keine Oppositionierung, sondern vielmehr eine graduelle Skalierung in Bezug auf diese Zuordnung. Den textuellen Raum dieser narratologisch bedeutsamen und eine nachträgliche Umdeutung der Lektüre einfordernden Fokussierung auf die Erzählerfigur stellt das erste Kapitel „Sieben nicht abgeschickte Briefe aus dem Irrenhaus“ des zweiten Buches „Berichte aus dem Labyrinth“ 142 dar. Für eine Analyse der Darstellungsformen von Gedächtnis und Erinnerung in Landläufiger Tod (aber auch für eine holistische Aneignung des Romans) ist es nun notwendig, die textuellen Signale, die in den „Sieben nicht abgeschickten Briefen aus dem Irrenhaus“ enthalten sind, ernst zu nehmen und einige Überlegungen über die Erzählerfigur Franz Lindner und die sich daraus ableitenden Implikationen für Narrative, Figuren und Schauplätze anzustellen. Der folgende Teil dieser Studie ist nun, um die methodologische Perspektive zu verdeutlichen, keine aufgrund vorgängiger theoretischer Prämissen vorgenommene Scharfstellung der analytischen Linse auf Franz Lindner und die sich daraus ergebenden erzähltechnischen Implikationen. 143 Vielmehr handelt 142 Nicht nur an dieser Stelle in Roths Werk wird der Begriff des Labyrinths als Metapher verwendet. Es gibt den Aufsatz „Labyrinth der Fälschungen“, abgedruckt in Wittstock: Materialien, S. 19-22, das Labyrinth spielt auch im Orkus-Zyklus eine wichtige Rolle, so heißt einer der Teile Das Labyrinth. Daniela Bartens hat darauf hingewiesen, dass sich Roth für seinen zweiten Zyklus besonders auf die Joyce-Einführung von Anthony Burgess gestützt hat, die „sich streckenweise wie ein Fahrplan durch Roths ,Orkus‘“ lesen würde. Siehe dazu Daniela Bartens: Topographien des Imaginären. Zum „Orkus“- Gesamtzyklus unter Einbeziehung von Materialien aus dem Vorlass. In: Daniela Bartens und Gerhard Melzer (Hg.): Gerhard Roth. Orkus. Im Schattenreich der Zeichen. Wien: Springer-Verlag 2003. S. 39-66, hier S. 52. Vgl. dazu außerdem Anthony Burgess: Joyce für Jedermann. Eine Einführung in das Werk von James Joyce für den einfachen Leser. A. d. Engl. v. Friedhelm Rathjen. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2004 (stb 3608), vor allem den zweiten Teil „Das Labyrinth“ mit dem Unterkapitel „Wege in das Labyrinth“. Außerdem spielen mit vielfältigen Bedeutungen aufgeladene Labyrinthe in einigen Texten des für Gerhard Roth wichtigen Jorge Luis Borges eine zentrale Rolle, zum Beispiel in „Ibn Hakkan al-Bokhari, gestorben in seinem Labyrinth“ oder „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“. Und natürlich kann Landläufiger Tod selbst als textuelles Labyrinth aufgefasst werden. 143 Der Vollständigkeit halber sei hier die Diplomarbeit von Sabine Busch-Wittmann erwähnt: „Ich bin ein Erzähler.“ Eine erzähltechnische Analyse zu Gerhard Roths Romanzyklus Die Archive des Schweigens unter besonderer Berücksichtigung der Bände I, II und VI. Wien: Diplomarbeit 1998. Busch-Wittmanns Arbeit löst allerdings keine der in dieser Studie gestellten Fragen bezüglich unzuverlässigen und multiperspektivischen Erzählens. Die Kernthesen ihrer von einem eher vagen theoretischen Konzept ausgehenden Studie lauten jedenfalls: „Hier liegt meines Erachtens dann auch die definitive Errungenschaft Roths, denn der Roman als Grundform des Zyklus konstituiert sich als <?page no="75"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 71 es sich bei diesem Abschnitt um eine Reaktion auf eine vom Autor an einer konkreten Position innerhalb der Roman- und Zyklusarchitektur verortete Thematisierung und Problematisierung seines Erzählmediums und der damit zusammenhängenden Erzählverfahren, vor allem in Bezug auf die Inszenierung von Multiperspektivität sowie kollektive und individuelle Konstruktionsweisen von Vergangenheit. Von dieser Perspektivierung ausgehend ergeben sich folgende Analyseschritte: Im ersten Abschnitt dieses Kapitels wird eine Bestimmung der Erzählerfigur Franz Lindner anhand der erzähltheoretischen Konzepte „unzuverlässiger Erzähler“, „des vielleicht größten Sorgenkindes der Erzähltheorie“, 144 und „,verrückter‘ Monologist“ unternommen. In einem zweiten Abschnitt werden von Angaben über diese Erzählerfigur ausgehend philosophische, religiöse und intertextuelle Bezüge hergestellt, der Zusammenhang von Denken, Schweigen und Schreiben wird fokussiert, wie Lindners Plan, die Bibel neu zu schreiben, oder seine Abschreibübungen von Jonathan Swifts Gullivers Reisen. Der dritte Abschnitt konzentriert sich schließlich auf Formen multiperspektivischen Erzählens sowie auf eine theoretische Bestimmung der figurenbezogenen Verschränkungen mit der außerliterarischen Wirklichkeit, die mit Hilfe von Michail Bachtins Theorie der „sozialen Redevielfalt“ 145 vorgenommen wird. Im letzten Abschnitt werden narrative und archivalische Fortschreibungen der Figur des Arztes Ascher aus Der Stille Ozean im Imkerssohn Franz Lindner aus Landläufiger Tod in den Blick genommen. Den roten Faden, der die vier Abschnitte miteinander verbindet, bilden die von Astrid Erll ausgearbeiteten „Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses“. 146 Ziel dieses Kapitels ist es, im Rahmen der bisherigen Zyklus- und Romanforschung bis dato nicht oder nur unscharf wahrgenommene narratologisch bestimmbare Problemfelder zu benennen und sie im Kontext der Leitkategorien Gedächtnis und Erinnerung zu verorten. autonomes Genre auch zur Gestaltungsweise. D.h., der Roman inauguriert sich als ein Objekt der Kunst und präsentiert sich gleichzeitig als Objekt zur Gestaltungsweise. Ferner geht aus einer Vielzahl von Gattungsformen eine Konstante hervor, d. h., selbst im schlimmsten Chaos gibt es einen Keim der Ordnung, und, dieser scheint mir die Erzählung zu sein.“ (S. 108, Fettdruck weggelassen, Interpunktion beibehalten.) 144 Basseler/ Birke: Mimesis des Erinnerns, S. 140. 145 Vgl. Michail M. Bachtin: Das Wort im Roman. In: ders.: Die Ästhetik des Worts. Hg. u. eingl. v. Rainer Grübel. A. d. Russ. v. R. Grübel u. S. Reese. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1979 (edition suhrkamp 967). S. 154-300. 146 Vgl. Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 167-193, Kapitel VII: „Erzähltheoretische Kategorien: Die Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses“. <?page no="76"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 72 2.1 Unzuverlässiges Erzählen Das kurze, aber wichtige Zugänge zu Landläufiger Tod eröffnende Kapitel „Sieben nicht abgeschickte Briefe aus dem Irrenhaus“ ist ein Transitionsraum, eine Zone des Übergangs im Roman wie auch im Zyklus - vorausgesetzt, man liest Die Archive des Schweigens in der vom Autor intendierten Reihenfolge. Hier endet der großteils geordnete, chronologische, literarisch-realistische, fotografisch-dokumentarische Repräsentationsmodus, der für Im tiefen Österreich, Der Stille Ozean und das erste Buch von Landläufiger Tod, „Dunkle Erinnerung“, kennzeichnend ist, und ein für den Zyklus, nicht aber für Roths Werk, 147 neues Erzählverfahren wird eingeführt. Man könnte sagen, ab „Sieben nicht abgeschickte Briefe aus dem Irrenhaus“ ist im Zyklus nichts mehr so, wie es war, oder wie es zumindest erschienen ist, der Rezeptionsprozess erfährt eine nachträgliche Umschrift. Im Kontext kognitiver Narratologie lässt sich dieses Phänomen folgendermaßen beschreiben: Gemäß des kognitiven Phänomens des primacy effect wird die Interpretation eines Sachverhalts durch die Leserin zunächst wesentlich durch die in einem Text zeitlich zuerst präsentierte Information bestimmt. Ein Rezipient hält möglichst lange an seiner anfänglichen Interpretation fest - so lange bis er auf deutliche Weise mit textuellen Informationen konfrontiert wird, die den anfänglich aufgestellten Deutungshypothesen widersprechen. Erst dann überlagert das Phänomen des recency effect den primacy effect: Der Leser paßt die neuen textuellen Daten an neue Schemata an und ändert seine Interpretation. 148 147 Für Roths experimentelles Frühwerk sind die dann im Zyklus ebenfalls applizierten Erzählstrategien der Zerstückelung von Narrativen typisch, ebenso wie das auch in den Reiseromanen der 1970er Jahre immer wieder durchscheinende Motiv des Wahnsinns beziehungsweise der devianten Weltwahrnehmung. 148 Bruno Zerweck: Der cognitive turn in der Erzähltheorie. Kognitive und ,Natürliche‘ Narratologie. In: Vera und Ansgar Nünning (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: WVT 2002. S. 219-242, hier S. 222-223. Zerweck bezieht sich hier auf den Aufsatz von Menakhem Perry: Literary Dynamics: How the Order of a Text Creates its Meanings [With an Analysis of Faulkner’s „A Rose for Emily“]. In: Poetics Today Vol. 1 (Autumn 1979), No. 1/ 2, Special Issue: Literature, Interpretation, Communication, S. 35-64 u. 311-361. Vgl. dazu auch Carola Surkamp: Die Perspektivenstruktur narrativer Texte aus der Sicht der possible-worlds theory: Zur literarischen Inszenierung der Pluralität subjektiver Wirklichkeitsmodelle. In: Nünning/ Nünning (Hg.): Multiperspektivisches Erzählen, S. 111-132, hier S. 125, sowie Dagmar Busch: Unreliable Narration aus narratologischer Sicht: Bausteine für ein erzähltheoretisches Analyseraster. In: Ansgar Nünning (Hg.): Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis un- <?page no="77"?> 2.1 Unzuverlässiges Erzählen 73 Ab den „Sieben nicht abgeschickten Briefen“ werden neue Interpretationsstrategien verlangt, man könnte ab diesem Text - eine Interpretationsvariante - davon sprechen, dass nun jene Bewegung, jenes Fließen von Bedeutung/ en überdeutlich betont wird, das Jacques Lacan mit dem „Gedanken“ erfasst hat, „daß das Signifizierte unaufhörlich unter dem Signifikanten gleitet“. 149 In den Büchern zwei bis sieben von Landläufiger Tod, in Am Abgrund und in Der Untersuchungsrichter wird ein unaufgelöstes, unauflösbares Spiel mit dem Setzen und Verwischen von Differenz in Bezug auf Semantisierung, Semiotisierung, Wahrnehmung, Homo- und Heterogenisierung, ,Wirklichkeit‘ und Fiktion sowie richtige und falsche fiktive Fakten inszeniert. Erst bei der Geschichte der Dunkelheit und in Eine Reise in das Innere von Wien wird dieses ein Denken in binären Oppositionen destabilisierende, ja auflösende Erzählverfahren von einer primär am so genannten ,Faktischen‘ orientierten Schreibweise abgelöst. In „Sieben nicht abgeschickte Briefe aus dem Irrenhaus“ verbindet Gerhard Roth die Veränderung und Neuausrichtung der verwendeten Schreibweise mit der psychischen Disposition der Erzählerfigur Franz Lindner. Informationen darüber werden sowohl explizit - schon im Titel wird der Aufenthalt des fiktiven Erzählers im „Irrenhaus“ angesprochen, der dort Briefe schreibt, die er seltsamerweise nicht abschickt - als auch implizit über sich widersprechende Aussagen innerhalb dieser sieben Briefe und darüber hinausgehende inhaltliche Dissonanzen geliefert. Allerdings versucht Roth nicht, tatsächlich das Schreiben Schizophrener in seiner orthographischen und grammatikalischen Variabilität zu imitieren. Jörg Drews stellt jedenfalls, im Kontext seiner Analyse von Roths Erstling die autobiographie des albert einstein, ein Grundproblem bei der literarischen Annäherung Nicht-Schizophrener an schizophrene Schreib- und Welterfahrungsweisen fest: „Vielleicht ist es grundsätzglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Unter Mitwirkung von Carola Surkamp und Bruno Zerweck. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1998. S. 41-58, hier S. 50: „Zum einen muß die Erzählerperspektive sowie die Perspektive des erlebenden Ich erst einmal vom Rezipienten rekonstruiert werden, unter anderem auf der Basis von Erzähleräußerungen; zum anderen dient die Perspektive, ist sie einmal etabliert, zur Erklärung, weshalb ein Erzähler auf eine bestimmte Weise vom zuverlässigen, konventionellen Erzählen abweicht.“ 149 Jacques Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud. In: ders.: Schriften 2. A. d. Franz. v. N. Haas und Ch. Creusot. Olten: Walter- Verlag 1975. S. 17-59, hier S. 27. <?page no="78"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 74 lich unmöglich, die krankhafte Kraft solcher Wahn-Weltbilder durch eine Art literarische Quasi-Authentizität nachzustellen.“ 150 Franz Lindner wird nun aufgrund dieser Signale „entkategorisiert“, das heißt, dass nach der Lektüre dieser sieben Briefe „ein neues mentales Modell der Figur aufgebaut werden muß.“ 151 Eines der möglichen Modelle könnte Lindner nun als unglaubwürdigen, unverlässlichen, unzuverlässigen Erzähler 152 zu interpretieren suchen. Im Folgenden soll diese Interpretationsmöglichkeit anhand exemplarischer Analysen ausgelotet werden. Für eine theoretische Fundierung des Begriffs unzuverlässiger Erzähler wird auf grundlegende Überlegungen eines Forscherteams rund um den Gießener Anglisten Ansgar Nünning zurückgegriffen. In seinem Aufsatz „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens“ definiert Nünning überblicksmäßig fünf für unzuverlässige Erzähler typische Merkmale: „Erstens handelt es sich in allen Fällen um Ich-Erzähler“, die zweitens „als konkret faßbare, personalisierbare Sprecher“ auftreten, drittens ist eine „Häufung von subjektiv gefärbten Kommentaren, interpretatorischen Zusätzen und weiteren persönlichen Stellungnahmen des Erzählers sowie von Leseranreden“ vorfindbar, „[v]iertens sind solche Erzähler oftmals zwanghafte oder gar verrückte Monologisten“ und fünftens und besonders wichtig ist eine Diskrepanz zwischen dem, was ein unreliable narrator dem fiktiven Adressaten zu vermitteln versucht und einer zweiten Version des Geschehens, derer sich der Erzähler nicht bewußt ist und die sich Rezipienten durch implizite Zusatzinformationen erschließen können. Der allgemeine Wirkungseffekt 150 Jörg Drews: „Haid setzte die Brille wieder auf ...“. Über Gerhard Roths Bücher. In: Peter Lämmle und Jörg Drews (Hg.): Wie die Grazer auszogen, die Literatur zu erobern. München: edition text + kritik 1975. S. 29-50, hier S. 32. 151 Zerweck: Der cognitive turn in der Erzähltheorie, S. 232. 152 Während dieser Erzählertypus im Englischen als „unreliable narrator“ bezeichnet wird, hat sich im Deutschen keine einheitliche Terminologie durchgesetzt. Für die Benennung des Phänomens in dieser Studie habe ich mich für den Begriff „unzuverlässiger Erzähler“ entschieden. Vgl. dazu Ansgar Nünning: Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens. In: Nünning (Hg.): Unreliable Narration, S. 3-39, hier S. 11, sowie Manfred Jahn: Package Deals, Exklusionen, Randzonen: das Phänomen der Unverläßlichkeit in den Erzählsituationen. In: Nünning (Hg.): Unreliable Narration, S. 81-106, hier S. 82. <?page no="79"?> 2.1 Unzuverlässiges Erzählen 75 von unreliable narration besteht daher oftmals in einer fortschreitenden unfreiwilligen Selbstentlarvung des Erzählers. 153 Während nun vier der genannten Merkmale (dominant) einer narratologischen, auf textinternen Signalen aufbauenden Ebene zugeordnet werden können, ist eines, der „,verrückte‘ Monologist“, Resultat einer textexternen Zuschreibung. Unter Berücksichtigung des hier wirkenden außertextuellen Bezugsrahmens und damit der Rolle des Lesers und des Rezeptionsprozesses verknüpft Nünning deshalb seinen narratologischen Ansatz, der strukturalistische Züge trägt, mit einem kognitiven, 154 rezipientenorientierten Zugang, der gesellschaftliche (individuelle und kollektive Werte- und Normensysteme) sowie literarische Konventionen (Genres, Figurentypen und Ähnliches) in den Mittelpunkt rückt. Außer- und innertextuelle Bezugsrahmen sind laut Nünning in ihrem Zusammenspiel für die Naturalisierung eines Textes, das heißt für die Umgangsstrategien eines Rezipienten mit Textdiskrepanzen und für die Deutung einer Erzählerfigur als unzuverlässig, entscheidend. 155 Der literarische Referenzrahmen ist (mit einer im Prinzip relativen Ausnahme des von Ensberg/ Schreckenberger beschriebenen Surrealismusbezugs bei Roth) 156 in den Archiven des Schweigens eng mit dem gesellschaftlichen verschränkt. Relevant für die Annäherung an den außertextuellen Bezugsrahmen vor allem im Kontext der soziopolitischen Stoßrichtung der von Roth Lindner zugewiesenen Schreibpraxis ist eine Grundfrage im Zusammenhang mit unzuverlässigem Erzählen, nämlich: „Unreliable, compared to what? “ 157 Worauf Nünning mit dieser Frage abzielt, ist die kulturelle Formatierung der Wahrnehmung von erzählerischer Unzuverlässigkeit. Denn „ein Erzähler [ist] nicht an sich unglaubwürdig [...], sondern [...] [es handelt] sich dabei um eine 153 Nünning: Unreliable Narration, S. 6. 154 Siehe zur theoriegeschichtlichen Einordnung und den theoretischen Grundlagen dieses Ansatzes den schon zitierten Aufsatz von Bruno Zerweck: Der cognitive turn in der Erzähltheorie. 155 Nünning und seine Mitarbeiter stellen einen Analysekatalog mit textuellen Signalen und extratextuellen Referenzrahmen zusammen, in dem auch die genannten fünf Merkmale stärker ausdifferenziert werden. Für die hier intendierte Demonstration des Prinzips ist eine extensive Darstellung dieses Katalogs nicht notwendig, vgl. dazu aber Nünning: Unreliable Narration zur Einführung, S. 27-32, sowie ausführlicher: Dagmar Busch: Unreliable Narration aus narratologischer Sicht, S. 41-58. 156 Ensberg/ Schreckenberger: Gerhard Roth. Kunst als Auflehnung gegen das Sein, S. 66- 68. 157 Nünning: Unreliable narration, S. 20. <?page no="80"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 76 Feststellung des Betrachters [...], die historisch, kulturell und letztlich sogar individuell stark variieren kann.“ 158 Wenn auch nicht mit Blick auf kognitive Aspekte und deren Auswirkungen auf Lese- und Interpretationsstrategien, so wurde zu diesem Themenfeld der soziokulturellen Regulierung und Codierung von ,normal‘ und ,verrückt‘ sowie der diesbezüglichen Rolle von Kunst und Literatur in der Roth- Forschung doch schon ausgiebig gearbeitet. Uwe Schütte und Matthias Auer haben in ihren Studien unter anderem mit Michel Foucaults, Leo Navratils und der anti-psychiatrischen (David Cooper, R. D. Laing) Beschäftigung mit dem ,Wahnsinn‘ ausführlich und nachvollziehbar den gesellschaftlichen (und künstlerischen = Art Brut, psychopathologische Literatur, schizophrenes Schreiben) Referenzrahmen der Erzählerfigur Franz Lindner 159 besprochen und die Bedeutungsschichten (der Kritik an) gesellschaftlichen Differenzsetzungsstrategien im Hinblick auf ,Normalität‘ und ,Wahnsinn‘ in Landläufiger Tod wie auch in anderen Teilen des Zyklus freizulegen versucht. 160 Deshalb und auch aufgrund des spezifischen Fokus dieser Studie wird an dieser Stelle auf eine ausführliche Diskussion dieses Bezugsrahmens verzichtet. Nicht verzichtet wird allerdings auf den Hinweis auf Christine Lavants autobiographischen Bericht Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus, da dieser Text eine gute Kontrastfolie zur Annäherung an das ,Verrücktsein‘ bei Roth bilden kann. Obwohl Lavant, selbst eine bedeutende Lyrikerin, viele Aspekte erwähnt, die Roth auch Lindner beschreiben lässt (das Gefühl sozialer Isolation, des Andersseins sogar/ gerade unter anderen Andersseienden; die Betonung der Vorläufigkeit des Aufenthalts; das Schreiben als Ausweg) ist das Ergebnis ein ganz anderes: Während man nach der Lektüre der „Sieben nicht abgeschickten Briefe“ von Lindners ,Verrücktheit‘ überzeugt sein soll, soll man bei Lavant von der Nicht-,Verrücktheit‘ der Ich-Erzählerin überzeugt sein. Literarische Simulation und autobiographische ,Fiktion‘ gehorchen also anderen Regel- 158 Ebenda, S. 25. 159 Thomas Anz stellt die Vermutung auf, dass für die Figur des Franz Lindner der Gugginger Dichter „Ernst Herbeck ein Modell ab[gab].“ (Thomas Anz: Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart: Metzler 1989. S. 62.) 160 Vgl. Schütte: Auf der Spur der Vergessenen, S. 154-201; Auer: Der österreichische Kopf, S. 125-248. Zum ,Zeitgeist‘-Aspekt beziehungsweise zur Bestimmung von Roths Thematisierung des ,Wahnsinns‘ im Kontext der Gegenwartsliteratur siehe: Thomas Anz: Kunst und Wahnsinn. Gerhard Roth und die pathophile Literatur der Gegenwart. In: Wittstock: Materialien, S. 219-229. <?page no="81"?> 2.1 Unzuverlässiges Erzählen 77 werken. Erstere betont, vielleicht auf sehr subtile Weise, das, was von Zweiterer so lange negiert wird, bis sich das Begehren umkehrt: Ich weiß, es ist in keiner Weise mehr schwierig, die, auf welche es ankommt, davon zu überzeugen, daß ich hierher gehöre Zeit meines Lebens. Es wird meine Aufgabe sein, blaue Anstaltsstrümpfe zu stopfen und dabei Stimmen zu hören, die mir dies und das einsagen. 161 Konzentrieren wir uns nun nach diesem kurzen Verweis auf außertextuelle Referenzrahmen im Kontext der Erzählerfigur Franz Lindner auf die von Ansgar Nünning genannten textinternen Merkmale unzuverlässigen Erzählens. Schon in den ersten beiden Sätzen von Landläufiger Tod artikuliert und erklärt sich das Ich, wird die Erzählerfigur als homodiegetisch, also an der Handlung teilhabend, eingeführt, und eine sowohl für die Figurencharakterisierung als auch aus erzähltechnischer Sicht entscheidende Eigenschaft genannt: „Wenn der Zirkus kommt, fahre ich zur Abendvorstellung nach Wies. Natürlich versuche ich, in Begleitung meines Freundes zu sein, ohne den ein Gespräch nicht zustande käme, da ich stumm bin.“ (LT 17) Innerhalb der folgenden zehn Seiten werden weitere wichtige Informationen zur Personalisierung der Erzählinstanz geliefert wie die Ursache für die Stummheit (Unfall im Sägewerk; vgl. LT 25), 162 der Bildungsstand (Gymnasium; vgl. LT 25) und der Name (vgl. LT 26). Kommentare sowie interpretatorische Zusätze finden sich ebenfalls schon in „Dunkle Erinnerung“, wobei vor allem Lindners Annotationspraxis als charakteristisches Stilmittel genannt werden kann, finden sich doch beispielsweise alleine in „Auf dem Schneeberg“ 14 Fußnoten. Explizite „Leseranreden“ finden sich in diesen Fußnoten, die häufig von einer Perspektive der Wir-Identität geprägt sind, jedoch noch nicht. Aus dem Dorf-Wir wird dann in den „Sieben nicht abgeschickten Briefen“ ein ebenso ambivalentes, von einem widerstrebenden Zusammengehörigkeitsgefühl bestimmtes Anstalts- 161 Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus. Hg. u. m. e. Nachwort vers. v. A. Steinsiek und U. A. Schneider. Innsbruck, Wien: Haymon 2008 (haymon tb 2). S. 74. 162 Als Lindners Vater Ascher bittet, sich seinen Sohn anzusehen, denkt Lindner: „Sicher betrachtet er jetzt meine Narbe“ (LT 113), die er seit dem Unfall hat. Vgl. dazu Basseler/ Birke: Mimesis des Erinnerns, S. 132: „Als eine ,Verräumlichung der Zeit‘ im weiteren Sinne könnte man eine Darstellungsform betrachten, in der sich Erinnerung in den Körper des Erinnernden selbst einschreibt; prototypisch dafür ist die Beschreibung von Narben und deren Herkunft. [...] [H]ier [wird] der Körper zum Schnittpunkt von Vergangenheit und Gegenwart.“ <?page no="82"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 78 Wir, 163 wobei die an und für sich in der Briefform angelegte Möglichkeit der Leseranrede nur im dritten Brief in einem Satz aktualisiert wird: „Ich schrieb eine Geschichte auf, an die Du Dich sicher erinnern wirst.“ (LT 131) Bemerkenswert ist hier der Verweis auf einen gemeinsamen Erfahrungshorizont mit dem Rezipienten, auf die Zugehörigkeit zur selben Erzähl- und Gedächtnisgemeinschaft, die sich aber über den Inhalt der Erinnerungserzählung - das plötzliche Auftauchen eines Zirkus-Lamas vor einem Fenster im Haus der Tante - nicht begründen lässt, da im ersten Buch von Landläufiger Tod von dieser Begebenheit nicht die Rede war. 164 Das vierte Nünning’sche Merkmal betrifft den schon im Hinblick auf gesellschaftlich-künstlerische Referenzrahmen besprochenen ,verrückten‘ Monologisten. 165 In ihrer Untersuchung dieser häufigen Form des unzuverlässigen Erzählers differenziert Gaby Allrath zwischen „Signalisierungsmöglichkeiten innerhalb der erzählten Welt [...], der Ebene der erzählerischen Vermittlung [...] [und] der Ebene der Gesamtstruktur des Textes“. 166 Auf der hier in erster Linie behandelten Ebene der erzählten Welt sind folgende Figurenmerkmale von Interesse: In ihren Beziehungen zur Außenwelt und in ihrer Kommunikationsfähigkeit mit ihren Mitmenschen erscheinen viele der Protagonisten als gestört; sie werden als einsam und abgekapselt lebend geschildert, fühlen sich als Außenseiter und sehnen sich nach Anerkennung. 167 Zum Teil fühlen sich diese Figuren „von ihrer Umwelt beobachtet“ und „zeichnen sich durch ein übersteigertes Selbstbild aus“. 168 Und natürlich spie- 163 Das häufiger als das Dorf-Wir von einer selbstdistanzierenden Form der Fremdbeschreibung (wie beim im ersten Kapitel erwähnten Landarzt aus Der Stille Ozean) unterbrochen wird: „Je länger ich hier bin, desto weniger ängstigen mich die Verrückten.“ (LT 129) 164 Die Einmaligkeit dieser Leseranrede verweist eigentlich eher darauf, dass es sich bei den Briefen um eine besondere Form von Tagebucheinträgen Lindners handelt. Übrigens spielen Kamele (Lamas sind eine Unterrasse), die von den russischen Besatzungstruppen zurückgelassen wurden (vgl. LT 478), eine Rolle bei der Gründung des Zirkus (vgl. LT 528-531). 165 Für diese Bezeichnung gilt wie für den unzuverlässigen Erzähler, dass sie keineswegs wertneutral oder objektiv ist, sondern vielmehr in einem außertextuellen gesellschaftlichen Bezugsrahmen eine negative Konnotierung aufweist. 166 Gaby Allrath: „But why will you say that I am mad? “ Textuelle Signale für die Ermittlung von unreliable narration. In: Nünning (Hg.): Unreliable Narration, S. 59-79, hier S. 60. 167 Ebenda, S. 62. 168 Ebenda, S. 63. <?page no="83"?> 2.1 Unzuverlässiges Erzählen 79 len auch spezifische Vorstellungen von ,Verrücktheit‘ eine Rolle: ,Verrückte‘ Monologisten können nicht zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden, leiden unter als Halluzinationen erkennbaren Sinneswahrnehmungen und fühlen sich in paranoider Weise von den anderen Figuren bedroht. [...] Die Wahrnehmung vieler epistemologisch defizitärer Erzähler wird als verschoben gekennzeichnet, sie glauben an eine Übersteigerung ihres Wahrnehmungsvermögens [...] [oder] bilden sich Sinneswahrnehmungen wie Gerüche oder Geräusche von Stimmen ein [...]. 169 Die von Allrath angesprochene Einschränkung der Kommunikationsfähigkeit drückt sich bei Lindner in seinem Schweigen aus, auf das weiter unten ausführlich eingegangen wird und das er an einer Stelle mit den von ihm gehörten „Stimmen“ erklärt: „(Nur schweige ich nicht freiwillig, sondern auf Geheiß der Stimmen.)“ (LT 132) Das Außenseitertum wird akzentuiert durch das Nichtabschicken der Briefe, das Nichtreden mit Besuch, durch die verbale und spatiale Abgrenzung von den anderen Anstaltsinsassen. Sich-beobachtet- Fühlen und Paranoia hingegen zeigen sich interessanterweise kaum in der Beschreibung des Anstaltslebens, sondern viel stärker in der Erzählung des ländlichen Raumes, in dem jeder über den und die Anderen alles weiß und nichts verborgen bleibt: „Bewegt sich etwas Ungewohntes auf dem Hof, auf der Straße, in der Wiese, auf den Äckern, fällt es uns sofort auf. [...] Jede Veränderung fassen wir als Grund zur Vorsicht auf“ (LT 63), vermerkt Lindner beispielsweise in einer Fußnote des Kapitels „Totenstill“. Die Aufhebung der Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit - wie auch die Frage der Translation von Trauminhalten in den Wachzustand - ist ebenfalls ein wichtiges Thema des Romans, besonders deutlich zu Beginn des „Märchenbuches“: „Heute nacht träumte ich, ich hätte ein Buch geschrieben, und als ich erwachte, fand ich es neben mir (im Bett). Ungläubig schlug ich es auf und las: “ (LT 615, vgl. auch „Traumlogik“: LT 507-512), worauf die 66 Märchen beginnen. Ein übersteigertes Selbstbild zeigt sich allein schon im weiter unten besprochenen und in den „Sieben nicht abgeschickten Briefen“ formulierten Plan, die Bibel neu zu schreiben. Es ist aus Platzgründen hier nicht möglich, alle über den gesamten Roman verstreuten Passagen aufzuzählen und zu besprechen, die dem Figurentypus des ,verrückten‘ Monologisten zugeordnet werden können. 170 Wichtiger ist 169 Ebenda, S. 64-65. 170 Dagmar Sims hat im Kontext ihrer Analyse von Dennis Cleg, der ,verrückten‘ Erzählerfigur von Patrick McGraths Spider, auch auf „Dennis’ merkwürdiges Verhältnis zum <?page no="84"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 80 hier vielmehr, dass man mit den Kategorien unzuverlässiger Erzähler und ,verrückter‘ Monologist die möglicherweise wichtigste Figur im gesamten Erzählkosmos Gerhard Roths, Franz Lindner, sehr gut in seiner erzähltechnischen Funktion verorten kann. Zusätzlich können bei einem Fokus auf diesen Figurentypus Parallelen Lindners zu anderen ,verrückten‘ Monologisten der Weltliteratur gezogen werden, wobei hier nur ein Beispiel angeführt werden soll. 171 Schon 1835 hat Nikolai Gogol in Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen den St. Petersburger Verwaltungsbeamten Aksenti Iwanowitsch Popristschin als ,verrückten‘ Monologisten konzipiert. Der Intertext zwischen Gerhard Roths und Gogols Ich-Erzähler wird neben den typischen Selbstüberschätzungen und Wahrnehmungsverschiebungen besonders deutlich im sechsten Buch von Landläufiger Tod, „Tagebuch“. Lindners Tagebucheinträge sind zunächst mit den Wochentagen betitelt, plötzlich aber finden sich ganz ungewöhnliche Datumsangaben: „China, 1. Dezember 6000“ (LT 766), „Japan, Sonnenuhrmonat, Fahnenjahr“ (LT 770) oder „23. Ewigkeit im Jahr des 7774211.689 Paradieses, 3 Uhr Sternzeit“ (LT 771). Solche Datumsangaben werden auch bei Gogol als Markierung für den Prozess des fortschreitenden ,Wahnsinns‘ bei Popristschin verwendet: „Am 43. Tag des Aprils im Jahr 2000“ 172 , „Niemandstag. Der Tag hat kein Datum“ 173 oder „Dse 34 Mt Jrs. Februar 349“ 174 . menschlichen Körper und zur Sexualität im besonderen“ hingewiesen. In: Dagmar Sims: Die Darstellung grotesker Welten aus der Perspektive verrückter Monologisten: Analyse erzählerischer und mentalstilistischer Merkmale des Erzählertypus mad monologist bei Edgar Allan Poe, Patrick McGrath, Ambrose Bierce und James Hogg. In: Nünning (Hg.): Unreliable Narration, S. 109-129, hier S. 114-115. Lindners Sexualität und sein Transvestismus könnten also - ohne dass an dieser Stelle ausführlicher darauf eingegangen werden kann - ebenfalls als Merkmale ,verrückter‘ Monologisten klassifiziert werden. [Vgl. dazu „Das Versteckspiel“, LT 336-338; die Illustration zum sechsten Buch „Tagebuch“, LT S. 763, sowie die diesbezüglichen Passagen auf LT 773-776, 778-779 („Ich finde es schön, eine Frau zu sein. Die ganze Erde ist eine Frau.“, LT 779) und 781-782.] 171 Diese Spezifizierung ist nicht zu verwechseln mit der nicht auf erzähltechnische Fragen fokussierten Thematik des Wahnsinns als von Werner Reinhart so bezeichnetes „welt- und nationalliterarisches Motiv“, zu dem er feststellt: „Bei aller Unterschiedlichkeit verschiedener Gesellschaftssysteme und der sie tragenden Weltdeutungen, schält sich zumindest in der abendländischen Tradition die Faszinationskraft des Wahnsinns als Konstante heraus.“ Werner Reinhart: Literarischer Wahn. Studien zum Irrsinnsmotiv in der amerikanischen Erzählliteratur 1821-1850. Tübingen: Gunter Narr 1997 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 31). S. 8. 172 Nikolai Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen. In: ders.: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen. Erzählungen. Frankfurt/ Main, Leipzig: Insel 1993 (insel tb 1513). S. 9- 40, hier S. 31. <?page no="85"?> 2.1 Unzuverlässiges Erzählen 81 Weiters und mit dem Beispiel der Datumsangaben in Zusammenhang stehend können ausgehend von der Forschungsliteratur zu ,verrückten‘ Monologisten so schwer interpretierbare Abschnitte von Landläufiger Tod wie die aus experimentellen Einzelsätzen bestehenden Kapitel „Die Schöpfung“ (LT 136-145), „Das gefrorene Paradies“ (LT 146-149) und „Das Alter der Zeit“ (LT 150-191) unter dem Aspekt des für ,verrrückte‘ Monologisten auf der Ebene der Erzählerrede typischen Mentalstils untersucht werden. 175 Reingard M. Nischik fasst Mentalstil „nicht als ein autorenpsychologisches Phänomen, sondern als ein[en] Aspekt der Ästhetik eines literarischen Werkes auf [...], als ein künstlerisches Mittel zur indirekten Figurencharakterisierung.“ 176 Für die Lektüre der Einzelsätze und ähnlicher Passagen heißt das also: „those texts or passages will most probably be marked by mind style which by content and narrative technique display the inner worlds of the characters, or refer to their perceptions, thoughts and emotions.“ 177 Aus dieser Perspektive kann das gesamte zweite Buch „Berichte aus dem Labyrinth“ - nicht nur „Sieben nicht abgeschickte Briefe“ - als Äquivalent zum ersten Buch gelesen werden: Diente „Dunkle Erinnerung“ der Einführung in die Außenwelt, so erfüllt „Berichte aus dem Labyrinth“ die Funktion einer Einführung in die Innenwelt (der Erzählerfigur) und die damit zusammenhängende spezifische Form der Wahrnehmung/ Vermittlung der Außenwelt. So ist Lindners Bemerkung zu Beginn des ersten Briefes: „daß ich sozusagen nicht mehr außen bin, sondern innen.“ (LT 129), auch zu verstehen. Trotzdem aber sollten diese Abschnitte von Landläufiger Tod ebenso auf ihren Bezug zur innerliterarischen Außenwelt gelesen werden, denn W. G. Sebald schreibt, daß diese „Denk- und Votivsprüche [...], obschon sie jeder Teleologie widersprechen, doch die besten aller Wegweiser sind in dem unentdeckten Land, das Roth in seinem großen Heimatroman vor uns ausbreitet.“ 178 Genauso wichtig ist schließlich der Bezug zur außerliterarischen Welt: 173 Ebenda, S. 34. 174 Ebenda, S. 39. 175 Vgl. dazu Dagmar Sims: Die Darstellung grotesker Welten aus der Perspektive verrückter Monologisten, vor allem S. 109-111. 176 Reingard M. Nischik: Mentalstilistik. Ein Beitrag zu Stiltheorie und Narrativik. Dargestellt am Erzählwerk Margaret Atwoods. Tübingen: Narr 1991. S. 15. 177 Reingard M. Nischik: Mind Style Analysis and the Narrative Modes for the Presentation of Consciousness. In: Herbert Foltinek, Wolfgang Riehle und Waldemar Zacharasiewicz (Hg.): Tales and „their telling difference“. Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel. Heidelberg: Winter 1993. S. 93-107, hier S. 96. 178 Sebald: In einer wildfremden Gegend, S. 167. <?page no="86"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 82 Viele dieser Grund-sätze sind trotz ihrer hermetischen Konstruktion von beträchtlicher Suggestionskraft, und oft kommt es einem vor, als ließe sich, verstünde man nur, was da gesagt wird, aus jedem von ihnen ein neues Weltbild, wo nicht gar eine neue Welt entwickeln [...]. 179 Das fünfte Merkmal Nünnings bezieht sich auf die Diskrepanz zwischen Angaben des Erzählers und einer weiteren Version des Geschehens sowie der sich daraus ergebenden „fortschreitenden unfreiwilligen Selbstentlarvung des Erzählers“, 180 wobei vor allem „der Zusammenhang zwischen expliziten Fremdkommentaren und impliziter Selbstcharakterisierung bzw. Selbstentlarvung von besonderer Bedeutung ist.“ 181 Als paradigmatisches Beispiel für eine solche Diskrepanz sensu Nünning sollen hier die verschiedenen Versionen zur Ursache für Lindners Krankheit und somit zum Aufenthalt in der Anstalt miteinander konfrontiert werden. Auf eine Interpretation der einzelnen Angaben wird verzichtet, da es hier um die Demonstration eines Erzählprinzips geht. Zum Fallbeispiel sei nur festgestellt, dass es tatsächlich in all diesen widersprüchlichen Aussagen um die Frage von Lindners ,Verrücktheit‘ und damit Unzuverlässigkeit geht. Folgende Passagen beschäftigen sich also mehr oder weniger direkt mit diesem Thema: • „Ich bin freiwillig in die Anstalt gegangen, in der Hoffnung, den Stimmen zu entkommen.“ (LT 129) • „Hierher kommt jeder, der durch seinen Geist schuldig geworden ist.“ (LT 129) • „Es ist nicht das Schicksal des Doktors [Aschers, der Selbstmord begangen hat; G. L.], das mich krank gemacht hat, vielmehr hat es die Stimmen in meinem Kopf zum Verstummen gebracht.“ (LT 131) • „Es ist nicht wahr, wie angenommen wird, daß man mich in das Irrenhaus brachte, weil ich eine Gruppe Jäger bedrohte, die auf einer Treibjagd einen Acker vor unserem Haus überquerte. [...] Es handelte sich um unwiderrufliche Befehle [der Stimmen; G. L.], und weil ich mich diesen widersetzte, befnde ich mich in der Anstalt.“ (LT 132) • „Und nicht zuletzt hindert mich etwas Unbestimmtes daran, über meine Einweisung nachzudenken.“ (LT 134) 179 Ebenda, S. 166. 180 Nünning: Unreliable Narration zur Einführung, S. 6. 181 Ebenda, S. 18. <?page no="87"?> 2.1 Unzuverlässiges Erzählen 83 Der hier anhand eines überschaubaren Text-Raumes dargestellte Verlauf der impliziten Selbstcharakterisierungen (oder fortschreitenden Selbstentlarvungen) Lindners im Kontext der Ursachen seines Anstaltsaufenthaltes wird an späterer Stelle fortgeschrieben. Die Jäger-Episode wird im „Mikrokosmos“- Text „Tollwut“ (LT 302-304) indirekt bestätigt, 182 aber ein expliziter Fremdkommentar zu den fiktiven Fakten ist im von einer Erzählerfigur verfassten Landläufigen Tod natürlich nicht möglich. 183 Im Folgeband Am Abgrund hingegen sind mehrere gleichrangige Erzählerfiguren vorhanden, neben Franz Lindner treten Alois Jenner sowie eine nicht-personalisierte Erzählinstanz mit Fokalisierung auf den Untersuchungsrichter Sonnenberg auf. Vor allem die Alois Jenner zugeschriebenen Passagen enthalten eine Reihe von neuen oder anderen Blickwinkeln auf Landläufiger Tod. Im zweiten Kapitel von Am Abgrund, „Alois Jenner: Notizen“, erinnert sich Jenner im Zuge einer „Ideenflucht“ (AA 81) während einer Vorlesung an Lindners Einlieferung in die Anstalt. Lindner habe „einen Warnschuß auf treibende Jäger abgegeben“, dann „begonnen, singend Holz zu hacken“, womit er die ganze Nacht hindurch und ohne auf die Beruhigungsversuche seines Vaters zu reagieren fortgefahren wäre. Geendet habe die Angelegenheit damit, dass „er in das Tabakmagazin des Nachbarn geklettert [war], von wo er Steine auf die Gendarmen geworfen hatte. Erst die Androhung, die Feuerwehr werde ihn mit dem Schlauch herunterspritzen, veranlaßte ihn aufzugeben.“ (AA 81) Obwohl nun diese Version des fiktiven Geschehens äußerst plausibel wirkt und sich teilweise mit Lindners Aussagen deckt, ist Vorsicht geboten, denn: „Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß jede explizite Selbst- und Fremdcharakterisierung immer auch eine implizite Selbstcharakterisierung des Erzählers ist, was diesem freilich in der Regel nicht bewußt ist.“ 184 Jenners Kommentare zu Lindner in Am Abgrund sagen also vor allem „über dessen 182 Und zwar durch die Bemerkung Lindners dass „[s]eit meinem Aufenthalt in der Anstalt [...] mein Gewehr verschwunden [ist], ich bin mir allerdings darüber im klaren, daß es mein Vater versteckt oder verschenkt hat.“ (LT 302) In einem Tagebucheintrag des sechsten Buches schließlich beschreibt Lindner, wie er auf einen Krähenschwarm schießen wollte: „Ich war außer mir und suchte das Gewehr. Schließlich fand ich es in der aufklappbaren Küchenbank. Ich traf eine der Krähen. Mein Vater kam aus dem Keller gestürzt. Da begriff ich sein Entsetzen.“ (LT 766) 183 Weiter unten wird darauf eingegangen, dass eine fiktive Herausgeberschaft Lindners in Bezug auf einige Passagen, die keinen personalisierten Ich-Erzähler aufweisen, argumentiert werden kann. 184 Nünning: Unreliable Narration, S. 18. <?page no="88"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 84 eigenes Selbstverständnis und Werte- und Normensystem“ 185 und über sein Verhältnis zu Lindner etwas aus. Wobei es ein Teil von Roths potentiell unendlichem Verwirrspiel ist, dass diese beiden (Erzähler-)Figuren in Am Abgrund bisweilen ineinander überzugehen scheinen und es denkbar ist, dass Lindner (oder Jenner) alle Teile dieses vierten Zyklusbandes verfasst hat. Jenners kurz vor seinen Erläuterungen zu Lindners Einlieferung geäußerte Frage wird in diesem Zusammenhang verständlicher: „Die Vergangenheit als Bilderrätsel mit der Lösung: Bin das ich? “ (AA 81) Es versteht sich von selbst, dass in so einem Erzählspiel Jenner ebenfalls als unzuverlässiger Erzähler gelesen werden kann/ muss. Aus den genannten Signalen für die Unzuverlässigkeit des Erzählers Franz Lindner ergeben sich nun weitreichende Konsequenzen für die Analyse von Landläufiger Tod: Weniger wichtig als die - letztlich auf eine representational fallacy hinauslaufende - Frage, was sich ,wirklich‘ auf der Ebene der Figuren ereignet hat, ist die Einsicht, daß alle Äußerungen eines unglaubwürdigen Erzählers Aufschluß geben über dessen subjektiv gefärbte Sichtweise und oftmals verzerrte Einschätzung. 186 Gerade eine kulturwissenschaftliche, auf Gedächtnis und Erinnerung abzielende und von Intensivlektüren einzelner Passagen, Narrative, Figuren und Schauplätze von Landläufiger Tod abhebende Zyklusanalyse muss sich dieses Grundproblems immer bewusst sein. Es besteht die aufgrund der unzuverlässigen Erzählerfigur naheliegende Möglichkeit, alle Texte von „Mikrokosmos“, alle Beschreibungen des Dorflebens, der Dorfgeschichte, der Dorfakteure und so weiter als implizite Selbstcharakterisierungen Lindners, das heißt als unzuverlässig beziehungsweise unglaubwürdig zu lesen und somit die Anschlussfähigkeit der Texte an die außerliterarische Wirklichkeit zu relativieren. Man könnte also die Vergangenheitserzählungen im Hinblick auf Lindners Verrücktheit interpretieren, wodurch eine Untersuchung der Implikationen der Vergangenheitserzählungen selbst ,verrückt‘ oder unzuverlässig erscheinen könnte. Andererseits kann die Problematisierung von Lindners Erinnerung an ein Ereignis des eigenen Lebens wie die Einweisung in die Anstalt auf den gesamten Roman übertragen werden. Aus einer solchen Perspektive ordnet Astrid 185 Ebenda. 186 Ebenda. <?page no="89"?> 2.1 Unzuverlässiges Erzählen 85 Erll unzuverlässiges Erzählen dem reflexiven Modus der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses zu. 187 Kurz zusammengefasst bestimmen diesen Modus Darstellungsverfahren, die den literarischen Text zu einem Medium der Beobachtung zweiter Ordnung werden lassen. Im reflexiven Modus werden Funktionsweisen und Probleme des kollektiven Gedächtnisses inszeniert. Er ermöglicht der Leserschaft, an einer distanzierten Betrachtung von Erinnerungskulturen teilzuhaben. 188 Lindners (schizophrene) Unzuverlässigkeit ist also gleichzeitig ein postmoderner Spiegel für die Unzuverlässigkeit von Erinnerungserzählungen und Gedächtnisnarrativen. Wichtig hierbei ist nun aber, dass „[d]as, was erinnert/ erzählt wird, [...] an in außertextuellen Erinnerungskulturen vorhandene Gedächtnisinhalte anschließbar sein oder zumindest plausibel erscheinen [muss], um gedächtnisbildende Wirkung zu entfalten.“ 189 Nur weil diese Anschließbarkeit an vielen Stellen von Landläufiger Tod gewährleistet ist, kann der Roman auch ein gedächtnisbildendes Potential entfalten, ist der reflexive Modus nur einer von mehreren applizierten Modi und wird eine auf die unzuverlässige Erzählerfigur reduzierende Interpretation dem Roman nicht gerecht. Schließlich soll ein weiterer Aspekt erwähnt werden, der für Gerhard Roths Werk wichtig ist und der der Kategorie des unzuverlässigen Erzählers oder ,verrückten‘ Monologisten eine andere Semantik verleiht, als bisher besprochen. Für Roth ist der Wahnsinn nämlich auch ein Okular, das einen zuverlässigen Blick auf die Wirklichkeit bietet. Der Wahnsinnige ist zwar ein aus narratologischer Perspektive unzuverlässiger Erzähler, tatsächlich ist aber bei Roth eine sekundäre Zuverlässigkeit im Spiel. Über die Außenseiterposition, die im folgenden Abschnitt im Kontext der Figur des Dritten besprochen wird, gelingt Franz Lindner eine besonders gültige Analyse des Geschehens, über die Außenseiterposition ist er nicht involviert, wird er nicht wie die anderen schuldig. Letztendlich ist also das Verrücktwerden und Eingeliefertwerden in eine psychiatrische Klinik die Bestätigung einer besonderen Zuverlässigkeit und Feinfühligkeit bei der Wahrnehmung von Welt. Das gilt genauso für den Selbstmord, den der Arzt Ascher begeht. Wahnsinn und 187 Zerweck argumentiert ähnlich, nur in Bezug auf einen literarischen Bezugsrahmen: Es „kann jedoch im Fall einer Naturalisierung auf der Basis von literary frames unreliable narration auch als metafiktionales Spiel aufgefaßt werden.“ Zerweck: Der cognitive turn in der Erzähltheorie, S. 236-237. 188 Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 189. 189 Ebenda, S. 187. <?page no="90"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 86 Selbstmord als Ausdruck von Zuverlässigkeit, als einzig gültige Modelle für die Auseinandersetzung mit dem so genannten ,normalen‘ Leben sind übrigens nicht nur bei Gerhard Roth von großer Wichtigkeit. In seiner Erzählung Gehen (1971) hat Thomas Bernhard eine sehr ähnliche Position angeführt, als er die Figur Karrer ,verrückt‘ werden und in Steinhof internieren ließ. Oehler, der mit Karrer immer die Klosterneuburger Straße im 20. Wiener Gemeindebezirk philosophierend entlanggegangen war, stellt über seinen ehemaligen Weg-Gefährten fest: Von einem Augenblick auf den anderen überhaupt nichts mehr akzeptieren, heißt Verstand haben, keinen Menschen und keine Sache, kein System und naturgemäß auch keinen Gedanken, ganz einfach nichts mehr und sich in dieser tatsächlich einzigen revolutionären Erkenntnis umbringen. Aber so zu denken, führt unweigerlich zu plötzlicher Geistesverrücktheit, sagt Oehler, wie wir wissen und was Karrer mit plötzlicher totaler Verrücktheit hat bezahlen müssen. 190 Trotz dieser wesentlichen Bedeutungsebene des ,Verrücktseins‘ als Zuverlässigkeitsindikator in seinem Werk und in der österreichischen Literatur hat Gerhard Roth das Risiko, missinterpretiert zu werden, indem die Vergangenheitserzählungen in Landläufiger Tod als Eskapaden eines ,verrückten‘ Monologisten abgetan werden, mit einer Strategie auf Zyklusebene zu minimieren versucht. Das Einziehen eines „Fundaments der Wirklichkeit“, 191 wie Gerhard Roth den Foto-Text-Band Im tiefen Österreich beziehungsweise alle drei quasi-dokumentarischen Teile bezeichnet hat, 192 erfüllt nicht nur die Konkretisierung des Wirklichkeitsbezugs des Zyklus, sondern stellt auch einen Gegenpol zu seiner ,verrückten‘ Seite und „anarchischen Maxime“, 193 zu den vorgeblich unzuverlässigen Erzählerfiguren und Figurenperspektiven der Archive des Schweigens dar. 190 Thomas Bernhard: Gehen. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1971 (stb 5). S. 13. 191 Gerhard Roth: Eine Expedition ins tiefe Österreich. Über meine Fotografie. In: Wittstock: Materialien, S. 23-32, hier S. 32. 192 Vgl. dazu Gerhard Roth: „Ich bin zum Ziel gekommen, indem ich gescheitert bin.“ Gespräch mit Carna Zacharias. In: ders.: Das doppelköpfige Österreich, S. 220-227, hier S. 222. 193 Anz: Gesund oder krank, S. 189. <?page no="91"?> 2.2 Schweigen - Denken - Schreiben 87 2.2 Schweigen - Denken - Schreiben Die im Zyklus und insbesondere in „Sieben nicht abgeschickte Briefe aus dem Irrenhaus“ von Franz Lindner und anderen Figuren zu seinem Schweigen und dessen Ursachen gemachten Aussagen folgen dem gleichen Prinzip eines Erzählens in Widersprüchen, wie es oben am Beispiel der Angaben zum Aufenthalt in der Anstalt dargelegt wurde. 194 Unabhängig nun von der Lesbarkeit dieser Sätze als Unzuverlässigkeitsindikatoren ließe sich aber mit Blick auf das Insgesamt der Aussagen feststellen, dass Lindner aus (literar)medizinischer Sicht sprechen kann, 195 dies aber eine Zeitlang gar nicht und dann nur selten tut. 196 Im Folgenden werden nun einige narratologische und philosophische Aspekte dieses (intentionalen) Schweigens der Erzählerfigur besprochen. Ein wesentlicher erzähltechnischer Aspekt des Schweigens ist, dass es Lindner in gewisser Weise in die Position des „Dritten“ rückt, wie ihn Michail Bachtin nennt. Aus dieser Position ist es möglich, „die Alltagsgeheimnisse des privaten Lebens, aus denen sich die Natur des Menschen ablesen läßt, d. h. [...] alles das, was man nur heimlich beobachten und belauschen kann“, 197 zu erforschen. Als Figuren, die diese Position einnehmen können, nennt Bachtin Schelme, Abenteurer, Vagabunden, Diener, Prostituierte und Kurtisanen, Kupplerinnen, Wucherer, Notare und Ärzte. In seinen Überlegungen zur Figur des „Dritten“ verweist Bachtin unter anderem auf Tobias Smolletts 194 Zum Beispiel: „Ich spreche daher mit keinem Besuch.“ (LT 129); „Unsere Unterhaltung dreht sich zumeist um Belangloses.“ (LT 130); „(Nur schweige ich nicht freiwillig, sondern auf Geheiß der Stimmen.)“ (LT 132) 195 In der Verfilmung von Landläufiger Tod sagt der Arzt Ascher auf die Aussage von Lindners Vater, sein Sohn sei stumm: „Ja, ich weiß. Er spricht nicht.“ (Landläufiger Tod. Teil 1: Mikrokosmos. ORF/ WDR 1991. Regie: Michael Schottenberg. Buch: Gerhard Roth. Mitarbeit: Michael Schottenberg. 10: 38-10: 54.) Im Roman hingegen lautet der Dialog: „,Mein Sohn ist stumm.‘ ,Ich weiß‘, antwortete der Doktor.“ (LT 111-112) Dass mit dieser Stummheit aber etwas nicht stimmen könnte, wird auf eine komplexere Weise transportiert: Lindner und der Leser erfahren die ärztliche Diagnose nicht, da sie Ascher Lindners Vater ins Ohr flüstert. (Vgl. LT 113-114) 196 Die erste Stelle in Landläufiger Tod, an der es - abgesehen von der immer aktualisierbaren Unzuverlässigkeit des Erzählers - eindeutig ist, dass Lindner spricht und mit „Unterhaltung“ oder „Gespräch“ nicht nur das Schreiben von Zetteln meinen kann, findet sich erst im sechsten Buch „Tagebuch“, in dem Lindner in der Anstalt anruft: „Man fragte mich nach meinem Namen, aber ich gab einen falschen an. Ich sei Arzt, erklärte ich und wünschte mich nach dem Zustand eines meiner Patienten, Franz Lindner, zu erkundigen.“ (LT 775) 197 Bachtin: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, S. 54. <?page no="92"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 88 Roman Peregrine Pickle (1751), in dem der vorgeblich taube Cadwallader auftritt, „in dessen Gegenwart [...] sich niemand scheut, über alles zu sprechen; später erweist es sich dann, daß Cadwallader [...] sich nur die Maske der Taubheit angelegt hat, um die Geheimnisse des Privatlebens belauschen zu können.“ 198 Es liegt nahe, hier eine Analogie zwischen Cadwallader und Lindner zu ziehen, dessen „Maske“ der Stummheit eine ganz ähnliche Funktion erfüllen kann. Eine Differenz zum Dritten Bachtin’scher Definition besteht allerdings darin, dass Lindner von den Erinnernden, zum Beispiel von der Tante, meist direkt angesprochen wird 199 und nicht nur mitanhört, worüber andere miteinander sprechen. Außerdem erzählt ihm die Tante - man denke an den „Spion“ im Dorf 200 - nicht alles. Wie im Übrigen auch sein Vater nicht, welcher sich während seines Gesprächs mit dem „Brandstifter“ (LT 225-227), der laut eigenen Angaben „nach Kriegsende das Haus des Bürgermeisters angezündet“ (LT 226) hat, immer schneller von Lindner wegbewegt, „worauf ich stehenblieb, und sie zu laufen begannen und sich mehrfach nach mir umblickend den Hügelkamm erreichten, hinter dem sie dann wie hinter einer Welle verschwanden.“ (LT 227) 201 Ein weiterer erzähltechnischer Aspekt des Schweigens der Erzählerfigur ist die Unfähigkeit Lindners, 202 direkt Fragen zu stellen und so in den meist monologisierenden Erzählfluss anderer Figuren einzugreifen. Das hat den Nachteil, dass Lindner bei unklaren Aussagen nicht nachfragen kann und so eine Erinnerungserzählung stärker lenken und das vielleicht auch auf der anderen Seite vorhandene (partielle) Schweigen durchbrechen kann. So deutlich, wie Lindner es formuliert, der seinem Vater „jede Antwort“ (AA 17) verweigert, reagiert also keine andere Figur im Zyklus. Andererseits wird aber auf der Rezipientenseite das Gefühl, direkt mit einer authentischen, nicht von einer Mittlerinstanz manipulierten oder gar verhörten Stimme konfrontiert zu sein, 198 Ebenda, S. 57. 199 Man erinnere sich: „Aber, da Du gezwungen bist zu schweigen, ist mir wohl bei der Vorstellung, einen verständigen Menschen zu finden, der mir zuhört.“ (LT 78) 200 Diesen belauscht Lindner zuerst, als er dem Rhinozeros ins Ohr flüstert, dann aber: „Als ob er mein Erscheinen nicht bemerkt hätte, fährt er mit seiner Geschichte fort und stellt fest: [...].“ (LT 466). 201 Vgl. zu dieser Thematik auch Konzeption, Programm und Veröffentlichungen des Konstanzer Graduiertenkollegs „Die Figur des Dritten“: http: / / www.unikonstanz.de/ figur3/ progorg.htm [Einges. 10. Juli 2008]. 202 Außer über die im für den Gedächtnisaspekt zentralen Buch „Mikrokosmos“ kaum verwendeten Zettel. <?page no="93"?> 2.2 Schweigen - Denken - Schreiben 89 verstärkt - auch wenn natürlich diese Mittlerinstanz immer implizit oder über kommentierende Rahmungen, Einschübe oder Fußnoten präsent ist. Neben diesen erzähltechnischen, für Darstellungsmöglichkeiten des Romans wichtigen Aspekten ist Lindners Schweigen auch philosophisch kontextualisierbar. Schweigen geht einher mit - der so häufig im gesamten Zyklus erwähnten - Stille. 203 In seinem schmalen Buch Zur Sache des Denkens verschränkt Martin Heidegger in dem Kapitel „Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens“ die Stille mit dem Denken, ausgehend von folgenden Zeilen des Parmenides: „du sollst aber alles erfahren: / sowohl der Unverborgenheit, der gutgerundeten,/ nichtzitterndes Herz/ als auch der Sterblichen Dafürhalten, dem fehlt das/ Vertrauenkönnen auf Unverborgenes.“ 204 Das Unverborgene ist für Heidegger mit dem in diesem Kapitel zentralen Konzept der Lichtung verbunden, die für ihn für das „freie Offene“ 205 des Denkens und somit die Möglichkeit zur Anwesenheit steht: Der sinnende Mann soll das nichtzitternde Herz der Unverborgenheit erfahren. Was meint das Wort vom nichtzitternden Herzen der Unverborgenheit? Es meint sie selbst in ihrem Eigensten, meint den Ort der Stille, der in sich versammelt, was erst Unverborgenes gewährt. Das ist die Lichtung des Offenen. 206 Die stille Lichtung ist also in diesen Passagen der entscheidende Ort des Denkens: „Das ruhige Herz der Lichtung ist der Ort der Stille, aus dem her es dergleichen wie die Möglichkeit des Zusammengehörens von Sein und Denken, d. h. Anwesenheit und Vernehmen erst gibt.“ 207 Hannah Arendt hat diesen Text Heideggers so verstanden, dass es das Erstaunen über die Welt und die kleinsten Dinge ist, welches in der Lichtung erfahrbar wird, und „daß die Abgeschirmtheit gegen alle Geräusche, auch das Geräusch der eigenen Stimme, zur unerläßlichen Bedingung dafür wird, daß sich aus dem Erstaunen ein Denken entfalten kann.“ 208 Heidegger und Arendt folgend ist es also möglich, das Schweigen Franz Lindners als conditio sine qua non für das/ sein Denken 203 Zum Zusammenhang von Raum, Stille und Gedächtnis siehe das Kapitel „Die Vergessenen“. 204 Zit. nach Martin Heidegger: Zur Sache des Denkens. Tübingen: Max Niemeyer 1988. S. 74. 205 Ebenda, S. 73. 206 Ebenda, S. 75. 207 Ebenda, S. 75. 208 Hannah Arendt: Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt. In: dies.: Menschen in finsteren Zeiten. Hg. v. Ursula Ludz. München, Zürich: Piper 1989. S. 172-184, hier S. 180. <?page no="94"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 90 zu verstehen, das räumlich getrennt von den Geschehnissen der Welt, wie beispielsweise in Feldhof, eine Erinnerung an diese ist. Gleichzeitig ist Lindners Schweigen aber auch aktiv, es ist gewissermaßen ein Anschweigen, ein nonverbaler semantischer Code, wie im fünften nicht abgeschickten Brief aus der psychiatrischen Klinik thematisiert: „Das Schweigen ist die anstrengendste Geistestätigkeit, die unwiderlegbare Antwort, und so widersinnig es klingt, es ist ein Sprechen.“ (LT 132) Doch so anstrengend das Schweigen ist, so leicht scheint bisweilen dadurch der nicht kanalisierte Gedankenfluss Lindners in Gang zu geraten, die Grenzen zwischen fiktivem Realen und Imaginären, zwischen Wachsein, Halbschlaf und Traum, zwischen Phantasie und Schizophrenie wegspülend: „Mit geschlossenen Augen dazuliegen und mich den Gedankenströmen zu überlassen. Worten, die wie Leuchtkäfer auftauchen und Zirkuskunststücke machen.“ (LT 263) Das aus dem Schweigen erwachsende Denken ist also Weltflucht und kritischdistanzierte Weltzuwendung (mittels Weltabkehr) in einem, es hat eine nichtdiskursive wie eine analytische Ausprägung und ist für Lindners Identitätskonstruktion zentral, wie an folgendem Text an einen Anstaltsarzt mit dem Titel „Die Krankheit im Geiste“ (LT 569-573) ablesbar ist: Sehen Sie, Sie liefern sich, was Ihr Denken betrifft, wie ein Schwimmer im Fluß der herrschenden Strömung aus [...]. Ich hingegen versuche selbst zu denken. Ich springe nicht in Flüsse [...], wenn es sich vermeiden läßt. Sie werden verstehen, daß mein Vorhaben schwierig und mit Schmerzen verbunden ist. Denn während Sie sich in Sicherheit befinden, da Sie erprobte Wege beschreiten, droht mir Stillstand und Einsamkeit. Was ich am deutlichsten festgestellt habe, ist der Umstand, daß ich nicht der sein darf, der ich bin. Ich darf weder meine Gedanken aussprechen, noch sehen, was zu sehen ist und schon gar nicht die Schlüsse ziehen, die mir aufgrund meiner Erfahrung richtig erscheinen. (Genaugenommen verbietet man mir nicht meine Gedanken, die Schwierigkeiten sind erst mit dem Aussprechen verbunden.) (LT 570) Aus Lindners Schweigen ergibt sich sein Denken, das ihn wiederum zum Schweigen zwingt. Einen Ausweg aus diesem Teufelskreis scheint nur der Medienwechsel vom Sprechen und der direkten Kommunikation hin zum Schreiben und einer zeitversetzten, verschobenen (potentiell auch niemals stattfindenden) Kommunikation (mit einem fiktiven und kaum direkt adressierten Leser), die tatsächlich Erkenntnis und nicht Verdrängung, tatsächlich Denken = Erinnern und nicht Vergessen hervorbringen soll. Übrigens wurde in der Forschungsliteratur zum Schweigen dieses auch als Abkehr vom Denken der Selbstvergegenwärtigung im Sprechakt, also vom <?page no="95"?> 2.2 Schweigen - Denken - Schreiben 91 Phono-/ Logozentrismus im Jacques Derrida’schen Sinn als Privilegierung der Sprache vor der Schrift in der abendländischen Metaphysik gelesen. Allerdings sollte Derridas Phono-/ Logozentrismuskritik nicht als Gegenbewegung hin zu einer Privilegierung der Schrift vor der Sprache gelesen werden, weshalb sie mit dem Schweigen von Franz Lindner kaum in einen Sinnzusammenhang gebracht werden kann. 209 Eine Deutung des Schweigens unter dem Schlagwort „Sprachkritik/ verlust“ unternimmt Robert Halsall in einem „Language and Silence“ betitelten Aufsatz zum Zyklus: In the overall scheme of Die Archive des Schweigens the silence of the title is, in Roth’s terms, above all intended as a critique of language. [...] The individuals of Landläufiger Tod appear to have lost the ability to express themselves through language and thus resort to aggression against themselves and others. 210 Halsall setzt im Folgenden Thesen aus Erwin Ringels populärem Die österreichische Seele (1984) in Bezug zu Roths Zyklus. So entstehe laut Ringel aus dem spezifisch österreichischen Verdrängen der Vergangenheit eine weite Verbreitung von Neurosen, die Roth wiederum in einem neurotischen oder schizophrenen Benehmen seiner Figuren darstelle. Weiters deduziere Ringel eine Phrasenhaftigkeit der Sprache, auf die Roth mit einer Privilegierung der „inner language“ 211 Franz Lindners reagiere. Mag Halsalls Verknüpfung von Ringels - mittlerweile selbst zu Stereotypen des österreichkritischen Diskurses der 1980er Jahre gewordenen - Thesen mit manchen Aspekten des Schweigens im Zyklus vertretbar sein, so trüben einige Fehleinschätzungen seine gesamte Argumentation: „history is only in the background in the early volumes of the cycle“ 212 schreibt er, Bezug nehmend auf Der Stille Ozean und Landläufiger Tod, und an anderer Stelle heißt es: „The cycle itself is, however, not specifically concerned with the Nazi era; the action of the cycle takes place 209 Vgl. dazu die beiden Arbeiten von Stephan Krammer: „redet nicht vom Schweigen …“ Zu einer Semiotik des Schweigens im dramatischen Werk Thomas Bernhards. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003 (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 436); Semiotik des Schweigens oder der Abschied vom Logozentrismus. In: Moderne Sprachen 46/ 2 (2002), S. 152-168. 210 Robert Halsall: Language and Silence. Gerhard Roth’s Die Archive des Schweigens. In: Arthur Williams (u. a.) (Hg.): ,Whose story? ‘ Continuities in contemporary Germanlanguage literature. Bern (u.a.): Lang 1998. S. 133-147, hier S. 134. 211 Ebenda, S. 138. 212 Ebenda, S. 141 <?page no="96"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 92 predominantly in the present.“ 213 Das hier von Halsall meines Erachtens zu einseitig gezeichnete Bild können die close readings des dritten Teiles dieser Arbeit ausdifferenzieren. Unabhängig nun, ob man die in den beiden obigen Absätzen beschriebenen Blickwinkel für valid erachtet, erscheint in deren Kontext der Satz des Zirkusdirektors, der Lindner diskreditieren soll, sehr wohl zutreffend: „Dieser Herr ist ein Philosoph und schreibt Traktate.‘“ (LT 26) Mit den ihn umgebenden Personen scheint Lindner nun ein philosophischer Diskurs, eine Bewegung hin zu Erkenntnis und Erinnerung und weg von Vergessen und Verdrängung nicht möglich zu sein: „Was Sie in Wirklichkeit suchen, ist nicht die Erkenntnis, sondern das Vergessen. Sie sind ein Meister des Vergessens“ (LT 571), teilt er dem Anstaltsarzt mit. Besonders dominant ist intellektuell unselbstständiges, antiepistemologisches, besitz- und gewinnorientiertes Denken für Lindner in seinem Dorf: Das Geistesleben ist hier so stumpf, die Feindlichkeit allem Geistigen gegenüber so groß, der Widerstand gegen ein Denken, das nichts mit dem persönlichen Vorteil zu tun hat, so ermüdend, daß der Rückzug in den eigenen Kopf, das eigene Gehirn der einzig mögliche Ausweg ist, sich vor Selbstmordgedanken zu schützen. (LT 330) Sowohl der Anstaltsarzt als auch die Dorfbewohner sind „Meister des Vergessens“, weil sie ihr Denken nur in vorformatierten Bahnen verlaufen lassen und es, im Gegensatz zu Lindner beziehungsweise zu und im Kontext von Lindners Selbstinszenierung, von ihrer Erfahrung oder ihrem Wissen zu trennen suchen. Der Psychoanalytiker Mario Erdheim hat in seinem Aufsatz „,I hab manchmal furchtbare Träume ... Man vergißts Gott sei Dank immer glei ...‘ (Herr Karl)“ dieses von Lindner diagnostizierte Denken im Kontext einer „Kultur des Vergessens“ verortet: Kulturen, deren Gedächtnis all das abstoßen muß, was ihrem herrschenden Selbstverständnis zuwiderläuft, haben auch eine eigenartige, mißtrauische Vorstellung von dem, was Bewußtsein und Denken sind, und werden infolgedessen den Intellektuellen nur mit größten Vorbehalten begegnen. 214 213 Ebenda, S. 135 214 Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume ... Man vergißts Gott sei Dank immer glei ...“ (Herr Karl). In: Ziegler/ Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis, S. 9-19, hier S. 14-15. <?page no="97"?> 2.2 Schweigen - Denken - Schreiben 93 Mit Freud versteht Erdheim diesen Umgang mit Erinnerungen nicht als passiv, sondern als aktive Leistung, die der Begründer der Psychoanalyse in „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ so beschreibt: Das Vergessen von Eindrücken, Szenen, Erlebnissen reduziert sich zumeist auf eine ,Absperrung‘ derselben. Wenn der Patient von diesem ,Vergessenen‘ spricht, versäumt er selten hinzuzufügen: ,Das habe ich eigentlich immer gewußt, nur nicht daran gedacht.‘ 215 Die Lindner’schen „Meister des Vergessens“ sind also im Freud’schen Sinne ,Meister des Absperrens‘, da sie im Verzicht auf das Denken, wie Erdheim schreibt, „zwei Fliegen auf einen Schlag [treffen]: nämlich sowohl die Mühsal des Denkens zu vermeiden als auch den psychischen Aufwand des Vergessens bzw. Verdrängens.“ 216 Laut Erdheim können aufgrund der gesellschaftlichen Machtdispositive aber nur die auf der Herrschaftsseite stehenden Täter mit einer kollektiven Strategie des Absperrens ihre Identität ,schützen‘, während die Opfer gezwungen sind, in der permanenten erinnernden Reproduktion der traumatischen Situationen ihre Identitäten neu zu schreiben/ denken. 217 Lindners Funktion für das Dorf ist es nun eben, die ,Archive des Abgesperrten‘ aufzusperren und auszuwerten, indem er die kollektive Trennung von Wissen und Denken überwindet. Und er tut dies nicht nur auf eine analytische, sondern auch auf eine kreative, freie, phantasievoll-phantastische Weise: Phantasie und Erinnerung sind voneinander abhängig. Was vergessen oder verdrängt werden muß, kann nicht mit Hilfe der Phantasie ersetzt werden; vielmehr ist es so, daß der Aufwand, der notwendig ist, um sich die Vergangenheit vom Leibe zu halten, die Phantasie aufzehrt und damit auch die Kreativität erstickt. Die Kreativität, die wir brauchen, um die Probleme unserer Kultur zu lösen, ist auf das Erinnern der Geschichte angewiesen. 218 215 Sigmund Freud: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse II (1914). In: ders.: Schriften zur Behandlungstechnik. Frankfurt/ Main: Fischer 1975 (Studienausgabe Ergänzungsband). S. 205-215, hier S. 208. 216 Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume“, S. 15. 217 Aleida Assmann hat außerdem herausgearbeitet, dass es eine „Asymmetrie zwischen öffentlichem Gedenken und privatem Schweigen“ gibt: „Hinter dem ritualisierten Bekenntnis-Konsens konnten sich die individuellen Geschichten mühelos ins allgemeine Schweigen zurückziehen.“ (Aleida Assmann: Geschichtsvergessenheit. In: Assmann/ Frevert: Geschichtsvergessenheit. Geschichtsversessenheit, S. 17-139, hier S. 76.) 218 Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume“, S. 19. <?page no="98"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 94 Erst die Erinnerungsarbeit Lindners ermöglicht also seine phantastischen Gedankensprünge. Lindners Schreiben in seiner Zeit in der Anstalt Feldhof hat nun einen über schizophrene Wahrnehmungen ins Multiperspektivische weisenden Gedächtnisaspekt, aber auch eine religiöse Ebene; er inszeniert sich sowohl als Dorfchronist 219 als auch als Dorfevangelist: „Seit Monaten versuche ich aufzuschreiben, was mir die Stimmen einflüstern, und gleichzeitig beschäftigt mich der Plan, die Bibel neu zu verfassen“ (LT 129), heißt es im ersten nicht abgeschickten Brief. 220 Beide Schreibebenen lassen sich auf die folgenden phantastischen Elemente und die Heterogenität der Textsorten beziehen und unterscheiden sich von Lindners ursprünglichem Gebrauch der Schrift als Kommunikationsmittel. Zu Beginn von Landläufiger Tod dient das Schreiben für Lindner nämlich noch als Medium, um sich gegen etwas Gesprochenes, Getanes zu wenden: Nur wenn ich auf ihn [Jenner; G. L.] zornig bin oder meine Meinung allzusehr von seiner abweicht, stoße ich einen Laut aus oder schüttle heftig den Kopf und schreibe auf ein Stück Papier (das ich immer bei mir habe), was mich bewegt. (LT 17) 219 Joanna Drynda schreibt „von Franz Lindner, dem alternativen Historiker des Landstrichs“. [Joanna Drynda: Schöner Schein, unklares Sein. Poetik der Österreichkritik im Werk von Gerhard Roth, Robert Menasse und Josef Haslinger. Poznań: Rys Studio 2003 (Kolekcja Czytelni austriackiy Uniwersytetu im. Adama Michkiewiczy w Poznaniu). S. 114.] Grond hingegen versteht Lindner, beinahe im vom translational turn her gedachten (post-)kolonialen Sinn, als „Übersetzer der Landschaft und der Menschen.“ (Grond: Genese eines Romans, S. 150.) 220 Man bedenke für Lindners Plan den Anfangssatz des Johannes-Evangeliums: „Im Anfang war das Wort,/ und das Wort war bei Gott,/ und das Wort war Gott.“ (Joh 1,1. In dieser Studie wird folgende Bibelausgabe verwendet: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Psalmen und Neues Testament. Ökumenischer Text. Klosterneuburg: Österreichisches Katholisches Bibelwerk 1986.) Christelle Strauss hat darauf hingewiesen, dass in der Bibel die Zahl Sieben eine große Rolle spielt, dass sie „zugleich Raum (die Welt) und Zeit (die sieben Tage) vereint“ (Christelle Strauss: Auf der Suche nach Totalitäten im österreichischen Roman des 20. Jahrhunderts. Eine fragmentierte Darstellung am Beispiel von Heimito von Doderer, Ingeborg Bachmann, Gerhard Roth und Walter Grond. Graz, Angers: Dissertation 2005. S. 285) und vor allem auch in der Apokalypse des Johannes von Bedeutung ist. Strauss zieht an dieser Stelle ihrer Analyse eine Analogie zu Lindners Bibelplan und zu den sieben Bänden des Zyklus. Zu ergänzen wäre noch, dass Landläufiger Tod ebenfalls aus sieben Büchern besteht, wie es auch sieben Briefe sind, die nicht aus dem Irrenhaus abgeschickt werden und dass in Eine Reise in das Innere von Wien bei der den Stephansdom umgebenden Zahlenmystik von der Zahl sieben als der „heilige[n] Zahl, wie man zum Beispiel aus den sieben Sakramenten schließen kann“ (RIW 148), die Rede ist. <?page no="99"?> 2.2 Schweigen - Denken - Schreiben 95 Außer bei Jenner ist diese Kommunikationsart jedoch kaum applikabel, worauf in der selbstständigen Publikation von Circus Saluti explizit hingewiesen wird: „[A]ber kaum beginne ich, Papier und Bleistift herauszuholen, kaum reiche ich einen beschriebenen Zettel weiter, wimmelt man mich ab.“ 221 Im vierten Romankapitel „Landläufiger Tod“ ist (deshalb) bereits ein Intentionswechsel in der Schreibtätigkeit Lindners feststellbar, der nun vom „Aufschreiben meiner Fragen und Antworten und Gedanken“ (LT 114) berichtet. In den „Sieben nicht abgeschickten Briefen aus dem Irrenhaus“ wird dieser Richtungswechsel schließlich vollständig vollzogen, das Schreiben ist Substitut für direkte Kommunikation und so „ist es eine beschlossene Sache, daß ich meine Briefe nicht abschicke.“ (LT 130) Als Adressat der Briefe fungiert ein fiktiver Leser, der allerdings, worauf schon hingewiesen wurde, nur einmal erwähnt wird: „Ich schrieb eine Geschichte auf, an die Du Dich sicher erinnern wirst.“ (LT 131) In Am Abgrund schließlich nimmt die Schreibbewegung ein Ende, ein erneuter Medienwechsel hat stattgefunden, als Jenner Lindner in Steinhof aufgespürt hat: „Man wies Jenner in eine Ecke des Aufenthaltsraumes, in dem vor einem Tisch Lindner saß und zeichnete.“ (AA 145) Über Lindners Zeichnen wieder wird nachträglich das siebente Buch von Landläufiger Tod, das aus Illustrationen von Günter Brus besteht, in das fiktive Zyklussystem integriert. Aus einer auf unzuverlässige Erzählerfiguren gerichteten Perspektive lässt sich Lindners Bibel-Plan mit dem schon erwähnten Merkmal des „übersteigerte[n] Selbstbild[es]“ 222 in Übereinstimmung bringen. Die besondere Funktion dieses Bibelbezuges erschließt sich allerdings erst bei einer Verschränkung von narratologischen mit gedächtnistheoretischen Gesichtspunkten. Aleida Assmann hat in ihrem Aufsatz „Was sind kulturelle Texte? “ festgestellt: Das Paradigma des kulturellen Textes ist die Bibel. An ihr haftet der Anspruch auf eine überzeitliche Wahrheit, die verbunden ist mit der Funktion der Siche- 221 Gerhard Roth: Circus Saluti. Frankfurt/ Main: Fischer 1981 (Collection S. Fischer 2321). S. 62. Die Seiten 62 bis 66 von Circus Saluti beschäftigen sich mit der Problematik des Schreibens als Ersatz für verbale Kommunikation. Vgl. dazu auch die nonverbale und nonskripturale Kommunikation Lindners, die in der Dorfchronik zum „Landläufigen Tod“ erwähnt wird: „Ich drücke mein Unbehagen immer, ohne es zu wollen, mit meinem Gesicht aus, es wird mir ins Gesicht geschrieben.“ (DLT 37). 222 Allrath: „But why will you say that I am mad? “, S. 63. <?page no="100"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 96 rung einer kollektiven Identität; die Zuwendung zu diesem Text konstituiert Gemeinschaften und trennt sie voneinander. 223 Autoren wie Dante, Milton oder Bunyan hätten deshalb eine Verbindung ihrer Texte zur Bibel hergestellt: „Ihre Texte zeigen sich bibel-ähnlich, und sie melden damit einen Anspruch auf die Rezeptionsformen kultureller Texte an.“ 224 Astrid Erll hat anschließend an Assmanns Überlegungen intertextuelle Bezüge auf die Bibel in literarischen Texten so gedeutet, dass diese „sich damit auch einen Teil der Autorität des Prätextes zu Eigen“ 225 machen. Diese autoritätszuschreibende Form der Intertextualität „dient“ nun laut Erll „der Etablierung eines monumentalen Modus.“ 226 Diesen Modus, einen der fünf Modi der „Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses“, definiert Erll folgendermaßen: „Im monumentalen Modus erscheint das Dargestellte als verbindlicher Gegenstand eines übergreifenden kulturellen (nationalen, religiösen) Sinnhorizonts, als Mythos des verbindlichen kulturellen Gedächtnisses.“ 227 In diesem Kontext ist Wolfgang Tietzes Bemerkung zu verorten, der „Landläufige Tod will explizit, d. h. im zugelassenen Wahn seiner Figuren, eine Bibel sein wie eine Enzyklopädie“, 228 allgemein gültig also, und allumfassend. Diesen ,verrückten‘ Versuch kann nur ein ,verrückter‘ Erzähler wagen: „Gegen den Krieg und die Gewalt zu revoltieren, ohne sich ihnen zu entziehen, die Bibel und Dante umzuschreiben ist das Vorrecht (und die Macht der Ohnmacht) des Narren.“ 229 Der ,verrückte‘ Monologist, der Dorfevangelist und -enzyklopädist Lindner stellt also den gesamten Roman Landläufiger Tod in den Kontext kultureller Texte und beansprucht somit überzeitliche Gültigkeit. Andererseits aber gelingt es ihm nicht, sein Vorhaben durchzuführen: „Den Plan, die Bibel neu zu verfassen, habe ich fallen gelassen. Zwar denke ich seit Monaten über die ,Schöpfung‘ und die ,Geschichte der Zeit‘ nach, ich bringe aber nicht mehr zu Wege als Fragmente.“ (LT 132) Obwohl Lindner das Schreiben der Bibel vom Aufschreiben der Dorfgeschichte trennt, schreibt sich jenes groß angelegte 223 Aleida Assmann: Was sind kulturelle Texte? In: Andreas Poltermann (Hg.): Literaturkanon - Medienereignis - kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Berlin: Erich Schmidt 1995 (Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung 10). S. 232-244, hier S. 237. 224 Ebenda. 225 Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 171. 226 Ebenda, S. 170. 227 Ebenda, S. 168. [Fettdruck bei Erll v. G. L. weggelassen] 228 Tietze: Das mikroskopische Gedankenglas, S. 224. 229 Ebenda, S. 277. <?page no="101"?> 2.2 Schweigen - Denken - Schreiben 97 individuelle Scheitern in die Erinnerungserzählungen und Gedächtnisnarrative von „Mikrokosmos“ ein. Das daraus ableitbare formale Prinzip ist in den Ausführungen zur „Geschichte der Zeit“ zu finden, das als Kapitel „Das Alter der Zeit“ zum Romanzentrum „Mikrokosmos“ überleitet und das nach den auf die nicht abgeschickten Briefe folgenden „Die Schöpfung“ und „Das gefrorene Paradies“ den Abschnitt experimenteller Einzelsätze beschließt: Bei der „Geschichte der Zeit“ handelt es sich um „eine Geschichte, die sich gewissermaßen aus Scherben, Überresten und Träumen zusammensetzt, wie man etwa aus archäologischen Splittern das Leben einer verschwundenen Stadt rekonstruiert.“ (LT 130) 230 Diese Feststellung Lindners steht in Zusammenhang mit einer autorpoetischen Auskunft Gerhard Roths, der in Im tiefen Österreich ebenfalls die Archäologiemetapher zur Erklärung seiner Vorgehensweise verwendet: „Einer Geschichte nachzugehen, heißt einen Scherben zu finden, nach weiteren Bruchstücken zu graben, neue zu finden und zu hoffen, daß sie zusammenpassen. Von Anfang an arbeitete ich wie ein Archäologe.“ (ITÖ 5) 231 Doch unterscheiden sich die dokumentarische und literarische Aufarbeitung des Materials grundlegend in Bezug auf ihre Kohärenzstiftungsfunktion. In Im tiefen Österreich fasste Gerhard Roth Erzählungen und Fotografien aus der Region „als eine Sammlung von Scherben auf“, über die er „die Vergangenheit des Landstrichs zu rekonstruieren“ versuchte, wobei er sein Augenmerk darauf richtete, „wie die Muster auf den Scherben zusammenpassen.“ (ITÖ 5) In Landläufiger Tod hingegen lässt Roth die Muster nicht von der Erzählerfigur zusammenfügen, sondern die Scherben bleiben trotz Lindners Rekonstruktionswillens Bruchstücke, die erst über eine gesteigerte Rezeptionsleistung in einen Sinnzusammenhang gestellt werden 230 Vgl. dazu ebenda, S. 276: „Der komplexe Zusammenhang zwischen Code-Fragment und Großform, Allegorie und Grammatik, Historie und Erzählung, Literaturwissenschaft und Literatur, Zählung und Feststellung, Linearität, kreisförmiger Schrift und Zeit, Signifikant und Intensität, Schrift, Sprechen und Körperschrift, in dem sich alle diese Terme gegenseitig durchdringen und deterritorialisieren, dekonstruieren, wird vielleicht nirgendwo bei Roth so sichtbar wie in den kryptischen (,Atomkeim‘-)Sätzen des Alters der Zeit: Keime, Infusionsideen von Geschichten und Nicht-Geschichten, sie enthalten Elemente aller Figuren und Kapitel des Romans, sind Vorformen der ,Märchen‘ und Sätze des entgrenzten Biens.“ 231 Das archäologische Vorgehen hat Gerhard Roth an Michel Foucault angelehnt, der ja in Wahnsinn und Gesellschaft von einer „Archäologie dieses Schweigens“ schreibt. In: Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. A. d. Frz. v. Ulrich Köppen. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1973 (stb wissenschaft 39). S. 8. <?page no="102"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 98 können. 232 In ihrem Insgesamt und in ihrer Verschränkung mit dem chronologischen Bild-Text-Archiv Im tiefen Österreich wie mit dem gesamten Zyklus wahrgenommen allerdings kann diese Geschicht/ s/ en-Scherbensammlung nicht nur aufgrund des Bibelverweises dem von Erll definierten monumentalen Modus zugeordnet werden. Mittels seiner Erzählerfigur Lindner erzählt Gerhard Roth ein ganzes Dorf und eine ganze Region, in seinem Zyklus insgesamt schließlich eine ganze Nation und konstruiert so den Raum einer ruralen und nationalen Erzähl- und Gedächtnisgemeinschaft, der gleichzeitig Platz für Identitätskonstruktionen und Identitätsdekonstruktionen lässt. Aleida Assmann schreibt: „Monument ist, was dazu bestimmt ist, die Gegenwart zu überdauern und in diesem Fernhorizont kultureller Kommunikation zu sprechen.“ 233 Dieser auf Lindners schreibendes Schweigen und seinen Bibel-Plan zutreffende Satz gilt für Die Archive des Schweigens, wiewohl und gerade weil dieser Zyklus und sein Zentrum Landläufiger Tod, wie schon mehrfach erkannt, ebenso sehr Monument wie Fragment ist. Schütte schreibt in Auf der Spur der Vergessenen: Formal vollzieht der Landläufige Tod [...] eine eigentümliche Gratwanderung zwischen Monument und Fragment. Das vorherrschende Organisationssystem der Kollektion repräsentiert eine bewußt primitive, nahezu prärationale Form der schriftstellerischen Arbeit, die in deutlichem Gegensatz steht zu den die traditionelle Literatur kennzeichnenden Forderungen nach verläßlichem Erzähler, durchgehender Fabel, identifizierbaren Figuren usw. 234 Wendelin Schmidt-Dengler nimmt auf diese Einschätzung Schüttes in seinem Aufsatz „,Monument und Fragment‘. Gerhard Roths Zyklus ,Die Archive des Schweigens‘ Bezug und stellt fest, daß „gerade diese Opposition“ zwischen Monument und Fragment „die Auseinandersetzung [...] [mit Landläufiger 232 Was Carola Surkamp über Paul Scotts Romantetralogie Raj Quartet schreibt, passt auch auf Gerhard Roths Heptalogie Die Archive des Schweigens: „Der Leser von Scotts Tetralogie findet sich [...] in der Rolle eines Forschenden wieder, mit all den Schwierigkeiten, die eine Rekonstruktion des Geschehens auf der Grundlage rivalisierender Sichtweisen offenbart.“ In: Carola Surkamp: Die Auflösung historischen Geschehens in eine Vielfalt heterogener Versionen: Perspektivenstruktur und unreliable narration in Paul Scotts multiperspektivischer Tetralogie Raj Quartet. In: Nünning (Hg.): Unreliable Narration, S. 165-186, hier S. 181. 233 Aleida Assmann: Kultur als Lebenswelt und Monument. In: Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hg.): Kultur als Lebenswelt und Monument. Mit Beiträgen von Aleida Assmann (u. a.). Frankfurt/ Main: Fischer 1991 (Fischer Wissenschaft). S. 11-25, hier S. 14. 234 Schütte, Auf der Spur der Vergessenen, S. 84. <?page no="103"?> 2.2 Schweigen - Denken - Schreiben 99 Tod; G. L.] so schwierig und reizvoll“ macht. 235 Als Erster hat allerdings Walter Grond schon 1989 über Landläufiger Tod geschrieben: „Es wird ein monumentaler und fragmentarischer Roman werden. Sein Begriff des Fragmentarischen bedingt sich aus der Archäologie und bedingt zugleich das Monumentale.“ 236 Obwohl nun Lindner seinen Versuch der Bibelneuschreibung als gescheitert betrachtet, könnte, das soll hier nicht unterschlagen werden, eine Lektüre des Zyklus nach religiösen Gesichtspunkten noch Spuren dieses Planes ausfindig machen. Roland Wielander hat in seinem Aufsatz „Abschied von der heilen Welt. Zu Gerhard Roths Romanen ,Der Stille Ozean‘ und ,Landläufiger Tod‘“ einen theologisch unterfütterten Analysefokus appliziert, indem er die Figur Ascher in ihrer Entwicklung über die Ankunft auf dem Land zu Beginn von Der Stille Ozean bis zu ihrem Selbstmord in Landläufiger Tod mit der Frage der Theodizee zu beschreiben versucht. Theodizee ist für Wielander weniger die philosophische Frage nach der Existenz Gottes im Angesicht all des Übels in der Welt, sondern wird vielmehr, laut Wielander mit Odo Marquards Auffassung gedacht, als Auflehnung des Menschen gegen das Böse in der Welt, Anklage Gottes für seine Tatenlosigkeit und Wunsch nach Heilung des Übels verstanden. Wielanders Grundthese besteht darin, dem Arzt Ascher im Kontext der ihm zugeschriebenen Verwandlung von allem, was er wahrnimnt, und der häufig eingenommenen omniszenten Perspektive des Mikroskopierenden „Gottähnlichkeit“ 237 zuzuschreiben. Erst als Ascher vom Beobachter zum Agierenden wird und am Ende von Der Stille Ozean beschließt, im Dorf zu bleiben, um dort die medizinische Versorgung sicherzustellen, übernimmt er die ihm als Arzt entsprechende Rolle des Heilenden im „Meer als Erscheinungsort des Bösen [...] in Erwartung eines Gottes“, 238 wie Wielander die Metapher vom Stillen Ozean, in dem „das Dämonische“ 239 lauert, deutet. Doch in Landläufiger Tod begeht Ascher Selbstmord, weshalb mit ihm 235 Wendelin Schmidt-Dengler: „Monument und Fragment“. Gerhard Roths Zyklus „Die Archive des Schweigens“. In: Roth: Atlas der Stille, S. 273-275, hier S. 273. 236 Grond: Genese eines Romans, S. 149. 237 Roland Wielander: Abschied von der heilen Welt. Zu Gerhard Roths Romanen „Der Stille Ozean“ und „Landläufiger Tod“. In: Michaela Findeis und Paul Jandl (Hg.): Landnahme. Der österreichische Roman nach 1980. Wien, Köln: 1989 (Zeitschrift für studentische Forschung 1/ 89). S. 83-95, hier S. 86. 238 Ebenda, S. 87. 239 Ebenda, S. 91. <?page no="104"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 100 auch die Theodizee sensu Wielander scheitert und eine Wende im Zyklus stattfindet: Die Heilsgeschichte wendet sich zur Krankengeschichte. Die Perspektive wechselt weg von dem, der heilt, hin zu dem, der krank ist: Den stummen Ich- Erzähler finden wir nach dem Tode Aschers als Insassen eines Irrenhauses wieder. Die göttliche Allmacht, die Thema der Bibel und deren Urheberin zugleich ist, hat sich zurückgenommen; Franz Lindner beschäftigt sich daher mit dem Plan, die Bibel neu zu verfassen (LT 129). 240 Für Wielander tritt deshalb Lindner anstelle Aschers an die Stelle Gottes. Abgesehen davon, dass Gott die Bibel nicht selbst geschrieben haben soll - weshalb die Erzählerfigur oben als Dorfevangelist bezeichnet wurde -, 241 gibt Lindner ja an, den Bibelplan bald verabschiedet zu haben und auch sein Verständnis von Heilung ist ein anderes, als es Ascher, dem Arzt, zugeschrieben wird. Denn Lindner sagt zu seinem behandelnden Arzt: „Ihre Aufgabe ist es, mich zu heilen, das heißt berechenbar zu machen.“ (LT 572) Für Wolfgang Tietze wiederum ist es gerade die „Krankengeschichte“, die letztlich zur Heilung führt, denn Ascher „wird [...] sich am Ende erschießen. Die Figur, die einen Ausweg findet, ist Lindner. Der Ausweg führt über die Form und eine Konzeption des Schreibens: der Landläufige Tod ist der erste eigentliche Roman, den Roth schreibt.“ 242 Das Schreiben Lindners führt laut Tietze, hier unscharf in seiner Differenzierung zwischen Erzählerfigur und deren Autor, zu Roths in seinem Debütroman autobiographie des albert einstein erfüllten Wunsch, Schriftsteller zu werden, zurück, indem der Roman „die experimentelle Schreibweise aufnimmt und verändert, gegen Psychologie und Handlung agiert sowie fast sämtliche Literaturgenres und Traditionen integriert, ohne sie zu entwerten.“ 243 Es ist, wie vom Autor-Erzähler in Der Untersuchungsrichter festgestellt, weniger die Tatsache des Schreibens selbst, als das, was in einer die Materialität des Schreibens transzendierenden, aber von diesem ausgehenden Bewegung bewirkt werden kann: „Ich möchte das 240 Ebenda, S. 94. 241 Novalis schreibt übrigens in einem Aphorismus: „Dichter und Priester waren im Anfang Eins, und nur spätere Zeiten haben sie getrennt. Der echte Dichter ist aber immer Priester, so wie der echte Priester immer Dichter geblieben. Und sollte nicht die Zukunft den alten Zustand der Dinge wieder herbeiführen? “ (Novalis: Blütenstaub. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Hans Jürgen Balmes. Frankfurt/ Main: Fischer 2008. S. 390-416, hier S. 404-405.) Lindner kann als ein solcher (post-/ neo-)romantischer Dichter-Priester gedeutet werden. 242 Tietze: Das mikroskopische Gedankenglas, S. 136. 243 Ebenda, S. 136. <?page no="105"?> 2.2 Schweigen - Denken - Schreiben 101 Schreiben durchbrechen und leuchtende Kopfbilder erzeugen.“ (UR 14) Allerdings ist im Untersuchungsrichter die positive, katalysatorische Funktion, die das Schreiben in Landläufiger Tod und für dessen Erzählerfigur Lindner einnimmt, 244 zumindest in einigen Passagen umgekehrt: „[I]ch habe den Wunsch, vollständig mit dem Schreiben aufzuhören, weil ich mich selbst verachte. Die Erleichterung, ein Lebenskapitel als abgeschlossen zu betrachten.“ (UR 146) Trotz (oder wegen) des vorgeblichen Scheiterns von Lindners Bibelplan gibt es strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem Landläufigen Tod und der Bibel: Auch die Bibel ist fragmentarisch, ist eine Sammlung von Erzählscherben, in den Evangelien multiperspektivisch und nicht auf die Ratio, auf das Diskursive, sondern den Glauben und das transzendental Unfassliche ausgerichtet. Walter Grond, der die Genese von Landläufiger Tod aufgrund von Gesprächen mit Roth nachgezeichnet hat, schreibt: Während der Arbeit liest Gerhard Roth oft die Bibel, seine Lektüre ist keine moralische, aber in der Oberfläche des religiösen Textes findet er dieselbe Zerrissenheit, die Zersplitterung des Aufbaus, Bücher, die in verschiedenem Tonfall abgefaßt sind und immer wieder auf archaische Grundmuster stoßen, die wieder Kommentar auf Kommentar hervorbringen. Und nicht zufällig ist die Bibel die einzige Volkslektüre, Lektüre, die zugleich mit den Zeichen des Landes überlagert ist. 245 Neben dem so genannten ,Archaischen‘ gibt es aber auch eine Verbindung des Religiösen mit jener Ebene von Landläufiger Tod, die man als phantastisch bezeichnen könnte. Marco Frenschkowski hat sich in dem Aufsatz „Ist Phantastik postreligiös? “ mit dem Zusammenhang von Religiösem und Phantastischem beschäftigt. Seine zentrale These lautet: Das Phantastische ist jene Dekonstruktion von Wirklichkeit im Medium von Kunst, in der sich das Religiöse in der einen oder anderen seiner Facetten konstituierend in die dekonstruierte säkulare Normalität einmischt, ohne sich als Religiöses zu offenbaren. Doch kann es diese Tarnung nur begrenzte Zeit durchhalten. 246 244 Thomas Anz fasst Lindners Schreiben bündig mit dem Schlagwort „,Literatur als Therapie‘! “zusammen. (Anz: Gesund oder krank, S. 190.) 245 Grond: Genese eines Romans, S. 153. Grond schreibt übrigens, dass der Roman in den Abschnitten mit den experimentellen Einzelsätzen „zur Litanei, zum ungläubigen Gebet“ wird. (Ebenda, S. 151.) 246 Marco Frenschkowski: Ist Phantastik postreligiös? Religionswissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie des Phantastischen. In: Clemens Ruthner, Ursula Reber und Markus <?page no="106"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 102 Diese Verbindung hat Roth in Landläufiger Tod über Lindners Bibelplan markiert. Frenschkowski argumentiert, dass die Kritik am ,Banalen‘ der Phantastik „eine Rationalisierung [ist], die sich aus der modernen Verdrängung des Sakralen und seiner verschleierten Wiederkehr im Phantastischen ergibt.“ 247 Allerdings wäre sowohl allgemein phantastische Literatur betreffend als auch Landläufiger Tod im Besonderen eine Reduktion des Phantastischen auf seine religiösen Aspekte fehl am Platz, denn die (post)moderne Phantastik stellt sich „als differenziertes Spiel mit Wirklichkeitsbezügen dar, in dem die unterschiedlichen Konstruktionen gerade nicht nebeneinander, sondern übereinander liegen. Das Religiöse ist dabei nur eine Dimension solcher Überblendungen.“ 248 Dieses Thema abschließend soll noch auf einen letzten wichtigen Punkt, der sich aus der verdrängten Verwandtschaft von (phantastischer) Literatur und religiösen Texten ergibt, eingegangen werden, auf den Jürgen H. Petersen hingewiesen hat. Laut Petersen hat sich als eines der wichtigsten Elemente von Fiktionalaussagen herausgestellt, daß diese einen Redestatus besitzen, der gegenüber dem Seinsstatus des Ausgesagten indifferent ist. Die Folge ist, daß Fiktionalaussagen auch dem Unrealen, Wunderbaren, Phantastischen Sinn verbürgen. Genau dies verbindet entsprechende religiöse Texte mit fiktionalen. 249 Fiktive und religiöse Texte sind „auf die Konstitution von Bedeutung und Sinn angelegt und grenzen sich in diesem Punkt [...] gegen Wirklichkeitsaussagen ab.“ 250 Dem besonderen Sinn- und Bedeutungsgehalt von Landläufiger Tod nachzuspüren, ist Aufgabe dieser Untersuchung, welche die folgende Aussage der Erzählerfigur gegenüber seinem Arzt - und nicht gegenüber dem fiktiven Leser, an den die nicht abgeschickten Briefe adressiert sind - sowohl als autorpoetische Kritik an germanistischen Analysestrategien wie auch als Aufforderung zu einer eigenständigen Rezeptions- und Interpretationsleistung liest: May (Hg.): Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur. Tübingen: Narr Francke 2006. S. 31-51, hier S. 51. 247 Ebenda, S. 39. 248 Ebenda, S. 49. 249 Jürgen H. Petersen: Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung. Berlin: Erich Schmidt 1996. S. 102. 250 Ebenda, S. 105. <?page no="107"?> 2.2 Schweigen - Denken - Schreiben 103 Mit Sicherheit werden Sie meine Aufzeichnungen als verwirrt oder zumindest verwirrend bezeichnen. Und außerdem werden Sie nach Denkmustern fahnden, die Ihnen signifikant erscheinen. Sie legen verschiedene Schablonen darüber und können die vorgezeichnete Form nicht erkennen. [...] Nein, ich habe keine Lust, Ihnen meine Schrift zu erklären. Ich finde es beschämend, daß ich sie Ihnen ausliefern muß. Ich habe auch keine Lust, mit Ihnen zu sprechen. [...] Da schweige ich lieber wie früher. (LT 572-573) Franz Lindner schreibt in Feldhof nicht nur Eigenes, sondern auch Fremdes. Während es im fünften Brief noch heißt: „Ich lese ,Gullivers Reisen‘, die mir ein Doktor mitgebracht hat, wohl in der Absicht, mein Schweigen zu brechen. Er weiß nicht, daß er es mir damit nur erleichtert“ (LT 132), wird im siebenten Brief aus der passiven Rezeption eine aktive Produktion: An Tagen, an denen ich keine Kraft habe zu arbeiten, schreibe ich „Gullivers Reisen“ ab. Ich wetteifere mit den eigenen beschriebenen Papierstößen. Einmal ist die „Gullivers Reise“-Abschrift höher, dann wiederum meine Aufzeichnungen. (LT 134-135) Intertextuelle Verweise können nun, wie schon in Zusammenhang mit der Bibel erwähnt, laut Astrid Erll als Merkmale des monumentalen Modus klassifiziert werden: „Literarische Werke beziehen Autorität aus vorgängiger Literatur, indem sie auf kanonische oder klassische Texte Bezug nehmen.“ 251 Zum einen also könnte man sagen, dass Roth seine Erzählerfigur hier die zwei Papierstapel nebeneinander legen lässt, um beide als gleichrangig erscheinen zu lassen. Ebenso wird allerdings durch Lindners Schizophrenie und (vorgebliche) Unzuverlässigkeit dieser Vergleich wieder ironisiert. Weiters allerdings wird hier eine Methode im Umgang mit Schreibblockaden vorgeführt, die Roth selbst appliziert hat, als der Autor bei seiner Suche nach einer adäquaten Form für Landläufiger Tod nicht vorankam: [I]n meiner Verzweiflung habe ich dann begonnen, das Buch Moby Dick von Melville abzuschreiben, ich habe die ersten hundert Seiten mit der Hand abgeschrieben und war irgendwie befriedigt darüber, daß der Papierstapel immer größer wird […]. 252 Später hat Roth dann in Analogie zu Melvilles Wal den Bien zu seinem Schreibmodell gemacht. 253 Und schließlich kann die direkte Inbezugsetzung 251 Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 170. 252 Roth: Reise durch das Bewußtsein, S. 85. 253 Das Schreibmodell des Bien hat übrigens eine bemerkenswerte kulturhistorische Konnotation. Alberto Manguel schreibt über den Heiligen Ambrosius: „Er war ein außer- <?page no="108"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 104 von Landläufiger Tod mit Jonathan Swifts Gullivers Reisen eine Anspielung auf strukturelle und thematische Analogien sein. 254 Ohne hier aber jetzt ins Detail zu gehen, sei nur auf das Verhältnis zwischen Lindners und Gullivers Gedächtnisleistungen hingewiesen. Lemuel Gulliver erwähnt schon zu Beginn des Romans „mein gutes Gedächtnis“ 255 und kommt immer wieder darauf zurück, wie beispielsweise nach dem Bericht über den ersten Teil der Reise nach Brobdingnag: „Die Vorkommnisse auf dieser Reise haben mich aber so tief beeindruckt und sind mir so genau im Gedächtnis geblieben, daß ich keinen einzigen wesentlichen Umstand ausgelassen habe, als ich sie zu Papier brachte.“ 256 Bei der Begegnung mit den Laputiern im dritten Teil des Romans „erlangte ich in einigen Tagen mit Hilfe eines sehr zuverlässigen Gedächtnisses einige Kenntnisse von ihrer Sprache.“ 257 Allerdings schränkt die Erzählerfigur Gulliver am Schluss wieder ein: „Ich weiß sehr wohl, wie wenig Ruhm durch Schriften zu gewinnen ist, die weder Genie noch Gelehrsamkeit, noch überhaupt irgendwelche Talente, sondern nur ein gutes Gedächtnis oder ein genaues Tagebuch erfordern.“ 258 Lindner hingegen „muß feststellen, daß mein Gedächtnis mich im Stich läßt, das heißt, ich kann nicht mehr weiter denken“ (LT 134), es wird also der schon oben angesprochene Zusammenhang von Erinnern und Denken thematisiert, Lindner kann nicht denken, da er von seinen Erinnerungen abgesperrt ist. 259 Besonders bemerkenswert ist ein Kommentar Jenners in Am Abgrund, der sowohl Lindners Gedächtnis als auch seine Praxis des Abschreibens von Gullivers Reisen erwähnt. Jenner berichtet davon, dass Lindner ihn ordentlich beliebter Redner; sein Wahrzeichen in der späteren christlichen Ikonographie war der Bienenkorb, das Symbol für Beredsamkeit.“ (Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens. Übers. a. d. Engl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999. S. 56. Manguel bezieht sich hier auf das Buch Saints, Signs and Symbols von Ellwood Post.) Ein schweigender Imker ist deshalb als eine ikonographische Umschrift lesbar. 254 Selbstverständlich kann dieses Buch auch angeführt worden sein, weil es für Gerhard Roth von Jugendttagen an wichtig war: „Robinson Crusoe, Doktor Dolittle und Gulliver ersetzten mir die Bibel.“ In: Roth: Das Alphabet der Zeit, S. 431. 255 Jonathan Swift: Gullivers Reisen. A. d. Eng. v. F. Kottenkamp. Verv. u. bearb. v. R. Arnold. M. e. Vorw. v. H. Hesse. Frankfurt/ Main, Leipzig: Insel 2008 (insel taschenbuch 3517). S. 28. 256 Ebenda, S. 140. 257 Ebenda, S. 241. 258 Ebenda, S. 439. 259 Vgl. dazu auch die Ebene der erzählerischen Vermittlung bei Allrath: „But why will you say that I am mad? ”, S. 66-69, in der sie sich auf das oft lückenhafte Erinnerungsvermögen ,verrückter‘ Monologisten bezieht. <?page no="109"?> 2.2 Schweigen - Denken - Schreiben 105 sein Buch nicht sehen lässt, dafür aber „seitenlange Abschriften von ,Gullivers Reisen‘ (die er ursprünglich auswendig lernen wollte, aber schließlich wegen seines - wie er behauptet - schlechten Gedächtnisses nur Wort für Wort zu Papier bringt).“ (AA 22) Die Erwähnung des „schlechten Gedächtnisses“ kann hier selbstironisch verstanden werden, denn die Unfähigkeit, einen mehrere hundert Seiten dicken Roman auswendig zu lernen, verweist keinesfalls schon auf ein schlechtes Gedächtnis. Allerdings könnte es sich hier um eine Anspielung auf Ray Bradburys Roman Fahrenheit 451 handeln, in dem eine Gruppe intellektueller Deserteure sich in den Wäldern versteckt und Werke der Weltliteratur auswendig lernt, um sie vor einem bücherverbrennenden totalitären Staat zu schützen. Nimmt man hingegen die (ebenfalls einen ironischen Unterton aufweisende) oben zitierte Aussage von Swifts Gulliver als Kontrastfolie, für ein ruhmreiches Werk benötige es mehr als ein gutes Gedächtnis, so wirkt Lindners Referenz auf sein schlechtes Gedächtnis beinahe kokett - wie auch Lindners fiktive Schreibleistung als besondere Gedächtnisleistung gedeutet werden könnte. Aus dieser Perspektive stünde Lindner trotz gegenteiliger Selbstauskunft in der Tradition des Simonides von Keos, der von Cicero in De Oratore als Gründervater der antiken Gedächtniskunst dargestellt wird. Simonides konnte nach einem Hauseinsturz die verschütteten und entstellten Leichen identifizieren, da er sich eingeprägt hatte, an welcher Stelle sie gesessen waren. Auch Landläufiger Tod kann als ein eingestürztes Romangebäude vorgestellt werden, nur scheitert Lindner an der Rekonstruktion und bringt die einzelnen Teile nicht ,in Ordnung‘. Dieses Nicht-in-Ordnung-bringen muss aber keineswegs schizophren sein, denn wie Alexander R. Lurija am Beispiel der Wahrnehmungen des Gedächtniskünstlers Šereševskij gezeigt hat, ist der Grat zwischen Schizophrenie und Gedächtniskunst - oder zwischen ,mad‘ und ,memorising monologist‘ - bisweilen ein schmaler: Wenn wir die den lebendigen ,Bildvisionen‘ zugrunde liegenden psychologischen Mechanismen, die ich in diesem Porträt beschrieben habe, nicht kennen würden, wie leicht könnten wir all das für Symptome jener ,Persönlichkeitsspaltung‘ halten, mit der sich die Psychiater so viel beschäftigen, mit der aber die „Selbstabtrennung“, die S. praktizierte, sehr wenig gemein hat. 260 260 Alexander R. Lurija: Kleines Porträt eines großen Gedächtnisses. In: ders.: Der Mann, dessen Welt in Scherben ging. Zwei neurologische Geschichten. M. e. Einf. v. Oliver Sacks. Dt. v. Barbara Heitkam. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991. S. 147-249, hier S. 245. <?page no="110"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 106 Doch kehren wir noch einmal kurz zu Franz Lindner und Lemuel Gulliver zurück. Beiden Figuren ist gemeinsam, dass sie Reisende sind. Doch während im satirischen Bezugssystem von Gullivers Reisen die titelgebenden Abenteuerfahrten als fiktive Fakten präsentiert werden, charakterisiert sich in Landläufiger Tod die Erzählerfigur immer wieder als Gefangener des Leibes und Reisender im Kopf: „Heute unterhielt ich mich mit der Vorstellung, zwei verschiedene Menschen zu sein von der Art der Reisenden.“ (LT 131) oder „Wie gesagt, ich begreife mich als eine Art Reisender im Irrenhaus.“ (LT 132) oder „Unser Verhalten entspricht dem eines neugierigen Besuchers, eines Reisenden wie gesagt, auch wenn wir alles schon hunderte Male gesehen haben.“ (LT 133) oder schließlich in den letzten Sätzen der „Sieben nicht abgeschickten Briefe aus dem Irrenhaus“: „Ja, ich bin ein Reisender, nur als Reisender kann ich das Bedrückende der Umgebung ertragen.“ (LT 135) 261 Dem Aspekt des Reisens bei Roth könnte man nun eine eigene Studie widmen, es spielt im Frühwerk (Ein neuer Morgen, Der große Horizont, Winterreise) ebenso eine entscheidende Rolle wie im zweiten Zyklus Orkus. In den Archiven des Schweigens tritt das Motiv des Reisens immer wieder auf, vor allem im Zusammenhang mit der Figur des Untersuchungsrichters Sonnenberg. Dieser trifft in Am Abgrund in Steinhof auf Lindner und denkt am Rückweg - „vermutlich aufgrund der Ereignisse“ (AA 115) - an zwei Forschungsreisende: den Nilursprungsentdecker John Hanning Spekes (AA 115) und Eduard Vogel (AA 116), der den verschollenen Afrikaforscher Heinrich Barth fand. In einer anderen Passage (AA 124) will Sonnenberg ein Buch des Amazonasreisenden Henry Walter Bates lesen, der sieben [sic! ] Jahre im Amazonasgebiet, „in der ,grünen Hölle‘“ (AA 124), geblieben war. Lindner erzählt neben den eben erwähnten von fantastischen Abenteuerfahrten unter anderem nach Tschibuti (AA 166). Im Untersuchungsrichter beschäftigt sich Sonnenberg wieder mit Forschungsreisenden: er kauft ein Buch über René 261 Jenner verschränkt in Am Abgrund Lindners Bibel-Selbstinszenierung und seine Kopfreisen: „,Sicher hält er sich für einen Auserwählten, einen Abenteurer‘, dachte Jenner, ,aber er ist verrückt.‘“ (AA 28) In Der Untersuchungsrichter hingegen wird eine Verbindung zwischen reisenden Abenteurern und dem Denken hergestellt: „Der Abenteurer ist die Vorstufe des Denkers.“ (UR 131) Daniela Bartens stellt in ihrer Orkus- Lektüre Roths zweiten Zyklus in den Kontext prägender literarischer Vorbilder und schreibt: „Sowohl bei Homer als auch bei Vergil und Dante führt die Selbst- und Zukunftserkenntnis der Reisenden, und das heißt auch ihre Heimkehr, nur über eine Konfrontation mit den Schatten der Vergangenheit, die als stumme Zeugen mit allen Mitteln zum Sprechen gebracht werden müssen.“ (Bartens: Topographien des Imaginären, S. 63.) <?page no="111"?> 2.2 Schweigen - Denken - Schreiben 107 Caillié (vgl. UR 82-83) - dessen abenteuerliche Reise nach Timbuktu Thomas Stangl in seinem äußerst komplexen und vielschichtigen Roman Der einzige Ort (2004) mit der gescheiterten Expedition des Briten Alexander Gordon Laing verwoben hat - und „will ein Abenteuerbuch schreiben, in dem alles geschehen kann.“ (UR 122) Auf erzwungene Reisen muss sich außerdem der Flüchtling Karl Berger in Die Geschichte der Dunkelheit begeben. Eine bedeutende Rolle spielen fantastische Reisen schließlich im aus der Endfassung von Landläufiger Tod wieder herausgenommenen und selbstständig publizierten Das Töten des Bussards. Lindners hier zu diskutierendes Reisen findet nun mit Hilfe von Gullivers Reisen im Kopf (auf das Land) statt, 262 aber ebenso ohne Hilfsmittel, aber als Hilfsmittel, um die psychiatrische Klinik zu ertragen; mentale Räume werden erforscht, während das Zeitgefühl ausgesetzt wird und erst beim Verlassen dieser Räume wiederkehrt. Gleichzeitig ist aber ebenso eine andere Form des Reisens möglich, wenn folgender Satz aus Der Untersuchungsrichter berücksichtigt wird: „Die Zeit ist ein Raum“ (UR 54). Man kann sich also in der Zeit nicht nur in eine Richtung, sondern in unterschiedliche Richtungen bewegen. Wenn Lindner nicht denken im Sinne von sich erinnern kann, geht nun die Orientierung in diesem Zeit-Raum verloren: „Wenn ich einen solchen Anfall erlitten habe, kann ich für einige Tage Zukunft und Vergangenheit nicht auseinanderhalten.“ (LT 134) Die Destabilisierung dieses raum-zeitlichen Koordinatensystems wird auch an anderen Stellen im Zyklus thematisiert: Lindner, heißt es in Am Abgrund, „konnte manchmal einen Blick in die Zukunft werfen, die Fähigkeit kam aber wie ein Einfall, konnte nicht herbeigewünscht werden und verschwand wieder von selbst“ (AA 26) und in einer anderen, ,schizophrenen‘ Passage des vierten Zyklusteiles wird von Lindner berichtet: „Sodann erstiegen wir einen Turm, von dem aus man die Geschehnisse von hinten nach vorne sehen konnte.“ (AA 59) Jacques Le Goff stellt in Geschichte und Gedächtnis fest: „Die Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart ist wesentlich in der Vorstellung 262 Im metaphorischen Sinn kann das Irrenhaus als Narrenschiff im Stillen Ozean verstanden werden: „Einerseits gibt es ein mit rasenden Gesichtern beladenes Narrenschiff, das sich nach und nach in die Nacht der Welt eingräbt, in Landschaften, die von der fremden Alchimie des Wissens sprechen, von den stummen Drohungen der Bestialität und vom Ende der Welt. Andererseits gibt es ein Narrenschiff, das für die Weisen die beispielhafte Odyssee darstellt, die von den menschlichen Schwächen lehrt.“ In: Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 47. Hingewiesen sei ebenso auf den Essay zum „Narrenturm“ in Eine Reise in das Innere von Wien, S. 110-131. <?page no="112"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 108 von Zeit. Das heißt, sie ist grundlegend für Geschichtsbewußstein und Geschichtswissenschaft.“ 263 Lindners Aufhebung der Unterscheidbarkeit zwischen Vergangenheit und Zukunft macht deutlich, dass sich die Erzählerfigur nicht an die Regeln der akademischen Geschichtsschreibung halten will oder kann, in Landläufiger Tod demnach ein - dem reflexiven Modus von Astrid Erll entsprechend - anderes Bewusstsein von Zeit und Geschichte vorausgesetzt oder konstituiert wird, was im Übrigen generell eine wesentliche Funktion von Literatur darstellt, man denke nur an Ilse Aichingers hierfür paradigmatischen Text Spiegelgeschichte. Gleichzeitig betont Lindners Satz aber, in dem er sich selbst subkutan in der Lücke zwischen den Zeiten lokalisiert, analog zur Auffassung der Gedächtnisforschung die Gegenwartsbezogenheit von Zukunfts- und Vergangenheitsversionen. Auf der Ebene des ,verrückten‘ Monologisten passen die genannten Passagen zum charakteristischen Zeitbewusstsein Schizophrener, auf das Le Goff politisch nicht ganz korrekt hinweist: „Die Ausrichtung auf die Gegenwart [...] trifft man häufig bei Debilen, Geisteskranken und ehemaligen deportierten Menschen mit erschütterter Persönlichkeit an“. 264 Nicht zuletzt können „in einem Zustand der Hellsichtigkeit“ (AA 26), der ident mit einem Anfall ist, aber auch Prognosen getroffen werden, die ebenso Anspruch auf Gültigkeit beanspruchen können wie Lindners Erzählungen der Vergangenheit. Hier allerdings rückt hinter der Erzählerfigur Lindner wieder der Autor Roth ans Licht. Wendelin Schmidt-Dengler hat am Beispiel des Textes Das Fliegenpapier von Robert Musil, 265 der 1913 auf wenigen Zeilen das Funktionieren dieses Insektenfängers beschrieb, dargelegt, wie aus Literatur im Nachhinein Prognosen abgeleitet werden können: Musils Text wurde nach dem Ersten Weltkrieg als Anspielung auf den Gaskrieg gelesen. Laut 263 Le Goff: Geschichte und Gedächtnis, S. 27. 264 Ebenda, S. 30. Eine Bemerkung Freuds stimmt übrigens bei etwas anderer Fokussierung nicht mit Le Goffs Einschätzung überein: „Es kommt auch vor, daß Menschen durch ein traumatisches, die bisherigen Grundlagen ihres Lebens erschütterndes Ereignis so zum Stillstand gebracht werden, daß sie jedes Interesse für Gegenwart und Zukunft aufgeben und dauernd in der seelischen Beschäftigung mit der Vergangenheit verharren“. [Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Biograph. Nachw. v. Peter Gay. Frankfurt/ Main: Fischer 2007 (Sigmund Freud Werke im Taschenbuch). S. 265.] 265 Gerhard Roth nimmt in dem Aufsatz „Das Labyrinth der Fälschungen“ auf Musils Text Bezug: „Wir kleben in der weltlichen Hölle an falschen Begriffen und Vorstellungen fest, zumeist getäuscht und geprellt von anonymen Fliegenpapierherstellern.“ (S. 20) Roth schließt diesen Text mit einem Zitat aus Musils Text, welches das langsame Aushauchen des Fliegenlebens auf den Menschen projiziert. <?page no="113"?> 2.2 Schweigen - Denken - Schreiben 109 Schmidt-Dengler sind nun ähnliche Prognosen aus Landläufiger Tod ableitbar, vor allem aus den vielen Texten des „Mikrokosmos“. Die Möglichkeit dazu liege in der äußerst genauen, detaillierten und exakten Beobachtung - für die das Mikroskop als Metapher stehe - eines überschaubaren Raumes. 266 Das von Roth Lindner auf der Ebene der Schizophrenie zugeschriebene deviante Zeitverständnis kann so im Nachhinein aus dem fiktiven Bezugssystem herausgelöst und mit einer auf die extraliterarische Wirklichkeit bezogenen Interpretation des Textes als Vorwegnahme zukünftiger Entwicklungen in Bezug auf Konfliktpotentiale verbunden werden, die im Kleinräumigen ebenso auftreten wie in dem Verhältnis zwischen Stadt und Land. Ein solches Verständnis von Geschichte wird von einem Geschichtslehrer in Thomas Stangls Roman Was kommt angesprochen: „Geschichte heißt nicht, all das ist aus und vorbei, sagt Doktor Steinitz, Geschichte heißt, das kommt erst.“ 267 Der letzte Satz der „Sieben nicht abgeschickten Briefe“ - „Die Zeit kehrt wieder.“ (LT 135) - impliziert aber noch einen entscheidenden Aspekt für das später folgende dritte Buch „Mikrokosmos“: Die Zeit wird in der nichtstrukturalistischen Narratologie als Grundvoraussetzung für das Narrative, für Erzählen und Erzählungen verstanden. 268 Es kann also wieder erzählt werden. 266 Vgl. für diese Argumentation Wendelin Schmidt-Denglers Aufsatz „Monument und Fragment“. Gerhard Roths Zyklus „Die Archive des Schweigens“. In: Roth: Atlas der Stille, S. 273. 267 Thomas Stangl: Was kommt. Graz, Wien: Droschl 2009. S. 153. Vgl. hierzu auch meine Rezension dieses Romans auf: http: / / www.literaturhaus.at/ buch/ buch/ rez/ Stangl_Waskommt/ [Einges. 17. 2. 2009]. 268 Vgl. dazu bei Wolfgang Müller-Funk: Kulturtheorie. Einführung in Schlüsseltexte der Kulturwissenschaften. Tübingen, Basel: A. Francke 2006 (UTB 2828), S. 286-305, das Kapitel „Zur Narrativität von Kulturen: Paul Ricœurs Zeit und Erzählung“, in dem die zentrale Rolle der Zeit für Theorien des Narrativen herausgearbeitet wird, die nicht auf strukturalistischen Annahmen basieren, denn: „In gewisser Weise war der Strukturalismus raumbesessen und zeitvergessen.“ (Ebenda, S. 291) <?page no="114"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 110 2.3 Multiperspektivisches Erzählen Es wurde in diesem Teil der Studie nun schon dargestellt, welche Lesarten des Romans Landläufiger Tod sich aus einer Fokussierung auf die Erzählerfigur ergeben können (unzuverlässiger Erzähler), an welchem Schreibprojekt diese Figur scheitert (Bibel), welche Implikationen für die Interpretation das mit sich bringt, was sie ab-schreibt (Gullivers Reisen), und wie der Zusammenhang von Schweigen, Denken und Schreiben gedacht werden könnte. In diesem Abschnitt soll nun aus narratologischer Perspektive jenes Thema in den Blickpunkt genommen werden, das im Zentrum von Lindners Arbeit in der „Irrenanstalt“ steht und auf dem die Romankonstruktion von Landläufiger Tod gebaut ist: Mein ganzes Denken dreht sich um das Dorf. Selbst die Stimmen, die mir Befehle erteilen, gegen die ich nicht verstoßen darf, sprechen vom Dorf, wecken in mir Verdacht gegen verschiedene Personen oder enthüllen mir deren Geheimnisse. Ich habe keinen Grund, an ihren Berichten zu zweifeln, und halte sie in einem Heft fest. (LT 130) Das Diktat der Stimmen steht in dem schon besprochenen ambivalenten Wechselspiel zwischen Denken und Erinnern: „Selbst die Niederschrift der Stimmen geschieht unter einem gewissen Zwang. (Es kommt andererseits auch vor, daß ich nichts denken darf, und gerade dann bedrängen mich die Erinnerungen am stärksten.)“ (LT 131) Schließlich findet von Lindner eine Selektion des Gehörten statt: „Nach der Arbeit über die Gleichzeitigkeit bringe ich nur noch zu Papier, was mir die Stimmen eingeben, soferne es etwas mit dem Dorf zu tun hat.“ (LT 133) 269 Der Ort, an dem das Schreiben stattfindet, wird hingegen kaum thematisiert, er „will [...] keine Einzelheiten über das Anstaltsleben verbreiten“ (LT 135), die psychiatrische Klinik wird nur als Ausgangspunkt und als Endpunkt herangezogen, 270 das Dorf indessen wird zum Fluchtpunkt Lindners. Interessant ist Feldhof für Lindner vor allem als 269 Auch Matthias Auer hat die angeblichen Stimmen in Lindners Kopf als Hinweis auf mehrere Perspektiven in Landläufiger Tod gedeutet: „Gleichermaßen durch Lindners Stimmenhören wie sein nachhaltiges Interesse für die Lebensgeschichte(n) der Mitbewohner im Dorf bedingt, wechselt - vor allem im Buch ,Mikrokosmos‘ - beinahe von Kapitel zu Kapitel die Erzählperspektive.“ (Auer: Der österreichische Kopf, S. 263- 264.) 270 Unter anderem in Am Abgrund, Der Untersuchungsrichter und vor allem in dem Essay „Das Haus der schlafenden Vernunft“ (RIW 32-45) beschäftigt sich Roth aber ausführlich mit dem Innen von Anstalten für psychisch Kranke. <?page no="115"?> 2.3 Multiperspektivisches Erzählen 111 Pool von Erzählungen der Anstaltsinsassen: „Es sind Menschen aus der Stadt und der ganzen Provinz, und jeder trägt eine lange Geschichte mit sich.“ (LT 130) Innerhalb des Romansystems kann von dieser Bemerkung auf einzelne Märchen aus dem fünften Buch von Landläufiger Tod geschlossen werden, die Anstaltsinsassen zugeschrieben werden, obwohl andererseits der fiktive Bezugsrahmen des Märchenbuches das Ineinanderübergehen von Traum und Wachzustand ist (vgl. LT 615). Neben den Stimmen und den Anstaltsinsassen sind weitere ,Quellen‘ für Lindner die Besuche des Vaters (vgl. LT 129), Jenners, mit dem alleine sich Lindner unterhält (vgl. LT 130), sowie der Tante und Stiefschwester: Am Sonntag besuchen mich meine Tante und ihre Stiefschwester, ich darf sie jedoch nicht erkennen. Meine Tante setzt sich allerdings darüber hinweg und erzählt mir Geschichten. Ich lasse mir meine Aufmerksamkeit nicht anmerken. (LT 134) Aber eigentlich, gibt Lindner an anderer Stelle an, liegen für ihn Erzählungen in der Luft, sie würden sich aus seinem Fingerspiel ergeben, dem Regen, Wind, Hundegebell, dem Zufrieren des Teiches, er bräuchte sich, was er aber vorgibt nicht zu tun, „nur zu öffnen [...], um diese neuen Geschichten zu lesen und zu hören ...“ (LT 214) Auch das sind also mögliche Quellen, Anregungen für Geschichten, die sich aus der Atmosphäre des ländlichen Raumes ergeben, wie es ja schon in einem paratextuellen Verweis in Landläufiger Tod heißt: „Alle Personen und Geschichten sind aus der Luft gegriffen.“ (LT 4) 271 Lindner erzählt also nicht nur selbst, sondern ihm wird erzählt, er inszeniert sich als Medium des Gehörten, als Chronist, der eher Rezipient als Produzent, eher sammelnder Archivar als selbst gestaltendes, erfindendes, schaffendes Subjekt ist. 272 Man könnte in diesem Zusammenhang die 271 In Der Stille Ozean heißt es hingegen: „Bei den Figuren des Romans handelt es sich nicht um die tatsächlichen Personen der angegebenen Orte.“ (DSO 6) In diesem paratextuellen Verweis ist auch eine „gattungspoetische Deklaration“ enthalten. [Jochen Vogt: 6. Grundlagen narrativer Texte. In: Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. 2. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997. S. 287-307, hier S. 294.] Eine solche Deklaration fehlt in Landläufiger Tod, allerdings wird das Buch in den Verlagsangaben als „Roman“ bezeichnet (vgl. LT 2). 272 Unscharf aus terminologischer Sicht ist allerdings Martin Ebels Einschätzung, Franz Lindner sei „das kollektive Gedächtnis von Obergreith“. (Was die Kohlschnake erzählt. Martin Ebel über einen Roman von Gerhard Roth. In: Badische Zeitung, 11. 5. 1985. Zit. nach Evelyn Breiteneder: Zur Funktion von Naturbeschreibungen bei Gerhard Roth, Peter Handke, Gisela Corleis und Franz Weinzettl. Wien: Diplomarbeit 1989.) Lindner kann nur über die Repräsentation verschiedener Stimmen und Perspektiven <?page no="116"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 112 „Irrenanstalt“ als metaphorischen Ort verstehen, der dem Tempel der Göttin Fama in Chaucers Gedicht The House of Fame (1383) ähnelt, über den Aleida Assmann schreibt: „Über das ohrenbetäubende Stimmengewirr an diesem Ort, den man sich vorzustellen hat als eine Art Nachrichten-Börse, wohin alle Informationen von kollektivem Interesse gelangen, herrscht Fama“. 273 Diese Nachrichten sind nun Narrative und „[d]ie Künder der Taten sind die Buchhalter des Gedächtnisses.“ 274 Lindner wäre also ein anarchistischer Buchhalter der Narrative des regionalen Gedächtnisses, der über die rurale Nachrichten- Börse herrscht, indem er von ihr beherrscht wird. Lindners Position als Archivar zeigt sich schon in der ersten Erwähnung, die auf die später eingenommene Rolle des inoffiziellen Dorfchronisten verweist, nämlich in der metanarrativen Bemerkung aus „Auf dem Schneeberg“: „Ich nehme mir vor, aufzuschreiben, was meine Tante mir erzählt.“ (LT 86) Trotz dieser (Selbst-)Darstellung als Aufschreibender wird das Schreiben als Kampf, als Auflehnung und sich zur Wehr setzen deutlich gemacht: „Was meine Tante nicht wissen kann, ist der Umstand, daß ich, indem ich gegen die Einsamkeit und das Vergessenwerden anschreibe, die Oberhand über die Stimmen zu gewinnen beabsichtige und in das Dorf zurückkehren will.“ (LT 134) Es geht hier indirekt natürlich auch um einen Kampf um Zuverlässigkeit, die für Lindner in typischer Ambivalenz nicht nur im Wahnsinn, sondern eben auch außerhalb des Wahnsinns gesucht wird. Der Verweis auf die Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Quellen - Stimmen, Anstaltsbewohner, Verwandte und Jenner - führt nun zur Fragestellung des multiperspektivischen Erzählens in Landläufiger Tod, die in der bisherigen Auseinandersetzung mit diesem Roman nur am Rande thematisiert wurde. Die Frage nach dem multiperspektivischen Erzählen stand allerdings ganz generell bisher nicht unbedingt im Mittelpunkt literaturwissenschaftlichen Interesses, wie die Anglisten Vera und Ansgar Nünning, die dieses Forschungsdesiderat zu beheben suchen, feststellen. 275 In ihrer Erarbeitung einer tragfähigen und applikablen Theorie und Terminologie multiperspektivischen Erzählens versuchen Vera und Ansgar Nünning zunächst den ihrer Meinung nach unscharfen Begriff der Erzählperspektive im Roman mithilfe auf schriftliche Weise das kollektive Gedächtnis Obergreiths inszenieren, er kann es aber genau genommen nicht selbst sein. 273 Assmann: Zur Metaphorik der Erinnerung, S. 15. 274 Ebenda. 275 Vgl. Vera und Ansgar Nünning: Von ,der‘ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte, S. 6. <?page no="117"?> 2.3 Multiperspektivisches Erzählen 113 der in dieser Studie weiter unten genauer definierten dramentheoretischen Begriffe „Figurenperspektive“ und „Perspektivenstruktur“ sowie „Erzählerperspektive“ auszudifferenzieren, woraus sie folgenden zentralen Forschungsansatz ableiten: Statt also pauschal von ,der‘ Erzählperspektive eines Romans zu sprechen, wäre vielmehr danach zu fragen, welche Perspektiven fiktiver Figuren und Erzähler in einem Text dargestellt werden, welche Relationen zwischen diesen Perspektiven bestehen und wie das als ,Perspektivenstruktur narrativer Texte‘ bezeichnete Ensemble der Einzelperspektiven genauer charakterisiert werden kann. 276 Um allerdings Multiperspektivität als bedeutendes Phänomen eines Textes bestimmen zu können, wird die wichtige Einschränkung vorgenommen, dass in einem Roman „mehrere Versionen desselben Geschehens ([...] auf der Ebene der erzählten Welt)“ vorfindbar sein müssen und es „deutliche Divergenzen in der Beurteilung derselben Ereignisse, Figuren, Räume, Sachverhalte, Themen oder Weltanschauungen gibt und die Einzelperspektiven deshalb nicht ohne weiteres synthetisierbar sind.“ 277 Mit dieser Eingrenzung beziehungsweise Operationalisierung des Multiperspektivitätsbegriffs schließen Nünning und Nünning an Überlegungen von Uwe Lindemann an, der mit dem Begriff „Polyperspektivismus“ „nur solche Erzählsituationen [bezeichnet], in denen verschiedene Erzähler aus ihren je unterschiedlichen Perspektiven über ein und dasselbe Geschehen berichten.“ 278 Der „Reibungseffekt, der sich aus der Perspektivenkonfrontation ergibt“ 279 beziehungsweise der „Dissonanzeffekt in der Konfrontation zweier inkommensurabler Perspektiven“ 280 ist für Lindemann, das Forscherpaar Nünning oder auch zum Beispiel Werner Wolf 281 von entscheidender Relevanz für die Rezeption. 276 Vera und Ansgar Nünning: Von ,der‘ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte, S. 13. 277 Ebenda, S. 18-19. 278 Uwe Lindemann: Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Polyperspektivismus, Spannung und der iterative Modus der Narration bei Samuel Richardson, Choderlos de Laclos, Ludwig Tieck, Wilkie Collins und Robert Browning. In: Kurt Röttgers und Monika Schmitz-Evans (Hg.): Perspektive in Literatur und bildender Kunst. Essen: Die Blaue Eule 1999. S. 48-81, hier S. 48. 279 Ebenda, S. 49. 280 Ebenda, S. 69. 281 Laut Werner Wolf konzentriert sich „narratologische ,Multiperspektivität‘ [...] vornehmlich auf Werke [...], in denen eine Mehrzahl an Perspektiven derart valorisiert ist, daß dem Leser nicht nur kon-, sondern auch und besonders divergierende Ansichten zu denselben Sachverhalten oder Themen geboten werden.“ In: Werner Wolf: Multi- <?page no="118"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 114 Aus literaturgeschichtlicher Perspektive schreibt Uwe Lindemann dem Briefroman eine besondere Rolle bei der Herausbildung multiperspektivischer Erzählformen zu. Während die jeweiligen Briefpartner nur einen Ausschnitt der möglicherweise gleichzeitig stattfindenden Geschehnisse liefern können, ist der Leser in der privilegierten Position, diese zwei Perspektiven zusammenführen zu können. Deshalb spricht Lindemann in diesem Zusammenhang von einem „allwissenden Leser“. 282 In den sieben nicht abgeschickten Briefen ist es aber gerade das Besondere, dass das Genre des Briefromans invertiert wird und Franz Lindner ein Briefpartner fehlt. Die Reibung entsteht aus den Widersprüchen der Erzählerfigur, des Briefschreibers selbst, sie ist nicht auf Multiperspektivismus, sondern auf einen unzuverlässigen Monoperspektivismus rückführbar. Und hier klingt auch ein entscheidender Aspekt für die Beschäftigung mit Multiperspektivismus in Landläufiger Tod an: Aufgrund der Fiktion einer unzuverlässigen Erzählerfigur, die potentiell für alle Texte des Romans verantwortlich ist, kann, wie schon belegt, jeder Widerspruch, jede „Dissonanz“, jede „Reibung“ letztendlich auf diese Erzählerfigur zurückgeführt werden. 283 Trotz dieser prinzipiell zu bedenkenden Verbindung der einzelnen Figuren mit ihrem fiktiven Autor zeigt sich aber gerade in „Mikrokosmos“ ein erzählerisches Verfahren der Iteration, das, wenn es nicht ident ist, so doch analog zu multiperspektivischem Erzählen, wie es Lindemann beschreibt, funktioniert: Wiederholtes Erzählen ist nicht nur retrospektiv im Sinne eines „Wiedererkennens“, es führt gleichfalls zu einem Bruch im linearen Zeitgefüge der Narration. Es entsteht eine erzählerisch paradoxe Situation: Synchron Wahrgenommenes wird sukzessive aufgelöst. Hieraus resultiert eine Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, die die angesprochenen Reibungseffekte im polyperspektivischen Darstellungsmodus zusätzlich verstärkt. 284 perspektivität: Das Konzept und seine Applikationsmöglichkeiten auf Rahmungen in Erzählwerken. In: Nünning/ Nünning (Hg.): Multiperspektivisches Erzählen, S. 79-109, hier S. 87. 282 Lindemann: Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, S. 50. 283 Vergleiche dazu die Passage aus Der Untersuchungsrichter: „Zwangsläufig sind Widersprüchlichkeiten ein Ausdruck des Lebens, während das widerspruchsfreie Denken kein lebendiges ist, sondern ein Modell, etwas Nachgemachtes, Mechanisches, mit Scharnieren und Gelenken, im Grunde genommen Schwerfälliges, auch wenn es Menschen gibt, die damit Kunststücke zuwege bringen.“ (UR 81) 284 Lindemann: Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, S. 57. <?page no="119"?> 2.3 Multiperspektivisches Erzählen 115 Wiederholt erzählt werden allerdings in „Mikrokosmos“ weniger ganz konkrete historische Ereignisse, als vielmehr bestimmte zeitliche Perioden. So finden sich immer wieder Texte zu den Geschehnissen in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges, ohne aber jeweils eine groß angelegte Alternativversion zum Informationsstand zu liefern, sondern eher um die bekannte/ n Perspektive/ n zu ergänzen. Irritationen, „Divergenzen“, „Reibungen“ und „Dissonanzen“ ergeben sich eher nebenbei in vorgeblichen Details vor allem zu den Biographien einzelner Figuren, die dann die gesamte Narration dieser Figuren in Frage stellen. So wird die ausführliche Erinnerungserzählung von Lindners Vater in „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“, in der er von seinen Erlebnissen mit Tito-Partisanen, Ustaša-Soldaten und den alliierten Besatzungsmächten berichtet, über solche Details grundlegend in Frage gestellt: In „Auf dem Schneeberg“ erzählt die Tante Lindner, dass sein „Vater aus der Gefangenschaft zurückkam“ (LT 102) und sich als Imker selbstständig machte. Der Vater selbst erzählt im titelgebenden Kapitel „Landläufiger Tod“ Ascher in Taubstummensprache sein Leben, erwähnt aber nichts von einer Kriegsgefangenschaft, sondern erzählt stattdessen, dass „er hätte zum ,Volkssturm‘ einrücken müssen“ (LT 116). Im „Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ erwähnt der Vater hingegen immer wieder tote (LT 479) oder sich ergebende Volkssturmmänner (LT 502), sich selbst schildert er aber als Zivilisten, der nach seiner Odyssee wieder im Dorf bei seinem Großvater ankam - ohne in Kriegsgefangenschaft zu geraten. Es sind also kleine „Dissonanzen“ in unterschiedlichen Erzählsettings (Tante - Lindner, Vater - Ascher - Lindner, Vater - Lindner), die sich einerseits auf die Glaubwürdigkeit/ Zuverlässigkeit der Figuren wie der Erzählung selbst auswirken. 285 Andererseits können diese Widersprüche als Verweise auf die Brüchigkeit oder Instabilität von Erinnerung gedeutet werden, wodurch sie den einzelnen Texten nichts von ihrer Aussagekraft und ihrem Sinngehalt nehmen würden. Vera und Ansgar Nünning haben in der Tradition strukturalistischer Narratologie - obwohl sie sich selbst aufgrund ihres Einbeziehens kulturwissen- 285 Surkamp: Die Auflösung historischen Geschehens in eine Vielfalt heterogener Versionen, S. 168: „Auf der Ebene der Gesamtstruktur des Textes schreibt der Leser einzelnen Perspektiven Unzuverlässigkeit zu, wenn diese sich nicht synthetisieren lassen und dadurch interne Widersprüche zwischen den Einzelversionen über das Geschehen auf Figurenebene entstehen.“ <?page no="120"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 116 schaftlicher Ansätze einer postklassischen Erzähltheorie zugehörig sehen 286 - eine Reihe von Analyserastern zum multiperspektivischen Erzählen entwickelt, von denen im Folgenden jenes zu den „Erscheinungsformen multiperspektivischen Erzählens“ 287 in seiner Tragfähigkeit für eine terminologisch konzise Analyse von Landläufiger Tod und Zyklus erprobt werden soll. Allerdings gilt, was die Integration der homodiegetischen Erzählerfigur Lindner in Fragestellungen zu multiperspektivischem Erzählen betrifft, dass „die Erzählforschung dem erzähltheoretisch wie interpretatorisch gleichermaßen relevanten Zusammenhang zwischen multiperspektivischem Erzählen und dem Phänomen unreliable narration noch kaum Beachtung geschenkt“ 288 hat. 289 Nünning und Nünning unterscheiden „drei Grundformen von Multiperspektivität in narrativen Texten“, nämlich „multiperspektivisch erzählte“, „multiperspektivisch fokalisierte“ und „multiperspektisch strukturierte bzw. collagierte Texte“. 290 Bei letzteren handelt es sich um Erzählungen, in denen die Auffächerung des Geschehens in mehrere Versionen oder Sichtweisen nicht oder nicht allein auf personalisierten Instanzen beruht, sondern auf der montage- oder collageartigen Kombination verschiedener Textsorten. 291 Multiperspektivisch strukturierte Texte liegen nun „insofern selten in Reinform vor, als es in solchen Texten neben der montage- oder collageartigen Kombination verschiedenartiger Textsorten oftmals zugleich mehrere Erzählund/ oder Fokalisierungsinstanzen gibt.“ 292 Laut Nünning und Nünning be- 286 Vgl. Ansgar Nünning und Vera Nünning: Von der strukturalistischen Narratologie zur ,postklassischen‘ Erzähltheorie: Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen. In: dies. (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002 (WVT- Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 4). S. 1-33. Kurz und vereinfacht gesagt ist die postklassische Narratologie/ Erzähltheorie eine strukturalistische Narratologie, die verschiedene Kontexte miteinbezieht. 287 Vera Nünning und Ansgar Nünning: Multiperspektivität aus narratologischer Sicht: Erzähltheoretische Grundlagen und Kategorien zur Analyse der Perspektivenstruktur narrativer Texte. In: dies. (Hg.): Multiperspektivisches Erzählen, S. 39-77, hier S. 46. 288 Vera Nünning und Ansgar Nünning: Von ,der‘ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte, S. 35. 289 Vgl. dazu aber die Ausführungen von Werner Wolf: Multiperspektivität, vor allem S. 80-88, sowie den Aufsatz von Carola Surkamp: Die Auflösung historischen Geschehens in eine Vielfalt heterogener Versionen: Perspektivenstruktur und unreliable narration in Paul Scotts multiperspektivischer Tetralogie Raj Quartet. 290 Vera Nünning und Ansgar Nünning: Multiperspektivität aus narratologischer Sicht, S. 42. 291 Ebenda. 292 Ebenda. <?page no="121"?> 2.3 Multiperspektivisches Erzählen 117 zeichnet Volker Neuhaus in seiner Pionierarbeit „Typen multiperspektivischen Erzählens“ diesen Typus als „Archivroman“. 293 Berücksichtigt man diese Charakteristika, so liegt es nahe, Landläufiger Tod - wie auch die Archive des Schweigens verstanden als ein einziges großes Buch - diesem Typus zuzuordnen. Liest man Landläufiger Tod als einzelnen Roman innerhalb eines Zyklus, so kann von einer Kombination aus zwei Subtypen multiperspektivisch strukturierter Texte ausgegangen werden: Nämlich jenem „Typ 3a“, der „eine variable große Zahl und Streubreite von intertextuellen Bezügen auf nicht-fiktionale Textsorten wie Zeitungen, Briefe, Verhördialoge, Dokumentarberichte oder andere Sachtexte“ 294 aufweist. Das gilt für den Zusammenhang mit Im tiefen Österreich, Eine Reise in das Innere von Wien und zum Teil auch für die Geschichte der Dunkelheit. Sowie jenem „Typ 3b“, der [a]m anderen Ende des Spektrums zwischen den Polen fiktional vs. nichtfiktional [...] solche[r] multiperspektivisch strukturierten Texte angesiedelt [ist], die eine sehr hohe Dichte, Häufigkeit und Streubreite von intertextuellen Einzeltext- und Gattungsreferenzen auf fiktionale Werke aufweisen [...]. 295 Das gilt sowohl für Verweise auf Werke außerhalb des Zyklus, auf die in dieser Studie immer wieder eingegangen wird, wie auf Genres (Briefroman, Märchen, Heimatroman etc.), aber auch für die Verbindungslinien zu Der Stille Ozean, Am Abgrund, Der Untersuchungsrichter und teilweise zur Geschichte der Dunkelheit. Schwieriger allerdings erweist sich eine Zuordnung von Landläufiger Tod auf die separat vom dritten Typus der „multiperspektivisch strukturierten Texte“ von Nünning und Nünning gedachte Ebene der Erzählung und Fokalisierung. Franz Lindner ist im Prinzip die einzige intra- oder homodiegetische Erzählinstanz, die allerdings nicht immer als homodiegetisch wahrnehmbar ist. Texte wie zum Beispiel „Der Russe“ oder „Drei Tote“ sind von einer unbestimmten heterodiegetischen Erzählinstanz bestimmt, eine Reihe von Texten wiederum ist als inszenierte Erinnerung, also als direkte Rede mit (zum Teil) Erzählereinschüben, gestaltet („Letzte Kriegstage“, „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“). Eine Beschreibung der narratologisch erfassbaren 293 Volker Neuhaus: Typen multiperspektivischen Erzählens. Köln: Böhlau 1971. S. 75 f. Zit. nach Vera Nünning und Ansgar Nünning: Multiperspektivität aus narratologischer Sicht, S. 42. 294 Ebenda, S. 45. 295 Ebenda, S. 45. <?page no="122"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 118 Beschaffenheit dieses Romans könnte also folgendermaßen aussehen: Landläufiger Tod ist großteils homodiegetisch erzählt, es gibt aber ebenso eine - wenn man will auf die homodiegetische Erzählinstanz beziehbare - heterodiegetische, zum Teil omniszente, nicht-personalisierte Erzählinstanz. 296 Die direkten Reden der Erinnerungserzählungen könnten als Fokalisierungen aufgefasst werden, wodurch von einer abwechselnd homo- und heterodiegetischen multiperspektivischen Fokalisierung des Romans ausgegangen werden kann. Außerdem ist der Roman aber auch noch multiperspektivisch strukturiert, was zum Teil mit der als Folie stets vorhandenen Zyklusebene zu tun hat. 297 Auf die genre- und medienspezifische Multiperspektivität des Zyklus wurde schon in der Einleitung hingewiesen. Beim Versuch einer narratologischen Einordnung von Landläufiger Tod wird allerdings vor allem eines virulent: Man muss für eine angemessene Lektüre dieses Romans seine einzelnen Teile genau (close reading) und mit Blick auf das jeweils dominante Genre, die jeweils vorhandene Erzählinstanz, die variierenden Fokalisierungen, Figuren- und Raumrepräsentationen sowie vor allem auf das dominante Problem oder Thema hin lesen. Ansonsten sind nur unverbindlich allgemeine, leicht widerlegbare oder heillos komplizierte Aussagen möglich. Oder ganz anders gesagt: Für einen mit Denkfiguren des Poststrukturalismus kompatiblen, experimentellen Text sind Kategorien strukturalistischer Narratologie nur von sekundärer Relevanz. Ein solcher Text widersetzt sich Schematisierungen und Kategorisierungen in seinem Versuch, die Grenzen konventionellen Erzählens beständig zu überschreiten und das Funktionssowie Wirkungspotential fiktionaler Texte auszuloten. Benötigt eine klassische strukturalistische Analyse textuelle Kontinuität, so ist für eine als poststrukturalistisch bezeichenbare Textakkumulation wie Land- 296 Gaby Allrath stellt fest, dass ein „homodiegetischer und damit psychologisch-kognitiv beschränkter Erzähler [...] durch Wiedergabe der Gedanken und Empfindungen [...] [anderer Figuren; G. L.] Zweifel an der Glaubwürdigkeit seiner Darstellungen [erweckt], da ein homodiegetischer Erzähler qua conventione keinen Zugang zu den Gefühls- und Bewußtseinsprozessen anderer Figuren hat, sofern diese Kenntnis nicht durch Erläuterung und Benennung der Informationsquelle legitimiert wird.“ In: Allrath: „But why will you say that I am mad? “, S. 69. Walter Grond versteht dieses Problem, unter Bezugnahme auf das Schreibmodell Bien, so: Der „Erzähler Franz Lindner hält sich [...] nicht mehr an die Perspektive, daß ein Kopf alle Geschichten zusammenhält, sondern läßt über sich hinaus den Erzählfluß ausufern. [...] Der Erzähler selbst wird dann in der Ausuferung der Erzählung zum Verschwinden gebracht“. (Grond: Genese eines Romans, S. 157.) 297 Vgl. für diese versuchten Zuordnungen die Tabelle bei Vera Nünning und Ansgar Nünning: Multiperspektivität aus narratologischer Sicht, S. 46. <?page no="123"?> 2.3 Multiperspektivisches Erzählen 119 läufiger Tod Diskontinuität das eine ,poststrukturalistische Struktur‘, verstanden als Kohärenz der Inkohärenz, bildende Moment. Ebenso problematisch erscheint die Ebene der Analyse der Perspektivenstruktur, wenn man die in Landläufiger Tod vorhandenen Perspektiven von Toten oder theriomorphen ,Figuren‘ berücksichtigen möchte. Diese Schwierigkeit wird übrigens von Nünning und Nünning selbst thematisiert: Setzen solche experimentellen und illusionsdurchbrechenden Textstrategien realistische Parameter weitgehend oder völlig außer Kraft, so kommen auch Konzepte wie Figurenperspektive, Erzählerperspektive und Perspektivenstruktur an ihre Grenzen. 298 Einer von diesen Termini abhebenden vollständigen narratologischen Erfassung entzieht sich also Landläufiger Tod. Was jedoch versucht werden kann, ist eine teilweise, selektive, das heißt sich auf die im Wesentlichen an nichtfiktionale Diskurse anschließenden Passagen konzentrierende Verwendung der Nünning’schen Kategorien und Analysewerkzeuge. Als wichtig erweisen sich vor allem die „semantische“ und die „syntaktische Dimension multiperspektivischen Erzählens“. 299 Die hierzu stellenden Fragen sind einfach: Wer und wie ist der Perspektiventräger und wie wirkt sich die Antwort auf diese erste Frage auf das dargestellte Geschehen aus? Wie stehen die einzelnen Perspektiven im Hinblick auf den Gesamttext zueinander und wofür (für welche Diskurse oder Kollektive) stehen sie? Dabei sind vier zentrale Begriffsdefinitionen zu beachten, nämlich zum einen der Terminus „Figurenperspektive“, der „die Beschaffenheit des Eigenschaftsspektrums einer Figur bzw. das System aller Voraussetzungen, das ihr subjektives Wirklichkeitsmodell konstituiert“ 300 bezeichnet. Zweitens „das Konzept der Erzählerperspektive[, das sich] nicht auf das ,Wie‘ der erzählerischen Vermittlung, sondern auf das Persönlichkeitsbild, das Rezipienten auf der Grundlage der im Text enthaltenen Informationen von der Erzählinstanz entwerfen“, 301 bezieht. Drittens der „fiktive Adressat“, der bei dieser Arbeit und in Landläufiger Tod nicht im Zentrum steht, und schließlich viertens der Begriff der „Perspektivenstruktur“ selbst: 298 Ebenda, S. 73. 299 Vera und Ansgar Nünning: Von ,der‘ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte, S. 21. 300 Vera und Ansgar Nünning: Multiperspektivität aus narratologischer Sicht, S. 49. 301 Ebenda. <?page no="124"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 120 Die Perspektivenstruktur narrativer Texte konstituiert sich durch die Beziehungen aller Figurenperspektiven zueinander und durch deren Verhältnis zur Erzählerperspektive sowie zur Perspektive des fiktiven Lesers. Sie ergibt sich aus dem übergeordneten System von Kontrast- und Korrespondenzrelationen zwischen allen Einzelperspektiven eines Textes. Der Begriff umfaßt zwar das Gesamt aller Einzelperspektiven eines narrativen Textes, zielt aber nicht auf die Einzelperspektiven selbst, sondern auf deren komplexe Wechselbeziehungen ab. 302 Auf eine Perspektivenstruktur im hier verstandenen Sinn kann bei Landläufiger Tod nur partiell über die Analyse einzelner Texte und bestimmter Textdetails, die zueinander in narrative Bezüge gesetzt werden, geschlossen werden. Auf solche Bezüge wird in den Einzeltextanalysen des dritten Teiles eingegangen. Bei diesem Abschnitt hingegen geht es, wie schon im Kapitel zum unzuverlässigen Erzählen, um Prämissen der Lektüre und auf den gesamten Text gerichtete Lesarten. Im Zentrum stehen eine Analysekategorie („Multiperspektivität“) und ihre Auswirkungen auf die Interpretation des gesamten Romans. Diese potentiellen Implikationen wurden von Astrid Erll für ihre Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses folgendermaßen beschrieben: Die Perspektivenstruktur narrativer Texte, die Gesamtheit der Kontrast- und Korrespondenzrelationen von Figuren- und Erzählerperspektiven, gehört zu den wichtigsten literarischen Formen, die ein antagonistisches Aushandeln verschiedener Gedächtnisversionen ermöglichen. 303 Dem antagonistischen Modus zuordenbare literarische Arbeiten entwerfen „Gegen-Erinnerung [...], etwa indem sie das Gedächtnis marginalisierter Gruppen darstellen oder andere Selbstbilder und Werthierarchien als die der dominierenden Erinnerungskultur inszenieren.“ 304 Ein besonders treffendes und satirisches Beispiel hierfür wäre laut Erll die Erzählung des Holzwurms von seiner Reise auf der Arche Noah als unerwünschter blinder Passagier in Julian Barnes’ A History of the World in 10½ chapters. In der Form eines Gegennarrativs zur dominierenden Version schildert der Holzwurm, der sich erst am Ende des Kapitels als solcher zu erkennen gibt, das brutale Verhalten Noahs gegenüber den Tieren: „Did you know about the time he had the ass 302 Ebenda, S. 51. 303 Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 180. [Fettdruck von G. L. weggelassen] 304 Ebenda, S. 178. <?page no="125"?> 2.3 Multiperspektivisches Erzählen 121 keel-hauled? Is that in your archives? “ 305 In Widerspruch zum bekannten Narrativ der Menschen repräsentiert er die bis dato nicht repräsentierte, weil ohne ,Stimme‘ seiende, Perspektive der Tiere auf der Arche: „An atmosphere of paranoia and terror held sway on that Ark of Noah’s.“ 306 Die „marginalisierte Gruppe“ in Landläufiger Tod ist die ländliche Bevölkerung der Südweststeiermark. Es ist das Dorf, um das sich Lindners ganzes Denken und Schreiben dreht und dem er im Kontext des gesamtösterreichischen Gedächtnisses eine Stimme gibt, wie er auch unterdrückten Stimmen innerhalb des fiktiven Dorfgedächtnisses Gehör verschafft, zum Beispiel dem Mauthausenüberlebenden Karl Gockel. Außerhalb des fiktiven Rahmens gilt das natürlich ebenso für Gerhard Roth und sein In-den-Blick-rücken der Landbevölkerung, ihrer Lebensweisen und Geschichten im Rahmen des Zyklus wie in den ,inoffiziellen‘ Zyklusteilen. Aufgrund der Konzentration auf den ländlichen Schauplatz kann folgende Feststellung Erlls also für Landläufiger Tod, Der Stille Ozean und - trotz der dokumentarischen Form - Im tiefen Österreich Gültigkeit beanspruchen: „Texte, in denen der antagonistische Modus vorherrscht, zeichnen sich - auch wenn in ihnen eine Vielfalt von Perspektiven dargestellt wird - durch eine relative Geschlossenheit ihrer Perspektivenstruktur aus.“ 307 Lindners Inszenierung eines dörflichen „Wir“, für das er zu sprechen vorgibt, lässt sich mit Susan Lansers Konzept der communal voice verbinden, das Birgit Neumann als paradigmatisch für das Genre des „kommunalen Gedächtnisromans“ bestimmt hat: Das gruppenspezifische Repertoire an Erfahrungen, Identitätskonzepten und Werten wird im kommunalen Gedächtnisroman typischerweise von einer communal voice vermittelt, die als Sprachrohr einer bestimmten Erinnerungsgemeinschaft sowie ihrer Erfahrungen, Wertehierarchien und Identitätsvorstellungen auftritt. 308 Im „kommunalen Gedächtnisroman“ geht es laut Neumann um das Sichtbarmachen einer Identitätsformation im Kontext größerer kollektiver Gedächtnisse, um das Schreiben eines Gegennarrativs zu dominanten Gedächt- 305 Julian Barnes: A History of the World in 10½ chapters. London, Basingstoke und Oxford: Picador 2005. S. 24. 306 Ebenda, S. 26. 307 Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 180. 308 Birgit Neumann: Erinnerung - Identität - Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of Memory“. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005 (Media and Cultural Memory 3). S. 224. <?page no="126"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 122 niserzählungen. Insofern können Der Stille Ozean und Landläufiger Tod als „kommunale Gedächtnisromane“, die logischerweise zu Erlls antagonistischem Modus passen, verstanden werden, wie ja auch Schütte - ohne den Terminus zu verwenden - feststellt: Die steirische Provinz erscheint im Landläufigen Tod, mehr noch als im vorhergehenden Roman, als ein Reservat randständiger Lebens- und Kulturformen, in gewissem Sinne nicht unähnlich den abgegrenzten Bereichen, in die die Gesellschaft das ihr Inkompatible abdrängt, also Asyle, Ghettos, Slums oder Reservate. 309 Kritisch zu bedenken gilt allerdings besonders für Landläufiger Tod, was Susan Lanser bemerkt: „[C]ommunal voice might be the most insidious fiction of authority, for in Western cultures it is nearly always the creation of a single author appropriating the power of a plurality.“ 310 Auch wenn Gerhard Roth von der Fokalisierung auf den ortsfremden Ascher zur ortskundigen Erzählerfigur Lindner und einer anderen Form der Darstellung dörflicher Stimmen übergegangen ist, so handelt es sich eben doch um den Roman eines Städters, der auf das Land gezogen ist und einen, natürlich äußerst komplexen und vielfältig semantisierten, fiktiven Wir-Erzähler für die antagonistische Repräsentation der dörflichen Gedächtnisnarrative konstruiert hat. Wobei es in Anbetracht der postkolonialen Schlagseite von Lansers Argument zu berücksichtigen gilt, dass Roth die communal voice mit dem für „kommunale Gedächtnisromane“ charakteristischen Ziel eingeführt hat, „die Anerkennung von marginalisierten Vergangenheitsversionen gesellschaftlich einzufordern.“ 311 Für ihn ging es auch um die Rehabilitierung der Gruppe der Bauern, welche für ihn „eindeutig die sozial am meisten benachteiligte Bevölkerungsschicht in unserem Lande sind.“ 312 Außerdem können diese marginalisierten Gedächtnisnarrative ebenso als Kritik an bestimmten Verhaltensweisen, zum Beispiel während der Nazi-Zeit, verstanden werden, die im offiziellen öster- 309 Schüttte: Auf der Spur der Vergessenen, S. 124. 310 Susan Sniader Lanser: Fictions of Authority. Women Writers and Narrative Voice. Ithaca, New York: Cornell University Press 1992. S. 22. Neumann, die dieses Zitat ebenfalls anführt, scheint allerdings Lansers Aussage nicht unbedingt in Bezug auf deren kritischen Gehalt zu lesen. (Vgl. Neumann: Erinnerung - Identität - Narration, S. 167-168). 311 Neumann: Erinnerung - Identität - Narration, S. 225. 312 Gerhard Roth: Vom Landleben in der Steiermark. In: ders.: Menschen, Bilder, Marionetten. Prosa. Kurzromane. Stücke. Frankfurt/ Main: Fischer 1979. S. 135-137, hier S. 136. <?page no="127"?> 2.3 Multiperspektivisches Erzählen 123 reichischen Gedächtnis lange Zeit nur eine marginalisierte Rolle gespielt haben. Im Rahmen der Diskussion von Perspektivenstruktur und multiperspektivischem Erzählen soll nun der in den letzten Jahren von den Kulturwissenschaften wieder entdeckte russische Literaturtheoretiker Michail Bachtin ins Spiel gebracht werden. Während Bachtins Konzept des Chronotopos vor allem im Kontext des spatial turn rezipiert wurde und sein Begriff der Hybridität von der Identitätsforschung Homi K. Bhabha’scher Prägung aufgegriffen wurde, 313 ist für den hier zu diskutierenden Sachverhalt seine Theorie der „sozialen Redevielfalt im Roman“ von Relevanz. Während Nünning und Nünning von „Bachtins Metaphern“ 314 sprechen und kritisieren, dass „Bachtin zwar metaphorisch anschaulich, aber aus erzähltheoretischer Sicht sehr vage“ 315 formuliert, sieht Astrid Erll Parallelen zwischen Maurice Halbwachs und Bachtin und betont die Produktivität der Bachtin’schen Thesen für einen gedächtnistheoretischen Ansatz: So wie Halbwachs konstatiert, dass jedes individuelle Gedächtnis ein ,Ausblickspunkt‘ auf das kollektive Gedächtnis sei, könnte man Bachtins Überlegungen dahingehend formulieren, dass mit jedem im Roman dargestellten ,Wort‘ ein ,Ausblickspunkt‘ auf eine ganze soziale Gruppe, ihre Wirklichkeitsdeutungen und Gedächtnisnarrative zur Darstellung kommt. 316 Es ist übrigens bemerkenswert, dass Erll an dieser Stelle Multiperspektivität dem reflexiven Modus im Sinne einer Problematisierung homogenisierender Gedächtnisnarrative zuordnet. Dissonantes multiperspektivisches Erzählen und unzuverlässiges Erzählen sind also beide stets auch ein Hinweis auf den Konstruktcharakter kollektiver Gedächtnisse, von unterschiedlichen Seiten kommend führen beide Erzählformen zum selben Ergebnis, wie Carola Surkamp in einem schon zitierten Aufsatz zu Perspektivenstruktur und unzuverlässigem Erzählen in Paul Scotts Romantetralogie Raj Quartet feststellt: „Fügen sich die kontrastierenden Versionen nicht in eine zusammenhängende 313 Allerdings wird der Begriff der Hybridität inzwischen wegen seiner problematischen Herkunft kritisiert, zum Teil wird stattdessen „Synkretismus“ verwendet. 314 Vera und Ansgar Nünning: Multiperspektivität aus narratologischer Sicht, S. 48. 315 Ebenda, S. 47. 316 Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 188. <?page no="128"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 124 Darstellung, dann wird die Möglichkeit, den objektiven Geschehensverlauf zu rekonstruieren, implizit negiert.“ 317 Wenden wir uns nun Michail Bachtins Aufsatz „Das Wort im Roman“ zu, der einige grundlegende romantheoretische und für das hier zu diskutierende Thema von Figuren, die als „singuläre Kollektivstimmen“ 318 aufgefasst werden können, wichtige Passagen enthält. Bachtin geht es in seinem Aufsatz um eine Gattungsstilistik des Romans, um die Besonderheiten des Romangenres und seine Dialogizität mit der außerliterarischen Wirklichkeit. Eine zentrale These von „Das Wort im Roman“ lautet, dass „[d]er Roman [...] künstlerisch organisierte Redevielfalt, zuweilen Sprachvielfalt und individuelle Stimmenvielfalt“ ist und also gilt: [D]er Roman orchestriert seine Themen, seine gesamte abzubildende und auszudrückende Welt der Gegenstände und Bedeutungen mit der sozialen Redevielfalt und der auf ihrem Boden entstehenden individuellen Stimmenvielfalt. Die Rede des Autors und die Rede des Erzählers, die eingebetteten Gattungen, die Rede der Helden sind nur jene grundlegenden kompositorischen Einheiten, mit deren Hilfe die Redevielfalt in den Roman eingeführt wird. 319 Die von Astrid Erll formulierte These von Figuren als „Ausblickspunkten“ auf kollektive Vorstellungen zum Beispiel von Vergangenheit leitet sich nun von folgender Äußerung Bachtins ab: „[A]lle Sprachen der Redevielfalt stehen […] für spezifische Sichten der Welt, für eigentümliche Formen der verbalen Sinngebung, besondere Horizonte der Sachbedeutung und Wertung.“ 320 Die sozialen Sprachen lassen sich nach Bachtin „als Sichtweisen der Welt auffassen.“ 321 Die Bestimmung der Kompositionsformen der Redevielfalt im Roman ist ein grundlegendes Anliegen von Bachtins Aufsatz. Ausgehend vom englischen und deutschen humoristischen Roman und seiner Parodierung sozialer Reden wendet er sich Kategorien zu, die für alle Ausprägungen des Romangenres von Relevanz sind und trotz der oben zitierten Kritik die Basis der 317 Surkamp: Die Auflösung historischen Geschehens in eine Vielfalt heterogener Versionen, S. 167. 318 Stephan Jaeger: Multiperspektivisches Erzählen in der Geschichtsschreibung des ausgehenden 20. Jahrhunderts: Wissenschaftliche Inszenierungen von Geschichte zwischen Roman und Wirklichkeit. In: Nünning/ Nünning (Hg.): Multiperspektivisches Erzählen, S. 323-346, hier S. 334. 319 Bachtin: Das Wort im Roman, S. 157. 320 Ebenda, S. 183. 321 Ebenda, S. 184. <?page no="129"?> 2.3 Multiperspektivisches Erzählen 125 Nünning’schen Thesen ausmachen. Analog zur Nünning’schen Erzählerperspektive betont Bachtin die Funktion des „fiktive[n] Autors und Erzähler[s]“, die besonders dann bedeutend sind, „wo sie Repräsentanten eines besonderen verbal-ideologischen, sprachlichen Kontexts, eines besonderen Standpunktes gegenüber der Welt und den Ereignissen, besonderer Wertungen und Intonationen [...] sind.“ 322 Bachtin legt in diesem Zusammenhang Wert auf die Unterscheidung zwischen Erzähl(er)instanz und realem Autor, da ihn gerade die Differenzen in der Weltsicht zwischen Figur und Mensch interessieren. Allerdings, das sei hier als Einschub festgestellt, sind diese Differenzen nur über eine autorzentrierte Interpretation erschließbar. Einen weiteren wesentlichen Aspekt der Redevielfalt im Roman nach Bachtin’schem Verständnis bilden die Gattungen im Roman wie „Beichte, Tagebuch, Reisebeschreibung, Biographie, Brief und einige mehr. [...] Jede dieser Gattungen steht für unverwechselbare verbal-semantische Weisen der Aneignung der verschiedenen Aspekte der Wirklichkeit.“ 323 Das Vorkommen unterschiedlicher Textsorten oder Gattungen haben Nünning und Nünning innerhalb der Kategorie „multiperspektivisch strukturierter Erzählformen“ in ihren Analysekatalog integriert. 324 Was die Nünning’sche Kategorie der Figurenperspektive betrifft, so lässt sie sich mit zwei unterschiedlichen Konzepten Bachtins in Verbindung bringen. Eines dieser Konzepte wird von Bachtin als „Rede“ oder „Zonen der Helden“ 325 verstanden. Für Bachtin ist besonders die sich über die eigentliche Rede des Helden, über das Wort des Helden ausbreitende und sich im Text zum Teil auch schon weiter von den Passagen zum Helden entfernt befindende Dialogizität zwischen Autor- und Heldenwort von besonderem Interesse. In dieser Zone „herrschen die verschiedenartigsten Formen hybrider Konstruktionen vor, und sie ist immer mehr oder weniger dialogisiert; in ihr spielt 322 Ebenda, S. 202. 323 Ebenda, S. 210. 324 Interessanterweise deutet Christelle Strauss die in den Archiven des Schweigens vorkommenden Genres als Archive: „Die verschiedenen Arten von Archiven stellen die verschiedenen Textsorten des Zyklus heraus: Essays, Märchen, Fotos, Zeichnungen, usw. Je nach der thematischen Akzentuierung wird eine passende Textsorte verwendet.“ (Strauss: Auf der Suche nach Totalitäten im österreichischen Roman des 20. Jahrhunderts, S. 292.) Diese einzelnen Archive stünden für Bachtin nun - im Sinne der Erll’schen/ Nünning’schen Kategorie „Gattungen als Orte des Gedächtnisses“ - in genrespezifischen Kontexten und weisen typische Semantisierungen (die aber auch ex negativo wirken können) auf. 325 Bachtin: Das Wort im Roman, S. 209. <?page no="130"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 126 sich der Dialog zwischen dem Autor und seinen Helden ab“. 326 Ein Wort kann, so verstanden, sowohl zur Sprache des Helden als auch des Autors gehören, ist also ein „zweistimmiges Wort“, 327 wobei nur eine genaue Syntax- und Stilanalyse eine Bestimmung und Zuordnung ermöglichen kann. Näher allerdings am Nünning’schen Verständnis der Figurenperspektive ist ein anderes Konzept: „Der grundlegende, ,spezifizierende‘ Gegenstand der Romangattung, der die stilistische Besonderheit des Romans begründet, ist der sprechende Mensch und sein Wort.“ 328 Drei Punkte sind Bachtin hierbei besonders wichtig. Der erste betrifft die - von Paul Ricoeur mit seinem Drei-Stufen- Modell ausdifferenzierte - 329 Mimesis, die Bachtin als „verbale und künstlerische Abbildung“ 330 begreift. Für diese Studie sind nun aber vor allem der zweite und dritte Punkt Bachtins von Interesse, da in diesen der soziale Kontext von Romanfiguren herausgearbeitet wird: 2. Der sprechende Mensch des Romans ist wesentlich ein gesellschaftlicher Mensch, ein historisch konkreter und bestimmter Mensch, und sein Wort ist eine soziale Sprache [...], kein „individueller Dialekt“. [...] Die Spezifika des Wortes eines Romanhelden erheben Anspruch auf soziale Bedeutsamkeit und soziale Verbreitung - es sind dies potentielle Sprachen. 331 Während der zweite Punkt also die prinzipielle Verbindung der Figuren- und Erzählerreden in Romanen zu bestimmbaren außerliterarischen sozialen Systemen betont, wird im dritten Punkt die Möglichkeit der Verortung, der Positionierung in diesem konkreten sozialen System angesprochen: 3. Der sprechende Mensch des Romans ist in diesem oder jenem Grade stets ein Ideologe, seine Wörter sind immer ein Ideologem. Eine besondere Sprache steht im Roman allemal für einen besonderen Standpunkt gegenüber der Welt, einem Standpunkt, der auf soziale Bedeutsamkeit pocht. 332 Bei Vera und Ansgar Nünning ist Bachtins dritter Punkt einer von ebenfalls drei Faktoren, welche die Figurenperspektive formen, nämlich jener „die ideologische Orientierung der Figur“ betreffender, der allerdings aufgrund der negativen Konnotierung des Wortes „Ideologie“ durch die Termini „Wer- 326 Ebenda, S. 209. Vgl. zum Begriff der „Hybridisierung“ auch S. 244-247. 327 Ebenda, S. 213. 328 Ebenda, S. 220. 329 Nämlich Präfiguration (außerliterarische Realität), Konfiguration (literarische Transformation) und Refiguration (Rezeption). Vgl. dazu Müller-Funk: Kulturtheorie. S. 299-300. 330 Bachtin: Das Wort im Roman, S. 220. 331 Ebenda, S. 221. 332 Ebenda, S. 221. <?page no="131"?> 2.3 Multiperspektivisches Erzählen 127 te und Normen“ ersetzt werden könnte; die anderen beiden Faktoren beziehen sich auf den „Informationsstand der Figur [...] [und] die psychologische Disposition der Figur“. 333 Diese Bachtin’schen und Nünning’schen Analysekategorien sind eine Folie für die Herausarbeitung der Figurenperspektiven in den Einzeltextanalysen des „Mikrokosmos“-Kapitels. 334 Die Bandbreite dieser Perspektiven leitet sich ab von den Lindner’schen „Quellen“, wobei eine Grauzone besteht, was den fiktiven Entstehungsort der Geschichts- und Geschichtenpartikel in „Mikrokosmos“ und damit die aus den textuellen Informationen in den „Sieben nicht abgeschickten Briefen“ ableitbaren Quellen betrifft, worauf im folgenden Abschnitt eingegangen wird. 333 Nünning/ Nünning: Multiperspektivität aus narratologischer Sicht, S. 48. 334 Übrigens hat Monika Kraus in ihrer Diplomarbeit zu „Geschichtsphilosophischen Ansätzen im ,Landläufigen Tod‘ von Gerhard Roth“ ein Unterkapitel mit „Polyphonie“ (Monika Kraus: Geschichtsphilosophische Ansätze im „Landläufigen Tod“ von Gerhard Roth. Wien: Diplomarbeit 1986. S. 18-20) betitelt, wobei allerdings unklar bleibt, auf welches theoeretische Konzept Kraus hier Bezug nimmt. Ohne Bachtin zu erwähnen, zitiert die Autorin einige Passagen aus Roths Roman und ordnet sie einem wissenschaftlichen, epischen und surrealistischen Sprachstil zu. Bemerkenswert ist aber jedenfalls ein Zitat von Roth gegenüber Kraus: „Ich will kein Ideologe sein.“ (S. 19). <?page no="132"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 128 2.4 Figuren- und Archivfortschreibungen Immer wieder thematisiert Franz Lindner in „Mikrokosmos“ den Prozess des Aufschreibens, zum Beispiel besonders deutlich in „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“, als Lindner im Haus der Tante schreibt, während im Nebenzimmer eine Verwandte stirbt. In „Übermacht“, dem ersten Text von „Mikrokosmos“, heißt es indessen: „Als ich nach mehrwöchiger Abwesenheit nach Hause kam, entdeckte ich in meinem Zimmer einen Hornissenkrug, der gerade von einem Mann mittlerer Größe hätte umfaßt werden können.“ (LT 197) Die Hornissen entströmen sodann dem Krug, breiten sich im ganzen Zimmer aus, erzeugen eine bedrohliche Präsenz. Lindner aber gibt an, gelassen den Koffer auszupacken, „wobei ich ruhig vor mich hinsprach. Die beschriebenen Papiere schob ich in eine Lade, in welcher es sogleich von Hornissen wimmelte, so daß ich sie nicht wieder schließen konnte.“ (LT 197) Es sind also Teile der Aufzeichnungen, die archiviert werden sollen, während andere Texte schon vor beziehungsweise nach dem Aufenthalt in Feldhof entstanden sein könnten. 335 Ob Stimme aus dem Dorf im Kopf oder Stimme aus dem Dorf vor dem Kopf, das ist aus den textuellen Signalen nicht schlüssig zu rekonstruieren, muss der Romanästhetik folgend in einem Zwischenraum des Möglichen bleiben. Übrigens folgt, eine weitere Station in diesem Verwirrspiel, als zweiter Text von „Mikrokosmos“ „Das eigenartige Netz“, in dem ein rätselhafter Archäologe beschrieben wird, der unbekannte Teile oder Entstehungsschichten des Dorfes zum Vorschein bringt und beim Trinken im Gasthaus „uns mit langatmigen Erzählungen langweilt“ (LT 198). 336 Hier wird die Archäologenmetapher aus Feldhof nochmals aufgegriffen, aber externalisiert, ein anderer ist der Archäologe, der wie seine Studenten oder Mitarbeiter schwarz gekleidet ist und einen möglichen Tod Lindners andeuten könnte. Man hätte es also, folgt man dieser Spur, mit einer untoten Erzählerfigur oder 335 Die Hornissen sind hier wieder eine Metapher für die einzelnen Texte, denen somit eine größere Gefährlichkeit zugeschrieben wird, als bei der anderen Roth’schen Metapher für die Romankonstruktion, dem Bien. Gleichzeitig gibt Lindner an zu sprechen, das Schweigen scheint also vorüber zu sein, obwohl es in den folgenden Passagen wieder aufrecht erhalten wird. Die Aufzeichnungen aus der psychiatrischen Klinik werden zwar abgelegt, andererseits ist dieses Ablegen verunmöglicht, es kann kein Abschließen von den/ der Archivalien erfolgen, denn die Lade kann nicht geschlossen werden. 336 In diesem Text wird ebenso die subkutane, unterschwellige religiöse Aufladung des Romans insofern angedeutet, als der Archäologe im Dorf „auf eine versunkene Kirche zu stoßen hofft.“ (LT 198) Das Fundament des Dorfes ist also ein Religiöses. <?page no="133"?> 2.4 Figuren- und Archivfortschreibungen 129 einem Revenant beziehungsweise Wiedergänger zu tun, wie er als Doppelgänger beispielsweise in E. T. A. Hoffmanns romantischem Schauerroman Die Elixiere des Teufels auftritt. 337 Lindner steht jedenfalls in einem Wechselspiel mit der das Land bestimmenden Signatur des Todes, die ja schon im Titel Landläufiger Tod angedeutet wird: „Lindner sees and hears nothing but manifestations of death“, 338 schreibt Sigrid Bauschinger. Auch Auer betont die Rolle des Todes für Landläufiger Tod und verortet sie in der zeitgenössischen Literatur: „In der österreichischen Literatur der 70er und 80er Jahre ist [...] der Tod ein zentrales Thema.“ 339 Wendelin Schmidt-Dengler weist schließlich, um die literaturgeschichtliche Rahmung des Todes-Topos von der Romantik bis zur Postmoderne zu vervollständigen, in seinem Aufsatz „Pathos der Immobilität“ nicht ohne gewisse Skepsis auf den Tod als zentralen Topos der österreichischen Literatur seit dem Barock hin: Mit dem Schlagwort Barocktradition schienen aber einige thematische Momente gegeben zu sein, die als Spezifika österreichischer Literatur gelten konnten: das Theater als Lebensform, Dominanz der Anschaulichkeit über die Begrifflichkeit und der Tod als Zentralthema. Dies alles verdanke sich mehr oder weniger dem in Österreich dominanten Katholizismus. 340 Doch kehren wir zurück zu den fiktiven Ursprungsorten der Erzählungen in Landläufiger Tod, denn es gibt noch eine andere Quelle der ,Quellen‘ Lindners, nämlich den Arzt Ascher aus Der Stille Ozean. Um diesen Sachverhalt zu klären, muss etwas weiter ausgeholt werden. Wie schon in Zusammenhang mit den religiösen Konnotationen von Landläufiger Tod erwähnt, ist es möglich, Lindner als Nachfolger Aschers aufzufassen. Das passt auch zur Figurenkette, die den Zyklus bestimmt: Ascher = Der Stille Ozean, Lindner = Landläufiger Tod, Jenner = Am Ab- 337 Man beachte übrigens folgenden bemerkenswerten Zusammenhang: „Die Gattung gothic zeigt durch ihre Thematik und ihre Tendenz zur Integration grotesker Elemente eine besondere Affinität zum Erzählertypus des mad monologist.“ In: Sims: Die Darstellung grotesker Welten aus der Perspektive verrückter Monologisten, S. 109. 338 Sigrid Bauschinger: Gerhard Roth. In: Donald G. Daviau (Hg.): Major Figures in Contemporary Austrian Literature. New York: Berne 1987. S. 337-362, hier S. 356. 339 Auer: Der österreichische Kopf, S. 48. Auer bezieht sich hier auf die Habilitationsschrift von Klaus Zeyringer: Innerlichkeit und Öffentlichkeit. Österreichische Literatur der achtziger Jahre. Tübingen: Francke 1992. S. 243-249. Zeyringer verweist als typisch für den Tod als Leitmotiv auf Roths Roman Winterreise (1978) und schreibt, man denke an Ascher: „Das Selbstmordthema ist in vielen Texten präsent“ (ebenda, S. 248). 340 Wendelin Schmidt-Dengler: Europäische nationale Literaturen. Österreich: „Pathos der Immobilität“. In: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik 10/ 1979, S. 54-62, hier S. 56. <?page no="134"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 130 grund, Sonnenberg = Der Untersuchungsrichter. Diese Figuren greifen ineinander, sind in gewisser Weise als Doppelgänger oder Wiedergänger lesbar, sind von einem Zentrum aus geschrieben: deshalb wurde im Kapitel zum unzuverlässigen Erzählen schon darauf hingewiesen, dass Jenner als Abspaltung, Teil oder Projektion Lindners aufgefasst werden könnte, und deshalb hat auch Wendelin Schmidt-Dengler festgestellt, dass die Familiennamen der männlichen Hauptfiguren großteils auf -er enden. 341 Natürlich haben diese Figuren auch mehr oder weniger deutliche Überschneidungen mit ihrem Autor Gerhard Roth. So heißt es in einer Passage des fünften Zyklusteiles Der Untersuchungsrichter: „Sonnenberg darf noch nicht in Erscheinung treten. Er ist genausowenig ich wie ich selbst.“ (UR 14) In diesem Roman stehen metanarrative, vom Prozess des Erzählens und Schreibens handelnde Passagen 342 neben und zwischen dem Plot, den Erlebnissen des Untersuchungsrichters Sonnenberg. Beide Ebenen aber, sowohl jene des mit einem eher niedrigen Fiktionalitätsgrad versehenen Autor-Ichs als Erzählerinstanz wie auch jene mit Fokalisierung auf den Untersuchungsrichter, weisen deutliche thematische und exemplarisch auf die Zusammengehörigkeit der Roth’schen Protagonisten hinweisende Analogien zu Franz Lindner zugeschriebenen Aussagen auf: • Denken: „Die eigenen Gedanken sind die verbotenen.“ (UR 15), „Denken, dachte sich Sonnenberg, heißt zwangsläufig verrückt werden. Das Denken allein ist schon ein Zeichen von Verrücktheit. Je mehr einer denkt, desto verrückter wird er, es ist gar nicht anders möglich.“ (UR 57), „Tatsächlich brauchen nur ganz wenige Menschen philosophische Ge- 341 Schmidt-Dengler: „Monument und Fragment“, S. 273. Nicht in dieses Schema passt der Untersuchungsrichter Sonnenberg. Außerdem ist es kein Zufall, dass die Hauptfiguren im Zyklus alle Männer sind, Gerhard Roth hat in einem Gespräch mit mir (am 30.3.2006 in Wien) von Landläufiger Tod als „Männerbuch“ gesprochen und daraus seine ablehnende Haltung gegenüber der von Regisseur Michael Schottenberg vorgeschlagenen Besetzung der Figur Lindner in der Verfilmung von Landläufiger Tod mit einer Frau erklärt. 342 „The Investigating Officer should be read as Roth’s very personal poetics.“, meint Schreckenberger. In: Helga Schreckenberger: Personalizing Fiction - Fictionalizing the Personal: Gerhard Roth’s The Investigating Officer. In: Nicholas J. Meyerhofer (Hg.): The Fiction of the I. Contemporary Austrian Writers and Autobiography. Riverside, California: Ariadne Press 1999 (Studies in Austrian Literature, Culture, and Thought). S. 184-199, hier S. 185. <?page no="135"?> 2.4 Figuren- und Archivfortschreibungen 131 danken, die meisten bringen sich um, weil das Denken plötzlich eingesetzt hat, sie bringen sich also um, um nicht denken zu müssen.“ (UR 135) • Denken - Sprechen - Schweigen: „Denken und Sprechen sind unaufhebbare Gegensätze.“ (UR 62), „Das Vernünftigste, schien ihm, wäre Einsamkeit und Schweigen. Kein Wort sprechen, nichts fragen, nichts antworten.“ (UR 108) • Thematisierung des eigenen Gedächtnisses: „Ich habe ein schlechtes Gedächtnis.“ (UR 34), „,Sind wir uns schon einmal begegnet? ‘ fragte Sonnenberg plötzlich. Er hatte ein gutes Gedächtnis.“ (UR 60) • Destabilisierung der Grenzen von Zukunft und Vergangenheit: „Zum Michverrücktstellen fehlt mir die Ausdauer. Ich müßte es werden - das heißt nachgeben. Ich sehe alles, was mir widerfährt, im voraus, das heißt ich spüre es.“ (UR 61) • Genre: „Dieses Buch ist ein Brief, kein Roman.“ (UR 45) • Religiöse Konnotationen: „Ich kann die Luft zum Leuchten bringen, ich sehe die Feuerzunge des Heiligen Geistes über den Köpfen.“ (UR 34), „Erst im Irrenhaus darf man sprechen wie der Papst - ex cathedra oder allein mit sich.“ (UR 87) In Landläufiger Tod, gelesen von der ,inoffiziellen‘ Offenlegung der Diskurse in „Sieben nicht abgeschickte Briefe aus dem Irrenhaus“, werden diese Themen am ausführlichsten, narrativ komplexesten und dichtesten dargestellt, dieser Roman ist das Zentrum, auf das die anderen Passagen des Zyklus rückgeführt werden können, seine Hauptfigur Franz Lindner ist die wichtigste Figur im Erzählkosmos Die Archive des Schweigens. 343 Diese Figur ist nun aber eine Fortschreibung der in der Entstehungschronologie zunächst zentralen Figur Ascher und konnte laut Autor-Ich in Der Untersuchungsrichter erst durch eine nachträgliche Löschung in den Mittelpunkt von Landläufiger Tod rücken: Ich habe Genuß empfunden, als ich Ascher im Landläufigen Tod mit einer Schrotflinte Selbstmord begehen ließ. Ich gebe zu, daß ich diese Geschichte erst zum Schluß geschrieben habe, aus Furcht, das Buch nicht weiterschreiben zu können, sobald Ascher seinem Leben ein Ende setzte. (UR 29) 343 Vgl. Schmidt-Dengler: Wie aus vielen Teilen auch ein Ganzes wird, S. 29. <?page no="136"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 132 Über Aschers Selbstmord, der von Lindner entdeckt wird, erfolgt sozusagen die Übergabe der narrativen Fackel an die und gleichzeitig die Einschreibung des Todes in die Folgefigur. So ist es naheliegend, dass Ascher und Lindner einige Gemeinsamkeiten aufweisen. „Die Hauptfiguren in Roths Prosa waren immer Außenseiter“, 344 schreibt Monika Muskala und nennt in diesem Zusammenhang auch Ascher. 345 Die Analogien zwischen Ascher und Lindner beruhen jedoch nicht nur auf sozialem Außenseitertum und einigen textuellen Signalen, die auf Wahnsinn bei Ascher hindeuten (vgl. z. B. LT 118-121). Wenn Schmidt- Dengler über die Fokalisierung auf Ascher in Der Stille Ozean schreibt: „Wir sehen also die Umgebung durch die Augen eines Menschen mit deutlich unsicherer Identität. Zudem ist die Umgebung ebenso unbekannt.“, 346 dann hat dies bis zu einem gewissen Grad ebenfalls für Lindner und Landläufiger Tod Gültigkeit. Für das Thema dieser Studie von besonderer Relevanz ist jedoch das beiden gemeinsame Interesse an und das Aufschreiben von Erinnerungserzählungen. In Der Stille Ozean trifft der wegen eines Kunstfehlers aus Graz in die Südweststeiermark gekommene Chirurg Ascher auf Dorfbewohner, die ihm meist unaufgefordert ihre Lebensgeschichte erzählen: „Gleich nachdem er [ein Landarbeiter; G. L.] sich vorgestellt hatte, erzählte er ihm [Ascher; G. L.] sein Leben.“ (DSO 150) Schritt für Schritt wird der Fremde, der Städter und Akademiker Ascher mit dem aus Geschichten gewobenen Dorfkosmos, mit dem Dorfgedächtnis vertraut. Einige kurze Blitzlichter auf die Vergangenheit werden schon zu Beginn des Romans bei einer Autofahrt mit den Dorfbewohnern Hofmeister und Zeiner geworfen, wobei sich diese Erinnerungsanstöße über eine Person oder einen Ort als Proust’sche memoire involontaire klassifizieren lassen: Hofmeister bemerkt zu Ascher über eine an der Straße stehende Frau, er habe mit dieser vor 22 Jahren eine Beziehung unterhalten (vgl. DSO 13), während Zeiner beim Passieren einer Stelle in der Ebene in der Nähe von Gleinstätten erzählt, dass hier vor dem Ersten Weltkrieg ein Flugzeug abgestürzt sei (vgl. DSO 17). Außerdem wird Ascher auch außerhalb des Heimatmuseums (vgl. DSO 106-114) beständig mit Bildern und Objekten konfrontiert, die auf die Vergangenheit verweisen. So sieht der Arzt eine Sol- 344 Monika Muskala: Der Wahnsinn der Vernunft. Zum Zyklus Die Archive des Schweigens. In: Baltl/ Ehetreiber: Gerhard Roth, S. 207-227, hier S. 217. 345 Vgl. ebenda, S. 218. 346 Schmidt-Dengler: Bruchlinien, S. 407. <?page no="137"?> 2.4 Figuren- und Archivfortschreibungen 133 datenfotografie und Kriegsauszeichnungen an der Wand eines verstorbenen Mannes (vgl. DSO 36), alte Gruppenfotografien im Gasthaus (vgl. DSO 139) oder ein Bild mit k.u.k.-Soldaten im Hause Hofmeisters (vgl. DSO 184), das dieser sogleich erklärt (vgl. DSO 184-185). Viel wichtiger als historische Blitzlichter und Fotografien sind für die Erzählgemeinschaft Dorf aber die in Der Stille Ozean vorfindbaren Vergangenheitsnarrationen, 347 die sowohl die individuelle Lebensgeschichte der erzählenden Figur wie auch darüber hinausgehende Themen betreffen können. Als erzählende Figuren treten neben der Witwe Egger und dem in der Analyse von „Auf dem Schneeberg“ erwähnten Landarzt beispielsweise auf: ein offenbar nekrophiler Mann, der Ascher „[d]ie gesamte Familiengeschichte“ (DSO 42) eines verstorbenen Bauern erzählt; der Schwiegervater Zeiners, der Parallelen mit dem realen alten Mautner aufweist und sein Leben als Assoziationskette erzählt, den Aufbau von Landläufiger Tod vorwegnehmend: „Ohne zeitliche Ordnung reihte er eine Begebenheit an die andere.“ (DSO 70); ein ehemaliger Bergarbeiter, der von seinem Arbeits-Leben (vgl. DSO 142) berichtet und später eine Analyse der historischen Grundlagen der Machtasymmetrie innerhalb der bäuerlichen Gesellschaft liefert (vgl. DSO 236-237); ein Landarbeiter, dessen Erinnerungen Ascher bei einer Hochzeit hört, wobei „seine Erzählung [...] nicht fließend [war], so daß er immer wieder Fragen stellen mußte.“ (DSO 150) Aus seiner Fremdperspektive heraus erfasst Ascher die von der Stadt sich unterscheidende Beschaffenheit beziehungsweise das Besondere eines Lokal- oder Regionalgedächtnisses wie jenes des Dorfes: Während in der Stadt die Menschen voneinander nichts wußten, war hier jedermann die Familiengeschichte eines jeden Hofes bis zu den Großeltern und Urgroßeltern bekannt. War ein Großvater, ein Bruder, Trinker gewesen, vorbestraft, jähzornig, geizig - so wußten es alle. (DSO 125) Im Dorf ist es unmöglich, mit seinem Leben, seinem Lebenslauf unbeobachtet zu bleiben, wie Ascher im Gasthaus mitgeteilt wird: „[A]lle, die neu hier sind, 347 Das spiegelt sich auf einer anderen Ebene darin, wie Roth beispielsweise in den Besitz einer in Im tiefen Österreich abgedruckten historischen Fotografie, die so genannte Kriegsheimkehrer des Ersten Weltkrieges zeigt, gelangt ist: „Ich fand die Photographie im aufgelassenen Schweinestall des Hauses, das ich bewohnte.“ (ITÖ 18) Jedoch stehen die alten Fotografien und Objekte sowie die Erzählungen der Alten natürlich in einem Zusammenhang: „Die Gegenwart ist immer schon angereichert mit Vergangenheit; wir sind allseits umgeben von Vergangenheit in leibhaftiger, in materieller und in dinglicher Form.“ (Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 13-14.) <?page no="138"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 134 glauben, wir merken nicht, was sie tun ... sie können allein durch den Wald gehen, und wir wissen es ... über jede Wiese können sie gehen, über jeden Acker, wir werden alles erfahren.“ (DSO 39) Für Joanna Drynda führt deshalb Aschers Entrinnen aus dem städtischen Reich des Unpersönlichen direkt in die Welt des absoluten Bescheid-Wissens. [...] Die Illusion der trauten Dorfgemeinschaft weicht langsam einem Panorama, das sich immer deutlicher zu einem Pandämonium verengen wird. 348 Es ist eine lückenlos funktionierende Gedächtnis- und Erzählgemeinschaft, die Ascher hier entgegentritt, bedrohlich zum einen, aber, wie von Gerhard Roth in dem noch vor dem Stillen Ozean publizierten Text „Vom Landleben in der Steiermark“ (1978) interpretiert, ebenso wohnlich zum anderen: Nach kurzer Zeit habe ich von Arbeitsunfällen, Todesfällen, Fällen von Wahnsinn und Trunksucht erfahren, die sich hier unversteckt und für alle sichtbar abspielen, wobei die Menschen auf dem Lande in vieler Hinsicht wesentlich großzügiger und ,menschlicher‘ reagieren als in der Stadt. 349 Die dörfliche Gemeinschaft, wie Roth sie beschreibt, kontrolliert, bewertet und schützt ihre Mitglieder zugleich. In der Stadt hingegen gibt es keine gemeinsame, kohärente Erzähl- und Gedächtnisgemeinschaft, obwohl ein starkes Bedürfnis nach einem Teilen und Vernetzen persönlicher Erinnerungen besteht. Das hat sich im Rahmen des im Grazer Kulturhauptstadtjahr 2003 initiierten und auch von gedächtnistheoretischen Überlegungen getragenen Projektes „Berg der Erinnerungen“ gezeigt. Den Stadtbewohnern wurde dabei die Möglichkeit gegeben, persönliche Erinnerungsstücke im aus der Nazi-Zeit stammenden Tunnelsystem des Grazer Schlossberges auszustellen, was auf enorme Resonanz stieß. 350 Der fiktive Grazer Ascher beginnt schließlich aus Faszination für diese sich vor ihm ausbreitende und ihm fremde Gedächtnisgemeinschaft das Gespräch mit den Dorfbewohnern zu suchen und als „Oral History-Interviews“ bezeichenbare Recherchen 351 durchzuführen: „Am Tag sprach er jetzt häufig 348 Drynda: Schöner Schein, unklares Sein, S. 101. 349 Gerhard Roth: Vom Landleben in der Steiermark, S. 135. 350 Vgl. dazu Heimo Hofgartner, Katia Schurl und Karl Stocker: Berg der Erinnerungen. Die Geschichte der Stadt ist die Geschichte ihrer Menschen. Katalog zur Ausstellung im Stollensystem des Grazer Schloßberges 22. März bis 28. September 2003. Graz: Graz 2003 Kulturhauptstadt Europas Organisations GmbH 2003. 351 Uwe Schütte schreibt von „der sozialgeschichtlichen oral history, die man [...] im Stillen Ozean finde[t]“. (Schütte: Auf der Spur der Vergessenen, S. 129) Auer hingegen stellt auf etwas naive Weise fest: „Und auch eine Fülle von Geschichten, die die Land- <?page no="139"?> 2.4 Figuren- und Archivfortschreibungen 135 mit den Alten, die in der Küche saßen.“ (DSO 200) 352 Dieses Beispiel wie die vielen Erinnerungserzählungen in Landläufiger Tod oder der Monolog des Karl Berger in Die Geschichte der Dunkelheit belegen übrigens, dass trotz der beständigen Hinweise auf das Schweigen im Zyklus sehr viel über die Vergangenheit gesprochen wird. Deshalb kann Wendelin Schmidt-Dengler auch über Der Stille Ozean schreiben: [E]s ist ein Text, der vom ganzen Dorf geschrieben wird, wenn man so will. Und dieses Dorf ist durchsetzt von allen sich kreuzenden Linien, es ist der Versuch einer Rekonstruktion einer Gemeinschaftsgeschichte mittels der mündlichen Geschichtsforschung, der „oral history“. 353 An sein eigenes bisheriges Leben als Arzt versucht sich Ascher hingegen nicht zu erinnern, seine Flucht auf das Land ist ein Weglaufen vor einer Auseinandersetzung mit der eigenen, schuldbeladenen Vergangenheit. 354 Das zeigt sich besonders eindrücklich, als Ascher mit einem Gewehr in der Hand überlegt, auf einen Frosch zu schießen: Er hatte kein Recht zu töten. Er, ein fossilierter Krebs, dessen Geschichte lastend in Form von tektonischen Erinnerungsschichten auf ihn drückte. Alles lag weit hinter ihm. Hier herunten, am Ufer des kleinen Teiches, spielte nichts eine Rolle. (DSO 26) Schmidt-Dengler stellt diese Flucht Aschers vor seiner Vergangenheit in Relation zur Textkonstitution: Die Vorgeschichte Aschers ist in diesen Text so hineinverschwunden, wie sein Leben auch in dem „Stillen Ozean“ des Landlebens verschwinden soll. Der Text selbst ist die Metapher für den Zustand Aschers, der sich aus der Geschichtlichkeit und der eigenen Geschichte zurückziehen will. 355 Rebecca S. Thomas deutet Aschers Erinnerungsverweigerung und Annahme einer falschen Identität - allerdings nimmt Ascher ja keinen falschen Namen bewohner dem Autor in vielen Gesprächen anvertrauten, übernahm dieser unverändert in seinen Roman.“ (Auer: Der österreichische Kopf, S. 91.) 352 Hier gibt es, im Kontext der oben dargelegten Ausführungen Wielanders zur theologischen Konnotierung Aschers, auch im Roman selbst eine Analogie zwischen Ascher und einem kirchlichen Würdenträger, der als eine Art Vorgänger gedeutet werden kann: „,Unser früherer Pfarrer‘, erklärte der Wirt, [...] ,hat sich nach den Lebensläufen der Verstorbenen erkundigt und sie in die Rede am Grab eingeflochten, daß alle geweint haben.‘“ (DSO 140) 353 Schmidt-Dengler: Bruchlinien, S. 415. 354 Es gibt kurze Rückblenden auf seine Familien- und Beziehungsgeschichte (vgl. z. B. DSO 77-78). 355 Schmidt-Dengler: Bruchlinien, S. 411. <?page no="140"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 136 an, wodurch er wirklich nicht erkannt werden könnte, sondern nur einen falschen Beruf - ähnlich wie Schmidt-Dengler und stellt sie in den gesamtösterreichischen erinnerungskulturellen Kontext: When Ascher takes the secret of his responsibility for the fatal error into hiding, his story recapitulates the course of Austrian history in the second half of the twentieth century. Instead of coming to terms with himself, he becomes the manipulator of appearances. 356 Im Unterschied zu Landläufiger Tod werden die dargestellten Gedächtnisinhalte in Der Stille Ozean von einem durchgängig heterodiegetischen Erzähler mit Fokalisierung auf Ascher 357 in eine kohärent konstruierte Handlung integriert. 358 Die Erinnerungserzählungen in Der Stille Ozean sind eher kurz, der Plot und die Romangegenwart stehen im Zentrum des Textes. In ihrem Untersuchungsmodell zur literarischen Inszenierung von Erinnerung berücksichtigen Basseler und Birke das Dominanzverhältnis zwischen Basiserzählung und Rückblenden. Eine starke Dominanz der Basiserzählung ist dann gegeben, „wenn z. B. in eine ansonsten chronologisch geordnete Erzählung eine kurze analeptische Erinnerungspassage eingebettet ist; in diesem Fall ist das Erinnern also nur ein Ereignis unter vielen.“ 359 Eine solche Struktur findet sich im Roman Der Stille Ozean, jedoch mit der Besonderheit, dass beständig im Zeitraffer vollzogene Kurzanalepsen unterschiedlicher Figuren in den Erzähltext eingeflochten werden. So entsteht ein Gewebe aus Erinnerungen, eine über den Zuhörer Ascher zusammengehaltene Struktur von Perspektiven auf die Vergangenheit, die in ihrem Insgesamt das kollektive Dorfgedächtnis repräsentiert. Gleichzeitig wird in Der Stille Ozean fortlaufend der Erinne- 356 Rebecca S. Thomas: Depth Charges: History and Identity in Gerhard Roth’s „Der Stille Ozean“. In: Paul F. Dvorak (Hg.): Modern Austrian Prose. Interpretations and Insights. Riverside, California: Ariadne Press 2001 (Studies in Austrian Literature, Culture, and Thought). S. 174-199, hier S. 180, siehe außerdem für dieses Thema S. 182. 357 Günter Blöcker hat das Verhältnis von Hauptfigur und Erzählinstanz in Der Stille Ozean auf polemische Weise so charakterisiert: „Zwar ist der Roman in der dritten Person geschrieben, doch der Autor hat die eigene Wahrnehmungsproblematik so vollständig auf sein Geschöpf übertragen, daß eine Differenzierung zwischen Erzähler und dem personalen Zentrum der Erzählung hinfällig wird.“ (Günter Blöcker: Ein kundiger Protokollant seelischer Irritationen. Zu dem Roman Der Stille Ozean. In: Wittstock: Materialien, S. 135-138, hier S. 136.) 358 Kunne schreibt von einem Erzählprinzip in Der Stille Ozean, „das auf einem ständigen Wechsel zwischen einem erzählenden, auktorialen Modus und einem solchen, der sich namentlich auf die Wiedergabe der Wahrnehmungen Aschers beschränkt“, beruht (Kunne: Heimat im Roman, S. 254), wobei sie letzteres als interne Fokalisierung im Genette’schen Sinn bestimmt (vgl. ebenda, S. 255). 359 Basseler/ Birke: Mimesis des Erinnerns, S.126-127. <?page no="141"?> 2.4 Figuren- und Archivfortschreibungen 137 rungsprozess thematisiert und bisweilen auch kommentiert. Bemerkenswert ist allerdings, dass Aschers Auseinandersetzung mit den Geschichtsbildern der Dorfbewohner kaum jene ihm entgegen tretende individuelle Perspektive zu transzendieren vermag. Als ein Landarbeiter, den Ascher auf einer Hochzeit kennen gelernt hat, später im Gasthaus sitzend einem ehemaligen SA- Mann in seiner Nazi-Nostalgie recht gibt, sucht der Arzt die Gründe für dieses Verhalten in persönlichen, menschlich gut nachvollziehbaren, eigentlich aber den zutage tretenden Opportunismus entschuldigenden Dispositionen: Er [Ascher; G. L.] wußte keine Erklärung, als daß er [der Landarbeiter; G. L.] sich schwer zurechtfand und klare Anweisungen wünschte. Möglicherweise wollte er genau wissen, was richtig war und was falsch. In einer Diktatur wußte er genau, was gewünscht wurde. So konnte er sich richtig verhalten und den Eindruck gewinnen, daß er zu etwas nutze war. Im wesentlichen wollte er wahrscheinlich alles richtig machen und dafür belohnt werden. (DSO 158) Genau umgekehrt wie in Der Stille Ozean ist hingegen das Verhältnis von Basiserzählung und Rückschauen in manchen Passagen von Landläufiger Tod: aus der indirekten wird die direkte Rede und nur die Einschübe Lindners schalten eine kommentierende Erzählinstanz dazwischen, wie beispielsweise in dem Text „Gesucht und Gefunden“ über den Kommentar „sagt mein Vater, während wir durch die Nacht fahren“ (LT 355). Die Perspektive Aschers ist aber wie jene Lindners die des Zuhörers und, hierin unterscheiden sich die beiden Figuren, bisweilen auch des Nach-Fragenden. So möchte er vom Pfarrer wissen, „wie die Menschen hier leben“ (DSO 83) oder sagt zum Nekrophilen: „Erzählen Sie weiter“ (DSO 43). Eher simplifizierende Analysen wie jene Aschers zum opportunistischen Landarbeiter macht der differenzierter, komplexer, aber auch widersprüchlicher denkende Lindner aber nicht. Der Hinweis, dass Ascher die von ihm gehörten Erzählungen aufschreibt, erfolgt erst nachträglich in Landläufiger Tod durch Lindners Vater, der sich dabei auf die Tante bezieht: „Im übrigen habe ich in Erfahrung gebracht, daß Sie alle unsere Lebensläufe aufgeschrieben haben. Meine Schwester hat sogar behauptet, daß Sie genauer Bescheid wüßten als die betreffenden Familien ...“ (LT 114) Daraufhin zeigt Ascher Lindner und seinem Vater eines seiner Notizbücher. Entscheidend nun für die Verschränkung von Aschers und Lindners Aufzeichnungen beziehungsweise die Figurenfortschreibung ist die Überführung von Aschers Archiv nach seinem Selbstmord in den Besitz der Familie Lindner: „Einmal nur hieß es, daß man Gegenstände aus dem Nachlaß käuflich erwerben könne, und mein Vater ging aus Neugierde hin und kehrte mit verschiedenen Sachen zurück.“ (LT 124) Die Annahme liegt nahe, <?page no="142"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 138 dass sich bei diesen „verschiedenen Sachen“ neben dem Mikroskop (vgl. LT 205) auch die Notizbücher mit den Lebensgeschichten der Dorfbewohner befunden haben. Auf diese Weise würde Lindners Auftreten als fiktiver Dorfchronist um den Aspekt einer fiktiven Herausgeberschaft erweitert. Als textuelles Signal hierfür kann jene Passage in „Aufzeichnungen über den Schullehrer“ (LT 258-261) geltend gemacht werden, in der ein Satz in der Mitte abbricht und eine Fußnote erklärt: „Hier fehlen einige Zeilen des Textes.“ (LT 258) Bewegt man sich weiter auf dem zum Teil nur schemenhaft erkennbaren Boden dieser Fiktion, so könnten die heterodiegetischen, nicht-personalisierten Passagen ebenso Ascher zugeschrieben werden wie die späteren Ausformulierungen von in Erinnerungserzählungen aus Der Stille Ozean nur gestreiften Themen (zum Beispiel die Ermordung des Nazi-Bürgermeisters). Man könnte somit sagen, dass Der Stille Ozean eine Figuren- und Perspektivenbasis für Landläufiger Tod bereitstellt. Die konventionelle Form realistischen Erzählens aus der Fremdperspektive geht - in der Metapher von Aschers Archiv - in und über in die experimentelle, von unzuverlässigem und multiperspektivischem Erzählen bestimmte, in der Konzentration auf das der Erzählerfigur vertraute Kleinräumige ,weitläufige‘ Struktur von Landläufiger Tod. 360 Die in Der Stille Ozean nur grob ausgearbeiteten Figuren(perspektiven und -psychologien) bekommen durch die Ausführlichkeit der Erinnerungserzählungen, die tatsächlich Erinnerungsmonologe und keine Gespräche oder Diskussionen sind, in Landläufiger Tod deutlich mehr Kontur, wie schon am Beispiel der Witwe Egger/ Tante Lindners in der Analyse von „Auf dem Schneeberg“ gezeigt werden konnte. Deshalb können aus den „Typisierungen“ in Der Stille Ozean (Landarbeiter, Bergarbeiter, Wirt, Pfarrer, Landarzt) 361 stärker personalisierte (oder anthropomorphisierte) und im Bachtin’schen, Nünning’schen und Erll’schen Sinne analysierbare Figuren werden wie Lindner, Jenner, Lindners Vater, Lindners Tante, die verschiedenen und doch sehr ähnlichen Pfarrerfiguren, der Zirkusdirektor, General von Kniefall, der russische Kriegsgefangene Korradow, der Gendarm/ automatische 360 Walter Grond schreibt in seinem Aufsatz über Landläufiger Tod: „Die Perspektiven werden ständig geändert, das ist gewissermaßen Gerhard Roths Rüstzeug.“ (Grond: Genese eines Romans, S. 143.) 361 Auch Kunne bemerkt zu Der Stille Ozean: „Hinsichtlich der im Roman agierenden Gestalten fällt auf, daß sie häufig namenlos bleiben, nicht als Individuen, sondern als Typen auftreten.“ (Kunne: Heimat im Roman, S. 247.) <?page no="143"?> 2.4 Figuren- und Archivfortschreibungen 139 Mensch, der Mauthausenüberlebende Karl Gockel. 362 Die auf den ersten Blick geschlossene - und somit für den antagonistischen Modus typische - Perspektivenstruktur wird, betrachtet man die „feinen Unterschiede“ (Pierre Bourdieu) des Dorfes, durchlässiger. 363 Durch die Verschiebung von der indirekten auf die direkte Rede und die stärkere Personalisierung 364 kann aber auch der letzte noch zu erwähnende Modus der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses auf Landläufiger Tod appliziert werden: Eine Dominanz von Verfahren, durch die der literarische Text als erfahrungsgesättigtes Medium und die in ihm dargestellte Wirklichkeit als spezifische Lebenserfahrung einer Epoche oder sozialen Gruppe inszeniert werden, führt zu einem erfahrungshaftigen Modus. Das fiktionale Geschehen wirkt als ,gelebte Erfahrung‘. Es dominiert eine Darstellungsweise, die der Repräsentation von Vergangenheit im Rahmen des individuell-autobiographischen Gedächtnisses sowie seiner kollektivierten und medialisierten Variante des kommunikativen Gedächtnisses ähnelt. 365 Hier ist der Schnittpunkt, an dem aus Diskursen und Typisierungen Geschichten werden, die aufgrund der deutlicheren Personalisierung der erzählenden Figuren auch, auf pragmatischer Ebene, eine stärkere emotionale Konnotierung aufweisen. Carola Surkamps Analyse von Paul Scotts Raj Quartet trifft in diesem Zusammenhang auch auf Landläufiger Tod zu, wenn sie „die Betonung der Subjektabhängigkeit und Konstruktivität jeder historischen Erkenntnis, und die synchrone Differenzierung und Fragmentarisierung von Geschichte“ bei Scott herausstreicht und feststellt: „Die damit verbundene Orchestrierung von Denk- und Empfindungsweisen legt nicht nur 362 Ensberg/ Schreckenberger sehen in der Figurenkonzeption einen gravierenden Unterschied zwischen Gerhard Roth und Thomas Bernhard: „Das Individuum befindet sich bei Roth im Dialog mit gesellschaftlichen und historischen Verhältnissen, während in Bernhardschen Texten der Schwerpunkt auf dem Monologischen liegt, auf dem Gespräch des Individuums mit sich selbst.“ (Ensberg/ Schreckenberger: Gerhard Roth. Kunst als Auflehnung gegen das Sein, S. 173.) 363 Christelle Strauss verweist sowohl auf das Geschlossene wie auch das Offene im Zyklus und in Landläufiger Tod und ordnet das in das Konzept des „totalen Romans“ ein: „Offenheit und Geschlossenheit stehen in einem engen Zusammenhang - ein weiteres Merkmal eines totalen Romans“ (Strauss: Auf der Suche nach Totalitäten im österreichischen Roman des 20. Jahrhunderts, S. 293). 364 Kunne schreibt, dass in Der Stille Ozean „Aussagen (Gespräche) [...] nur selten in direkter Rede wiedergegeben“ werden, weshalb an „die Stelle einer Dialogstruktur [...] der häufige Gebrauch der indirekten Rede [tritt]. Dies verstärkt den Eindruck des Protokollarischen und trägt außerdem zur Entindividualisierung des Sprachstils bei.“ (Kunne: Heimat im Roman, S. 243.) 365 Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 174. [Fettdruck weggelassen. G. L.] <?page no="144"?> 2 Erzählformen und Gedächtnis 140 die Tendenz zu einer Subjektivierung von Geschichtserfahrung, sondern auch zu einer Verknüpfung des privaten Lebens mit dem öffentlichen Geschehen offen.“ 366 Und gleichzeitig schließt sich hier auch der Bogen zum monumentalen Modus, der in dieser Arbeit bei Franz Lindners Bibelplan wie auch der Abschrift von Gullivers Reisen angesprochen wurde, denn „[e]rfahrungshaftiger und monumentaler Modus sind als zwei sich nicht ausschließende, sondern vielmehr stets ineinander greifende Formen des literarischen Vergangenheitsbezugs zu verstehen.“ 367 In der Verschränkung dieser beiden Modi wird das kulturelle Gedächtnis mit Erfahrungshaftigkeit aufgeladen wie umgekehrt die dargestellte erfahrungshaftige Erinnerung an das kulturelle Gedächtnis anschließt. Die großen, im kulturellen Gedächtnis gespeicherten Erzählungen vom Ersten und Zweiten Weltkrieg, von der Nazi- Zeit, den wirtschaftlichen Dürrejahren und dem Aufschwung nach 1945 werden in den ruralen Narrationen von Der Stille Ozean und Landläufiger Tod gespiegelt, festgeschrieben oder auf den Kopf gestellt, auf jeden Fall aber mit Leben gefüllt, während gleichzeitig diese fiktiven Erzählungen der Dorfbewohner mitsamt dem Zyklus Die Archive des Schweigens Teil des kulturellen Gedächtnisses Österreichs werden. Solche fruchtbaren Wechselbeziehungen meint Astrid Erll, wenn sie schreibt: Gerade aus der Möglichkeit zur literarischen Gestaltung solcher Übergänge - der Transformationen von ,gelebter Erfahrung‘ in ,kulturellen Sinn‘ und vice versa, die Anreicherung des kulturellen Gedächtnisses durch Erfahrungshaftigkeit - bezieht Literatur ihr besonderes Leistungsvermögen in der Erinnerungskultur. 368 366 Surkamp: Die Auflösung historischen Geschehens in eine Vielfalt heterogener Versionen, S. 182. 367 Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 175. [Fettdruck weg gelassen. G. L.] 368 Ebenda, S. 175. <?page no="145"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ In seinem Buch Lector in Fabula erfasst Umberto Eco das Verhältnis von Text und Leser mit einigen originellen Metaphern, welche die in der jeweiligen Textstruktur angelegten und zwischen den Polen Geschlossenheit und Offenheit liegenden Lektüreoptionen verdeutlichen sollen: Ähnelt er [der Text; G. L.] eher einer Schachtel mit Spielzeug aus vorgefertigten Elementen - wie zum Beispiel das sogenannte „Playmobil“ - welche denjenigen, der damit spielt, dazu anhält, ein ganz bestimmtes Endprodukt herzustellen, ohne dabei irgendwelche Irrtümer oder Abweichungen zu gestatten, oder aber entspricht er dem „Lego“, mit dem beliebig viele und verschiedene Formen gebaut werden können? Ist er nur eine Schachtel, welche die Stücke eines Puzzles enthält, dessen Endergebnis immer nur die Mona Lisa sein kann, oder ist er schlicht und einfach ein Kasten mit Pastellfarben? 369 Das im folgenden Teil dieser Studie im Zentrum stehende dritte Buch von Landläufiger Tod, „Mikrokosmos“, besteht nun aus 135 Kapiteln und ist, in Applikation der Eco’schen Metaphern, eine Kombination aus Pastellfarben und Puzzlesteinen, aus Lego und Playmobil. Die dominant experimentellen Passagen gleichen dem Lego und können in immer wieder neuen Kombinationen aufeinander oder auf die dominant narrativen Texte bezogen werden. Die stärker erzählenden Teile dieses Buches hingegen sind Playmobil oder Puzzlesteinen ähnlich, von denen manche zu multiperspektivischen narrativen Komplexen im Sinne dissonanten und konsonanten Erzählens zusammengefügt werden können. Das Besondere am „Mikrokosmos“ ist aber, dass die Puzzlesteine für sich stehen können und nicht zusammengefügt werden müssen. Sigrid Bauschinger stellt in Bezug auf „Mikrokosmos“ fest, es bestehe aus „independent stories, whose sequence is interchangeable“. 370 Friedrich Voit wiederum schreibt, dass „manche herausragende [...] Texte - wie etwa die Erzählungen ,Drei Tote‘, ,Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen‘, ,Gockel‘ [...] - außerhalb des Romans für sich allein stehen könnten.“ 371 Wir haben es also hier im 369 Umberto Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. A. d. Ital. v. H.-G. Held. München: Carl Hanser 1987 (Edition Akzente). S. 68-69. 370 Bauschinger: Gerhard Roth, S. 357. 371 Friedrich Voit: Gerhard Roth. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur - Das KLG auf CD-Rom. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik 1999 ff., inkl. 78. Nlg. S. 12. <?page no="146"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 142 dritten Buch von Landläufiger Tod mit einer Vielzahl autonom lesbarer Einzeltexte zu tun, denn im Dorf gibt es, wie Wendelin Schmidt-Dengler in einem ganz anderen Zusammenhang in Bezug auf Ingeborg Bachmanns Erzählung „Unter Mördern und Irren“ geschrieben hat, „so viele Geschichten, daß es unmöglich ist, sie zu einer Geschichte zu bündeln.“ 372 Neben ihrer relativen formalen Autonomie sind die Texte des „Mikrokosmos“ laut Wendelin Schmidt-Dengler aber auf der Ebene des Gedächtnisses miteinander verbunden: Im Mikrokosmos wird der Enge gleichsam kosmische Gültigkeit zuteil: Mit dem Filigranen das Gewicht der Welt zu tragen, das ist [...] die sublimste Leistung der Prosa im letzten Jahrhundert. Es sind Kurztexte, die nahezu alle solche Räume - Gedächtnisräume - gestalten, in denen Geschichte im Doppelsinne aufgehoben ist. 373 Der folgende Teil dieser Studie widmet sich der Untersuchung der narrativen und symbolischen Feinstrukturen, der Vernetzung solcher „Gedächtnisräume“ in Roman und Zyklus und der Dialogizität dieser Texte mit der außerliterarischen und innerliterarischen Wirklichkeit in Bezug auf Diskurse, Narrative, Figuren, Schauplätze. Hierfür wurden sechs Texte ausgewählt, die als zentral für das Gedächtnis des Mikrokosmos erachtet werden und eine hohe Anschlussfähigkeit an außerliterarische Diskurse und Narrative aufweisen. Die analysierten Texte können dabei als in Literatur übersetzte kulturelle close readings, als Mikro-Lektüren der Wirklichkeit mit literarischen Mitteln verstanden werden, die wiederum mithilfe literatur-erinnerungs-kulturwissenschaftlicher close readings analysiert werden sollen. Trotz der Serialität der Textanalysen sind diese heterogen in Bezug auf den Aufbau und die unterschiedliche Gewichtung von literarisch-ästhetischen, gedächtnistheoretischen und erinnerungskulturellen Themen. Die einzelnen Analysen stehen im Kontext spezifischer Gedächtnisformen. „Der Russe“ wird im Hinblick auf performative und mediale Aspekte sowie soziopolitische Implikationen einer absoluten Speicherfähigkeit von Vergangenheit untersucht, wir haben es hier mit einem „unfehlbaren Gedächtnis“ zu tun. Die Ereignisse vom Februar 1934 wiederum bilden die Folie für die unter anderem auf „soziale Redeweisen“ und Machtstrategien fokussierte Untersuchung von „Drei Tote“, das einem spezifisch österreichischen „Bürgerkriegs- 372 Schmidt-Dengler: Das neue Land, S. 44. 373 Wendelin Schmidt-Dengler: Wie aus vielen Teilen auch ein Ganzes wird. In: Bartens/ Melzer (Hg.): Gerhard Roth. Orkus, S. 27-38, hier S. 29. <?page no="147"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 143 gedächtnis“ zugeordnet werden kann. Die Analyse von „Hahnlosers Ende“ konzentriert sich auf die Problematik individueller Vergangenheitsaufarbeitung unter der Perspektive eines christlich konnotierten „Schuldgedächtnisses“. Selbstnarrationen der Tante („Letzte Kriegstage“) und des Vaters von Franz Lindner („Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“), die beide von den Ereignissen in der Grenzregion in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges handeln, werden im Hinblick auf ein „Kriegsgedächtnis“, das Teil eines „Familiengedächtnisses“ ist, gelesen. In beiden Texten spielen zudem Fragen der symbolischen und historischen Aufladung von Räumen und Orten eine tragende Rolle. Im letzten Abschnitt dieses Teiles wird „Gockel“, die Erinnerungserzählung eines Mauthausenüberlebenden, als Ausgangspunkt einer Untersuchung literarischer und dokumentarischer Repräsentationsstrategien in Bezug auf Aspekte von „Opfer“- und „Tätergedächtnis“ genommen. Es sind hauptsächlich Texte wie „Der Russe“, „Drei Tote“, „Hahnlosers Ende“, „Letzte Kriegstage“, „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ und „Gockel“, welche Landläufiger Tod zum „Gedächtnisort Roman“ machen. 374 Die nun folgenden Analysen versuchen, diesen Gedächtnisort zu vermessen, das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ zu ergründen. 374 Vgl. Corinna Dehne: Der „Gedächtnisort“ Roman. Zur Literarisierung von Familiengedächtnis und Zeitgeschichte im Werk Jean Rouauds. Berlin: Erich Schmidt 2002 (Studienreihe Romania 18). <?page no="148"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 144 3.1 Unfehlbares Gedächtnis: „Der Russe“ 375 „Der Russe“ (LT 347-354) handelt von einem russischen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs mit Namen Korradow, der um 1916/ 17 zunächst gemeinsam mit anderen russischen Soldaten als Zwangsarbeiter in den, wie es in der Erzählung heißt, „hintersten Winkel der Monarchie verschlagen“ (LT 349) wurde. Korradow ist, so zeigt sich bald, im Besitz eines unfehlbaren Gedächtnisses. Diese besondere Fähigkeit macht ihn in Zeiten politischer Transformationsprozesse zu einem für manche gefährlichen Gedächtnis-Akteur des Dorfes, weshalb er schlussendlich von einigen Dorfbewohnern ermordet wird. Die Gedächtnishypertrophie der Hauptfigur ermöglicht es, „Der Russe“ in einem literarischen, philosophischen und wissenschaftlichen Gedächtnis zu verorten, welches auf die ars memoriae, die antike Mnemotechnik oder Gedächtniskunst, die von Frances A. Yates in „The Art of Memory“ 376 beschrieben wurde, bezogen ist. Deutliche intertextuelle Bezüge lassen sich zu der Erzählung „Das unerbittliche Gedächtnis“ 377 des für Gerhard Roth wichtigen argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges herstellen. Ebenso gibt es Verbindungslinien zu Alexander R. Lurijas, des Begründers der Neuropsychologie, wissenschaftlicher Abhandlung „Kleines Porträt eines großen Ge- 375 Vgl. für eine frühere und kürzere Version dieses Kapitels: Gerald Lind: „Niemand jedoch wollte etwas davon hören“. Mnemopathie und Mnemophobie in der Erzählung „Der Russe“ aus Gerhard Roths Roman Landläufiger Tod. In: Heinz Fassmann, Wolfgang Müller-Funk und Heidemarie Uhl (Hg.): Kulturen der Differenz - Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989. Transdisziplinäre Perspektiven. Göttingen: V & R unipress, Vienna University Press 2009. S. 289-301. 376 Frances A.Yates: The Art of Memory. London: Pimlico 1994. Siehe dazu auch Ulrich Ernst: Die Bibliothek im Kopf: Gedächtniskünstler in der europäischen und amerikanischen Literatur. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Jg. 27 (März 1997), H. 105 (Themenschwerpunkt Memoria in der Literatur), S. 86-123. Ernst resümiert: „Am Ende des zweiten Millenniums, in dem der Computer verstärkt als ausgelagertes Gedächtnis begriffen wird, erscheint der Mensch mit phänomenalem Gedächtnis, bildlich häufig als wandelnde Bibliothek apostrophiert, schließlich auch als Repräsentant der eine enzyklopädische Kultur des Zitierens präferierenden Postmoderne.“ (Ebenda, S. 123) 377 Jorge Luis Borges: Das unerbittliche Gedächtnis. In: ders.: Fiktionen (Ficciones). Erzählungen 1939-1944. Übers. v. K. A. Horst, W. Luchting u. G. Haefs. Frankfurt/ Main: Fischer 2004 (Jorge Luis Borges. Werke in 20 Bänden. Bd. 5). S. 95-104. <?page no="149"?> 3.1 Unfehlbares Gedächtnis: „Der Russe“ 145 dächtnisses“ 378 , die übrigens bereits von Oliver Sacks und Renate Lachmann in Bezug zu Borges gesetzt wurde. 379 Die folgende Analyse konzentriert sich auf die politischen Implikationen eines absoluten Erinnerungsvermögens und nimmt Konstruktionsmodi kultureller Identität und Differenz sowie das Verhältnis von Gedächtnis, Körper, Sprache und Bewusstsein in den Blick. Die Beschäftigung mit den Besonderheiten von Korradows Erinnerungsvermögen erfolgt unter Verwendung von Theorien zu Alterität, Entsubjektivierung und Sprache. Der Körper wird in seiner Funktion als Medium des Gedächtnisses und im Hinblick auf die hochgradige Dialogizität der Geschichte von Korradows Gebeinen thematisiert. Anhand des Systemumbruchs von der Monarchie zur 1. Republik werden die Auswirkungen politischer Zäsuren auf Gedächtnisinhalte - im Sinne forcierter Umschreibungen und erinnerungskultureller Transformationsprozesse - diskutiert. Begonnen werden soll allerdings mit einer Verortung von „Der Russe“ im Romanganzen, mit einer Herauspräparierung intermedialer Bezüge zu Im tiefen Österreich und einer Deutung der Behandlung der Kriegsgefangenen durch die Dorfbewohner. „Der Russe“ wird nicht von Franz Lindner oder einer anderen Figur des Romans, sondern von einer nicht-personalisierten, auktorialen Instanz erzählt. Über den Schauplatz fügt sich die Erzählung zwar nahtlos in den Roman ein, auf der narrativen Ebene von Landläufiger Tod ist sie aber - wie auch das im nächsten Kapitel untersuchte „Drei Tote“ - völlig isoliert. Es gibt aber dennoch bemerkenswerte interzyklische Bezüge, worauf im jeweiligen Untersuchungszusammenhang eingegangen wird. Im Unterschied etwa zu Borges’ „Unerbittlichem Gedächtnis“ weist „Der Russe“ keine Rahmung oder Basiserzählung auf, der Anfang des Textes ist unmittelbar und abrupt: „Zunächst trieb man die gefangenen Russen in den Schulhof, wo man sie in ihren Uniformen, von denen man jedes militärische Rangabzeichen entfernt hatte, vor der Büste des Kaisers fotografierte. Manche trugen Pelzmützen, andere Hüte oder Schildkappen.“ (LT 347) Dieser direkte 378 Alexander R. Lurija: Kleines Porträt eines großen Gedächtnisses. In: ders.: Der Mann, dessen Welt in Scherben ging, S. 147-249. 379 Vgl. Oliver Sacks: Einführung. In: Lurija: Der Mann, dessen Welt in Scherben ging, S. 7-20.; Renate Lachmann: Gedächtnis und Weltverlust. Borges’ memorioso - mit Anspielungen auf Lurijas Mnemonisten. In: Anselm Haverkamp und Renate Lachmann (Hg.): Vergessen und Erinnern. U. Mitw. v. Reinhart Herzog. München: Wilhelm Fink 1993 (Poetik und Hermeneutik 15). S. 492-519. <?page no="150"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 146 Einstieg verweist deutlich auf das dem Geschehen Vorgängige, nicht Erzählte. Vittoria Borsò konzeptualisiert in „Medialität und Gedächtnis. Das Unbehagen und die Chance der Differenz“ Medialität als Visibilisierung und Relativierung von Differenz: „Als ästhetische Form ist Medialität ein Prozess, der die topologische Konstellation der Differenz, der Übergänge, der Subjektivierung und der Aushandlungen zwischen Identität und Differenz in Szene setzt.“ 380 Was damit gemeint ist, zeigt Borsò anhand von Borges’ „Das unerbittliche Gedächtnis“, aber auch am Beispiel einer Fotografie des mexikanischen Schriftstellers Juan Rulfo. 381 Eine topologisch-phänomenologische Annäherung an diese Aufnahme öffnet jenen Raum, der auf dem Bild nicht zu sehen ist, der aber von der abgebildeten Person überblickt werden kann. Die mediale Technik der Trennung - ein zeitlicher und räumlicher Ausschnitt wird festgehalten - wird mit dieser Betrachtungsweise sichtbar, die Trennung unscharf, die Differenz geht in différance über. In diesem Kontext kann der Anfang von „Der Russe“ gelesen werden, er verweist auf das Ausschnitthafte, Kontingente des Dargestellten; auf ein Davor, das unbekannt, aber durch das Sichtbarmachen der Technik der Trennung mitgedacht werden kann. Dieses Davor oder Außerhalb der erzählten Handlung erhält allerdings einen außerliterarischen, aber innerzyklischen Ort, der sich über eine, um Gérard Genette zu zitieren, „,teleskopische‘ Korrespondenz“ 382 lokalisieren lässt und mit Fotografien aus dem ersten Zyklusband Im tiefen Österreich in Verbindung steht. Rechts oben auf Seite 43 dieses Foto-Text-Bandes befindet sich eine Fotografie mit österreichischen Soldaten in Ausgehuniform, die Roth so kommentiert: „In der Kaserne. In der Mitte die Gipsbüste des Kaisers Franz Joseph.“ (ITÖ 16) Blättert man einige Seiten weiter, zur Doppelseite 46/ 47, findet man eine Fotografie, die eine Gruppe von Männern in derangierten Uniformen mit Hüten, Uniformmützen und Pelzhauben zeigt und von Roth 380 Vittoria Borsò: Medialität und Gedächtnis. Das Unbehagen und die Chance der Differenz. In: Franziska Sick und Beate Ochsner (Hg.): Medium und Gedächtnis. Von der Überbietung der Grenze(n). Frankfurt/ Main (u. a.): Lang 2004 (MeLiS 2). S. 71-95, hier S. 82. 381 Übrigens: Juan Rulfos Roman Pedro Páramo (1955) ist ein magisch-realistischer Dorfroman, der von einer Verwischung der Grenzen zwischen Lebenden und Toten bestimmt ist und ein ,untotes‘ kollektives Dorfgedächtnis inszeniert, weshalb also einige Ähnlichkeiten mit Landläufiger Tod bestehen. 382 Genette: Die Erzählung, S. 51: „Man weiß, wieviel Wert Proust auf den Zusammenhalt und die Architektur seines Werks legte und wie sehr er darunter litt, daß die fernen Symmetrien und ,teleskopischen‘ Korrespondenzen oft gar nicht wahrgenommen wurden.“ <?page no="151"?> 3.1 Unfehlbares Gedächtnis: „Der Russe“ 147 so erklärt wird: „Gefangene Russen im Obergreither Gebiet. Sie arbeiteten an den Höfen, an denen die Männer fehlten.“ (ITÖ 17) In „Der Russe“ erfolgt eine narrative Ineinanderschiebung der beiden historischen Fotografien. Der über die Gipsbüste symbolisch in die Mitte, gewissermaßen als „primus inter pares“ der von ihm kommandierten Soldaten gerückte Kaiser wird in der erzählten, literarischen Fotografie als Beherrscher der gefangenen russischen Soldaten erkennbar. Eine Analogie zu Freuds Beschreibung der Verdichtungsarbeit in Träumen tut sich auf, bei welcher der Psychoanalytiker von „Sammelbildern“ oder „Sammelpersonen“ spricht, die Züge verschiedener Personen oder Eindrücke von Personen tragen. Als Beispiel hierfür nennt Freud die „Mischperson“ des Dr. R. aus dem so genannten „Onkeltraum“, die aus Bildern des Onkels und des Dr. R. zusammengesetzt ist. Im Traum werden „beide Bilder aufeinander projiziert, wobei die gemeinsamen Züge verstärkt hervortreten, die nicht zusammenstimmenden einander auslöschen und im Bilde undeutlich werden.“ 383 Die literarische Transformation der historischen Bilddokumente kann also als Verdichtungsarbeit im Freud’schen Sinne vorgestellt werden, bei der aber über das intermediale Wechselspiel auch eine Spur der Authentizität in die Erzählung und eine Spur der Fiktion in die historischen Fotografien eingeschrieben wird. Die symbolische und faktische Unter- und Überstellung der russischen Gefangenen unter die Souveränität des Kaisers zu Beginn der Gefangenschaft wird von einer das Fehlen interkultureller Sensibilität und gleichzeitig den kulturell-religiösen Hegemonieanspruch bezeugenden Geste begleitet: Man gab „an die Gefangenen, die nicht einmal fähig waren, die heimatliche kyrillische Schrift zu lesen, geweihte Bibeln aus.“ (LT 347) Dazu passt auch der „Votivspruch“ 384 „Mit den erlegten Pelikanen schmücken die gefangenen Russen die Altäre“ (LT 154). Typisch für Roths verwirrendes Erzählspiel wirkt der an die russischen Soldaten ergehende Befehl, „unter keinen Umständen die Wahrheit zu sagen.“ (LT 347) Natürlich fragt man sich, welches Wissen der eben noch als Analphabeten bezeichneten Gefangenen so bedrohlich sein könnte, um diesen Befehl zu rechtfertigen. Andererseits ist im späteren gewaltsamen Vorgehen der Dorfbevölkerung gegen Korradow, der immer die „Wahrheit“ sagt und Verdrängung verunmöglicht, ein solcher Grund gege- 383 Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Nachw. v. Hermann Beland. Frankfurt/ Main: Fischer 2007 (Sigmund Freud Werke im Taschenbuch). S. 299. 384 Sebald: In einer wildfremden Gegend, S. 167. <?page no="152"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 148 ben; es könnte sich hier also um eine intratextuelle Vorausdeutung, eine versteckte Prolepse handeln. Die russischen Soldaten, die man „mit demselben Respekt [behandelte], den man Knechten entgegenbrachte“ (LT 348), werden im Kontext zentraleurozentristischer Stereotype, durch einen quasi-kolonialen Blick der Dorfbevölkerung wahrgenommen, der aus den Kriegsgefangenen von der Zivilisation noch nicht verweichlichte, mit animalischen, fast übernatürlichen, aber doch dienenden Kräften ausgestattete, als exotisch erfahrene „Wilde“ macht: Im Winter erlaubte man ihnen, die Kinder auf dem Rücken zur Schule zu tragen oder die Holzfäller in den Wald, manche Brautpaare kamen auf diese Weise sogar rittlings in die Kirche. Es waren gedrungene Männer mit breiten Gesichtern und auffälligen Schnurrbärten. (LT 348) Fotografien markieren übrigens nicht nur den Anfang, sondern auch das Ende der österreichischen Gefangenschaft der russischen Soldaten. Als diese sich nach Kriegsende auf dem Bahnhof einfinden, um nach Russland zurückzukehren, treffen sie auf aus dem Dienststand entlassene österreichische Soldaten sowie auf jene Gendarmen, die ursprünglich für ihre Bewachung zuständig waren: Die Heimkehrer und Gendarmen ließen sich mit ihnen [den russischen Soldaten; G. L.] unter einem Bild des Zaren fotografieren, dann bestiegen die ehemaligen Gefangenen einen Viehwaggon und verschwanden winkend und rufend in der Ferne. (LT 350) In gewisser Weise, wenn auch nicht so direkt wie im ersten Beispiel, erfolgt auch hier eine narrativ-mediale Ineinanderschiebung mit zumindest einer Fotografie aus Im tiefen Österreich (ITÖ 49), die so genannte ,Heimkehrer‘ (vgl. ITÖ 18) zeigt. Zu einem Zeitpunkt, als es nichts mehr zu verlieren gab und die Monarchie bereits, wie Karl Kraus in der Fackel 508-513 (April 1919, Mitte April 1919) feststellte, „ad acta gelegt war“, 385 fällt eine vorgebliche Geste der Versöhnung leicht. Die symbolische Übergabe der russischen Soldaten von der Souveränität des nicht mehr herrschenden und toten Kaisers Franz Joseph zurück unter die Souveränität des nicht mehr herrschenden und toten Zaren steht im Kontext der paradigmatisch für die räumliche und zeitliche Distanz der Peripherie vom Zentrum stehenden zeitversetzten Rezeption der Oktoberrevolution, auf die weiter unten noch einmal eingegangen wird. 385 Karl Kraus: Ad acta. In: Die Fackel 508-513 (April 1919, Mitte April 1919), S. 81-104, hier S. 104. <?page no="153"?> 3.1 Unfehlbares Gedächtnis: „Der Russe“ 149 Obwohl Korradow die gleiche Behandlung wie seine Mitgefangenen erfährt und er sich, zumindest gibt es keine gegenteiligen textuellen Signale, äußerlich nicht von diesen unterscheidet, zeigt er ein differentes Verhalten - und so erscheint er auch nicht auf dem Bahnhof, um mit den anderen nach Russland zurückzukehren. Alexander R. Lurija stellt in „Kleines Porträt eines großen Gedächtnisses“ die Frage: „Wie wirkt sich ein hervorragendes Gedächtnis auf andere Aspekte der Persönlichkeit eines Menschen aus - auf sein Denken, seine Phantasie und sein Verhalten? “, 386 und Jacques Derrida stellt in „Freud und der Schauplatz der Schrift“ in Bezug auf Freuds Entwurf einer Psychologie fest: „Das Gedächtnis ist […] keine psychische Eigenschaft unter anderen, sie ist das Wesen des Psychischen selbst.“ 387 Es werden also im Folgenden das Wechselspiel zwischen der Gedächtnisleistung, dem (Nicht-) Denken und Agieren Korradows sowie die Reaktionen darauf untersucht. Begonnen wird mit einer Analyse von Korradows Gedächtnisleistungen. Deren erste Thematisierung im Text lautet: Korradow „sprach deutsch, ohne aber ein einziges Wort zu verstehen. Er besaß die Fähigkeit, lange Gespräche aus dem Gedächtnis zu wiederholen und dabei an etwas ganz anderes zu denken.“ (LT 348) Es handelt sich hier also um nicht-kognitive Reproduktion der deutschen Sprache, das heißt um eine Abkoppelung des Sprechaktes vom Bewusstsein: „dabei an etwas ganz anderes zu denken“. Korradow reproduziert Signifikanten, die für ihn nicht mit einem Signifikat verbunden sind. Der in den letzten Jahren im internationalen Philosophie-Diskurs für Furore sorgende Giorgio Agamben versteht in Was von Auschwitz bleibt die Glossolalie, also das „Zungenreden“ in religiöser Ekstase, 388 als „ein sprachliches Ereignis […], bei dem der Sprechende spricht, ohne zu wissen, was er sagt“, 389 und denkt dies „als die Radikalisierung einer noch im einfachsten sprachlichen Akt enthaltenen Erfahrung der Entsubjektivierung.“ 390 Es gilt 386 Lurija: Kleines Porträt, S. 151. 387 Jacques Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift. In: ders.: Die Schrift und die Differenz. Übers. v. R. Gasché. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1976 (stb wissenschaft 177). S. 302-350, hier S. 308. 388 Auf das in Der Untersuchungsrichter angespielt wird: „Ich kann die Luft zum Leuchten bringen, ich sehe die Feuerzunge des Heiligen Geistes über den Köpfen.“ (UR 34) 389 Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III). A. d. Ital. v. Stefan Monhardt. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2003 (edition suhrkamp 2300). S. 99. 390 Ebenda, S. 100. <?page no="154"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 150 also: „Was spricht, ist nicht das Individuum, sondern die Sprache“. 391 Agamben verweist im Kontext dieser Entsubjektivierung des Sprechaktes auf Arthur Rimbauds „Ich ist ein Anderer“. 392 Auch Vittoria Borsò bezieht sich in ihrem Aufsatz „Gedächtnis und Medialität. Die Herausforderung der Alterität“ auf Rimbaud und schreibt: „Räumlich und zeitlich Fremdes bewohnt den Menschen. Die Alterität nistet sich in die Sprache des Subjektes ein, in der ein Anderes spricht“. 393 Korradows Fähigkeiten sind in diesem theoretischen Kontext ,buchstäblich‘ beschrieben, allerdings ist in seinem Fall Alterität nicht nur mit Entsubjektivierung verbunden, sondern „nistet“ im Kern von Korradows Gedächtnis selbst: Wahrscheinlich wäre er in dem Land, in dem er geboren worden war, nicht weiter aufgefallen, denn zu Hause hatte er nichts von seinen Fähigkeiten feststellen können. Erst die fremde Sprache und das fremde Land hatten die bis dahin schlummernde Begabung ans Tageslicht gebracht, über die er selbst nicht weniger verblüfft war als die Dorfbewohner. (LT 348-349) Es ist also die Erfahrung kultureller Differenz, welche die Potenz von Korradows Gedächtnis aktualisierbar macht, nur wurde diese Erfahrung gewaltsam herbeigeführt. Bei Borges’ Protagonisten Ireneo Funes ist es ein Reitunfall, der schon vorher andeutungsweise vorhandene Fähigkeiten aktivierte: „Beim Sturz verlor er das Bewußtsein; als er wieder zu sich kam, war die Gegenwart fast unerträglich reich und klar, und ebenso seine frühesten und beiläufigsten Erinnerungen. […] Jetzt waren seine Wahrnehmung und sein Gedächtnis unfehlbar.“ 394 Beide Male ist also ein Gewaltakt mit der besonderen Gedächtnisleistung verbunden, einmal ein vor allem psychischer, die Erfahrung von Fremdheit (in der Gefangenschaft), einmal ein physischer, ein Unfall, der zur Querschnittslähmung führt. Der reale Gedächtniskünstler Šereševskij, ursprünglich ein Reporter, wird unspektakulär von seinem Chefredakteur auf seine ,Anomalie‘ aufmerksam gemacht: „Daß sein Gedächtnis gewisse Besonderheiten aufwies, die ihn von anderen Menschen unterschieden, was [sic! ] 391 Ebenda, S. 102. 392 Vgl. ebenda, S. 99 und 152. 393 Vittoria Borsò: Gedächtnis und Medialität. Die Herausforderung der Alterität. In: dies., Gerd Krumeich und Bernd Witte (Hg.): Medialität und Gedächtnis. Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen. U. Mitw. v. Patrik Krassnitzer u. Vera Viehöver. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001 (M & P Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung). S. 23-53, hier S. 45. Borsò zeigt, dass Rimbauds Satz eine Umwandlung von Rousseaus „Ich bin anders“ ist. (Ebenda, S. 45-46). 394 Borges: Das unerbittliche Gedächtnis, S. 100. <?page no="155"?> 3.1 Unfehlbares Gedächtnis: „Der Russe“ 151 ihm bisher gar nicht aufgefallen.“, 395 wie ja auch Korradow in Russland seine Begabung „nicht weiter aufgefallen“ (LT 348) war. Korradows Sprachbeherrschung ist in sich ambivalent, man könnte in diesem Fall von einer kompetenten Inkompetenz sprechen, denn er kann nicht nur Gehörtes wiedergeben, sondern er hatte […] gelernt, in der ihm fremden und nach wie vor unverständlichen Sprache zu antworten, allerdings nicht aufgrund seiner eigenen geistigen Arbeit, sondern indem er sich einfach den Lauten überließ, die sich in seinem Kopf bildeten.“ (LT 349) Die Sprache spricht sich also selbst, ist nicht an ein denkendes Subjekt gebunden. Die Dorfbewohner - für die ja die Signifikanten durchaus mit Signifikaten verbunden sind - gehen davon aus, dass Korradow mit vollem Bewusstsein spricht, aber „[i]n Wirklichkeit hatte Korradow vollständig seine Unschuld bewahrt.“ (LT 349) Diese Feststellung steht im Kontext der Schuld/ Unschuldbeziehungsweise Recht/ Unrecht-Thematik, die in dieser Studie im Kontext des Schuldgedächtnisses sowie des Opfer- und Tätergedächtnisses besprochen wird. Besonders ist aber die in der Traditionslinie der für die österreichische Literatur seit Hugo von Hofmannsthals „Brief des Lord Chandos“ spezifischen Sprachkritik stehende Annahme einer in der Sprache liegenden Schuld, wie sie auch im letzten Absatz von Der Untersuchungsrichter formuliert wird: „[D]enn nur die verzweifelten Menschen erkennen den Schwindel, der um sie her stattfindet und unausrottbar in der Sprache steckt“ (UR 171). Klara Obermüller stellt diese Sprachskepsis in Bezug zur dominanten Erzählstrategie des Romans Landläufiger Tod wie des gesamten Zyklus: „Nichts ist, was es scheint, keiner sagt, was er wirklich denkt, auf nichts ist Verlaß, am allerwenigsten auf die Sprache, die es als Instrument der Lüge zu höchster Fertigkeit gebracht hat.“ 396 Korradow ist von einem schuldhaften Gebrauch der (fremden, nicht eigenen) Sprache abgekoppelt und dadurch dem in die menschliche Kommunikation eingeschriebenen Schwindel der Repräsentationsmodi und Erzählweisen enthoben. Allerdings kann in Anbetracht der ambivalenten Schreibweise der meisten „Mikrokosmos“-Kapitel gefragt werden, ob die textuellen Signale ausreichen, 395 Lurija: Kleines Porträt, S. 154. 396 Klara Obermüller: Unterirdische Landschaften. Erinnerungsarbeit, Verdrängen und Schweigen: Österreichs problematischer Umgang mit der Vergangenheit, die Folgen für die Gegenwart und Gerhard Roths Analyse in den „Archiven des Schweigens“. In: Fischer (Red.): Gerhard Roth, S. 33-41, hier S. 34. <?page no="156"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 152 um Korradow tatsächlich als ,reines‘ Sprach- und Gedächtnismedium, also als von dem von ihm Wiedergegebenen vollständig abgetrennt, zu betrachten. Der Russe kann, obwohl er doch wie festgestellt nichts versteht, auf Wunsch oder aus eigenem Antrieb konkrete Dialoge und Szenen nachspielen, diese also im Zeitfluss verorten und heraustrennen. Er ist nicht nur Speichergedächtnis oder fremd bestimmtes Funktionsgedächtnis, sondern kann das Gedächtnis auch zum eigenen Nutzen (oder Schaden) aktualisieren. Es ist dieser Hiatus - wie kann jemand, der nicht versteht, was er sagt, bestimmen und kontrollieren, was er sagt -, der die Vorstellung der Dorfbewohner, die eben davon ausgehen, dass das, was gesprochen wird, eine (lesbare), vom (eigentlich sekundären) Autor (Korradow) intendierte Bedeutung haben muss, übersteigt: Da man überzeugt war, daß er alles verstand, maß man ihn mit den eigenen Gedanken. Man konnte sich nicht vorstellen, daß er mit seinem Tun nichts bezweckte oder nur das, was er ausdrückte, vielmehr war man der Ansicht, es steckte etwas dahinter. (LT 350) Vielleicht kann aber doch die Aussage, dass Korradow „das meiste, was um ihn vorging, […] nach wie vor nicht“ (LT 349) verstand, als ein Hinweis auf ein begrenztes, nicht unbedingt rein sprachliches Verstehen der Dinge, die um ihn herum stattfinden, gelesen werden. Schlussendlich macht es aber nur bedingt Sinn, einen solchen Text, der als Parabel gelesen werden kann, auf Parameter des außerliterarischen Realen zu reduzieren. Wobei allerdings in Bezug auf den Sprachaspekt abschließend noch festgestellt werden kann, dass der erwähnte Gewaltakt im In-der-Fremde-sein und die daraus resultierende Fähigkeit zur Wiedergabe einer nicht verstandenen Sprache auch als traumatischer Effekt verstanden werden kann, der wiederum durchaus mit dem außerliterarischen Realen korrespondiert. So berichtet der Shoah-Überlebende Primo Levi in einem Interview: Noch jetzt, nach vielen Jahren, bewahre ich eine visuelle und akustische Erinnerung an die damaligen Erlebnisse, die ich nicht erklären kann […]: Wie auf einem Tonband registriert, bewahre ich im Kopf Wendungen aus Sprachen, die ich nicht beherrsche, Polnisch und Ungarisch. Ich habe sie Polen und Ungarn vorgesprochen, und sie haben mir erklärt, daß sie einen Sinn ergeben. Aus einem mir unbekannten Grund ist mit mir etwas Anomales passiert, ich würde beinahe sagen, eine unbewußte Vorbereitung auf die Zeugenschaft. 397 397 Primo Levi: Worte, Erinnerung, Hoffnung. Interview mit Marco Vigevani. In: ders.: Gespräche und Interviews. Hg. v. Marco Belpoliti. A. d. Ital. v. Joachim Meinert. München, Wien: Hanser 1999. S. 224-235, hier S. 232. Den Hinweis auf das Zitat von Pri- <?page no="157"?> 3.1 Unfehlbares Gedächtnis: „Der Russe“ 153 Auf die Zeugen-Thematik wird weiter unten eingegangen werden. Zunächst ist jedoch noch der körperlich-performative Aspekt bei Korradows Gedächtnis von Relevanz, denn der Russe reproduziert nicht nur das Gesprochene, er „vermochte […] Stimmen und Gehaben der betreffenden Personen so nachzumachen, daß es den Zuhörern augenblicklich klar war, um wen es sich handelte.“ (LT 348) Als er zum Test seiner Fähigkeiten in die Schule geschickt wird, „stellte sich heraus, daß der Gefangene den Wortlaut jeder Unterrichtsstunde zu wiederholen imstande war, wobei er Tonfall, Pausen und selbst kleine Versprecher der Lehrerin nachmachte.“ (LT 348) Korradow ist also zu einer über das Sprachliche hinausgehenden Wiedergabe in der Lage, er benutzt seinen ganzen Körper - Mimik, Gestik, Stimme - als Medium des Gedächtnisses. Da Korradow nichts verändert - und wirklich „überhaupt nichts vergaß, was er sah und hörte“ (LT 349) -, handelt es sich eigentlicht nicht um (Re-) Konstruktion von Vergangenheit, sondern um eine Form der Wiederholung, wie das ein - in Bezug auf den Körperaspekt noch nicht erfundendes - technologisch ausgefeiltes Medium leisten könnte. Es erfolgt via oder durch Korradow ein Abspielen in Echtzeit, über einen Körper, als Körpersprache, als Aktualisierung eines Körpergedächtnisses. Etwas ändert sich allerdings doch: das Subjekt, das spricht, obwohl es nicht oder als ein Anderer spricht, und die Zeit, in der gesprochen und rezipiert wird. Deshalb erzeugt der Russe, ohne das zu beabsichtigen, eine Neu-Semantisierung des performativ aktualisierten Gedächtnisinhalts. Dieser Aspekt ist es auch, der Roths Text von Borges’ „Das unerbittliche Gedächtnis“ wesentlich unterscheidet. Renate Lachmann mo Levi verdanke ich: Agamben, Was von Auschwitz bleibt, S. 24. Übrigens muss so eine besondere Speicherung von Sprache nicht auf einem traumatischen Erlebnis beruhen, wie sich an folgender Bemerkung Sigmund Freuds zeigt, die allerdings von einer deutlich anderen Ausgangsposition, nämlich der von bewusster Sprachbeherrschung getrennten Fähigkeit zur Aktualisierung nicht erinnerter Kindheitssprache, ausgeht: „Die tschechische Sprache muß ich übrigens in meinen ersten Kinderjahren verstanden haben, da ich in einem kleinen Orte Mährens mit slawischer Bevölkerung geboren bin. Ein tschechischer Kindervers, den ich in meinem siebzehnten Jahre gehört, hat sich meinem Gedächtnis mühelos so eingeprägt, daß ich ihn noch heute hersagen kann, obwohl ich keine Ahnung von seiner Bedeutung habe.“ (Freud: Traumdeutung, S. 206) Lindner wiederum spricht, typisch für die Selbstinszenierung ,verrückter‘ Monologisten, von einer plötzlich erweiterten Sprachfähigkeit in der Anstalt: „Mein Kopf war geschoren, und ich verstand die russische Sprache. Diese Fähigkeit rettete ich aus meiner Krankheit in den Alltag hinüber. (Vor meinem Tode war mir außerdem Chinesisch geläufig.)“ (AA 52) <?page no="158"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 154 schreibt in ihrem Aufsatz „Gedächtnis und Weltverlust“, dass es in Borges’ Erzählung um den in der unsinnigen Speicherung sich vollziehenden Zerfall der Objektwelt und der Welt der Erfahrung, oder genauer, die Nichtrepräsentierbarkeit der Welt in den Akten des Erinnerns geht. Während Lurija im fehlfunktionierenden Gedächtnis seines Patienten ein ,wonderland‘ entdeckt, entwirft Borges eine im Übergedächtnis entschwindende Welt. 398 Borsò leitet aus der Beschreibung von Funes’ Gedächtnis eine phänomenologisch-topologisch ausgerichtete Gedächtnistheorie ab, wie Lachmann gilt ihr Hauptinteresse dem Wechselverhältnis von totaler Wahrnehmung des unaufhaltbaren Zeitflusses und dessen Repräsentation: Jeder Gedächtnisinhalt, der eine zeitüberdauernde Identität postuliert, ist ein Gewaltakt, weil die Fixierung symbolischer Zeichen des Gedächtnisses alle anderen möglichen Formen ausgrenzt. Wie kann man aber das repräsentieren, was im Fluss ist? 399 Dieser elementare Aspekt bei Borges ist bei Roths Beschreibung von Korradows Gedächtnis nur höchst subkutan angesprochen, aus einer ähnlichen Ausgangsposition werden also in „Der Russe“ Schlüsse gezogen, die sich, wie noch zu zeigen sein wird, auf die möglichen soziopolitischen Implikationen eines „unerbittlichen Gedächtnisses“ und weniger auf die Formen der Repräsentation beziehen. Kommen wir nun zur Diskussion der Frage, wie sich Gedächtnishypertrophie auf das betroffene Individuum sowie auf sein soziales Umfeld auswirken kann. Bereits in der ersten Passage, die hierfür herangezogen werden kann, wird das sich konstituierende Spannungsfeld deutlich: Anfangs hatte man sich an seinen Künsten nicht sattsehen und -hören können, doch als er vor dem Beichtstuhl und bei Jagden auftauchte, begann man, sich vor ihm zu fürchten. Man steckte ihn in einen dunklen Verschlag und hinderte ihn daran, diesen zu verlassen. (LT 348) Schon sehr früh werden sich also die Dorfbewohner der potentiellen Gefährlichkeit Korradows bewusst, wird die anfängliche Neugier von Angst überlagert. Andererseits ist Korradows Verhalten tatsächlich ungewöhnlich. Denn warum postiert er sich genau vor dem Beichtstuhl und will an den Jagden teilnehmen? 398 Lachmann: Gedächtnis und Weltverlust, S. 495. 399 Borsò: Medialität und Gedächtnis, S. 80. <?page no="159"?> 3.1 Unfehlbares Gedächtnis: „Der Russe“ 155 Vielleicht beantwortet sich diese Frage an jener Stelle von „Der Russe“ selbst, wo es heißt, Korradow war, „[o]bwohl mit erstaunlichen Eigenschaften ausgestattet, […] nicht das, was man einen intelligenten Menschen nennt.“ (LT 348) Ähnlich, wenn auch schon in Bezug zur besonderen Begabung verstanden, beschreibt Borges Ireneo Funes: „Ich vermute […], daß er zum Denken nicht sehr begabt war. Denken heißt, Unterschiede vergessen, heißt verallgemeinern, abstrahieren. In der vollgepropften Welt von Funes gab es nichts als Einzelheiten, fast unmittelbarer Art.“ 400 Analog dazu verhält es sich ebenfalls bei Lurijas Šereševskij: „Er machte den Eindruck eines etwas langsamen, mitunter sogar schüchternen Menschen, der bestürzt darüber war, daß man ihn zur Untersuchung ins Laboratorium geschickt hatte“ 401 . Auch in Bezug auf Persönlichkeitsmerkmale finden sich erstaunliche Parallelen: „Korradows hervorstechendste Charaktereigenschaften waren eine gewisse Kaltblütigkeit und eine außergewöhnliche Gleichgültigkeit gegenüber Schicksalsschlägen, auf die er zu warten schien.“ (LT 349) Šereševskij sagte über sich selbst in einem Gespräch mit Lurija im Juni 1934: „Man hat mich immer ,kalter Nefesch‘ [jiddisch: ,kalter Fisch‘] genannt. Da ist zum Beispiel ein Brand, ich aber verstehe noch nicht, was das ist - ein Brand, denn ich muß ja alles immer erst gesehen haben, wissen Sie? Solange ich es nicht sehe, nehme ich alles kaltblütig hin“. 402 Und in einem Gespräch im Dezember 1937 bemerkte Šereševskij: „[D]ie Zeit vergeht - ich hätte vieles erreichen können, doch fortwährend warte ich auf irgend etwas. So war das immer bei mir.“ 403 Das Motiv des Wartens äußert sich auch in einem von den Nachbarn Korradows beobachteten und ironisierten Verhalten: „Manchmal sahen sie ihn stundenlang aus dem Fenster glotzen, als beobachte er beharrlich das Vergehen der Zeit, darüber machten sie sich lustig.“ (LT 353) 404 Auch der gelähmte Ireneo Funes verbringt auf ähnliche Weise seine Tage: „Man erzählte mir, daß er sich nicht von seinem Feldbett rühre, die Augen fest auf den Feigenbaum des Hinterhofes oder auf ein Spinngewebe gerichtet. An den Abenden erlaubte er, daß man ihn ans Fenster 400 Borges: Das unerbittliche Gedächtnis, S. 103. 401 Lurija: Kleines Porträt, S. 154. 402 Ebenda, S. 244. 403 Ebenda, S. 248. 404 Es sei hier auf folgenden Satz aus dem Kapitel „Der Gesang des Brandvogels“ verwiesen, der als intratextuelle Referenz verstanden werden kann: „Wer zu lange in den Himmel schaut, wird von der Zeit erschlagen.“ (LT S. 538) <?page no="160"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 156 brachte.“ 405 Diese Passage muss man im Zusammenhang mit einer anderen Stelle aus „Das unerbittliche Gedächtnis“ lesen: „Tatsächlich erinnerte Funes sich nicht nur an jedes Blatt jeden Baumes in jedem Wald, sondern auch an jedes einzelne Mal, da er es gesehen oder sich vorgestellt hatte.“ 406 Die bei Roth kaum explizierten und rätselhaft wirkenden persönlichen Eigenschaften, Charaktermerkmale und Verhaltensweisen Korradows werden über den Kontext dieser intertextuellen Verweise als Resultate der besonderen Wahrnehmung von Mnemonisten deutbar. Diese Wahrnehmung führt bei Funes zur Unmöglichkeit, sich von der Welt abzuwenden und zu andauernder Schlaflosigkeit. Renate Lachmann hat Funes’ Insomnia auf Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ bezogen und darin einen entscheidenden Punkt von Borges’ Erzählung ausgemacht: Die unglaubliche Geschichte des übermäßigen Gedächtnisses ist nicht nur eine große Metapher der Schlaflosigkeit, sondern umgekehrt, die Schlaflosigkeit erscheint als Metapher des Gedächtnisses. In der grausamen oder besser feindseligen Präzision der Schlaflosigkeit, in der nichts, weder die Dinge noch die Vorstellungen von ihnen, zur Ruhe kommt, bleibt der Wachende ihr einziger Beobachter und Bewahrer. 407 In „Der Russe“ hingegen heißt es: „Korradow schlief die längste Zeit.“ (LT 352) Und: „Zumeist lag er in seinem Bett, beschäftigt mit dem Gedanken, wie lange es dauern würde, bis die Schnaps- und Mostvorräte zu Ende gingen.“ (LT 352) Der Widerspruch, der sich zwischen dem stundenlangen Aus-dem- Fenster-blicken, das als Anspielung auf Korradows Wahrnehmungspotential interpretierbar ist, und dem schlafend oder mit banalsten Gedanken zugebrachten Liegen im Bett festmachen ließe, kann auch als Unentschiedenheit des Textes hinsichtlich Korradows verstanden werden. Diese Technik der textimmanenten Destabilisierung fester Zuschreibungen wird ja auch bei den sprachlichen Fähigkeiten Korradows angewandt und erzeugt jene für viele Texte von Landläufiger Tod typische Polyvalenz. Nicht nur aus dem Verhältnis Wahrnehmung - Gedächtnis - Persönlichkeit bei Borges und Lurija, sondern auch aus den Angaben, die Roths Text zur Lebensgeschichte des Russen macht, lassen sich Modelle zur Erklärung von Korradows Persönlichkeit ableiten. So wird seine Kaltblütigkeit mit einer 405 Borges: Das unerbittliche Gedächtnis, S. 97. 406 Ebenda, S. 102. 407 Lachmann: Gedächtnis und Weltverlust, S. 500. <?page no="161"?> 3.1 Unfehlbares Gedächtnis: „Der Russe“ 157 früheren Tätigkeit als Diener im Pathologischen Institut in Petersburg in Verbindung gebracht: „Nichts berührte ihn wirklich. Im Pathologischen Institut hatte er hunderte Male der Obduktion von Leichen beigewohnt, ohne Ekel zu verspüren.“ (LT 349) Die Erwähnung des Pathologischen Instituts ist übrigens als Anspielung auf die, weiter unten behandelte, Geschichte von Korradows Skelett lesbar und verweist darauf, dass der Tod nicht immer auch das Ende ist. Im Krieg diente Korradow als Marinesoldat auf einem russischen Schlachtschiff, bis dieses versenkt und er gefangen genommen wurde. Zieht man dies auf der außerliterarischen historischen Folie in Betracht - die Oktoberrevolution wurde mitinitiiert von einem Signalschuss des Kriegsschiffes Aurora und dem anschließenden Sturm von revolutionären Matrosen und Soldaten auf den Winterpalast in Petersburg -, so scheint hier der Text die Frage zu insinuieren, was wohl mit Korradow geworden wäre, wäre er nicht in jene Kriegsgefangenschaft geraten, in der er sich vorkam, „als läge er schon auf dem Grunde des Meeres.“ (LT 349) Tatsächlich wird Korradow von den Dorfbewohnern, als diese 1919, also zwei Jahre danach, von der Oktoberrevolution erfahren - ein Beleg für das ungleichzeitige Vergehen der Zeit zwischen Zentrum und Peripherie -, mit dieser in Verbindung gesetzt: [W]enngleich jedermann wußte, daß die Geschehnisse nichts oder kaum etwas mit Korradow zu tun hatten, so trug er doch für alle eine bestimmte Mitverantwortung daran. Sofort stellte sich die Angst um den Besitz ein, und augenblicklich geriet Korradow viele Tausende Kilometer von seiner Heimat entfernt in den Strudel der Ereignisse. (LT 352) Korradows Position im Dorf ist durch seine Stellung als ehemaliger Kriegsgefangener, der sich auf unsicherem rechtlichen Boden in der neuen, anfangs „Deutschösterreich“ genannten Republik aufhält, sowie durch seine besonderen Fähigkeiten ohnehin gefährdet. Durch die Nachricht von der Oktoberrevolution erhält Korradow aus Sicht der Dorfbewohner nun auch noch eine äußerst negative politisch-ideologische Konnotation. Er wird plötzlich als Repräsentant „Sowjetrusslands“, als Bolschewik und möglicher Spion wahrgenommen und sowohl seine Weigerung zur Rückkehr als auch seine Erinnerungs-Performances werden „mit anderen Augen“ (LT 352) gesehen, obwohl er „[s]elbstverständlich […] nichts von dem, was in der Zwischenzeit in Rußland vor sich gegangen war“ (LT 352), wusste. Im Gesamtzusammenhang der Archive des Schweigens ist der Satz, Korradow fühlte sich, „als läge er schon auf dem Grunde des Meeres“, Teil der schon im Romantitel Der Stille Ozean angelegten und an vielen Stellen im <?page no="162"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 158 Landläufigen Tod fortgeführten Meeresmetaphorik für die Südsteiermark und ihre wellenartige Hügellandschaft. Andererseits wird die Gefangenschaft in dieser Passage als Zone der Ambivalenz zwischen beziehungsweise der Ununterscheidbarkeit von Leben und Tod beschrieben, ein zentraler Aspekt von Giorgio Agambens Homo-sacer-Trilogie. Im letzten Teil dieser Trilogie, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, arbeitet der italienische Philosoph eine etymologisch abgeleitete Differenzierung des Terminus Zeuge heraus: Bezeichnet testis den Zeugen, insofern er als Dritter beim Streit zwischen zwei Subjekten beteiligt ist, und superstes denjenigen, der eine Erfahrung bis auf den Grund erlebt, sie überlebt hat und deswegen anderen davon berichten kann, so bedeutet auctor den Zeugen, insofern sein Zeugnis immer etwas voraussetzt - ein Faktum, eine Sache oder ein Wort, das vor ihm da ist und dessen Wirklichkeit und Gültigkeit beglaubigt oder bestätigt werden muß. 408 Als testis agiert Korradow regelmäßig: „Man gewöhnte sich an, ihn bei Streitfällen, deren Zeuge er gewesen war, zu holen“ (LT 350). Diese Rolle Korradows führt dazu, dass er, „ohne es zu beabsichtigen, […] eine gewisse Macht gewonnen“ (LT 350) hatte. Superstes ist Korradow nicht, denn er ist kein Über-Lebender, wobei Agamben beim Begriff des Überlebens an die Shoah denkt, auch wenn er den Krieg und die Gefangenschaft zunächst überlebt. Doch Korradow kehrt nicht zurück nach Russland, berichtet nicht von der Erfahrung, die er „bis auf den Grund“, auf den metaphorischen „Grund des Meeres“, erlebt hat. Im Gegenteil, durch seine Ermordung findet er ein unruhiges Grab auf dem Grund des südsteirischen Stillen Ozeans. Agamben hat seine Terminologie aus einer auf die Shoah und Auschwitz gerichteten Perspektive erarbeitet. In diesem Rahmen wird der mit Primo Levi gedachte vollständige Zeuge als der in den Gaskammern Ermordete gedacht, der nicht mehr Zeugnis ablegen kann, wodurch eine Lücke entsteht, die vom auctor, vom Autor-Zeugen (als Überlebendem) gefüllt werden muss: Ein Akt des Autors, der beanspruchte, von selbst gültig zu sein, wäre Unsinn, so wie das Zeugnis des Überlebenden Wahrheit und Existenzberechtigung nur dann besitzt, wenn es das Zeugnis dessen vervollständigt, der nicht Zeugnis ablegen kann. 409 408 Agamben: Was von Auschwitz bleibt, S. 130. 409 Ebenda, S. 131. <?page no="163"?> 3.1 Unfehlbares Gedächtnis: „Der Russe“ 159 Nur deshalb ist es legitim, sich dem Kriegsgefangenen Korradow mit Agambens Theorie zu näheren, da dieser in Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben die „Geburt des Lagers“ als „ein Ereignis [versteht], das den politischen Raum der Moderne als solchen in entscheidender Weise prägt“ 410 und das „Lager als nómos der Moderne“ 411 denkt. Es geht hier also um eine prinzipielle Struktur, die anhand des Lebens der antiken Figur des homo sacer, der straflos getötet, aber nicht geopfert werden darf, sichtbar gemacht wird. Um nun also die von den drei Arten des Zeugen ausgegangene Denkbewegung zu Ende zu führen: Als auctor fungiert derjenige, der Korradows Geschichte erzählt, denn „Zeugnis ablegen bedeutet, in der eigenen Sprache die Position desjenigen einzunehmen, der sie verloren hat“: „Es überrascht nicht, daß diese Geste des Zeugnisses auch die Geste des Dichters ist, des auctor schlechthin.“ 412 Auf einer textinternen Ebene ist das, eine Interpretationsvariante trotz nicht-personalisierter Erzählinstanz in diesem Text, die Erzählerfigur Franz Lindner, die Korradow seine Stimme leiht, auf einer weiteren Ebene ist das aber auch Gerhard Roth als fiktionaler sekundärer Zeuge selbst, der aus der Figur des Korradow eine Metapher für Kriegsgefangene, Flüchtlinge und andere Menschen, die entsubjektivert und sprachlos sind, gemacht hat. Dass Korradow gegen Kriegsende eine Beziehung mit einer Witwe eingeht, wird im Dorf nicht wahrgenommen. Als er jedoch nicht mit den anderen Kriegsgefangenen nach Russland zurückkehrt, wird dies bemerkt und er bleibt „eine Zeitlang verschwunden.“ (LT 351) Mit dem Widerstand gegen die Rückdeportation ändert sich Korradows rechtlicher Status. Aus dem - im Grenzbereich rechtmäßigen - Kriegsgefangenen wird ein sich unrechtmäßig auf österreichischem Territorium aufhaltender Flüchtling. Im Kapitel „Die Menschenrechte und die Biopolitik“ von Homo sacer arbeitet Agamben Bezug nehmend auf Hannah Arendt heraus, dass die „Erklärung der Menschenrechte [1789; G. L.] […] die originäre Figur der Einschreibung des natürlichen Lebens in die juridisch-politische Ordnung des Nationalstaates dar[stellt].“ 413 Das heißt, dass die Menschenrechte an eine Aufnahme in die Nation - natio 410 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. A. d. Ital. v. Hubert Thüring. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2002 (Erbschaft unserer Zeit 16; edition suhrkamp 2068). S. 184. 411 Vgl. ebenda, S. 175-198. 412 Agamben: Was von Auschwitz bleibt, S.141. 413 Agamben: Homo sacer, S. 136. <?page no="164"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 160 meint ja ursprünglich eine Gemeinschaft von Menschen gleicher Herkunft -, die über Geburt vonstatten geht, gebunden sind. Für Agamben ist vom Ersten Weltkrieg an […] der Nexus Geburt-Volk nicht mehr imstande, seine legitimierende Funktion im Innern des Nationalstaates auszuüben, und die beiden Glieder beginnen zu zeigen, daß sie sich unwiederbringlich voneinander abgekoppelt haben[,] 414 da in der unmittelbaren Nachkriegszeit Millionen von Flüchtlingen durch Europa irren. Korradow ist ein Teil dieser immensen Flüchtlingsbewegung, seine Nicht-Zugehörigkeit zur natio exkludiert ihn vom Anspruch auf eine Behandlung nach den Menschenrechten. Dieser auch für das gegenwärtige Europa hoch aktuelle Aspekt sollte auf jeden Fall bei „Der Russe“ mitgedacht werden. Es handelt sich hier eben nicht nur um die Geschichte eines außergewöhnlichen Gedächtnisses, sondern auch um den Lebensweg eines Flüchtlings, dessen Integrationsangebote von der einheimischen Bevölkerung gegen ihn ausgelegt werden, und den man auch nach Kriegsende immer noch „den ,gefangenen Russen‘“ (LT 352) nennt. 415 Korradow weiß nicht nur nichts von der Oktoberrevolution, auch den Systemwechsel in Österreich, die Absetzung von Kaiser Karl und die Ausrufung der Republik am 12. November 1918, nimmt er nicht wahr. Jedoch ist, wie schon eingangs erwähnt, nicht nur der Protagonist vom Zeitgeschehen, sondern die ganze Erzählung vom Rest des Romans narrativ sowie auf der Figuren- und Ereignisebene isoliert. So gibt es in dem Text „Die Hochzeit des Hauptmanns“ (LT 308-312) von der Tante Lindners erzählte 416 Ereignisse der letzten Tage des Ersten Weltkrieges in der Südsteiermark, die in „Der Russe“ nirgendwo erwähnt werden. Es stehen also zwei ziemlich zeitgleich am gleichen Ort spielende Erzählungen nebeneinander, ohne sich zu berühren oder zu ergänzen, es gibt weder eine multiperspektivische Korrespondenz, noch 414 Ebenda, S. 141. 415 Uwe Schütte hat auf die xenophoben Tendenzen der Dorfmentalität hingewiesen: „Im Landläufigen Tod sind es die Fälle des Russen Korradow (vgl. LT 347-54), des Pipenmachers (vgl. LT 242ff.), des Lehrers (vgl. LT 258-62), Heinrich Grafs (vgl. LT 514- 19), der Sonntagsorganistin (vgl. LT 247 f.) oder Lüschers [aus Der Stille Ozean; G. L.], um nur einige Beispiel zu nennen, die die Fremdenfeindlichkeit der Dorfbewohner bzw. ihre Bereitschaft zur Verstoßung aller sich nicht normgerecht verhaltenden Personen deutlich machen.“ (Schütte: Auf der Spur der Vergessenen, S. 127-128). 416 Dieser Text gehört in den Kontext der in der Untersuchung des ebenfalls von Lindners Tante erzählten „Letzte Kriegstage“ (aber des Zweiten Weltkrieges) ausführlich behandelten Roth’schen These von der Zyklizität der Geschichte. Im Unterschied zu „Letzte Kriegstage“ fungiert die Tante hier aber nicht als Augenzeugin, sondern scheint dieses Narrativ dem Dorfgedächtnis entnommen zu haben. <?page no="165"?> 3.1 Unfehlbares Gedächtnis: „Der Russe“ 161 eine Dissonanz, sondern nur einen Leerraum, obwohl es bei beiden Texten unter anderem um den politischen Wechsel 1918 geht. Denn „Die Hochzeit des Hauptmanns“ ist die Geschichte eines Hauptmanns der k.u.k.-Armee namens Schön, der bei der Übernahme des Dorfes durch die bulgarische Armee gefangen genommen wird. Als der Krieg gleich darauf zu Ende ist, ziehen die Bulgaren ab und vergessen dabei auf den Hauptmann. Das möchte die Mutter eines von bulgarischen Soldaten geschändeten und daraufhin wahnsinnig gewordenen Mädchens ausnützen. Sie versucht den Hauptmann - der nichts vom Kriegsende weiß - zu zwingen, ihre Tochter zu heiraten. Als der Hauptmann darauf nicht eingeht, wird er in dem Moment von der Mutter erschossen, als ihm der ebenfalls anwesende und in die Angelegenheit verwickelte Pfarrer sagt: „Wir sind gekommen, um Ihnen zu sagen, daß der Krieg zu Ende ist“ (LT 311). In „Der Russe“ wird von der „Hochzeit des Hauptmanns“ nun aber, wie gesagt, nichts erwähnt, auch von einer etwaigen Besetzung der Gegend durch die bulgarische Armee ist keine Rede. Korradow fällt nur auf, dass seine Abwesenheit bei der Rückkehr der anderen Kriegsgefangenen nicht unbemerkt bleibt, weshalb er, wie schon erwähnt, nach diesem Ereignis eine Weile verschwunden bleibt, bis er [a]n einem Novemberabend des Jahres 1919 […] im Gasthaus auf[tauchte] und […], ohne daß man ihn dazu aufgefordert hätte, verschiedene kürzere Fragmente und Ereignisse vor[spielte], die er in den letzten Jahren erlebt hatte. Niemand jedoch wollte etwas davon hören, aus Angst, damals selbst etwas Unrechtes gesagt oder getan zu haben. (LT 351) Korradow versteht die ablehnenden Reaktionen nicht, kennt nicht Alexis de Tocquevilles Formulierung zur Revolution von 1848: „Ich habe immer beobachtet, daß man in der Politik häufig untergeht, weil man ein zu gutes Gedächtnis hat“. 417 Er kehrt zurück auf den Hof der Witwe, wo beide als vom Dorf Ausgestoßene leben. Nach einem Jahr stirbt die Witwe und Korradow ist der einzige, der beim Begräbnis dem Sarg folgt. Auch der Pfarrer eilt sofort nach der Einsegnung davon - die Furcht vor Korradow und die Bindungskraft des dörflichen Normen- und Wertesystems sind stärker als ein katholischer Verhaltenskodex im Sinne der Caritas, dem sich der Pfarrer eigentlich 417 Alexis de Tocqueville: Erinnerungen. Mit einer Einleitung von Carl J. Burckhardt. Stuttgart: K. F. Koehler 1954. Zit. n. Rudolf Burger: Kleine Geschichte der Vergangenheit. Ein pyrrhonische Skizze der historischen Vernunft. Styria 2004 (Bibliothek der Unruhe und des Bewahrens 7). S. 25. <?page no="166"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 162 verpflichtet fühlen müsste - und „da [Korradow] erkannte, daß man ihn nun ohne Rücksicht mied, wartete er nicht mehr auf den Totengräber, sondern schaufelte eigenhändig das Grab zu.“ (LT 351) Ein letztes Mal unternimmt Korradow einen Integrationsversuch während des Erntedankfestes, „indem er die traurigen Worte des Pfarrers wiederholte, die dieser im Herbst vor dem Kriegsende gesprochen hatte, doch ging man ihm später um so entschiedener aus dem Weg.“ (LT 351) Korradows Erinnerungsinszenierungen dekonstruieren die im Zuge der Systemtransformation vorgenommenen Neu-Konstruktionen und Umcodierungen von Biographien und Ereignissen durch die scheinbar einfache Wiederholung von Vergangenem. Seine von politischen Systemwechseln unbeeinflusste Gedächtnisleistung wird zu einem potentiellen Hindernis für jene Verdrängungsmechanismen, die nach historischen Einschnitten und Umbrüchen den Bestand der kollektiven (Dorf-)Identität und ihres Gedächtnisses sichern, indem sie Kontinuität konstruieren. Korradow ist für die Dorfbewohner in einer Zeit, in der in den ruralen Regionen das kommunikative Gedächtnis identitätsbildend ist, ein unkontrollierbares, unberechenbares Archiv, in dem Teile der Dorfgeschichte der Jahre um 1918 gespeichert sind. Sybille Cramer hat in „Das Gedächtnis ist die letzte Instanz von Moral und Recht“ Gerhard Roth als Gedächtniskünstler beschrieben und in Bezug auf die Archive des Schweigens festgestellt: „Seine konservatorische Gedächtniskunst ist beides, Dekonstruktion und Rekonstruktion. Das unterscheidet ihn von geschichtlichen Vorläufern, deren Tatort Trümmerstätten waren.“ 418 In diesem dichotomischen Spannungsverhältnis zwischen Dekonstruktion und Rekonstruktion steht der Autor Roth, steht der ganze Zyklus Die Archive des Schweigens und stehen auch die Erinnerungsperformances des nicht ehemaligen, sondern ewigen russischen Kriegsgefangenen Korradow, dessen Geschichte als Parabel auf Funktionsweisen des kulturellen Gedächtnisses avant la lettre gelesen werden kann. Der Beschluss der Dorfbewohner zur Zerstörung des Gedächtnismediums und -speichers, also zur Ermordung Korradows, wird getroffen, als dieser zwei Briefe des russischen Außenministeriums erhält. Korradow öffnet die Briefe nicht, da er es als seinen größten Fehler auffasst, durch seine Versuche, den Dorfbewohnern zu gefallen, „in das Schicksal eingegriffen zu haben“ (LT 418 Cramer: Das Gedächtnis ist die letzte Instanz von Moral und Recht, S. 112. <?page no="167"?> 3.1 Unfehlbares Gedächtnis: „Der Russe“ 163 352). Er verlässt sich stattdessen auf sein schon oben thematisiertes Warten. Jedoch wird er beide Male nach Zustellung der Briefe von zwei Gendarmen und dem Bezirkshauptmann in Bezug auf den Briefinhalt verhört. Das zweite Mal „spielte er ihnen vor, was sie ihn beim letzten Mal gefragt und was er ihnen zur Antwort gegeben hatte. Daraufhin drehte er sich um und ging. Unwillkürlich spürte er, daß er in Gefahr war, doch er war zu schwach, einen Entschluß zu fassen.“ (LT 353) Zu Hause angekommen, verheizt Korradow die beiden Briefe, deren richtige Adressierung belegt, dass er von dem neu konstituierten sowjetischen Machtapparat, der offensichtlich eine genaue Befragung der zurückgekehrten Kriegsgefangenen durchgeführt hat, lokalisiert worden ist. Die Briefe machen ihn in den Augen der Dorfbewohner wie auch der Staatsorgane (Gendarmen, Bezirkshauptmann) zu einer noch größeren Gefahr, sie aktualisieren und bestätigen die schon bei der Nachricht über die Oktoberrevolution erfolgte Inbezugsetzung Korradows mit dem Kommunismus. 419 Die Ermordung Korradows erfolgt am Tag nach seinem zweiten Verhör und wird von ihm in der Nacht zuvor im Traum vorausgesehen. Als er am Morgen vor das Haus tritt, da er Stimmen gehört hat, sah [er] eine Schar Männer (die ihm alle bekannt waren). Im Bruchteil einer Sekunde erfaßte er, daß sie gekommen waren, um ihn zu töten (denn er vermochte den Ausdruck ihrer Gesichter zu deuten). Und als sie die Gewehre gegen ihn erhoben, wußte er, daß man ihn nicht am Leben lassen konnte, da er mit der Gabe ausgestattet war, sich alles zu merken. (LT 353) Es ist von nicht geringer Relevanz, dass Korradow alle seine Mörder kennt. Trotz der persönlichen Bekanntschaft, normalerweise ein potentieller Hinderungsgrund für eine Gewalttat, kennen die Männer kein Erbarmen mit dem Russen, wird aus ihrer Sicht die Sicherheit des Dorfkollektivs über das Leben des bekannten Fremden gestellt. Und der Mord scheint von den Staatsorganen wenn schon nicht gewollt, so doch geduldet zu sein. Die Tat wird denn auch nicht geahndet, da es sich bei Korradow nicht um einen Staatsbürger 419 Die Angst der Landbevölkerung vor kommunistischen oder sozialistischen, eine differenzierte Unterscheidung findet nicht statt, Tendenzen ist übrigens ein gängiger Topos im Zyklus. Sie zeigt sich in der im nächsten Kapitel besprochenen Niederschlagung aufständischer Bergarbeiter Mitte der 1930er Jahre in der Erzählung „Drei Tote“ (LT 404-421), in dem in mehreren Texten erwähnten Umgang des Dorfes mit den Tito- Partisanen, im Verhältnis zu den jugoslawischen Nachbarn nach 1945 und sogar in der in Der Stille Ozean thematisierten ablehnenden Haltung gegenüber der SPÖ und der Unterstützung der ÖVP in der Region während der Kreisky-Jahre. <?page no="168"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 164 Österreichs handelt und, wie schon oben erwähnt, Arendt und Agamben gezeigt haben, „dass die Menschenrechte immer schon an eine Staatsbürgerschaftszuweisung […] gekoppelt sind.“ 420 Bemerkenswert ist, dass sich Korradow im Moment seines Todes an eine Szene erinnert, die er mit zwölf Jahren in Petersburg gesehen hat: „In der Ecke des Zimmers lag die Frau des Hausmeisters, das Bett war voll Blut. Warum erlebte er dieses Ereignis ein zweites Mal? “ (LT 353) Der Tod evoziert die Erinnerung an den Tod (vielleicht bei einer Geburt) und Sterben und Erinnern an Sterben gehen ineinander über. Der Mord an Korradow ist deutbar als Ausradierung unliebsamer Vergangenheit. „Wie großartig ein Gedächtnis auch sein mag, wie ausgezeichnet gefüllt, so löscht doch der Tod alles von einem Moment auf den anderen“, 421 schreibt Douwe Draaisma in seiner Geschichte des Gedächtnisses Die Metaphernmaschine. Vittoria Borsò stellt in ihrem Aufsatz „Medialität und Gedächtnis“ fest: „Während die indizielle Natur der Fotografie mit dem Bild des Todes koinzidiert, konnotiert der Film durch die Bewegung das Leben. Schon die Kreuzung beider Medien deutet auf die Natur der Erinnerung als virtueller Potenz zwischen Leben und Tod hin.“ 422 Aus Sicht der Dorfbewohner heizt Korradow ,kalte‘ wieder zu ,heißer‘ Geschichte auf, erweckt er Totes wieder zum Leben, indem er sich zum Medium der „Live“-, das heißt Lebend- Übertragung von Ereignissen der Vergangenheit in die Gegenwart macht. Möglicherweise trägt er deshalb die im Text mehrfach angedeutete Signatur des Todes, er verschränkt den Tod mit dem Leben, der Tod ist dem Gedächtnismedium Korradow eingeschrieben. In kritischer Distanz zur Assmann’schen Gedächtniskonzeption betont Vittoria Borsò die Rolle des Mediums bei der Konstitution von Gedächtnis: „Die Artikulationen in der Materialität der Form - dem Körper der Schrift wie dem Material des Bildes - sind von besonderer Bedeutung für die Bilder der Erinnerung.“ 423 Vergangenheit artikuliert sich in „Der Russe“ in Form eines lebenden Körpers, die Materialität des Repräsentierenden liegt demnach am nähestmöglichen am Repräsentierten, das Abwesende wird durch Korradows körperliche Präsenz wieder anwesend, „leibhaftige Vergangenheit“, um 420 Borsò: Medialität und Gedächtnis, S. 77. 421 Douwe Draaisma: Die Metaphernmaschine. Eine Geschichte des Gedächtnisses. A. d. Niederl. v. Verena Kiefer. Darmstadt: Primus 1999. S. 10. 422 Borsò: Medialität und Gedächtnis, S. 92. 423 Ebenda, S. 93. <?page no="169"?> 3.1 Unfehlbares Gedächtnis: „Der Russe“ 165 einen Buchtitel von Maren Lorenz zu zitieren, 424 konstituiert sich. Darauf reagieren die Dorfbewohner nun, indem sie diesen Körper und damit die zum Leben erweckte unangenehme Vergangenheit töten, also das Speichermedium zerstören. An Korradows heimtückischer Abschlachtung machen sich schließlich auch jene mitschuldig, die ursächlich nicht daran beteiligt sind. Sein Nachbar, „der nichts gegen ihn hatte“ (LT 352), und dessen Familie werden Ohrenzeugen des hinter dem Hügel vonstatten gehenden Verbrechens und finden den Leichnam im Schnee: Die Nacht verbrachten sie vor Furcht zitternd in der Küche und überlegten jeder für sich. Dann kamen sie zu dem Entschluß, daß auch sie sich nicht ausschließen durften: Sie begruben den Toten hinter dem Viehstall und legten Giftköder für die Katze. Niemand im Dorf verlor ein Wort über das, was geschehen war. (LT 354) Der 63. von 232 Einzelsätzen des Kapitels „Der Gesang des Brandvogels“ lautet: „Das Grab des gefangenen Russen ist das Nest der Lerchen“. (LT 533) Dieser Satz korrespondiert mit dem noch nicht erwähnten Teil des Kommentars zum Foto der russischen Kriegsgefangenen in Im tiefen Österreich, der lautet: „In St. Ulrich auf dem Friedhof befindet sich noch das Grab eines solchen Gefangenen namens Iwanov, zu dessen Beerdigung 1917 ein Pope erwartet wurde, der aber nicht erschien.“ (ITÖ 17-18) Im zweiten Teil des von Gerhard Roth gestalteten Dokumentarfilms Menschen in Österreich wiederum führt der Kirchenwirt Finsterl den Autor auf den Dorffriedhof und zeigt ihm, auf eine Frage hin, auch das nahe beim Eingang liegende und durch ein gußeisernes Kreuz bezeichnete Grab eines russischen Kriegsgefangenen mit den Worten: „Das ist ein russischer Soldat vom Ersten Weltkrieg, da war hier ein Gefangenenlager und da ist er im Jahr 1918 gestorben.“ Und auf Roths Frage: „Haben die hier gearbeitet, die russischen Soldaten? “, antwortet Finsterl: „Ja, bei den Bauern haben die gearbeitet.“ 425 Es ist augenscheinlich, dass es sich bei besagtem Iwanov um das reale Vorbild des gedächtnishypertrophen Korradow handelt. Auffallend sind aber nicht nur die unterschiedlichen Jahresangaben zum Tod des Kriegsgefangenen, 1917 in Im Tiefen Österreich, 1918 in Menschen in Österreich und unge- 424 Maren Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen: Ed. Diskord 2000 (Historische Einführungen 4). 425 Menschen in Österreich (Teil 2), ORF 1979, 5: 35 -5: 55. <?page no="170"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 166 fähr 1921 in „Der Russe“, sondern vor allem, dass Iwanov ganz im Gegensatz zu Korradow vor dem für „Der Russe“ so wichtigen Systemwechsel von der Monarchie zur Republik verstorben ist. Unter Berücksichtigung der Passage aus Im tiefen Österreich und der Filmsequenz wird Roths Vorgehensweise, ein historisches Ereignis der außerliterarischen Wirklichkeit zum Ausgangspunkt zu nehmen und dieses dann fortzuschreiben und symbolisch zu überformen, deutlich. So ist auch der veränderte Name zu erklären, aus Iwanov wird Korradow, das phonetisch nahe an Korsakow ist, einem russischen Arzt, der das so genannte „Korsakow-Syndrom“ entdeckte. Dieses Syndrom besteht in einer Gedächtnisstörung, die durch Alkohol bedingt ist. Im Lexikon Gedächtnis und Erinnerung heißt es zu den Symptomen, dass „meist die Erinnerung an weiter zurückliegende Ereignisse nicht beeinträchtigt [ist], während die Fähigkeit zur Aufnahme neuer Gedächtnisinhalte und zum Neulernen meist gravierend beeinträchtigt ist“. 426 Erst 2005 hat übrigens der österreichische Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici in seinem Roman Ohnehin einen am Korsakow-Syndrom erkrankten ehemaligen SS-Arzt zu einer wichtigen Figur gemacht. 427 Der Neurologe Stefan Sandtner, der den Mann behandelt, sagt in diesem Roman zu dessen Kindern, einem ehemals linken Soziologen und einer von des Vaters Vergangenheit im guten wie schlechten Sinne besessenen Dolmetscherin: „Euer Vater lebt um so deutlicher in der Vergangenheit, weil ein anderer Teil seines Gedächtnisses, das frisch labile, sein Kurzzeitgedächtnis, die Merkfähigkeit verloren ist, aber ebenso ein Stück der älteren Erfahrungsspuren. Er sagt nun, was er euch bisher verschwieg, weil er nicht mehr erinnert, woran er sich nicht mehr erinnern darf; weil er vergaß, was er vergessen wollte. Wobei ich nicht sagen kann, was von seinen Erinnerungen stimmt.“ 428 Gerade Korradow, der Mann mit dem absoluten Gedächtnis, der Nichtvergesser wurde also von Gerhard Roth mit einer nicht leicht auffindbaren, dafür aber umso besser platzierten Pointe in phonetischer Nähe zu einem Arzt benannt, der ein aus massiven Gedächtnisstörungen beziehungsweise aus For- 426 Hans-Peter Steingass: Korsakow-Syndrom. In: Nicolas Pethes und Jens Ruchatz (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. U. Mitarb. v. Martin Korte und Jürgen Straub. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001 (rowohlts enzyklopädie). S. 322-323, hier S. 322. 427 Danke für den Hinweis auf Korsakow und Doron Rabinovicis Roman Ohnehin an Daniela Finzi. 428 Doron Rabinovici: Ohnehin. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2005. S. 66. <?page no="171"?> 3.1 Unfehlbares Gedächtnis: „Der Russe“ 167 men des Vergessens bestehendes Syndrom erstmals diagnostiziert und beschrieben hat. Doch kehren wir zurück zur Parallele zwischen dem realen und dem fiktiven russischen Kriegsgefangenen. Obwohl Iwanov durch sein Grabkreuz eine stabile Position im Dorfgedächtnis hat, 429 während über Korradow „[n]iemand im Dorf [...] ein Wort“ (LT 354) verlor, gibt es doch eine Parallele in Bezug auf die nicht erfolgte Einsegnung Iwanovs nach orthodoxem Ritus, da ja auch Korradow ohne priesterlichen Beistand - allerdings bezeichnenderweise nicht beerdigt, sondern von den Nachbarn „hinter dem Viehstall“ verscharrt wurde, übrigens keine einmalige Praxis: Als die Dorfbevölkerung im Märchen „Der Gesang der Nachtigall“ herausfindet, dass der Mesner die wundertätige Nachtigall für seine Zwecke missbraucht hat, „erschlugen sie ihn und verscharrten seinen Leichnam außerhalb geweihter Erde, und keine Glocke läutete.“ (LT 633) Aleida Assmann schreibt in Erinnerungsräume: „Die Pietät der Totenmemoria antwortet auf ein universales kulturelles Tabu. Die Toten müssen begraben und zur Ruhe gebracht werden, weil sie sonst die Ruhe der Lebenden stören und das Leben der Gesellschaft gefährden.“ 430 In gewisser Weise gilt das auch für den ermordeten Kriegsgefangenen, denn mit dem Ende von Korradows erster Geschichte beginnt, im Unterschied zum realen Iwanov, seine zweite: Zehn Jahre später öffnete ein betrunkener Totengräber das Grab und fand ein Skelett, das der Obmann des Veteranenbundes auf den Dachboden stellte. Schließlich - vor Beginn des Zweiten Krieges - gelangte es in die Schule und diente dort den Kindern im Naturgeschichteunterricht. Nach dem Krieg verschwand es. Manche vermuten es im Museum des Bestatters, manche meinen, man habe es verscharrt. (LT 354) Ein „betrunkener Totengräber“ - der Bestattungsgehilfe und der Bestatter selbst, der das Heimatmuseum gegründet hat, spielen eine nicht unwesentliche Rolle im Zyklus, zum Beispiel in der weiter unten analysierten Erzählung „Hahnlosers Ende“ - holt die vergrabene ,Schuld‘ aus der Erde, bringt das corpus delicti wieder zum Vorschein und ins Bewusstsein. Unschwer lässt 429 In der Dorfchronik findet übrigens „der Pfarrer die hölzernen Kreuze [in den Häusern] wie eine stete Erinnerung an die Grausamkeit der Menschen“ (DLT 82). 430 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck 2006 (C. H. Beck Kulturwissenschaft). S. 38. Eine geradezu leitmotivische Funktion haben mangel- oder fehlerhafte Bestattungen in Landläufiger Tod: Die Vergangenheit wird nicht korrekt abgeschlossen und kehrt deshalb wieder. <?page no="172"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 168 sich dieser erste Akt des zweiten Auftauchens von Korradow im Dorf als metaphorischer Verweis auf die - Douwe Draaismas oben zitiertem Satz vom Tod, der alles löscht, widersprechende - Unmöglichkeit einer endgültigen Verdrängung und des Ziehens eines Schlussstriches unter die Auseinandersetzung mit Geschichte lesen. Irgendwann kommt alles wieder ans Tageslicht, auf welch unerwartete Weise auch immer, die Existenz der Erzählung „Der Russe“ zeugt, innerhalb des fiktiven Bezugsrahmens Roman, davon, es ist „die Geschichte eines Todes [...] als eine Allegorie von Friedlosigkeit und unbeschwichtiger Schuld.“ 431 Der Obmann des Veteranenbundes stellt das Skelett dann auf seinen Dachboden, auf den „Speicher“, macht daraus die geheime Reliquie eines Krieges, der verloren wurde, im Falle Korradows aber - das markiert das Skelett - gewonnen wurde. 432 Dass es sich bei dem Skelett um die sterblichen Überreste eines Russen handelt, kann auch als Hinweis auf den Russlandfeldzug im bevorstehenden Zweiten Weltkrieg und die dabei begangenen Verbrechen an der russischen Bevölkerung - als Beispiel sei nur der von der Wehrmacht ausgeführte so genannte „Kommissarbefehl“ erwähnt - verstanden werden. Der Ge- und Missbrauch des Skelettes im Naturgeschichteunterricht während des Zweiten Weltkriegs eröffnet einerseits ein semantisches Feld, das zu der von den Nationalsozialisten betriebenen industriellen ,Ver-/ Entwertung‘ von Körpern führt. 433 Andererseits verweist der Umstand, dass die Kinder des Dorfes anhand eines vom Dorf Ermordeten über die Anatomie des menschlichen Körpers unterrichtet werden, auf eine unterschwellige „schwarze Pädagogik“, die Kinder von Mördern zu neuen Mördern erzieht. Übrigens spielte schon in dem kaum bekannten Kinderbuch von Gerhard Roth Herr Mantel und Herr Hemd ein grinsendes Skelett aus dem Naturgeschichteunterricht eine Rolle, 434 wie auch eine andere an vielen Stellen im Landläufigen Tod auftauchende Figur nach ihrem Tod für den Schulunterricht verwendet wird: 431 Sebald: In einer wildfremden Gegend, S. 175. 432 Hierzu passt ein Satz von Bettine Menke: „Bedeutungen topographieren die Körper, indem sie sich quasi-beschriftend auf diesen niederlassen.“ Bei: Bettine Menke: Die Leiche als Emblem. In: Dietmar Schmidt (Hg.): KörperTopoi. Sagbarkeit - Sichtbarkeit - Wissen. Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2002 (['medien]i 11), S. 225-248, hier S. 227. 433 Vgl. dazu Drynda: Schöner Schein, unklares Sein, S. 125. 434 Gerhard Roth: Herr Mantel und Herr Hemd. Bilder von Ida Szigethy. Ein Insel- Bilderbuch. Frankfurt/ Main: Insel 1974. S. 10-11. Vgl. auch Tietze: Das mikroskopische Gedankenglas, S. 162. <?page no="173"?> 3.1 Unfehlbares Gedächtnis: „Der Russe“ 169 „Der Leichnam des Chinesen findet im geographischen Kabinett der Schule Verwendung.“ (LT 191) Es ist eine für Die Archive des Schweigens und Landläufiger Tod bezeichnende Pointe der Geschichte, dass Franz Lindners Vater im weiter unten behandelten Text „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“, der von dessen Erlebnissen während der letzten Kriegstage handelt, folgende Beobachtung macht: „Vor der Schule war das Skelett aus dem Naturgeschichtekabinett aufgestellt, es trug einen Stahlhelm, und als ich später an einem der Klassenzimmer vorbeiging, […] sah ich russische Offiziere um den Katheder stehen und sich beraten.“ (LT 498) Auch wenn unklar ist, welchen Weg Korradows Skelett nach dem Krieg genommen hat und seines, aber auch die Skelette anderer Figuren - zum Beispiel das von Ameisen abgenagte Skelett des Lehrers (vgl. LT 663-664) - oder von Tieren in Landläufiger Tod immer wieder auftauchen (vgl. zum Beispiel LT 147, 155, 158, 476, 633), so ist doch die Vermutung - die Erzählinstanz weiß nicht mehr als die Dorfbewohner - bezeichnend, dass es sich im Heimatmuseum befindet. Und tatsächlich ist in dem Spielfilm Der Stille Ozean bei der Führung des Leichenbestatters „Dominik Pfleger“ durch sein Heimatmuseum nicht nur die schon erwähnte Büste des Kaisers Franz Joseph zu sehen, sondern auch ein lebensgroßes Skelett. 435 Es könnte also, auch wenn im Roman Der Stille Ozean kein Skelett und auch keine Kaiserbüste erwähnt werden, doch noch zu einer Eingemeindung, zu einer Inklusion des Fremden gekommen sein, der am Ende seines Endes Teil des im Museum gespeicherten kollektiven Gedächtnisses des Dorfes wird, wenn auch in entbeziehungsweise resemantisierter Form als Schul-, und nicht als Schuld-Skelett. Abschließend sei noch auf einige weitere inter- und intratextuelle Referenzen hingewiesen. Gerhard Roth hebt, aus einer auf „Der Russe“ gerichteten Perspektive, im letzten Band des Zyklus, dem Essayband Eine Reise in das Innere von Wien, wie auch in dem anderen quasi-dokumentarischen Teil Im tiefen Österreich, die Grenzen zwischen phantastisch erscheinender Fiktion und Realität auf. In dem Essay, der dem Wiener Narrentum gewidmet ist, beschreibt der Autor eine Reihe von aus eurozentrischer Perspektive ,exotischen‘ Menschen, die nach ihrem Tod zu Ausstellungsobjekten wurden. Als Bekanntester von diesen kann der über Robert Musils gleichnamige Figur, über das Figuren-Zitat im Mann ohne Eigenschaften in die Weltliteratur ein- 435 Der Stille Ozean, ORF/ ZDF 1983, 45: 30-48: 25. <?page no="174"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 170 gegangene Ostafrikaner Angelo Soliman gelten. Dieser „besaß“, wie Roth zitiert, „ein ,treffliches Gedächtnis‘“ (RIW 113-114), wurde nach seinem Tod ausgestopft - und befindet sich aus Zyklus-Perspektive damit nicht allein. Denn wie schon das Ausstellen und Finden von Skeletten findet auch das Ausstopfen von Menschen und Tieren einige Male im Landläufigen Tod Erwähnung. Ein Satz aus „Das gefrorene Paradies“ spielt auf Solimans Schicksal an, dabei aber vom western gaze geprägte Kannibalismusphantasien umdrehend: „Sobald der Neger verspeist ist, wird seine Haut ausgestopft.“ (LT 149) Im Schloss befindet sich „unter einem Glassturz der ausgestopfte Schimmel des Generals“ (LT 584) und über den verstorbenen Riesen heißt es in einem Märchen: „Der Zirkusdirektor aber hatte vorgesorgt. Er ließ den Toten ausstopfen und schleppte ihn so lange mit sich herum, bis ihn niemand mehr sehen wollte. Dann verkaufte er ihn der pathologischen Abteilung des Irrenhauses, in der Gehirne von Kranken, Mißgeburten und schriftliche Zeugnisse von Anstaltsangehörigen aufbewahrt werden, wo man ihn aber vergaß“, behauptet der Archivar des Feldhofs. (LT 641) 436 Über die Praxis des Ausstopfens von Subalternen ergibt sich übrigens ein interessanter intertextueller Bezug zu dem Roman Auf dem Floß (1948) des österreichischen Autors George Saiko, in dem Fürst Alexander Fenckh seinen riesenhaften Diener Joschko in einem Schaukasten, in dem ursprünglich ein Wisent aufbewahrt wurde, in der Eingangshalle seines Schlosses ausstellen möchte. Allerdings kommt dem Grafen der Leichnam seines Dieners abhanden, das Behältnis bleibt leer, die Herrschaft der deutschprachigen k.u.k.- Aristokratie in den ehemaligen Kronländern der Monarchie ist zu Ende. Angelo Soliman wurde gemeinsam mit anderen ausgestopften Menschen im Naturalienkabinett in der Hofburg in einem Schrank mit der Aufschrift „Repräsentanten des Menschengeschlechts“ (RIW 114) aufbewahrt. Ähnlich allerdings wie bei Korradow, mit einschränkendem Verweis auf die Verfilmung von Der Stille Ozean, und Saikos Joschko verlieren sich seine Spuren im Zuge eines größeren Tumults: 1848, während der Revolutionsereignisse, geriet das Dach über dem Naturalienkabinett in Brand. Im Brandrapport über die ,sehr erheblichen Verluste‘ werden auch die ,vier menschlichen Stopfpräparate‘ erwähnt, die man inzwischen auf den Dachboden geschafft hatte. (RIW 114) 436 Vgl. dazu den Essay „Der Narrenturm“ in Eine Reise in das Innere von Wien. (RIW 110-131) <?page no="175"?> 3.2 Bürgerkriegsgedächtnis: „Drei Tote“ 171 3.2 Bürgerkriegsgedächtnis: „Drei Tote“ Die Erzählung „Drei Tote“ (LT 404-421) handelt von einem Bergarbeiterstreik im Jahre 1935. Als der Ingenieur des Bergwerks zur Arbeitersiedlung fährt, um die Arbeiter zur Beendigung des Streiks zu überreden, wird er von einem Steinwurf getötet. Der Gendarmeriekommandant lässt daraufhin ohne konkreten Verdacht einen Arbeiter verhaften, der jedoch keine Namen nennt beziehungsweise nennen kann. Deshalb soll ein weiterer Arbeiter verhaftet werden, bei dessen Abtransport aber ein Gendarm erschossen wird. Nun stellt sich zwar jener Arbeiter, der den Bergingenieur getötet hat, der Gendarmeriekommandant ist aber nur noch am Mörder des Gendarmen interessiert und stellt den Streikenden ein Ultimatum, den Täter auszuliefern. Dieser, ein siebzehnjähriger Bergarbeiter, wird schließlich in Gewahrsam genommen und noch am selben Tag während einer von den Gendarmen inszenierten Flucht erschossen. „Drei Tote“ kann - trotz der Datierung auf 1935 - im Kontext des in den Februarkämpfen 1934 (12. bis 15. Februar) kulminierten blutigen Systemwechsels von der demokratischen Ersten Republik zum „Ständestaat“ beziehungsweise zur Zeit des „Austrofaschismus“ gelesen werden. Deshalb soll zunächst auf den hier relevanten gedächtnis- und literaturgeschichtlichen Hintergrund beziehungsweise auf den erinnerungskulturellen Kontext von „Drei Tote“ eingegangen werden. Die Problematik dieser vier Jahre von 1934 bis 1938, der „nachhaltigste[n] Zäsur in der Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert“, 437 wie der Historiker Siegfried Mattl schreibt, zeigt sich bereits in den Bezeichnungen „Austrofaschismus“ und „Ständestaat“, also in der Terminologie, wie der Politikwissenschaftler Emmerich Tálos festgestellt hat: „Autoritäres System“, „autoritärer Staat“, „autoritäres Regime“ bzw. „autoritäres Notstandsregime“, „Regierungsdiktatur“, „Defacto-Diktatur“ bzw. „autoritäre Regierung“, „Autoritätsstaat“, „bürgerlich-konservative Diktatur“, „Konkurrenzfaschismus“, „Klerikal-Faschismus“ oder „Austrofaschismus“. 437 Siegfried Mattl: Vergangenheitspolitik und Geschichtsrevisionismus - Februaraufstand 1934, Dollfuß-Mord und Austrofaschismus. In: Florian Wenninger, Paul Dvořak und Katharina Kuffner (Hg.): Geschichte macht Herrschaft. Zur Politik mit dem Vergangenen. Wien: Braumüller 2007 (Politische Wirklichkeit 19). S. 215-226, hier S. 216. <?page no="176"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 172 Derartige begriffliche Unterscheidungen markieren den Dissens in der Deutung der politischen Entwicklung Österreichs in den 1930er Jahren. 438 Tálos deduziert in seiner metahistoriographischen Untersuchung ein „Ständestaat-Paradigma“ in der österreichischen Geschichtswissenschaft, das heißt einen durch die Übernahme des vom Regime gewählten Begriffs, der „Selbstdeutung ,Ständestaat‘“, 439 vorformatierten und latent apologetischen Blickwinkel, der sich in groben Zügen mit jenem der konservativen Österreichischen Volkspartei deckt. 440 In einem anderen Aufsatz nennt Tálos unter Bezug auf verschiedene Theorien zum Faschistischen des zu untersuchenden Regimes noch weitere Gründe, warum er den Begriff des Austrofaschismus bevorzugt. Für den Politologen stellt in Bezug auf die schwierige Bezeichnung des Herrschaftssystems von 1934 bis 1938 „die österreichische Diktatur - ebenso wie andere - realiter einen Mix und nicht die Reinform konstruierter Charakteristika“ dar. 441 Laut Tálos weist dieses System „sowohl Gemeinsamkeiten mit wie Unterschiede zu den Prototypen des Faschismus als auch zu Regimen auf, die sich auf autoritäre Herrschaftsmethoden stützten.“ 442 Trotzdem ist für Tálos - und der Argumentation wird in dieser Studie Folge geleistet - die Verwendung des Terminus Austrofaschismus ausreichend legitimiert, da dieser: • auf einschlägigen Forschungsarbeiten fundiert und nicht ein aus der parteipolitischen Auseinandersetzung abgeleiteter Begriff ist, • das Insgesamt und nicht bloß die politisch-institutionelle Dimension des Herrschaftssystems meint, • das Naheverhältnis zu politischen Veränderungsprozessen, Ideologien, Strukturen und Realisationen der Faschismen in Italien und Deutschland zum Ausdruck bringt, aber auch 438 Emmerich Tálos: Deutungen des Österreichischen Herrschaftssystems 1934-1938. In: Wenninger/ Dvořak/ Kuffner (Hg.): Geschichte macht Herrschaft, S. 199-213, hier S. 200. 439 Ebenda, S. 201. 440 Nicht ohne Grund und trotz immer wieder aufflammender Proteste hängt ein Bild des austrofaschistischen und von Nationalsozialisten ermordeten Diktators Engelbert Dollfuß im Nationalratsklub der ÖVP. Vgl. z. B. ebenda, S. 211. 441 Emmerich Tálos: Das austrofaschistische Herrschaftssystem. In: ders und Wolfgang Neugebauer (Hg.): Austrofaschismus. Politik - Ökonomie - Kultur 1933-1938. 5., völlig überarbeitete und ergänzte Aufl. Wien: Lit 2005 (Politik und Zeitgeschichte 1). S. 394-420, hier S. 416. 442 Ebenda, S. 417. <?page no="177"?> 3.2 Bürgerkriegsgedächtnis: „Drei Tote“ 173 • Ausdruck der spezifischen Bedingungen und Ausprägungen des 1933/ 1934 in Österreich etablierten Herrschaftssystems mit seinen Unterschieden zu anderen faschistischen Diktaturen ist. 443 An der Festschreibung der Bedeutung und Deutung des Februar 1934 nach 1945 wirkte nun nicht nur die oben bereits erwähnte ÖVP, sondern auch die SPÖ mit, wie Mattl feststellt: Die raison d’être der Zweiten Republik beruhte geradezu auf der Latenz des Bürgerkrieges und dessen Bannung. Die Kooperation der politischen Eliten der beiden Großparteien ÖVP und SPÖ nach 1945 legitimierte sich mit der Geschichts-Lektion, wonach der Bürgerkrieg den Untergang des Landes herbeigeführt habe. Die Konsensbildung basierte auf dem Einvernehmen, schon die Rahmenbedingungen für Konflikte, die zu militanten Konfrontationen führen konnten, zu regulieren und möglichst zu unterbinden. 444 Es entstand also eine von beiden bestimmenden Parteien getragene „,Koalitionsgeschichtsschreibung‘“ 445 beziehungsweise „,große Erzählung‘“, welche „auf die Legitimierung der aktuellen politischen Kultur, d.h. der korporativen Strategie und des Parteiproporzes, der das Land nach 1945 nach innen wie außen regierbar machte“, 446 abzielte. Diese ,große Erzählung‘ arbeitete mit Begriffen wie „Bruderkampf“ oder „geteilte Schuld“ 447 und ist/ war geprägt von einer, wie es Robert Menasse genannt hat, „sozialpartnerschaftlichen Ästhetik“. Menasse meint damit die spezifisch österreichische Aushandlung von Konflikten über die so genannten Sozialpartner Gewerkschaftsbund (ÖGB) und Bundeswirtschaftskammer (WKÖ), die 1957 in der Paritätischen Kommission institutionalisiert wurde. Nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch in der Literatur sei, so der zweite und kontroversiellere Teil von Menasses These, diese sozialpartnerschaftliche Ästhetik dominant, ja es handle sich dabei um den „erste[n] materiell wirklich nachweisbare[n] Austriazis- 443 Ebenda. 444 Mattl: Vergangenheitspolitik und Geschichtsrevisionismus, S. 217. 445 Erika Weinzierl: Der Februar 1934 und die Folgen für Österreich. Wien: Picus 1995 (Wiener Vorlesungen im Rathaus 34). S. 13-14. 446 Mattl: Vergangenheitspolitik und Geschichtsrevisionismus, S. 221. 447 Der Begriff ist mit dem Handschlag zwischen Bundeskanzler Gorbach (ÖVP) und Vizekanzler Pittermann (SPÖ) zum 30. Jahrestag des Februar 34 in den politischen Diskurs gelangt. Siehe dazu Helmut Konrad: Der 12. Februar 1934 in Österreich. In: Günther Schefbeck (Hg.): Österreich 1934. Vorgeschichte - Ereignisse - Wirkungen. Wien: Verlag für Geschichte und Politik; München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2004 (Schriftenreihe des Instituts für Österreichkunde). S. 91-98, hier S. 91-92. <?page no="178"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 174 mus der österreichischen Literatur seit dem ,habsburgischen Mythos‘.“ 448 Die negativen Auswirkungen des sozialpartnerschaftlichen Systems sieht Menasse nun in einer vorgeblichen Differenziertheit der politischen Positionen bei gleichzeitiger Einebnung derselbigen: Das sozialpartnerschaftliche System produziert also gleich doppelt einen falschen Anschein der gesellschaftlichen Realität: Es produziert den Schein einer harmonischen Geschlossenheit, wobei die wirklichen gesellschaftlichen Interessengegensätze und Konflikte ausgeblendet werden, und es produziert den Schein einer gesellschaftlichen Zersplitterung, wobei das Zustandekommen des gesellschaftlichen Zusammenhangs völlig im Dunklen bleibt. 449 Als Teil dieses sozialpartnerschaftlichen Narrativs sieht Menasse auch die nicht problematisierte personelle Kontinuität vom Austrofaschismus zur Zweiten Republik, die sich im Literaturbetrieb in Figuren wie Rudolf Henz und Alexander Lernet-Holenia zeigte. Letzterer prägte übrigens im Jahre 1945 folgenden, als repräsentativ für den Wunsch nach Kontinuität stehenden Satz: „In der Tat brauchen wir nur dort fortzusetzen, wo uns die Träume eines Irren unterbrochen haben, in der Tat brauchen wir nicht voraus-, sondern nur zurückblicken.“ 450 - die Leerstelle, die dieser Satz hinterlässt, wird von Menasse mit der Frage gefüllt: „[I]m Ständestaat? “ 451 Parallel zur politischen Einigung über die „geteilte Schuld“ und der Begründung eines „Mythos der Lagerstraße“, das heißt eines aus der gemeinsamen Opferrolle (Volkspartei und Sozialdemokraten) während der NS-Zeit entstandenen „Narrativ[s] der nationalen Versöhnung“, 452 sowie dem Aufstieg der den gesellschaftlichen Diskurs dominierenden und das Konfliktpotential entschärfenden Sozialpartner vollzog sich, wie in der Analyse von „Auf dem Schneeberg“ schon erwähnt, 453 eine geschichtswissenschaftliche Fixierung auf die Ergründung der Ursachen, die zum Nationalsozialismus geführt 448 Robert Menasse: Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Das Österreichische an der österreichischen Literatur der Zweiten Republik. In: ders.: Überbau und Underground. Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Essays zum österreichischen Geist. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1997 (stb 2648). S. 11-110, hier S. 28. 449 Ebenda. 450 Alexander Lernet-Holenia: Gruß des Dichters. 17. Oktober 1945. In: Der Turm. 1. Jg. (November - Dezember 1945), H. 4/ 5, S. 109. 451 Menasse: Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik, S. 32. 452 Oliver Marchart, Vrääth Öhner und Heidemarie Uhl: Holocaust revisited - Lesarten eines Medienereignisses zwischen globaler Erinnerungskultur und nationaler Vergangenheitsbewältigung. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXI (2003): Medien - Politik - Geschichte. Hg. v. Moshe Zuckermann. S. 307-334, hier S. 318. 453 Vgl. nochmals Ziegler/ Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis, S. 32. <?page no="179"?> 3.2 Bürgerkriegsgedächtnis: „Drei Tote“ 175 haben, das heißt eine ausführliche Beschäftigung mit dem Jahr 1934 und dem Austrofaschismus. Helmut Konrad betont besonders die Rolle der Sozialdemokratie, die den 40. Jahrestag 1974 „offensiv“ angelegt habe: Die Regierung Kreisky setzte bewusst auf eine historische Aufarbeitung der Zwischenkriegszeit und holte sich einen Teil ihrer moralischen Legitimation aus der Geschichte. Nicht zufällig etablierte sich in diesen Jahren auch an den konservativen Universitäten Zeitgeschichte als „linkes“ Fach. 1984 war die Großausstellung „Die Kälte des Februar“ ein eindrucksvolles Schlussdokument dieser Phase der sozialdemokratischen Hegemonie. 454 Die sozialdemokratische Deutungshegemonie der Kreisky-Ära steht übrigens in einem Gegensatz zu Menasses These einer Einebnung der Konfliktpotentiale durch die sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Jedenfalls stehen aber seit dieser intensiven Beforschung von 1934, wie Helmut Konrad feststellt, „die Fakten praktisch außer Streit“, 455 auch wenn vor allem um das Jahr 2004 und während einer schwarzen-blauen Regierung die Einschätzung des austrofaschistischen Regimes als sich dem Nationalsozialismus widersetzende Macht sowie „die Frage […] um die Rolle von Engelbert Dollfuß als erstem Opfer im Widerstand gegen die expansive Politik Hitler-Deutschlands [...] die Diskussion erneut belebte.“ 456 Die Geschichte der literarischen Aufarbeitung der Zeit des Austrofaschismus ist aufgrund der Quellenlage weniger gut nachvollziehbar als jene in 454 Helmut Konrad: Der Februar 1934 im historischen Gedächtnis. In: Themen der Zeitgeschichte und der Gegenwart. Arbeiterbewegung - NS-Herrschaft - Rechtsextremismus. Ein Resümee aus Anlass des 60. Geburtstags von Wolfgang Neugebauer. Hg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Wien: Lit 2004 (Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes zu Widerstand, NS-Verfolgung und Nachkriegsaspekten 4). S. 12-26, hier S. 14. 455 Konrad: Der 12. Februar 1934 in Österreich, S. 91. 456 Ebenda, S. 97. Gegenpositionen zu dieser auch von Tálos: Deutungen des Österreichischen Herrschaftssystems 1934-1938, festgestellten Tendenz einer positiven Einschätzung des Austrofaschismus und insbesondere des Diktators Dollfuß finden sich in Stephan Neuhäuser: „Wir werden ganze Arbeit leisten ...“ Der austrofaschistische Staatsstreich 1934. Norderstedt: Books on Demand 2004. Die Geschichtspolitik der schwarz-blauen Regierung wurde besonders bedenklich im so genannten „Gedankenjahr 2005“ (60 Jahre Zweite Republik, 50 Jahre Staatsvertrag, zehn Jahre EU- Mitgliedschaft). Vgl. dazu die Diplomarbeit von Irene Maria Leitner: Erinnerungskonflikte im österreichischen Gedankenjahr 2005. Eine gedächtnisgeschichtliche Studie anhand ausgewählter Fallbeispiele. Diplomarbeit: Wien 2007; sowie den als Gegenprojekt zum offiziellen Staatsgedenken gedachten Sammelband von Martin Wassermair und Katharina Wegan (Hg.): rebranding images. Ein streitbares Lesebuch zu Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Österreich. Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag 2006. <?page no="180"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 176 Politik und Geschichtswissenschaft. Einige wichtige Hinweise finden sich allerdings in Ulrich Weinzierls Aufsatz „Die Schriftsteller und der Februar 1934“, der einer Sammlung mit schriftstellerischen Annäherungen an das Thema (unter anderem von Stefan Zweig, Oskar Maria Graf, Manès Sperber, Dorothea Zeemann und Erich Fried) nachgestellt ist. Weinzierl schreibt, dass „diese Februarkämpfe zahllose Intellektuelle und Künstler in aller Welt auf[rüttelten], in einem Ausmaß, das sich nur mit den Reaktionen auf den Spanischen Bürgerkrieg vergleichen läßt.“ 457 Die breite zeitgenössische internationale Rezeption stand, insbesondere auf kommunistischer Seite (zum Beispiel Bertolt Brecht, Anna Seghers), im Zeichen der Herausbildung eines Narrativs des Widerstandes, das mit der tatsächlichen verheerenden Niederlage der Arbeiter kaum etwas zu tun hatte: „Die ausschließliche Betonung des heroischen Elements machte freilich blind für die Realität.“ 458 Die österreichische Literatur nach 1945 sei, im Gegensatz zur Politik, respektlos mit dem heiklen Thema umgegangen und habe sich wenig „um die Feinheiten der terminologischen Diskussion, ob der ,Ständestaat‘ nun faschistisch (austro-, klerikalfaschistisch), faschistoid oder bloß autoritär gewesen sei“, 459 gekümmert. Deshalb hätte trotz aller unterschiedlicher Deutungen in einem Punkt Einigkeit bestanden: „[K]eine Scheu zu haben, krude Dinge beim kruden Namen zu nennen; sich aus ängstlicher Rücksichtnahme, es allen recht machen zu wollen, im Nebulosen zu verlieren - dieser Gefahr suchten beinahe alle auszuweichen.“ 460 „Drei Tote“ wirkt nun auf den ersten Blick so, als ob sich Gerhard Roth mit dieser Erzählung genau im von Weinzierl angesprochenen „Nebulosen“ verirrt hätte. So finden sich in diesem Text keine Codewörter, das heißt keine Personennennungen oder Begriffe aus dem Austrofaschismus wie Stände- 457 Ulrich Weinzierl: Die Schriftsteller und der Februar 1934. In: ders. (Hg.): Februar 1934. Schriftsteller erzählen. Wien, München: Jugend und Volk 1984. S. 134-155, hier S. 139. Besonders interessant ist übrigens die Rezeption in Großbritannien, die Monika Seidl in ihrer Dissertation aufgearbeitet hat: „Civil war in the self“. Britische Schriftsteller über das Wien der frühen dreißiger Jahre und die Februarereignisse 1934. Wien: Dissertation 1994. 458 Weinzierl: Die Schriftsteller und der Februar, S. 140. 459 Ebenda, S. 149. 460 Ebenda, S. 150. Als Beispiele für die Thematisierung des Austrofaschismus in der österreichischen Gegenwartsliteratur ließen sich Thomas Stangls Roman Was kommt (2009) und Franzobels Theaterstück Hunt oder Der totale Februar (uraufgeführt 2005 auf dem ,Thomas Bernhard’schen‘ Schloss Wolfsegg) nennen. <?page no="181"?> 3.2 Bürgerkriegsgedächtnis: „Drei Tote“ 177 staat, Dollfuß, Kurt von Schuschnigg, Vaterländische Front oder Kruckenkreuz. Ebenso wenig sind direkte Referenzen auf Austromarxismus oder dessen führenden Theoretiker Otto Bauer, den Schutzbund oder den Arbeiterführer Koloman Wallisch im Text enthalten. Trotz der über die Konfliktparteien, den Verlauf des Konfliktes und die Datierung auf 1935 erfolgenden deutlichen Anspielungen auf den Februar 1934 und die Folgejahre bleibt „Drei Tote“, im Gegensatz zu vielen anderen Narrativen aus der Geschichte des ländlichen Raumes, eher im historisch Vagen. Der oben in Grundzügen dargelegte und vom (der österreichischen Geschichte kundigen) Leser potentiell aktualisierbare erinnerungskulturelle Kontext wird zugleich herbeigeschrieben und undeutlich gemacht. Das kann mehrere Gründe haben: Zum einen ist es möglich, dass der Autor, der passagenweise Fiktion und Fakt bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander verschränkt, hier Skrupel gehabt haben könnte, das Dorf mit einem konkreten Bürgerkriegsnarrativ auszustatten, das keine Parallele in der außerliterarischen historischen Wirklichkeit hat. Zum anderen (oder ebenso) kann das aber auch daran liegen, dass Roth zu einer Verschlüsselung gegriffen hat, weil in diesen Text nicht-dörfliche Oral History eingearbeitet wurde, wie Uwe Schütte in einem Gespräch erfahren hat: Der in „Drei Tote“ (LT 404-421) geschilderte Streik der Bergarbeiter etwa hat sich in dieser Form zwar nicht zugetragen, basiert aber auf Begebenheiten während der in ganz Österreich stattgefundenen Streiks und Arbeiteraufstände nach dem Verbot der SPÖ unter dem austrofaschistischen Ständestaat, wie sie Roth von seinem Großvater berichtet wurden. 461 Dieser schon in dem Roman Winterreise literarisierte Großvater mütterlicherseits 462 spielt auch in dem autobiographischen Roman Das Alphabet der Zeit eine wichtige Rolle. Detaillierte Ausführungen beispielsweise zu den Arbeiteraufständen in Kapfenberg oder Leoben liefert der Großvater in diesem Text jedoch nicht, es wird nur erwähnt, dass er nicht selbst an den Februarkämpfen teilnehmen konnte: „Als es schließlich 1934 zum Aufstand der Arbeiter in 461 Schütte: Auf der Spur der Vergessenen, S. 132. 462 Roth sah ihn Ende der 1970er Jahre als zentrale Figur eines später so nicht realisierten Buchprojektes: Roths „nächster Roman, in dem er die Geschichte seines Großvaters, eines wild in der Welt umhergetriebenen, abenteuerlustigen Mannes, schildern will, wird wahrscheinlich wieder die Gespaltenheit seiner Existenz zu formulieren versuchen.“, berichtete Ulrich Greiner. (Ulrich Greiner: Gerhard Roth. „Ich will ein Erzähler sein“. Portrait. In: ders.: Der Tod des Nachsommers. Aufsätze, Porträts, Kritiken zur österreichischen Gegenwartsliteratur. München: Hanser 1979. S. 158-172, hier S. 162.) <?page no="182"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 178 Österreich kam, hat mein Großvater sich - im Unterschied zu seinem Bruder - nicht daran beteiligt, da er [...] an Gelenksentzündung litt.“ 463 Allerdings deutet er den Februar 1934 als entscheidendes Moment für den Aufstieg der Nationalsozialisten: Nachdem aber das Dollfußregime auf die Arbeiter hätte schießen lassen und die Kirche ihren Segen dazu gegeben hätte, sei der Widerstand der Bevölkerung gegen die Nationalsozialisten gebrochen gewesen. Die Arbeiter hätten sich von der Politik abgewendet oder seien zu den Nazis übergelaufen. 464 Einen ähnlichen Zusammenhang, aber mit anderen Schlüssen für die eigene Biografie, stellt übrigens auch die Mutter der Autorfigur auf die Frage nach ihrer Mitgliedschaft in der NSDAP her: „[S]ie stellte das Ganze als eine Reihe von Irrtümern dar, sprach von der Zeit des ,Austrofaschismus‘ unter Dollfuß und Schuschnigg, der langen Arbeitslosigkeit ihres Vaters und der Armut der Bevölkerung.“ 465 Deutlichere Verbindungslinien zu „Drei Tote“ finden sich in Das Alphabet der Zeit nicht, was übrigens auch für den Zykluskontext insgesamt wie für den Romankontext von Landläufiger Tod gilt. In Im tiefen Österreich beispielsweise wird nur allgemein über die Zeit des Austrofaschismus berichtet, wobei Gerhard Roth zu einer ähnlichen Argumentation wie Großvater und Mutter in Das Alphabet der Zeit greift. Der Autor spricht, bewusst vereinfachend, unter anderem von „soziale[n] Gründen“, wobei hier sozioökonomische Gründe gemeint sein dürften, wie Arbeitslosigkeit und Steuerschulden, die dazu geführt hätten, „daß die Landbevölkerung, die ja für den ,Ständestaat‘ gewesen war, ihre Begeisterung für die ,Hitlerei‘, wie man sie später nannte, entdeckte.“ (ITÖ 24) Von Februarkämpfen oder einem etwaigen blutig beendeten Arbeiterstreik ist im Foto-Text- Band keine Rede, ebenso wenig wie in Der Stille Ozean. Allerdings ist in diesem Roman die sozial konstruierte Differenz zwischen Bauern und Arbeitern, die in „Drei Tote“ zeitlich rückversetzt noch enormes Konfliktpotential in sich birgt, deutlich konturiert. So gibt es einen, wie die Witwe Egger erzählt (vgl. DSO 85), ehemaligen sozialdemokratischen Betriebsrat der Bergarbeiter, der einen ÖVP-Landesrat bei einer Wahlkampfveranstaltung mit Zwischenrufen irritiert (vgl. DSO 31-32), die Schwächen des Pfarrers thematisiert (vgl. DSO 140) und die bäuerliche Verachtung gegenüber Arbeitern im Kontext besitzorientierten Obrigkeitsdenkens interpretiert: „Ich habe mich oft genug 463 Roth: Das Alphabet der Zeit, S. 813. 464 Ebenda, S. 679. 465 Ebenda, S. 625. <?page no="183"?> 3.2 Bürgerkriegsgedächtnis: „Drei Tote“ 179 gefragt, was die Menschen hier am gefügigsten gemacht hat, ich denke, es waren die kleinen Besitzungen.“ (DSO 237) Für Daniela Bartens verkörpert dieser Betriebsrat „eine politisch engagierte Position eines leisen sozialdemokratischen Fortschrittsoptimismus“, wobei diese Figur „immer an entscheidenden Stellen des Romans wie ein Deus ex machina auftauch[e]“, jedoch durchaus zwiespältig und nicht einseitig positiv dargestellt sei. 466 Jedenfalls haben sich Ende der 1970er Jahre die Vorzeichen gewandelt, die Lebensverhältnisse der (ehemaligen) Bergarbeiter haben sich im Vergleich zur ländlichen Mehrheitsbevölkerung deutlich verbessert, worauf der Landarzt gegenüber Ascher hinweist. (Vgl. DSO 174-175) Eine nicht unwesentliche Rolle spielt der Austrofaschismus natürlich auch in der Lebensgeschichte des 1919 geborenen Wiener Juden Karl Berger, die Roth im sechsten Zyklusband Die Geschichte der Dunkelheit semi-dokumentarisch erzählt hat. Berger zieht aus den Ereignissen des 12. Februar folgenden Schluss: „Ich habe mit diesem Datum aufgehört, mich als Österreicher zu fühlen. Mir war jetzt klar, daß ich Jude war, und ich begann es zu akzeptieren.“ (GD 44) Allerdings erzählt Berger trotzdem nicht von einem eindeutig negativen Verhältnis zum austrofaschistischen Staat, denn weder Dollfuß, noch Schuschnigg ließ [...] die Juden verfolgen (im Gegenteil). [...] Die ganze Dollfuß- Schuschnigg-Zeit über wußten wir, daß dieser Staat nicht von Bestand sein konnte. Einerseits waren wir froh, daß es ihn gab, weil die Nationalsozialisten verboten waren und die Belästigungen der Juden in der Leopoldstadt aufgehört hatten - andererseits sah man, wenn man Ausflüge in die Umgebung machte, daß die Bewegung weiterbestand: An Felswänden waren große, weiße Hakenkreuze aufgemalt. (GD 44-45) In dem Essayband Eine Reise in das Innere von Wien schließlich wird die Funktion des Arsenals, zu dessen Anlage auch das Heeresgeschichtliche Museum zählt, im Bürgerkriegsjahr angesprochen: Und natürlich bildeten die vor der Reaktion versteckten Waffen später im österreichischen Bürgerkrieg 1934, als das Militär gemeinsam mit der Polizei den Aufstand der Arbeiter niederschlug, einen Bestandteil der Bewaffnung sowohl des „Schutzbundes“, der Selbstschutzorganisation der Sozialdemokraten, als auch des Bundesheeres. (RIW 278) 466 Daniela Bartens: Poetik der Achtsamkeit. Anmerkungen zu Gerhard Roths Roman „Der Stille Ozean“. In: Roth: Atlas der Stille, S. 276-279, hier S. 278. <?page no="184"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 180 Betrachtet man nun den Diskurs innerhalb der laut Foucault zwar „schwache[n]“, hier aber zentralen „materielle[n] Einheit des Bandes“, 467 das heißt des Romans Landläufiger Tod, so zeigt sich, dass die in „Drei Tote“ beschriebenen Ereignisse, wie „Der Russe“, nicht Teil der Lebensnarration der Tante in „Auf dem Schneeberg“ sind. Ebenso finden sich keine Anschlussmöglichkeiten an andere Narrative oder Figuren von Landläufiger Tod; nur über verschiedentliche Erwähnungen der Bergarbeiter - auch Lindners Vaters hat neben der Imkerei als Bergarbeiter gearbeitet (vgl. LT 117) - und des Kohleabbaus in der Region ist eine allgemeine Einbindung gegeben. In Bezug auf die Bergarbeiter gibt es allerdings, das soll hier nur angedeutet werden, eine metaphorische Deutungsebene, könnte man doch die Bergwerksstollen als kollektives Unbewusstes des Dorfes deuten. Im Rahmen einer solchen Interpretation sind vor allem die beiden Texte in „Mikrokosmos“ „Hineingezogen“ (LT 209-210) und „Unterirdische Landschaften“ (LT 339- 340) von Relevanz. In „Hineingezogen“ heißt es, alle Stollen seien zugemauert, allerdings sei ein Eingang vergessen worden: „Es ist ein merkwürdiges Erlebnis, den Stollen zu betreten. Man meint, auf dem Körper eines schlafenden Ungeheuers zu gehen.“ (LT 209) In „Unterirdische Landschaften“ geht es um einen Höhlenforscher und seinen Plan, das unter dem Dorf liegende System aus natürlichen Höhlen und Bergwerksstollen, das den Unerfahrenen leicht in den Tod führen könne, zu kartographieren. Der Text endet mit: „,Wir wissen nichts von diesen Höhlen‘, antwortet der Kirchenwirt, ,auch von Verunglückten ist uns nichts bekannt.‘“ (LT 340) Für Klara Obermüller enthält „die Antwort des Wirts [...] die Antwort Österreichs auf die Fragen nach seiner Vergangenheit.“ 468 Die hier angelegte Metapher der Unterwelt wird allerdings erst in Roths zweitem Zyklus Orkus zentral, auch wenn die Vorstellung natürlicher oder artifizieller Unterkellerung für Gerhard Roth auch in den Archiven des Schweigens wichtig ist: Das Gebiet ist von Stollen wie von einem unterirdischen Labyrinth durchzogen. Die Entsprechung Stollen - Kohle : Unterbewußtsein - Vergangenheit regte mich zur Beschäftigung mit den Lebensläufen von Dorfbewohnern an, der Geschichte des Landstrichs, Märchen und dem Einfluß der Kirche auf das Dorf ... (ITÖ 9) 467 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. A. d. Frz. v. Ulrich Köppen. Suhrkamp: Frankfurt/ Main 1981 (stb wissenschaft 356). S. 36. 468 Obermüller: Unterirdische Landschaften, S. 34. <?page no="185"?> 3.2 Bürgerkriegsgedächtnis: „Drei Tote“ 181 Auf einer ähnlichen Denkweise beruht auch der in Eine Reise in das Innere von Wien enthaltene, sich auf Freud beziehende Essay „Die zweite Stadt“ (RIW 14-31), der sich mit dem unterirdischen Wien beschäftigt. Uwe Schütte stellt dazu fest: „Der Wiener Untergrund im speziellen wird zu einem Gleichnis für das kollektive österreichische Geschichtsgedächtnis.“ 469 Die narrative Isoliertheit und Nicht-Vernetztheit entzieht „Drei Tote“ im Hinblick auf die Perspektivenstruktur des gesamten Romans den Analysekategorien multiperspektivischen Erzählens. Hier wird nicht dissonant, hier wird nicht gleich oder ähnlich erzählt, sondern hier wird eine von niemandem und an keiner anderen Stelle erwähnte Begebenheit als historisch und allgemein bekannt ausgewiesen: „Wenn man den 18. August 1935 nennt, weiß jeder, welche Bedeutung sich damit verbindet“ (LT 404), lautet der erste Satz der Erzählung. Auf diese Weise wird eine dörfliche Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft etabliert, in der das Narrativ des 18. August 1935 eine ähnliche Signifikanz hat wie der 12. Februar 1934 im gesamtösterreichischen Gedächtnis. Auffällig an diesem ersten Satz ist natürlich auch die Datierung „18. August 1935“. Hier kann, ähnlich und doch anders als bei der Rezeption der Oktoberrevolution in „Der Russe“, von dem ungleichzeitigen Vergehen der Zeit zwischen Zentrum und Peripherie ausgegangen werden. Aus dem 12. Februar 1934 wird deshalb der 18. August 1935, wiewohl es natürlich in der extraliterarischen Realität im Februar 1934 sowohl in der Stadt als auch auf dem Land Kämpfe gegeben hat und, das soll hier nicht unerwähnt bleiben, schon im September 1933 (8. bis 22. September) in der Weststeiermark ein großer Bergarbeiterstreik stattfand. Bei diesem Streik, der im Kontext der Weltwirtschaftskrise zu sehen ist, ging es vor allem um eine Anhebung der Löhne. Bemerkenswert war die Art des Streiks, der von den Bergarbeitern über eine Blockade der Stollen und also unter Tage geführt wurde, sowie die Größenordnung: über 1500 steirische Bergarbeiter beteiligten sich daran. 470 Die zeitliche Verortung des Bergarbeiterstreiks im Austrofaschismus verleiht außerdem dem gesamten Text eine viel explizitere politische Bedeutung, 469 Uwe Schütte: Die unheimlich vertraute, fremde Stadt: Gerhard Roths Reise in das Innere von Wien. In: Manuskripte 126 (1994), S. 156-165, hier S. 161. 470 Vgl. dazu den Artikel im Online-Lexikon der Wiener Zeitung von Barbara Schleicher: Arbeitskampf unter Tage. Zum steirischen Bergarbeiterstreik im September 1933. In Wiener Zeitung, Sonntag , 30. März 1997. Auf: http : / / www.wienerzeitung. at / Desktopdefault.aspx? tabID=3946&alias=Wzo&lexikon=Arbeit&letter=A&cob=7763 [Einges. 1. April 2009]. <?page no="186"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 182 als es bei einer Datierung zum Beispiel auf das Jahr 1932 der Fall gewesen wäre. Im Jahr 1932 wäre wohl vor allem eine ökonomische Lesart mit Blick auf die Weltwirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit naheliegend gewesen. 1935 hingegen ergibt nicht nur eine andere Lesart, sondern tatsächlich eine andere Plotstruktur. Ein ähnlich brutales Vorgehen der Gendarmerie in der demokratischen Ersten Republik erschiene kaum realistisch und würde stärker als im vorliegenden Text als Überzeichnung wahrgenommen werden. Außerdem wäre das Verhalten der Bergarbeiter nicht als direkter und mutiger Widerstand gegen ein politisches System deutbar. Würden in einem demokratischen Staat streikende Arbeiter einen Ingenieur der von ihnen bestreikten Firma und dann noch einen Gendarmen ermorden, wäre die Schuldfrage problemlos zu klären. Mit der Datierung 1935 kann Gerhard Roth also auf ein vieldeutigeres Bezugssystem zugreifen, als das bei einer vor 1934 spielenden Erzählung der Fall gewesen wäre. Das Jahr 1934 wurde wahrscheinlich aus demselben Grund vermieden, da es sich hier um ein übersemantisiertes Datum handelt, das wiederum eine zu sehr vereinfachende, bedeutungsreduzierende Lektüre nahe gelegt hätte. Außerdem findet sich in diesem Einleitungssatz von „Drei Tote“ ein impliziter Hinweis auf ein Deutungsmonopol, denn es ist nicht die Rede davon, dass jeder weiß, was an diesem Tag passiert ist, sondern jeder weiß, „welche Bedeutung [sic! ] sich damit [das heißt mit den Ereignissen; G. L.] verbindet.“ (LT 404) Weiters lassen sich aus diesem Einstiegssatz Rückschlüsse auf die Erzählinstanz ziehen, die über das Dorfgedächtnis ebenso informiert ist wie über die handelnden Akteure. Im Laufe der Erzählung wird dann eine allwissende, über Prolepsen und variable interne Fokalisierungen agierende Erzählinstanz erkennbar, die nicht-personalisiert ist - es ist also keine homo- oder je nach Textinhalt heterodiegetische Erzählerfigur Franz Lindner in „Drei Tote“ (ebenso wie in „Der Russe“) präsent. Adressiert sein kann der Text nur an einen nicht mit den Narrativen des Dorfgedächtnisses vertrauten (fiktiven) Leser. In „Drei Tote“ tritt eine Vielzahl von Figuren auf: ein cholerischer Bergwerksbesitzer, ein kränkelnd-intellektueller Bergingenieur, ein zwischen den Gruppen stehender Bote (ein ehemaliger Pferdeknecht), ein machtbewusster Gendarmeriekommandant, mehrere Gendarmen, mehrere Arbeiter und de- <?page no="187"?> 3.2 Bürgerkriegsgedächtnis: „Drei Tote“ 183 ren Familien, ein Landarzt. 471 Keine dieser Figuren trägt einen Namen, alle werden, was zum Teil eine erhöhte Rezeptionsleistung bei der Unterscheidung der einzelnen Arbeiter und Gendarmen erfordert, nur bei ihren Berufsbezeichnungen genannt. Trotz dieser vordergründigen Typisierung wird allerdings ausführlich - sogar bei für den Handlungsverlauf kaum relevanten Figuren - auf Aussehen, Charakter, Biographie, Familienstand, Ansichten und Lebensweise eingegangen. Es ist also ein gewisses Spannungsfeld zwischen Individualisierung der Figuren und ihrer nach Bachtin und Erll möglichen Lesart als „Ausblickspunkte“ auf soziale Gruppen beziehungsweise soziale, das heißt kulturell spezifisch formatierte, Reden deduzierbar. Beginnen wir mit der Analyse jener vier Gendarmen, die vom Gendarmeriekommandanten ausgeschickt werden, um ohne konkreten Tatverdacht einen zweiten Arbeiter zu verhaften. Bei zwei Gendarmen handelt es sich um „junge Bauernsöhne“ (LT 412), die gegenüber Menschen aus der Stadt mit Vorurteilen behaftet sind, wie sich in der Einschätzung des Bergingenieurs zeigt: „Sie wußten, daß man ihn nicht ganz ernst nahm, und er verkörperte für sie den ungeschickten Städter.“ (LT 412) 472 Diese aus der Herkunft als Bauern geprägte Perspektive verschränkt sich mit individuellen Ausformungen des Corpsgeistes der Gendarmerie. So wird einer der beiden als williges Rad im staatlichen Unterdrückungsapparat beschrieben: „[W]enn er nicht die Verantwortung für sein Tun übernehmen mußte, war er zu allem bereit.“ (LT 413) Der andere wiederum scheint von Standesdünkel bestimmt zu sein: „Grundsätzlich nahm er das schlechteste von jedem an, der kein Gendarm war.“ (LT 413) Etwas anders wird die Einstellung der „beiden älteren Gendarmen“ geschildert, die sich „wenig Illusionen“ (LT 413) machen, also aufgrund der Dienstjahre einen abgeklärten Zugang zum Beruf haben: „Sie faßten jeden Konflikt als Störung ihrer Ruhe auf und reagierten unwillig, wenn man sich an sie wandte.“ (LT 413) Der oben angesprochene Corpsgeist beherrscht aber auch sie und wird vom Gendarmeriekommandanten gegenüber 471 Es handelt sich hier übrigens um eine nahezu reine ,Männererzählung‘, in der Frauen nur in Nebensätzen Erwähnung finden. Hierzu passt folgende, in der Dorfchronik zum „Landläufigen Tod“ gemachte Annahme: „Die Männer in den schwarzen Anzügen sehen aus wie Mörder, die Frauen und Kinder wie ihre Opfer.“ (DLT 105) 472 Der Bergingenieur, „ein 50-jähriger Junggeselle, der stotterte“ (LT 405), ist aufgrund seiner städtischen Herkunft und beruflichen Position keiner Gruppe zugehörig. Er ist, wie Ascher, auf das Land geflüchtet, „um nicht in einem fort beobachtet zu werden“ (LT 407), muss dort aber feststellen, dass im Dorf „seine Schwächen offener zutage [lagen] als in einem großen Ort, hier konnte er anderen Menschen noch weniger ausweichen.“ (LT 407) <?page no="188"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 184 dem Arbeiter, der sich wegen des Mordes am Bergingenieur stellt, auf den Punkt gebracht: „Was Sie getan haben, interessiert niemanden mehr. Ein Gendarm wurde erschossen, das ist es, worum es geht.“ (LT 416) Der Corpsgeist führt schließlich am Ende der Erzählung zur geschlossenen Zustimmung der Gendarmen, an dem jungen Arbeiter, der den Gendarmen erschossen hatte, Lynchjustiz zu üben: „Das Protokoll unterschrieb der kleine, mißtrauische Gendarm, der es für eine Auszeichnung erachtet hatte, Rache zu nehmen.“ (LT 421) 473 Es muss nun an dieser Stelle kurz auf eine Schwierigkeit bei einer solchen Analyse im Kontext der These, „dass jede individuelle Rede im Roman zugleich die Weltsicht einer Gruppe repräsentiert“, 474 hingewiesen werden. Die Zuordnung der „Stimme“, die spricht, ist nämlich nicht immer eindeutig möglich. So kann folgende Passage sowohl als Sichtweise der jungen Gendarmen als auch der ländlichen Mehrheitsbevölkerung verstanden werden, wobei die Setzung in Klammern im Sinne eines Einschubs in Erläuterungen zu den Gendarmen zur Uneindeutigkeit beträgt: (Schon immer hatte es eine Rivalität mit den Bewohnern der „Siedlung“ gegeben. Das Leben, das die Bauern führten, war ein ganz anderes als das der Bergarbeiter. Diese hatten zumeist keinen Besitz, ihr ganzes Kapital war ihr Körper. Deshalb fühlten sich die anderen von ihnen bedroht. Auch waren die Sitten in der Siedlung rauh, häufig gab es Schlägereien, und jede Woche waren die Gendarmen durch irgendeinen Zwischenfall gezwungen einzugreifen.) (LT 412) Zu dieser Frage, wessen Sichtweise wiedergegeben wird, kommt hier noch eine Hybridisierung, die Bachtin so definiert: Sie ist die Vermischung zweier sozialer Sprachen innerhalb einer einzigen Äußerung, das Aufeinandertreffen zweier verschiedener, durch die Epoche oder die soziale Differenzierung [...] geschiedener, sprachlicher Bewußtseine in der Arena dieser Äußerung. 475 So kommt bei sorgfältiger Lektüre zur Kollektivsicht der Gendarmen und (potentiell) Bauern auch die Stimme der Erzählistanz, Bachtin würde von der Autorstimme sprechen, hinzu, überdeutlich in dem Satz „Diese hatten zu- 473 Sibylle Cramer schreibt zu Der Untersuchungsrichter: „Die Justiz verwandelt sich in einen Komplizen des Verbrechens, ja dessen Produzenten.“ (Cramer: Das Gedächtnis ist die letzte Instanz von Moral und Recht, S. 119). Das gilt in „Drei Tote“ für die Exekutive. 474 Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 187. 475 Bachtin: Das Wort im Roman, S. 244. <?page no="189"?> 3.2 Bürgerkriegsgedächtnis: „Drei Tote“ 185 meist keinen Besitz, ihr ganzes Kapital war ihr Körper.“ In diesem Satz ist fast keine Koexistenz oder Zweistimmigkeit mehr feststellbar, er wirkt vielmehr so, als ob die Stimme der Erzählinstanz beziehungsweise des Autors die soziale Rede von Bauern und Gendarmen übertönt. Geht man diesen Pfad der Differenzierung zwischen den repräsentierten Stimmen weiter, lässt sich ein genauerer Blick auf die Erzählinstanz gewinnen. Denn bei den oben zitierten Aussagen zu den beiden jungen Gendarmen handelt es nicht um eine Selbstbeschreibung: Es sind nicht die Gendarmen selbst, die sich standesbewusst und rücksichtslos darstellen. Die negativ konnotierten Zuschreibungen weisen vielmehr auf das Wertesystem der Erzählinstanz hin, die eher kritisch gegenüber den Gendarmen und der von ihnen repräsentierten Macht ist und eher Verständnis für die Probleme der Arbeiter zeigt. Diese Parteinahme äußert sich schon zu Beginn von „Drei Tote“: „In den Morgenstunden war die Frühschicht der Bergarbeiter ohne Vorankündigung nicht zum Dienst erschienen. Der Grund dafür waren die unerträglichen Arbeitsbedingungen und die schlechte Bezahlung.“ (LT 404-405) Es heißt hier also nicht, wie es eine distanzierte Formulierung anzeigen würde, „weil die Bergarbeiter die Arbeitsbedingungen als unerträglich und die Bezahlung als schlecht empfanden.“ Geht es hingegen um eine Figur, zu der Distanz besteht, wie jener des Gendarmeriekommandanten, wird anders, nämlich komplizierter formuliert: „In seinem Plan stimmte aus seiner Sicht betrachtet alles, nur hatte er nicht beachtet, daß es Waffen in den Häusern gab.“ (LT 414) Es sind also immer wieder sympathiesteuernde Akzente der Erzählinstanz feststellbar, die demzufolge trotz der fehlenden expliziten Personalisierung keineswegs neutral agiert. Wenden wir uns nun aber der semantischen Ebene der oben zitierten Passage zum Verhältnis von Gendarmen/ Bauern und Arbeitern zu. Folgende Schlussfolgerung ist möglich: Die Arbeiter werden für die Bauern zur Projektionsfläche ihrer eigenen Existenzängste und ihrer Furcht vor Identitätsverlust, das heißt vor einer Veränderung der ökonomischen Verhältnisse. Diese Furcht wird nicht damit erklärt, dass der Körper der Arbeiter ein so bedeutendes Kapital ist, schließlich leisten Bauern selbst schwere körperliche Arbeit, sondern weil er ihr einziges Kapital ist. Sie haben aus Sicht der Bauern nichts zu verlieren und ergo, darauf bezieht sich das „deshalb“ im Text, viel zu gewinnen. 476 Neben dieser Ideologie der Wahrung der Besitzstandsverhältnis- 476 Man erinnere sich an die These des Betriebsrates aus Der Stille Ozean, der die Arbeitersicht verkörpert, dass der Besitz von Land die Menschen korrumpiere: „Schon der <?page no="190"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 186 se spielt die empfundene Fremdheit der Lebensform eine wesentliche Rolle, denn das Leben der Bauern „war ein ganz anderes als das Bergarbeiter.“ Es handelt sich hier um eine Angst vor dem sozial - und nicht etwa ethnisch oder religiös oder sprachlich 477 - Anderen. Die dorf-kulturelle Formatierung der Ablehnung der Arbeiter hat sich trotz möglicherweise anderer persönlicher Erfahrungen tief in die Denkstrukturen der übrigen Landbevölkerung eingeschrieben. Über die Sichtweise der älteren Gendarmen erfahren wir: Im Grund hatten sie nichts gegen die Arbeiter in der Siedlung, dazu hatten sie schon zuviel mit ihnen zu tun gehabt, sie verachteten sie eher aus Gewohnheit. (Jeden, der dort lebte und es in ihren Augen ,aushielt‘, stuften sie gleich ein.) (LT 413) Zum einen ist hier zwar eine differenzierte Wahrnehmung der Anderen aufgrund einer persönlichen Auseinandersetzung feststellbar, 478 zum anderen aber gibt es vorformatierte Anschauungen, standesspezifische Prägungen, soziokulturelle Codierungen, Stereotypen oder eben „Gewohnheiten“, die trotzdem wirkmächtig sind. Und drittens schließlich wird paradoxerweise über die Kategorie des „Aushaltens“, also eigentlich über das empathische kleinste Landstreifen, den sie einem Weinzierl gegeben haben, hat ihn verändert. Sie haben kaum einen Keuschler gesehen, der nicht verbissen an seinem Grund gehangen ist, kaum einen, der nicht blind durch ein Stück Land geworden ist.“ (DSO 237) 477 Wie das für postkoloniale Verhältnisse charakteristisch ist. An dieser Stelle sei angemerkt, dass es Ähnlichkeiten zu postkolonialen Asymmetrien im Verhältnis zwischen Arbeitern und Bauern sowie zwischen Zentrum und Peripherie im Zyklus gibt, eine Applikation postkolonialer Lektürestrategien allerdings trotzdem theoretisch schwierig zu argumentieren wäre. So stellt Clemens Ruthner in seinen Überlegungen zu einer postkolonialen Auseinandersetzung mit der Habsburgermonarchie fest: „Generell jedoch ist die Anwendbarkeit des Kolonialismus-Begriffs für Phänomene politischer, ökonomischer und kultureller Herrschaft innerhalb Europas eher strittig geblieben“. In: Clemens Ruthner: ‚K.(u.)k. postcolonial‘? Für eine neue Lesart der österreichischen (und benachbarter) Literatur/ en. In: Wolfgang Müller-Funk, Peter Plener und Clemens Ruthner (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen, Basel: Francke 2002 (Kultur - Herrschaft - Differenz 1). S. 93-103, hier S. 97. Ruthners Vorschlag, die Herrschaft der k.u.k. Monarchie vor allem in ihren Peripherien (Galizien, Bosnien) aus postkolonialer Perspektive zu analysieren, wurde deshalb auch kontrovers diskutiert: Vgl. dazu Stefan Simonek: Mit Clemens Ruthner unterwegs im Wilden Osten. In: newsletter MODERNE. Zeitschrift des Spezialforschungsbereichs Wien und Zentraleuropa um 1900. 4. Jg. (September 2001) H. 2, S. 30-31. 478 Obwohl es an einer Stelle über alle Gendarmen heißt, dass ihnen der erste verhaftete Arbeiter „wie alle anderen bekannt war“ (LT 408) Das heißt, dass ,nur‘ soziale, nicht persönliche Fremdheit prädominant ist. <?page no="191"?> 3.2 Bürgerkriegsgedächtnis: „Drei Tote“ 187 Mitreflektieren der schlechten Arbeitsbedingungen, die Differenzierung wieder zurückgenommen. Das gewaltsame Vorgehen der sich aus der Bauernschaft rekrutierenden Gendarmerie gegen die streikenden Arbeiter bekommt vor dieser ländlichen Folie den soziopolitischen Kontext eines ,Klassenkampfes‘ mit umgekehrten Vorzeichen. Die Arbeiter werden von Bauern und Gendarmerie als ,das Fremde‘ betrachtet, als unterprivilegierte, aber gefährliche Außenseiter, vor denen man „Angst“ (LT 411) hat. Zwar gibt es bei den Gendarmen kurz Skrupel - „Was sie am meisten bedrückte, war der Befehl, gewaltsam in die Räume einzudringen und alles zusammenzuschlagen, was ihnen unter die Hände kam.“ (LT 411) -, dann jedoch befolgen sie den Befehl des Kommandanten und wüten im Haus eines Arbeiters „[w]ie im Rausch“ (LT 412). 479 Ebenso rücksichtslos wie der befehlshabende Gendarmeriekommandant denkt der das Kapital repräsentierende Bergwerksdirektor, der, ohne sich auf Verhandlungen einlassen zu wollen, also ganz anders, als es der sozialpartnerschaftlichen Ästhetik nach 1945 entsprechen würde, sofort nach der Gendarmerie und drastischen Maßnahmen ruft: Als er, verkatert von einem Feuerwehrball, vom Streik erfährt, „stieß er wüste Drohungen gegen die Bergarbei- Bergarbeiter aus, die darin gipfelten, daß er das Aufhängen der Rädelsführer verlangte.“ (LT 405) 480 Nur in einer Erinnerung in Der Stille Ozean und aus der quasi-neutralen Perspektive des Kirchenwirtes, der von beiden Gruppen, Bauern und Arbeitern, sowie von den Bodenschätzen über Eigenabbau profitiert, werden Bergwerk und Arbeiter zu einem zentralen Faktor des Landlebens: „,Wir haben lange von der Kohle gelebt‘, setzte der Wirt fort. ,Anfangs, als das Bergwerk zugeschüttet und alles zu Äckern gemacht wurde, kam es uns vor, als habe man unsere Vergangenheit ausgelöscht.‘“ (DSO 142) 479 Drynda: Schöner Schein, unklares Sein, S. 102, sieht, in diesem Zusammenhang signifikant, im Umgang der Dorfbevölkerung, vor allem der Jäger, mit der vermeintlich grassierenden Tollwut, das heißt dem Töten auch gesunder Tiere in Der Stille Ozean, „den unbezwingbaren Wunsch, alles Andersartige, Fremde und dadurch als gefährend Empfundene bedingungslos auszumerzen.“ 480 Der Bergingenieur hingegen sucht das Gespräch mit den Arbeitern, ist in einem Zwischenraum zwischen diesen und dem Besitzer, denkt einerseits daran, dass bei Streik „mit jedem Tag empfindliche Verluste“ (LT 406) entstehen, andererseits aber: „Er hatte nichts gegen die Arbeiter, obschon er nicht von sich behaupten konnte, daß er sie liebte.“ (LT 406) Von den Arbeitern scheint hingegen, wieder ganz und gar nicht sozialpartnerschaftlich, niemand das Gespräch zu suchen. <?page no="192"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 188 Was die Arbeiter betrifft, so sind keine - mit jenen der Gendarmen - vergleichbaren kollektiven oder figurenbezogenen Projektionen auf Bauern oder Gendarmerie feststellbar. Gemeinsam sind diesen Figuren ihre schwierigen Arbeits- und Lebensverhältnisse 481 sowie ihre Einbindung in eine nach außen geschlossene Erzählgemeinschaft: Der Vorfall, der sich ereignet hatte, hatte sich allerdings rasch herumgesprochen, jedoch hatte es verschiedene Vermutungen gegeben, wer den tödlichen Steinwurf getan hatte, aber darüber zu sprechen, erschien ihm [dem ersten verhafteten Arbeiter; G. L.] unmöglich. (LT 410) Der Zusammenhalt ist ähnlich jenem im Dorf, mit dem es in „Drei Tote“ aber aufgrund der Segregation der Arbeitersiedlung im ländlichen Raum keine Schnittmenge gibt. Diese räumliche Komponente zeigt sich im Belagerungszustand, der nach dem tödlichen Steinwurf und der ersten Verhaftung herrscht: „Die Bergarbeiter warteten in ihren Häusern, und die Gendarmen standen mit aufgepflanzten Gewehren an der Straßenecke, während das Verhör des Verhafteten begann.“ (LT 408) Die Siedlung ist Schutzzone der Arbeiter und Gefahrenzone für die Gendarmen: „Als die Gendarmen nun aus dem Haus wieder in das Freie gelangten, spürten sie unwillkürlich, daß sie in Gefahr waren.“ (LT 413) 482 Der Gendarm wird erschossen, dann „eröffneten die anderen Gendarmen das Feuer. Sie schossen in die Fenster (daß die Glasscherben splitterten) und zogen sich (den toten Kameraden und den bewußtlosen Bergarbeiter auf der Straße liegenlassend) zurück.“ (LT 414) Diese Schilderung ist als Anspielung auf die Schießereien im Februar 1934 beim Wiener Karl-Marx-Hof zu verstehen, ebenso wie der Höhepunkt der Belagerungssituation nach dem an die Arbeiter gerichteten Ultimatum des Gendarmeriekommandanten, den Gendarmenmörder auszuliefern: „Kurze Zeit spä- 481 Der erste verhaftete Arbeiter ist „ein Vater von vier Kindern, von denen die ältesten beiden Söhne (die noch nicht das 14. Lebensjahr erreicht hatten) im Stollen arbeiteten.“ (LT 409) Vom Einkommen des sich wegen des Steinwurfes stellenden Arbeiters „lebten die Mutter und seine unverheiratete Schwester, die den Haushalt führten und die er, wenn er betrunken war, schlug.“ (LT 415) Der siebzehnjährige Mörder des Gendarmen „war das siebente von neun Kindern, zwei Brüder und der Vater arbeiteten im Bergwerk. Schon mit dreizehn Jahren hatte er Kohlen aussortiert, mit fünfzehn war er untertags gefahren.“ (LT 418) Auf eine soziale Problematik wird von der Erzählinstanz in einem Nebensatz eingegangen, wo es im Kontext des zweiten Verhafteten heißt: „Zum Unterschied von den meisten anderen in der Siedlung trank er keinen Alkohol und suchte kein Gasthaus auf.“ (LT 414) 482 Man vergleiche die nahezu idente Formulierung in „Der Russe“: „Unwillkürlich spürte er [Korradow; G. L.], daß er in Gefahr war, doch er war zu schwach, einen Entschluß zu fassen.“ (LT 353) <?page no="193"?> 3.2 Bürgerkriegsgedächtnis: „Drei Tote“ 189 ter war die Verstärkung eingetroffen, und drei Dutzend Gendarmen umstellten die Siedlung.“ (LT 417) Figuren wie der Mann der Tante oder der Vater Franz Lindners, die beiden Gruppen angehören, weil sie als Bergarbeiter nebenbei eine Landwirtschaft führen, haben in den in „Drei Tote“ dargestellten sozial und materiell klar abgegrenzten Räumen keinen Platz, es gibt keine Durchlässigkeit zwischen den Gruppen, die stark homogenisiert erscheinen. 483 Auf das Dorf (das Bauern und Gendarmen integriert) und die Arbeitersiedlung in „Drei Tote“ ist Aleida Assmanns Konzept einer als „Exklusionsidentität“ bezeichneten starren kollektiven Identität zutreffend: „Eine Exklusionsidentität ist [...] typisch für Gruppen, die ihre Identität vorwiegend durch Abgrenzung von anderen Kollektiven beziehen und deshalb wenig Platz für innere Vielfalt bieten.“ 484 Wobei sich hier „innere Vielfalt“ auf eine Vielfalt der möglichen Lebensformen, Ethnien, Religionen und sozialen Zugehörigkeiten bezieht, nicht aber auf eine Vielfalt der Charaktereigenschaften, die nur zum Teil als kulturelle Konstrukte verstanden werden sollten. Das Zusammenspiel von Persönlichkeit und Gruppenzugehörigkeit beziehungsweise Klassenidentität im Marx’schen Sinne zeigt sich deutlich an der Figur jenes Arbeiters, der den Bergingenieur mit einem Steinwurf getötet hat. Die Tat erfolgt im Kontext eines affektgesteuerten Charakters: „Er hatte einen Stein am Kopf des Bergingenieurs vorbeifliegen gesehen und unwillkürlich nach einem anderen gegriffen. Das war sein Fehler gewesen.“ (LT 415) Persönliche Feindschaft oder politische Gründe sind nicht ausschlaggebend: „Er hatte nichts Besonderes 483 Peter Ensberg schreibt zu „Drei Tote“: „Die Sozialstruktur des Dorfes wird durch die Analyse der Spannungen zwischen Land- und Bergarbeitern durchleuchtet.“ (Peter Ensberg: Schutz im Horizont individuellen Erlebens. Zur Gesellschaftskritik in den Romanen Gerhard Roths. In: Modern Austrian Literature Vol. 27 (1994) Nr. 1, S. 89- 112, hier S. 105.) Tatsächlich aber wird durch die zugespitzte erzählerische Darstellung eine Spannung herausgearbeitet, die wichtig für die Sozialstruktur, oder eher, historisch verortbare, dominante politische Tendenzen innerhalb des Dorfes wie Österreichs ist. Repräsentativ für die Sozialstruktur des Dorfes, wie es sich in seinem Insgesamt im Zyklus darstellt, ist diese Darstellungsweise aber nicht. 484 Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich Schmidt 2006 (Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik 27). S. 220. Assmanns in diesem Buch präsentierte Konzepte der individuellen und kollektiven Exklusions- und Inklusionsidentität sind zwar schematischer als beispielsweise jene poststrukturalistischen, von einem dynamischen Wechselspiel in einem „dritten Raum“ aus gedachten Theoreme zu Stereotypen und Identität in Homi K. Bhahbas The Location of Culture, scheinen allerdings für die Darstellung der als starr, unflexibel und undurchlässig präsentierten Gruppenidentitäten in „Drei Tote“ applikabler. <?page no="194"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 190 gegen seinen Vorgesetzten gehabt. ((Auch war er kein Rädelsführer, wenngleich ihm der Streik recht war.))“ (LT 415) Unrechtsbewusstsein ist nur auf einer nicht-analytischen Ebene vorhanden: „Obwohl er nicht klar sah, was seit dem Morgen wirklich geschehen war, hatte er ein dumpfes Gefühl der Schuld empfunden.“ (LT 415) Als aber nach dem Tod des Gendarmen die Gruppenidentität brüchig zu werden beginnt, meldet er sich sofort: „Noch ehe sich zwei Parteien hatten bilden können, machte er kehrt und verließ die Siedlung.“ (LT 415) Beim siebzehnjährigen Mörder des Gendarmen verhält es sich insofern anders, als bei ihm die gruppen- und damit zusammenhängende familienspezifische Sozialisation deutlicher thematisiert wird. So betrachtet er seine Arbeit „als etwas [...], das ihn wegen der grausamen Anforderungen (denen er gewachsen war) auszeichnete.“ (LT 418) Dieser Arbeiterstolz weist hin auf eine individuelle Inklusionsidentität, die durch „opting in, d. h. durch Übernahme einer sozialen Rolle und Erwerb von Identität durch Zugehörigkeit“ entsteht und „auf die Übereinstimmung mit bzw. Überbietung von Rollen ausgerichtet [ist], die bestimmte Verhaltensnormen und Erwartungshaltungen vorgeben.“ 485 Gleichzeitig „spielte [er] mit dem Gedanken auszuwandern“ (LT 419), überlegt also ein opting out, einen Austritt aus der Gruppe. Ausschlaggebend für die Tat scheint das beim Vater verspürte Gefühl der Ohnmacht und ein damit einhergehender, vielleicht von Parteirhetorik beeinflusster Verbalradikalismus zu sein: Einen tiefen Eindruck hatten die Drohungen in ihm hinterlassen, die sein Vater in seiner Hilflosigkeit ausstieß ([...] in denen er vom Erschießen des Bergwerksdirektors, der Gendarmen und der Landbesitzer sprach, ohne daß er jemals irgendeinem Menschen Gewalt angetan hätte. [...])“ (LT 419) Nach der Ermordung des Bergingenieurs „hat der Vater die Nerven verloren“ (LT 419) und ein Massaker an den Bergarbeitern prophezeit, als der Sohn dann die Gendarmen mit dem bewusstlosen Arbeiter sieht, „war er einer blitzartigen Eingebung folgend zur Kohlenkiste gelaufen, hatte das Gewehr geladen, auf einen Gendarmen gezielt und abgedrückt.“ (LT 419) Die diffuse „blitzartige Eingebung“ wird dann aber politisch konnotiert und mit einem revolutionären Gestus aufgeladen: Er hatte keinen Menschen töten, sondern seiner Wut Ausdruck verleihen wollen. Als es geheißen hatte, daß er sich stellen sollte, hatte er keine Furcht ver- 485 Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft, S. 215. <?page no="195"?> 3.2 Bürgerkriegsgedächtnis: „Drei Tote“ 191 spürt. Plötzlich hatte er geglaubt, daß ohnedies schon alles hinter ihm lag und daß er mit seinem Schuß etwas verändert hätte. (LT 419-420) Allerdings, und damit rechnet der junge Bergarbeiter nicht, wird dafür gesorgt, dass seine Tat keinen Nachhall finden kann. Nach seiner Ermordung durch die Gendarmen wird er „auf Anweisung des Kommandanten noch vor Beginn der Morgenschicht“ (LT 421) und außerhalb des Friedhofs bestattet, „da der Pfarrer sich weigerte, einen Mörder in geweihter Erde zu begraben.“ (LT 421) Ganz anders und den realen Machtverhältnissen entsprechend wird der getötete Gendarm „drei Tage später in allen Ehren bestattet“ (LT 421), während, wiederum paradigmatisch für die soziale Position der Figur, der Leichnam des Bergingenieurs in die Stadt gebracht wird (vgl. LT 421). Die Erzählung endet mit einer Passage, die vorgeblich Authentizität über die Referenz auf ein anderes Medium erzeugen soll, tatsächlich aber in der Surrealität der beschriebenen Fotografie die ,Unwirklichkeit‘ des Erzählten bestätigt, ganz im Sinne Fernando Pessoas, der Literatur als „eine mit dem Denken vermählte Kunst und eine Verwirklichung ohne den Makel der Wirklichkeit“ 486 bezeichnet: 486 Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Hg. v. R. Zenith. A. d. Port. übers. u. revid. v. I. Koebel. Frankfurt/ Main: Fischer 2008. S. 35. Mit Ulrich Greiner könnte man aber auch sagen: „Die Literatur [...] ist der Midas der Entwirklichung: alles, was sie anfaßt, wird unwirklich.“ (Ulrich Greiner: Der Tod des Nachsommers. Über das „Österreichische“ in der österreichischen Literatur. In: ders.: Der Tod des Nachsommers. Aufsätze, Porträts, Kritiken zur österreichischen Gegenwartsliteratur. München: Hanser 1979. S. 11-57, hier S. S. 49.) Ohne hier auf Theorien des Wirklichen und der literarischen Mimesis einzugehen, lässt sich jedenfalls anmerken, dass ,Unwirklichkeit‘ in dieser Erzählung zum einen über eine spezifische Raumdarstellung und -wahrnehmung thematisiert wird: „Die Luft über der Erde war in der Mittagshitze in Bewegung geraten, und die Stille, die sich über die Siedlung gelegt hatte, gab dem Anblick etwas Unwirkliches, das dem Kommandanten die Angst nahm.“ (LT 417) Außerdem können als ,Unwirklichkeit‘ im Sinne von Phantastik jene Elemente von „Drei Tote“ gelesen werden, die von einer beiläufigen Erwähnung von Insekten wie beim ersten verhafteten Bergarbeiter harmlose Fliegen (vgl. LT 411, 416) und beim Kommandanten gefährliche Wespen (LT 418) hin zu einer Verschränkung von menschlichen Katastrophen mit ungewöhnlichem, eigentlich phantastischem tierischen Verhalten führt, als der Leichnam des Gendarmen eingeladen wird: „Die Gendarmen verluden den Erschossenen auf einen Lastwagen, hakten die Verladekappe ein, und versuchten sich des Insektenschwarmes zu erwehren, der sie überfiel. (Es schien, als wären alle Bremsen der Karpfenteiche zusammengeschwirrt. Der Postenkommandant und auch die Gendarmen hatten noch nie eine solche Ansammlung wildgewordener Insekten gesehen.)“ (LT 418) Abgesehen von der Verschränkung dieser Insekten mit der das gesamte Buch umschließenden Metapher vom Bien gibt es hier eine intertextuelle Relation mit dem Motiv der Wespe in E. M. Forsters A Passage to India, das in diesem Roman in verschiedenen Variationen vorfindbar ist. Vgl. dazu E. M. Forster: <?page no="196"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 192 Es gibt eine Fotografie, auf der die Eltern mit dem Erschossenen zu sehen sind. Der Erschossene liegt nach der Obduktion in der Totenkammer, und die Eltern stehen neben ihm und blicken ungläubig in die Kamera, als faßten sie noch immer nicht, daß man Ernst mit ihm gemacht hatte. (LT 421) In Im tiefen Österreich ist eine solche Fotografie nicht enthalten, wiewohl Bilder einer Totenandacht und von einem Begräbnis aufgenommen wurden (vgl. ITÖ 152-153). Setzt man Roths Erläuterungen der ländlichen Trauerrituale im Kontext dieser Bilder in Bezug zu „Drei Tote“, dann bekommt die vom Gendarmeriekommandanten und vom Pfarrer verantwortete Verhinderung einer ordentlichen Bestattung des jungen Bergarbeiters eine gegen die Familie und das soziale Umfeld gerichtete Dimension: „Drei Abende lang kommen Nachbarn, Freunde und Verwandte, um zu beten, trinken, schwätzen, später auch Karten zu spielen und zu scherzen. Am vierten Tag wird der Tote im Sarg zum Friedhof geführt.“ (ITÖ 106) 487 Hinzu kommt aber ebenso eine politische Ebene, auf der ein weiterer Streik verhindert werden soll, sowie eine gedächtnispolitische Ebene, die gegen ein mögliches Märtyrertum gerichtet ist, das vom jungen Bergmann imaginiert wird: „Er weinte kurz, faßt sich aber dann und stellte sich vor, daß man ihn in der Siedlung als Held feierte.“ (LT 420) 488 Außerdem gibt es eine religiöse Schlagseite im Sinne einer A Passage to India. Edited by Oliver Stallybrass. London: Penguin 1989. S. 55, 58, 283- 284 und 288. Für die Anmerkung zu Forster danke ich Andrea Mayr. 487 Übrigens finden sich in Grenzland, S. 42-43, auch zwei von Roth gemachte Fotografien, die offen aufgebahrte Verstorbene zeigen und näher der in „Drei Tote“ beschriebenen Fotografie sind als die Abbildungen in Im tiefen Österreich. Es kann hier aus Platzgründen im Kontext regionaler Bestattungsriten und mit Verweis auf die ,inkorrekten‘ Bestattungen des Russen Korradow und des jungen Bergarbeiters nur angemerkt werden, dass eine Untersuchung der Transformationsprozesse des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Tod, das heißt der Trauerkultur, erhebliches Erkenntnispotential besitzt, wie beispielsweise nachzulesen in Philippe Ariès’ Klassiker: Geschichte des Todes. München: dtv 2005 oder in dem Buch von Norbert Fischer: Geschichte des Todes in der Neuzeit. Erfurt: Sutton 2001. Einschränkend soll hier aber festgestellt werden, dass die Arbeiter - wenn sie Sozialdemokraten oder Kommunisten sind - wahrscheinlich atheistisch eingestellt wären, also christlich konnotierte Begräbnisrituale ablehnen würden. 488 Jan Assmann unterscheidet im Kontext der Erinnerung an die Toten eine prospektive und retrospektive Form der Erinnerung. Bei der Vorstellung beziehungsweise eigentlich dem Wunsch des jungen Bergmanns handelt es sich um die „prospektive Dimension“ des Erinnerns, in der „es um den Aspekt der Leistung und fama, der Wege und Formen, sich unvergeßlich zu machen und Ruhm zu erwerben“ geht. [Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1999 (Beck’sche Reihe 1307). S. 61.] Jedoch ist im Falle des jungen Bergarbeiters Aleida Assmanns Auffassung der „Fama“ zu einseitig: „Für Fama, d. h. für ein ruhmreiches Andenken, kann [...] jeder zu einem gewissen Grade <?page no="197"?> 3.2 Bürgerkriegsgedächtnis: „Drei Tote“ 193 Verweigerung der Sterbesakramente und folglichen Vorwegnahme der göttlichen Bestrafung auf Erden. Für Jan Assmann ist nun in Das kulturelle Gedächtnis „die an den Toten sich knüpfende Erinnerung die Urform kultureller Erinnerung“, 489 wobei Assmann hier eine Differenzierung zwischen dem kulturellen und dem kommunikativen Gedächtnis vornimmt: „Das Totengedenken ist ,kommunikativ‘, insofern es eine allgemeine menschliche Form darstellt, und es ist ,kulturell‘ in dem Maße, wie es seine speziellen Träger, Riten und Institutionen ausbildet.“ 490 Die Maßnahmen des Gendarmeriekommandanten verhindern ein im kulturellen Gedächtnis verankertes Gedenken an den toten Bergmann, aber im kommunikativen Gedächtnis weiß jeder, wie es zu Beginn von „Drei Tote“ heißt, darüber Bescheid. Die von machtstrategischem Kalkül geleiteten Anordnungen des Gendarmeriekommandanten zum Begräbnis des jungen Bergarbeiters decken sich mit der Vorgehensweise dieses zentralen Repräsentanten staatlicher Macht während des Streiks, bei dem er aus einer nicht von persönlichen Bindungen beeinträchtigten Position agiert: „In seiner Eigenschaft als Verantwortlicher für die Sicherheit hatte er kaum Freunde. Zu seinen Verwandten unterhielt er keine näheren Beziehungen. Er zog auch niemanden ins Vertrauen […].“ (LT 411) Zwar mangelt es ihm nicht an menschlichen Regungen, wie sich in jener Szene zeigt, als neben dem Leichnam des erschossenen Gendarmen der 17jährige Bergarbeiter steht: „Erschrocken über die Jugendlichkeit des Täters ließ der Gruppenkommandant [sic! ] anhalten.“ (LT 417) Diese Gefühle werden aber mit nach innen und außen gerichteter Brutalität bekämpft, er enthüllt das mit einer Zeitung bedeckte Gesicht des Gendarmen, „um, wie er später sagte, ,keine Sentimentalitäten aufkommen zu lassen‘“, worauf Geruch und Anblick „in ihm Übelkeit aufkommen [ließen], so daß er sich rasch erhob und dem Bergarbeiter mit der flachen Hand eine Ohrfeige verabreichte.“ (LT 417) 491 selber zu Lebzeiten Vorsorge treffen. Fama ist eine säkulare Form der Selbstverewigung, die viel mit Selbstinszenierung zu tun hat.“ (Assmann: Erinnerungsräume, S. 33) 489 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 61. 490 Ebenda. 491 Ganz anders fällt das Verhalten der Dorfbevölkerung aus, als sie einen ebenfalls bedeckten, tödlich verunglückten Arbeiter betrachten kommen: „Einer nach dem anderen zog den Sack zur Seite, um den zerschmetterten Schädel und die starren Augen zu sehen. Es gab welche, die ihr Lachen nur schwer unterdrücken konnten, andere, die vor Witz sprühten, es herrschte eine allgemeine Freude und Erleichterung.“ (LT 73) <?page no="198"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 194 Der Gendarmeriekommandant aus „Drei Tote“ steht trotz gewisser, vom Berufshabitus bestimmter Unterschiede in einer Reihe von in Bezug auf ihre Machtausübung ähnlichen Figuren wie dem General oder dem Zirkusdirektor. Monika Kraus hat, in einem schon zitierten Aufsatz wie auch ausführlicher in ihrer Diplomarbeit, auf der theoretischen Basis von Michel Foucaults Buch Dispositive der Macht die von oben (Staat) und unten (Dorfkollektiv) kommende Macht sowie die Macht der Natur als grundlegende Dispositive in Landläufiger Tod bestimmt. Obwohl Kraus das Phänomen staatlicher Macht anhand der Figur des Zirkusdirektors erörtert, der nur als Metapher diesem Machtdispositiv zugeordnet werden kann, 492 lassen sich dennoch einige Bemerkungen auf den Gendarmeriekommandanten wie die gesamte Erzählung „Drei Tote“ beziehen. Kraus stellt fest: „Der Begriff der Macht ist bei Roth immer negativ konnotiert.“ 493 Deshalb würde Roth alle mit Macht ausgestatteten Figuren, den Zirkusdirektor wie das Dorfkollektiv (als Mikromacht), einseitig, nicht nuanciert darstellen. Zwar würde Roth in manchen Passagen die Zirkulation und Nicht-Einseitigkeit der Machtausübung darstellen, ganz so, wie es Foucault beschreibt: Die Macht funktioniert und wird ausgeübt über eine netzförmige Organisation. Und die Individuen zirkulieren nicht nur in ihren Maschen, sondern sind auch stets in einer Position, in der sie diese Macht zugleich erfahren und ausüben; sie sind niemals die unbewegliche und bewußte Zielscheibe dieser Macht, sie sind stets ihre Verbindungselemente. Mit anderen Worte: die Macht wird nicht auf die Individuen angewandt, sie geht durch sie hindurch. 494 Andererseits aber „tendiert er [Roth; G. L.] in seinen theoretischen Konzeptionen über den Geschichtsverlauf dazu, die Schuld an der Geschichte [...] einer höheren Macht von oben, die von einzelnen wenigen ausgeht, zuzuschreiben.“ 495 492 Allerdings schreibt auch Helga Schreckenberger: „Roths Zirkusdirektor kann als die Verkörperung einer solchen institutionellen Macht verstanden werden. Er unterwirft seine Umgebung - Menschen und Tiere - seinem Streben nach Gewinn und Macht.“ (Helga Schreckenberger: „Man sieht an den Tieren immer die Grausamkeit des Menschen.“ Die paradigmatische Funktion der Geschichte der Tierheit in Gerhard Roths Die Archive des Schweigens. In: Baltl/ Ehetreiber: Gerhard Roth, S. 179-205, hier S. 187.) 493 Kraus: Geschichtsphilosophische Ansätze (Diplomarbeit), S. 51. 494 Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve 1978. S. 82. 495 Kraus: Geschichtsphilosophische Ansätze (Diplomarbeit), S. 53-54. <?page no="199"?> 3.2 Bürgerkriegsgedächtnis: „Drei Tote“ 195 In „Drei Tote“ ist auf jeden Fall, hier ist Kraus zuzustimmen, die Seite der Macht negativ dargestellt, wobei eben die Arbeiter als Ohnmächtige, Bergwerksbesitzer, Gendarmen und Postenkommandant als Mächtige dargestellt werden. Gleichzeitig unterläuft die Erzählung aber ihre eigene Grundtendenz beziehungsweise jene der Erzählinstanz. Denn die ersten gewalttätigen Handlungen gehen von den mit Sympathie bedachten Ohnmächtigen aus, von den Bergarbeitern, die Steine werfen und einen Gendarmen töten. Zunächst bestimmen also die Arbeiter einen Teil des Geschichtsverlaufs, sie haben schon mit dem Streik das Gesetz des Handelns an sich zu reißen versucht. Erst in der longue durée eines einzigen Tages setzt sich die staatliche Macht durch. Wer aber nun auf der Seite der Arbeiter bestimmt, bleibt völlig offen. Es werden keine politischen Diskussionen oder strategischen Überlegungen der Arbeiter erzählt, keine Machtstrukturen wie bei der Gendarmerie, keine ,mächtigen‘ Figuren mit Funktionen, die jener des Gendarmeriekommandanten ähnlich sind, beschrieben. 496 Bei den Arbeitern werden stattdessen „blitzartige Eingebungen“ und „unwillkürliche“ Affekte als Ursachen für die Taten genannt. Dadurch wird die Kontingenz des Geschichtsverlaufs betont, der als von un- oder halbbewussten Affekten gesteuert erscheint. Man hat es hier also mit einer von Emotionen gemachten ,Geschichte von unten‘ zu tun, wiewohl sozioökonomische Machtasymmetrien als Auslöser die Folie dieser Handlungen bilden. Der Gendarmeriekommandant hingegen scheint überlegt und autonom zu handeln und ist nur über den Umweg einer erinnerungskulturellen Kontextualisierung im Austrofaschismus in ein Machtnetzwerk einzuordnen. Er wirkt als Machtzentrum der Region und der Erzählung und wird, im Einklang mit Kraus’ Thesen, trotz der erwähnten menschlichen Regungen deutlich negativ gezeichnet. 497 Allerdings ist (auch) bei ihm keine vollständige Kohärenz der 496 Nur über eine Fokalisierung des in einem Raum zwischen Arbeitern und Bergwerksführung agierenden ehemaligen Pferdeknechts, der als Bote eingesetzt wird, erhält der Leser einen kurzen Einblick. Der Bote hat einen höheren Informationsstand als Bergwerksdirektor und Bergingenieur, gibt allerdings nicht zu erkennen, „daß er mehr wußte, als er vorgab: Die Bergarbeiter waren fest entschlossen, nicht nachzugeben - tagelang waren Gerüchte im Umlauf gewesen, aus denen er Einzelheiten des geplanten Streiks erfahren hatte.“ (LT 407) 497 So fehlt dem Kommandanten wie seinen Untergebenen jegliche Empathie für die Arbeiter und die zeitbedingte wirtschaftliche Notlage, er kennt zwar die schlechten Arbeitsbedingungen, „aber drängten sich die Männer nicht geradezu um die Arbeit? Und sobald sie sie hatten, war sie ihnen zuwider, ohne daß sie darauf verzichten wollten.“ (LT 410) <?page no="200"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 196 Machtstrategien feststellbar, die erzählerische Vermittlung dieser Figur ist widersprüchlich. Zunächst wird angegeben, er picke „willkürlich“ (LT 409) einen Arbeiter heraus, andererseits heißt es aber: „Da ihm jeder Arbeiter vom Aussehen und auch namentlich bekannt war, hatte er überlegt, welchen von ihnen er am besten vorführen lassen konnte, und sich schließlich für den Verhafteten entschieden.“ (LT 409) Trotz dieser Ambivalenzen bleiben die Prämissen der Vorgehensweise konstant, nämlich rücksichtslos vorzugehen und „den Fall nicht durch die Umständlichkeit einer genauen Untersuchung hinauszuziehen, sondern von Anfang an seine Macht zu zeigen.“ (LT 409) Um diese Macht aber ausüben zu können, so ist er überzeugt, muss „er sich an die Schwächsten halten“ (LT 411). Er umgeht mögliche Streikführer, lässt einen Arbeiter verhaften, „von dessen Unschuld er überzeugt war“ (LT 411), und „rechnete auch damit, daß gerade die Verhaftung dieses Mannes als Provokation aufgefaßt würde.“ (LT 414). Der Kommandant spekuliert also mit dem Gerechtigkeitssinn der Arbeiter, die keinen Unbescholtenen im Stich lassen würden, während einem Streikführer ja doch eine gewisse Verantwortung an den Ereignissen zugesprochen werden könnte. Es ist ein Spiel mit der Ethik der anderen, das getrieben wird, und dieses Spiel wird erst dann ernst, als die Gruppe des Kommandanten selbst bedroht wird. 498 Der Kommandant richtet ein Ultimatum an die Arbeiter, der junge Bergarbeiter stellt sich - und damit ist sein Schicksal besiegelt: „Er [der Kommandant; G. L.] starrte nur auf die Schuhe des Gefangenen, wobei ihm nicht aus dem Kopf ging, daß dieser bald ebenso tot sein würde wie der Gendarm.“ (LT 418) Die Ermordung des jungen Bergarbeiters geschieht bereits in einem inoffiziellen Ausnahmezustand, das Verhalten des Gendarmeriekommandanten ist kongruent mit den noch nicht verrechtlichten Wünschen der herrschenden austrofaschistischen Kaste und Sinnbild für totalitäre Herrschaft: [D]er moderne Totalitarismus [kann] definiert werden als die Einsetzung eines legalen Bürgerkriegs, der mittels des Ausnahmezustands die physische Eliminierung nicht nur des politischen Gegners, sondern ganzer Kategorien von Bürgern gestattet, die, aus welchen Gründen auch immer, als ins politische System nicht integrierbar betrachtet werden. 499 498 In diesem Kontext ist die Bezeichnung des Postenkommandanten als „Gruppenkommandant“ (LT 417) passend. 499 Giorgio Agamben: Ausnahmezustand (Homo sacer II.1). A. d. Ital. v. Ulrich Müller- Schöll. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2004 (edition suhrkamp 2366). S. 8. <?page no="201"?> 3.2 Bürgerkriegsgedächtnis: „Drei Tote“ 197 Zum Schluss dieses Kapitels soll nun noch einmal auf den erinnerungskulturellen Kontext von „Drei Tote“ eingegangen werden. In „Auf dem Schneeberg“ thematisiert die Tante im Hinblick auf die 1930er Jahre nicht den Austrofaschismus, der überhaupt nicht erwähnt wird, sondern die Wirtschaftskrise. Der Wiener Essayist Franz Schuh schreibt nun in einem Beitrag in der F.A.Z. nicht nur, dass die Krise des Ersten Weltkriegs und vor allem jene der 1930er Jahre „der Gründungsmythos der Persönlichkeiten meiner Eltern“ war, sondern berichtet auch von einem Interview mit Bruno Kreisky. Dieser zeigte während des Gespräches bei einem Thema besonders negative Emotionen, nämlich bei der „Massenarbeitslosigkeit der dreißiger Jahre. Sie hatte die Geschicke eines riesigen Kollektivs bestimmt, und die, die diese Bestimmung überlebt hatten, waren bis an ihr Lebensende von der Krise gezeichnet.“ 500 Die 1930er Jahre werden im österreichischen kommunikativen oder Alltagsgedächtnis weniger wegen des Austrofaschismus, sondern vor allem wegen der wirtschaftlichen Probleme erinnert, die politischen Ereignisse bis zum ,Anschluss‘ 1938 bilden kein dominantes Narrativ, auch weil die Erinnerung an den Nationalsozialismus den Austrofaschismus in den Hintergrund rückte. 501 Roths Erzählung hingegen rückt mit seiner Bezugnahme auf das kommunikative Gedächtnis der Region, allerdings ohne die Geschehnisse von einem konkreten Akteur des Dorfes berichten zu lassen, ein nach 1945 aufgrund der Menasse’schen sozialpartnerschaftlichen Ästhetik ,nur‘ noch latentes Konfliktpotential in den Mittelpunkt. Dieser Text eines Autors, der 1934 nicht als Zeitzeuge erlebt hat, ist deshalb eine wichtige Reaktualisierung einer schon in den nationalen Archiven des Schweigens abgelegten Problematik des österreichischen Gedächtnisses, die Walter Famler polemisch zugespitzt so thematisiert hat: Auch das Trauma der Ersten Republik, der Februar 1934, ist auf eine Weise entsorgt worden, daß einer nicht nur jüngeren Generation Bürgerkrieg als eine Auseinandersetzung zwischen Angehörigen auf dem Balkan beheimateter und damit vermeintlich automatisch auf einer niedrigeren, wenn nicht gar primitiveren Zivilisationsstufe stehender Völker und nicht auch als Teil der eigenen Geschichte erscheint. 502 500 Franz Schuh: Jetzt endet das Glück der kleinen Leute. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. März 2009, Nr. 52, S. 31. 501 Vgl. dazu Elisabeth Klamper: „Ein einig Volk von Brüdern“. Vergessen und Erinnern im Zeichen des Burgfriedens. In: Zeitgeschichte 5-6 (1997), S. 170-185. 502 Walter Famler: Editorial. In: Wespennest 103 (1996), S. 3. Das Schwerpunktthema dieser Wespennestausgabe ist „Krieg“. <?page no="202"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 198 3.3 Schuldgedächtnis: „Hahnlosers Ende“ Die Erzählung „Hahnlosers Ende“ (LT 371-386) nimmt ihren Ausgang von einem Tito-Partisanen-Überfall auf den Bauernhof eines NS-Funktionärs im August 1944. Der Partisan und Dorfbewohner Hahnloser zwingt dabei den vom Pfarrhof aus das Areal überblickenden Pfarrer, der ihn trotz Tarnung als seinen ehemaligen Schüler erkannt hat, einen Sohn des Nazi-Funktionärs, der auf dem Dach des Bauernhofes mit einer Pistole in der Hand die Partisanen beobachtet, zu erschießen. Als der Pfarrer nach dem Überfall von der Gendarmerie verhört wird, verrät er Hahnloser und damit sich selbst nicht. Während Hahnloser schließlich gefasst und ermordet wird, haben die Geschehnisse für den Pfarrer keine äußeren Konsequenzen, jedoch verliert er seinen Glauben, beginnt zu trinken und wird zeitlebens von den Erinnerungen an die Ereignisse heimgesucht. Im Folgenden soll die Figur des Pfarrers im Kontext eines auch religiös formatierten „Schuldgedächtnisses“ sowie in ihren Implikationen auf Differenzsetzungsstrategien im Hinblick auf Dorfund/ oder Partisanenidentität 503 untersucht werden. Begonnen wird aber mit einer Analyse der Validität der ,Quellen‘ für die erzählten Ereignisse. „Fehlinterpretationen, Täuschungen, Fälschungen und Verirrungen bestimmen [...] den Erzählkosmos Gerhard Roths.“, 504 schreibt Daniela Bartens. Die Auffächerungen der Basiserzählung von „Hahnlosers Ende“ sind hierfür paradigmatisch. In diesem Text gibt es mehrere Erzählerfiguren oder Erzählerfiguren mehrerer Ordnungen oder, terminologisch hier am präzisesten, Figuren, die erzählen oder erzählt haben und in einem Spiel der Perspektiven, der narrativen Brüche, Diskrepanzen, Unzuverlässigkeiten und Glaubwürdigkeiten miteinander verbunden sind: Die Stiefschwester der Tante, welche in direkter Rede Franz Lindner, der nur in einem Einschub zu Beginn präsent 503 „Hahnlosers Ende“ ist Teil eines mehrere Texte umfassenden Partisanennarrativs, wobei die anderen wichtigen Texte „Todesstrafe“ (LT 298-300), „Das Ende eines Parteigängers“ (LT 322-324) und „Gesucht und Gefunden“ (LT 354-361) im Zusammenhang mit der anhand eines close readings von „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ erstellten Analyse der Figur des Vaters von Franz Lindner besprochen werden. 504 Bartens: Topographien des Imaginären, S. 40. Diese Feststellung von Bartens kann für beide Zyklen Roths Geltung beanspruchen. <?page no="203"?> 3.3 Schuldgedächtnis: „Hahnlosers Ende“ 199 ist, 505 erzählt, dabei aber die eigentliche Hauptfigur, den Pfarrer - und nicht den titelgebenden Partisanen Hahnloser - auf de facto in der extraliterarischen Wirklichkeit nicht mögliche Weise intern fokalisiert, sowie die am Ende der Erzählung erwähnte Tante, von der die Stiefschwester vorgibt, alles Erzählte zu wissen: „Deine Tante, um die es sich bei der Haushälterin handelte, erfuhr von ihm [dem Pfarrer; G. L.] die Einzelheiten des Vorfalles, als er betrunken war; am nächsten Morgen aber wiederrief er jedesmal, was er gesagt hatte.“ (LT 386) Bei dieser Konstellation des mehrfach gebrochenen und auch noch durch Alkoholkonsum beeinflussten Erzählens handelt es sich um eine Problematisierung des Erinnerungsprozesses und eine Bewusstmachung der Instabilität von Erinnerungen, 506 die dem reflexiven Modus der Gedächtnisrhetorik nach Astrid Erll zugeordnet werden kann. Wichtig ist hier zunächst das so genannte „Prinzip der ,Stillen Post‘“, mit dem Welzer, Moller und Tschugnall in ihrem Buch „Opa war kein Nazi“ das Weitergeben von Geschichte/ n als subjektive Umschreibungen des ursprünglichen Plots, als Prozess des Ausschmückens und Weglassens durch verschiedene Erzähler charakterisieren. 507 Pfarrer, Tante, Stiefschwester und Lindner sind die hier mehr oder weniger deutlich vernehmbaren Stimmen, durch welche die Geschehnisse subjektiv vermittelt werden. Eine Diskrepanz zeigt sich nun, wenn man „Hahnlosers Ende“ im Kontext von Informationen liest, die in „Auf dem Schneeberg“ gegeben wurden: In „Hahnlosers Ende“ tritt eine Haushälterin auf, die insofern eine Rolle spielt, als ihre angebliche Ermordung ein Mitauslöser für die Entscheidung des Pfarrers ist, den tödlichen Schuss abzugeben. 505 Dieser Einschub ermöglicht es, die Erzählung von „Hahnlosers Ende“ als unmittelbare, auch thematische Fortführung der Erinnerungserzählung der Tante aus „Auf dem Schneeberg“ zu lesen, schließlich wird darin die Geschichte von den Partisanen zwei Mal berichtet, ist also besonders wichtig, außerdem werden an deren Ende Tante, Stiefschwester und Lindner von einem Schneesturm durchnässt: „,Das Auffälligste an unserem Pfarrer war die dicke Brille‘, sagt die Stiefschwester meiner Tante, während sie meine Wollmütze über dem Ofen zum Trocknen aufhängt.“ (LT 371), lautet hierzu passend der erste Satz von „Hahnlosers Ende“. 506 „Wesentliche Merkmale unserer Erinnerungen sind, dass sie ungenau und variabel sind.“ In: Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 134. Oder auch: „Die Vorstellung von zuverlässigem, objektivem Erinnern ist inzwischen zu einem Relikt aus positivistischeren Zeiten geworden, abgelöst von der Erkenntnis, dass der Mensch letztlich erinnert, was er - immer unter der obersten Prämisse der Kohärenz - erinnern will oder muss.“ (Basseler/ Birke: Mimesis des Erinnerns, S. 141.) So gesehen ist ein unzuverlässiger Erzähler glaubwürdiger, das heißt realistischer, als ein verlässlicher, weshalb eine „,thematisierte Unverlässlichkeit‘ Teil einer Rhetorik bzw. Mimesis des Erinnerns“ ist. (Ebenda.) 507 Welzer, Moller und Tschugnall: „Opa war kein Nazi“, S. 14. <?page no="204"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 200 Erst später erfährt er, dass sie sich vor den Partisanen verstecken konnte. Die Stiefschwester identifiziert diese Haushälterin als Tante: „Deine Tante, um die es sich bei der Haushälterin handelte“ (LT 386). In ihrer Selbstnarration in „Auf dem Schneeberg“ aber datiert die Tante ihren Dienstantritt beim Pfarrer auf die Zeit nach dem Krieg, genau genommen auf 1948, wenn man bedenkt, dass sie am Ende des Ersten Weltkrieges geboren wurde, und rechnet: „Ich war dreißig Jahre alt und sollte zum ersten Mal einen Lohn bekommen.“ (LT 103) Im Hinblick auf multiperspektivisches Erzählen könnte man hier nun die Stiefschwester für diese Diskrepanz im Sinne einer Fehlinformation verantwortlich machen, jedoch widerspricht sich die Figur der Tante auch selbst, denn in dem weiter unten analysierten „Letzte Kriegstage“ ist sie ebenfalls während des Krieges „im Dienst des Pfarrers“ (LT 441) und erwähnt auch, dass sie ihre Erlebnisse zu Kriegsende im Gasthaus des Kirchenwirtes „schon viele Male erzählt habe.“ (LT 446) Es handelt sich hier um eines jener irritierenden Details, deren Beschaffenheit in dem Kapitel zum multiperspektivischen Erzählen erwähnt wurde und die nicht nur bei weit voneinander entfernten Textblöcken, sondern, wie in „Drei Tote“ anhand der willkürlichen/ geplanten Auswahl eines verdächtigen Bergarbeiters durch den Gendarmeriekommandanten gezeigt, auf engem Textraum beinahe schon als erzählerisches Prinzip in Landläufiger Tod vorkommen. Diese Details können sowohl als Unzuverlässigkeitsindikatoren für einzelne Figuren (Tante, Stiefschwester, Pfarrer) 508 als auch über eine In-den-Blicknahme der unzuverlässigen Haupt-Erzählerfigur Franz Lindner erklärt werden. Nicht unwesentlich im Zusammenhang mit der Frage nach der Glaubwürdigkeit des Erzählten ist das Erzählen und Erinnern des Pfarrers unter Alkoholeinfluss. Aus neurobiologischer Sicht werden durch Alkoholkonsum „besonders Gedächtnisfunktionen beeinträchtigt“, bei chronischem Konsum „können Gedächtnisstörungen derart gravierende Ausmaße annehmen, dass eine selbständige Alltagsbewältigung nicht mehr möglich ist.“ 509 Ohne Zweifel wird der Pfarrer im Zuge der in „Hahnlosers Ende“ erzählten Ereignisse zum 508 Folgende Bemerkung Carola Surkamps zu Paul Scotts Raj Quartet gilt allerdings nicht für Landläufiger Tod, in dem die Figuren kaum jemals explizit eine mögliche Unzuverlässigkeit anderer Figuren thematisieren: „So zweifeln manche der Figuren die Zuverlässigkeit anderer Figuren an.“ Carola Surkamp: Die Auflösung historischen Geschehens in eine Vielfalt heterogener Versionen: Perspektivenstruktur und unreliable narration in Paul Scotts multiperspektivischer Tetralogie Raj Quartet, S. 172. 509 Hans-Peter Steingass: Alkohol (In der Neurobiologie). In: Pethes/ Ruchatz (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung, S. 30. <?page no="205"?> 3.3 Schuldgedächtnis: „Hahnlosers Ende“ 201 Alkoholiker, 510 eine Entwicklung, die erstmals deutlich wird in der Reaktion des Pfarrers auf die Konfrontation mit dem von ihm Erschossenen: „In dieser Nacht betrank sich der Pfarrer bis zum Morgengrauen.“ (LT 380) Ab diesem Zeitpunkt ist auf der Ebene der erzählten Zeit von einer Beeinträchtigung der Gedächtnisfunktionen beziehungsweise einer Verbindung von Alkoholkonsum und Erinnern auszugehen, wie sich schon am darauf folgenden Tag beim Begräbnis des Erschossenen zeigt, das der Pfarrer stark verkartert hält: „Er war unrasiert, und das Licht bereitete ihm solche Schmerzen in den Augen, daß er sich an den größten Teil des Begräbnisses nicht mehr erinnern konnte.“ (LT 381) Aus dieser Perspektive sind die alkoholisierten Erzählungen des Pfarrers kaum valid, andererseits ist es bemerkenswert, dass in der Erinnerungserzählung der massive Alkoholkonsum, der das Erinnern ja beeinträchtigen müsste, erwähnt wird. Aus kulturgeschichtlicher Perspektive steht Alkoholkonsum zum einen „für ein intendiertes Vergessen konkreter Alltagswirklichkeit“, 511 eine vom Pfarrer angewandte Methode: „Sobald er den bohrenden Schmerz der Verzweiflung spürte, füllte er ein Glas mit Wein und stürzte es hinunter.“ (LT 382) Andererseits kennzeichnet „[d]ie charakteristische Dialektik von Vergessen und Erinnern [...] auch den Alkoholrausch“, da im Erinnern unter Alkoholeinfluss „Ereignisse zusammenrücken, intensiviert oder überhaupt erst erinnert werden, ja eine eigene Wirklichkeit konstituieren.“ 512 Im Fall des Pfarrers ist diese Dialektik deutlich am Werk. Es wird Alkohol getrunken, um vergessen zu können, es tritt aber die gegenteilige Wirkung ein, nämlich Erinnerung beziehungsweise die Konstitution einer schuldbehafteten Vergangenheitswirklichkeit, die aufgrund der vom Wein gelösten Zunge erzählt, ja gebeichtet werden kann, im Zustand der Nüchternheit aber widerrufen wird, weil sie nicht mehr erinnert oder ertragen wird. Abgesehen von diesen komplexen Fragen der erzählerischen Rahmung und Infragestellung der Erinnerungserzählung ist in der Figur des Pfarrers eine merkwürdige Hybridität virulent. Aleida Assmann schreibt in Der lange Schatten der Vergangenheit: „Die Unterscheidung zwischen Siegern und Be- 510 Auch der Arzt Ascher wird von Lindner unter den Verdacht des Alkoholismus gestellt: Ascher „hatte etwas Abwesendes und Müdes an sich, als hätte er sich in der Nacht zuvor betrunken.“ (LT 334) 511 Christian Kassung: Alkohol (In der Kulturgeschichte). In: Pethes/ Ruchatz (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung, S. 30-31, hier S. 31. 512 Ebenda. <?page no="206"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 202 siegten einerseits und Tätern und Opfern andererseits ist heute eine unentbehrliche Grundlage für den Vergleich von Nationen und ihren Problemen im Umgang mit ihrer Vergangenheit.“ 513 Genau diese Unterscheidung ist bei der Figur des Pfarrers aber nicht möglich, die Grenzen zwischen Täter und Opfer sind verwischt, und wenn Assmann an anderer Stelle schreibt, „zur Dyade von Opfer und Täter muss eine ,Figur des Dritten‘ hinzutreten, die das Gewaltgeschehen bewertet und die Zuschreibung der Rollen vornimmt“, 514 so übernimmt der Pfarrer in seinen Versuchen, seine lebensentscheidende Situation immer wieder aufs Neue zu durchleuchten auch noch diese Funktion des Zeugen - denn nur er und Hahnloser wissen über den genauen Verlauf der Ereignisse Bescheid. Zu Beginn der Geschehnisse möchte der Pfarrer noch zu dem werden, was Aleida Assmann aus der Etymologie (gr. ,marty‘ = Zeuge) ableitend als „religiöser Zeuge“ bezeichnet: Beim Begriff des Märtyrers haben wir es nicht mehr mit einem unparteiischen oder entkommenden Beobachter zu tun, sondern mit einem in die Gewalt- Dyade Eingeschlossenen; hier verschränken sich die Rollen des Opfers und des Zeugen in einer einzigen Gestalt. 515 Der religiöse Zeuge stirbt für eine Sache und aus diesem theologischen Kontext heraus ist der allerdings nicht für, sondern gegen die Sache der Partisanen gerichtete Wunsch des Pfarrers, als er von den Partisanen massiv unter Druck gesetzt wird, den Bauernsohn zu erschießen, zu verstehen: „Im selben Augenblick, als er die Waffe in die Hand genommen hatte, war er entschlossen zu sterben.“ (LT 373) Doch als der Pfarrer glaubt, die Haushälterin sei ermordet worden, erkennt er, dass ihm die persönlichen Eigenschaften zum Martyrium 516 fehlen und „daß er nicht kaltblütig genug war, um auf eine solche Weise zu sterben. Wenn man ihn gleich am Anfang erschossen hätte, hätte er es anständig hinter sich gebracht, jetzt aber war ihm klar, daß er ein Feigling war.“ (LT 374) 513 Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 70. 514 Ebenda, S. 85. 515 Ebenda, S. 87. 516 Die obige Darstellung ist für den hier relevanten Zusammenhang verkürzt, denn: „Das Martyrium konstituiert sich [...] noch nicht allein im gewaltsamen Tod, sondern erst im Bericht über diesen Tod.“ (Ebenda.) „Hahnlosers Ende“ ist aus dieser Perspektive der Bericht über ein Nicht-Martyrium des Augenblicks, das zu einem individuellen Martyrium auf Lebenszeit wird. <?page no="207"?> 3.3 Schuldgedächtnis: „Hahnlosers Ende“ 203 Sieht der Pfarrer, schon bevor er die Tat begeht, die Situation als „Strafe“ (LT 373), weil er einmal im Jahr ein Schwein mit einem Gewehr tötet, so wird nach dem Schuss der Begriff der Schuld zentral: „In seinem Inneren hatte sich das Bewußtsein der Schuld festgesetzt, von dem er wußte, daß es ihn nie mehr verlassen würde.“ (LT 375) 517 Das Bewusstsein von der Schuldbeladenheit der eigenen Vergangenheit ist für den Pfarrer prägend, es ist aber ebenso für das kollektive österreichische und europäische Gedächtnis von großer Bedeutung. Heidemarie Uhl hat in ihrem Aufsatz „Schuldgedächtnis und Erinnerungsbegehren“ eine momentane „Phase des post-mémoire“ konstatiert, in der die Erinnerungsdebatten abgekühlt seien und ein „fading out der emotionalen Aufladung“ der Vergangenheit bemerkbar sei. 518 Ergebnis der konfliktreichen Aushandlungen historischer Identität und der Dekonstruktionen der Post- 1945-Mythen sei nun „das Schuldgedächtnis als transnationale Signatur der Erinnerungskulturen in Europa.“ 519 Nicht mehr die Opfer des oder der Widerstand gegen den Faschismus werden von der Geschichtswissenschaft und der Gesellschaft in erster Linie in den Blick genommen, sondern die eigene Rolle bei der Verübung der nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere des organisierten Massenmordes in den Tötungslagern. Seit den 1980er Jahren geht es zunehmend weniger um Parteien oder Klassen oder Institutionen, welche etwas verabsäumt hatten, weshalb es zum Nationalsozialismus kommen konnte, oder eben um Parteien oder Klassen oder Institutionen, die dann Widerstand geleistet haben, sondern um die Verantwortung des Einzelnen als Mensch: „Das Neue am Schuldgedächtnis ist die Entpolitisierung und Anthropologisierung der Kategorie Schuld.“ 520 Gerhard Roth stellt nun mit der Figur des Pfarrers die Frage nach der Schuld auf eine ungewöhnliche Weise: Schuld an der Schuld des Pfarrers ist 517 Der Bauernsohn, nach einer Verwundung auf Heimaturlaub, ist nicht uniformiert, liegt auf dem Dach der Tenne „auf dem Bauch, so daß er eher einem Bündel Kleider ähnelte als einem Menschen.“ (LT 374) Als der Pfarrer dann schießt, heißt es: „Er zielte auf das Kleiderbündel, das vor ihm auf dem Dach lag“ (LT 374). Diese Entmenschlichung beziehungsweise Verdinglichung des Menschen erleichtert dem Pfarrer die Tat. Carl Schmitts Oppositionierung via Kleidung zwischen regulären Soldaten und irregulären Partisanen, formuliert in Theorie des Partisanen, S. 21: „Der feindliche Soldat in Uniform ist das eigentliche Schußziel des modernen Partisanen.“, wird von des Pfarrers Schuss auf ein Kleiderbündel nicht bestätigt. 518 Heidemarie Uhl: Schuldgedächtnis und Erinnerungsbegehren. Thesen zur europäischen Erinnerungskultur. In: Transit 35 (Sommer 2008), S. 6-22, hier S. 10. 519 Ebenda. 520 Ebenda, S. 15. <?page no="208"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 204 ein Partisan, also ein Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, während die Schuld des Pfarrers eine sehr fragwürdige ist und vor einem Gericht im Sinne des rechtlichen Aspektes des Schuldgedächtnisses kaum mit einem Schuldspruch geahndet würde. Eher würde man den Pfarrer wohl als Opfer Hahnlosers beurteilen. Reflektiert, und deshalb als solche definiert, wird die Schuld vom Pfarrer jedoch auf einer moraltheologischen Ebene, 521 das heißt innerhalb eines festgeschriebenen Wertesystems (Katholizismus), wodurch von der Ebene des einzelnen Menschen der Übergang zu einer institutionalisierten Gruppe hergestellt wird, eine für das Schuldgedächtnis im post-ideologischen Zeitalter vernachlässigbare Kategorie. Jedoch wird auf diese Weise die neben der rechtlichen Seite vorhandene Aufladung des kollektiven Schuldgedächtnisses mit religiösen Imaginationen perspektiviert. Heidemarie Uhl stellt in diesem Kontext fest: Das Einbekennen von Schuld an den Verbrechen des NS-Regimes erfolgt jedenfalls in den „Tätergesellschaften“ vor dem Hintergrund eines christlich geprägten Codes, in dem Bekenntnis und Befreiung von Schuld eng verknüpft sind. Vor allem die katholische Beichte verbindet das Einbekennen und Bereuen von Schuld mit der Erwartung, oder vielmehr: dem Anspruch auf Vergebung. 522 In „Hahnlosers Ende“ hingegen verhält es sich genau umgekehrt. Hier ist die Beichte keine Befreiung von Schuld, sondern eine Involvierung in die Schuld, da nicht aus der Perspektive des Beichtenden, sondern des Beichtvaters erzählt wird. Hahnloser beichtet und fordert dann „die Absolution, ob er sie ihm wirklich erteilt hatte, wußte der Pfarrer im nachhinein nicht mehr, doch es war anzunehmen.“ (LT 375) Der Pfarrer hingegen sieht keine Möglichkeit, seine Schuld abzulegen und sich zu ,reinigen‘. Jedesmal, wenn er erzählt, das heißt gebeichtet hat, widerruft er später wieder alles. Deshalb bleibt er im Strudel der Ereignisse auch lange nach Ende des Krieges gefangen, was an den variierenden nachträglichen Deutungen seiner Verstrickung in den Tod eines anderen Menschen ablesbar ist. 521 „Schuld gibt es in juridischem und in moralischem Sinne. Die juridische Schuld hat sich vor dem Gericht, die moralische Schuld hat sich vor dem Gewissen zu verantworten. Diejenigen, die in den Augen des Gesetzes nicht straffällig geworden sind, müssen nicht schuldfrei sein. Während einem die juridische Schuld von einem anderen angelastet wird, schreibt man sich die moralische Schuld selber zu.“ (Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 81.) 522 Uhl: Schuldgedächtnis und Erinnerungsbegehren, S. 19. <?page no="209"?> 3.3 Schuldgedächtnis: „Hahnlosers Ende“ 205 Entscheidender Augenblick für die Entwicklung des religiös formatierten Schuldgedächtnisses des Pfarrers ist die vom Gendarmeriekommandanten beim ersten Verhör gestellte Frage: „Haben Sie jemanden erkannt? “ (LT 376) Die Antwort auf diese Frage wird über eine interessante erzähltechnische Variante in den Kontext der späteren Erinnerungsarbeit gestellt. Bevor der Rezipient erfährt, wie der Pfarrer diese Frage beantwortet, wird in einer Prolepse die spätere Erinnerung an diesen Moment beschrieben: „Immer, wenn er an diese Frage zurückdachte, empfand er, daß er sich an diesem Punkt seines Lebens den Weg abgeschnitten hatte.“ (LT 376-377) Dann erfolgt der Zeitsprung und die Antwort „Nein“ (LT 377), gleich darauf findet sich aber wieder eine Prolepse mit einer Thematisierung der Erinnerungsarbeit: „Noch später aber hatte er eingesehen, daß selbst die Feigheit, die er für seine Haltung verantwortlich gemacht hatte, eine Ausrede gewesen war.“ (LT 377) Es sei nicht aus der Feigheit erwachsene - wieder ein religiös konnotierter Begriff - „Güte“ (LT 377) gewesen, wie er sich eine Zeit lang vorgemacht habe, sondern „er hatte sich damit letztlich nur betrogen, weil er instinktiv gewußt hatte, daß er sich (sobald er ernsthaft darüber nachdachte) damit vernichtete.“ (LT 377) In einem weiteren, direkt an diese Überlegung anschließenden und als final präsentierten Schritt der Erinnerungsarbeit ist als Ursache für die Falschaussage gegenüber dem Gendarmeriekommandanten für den Pfarrer folgende Erklärung gültig: In Wirklichkeit, so erkannte der Pfarrer in einem der letzten hellen Augenblicke seines Lebens, war er hochmütig gewesen. Er war zu hochmütig gewesen, um sich dem neuen Kommandanten und den einfältigen Gendarmen auszuliefern, die seine Schüler gewesen waren und - wenn er sich recht erinnerte - alle mit seinem Rohrstock Bekanntschaft gemacht hatten. (LT 377) Hochmut, griechisch ,Hybris‘, lateinisch ,Superbia‘, ist eines der sieben Hauptlaster, die laientheologisch auch Todsünden genannt werden. In dem alttestamentarischen „Buch der Sprichwörter“ findet sich der hierfür entscheidende Spruch: „Hoffart kommt vor dem Sturz / und Hochmut kommt vor dem Fall.“ 523 Dann - und hier werden die Zeitebenen für den Rezipienten ununterscheidbar, denn der Pfarrer könnte sich im Nachhinein diese Überlegungen als damals gemachte zurecht gelegt haben, sie könnten aber ebenso tatsächlich damals gemacht worden sein - werden nicht-religiöse, intersubjektiv nachvollziehbarere Faktoren für die Verweigerung eines Geständnisses genannt: 523 In der Bibel: Spr 16,18. <?page no="210"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 206 der Kommandant hätte die Komplexität der Situation nicht nachvollziehen können, er selbst wäre nicht mit dem Leben davon gekommen („hätte es einen weiteren Toten gegeben“, LT 377) und Hahnlosers Familie wäre bestraft worden. „Hahnlosers Ende“ ist in diesen Passagen als Ergebnis eines kontinuierlichen Nachdenkprozesses, eines ständigen Erstellens von Theorien über die eigene Vergangenheit und deren Auswirkungen auf die Persönlichkeit in der Gegenwart lesbar, wobei dieser Prozess nie abgeschlossen werden kann und sich immer wieder neue interne (persönlichkeitsbezogene) und externe (das situative Umfeld betreffende) Facetten finden lassen, welche die Ereignisse in ein anderes Licht rücken können. Siegfried J. Schmidt hat die hierbei wichtigen Faktoren terminologisch differenziert angeführt: Die Theorie, die ein Individuum über die Wirklichkeit konstruiert, besteht aus Subtheorien über die eigene Person (Selbsttheorien), über die Außenwelt (Umwelttheorien) sowie über die Wechselwirkungen zwischen diesen beiden. Selbsttheorien bzw. Selbstkonzepte werden normalerweise nicht bewußt entworfen, sondern in der Interaktion mit der Umwelt und anderen konstruiert. 524 Es ist eine unentwegte - „als er wieder und wieder über die Ereignisse nachdachte“ (LT 372) - Neuschreibung und -interpretation 525 der handlungsmotivierenden Normen und Werte, des eigenen Verhaltens, der Wahlmöglichkeiten und Zwänge. 526 Im Kontext der erzählerischen Vermittlung wird das aber durch den beschriebenen Wechsel zwischen den Zeitebenen vollzogen. Die oben im direkten textuellen Umfeld des „Nein“ angeführten Überlegungen wurden lange nach den Ereignissen und der Befragung angestellt, werden aber in „Hahnlosers Ende“ zuerst erzählt. Die als Beginn des Nachdenkprozesses über die Vergangenheit zu wertende Analyse der noch nicht abgeschlossenen Ereignisse, ausgelöst durch das vom Gendarmeriekommandanten eingesetzte Wort „Mörder“ (LT 378), wird hingegen in „Hahnlosers Ende“ nach den späteren Erinnerungen an die Befragung erzählt: Hahnloser, der nur ein mittelmäßiger Schüler gewesen war, der Sohn eines Bergmannes (den man des Kommunismus verdächtigte), hatte sich einen 524 Schmidt: Gedächtnis - Erzählen - Identität, S. 392. 525 „Die Hirnforschung hat gezeigt, dass jede Reaktivierung einer Gedächtnisspur zugleich eine Neueinschreibung ist, die die Ersterfahrung notwendig überformt.“ In: Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 134. 526 In Der Untersuchungsrichter heißt es: „In Wirklichkeit ist alles ein Selbstgespräch. Natürlich widersprüchlich.“ (UR 119) <?page no="211"?> 3.3 Schuldgedächtnis: „Hahnlosers Ende“ 207 teuflischen Plan ausgedacht. Einerseits hatte er ihn, den Pfarrer, in ein Verbrechen hineingezogen und ihn mitschuldig gemacht, andererseits hatte er ihm die Möglichkeit gelassen, sich herauszureden. Er hatte ihm nur die Wahl gelassen, sich selbst und Hahnloser zu vernichten oder zu schweigen. (LT 378) In dieser in der Handlungschronologie ersten Analyse des Pfarrers finden sich einige bemerkenswerte Aspekte: Zunächst wird Hahnloser als Sohn eines Bergmannes beschrieben, es findet sich also eine vage Vernetzung mit „Drei Tote“, wobei es dem Rezipienten offen bleibt, beispielsweise Hahnloser als Bruder des von den Gendarmen ermordeten jungen Bergmannes zu imaginieren, da ja in „Drei Tote“ keine Namen genannt werden. Weiters wird eine familiäre ideologische Prägung suggeriert, der als Kommunist verdächtigte Vater scheint also tatsächlich einer (gewesen) zu sein. Umso bemerkenswerter ist deshalb folgende, am Ende der Erzählung vom Gendarmeriekommandanten gelieferte Information, die Eltern Hahnlosers hätten „[n]ach dem Geständnis des Sohnes [...] ihn in der Jauchengrube ertränkt. ,Damit haben sie uns eine lästige Arbeit abgenommen‘, fügte er trocken hinzu.“ (LT 385) Die Analogie zu „Drei Tote“ im Sinne einer Rachenahme der Gendarmen ist hier offensichtlich, steht doch die Aussage des Kommandanten anders lautenden Gerüchten gegenüber, nämlich Hahnloser sei bei einem Fluchtversuch in der Jauchengrube ertrunken. Den Verdächtigten hatte man bis dahin so verprügelt, daß sein Gesicht nur noch eine blutunterlaufene Masse Fleisch war. Zuletzt nahmen ihn die Soldaten zum Ziegelwerk mit, wo sie ihn erschossen und in einen der Teiche warfen. (LT 385) 527 Und auch bei den Begräbnissen findet sich eine weitere Parallele mit „Drei Tote“, denn „Begräbnis werde es keines geben“ (LT 385), befiehlt der Kommandant dem Pfarrer im Hinblick auf Hahnloser, während der Erschossene der herrschenden Seite eine korrekte Trauerfeier erhält - wenn auch eine vom eigenen Mörder zelebrierte, wodurch für den über die im Dorf zunächst 528 nicht bekannten Zusammenhänge informierten Rezipienten die gültige Ord- 527 Übrigens wird hier eine ähnliche Vorgangsweise mit einer nahezu identen Metaphorik beschrieben wie bei den Schmugglern in „Auf dem Schneeberg“, die ja wie die Partisanen ebenfalls Grenzgänger sind. So sagt die Tante von einem gefolterten Schmuggler, „daß sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verschwollen und die Hände zu Fleischklumpen geworden waren“ (LT 87). Abgesehen davon ist die Widersprüchlichkeit dieser Passage symptomatisch für Landläufiger Tod, denn entweder ist Hahnloser in einer Jauchengruppe ertrunken oder er wurde erschossen und in einen Teich geworfen. 528 Denn letztlich erzählt ja die Stieftante Lindner davon, es kommt also alles - wie schon am Skelett Korradows gezeigt - irgendwann ans Licht. <?page no="212"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 208 nung als eine vorgebliche und unterlaufene (vom Pfarrer, den Partisanen) erscheint. Doch kommen wir zurück zur oben zitierten Analyse des Pfarrers von Hahnlosers Plan. Mit der Kategorisierung „mittelmäßiger Schüler“ wird Hahnlosers Intelligenz als außerhalb der schulischen Parameter verortet, wodurch sie dem Pfarrer als „teuflisch“ erscheint. Die Nähe im textuellen Raum legt einen möglichen Zusammenhang zwischen dem diabolischen Plan und der für die Partisanen handlungsmotivierenden kommunistischen Ideologie nahe. 529 Anton Pelinka hat in einer Bewertung der Rolle der katholischen Kirche in Österreich vom Austrofaschismus bis zur Zweiten Republik von einer nach 1945 abgelegten Naivität in Bezug auf eine parteipolitische Involvierung der Kirche geschrieben und mit Blick auf die faschistischen Jahre von 1934 bis 1945 festgestellt: „Naiv war, aus heutiger Sicht, die Fixierung der Bischöfe auf den Sozialismus als Hauptfeind - und das weitgehende Negieren der spezifischen Qualität des Nationalsozialismus.“ 530 An dieser Stelle muss aber weiter ausgeführt werden, dass zwar in der katholischen Kirche eine den Kommunismus/ Sozialismus ablehnende Position dominant war, die Rolle der Kirche im Nationalsozialismus jedoch keineswegs einseitig betrachtet werden sollte. Wie der Pfarrer war die Kirche Täter, Opfer und Zeuge zugleich. Der berühmt-berüchtigte Brief der österreichischen Bischöfe aus dem März 1938 enthielt eine Wahlempfehlung Hitlers bei der Volksabstimmung und wurde vom Wiener Kardinal Innitzer mit den Worten „und Heil Hitler“ unterschrieben. Gerhard Roth hat in Eine Reise in das Innere von Wien angesprochen, dass im Kontext der so genannten „Bischofsgruft“ unter dem Stephansdom schamhaft verschwiegen [...] wird, sobald die Rede auf Kardinal Innitzer kommt, daß dieser 1938 die katholische österreichische Bevölkerung mit ,Heil Hitler‘ aufgefordert hatte, für den Anschluß an das nationalsozialistische Deutschland zu stimmen. (RIW 176) 529 „Der Partisan kämpft in einer politischen Front, und gerade der politische Charakter seines Tuns bringt den ursprünglichen Sinn des Wortes Partisan wieder zur Geltung. Das Wort kommt nämlich von Partei und verweist auf die Bindung an eine irgendwie kämpfende, kriegführende oder politisch tätige Partei oder Gruppe.“, schreibt Carl Schmitt in seiner Theorie des Partisanen, S. 21. 530 Anton Pelinka: Paradigmenwechsel: Lernen aus der Geschichte. Die katholische Kirche Österreichs, der autoritäre Ständestaat und die Zweite Republik. In: Themen der Zeitgeschichte und der Gegenwart, S. 43-55, hier S. 47. <?page no="213"?> 3.3 Schuldgedächtnis: „Hahnlosers Ende“ 209 Später hingegen wurden Priester und Ordensleute für widerständige Predigten oder die Gewährung von Schutz für Verfolgte in Konzentrationslager deportiert und ermordet. Bei einer derart vielfältigen und großen Institution wie der katholischen Kirche verschwimmen die Grenzen zwischen den drei von Aleida Assmann so scharf abgegrenzten Kategorien Opfer, Täter und Zeuge. Dennoch muss aber festgestellt werden, dass nach 1945 von der kirchlichen Gedächtnispolitik eine einseitige Sicht auf die Vergangenheit propagiert wurde: Die Kirche hat sich nach 1945 auf die - mutigen - Opfer des Nationalsozialismus aus ihren Reihen berufen. Die Kirche hat damit aber auch zugedeckt, dass diese Opfer nur zu oft nicht mit der Billigung ihrer Kirche die Verfolgung auf sich nahmen, dass sie sich oft von ihrer Kirche verlassen fühlten. [...] Mit der Übernahme einer Opferrolle für sich selbst hat aber die Kirche tendenziell sich ihrer Verantwortung für die Diktatur vor 1938 entzogen und ebenso auch der Verantwortung des krass opportunistischen Verhaltens der österreichischen Bischöfe im März und April 1938 [...]. 531 Der Pfarrer in „Hahnlosers Ende“ agiert nun insofern politisch und widerständig, als er sich für das Schweigen und somit den Schutz Hahnlosers entscheidet, obwohl er etwaige Folgen bedenkt und weiß: „mit Sicherheit glaubte man einem Geistlichen mehr als einem Partisanen.“ (LT 378) Ihm wird in diesen Passagen, die ein weiterer Stein im nicht fugen- und bruchlosen Mosaik der Transformationen oder eher Metamorphosen des Schuldgedächtnisses des Pfarrers sind, letztlich klar, dass er den Partisanen nicht verraten kann und er wertet seine dahin gehenden Überlegungen als „Niedrigkeit seines Denkens“ (LT 378). Aber auch Hahnloser verrät den Pfarrer nicht, wobei der Name des Partisanen schon seinen Nichtverrat und seine Treue andeutet, denkt man ihn, nahe liegend angesichts der zentralen Figur des Pfarrers, im Kontext der erfüllten Prophezeiung von Jesus Christus an Petrus: „Wahrlich, ich sage dir: In dieser Nacht, ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ 532 Der Name des Partisanen birgt neben „Hahn“ noch den Wortteil „loser“, das heißt ohne. Der ohne Hahn, könnte man sagen, der kein Ver- 531 Ebenda, S. 52. Rolf Hochhuth hat übrigens in seinem Dokumentardrama Der Stellvertreter (1963) die Position des Vatikans und des damaligen Papstes Pius XII., der sich für Zeugen- und damit Mittäterschaft entschied, anstatt gegen die vor den Toren des Vatikans stattfindende Deportation der römischen Juden Stellung zu beziehen, dargestellt und in der Figur des gegen den Holocaust auftretenden Jesuitenpaters Riccardo Fontana eine Gegenposition innerhalb der Kirche akzentuiert. 532 Mt 26,34; vgl. dazu auch die leicht abweichenden Formulierungen der anderen Evangelien Mk 14,30, Lk 22,34 und Joh 13,38. <?page no="214"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 210 leugner und Verräter ist. Andere Deutungsmöglichkeiten von „Hahnloser“ wären: Der ohne Anführer und vielleicht auch der ohne Zugehörigkeit zum Dorf, versteht man den Hahn als Emblem des Dorfes. Allerdings könnte man den Namen Hahnloser mit der in einem separaten close reading analysierten Figur des Mauthausen-Überlebenden Karl Gockel in Bezug setzen, beide tragen den Hahn im Namen und sind widerständig gegen den Faschismus. Dass Hahnlosers Plan nicht nur aus dem Augenblick heraus entstanden, sondern das Ergebnis strategischer Überlegungen hätte sein können, kommt dem Pfarrer nicht in den Sinn. Bedenkt man Carl Schmitts Bemerkung: „Der mit der Waffe kämpfende Partisan bleibt immer auf die Zusammenarbeit mit einer regulären Organisation angewiesen“, 533 so erscheint eine absichtliche Involvierung des Pfarrers 534 und damit eine gewünschte Kooperation mit der „regulären Organisation“ katholische Kirche zumindest nicht unlogisch, wenn auch in der extraliterarischen Realität äußerst ungewöhnlich, half doch die Kirche (vor allem nach 1945) eher den kroatischen Faschisten der Ustaša als den Tito-Partisanen. 535 Es wurde in diesem Kapitel argumentiert, dass der Pfarrer über die von Hahnloser herbeigeführte Konstellation in eine hybride Position gelangt, in der er sowohl Täter und Opfer als auch Zeuge ist. Seine Entscheidung, den Partisanen nicht zu verraten, führt nun zu einer weiteren Hybridisierung, denn sie bringt ihn in einen Zwischenraum, was seine Zugehörigkeit betrifft. Nach der paradoxalen und wohl auch in der Weltliteratur ziemlich seltenen Situation, dass der Mörder das Begräbnis des Ermordeten abhält, 536 wird der Pfarrer von 533 Schmitt: Theorie des Partisanen, S. 23. 534 Schließlich ist auch der überfallene Hof nicht zufällig gewählt, sondern hat eine politische und militärstrategische Markierung: „Der Besitzer des Hofes war ein politischer Funktionär, dessen Aufgabe es war, die Ablieferung der Lebensmittel an das Militär zu kontrollieren.“ (LT 372) Auch der Pfarrer denkt sich: „Es war einleuchtend, daß die Partisanen sich ihn [den NS-Funktionär; G. L.] zum Opfer ausgesucht hatten.“ (LT 373) 535 Hierzu passend ist die Geschichtes des Nachhilfelehrers der Autorfigur in Das Alphabet der Zeit: „Vor seinem Theologiestudium hatte er als Mittelschulprofessor Altgriechisch und Latein unterrichtet und im Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien die Greuel des Partisanenkriegs erlebt. Angesichts des Massakers hatte er sich geschworen, Priester zu werden, falls er überleben und nicht den Verstand verlieren würde, wie er meinem Vater erzählte, und das Gelöbnis schließlich erfüllte.“ In: Roth: Das Alphabet der Zeit, S. 722. 536 Wobei die in „Drei Tote“ beschriebenen regionalspezifischen Trauerrituale inklusive der dreitägigen Totenwache in „Hahnlosers Ende“ fehlen, denn das Begräbnis findet am Tag nach dem Tod statt. (Vgl. LT 381) <?page no="215"?> 3.3 Schuldgedächtnis: „Hahnlosers Ende“ 211 den Gendarmen stundenlang verhört und wie von den Partisanen unter Druck gesetzt. Während des Verhörs findet eine Veränderung des Zugehörigkeitsgefühls statt: „Wem nutzte die Wahrheit? Langsam ergriff er Partei gegen den Kommandanten, den Bürgermeister, die Situation des Zwanges, unter dem alles stand.“ (LT 381) Ab diesem Zeitpunkt ist der Pfarrer weder mit der Kirche, noch mit dem Dorf oder der Staatsmacht verbunden. Es sei an dieser Stelle im Zykluskontext auch auf die Figur des Pfarrers in Der Stille Ozean hingewiesen, die nicht in die Dorfgemeinschaft integriert ist. Dieser Pfarrer ist ein scheuer Außenseiter, der sich hinter seiner Rolle zu verstecken scheint. Ascher denkt sich über ihn, als er einen spontanen Besuch in der Pfarrkanzlei unternimmt: „Quälte ihn etwas? Wenn er litt - woran? Wie konnte ein Mensch in Freiheit den Eindruck eines lebenslänglich Verurteilten machen? “ (DSO 82) Analogien zum Dorfpfarrer aus „Hahnlosers Ende“ sind also deutlich. 537 Birgit Neumann schreibt: Dem autobiographischen Gedächtnis kommt die Aufgabe zu, durch produktive Prozesse der Selektion und Interpretation neue, selbstrelevante Informationen an bestehende Gedächtnisbestände zu assimilieren und auf diese Weise die Grundlage für das subjektive Gefühl der biographischen Kontinuität zu schaffen. 538 Für den Pfarrer gibt es keine Kontinuität, er kann den Bruch, den Knacks in seinem Leben trotz allen Nachdenkens nicht kitten, kann nicht die neuen Inhalte auf produktive Weise an vorgängige Gedächtnisbestände andocken. Aber ein Neuanfang mit einer Identität als Helfer der Partisanen würde ihm ebenso wenig Stabilität verschaffen. Die Verunmöglichung der Konstruktion einer kontinuierlichen und stabilen Identität wird vom Pfarrer mit dem Satz, er habe sich mit seiner Verweigerung einer wahrheitsgetreuen Aussage „den Weg abgeschnitten“ (LT 376- 377), man könnte auch sagen, eine Grenze hinein in einen Zwischenraum überschritten, angesprochen. Die Situation des erzwungenen Mordes kann 537 Wenige Seiten nach der Schilderung von Aschers Besuch beim Pfarrer wird übrigens von einem Mann erzählt, bei dem sich nach einer Kopfverletzung die Persönlichkeit veränderte. Dieser Mann missbraucht ein kleines Mädchen und gibt sich als Priester aus: „Er habe den Pfarrer in St. Ulrich belästigt, indem er ihn häufig besucht und ,lateinisch‘ mit ihm gesprochen habe. Er könne natürlich kein Lateinisch. Schließlich habe der Pfarrer ein Guckloch in seine Tür einbauen lassen, und wenn der Mann angeläutet habe, habe er nicht mehr geöffnet.“ (DSO 87) 538 Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität, S. 154. <?page no="216"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 212 nicht „an bestehende Gedächtnisbestände“ assimiliert werden - sie wird zum Trauma des Täter-Opfers. Das Trauma manifestiert sich als andauernder Fremdkörper im Gedächtnis, als ,verkörperte‘ Erinnerung, die sich einer konstruktiven Verarbeitung entzieht. Angesichts seiner mangelnden Integration destabilisiert es die individuelle Erfahrungskontinuität und Identitätsbildung. Die Erinnerungskrise wird somit zur Identitätskrise. 539 Diese Identitätskrise ist bei einem Geistlichen eine Glaubenskrise, das heißt eine Krise der religiösen Identität. Im Zwischenraum ist kein Platz mehr für Gott, den für Kontinuität sorgenden Bezugspunkt des Pfarrers. Als der Pfarrer vom Gendarmeriekommandanten mit der Leiche des Erschossenen konfrontiert wird, wird er nämlich nicht nur, wie schon eingangs erwähnt, zum Alkoholiker: „Als er erwachte, stellte er fest, daß er nicht mehr imstande war zu beten.“ (LT 380) 540 Der Verlust des Glaubens, die Zerrüttung der religiösen Identität geht einher mit einem im Text mehrfach thematisierten Schweigen, das eher ein Nicht-Berichtenbeziehungsweise ein Nicht-Erzählen-können ist: „Er las zwar die Messe, er taufte die Kinder, er segnete die Toten ein, doch war er verstummt.“ (LT 385) Die Erinnerungs-, Identitäts- und Glaubenskrise des Pfarrers wird von außen nicht wahrgenommen, mit dem letzten Satz von „Hahnlosers Ende“ werden sowohl die Glaubensrituale als inhaltsleere Formeln als auch der angebliche Glaube der Dorfbevölkerung selbst ironisiert: „Daß er vollständig seinen Glauben verloren hatte, fiel niemandem auf.“ (LT 386) Im Zuge der Aufhebung der Identitätsgrenzen bildet sich beim Pfarrer eine besonders ambivalente, nicht-epistemologische („er begriff es nicht“, LT 381) Form des Erinnerns heraus: „Sein Verständnis reichte nur so weit, daß er alles, was geschehen war, nicht leugnete, und trotzdem konnte er mit Überzeugung behaupten, er sei daran nicht beteiligt gewesen.“ (LT 381) Dieser Satz erinnert an einen Aphorismus Friedrich Nietzsches aus Jenseits von Gut und Böse: „,Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis. ,Das kann ich nicht getan 539 Ebenda. 540 Dem Pfarrer geht somit eine wichtige Dimension des Schuldkomplexes verloren, denn Aleida Assmann liest Karl Jaspers Text Die Schuldfrage so, dass es neben der moralischen Schuld eine „metaphysische Schuld [gibt][,] [die] auf Gott bezogen [ist]. Mit dieser Schuld thematisiert sich der Mensch als Mensch in seiner religiösen, anthropologischen und existentialistischen Dimension. Es geht dabei um fundamentale Selbsterkenntnis, Stolz, Demut, Reue, Verwandlung und Wiedergeburt.“ (Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 85) <?page no="217"?> 3.3 Schuldgedächtnis: „Hahnlosers Ende“ 213 haben‘ - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach.“ 541 Aleida Assmann verwendet dieses Nietzsche-Zitat in Der lange Schatten der Vergangenheit in einem Abschnitt zum „Tätergedächtnis“, in dem sie eine „grundlegende Asymmetrie zwischen Opfer- und Tätergedächtnis“ postuliert und „Abwehr“ als charakteristisches Merkmal des Tätergedächtnisses festmacht: Abzuwehren ist alles, was mit dem eigenen Identitätsprofil inkompatibel ist. Während sich erlittenes Leid und erfahrenes Unrecht tief in Körper und Seele einschreiben, wehren die Täter ihre Schuld unter dem Druck des sozialen Affekts der Scham ab. 542 In Erinnerungsräume führt Assmann Nietzsches Aphorismus in einem Kapitel zum Thema „Falsche Erinnerungen“ an und versteht in diesem Zusammenhang Nietzsche als „Theoretiker der Melete, einer Erinnerung, die im Dienste des zielgerichteten, auf Handeln hin gespannten Bewußtseins steht.“ 543 Die Kontrolle über die Erinnerung ist notwendig, um handeln zu können, so lautet eine Interpretation des Aphorismus. Mit einer zweiten Lesart hingegen verortet Assmann Nietzsches Sätze, zusammen mit einem ihrer Meinung nach ähnlichen Montaigne-Zitat, 544 „in der Tradition der Moralistik, deren besonderes Thema einer skeptischen Anthropologie des Menschen in seiner Widersprüchlichkeit ist.“ 545 Diese letztgenannte Variante deckt sich am ehesten mit der ambivalenten Erinnerung von Gerhard Roths Pfarrerfigur. Die für Nietzsches Aphorismus unter Umständen zutreffende binäre Oppositionierung in Täter und Opfer, in Handelnden und Nicht-Handelnden ist jedenfalls nicht zutreffend, da bei der Figur des Pfarrers ja ebenso sehr der Stolz über das Gedächtnis siegt wie das Gedächtnis über den Stolz. Es laufen in besagtem, für den Pfarrer hochsignifikanten Satz die sich nicht ausschlie- 541 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. In: ders.: Werke. Zweiter Teil. München, Wien: Carl Hanser 1999. S. 9-173, hier S. 60. 542 Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 82. 543 Assmann: Erinnerungsräume, S. 265. 544 Assmann zitiert Montaigne leider fehlerhaft, eine Übersetzung des richtigen Zitates lautet aber jedenfalls: „Jeder ehrliche Mensch würde eher den Verlust seiner Ehre wählen als den Verlust eines reinen Gewissens.“ In: Michel de Montaigne: Über Lob, Preis und Ruhm. In: ders.: Essays. Hg. v. Rudolf Noack. Übers. v. J. J. C. Bode. Leipzig: Philipp Reclam jun. 1967 (Reclams UB 327). S. 173-192, hier S. 192. Danke an Pierre- Emmanuel Finzi für diesen Hinweis. 545 Assmann: Erinnerungsräume, S. 266. <?page no="218"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 214 ßenden Figurationen von Opfer und Täter zusammen, der Satz zeigt eben den „Menschen in seiner Widersprüchlichkeit“. 546 Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit verläuft aber beim Pfarrer nicht nur auf einer nicht-logisch kognitiven, sondern auch auf einer sinnlichen und metaphorischen Ebene. In einer Hinwendung zum Hören sucht er Schutz vor dem Blick in das eigene Innen: „Seltsamerweise beschäftigten ihn nur die Geräusche der Außenwelt“. (LT 382) Das Hören wird übrigens generell in „Hahnlosers Ende“ vor dem Sehen privilegiert. So beginnt die Stiefschwester die Erzählung mit der Bemerkung: „Das Auffälligste an unserem Pfarrer war die dicke Brille“. (LT 371) Diese wird ihm von Hahnloser als Erstes weggenommen, der Pfarrer ist somit praktisch blind und auf das Hören beschränkt. Als der Pfarrer, nachdem er seinen ehemaligen Schüler beim Namen genannt hat, die Brille wieder bekommt, heißt es: „Gleichzeitig wurde er vom Stuhl gestoßen. Er sah jetzt wieder alles genau.“ (LT 372) Die Brille spielt hier eine ähnliche Rolle wie beim Bergingenieur in „Drei Tote“, der diese auf der Fahrt zur Bergarbeitersiedlung putzt: „Er setzte sie [die Brille; G. L.] auf, und als ob er mit dem Schärfersehen auch seine unangenehmen Erinnerungen verscheuchte, war er sich sofort im klaren, daß er die Gendarmen nicht verständigen durfte.“ (LT 406) Daniela Bartens schreibt übrigens über Orkus: „Dem Schauen und Hören kommt innerhalb des Zyklus sicher eine Hauptrolle zu“. 547 Man hat es hier also mit einer Werkkonstante Roths zu tun, die im Hinblick auf spezifische Kulturen gelesen werden könnte: „Das System der Schamkultur lebt von Metaphern des Blicks, das der Schuldkultur von Metaphern des Hörens.“ 548 Aber über das Hören ist dem Pfarrer keine Kontaktaufnahme mit dem Außen möglich, das frühere gute Verhältnis zur Haushälterin verschlechtert sich zusehends, und als er „zu einer Erklärung an[setzte], [...] brachte er nur einen so wirren Wortschwall von Entschuldigungen und Lügen hervor, daß er wieder schwieg.“ (LT 382) Dem Pfarrer gelingt es bis zum Ende ohne übermäßigen Alkoholkonsum nicht, zu erzählen, eine stimmige Selbstnarration zu konstruieren, er scheitert an dem Riss in seiner Biographie, den er schon während der Szenen mit Hahnloser in der metaphorisierten Wahrnehmung eines 546 Übrigens zitiert Gerhard Roth selbst in dem Text „Im Reich des Herrn Karl“ Nietzsches Aphorismus und appliziert ihn auf den österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim. (Vgl. Gerhard Roth: Im Reich des Herrn Karl. In: ders.: Das doppelköpfige Österreich, S. 49-55, hier S. 50.) 547 Bartens: Topographien des Imaginären, S. 60. 548 Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 90. <?page no="219"?> 3.3 Schuldgedächtnis: „Hahnlosers Ende“ 215 besonders mit Bedeutung aufgeladenen Details zu erkennen vermeint: „Über die Fensterbank kroch eine Fliege, und der Pfarrer stellte einen Sprung im weißen Lack fest. Es war ein ganz normaler, feiner Sprung, dem Pfarrer aber schien er wie eine Erklärung. Ende, sagte dieser Sprung, es zählt nicht.“ (LT 373) Der Sprung kann für das Auseinanderfallen der bis dahin kohärenten Lebenserzählung des Pfarrers stehen. 549 Was Karl Schlögel in seinem Buch Im Raume lesen wir die Zeit über den globalen Raum nach dem 11. September 2001 schreibt, hat eine Parallele in der subjektiven Selbstwahrnehmung des Pfarrers, die aber in einem größeren gesamtgesellschaftlichen Kontext zu denken ist: Wir sind alle Bewohner eines globalen Raumes, der über Jahrzehnte hinweg produziert worden ist. Nun hat er einen Riß bekommen. Es stellt sich heraus, daß Räume zerfallen können, wenn ,Nervenstränge‘ oder ,Verkehrslinien‘ unterbrochen werden. 550 Der Riss im Raum, das Überschreiten einer Grenze, das Zerbrechen der glatten Oberfläche: All das kann sowohl im übertragenen Sinn (Zeit-Raum, Zwischenraum) - der Pfarrer fällt wie manch anderer seiner Generation zwischen die Fronten, wird in die Schuldspirale hineingezogen, seine Welt zerbricht und er gerät in eine Identitätskrise - als auch im realen Sinn, das heißt auf extraliterarische Verhältnisse Bezug nehmend, verstanden werden: Die Partisanen kommen über eine Grenze, die immer wieder neu in die Karten eingetragen wurde, die Verkehrslinien wurden immer wieder unterbrochen und neu verbunden (wie 1919, 1941, 1945, 1991, 2004, 2007). 551 Diese Verschränkung der Räume und die Realität und Metaphorizität der Grenze zeigen sich in der letzten Begegnung des Pfarrers mit Hahnloser, den er im primären 549 In den hier auf ihre Feinstrukturen analysierten Einzeltexten steht die Erwähnung von Details, die natürlich mit dem angestrebten mikroskopischen Blick zusammenhängt, in einem bisweilen ungünstigen Verhältnis zu den die Erzählung tragenden, notwendigen und entscheidenden Themen. Reinhard P. Gruber hat diesen Schreibstil Roths übrigens recht bösartig persifliert. (Vgl. Reinhard P. Gruber: Vom Dach der Welt. Schicksalsnovellen. Graz: Droschl 1987. S. 60.) Schmidt-Dengler wiederum steht der Detailversessenheit von Roths Texten positiv gegenüber, schreibt etwa über Der Stille Ozean: „Was Roth hier meines Erachtens hervorragend glückte, ist die Herstellung eines komplexen Textgewebes aus unzähligen kleinen Beobachtungen; aus deren Addition ergibt sich erst so etwas wie ein Roman“. (Schmidt-Dengler: Bruchlinien, S. 416.) 550 Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 30. 551 1919 Vertrag von Saint-Germain, 1941 nationalsozialistische Besetzung Jugoslawiens, 1945 Ende Zweiter Weltkrieg, 1991 Unabhängigkeit Sloweniens, 2004 EU-Beitritt Sloweniens, 2007 Slowenien wird Teil der Schengen-Zone. <?page no="220"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 216 Operationsraum der Partisanen, im Wald, „an einer Stelle, wo die Straße von keiner Seite einsehbar war“, plötzlich antrifft: „Verlassen Sie das Dorf“, zischte Hahnloser. „Man ist hinter uns her“, damit verschwand er hinter den Bäumen. [...] Er [der Pfarrer; G. L.] setzte sich an den Wegrand und blickte die staubige Straße hinunter. Die Grenze war nicht weit. Und? Wollte er tatsächlich fliehen? Er spürte, daß sich alles in ihm dagegen sträubte. Was er zu tun wünschte, war, auf das Kommende zu warten. Am selben Abend wurde Hahnloser verhaftet. (LT 384) Es ist für unsere Argumentation an dieser Stelle nicht wichtig, dass im Sommer 1944 eine Flucht von der Südsteiermark nach Jugoslawien vom Regen in die Traufe geführt hätte, weil ja Jugoslawien von Hitlerdeutschland besetzt war, und dass sich Partisanen um eine solche Grenze nicht kümmern. Wichtig ist die Semantisierung dieser Grenze für den Pfarrer und für Hahnloser, der den Pfarrer als Teil der Partisanen betrachtet, ihn deshalb zum Verlassen des Dorfes auffordert und in das „uns“ integriert. 552 Der Sprung, der als Grenze gedeutet werden kann, erhält in der Fensterbankmetapher aber auch die Funktion eines Schlussstrichs: „Ende, sagte der Sprung, es zählt nicht.“ Hier stellt sich die Frage: Was zählt nicht, welche folgenden Handlungen zählen nicht? Um diese Frage zu beantworten, müssen die Figuren des Bestatters Dominik und seines taubstummen Gehilfen ins Spiel gebracht werden, die in „Hahnlosers Ende“ den erschossenen Sohn des NS-Funktionärs abtransportieren und später den Pfarrer aufsuchen. Der Bestatter, der in Der Stille Ozean das Heimatmuseum leitet, war nach dem Wissen des Pfarrers „ein Anhänger der bestehenden Verhältnisse und stand sicher nicht auf der Seite der Partisanen.“ (LT 383) Dominik klärt den Pfarrer aus einem makabren Gefühl ökonomischer Verbundenheit - „Wir sind Geschäftspartner.“ (LT 383) - über das Ergebnis der Obduktion des Erschossenen auf, nämlich „daß ein Ortsbewohner den tödlichen Schuß abgegeben habe. ,Ein Sympathisant‘, ergänzte er.“ (LT 383) Der Pfarrer reagiert schockiert auf diese Information: „Man nahm also an, er deckte einen Dorfbewohner - was wirklich geschehen war, war jedoch so absurd, daß niemand auf die Idee kommen würde, es ihm zuzutrauen.“ (LT 383) De facto deckt der Pfarrer aber tatsächlich einen Dorfbewohner, der mit den Partisanen sympathisiert, die Annahme des Bestatters und der Dorfbewohner („Man nahm also 552 Eine (mutmaßlich) von der Stieftante getroffene Festellung verweist explizit auf diesen Übertritt: „Die Verwandlung [sic! ], die mit ihm geschehen war, registrierte er nicht einmal selbst: Er hatte die Furcht verloren.“ (LT 384) <?page no="221"?> 3.3 Schuldgedächtnis: „Hahnlosers Ende“ 217 an“) ist korrekt. Jedoch ist für eine gänzliche Alternativdeutung von „Hahnlosers Ende“ nicht der Bestatter selbst, sondern sein Gehilfe von Interesse. Dieser Gehilfe macht in einem Text von Landläufiger Tod eine außergewöhnliche Reise durch Zeit und Raum und ist, wie es im Titel dieses Textes heißt, „Zwischen Himmel und Erde“ zu lokalisieren. Über ihn wird eine übernatürliche, vielleicht nicht unbedingt christliche, Ebene in den Text eingeführt: Der Gehilfe [...] hatte den Pfarrer schon beim Betreten mit tiefem Entsetzen angeblickt, dann waren Tränen über sein Gesicht gelaufen. ,Weshalb weinst Du? ‘ fragte der Bestatter, aber der Gehilfe schüttelte seinen Kopf, nahm einen Stuhl und drehte sich zur Wand. (LT 383) Wir haben es hier mit einer variierten Fortschreibung des Motivs des blinden Sehers zu tun, der bei Roth auf der Folie des Hörens und Sehens in „Hahnlosers Ende“ als taubstummer Leichenbestattergehilfe auftritt. Marianne Baltl schreibt Bezug nehmend auf die besondere Rolle von Bildern für den „Augenmensch[en] Roth“: „Die Dichotomie von Sehen und Sprechen ist allen Arbeiten Roths eingeschrieben.“ 553 Ein stummer Seher ist also aus werkkontextueller Perspektive naheliegend. Urbild des blinden Sehers ist Teiresias, eine Figur, die sowohl in der antiken Dichtung (zum Beispiel bei Homer, Sophokles, Euripides) als auch in der Literatur späterer Epochen (zum Beispiel bei Dante, Milton, T. S. Eliot) aufgefunden werden kann. 554 Gherardo Ugolini stellt zu Teiresias - für unseren Zusammenhang korrespondierend mit der Figur des taubstummen Gehilfen - fest, „daß Teiresias der Träger eines höheren Wissens und einer höheren Religiosität ist, wenn nicht einer Wahrheit, die unmittelbar den Göttern entspringt.“ 555 Auffällig ist weiters eine Analogie mit dem elften Gesang der Odyssee, in dem der Abstieg des Odysseus in die Unterwelt erzählt wird: „Die Toten, denen Odysseus begegnet, sind stumm; sie haben mit der Sprache auch die Erinnerung verloren.“ 556 Odysseus schlachtet also Kuh und Widder, mit deren Blut er die Totengeister wieder zum Sprechen bringt, wobei ihm als erster Teiresias erscheint und ihm sein Schicksal offenbart. 553 Marianne Baltl: Die Inspiration der Bilder. Zur Biographie Gerhard Roths. In: Baltl/ Ehetreiber: Gerhard Roth, S. 325-343, hier S. 326. 554 Vgl. dazu Gherardo Ugolini: Untersuchungen zur Figur des Sehers Teiresias. Tübingen: Gunter Narr 1995 (Classica Monacensia 12; zugl. Diss. München 1993/ 94). 555 Ebenda, S. 24. 556 Assmann: Zur Metaphorik der Erinnerung, S. 26. <?page no="222"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 218 Der kulturhistorisch so vielfältig kontextualisierbare Leichenbestattergehilfe erkennt also sofort, was mit dem Pfarrer geschehen ist. Die Reaktion dieses steirischen Teiresias 557 bietet nun für den Rezipienten zwei Deutungsmöglichkeiten: Zum einen könnte der Gehilfe im Pfarrer einen Mörder erkannt haben, zum anderen aber könnte der Gehilfe verstanden haben, dass der Pfarrer - möglicher ,gothic turn‘ des Textes - tot ist. Es könnte nicht nur beim Wunsch zu sterben geblieben sein, sondern der Pfarrer könnte tatsächlich gestorben sein und im Sprung im Fensterbrett sein eigenes und „Hahnlosers Ende“ gelesen haben. Der nicht ohne Grund als Gehilfe des Leichenbestatters auftretende Seher bricht in Tränen aus, weil der Pfarrer ein Untoter ist, der auf ewig in der von ihm nicht losgetretenen Schuldspirale eingeschlossen bleiben muss. 558 Im Zweiten Jugoslawien waren Partisanenromane ein eigenes literarisches Genre, das vor allem der Konstruktion einer homogenen nationalen Identität dienen sollte. Im Österreich Mitte der 1980er Jahre hingegen hätte die positive Repräsentation kommunistischer Partisanen so subversiv gewirkt wie in Jugoslawien eine negative Partisanendarstellung. „Hahnlosers Ende“ bietet aber im Grunde keine positive Darstellung der Partisanen. Es ist der Dorfbewohner Hahnloser, der den nicht wie der NS-Funktionär für das System arbeitenden Pfarrer mitschuldig macht und ihm keine Wahl lässt. Die staatliche Macht, so zynisch sie agieren mag, ist wie schon in „Drei Tote“ nur eine reagierende, keine die Ereignisse im Mikrokosmos initiierende Kraft. Ein grundlegender Unterschied zu „Drei Tote“ ist aber, dass Hahnloser Partisan und Dorfbewohner ist, die homogene Gruppenfront also in Wahrheit brüchig ist. Die Formulierung der Stiefschwester vom „jugoslawische[n] Partisanentrupp“ (LT 371) ist also nicht exakt, es wäre wenn ein jugoslawisch-österreichischer, ist aber ehestens, weil es Österreich 1944 genauso wenig wie Jugoslawien rea- 557 Wolfgang Tietze rekapituliert die Geschichte von Teiresias in seinem Aufsatz zu den Nebenwerken der Archive des Schweigens und erwähnt, dass „Historis“, die „Wissende“, die Tochter Teiresias’ ist. (Wolfgang Tietze: Vergessene Sinne und verlorene Madonnenuhren. Zu den Büchern im Umkreis der Archive des Schweigens. In: Wittstock: Materialien, S. 195-206, hier S. 195-196.) Auch Gerhard Roth erwähnt Teiresias, und zwar in seinem 2009 erschienenen Essayband Die Stadt in dem Text „Nachtschrift. Das Blindeninstitut in Wien“. (Vgl. Gerhard Roth: Die Stadt. Entdeckungen im Inneren von Wien. Frankfurt/ Main: Fischer 2009. S. 317.) 558 So könnte die oben zitierte „Verwandlung“ des Pfarrers auch gemeint gewesen sein, denn schließlich sitzt er in der Nacht nach der Begegnung mit Hahnloser im Friedhof auf einem Grabstein. (Vgl. LT 384) <?page no="223"?> 3.3 Schuldgedächtnis: „Hahnlosers Ende“ 219 liter gab, ein kommunistischer Partisanentrupp. Um solche terminologischen Differenzierungen kümmern sich allerdings Roths Dorfbewohner und der Gendarmeriekommandant nicht, der zum Pfarrer sagt: „Ich bin mir sicher, daß jemand aus dem Dorf mit den Jugoslawen zusammengearbeitet hat. Woher sollten sie wissen, daß man von Ihrem Fenster aus den Hof sehen kann? “ (LT 379) 559 Die Verbindungen des Dorfes zu den Partisanen beschränken sich aber nicht auf einzelne Akteure, das ganze Dorf ist, wie schon in „Auf dem Schneeberg“ thematisiert, zwischen Partisanen und Nationalsozialisten changierend, wie aus der Bemerkung zum Begräbnis des vom Pfarrer Erschossenen ersichtlich wird: „Die Teilnahme der Bevölkerung war nicht sehr groß gewesen, man befürchtete wohl, sich weitere Schwierigkeiten mit den Partisanen einzuhandeln.“ (LT 381) Die Darstellung des Dorfes bei Gerhard Roth erfolgt nun auf einer literarhistorischen Folie, die aufgrund ihrer homogenisierenden Darstellungstendenzen das nationalsozialistische Äquivalent zum kommunistischen Partisanenroman darstellt und vorgab, das gesellschaftliche Ganze abzubilden. Der Dorfroman hat sich dieser Methode bedient bei der verklärenden Darstellung der geschlossenen Dorfgesellschaft als Modell nationaler Einheit. Kein Wunder, daß die Nationalsozialisten ihn als Propagandainstrument ihres völkischen Reichsgedankens benutzten. 560 „Hahnlosers Ende“ ist nicht nur eine Antithese zum Genre des traditionellen Dorf- und Heimatromans, sondern thematisiert mit der Figur Hahnloser, die aus den Dorfzwängen ausbricht und den vorgegebenen Lebensweg verlässt, im Gegensatz beispielsweise zu „Drei Tote“ auch Wahlfreiheit und alternative Lebensentwürfe, die im Anti-Heimatroman negiert werden, in dem das Dorf „eine Anti-Gemeinschaft [ist], ein soziales Gefängnis, in dem die Unterdrückten hoffnungslos in der von Geburt an festgelegten Rolle gefangen sind.“ 561 559 Nur am Rande sei hier angemerkt, dass diese Vermutung insofern unlogisch ist, als man ja von der Außenansicht eines Gebäudes auf den Ausblick schließen kann und einem Überfall der Partisanen sicher eine genaue Beobachtung der lokalen Gegebenheiten vorangegangen sein müsste. Möglich ist allerdings, dass der Kommandant und sein Autor das wissen und es hier um eine Erhöhung des Drucks auf den Pfarrer geht, den der Kommandant „das ganze Gespräch über [...] gemustert“ (LT 379) hatte. 560 Cramer: Das Gedächtnis ist die letzte Instanz von Moral und Recht, S. 113. Gerade am Kleinräumigen, am Dorf oder der Kleinstadt, lassen sich (historisch bedingte) Konfliktpotentiale besonders gut darstellen, wie schon Hans Lebert (Wolfshaut) und Gerhard Fritsch (Fasching) gezeigt haben. 561 Zeyringer: Innerlichkeit und Öffentlichkeit, S. 229. <?page no="224"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 220 Roths literarisches Aufzeigen der Brüchigkeit vorgeblich geschlossener Dorfstrukturen wird auch von Joanna Drynda auf der Genre-Folie des Heimatromans wahrgenommen. Drynda versteht Gerhard Roths literarische Arbeiten zur Südsteiermark als Reaktion auf den schönen Schein „des Dorf- und Heimatromans, der vorgibt, das Ganze abzubilden und eine wahre Alternative anzubieten, obwohl er nur imstande ist, eine künstlich verklärende Erscheinung der geschlossenen Dorfgemeinschaft zu entwerfen.“ 562 Die Beteiligung von Dorfbewohnern am Widerstand der Tito-Partisanen zerstört also das Bild eines homogenen ,deutschen‘ Dorfes, das feindlichen ,Jugoslawen‘ gegenübersteht, nachhaltig. Roth will aber im Gegenzug nicht an einem einseitig positiv besetzten Partisanenmythos mitschreiben. Er stellt die Partisanen als kompromisslose, brutale Gruppe dar, deren Mitglieder tendenziell negativ, nämlich gewalttätig und roh, beschrieben werden: Als der Pfarrer mit dem Schuss zögert, „hörte er, wie Hahnloser ihm drohte, zuerst seine Haushälterin zu töten und dann die Bewohner des benachbarten Hofes, wenn er sich dem Befehl widersetzte.“ (LT 373) Als er schließlich den Bauernsohn erschießt, „hörte der Pfarrer sie [die Partisanen; G. L.] lachen.“ (LT 374) Das kann eine national oder ideologisch gefärbte Zuschreibung (aus der Dorfperspektive) sein, das kann jedoch auch der Versuch sein, eine von Kriegserfahrungen geprägte Mentalität zu porträtieren, denn: „Kampf und Krieg hemmen und verhindern Mitleid und Schmerz.“ 563 Jedoch klammert Sibylle Cramer die anderen Gewaltakteure (Nationalsozialisten, Ustaša-Freischärler, verschiedene Besatzungsmächte sowie manche Dorfbewohner in Friedenszeiten) aus, wenn sie verallgemeinernd schreibt, das Dorf sei „Schauplatz einer terroristischen, vom anarchischen Gewaltgesetz der Partisanen regierten Geschichte“. 564 Die Figur Hahnloser selbst ist keineswegs eindimensional, sondern ambivalent wie ihr Plan mit dem Pfarrer. Als Rezipient kann man aufgrund des scheinbar freien, offenbar keinem Befehl von oben Folge leistenden, in keinen erkennbaren Machtkontext eingebetteten Agierens Hahnlosers davon ausgehen, dass er der Anführer der Partisanen ist, obwohl es im Text keinen direkten Hinweis auf einen solchen Sachverhalt gibt und hier vielleicht auch ein 562 Drynda: Schöner Schein, unklares Sein, S. 99. 563 Waltraud Kannonier-Finster, Marlene Weiterschan und Meinrad Ziegler: Gespräche über die NS-Vergangenheit. In: Ziegler/ Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis, S. 87-192, hier S. 126. 564 Cramer: Das Gedächtnis ist die letzte Instanz von Moral und Recht, S. 116. <?page no="225"?> 3.3 Schuldgedächtnis: „Hahnlosers Ende“ 221 Idealtyp eines ,freien Partisanen‘ vorliegt. Im Unterschied zu vielen anderen Figuren im Zyklus ist Hahnloser aber jemand, der nicht nur denkt, sondern auch - bei Bedarf rücksichtslos - handelt. Die Figur des Pfarrers wiederum verweist auf die Fragwürdigkeit eines Denkens in binären Oppositionen, in sich gegenseitig ausschließenden Vorstellungen von Opfern, Tätern und Zeugen, von Partisanen, Nationalsozialisten, Dorfbewohnern und einer neutralen Kirche. Gerhard Roth zeigt anhand dieser Figur, wie sich „das Kausalsystem von Schuld und Sühne, Tatursache und Strafwirkung, kurzum: die Logik von Recht und Ordnung auflöst.“ 565 Mit seiner doppelten Hybridisierung wird der Pfarrer zur paradigmatischen Figur einer auf Simplifizierungen verzichtenden Aufarbeitung der Vergangenheit. 565 Ebenda, S. 118. Nach einer Lektüre von „Hahnlosers Ende“ wirkt folgende Bemerkung Roths gegenüber Daniela Bartens umso überraschender: „In den ,Archiven des Schweigens‘ wird sozusagen die Schuld gezeigt, aber die die sogenannte historische Methode, mit der Schuld festgestellt wird, wird nicht hinterfragt.“ (Bartens: Topographien des Imaginären, S. 65.) In Bezug auf das vorliegende Einzelbeispiel decken sich Autormeinung und Fremdinterpretation - zugunsten des Autors - also nicht. <?page no="226"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 222 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis Die Erinnerungserzählung der Tante Franz Lindners in „Auf dem Schneeberg“ kann, darauf wurde bereits hingewiesen, im Familiengedächtnis verortet werden; im inhaltlichen Zentrum dieser Erinnerungen steht aber nicht die Familie Lindners, sondern das Dorf. Tatsächlich gilt für alle Erinnerungserzählungen von Verwandten Lindners, dass sie nur quasi ,nebenbei‘ auch Familiengeschichte tradieren, der Familienaspekt also nicht in den Mittelpunkt der Erzählung gerückt wird. Dennoch aber bildet die Familie den sozialen Rahmen, in dem der kommunikative Akt des Erinnerns stattfindet. Und dieser Rahmen bedingt, was und wie erinnert und weitererzählt wird, denn für Familienerinnerungen gilt, dass „unter den Erfordernissen von Kohärenz, Identität und wechselseitiger Loyalität jedes Mitglied dazu verpflichtet [ist], die ,gute Geschichte‘ der Familie aufrechtzuerhalten und fortzuschreiben.“ 566 Da die Familie aber „eine unauflösliche Einheit“ 567 ist, was sie von allen anderen sozialen Gruppen unterscheidet, kann man zwar unangenehmen Familienerinnerungen nicht vollständig entkommen, jedoch können diese (unbewusst) umgeschrieben werden, da die Akteure für die eigene Identität so wichtig sind: „Nirgendwo sonst betrachtet man jedes Gruppenmitglied mehr als ein ,in seiner Art einziges‘ Wesen, das man nicht einmal in Gedanken durch ein anderes ersetzen könnte.“ 568 Die Abstufungen in der Wahrnehmung der historischen Rolle von Familienmitgliedern führten Welzer, Moller und Tschugnall zum Begriff der „maximalen Diskrepanz“, der den gravierenden Unterschied zwischen dem, wie man ein Familienmitglied in der Gegenwart erfährt, und der möglichen Rolle, die diese Person in der Vergangenheit innehatte, bezeichnet. 569 In diesem Kontext der familiären ,Schönfärbung‘ von Verwandtenbiographien ist die große Häufigkeit von Erinnerungserzählungen in Familien besonders wichtig. Die Familie ist der paradigmatische Ort für das Erinnern und dieser Ort muss nicht mit den größeren gesellschaftlichen Gedächtnisnarrativen vernetzt sein. Gerhard Roth lässt nun Tante, Stiefschwester und Vater Lindners ihrem Verwandten von den Erlebnissen ihrer Jugend erzählen, stellt 566 Welzer, Moller und Tschugnall: „Opa war kein Nazi“, S. 24. 567 Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 224. 568 Ebenda. 569 Vgl. Welzer, Moller und Tschugnall: „Opa war kein Nazi“, S. 24. <?page no="227"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 223 also einen familiären Bezugsrahmen her. Auf diese Weise bildet er zum einen typische, identitätsstiftende, das Geschichtsbewusstsein des Adressierten formierende Situationen des Erinnerns ab, obwohl gerade er selbst bei seinen Recherchen in der untypischen Situation des von außen kommenden Zuhörers war. Zum anderen ist hier aber die Position Lindners als Adressat der Erinnerungen mitzudenken, der aufgrund seiner sekundären Zuverlässigkeit sogar seinen Verwandten vergleichsweise kritisch gegenüber steht. Trotz der vielfältigen Narrative aus dem Familiengedächtnis ist die Erzählerfigur Franz Lindner aber nicht vollständig über die eigene Familiengeschichte informiert. Während als Eckpfeiler des familiären und (dörflichen) Gedächtnisses Vater und Tante fungieren, weiß Lindner über eine zentrale Figur seines Lebens nur diffuse Informationen zu geben, denn: „Meine Mutter kenne ich nicht, auch kann mir niemand Mitteilung darüber machen, wer sie ist.“ (LT 247) Dies ist nun alleine schon wegen der biologischen Gegebenheiten als auch aufgrund kultureller Verhaltensmuster recht ungewöhnlich. 570 Gängiger sind Fälle, in denen der Vater verschwindet oder unbekannt ist, man denke zum Beispiel an Thomas Bernhard, dessen Herbeischreibungen des „Herkunftskomplexes“ bei einer autorzentrierten Lesart davon abgeleitet werden können, dass er seinen Vater nicht kannte. Dementsprechend gehen Bernhards Sohn-Figuren mit dem familiären Erbe um: In Verstörung fürchtet der Fürst, dass sein Sohn die Burg Hochgobernitz sofort nach seinem Tod abstoßen wird: „,Mein Sohn‘, sagte er, ,wird aus England zurückkommen und Hochgobernitz vernichten. [...] Er wird möglicherweise versuchen, das ganze Hochgobernitz zu verkaufen. Das wird ihm nicht gelingen, und er wird es zerstückeln.“ 571 Ähnlich verfahren die Erben auch in Ungenach und in Auslöschung, in dem Murau das Familienschloss Wolfsegg der Israelitischen Kultusgemeinde schenkt. Während nun Lindners Freund Alois Jenner nach dem Tod des Vaters ebenfalls das Sägewerk loswerden möchte, ist die Konstellation bei Lindner eine andere. Er hat den Beruf des Vaters übernommen und 570 Aber natürlich nicht unbekannt, so ist in der griechischen Mythologie Athene dem Kopf des Zeus entsprungen und deshalb eine mutterlose ,Kopfgeburt‘, jedoch hatte sie eine Mutter, und zwar Metis, die Göttin der Weisheit, die Zeus aus Angst vor ihm möglicherweise gefährlich werdenden Nachkommen verschluckte. Es passt zu Roths Männerwelt-Buch, dass bei ihm die zentrale Vaterfigur einen Sohn, und nicht wie in der Mythologie eine Tochter, hat. 571 Thomas Bernhard: Verstörung. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1969 (Bibliothek Suhrkamp 229). S. 193. <?page no="228"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 224 hilft diesem bei den Imkerarbeiten. Vielleicht wird mit der Figur der Mutter deshalb weniger das Problem der Fortführung des Erbes, als des retrospektiven Blickes darauf thematisiert. Jedenfalls gibt es im Dorf eine Reihe von Gerüchten dazu, wer Lindners Mutter ist: Die einen behaupten, sie sei eine Fremde gewesen, die anderen halten sie für tot. (Mein Vater, der mir als Kind versprochen hat, mich, sobald ich erwachsen würde, aufzuklären, schweigt noch verbissener als zuvor.) Einmal kam mir zu Ohren, daß es die Sonntagsorganistin sei, doch war diese die Schwester meines Vaters. (Trotzdem ist es wahrscheinlich, daß sie meine Mutter ist.) (LT 247) Lindner könnte also ein Inzestkind sein und wäre dadurch automatisch an den äußersten Rand der Dorfgesellschaft gedrängt, die selbstverständlich davon wissen würde. Aber hier ist Lindner im ,toten Winkel‘. Er weiß zwar vieles über andere Dorfbewohner, kennt ihre Biographien, Ängste, Hoffnungen und innersten Gedanken, von sich selbst, seiner Familiengeschichte und den sich daraus ergebenden Verstrickungen in die Dorfgeschichte hat er aber nur vage Vorstellungen: „[D]es öfteren wurde sie in Zusammenhang mit einem Verbrechen genannt, über das aber nichts Näheres zu erfahren ist.“ (LT 248) Wichtig hierbei ist vor allem, „daß sie kein Opfer, sondern eine Mittäterin und daß das Verbrechen ein schweres gewesen sein muß.“ (LT 248) Aufgrund der Unbeliebtheit, ja Verrufenheit der Sonntagsorganistin, die sich regelmäßig in der Stadt mit Männern eingelassen haben soll, als „verrückt“ (LT 248) galt und für die eine „völlige [...] Mißachtung der Umgangsformen“ (LT 247) typisch war, zeigt sich Lindner überrascht, dass so viele Dorfbewohner zu ihrem Begräbnis kamen: „Sie kamen wohl [...] deshalb, [...] weil über das Verbrechen ein geheimer Zusammenhang zwischen ihr und der Gemeinde bestanden hat (eine Verbindung durch die gemeinsame Schuld).“ (LT 248) Wie bei „Hahnlosers Ende“ haben wir es hier also mit einem Schuldgedächtnis zu tun, das aber kein Ventil und deshalb kein Narrativ findet, sondern hermetisch abgeschlossen ist. Im Roman wird dieses Verbrechen nicht aufgeklärt, trotzdem aber scheint es wie ein dunkler Schatten über Lindner und seiner Familie zu liegen. 572 572 Neben dieser zentralen Schuldthematik gibt es weitere Traditionslinien von der Sonntagsorganistin zu Lindner: Sie spielte am Sonntag, wie ihr Name schon sagt, in der Kirche die Orgel, ist also wie Lindner mit seinem Bibelplan in einem religiösen Bezugsrahmen angesiedelt, sie gilt als verrückt, wie auch Lindner, und ist, ebenfalls wie Lindner, im Dorf eine Außenseiterin. <?page no="229"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 225 Die Verunklarung der Verwandtschaftsverhältnisse beschränkt sich aber nicht auf Lindners Mutter, die übrigens eine dubiose Schwester hat (vgl. zum Beispiel LT 370, DLT 52-53, DLT 71-72), sondern erstreckt sich auf die gesamte Familie Lindners. In den Ausführungen der Tante in „Auf dem Schneeberg“ bleibt unklar, ob es sich bei ihr um eine Blutsverwandte handelt oder ob ihr verstorbener Mann der Bruder von Lindners Vater war. Ihre Formulierungen weisen eigentlich auf keine der beiden Möglichkeiten dezidiert hin (vgl. LT 102-103, 105, 107). Lindners Vater sagt wiederum zu Ascher: „Meine Schwester hat sogar behauptet, daß Sie genauer Bescheid wüßten als die betreffenden Familien ...“ (LT 114) Dann wäre also die Tante potentiell die Schwester der Sonntagsorganistin - die ja wie gesagt ebenso eine Schwester hat wie die Tante eine Stiefschwester. Sicher scheint nur, dass Lindner keine Geschwister hat. Aber nicht nur Lindners Familienstammbaum ist kaum zu entschlüsseln, sogar Alois Jenners Familienverhältnisse beziehungsweise Familiengeschichte, die übrigens eine Geschichte der Gewalt ist, ist äußerst verwirrend beschrieben. So hatte die erste Frau des Großvaters von Jenners Onkel, das heißt des Mannes der Schwester von Jenners Vater, ein Verhältnis mit Jenners Urgroßvater. Der Großvater von Jenners Onkel hat, nachdem er davon erfahren hat, seine Frau erschossen, Jenners Urgroßvater aber verschont, und schließlich nochmals geheiratet. Der Konflikt wurde zwar beigelegt: „Erst seit die Schwester meines Vaters meinen Onkel geheiratet hat, besteht Verwandtschaft zwischen beiden Familien und damit Grund, nicht mehr darüber zu sprechen.“ (LT 273) Offen aber bleibt, ob die zweite oder erste Frau des Großvaters von Jenners Onkel nun dessen Mutter ist, was nicht unerheblich ist, bedenkt man, dass bei ersterem Fall der Urgroßvater der Frau des Onkels der leibliche Großvater ihres Mannes sein könnte. Eine ähnlich paradoxe Familienkonstellation, die jedoch in der außerliterarischen Realität nicht möglich scheint (aber biologisch möglich ist), gibt es auch in dem Märchen „Zwillinge“ zu finden, das mit dem Satz beginnt: „Eine Mutter gebar Zwillinge, die verschiedene Väter hatten.“ (LT 648) Auf die sich daraus ergebenden Verwicklungen muss hier nicht eingegangen werden, es genügt festzustellen, dass Der Tod der Sonntagsorganistin steht übrigens im Zentrum der Engführung von Landläufiger Tod, nämlich der gleichzeitig erschienenen Dorfchronik zum „Landläufigen Tod“. Bemerkenswerterweise heißt es in Landläufiger Tod, dass ihr Begräbnis „entgegen unseren sonstigen Gewohnheiten im Morgengrauen stattfand“ (LT 248). Die Analogien zu Korradow, dem jungen Bergarbeiter und Hahnloser, anderen Outcasts des Dorfes, sind offensichtlich. <?page no="230"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 226 Roth mit dieser Thematisierung der Verwirrung der Verwandtschaftsverhältnisse die Verwandtschaftsrealität eines kleinen Dorfes, in dem jeder mit jedem auf diese oder jene Weise verwandt oder verschwägert ist, zum Teil ironisch spiegelt. Für die Erzählerfigur Franz Lindner hingegen muss die in dem Text „Meine Kindheit (Im Auftrag von Primarius S. verfaßt)“ gemachte, im Kontext der oben ausgeführten Schuldproblematik als ambivalent lesbare Bemerkung ausreichen, „daß ich keine Mutter hatte, was mir jedoch mit Sicherheit noch grauenhaftere und ausweglosere Erfahrungen erspart hat.“ (LT 540) Abgesehen nun von diesen familiären Verwirrungen ist das Familiengedächtnis in den beiden im Folgenden analysierten Texten ein Kriegsgedächtnis, eigentlich ein Kriegsendegedächtnis. Denn beide Erzählungen spielen, wie es ja auch schon im Titel der Geschichte der Tante heißt, „in den letzten Kriegstagen“ (LT 441), wobei das in „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ auf „Anfang Mai“ (LT 477) 1945 präzisiert wird. Die Texte sind also auch Einschreibungen in einen Diskurs, der sich um die Bedeutung und Deutungen des 8. Mai 1945 formiert hat: Für das, was am 8. Mai 1945 geschah, existiert ein ganzes Arsenal von zeitgenössischen Begriffen. Wer von Befreiung sprach, verstand sich als Opfer, wer von Niederlage sprach, hielt seine Loyalität zum besiegten Regime aufrecht. Im einen Falle war man der Zukunft, im anderen der Vergangenheit zugewandt. Das Wort „Niederlage“ erscheint problematisch, weil es einen ungebrochenen Willen zum Sieg bezeugt, das Wort „Befreiung“ erscheint problematisch, weil es mit einem Streich Täter in Opfer verwandelt. 573 Wie in „Letzte Kriegstage“ und „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ am Diskurs zum Kriegsende 1945 mitgeschrieben wird, wird neben den Narrativen des Familiengedächtnisses, roman- und zyklusübergreifenden Aspekten sowie dem Symbolgehalt dieser Texte Thema der folgenden Analysen sein. 573 Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 98. <?page no="231"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 227 3.4.1 „Letzte Kriegstage“ In „Letzte Kriegstage“ erzählt Franz Lindners Tante, wie ihr südweststeirisches Dorf zu Kriegsende im Jahr 1945 nacheinander von Tito-Partisanen, Wehrmacht, Bulgaren, SS und schließlich der Roten Armee eingenommen wird. Zentraler Ort der Handlung ist der Ballsaal des Dorfes, in dem die Tante schläft und der von den verschiedenen Gruppierungen als Lager, Pferdestall oder Kommandostelle benutzt wird. Der Text wird auf die Spezifika der Perspektive der Tante, das vielfältig codierte Prinzip der Wiederholung, die in dieser Wiederholung gefangene Figur des Gendarmeriekommandanten sowie - mit Blick auf den gesamten Roman - die historische Aufladung von Orten untersucht, letzteres gemäß der Fokussierung von Karl Schlögel: „Es geht im Grunde um einen einzigen Gedanken, daß wir nämlich ein angemessenes Bild von der Welt nur gewinnen können, wenn wir beginnen, Raum, Zeit und Handlung wieder zusammenzudenken.“ 574 Es wurde schon in der Analyse von „Hahnlosers Ende“ angesprochen, dass die Figur der Tante im Laufe von Landläufiger Tod an Glaubwürdigkeit verliert. In „Letzte Kriegstage“ heißt es zu Beginn: „Ich war damals im Dienst des Pfarrers und wohnte im Ballsaal, da der Pfarrer es so wünschte“ (LT 441- 442). 575 Weder „Hahnlosers Ende“ noch „Letzte Kriegstage“ sind also kongruent mit der Lebensnarration der Tante in „Auf dem Schneeberg“, nach der sie ja erst im Jahre 1948 in den Dienst des Pfarrers getreten ist, während sie in den beiden anderen Texten schon während des Krieges seine Haushälterin ist. 576 Die erzählten Ereignisse greifen also ebenso ineinander - die Tante ist irgendwann Haushälterin des Pfarrers gewesen -, wie sie sich widersprechen, denn entweder war die Tante während des Krieges beim Pfarrer oder nicht. Eine Naturalisierung des Romans, die mit Fokus auf multiperspektivisches 574 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 24. 575 Dass die Tante im Ballsaal schlafen soll, ist eine surrealistische Überzeichnung [die auf sexuelle Ängste des Pfarrers verweisen könnte, denn nach seinem Tod schläft sie im Pfarrhaus (vgl. LT 454)] und gleichzeitig ein erzähltechnischer Kniff, da es für die Kriegsparteien nahe liegend ist, den größten Saal des Ortes besonders zu beachten oder zu benutzen. 576 In Der Stille Ozean wird erwähnt, dass die Witwe Egger nach dem Krieg als „Köchin im Pfarrhaus gewesen“ (DSO 97) sei, an anderer Stelle sagt die Witwe Egger: „Einmal habe ich im Pfarrhof gearbeitet, da ist der Bischof gekommen.“ (DSO 166) <?page no="232"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 228 Erzählen auf die Frage von Konsonanz und Dissonanz der fiktiven Fakten abzielt, läuft in Anbetracht solcher dissonanten Konsonanzen ins Leere, sie führt ins Erzählvakuum. Denn wie ließe sich im Kontext von „Hahnlosers Ende“, außer man greift die Idee vom untoten Pfarrer wieder auf, folgende Szene aus „Letzte Kriegstage“ erklären: Ich machte das Arbeitszimmer auf und fand den Pfarrer am Schreibtisch sitzend mit einem geöffneten Auge hinter den Brillengläsern, das andere Glas war blutverschmiert. In seiner Stirn war ein kleines schwarzes Loch, ein Teil des Hinterkopfes fehlte, statt dessen klaffte ein Krater im Schädelknochen. [...] Der Pfarrer saß da wie eine ausgestopfte Figur. Zum erstenmal verstand ich, was das Wort ,Nichts‘ bedeutet. (LT 453) Anhand solcher Passagen zeigt sich, dass von den Einzeltexten ausgehende Lektüren von Landläufiger Tod dem Roman am besten gerecht werden, dass eine zur widerspruchsfreien Naturalisierung des Romanganzen neigende Lesart bisweilen die ästhetische Qualität und erinnerungskulturelle Referentialität dieser Texte auflösen kann. Es ist für eine Deutung dieser Passage nicht ausschließlich zu bedenken, dass in einem anderen Text der Pfarrer den Krieg überlebt. Genauso wichtig ist, worauf ein toter Pfarrer in diesem Text verweist, nämlich darauf, was uns alle nach dem Tod erwarten könnte: „Nichts“. 577 Dennoch soll aber berücksichtigt werden, dass auf der Ebene der Vernetzung von Details Pointen gesetzt sind, wie das Begräbnis dieses, des „Letzte Kriegstage“-Pfarrers: „Der russische Hauptmann ordnete an, ihn ohne Aufsehen zu beerdigen, und ging zum nächsten Punkt über.“ (LT 454) In „Hahnlosers Ende“ hat ja der Pfarrer den von ihm Ermordeten selbst eingesegnet. Neben der Glaubwürdigkeit der Tante als Erzählerfigur zweiter Ordnung 578 ist deren Perspektive von Interesse. Für diesen Text gilt, dass, wie meistens in Landläufiger Tod, in erster Linie Männer handeln. Erzählt werden die Geschehnisse hier aber aus der Perspektive einer involvierten Zuseherin. Ziegler und Kannonier-Finster beschreiben nun weibliches Erinnern als ein besonders im Privaten verhaftetes: 577 Vielleicht liefern aber einige Verse aus dem Gedicht „Den Nachgeborenen“ von Bertolt Brecht eine bessere Interpretation: „Wenn die Irrtümer verbraucht sind / Sitzt als letzter Gesellschafter / Uns das Nichts gegenüber.“ In: Bertolt Brecht: Den Nachgeborenen. In: ders.: Gedichte 3. Gedichte und Gedichtfragmente 1913-1927. Berlin, Weimar: Aufbau; Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1993 (Bertolt Brecht Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe 13). S. 189-190, hier S. 189. 578 Wenn wir Lindner, wie es die erzähltechnische Konstruktion dieses Textes nahe legt, als Erzählerfigur erster Ordnung verstehen. <?page no="233"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 229 Frauen scheinen sich der Macht des institutionellen Erinnerns am ehesten entziehen zu können. Durch ihr Geschlecht sind sie an einem sozialen Ort der Gesellschaft positioniert, der vom Zentrum der sozialen Macht und damit dem vorrangigen Wirkungsfeld von Institutionen relativ weit entfernt ist. Das soziale Kollektiv, Nationalismus und Patriotismus sind nicht in dem Ausmaß wie bei Männern Objekte ihrer Identifikationen. Deren Macht können sie sich verweigern; sie können sich in die enge Welt des Frauenlebens zurückziehen. 579 Im Gegensatz zu Ziegler und Kannonier-Finster könnte man hingegen behaupten, dass jede Erinnerungserzählung mit dem „sozialen Kollektiv“ und der „sozialen Macht“ verbunden ist. Schließlich kann „es nämlich keinen apolitischen Bereich für Staatsbürger geben“ 580 und werden „Erinnerungen [...] stets in Kommunikation, d.h. im Austausch mit Mitmenschen aufgebaut und verfestigt.“ 581 Offenbar geht es Ziegler/ Kannonier-Finster aber darum, auf die besondere Verortung von Frauen in einem kleinräumig, also quasiprivat, und nicht-institutionalisiert gedachten Kollektivgedächtnis hinzuweisen: „Das kommunikative Gedächtnis entsteht in einem Milieu räumlicher Nähe, regelmäßiger Interaktion, gemeinsamer Lebensformen und geteilter Erfahrungen.“ 582 Wenn die Tante also ihre eigene Unbeteiligtheit betont, weiß sie sich im Einklang mit dem für sie besonders relevanten kommunikativen Gedächtnis, wobei aber, das wurde schon im „Auf dem Schneeberg“-Kapitel betont, eine quasi-private Perspektive auch als Entschuldigung, als Entschuldung funktionieren und als ein Herausstehlen aus der Geschichte verstanden werden kann. 583 Als das Dorf von bulgarischen Soldaten überfallen und sie gefangen genommen wird, erzählt die Tante jedenfalls, dass sie nichts tut: Ich wußte, was das für das Dorf zu bedeuten hatte, doch hegte ich keinerlei Absichten, jemand zu warnen oder zu retten, denn ich war der Überzeugung, 579 Meinrad Ziegler und Waltraud Kannonier-Finster: Über Geltung und Erneuerung eines stillschweigenden Übereinkommens. In: Ziegler/ Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis, S. 227-254, hier S. 242. 580 Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 86. 581 Ebenda, S. 36. 582 Ebenda. 583 Es sollte an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass Aleida Assmann das kommunikative Gedächtnis, das sowohl eine individuelle als auch kollektive Dimension aufweist, vom kollektiven Gedächtnis verstanden als Gedächtnis eines politischen Kollektivs (wie der Nation) unterscheidet: „Das kollektive Gedächtnis ist ein politisches Gedächtnis. Im Gegensatz zum diffusen kommunikativen Gedächtnis, das sich von selbst herstellt und wieder auflöst, ist es außengesteuert und zeichnet sich durch eine starke Vereinheitlichung auf.“ (Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 42.) <?page no="234"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 230 daß es am besten war, den Dingen ihren Lauf zu lassen und keinen Widerstand zu leisten. Auch erwartete ich, daß der bulgarische Soldat über mich herfallen und mir Gewalt antun würde, weswegen ich zu beten begann. Es geschah jedoch nichts. (LT 446) Eine Bedeutungsebene des Nichtstuns hat mit dem Frausein der Tante zu tun, die aufgrund des situativen Kontextes eine Vergewaltigung fürchtet. Auf diesen Aspekt wird weiter unten im Zusammenhang mit der sexuellen Aufladung von „Letzte Kriegstage“ eingegangen. Ihre Angst wird mit einer religiösen Praxis, dem Beten, beantwortet, es geschieht aber nichts, ob wegen des Betens oder wegen falscher, kulturell und situativ formatierter Fremdeinschätzung des bulgarischen Soldaten, der ebenso harmlos ist wie der sanfte Partisan am Anfang der Erzählung (vgl. LT 442), muss offen bleiben. Zumindest lässt sich die geäußerte Überzeugung, „den Dingen ihren Lauf zu lassen und keinen Widerstand zu leisten“, nicht auf Kategorien wie männlich oder weiblich reduzieren. An späterer Stelle, nach der Eroberung des Dorfes durch die russische Armee, erklärt sich die Tante ähnlich: „Ich hatte nicht das Bedürfnis, irgend etwas zu tun, irgend jemanden zu verständigen oder irgend etwas in die Wege zu leiten.“ (LT 453) In diesen Passagen scheint die ebenfalls schon in „Auf dem Schneeberg“ thematisierte Dorfmentalität durch, dockt sich die Tante mit ihrer Selbstdarstellung an kollektive Denkweisen und Verhaltensmuster an. Das so gezeichnete Bild von der Machtlosigkeit oder Ohnmächtigkeit des Dorfes wie des Einzelnen passt übrigens zur Konzeption und Verschränkung von Macht und Geschichte bei Gerhard Roth, wie sie in „Drei Tote“ besprochen wurde. Viele der persönlichen Erinnerungen in Landläufiger Tod konstruieren eine Vergangenheit, in der man aufgrund unbekannter, vielleicht gar nicht-diskursiver, irrationaler Herrschaftsstrukturen unfähig war, zu handeln, weshalb man sich als Opfer fühlen kann: Der Krieg als Naturkatastrophe ist in dieser Vorstellung einer Überschwemmung oder Dürreperiode gleichzusetzen. In den Augen der Landbewohner bedarf er keiner Mahnung für die nächsten Generationen und keiner Rückschau, weil der Krieg im Sinne dieser Naturgewalt jenseits des menschlichen Erfassungsvermögens liegt. 584 Die Wahrnehmung des Krieges oder generell aller größeren historischen Veränderungen als nicht beeinflussbar scheint tatsächlich bestimmend für die Dorfbewohner bei Roth zu sein, ganz wie Joanna Drynda schreibt. 584 Drynda: Schöner Schein, unklares Sein, S. 111. <?page no="235"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 231 Nicht ganz zugestimmt werden kann hingegen der Bemerkung, dass keine Rückschau vorgenommen würde, da ja sehr viele Passagen aus Landläufiger Tod aus solchen Rückschauen bestehen, die den Krieg ins Visier nehmen. Aufgrund der Häufigkeit der Erzählungen vom Krieg wirkt es ja gerade eben so, wie Drynda dann wieder richtig feststellt: Aus der Perspektive der von Roth künstlerisch nachgeahmten oral history wird z.B. dem Krieg keines der üblichen Merkmale eines Ausnahmefalles zugeschrieben. Der Krieg ist eine Naturgewalt. Als eine Naturgewalt kann er mit zyklischer Genauigkeit und brutaler Unberechenbarkeit immer wieder von neuem ausbrechen und über das Land ziehen. 585 Es gilt für diesen Zusammenhang, was Giorgio Agamben auf die westlichen Demokratien ausgedehnt hat, nämlich „daß gerade der Ausnahmezustand als fundamentale politische Struktur in unserer Zeit immer mehr in der Vordergrund rückt und letztlich zur Regel zu werden droht.“ 586 Legt man diese Denkfigur, abzüglich der konkreten politischen Parameter, auf das Dorf um, so heißt das, dass der Ausnahmezustand des Krieges mit seinem politischen Chaos für das Dorf zur Regel geworden ist, wodurch er vom Ausnahmezustand in den Normalzustand übergegangen ist, also die Ordnung des Krieges jene des Friedens als Normalzustand abgelöst hat. Doch kehren wir wieder zurück zur Figurenebene. Franz Lindner meldet sich in dieser Erzählung nur in dem einzigen Einschub, der die Identität der erzählenden Figur enthüllt: „sagt meine Tante.“ (LT 442) Von einer Problematik kann also in diesem Text nicht gesprochen werden, die Marion Gymnich im Hinblick darauf beschreibt, dass Erzählinstanzen Figuren nicht quasi-neutral beschreiben, „sondern [...] das Konstrukt der Figur, das bei den LeserInnen entsteht, durch Wertungen oder Vergleiche, die sich vielfach auf Aspekte beziehen, die mit den Faktoren sex, gender und sexuality in Zusammenhang stehen“, 587 beeinflussen. Man hat es hier, wenn auch wie immer in Landläufiger Tod potentiell gebrochen durch die fiktive Erzählerfigur Franz Lindner, mit einer durchgehenden Selbstnarration und somit Selbstdarstellung der Tante zu tun. In dieser Darstellung wird sie von den Besatzungsmächten anders als ein Mann behandelt, was eben mit dem, was ihrem biologischen Geschlecht kulturell zugeschrieben wird, zu tun 585 Ebenda. 586 Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, S. 30. 587 Marion Gymnich: VI. Konzepte literarischer Figuren und Figurencharakterisierung. In: Nünning/ Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 122-142, hier S. 136. <?page no="236"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 232 hat: Man(n) schätzt sie nicht als gefährlich ein. Über diese genderspezifische Klassifizierung gelangt sie, ähnlich wie Franz Lindner durch sein Schweigen, in eine privilegierte Position: Sie kann genau beobachten, wie die Führungsoffiziere vorgehen, kann beispielsweise den Feldwebel der Wehrmacht, „von dem ich die verwirrendsten Erinnerungen zurückbehalten habe“ (LT 444), beim Studieren der Pläne und beim Beobachten (der Umgebung) beobachten. Der bulgarische Leutnant wiederum benutzt die Tante als Auskunftsperson: „Die Frage des bulgarischen Offiziers nach dem Bürgermeister beantwortete ich mit dem Hinweis, daß die Partisanen ihn vor einigen Tagen aufgehängt hätten. Mit meiner Antwort schien er zufrieden.“ (LT 447) Er zieht sie zur Begutachtung eines kranken Wehrmachtssoldaten hinzu, der von Würmern befallen ist, und macht ihr gegenüber vor dem Abzug eine beinahe zärtliche Geste: „Mir legte er die Hand auf die Schulter, dann ließ er seine Soldaten antreten und zog weiter.“ (LT 450) Als später die SS das Dorf besetzt, bringt der Gendarmeriekommandant die Tante „zu einem SS-Offizier, der nicht älter als sechzehn Jahre war. Ich machte meine Aussagen.“ (LT 451) Als die Tante vom Wurmbefall erzählt, entsteht Unruhe: „Diese Unruhe steckte mich an, da ich aus dem Benehmen der Umstehenden - man wich vor mir zurück - schloß, daß ich eine Gefahr darstellte.“ (LT 451) Daraufhin wird die Tante - aus ihrer Sicht von den eigenen Leuten - doch eingesperrt, und zwar im Ballsaal, bis die Rote Armee eine Wand zerstört und sie, symbolisch bedeutsam, befreit: „Als erstes erschien ein russischer Oberst. Er verlangte Wasser und Bottiche, worauf er sich zusammen mit seinen Soldaten entkleidete und badete.“ (LT 452) In diesen Stellen wird die durchgängige, unterschwellige sexuelle Semantisierung des Textes besonders virulent: „Unten auf der Straße hörte ich die nackten russischen Soldaten beim Bad lärmen.“ (LT 453) Wenig später wird der Gendarmeriekommandant von „[z]wei halbnackten Russen“ ihrem „Hauptmann im Ballsaal“ vorgeführt. (LT 453) Es wird der Befehl gegeben, „[u]nsere toten Soldaten [...] [zu] entkleide[n], die nackten Leichen hängte man in die umstehenden Bäume.“ (LT 453) 588 Man hat es hier, am Ende der 588 Es handelt sich hier um eine Praxis in der Tradition mittelalterlicher Zwangsentblößungen, die Hans Peter Dürr in dem Kapitel „Die Entblößung als Strafe“ seines Buches: Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß 1. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1994 (stb 2285) S. 267-282, beschreibt. Der korrekten Kontextualisierung halber sei hier angemerkt, dass sich Dürr mit seinem Zyklus vom Mythos vom Zivilisationsprozeß (1988-2002) gegen Norbert Elias richtete. Norbert Elias’ versuchte in seinem zweibändigen Hautpwerk Über den Prozeß der Zivilisation (1939) anhand einer Vielzahl von Beispielen wie Schneuzen, Spucken und Waschen aufzuzeigen, wie der <?page no="237"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 233 Erzählung, mit dem Höhepunkt einer wie nebenbei erfolgenden Steigerung zu tun. Während die Dorfbewohner „[d]ie erste Einnahme unseres Dorfes verschliefen“ (LT 442) und der Partisan die Tante gar nicht wecken möchte, wird nach der Machtübernahme der Wehrmacht die sexuelle Spannung, die auch im Raum, dem Ballsaal als Ort der Kontaktanbahnung gespeichert ist, deutlicher. Der Feldwebel der Wehrmacht befiehlt allen Frauen, „die Wäsche der Soldaten zu waschen und für sie zu kochen“ (LT 445), worauf alle Soldaten den ganzen Tag in Unterwäsche verbringen („Am Abend kleideten sich die Soldaten wieder an“, LT 445), und der Ballsaal aufgrund der aufgehängten Wäsche ein nahezu undurchdringliches Labyrinth bildet, eine Bühne für die nicht erzählten Geschehnisse, auf der man „andauernd Hemden zur Seite schieben mußte, wie einen endlos tiefen Theatervorhang.“ (LT 445) 589 Trotzdem erzählt die Tante nichts von etwaigen Annäherungsversuchen der Wehrmachtssoldaten, während es über die Bulgaren heißt: „Es entging mir nicht, daß sie anfingen, Frauen zu belästigen, weshalb ich beschloß, das Haus nicht mehr zu verlassen.“ (LT 448) Tatsächlich hört die Tante später, wie der Gendarmeriekommandant dem bulgarischen Leutnant berichtet, „daß es zu Übergriffen des bulgarischen Militärs auf Frauen des Dorfes gekommen sei“ (LT 448), sowie noch später davon, dass man ebenso wie man sie einsperrte, auch mit „zwei Frauen [...] [verfuhr], die von bulgarischen Soldaten vergewaltigt und mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt worden waren.“ (LT 452) Von Vergewaltigungen durch russische Soldaten ist im Text keine Rede. 590 Direkt involviert in das sexuelle Spannungsfeld der letzten Kriegstage im Dorf ist die Tante selbst in einer äußerst steril erzählten Szene, die an die Unruhe der SS-Leute wegen des Wurmbefalls anschließt: Mensch durch Selbst- (und Fremd-)disziplinierung (= Zivilisierung, Zivilisation) die heute gesellschaftlich akzeptierten Umgangsformen erlernt hat. Hans Peter Duerr kritisierte in seinem Buchzyklus nun diese Vorstellung vom Zivilisationsprozess und machte darauf aufmerksam, dass auch die westliche Zivilisation nur vordergründig ,zivilisiert‘ ist und es dafür aber auch schon früher diesen Mangel an Zivilisationsregeln nicht gegeben hat, dass also der von Elias in großen Zügen erzählte und vielleicht auch mit einer Wertung versehene Prozess der Zivilisierung des Menschen ein Mythos ist. Diese bis heute im Prinzip unentschiedene Diskussion ging als Elias-Duerr-Debatte in die Wissenschaftsgeschichte ein. 589 Das Zur-Seite-schieben der Hemden kann ebenfalls als Metapher für Entkleiden verstanden werden. 590 Vergleiche dazu bei Hans Peter Dürr: Obszönität und Gewalt. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß 3. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1995, die Kapitel „Kriegsvergewaltigungen und die ,Truppe der Samennehmerinnen‘“ (S. 391-407) und „Die Vergewaltigung als Entwürdigung“ (S. 428-437). <?page no="238"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 234 Ein zufällig im Troß anwesender Pathologe [...] wurde geholt, und ich mußte mich im Ballsaal entkleiden. Der Pathologe untersuchte mich schweigend [...]. Sobald ich die Kleider übergestreift hatte, verkündete mir ein Unteroffizier [...], daß ich mich in Quarantäne befand. (LT 451) Außerdem gibt es eine sexuelle Konnotierung im Zusammenhang mit dem Gendarmeriekommandanten, worauf weiter unten eingegangen wird. Die sexuelle Aufladung von „Letzte Kriegstage“ könnte aus der von Kannonier-Finster und Ziegler beschriebenen, aus der „Welt des Frauenlebens“ ableitbaren Perspektive der Tante auf das Geschehen erklärt werden, schließlich sind ja auch ihre privaten Räumlichkeiten, die tatsächlich halböffentlich sind, im Zentrum der Ereignisse. Für die Tante sind die Soldaten in erster Linie als Männer gefährlich, während sie für die Soldaten als Frau gerade eben nicht gefährlich ist. Dass sich aus dieser Perspektive eine besondere Betonung nicht nur von Gewalt, sondern von in der Luft liegender und tatsächlich verübter sexueller Gewalt ergibt, erscheint logisch, gerade weil die Tante selbst nicht zum Gewaltopfer wird oder zumindest nicht davon erzählt - denn schließlich schickt sie der Pathologe in Quarantäne, ohne dass im Text erklärt wird, warum. In den vorliegenden Analysen von Landläufiger Tod wird „Letzte Kriegstage“ meist unter einem bestimmten Blickwinkel auf die Serialität der erzählten Ereignisse wahrgenommen. Joanna Drynda schreibt: „Letzte Kriegstage“ „entlarvt mit der Schilderung der heftigen Kämpfe um die Ortschaft im Frühjahr des Jahres 1945 die absurde Sinnlosigkeit des Krieges.“ 591 Matthias Auer stellt zu dieser Erzählung fest: „Es herrscht das Gesetz immer gleicher Grausamkeiten: zuerst wird der Ort in Brand geschossen, anschließend im Häuserkampf eingenommen.“ 592 Für Uwe Schütte wiederum stehen die in „Letzte Kriegstage“ berichteten Geschehnisse für „den unmittelbaren Wahnsinn des Krieges“, wobei der permanente Wechsel der Machthaber „[s]ymptomatisch für die Irrationalität der Kampfhandlungen“ sei. 593 Wahnsinn, Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Krieges stehen außer Streit und werden von dem durch das Heeresgeschichtliche Museum führenden Oberst Fritz Krach in der Verfilmung von Eine Reise in das Innere von Wien 591 Drynda: Schöner Schein, unklares Sein, S. 117. 592 Auer: Der österreichische Kopf, S. 141. 593 Schütte: Auf der Spur, S. 137. <?page no="239"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 235 anhand seiner Gefühle beim Betrachten der Schlachtengemälde von Vaclav Sochor sehr anschaulich thematisiert: Ich muß eigentlich sagen, wenn ich ganz offen bin, jedesmal erwischt mich das - ein Bild oder eine Darstellung, daß ich ein Grauen spüre in mir, ein fassungsloses Grauen, ein Schrecken, ein Horror. [...] Das Reale hier, die Blutstreifen, der Schlaf - schon im Jenseits, das ist alles so furchtbar, daß man sich fragt als gewöhnlicher Mensch, der ich bin: Hat das alles einen Sinn? Ist das wirklich notwendig gewesen? Da muß ich immer wieder den Schülern sagen, den Lehrern genauso: Es ist sinnlos! 594 Ganz ähnlich klingt denn auch die Feststellung der Tante, nachdem das Dorf zum dritten Mal überfallen wurde: Sie fürchtet sich vor den Soldaten jedweder Zugehörigkeit, „denn alles, was ich bisher gesehen hatte, machte auf mich einen vollkommen sinnlosen Eindruck, und ich hatte das Gefühl, es mit Verrückten zu tun zu haben“. (LT 447) Die Aussage des Oberst zeigt, dass es nicht zwingend ist, die Serialität der Ereignisse in „Letzte Kriegstage“ als Betonung der Sinnlosigkeit des Krieges zu lesen, da für denjenigen, der es sehen und (wie an dieser Stelle auch Gerhard Roth) didaktisch vermitteln möchte, schon ein kleines, blutiges Detail einer Kampfhandlung das Signum der Sinnlosigkeit tragen kann. Die Tante hingegen versteht es als sinnlos, dass die Unterscheidung in gute eigene Soldaten und böse fremde Soldaten in den Kriegswirren nicht möglich ist, dass von beiden Kriegsparteien potentiell alles zu erwarten ist. Das Prinzip der Wiederholung fungiert hier nur als Verstärker, ist eine Überzeichnung, die das besonders deutlich macht. 595 Allerdings, das soll im Folgenden ausgeführt 594 Eine Reise in das Innere von Wien. ORF 1995. Gestaltung: Jan Schütte. Beratung: Gerhard Roth. 44: 55-46: 30. 595 Drynda deutet indessen die Perspektive der Dorfbewohner als Auffassung von der Sinnlosigkeit der Geschichte im Kontext ihrer Unvorhersehbarkeit, das heißt, Geschichte hat keinen vorgegebenen, sondern nur nachträglich zugeschriebenen Sinn: „Daß die Geschichte sich wiederholt, ist auch nicht eine Folge des tieferen, mit den Mitteln der Philosophie oder Soziologie nachvollziehbaren Sinnes, sondern eher eine Konsequenz dessen, daß jedwede Entwicklung in den Vorstellungen des Menschen immer denselben Status der Unvorhersehbarkeit innehat.“ (Drynda: Schöner Schein, unklares Sein, S. 111.) In der Gedächtnisforschung geht man hingegen davon aus, dass Geschichte nur dann sinnlos wirkt, wenn man verloren hat, wenn man die „Wandlung zum Verlierer“ zu Kriegsende machen musste und man „,Sinn‘ - nicht nur des eigenen Handelns, der einschneidenden Erfahrungen, Anstrengungen, Gefahren, Schrecken und Verluste, sondern auch der Geschichte im ganzen“ - verabschieden musste. (Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 103.) Die Aussage der Tante wird allerdings noch während des Krieges getroffen - das heißt, sie wird im Nachhinein diesem Zeitpunkt zugeordnet -, allerdings in einem Moment, als die Niederlage schon sicher war, es <?page no="240"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 236 werden, weist das Prinzip der Wiederholung in „Letzte Kriegstage“ noch weitere Bedeutungsebenen auf als die erwähnte didaktische sowie Gewaltausübung nicht vereinseitigende Lesart. Zunächst kann festgestellt werden, dass wir es bei diesem Text mit mehreren Ebenen der Wiederholung zu tun haben. Es gibt eine variierte Wiederholung der Ablöse und Neuintroduktion aktueller Machthaber, es gibt aber auch die Wiederholung des Erzählens, das emotional konnotiert ist. In einem Einschub in Klammern heißt es: Es ist für mich nicht einfach, diese Geschichte ohne Ergriffenheit zu erzählen, obwohl ich sie schon viele Male erzählt habe. Manchmal stockt mir der Atem, manchmal muß ich dem Drang zu weinen nachgeben - unbeteiligt bin ich nie. Trotzdem will ich versuchen, die Ereignisse so bündig zu schildern, als wäre ich nicht dabeigewesen. (LT 446) Schütte sieht im größeren Kontext von Kriegserinnerungen in Landläufiger Tod in dieser offenkundigen emotionalen Involviertheit „eine besondere Eindruckskraft“, die er von der somit offenkundigen „Evidenz der lang anhaltenden psychischen Auswirkungen des Erlebten, wie sie im Prozeß des Wiedererzählens aufscheinen“, 596 ableitet. Drynda sieht das ähnlich: „Auch die Tante Lindners weiß, wie sehr ein Augenzeuge der jüngsten Geschichte Österreichs angesichts des Erlebten leiden kann.“ 597 Das Wiedererzählen ist also auch ein Wiedererleben und Wiedererleiden, wobei es verwundert, dass trotz der emotionalen Aufwühlung „diese Geschichte“ immer wieder erzählt wird. Mit Sigmund Freud betrachtet wird allerdings aus dem „trotz“ ein „wegen“, denn der Psychoanalytiker sieht den Patienten „genötigt, das Verdrängte als gegenwärtiges Erlebnis zu wiederholen, anstatt es, wie der Arzt es lieber sähe, als ein Stück der Vergangenheit zu erinnern.“ 598 Das Erinnern der Tante ist aber, hier muss Freud zweckbezogen adaptiert werden, 599 ein Wiederholen im Sinspielen also wohl beide Komponenten, Unvorhersehbarkeit wie die Figur der Verliererin eine Rolle. 596 Schütte: Auf der Spur, S. 136. 597 Drynda: Schöner Schein, unklares Sein, S. 117. 598 Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. In: ders.: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften. Einl. v. Alex Holder. Frankfurt/ Main: Fischer 2007 (Sigmund Freud Werke im Taschenbuch). S. 191-249, hier S. 204. Unter dem „Wiederholen“ versteht Freud: Der Patient „wiederholt alles, was sich aus den Quellen seines Verdrängten bereits in seinem offenkundigen Wesen durchgesetzt hat, seine Hemmungen und unbrauchbaren Einstellungen, seine pathologischen Charakterzüge.“ (Freud: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, S. 211.) 599 Ausgehend von der Passage bei Basseler/ Birke: Mimesis des Erinnerns, S. 135: „Erinnerung kann allerdings für den Erinnernden zumindest emotional auch ein Eintauchen <?page no="241"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 237 ne eines Wiedererlebens, es hat durch seine emotionale Aufladung einen performativen Aspekt, es ist ein Nachspielen der Geschehnisse, an denen man eben beteiligt war, weshalb man nicht „unbeteiligt“ davon erzählen, nicht ohne weiteres aus der Story schlüpfen kann. Ganz deutlich wird hier die „Kraftäußerung des Verdrängten“, wie Freud den „Wiederholungszwang“ bezeichnet, für den charakteristisch ist, daß er „auch solche Erlebnisse der Vergangenheit wiederbringt, die keine Lustmöglichkeit enthalten, die auch damals nicht Befriedigungen, selbst nicht von seither verdrängten Triebregungen, gewesen sein können.“ 600 Freud sieht nun den Wiederholungszwang im Zusammenhang mit dem Jahreszeitenzyklus, für ihn „müßte es die Entwicklungsgeschichte unserer Erde und ihres Verhältnisses zur Sonne sein, die uns in der Entwicklung der Organismen ihren Abdruck hinterlassen hat.“ 601 Er sieht demnach für die Natur nicht Progress, sondern Regress oder eben Wiederholung als entscheidend an, und schließt: „Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende.“ 602 Es ist also ein „Gegensatz von Ich(Todes-)trieben und Sexual(Lebens-)trieben“ 603 am Werke und es gilt „zwei Arten von Trieben zu unterscheiden, [nämlich] jene, welche das Leben zum Tod führen wollen, [und] die anderen, die Sexualtriebe, welche immer wieder die Erneuerung des Lebens anstreben und durchsetzen.“ 604 Die Wiederholungen in „Letzte Kriegstage“, und hier vermischen sich die Ebenen zwischen Wiederholung des Erzählens und Erzählen von den Wiederholungen, sind im Kontext des Freud’schen Todestriebes lesbar, sie stehen analog zum Jahreszeitenwandel 605 und für diesen Todestrieb. So hat auch W. G. Sein die Vergangenheit bedeuten. Von einer Inszenierung dieses Phänomens des ,Wiedererlebens‘ kann beispielsweise dann gesprochen werden, wenn ein Ich-Erzähler [...] die Vergangenheit zumindest vorübergehend tatsächlich aus dem Wahrnehmungshorizont des erlebenden Ich (also der Figur als Fokalisierungsinstanz) schildert.“ 600 Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 205. 601 Ebenda, S. 223. 602 Ebenda. 603 Ebenda, S. 229. 604 Ebenda, S. 230. Später wurden diese beiden Triebe als Eros und Thanatos bezeichnet. 605 Der im Zyklus immer wieder beschrieben wird, so sagt zu dem Mauthausen- Überlebenden Gockel dessen Stiefvater: „Denk daran: Wie die Jahreszeiten vergehen, vergeht auch alles übrige.“ (LT 555) Ebenfalls bemerkenswert ist in diesem Kontext der an die Logik der Bauernkalender angelehnte Text „Kalender“ (LT 276-292). Siehe zur kulturhistorischen Ebene dieser Metaphorik den Abschnitt „Die Jahreszeiten“ in Alexander Demandt: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken. München: Beck 1978. S. 139-145. <?page no="242"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 238 bald Roths Geschichtsverständnis zu seinem Naturverständnis in Bezug gesetzt: „Es gehört zu den durchgängigsten Konjekturen von Roths Roman, daß er die Geschichte der Menschheit nur als eine besonders virulente und vielleicht die letzte Phase der Naturgeschichte begreift“. 606 Man könnte also sagen, man hat es hier, ja im ganzen Roman nicht mit einem Landläufigen Tod, sondern mit einem landläufigen Todestrieb zu tun, der Natur- und Menschheitsgeschichte miteinander verschränkt und für den der Wiederholungszwang Jenseits des Lustprinzips paradigmatisch ist. 607 In der sexuellen Aufladung des Textes wiederum wird der Sexualtrieb evident, wodurch die von Freud als „Gegensatz“ bezeichneten Triebe einander begegnen, in ihrer Gleichzeitigkeit und wechselseitigen Bedingtheit inszeniert werden, ja in der Gewalt - einem zentralen Thema des Romans wie des Zyklus - ineinander übergehen. 608 Wiederholungen sind aber nicht nur in „Letzte Kriegstage“, sondern an vielen Stellen im Roman von Relevanz, unter anderem auch als Anspielung auf die potentielle Wiederholbarkeit der Geschichte im Sinne einer zyklischen Geschichtsauffassung: Das scheinbar Vergangene des Dorffleckens ist als Modell der Geschichte des gesamten Landes darstellbar. Die Geschichte wiederum erscheint in den Erzählungen der Einheimischen als eine gegenseitige Durchdringung des Schöpferischen mit dem Grausamen, einer Scheinidylle mit Mord und Totschlag. Diese Welt ist keiner Logik, allenfalls einer fest geschriebenen Logik der Wiederholung untergeordnet. 609 Es scheint in Landläufiger Tod ein zyklisches Geschichtsbild formuliert zu sein, das auf der unregelmäßigen, aber sicheren Wiederkehr des Krieges, auf gewissen, vielleicht im Kleinräumigen besonders virulenten, Konfliktkonstanten beruht: Aus der Perspektive der Dorfbewohner stellt der Krieg den Regel-, nicht den Ausnahmefall der Geschichte dar. Von einem Tag auf den anderen kann das 606 Sebald: In einer wildfremden Gegend, S. 172. Uwe Schütte hat sich in seiner Monographie zu den Archiven des Schweigens, Auf der Spur der Vergessenen, diese These Sebalds von der Nichttrennbarkeit der Geschichte/ n der Natur und des Menschen zu eigen gemacht und ausführlich ausgearbeitet. 607 Nicht nur das Land steht im Zeichen des Todes, der Tod ist überall landläufig im Sinne von geläufig, auch in der Stadt: „Wien ist eine große Nekropole.“ (RIW 26) 608 Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges mit seiner enthemmten Gewalt spielten für Freud eine wesentliche Rolle bei der Überlegung eines Todestriebes in Jenseits des Lustprinzips. 609 Drynda: Schöner Schein, unklares Sein, S. 101-102. <?page no="243"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 239 Land erneut von einem der Kriege überzogen sein, die zwar zyklisch, aber eben nie berechenbar wiederkehren. Die sich während der neunziger Jahre im unmittelbar angrenzenden, ehemaligen Jugoslawien abspielenden Vorkommnisse, die ihren Ursprung in den Auseinandersetzungen des Zweiten Weltkrieges hatten (welche wiederum auf Waffenbrüderschaften während des Ersten Weltkriegs zurückgehen usw.), demonstrieren eindringlich, daß diese Zyklizität auch heute noch gilt. 610 Metaphern für das Zyklische der Geschichte gibt es neben der besondern Repräsentationsform in „Letzte Kriegstage“, wo aus dem scheinbar konkreten Realen eine Metapher des abstrakten Realen gemacht wird, in Landläufiger Tod zum Beispiel im Text „Durch die Tür“ (LT 363-364), in dem Soldaten ihren tödlich verwundeten Kollegen immer wieder durch die Tür hinaus und hinein (auf der Flucht vor dessen Mutter) tragen. 611 Ebenso verweist auf dieses Thema das 43. Märchen „Der Soldat“ (LT 701-702), dessen titelgebende Hauptfigur zwar begraben wird, deren Füße sich aber, egal, was auch versucht wird, immer wieder einen Weg durch die Erde bahnen und an die Oberfläche gelangen, und schließlich finden sich Anspielungen auf dieses Geschichtsverständnis im 64. Märchen „Der kluge Grenzposten“ (LT 751-752). 612 Die Wiederkehr des Tötens und Getötetwerdens ist denn auch in „Letzte Kriegstage“ das signifikanteste Merkmal des Zyklischen. Im Gefecht zwischen Tito- Partisanen und Wehrmacht wird der Kirchturm beschossen: „Der Partisan, der sich im Glockenstuhl versteckt gehalten hatte, wurde später unter den Trümmern der Glocke aufgefunden.“ (LT 443) Später misshandelt der befehlsgebende Feldwebel der Wehrmacht Deserteure, „[s]odann verurteilte er sie zum Tode und ließ sie am anderen Ende des Ballsaales, den ich wegen der großen Entfernung nur schlecht überblicken konnte, hinrichten.“ (LT 445) Kaum haben die bulgarischen Soldaten das Dorf eingenommen, widerfährt dem Feldwebel jedoch das gleiche Schicksal: „Auf ein scharfes Wort des Leutnants, das keinen Zweifel über seine Bedeutung ließ, zerrte man den deutschen Feldwebel zur Friedhofsmauer und erschoß ihn, ohne sich um seine Proteste zu kümmern.“ (LT 447) Die ,Logik des Krieges‘ ist auch eine Ge- 610 Schütte: Auf der Spur, S. 147. 611 Vgl. dazu auch die sich ebenfalls in jedem Abschnitt wiederholende Kurzfassung dieser Erzählung in der Dorfchronik zum „Landläufigen Tod“ (21-22, 43-44, 66-67, 88, 104). 612 In diesem Märchen sterben nacheinander zehn Grenzposten. Rechnet man die Zeitangaben aus, so folgen auf 81 Friedensjahre fünf Kriegsjahre und darauf wiederum 24 Friedensjahre, wobei in Friedenszeiten sechs Grenzposten aus Langeweile Selbstmord begehen (es also eine Wiederholung des Sterbens im Frieden gibt), in der ungleich kürzeren Kriegszeit aber vier „in Ausübung ihrer Pflicht“ (LT 751) sterben. <?page no="244"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 240 dächtnislogik, kaum hat sich das Mikromachtystem verändert, folgt auch schon die nächste Abrechnung mit dem nun unterlegenen Feind. 613 Als dann SS-Soldaten auf der Suche nach Partisanen das Dorf beschießen und die Schule zerstören, kommen dabei „alle unsere von den Bulgaren gefangenen Soldaten [...] ums Leben“ (LT 451). Soldaten übrigens, die von Würmern befallen waren und vor denen die Bulgaren, ohne ihnen ein Haar zu krümmen, geflohen waren. Am Ende marschiert schließlich die Rote Armee im Dorf ein - „Ein großer Teil des Dorfes war zerstört, noch mehr gefallene Soldaten lagen zwischen den Häusern, aus denen schwarzer Rauch quoll.“ (LT 452) - und „die Hinrichtung der gefangenen SS-Soldaten“ (LT 453) wird befohlen. Eingeschrieben ist das Zyklische der Geschichte, ja die Geschichte selbst in konkrete Orte, die im Gegensatz zu den wechselnden Akteuren aufgrund ihrer materiellen Verankerung im Raum Kontinuität herstellen. Räumliche Immobilität trifft auf bewegte Zeiten, könnte man sagen. An Orten wird also Geschichte ablesbar, Orte und Gebäude wie in „Letzte Kriegstage“ das Dorf und der Ballsaal, in dem ein Großteil des Geschehens stattfindet, sind nicht selten gut gefüllte Gedächtnis- und Zeitspeicher: „In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit. Dazu ist der Raum da.“, 614 schreibt Gaston Bachelard in seinem vor allem in den 1960er und 70er Jahren in den Literaturwissenschaften rezipierten Buch zur Poetik des Raumes (1957). Das weiß auch die Autorfigur in Der Untersuchungsrichter: „Augenblicklich wünsche ich das Haus sprechen zu hören. Die Küche erzählt, was in ihren vier Wänden geschehen ist ... die Möbelstücke machen Zwischenrufe ...“ (UR 19-20) Diese Gedächtnisfunktion der Häuser wird in einer Szene von Der Stille Ozean von einer Bäuerin, die ein altes durch ein neues Haus ersetzen will, allerdings negativ ausgelegt: „Warum sollen wir das Haus stehen lassen? An was soll es uns erinnern? Worauf sollen wir stolz sein? “ (DSO 192) 613 In Roths Theaterstück Erinnerungen an die Menschheit finden in unregelmäßigen Abständen und als separate Szenen Erschießungen statt. Der Autor sagte mir gegenüber dazu: „Das ganze Stück erinnert immer wieder an Krieg. Diese Erschießungen stehen für Krieg. Wenn es Erinnerungen an die Menschheit heißt, wollte ich dann nicht in dem Sinn reine Kriegsszenen schreiben, sondern habe das wie eine Seuche oder Jahreszeiten gesehen, die das Stück unterteilen.“ [Gespräch mit Gerhard Roth (Wien, 30.3.2006)] 614 Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. A. d. Franz. v. Kurt Leonhard. Frankfurt/ Main: Fischer 1992 (Fischer Wissenschaft). S. 35. <?page no="245"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 241 Sigrid Bauschinger zitiert diese Sätze und stellt zu den Landbewohnern einseitig und generalisierend fest: „They do not perceive natural beauty - a field is a plot of land for growing potatoes - nor do they harbor a sense of historic values.“ 615 Jedoch geht es hier nicht um historische Werte, sondern um eine Bewertung der eigenen, negativ empfundenen Historie. In „Letzte Kriegstage“ ist nun der Ballsaal der zentrale Ort der Handlung. Ein Ballsaal ist ein Ort für besondere Anlässe, für Hochzeiten, Totenmähler, Faschingsbälle, das heißt für Feste jeder Art, der - geht man von einer kohärenten Zyklustopographie aus - zum Dorfgasthaus gehört, wie bei der Schilderung der Hochzeit in Der Stille Ozean mitgeteilt wird: „Später zeigte ihm [Ascher; G. L.] der Wirt die Tafel in einem Raum, den er als den Ballsaal bezeichnete.“ (DSO 159) Die Tante erzählt in „Letzte Kriegstage“, dass der Ballsaal vom mobilen Friseur benutzt wird, der dort am Mittwochvormittag den Dorfbewohnern die Haare schneidet, wobei eine an sich amüsante Anekdote der Tante im Kontext der Greuel in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern einen bitteren Beigeschmack erhält: „Dann mußte ich bei der Heimkehr immer Haufen von Menschenhaaren zusammenkehren - abgeschnittene Zöpfe schlug ich mit einem Nagel an die Wand.“ (LT 442) Wenn der Ballsaal Teil des Gasthauses ist, befindet er sich an einer wichtigen Stelle für das dörfliche Sozial-Leben, denn für die Dorfbewohner gilt: „Der Treffpunkt ist das Gasthaus“, 616 welches das Kommunikationszentrum des Dorfes bildet. 617 Es ist unmöglich, an dieser Stelle alle Passagen im Zyklus zu besprechen, in denen das Gasthaus ein Ort der Handlung ist. Jedenfalls aber lässt sich an zwei Szenen zeigen, wie das Gasthaus und der Ballsaal in der 615 Bauschinger: Gerhard Roth, S. 353. 616 Menschen in Österreich 2, 00: 37. Der gesamte zweite Teil dieses dreiteiligen Dokumentarfilms ist dem Kirchenwirt Finsterl und seinem Gasthaus gewidmet. In Im tiefen Österreich heißt es zu einem Foto des Kirchenwirts: „Der Kirchenwirt ,Finsterl‘ ist nebenbei Standesbeamter. Er glaubt, daß Adolf Hitler eines Tages die historische Bedeutung von Napoleon haben wird.“ (ITÖ 99) 617 Im Gasthaus treffen sich auch die Vereine wie Kameradschaftsbund, Musikkapelle und Feuerwehr. Li Hai-Yan interpretiert in seiner Magisterarbeit zum Stillen Ozean das Vereinsleben im Dorf auf marxistische Weise: „Die gesellschaftlichen Organisationsformen sind im Grenzland, wo sich die Gemeinschaft einem realen oder auch nur eingebildeten Druck von außen ausgesetzt sieht, von wesentlich größerer Bedeutung als etwa in der Stadt. Sie sind der ,Überbau‘ der Grenzlandgesellschaft, der sich über einer entsprechenden Basis, den besonderen Lebens- und Arbeitsbedingungen, aufbaut.“ (Hai-Yan: Sozialkritik und soziales Leben, S. 65.) <?page no="246"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 242 Gegenwart des Romans Der Stille Ozean, also im Jahr 1978, 618 Resonanzräume für unterdrückte Narrative des offiziellen österreichischen Gedächtnisses werden. Als Ascher vor einer Hochzeitsfeier beim Kirchenwirt sitzt, sagt ein ihm unbekannter Mann, „er sei Nationalsozialist geblieben. Der einzige, der etwas für die Bauern getan habe, sei Hitler gewesen. [...] Als Ascher ihm widersprach, sagte er scharf: ,Ich bin für Diktatur.‘“ (DSO 157) Schließlich versucht dieser Mann, Ascher von seiner Position über sein ,besonderes‘ Wissen zu überzeugen: „,Hören Sie‘, sagte er und rückte näher, ,ich war vor dem Krieg bei der SA, ich weiß, wovon ich spreche! ‘“ (DSO 158) Während der Hochzeitsfeier im Ballsaal selbst wird schließlich wie nebenbei ein weiterer Hinweis auf die Latenz nationalsozialistischen Gedankengutes gegeben, die erst in Feierlaune und durch Alkoholkonsum an die Oberfläche dringt: „Der junge Bursche mit den Narben auf der Brust kam zur Tür herein und wurde von einem der Gäste mit ,Heil Hitler! ‘ begrüßt.“ (DSO 164) 619 Nur diese zwei Szenen zeigen, dass es sich bei Gasthaus und Ballsaal auch nach 1945 um hochgradig politisierte Orte handelt, 620 die Zugänge zu kollektiv vorherrschenden Meinungen, Normen und Werten in Bezug auf die Gegenwart und die Vergangenheit eröffnen. Gehen wir nun noch auf einige weitere dörfliche Orte ein, die besondere Funktionen für die Darstellung von Geschichte im Zyklus haben. Das räumlich gebundene Prinzip der Wiederholung der Geschichte und ihrer Einschreibung in Gebäude wird in Landläufiger Tod besonders deutlich gemacht in der Beschreibung der Ziegelfabrik: Zu Kriegszeiten wird die Ziegelfabrik als Kaserne verwendet, bei Kriegsende finden dort jeweils die Erschießungen statt, vor allem wegen der Tarnfarbe des 618 Das wird aus folgendem Hinweis geschlossen: „Der Hof bestand aus einem flachen Holzhaus mit Ziegeldach, an der braunen Tür stand - vom letzten Besuch der ,Heiligen Drei Könige‘ - in Kreideschrift: K + M + B 78.“ (DSO 23) 619 Schmidt-Dengler liest die Hochzeit in Der Stille Ozean im größeren Kontext des Festes in der Literatur: „Das Fest führt immer dazu, aus der engen Zeitlichkeit herauszuführen, größere Zusammenhänge sollen sich auftun, und da wird offenbar, wie dünn das Braun der Nazi-Zeit übermalt ist.“ (Schmidt-Dengler: Bruchlinien, S. 413.) 620 Nicht ohne Grund findet die Wahlkampfrede des ÖVP-Landesrates ebenfalls im Gasthaus statt. (Vgl. DSO 30-32.) Außerdem wird, als Ascher mit Zeiner auf das Haareschneiden im Gasthaus wartet, an einem Nebentisch von Jugendlichen heftig über die sozialen Missstände diskutiert und ihre Politikverdrossenheit zum Ausdruck gebracht. (Vgl. DSO 115-121) <?page no="247"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 243 Gebäudes, die den Exekutionskommandos weitgehend die sonst unvermeidbaren Reinigungsarbeiten erspart. (LT 217) 621 Auch in Hans Leberts Wolfshaut ist die Ziegelei zu Kriegsende ein Ort, an dem gemordet wird. Bei Lebert werden in der Ziegelei Zwangsarbeiter von Dorfbewohnern erschossen, ein Verbrechen, das der Roman umkreist und Schritt für Schritt aus dem Schweigen, so der Name des als zentraler Schauplatz fungierenden Dorfes, zu holen versucht. Ganz ähnlich wird auch die Kriegsgeschichte des Sägewerks erzählt: Im Krieg, wenn die Leichen der Soldaten im Wehr angeschwemmt wurden, legte man sie zuerst in Brettersärge, die dort, wo jetzt das Sonnenblumenfeld steht, gestapelt und an jedem Freitag in Anwesenheit des Pfarrers zurück in den Fluß geworfen wurden. (LT 232) Schließlich ist auch das Schulgebäude ein Ort, an dem Geschichte abgelesen werden kann, der ein vielfältig semantisiertes Gedächtnis hat: „Das Schulhaus macht von außen den Eindruck eines Irrenhauses. Tatsächlich wurde es (bevor es als Schulhaus Verwendung fand), zuerst als Anstalt für Geistesgestörte, später als Kaserne verwendet.“ (LT 245) In der Schule wird außerdem das kulturelle Gedächtnis über erlerntes Wissen konstituiert und weitergegeben: „An nebligen Herbsttagen finden sich die Seelen der Gefallenen ein und setzen sich auf die Schultern der Schüler, bis diese ermattet auf die Pulte sinken, von wo der Lehrer sie mit dem Schlag des Lineals wieder in die Höhe treibt.“ (LT 246) Am Schulgebäude lässt sich letztendlich, wie vom Landarzt in Der Stille Ozean thematisiert, die mit dem Fortschreiten der Zeit vonstatten gehende Transformation des Dorflebens zeigen: „,Mit der Schule hier ist es wie mit den Häusern‘, hatte er gesagt, ,sie waren für etwas anderes gedacht. Sind Ihnen die großen Küchen aufgefallen? Damals gab es genügend Knechte und Mägde, die sich in der Küche aufhielten.‘“ (DSO 195) Neben Ziegelfabrik, Sägewerk und Schulgebäude ist der Bahnhof der zentrale Geschichtsort des Dorfes, vor allem auch deshalb, weil er dieses mit der Geschichte verbindet. Er ist der Schwellenort, die Schaltstelle, die Kontaktzone zwischen Zentrum und Peripherie, wie an dem Text „Der Bahnhof“ (LT 621 Im 60. Märchen „Das andere Universum“ wird die Ziegelfabrik von einem Pölfing- Brunner Glasmacher als Tarnung um ein riesiges Mikroskop herum gebaut, mit dem er die Entdeckung macht, „daß es, ähnlich wie den Kosmos am Himmel über seinem Kopf, ein Universum gab, das den Augen verschlossen blieb.“ (LT 741-742) Am Ende des Märchens verschwindet der Glasmacher in seinem Mikroskop, die anderen aber halten den Fabriksschlot des Ziegelwerkes für eben einen Fabriksschlot, weshalb sie das Mikroskop nicht sehen können. <?page no="248"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 244 255-258) verständlich gemacht werden kann. In dieser Erzählung begibt sich über ein halbes Jahr lang das gesamte Dorf täglich zum neu errichteten Bahnhof, um die erste einfahrende Lokomotive zu begrüßen, die, wie im Dorf nach sich immer stärker aufheizenden Gerüchten geglaubt wird, den Kaiser für die feierliche Eröffnung des Bahnhofes bringen soll. Als dann aber endlich der erste Zug einfährt, springen anstelle des Kaisers Soldaten heraus, die den männlichen Teil des Dorfes zusammentreiben, in die Waggons stecken und wegbringen: „Am nächsten Tag, so beendet die einzige lebende Augenzeugin ihren Bericht, sei der Krieg ausgebrochen.“ (LT 258) Ein anderes Beispiel für die über den Bahnhof als Verbindungsstelle ausgeübte Machtausübung des Zentrums über die Peripherie ist die von Lindner im Kapitel „Circus Saluti“ in einer Fußnote referierte Geschichte von dem Wiener „Sonderzug [...], mehrere braune Waggons mit dem kaiserlichen Wappen und ein Salonwagen mit kaiserlichen Beamten, die [...] mit Spazierstöcken, Zylindern, Monokeln und dicken Zigarren herumstanden“ (LT 43-44), der vom Kaiser angeblich begehrte Sulmtaler Eier in die Hauptstadt bringen soll. Die städtischen Beamten überwachen das Verladen, suchen sich aber durch Kleidung und Habitus (sie lehnen den Most ab, trinken dann aber den steirischen Wein) von der Landbevölkerung deutlich zu unterscheiden und die Machtasymmetrie auch auf der symbolischen Ebene zu artikulieren. 622 Für eine theoretische Einordnung dieser Erzählungen und der Funktion des Bahnhofs in Landläufiger Tod sind einige Bemerkungen aus Niels Werbers Buch Die Geopolitik der Literatur von Interesse: Den Zusammenhang von Raum, Medien und Macht könnte man als geopolitisches Prisma bezeichnen. Wer mit diesem Prisma die aktuellen Weltordnungsentwürfe und ihre Genealogien beobachtet, stößt auf ihre topographischen, medientechnischen und geopolitischen Konditionen. Unterschiedliche Raumentwürfe wie der von Land und Meer oder der eines atopischen Cyberia verdanken ihre Evidenz der Akzentuierung unterschiedlicher Medien und Verkehrsmittel (Telegraphie, Funk oder Fernsehen, Eisenbahn, Schiffahrt oder ,Information Super-Highways‘) und setzen auf unterschiedliche soziale 622 Allerdings gibt es im Zyklus auch die Variante einer Flucht mit dem „roten Blitz“, wie der Zug in die Südsteiermark genannt wird, von der Stadt auf das Land, wie sie Ascher unternimmt (man beachte dabei die Beschreibung der räumlichen Wegbewegung vom Zentrum in die Peripherie mit dem Zug in Der Stille Ozean, S. 15-16) sowie die umgekehrte Bewegung wie in dem Märchen „Die Frau mit dem Spazierstock“, in dem eine (mörderische) Figur „eine Bahnkarte löst, um in die Stadt zu fliehen“ (LT 621). <?page no="249"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 245 Ordnungsmodelle (Hierarchie und Zentrum-Peripherie-Differenz, Zirkulation und Relais oder Netzwerk und Rhizom). 623 Der Bahnhof in Landläufiger Tod funktioniert nach der Geopolitik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (abzüglich der Telegraphie), die von der von Werber angesprochenen Zentrum-Peripherie-Differenz und -Asymmetrie ausgeht. Die Macht des Zentrums zeichnet sich zu dieser Zeit vor allem über Schienen in den Raum ein. Das ist bei den Straßenbahnen der Städte so, welche innerstädtische Peripherien erzeugen, die, das sei hier nur kurz angemerkt, in den urbanen Teilen der Archive des Schweigens zentrale Schauplätze darstellen: Der mehrfache Mörder und Jusstudent Alois Jenner, Franz Lindners ehemaliger Schulkollege, der diesen mit nach Wien genommen hat, entzieht sich in Am Abgrund taktisch den Macht-Strategien der Konzept-Stadt, indem er sich an peripheren Orten des Zentrums aufhält, wie am Rande der Praterallee (AA 33-37) oder an der Alten Donau (AA 47-48, 64, 77-78), wo er Morde begeht. Lindner folgt zwar „den Geleisen der Straßenbahn“ (AA 43), sucht dann aber ebenfalls unter anderem den Prater auf. Beide gehen gerne in die Vorstadt, ein auch vom Untersuchungsrichter im gleichnamigen Roman bevorzugter Raum (UR 39-44). Nicht nur die Straßenbahnen, auch die Eisenbahnen avancierten zu einem wichtigen machtstrategischen, raumbeherrschenden und -strukturierenden Instrument: „Die Pläne zur Generalmobilmachung des preußischen, später des deutschen Generalstabs basierten bekanntlich so ziemlich ausschließlich auf Eisenbahnplänen und telegraphischer Befehlsübermittlung.“ 624 Schüttes Bemerkung zum Text „Der Bahnhof“ gilt also nur für die Perspektive der Landbewohner, nicht aber für die Geopolitik des Zentrums: „Abgeschnitten von den in Hauptstädten gemachten weltpolitischen Geschehnissen, bricht der Sturm der Geschichte gleich einem Naturunglück über die sich in absurden Erwartungen wiegende Provinzbevölkerung herein.“ 625 Über den Bahnhof kommt nun, aber nicht wie ein Naturereignis, sondern kühl kalkulierter geopolitisch agierender Vernichtungspolitik entsprechend, die Geschichte in das Dorf. In „Eine kriegerische Eisenbahngeschichte“ erzählt Lindners Vater von einer Begebenheit im „Herbst 1944“: 623 Niels Werber: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung. München: Carl Hanser 2007. S. 37. 624 Ebenda, S. 211. 625 Schütte: Auf der Spur, S. 145. <?page no="250"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 246 In zwei geschlossenen Viehwagen wurden [...] Gefangene zur Provinzhauptstadt gebracht, man hörte sie auf dem Bahnhof gegen die Holzwände schlagen und verzweifelte Rufe ausstoßen, die aber, da es sich um eine fremde Sprache handelte, niemand verstand. Eingehüllt in den weißen Wasserdampf der Lokomotive warteten Krankenschwestern und Sanitäter merkwürdig gelassen auf dem Bahnsteig, während aus den Rot-Kreuz-Waggons ein Stöhnen und Seufzen zu vernehmen war. Bald waren Frauen und Kinder aus dem Dorf eingetroffen, in der Absicht, Brot an Verwundete und Gefangene zu verteilen, was untersagt wurde. (LT 431) Diese Passage weckt sofort Assoziationen zu den nationalsozialistischen Deportationszügen. So schreibt Tadeusz Iwaszko in seinem Aufsatz „Deportation ins KL Auschwitz“ über die Deportierten: In der Regel wurden sie mit der Eisenbahn in geschlossenen Viehwaggons nach Auschwitz deportiert. [...] Die mit jeweils 80 und mehr Personen hoffnungslos überfüllten, verriegelten Waggons, die stickige Luft, der Gestank, Hunger, vor allem aber der entsetzliche Durst während der oft viele Stunden dauernden Fahrt waren erst der Anfang dessen, was die Deportierten beim Verlassen des Zuges auf der Rampe des Lagers erwartete. 626 Die Landbevölkerung wird in der „Kriegerischen Eisenbahngeschichte“ als halbwissend über das wahre Ziel des Zuges ausgewiesen, man ist zwar darüber informiert, dass der Zug in die „Provinzhauptstadt“ geht, nicht aber darüber, was dort mit den so genannten „Gefangenen“ passiert oder ob diese vom Bahnhof des Dorfes schließlich zum „Bahnhof Auschwitz“ 627 gebracht werden. Jedenfalls wird ein apolitischer dörflicher Hilfeversuch durch Frauen und Kinder erzählt, das Dorf so explizit aus der Schuld einer möglichen Mittäterschaft genommen, wiewohl es trotzdem auf den Fahrplänen der nationalsozialistischen Deportationszüge aufscheint, deren Erstellung und Einhaltung niemand Geringerem als Adolf Eichmann oblag. Uwe Schütte schreibt in seiner Studie zum Zyklus Auf der Spur der Vergessenen, dass Gerhard Roth in Landläufiger Tod das südweststeirische Dorf als räumliches Mikrobeispiel verwendet, anhand dessen er die großen europäischen Geschichtsverläufe darstellt: 626 Tadeusz Iwaszko: Deportation ins KL Auschwitz und Registrierung der Häftlinge. In: Danuta Czech (u. a.): Auschwitz. Nationalsozialistisches Vernichtungslager. Kraków: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau 1997. S. 77-102, hier S. 84. 627 Viktor Frankl betitelt eines der ersten Kapitel seines autobiographischen Berichts Trotzdem Ja zum Leben sagen ... mit „Bahnhof Auschwitz“. (Vgl. Viktor Frankl: Trotzdem Ja zum Leben sagen ... Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München: dtv 1997. S. 24-28.) <?page no="251"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 247 Indem er nicht nur die authentische Geschichte Obergreiths wiedergibt, sondern gesamtösterreichische Ereignisse und Entwicklungen in dieser Weise verdichtet, kann der kleine Flecken zum Brennpunkt werden, in dem sich umfassende Historie, nicht nur Österreichs, sondern ganz Europas verengt. 628 Das gilt mit Sicherheit für die Darstellung der Deportationszüge in „Eine kriegerische Eisenbahngeschichte“ und auch für das komprimierte Okkupationsszenario in „Letzte Kriegstage“. Schütte führt nun aber in der folgenden Argumentation diese Passage aus „Letzte Kriegstage“ über eine Anordnung des russischen Hauptmanns an: „Es lag ihm daran, Ortstafeln in kyrillischer Schrift aufzustellen, ebenso ließ er einen Wegweiser errichten, auf dem die Anzahl der Kilometer bis in die europäischen Hauptstädte zu lesen war.“ (LT 454), und schließt daraus: „Obergreith dergestalt zum Mittelpunkt Europas zu erklären, ist daher absurd und sinnreich zugleich.“ 629 Der Hauptmann aber erklärt Obergreith damit nicht zum „Mittelpunkt Europas“, sondern er schließt es an Europa an, wie das Dorf eben auch durch den Bahnhof und die Zugverbindung an Europa und damit an die Geschichte angeschlossen ist. Der Hauptmann erhebt damit aber auch im Namen der Roten Armee seinen Anspruch auf das Dorf, er markiert symbolisch, dass es - die „Ortstafeln in kyrllischer Schrift“ - Teil des Sowjetimperiums geworden ist und - die Wegweiser zu den europäischen Hauptstädten - nun von diesem Dorf ausgehend, von der Peripherie aus die europäischen Zentren ins Visier genommen werden. Geschichte verdichtet sich in Landläufiger Tod nicht nur in Räumen und Orten, sondern auch in Figuren. Eine besonders in der Serialität der Ereignisse, im Prinzip der Wiederholung von Geschichte ver- und gefangene Figur ist der Gendarmeriekommandant des Dorfes, gerade weil er sich aus der Verantwortung vor der Geschichte herauszustehlen versucht. In „Letzte Kriegstage“ tritt diese Figur auf, als die Tito-Partisanen abgezogen sind und es im Dorf völlig still wird: „Plötzlich sah ich den Gendarmeriekommandanten mit einem Bündel Kleider über den Hof schleichen. Er trug eine ungewohnte Uniform, weswegen ich ihn zuerst nicht erkannte.“ (LT 443) Als er mit einer Pistole in der Hand in den Ballsaal springt, findet er dort die Tante vor, die sofort den Sachverhalt durchschaut: 628 Schütte: Auf der Spur, S. 132. Von der Wiedergabe „authentischer Geschichte“ sollte natürlich nur in Anführungszeichen gesprochen werden. 629 Ebenda, S. 133. <?page no="252"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 248 Offensichtlich hatte er den Partisanen nicht in der Uniform des Gendarmeriekommandanten gegenübertreten wollen und daher die Postmeisteruniform des Vaters angezogen, nun aber, nachdem die Jugoslawen abgezogen waren und unsere Soldaten das Dorf wieder zurückeroberten, hatte er es eilig, wieder in die Uniform des Kommandanten zu schlüpfen. (LT 443) Bei einer Naturalisierung des gesamten Romans kann an dieser Stelle eine schon in dem Kapitel „Totenstill“, aus dem ersten Buch „Dunkle Erinnerung“, enthaltene Information aktualisiert werden. In diesem Text treffen Lindner und Jenner, die mit dem Auto die Landschaft durchquerend über die Stille des Landstrichs philosophieren - worauf in dieser Studie im Kapitel „Die Vergessenen“ eingegangen wird - auf einen Menschen, der merkwürdig seelenlos über die Hügel marschiert: Auf dem Rücken trägt er den Motor einer Spritzmaschine mit der Propellerschraube, die so breit ist wie er selbst. [...] Außerdem trägt er eine Uniform, ähnlich der eines k.u.k.-Soldaten. [...] Sein Gesicht ist weiß bemalt und starr, und er würdigt uns keines Blickes. (LT 61) Diese Figur trägt ein Schild mit dem Namen des Circus Saluti um den Hals und es ist der Zirkusdirektor, der ihre Identität schließlich aufklärt, sie als „Läufer“ bezeichnet und folgende Geschichte dazu liefert: „Kürzlich, als seine Mutter verstarb, die für seinen Lebensunterhalt aufkam, nachdem er aus dem Staatsdienst ausgeschieden war - er war Gendarmeriekommandant -, erhielt ich Kenntnis von ihm und stellte ihn als Ankünder an.“ (LT 67-68) Lindner und die anderen Dorfbewohner bezeichnen den Ex-Kommandanten meist als „automatische[n] Mensch[en]“ (LT 77). Wenn nun ein Gendarmeriekommandant in k.u.k.-Uniform in „Letzte Kriegstage“ auftaucht, so weiß der aufmerksame Leser von Landläufiger Tod, dass diese Figur einmal als automatischer Mensch enden wird. Warum und unter welchen Umständen sich aber diese Transformation ergeben wird, ist noch unbekannt, wird erst schrittweise in diesem und weiteren Texten und von verschiedenen Figuren enthüllt. Erzähltechnisch ist hier wichtig, dass wir es mit einer Figur zu tun haben, die in keiner Erzählung im Zentrum steht, aber in vielen Texten erwähnt wird, dass sich also in den Gendarmeriekommandanten die zeitgebundenen Projektionen, Intentionen und Auffassungen jener anderen Figuren einweben, die diese Figur erzählend konstruieren. Es gibt kein durch einen Einzeltext, wie er für die close readings herangezogen wird, bestimmtes Bild dieser Figur, sondern nur die im Roman weit auseinanderliegenden, individuellen, mehr oder weniger zuverlässigen, zum Teil dissonanten, multiperspektivischen Figuren-Bilder. So ist die Figur des Gen- <?page no="253"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 249 darmeriekommandanten/ automatischen Menschen mit folgenden Diskursen, Schauplätzen und wichtigen Figuren der Archive des Schweigens direkt oder indirekt verbunden: Macht/ Herrschaft → Zirkus/ Schloss → Zirkusdirektor/ General; Verbrechen/ Schuld/ Recht/ Unrecht → Gefängnis Karlau/ Graues Haus → Lüscher/ Jenner/ Sonnenberg; Wahnsinn → Feldhof/ Steinhof/ Gugging → Lindner (u. a.); Selbstmord/ Gewalt → ländlicher Raum → Ascher (u. a.); Opfer/ Täter → „Gockel“/ Karl Berger. Für die methodische Herangehensweise bedeutet das, dass die verschiedenen wichtigen Aspekte der Figur des Gendarmeriekommandanten im Kontext der Analysen von „Letzte Kriegstage“ und „Gockel“ sowie in den Kapiteln „Machtorte des Gedächtnisses“ und „Die Vergessenen“ besprochen werden. Das An- und Ausziehen der Uniform wird vom Gendarmeriekommandanten in „Letzte Kriegstage“ beim nächsten Besatzerwechsel wiederholt, auch ist er bei jedem Wechsel in die von der neuen Kommandatur befohlenen Aktionen involviert. So wird ihm vom Feldwebel der Wehrmacht befohlen, die erschossenen Deserteure zum Ziegelwerk zu bringen (vgl. LT 445), der bulgarische Leutnant lässt ihn ebenfalls zu sich rufen, wobei „der Gendarmeriekommandant vorgab, Postmeister gewesen, jedoch aus politischen Gründen abgesetzt worden zu sein.“ (LT 448) Zwar glaubt ihm das der Leutnant, lässt ihn auch das Reinigen der blutigen Saalwand (von der Erschießung der Deserteure) überwachen, misshandelt ihn aber dann, als dieser ihm in „einer stockenden Kindersprache“ (LT 448) von sexuellen Übergriffen der bulgarischen Soldaten erzählt, und beschimpft ihn, den Lauf der Ereignisse vorwegnehmend: „Wer er sei? Da er ihn gezwungen habe, die Sprache des Feindes in den Mund zu nehmen, könne er nur ein Idiot, der Idiot des Dorfes sozusagen, sein.“ (LT 449) Daraufhin muss der Kommandant für die Gäste des Leutnants als lebende Sitzgelegenheit fungieren. Als danach die SS das Dorf überfällt, bleibt er in der Postmeisteruniform, führt aber die Tante dem jungen SS- Offizier vor. Nach Einmarsch der Roten Armee wird er, noch immer in der Uniform seines Vaters, von zwei russischen Soldaten dem Hauptmann vorgeführt: „Schon nach wenigen Sätzen übertrug man ihm die Aufgabe, die Hinrichtung der gefangenen SS-Soldaten zu übernehmen und für das Begräbnis der Toten zu sorgen.“ (LT 453) Die letzte Information, welche die Tante zum Kommandanten liefert, lautet: Sodann fuhr der Gendarmeriekommandant mit einigen bewaffneten Dorfbewohnern und einer Handvoll russischer Soldaten auf Pferdefuhrwerken aus dem Dorf, die Gefangenen marschierten voran. Als die Pferdefuhrwerke - es <?page no="254"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 250 sprach sich bald herum, daß sie zu den Steinbrüchen gefahren waren - zurückkehrten, war keiner der Gefangenen mehr dabei. (LT 453) 630 Beginnen wir nun nach dieser etwas ausführlicheren, aber notwendigen Zusammenfassung des Aktionsradius des Kommandanten mit dessen Analyse. Das An- und Ausziehen der Uniform hat eine eminent politische Bedeutungsebene: Mit dem Wechseln der Kleider wird sinnbildlich auf die wechselnden politischen Regime reagiert. Aber der diese Kleider wechselnde Mensch kann seine Biographie, kann seine ideologischen Prägungen nicht so einfach wechseln. Es verhält sich hier wie bei folgendem Beispiel Gerhard Roths, bei dem ein Lebenslauf zum Lauf durch die Staatssysteme wird: Wenn jemand am Ende der Monarchie Richter geworden wäre, dann hätte er schon ein Jahr später in der 1. Republik Recht zu sprechen gehabt. 16 Jahre später, von 1934-1938, hätte derselbe Richter zum dritten Mal die Grundsubstanz seiner Rechtsprechung ändern müssen. Dann kommt das Jahr 1938, der Richter ist nun zwanzig Jahre im Dienst und stellt sich einer Diktatur zur Verfügung, spricht erwiesenermaßen Unrecht. Allein im Wiener Landesgericht ist es zu 1500 Hinrichtungen durch das Schafott gekommen. Nach 1945 gab es wieder eine neue Rechtsprechung, das war dann die fünfte, für ein und denselben Richter. 631 Hinzu kommt weiter, dass der Gendarmeriekommandant zur Tarnung nicht etwa eine zivile Kleidung angelegt hat, sondern dass er in der auffälligen Postmeisteruniform seines Vaters auftritt, er also die als harmlos empfundene Habsburgermonarchie zitiert, 632 die besondere Position seines Vaters aufgreift und selbst weiterhin Macht beansprucht, tatsächlich also diese Verkleidung im Sinne von „Angriff ist die beste Verteidigung“ zu verstehen ist. Genau genommen ist diese Macht aber immer auch Ohnmacht, der Gendarmerie- 630 Es gibt also auch andere Dorfbewohner, die ebenso schnell die Seiten gewechselt haben, oder aber schon auf dieser Seite - als Verbündete der Partisanen - waren. Umso bemerkenswerter, dass auch sie sich des Gendarmeriekommandanten bedienen beziehungsweise ihn nicht verraten. 631 Gerhard Roth: Anatomie des österreichischen Gehirns. Gespräch mit Robert Weichinger. In: Wittstock: Materialien, S. 67-81, hier S. 80. 632 Er zitiert damit außerdem die Zeit des Generals, der bei seinem Tod auch Uniform trägt (vgl. LT 583) und für lange Zeit die bestimmende Figur des Dorflebens ist. Vgl. dazu auch die Deutung von Drynda: „Nicht von ungefähr tritt die Person des künftigen automatischen Menschen in den Wirren des Krieges abwechselnd in seiner k.k. Postmeister-Uniform und in der Gendarmenuniform auf. Neben dem offensichtlichen Sicherheitsaspekt verkörpert dieses absurde Verkleidungsspiel in Wirklichkeit auch den im Verborgenen gehegten Wunsch nach dem sicheren Untertauchen in die heile Welt der abgeklärten Vergangenheit.“ (Drynda: Schöner Schein, unklares Sein, S. 128- 129.) <?page no="255"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 251 kommandant ist, so diskontinuierlich sein Lebenslauf auch erscheinen mag, in eine Kontinuität eingebunden: in die kontinuierliche Unterwerfung unter einen Herrn. Aus dieser Perspektive kann das Tragen der k.u.k. Postmeisteruniform des Vaters betrachtet werden, der eine Respektsperson für den Sohn gewesen sein muss wie ein gewisser k.k. Zollbeamter Alois Hitler für seinen Sohn. 633 Weitere autoritäre Machtmenschen müssen die Gendarmeriekommandanten gewesen sein, bei denen der Läufer in die Lehre gegangen ist, wie jenem in „Drei Tote“ ausführlich beschriebenen, wobei keine Gendarmenbeschreibung in diesem Text auf den späteren automatischen Menschen zutrifft (zumindest hat niemand einen Postmeister als Vater), der Corpsgeist aber als identitätsprägend verstanden werden kann. 634 Für die vorauseilende Unterwürfigkeit des Kommandanten kann weiters die Erzählung „Todesstrafe“ Erklärungen lieferen, denn Lindners Vater erzählt darin, wie Partisanen in das Dorf eindrangen: Sie „betraten ohne einen Augenblick zu zögern das Haus des Gendarmen, den sie in der Küche in Hosenträgern vorfanden und erschossen ihn und gleich darauf seine herbeieilende Mutter.“ (LT 299) In „Das Ende eines Parteigängers“ führt Lindners Vater seine Schilderung dann fort mit der Feststellung, dass nach dem Begräbnis des Gendarmen „der zweite Gendarm zum Kommandanten befördert worden war“ (LT 322), dessen Vorsichtigkeit nun nicht unbedingt überraschen muss. Von einer diesen Ereignissen vorausgegangenen opportunistischen Anbiederung an den Nationalsozialismus (wie wahrscheinlich auch den Austrofaschismus) kann aber ausgegangen werden, ansonsten wäre es nicht möglich gewesen, zum Kommdanten berufen zu werden. Der „Läufer“ war also immer ein Mit-Läufer: „Die Gestalt des ehemaligen Gendarmen macht deutlich, in welchem Maße die innere Haltung (Anpassungsfähigkeit um jeden Preis) in die äußere Verfassung (Willenlosigkeit ohne Eigeninitiative, Marionettenhaftigkeit) eingehen kann.“ 635 Zu Kriegsende folgt dann die ehrerbötige Aufwartung bei den diensthabenden Offizieren der jeweils bestimmenden Truppen, wobei sich 633 Brigitte Hamann berichtet, dass Hitler von seinem Vater - im Gegensatz zu seinem älteren Bruder Alois - verwöhnt wurde, dass er aber auch verprügelt wurde, wobei der Vater einmal gefürchtet habe, seinen Sohn umgebracht zu haben. (Vgl. Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München, Zürich: Piper 1997. S. 16.) 634 Unter Umständen könnte man den/ die Gendarmeriekommandanten in Landläufiger Tod mit Theodor W. Adornos Studien zum autoritären Charakter [Übers. v. M. Weinbrenner. Vorr. v. L. v. Friedeburg. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1999 (stb wissenschaft 1182)] untersuchen, jedoch fehlt in dieser Arbeit für die dazu notwendigen methodischen Vorbemerkungen, Problematisierungen und Rahmungen der Raum. 635 Drynda: Schöner Schein, unklares Sein, S. 128. <?page no="256"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 252 der Kommdant als besonders zuverlässiger Exekutor jedes Herrschaftsapparates erweist. Nach dem Krieg übernimmt dann der Zirkusdirektor, ein Zirkusdiktator im Westentaschenformat, die Funktion des Machtzentrums, um das der dann automatische Mensch wie ein Satellit kreist. Der immer subkutan vorhandene Masochismus des Sadisten hat im Läufer die Oberhand gewonnen. Über die Begegnung mit der Tante zu Beginn von „Letzte Kriegstage“ wird die erotische Komponente des An- und Ausziehens der Uniform deutlich gemacht, denn obwohl der Kommandant der Tante befiehlt, sich umzudrehen, während er sich umzieht, kommt ein Wehrmachtssoldat dazwischen, „der uns zunächst argwöhnisch, dann mit einem niederträchtigen Lächeln musterte, aus dem hervorging, daß er der Meinung war, er hätte den Gendarmeriekommandanten und mich als Liebespaar überrascht.“ (LT 443-444) Tatsächlich aber geht es beim Kommandanten um Autoerotik, um die Erotik der Macht, die mit der Uniform verbunden ist, weshalb Dryndas These nur im ersten Satz zugestimmt werden kann: Der Mann ist ein musterhafter Fall und eine Metapher zugleich für die opportune Anpassungsfähigkeit an die im jeweiligen Moment herrschende Gewalt. Kaum zu übersehen ist hier die Parallele zu dem in ein Mieder eingeschnürten Deserteur Felix Golub in Fasching von Gerhard Fritsch [...]. 636 Bei genauerer Betrachtung der intertextuellen Relation stellt sich allerdings eine gegenteilige Semantisierung des Verkleidens heraus. Bei Fritsch verkleidet sich Golub als Dienstmädchen, um dem Arm der nationalsozialistischen Macht zu entgehen, bei Roth verkleidet sich der Kommandant als Postmeister, um an der Macht zu bleiben. Und während bei Fritsch der als Dienstmädchen verkleidete Deserteur letztendlich die Kleinstadt rettet, indem er den in ihn verliebten Kommandanten irreführt, rettet der als Postmeister verkleidete Gendarm bei Roth nur sich selbst - auf Kosten anderer. Allerdings hat bei Fritsch das Verkleiden sicher auch eine erotische Komponente; außerdem spielte das Transvestismusthema 637 eine Rolle im Leben (und Sterben) des Autors selbst. 638 636 Ebenda. 637 Das, wie im Abschnitt zum unzuverlässigen Erzählen angedeutet, auch eine gewisse Rolle für Franz Lindner spielt. 638 Vgl. dazu Stefan Alkers aus der Arbeit am in der Wienbibliothek aufbewahrten Nachlass hervorgegangene Biographie: Das Andere nicht zu kurz kommen lassen. Werk und Wirken von Gerhard Fritsch. Wien: Braumüller 2007 (Wiener Arbeiten zur Literatur 23). <?page no="257"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 253 Verbunden sind die beiden Verkleidungskünstler der österreichischen Nachkriegsliteratur dann aber im Fasching, der ja im Ballsaal gefeiert wird, denn von Fasching zu Faschismus ist es, wie Robert Menasse in einem etwas gewagten Aperçu im Nachwort zu Fritschs Roman feststellt, trotz unterschiedlicher Etymologie nicht weit. Und das von Menasse erwähnte Beispiel jener österreichischen Kleinstadt, in der der Bürgermeister nach dem Krieg ein Bild, das zum ,Anschluss‘ gemalt wurde, übermalen ließ, passt gut zu Roths Figur: „Die Hakenkreuzfahnen wurden vom Künstler und zwei Gehilfen raschest mit den österreichischen Farben übermalt, SS- und Wehrmachtsuniformen mutierten zu Steirer-Anzügen, aus BDM-Uniformen wurden Dirndlkleider.“ 639 Bei Fritsch ist es schließlich in der Nachkriegszeit so, dass im Fasching jeder wieder sein wahres faschistisches Gesicht zeigen kann, Felix Golub wird aus Rache für die (Art der) Rettung zur Faschingsprinzessin gewählt, durch die Verkleidung kommt also die wahre Kleidung der Kleinstädter zum Vorschein. Im Alltag aber wird, wie Aleida Assmann feststellt, eine Maske getragen, das Verkleiden erscheint so als prototypisch für die Nachkriegsgesellschaft: Im „inquisitorischen“ Klima der Entnazifizierungsphase antwortete man auf den Bekenntnisdruck und den Imperativ der Wandlung mit Rückzugsstrategien. Gegen die Kultur der Aufrichtigkeit, der Betroffenheit und die Forderungen der Gesinnungsethik wappnete man sich in [sic! ] Schweigen und machte ein „Recht auf Maske“ geltend. Dieses hielt die Mitmenschen gegenseitig auf Distanz und verwehrte ihnen Einblicke in die je eigene Innenwelt. 640 Der Gendarmeriekommandant trägt aber nicht nur die Kommandanten- und Postmeisteruniform, sondern wird schließlich zum Läufer, zum automatischen Menschen, begibt sich in eine dritte Verkleidung, in der er, worauf noch im Kapitel „Gockel“ eingegangen wird, jedwede Erinnerung an sein 639 Robert Menasse: Nachwort. In: Gerhard Fritsch: Fasching. Mit e. Nachw. v. Robert Menasse. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1995 (stb 2478). S. 241-249, hier S. 242. Menasse könnte hier das in dieser Studie in der Analyse von „Auf dem Schneeberg“ schon erwähnte und von Christoph Ransmayr beschriebene Rathausgemälde in Waidhofen an der Ybbs meinen, allerdings passen dazu die Steireranzüge schlecht, liegt dieser Ort doch in Niederösterreich. Nicht gerade Steireranzüge, aber doch eine ähnliche Problematik zeigt sich allerdings bei einem Gobelin im Rathaus der Stadt Graz, das im Frühjahr 2009 für Kontroversen und mehrere Artikel in der Steiermark-Ausgabe der Kleinen Zeitung sorgte, als sich auf Hinweis der Grazer Historikerin Antje Senarclens de Grancy herausstellte, dass der so genannte „Türken-Gobelin“ ursprünglich „Graz. Stadt der Volkserhebung. Bollwerk gegen den Südosten“ hieß und von den Nazi- Künstlern Hans Stockbauer und Heinz Reichenfelser gestaltet wurde. 640 Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 111. <?page no="258"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 254 voriges Leben ausgelöscht zu haben scheint, auch wenn bestimmte Charakterzüge noch bisweilen durchscheinen. Aus pragmatischer Perspektive kann das aber erst im Nachhinein eingeordnet werden, denn zunächst nimmt der Leser den Kommandanten rein aus der Gegenwart des Romans und der Außensicht als Läufer und automatischer Mensch wahr, der von quasi-epileptischen Anfällen geschüttelt wird, sich beständig selbst verletzt und vom Zirksudirektor missbraucht wird (vgl. LT 66-69). Eine Klassifizierung als Opfer ist also naheliegend, muss aber nach der Lektüre von „Letzte Kriegstage“ revidiert werden. Wieder haben wir es hier mit einem Shift vom „primacy effect“ zum „recency effect“ zu tun, wie er in den ersten Absätzen zur Figur des unzuverlässigen Erzählers beschrieben wurde: Der Leser wird aufgrund neuer textueller Signale zu einer Reinterpretation einer Figur oder eines Sachverhaltes veranlasst. Auf diese Weise können dann unklar gebliebene Situationen erklärt werden, zum Beispiel jene, in welcher der automatische Mensch Jenner mit großer Aggression attackiert (vgl. LT 64-65) oder warum in der Wut „[s]ein Kiefer herrisch hervor[tritt]“ (LT 67). 641 Diese subkutan fortgeschriebenen persönlichen Eigenschaften verweisen auf eine Kontinuität, die es im Konzept der „diachronen Schizophrenie“ nicht geben dürfte. Dieses Konzept von Claus Leggewie greift Aleida Assmann sowohl in Geschichtsvergessenheit. Geschichtsversessenheit 642 als auch in Der lange Schatten der Vergangenheit 643 auf, um die Spaltung einer Persönlichkeit im Zuge eines politischen Transformationsprozesses begreifbar zu machen, wobei sie in letzterem Buch ergänzt, dass sie den Begriff des „diachronen Doppelgängers“ bevorzugt. 644 In beiden Büchern führt Assmann in diesem Zusammenhang das Beispiel des SS-Mannes Hans Schneider an, der als Hans Schwerte als Germanistikprofessor und Rektor der Aachener Universität Karriere machte. Schwerte hatte keine Umwandlung seiner Identität unternommen, sondern eine völlige Neukonstruktion, die zu einer totalen Abwendung von der eigenen Vergangenheit führte: 641 Zur körperlichen Seite von Macht passt Borsòs Auseinandersetzung mit Foucaults Aufsatz „Le sujet et le pouvoir“ (1982): „Foucault hat hier eine phänomenologische Fundierung. Macht ist eine Artikulation der Subjektivität gegenüber der Welt und diese Artikulation verläuft über ein Medium: den Körper, der den Menschen an seine Lebenswelt bindet. Gerade am Körper zeigt sich aber auch, dass die Grenze auch eine Schwelle ist, eine Kontaktfläche zum Anderen.“ (Borsò: Grenzen, Schwellen und andere Orte, S. 25.) 642 Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 135-139. 643 Assmann: Der lange Schatten, S. 141-144. 644 Ebenda, S. 143. <?page no="259"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 255 [W]ährend eine Identitätskonversion nur auf der Anerkennung der früheren Schuld und damit auf Erinnerung gegründet werden kann, gründet Schneider/ Schwertes Umbenennung auf Vergessen, weil mit dem früheren Ich zugleich dessen Erinnerungen abgeschnitten werden. 645 Man kann also sagen: „Der Mann mit den beiden Namen ist nicht sein eigener Doppelgänger gewesen, sondern hat nacheinander zwei Leben geführt, die (fast) nichts miteinander zu tun hatten.“ 646 Der Fall Schneider/ Schwerte wurde als Sinnbild für die Idee einer Stunde Null nach 1945 und den völligen Neuanfang gedeutet, passgenau schneiderte dieser Mann seine Identitäten für das jeweilige Staatssystem: „Die beiden personalen Identitäten Schneider und Schwerte spiegeln aufs Genaueste den Werthorizont ihrer jeweiligen Gesellschaft; jeder war ein bis zur Perfektion konformes Mitglied seiner Gesellschaft.“ 647 Dies gilt zu Beginn auch für den Gendarmeriekommandanten, doch weil er seinen dörflichen und sozialen Raum im Gegensatz zu Schneider/ Schwerte nicht verlässt, wird er von der Geschichte in Person des Zirkusdirektors schließlich eingeholt und zu einem so radikalen Bruch veranlasst, dass es ihm nicht mehr wie Schneider/ Schwerte möglich ist, ein konformistisches Leben zu führen. Letztendlich, so eine mögliche Deutung, ist der Gendarmeriekommandant von den häufigen Identitätswechseln, welche die geschichtliche Entwicklung, wie er meint, von ihm erfordert, überfordert, seine Flucht ins Vergessen ist deshalb ohne Reißleine, sein Fall ein vollständiger. Irgendwo im Niemandsland der Identitätskonversionen zwischen Schneider/ Schwerte und dem Gendarmeriekommandanten wäre übrigens auch der ehemalige österreichische Bundespräsident Kurt Waldheim zu positionieren, über den Gerhard Roth geschrieben hat, er sei ein „Mann ohne Vergangenheit und wohl auch ohne Zukunft, mit der vagen Ähnlichkeit einer transsylvanischen Kultfigur aus der phantastischen Literatur“. 648 645 Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 137-138. 646 Ebenda, S. 135. 647 Assmann: Der lange Schatten, S. 142. Allerdings war Schwerte kein reaktionärer, sondern eher ein linksliberaler Professor. Assmanns Formulierung ist hier insofern zu generalisierend, als sie keinen Unterschied macht zwischen Konformismus in einem faschistischen System und einem relativen Konformismus, wie er in den Demokratien westlichen Zuschnitts gefordert wird, um Karriere zu machen. In einem pluralistischen Staat, in dem verschiedene Positionen gesellschaftsfähig sind, ist „perfekter“ Konformismus nicht möglich. 648 Roth: Im Reich des Herrn Karl, S. 49. <?page no="260"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 256 Trotz des vorherrschenden Prinzips der Wiederholung ist in „Letzte Kriegstage“ der Krieg einmal zu Ende, allerdings noch nicht zu jenem Zeitpunkt, als die Bulgaren abziehen und erstmals im Text davon gesprochen wird: „Sofort ging das Gerücht um, der Krieg sei zu Ende. Trotz aller Schrecken, die ich noch immer empfand, verspürte ich Freude.“ (LT 450) Die Tante reagiert also erleichtert, es ist nicht das Pathos der Niederlage vorfindbar, genauso wenig kann aber von einer politisch gedachten Befreiung gesprochen werden. Es ist vielmehr eine Befreiung von der Unsicherheit, von der Angst, von der Gewalt, letztendlich also eine Befreiung aus einer Opferrolle, von der die Tante wie selbstverständlich ausgeht. Natürlich ist aber die Pointe, dass der Krieg zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu Ende ist, denn als Nächstes fällt die SS über das Dorf her, dann erst marschiert die Rote Armee ein, wobei - wie schon oben erwähnt - diese die Tante aus der von der SS angeordneten Quarantäne befreit, ein subjektives Gefühl der Befreiung zu Kriegsende bei der Tante also logischerweise gegeben sein muss. Roth versinnbildlicht mit der weggesprengten Mauer die Position, das Kriegsende als Befreiung vom Nazi-Joch durch die Rote Armee zu sehen; dass dabei ein mit der Tante eingeschlossener Knecht stirbt, kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass diese Befreiung natürlich keine unblutige war. Vom Kriegsende selbst werden die Dorfbewohner am Tag nach dem Auftauchen der Roten Armee bei einer Filmvorführung in der Kirche informiert, wobei keine Reaktionen berichtet werden, nur der völlig unaufgeregte Satz findet sich: „Wir erfuhren, daß der Krieg zu Ende war.“ (LT 454). Die angeordnete Filmvorführung selbst jedoch wird emotional rezipiert: Das Dorf war menschenleer, denn es war uns (unter Androhung der Todesstrafe) befohlen, anwesend zu sein. Man spielte uns Filme vom Krieg (mit kyrillischen Untertiteln) vor, die wir mit ungläubigem Staunen betrachteten. Man ließ uns jedoch keine Zeit, über unsere Eindrücke zu sprechen, denn sowie die Kinovorstellung beendet war, hatten wir uns auf die Straße zu begeben, wo die russischen Soldaten angetreten waren, um aus den Händen ihres Hauptmannes Orden zu empfangen. (LT 454) Die hier als „Filme vom Krieg“ bezeichnete Vorführung inkludierte allerdings meist Bilder aus den Konzentrationslagern, die von den Alliierten zu Zwecken der politischen Pädagogik unmittelbar nach Kriegsende eingesetzt wurden. Allerdings, so führt Aleida Assmann aus, weckten diese Bilder bei der deutschen und offensichtlich auch österreichischen Bevölkerung einen Abwehrreflex - „mit ungläubigem Staunen“ sagt folgerichtig die Tante, habe man die Filme gesehen -, den Eindruck, kollektiv beschuldigt zu werden, sowie ein <?page no="261"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 257 Gefühl der Beschämung vor der Welt, die diese Bilder der Nazi-Verbrechen nun zu sehen bekam. Daraus habe sich die spezifische, mit Gefühlen der Scham verbundene Form des deutschen Traumas entwickelt: An die Stelle einer lange geübten Strategie offizieller Geheimhaltung und inoffiziellen Wegschauens im NS-Staat trat mit einem Schlag die Präsentation deutscher Schuld unter die Augen der Weltöffentlichkeit. Das deutsche Trauma ist ein Trauma der Scham, nicht der Schuld. 649 Für Österreich könnte diese These - ohne den Traumabegriff überstrapazieren zu wollen - auch Geltung beanspruchen, andererseits wurden Gefühle der Scham oder auch Schuld aufgrund der Opferthese von vornherein unterdrückt und abgeblockt. Unterschwellig könnte allerdings sehr wohl Scham vorhanden (gewesen) sein, man denke nur daran, dass viele Einwohner der umliegenden Regionen nach der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen ebenfalls aus pädagogischen Gründen zu Aufräumarbeiten in diesem Lager verpflichtet wurden. 650 Interessanterweise spielt Scham ja auch in „Letzte Kriegstage“ im Zusammenhang mit der sexuellen Aufladung des Textes eine gewisse Rolle: Das Entkleiden und Nacktsein ist mit Scham besetzt. Ziel dieser Aufklärung der Bevölkerungen der Gebiete des ehemaligen NS- Staates war es, mithilfe einer „,Strategie der Wahrheit‘ [...] und durch eine authentische und faktische Berichterstattung einen ,Schock der Wahrheit‘ [zu] erzeugen, der zu einer spontanen und unabweisbaren Anerkennung von Schuld führen sollte.“ 651 Allerdings sei „man sich heute einig, daß die Therapie nicht zu einer Spontanheilung geführt hat.“ 652 Stattdessen sieht Assmann die Konfrontation mit den Bildern der ermordeten und misshandelten Opfer als deutsches Trauma, das aufgrund der medialen Schlagseite eben zu einem Trauma der Scham geworden sei. „Letzte Kriegstage“ ist nun so komponiert, dass die Stimmen zum Gesehenen nicht inszeniert werden, da sofort nach der 649 Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 122. 650 In Erinnerungserzählungen werden die befreiten KZ-Insassen negativ dargestellt, ihr Auftreten sorgt für Angst, wie aus einem Gespräch mit einer Frau Scherer hervorgeht, die zu Kriegsende in der Nähe des KZ Mauthausen gewohnt hat: „Die Besatzer und die entlassenen Häftlinge des Konzentrationslagers bilden gemeinsam ein Bedrohungsbild, auf das Frau Scherer nahezu panisch reagiert. Ein ,Trauerspiel‘ und ,bitter‘ sei es gewesen, wie die einmarschiert sind und die aus dem Konzentrationslager ausgelassen haben. Das Elend, welches sich vorher zwar vor ihren Augen, bei Tag oder Nacht, aber eben außerhalb ihrer Lebenswelt von Nahrung, Kindern oder Mann abspielte, stürzt nunmehr direkt und unabweisbar auf sie ein. “ (Kannonier-Finster/ Weiterschan/ Ziegler: Gespräche über die NS-Vergangenheit, S. 142-143.) 651 Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 124-125. 652 Ebenda, S. 126. <?page no="262"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 258 Filmvorführung eine Ordensvergabe der siegreichen Roten Armee stattfindet. Trotzdem lässt der Text allerdings aufgrund der Aussage vom „ungläubigen Staunen“ den Schluss zu, dass der Film auch in der Dorfbevölkerung nicht die gewünschte Wirkung erzielt hat. Ganz anders übrigens als bei Gerhard Roth selbst, bei dem ein ähnlicher Film eine starke Reaktion auslöste: Als ich 15 Jahre war, ging ich ins Grazer Opernkino, da war ein Film über einen Prozeß angekündigt. [...] Es war ein Dokumentarfilm über den „Nürnberger Prozeß“, und ich wußte nichts darüber. [...] Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben Leichenberge und Erschießungen. [...] Ich fing während des Films zu weinen an, konnte aber nicht wegsehen. Als die Hinrichtungen der NS-Kriegsverbrecher gezeigt wurden, hat mich das auch entsetzt. Ich wurde ein Gegner totalitärer, politischer Systeme, im speziellen des Nationalsozialismus, und ein Gegner der Todesstrafe. 653 653 Roth: Anatomie des österreichischen Gehirns, S. 70-71. <?page no="263"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 259 3.4.2 „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ Die Erzählung „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ (LT 477-505), welche von den Erlebnissen von Lindners Vater mit Ustaša-Soldaten, Tito- Partisanen, russischen, bulgarischen und englischen Armeeangehörigen sowie versprengten Mitgliedern des Volkssturms, der Wehrmacht und der SS in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges handelt, ist eine der längsten und vielschichtigsten in Landläufiger Tod. Eine vollständige Analyse aller relevanten Passagen dieser Erzählung würde deutlich mehr Raum benötigen, als ihr in der folgenden Studie aus Gründen des Gleichgewichts zwischen den verschiedenen close readings zugestanden werden kann. Im Folgenden wird deshalb eine selektive Analyse der für das Thema dieser Studie besonders wichtigen Aspekte dieses Textes vorgenommen, indem eine besondere Fokussierung auf die zentrale Figur des Vaters von Franz Lindner erfolgt. Außerdem soll einigen bis jetzt noch kaum beachteten Themenstellungen nachgegangen werden wie Fragen der intertextuellen Vernetzung, vor allem mit Joseph Conrads Heart of Darkness (1902) und dessen ,Verfilmung‘ von Francis Ford Coppola Apocalypse now (1979), der Figur der Grenze und der Bedeutung des Raumes. „Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur“, 654 schreibt Roland Barthes in seinem Epoche machenden Aufsatz „Der Tod des Autors“, dabei die Schreiber-Funktion des Autors, der nicht wie ein Gott aus dem Nichts, sondern aus der Welt schöpft, festlegend. Ist nun bereits der Titel eines Textes ein kulturhistorisch genau identifizierbares Zitat, ist es unumgänglich, dem an so prominenter Stelle platzierten intertextuellen Verweis mit besonderer Aufmerksamkeit nachzugehen. „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ bezieht sich auf die alttestamentarische Geschichte „Die drei jungen Männer im Feuerofen“ (oder „Die drei Jünglinge im Feuerofen“) aus dem Buch Daniel 655 mit folgendem Inhalt: Da die drei Juden Hananja (babyl. Schadrach), Asarja (babyl. Abed-Nego) und Mischael (babyl. Meschach) nur an ihren Gott glauben, weigern sie sich, das goldene Standbild anzubeten, das der babylonische König Nebukadnezzar errichten hat lassen. Zur Strafe werden sie in den Feuerofen geworfen. Anstatt jedoch zu verbrennen, geschieht ihnen nichts, während rundum die Babylo- 654 Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis (u. a.) (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000 (Univ.-Bibl. 18058). S. 185-193, hier S. 190. 655 Daniel 3,1-97. <?page no="264"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 260 nier von dem besonders angeheizten Ofen versengt werden. Daraufhin stimmen die drei Jünglinge einen Lobgesang auf ihren Gott an: „Denn er hat uns der Unterwelt entrissen / und aus der Gewalt des Todes errettet. Er hat uns aus dem lodernden Ofen befreit, / uns mitten aus dem Feuer erlöst.“ 656 Nebukadnezzar erkennt daraufhin die Stärke des israelitischen Gottes an und verbietet seine Schmähung. Wie die meisten biblischen Texte steht auch „Die drei jungen Männer im Feuerofen“ am Beginn einer extensiven und bis in die Gegenwart reichenden Stoffgeschichte, die von der Literatur über die Musik bis zur Bildenden Kunst alle Kunstrichtungen umfasst. 657 In der Literatur des 20. Jahrhunderts ist vor allem Carl Zuckmayers Drama Der Gesang im Feuerofen (1950) zu nennen, 658 in dem es um die Verhandlung von Schuld im Kontext der französischen Résistance geht, außerdem gibt es den nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch bedenklichen Roman des nationalsozialistischen Schriftstellers Heinz Steguweit Der Jüngling im Feuerofen. Roman um das Ende des Ersten Weltkrieges und die Besetzung des Rheinlandes. (1932) 659 Erwähnenswert sind weiters Karl-Heinz Stockhausens Musikstück Gesang der Jünglinge im Feuerofen (1956) und Benjamin Brittens Oper The Burning Fiery Furnace (1966, dt. Die Jünglinge im Feuerofen). Auf der gedächtnistheoretischen Ebene wurde das gesamte Buch Daniel von Jan Assmann als Widerstandsnarrativ gedeutet. In dem für diese Intepretation relevanten Abschnitt von Das kulturelle Gedächtnis beschäftigt sich Assmann mit der „Mythomotorik der Erinnerung“. 660 Assmann versteht den Mythos als ,heiße‘ Erinnerung, wobei er zwei Funktionspotentiale unterschei- 656 Daniel 3,88. 657 Siehe dazu z. B. Werner Schröder: Die drei Jünglinge im Feuerofen. Die Ältere Judith. Überlieferung - Stoff - Form. Mainz: Akademie der Wissenschaften und Literatur 1976. (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse: Jg. 1976, Nr. 5). 658 Auch Auer: Der österreichische Kopf, S. 143, erwähnt Zuckmayers Drama und außerdem das Buch Daniel, Schütte: Auf der Spur, S. 135, verweist bei seiner Besprechung von „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ auf das Buch Daniel. 659 Im Lexikon nationalsozialistischer Dichter wird unter anderem die christliche Aufladung dieses Romans in den Blick genommen: „Auch Steguweits ,Jüngling im Feuerofen‘ veranschaulicht die in NS-Dichtungen stereotyp wiederkehrende Vereinnahmung christlich konnotierter Begrifflichkeiten und deren mühelose Integration in die Ideologie der Demagogen des ,Dritten Reiches‘“. (In: Jürgen Hillesheim und Elisabeth Michael: Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien, Analysen, Bibliographien. Würzburg: Königshausen & Neumann 1993. S. 427.) 660 Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 78-86. <?page no="265"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 261 det: „fundierend“ und „kontrapräsentisch“. Die kontrapräsentische Erinnerung „geht von Defizienz-Erfahrungen der Gegenwart aus und beschwört in der Erinnerung eine Vergangenheit, die meist die Züge eines Heroischen Zeitalters annimmt.“ 661 Als „Mythomotorik“ versteht Assmann nun jene sich aus den beiden Funktionspotentialen des Mythos ableitende „selbstbildformende[...] und handlungsleitende[...] Bedeutung, die er für eine Gegenwart hat, [...] [die] orientierende[...] Kraft, die er für eine Gruppe in einer bestimmten Situation besitzt.“ 662 Revolutionär wird kontrapräsentische Mythomotorik laut Assmann in millenaristischen Bewegungen, die Erinnerung als rückwärtsgewandte Utopie gegen eine von oppressiver Fremdherrschaft geprägte Gegenwart gebrauchen: Auch das Buch Daniel, das älteste Zeugnis einer millenaristischen Form kontrapräsentischer Mythomotorik, ist in einer solchen Situation entstanden. Es wird heute allgemein in die Zeit des Antiochus IV. Epiphanes datiert, in die Zeit der ersten religiös motivierten Widerstandsbewegung, von der die Geschichte weiß: der Makkabäerkriege. 663 Aufgrund dieser gedächtnistheoretischen Interpretation des Buches Daniel und der vorliegenden Intertexte der „Drei Jünglinge im Feuerofen“ lässt sich feststellen, dass sich „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ mit seinem Titel in ein Spannungfeld von Widerstands- und Nazi-Narrativen stellt, dass auf diesen Text im großen religionsgeschichtlichen, biblischen Rahmen aus Vergangenheitskonstruktionen geschöpfte und auf die Zukunft projizierte Heilserwartungen beziehbar sind beziehungsweise solche mitthematisiert werden. Das Bild vom Feuerofen wird in manchen künstlerischen Arbeiten zum Stoff gebraucht als eine Metapher für den Krieg, der zur Erlösung führen soll oder kann. 664 Auch bei Roth bezeichnet der Feuerofen den Krieg oder, genauer, die Wirren der letzten Kriegstage. Aber es fehlt der eschatologische Aspekt, denn das Heil kann nicht erlangt werden, der Ruf nach dem allmächtigen Gott ist nicht möglich, der Jüngling verstummt im Feuerofen, 665 als er 661 Ebenda, S. 79. 662 Ebenda, S. 79-80. 663 Ebenda, S. 80-81. 664 Übrigens gibt es in Roths Das Alphabet der Zeit das Kapitel „Die Comic-Hefte im Feuerofen“ (S. 533-536), in dem der Vater die Comic- und Science-Fiction-Hefte seiner Söhne aus Zorn über deren schlechte Leistungen in der Schule in den Ofen wirft. 665 Allerdings gibt es auch einen alttestamentarischen, Gedächtnis-relevanten Gesang im Zyklus: „Aus dem Alten Testament hörten wir den Chor der Propheten Lieder aus dem Gedächtnis singen.“ (AA 53) <?page no="266"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 262 Soldaten der kroato-faschistischen Ustaša - die von ihm als „Partisanen“ bezeichnet werden - begegnet, wobei hier wie bei Korradows Gedächtnisperformances kulturelle Differenz eine Rolle spielt: Erst als die Partisanen ihn [Lindners Vater; G. L.] packten und anschrien, hörte er zu laufen auf, er erkannte auch erst jetzt, in welche Gefahr er sich begeben hatte. […] [Die Partisanen] trugen Schnurrbärte, wodurch mein Vater sie für Jugoslawen hielt. Und er verstand auch, was sie von ihm wollten (daß sie Auskunft über seine Absichten wünschten), er konnte ihnen jedoch nicht antworten. Das einzige, was er hervorbrachte, war ein Tierlaut, und auch als er sich darüber im klaren war, daß er sprechen mußte, war er nur imstande, diese Klagelaute auszustoßen. (LT 483) 666 Das Verstummen von Lindners Vater ist aber nicht nur negativ zu bewerten, es hat, wie umgekehrt der Gesang bei den biblischen Jünglingen, eine Schutzfunktion: 667 Der Vater wird dadurch nicht ernst genommen und nicht belangt. Zudem rückt es ihn in eine privilegierte Beobachterposition, die jener der Tante in „Letzte Kriegstage“, für die ihr Frausein ausschlaggebend ist, und vor allem jener seines Sohnes Franz Lindner ähnlich ist; auf diesen wird das Verstummen als Schweigen übergehen. Diese Vater-Sohn-Relation verweist darauf, dass durch das „System Familie [...] über Generationen hinweg bestimmte Ströme fließen und nachhaltige Übertragungen jenseits sprachlicher Kommunikation stattfinden.“ 668 Die bei Lindner Vater und Sohn zu deduzierende Übertragung findet nicht nur „jenseits sprachlicher Kommunikation“ statt, sie besteht in der Sistierung sprachlicher Kommunikation und den sich daraus ergebenden Konnotierungen, die schon früh im Text angedeutet und als Auslöser für die unfreiwillige Reise an die Grenzen von Krieg und Frieden, von Fremdem und Eigenem, von ,Normalität‘ und ,Wahnsinn‘ genannt werden: „Mein Vater riß sich los und stürzte aus dem Dorf. Im Dorf, sagte er, fürchtete er um den Verstand zu kommen.“ (LT 478-479) An anderer Stelle wird Lindners Vater noch deutlicher: „Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß es für mich am besten wäre, verrückt zu werden und nicht dagegen anzu- 666 Bemerkenswert ist hier die Parallele zu einer Stelle in Roths Essay zum Wiener Heeresgeschichtlichen Museum, welche im Kontext einer italienischen Sprengung auf dem Col di Lana im Ersten Weltkrieg zu lesen ist: „Nur ein Kaiserjäger überlebte die Sprengung. Nackt und stumm, er hatte Kleider und Sprache verloren, kroch er bis zu den österreichischen Stellungen ins Tal.“ (RIW 263) 667 So heißt es einmal in einer Szene, als er anderen Flüchtenden begegnet: „Beim ersten Tierlaut, den ich ausstieß, bemerkte ich, wie mich das scheinbare Idiotentum vor weiteren Fragen und der Nächstenliebe der Flüchtenden schützte.“ (LT 499) 668 Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 94. <?page no="267"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 263 kämpfen. Mir fehlte jedoch die Kraft, den Verstand zu verlieren, ich war zu erschöpft.“ (LT 497) 669 Bei dieser Lindner’schen Familientradition des Spiels mit dem Verrücktwerden und Schweigen muss aber bedacht werden, dass es ja im fiktionalen Rahmen Franz Lindner ist, der die Erinnerungserzählung des Vaters aufschreibt, und ergo eine Projektion vom Sohn auf den Vater angenommen werden kann. Hier wird auch ein Problem virulent, das auf Lindner und seinen Vater zutreffen könnte: Jene Generation, die ihre Identitäts-Umwandlung im Medium des Schweigens vollzogen hat, ließ ihre Kinder und Kindeskinder mit einem Vakuum zurück, das neue Identitätsprobleme schuf und jederzeit durch Projektionen und Ängste aufgefüllt werden kann. 670 Das Problem der Übertragung wird übrigens in dem Text „Von zwei Seiten“ als Narrativ-Doppelhelix gedachte Gedächtnis-DNA vorgeführt: Ja, aber wer wird uns die Geschichten erzählen, die als Erbgut unserer Vorfahren durch unsere Körper zirkulieren? Hat man sie uns mit auf den Weg gegeben, um uns zu heilen? Um unseren Geist zu verwirren? Oder um uns zu erinnern, daß wir sterblich sind? (LT 312) Nicht zuletzt lässt sich „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ mit Lindners Bibelplan in Verbindung bringen; der Sohn könnte der Lebenserzählung des Vaters ein nicht-eschatologisches, biblisches Format verpasst haben: „Als Beispiel für die Neufassung der Bibel, die Lindner verwirklichen will, die das Regressive und Progressive vereint, kann der Bericht des Vaters mit dem Titel Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen herangezogen werden.“ 671 Christelle Strauss kontextualisiert den Text hier nicht nur religiös, sondern ebenso im Hinblick auf seine poetologischen Grundlagen: „Die frühromantischen Begriffe des Progressiven und Regressiven als Vereinigung des Zukünftigen mit dem Vergänglichen zielten darauf, die Transzendentalpoesie zu erreichen.“ 672 Strauss versteht demnach „Lindners Wille, eine neue Bibel als sein Buch der Zukunft zu schaffen, [...] als das Progressive“ 673 und „Das 669 Diese Sätze könnten aussagen, dass Lindners Vater die Kraft fehlt, nicht gegen das Verrücktwerden anzukämpfen - und nicht umgekehrt. Allerdings ist bei Roths teilweiser Idealisierung des Wahnsinns auch die Lesart möglich, es bedürfe, um den gerechten Wahnsinn angesichts der Greuel dieser Welt zu erlangen, einer besonderen Kraftanstrengung. 670 Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 77-78. 671 Strauss: Auf der Suche nach Totalitäten im österreichischen Roman des 20. Jahrhunderts, S. 286. 672 Ebenda, S. 284. 673 Ebenda. <?page no="268"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 264 Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ gliedert sich dann, als das Regressive, so in diese Denkfigur ein: „Die Vergangenheit als Teil der Außenwelt steht [...] im engen Zusammenhang mit der Zukunft durch das Schreiben Lindners als Teil seiner Innenwelt.“ 674 In gewisser Weise bestimmt Strauss mit ihrer Terminologie des Progressiven und Regressiven auch die Möglichkeit wechselseitiger Projektionen von Vater und Sohn. Die besondere Pointe im Hinblick auf das Vater-Sohn- Verhältnis liegt nun aber im Ende des Schweigens, das bei Lindner am Ende des Romans über sein „Nein! “ (LT 784) auf die Frage eines Gendarmen erfolgt, ob der Zirkusdirektor den Mann (Lindner selbst) auf einer Fotografie erkenne, bei seinem Vater jedoch in einem Dialog mit seinem Großvater so erzählt wird: „,Wo warst Du so lange? ‘ fragte er mich nicht ohne Ärger, ,bist du hungrig? ‘ - ,Ja‘, erwiderte ich mit lauter Stimme.“ (LT 505) 675 Die Erzählerfigur Franz Lindner selbst ist in diesem Text deutlich präsenter als beispielsweise in „Hahnlosers Ende“ oder „Letzte Kriegstage“ und zwar in einer an die erzähltechnische Konstruktion von „Auf dem Schneeberg“ gemahnenden, die gesamte Geschichte mit einer Aura des Todes versehenden Basiserzählung, die zugleich Lindners Aufschreibarbeit thematisiert: „Ich schreibe diese Zeilen während des grausamen Todeskampfes der Stiefschwester meiner Tante. In der Stille der Küche höre ich jeden ihrer Seufzer […] und die wirren Worte ihrer Phantasien aus dem Nebenzimmer.“ (LT 479) Die Stiefschwester der Tante ist einer der Erzählfilter, wenn man so will, in „Hahnlosers Ende“ und fungiert als Doppelung der Tante bei dem Gang zum Friedhof in „Auf dem Schneeberg“. Jedoch funktioniert diese Basiserzählung nach dem (Nicht-)Regelwerk unzuverlässigen Erzählens, denn aus der Stiefschwester, die stirbt, wird „meine Großtante, [die röchelt] als ob sie erstickte“ (LT 482). In weiterer Folge ist plötzlich die Rede von der sterbenden Tante: 674 Ebenda, S. 286. 675 Thomas Anz bietet für dieses „Nein“ am Ende von Landläufiger Tod zwei Interpretationen an: „Man mag diesen vieldeutigen Schluß auch in einem sprachkritischen Sinn lesen, wonach schon das erste Wort, das der vormals Stumme spricht, eine Lüge ist, eine Verleugnung der eigenen Identität. Das ,Nein‘ läßt sich jedoch auch in einem positiveren Sinne so verstehen, daß jetzt der bislang stumme Widerstand eine entschiedene Stimme gegen die Macht findet.“ (Anz: Gesund oder krank, S. 194.) Auer: Der österreichische Kopf, S. 256-257, liest diese Szene hingegen nur als von Lindner imaginiert, was Schütte wiederum in seiner Online-Rezension von Auer (Schütte: Verirrt, Verschwiegen, Versagt) als „scharfsichtig“ betrachtet, wobei allerdings hinzuzufügen wäre, dass der gesamte Roman als von Lindner imaginiert gelesen werden könnte. Klar ist allerdings, dass Lindner entkommt, wenn ihm der Gendarm das „Nein“ glaubt. <?page no="269"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 265 „Meine Tante schläft jetzt ruhig in ihrem Bett.“ (LT 502; vgl. auch LT 488) Da zwei Mal auch von einer sterbenden „Stieftante“ (LT 491, 505) die Rede ist, könnte es sich bei „Tante“ um eine Kurzform von „Stieftante“ handeln, wobei trotzdem eine Uneindeutigkeit der Basiserzählung in Bezug auf die Sterbende bestehen bleibt. Diese sterbende Figur, ob Großtante, Stieftante, Stiefschwester der Tante oder Tante selbst, ist nun laut Lindner „in ihre Bewußtlosigkeit versunken und dort möglicherweise in phantastische Ereignisse verwickelt“ (LT 482). Mit der vermuteten Phantastik der von der Sterbenden im Todeskampf erlebten Geschehnisse, die mit den erinnerten Kämpfen des Vaters korrespondieren könnten, wird eine Brücke zum Schreiben der Geschichte des Vaters geschlagen, wird ein wechselseitiger Bezug und ein mögliches Ineinanderfließen über das Schreibmedium Lindner zunächst angedeutet und dann auch angesprochen: Und plötzlich durchzuckt mich der Gedanke, daß auch meine Geschichte zu Ende ist, wenn die Großtante ihren letzten Atemzug getan hat ((oder daß mit meiner Geschichte auch ihr Leben endet.)) Denn sind es nicht ihre phantastischen Traumbilder, die durch die Wände zu mir kommen und sich in meinem Kopf ausbreiten, um mir mit ihrem Gift die Erzählungen meines Vaters als Wachträume vorzugaukeln? “ (LT 488) 676 Die Geschichte des Vaters wird über Lindners „böse [...] Ahnungen“ (LT 485) und „Angst vor weiteren Sterbelauten“ (LT 491) mit einer hochgradigen Nervosität semantisiert, im Rahmen einer Anspannung der Erzählerfigur, die sich auf ihren Text, den sie „wie im Fieber schreib[t]“ (LT 498), überträgt. Schließlich kehrt - wie vorausgesagt - in jenem Moment, als Lindner den Bericht des Vaters fertig geschrieben hat und dieser mit einem „Ja“ sein Schweigen bricht, die Tante zurück und geht ins Zimmer der Sterbenden, von wo sie emotional aufgewühlt zu Lindner in die Küche kommt: „,Hast Du nichts bemerkt - die Stieftante ist tot! ‘ - ,Nein‘, gebe ich wahrheitsgemäß zur Antwort, indem ich erschrocken den Kopf schüttele.“ (LT 505) 677 676 Es gibt aber auch die gegenläufige Bewegung im Text, welche Lindners Aufschreibarbeit authentisieren soll und gleichzeitig dessen mögliche Literarisierung anzeigt: „,Ich lauschte, aber es war so still, als sei die Zeit stehengeblieben.‘ (Ich erinnere mich deutlich daran, daß mein Vater diese Formulierung gebrauchte, deshalb gebe ich sie ungeachtet des naheliegenden Vergleiches wieder.)“ (LT 480) 677 Natürlich korrespondiert dieses „Nein“ Lindners ebenso mit dem „Ja“ des Vaters wie das „Nein“ am Ende des Romans. <?page no="270"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 266 Neben diesem in der erzähltechnischen Konstruktion angelegten Wechselspiel zwischen der Situation des Aufschreibens und dem Aufgeschriebenen selbst gibt es in „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ eine weitere vom Hauptplot, der Geschichte des Vaters als homodiegetischer Erzählerfigur oder „Zentrum der subjektiven Wahrnehmung“ 678 zweiter Ordnung verschiedene Zeitebene, die als Problematisierung und Reflexion der Repräsentationsweisen von Erinnerung(serzählung)en verstanden werden kann. In ihrem Aufsatz zum „Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften“ schreibt Aleida Assmann: „Sobald Erinnerungen die Form der Mitteilung, auch der Selbstmitteilung annehmen, sind wir [...] mit dem Problem der symbolischen Repräsentation konfrontiert.“ 679 Die Frage muss also lauten, wie Erinnerungen in ein Zeichensystem übersetzt und symbolisch überformt werden, wobei es sich der Text bei weitem nicht so einfach macht, wie es Lindners Fest- und vorgebliche Klarstellung zu Beginn suggeriert: „Ich gebe die Erzählung meines Vaters wieder.“ (LT 477-478) Wichtig für Fragen nach der Repräsentation von Erinnerungsprozessen ist das Konzept der „Performativität von Kultur“: In diesen Rahmen einer am Performativen ausgerichteten Kulturwissenschaft gehört [...] die Dynamik des Gedächtnisses. Denn Erinnerung kann nicht ein für allemal erfolgen, sondern geschieht in wiederholten, zeitlich aufeinander folgenden Akten. Sie muß, wenn sie erhalten werden soll, stets wiederholt, reaktiviert, neu ausgelöst (,getriggert‘) werden. Erinnern ist ein iterativer und damit zugleich auch plastischer Prozeß. Wer sich mit dem Gedächtnis befaßt, wird sofort der Plastizität und Wandlungsfähigkeit seiner Repräsentationen inne. 680 Gerhard Roth thematisiert nun die performative Ebene 681 des Erinnerns und den Konstruktcharakter von Vergangenheitsrepräsentationen, indem er seine Erzählerfigur Franz Lindner Einschübe in die Erzählung seines Vaters machen lässt, die den oralen, iterativen, transformativen, selbstinszenierenden Charakter des erzählenden Erinnerns verdeutlichen und damit gleichzeitig die 678 Basseler/ Birke: Mimesis des Erinnerns, S. 125. 679 Aleida Assmann: Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften. In: Lutz Musner und Gotthart Wunberg (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung - Praxis - Positionen. Wien: WUV 2002 (Edition Parabasen). S. 27-45, hier S. 29. 680 Ebenda, S. 31. 681 Siehe für eine diskurshistorische und multidisziplinäre Aufarbeitung der Verschränkung von Kultur und Performanz bei Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns, das Kapitel zum „Performative Turn“ (S. 104-143). <?page no="271"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 267 potentielle Authentizität des Textes verstärken sollen. 682 Diese Einschübe haben eine, nach Basseler und Birke, erhöhte Erinnerungshaftigkeit - „darunter verstehen wir die Deutlichkeit, mit der die erzählten Passagen als Inszenierungen des Erinnerns kenntlich werden und bleiben“ 683 - des Textes zur Folge. Während Texte mit geringer Erinnerungshaftigkeit dadurch gekennzeichnet sind, dass kaum Verknüpfungen zwischen den beiden Zeitebenen des Erinnerns und des Erinnerten gemacht werden, wodurch vom Rezipienten leicht vergessen werden kann, dass es sich beim Erzählten, bei der Handlung um Erinnertes handelt, ist das „Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ mit einer Reihe solcher Verknüpfungen ausgestattet. Zum einen betonen diese Thematisierungen des Erinnerungsprozesses und -erzählens die emotionale Involviertheit des Vaters ins Erzählte. Eine Rolle hierbei spielen so genannte „Blitzlicht-Erinnerungen“, die das detaillierte Erinnern besonders wichtiger Ereignisse bezeichnen 684 und zum Beispiel so dargestellt werden: „,Immer wieder vergesse ich Einzelheiten‘, unterbrach er [der Vater; G. L.] sich jetzt, ,und immer wieder fallen mir neue ein, es ist, als ob ich nicht wahrhaben wollte, was ich sah. (Und ich wollte es auch nicht wahrhaben.)‘“ (LT 499) Roth verhandelt hier also sowohl das detaillierte Erinnern als auch das Vergessen von Details im Kontext einer intendierten Negation der Erinnerungen. Die zentrale Ebene von „Blitzlicht-Erinnerungen“ ist aber eben deren emotionale Konnotierung. So kommt die Erinnerungshaftigkeit vor allem dann zum Ausdruck, wenn durch Bezüge zur Basiserzählung eine Parallele zu den [...] ,Blitzlicht-Erinnerungen‘ hergestellt wird, z.B. wenn explizit wird, dass die geschilderten Ereignisse beim erinnernden Ich (noch immer) starke Emotionen auslösen. 685 Beispiele für die hochgradige emotionale Involviertheit des Vaters und damit die hohe Erinnerungshaftigkeit des Textes gibt es einige, wie: „so berichtet mein Vater nun abermals von Gefühlen überwältigt“ (LT 489) oder aber, besonders eindrücklich, weil dadurch manchmal das Erzählen sistiert wird: Es kommt vor, daß mein Vater diese Geschichte nicht zu Ende erzählt. Manchmal übermannt ihn die Erinnerung so stark, daß ich den Eindruck ha- 682 Der Text weist abwechselnd eine Er-Perspektive mit Fokalisierung auf Lindners Vater sowie eine Ich-Perspektive in direkter Rede von Lindners Vater sowie Einschübe (meist in Klammern) von Lindner auf. 683 Basseler/ Birke: Mimesis des Erinnerns, S. 125. 684 Vgl. ebenda, S. 128. 685 Ebenda, S. 129. <?page no="272"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 268 be, er breche im nächsten Augenblick in Tränen aus. Er aber faßt sich rasch und fährt mit der Erzählung fort oder fängt von etwas anderem zu sprechen an. (LT 486) 686 An dieser Passage wird noch ein weiteres Charakteristikum der literarischen Mimesis des Erinnerns ablesbar, nämlich das Iterative oder, genauer, das iterative Erzählen, bei dem „einmal erzählt [wird], was sich (wenigstens in sehr ähnlicher Form) mehrfach ereignet hat.“ 687 Dabei können auch mehrere, unter Umständen variierende Erzählungen ein und derselben Erinnerung zu einem singulären Text verdichtet werden, wobei Roth hier Lindner diese Praxis sichtbar machen lässt, und zwar sowohl was das Erinnerte selbst betrifft: Was nun kommt, erzählt mein Vater stets verschieden. Einmal behauptet er, sich im Wald versteckt zu haben und am nächsten Tag von Partisanen angegriffen worden zu sein, dann wieder, den Partisanen schon in der Nacht gegenübergestanden zu haben. (LT 483) Aber auch, was die Selbstinszenierung des sich Erinnernden angeht: An dieser Stelle machte mein Vater eine Pause. Saß er, so erhob er sich, um auf- und abzugehen, stand er, so setzte er sich und wartete, bis sich die übrigen gesetzt hatten. Eine Zeitlang schwieg er, auch sprach niemand anderer und niemand stellte eine Frage. (LT 504) Das Performative des Erinnerns, das Aufbrechen verdrängter Emotionen hat eine körperliche Ebene, die sich von der Zeit der Erzählung in die Zeit des Erzählens fortschreibt. Lindners Vater merkt in einer Passage an: „Im Moment des Tötens fühlt man die Gegenwart des Todes körperlich.“ (LT 484) Joanna Drynda deutet nun die darauf folgende Einschätzung von Lindners Vater, den Tätern ginge es unmittelbar nach ihren Morden gut, so: Es kommt zur Reduzierung von Erfahrungen auf die pure Körperlichkeit. Das menschliche Gehirn schaltet auf regressives Wahrnehmen um. Nichts erscheint dem Täter in einem solchen Geisteszustand sinnloser, als das eventuelle Analysieren des eigenen Verhaltens. Das Opfer dagegen erfährt auch durch 686 Drynda versteht die Emotionalisierung des Erinnerns beim Vater Lindners und sein Verstummen folgendermaßen: „Seine Schilderung der bestialischen Mordtaten veranschaulicht, wie sich die mit dem Erlebten verbundenen Grausamkeiten dauerhaft in der menschlichen Psyche einnisten. In der Zeit seiner Verschleppung büßt das Opfer angesichts der erlebten Greueltaten kurzzeitig seine Fähigkeit zu sprechen ein. Er stößt nur Tierlaute aus. Dies ist eine Metapher der Unfähigkeit, sich über das Geschehene zu äußern und den Ursachen dessen nachzugehen.“ (Drynda: Schöner Schein, unklares Sein, S. 116.) 687 Basseler/ Birke: Mimesis des Erinnerns, S. 129. <?page no="273"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 269 das passive Miterleben einer Greueltat eine psychische Verwundung des Menschen, die noch Jahrzehnte später zum Ausdruck kommt. 688 Abgesehen davon, dass man Lindners Vater nicht einseitig als Opfer sehen sollte, deutet Drynda hier das Ineinanderübergehen psychischer und physischer Verwundungen und ihre zeitliche Persistenz und performative Aktualisierung im Prozess des Erinnerns an, wie sie im „Verstummen des Jünglings“ gezeigt wird. Erinnern ist eben immer ebenso sehr ein Dialog mit sich selbst, wie mit dem Hörenden/ Lesenden: „[S]prach mein Vater mehr zu sich selbst als zu mir“ (LT 490), stellt Lindner fest. Dass dieser Dialog emotional und kognitiv offen ist, wird lesbar in der Schwierigkeit der nachträglichen Bedeutungszuschreibung und der Entfremdung, ja der Spaltung des erinnernden vom erinnerten Ich: Er könnte, sagt mein Vater, was damals geschah, bis heute nicht verstehen. Er finde keinen erhellenden Zugang zu den Bildern, die er gesehen habe, und häufig, in der Erinnerung, komme es ihm vor, als habe er jemand anderem zugeschaut, der an seiner Stelle Augenzeuge der Greuel geworden sei. (LT 493) Somit wird „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ über die Thematisierung des Aufschreib- und Erinnerungsprozesses in die für „kulturelles Erinnern“ paradigmatische „Spannung zwischen Textualität (oder Monumentalität) und Prozessualität (oder Performativität)“ gestellt, 689 werden Repräsentation und Performativität über eine aufwändige Verschränkung von Basiserzählung (Reflexion des Aufschreibens), Erzählung (performativer Akt) und kommentierenden Einschüben (Reflexion des Performativitätscharakters) thematisiert. 690 Lindners Vater ist nicht nur im Kontext wechselseitiger Projektionen (von ihm auf den Sohn, vom Sohn auf ihn) und als Erinnerungsperformer, sondern auch als Repräsentant einer bestimmten Generation von Zeitzeugen von Interesse, denn: „Die expliziten subjektiven Erinnerungen sind eingebunden in ein implizites Generationsgedächtnis.“ 691 Die Zugehörigkeit von Lindners 688 Drynda: Schöner Schein, unklares Sein, S. 116. 689 Assmann: Gedächtnis als Leitbegriff, S. 31. 690 Übrigens haben Basiserzählung und kommentierende Einschübe bei Roth auch eine retardierende Funktion, sie sind Pausen im Handlungsverlauf, die für einen kurzen Moment die Spannung unterbrechen beziehungsweise aufschieben. 691 Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 38. <?page no="274"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 270 Vater zu einer bestimmten Generation ist demnach für die Deutung dieser Figur ebenso zentral wie deren Eingliederung in Dorf oder Familie. 692 Die Entstehung einer „Generationsidentität“ ergibt sich, neben der Grundvoraussetzung eines zeitlich nahe beieinander liegenden Geburtsdatums, „durch gleichartige Erfahrungen und Herausforderungen, durch Kommunikation und Diskurse, durch kollektive Muster der Erfahrungsverarbeitung und retrospektive Identitätskonstruktion.“ 693 Wichtig für die „Abgrenzung von Generationen“ sind „einschneidende Geschichtserlebnisse und [...] historische Zäsuren“, 694 wobei im 20. Jahrhundert, aufgrund zweier Weltkriege, „außergewöhnlich einheitliche, nach Geschlechtern getrennte biographische Muster vorgegeben“ sind. 695 Das Geburtsdatum aber entscheidet darüber, wie man die „einschneidenden Geschichtserlebnisse“ gemacht hat und verarbeiten konnte, das heißt für den hier zur Disposition stehenden Fall, ob man aktiv oder passiv am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hat. Lindners Vater ist „1928 in Kopreinigg geboren“ (LT 115), dürfte also nur 10, 15 Jahre älter als Ascher sein, dem er dies erzählt, könnte demnach kaum dessen Vater, sondern eher sein Bruder sein, 696 ist aber unter völlig anderen (erinnerungs)kulturellen Parametern aufgewachsen. Lindners Vater gehört, wie Günter Grass oder Martin Walser, auf den sich Aleida Assmann im folgenden Zitat bezieht, der sogenannten Flakhelfer-Generation an, die aus der ,Hitlerjugend‘ rekrutiert wurde. Anders als andere Jahrgangskohorten ist diese Generation nicht nur durch historische Zeitgenossenschaft, sondern durch eine konsequente Sozialisation, ja Initiation in das ideologische System des rassistischantisemitischen NS-Staats gezeichnet. 697 Allerdings gelten laut Heinz Bude, den Assmann hier zitiert, ganz andere Implikationen für die 1924, 1927 und 1930 Geborenen, denn es sei nur eine Differenz „von drei Jahren“, welche „die ersten zur schuldigen Generation der jungen Soldaten, die zweiten zur ,skeptischen Generation‘ der Flakhelfer und 692 „Als Individuen sind wir mit unseren biographischen Erinnerungen in unterschiedliche Gedächtnishorizonte eingespannt, die immer weitere Kreise ziehen: das Gedächtnis der Familie, der Generation, der Gesellschaft, der Kultur.“ (Ebenda, S. 36.) 693 Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 33-34. 694 Ebenda, S. 34. 695 Ebenda, S. 35. 696 Außerdem ist er zehn Jahre jünger als die Tante, die ja - wahrscheinlich - seine Schwester ist. 697 Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 39. <?page no="275"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 271 die dritten zur ,unbefangenen Generation‘ der ,weißen Jahrgänge‘ schlägt.“ 698 Assmann widmet sich in einem Abschnitt ihrer in Geschichte im Gedächtnis enthaltenen Studie der von Helmut Schelsky so bezeichneten „skeptischen Generation“ und nennt sie, in Anlehnung an den Historiker Dirk Moses, die „45er“. 699 Die Erinnerungskulturwissenschaftlerin deduziert, dass die „45er“ in den letzten Jahren vermehrt in das öffentliche Interesse gelangt sind, jedoch würden sich die Medien „für diese Generation weniger im honorigen Status des Zeitzeugen [...], als im Status einer widerwilligen und unfreiwilligen Zeugenschaft“ interessieren. 700 Als Beispiele hierfür nennt sie die mehr oder weniger stichhaltigen und gewollten Enthüllungen in Bezug auf Verstrickungen in das nationalsozialistische System bei Günter Grass, Jürgen Habermas, Dieter Hildebrandt, Siegfried Lenz oder Martin Walser. Ist all jenen der Generation von ungefähr 1926 bis 1929 Geborenen eine Sozialisation im NS-Staat gemeinsam, so wurden für den späteren Umgang mit diesen Jugenderlebnissen ganz unterschiedliche Strategien gewählt. Laut Assmann gibt es die „Moralischen“ wie Grass und Habermas, die aus ihren Erfahrungen eine normative Grundhaltung ableiteten, die „Skeptischen“ (Wolfgang Iser), die „auf Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit setzten [...] bzw. auf systemischen Relativismus (wie Niklas Luhmann oder Helm Stierlin)“, die sich mit den 68ern verbündenden „Politischen“ (früher Walser, Enzensberger) 701 sowie die „Nationalen, die eine Nostalgie für die verlorene Nation entwickelten“ 702 (wie vermehrt Walser ab den 1980ern). Lindners Vater ist nun sehr schwer zuzuordnen. Nicht nur, weil er ja kein intellektueller Proponent des öffentlichen Lebens ist, sondern vor allem, ein ganz wesentlicher Aspekt, weil er sich als Österreicher nicht nahtlos in dieses auf Deutschland bezogene Schema einpassen lässt. Die altersspezifischen Prägungen durch das und die Involvierung in das Regime unterscheiden sich bei Österreichern und Deutschen. Egal, ob eine Österreicherin, ein Österreicher 1924, 1927 oder 1930 geboren wurde, auf jeden Fall hatte sie oder er im Jahr 1945 fünf Jahre kürzer im NS-System gelebt, war indessen ein Jahr länger in der Demokratie und vier Jahre in einem spezifischen Austrofaschismus 698 Heinz Bude: Bilanz der Nachfolge. Die Bundesrepublik und der Nationalsozialismus. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1992. S. 81. (Zit. nach Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 40.) 699 Vgl. dazu Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 36-43. 700 Ebenda, S. 38. 701 Ebenda, S. 61. 702 Ebenda, S. 62. <?page no="276"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 272 aufgewachsen und erzogen worden. Außerdem wurden die generationsbezogenen Debatten in Österreich anders geführt als in Deutschland, eine solche Einteilung in „Moralische“, „Skeptische“ und so weiter müsste also für den österreichischen Kontext adaptiert werden. Betrachten wir aber abgesehen von diesen grundlegenden Differenzen nur die mit diesen Begriffen verbundenen Einstellungen, so weist manches darauf hin, dass es sich bei Lindners Vater um einen „Skeptischen“, also einen Angehörigen der „skeptischen Generation“ handelt. Er erzählt im Nachhinein Krieg als schreckliches und traumatisierendes Erlebnis, verbleibt aber gleichzeitig im Unbestimmten, Mehrdeutigen, auch was die eigene Vergangenheit betrifft. Denn in Bezug auf die exakte Lebensgeschichte des Vates gibt es - wenig überraschend im Kontext der vorangegangenen close readings - nur verwirrende Angaben. Die Tante behauptet, er sei in Kriegsgefangenschaft gewesen (LT 102), er spricht in seiner Lebensnarration in Gebärdensprache gegenüber Ascher (vgl. LT 114-117) vom Einrücken zum „Volkssturm“ (LT 116), im „Verstummen des Jünglings“ ist von einer Teilnahme am Volkssturm keine Rede, hier stellt sich der Vater als unbedarfter Zivilist dar, im Film Landläufiger Tod (im Roman nicht) erzählen Ascher und der von Bernhard Minetti gespielte General Lindner, dass sein Vater während des Krieges im Hof des Schlosses drei Gefangene erschossen hat. 703 Radikal umgeschrieben wird die Lebensgeschichte des Vaters dann nochmals in Das Labyrinth, in dem Roth 2005 im Rückgriff auf Waldheim und quasi-prophetisch in Bezug auf Grass eine typische Enthüllung über einen Angehörigen der Flakhelfergeneration macht. Eine der Erzählerfiguren des multiperspektivischen Romans, Astrid Horak, schläft mit Lindner: Es war, wie man sich denken kann, nur eine kurze Umarmung, nach der er sich wieder ankleidete. Währenddessen fragte ich ihn, weshalb er schweige. Seit dem Tag, an dem er erfahren habe, daß sein Vater Aufseher im KZ Dachau gewesen sei, gab er zu meiner Überraschung zurück. Und plötzlich brach es aus ihm heraus: Er habe Papiere in dessen Schreibtischlade gefunden, aus denen das hervorging. Seine Mutter habe Selbstmord begangen. 704 703 Der General sagt zu Lindner: „Seit dem Krieg hat ihr Vater das Schloss nicht mehr betreten. Ich habe mitangesehen, wie er drei Gefangene erschossen hat. Junge Männer in ihrem Alter. Es war mir nicht gleichgültig, obwohl ich den Krieg kenne.“ (Landläufiger Tod. Teil 1: Mikrokosmos. ORF/ WDR 1991. Regie: Michael Schottenberg. Buch: Gerhard Roth. Mitarbeit: Michael Schottenberg. 1: 10,24-1: 10,43.) Am Beginn des zweiten Teiles heißt es allerdings in der Zusammenfassung des ersten Teiles, dass Lindners Vater drei Partisanen erschossen hat. 704 Gerhard Roth: Das Labyrinth. Frankfurt/ Main: Fischer 2005. S. 412. <?page no="277"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 273 Hier hat man also einen weiteren Hinweis im unauflösbaren Roth’schen Erzählrätsel, wobei eine auto(r)biographische Parallele eine Rolle bei dieser ,Enthüllung‘ gespielt haben könnte. Roths Mutter beziehungsweise die Mutter der Autorfigur, wie es korrekterweise heißen muss, erzählt in Das Alphabet der Zeit nämlich eine für diesen Kontext beziehungsreiche Geschichte: In der Wohnung des Nachbar-Ehepaares Hofmann habe, erklärte sie mir, bis zum Kriegsende ein SS-Sturmbannführer namens Lindner mit seiner Frau gewohnt. Meine Mutter behauptete, er sei ihr und Vater unheimlich gewesen, weshalb sie ihm nach Möglichkeit ausgewichen seien. Im Herbst 1944 habe er sie und Vater, der auf Fronturlaub in Graz gewesen sei, in seine Wohnung eingeladen und mit ihnen mehrere Flaschen Sekt getrunken. Im alkoholisierten Zustand habe er dann davon gesprochen, dass sie nun „die Endlösung der Judenfrage“ betrieben. 705 Abgesehen von der „Beichte in alkoholisiertem Zustand“, ein Topos aus „Hahnlosers Ende“, sticht natürlich der Name des SS-Mannes ins Auge. Hier könnte sich eine spät bewusst gewordene Namens- und dann Lebenslaufparallele ergeben haben, die in die fiktive Biographie von Lindners Vater eingeschrieben wurde. Denn Gerhard Roth erzählte mir in einem Gespräch, dass er die Namen Lindner und Jenner auf einem Spaziergang durch den Dorffriedhof ausgewählt habe. Zum einen, weil beide Namen (man denke auch an die Vornamen Franz und Alois) Lokalkolorit besäßen, also häufig in der Region vorkämen, zum anderen, weil sich daraus eine Dichotomie ergäbe: Lindner stehe für das Weiche, Warme, Jenner für das Harte, Kalte. Als Roth dann seine eigene Lebensgeschichte aufzuarbeiten begann, könnte - wir betreten die Ebene des nichttextuellen, biographisch Spekulativen - ihm diese Namensparallele bewusst geworden sein, weshalb sie eben in Das Labyrinth eingesetzt wird. 706 Möglich ist allerdings ebenso der umgekehrte Fall, nämlich 705 Roth: Das Alphabet der Zeit, S. 617-618. 706 Vgl. zu den Analogien zwischen Landläufiger Tod und Das Labyrinth den Aufsatz von Uwe Schütte: „Zumindest den Versuch, die vorgeschriebene Form zu durchbrechen, will ich wagen.“ Gerhard Roth: Das Labyrinth (2005). In: Kastberger/ Neumann: Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945, S. 293-300. Nicht vollständig zugestimmt werden kann allerdings Schüttes Lektüre in Bezug auf die Vaterfigur: „Das Labyrinth lüftet endlich auch das Rätsel um die Stummheit von Lindner, das sich als ein bewußtes Schweigen entpuppt, seitdem er herausgefunden hatte, daß sein Vater Aufseher im Konzentrationslager Dachau war.“ (Ebenda, S. 293.) Abgesehen von den textuellen Widersprüchen sei hier festgestellt, dass Lindners Vater im Jahre 1945 circa 17 Jahre alt war und - vernetzt man dieses literarische Faktum mit der außerliterarischen Realität - für eine Tätigkeit als KZ-Aufseher ziemlich jung gewesen wäre. Un- <?page no="278"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 274 dass Roth den nachbarlichen SS-Sturmbannführer Lindner genannt hat, weil er zuvor Lindners Vater zu einem Aufseher im KZ Dachau gemacht hat. Auf diese Weise würden Fiktives und Reales ineinander übergehen, wäre eine Korrespondenz innerhalb von Roths Werk erzeugt. Zur widersprüchlichen Lindner-Vaterfigur sagte Gerhard Roth jedenfalls in besagtem Gespräch: „Also ich wollte den Vater schon irgendwie umzingeln“, und führte weiter aus: Ich glaube, dass man beim Zyklus wirklich so vorgehen muss wie im Leben, wo man unterschiedliche Meinungen und Standpunkte hört und jetzt nicht weiß, was die Wahrheit ist. Man muss sehen, wie weit uns der Zyklus Auskunft gibt, wie weit uns das Buch Auskunft gibt. Das kommt immer wieder vor, dass wir Spuren nur fragmentarisch verfolgen können. 707 Die Potenzierung der unterschiedlichen „Meinungen und Standpunkte“ ergibt sich nun in Landläufiger Tod aus der Doppelung von unzuverlässigen Fremd- und Selbstbeschreibungen, wobei es Roth hier zwar, wie Walter Grond vermutet, einerseits um eine Schreibweise geht: „Franz Lindners Beschreibung liefert nicht nur den Bericht, sondern alle möglichen Ausgänge, die ein Ereignis nehmen kann, ähnlich der Analyse einer Schachpartie“, 708 dabei jedoch eine Seinsweise mitreflektiert wird, wie in dem Aufsatz „Labyrinth der Fälschungen“ deutlich gemacht: Wir leben in einer Welt der Fälschungen, der Irrtümer und falschen Tatsachen. Selbst die Kunst ist eine Fälschung, sie fälscht, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Die Welt ist verkehrt, und das einzige geschlossene, hieb- und stichfeste System, das herrscht, ist das System der Fälschungen. 709 Die Darstellung des kollektiven Dorfgedächtnisses in Landläufiger Tod über verschiedene Figurenreden sollte jedoch nicht auf den Aspekt des Fälschens von Geschichte und Lebensläufen reduziert werden. Die verschiedenen Anspielungen lassen den Leser zwar im Unklaren und sind, wie schon an einigen Beispiel gezeigt, nicht immer synthetisierbar, sie verweisen auf Zusammenhänge, gleichzeitig aber darauf, dass die Texte des „Mikrokosmos“ autonom möglich waren so junge KZ-Wärter, insofern kann Schütte recht haben, allerdings nicht. 707 Gespräch mit Gerhard Roth (Wien, 30.3.2006). 708 Grond: Genese eines Romans, S. 150. In diesem Zusammenhang weist Grond darauf hin, dass eine Reihe von Titeln in „Mikrokosmos“ von Roth einem Schachlehrbuch entnommen wurden, wie „Gesucht und Gefunden“, „Das Versteckspiel“ oder „Schwierige Entscheidung“. (Vgl. ebenda, S. 150.) 709 Roth: Labyrinth der Fälschungen, S. 19. <?page no="279"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 275 gelesen werden können. Widersprüche und Brüche korrespondieren mit dem von Michel Foucault angesprochenen „Denken der Diskontinuität [...] (Schwelle, Bruch, Einschnitt, Wechsel, Transformation)“, das einer bestimmten historiographischen Praxis, der „eigentliche[n] Geschichte“, die von einer Betonung des Zusammenhangs und der Kontinuität aus operiert, entgegengesetzt ist: Alles in allem scheint die Geschichte des Denkens, der Erkenntnisse, der Philosophie, der Literatur die Brüche zu vervielfachen und alles Sträuben der Diskontinuität zu suchen, während die eigentliche Geschichte, kurzum die Geschichte zu Gunsten der nichtlabilen Strukturen das Hereinbrechen der Ereignisse auszulöschen scheint. 710 Doch kehren wir von der Verschränkung von Zyklusbeziehungsweise Romankomposition und Foucault’scher Geschichts-Wissenschaftstheorie zurück zum Ausgangspunkt, das heißt der Figur des Vaters von Lindner. Dieser Vater erzählt im zyklusübergreifenden fiktionalen Rahmen seinem Sohn nicht davon, dass er KZ-Wärter war, sondern Lindner muss die Aufzeichnungen selbst finden, wodurch die Übertragung des Schweigens vom Vater auf den Sohn initiiert wird. Auf eine andere Weise involviert in die Krankheit des Sohnes ist der Vater nach Matthias Auer, der eine Szene aus der Dorfchronik im Hinblick auf „die Vatermacht und ihre traumatischen Folgen für den Sohn“ im Sinne einer ersten „Schizophrenieerfahrung“ deutet. 711 In dieser Szene hängt der Vater seinem Sohn die Bienenkönigin in einer Holzbox um den Hals, worauf Lindner gegen seinen Willen von Bienen bedeckt wird: „Bewegungslos stand ich da, ich hörte nur die Befehle meines Vaters, der mir verbot, mich zu bewegen. [...] Vor Ekel würgte es mich in der Kehle. Ich wagte jedoch nicht zu sprechen, obwohl ich damals dazu fähig war.“ (DLT 37-38) 712 Der Vater wird als Bezugsperson im Gegensatz etwa zu Alois Jenner abgelehnt, schon in den „Sieben nicht abgeschickten Briefen aus dem Irrenhaus“ wird er mit den anderen Besuchen gleich gesetzt: „Ich spreche daher mit keinem Besuch, nie schreibe ich meinem Vater eine Antwort auf das bereitge- 710 Foucault: Archäologie des Wissens, S. 13. 711 Auer: Der österreichische Kopf, S. 171. 712 Der Eröffnungssatz von Heimito von Doderers Roman Ein Mord den jeder begeht (1938) trifft Lindners Erfahrung gut: „Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.“ (Heimito von Doderer: Ein Mord den jeder begeht. München: dtv 1991. S. 5.) Hier ist der Eimer voller Bienen. <?page no="280"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 276 stellte Papier“ (LT 129). Das ist auch im Folgeband von Landläufiger Tod, Am Abgrund, der mit Lindner in der Grazer psychiatrischen Klinik Feldhof beginnt, nicht anders: „Wie an Sonntagen üblich erwarte ich den Besuch meines Vaters, doch verweigere ich ihm jede Antwort.“ (AA 17) Und trotzdem sind die Kommentare Lindners im „Verstummen des Jünglings“ nicht von einer Abneigung gegenüber dem Vater gekennzeichnet, sondern eher von einer empathischen, Sympathie affirmierenden Tendenz, die es dem Rezipienten ermöglicht, sich mit der Figur des Vaters zu identifizieren, wie es beispielsweise mit dem Gendarmeriekommandanten nicht möglich wäre. Diese Tendenz steht in Zusammenhang mit einer nach Schütte zentralen Intention des Textes: Roth kommt es in diesem Abschnitt, neben der Darstellung der sinnlosen und grausamen Morde durch die marodierenden Uštasa-Leute [richtig: Ustaša; G. L.], darauf an zu zeigen, wie sich die mit diesem Erlebnis verbundenen Greueltaten auf die Geistesverfassung des Vaters auswirkten. Dabei ist von zentraler Bedeutung, daß der Vater während seiner Verschleppung - verstört vor Angst und durch den Anblick der Morde - sein Sprachvermögen verliert. 713 Bevor der Vater in „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ auf die Ustaša-Soldaten trifft, befindet er sich im ihm räumlich vertrauten Dorf, wo er zunächst eine von der Roten Armee vollzogene Hinrichtung eines SS- Offiziers (vgl. LT 478) mitansieht und dann plündernde bulgarische Soldaten in einem Haus voller Ermordeter beobachtet, das schließlich angezündet wird. (Vgl. LT 479-482) Der Kontakt mit den Ustaša-Soldaten und seine Verschleppung führen ihn nun in Räume fernab des Dorfes. Der Vater tritt eine Reise durch einen Grenzraum an, die auch eine Reise in das Bewusstein ist, in die dem Menschen meist verborgenen Ängste und Schrecken. Wenn also Matthias Auer im Hinblick auf die Darstellung in Landläufiger Tod von „Obergreith, diesem alpenländischen ,Herzen der Finsternis‘“ 714 schreibt, so kann festgestellt werden, dass nicht nur das Dorf, sondern besonders der Text „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ mit dem Joseph Conrad’schen Heart of Darkness Parallelen aufweist, wobei Schmidt-Dengler in seinem Aufsatz zu den Archiven des Schweigens „Wie aus vielen Teilen auch ein Ganzes wird“ die Parallelen mit Blick auf das Werkganze erheblich weiter faßt: 713 Schütte: Auf der Spur, S. 135. 714 Auer: Der österreichische Kopf, S. 123. <?page no="281"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 277 Daß Joseph Conrad immer wieder als Bezugspunkt für Gerhard Roth genannt wird, braucht nicht weiter zu verwundern: er hat öfter auf diesen großen Erzähler verwiesen, und nahezu alle Texte Roths tragen auch die Signatur der Reverenz vor dessen Werk ,The Heart of Darkness‘, und wann und wo immer Roths Helden aufbrechen, schicken sie sich an, in ein solches Herz der Finsternis einzudringen. 715 Wie Marlow auf dem kongolesischen Fluss immer tiefer nicht nur in den afrikanischen Kontinent vordringt, sondern eine Fahrt in das Ich, in die Tiefe der menschlichen Seele unternimmt, so ist die erzwungene Reise des Vaters eine Begegnung mit eben diesen von der Ausnahmesituation frei gelegten Schichten des Menschen. 716 Auf die dabei gemachten Erfahrungen lassen sich die Worte beziehen, die Kurtz in Heart of Darkness kurz vor seinem Tod ausspricht und die, auch über Francis Ford Coppolas Film Apocalypse Now, der eine Übersetzung der Romanvorlage in den Vietnamkrieg unternimmt, 717 berühmt geworden sind: Marlow „seemed to hear the whispered cry, ,The horror! The horror! ‘“ 718 Bei Lindners Vater ist das Grauen die deutschspra- 715 Schmidt-Dengler: Wie aus vielen Teilen auch ein Ganzes wird, S. 28. Conrads Bedeutung für Roth zeigt sich übrigens auch darin, dass das Motto des Romans Der Plan (1998) von Conrad stammt: „Die Gesellschaft ist ihrem Wesen nach kriminell, wenn es anders wäre, würde es sie nicht geben. Egoismus allein hält alles aufrecht - absolut alles - alles, was wir hassen, alles was wir lieben.“ (Gerhard Roth: Der Plan. Frankfurt/ Main: Fischer 2004. S. 5.) Aber nicht nur Roth arbeitet innerhalb der österreichischen Literatur als Literaten-Ethnograph, vgl. dazu: Alexander Honold: Neues aus dem Herzen der Finsternis. Ethnographisches Schreiben bei Christoph Ransmayr, Gerhard Roth und Joseph Winkler. In: Modern Austrian Literature Vol. 31 (1998) Nr. 3/ 4, S. 103-117. 716 Es soll aber nicht vergessen werden, dass die beschriebenen Räume mit dem Innen der konkreten erzählenden Figur des Vaters zusammenhängen könnten, da ja „literarische Räume zur Spiegelung von subjektiven Verfassungen eingesetzt werden“ können. (Basseler/ Birke: Mimesis des Erinnerns, S. 133.) 717 Coppola hat für Apocalypse Now die Thematik der kolonialen Gewaltherrschaft bei Conrad stimmig in ein Kriegsszenario, das ebenfalls koloniale Züge trägt, übertragen. Für die elementaren Erfahrungen von Lindners Vater hat Gerhard Roth ebenfalls einen von Gewaltausübung bestimmten, nahezu ,apokalyptischen‘ Kriegszustand als Basis gewählt. Anders ist das allerdings in dem aus Landläufiger Tod wieder herausgenommenen Das Töten des Bussards, in dem extreme Aggressionen und brutalste Gewalt keine aus Kriegs- oder kolonialen Verhältnissen bestehende Folie mehr zu benötigen scheinen. Roth erzählte mir, dass ihn bei diesem Text vor allem die Filme Pier Paolo Pasolinis, insbesondere Die 120 Tage von Sodom (1975, eine Adaption des Romans von Marquis de Sade), beeinflusst haben. [Gespräch mit Gerhard Roth (Wien, 30.3.2006).] 718 Joseph Conrad: Heart of Darkness. London (u. a.): Penguin 1994 (Penguin Popular Classics). S. 106. Übrigens ist auch Conrads Roman eine Erinnerungserzählung, die mit der zu Beginn und am Ende des Textes ausgeführten Basiserzählung von den Seeleuten, die in der Abenddämmerung auf einem Boot auf der Themse Marlows Bericht <?page no="282"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 278 chige Entsprechung des Kurtz’schen „Horrors“, mit dem er auf die gesehenen Gewalttaten reagiert und das einige Male im Text vorkommt: „Ich hatte mich nicht an das Grauen gewöhnt, aber die Anhäufung von Entsetzlichem hatte mich gezwungen, Unveränderliches, ohne mich zu quälen, hinzunehmen.“ (LT 479), „Ich war vom Grauen gepackt und vergrub mein Gesicht in meinen Armen.“ (LT 482), „,Was sich dann ereignete, übertraf noch das Grauen, das ich zuvor erlebt hatte‘, fuhr er fort.“ (LT 484). Hinzu kommen ähnlich negativ konnotierte Begriffe wie „Ekel“ (LT 480, 489, 496), „Schrecken“ (LT 480, 482) und „Entsetzen“ (LT 492, 497, 503), die gemeinsam mit dem Grauen eine leitmotivische Funktion haben. Der „Horror“ oder das „Grauen“ könnten nun auf das Unheimliche, wie Freud es versteht, rekurrieren. Denn bei Freud ist nicht das Unbekannte, sondern das Bekannte in seiner gleichartigen Wiederholung unheimlich, 719 am Bekanntesten ist man aber - wie weitläufig angenommen - mit sich selbst, es schwingt also auch das Erschrecken vor der eigenen - weil allgemein menschlichen - Monstrosität, dem eigenen Wahnsinn im Grauen mit. 720 Besonders unheimlich ist laut Freud weiters der Anblick abgetrennter Körperteile. 721 Im Film Apocalypse Now erzählt Kurtz eine hierfür paradigmatische Episode von einer versuchten Polio-Impfaktion, nach der die Natives den Kindern die Arme, in welche die Injektionen verabreicht wurden, abgeschlagen hatten, um sie vor der vermeintlichen Vergiftung zu schützen. Als Kurtz deswegen zurückgerufen wurde, traf er auf einen Haufen abgetrennter Arme: eine Potenzierung des Unheimlichen. 722 Im „Verstummen des Jünglings“ gibt es nun beinahe auf jeder Seite Erwähnungen von verstümmelten Leichen und hören, verbunden ist. Allerdings ist aufgrund der seltenen Hinweise auf den Prozess des Erinnerns die „Erinnerungshaftigkeit“ des Romans gering. 719 Vgl. dazu Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: ders.: Der Moses des Michelangelo. Schriften über Kunst und Literatur. Einl. v. Peter Gay. Frankfurt/ Main: Fischer 2008 (Sigmund Freud Werke im Taschenbuch). S. 135-172. 720 „Das Unheimliche der Fallsucht, des Wahnsinns hat denselben Ursprung. Der Laie sieht hier die Äußerung von Kräften vor sich, die er im Nebenmenschen nicht vermutet hat, deren Regung er aber in entlegenen Winkeln der eigenen Persönlichkeit dunkel zu spüren vermag.“ (Ebenda, S. 163.) 721 „Abgetrennte Glieder, ein abgehauener Kopf, eine vom Arm gelöste Hand wie in einem Märchen von Hauff, Füße, die für sich allein tanzen wie in dem erwähnten Buche von A. Schaeffer [Josef Montfort; G. L.], haben etwas ungemein Unheimliches an sich“. (Ebenda, S. 163.) 722 Vgl. Apocalypse Now Redux. American Zoetrope 2001. Regie: Francis Ford Coppola. [Es handelt sich hier um eine um 50 Minuten verlängerte Version des Films von 1979.] 2: 52,20-2: 55,30. Kurtz erzählt diese Episode als Beispiel für den Horror, für das Grauen. <?page no="283"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 279 Tierkadavern, es ist die schiere Präsenz der leblosen Körper, die aus dem Heimlichen hervorgeholt und bekannt, ergo zum Unheimlichen, werden. Dazu passt die Wendung ins Genre der gothic novel in der These des Vaters zu den Ustaše: „Später hatte ich die Vermutung, daß sie im Banne der Toten standen, die sie ermordet hatten und daß nur weitere Morde sie aus deren Gewalt befreien konnten.“ (LT 487) Die Verbindung des Unheimlichen mit Tod und Töten 723 wird aber, als der Vater einen Ustaša-Soldaten töten möchte und eine Parallele zum Schweineschlachten zieht, obwohl er selbst noch nie ein Schwein getötet hat, noch direkter angesprochen: „Bis zu diesem Zeitpunkt aber hatte ich noch nie den entscheidenden Streich mit der Hacke geführt (der mir auch als jungem Menschen unheimlich war.)“ (LT 494) Der gesamte Text ist also nicht nur auf der Ebene der Basiserzählung, sondern auch in den Erinnerungen des Vaters mit einer vom Tod über das Grauen hin zum Unheimlichen führenden Tendenz und Leitmotivik versehen. Aleida Assmann schreibt in ihrer Interpretation von Heart of Darkness: „Der Erzähler Marlow beschreibt seine Expedition nicht nur als eine Raumsondern auch als eine Zeitreise zurück in die Dunkelheit der Urzeit“. 724 In „Das Verstummen des Jünglings“ ist das so genannte ,Urmenschliche‘ in der, allerdings sehr nahen und immer noch wirkmächtigen, Vergangenheit angesiedelt, es ist die Situation des Krieges, die den „Mythos vom Zivilisationsprozess“ (Hans Peter Duerr) offen legt, „die die dünne ,Firnis‘ der Zivilisation erschreckend vor Augen führ[t].“ 725 Uwe Schütte schreibt zu diesem Text: Dort wird geschildert, wie der Verschleppte die Gräueltaten seiner Entführer als erzwungene Regression in archaische Verhaltensweisen erfährt und mit aller Kraft darum kämpfen muss, seinen Verstand nicht zu verlieren. Wer verstehen will, was Kriegstraumatisierungen in den Seelen der Menschen anrichten, kann es hier nachlesen. 726 Der Text selbst ermöglicht die Zeitreise, während die Reise des Vaters eine Reise durch den Raum ist, die in dem oben analysierten metaphorischen Innenraum (der natürlich in eine überwunden geglaubte Vergangenheit weisen 723 „Im allerhöchsten Grade unheimlich erscheint vielen Menschen, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern, zusammenhängt.“ (Ebenda, S. 161.) 724 Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft, S. 169. 725 Schreckenberger: „Man sieht an den Tieren immer die Grausamkeit des Menschen“, S. 181. 726 Schütte: „Obschon die Häuser brennen, zeigt sich kein Nordlicht.“, S. 283. <?page no="284"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 280 könnte) und in einem symbolisch vielfältig aufgeladenen Außenraum stattfindet. Dieser Außenraum oszilliert zwischen einer literarisch-mythischen und außerliterarisch-realen Topographie. Besonders wichtig für diesen Raum sind das Motiv des Waldes und die Figur der Grenze, auf die im Folgenden in gebotener Kürze und in einem etwas weiter gefassten intratextuellen Kontext eingegangen werden soll. Eine signifikante Semantisierung des Grenz-Wald-Raumes erfolgt in dem „Mikrokosmos“-Text „Das Antlitz der Sterne“ (LT 227-231). Der Text setzt ein mit einem Verweis auf den Grenzwald: Unsere Wälder sind so dicht, daß die Zöllner die größten Schwierigkeiten haben, Grenzgänger dingfest zu machen. Sobald jemand unser Dorf besucht, werden ihm die Wälder gezeigt oder zumindest gibt man ihm einen Hinweis auf ihre Dichte. (LT 227) 727 In der Zeit der Monarchie sei ein Minister im Dorf zu Besuch gewesen, der in seinem Gefolge auch einen „Irrenarzt“ und dessen Frau gehabt habe. Die Frau sei bei einem Spaziergang im Wald verschwunden, worauf der Irrenarzt nach erfolgloser Suche einen Heliumballon, der von jenseits der Grenze beschossen worden sei, und später auch einen Doppeldecker, der samt Piloten verschwunden sei, 728 ausgesandt habe. Schließlich habe der „Irrenarzt“ Nervenkranke und in späterer Folge „siamesische Zwillinge, Halbmenschen, Frauen mit Bärten, Albinos, Menschen ohne Rümpfe, Kinder mit Vogelköpfen, Doppelmenschen, Menschen mit der Haut eines Elefanten oder dem Horn eines Nashorns an der Stirn“ (LT 229) und andere mehr (zunächst im Ballsaal) um sich geschart und sei eines Wintermorgens mit seinem Gefolge im Wald verschwunden. An einem Sonntag im Mai sei die gesamte Gesellschaft mitsamt Frau und Doppeldeckerpiloten wieder im Dorf erschienen, angeführt vom Irrenarzt, der einen brustlangen Bart getragen habe. Der General habe aber alle wegbringen lassen, bevor die Sache habe aufgeklärt werden können. Der Grenzwald ist hier eine ,No-go-Area‘, wer den Grenzwald betritt, muss mit allem rechnen, und nur, wer schon mit allem rechnen muss, betritt 727 In Alfred Döblins monumentalem Roman Berge, Meere und Giganten (1924) tötet ein technologisch manipulierter (Buchen-)Wald die gefangenen Gegenspieler des Konsuls Marduk: „Der Wald verdichtete sich zu einer engen, immer engeren Kiste, von deren Deckel es heruntersickerte.“ (Alfred Döblin: Berge, Meere und Giganten. Hg. v. Gabriele Sander. München: dtv 2006. S. 141.) Der Wald wird so zum hölzernen Sarg. 728 Das Verschwinden des Flugzeugs und der Titel „Das Antlitz der Sterne“ könnten als Anspielung auf Antoine de Saint-Exupéry verstanden werden, dessen „Kleiner Prinz“ von einem Stern kommt, während der Pilot Saint-Exupéry selbst im Zweiten Weltkrieg bei einem Aufklärungsflug verschwunden ist. <?page no="285"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 281 den Grenzwald. 729 Es ist ein Ausnahmeort für Ausnahmezustände, wie übrigens auch in Der Stille Ozean, wo der als nekrophiler Außenseiter und „Gerechtigkeitsfanatiker“ (DSO 206) dargestellte Lüscher, nachdem er drei Morde begangen hat, 730 die Grenze überschreitet und nach Jugoslawien flüchtet, wo er gefasst (vgl. DSO 227) und schließlich den österreichischen Behörden ausgeliefert wird. Ein vom dörflichen Mikrokosmos Marginalisierter in einer Ausnahmesituation wagt die Überschreitung der sonst die Lebens- und Handlungspraxis determinierenden Grenze. Die Übertretung des Regelwerks menschlichen Zusammenlebens korreliert also mit der Überschreitung einer topographischen Demarkationslinie. 731 Andrea Kunne schreibt zu dieser Grenzübertretung Lüschers, das darin „die räumliche Divergenz zwischen der Heimat Österreich und dem fremden Ausland Jugoslawien manifest“ wird: 732 Während ansonsten mit wenigen Ausnahmen 733 kaum Grenzverkehr stattfindet, „erhält der fremde Raum dadurch, daß gerade ein Krimineller versucht, in das benachbarte Land auszuweichen, eine negative Konnotation. Dies erinnert an die Werteinschätzung der Fremde im traditionellen Heimatro- 729 Weitere Bedeutungsebenen in „Das Antlitz der Sterne“ bilden die Ankündigung des Ersten Weltkrieges über die Nähe eines unkonturiert bleibenden Feindes (tatsächlich war ja die Region in den letzten Jahren der Monarchie nicht auf die beschriebene Weise geteilt oder gar, wie suggeriert, in einem kalten Krieg), sowie die Rückkehr der Gesellschaft von Außenseitern als Anspielung auf die Kriegsheimkehrer des Ersten und Zweiten Weltkrieges. 730 Ursache für diese drei Morde waren Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Verkauf eines Pferdes (vgl. DSO 207). Das gesamte Verhalten Lüschers wie die Ursache des Streites (die Pferde! ) erinnern sehr an das Verhalten des Michael Kohlhaas in Heinrich von Kleists gleichnamiger Erzählung (1810 erstmals vollständig publiziert). Übrigens gibt es auch eine bemerkenswerte Verbindung der Namen Lüscher und Ascher: Während Lüscher an das Löschen erinnert, verweist Ascher auf die Asche, zweiteres wurde auch von Rebecca S. Thomas festgestellt: „His life lies in ruins symbolized in the name Ascher (,ashes‘).“ (Thomas: Depth Charges, S. 177.) 731 Die mit Lüschers Grenzüberschreitung verbundenen Konnotationen wie auch die Grenze selbst fehlen übrigens in der Verfilmung des Romans, die damit Michel Foucaults These bestätigt, dass „eine Grenze, die nicht überschritten werden könnte, […] nicht existent“ ist. (Michel Foucault: Vorrede zur Überschreitung. In: ders.: Von der Subversion des Wissens. Hrsg. u. a. d. Franz. und Ital. übertr. v. Walter Seitter. M. e. Bibliogr. d. Schriften Foucaults. Frankfurt/ Main: Fischer 1987. S. 28-45, hier S. 32.) 732 Kunne: Heimat im Roman, S. 248. 733 Die Tante beschäftigt für die Ribiselernte „zwei Familien aus Jugoslawien, die ihr für wenig Geld halfen“ (DSO 125). An anderer Stelle heißt es im Kontext mangelnder Gesundheitsvorsorge und künstlicher Zähne: „Einige hatten sich die Prothese in Jugoslawien machen lassen, weil das billiger kam, denn einen Teil der Kosten mußten sie selbst bezahlen.“ (DSO 146) <?page no="286"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 282 man.“ 734 Allerdings würde die negative Konnotierung des Raumes jenseits der Grenze über die Kooperation der jugoslawischen Behörden, welche Lüscher ergreifen und nach Österreich überstellen, wieder etwas zurückgenommen: „Damit entfernt sich die Beurteilung der Fremde wiederum von der unkommentierten, voreingenommenen und klischeehaften Haltung, die in erster Linie hervorgerufen wird.“ 735 In einem raumtheoretischen Aufsatz von Georg Simmel heißt es: Unter den vielfachen Fällen, in denen die Maxime: „tu’ mir nichts, ich tu’ dir auch nichts“ - das Benehmen bestimmt, gibt es keinen reineren und anschaulicheren als den des wüsten Gebietes, das eine Gruppe um ihre Grenze legt: hier hat sich das Prinzip völlig in die Raumform hinein verkörpert. 736 Dieser brachliegende Zwischenraum, diese Wüste ist in Landläufiger Tod und im Stillen Ozean der Wald. Ascher, so heißt es im Zusammenhang mit der Suche nach Lüscher, „hörte in der Ferne das Geräusch eines Hubschraubers, und als er danach ausschaute, sah er ihn tatsächlich über der grauen Linie des Waldes verschwinden. Dahinter lag Jugoslawien.“ (DSO 217) Dieses Land im Süden ist räumlich nah, in der imaginären Topographie aber nur als oder bis zur Grenze wahrnehmbar: „Ascher blieb mit den Jägern vor dem Kaufhaus stehen. An einem klaren Tag wie heute konnte man bis zur jugoslawischen Grenze sehen.“ (DSO 96) In die Raumwahrnehmung ist die politische Grenze eingeschrieben, denn es heißt nicht „bis nach Jugoslawien“. In „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ ist der Grenzwald ein Ort der Partisanen und Guerillakämpfer des Zweiten Weltkrieges, hierin unterscheidet sich der Text nicht von „Auf dem Schneeberg“ und „Hahnlosers Ende“, wo die Simmel’sche Maxime des „Tu mir nichts, dann tu ich dir auch nichts“ außer Kraft gesetzt ist. Der Raum verliert in den Texten von Gerhard Roth seine Unschuld, wie Wendelin Schmidt-Dengler im Zusammenhang mit Der Stille Ozean schreibt: Aus den Geschichten wird Geschichte. Es ist vorerst die Geschichte des Raumes, Lokalgeschichte. Es ist, als würden sich die verstreuten und den Leser zerstreuenden Wahrnehmungen auf ein Ziel hin organisieren, nämlich: den Räumen die Unschuld zu nehmen und die ästhetische Qualität zu lassen, ihnen aber zugleich ihre historische Belastung oder Belastbarkeit abzulesen. 737 734 Kunne: Heimat im Roman, S. 249. 735 Ebenda. 736 Georg Simmel: Über räumliche Projektionen sozialer Formen. In: Dünne/ Günzel: Raumtheorie, S. 304-315, hier S. 311. 737 Schmidt-Dengler: Wie aus vielen Teilen auch ein Ganzes wird, S. 28-29. <?page no="287"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 283 Im „Verstummen des Jünglings“ zeigt sich dieser Verlust der Unschuld des lokalen Raumes auf besonders markante Weise, denn der Krieg geht auf die Landschaft und die Natur über, der Wald steht ebenso in Flammen wie der Fluss: Als nächstes fiel der Blick meines Vaters in das Tal, wo der Fluß brannte. Wie eine phosphoreszierende Ader zog er zwischen den Hügeln und Wäldern dahin, und von überall stiegen schwarze Rauchschwaden zum Himmel. „Warum ich zum Fluß hinunterlief, weiß ich nicht mehr“, sagte mein Vater. „Wahrscheinlich weil es mir so ungeheuerlich erschien, daß er brannte. [...] Jetzt erst erkannte ich, daß der Wald brannte. Einer der Hügel war nur noch von verkohlten Baumstümpfen bedeckt [...].[“] (LT 479) Diese sehr stark wirkenden Images einer vom Menschen in Brand gesteckten Natur weisen Ähnlichkeiten mit den Dschungel-Bildern Vietnams in Apocalypse Now auf, wo der Palmenwald in ein brennendes Giftgasinferno verwandelt wird. 738 Das Motiv des Gases wird im „Verstummen des Jünglings“ ebenfalls aufgegriffen: „Langsam kamen zwei bulgarische Soldaten mit Gasmasken und einem Pferd, das ebenfalls eine Gasmaske trug, auf das Haus zu.“ (LT 481) Diese gespenstischen Figuren werden von Lindners Vater dabei beobachtet, wie sie einen Bauernhof, dessen Bewohner ermordet wurden, plündern und, wodurch die Funktion der Gasmasken als Schutz vor giftigen Dämpfen deutlich wird, abbrennen. (Vgl. LT 482) Für die Ustaša-Männer wird indessen der brennende Fluss zum Wegweiser, während sie mit ihrem Gefangenen den Wald durchqueren: „Die ganze Nacht marschierte er mit ihnen durch den Wald, jedoch überquerten sie den brennenden Fluß nie. Einmal nur kamen sie ihm ganz nahe, es war am Rande eines Friedhofes, vor dem sie Rast machten.“ (LT 483-484) Der brennende Fluß wird hier in die Nähe des Totenreiches gerückt, er wird zum Phlegethon oder Pyriphlegethon, jenem mythischen Unterweltstrom der griechischen Mythologie, an dessen Ufer in der Göttlichen Komödie Dante und Vergil entlanggehen, der als kochender Blutfluß am Rand des Waldes der Selbstmörder und durch die Sandwüste der Sodomiten fließt. Im vierzehnten Gesang des Infernos wird dieser Phlegethon mit dem Fluß des Vergessens, Lethe, in eine enge räumliche Nähe gebracht, als Dante Vergil fragt: „Mein Meister, wo kann ich denn finden / Lethe und Phlegethon? Vom einen schweigst du / Und 738 Vgl. z. B. Apocalypse Now Redux, 38: 00-50: 00. Der Soundtrack zum Helikopter- und Kampfjetangriff ist übrigens Richard Wagners Ritt der Walküren. <?page no="288"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 284 sagst vom andern, daß er hier entspringe.“ 739 Worauf Vergil am Ufer des Phlegethon stehend antwortet: „Du siehst noch Lethe, fern von diesem Graben, / Dort, wo die Seelen sich zu waschen gehen, / Wenn die bereute Schuld von ihnen abfällt.“ 740 Die Ustaša-Männer schreiten also entlang des brennenden Flusses (durch den Feuerofen) die Kreise der Hölle immer weiter hinab, nicht bereuend, sondern sich beständig mit neuer Schuld beladend. 741 Am Ende der Erzählung wird Lindners Vater schließlich von englischen Soldaten doch über den Fluß gebracht, betrachtet gemeinsam mit diesen die vorbeitreibenden Leichen, 742 um schließlich nach einem Zwischenfall mit einem englischen General, der von einem Lindners Vater zugelaufenen dreibeinigen Hund gebissen wird, wieder zu fliehen: „Ohne besonderen Aufwand konnte ich mich zum Fluß hin entfernen. Dort aber lief ich das Ufer entlang, durch sumpfige Wiesen, Gestrüpp, Gebüsch und Wälder, bis ich endlich in die Nähe des Dorfes kam.“ (LT 505) Selbstverständlich böte sich auch hier eine mythologische Lesart an, Lindners Vater könnte in dieser Szene den Unterweltfluss Styx, der die Welten der Toten und Lebenden trennt (vgl. dazu übrigens RIW 28-29), wieder in die andere Richtung überschritten haben, wobei der dreibeinige Hund, der mit dem Zirkusdirektor in Verbindung steht, 743 für den 739 Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Übers. v. Hermann Gmelin. Anm. v. Rudolf Baehr. Nachw. v. Manfred Hardt. Stuttgart: Reclam 2001 (Universal-Bibliothek 796). Inferno. XIV. Gesang, Vers 130-132. 740 Ebenda, Vers 136-138. 741 Außerdem geraten sie einmal, in der Mitte des Textes, auch auf einen Gletscher, in dessen ewigem Eis sie einen gefallenen Kameraden verborgen gehalten haben, der in einem unbemerkten Augenblick von Dohlen zerfressen wird. (Vgl. LT 486-487) Bei diesem Gletscher könnte es sich um einen mythisierten Gegenpol zum brennenden Fluss handeln (Feuer-Eis-Dichotomie). Allerdings gibt es nicht sehr weit von der Südsteiermark entfernt auf dem slowenischen Nationalberg, dem Triglav, dessen drei Gipfel im slowenischen Staatswappen abgebildet sind, einen realen Gletscher, der im Text gemeint sein könnte. 742 In dem Text „Begrenzte Welt“ heißt es: „In den vergangenen Kriegen, erzählt der Angler häufig, habe der Fluß eine so große Zahl gefallener Soldaten mit sich geführt, daß man, sofern man den Mut aufgebracht hätte, sich mit einem Boot auf das Wasser zu begeben, die Hand nicht habe in die Strömung halten können, ohne den Kopf oder das Bein eines toten Soldaten zu berühren.“ (LT 221) Danach wären die Fische riesig gewesen und hätten vorzüglich geschmeckt: „Nun aber sei die Natur verödet ...“ (LT 222) Es entsteht hier also das Bild einer von der Zerstörung des Menschen profitierenden Natur, von der wiederum paradoxerweise der Mensch profitiert. 743 Der Zirkusdirektor erzählt sein Leben in dem Text „Geschichte für einen dreibeinigen Hund“ (LT 523-531). <?page no="289"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 285 dreiköpfigen Höllenhund Zerberus stehen könnte, der darauf achtet, dass kein Lebender in den Hades gelangt. 744 Die Natur - symbolisiert durch Wald und Fluß - gewinnt in „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ mythische Dimensionen, gerade indem sie vom Menschen zerstört wird. In Conrads Heart of Darkness indessen treten Wald und Fluss in ihrer potentiellen Gefährlichkeit für den westlichen Reisenden als Antagonisten des kolonialen Begehrens auf. In Apocalypse Now gehen natürlicher und menschlicher Aspekt der imperialen Begegnung ineinander über, ganz ähnlich wie der Grenzwald in „Das Antlitz der Sterne“ Ort der gefährlichen Natur und des (darin verborgenen, dahinter lebenden) feindlichen Menschen ist: Als die Figuren Willard (der Marlow des Romans) und Jay ,Chef‘ Hicks ihr Boot verlassen, um Mangos zu pflücken, hören sie ein Geräusch, vermuten „Charlie“ (den Vietcong) dahinter, entgegen springt ihnen aber ein - nicht minder gefährlicher - Tiger. Alles erscheint plötzlich in den Krieg des Menschen miteinbezogen, während und weil dieser Krieg seine Fronten verliert, nach innen und außen geht, das Feindliche nicht mehr mit dem Fremden identifiziert werden kann. 745 So ist es im Film nur folgerichtig, dass in einer Szene amerikanische Soldaten Rauchbomben auf das Boot ihrer Landsleute werfen und niemand mehr bei klarem Kopf zu sein scheint. 746 Die so erfolgende Auflösung von Natur, Freund und Feind in potentielle Gefahr hat ihre Parallele in „Das Verstummen des Jünglings“ in dem, wie in „Letzte Kriegstage“, nur um die Komponente der Natur ergänzt, von allen Seiten Gefahr droht, weshalb der Vater - als er sich vor Soldaten der deutschen Wehrmacht versteckt - resümiert: „[U]nd ich beschimpfte stumm - denn kaum machte ich den Mund auf, stieß ich schon den verhaßten Tierlaut aus - jeden, der mit diesem Krieg irgend etwas zu tun hatte.“ (LT 499) Die Aufhebung der Grenzen schreibt sich in das Metaphorische fort und von der Natur wieder in die Psyche des wahrnehmenden Subjekts ein: „Unten im Tal brannte noch immer der Fluß“, fuhr mein Vater fort, „leuchtete und flimmerte, als sei er ein Spiegelbild der Milchstraße. Eine Zeitlang kam ich mir wie auf den Kopf gestellt vor. Ging ich auf dem Himmel und blickte auf die Erde? War ich verrückt geworden? “ (LT 482-483) 744 Im sechsten Gesang des Infernos heißt es bei Dante: „Cerberus, grausam mißgestaltes Untier / Bellt, einem Hunde gleichend, aus drei Mäulern / Die Leute an, die dort hineingeraten.“ (Dante: Die göttliche Komödie. Inferno. VI. Gesang, Vers 13-15.) 745 Vgl. Apocalypse Now Redux, 54: 00-58: 00. 746 Vgl. ebenda, 1: 13,30. <?page no="290"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 286 Wo sich das Subjekt und die Anderen/ das Andere befinden, auf welcher Seite im topographischen und abstrakten Raum wer steht, ist nicht mehr auszumachen: „Ich wußte nicht, wo wir uns befanden. Hatten wir die Grenze wieder überschritten? “ (LT 490) 747 Nur an einer Stelle wird die Grenze vom Vater als eine sprachliche (und somit in gewisser Weise kulturelle) Demarkationslinie angesprochen: An den Bitten der Tochter [einer bedrohten Familie; G. L.] erkannte ich, daß wir die Grenze überschritten hatten (und erst viel später erfuhr ich, daß es Ustasa-Männer [sic! ] waren, die mich ((nach ,Drüben‘)) verschleppt hatten). Im Augenblick aber begriff ich nichts. (LT 485) Die Thematisierung der (fremden) Sprache erfolgt im textuellen Raum in enger Nähe mit der Enthüllung der Identität der Ustaša-Soldaten. Deren durchgängige Bezeichnung als Partisanen wiederum verweist ebenfalls auf Kulturendifferenz, denn im ehemaligen Jugoslawien wurden als Partisanen ausschließlich kommunistische Kämpfer des späteren Diktators Josip Broz Tito verstanden. 748 Es könnte sein, dass diese sprachliche Nivellierung der Unterschiede zwischen Tito-Partisanen und Ustaša-Männern auf eine regionale Gleichgültigkeit - repräsentiert über die Figur des Vaters - gegenüber solchen Differenzierungen hinweist. Wahrgenommen und erkannt wird der Andere von jenseits der Grenze über stereotype Attribuierungen, weshalb der Vater an den Schnurrbärten (vgl. LT 483) der ihm gegenüber stehenden Männer erkennt, dass er es mit Jugoslawen zu tun hat, nicht aber beispielsweise an der Sprache. Allerdings ist es auch möglich, den Text so zu lesen, dass dem Vater nur die kroatischen Ustaša-Freischärler unbekannt sind, weil sie in der Region erst spät und viel seltener auftraten als die Tito-Partisanen, über die in „Todesstrafe“, in dem Partisanen einen Gendarmen und dessen 747 Nur angedeutet soll hier werden, dass eine Lesart dieses Textes von dem Begriff der Liminalität abheben könnte. Liminalität bezeichnet eine Schwellenphase in einem Veränderungsprozess (nach A. van Genneps einflussreichem Buch Les rites de passage von 1909), wobei drei Phasen unterschieden werden: „a) Trennung vom früheren Ort oder Zustand; b) Übergang durch eine Zeit des Schwebens zwischen zwei Welten; c) Angliederung an eine neue Seinsweise“, durch räumlichen Grenzübertritt dramatisiert. (Ursula Wiest-Kellner: Liminalität. In: Ansgar Nünning: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. 3., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2004. S. 385-386, hier S. 385.) Lindners Vater flieht aus dem Dorf, gerät in den Kriegswirren in einen Schwebezustand zwischen den Welten, tötet den Ustaša-Mann und überquert den Fluss, kehrt schließlich ins Dorf zurück, durchläuft also Stationen, die als „rites de passage“ aufgefasst werden könnten. 748 Ich danke Emilija Mančić für diesen Hinweis. <?page no="291"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 287 Mutter erschießen, der Vater sagt: „Schon das kleinste Kind, das die Soldaten gesehen hatte, wußte, daß es sich um Partisanen handelte und daß sie nicht ohne Absicht gekommen waren.“ (LT 299) In Im tiefen Österreich zeigt Gerhard Roth jedenfalls, dass er über die verschiedenen, in den letzten Kriegsjahren im angrenzenden Jugoslawien und in den Grenzgebieten kämpfenden Gruppierungen Bescheid weiß: Eine verwirrende Vielfalt von Truppen kämpfte, mordete und folterte weiter: die deutsche Wehrmacht und die Waffen-SS, italienisches Militär und Schwarzhemden, kroatisches Militär und die katholisch-faschistische Terrorgruppe Ustasa (Kroaten) - außerdem die großserbischen königstreuen Cetnici, Truppen der serbischen Nedic-Regierung, lokale Milizen aller Richtungen und natürlich die kommunistischen Partisanen unter Tito. (ITÖ 26) Außerdem führt Gerhard Roth aus, dass sich zwar einige Landbewohner dem Widerstand anschlossen, der Großteil der Bevölkerung aber weiterhin dem Nationalsozialismus treu blieb und die Partisanen als Feinde betrachtete. Neben der von der Tante in „Auf dem Schneeberg“ schon erwähnten Ermordung des Bürgermeisters von St. Ulrich durch Partisanen als konkretem Narrativ schreibt Gerhard Roth übrigens von folgender Praxis: „Es wird ferner berichtet, daß Dorfbewohner ,verschleppt‘ worden seien und nicht mehr zurückkamen. Es wurde aber immer nur das eigene Leid gesehen.“ (ITÖ 27) Von solchen Berichten wird „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ vielleicht seinen Ausgang genommen haben, jedoch insofern literarisch transformiert, als aus den Tito-Partisanen Ustaša-Soldaten wurden. Mit seiner Thematisierung der Partisanentätigkeit in der Südweststeiermark hat Gerhard Roth tatsächlich ein verschwiegenes Narrativ einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Bis heute ist die Forschungslage zu den kommunistischen Partisanen und ihren Aktionen in der Region äußerst dünn. Vielleicht ist es bezeichnend, dass eine der wenigen Arbeiten, die sich ausführlich mit dem Thema beschäftigt, wie Landläufiger Tod Mitte der 1980er Jahre fertig gestellt wurde, nämlich Christian Fleckers Monographie Koralmpartisanen. 749 Flecker zeichnet - aufgrund der Zielsetzung seines Bu- 749 Christian Flecker: Koralmpartisanen. Über abweichende Karrieren politisch motivierter Widerstandskämpfer. Wien, Köln: Böhlau 1986 (Materialien zur historischen Sozialwissenschaft 4). Aus dem Vorwort erfahren wir, dass Flecker das Buch 1984, im Erscheinungsjahr von Landläufiger Tod, fertig gestellt hat. (Ebenda, S. 19.) Weiters liefert Flecker folgende Informationen zu den gebräuchlichen Bezeichnungen: „,Banditen‘ in der nationalsozialistischen Terminologie, ,Freiheitskämpfer‘ in der kommunistischen Diktion, ,Titos‘ im weststeirischen politischen Dialekt.“ (Ebenda, S. 15.) Gerhard Roth <?page no="292"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 288 ches natürlich viel ausführlicher, detailreicher und auf breiterer Quellenbasis operierend - ein sehr ähnliches Bild wie Gerhard Roth, was die Einstellung der Zivilbevölkerung betrifft. Sowohl von Denunziationen der Koralmpartisanen durch örtliche Bauern ist hier die Rede als auch von Hilfsbereitschaft und antinazistischer Gesinnung bei einigen Landbewohnern. Und ebenso wie Roth von einem Nichtredenwollen der ehemaligen Partisanen über ihre Tätigkeit berichtet (vgl. GL 37-38), spricht Flecker die großen Schwierigkeiten bei seiner Recherche an, da keine offiziellen Aufzeichnungen über die Partisanen zu existieren scheinen und auch das versuchte Schneeballprinzip, von einer Auskunftsperson auf andere zu stoßen, nur teilweise erfolgreich war. So konnte Flecker letztendlich nur mit 15 ehemaligen Widerstandskämpfern sprechen und stellt desillusioniert im Hinblick auf seine Forschungsarbeit Anfang der 1980er Jahre fest: „[Z]wanzig weitere ehemalige Mitglieder dürften noch am Leben gewesen sein, von ihnen konnte ich allerdings nur sechs ausfindig machen - sie lehnten es aber ab, Auskunft zu erteilen.“ 750 Die kollektive Unterdrückung des Partisanen-Widerstands-Gedächtnisses wird von Roth besonders anschaulich gemacht in dem „Mikrokosmos“-Text „Gesucht und Gefunden“ (LT 354-361). Nachdem mehrere Leichen, darunter ein SS-Soldat, in einem mit Wasser gefüllten Bombentrichter beim Steinbruch gefunden wurden, kommt ein Inspektor aus der Stadt in das Dorf. Über dessen Ermittlungen stellt Lindners Vater, der auch diese Geschichte erzählt, fest: Nicht um den Vorfall im Steinbruch aufzuklären, war der Inspektor gekommen, oder den gewaltsamen Tod des Bürgermeisters, sondern um in der Vergangenheit zu schnüffeln. Diese Vorgangsweise stieß auf Unverständnis. Während die Dorfbevölkerung der Vergangenheit der ehemaligen Politiker gleichgültig gegenüberstand, war sie daran interessiert zu erfahren, wer den Bürgermeister aufgehängt hatte - denn es ging das Gerücht, daß Dorfbewohner daran beteiligt gewesen waren -, und was es mit den Toten im Steinbruch auf sich hatte. (LT 355-356) Aufgrund dieser Position gegenüber der Vergangenheit strengen die Dorfbewohner selbstständige Untersuchungen zum Tod des Bürgermeisters an und schon bald begeht einer der daran Beteiligten Selbstmord, aus Scham vor der Entdeckung seiner „Schande“, wie man dem Inspektor mitteilt: „Der Inspektor begriff nicht. War nicht Krieg gewesen? Hatte der Angriff auf den Bürgermeister nicht etwas mit der Befreiung von der Diktatur zu tun gehabt? “ schreibt vom „Bandenkrieg“ (ITÖ 27) als nationalsozialistischer Sprachregelung für den Partisanenkrieg. 750 Ebenda, S. 13. <?page no="293"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 289 (LT 357) Als ein weiterer Ex-Partisan Selbstmord begeht und ihn ein anderer, dem er Schutz verspricht, abweist, beschließt der Inspektor abzureisen. Auf der Rückfahrt sieht er beim Steinbruch jenen ehemaligen Partisanen tot im Wasser treiben, der ihn abgewiesen hatte. Von „[h]eftige[n] Schuldgefühle[n]“ (LT 360) erschüttert, bittet er, man möge ihn zum Bahnhof bringen: „Als der Steinbruch hinter ihnen lag, fühlte er plötzlich, wie der Gendarm seine Linke [sic! ; G. L.] ergriff und ihn im bewundernden Tonfall zu seiner Arbeit beglückwünschte.“ (LT 361) Auf der Figurenebene ist auffällig, dass der Vater Lindners nicht nur „Gesucht und Gefunden“, sondern auch „Todesstrafe“ und dessen Fortsetzung „Das Ende eines Parteigängers“ erzählt, in dem der Bürgermeister, der in „Todesstrafe“ noch flüchten konnte, von den Partisanen mitgenommen wird: Am nächsten Tag fanden wir den Bürgermeister in seinem Obstgarten. Er hing von einem der Apfelbäume, umschwirrt von Vögeln. Ich war damals sechzehn Jahre alt und half, ihn herunterzuschneiden. [...] Man hob in aller Eile ein Grab aus und verscharrte ihn ohne viele Umstände, als wollte man den Vorfall so rasch wie möglich vergessen. (LT 324) Es scheint also ein besonderes Naheverhältnis zwischen dem Vater und Partisanen, egal welcher Zugehörigkeit und Ideologie, zu bestehen, das in dem Text „Der Brandstifter“, natürlich auf verwirrende Weise, angedeutet wird. Lindner berichtet darin von einem seltsamen Mann, der plötzlich im Haus auftaucht, mit seinem Vater gut bekannt zu sein scheint und diesen mit dem Satz „Ich kann doch mit dir rechnen? “ (LT 226) unter Druck setzt. Während der Vater daraufhin das Zimmer verlässt, sagt der Mann, nachdem er sich versichert hat, wer Lindner ist, Folgendes: „,Ich habe nach Kriegsende das Haus des Bürgermeisters angezündet‘, setzte er in demselben gleichgültigen Tonfall fort. Da kam mein Vater auch schon herein und drückte ihm Geld in die Hand, es war eine größere Summe.“ (LT 226) Es wäre wenig zielführend, aus diesen weiteren Informationen zur Vita des Vaters noch einen kohärenten Sinnzusammenhang konstruieren zu wollen wie zum Beispiel: der Vater stützt einen ehemaligen Nationalsozialisten, der das Haus des neuen, von den Alliierten eingesetzten Bürgermeisters angezündet hat, oder einen ehemaligen Partisanen, der das Haus des Nazi-Bürgermeisters angezündet hat. Die Logik dieser textuellen Informationen entspricht viel eher dem „Votivspruch“: „Zum Schutz vor den Partisanen werden die Kinder in die Mäntel der Fahnenflüchtigen gehüllt“. (LT 186) <?page no="294"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 290 Wichtig ist aber in Anbetracht dieser Partisanennarrative und in Hinblick auf eine synthetisierende Lektüre, dass die Figur des Vaters von Franz Lindner wie kaum eine andere im Werk von Gerhard Roth für (auch familien-) historische Projektionen benützt wird. Die Figur des Vaters ist potentiell Täter, Opfer, Partisanenfreund und -feind, beim Volkssturm, in Kriegsgefangenschaft, wird verschleppt und erschlägt einen Ustaša-Soldaten, erschießt drei Partisanen im Schlosshof, war Aufseher im KZ Dachau, obwohl zu Kriegsende erst 17 Jahre alt, ist schuld am Schweigen und an der Schizophrenie Lindners und hat ein Kind mit der eigenen Schwester. Wir haben es hier mit einer enormen Verdichtung historischer Narrative und psychosozialer Aspekte in einer Figur zu tun, für die es dann nur nahe liegend ist, dass sie auch beim Showdown zwischen kroatischen Faschisten und Tito-Partisanen Augenzeuge wird. Lindners Vater verlässt im letzten Drittel von „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ den Flüchtlingsstrom, folgt „einem Instinkt, der mich von der Landstraße in den Wald gehen ließ“ (LT 500), und gelangt schließlich wieder zum Fluß, zu einer Wehr eines Elektrizitätswerkes, aus dem plötzlich die ihm bekannten Männer getrieben werden: „Hinter ihnen schritten zehn Tito-Partisanen, warteten, bis die Ustasa Männer still standen, bildeten einen Halbkreis und schossen auf ein kurzes Kommando, bis der letzte Delinquent in den Fluß gestürzt war.“ (LT 500) Wir haben es hier also, literarhistorisch und motivgeschichtlich betrachtet, mit einem klassischen Motiv des Partisanenromans zu tun: der endgültigen Niederlage der Faschisten und dem finalen Triumph der kommunistischen Kämpfer. Gerhard Roths Ustaša-Soldaten sind weder in Landläufiger Tod, noch im gesamten Zyklus historisch konturiert oder erinnerungskulturell kontextualisiert, ihre Geschichte läuft beispielsweise nicht hin zum Heeresgeschichtlichen Museum in Wien, sondern verläuft (sich) in einem Grenzraum und endet abrupt. 751 Ihre Zuordnung fungiert als Chiffre, die Figuren selbst als symbolisch und weniger konkret historisch aufgeladene Projektionsflächen. 751 In der außerliterarischen Wirklichkeit erfuhr ihre Geschichte im Zuge des Jugoslawienkrieges eine Fortsetzung, in der österreichischen Literatur fortgeschrieben wurde die Geschichte der Ustaša-Bewegung übrigens von Norbert Gstrein in seinem Roman Die Winter im Süden (2008), in dem ein ehemaliger kroatischer Faschist aus dem argentinischen Exil, in das er vor den Partisanen geflüchtet war, nach Zagreb zurückkehrt, um aus nationalistischen Beweggründen am Krieg auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien teilzunehmen. Bevor es jedoch dazu kommen kann, wird er <?page no="295"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 291 Als problematisch könnte man an „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ die eingenommene Perspektive (von Lindners Vater) auffassen, in der „die Jugoslawen“ als das räumlich Nahe, irgendwie Bekannte, aber gleichzeitig Archaische, Wilde, Unzivilisierte, Gefährliche erscheinen. Lindners Vater, das heißt ein Dorfbewohner, wird Opfer und Zeuge ,fremder‘ Gewalt - die auch von den bulgarischen Soldaten ausgeübt wird -, aber es gibt keinen Text in Landläufiger Tod, in dem ein Dorfbewohner so grausam wütet, wie die Ustaša-Männer die gesamte Erzählung vom „Verstummen des Jünglings“ hindurch. Mit Blick auf diese Form der Darstellung der „Jugoslawen“ scheinen auf der Ebene des Textes „Balkanismen“ im Spiel zu sein. Unter dem Begriff „Balkanismus“, ausführlich dargestellt in dem Buch Imagining the Balkans (1997), versteht die bulgarisch-amerikanische Kulturwissenschaftlerin Maria Todorova westliche kulturelle Konstruktionen, das heißt narrative und diskursive Formatierungen, des Balkans. Todorovas Ansatz hebt ab von Edward Saids mithilfe von Foucaults Diskursanalyse gearbeitetem Konzept des Orientalism (1978), unterscheidet sich aber auch von diesem: Anders als beim Orientalismus, der einen vermeintlichen Gegensatz beschreibt, haben wir es beim Balkanismus mit einer vermeintlichen Zweideutigkeit zu tun. Der Westen und der Orient werden als inkompatible Einheiten dargestellt - als Gegenwelten, und zwar geschlossene Gegenwelten. Der Balkan hat im Unterschied dazu immer das Bild einer Brücke oder einer Übergangszone hervorgerufen: zwischen Ost und West, aber auch zwischen Wachstumsstadien, was eine Etikettierung als „halbentwickelt“, „halbkolonial“, „halbzivilisiert“, „halborientalisch“ usw. nach sich zog. 752 Spuren balkanistischen Denkens sind dem „Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ eingeschrieben und über die dörfliche Perspektive des Vaters erklärbar. Dieser erkennt, wenn man so will, in den Ustaša-Soldaten auch die dunkle Seite seiner selbst, es ist also nicht das Fremde jenseits des Eigenen, umgebracht. In eine thematische Nähe zu Roths Erzählung rückt der Roman, als der exilierte Alte seinem österreichischen Leibwächter von der Verfolgung durch Partisanen zu Kriegsende 1945 erzählt und dabei Bleiburg erwähnt, eine Chiffre für die Rache der Jugoslawischen Volksbefreiungsarmee an ihren vormaligen Unterdrückern. Vom kroatischen KZ Jasenovac, das vom Ustaša-Regime geführt wurde, und den dort begangenen Untaten erzählt er jedoch nichts. Vgl. Norbert Gstrein: Die Winter im Süden. Roman. München: Carl Hanser 2008. S. 69-72. 752 Maria Todorova: Historische Vermächtnisse als Analysekategorie. Der Fall Südosteuropa. In: Karl Kaser, Dagmar Gramshammer-Hohl und Robert Pichler (Hg.): Europa und die Grenzen im Kopf. Klagenfurt: Wieser 2003 (Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens 11). S. 227-252, hier S. 234. <?page no="296"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 292 sondern das Fremde im Eigenen, um das es hier und im Verständnis des Balkanismus geht. Problematisiert wird diese Perspektive des Vaters jedoch nicht. Das Fremde im Eigenen ist so nur auf der hier eingeführten theoretischen Ebene festzustellen, auf der konkreten historischen Folie bleibt es unsichtbar. Da es nun keinen starken Gegenpol zu den Ustaša-Männern gibt, wie zum Beispiel ähnlich moralisch verwahrloste und marodierende nichtjugoslawische Nazis, wirkt der Faschismus wie etwas „balkanisch“ Fremdes, das nichts mit Lindners Vater und seiner Herkunft zu tun hat, und eben nicht wie ein Teil des Eigenen. 753 Ähnlich der oben erwähnten Kooperation der jugoslawischen mit den österreichischen Behörden, welche zur Auslieferung des Mörders Lüschers führen, wird diese negative Konnotierung der „Jugoslawen“ jenseits der Grenze über die Vergeltungsaktion der Tito-Partisanen etwas abgemildert, obwohl diese als auch von Dorfbewohnern getragene Gruppe eben nicht als so homogen „jugoslawisch“ erzählt wird wie die Ustaša-„Partisanen“. Diese Vergeltungsszene ist für Landläufiger Tod untypisch, weil sie eine Realisierung von ,Gerechtigkeit‘ impliziert. Die Ustaša-Männer werden tatsächlich zur Rechenschaft gezogen und erschossen, das von ihnen begangene Unrecht wird bestraft. Zwar appliziert Roth an dieser Stelle trotzdem eine Ambiguität generierende postmoderne Schreibweise, denn Lindners Vater hält „auch diese Partisanen für unzurechnungsfähig (die mit dem Rücken zu mir vor den Fluten standen und zuschauten, wie die Leichen der Ustatsa- Männer [sic! ] weggeschwemmt wurden oder im Gelb der Fluten versanken).“ (LT 500-501) Dennoch gibt es in Anbetracht der gerechten Strafe, der geglückten Rückkehr ins heimatliche Dorf sowie der Wiederkehr der Sprache einen Hoffnungsschimmer: Im Verstummen existiert die Möglichkeit des Sprechens, im Verbrechen die der Bestrafung, im Krieg die des Friedens. Eine Rettung aus dem unheimlichen Unheil scheint möglich, jedoch ist sie zu bezahlen mit der traumatischen Erinnerung. Aber „Das Verstummen des Jüng- 753 Eine ähnliche Problematik kann bei dem Film Der Untergang (2004), einer teilweisen Verfilmung der Aufzeichnungen der Hitler-Sekretärin Traudl Junge (Bis zur letzten Stunde, 1947/ 48 geschrieben, 2002 veröffentlicht) festgestellt werden. In der Schilderung der letzten Tage im so genannten „Führerbunker“ wurde zwar - sofern das filmisch möglich ist - Wert auf historische Faktentreue gelegt, die räumliche Fixierung auf Berlin und die Fokalisierung auf Hitler klammert aber nationalsozialistische Kriegsverbrechen und die Shoah abgesehen von den antisemitischen Tiraden Hitlers aus. In gewisser Weise ist die Erzählung von Lindners Vater von einer ähnlichen „Toter-Winkel-Perspektive“ geprägt, nur gibt es im Kontext des gesamten Romans genügend Passagen, welche diese Perspektive ergänzen oder konterkarieren. <?page no="297"?> 3.4 Familien-/ Kriegsgedächtnis 293 lings“ berichtet nicht nur von einer abgeschlossenen Periode, ist nicht nur Erinnerung. Der Text sollte vielmehr auch als Mahnung und Warnung gelesen werden, dass jedes Sprechen verstummen, jedes Verbrechen begangen werden, jeder Frieden in den Krieg führen kann. Genau das geschieht an den Grenzen der Südsteiermark, wo Anfang der 1990er Jahre wieder ein Krieg entflammte, der im Hinblick auf „Das Verstummen des Jünglings“ als Wiederaufbrechen der dort angedeuteten Frontlinien verstanden werden kann. In seinem Roman Der Berg (2000) hat Gerhard Roth dann einen mit dem Jugoslawienkrieg zusammenhängenden Plot mit einer Infragestellung medialer Repräsentationsweisen von Wirklichkeit und einer angedachten Umkehr des Verhältnisses von Fakt und Fiktion verschränkt. Wie Lindner und sein Vater schweigt auch in Der Berg eine Figur, nämlich der serbische Dichter Goran R., der sich versteckt hält, „weil er im Jugoslawienkrieg Augenzeuge des Massakers von S. geworden war, bei dem sechstausend bosnische Moslems ermordet worden waren.“ 754 Protagonist von Der Berg ist der österreichische Journalist Viktor Gartner, der versucht, R. ausfindig zu machen und ihn am Ende des Romans in Istanbul findet. Mit Hilfe von 1000 Dollar bringt Gartner R. dazu, ihm ein Interview zu geben, in dem der serbische Dichter sein Schweigen in Relation zu seiner schriftstellerischen Arbeit setzt: „Was hat sich in S. ereignet? “, fragt er [Gartner] […]. Goran R. beantwortete die Frage mit einem langen Schweigen. „Ich habe, wie Sie wissen, nur wenige Interviews gegeben, politische schon gar nicht, aber in meinen Schriften kann man auf jede Frage eine Antwort finden. Weshalb soll ich nachträglich bezeugen, was ich vorausgesehen habe? “, flüsterte Goran R. 755 Der Dichter schweigt zur Wirklichkeit und zu seiner Literatur, die für ihn der Wirklichkeit vorausgegangen ist. Hier wird das traditionelle Verhältnis von Fakt und Fiktion umgedreht, nicht die Realität wird literarisch transformiert, sondern die Literatur wird zur Realität beziehungsweise im Nachhinein als Vorausdeutung lesbar. Der Schriftsteller kann durch genaues Beobachten und literarische Analysen Entwicklungen vorwegnehmen, so lautet die hier formulierte These, den zyklischen Lauf der Geschichte vorzeichnen, wie Gerhard Roth das selbst in manchen Passagen seiner Arbeit gelungen ist. Innerhalb des Gesamtwerkes von Roth ist mit dem Orkus-Zyklus, zu dem Der Berg gehört, 754 Gerhard Roth: Der Berg. Frankfurt/ Main: Fischer 2005. S.11. 755 Ebenda, S.276-277. <?page no="298"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 294 eine transnationale Ebene hinzugekommen, die in den Archiven des Schweigens in der Figur der Grenze bereits angedeutet ist. So führte das Schweigen über die österreichische Vergangenheit hin zu einem Schweigen über das Massaker von Srebrenica. 756 Roths erster Zyklus ist aber in seinen Grundzügen noch eine nationale Bestandsaufnahme, die vor allem für die imaginäre, symbolische und reale Kartographie des Kalten Krieges, der Zeit vor der Wende in Zentraleuropa, Gültigkeit beanspruchen kann. Da der Zyklus eben in dieser Wendezeit 1991 beendet wurde, sind in ihm keine Transformationen der Grenzen um Österreich, keine Veränderungen nationaler Stereotype und Zuschreibungen, keine imagologischen Umschriften, kein Durcheinanderbringen der alten und das Weben neuer, vielleicht längerer, vielleicht noch verworrenerer Machtfäden thematisiert. Die europäische und globale Perspektive kommt dezidiert erst in Orkus hinzu, einem Zyklus, welcher nach der Wende und einem österreichischen Zeitalter des Regionalen auf dem Balkan, Ägypten (Der Strom, 2002), der iberischen Halbinsel (Das Labyrinth) oder Japan (Der Plan, 1998) einer neuen großen Erzählung nachspürt: der Globalisierung. 756 Für Schmidt-Dengler ist übrigens das Gespräch Gartners mit Goran R. in Anbetracht des fiktiven Faktums, dass von Viktor Gartners Recherchen aufgrund verschiedener Umstände alles Gespeicherte gelöscht wird, auch keine Daten auf dem Laptop verbleiben, „eine glatte Nullnummer“, die sich nahtlos in das große Thema von Der Berg einfügt: „In keinem seiner Bücher hat Roth d[...]en Desillusionierungsprozeß so konsequent gestaltet wie in diesem.“ (Schmidt-Dengler: Wie aus vielen Teilen auch ein Ganzes wird, S. 34.) <?page no="299"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 295 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis In diesem Kapitel werden mehrere Text- und Figurenanalysen unter einer auf Opfer- und Tätergedächtnis ausgerichteten Perspektive miteinander kombiniert. Aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit wurden drei separat betitelte Analyseblöcke erstellt, die jedoch eng miteinander verzahnt sind. Im ersten Abschnitt wird die Erzählung „Gockel“ (LT 550-565) unter anderem im Hinblick auf Aspekte des Opfergedächtnisses und Fragen der Zeugenschaft gelesen. Eine repräsentative Rolle in „Gockel“ spielt der in der k.u.k- Postmeisteruniform seines Vaters amtierende Gendarmeriekommdant, der im zweiten Abschnitt ausgehend von seiner Transformation in den automatischen Menschen besprochen wird. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit Überlegungen zur Repräsentation von Opfern und Tätern, zu Gemeinsamkeiten und Differenzen von „Gockel“ und dem sechsten Zyklusband Die Geschichte der Dunkelheit sowie zu dessen narrativer Eingliederung in die Archive des Schweigens. 3.5.1 „Gockel“ „Gockel“ enthält in 23 kurzen, chronologisch geordneten Kapiteln die von ihm selbst erzählte Lebensgeschichte des Dorfbewohners Karl Gockel. Der Text setzt ein mit dem Tod von Gockels Mutter kurz vor Ostern 1938. 757 Der zwölfjährige Gockel fährt daraufhin nach Eisenerz, um seinen auf dem Erzberg arbeitenden Stiefvater zu benachrichtigen. Dieser Stiefvater, ursprünglich ein Sozialist, versucht in den kurzen Zeiten seiner Anwesenheit im Dorf, Gockel antifaschistisch zu erziehen. Während der Kriegsjahre lebt Gockel zuerst bei seinen Großeltern und führt dann ab 1942 allein die elterliche Landwirtschaft. Als sein Stiefvater 1944 auf dem Erzberg bei einem Arbeitsunfall stirbt, stiehlt Gockel ein Fahrrad, um trotz der zerstörten Zugverbindung zum Begräbnis zu kommen. Wieder im Dorf, wird Gockel wegen des Fahrrads, das einem Zellenleiter gehört, verhaftet. Eine ihm von zwei Gendarmen eröffnete dubiose Fluchtmöglichkeit nutzt Gockel nicht, schließlich wird er ins Konzentrationslager Mauthausen deportiert. Im Juni 1945 kehrt 757 Im Text werden keine Jahreszahlen angegeben, jedoch lassen sich aus den textuellen Informationen dieser Zeitpunkt (vgl. LT 551, 553 und 554) sowie die weiteren Eckdaten (1942 - LT 555; 1944 - LT 555; 1945 - LT 563) erschließen. <?page no="300"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 296 Gockel von Mauthausen über Eisenerz in das Dorf zurück, wird aber vom Postmeister-Gendarmeriekommandanten mit dem Hinweis auf die gebotene Fluchtmöglichkeit und vor allem seinen Fahrraddiebstahl abgewiesen. Schließlich verkauft Gockel sein Elternhaus und verlässt endgültig das Dorf. Beginnen wir die Analyse mit einem Blick auf die Mimesis des Erinnerns. Michael Basseler und Dorothee Birke schreiben Bezug nehmend auf Genette und mit Blick auf das Verhältnis von Basiserzählungen und Analepsen, dass der „klassische Fall [...] Rückblicke [sind], die von ,vorne‘ (z. B. mit der Geburt des Erzählers) anfangen und die Erzählung dann bis zu dem zeitlichen Punkt bringen, an dem der Erinnerungsprozess eingesetzt hat“. 758 Nach Genette sei dies eine „komplette Analepse“: Eine solche ,klassische‘, an die Autobiographie angelehnte Form, nämlich die auf der Ebene der Analepsen chronologische Reihung der Ereignisse, eignet sich besonders dafür, den Akzent auf die Entwicklung einer Figur zu legen, deren Erinnerungen sich fast wie von selbst zu einer sinnstiftenden Lebensgeschichte zusammenfügen lassen, die den gegenwärtigen Status der Figur erklärt [...]. 759 Roth inszeniert die Erinnerung in „Gockel“ nun als nahezu - denn Gockel ist schon zwölf Jahre alt, als seine Erinnerungserzählung einsetzt - komplette Analepse in chronologischer Reihung, einmal abgesehen von zwei Ausnahmen von Kürzest-Prolepse (vgl. LT 560) und -Analepse (vgl. LT 562) innerhalb der großen Erinnerungsanalepse. Aufgrund dieses Aufbaus ähnelt „Gockel“ der anderen kompletten Analepse in Landläufiger Tod, „Auf dem Schneeberg“. In der Basiserzählung räumt Gockel sein Elternhaus, füllt Schachteln und packt Koffer, wobei erst am Ende des Textes aufgeklärt wird, dass dies aufgrund eines geplanten Hausverkaufes geschieht. Besondere Gefühlsregungen oder andere Verhaltensweisen, die beispielsweise auf ein „Überlebenden- Syndrom“ hinweisen könnten, werden nicht erwähnt. 760 Sein Zuhörer Lind- 758 Basseler/ Birke: Mimesis des Erzählens, S. 126. 759 Ebenda. 760 Allerdings erwähnt Gockel fünf Mal Furcht oder Angstzustände vor seiner Deportation nach Mauthausen (vgl. LT 550-553), die bei der Radfahrt nach Eisenerz von einer ihm „unbekannte[n] Furchtlosigkeit“ (LT 557) abgelöst worden seien. Es könnte sich hier um von der Gegenwart ausgehende Rückprojektionen handeln, denn solche Angstzustände wären, neben Depressionen, einem prinzipiellen Fremdheitsgefühl und Schuldgefühlen, weil man überlebt hat, paradigmatisch für das „Überlebendensyndrom“. (Vgl. dazu Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 113.) <?page no="301"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 297 ner wird zwar beständig von Gockel direkt angesprochen (wodurch sich natürlich auch der Rezipient mitgemeint fühlt), tritt aber nur im neunten Kapitel des Textes besonders hervor, als Gockel seinen Erzählfluß zeitweilig unterbricht und eine Fotografie seines Stiefvaters von der Wand nimmt. Dazu Lindner: „Ich bückte mich und versuchte, etwas aus den Zügen zu lesen, aber das einzige, was mir auffiel, war eine gewisse Härte in diesem Gesicht und eine Bereitschaft zur Aufsässigkeit (die ich mir auch nur eingebildet haben kann).“ (LT 555) In dieser Sequenz versucht Lindner die Erzählung vom Stiefvater mit dessen medialer Repräsentation zu verbinden, ist aber enttäuscht, weil in diesem Fall zwar die Erzählung das Bild, das Bild aber nicht die Erzählung mit Bedeutung auflädt. Schon im Abschnitt „Schweigen - Denken - Schreiben“ wurde mit Verweis auf Michail Bachtin ausgeführt, dass Lindner durch sein Schweigen eine Figur des Dritten darstellt. Im Setting von „Gockel“ wird Lindner zwar direkt angesprochen und hört nicht nur mit, was erinnert wird, jedoch ist er trotzdem in einer Position des Dritten, wie es sie im Kontext von KZ- Überlebenden-Narrationen gibt. Aleida Assmann schreibt, „zur Dyade von Opfer und Täter muss eine ,Figur des Dritten‘ hinzutreten, die das Gewaltgeschehen bewertet und die Zuschreibung der Rollen vornimmt.“ 761 Obwohl Lindner nun keine explizit Gockels Erzählung zustimmenden Kommentare einfließen lässt, ist allein sein Interesse an dessen Leben und die Niederschrift von dessen Erinnerungserzählung eine positive Bewertung und Anerkennung der Opferrolle. Lindner rückt so in die Rolle des „sekundären Zeugen“, wird Teil einer sich Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre formierenden „sekundäre[n] Zeugengemeinschaft, die bereit war, das Zeugnis der Überlebenden aufzunehmen.“ 762 Diese „sekundäre Zeugenschaft“ nimmt die „Form einer Erinnerungskultur [an], die von der Empathie und Solidarität mit den Opfern getragen ist und historische Verantwortung übernimmt.“ 763 Das hat insofern auch eine antiessentialistische Komponente, als erst durch eine narrativ und diskursiv erfolgende (zumindest gruppenkollektive) Anerkennung das Opfer zum Opfer werden kann: „,Opfer‘ ist somit keine naturwüchsige Kategorie, sondern entsteht überhaupt erst als eine soziale Konstruktion durch eine moralische Gemeinschaft in einem öffentlichen Raum.“ 764 Wie im 761 Assmann: Der lange Schatten, S. 85. 762 Ebenda, S. 89. 763 Ebenda, S. 90. 764 Ebenda, S. 89. <?page no="302"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 298 dritten Abschnitt dieses Kapitels zu zeigen sein wird, übernimmt Gerhard Roth selbst gegenüber Karl Berger in der Geschichte der Dunkelheit die Rolle eines sekundären Zeugen, wobei er hier auch generationenspezifisch agiert. Die Aufmerksamkeit für und die Niederschrift von Überlebendenerzählungen ist nun wiederum als Teil einer von Aleida Assmann deduzierten „ethische[n] Wende von sakrifiziellen zu viktimologischen Formen des Erinnerns“ 765 ver-ortbar. Diese etymologisch ableitbare Differenzierung der Erinnerungsformen meint zum einen sakrifizielle Opfer, die (aktiv) für eine Sache gebracht werden, zum anderen viktimologische Opfer, die (passiv) erlitten werden. Während erstere nun zum Beispiel als Opfergedächtnis von Soldaten (national) heroisierend erzählt werden können, führen zweitere (Shoah, Sklaverei etc.) zu „postheroischen“, traumatisch affizierten Narrativen. Die ethische Wende in der Erinnerung ist also zugleich eine Wende von der heroischen zur postheroischen Erinnerung [...]. Mit ,postheroisch‘ ist die große Bedeutung des Traumabegriffes gemeint, der nach einer langen Erinnerungsgeschichte der Selbstglorifizierung zum ersten Mal den Status des wehrlos passiven Opfers privilegierte. 766 Gockels Opfernarration ist eine postheroische Erinnerung, die sich aber gegen die Passivität des völlig unschuldigen Opfers zur Wehr setzt, indem heroisierende Elemente eingesetzt werden. Die ethische Wende ist also insofern noch nicht vollständig vollzogen, als es notwendig erscheint, Strategien und Symbole des Widerstands einzuführen, welche eine sinnstiftende Funktion für das Leid des Opfers übernehmen. Über seinen Stiefvater ist Gockel qua familiärer Prägung mit einem Widerstandsnarrativ ausgestattet. Seine Familie wird von den Verwandten gemieden, welche „wegen der Politik“ (LT 553) nicht einmal zum Begräbnis der Mutter kommen. Ebenso distanzieren sich die im Zusammenhang mit dem Begräbnis benötigten anderen Dorfbewohner (Pfarrer, Sargtischler, Bestatter) von den Gockels: „,Es ist die neue Zeit‘, sagte mein Stiefvater plötzlich auf dem Heimweg. ,Es sind die neuen Ideen. Nur ich bin bei den alten geblieben. Aber ich habe nicht gewagt, gegen den Anschluß zu stimmen, ich war zu feige.‘“ (LT 554) 767 Das Widerstandsnarrativ ist also präsent und latent, macht 765 Ebenda, S. 76. 766 Ebenda, S. 277. 767 Vgl. dazu andere „Anschluss“-Erzählungen im Zyklus wie in „Auf dem Schneeberg“ (Diffamierung einer „Anschluss“-Gegnerin) und in der Geschichte der Dunkelheit (GD 51-53): „Ein unbeschreiblicher Siegtaummel ergriff die Menschen.“ (GD 52-53) An- <?page no="303"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 299 Gockel und seinen Stiefvater zu Außenseitern des Dorfes. 768 Matthias Auer schreibt, dass Gockel durch diese familiären Voraussetzungen „von vornherein als (potentiell) subversives Element“ gilt. 769 Trotz dieser Konsequenzen und Implikationen ist das Widerstandsnarrativ aber ebenso brüchig und schwach, es handelt sich bei Gockels Stiefvater um einen passiven „inneren Emigranten“, nicht um einen aktiv Aufbegehrenden. Der Widerstand des Stiefvaters ist in erster Linie symbolisch: „Dann nahm er sein weißes, rotgefaßtes Taschentuch heraus, öffnete es und sagte: ,Das ist unsere Fahne gewesen. Es ist uns nicht besonders gut gegangen unter dieser Fahne, aber bald wird es uns noch viel schlechter gehen.‘“ (LT 554-555) Dieses Taschentuch scheint auf die österreichische, rot-weiß-rote Fahne zu verweisen. Dazu würde auch der Name „Gockel“ passen, denn die christlichsozialen, österreichpatriotischen Heimwehren wurden wegen des am Hut befestigten Spielhahnstoßes „Hahnenschwänzler“ genannt. 770 Die symbolische Ebene wird nun aber insofern überschritten, als der Stiefvater dieses Symbol zu didaktischen Zwecken dem Stiefsohn zeigt und diesen vor nationalsozialistischen Einflüssen wie dem der Großeltern warnt: „Du darfst ihnen nichts glauben [...] Du bist zwar nicht mein Sohn, aber ich meine es gut mit dir.“ (LT 554) Das Widerstandssymbol wird im Laufe der Erzählung noch einmal erwähnt - und dabei semantisch weiter aufgeladen -, nachdem Gockel bei seiner Verhaftung zusammengeschlagen wird: „Ich hatte das Taschentuch meines Stiefvaters eingesteckt, bevor mich die Gendarmen mitgenommen hatten, und hielt es vor die blutende Nase.“ (LT 558) Die parteipolitisch-ideologische Symbolik wird ins innerliterarisch Reale überführt und transformiert im Akt eines österreichpatriotischen Widerstands. Als Gockel erfährt, dass er „zu Zwangsarbeit im Norden des Reiches verurteilt sei“, antwortet er, „daß ich nicht in den Norden gehen würde, ich sei Österreicher.“ (LT 558) Daraufhin wird Gockel vom Zellenleiter verprügelt, von den Gendarmen zur Flucht aufgefordert, ohne sich sicher sein zu können, dass diese ihn nicht beseitigen hand dieses Beispiels zeigt sich die Bandbreite der im Zyklus eröffneten Perspektiven auf konkrete historische Ereignisse. 768 Halsall sieht das Außenseitertum einiger Figuren als thematische Klammer Der Archive des Schweigens: „It is the examination of extreme states of mind and the position of outsiders which provides a thematic unity between those volumes set in rural Styria and those set in urban Vienna.“ (Halsall: Language and silence, S. 134.) 769 Auer: Der österreichische Kopf, S. 141. 770 Der Partisan „Hahnloser“ wiederum hat keinen Spielhahnstoß, er kämpft nicht für Österreich, sondern für den Kommunismus. <?page no="304"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 300 wollen, und schließlich nach Mauthausen deportiert. Es besteht also ein Kausalzusammenhang zwischen Gockels KZ-Aufenthalt und seiner proösterreichischen, gegen Hitler-Deutschland gerichteten Aussage, ohne die er ,nur‘ zu Zwangsarbeit verurteilt worden wäre. Das darauf folgende Agieren Gockels, das dieser am Ende seiner Schilderung des Lagerlebens in Mauthausen erzählt, nimmt den politischen Gehalt der Deportation allerdings wieder zurück, wobei für die hier relevante Passage die textuelle Einrahmung von einem nicht unerheblichen analytischen Interesse ist: Sowohl das Ende des Krieges als auch meine Jugend begünstigten meine Rettung. Ich will jedoch nicht verschweigen, daß ich bei einem Verhör zu Beginn meines Aufenthaltes nur den Diebstahl des Fahrrades zugab, wobei ich nicht vergaß, auf die Umstände hinzuweisen, die die eigentliche Ursache für meine Verfehlung waren. (Anschließend mußte ich das Blut, das mir aus der Nase rann, vom Lagerboden auflecken.) Ich erhielt eine leichtere Arbeit zugewiesen, und mein Fall verlor in den chaotischen Ereignissen an Wichtigkeit. (LT 562- 563) Der Abschnitt beginnt mit der Rettung Gockels, die so in eine textuelle Nähe zum und somit potentiell in einen Kausalzusammenhang mit dem Verlauf seines Verhörs gebracht wird. In diesem Verhör reduziert Gockel, wie es scheint, sein Vergehen auf den marginalen kriminellen Aspekt, da er „nur den Diebstahl des Fahrrades zugab“. Zweideutig sind „die Umstände“, welche „die eigentliche Ursache für meine Verfehlung waren.“ Wenn Gockel hier nur die Notwendigkeit, zum Begräbnis des Vaters zu kommen, meint, könnte offen bleiben, so man einer solchen Form von Gewalt Logik unterstellen will, warum er dann blutig zusammengeschlagen wird. Ist das aber, wie die Formulierung trotzdem eher nahe legt, tatsächlich der einzige Grund, so ist klar, dass in den Akten in Mauthausen nur der Fahrraddiebstahl zu finden ist. So führt die vorgebliche „Rettung“ im Sinne „leichtere[r] Arbeit“ paradoxerweise nach dem Ende des Regimes trotz politisch und österreichpatriotisch legitimierbarer Entschädigungspotentiale zur Nichtanerkennung von Gockels Ansprüchen als Opfer. Und da der Zellenleiter zu Kriegsende mitsamt den Gockels Narration vielleicht bestätigenden Akten verschwindet, kann er bei seiner Rückkehr „,mein Verbrechen‘ als gewöhnlichen Fahrraddiebstahl hin[stellen], weswegen man mich von nun ab [sic! ] als Kriminellen ansah, auch vom Staat erhielt ich keine Unterstützung.“ (LT 565) Lapidar stellt Lindner deshalb fest: Die Dorfbewohner „begegneten [...] seinen Berichten mit untilgbarem Mißtrauen, bis er uns verließ.“ (LT 565) <?page no="305"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 301 Auf dem Land ist Gerhard Roths Figur des Karl Gockel von den die Opfer des Nationalsozialismus unterstützenden Diskursen im Hinblick auf die Konstitution einer „sekundären Zeugengemeinschaft“ und „ethischen Wende der Erinnerung“ abgeschnitten. Hier gelten aufgrund der zeitlichen Zentrum- Peripherie-Asymmetrie noch die Maßstäbe der unmittelbaren Nachkriegszeit: „Der Konflikt zwischen dem ehrenvollen Opfergedächtnis des Krieges und dem traumatischen Opfergedächtnis der Konzentrationslager wurde unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg manifest.“ 771 So schreibt sich eine Kontinuität des Außenseitertums von Gockel vom „Anschluss“ über das Kriegsende in die Zweite Republik fort, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Tätergemeinschaft von der indirekten Beschuldigung des Opfers alleine über seine Präsenz selbst kollektiv beschuldigt fühlt. Nur Lindner ist bereit, ihm zuzuhören, seine Erzählung aufzuschreiben und ihn als verlässlichen, „moralischen Zeugen“ anzuerkennen. Mit „moralischer Zeuge“ ist ein spezifischer Zeugentypus gemeint, der laut Aleida Assmann Aspekte der anderen drei Zeugentypen - Gerichtszeuge („testis“), historischer Zeuge (als Überlebender „superstes“) und religiöser Zeuge („Märtyrer“) - in sich vereint. 772 Avishai Margalit hat eine seiner Max- Horkheimer-Vorlesungen diesem Zeugentypus gewidmet und die entscheidenden Merkmale herausgearbeitet: „Ein moralischer Zeuge kennt das Leid in Form von Erfahrungswissen. Doch bedeutet ,Erfahrung‘ hier, dass man das Leid aus erster Hand erleben muss - nämlich als Opfer“. 773 Das heißt, der/ die moralische Zeuge/ in „sollte Augenzeuge von Leiden sein, ja, eigentlich sollte er sie erfahren - Leiden, verursacht durch ein absolut böses Regime.“ 774 Das Merkmal der persönlichen Leiderfahrung in einem „absolut bösen Regime“ erfüllt Karl Gockel, er ist „die Personalunion von Opfer und Zeuge“. 775 Problematisch aber könnte sein, dass er als moralische Instanz nur bedingt tauglich ist: Der paradigmatische Fall eines moralischen Zeugen sollte jemand sein, dessen Moral über jeden Zweifel erhaben ist. Dennoch wird es vorkommen, dass ein 771 Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 47. 772 Vgl. Assmann: Der lange Schatten, S. 85-92. 773 Avishai Margalit: Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer Vorlesungen. A. d. Engl. v. Reiner Stach. Frankfurt/ Main: Fischer 2002. S. 61. 774 Ebenda, S. 60. 775 Assmann: Der lange Schatten, S. 90. <?page no="306"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 302 moralischer Zeuge moralische Kompromisse schließt, um zu überleben, insbesondere dann, wenn es darum geht, als Zeuge zu überleben. 776 Moralisch ist der Diebstahl des Fahrrads, um zum Begräbnis des Vaters zu kommen, legitim, wenn auch nicht dem Gesetz entsprechend. Der Kompromiss, den Gockel im Verhör im KZ eingeht, um zu überleben, besteht dann darin, auf dieser Moral zu beharren und nicht ein politisches Momentum zuzulassen. Zeugenschaft abzuliefern war aber keines von Gockels Motiven, es geht dieser Figur in erster Linie um Gerechtigkeit und - vor allem - Verhältnismäßigkeit. Zur Ambiguität von Roths literarischer Technik in Landläufiger Tod gehört aber eben auch, dass zwei schwer konvergierbare Aspekte im Verhalten einer Figur zusammenfallen können. Eine völlig rationale Auflösung wird dadurch zum Teil verunmöglicht, eine tatsächlich mimetische Nachbildung des Lebens, ein absoluter Realismus also, aber bewerkstelligt. Deshalb bleibt zum Beispiel die Deutungsmöglichkeit offen, dass Gockels nachträgliche Akzentuierung des politischen Aspekts seiner Einlieferung ins KZ potentiell - und das ist nicht unproblematisch - ein Vorwand ist, um sich nicht nur als moralisch, sondern auch politisch im Recht und mit Rechtsanspruch darzustellen. Möglich ist aber ebenso die Interpretation, dass Gockels Moral - und seine Glaubwürdigkeit als moralischer Zeuge - gerade aufgrund seiner zu hohen moralischen Ansprüche nicht mehr „über jeden Zweifel erhaben“ ist. Bei beiden und allen weiteren Deutungsmöglichkeiten bleibt aber ein vom Autor über die komplexe Konstruktion des Textes bewusst herbeigeführtes und nicht vollständig auflösbares surplus zurück. Der moralische Zeuge hat sich laut Margalit schließlich der Verbreitung der Wahrheit in möglichst vollständiger Form zu verschreiben: „Was wir von einem moralischen Zeugen erwarten, ist die Erhellung des dunklen und unheimlichen Charakters des Menschenopfers - und ebenso der Qualen und Erniedrigungen, die ein böses Regime den Menschen zufügt.“ 777 Gockels Bericht vom Lagerleben liegt die „Absicht“ zugrunde, Lindner (und den Leser) „auf die Möglichkeiten hinzuweisen, die ein Lager dieser Art der menschlichen Grausamkeit und Abartigkeit bietet.“ (LT 562) Jedoch wird das nur bedingt eingelöst und widerspricht sich gleichzeitig mit Gockels Aussage: „Ich will Sie nicht mit Einzelheiten eines Lagerlebens belästigen. Sicher wissen Sie, daß man sich in einem solchen Lager umbringt oder auf bestialische Weise ums Leben kommt.“ (LT 559) Jedenfalls ist Gockels Beschreibung des Lager- 776 Margalit: Ethik der Erinnerung, S. 71. 777 Ebenda, S. 76. <?page no="307"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 303 lebens äußerst detailliert, beschränkt sich aber im Wesentlichen auf eine sachliche Schilderung der KZ-Topographie, Arbeitsbedingungen, Tagesabläufe sowie Verhaltensweisen der Häftlinge und Wachmannschaften. Die Art der Aneinanderreihung von Fakten wirkt beinahe gehetzt, dabei die Stimmung im Lager nachbildend: „Allen gemeinsam war eine Hast, die dem ganzen Lager den Stempel aufdrückte.“ (LT 562) Drei Mal betont Gockel, und zwar zu Beginn des 19., 20. und 21. Kapitels (vgl. LT 560-561), dass das Lager eine „Stadt“ war. Eine Formulierung, die an den „Planeten ,Auschwitz‘“ des Schriftstellers K. Zetnik erinnert. 778 Nur in wenigen Passagen aber nimmt Gockel dezidiert Stellung zum Erzählten, gibt er über das sachliche Aufzählen hinausgehende Einschätzungen ab, wie: „Vor meinen Augen zerfielen die sogenannten menschlichen Werte zu nichts. Wir waren lebendige Leichname.“ (LT 560) W. G. Sebald sieht nun in Landläufiger Tod die Vorstellung vom Tod als Erlösung in Frage gestellt, das sei beim Russen Korradow so, dass zeige sich aber ebenso gerade im Nichtsterben(können) von Gockel im KZ Mauthausen. Dessen Erfahrung „widerspricht der Utopie des Todes, denn die Zerstörung der Strafgefangenen in den Granitsteinbrüchen ist ein Exempel jener dystopischen Symbiose, über welche der Tod in das Leben eingeht, nicht aber das Leben in den Tod.“ 779 Sebalds „dystopische Symbiose“ hat Überschneidungen mit Giorgio Agambens in dieser Studie im Rahmen der Analyse von „Der Russe“ beschriebenen Figur des homo sacer, der straflos getötet, aber nicht geopfert werden darf, und somit genau im ununterscheidbaren Grenzbereich zwischen Leben und Tod lokalisiert werden kann. Zurecht kann deshalb Uwe Schütte Gockel als „,homo sacer‘ im Hungerdelirium“ 780 bezeichnen. Der homo sacer ist die Figur zum permanenten Ausnahmezustand, dessen Ort, wie Agamben ausführt, das Konzentrationslager ist, welches er zu den politischen Parametern der Gegenwart in Bezug setzt: Eine der Thesen dieser Untersuchung ist die, daß gerade der Ausnahmezustand als fundamentale politische Struktur in unserer Zeit immer mehr in den Vordergrund rückt und letztlich zur Regel zu werden droht. Als man in unserer Zeit versucht hat, diesem Unlokalisierbaren eine dauerhafte sichtbare Lokalisierung zu verleihen, kam das Konzentrationslager heraus. Das Lager, und nicht das Gefängnis, ist der Raum, der dieser originären Struktur des Nomos entspricht. 781 778 Vgl. Ebenda, S. 72. 779 Sebald: In einer wildfremden Gegend, S. 175. 780 Schütte: „Obschon die Häuser brennen, zeigt sich kein Nordlicht.“, S. 283. 781 Agamben: Homo sacer, S. 30 <?page no="308"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 304 Es genügt an dieser Stelle, „Gockel“ in den ja schon referierten theoretischen Kontext des homo sacer zu stellen, ohne den Implikationen von Agambens Theorie für die globalisierte Gegenwartswelt, seiner nicht sehr differenzierten - denn welche verschiedenen Herrschaftssysteme soll die „politische Struktur unserer Zeit“ exakt bezeichnen - These vom „Lager als biopolitische[m] Paradigma der Moderne“ 782 nachzugehen und Gockels Schilderung des Lagerlebens damit in Bezug zu setzen. Eine Bemerkung Agambens zur Ununterscheidbarkeit des Menschen vom Tier in der dem homo sacer verwandten, entgrenzten Figur des Verbannten soll uns aber doch an dieser Stelle zu weiteren Überlegungen anregen: Das Leben des Verbannten ist - wie dasjenige des homo sacer [uomo sacro] - kein Stück wilder Natur ohne jede Beziehung zum Recht und zum Staat; es ist die Schwelle der Ununterschiedenheit und des Übergangs zwischen Tier und Mensch, zwischen phýsis und nómos, Ausschließung und Einschließung. 783 Gerhard Roth gibt dieser von Agamben angedachten Zone des Ineinanderübergehens von Mensch und Tier in seinem Zyklus den Raum metaphorisch ausgestalteter Analogien. Helga Schreckenberger schreibt in einem sich auf die Geschichte der Tierheit in den Archiven des Schweigens konzentrierenden Aufsatz: „Den Tieren kommt im Zyklus [...] die Funktion von Außenseitern zu. An ihrem Schicksal demonstriert Roth jene Denk- und Verhaltensweisen, die ein hierarchisches, utilitaristisches, individualitätsfeindliches System unweigerlich produziert.“ 784 Dem menschlichen Töten der Tiere wird dabei besondere Aufmerksamkeit beigemessen, zum Beispiel in der Darstellung der Jagd in Der Stille Ozean. So gibt es eine Szene in diesem Roman, in der die Jagd mit einem Abschießen von Tauben, welche die Tenne verunreinigen, beschlossen wird. 785 Dabei wird zunächst ein Taubenschwarm durch Schüsse verjagt und dann am Zurückkehren gehindert: Erschrocken kreisten die Tauben weiter, Federbüschel lösten sich in der Luft auf, tote Tauben plumpsten auf die Erde, der Schwarm wagte es jedoch nicht, sich niederzulassen. Kaum hatten es einzelne versucht, als die Schüsse sie wieder aufscheuchten, in der Luft zerrissen und zu Boden holten. [...] Die Jäger ließen sich Zeit. Bedächtig griffen sie in den Patronengurt, luden die Gewehre 782 Vgl. dazu den dritten Teil von ebenda, S. 127-198. 783 Ebenda, S. 115. 784 Schreckenberger: „Man sieht an den Tieren immer die Grausamkeit des Menschen“, S. 181. 785 Vgl. dazu den Text „Taubenfangen“ (LT 345-346) in Landläufiger Tod, der von der fabrikähnlichen Tötung der im Dachboden der Lindners nistenden Tauben handelt. <?page no="309"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 305 nach und schossen in den fliehenden Schwarm. Niemand machte eine rasche Bewegung. (DSO 65) Das Töten erscheint hier als etwas Selbstverständliches, Technisches, das emotionslos erfolgt. Eine politische Deutung dieser Sequenz liegt nahe, wie sie Peter Ensberg und Helga Schreckenberger in ihrem Buch zum Werk von Gerhard Roth unternommen haben: Die symbolische Dimension dieser Szene ist unübersehbar, und es drängen sich Bilder von der Vernichtung eines anderen Kollektivs, des Judentums, auf, das auf die drohende Gefahr mit gleicher Hilflosigkeit reagierte und dem ebenfalls alle Fluchtwege brutal abgeschnitten wurden. 786 Szenen wie das massenhafte Abschießen der Tauben können zu konkreten historischen Ereignissen in Bezug gesetzt werden, man denke zum Beispiel an die über den Film Hasenjagd - Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen (1994) von Andreas Gruber vom Speicherin das Funktionsgedächtnis gerückte so genannte „Mühlviertler Hasenjagd“, bei der in den letzten Kriegstagen aus dem KZ Mauthausen Geflohene von der oberösterreichischen Landbevölkerung wie die Hasen gejagt wurden. 787 Ist der Ort für das maschinelle Töten von Menschen das KZ (und seine Umgebung), so werden Tiere im Schlachthof industriell ihres Lebens beraubt. In Am Abgrund („Eine Irrfahrt“, AA 64-71) werden die mechanisierten Tötungsabläufe im Wiener Schlachthof beschrieben, in Der Untersuchungsrichter ist im letzten Absatz die Rede vom „Schwindel des sogenannten ,richtigen Denkens‘ als eine[r] Methode der Selbstsucht und Gleichgültigkeit, die aus der Welt das Schlachthaus gemacht hat, das sie ist, auch wenn wir es gerade nicht bemerken“ (UR 172). Im Epilog der Geschichte der Dunkelheit zieht das Autor-Ich die Parallele: „Ich ging in den Schlachthof und in das Landesgericht. Beide haben mehr gemein, als man glaubt.“ (GD 155) Aufgrund solcher textueller Signale schließt Schreckenberger: Im Kontext des gesamten Zyklus [...] erhält das Schlachthofmotiv eine weitere Bedeutung. Es erinnert an die Todesbaracken der Konzentrationslager, die ebenfalls das Ergebnis von technischem Fortschritt und rationalem Denken darstellen und den Mord an Millionen von Menschen zu einer Arbeit wie jeder anderen werden ließen. 788 786 Ensberg/ Schreckenberger: Gerhard Roth. Kunst als Auflehnung gegen das Sein, S. 59- 60. 787 Vgl. Schreckenberger: „Man sieht an den Tieren immer die Grausamkeit des Menschen“, S. 185. 788 Ebenda, S. 192. <?page no="310"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 306 Schreckenberger setzt zur Untermauerung ihrer Argumentation zwei Stellen aus Landläufiger Tod zueinander in Bezug, und zwar die Beschreibung der fabrikmäßigen Hühnerschlachtung im „Tagebuch“ Franz Lindners: „Die Hühner sehen die Sonne nur, bevor sie sterben. [...] Man befestigt sie mit den Füßen an einem ,Rundlauf‘, dann werden sie gestochen, mit heißem Wasser besprüht, gerupft und zerlegt.“ (LT 765) Sowie eine Stelle aus „Gockel“, deren Vorgeschichte darin besteht, dass der Dorfbewohner nach seiner Verhaftung in das Schloss gebracht wird, wo man ihn in einen Käfig sperrt: „Erst als ich im Stroh lag, stellte ich fest, daß es ein Tierwagen war, wie man ihn im Zirkus verwendet.“ (LT 558) 789 Bemerkenswerterweise sitzt in einem anderen Käfigwagen eine Bäuerin, weil sie ohne Erlaubnis ein Schwein geschlachtet hat. Nachdem Gockel erneut verhört wird und die ihm gebotene dubiose Fluchtmöglichkeit nicht nützt, wird er wieder ins Schloss gebracht: „Ich verbrachte einen Tag ohne Nahrung im Tierkäfig und wurde im Morgengrauen, ohne daß man mir mitteilte, was mit mir geschehen würde (weshalb ich glaubte, ich würde hingerichtet), zum Bahnhof gebracht und in einen dunklen Viehwagen gesperrt, in dem schon andere Gefangene auf ihr weiteres Schicksal warteten.“ (LT 559) Für Schreckenberger steht nach der Gegenüberstellung dieser beiden Passagen fest: Daß es sich dabei um eine von Roth bewußt gesetzte Ähnlichkeit handelt, beweist der Name des KZ-Häftlings, Gockel, der unweigerlich die Assoziation zu Gockelhahn hervorruft. Ohne eines davon abzuwerten, beleuchten einander die beiden Schicksale und verweisen auf den gemeinsamen Nenner, der das erfahrene Leiden verursachte - die menschliche Grausamkeit und ihre Mißachtung anderen Lebens. 790 Gockel wird also laut Schreckenberger in gewisser Weise zu einem Theriomorphen, Tiergestaltigen, in ihm vermischt sich das Leid der menschlichen und tierischen Opfer. 791 Außerdem ist es nicht nur, was den Namen betrifft, von Gockel über Gockelhahn zu Hahnloser, dem steirischen Tito-Partisanen, nicht weit, und in diese Reihe passt auch - ein Beispiel für die Kohärenz der Kontingenz oder aber, viel wahrscheinlicher, eine bewusste Vernetzung von 789 Diese Käfige werden in späterer Folge, wie im Kapitel „Machtorte des Gedächtnisses“ gezeigt wird, tatsächlich zu einem Gründungsbaustein des Circus Saluti. 790 Schreckenberger: „Man sieht an den Tieren immer die Grausamkeit des Menschen“, S. 193. 791 Aus dieser Perspektive könnten übrigens auch die „Tierlaute“ von Lindners Vater im „Verstummen des Jünglings“ gedeutet werden. <?page no="311"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 307 Gerhard Roth - ein von Karl Berger erwähnter Lehrer aus Die Geschichte der Dunkelheit: In der Volksschule, wir waren fast nur jüdische Schüler, hatten wir einen gutmütigen, nichtjüdischen Lehrer namens Hugo Hahn, der aus dem Waldviertel stammte. Als später - in der Nazizeit - die Juden vor ihrer Deportation in die Volksschule gesperrt wurden, protestierte er gegen die Unmenschlichkeit, daß sie in den Räumen zusammengepfercht, ohne Nahrung und Wasser stehen mußten. (GD 39) Die Huhn-Metapher für die so genannten ,Guten‘ der Geschichte passt allerdings nicht zu der Bezeichnung „Gelbfüßler“ für die Landbewohner: „Wir heißen ,Gelbfüßler‘, da es bei uns eine Hühnergattung gibt, nach deren gelber Fußfarbe man uns nennt“ (LT 23), berichtet Lindner in einer Fußnote. 792 Wobei diese Metapher wiederum mit einer Stelle in „Gockel“ korrespondiert, in welcher der Stiefvater den jungen Karl antifaschistisch gemeinte Techniken zur Erreichung innerer Unbeteiligtheit, und das heißt vermeintlicher Unschuldigkeit, lehrt: „Du mußt einfach an etwas anderes denken. Als mich meine Mutter zum erstenmal hinausschickte, um ein Huhn abzustechen, rief sie mir nach: ,Denk an etwas anderes, wenn du es tust! ‘ - er starrte mich an.“ (LT 554) Das Wegdenken, das Nicht-Mitdenken beim Töten ist aber nicht nur eine Taktik inneren Widerstands, wie Gockel an späterer Stelle ausführt, sondern auch die Täter selbst würden sich nicht in Bezug zu den von ihnen begangenen Untaten stellen: „Manchmal kommt es sogar vor, daß einer von ihnen, nachdem er einen Häftling gefoltert hat, gleichgültig erklärt: ,Es liegt mir nichts daran, sie zu quälen, ich führe nur eine Anordnung aus.‘“ (LT 561) Hier wie da wird also der Verzicht auf eigenständiges Denken als individuelle Rettung propagiert, hier wie da zählen aber die vollzogenen Handlungen. Roths Schlachthausmetapher lässt sich, liest man sie mit Alexander Demandt, in Bezug zu biblischen „Metaphern für Geschichte“ stellen, in denen ungleiche, ausbeuterische oder zerstörerische Herrscher als Schlächter und deren Opfer als Schlachtvieh bezeichnet werden. 793 Ein ursprünglicheres Bild für Geschichte als das Schlachthaus lässt Roth Gockel in einem im KZ von „Kälte, Hunger und Durst“ verursachten „Zustand der Entrückung“ erfahren: „In einem solchen Augenblick der Klarsicht bildete ich mir ein, die Kraft, die das 792 Die Gleichsetzung der Landbevölkerung mit Hühnern ist im Kontext der Hypnotisierszene im und in „Circus Saluti“ (vgl. LT 43-51) zu denken, auf die im Kapitel „Machtorte des Gedächtnisses“ eingegangen wird. 793 Vgl. Demandt: Metaphern für Geschichte, S. 33. <?page no="312"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 308 Räderwerk der Geschichte in Gang hält, zu sehen: Es war ein mißgestalteter, froschähnlicher Dämon, in dessen Augen der Wahnsinn leuchtete.“ (LT 561) Wir haben es hier nach Demandts Kategorien mit einer Kombination aus organischen und technischen Metaphern zu tun, die jedoch ins Unheimlich- Phantastische und Skurril-Groteske überzeichnet werden. Ähnlichkeiten hat ein „froschähnlicher Dämon“ vielleicht mit einer Schlange oder einem Drachen, dem „Sinnbild des Bösen“. 794 Der Feind dieses Drachen wäre im Gedächtnis der Geschichtsmetaphern der Adler, doch einen solchen gibt es bei Roth nicht, genausowenig wie es höchstwahrscheinlich viele Geschichts- Frösche in der Weltliteratur geben wird. 795 In den Archiven des Schweigens jedoch ist das Froschmotiv ein durchgängiges, die Mediengrenzen überschreitendes. Schon in Landläufiger Tod wird der Frosch mit dem Lauf der Zeit in Verbindung gebracht: „Aus den Augen der Frösche gewinnt man das Email für die Ziffernblätter der Taschenuhren.“ (LT 140) Im zweiten Teil des Filmes Landläufiger Tod, der im Wesentlichen eine Adaptation des Romans Am Abgrund darstellt, besucht der Untersuchungsrichter Sonnenberg seinen Vater in der psychiatrischen Klinik und spricht den Satz „Es ist widersinnig, daß ich in der Irrenanstalt am besten nachdenken kann.“ 796 Ein Patient wiederholt diesen Satz ihm gegenüber bei einem späteren Besuch mit demselben intellektuellen Habitus. 797 Dieser Patient hat einen großen Frosch bei sich im Bett, dessen Augen er schließt, wie Pamela S. Saur feststellt, 798 ganz ähnlich wie Jenner die Augen der von ihm in dem Film getöteten Frau, reminiszierend auf Jenners Satz aus dem Roman Landläufiger Tod, als die von Jenner ermordete Freundin Lindners geborgen wird: „Ein Frosch ist ein Frosch und ein Toter ist ein Toter ...“ (LT 521) Man findet also über den Zyklus und seine Neben- 794 Ebenda, S. 34. 795 Schütte deutet den „froschähnlichen Dämon“ weniger als Frosch, denn als metaphorisches leviathanartiges Wesen, wie es ausgehend von Hobbes von Joseph Roths (1940) bis zu Arno Schmidts Leviathan (1949) in der Literatur aufgegriffen worden ist. (Schütte: Auf der Spur, S. 141.) 796 Landläufiger Tod. Teil 2: Am Abgrund, ORF/ WDR 1991. Regie: Michael Schottenberg. Buch: Gerhard Roth. Mitarbeit: Michael Schottenberg. 51: 00. 797 Ebenda, 1: 19,20. Übrigens deckt Sonnenberg am Ende des Filmes die von Lindner gemalten Spielkarten, welche des Rätsels, das heißt hier des Mordes, Lösung enthalten, auf. Die drittvorletzte Karte zeigt einen Frosch, die vorletzte Lindner und das Wort „Zeuge“, die letzte Brille und Haaransatz Jenners und das Wort „Mörder“. (Vgl. ebenda, 1: 29,30-37.) 798 Vgl. Pamela S. Saur: A Concentrated Honey: Gerhard Roth’s Film „Landläufiger Tod“. In: Modern Austrian Literature Vol. 32 (1999) Nr. 4 Special Issue, S. 222-232, hier S. 223-224. <?page no="313"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 309 werke verstreut im Zusammenhang mit dem Begriff des Frosches die Versatzstücke Zeit, Wahnsinn und Mord, die Roth zu seiner Geschichtsmetapher vom froschähnlichen Dämon zusammenfließen lässt. 799 Nicht zu vergessen ist allerdings auch der andere Teil der Gockel’schen Vision, nämlich das „Räderwerk der Geschichte“. Es handelt sich hier um eine mechanistische Metapher, über die Demandt schreibt: „Bei den Politikern dienen die Maschinengleichnisse meistens lediglich deskriptiven Absichten, bei den Denkern tragen sie einen abwertenden Akzent.“ 800 Das gilt auch für Roth, der hiermit an eine von Demandt dargelegte und von Herder über Schiller und Marx bis Jaspers reichende Traditionslinie anschließt. 801 Insbesondere seit Fichtes Angriffen auf einen als Maschine imaginierten Staat sei „das Bild der Maschine die häßliche Stiefschwester der organischen Geschichts-Metaphorik geblieben. Während man dort Natur und Leben erblickt, rotieren hier nur geist- und seelenlose Zahnrräder.“ 802 Gerhard Roth setzt die Räderwerk-Metapher nicht nur in Landläufiger Tod ein. So sagt Jenner über Lindner in Am Abgrund: Was die Ursache für seine Erkrankung ist, läßt sich schwer sagen, es läßt sich genaugenommen überhaupt nicht sagen, ob es sich um eine Krankheit handelt oder um eine Art von Verhalten, die es ihm ermöglicht, nicht in das Räderwerk der Tatsachen zu kommen. (AA 22) So betrachtet, hat Lindner die Lehren aus Gockels Erzählung gezogen. 803 Das gilt, bezieht man sie auf Lindner, ebenso für folgende Passage aus Der Untersuchungsrichter: „Die Sucht, vom Schicksal gelebt zu werden, ist der Antrieb des Abenteurers, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Er kennt sein Ziel nicht, er 799 Übrigens gibt es im 57. Märchen „Das Gesicht der Zeit“ (LT 732-735) auch eine Metapher für die Zeit als Reptil: „Aber plötzlich war die Zeit da, so jäh, daß es der Hufschmied erst begriff, als sie ihm ihr ungeheures Antlitz vor das Gesicht hielt. Sie war ein riesiges Chamäleon, das sich ständig verfärbte und verwandelte, aber doch immer ein Chamäleon blieb, wenngleich es oft nicht leicht zu erkennen war und man sich von der Tarnung täuschen ließ.“ (LT 734) 800 Demandt: Metaphern für Geschichte, S. 272. 801 Ebenda, S. 271-276. 802 Ebenda, S. 274. 803 Peter Ensberg deutet diese Passage so: „Again insanity is perceived as a possibility, almost as a conscious choice to preserve individuality in the face of societal mechanisms that annihilate subjectivity. The traditional syntactic and semantic structures of society reduce the protagonists to silence and force them to withdraw into their own world.“ (Peter Ensberg: The theme of insanity and its effects on form and style in the work of Gerhard Roth. In: Modern Austrian Literature Vol. 24 (1991) Nr. 3/ 4, S. 133- 147, hier S. 139.) <?page no="314"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 310 muß ins Räderwerk gelangen, er muß sich ihm ausliefern und es, wenn möglich, überlisten.“ (UR 131) Lindner, der sich in den „Sieben nicht abgeschickten Briefen aus dem Irrenhaus“ als Reisender im Kopf inszeniert, hat mit seinem Schreiben und Denken ins Räderwerk gefunden, dieses aber über sein Schweigen überlistet. Die über eine Kombination verschiedener Traditionslinien der Geschichtsmetaphorik und Überzeichnungen - der Froschdämon ist nicht nur wahnsinnig, sondern auch missgestaltet - konstruierte Vision Gockels wird von der Sekundärliteratur als gelungenes Bild für das Erzählte einhellig postiv bewertet. 804 So schreibt etwa Joanna Drynda: In der Tat stellt Gockels Vision der dämonischen Geschichtsgestalt einen wohl tieferen Einblick in die Natur des Menschen und in die gesellschaftlichen Triebkräfte dar, die durch den Nationalsozialismus freigesetzt wurden, als es bei der konventionellen Geschichtschreibung mit ihren nüchternen Analysen der Daten und Fakten der Fall ist. 805 Roth gelingt mit seiner Geschichtsmetapher also ein originäres, aber im Werkkontext verortbares Bild, das im letzten Kapitel „Gockels“ von Lindner noch einmal zitiert wird: Daß ein Mann aus unserem Dorf - noch dazu einer der ärmsten und unscheinbarsten - so tief in das Räderwerk der Geschichte gezogen worden sein soll, daß er, wie er es später ausdrückte, „einen Blick auf die Kraft habe werfen können, die es in Gang hält“, erscheint den Bewohnern unseres Landstriches undenkbar. (LT 565) Das Konzentrationslager Mauthausen ist das größte und bekannteste Lager Österreichs und ein Synonym für die aktive Beteiligung der österreichischen Bevölkerung an Shoah und NS-Vernichtungspolitik. Aus dieser Perspektive ist die Lebensgeschichte Karl Gockels repräsentativ für eine gesellschaftliche Gruppe, das heißt in diesem Falle Opfer-Gruppe im Sinne Michail Bachtins und Astrid Erlls. Dieser Text ist nun insofern in Roths Gesamtwerk, nicht nur im Kontext der Archive, singulär, als an keiner anderen Stelle ein fiktiver oder 804 Tietzes Assoziationskette zu dieser Metapher enthebt sich einer Wertung, vgl. Das mikroskopische Gedankenglas, S. 281-282. 805 Drynda: Schöner Schein, unklares Sein, S. 115. Für Schütte (Auf der Spur, S. 141) verleiht das von Gockel erblickte „dämonische Antlitz der Historie“ seiner Erzählung „den Ran poetischer Wahrhaftigkeit, welche dem Leser eine vielleicht tiefere Einsicht in das Wesen und den Ursprung der im Nationalsozialismus zum Ausbruch gekommenen Kräfte vermittelt, als es den meisten rein positivistischen Studien der Historiografie gelingt.“ <?page no="315"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 311 realer Überlebender seine Erlebnisse im Konzentrationslager erzählt. Im Zyklus selbst ist abgesehen von einigen Sätzen zum Mauthausen-Nebenlager in der Hinterbrühl in Eine Reise in das Innere von Wien (vgl. RIW 27-28) auch keine weitere Darstellung eines Konzentrationslagers zu finden. 806 Das hat mit den topographischen Konstanten der Archive des Schweigens zu tun, nämlich dem südweststeirischen Raum und Wien, wobei es in Wien eine Reihe von weiteren Mauthausen-Außenlagern gegeben hat. 807 Eine Rolle spielt natürlich auch die Entscheidung, ein ins Exil geflüchtetes und nach dem Krieg nach Wien zurückgekehrtes Opfer des Nationalsozialismus ins Zentrum des dezidiert für die Opferseite vorgesehenen Zyklusbandes zu rücken, worauf im dritten Kapitelabschnitt eingegangen wird. Im zweiten Zyklus, Orkus, kommen zwar in zwei Romanen Konzentrationslager vor. In dem ersten Roman nach Abschluss der Archive des Schweigens, Der See (1995), der „viele Parallelen und Verbindungslinien [...] [mit] sämtlichen vorhergehenden Werken Roths“ 808 aufweist, wird in Triest das Konzentrationslager Risiera di San Sabba aufgesucht, das im Unterschied zu Mauthausen in Landläufiger Tod ein still gelegtes Lager ist. 809 In Das Labyrinth wird wiederum, worauf im Kontext vom „Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ schon ausführlich eingegangen wurde, Lindners Vater als ehemaliger Dachau-Aufseher dargestellt, Dachau selbst aber nicht beschrieben, sondern als Chiffre verwendet. Was die literarische Repräsentation von Konzentrationslagern betrifft, ist in Gerhard Roths Werk also eine gewisse und berechtigte Vorsicht, sich nicht im Sujet zu vergreifen, und ein Bemühen, den richtigen Ton zur guten Intention zu treffen, festzustellen. Es wird in „Gockel“ sichtbar, dass „Roth mit dem 806 Das muss insofern präzisiert werden, als es keine Darstellung aus erster Hand gibt, allerdings berichtet Karl Berger vom „Schicksal seiner Familie“ in den Lagern Žilina, Sered, Theresienstadt und Sachsenhausen. 807 Vgl. hierzu die Einträge zu den Mauthausener Außenlagern „Wien (Saurerwerke“), „Wien-Floridsdorf“ (auch Mödling-Hinterbrühl), „Wien-Floridsdorf (AFA-Werke)“, „Wien-Schönbrunn“ und „Wien-Schwechat“ in: Wolfgang Benz und Barbara Distel (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 4 Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück. München: C. H. Beck 2006. S. 445- 461. 808 Renate Giacomuzzi-Putz: Verdrängte Geschichten in seichten Gewässern. Zu Gerhard Roths Roman „Der See“. In: Bartens/ Melzer (Hg.): Gerhard Roth. Orkus, S. 69-83, hier S. 70. 809 Vgl. Gerhard Roth: Der See. Frankfurt/ Main: Fischer 2003. S. 10-11. Übrigens finden sich Fotografien von Roths Recherchen im ehemaligen KZ in Triest (1992) und Mauthausen (1982) in dem Abschnitt „Orte des Schreckens“ in Gerhard Roth: Die Photo- Notizbücher. Hg. v. Robert Weichinger. Wien, New York: Springer 1995. S. 58-65. <?page no="316"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 312 ästhetischen Problem zu kämpfen hat, das Innenleben eines Konzentrationslagers und die psychische Befindlichkeit des Insassen zu schildern“, 810 dass es also schwierig ist, einen fiktiven Zeitzeugen quasi-authentisch vom Lagerleben erzählen zu lassen. So überwiegt in den sechs „Gockel“-Kapiteln zum Konzentrationslager Mauthausen der didaktische vor dem literarischästhetischen Aspekt des Textes, mit der bemerkenswerten Ausnahme der Metapher vom „froschähnlichen Dämon“ und dem „Räderwerk der Geschichte“. Avishai Margalit hat den moralischen Zeugen nicht mit Bezug auf literarische Texte und Figuren beschrieben. Aber er stellt im Zusammenhang mit Franz Werfels Aufarbeitung des türkischen Genozids an den Armeniern in Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933) die Frage, ob Daniel, der Protagonist des Romans, als Stellvertreter des Autors diesen zum moralischen Zeugen machen könne. Die Antwort Margalits lautet: „Ganz gleich, wie stark sich Werfel mit den Armeniern identifiziert, wie konkret er das Böse zu schildern vermag, das ihnen angetan wurde: Er ist kein Zeuge.“ 811 Ihm fehle die eigene Erfahrung und sogar wenn Werfel den Roman erst nach seinem eigenen Opferwerden während der Nazi-Zeit geschrieben hätte, hätte diese „Erfahrung [...] das starke Einfühlungsvermögen, das er ohnehin besaß, wahrscheinlich noch vertieft, doch die Autorität des moralischen Zeugen rührt vom Status als Augenzeuge.“ 812 Das Fehlen dieser Autorität eines rein fiktionalen oder als fiktional ausgewiesenen Textes bewog Roth dann wohl dazu, der Opfernarration Gockels als literarischer Version eines (moralischen) Zeugen in Landläufiger Tod den „Bericht“ des realen moralischen Zeugen Karl Berger in der Geschichte der Dunkelheit hinzuzufügen. Das meint auch Klara Obermüller: Gerhard Roth hat begriffen, daß sich dem Nachgeborenen die literarische Aufbereitung [...] des Holocaust in all seinen Facetten und Erscheinungsformen [...] verbietet und er hier nicht mehr sein darf als ein Chronist, der in aller Demut widergibt, was ein anderer, ein Zeuge, ihm diktiert. 813 So löste sich der Autor bis zu einer gewissen Stufe aus seinem fiktiven System, das bei der Darstellung des Innenlebens von Konzentrationslagern nicht unproblematisch ist, heraus, um das zu werden, was man vielleicht definitorisch 810 Schütte: Auf der Spur, S. 141. 811 Margalit: Ethik der Erinnerung, S. 79. 812 Ebenda. 813 Klara Obermüller: Nachrichten aus einem vergessenen Bezirk. Zu der Geschichte der Dunkelheit. In: Wittstock: Materialien, S. 185-190, hier S. 188. <?page no="317"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 313 unpräzise, aber für den Sachverhalt adäquat als „sekundären moralischen Zeugen“ bezeichnen könnte. 3.5.2 Der automatische Mensch Nach seiner Rückkehr aus dem KZ geht Karl Gockel zum Gendarmeriekommandanten des Dorfes, ohne „andere[...] Absichten, als mit ihm zu reden.“ (LT 563) Von direkten Entschädigungsforderungen oder Ähnlichem berichtet Gockel nicht, vielmehr wirkt sein Verhalten wie ein taktisches Ausloten der Möglichkeiten: „Der Kommandant trug die Uniform eines k.u.k.- Postmeisters, und ich setzte mich in seine Stube und fragte ihn nach seinem Befinden.“ (LT 564) Als der Kommandant darauf „argwöhnisch“ reagiert, erzählt ihm Gockel, dass er aus Mauthausen kommt, worauf ihm der Fahrraddiebstahl vorgehalten wird: „,Insofern haben sich die Gesetze nicht geändert‘, betonte er. ,Das war nicht alles‘, begehrte ich auf.“ (LT 564) Gockel setzt hier also auf die ,politische‘ Karte, in Umkehrung des Verhörs in Mauthausen. Die Gendarmen aber haben seine „Rückkunft erwartet“ (LT 564), ja haben sich schon vor seiner Deportation - die im Dorf offensichtlich singulär ist - dagegen gewappnet. Denn der Kommandant stellt Gockel die zwei Gendarmen gegenüber, die ihm vorgeblich zur Flucht verhelfen wollten. So zweideutig die Situation Gockel damals erschien, so zweideutig wirkt sie nun. Da niemals die ,wahren‘ Intentionen aufgedeckt wurden, bestehen beide Deutungsmöglichkeiten weiter: Es ist vorstellbar, dass die Gendarmen - beziehungsweise einer von ihnen - ihn tatsächlich erschießen wollten. 814 Gleichzeitig ist aber auch denkbar, dass sie nicht aus Nächstenliebe, sondern aus taktischem Kalkül die ,gute Tat‘ in Aussicht gestellt haben, wie Gockel gleich vermutete: „Der Krieg konnte nicht mehr lange dauern, das war überall zu hören, es war also anzunehmen, daß der Gendarm mir tatsächlich zur Flucht verhelfen wollte, um einen Zeugen zu haben, der gegebenenfalls für ihn aussagte.“ (LT 558) Aus erzähltechnischer Sicht haben wir es hier mit einer von Roth oft applizierten verdeckten Prolepse zu tun. Der Plan der Gendarmen ist nun perfekt im Sinne einer doppelten Absicherung: Wählt Gockel die Flucht, wird er erschossen. Wählt er sie nicht und kommt er tatsächlich aus dem KZ zurück, wird für die Beamten die gebotene Fluchtmöglichkeit angeführt: „,Wenn es stimmt, was mir berichtet wurde, hat man versucht, Ihnen zur 814 In „Drei Tote“ wird ja eine ähnliche von Gendarmen inszenierte Fluchtmöglichkeit dem jungen Bergarbeiter zum Verhängnis. (Vgl. LT 420-421) <?page no="318"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 314 Flucht zu verhelfen - entspricht das den Tatsachen? ‘ fragte der Kommandant.“ (LT 564) Gockel erkennt, dass er von Anfang an ausgespielt wurde: „Ich antwortete nicht und schaute zum Fenster hinaus auf die Bäume und die Sonne.“ (LT 564) Die Hinwendung zur Natur in dieser Situation ist typisch für Landläufiger Tod, die Natur kann zwar gewalttätig sein, aber auch ein Parallelkosmos, der eine Fluchtmöglichkeit von der Menschheitsgeschichte gewissermaßen in die Naturgeschichte bietet. So sieht Ascher in einer Stelle von Der Stille Ozean, durch die Fenster des Kaufhauses blickend, über den Bergen einen „breite[n] Nebelstreifen“, der ihm wie „ein Wasserfall oder weißer Wolkenschaum“ vorkommt: „Er dachte in diesem Augenblick, daß es schön war, daß die Natur unbeteiligt war.“ (DSO 49) Zu Gockels und Aschers Blick aus dem Fenster passt Ernst Jandls vielschichtiges, neben Naturdiskursen auch auf Suprematismus, katholische Liturgie oder Gedächtnisfragen anspielendes Gedicht „das schöne bild“: spar aus dem schönen bild den menschen aus / damit die tränen du, die jeder mensch verlangt / aussparen kannst; [...] spar jede spur von menschen aus: / kein weg erinnere an festen gang, kein feld an brot / kein wald an haus und schrank, kein stein an wand / [...] nichts / erinnere an etwas; außer weiß an weiß / schwarz an schwarz, rot an rot, gerade an gerade / rund an rund; / so wird meine seele gesund. 815 Der Gendarmeriekommandant, der später einmal zu einem Teil der Landschaft wird und somit ein Zeichen dafür, dass Natur- und Gedächtnislandschaft ineinander übergehen können, schließt das Gespräch, nachdem Gockel nicht in seinem Sinne reagiert: „Die Zeiten sind anders geworden, das ist wahr, auch die Verhältnisse. [...] Im Grund genommen würde es Ihnen schwerfallen, zu beweisen, daß Sie aus anderen Gründen als dem Diebstahl eines Fahrrades in das Lager eingeliefert wurden. Lassen Sie also die Sache auf sich beruhen.“ (LT 564) Gockel kommt als Zeuge zurück, aber nicht als jener von den Gendarmen erhoffter, sondern als Zeuge für das Unrecht, das ihm widerfahren ist. Jedoch haben die Gendarmen gegen ihn den Fahrraddiebstahl in der Hand, er aber nichts gegen sie. Seine Kompromisslosigkeit in Bezug auf den vorgeschlagenen Handel verhindert, dass er Entschädigungsforderungen stellen kann, und ist angesichts des politischen Systemwechsels nur insofern erfolgreich, als die 815 Ernst Jandl: der gelbe hund. selbstporträt des schachspielers als trinkende uhr. München: Luchterhand 1997 (Ernst Jandl Poetische Werke 8). S. 299. <?page no="319"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 315 Gendarmen nicht als Widerstandskämpfer geehrt werden, als welcher Gockel sich versteht. In seinem Kommentar zum Prozess gegen den Historiker Heinrich Friedjung, der 1909 im Zusammenhang mit der Krise um die Annexion Bosniens (1908) einen vom Außenministerium unterstützten und gegen Serbien gerichteten Zeitungsartikel schrieb, der vor Fehlinformationen strotzte, 816 stellte Karl Kraus in der Fackel fest: „Österreich ist das Land, in dem man keine Konsequenzen zieht: es achte darauf, daß sie nicht gegen Österreich gezogen werden.“ 817 Dieser Satz galt auch nach 1945 und könnte als Motto Gerhard Roths Zyklus Die Archive des Schweigens vorangestellt werden. Aber zumindest der Gockel mit dem Satz „Lassen Sie also die Sache auf sich beruhen“ verabschiedende Gendarmeriekommandant zieht dann doch Konsequenzen, mit weitreichenden persönlichen Folgen, wie in dem Text „Der Fall des Gendarmeriekommandanten (Erzählung der Tante)“ (LT 573- 574) dargelegt wird: Im November - das Jahr bleibt offen, anzunehmen ist aber 1945 - erhält der „bereits das heutige Grau unserer Gendarmen“ tragende Kommandant „ein Schreiben aus der Stadt, daß seine Stellung und sein Verhalten vor einer Kommission überprüft würden.“ (LT 573) Zu dieser Überprüfung habe der in „Gesucht und Gefunden“ 818 auftretende Kommissar aus der Stadt sowie „verschiedene [...] Berichte aus der Bevölkerung“ (LT 573) geführt. Der Kommandant „starrte [...] das Schreiben an, dann stand er auf, versperrte die Tür zu seinem Zimmer, holte die Dienstpistole heraus und entsicherte sie.“ (LT 573-574) Einen kurzen Moment zögert er noch, als er Schulkinder auf der Straße hört, dann drückt er ab. Der Selbstmord bleibt aber ein Versuch, schwer verletzt wird der Kommandant ins Krankenhaus gebracht, aus dem er nach einem halben Jahr ins Dorf zurückkehrt: „Manche von uns fragen sich, weshalb man ihn frei herumlaufen läßt, wo er sich an die Vergangenheit nicht mehr erinnern kann und nur noch in der abgenützten k.u.k.-Uniform vom Zirkusdirektor […] 816 Siehe dazu Gerald Lind: „Satiriker kontrollieren den Geschichtsforscher.“ Karl Kraus und Heinrich Friedjung. In: Mitteilungen des Instituts für Österr. Geschichtsforschung (MIÖG) 114/ 3-4 (2006), S. 381-403. 817 Karl Kraus: Prozeß Friedjung. In: Die Fackel 293 (4. Jänner 1910, Ende Dezember 1909), S. 1-20, hier S. 20. 818 Worin es, wie schon im „Auf dem Schneeberg“-Kapitel erwähnt und in der Analyse vom „Verstummen des Jünglings im Feuerofen“ ausführlicher behandelt, um in den Selbstmord getriebene ehemalige Partisanen geht. <?page no="320"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 316 ausgenützt wird.“ (LT 574) Die Gendarmen selbst äußern sich laut Lindners Tante nicht zu ihrem ehemaligen Kommandanten. Wie so häufig bei Roth ist der „Fall“ - im Sinne von gesellschaftlichem Abstieg und Kriminalfall lesbar - des Gendarmeriekommandanten mehrdeutig. Natürlich können durch den Kopfschuss wichtige Gehirnfunktionen beschädigt worden sein. Jedoch kann die Metamorphose in den automatischen Menschen (auch) traumatisch bedingt sein. Der Begriff des Traumas ist laut Aleida Assmann „zu einem Leitbegriff der Literatur- und Kulturwissenschaften avanciert.“ 819 Die deutsche Gedächtnistheoretikerin weist nach ihrem Verständnis des natürlich vielfältig aufschlüsselbaren Begriffes darauf hin, dass das Trauma dem „konstruktivistisch präsentistischen Gedächtnis- Modell“ von Maurice Halbwachs insofern opponiert, als es „in jeder Hinsicht das Gegenteil der freien Konstruktivität“ 820 bezeichnet. Während also Halbwachs davon ausgeht, dass die Gegenwart die Vergangenheit „macht“, ist es im Falle des Traumas so, dass die Vergangenheit die Gegenwart „macht“, also bestimmt, determiniert, beeinflusst. Als „Gegenteil der freien Konstruktivität“ könnte man Automatismen annehmen, der automatische Mensch wäre so unfreiwillig von seiner eigenen - dunklen - Vergangenheit kontrolliert. Hier stellt sich aber natürlich die Frage, ob man von einem „Tätertrauma“ sprechen darf. Assmann plädiert „entschieden dafür [...], den Traumabegriff ausschließlich spezifischen Formen von Opfererfahrung vorzubehalten.“ 821 Über seinen Kopfschuss ist der Kommandant allerdings ein Opfer, aber ein Opfer seiner selbst. Er zieht zwar persönliche Konsequenzen, aber eigentlich doch nur, weil er den biologischen dem sozialen Tod im Sinne einer Anklage und möglichen Inhaftierung vorzieht. Die Konsequenzen aus seinen Konsequenzen, die Zerstörung seines Gedächtnisses, waren aber nicht beabsichtigt, wodurch man bei folgender Definition bei ihm von traumaähnlichen Symptomen sprechen kann: Trauma ist die Zerstörung der Möglichkeit einer Wahrnehmung und mithin auch die Zerstörung der Möglichkeit von Erinnerung. Es bildet statt dessen eine unzugängliche ,Krypta‘, in der die blockierte Erinnerung verschlossen wird, wodurch eine Erregung erzeugt wird, die sich noch langfristig in diffusen Symptomen niederschlägt. 822 819 Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 115. 820 Assmann: Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften, S.36. 821 Assmann: Der lange Schatten, S. 95. 822 Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 115-116. <?page no="321"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 317 In diesem Kontext könnte man zum Beispiel die in derAnalyse von „Letzte Kriegstage“ besprochenen Aggressionen des automatischen Menschen, die in der gewalttätigen Auseinandersetzung mit Jenner deutlich werden, als solche „Erregungen“ verstehen. Weiters ist zu bedenken, dass der Kommandant, was aber erst im Kapitel „Machtorte des Gedächtnisses“ ausführlicher erläutert wird, vom Direktor des Circus Saluti wegen seiner Verstrickungen unter Druck gesetzt wird und dabei bereits Verhaltensweisen zeigt, an die er später als automatischer Mensch anschließt. Aus dieser Perspektive gelten also Assmanns Ausführungen genau für den „Fall des Gendarmeriekommandanten“: Traumatische Schocks waren gewiss auch in einer Täterbiographie möglich, zum Beispiel in dem historischen Moment, in dem Hitler seine Anhänger durch Selbstmord im Berliner Bunker im Stich ließ und sie, die ihr Ich auf den Führer ausgelagert hatten, sich plötzlich als verstörte Marionetten erkannten, denen man die Fäden durchgeschnitten hatte. [...] Wenn es ein Trauma der NS-Täter gab, dann bestand es in der plötzlichen und schockartigen Konfrontation mit individueller Verantwortung und Gewissen. 823 Der Kommandant ahmt den Selbstmord seines „Führers“ nach, 824 weil er seiner persönlichen Verantwortung entfliehen will, scheitert aber und wird zur sinnbildlichen Figur einer „verstörten Marionette“, deren „Fäden durchgeschnitten“ sind. Nun zieht er als automatischer Mensch über die Hügel, dabei jedoch von einem neuen, wenn auch einem „Führer“ in nuce in Person des Zirkusdirektors gesteuert, an neu geknüpften, ,alten‘ Fäden hängend. Die traumaähnlichen Zustände des automatischen Menschen sind nun dem Wahnsinn gleichzusetzen, der automatische Mensch ist aus Sicht der Dorfbewohner ein wahnsinnig gewordener ehemaliger Gendarmeriekommandant. Hier zeigt sich ein von Vivian Liska festgestellter „auffallender Widerspruch“ in Roths Werk „zwischen einer Idealisierung und Romantisierung des Wahnsinns als befreiendes ,Anderes der Vernunft‘ und einem aufklärerischen Anspruch, in der Ausgrabung des Verdrängten eine Art Heilung vom Wahnsinn zu erzielen.“ 825 Liska zitiert als Beleg für ihre These nicht nur den „froschähnlichen Dämon, in dessen Augen der Wahnsinn leuchtete“, sondern findet Bestätigung auch im „geistesgestörten ,automatischen Menschen‘, die- 823 Assmann: Der lange Schatten, S. 96-97. 824 Aber ebenso das Verhalten der ehemaligen Dorf-Partisanen, die nicht zuletzt von den Gendarmen - auch wenn das in „Gesucht und Gefunden“ nicht explizit thematisiert wird - zum Selbstmord gezwungen wurden. 825 Vivian Liska: Der Handgeher. Ein Märchen für Dialektiker in Gerhard Roths Roman Landläufiger Tod. In: Germanistische Mitteilungen 43-44 (1996), S. 141-150, hier S. 142. <?page no="322"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 318 ser unheimlichen, durch Kriegsschuld belasteten und beschädigten Figur, die als allegorische Personifikation des absoluten Gehorsams durch den Landläufigen Tod marschiert.“ 826 Das Nebeneinander dieser entgegengesetzten Annahmen wird für Liska in dem Märchen „Der Handgeher“ (LT 626-627) dargestellt, dessen Hauptfigur der automatische Mensch ist. Dieser will im Märchen „dem Zirkusdirektor den Gehorsam aufsagen [...] (denn es ging ihm nicht besser als einem Tier)“ (LT 626). Die Befreiung vom Machtkalkül des Zirkusdirektors sucht der automatische Mensch, indem er sich „an de[ss]en Anderes, den Mythos[,] [...] in der Urgestalt einer alten Frau im Wald“ wendet. 827 Diese gibt ihm eine Reihe von magischen Ritualen auf, so soll er einen Schwamm essen, der „das Aussehen eines herbstlichen Gehirnes“ (LT 626) hat. Jedoch pflückt er auch einen Strauß Zyklamen, der Zauber schlägt fehl und er beginnt, die Welt verkehrt zu sehen und deshalb nur noch auf den Händen zu gehen. Die Befreiung gelingt ihm aber nicht, denn der Zirkusdirektor ist über sein Betragen „hoch erfreut und nahm ihn als Artisten in seine Vorstellung auf, nur befahl er ihm, nie mehr auf seinen Füßen zu laufen.“ (LT 627) Auf der „poetologischen Ebene“ sieht Liska in diesem Märchen „eine Allegorie des Verhältnisses zwischen realistischer und ,alternativer‘ Schreibweise“, wobei der „,verkehrte Blick [...] als versuchter Widerstand gegen die kommerzielle Ausbeutung durch den ,Kulturzirkus‘ verstanden“ wird. 828 Doch auch diese Perspektive auf die Welt würde sofort vereinnahmt, „[l]etztendlich bietet also keine der beiden Perspektiven für sich Befreiung vom Gehorsam oder Erkenntnis.“ 829 Dem Märchen nachgestellt ist die Bemerkung: „Wenn der Handgeher uns die Geschichte erzählt hat, läuft er wie ein Rad auf Händen und Füßen über die Wiese, so schnell er kann, bis er an eine Mauer der Anstalt prallt.“ (LT 627) Nur in diesem kurzen Moment sieht Liska für einen flüchtigen Augenblick die Möglichkeit des Widerstandes: In seiner fliehenden Bewegung von den Händen auf die Füße wird das Räderschlagen auf der Wiese zur Mimikry des ,Räderwerkes der Geschichte‘. Diese Mimikry eher als eine oppositionelle Umkehrung, ein ,verkehrtes Sehen‘ wird hier zum flüchtigen Moment einer letzten, parodistisch-verzweifelten Verweigerung des Gehorsams. 830 826 Ebenda, S. 143. 827 Ebenda,S. 147. 828 Ebenda. 829 Ebenda. 830 Ebenda, S. 149. <?page no="323"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 319 Karl Gockel schließt den Bericht von seiner Zeit im Konzentrationslager Mauthausen mit dem bemerkenswerten Satz „Die grauenhafteste Eigenschaft des Menschen ist sein Erinnerungsvermögen, die großartigste das Vergessen“. (LT 563) Aleida Assmann sieht diese beiden zentralen Elemente des Gedächtnisses jedoch nicht als Begriffsopposition: Zur Psychomotorik des Erinnerns gehört insbesondere, daß Erinnern und Vergessen stets untrennbar ineinandergreifen. Das eine ist die Ermöglichung des anderen. Wir können auch sagen: Das Vergessen ist der Gegner des Speicherns, aber der Komplize des Erinnerns. 831 Wenn Erinnern und Vergessen nun komplementär zu denken sind - wobei es hier um diese Prozesse in ihrem Insgesamt geht, und nicht um konkrete historische Ereignisse, von denen Teile vergessen werden müssen, damit andere erinnert werden können -, so sollte man jene Figuren in Landläufiger Tod einer komparatistischen Analyse unterziehen, die repräsentativ für diese beiden Aspekte des Gedächtnisses sind. Schließlich hat Gerhard Roth selbst in einer Podiumsdiskussion zu seinem Zyklus darauf hingewiesen, dass der automatische Mensch als Gegenfigur zu Korradow, der ja „nichts vergaß, was er sah und hörte“ (LT 349), gedacht war und ihn als „Menschen ohne Gedächtnis“ bezeichnet. 832 Korradow und der Gendarmeriekommandant sind beide in gewisser Weise ,Transitionsmnemopathen‘, deren Gedächtnisleistung mit politischen Systemtransitionen in Verbindung steht. Wird Korradows absolutes Gedächtnis nach dem politischen Wechsel durch Mord gelöscht, löscht der Kommandant sein Gedächtnis durch einen gescheiterten Selbstmord selbst, wodurch er zu einem ,Transitionspsychopathen‘, eben dem automatischen Menschen, wird. Gemeinsam ist Korradow und dem automatischen Menschen die Überzeichnung der Fähigkeit beziehungsweise des Unvermögens zu erinnern, die in beiden Fällen auch eine körperlich-performative Dimension (Erinnerungsperformanzen, Vergessensläufe) annimmt. Leidet Korradow aber an einer Gedächtnishypertrophie, welche ihm s/ eine ars memoriae ermöglicht, so ist der automatische Mensch von einer Hyperamnesie ge(kenn)zeichnet. Aus kulturhistorischer Perspektive ist die Kunst des Ver- 831 Assmann: Erinnerungsräume, S. 30. 832 Gerhard Roth bei der Veranstaltung „Raum, Gedächtnis, Literatur. Gerhard Roths Zyklus Die Archive des Schweigens.“ Podiumsdiskussion im Rahmen der dritten Ringvorlesung des Initiativkollegs „Kulturen der Differenz“ mit Gerhard Roth und Wendelin Schmidt-Dengler. Moderation: Gerald Lind. Wien, 17. 1. 2008. <?page no="324"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 320 gessens, die ars oblivionalis respektive ars oblivionis, auch „Amnestonik“, „Lethognomik“ oder „Lethotechnik“ genannt, 833 von Cicero anhand des Themistokles und seines Wunsches nach einer Fähigkeit zum Vergessen unliebsamer Erinnerungen dargestellt, bei weitem nicht so geläufig wie ihr Pendant, die ars memoriae. Umberto Eco hat in seinem Aufsatz „An Ars Oblivionalis? Forget It! “ gute Gründe angeführt, warum die Frage nach einer solchen Kunst im Sinne einer Technik, also einer künstlichen Herbeiführung des Vergessens, verneint werden müsste. Eco stellt fest, dass die Mnemotechnik eine Semiotik ist, „because, in its most elaborate form, it uses a syntactic system of loci (rooms of a palace or a theater, heavenly structures, etc.) destined to hold images, which assume the function of lexical units.“ 834 Semiotik funktioniert in Ecos Verständnis wie ein Mechanismus, der (im Geist) etwas Abwesendes anwesend macht, eine Präsenz erzeugt und deshalb für die Produktion intentionaler Akte benötigt wird. Genau dieses auch für die Mnemotechnik gültige Prinzip gilt nicht für eine ars oblivionalis: „[E]very expression determined by a semiotic sign function sets into play a mental response as soon as it is produced, thus making it impossible to use an expression to make its own content disappear.“ 835 Für Eco ist es nicht möglich, absichtlich zu vergessen, sondern nur, absichtlich mithilfe einer Multiplikation der Semiose, also einer, vereinfacht ausgedrückt, simultanen Einschaltung zusätzlicher Zeichen, schlecht zu erinnern: „One forgets not by cancellation but by superimposition, not by producing absence but by multiplying presences.“ 836 Gerhard Roth hat mit seinen beiden Gedächtnis-Figuren Ecos Konzeptualisierung in gewisser Weise unterlaufen: Bei Korradow bleibt das Verhältnis, darauf wurde hingewiesen, zwischen Sprache, Bewusstsein und Intention ebenso opak wie die Ausprägungen des Gedächtnisverlustes bei dem ehemaligen Gendarmeriekommandanten, bei dem aber aufgrund des angegebenen Auslösers, des Selbstmordversuches, von einer „Kunst“ des Vergessens, und hierin stimmt Roths Figur mit Ecos These überein, tatsächlich nicht gesprochen werden kann. Außerdem zeigt sich bei beiden Figuren, wiederum Assmanns oben angeführte These von der wechselseitigen Bedingung von Vergessen und Erinnern bestätigend, dass 833 Vgl. Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München: C. H. Beck 1997. S. 24. 834 Umberto Eco: An ,Ars oblivionalis‘? Forget it. In: Publications of the Modern Language Association 103 (May 1988), No. 3, S. 254-261, hier S. 255. 835 Ebenda, S. 259. 836 Ebenda, S. 260. <?page no="325"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 321 eine einseitige Überbetonung des Vergessens wie des Erinnerns zur (Selbst-) Zerstörung führen muss, wiewohl der ehemalige Gendarmeriekommandant auf das Dorf viel weniger gefährlich wirkt als Korradow. Beim Vergleich des automatischen Menschen mit Korradow erweist sich, dass im Zyklus die Zuschreibungen von Erinnern als positiv und Vergessen als negativ beständig transformiert werden, dass Gockels Postulat von der Heilkraft des Vergessens nicht uneingeschränkt Geltung beanspruchen kann. Für den russischen Kriegsgefangenen endet sein absolutes Erinnerungsvermögen aufgrund von dessen sozialer Sprengkraft tödlich, während der Selbsttötungsversuch des Gendarmeriekommandanten zwar scheitert, das Überleben im Vergessen und in Identitäts-Vergessenheit aber ebenso als negativ verstanden werden muss. Eine Alternative gibt es für keine Figur im Zyklus, die im Kreislauf von Vergessen und Erinnern gefangen ist. Auch für Karl Gockel nicht, der darunter leidet, für seine Erinnerungserzählungen im Dorf kein Verständnis - „Meine Berichte wurden in Zweifel gezogen“ (LT 565) -, das heißt keinen tragfähigen Bezugsrahmen, zu finden, dass also die Narrationen aus dem Opfergedächtnis unterdrückt werden. Die Bezugsrahmen spielen nun eine entscheidende Rolle für die von Avishai Margalit ins Zentrum gerückte Frage, „an was wir uns erinnern sollten und was, wenn überhaupt, wir vergessen sollten“, für die Frage nach der „Ethik der Erinnerung“ also. 837 Es geht hier um gesellschaftlich auszuhandelnde Gewichtungen von Erinnerungen, Entscheidungen für das Vergessen. Weder der automatische Mensch noch Korradow folgen einer Ethik der Erinnerung oder ethisch motivierten Vorgaben, was vergessen und was erinnert wird, da ja alles erinnert und alles vergessen wird. Dennoch sind sie den Bezugsrahmen nicht entzogen, denn der automatische Mensch wird ob seines Vergessens verachtet und soll weggesperrt werden, Korradow wird ermordet, da er sich an alles erinnert. Wobei hier doch auch angemerkt werden soll, dass der automatische Mensch vielleicht nicht alles vergessen hat, mag seine Vergangenheit zwar vordergründig unsichtbar sein, schimmert sie doch unter der Oberfläche hervor, ja bestimmt sie de facto seine Gegenwart völlig. In diesem Kontext stellt sich die Frage nach der Latenz, welche Aleida Assmann im Hinblick auf das Vergessen folgendermaßen definiert: 837 Margalit: Ethik der Erinnerung, S. 59. <?page no="326"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 322 Um diesen Begriff [Latenz; G. L.] noch deutlicher zu machen, muß man zwei Formen des Vergessens unterscheiden: ein auflösendes, destruktives Vergessen und ein bewahrend konservierendes Vergessen. Latenz ist, wie bereits betont wurde, mit diesem konservierenden ,Verwahrensvergessen‘ (F. G. Jünger) gleichzusetzen. 838 Für den automatischen Menschen gilt, dass trotz des destruktiven Vergessens Spuren der Vergangenheit übrig bleiben, dass eine unklare Konservierung, ein unscharfes „Verwahrensvergessen“ vorliegt, wodurch die Latenz der Geschichte mit besonderer Wirkmächtigkeit, ja Gewalt ausgestattet ist. Am Ende des Kapitels „Die Vergessenen“ wird der Aspekt der Latenz in Bezug auf den automatischen Menschen nochmals aufgegriffen. Diesen Abschnitt abschließend lässt sich nur eine klare Feststellung zur Repräsentation von Vergessen und Erinnern in Landläufiger Tod treffen: Die „Opfergedächtnisse“ Korradows und Gockels sind von Erinnerungen bestimmt, während das „Tätergedächtnis“ des Kommandanten im Banne des Vergessens steht. Helga Schreckenberger schreibt über jene Erzählebene in Der Untersuchungsrichter, die von den Erlebnissen und Investigationen Sonnenbergs handelt: „Roth’s detective story lacks a clear-cut dichotomy between good and evil.“ 839 Zur Figur des Untersuchungsrichters selbst stellt sie an anderer Stelle fest: „Die Titelfigur, [...] Sonnenberg, trägt sowohl Züge des Verbrechers als auch des Opfers.“ 840 Diese Ambiguität gilt ebenso für den ehemaligen Gendarmeriekommandanten, der zwar natürlich dominant der Täterseite zuzurechnen ist, aber eben wie ein Opfer wirkt, da er jahrzehntelang öffentlich gedemütigt wird beziehungsweise sich selbst demütigt. Aus einer bestimmten Perspektive betrachtet ist sein Verhalten jedoch deutbar als ein Abbüßen von Schuld, wie der Selbstmordversuch als Schuldeingeständnis und Selbstbestrafung verstanden werden kann. Wobei mit Peter Handke und Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) gedacht (und aus dem konkreten Romankontext gehoben), die Schuld ja sogar im Ergebnis der Bestrafung, des Selbstmordversuches, selbst verborgen sein könnte: 838 Assmann: Erinnerungsräume, S. 168. 839 Schreckenberger: Personalizing Fiction - Fictionalizing the Personal, S. 196. 840 Helga Schreckenberger: Ausbruch aus dem Roman-, Stil- und Denkgefängnis. Gerhard Roths Der Untersuchungsrichter. In: Modern Austrian Literature Vol. 24 (1991) Nr. 3/ 4, S. 121-131, hier S. 123. <?page no="327"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 323 Nicht mehr zu wissen, wer man war, bedeutete darüber hinaus eine Schuld, eine mit jedem Schritt neu begangene. Nicht vor der Umwelt, sondern vor sich selber war er seit seiner Grenzübertretung ein Gesetzloser. Ohne Identität zu sein, erlebte er nicht etwa als eine selige Ausgelöschtheit. Es war ein Schandmal, mit dem er sich, weil ihm allein sichtbar, nirgends verstecken konnte. 841 In Applikation der Passage Handkes auf die hier zu analysierende Konstellation kann also das gewaltsam herbeigeführte Vergessen als Perpetuierung von Schuld aufgefasst werden, wobei jeder Schritt des automatischen Menschen oder als automatischer Mensch diese Schuld neu schreibt. Doch kommen wir noch einmal kurz zurück zum Aspekt des Bußetuns im Sinne einer religiös konnotierten Selbstbestrafung, welche ja beispielsweise im (monastischen) Flagellantismus ebenso eine körperliche Dimension erhält. Zur theologischen Deutung des automatischen Menschen als Verkörperung eines Sühneopfers, eines unablässigen Strafabbüßens durch Selbstbestrafungsrituale passt nämlich ein auf diesen Komplex beziehbares Märchen aus Landläufiger Tod mit dem Titel „Die Strafe“ (LT 658-660). In diesem Text geht es um einen gewalttätigen Mann, der immer wieder mit kleineren Strafen zum Maßhalten angewiesen werden soll, bis er schließlich seine Familie in den Tod treibt und versteht, was er angerichtet hat: Und er trank aus Gram, bis er das Gedächtnis verlor. Man sprach mit ihm, doch alles, was er hörte und sah, war neu für ihn. Eines Tages erschien ihm ein Engel im Anstaltspark und sagte ihm: „Du hast das Gedächtnis verloren, aber 841 Peter Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2000 (stb 3084). S. 316. Gerhard Roths Verhältnis zu Peter Handke wäre übrigens eine eigene Studie wert. Karl Wagner hat Gerhard Roth als „Handke-Double“ bezeichnet. [Karl Wagner: Über die literarischen Dörfer. Zur Ästhetik des Einfachen. In: Friedbert Aspetsberger und Hubert Lengauer (Hg.): Zeit ohne Manifeste? Zur Literatur der siebziger Jahre in Österreich. Redig. v. Hermann Möcker. Wien: ÖBV 1987 (Schriften des Inst. f. Österreichkunde 49/ 50). S. 166-180, hier S. 166.] Wendelin Schmidt-Dengler hingegen schreibt differenzierter: „Seine [Gerhard Roths; G. L.] frühen Romane stehen [...] den experimentellen Romanen eines Peter Handke sehr nahe, und in der Folge lassen sich die Schriften Roths und Handkes ebenso in Parallele lesen, was gewiß noch kein Werturteil sein soll.“ (Schmidt-Dengler: Bruchlinien, S. 403.) Handke selbst hat allerdings in einer Äußerung über Roths Roman Der große Horizont (1974) ein Werturteil abgegeben: „Wieder fand ich, daß Gerhard so wenig Gefühl für Schrecken hat und daß die Sätze oft unendlich abgeschmackt sind - und seine Verwirrung und Verstörung ist inzwischen eine routinierte Zutat, alle zehn Zeilen ein Bewußtseinseinbruch, ich glaub’s einfach nicht, d.h., ich glaube es ihm persönlich, aber nicht dem Geschriebenen.“ [Peter Handke und Alfred Kolleritsch: Schönheit ist die erste Bürgerpflicht. Briefwechsel. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2008. S. 76.] <?page no="328"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 324 eines wirst du bis ans Ende in Erinnerung behalten: Du mußt Dein Leben (so wie es war) noch einmal leben, und sündigst Du so weiter, wirst Du abermals Dein Gedächtnis verlieren.“ Damit verschwand er. Der Engel aber war kein anderer als er selbst. (LT 660) Hier erscheint das Verlieren des Gedächtnisses als Strafe, die sich als Selbstbestrafung bei gleichzeitiger religiöser Aufladung des Gewissens entpuppt. Engelssymbolik und Todesbezüge führen uns nun zu einigen weiteren Aspekten der Figur des automatischen Menschen. In gewisser Weise kann der automatische Mensch, der wie eine Figur aus einer gothic novel wirkt, 842 als ein Untoter, ein Zombie, ein Wiedergänger oder Revenant im Geiste der Romantik gelesen werden. Er symbolisiert den Tod, dem er schon so nah war, dessen Grenzen er schon ausgelotet hat und dem er andere nah gebracht hat, folgt man Sigrid Bauschinger: He [der Zirkusdirektor; G. L.] sends a strange fellow through the countryside as a ,herald‘ or ,announcer,‘ literally a walking death figure (,Durch das Land laufen‘: ,landläufig,‘ = walking through the land.) This former policeman, an epileptic, walks silently and mechanically like an automaton, carrying an old sprayer, with enormous propellers on his back, past the farms and through the villages, his white face a mask of omnipresent death. 843 Er ist tot - oder nicht lebendig, wie eine Maschine, ein Roboter: „Wie ein Automat reißt er ruckartig Arme und Beine nach vorne, wie ein Automat geht er mit gleichmäßiger Geschwindigkeit dahin, nicht schneller, wenn die Straße ein wenig stärker abfällt, nicht langsamer, wenn sie ein wenig ansteigt.“ (LT 61) Ein Automat also, wie er in der Literatur der Romantik literarisch zum Leben erweckt wird, zum Beispiel in der Figur der Olimpia in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann, über die Hartmut Steinecke schreibt: „Olimpia wurde, wie die Wirkungsgeschichte zeigt, eine der bekanntesten Automaten der 842 Landläufiger Tod hat aus narratologischer Sicht Ähnlichkeiten mit gothic novels: „Unter allen narrativen Gattungen besitzt wohl mit Ausnahme des Novellenzyklus keine einen so hohen Anteil an Werken mit binnentextuellen Rahmungen - insbesondere Rahmungen als Teil des Strukturmusters einer Geschichte in der Geschichte[...] - wie der Schauerroman bzw. die Gothic fiction.“ (Wolf: Multiperspektivität, S. 90) Der automatische Mensch ist wiederum eine „gotische Figur“, zieht man Werner Wolfs Resümee nach der Untersuchung einer Reihe von Schauerromanen in Betracht, bei denen „das Hauptobjekt der Multiperspektivität eine ,gotische‘ Figur [war], die auf verschiedenen Erzählebenen zumindest teilweise unterschiedlich gesehen und darüber hinaus wenigstens auf der Rahmungsebene nur in deutlich unvollständiger Weise präsentiert wird.“ (Ebenda, S. 96) 843 Sigrid Bauschinger: Gerhard Roth, S. 356. <?page no="329"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 325 Weltliteratur.“ 844 Über diese Verbindung zu den Puppen, Marionetten und Automaten der Romantik 845 steht der automatische Mensch natürlich im Kontext des schon erwähnten Unheimlichen bei Freud, der ja seine Überlegungen von einer Sandmann-Lektüre ausgehend unternommen hat. Der automatische Mensch steht aber nicht nur (über den Tod) mit himmlischen Engeln, sondern auch mit der Hölle in Verbindung. „Hölle“ wird in „Drei Tote“ „das Waldstück genannt, in das die Räder der vom Bergwerk kommenden Fuhrwerke im Laufe der Zeit eine tiefe Schlucht in die Lehmerde gegraben hatten.“ (LT 405) Nachdem der Bergingenieur ermordet wurde, heißt es: „Es war zum dritten Mal an diesem Tag, daß er durch die ,Hölle‘ fuhr.“ (LT 408) In dem Text „Die Höllenmaschine“ (LT 472-475) behauptet nun ein „neuer“ Bergingenieur kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, dass er eine ganz besondere Maschine fertiggestellt habe, die gleichzeitig „Höllenmaschine“ und „Himmelsmaschine“ (vgl. LT 475) sei. Lindners Vater, der diese Geschichte erzählt, berichtet schließlich, dass er den „Gendarmeriekommandant[en] (in der Uniform eines k.u.k.-Postmeisters)“ (LT 475) auf den merkwürdigen Fremden hingewiesen hat, worauf ihn der Gendarm als entlaufenen Insassen einer psychiatrischen Anstalt erkannte: „Mit den Worten: ,Folgen Sie mir, Leute wie Sie werden der am Boden liegenden Anstalt zu neuem Aufschwung verhelfen‘, nahm er den Verrückten in seine Obhut.“ (LT 475) Für Wolfgang Tietze - nicht nur hier unklar in seinen Formulierungen - scheint die „Höllenmaschine“ jene Maschine zu sein, die der automatische Mensch auf dem Rücken trägt. Tietze assoziiert, dass sie vom ,verrückten‘ Bergingenieur auf den ihn verhaftenden späteren automatischen Menschen übergeht. 846 Lindner beschreibt diese Maschine jedenfalls als wenig geheimnisvoll: Auf dem Rücken trägt er den Motor einer Spritzmaschine mit der Propellerschraube, die so breit ist wie er selbst. Es ist eine alte Spritzmaschine, die nicht mehr funktioniert (wie wir sie des öfteren auf Fetzenmärkten in der Umgebung finden) und die wir wegen des einen oder anderen Ersatzteiles, das wir brauchen können, billig erstehen. (LT 61) 844 Steinecke: Kommentar zu Hoffmanns Nachtstücken, S. 968-969. 845 Vgl. dazu auch Tietze: Das mikroskopische Gedankenglas, S. 210-222, den Abschnitt: „Romantische Blickführung und die Psychologie des 18. Jahrhunderts. Des ,Sandmanns‘ und ,Meister Flohs‘ Taschenperspektive; die Optiker Hoffmann und Jean Paul Richter - Exkurs.“ 846 Vgl. Tietze: Das mikroskopische Gedankenglas, S. 163-164. <?page no="330"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 326 Diese desakralisierende Deskription der Maschine bedeutet allerdings nicht, dass der automatische Mensch nicht tatsächlich die „Höllenmaschine“ durch die Landschaft trägt. Innerhalb der fiktiven Realität des Romans stehen jedenfalls mehrere Deutungsmöglichkeiten offen: Erstens könnte diese Maschine wirklich nur eine Spritzmaschine gewesen sein (die der Kommandant nach den Angaben des „Bergingenieurs“ gebaut hat), zweitens ist gerade in Landläufiger Tod nicht alles das, wonach es aussieht oder wonach es einer diskursiven Logik folgend ausschauen soll. Vielleicht ist also die Spritzmaschine die Höllenmaschine, vielleicht aber soll bei einer auf tief in der Romanstruktur angelegte Bezüge achtenden Lesart die Spritzmaschine auch nur wie eine Höllenmaschine ausschauen beziehungsweise den Rezipienten an diese erinnern. Tietze sieht die Maschine des automatischen Menschen in gewisser Nähe zu Kafkas Tötungs-, Folterungs-, Tätowier- und Gesetzesmaschine in der Erzählung In der Strafkolonie (1919), wie diese eröffnet jene eine Vielzahl an Deutungsvarianten, „da sie nicht zu beschreiben, nur zu schreiben ist und einschreibt“. 847 Weiter assoziierend imaginiert Tietze eine solche Maschine, die auf dem Rücken getragen über Elektroden ans Gehirn angeschlossen sein könnte. Auf diese Weise kann sie zur mind control, brain stimulation oder als Gefühlsmanipulator eingesetzt und als Polizeistaatsmetapher gelesen werden. 848 Die Maschine auf dem Rücken des automatischen Menschen verweist so gesehen auch auf Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine, die sich an der Figur des automatischen Menschen bereits auf der Ebene der Bezeichnung zeigen: Automatenmensch, Menschenautomat. Vor allem aber wirkt diese Maschine nicht durch ihr Funktionieren, sondern als mit vielfältigen Projektionen versehbare Oberfläche. Über eine solche Projektion könnte eine Analogie zu den Imkern (wie Lindner Vater und Sohn) gezogen werden, die in voller Montur wie Roboter erscheinen. Außerdem verwenden Imker Werkzeuge wie den Smoker und ein Wassersprühgerät (vgl. „Werkzeuge und Geräte des Imkers“, LT 210-211), die Ähnlichkeiten mit der Spritzmaschine des Läufers aufweisen. Eingesetzt werden Spritzmaschinen zur künstlichen Düngung, das heißt, wir haben es hier auch mit einem typischen landwirtschaftlichen Requisit zu tun, das aber von der Manipulation der Natur durch den Menschen, vom technischen Eingriff in die Natur erzählt. 847 Ebenda, S. 164. 848 Vgl. ebenda, S. 164-170. <?page no="331"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 327 Entsprechungen hat das Automatenhafte des automatischen Menschen schließlich mit einer Textproduktionsmethode von Gerhard Roth, mit der er zum Beispiel die experimentellen Einzelsätze des zweiten Buches von Landläufiger Tod hergestellt hat. Bezogen auf diese wurde von einer Art écriture automatique gesprochen und das Rasterhafte quasi-maschineller Schreibweisen betont: „Die endlose Kette von Sätzen, die man alogische, auf den Kopf gestellte Aphorismen nennen könnte, hat bei allem Variationsreichtum das Gestanzte von Serienproduktionen am laufenden Band.“ 849 Jedoch muss im automatischen Schreiben kein Automatismus der Sinnkonstitution entstehen, ganz im Gegenteil, wie W. G. Sebald in Bezug auf die experimentellen Einzelsätze darlegt: Die Erfindungskraft, die sich in derlei Fusionen beweist, entdeckt die unserem angelernten Wissen nicht zugänglichen qualitativen Aspekte der Wirklichkeit, was sonst getrennt voneinander da ist, verbindet sich in binären, seriellen Operationen nach dem Prinzip, eines ergibt immer das andere und dieses ein drittes, zu ebenso unglaublichen wie einleuchtenden Zusammenhängen. 850 Schließlich erinnert die Selbstinszenierung des automatischen Menschen in ihrer Performativität und Theatralität an das (absurde) Theater, die Postmeisteruniform fungiert als Staffage eines grotesken k.u.k.-NS-Historiendramas, das vor dem Bühnenbild einer „totenstillen“ Landschaft aufgeführt wird. Die Spritzmaschine auf dem Rücken als ländlich-maschinistisch-militärisches Requisit, das auch von einem ,Kanonenmenschen‘ getragen werden könnte, führt schließlich zum Zirkus, locus horribilis des automatischen Menschen, der - von dessen genius loci keineswegs beschützt - als lebende Reklametafel des Circus Saluti fungiert: Mit Kostüm und weiß geschminktem Gesicht, das die Gesichtsregungen verdeckt, ähnelt der ehemalige Gendarm dem traurigen weißen Clown im Zirkus oder dem in der Dorfchronik beschriebenen, bereits in der Zwangsjacke steckenden Entfesselungskünstler: „Haar und Gesicht mit Mehlstaub geweißt, anstelle einer Träne läuft eine Spur aus Ochsenblut über die Wange.“ (DLT 41) Der automatische Mensch steht im Spannungsfeld von Vergessen und Erinnern, von Täter- und Opfergedächtnis, erlaubt vielfältige kulturhistorische Bezüge und Interpretationen, ist mit einer Reihe von Schauplätzen und Figuren verbunden, mit der Tante Lindners, mit Karl Gockel, mit Korradow, dem 849 Hinck: Die aus den Fugen gehende Welt des Dorfes, S. 297. 850 Sebald: In einer wildfremden Gegend, S. 168. <?page no="332"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 328 Zirkusdirektor und auch mit Franz Lindner selbst. Denn ganz abgesehen davon, dass man textuelle Signale in Landläufiger Tod findet, die Franz Lindner als Untoten interpretierbar machen, entschwindet Lindner aus dem Zyklus in einer Transformation, die eine Art Anti-Apotheose ist; Lindner, der nahezu zwanghafte Chronist, scheint sein Gedächtnis zu sistieren, seine Erinnerungen zu löschen und sich dem Vergessen anheim geben zu wollen. Denn in Am Abgrund verabschiedet sich Lindner in dieser Szene - auf die allerdings noch ein Kapitel „Aus Lindners Papieren“ folgt - von Jenner und verschwindet cum grano salis aus dem Zyklus: Plötzlich aber erhob sich Lindner. Er ging wie der automatische Mensch aus seinem Dorf (ein Gendarmeriekommandant, der einen mißlungenen Selbstmordversuch hinter sich hatte und seither in der Uniform eines k. u. k. Postmeisters mit einem Schild ,Circus Saluti‘ um den Hals geradewegs über die Landstraßen und durch die Höfe marschierte, ohne einem Hindernis auszuweichen) zur geöffneten Tür hinaus, und Jenner, der ihm folgte, sah ihn die Steigung zur Anstaltskirche hinaufgehen und die Treppen hochsteigen. Was hatte Lindner vor? Verließ er die Anstalt? Wollte er sich das Leben nehmen? Es sah aus, als stiege er geradewegs in den Himmel, so entschlossen kletterte er die lange Treppe hinauf, und Jenner hielt an und schaute ihm nach. (AA 146- 147) Pamela S. Saur interpretiert die Verfilmung jener Szene, die den zweiten Teil des Films Landläufiger Tod beschließt und Lindner zeigt, wie er Jenner vor der Otto-Wagner-Kirche am Steinhof über Stufen ent- oder übersteigt, 851 so: „For a moment he is released from the painful experience of being Franz Lindner.“ 852 Tatsächlich aber führt die über die Texte zu ziehende Parallele mit dem automatischen Menschen zu einer ganz anderen Einschätzung als der von einer Befreiung, oder aber es führt diese Szene zu einer ganz anderen Einschätzung des automatischen Menschen, denn bevor Lindner verschwindet, zeichnet er noch eine Figur, deren Kopf der Erdkugel gleicht und aus der oder in die Figuren springen oder fallen: Es war eine Marionettenpuppe, soviel war aus dem Entwurf zu schließen. Aber alles in allem machte die Zeichnung keinen tragischen, sondern einen komischen Eindruck, und Jenner ließ seiner Erregung freien Lauf und fing zu lachen an. Er legte das Blatt zurück und lachte. Lachend erhob er sich und legte eine Hand auf Lindners Schulter, dann ließ er sich wieder in den Sessel zurückfallen und schwieg abrupt. (AA 146) 851 Vgl. Landläufiger Tod 2. Am Abgrund, 1: 30,40-1: 31,10. 852 Saur: A concentrated Honey, S. 231. <?page no="333"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 329 Es muss also offen bleiben, ob in der Figur des automatischen Menschen, in der Figur des Franz Lindner, das Tragische oder das Komische, das Erinnern oder das Vergessen überwiegt, wiewohl es stimmig erscheint, wenn Lindner die Rolle des automatischen Menschen übernimmt und, wie in dem nie publizierten Manuskript F. L. und er selber, mit einer Maschine auf dem Rücken die Landschaft durchstreift. 853 Die k.u.k.-Postmeisteruniform würde dabei ganz gut zu den „Sieben nicht abgeschickten Briefen aus dem Irrenhaus“ passen. 3.5.3 Die Geschichte der Dunkelheit Die Opfernarration des Karl Gockel steht in engem Zusammenhang mit dem sechsten Teil des Zyklus, Die Geschichte der Dunkelheit. So schreibt Joanna Drynda über „Gockel“: „Seine knapp formulierte, direkte Erzählung bildet eine künstlerische Einstimmung auf den später in Die Geschichte der Dunkelheit aufgezeichneten authentischen Lebensbericht von Karl Berger.“ 854 Uwe Schütte nimmt einen ähnlichen Standpunkt ein: „Der Abschnitt [„Gockel“; G. L.] repräsentiert in Zielsetzung und Form eine Vorstufe dessen, was Roth in der Geschichte der Dunkelheit einige Jahre später anhand einer authentischen Opferbiografie in größerem Rahmen unternimmt“. 855 Trotz dieser engen thematischen Nähe gibt es aber eine Reihe von Unterschieden in Bezug auf diese beiden Opfernarrationen. Different sind „Gockel“ und Die Geschichte der Dunkelheit in Bezug auf ihre potentielle Rezeption: Eine nicht mit einer realen Person referentialisierbare, fiktive Opfererzählung wird im öffentlichen Diskurs weniger Anspruch auf Gültigkeit, wenn auch nicht Wahrh(aftigk)eit, erheben können, als die auf überprüfbaren Fakten basierende Biographie eines in der außerliterarischen Wirklichkeit genau identifizierbaren, einzelnen Shoah-Überlebenden. Hinzu kommt, dass Karl Berger als Jude zur zahlenmäßig größten Opfergruppe der Nazis gehört, 856 Gockel aber aufgrund der komplexen Umstände seiner Inhaf- 853 Vgl. Tietze: Das mikroskopische Gedankenglas, S. 164. Das Manuskript ist in Tietzes Bibliographie mit 1987 datiert. Gerhard Roth sagte mir zu diesem Theaterstück: „Es wurde einmal bei einem Theatertreffen von Schauspielern gelesen. Ich wollte das Stück eigentlich machen, bin aber im Nachhinein froh, dass nichts daraus geworden ist.“ [Gespräch mit Gerhard Roth (Wien, 30.3.2006).] 854 Drynda: Schöner Schein, unklares Sein, S. 115. 855 Schütte: Auf der Spur, S. 141. 856 Roth füllte mit der Geschichte der Dunkelheit sowie dem Essay zur Leopoldstadt in Eine Reise in das Innere von Wien gleich doppelt eine Lücke seiner Archive, denn in Land- <?page no="334"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 330 tierung im Prinzip keiner Opfergruppe zugehörig ist, er weder dezidiert politischer noch ethnischer oder religiöser Verfolgter war. Die Uneindeutigkeit der Gockel’schen Lebensgeschichte hängt mit der in Landläufiger Tod applizierten literarischen Technik zusammen, eine weitere, höchst relevante Differenz zwischen „Gockel“ und der Geschichte der Dunkelheit. Diese Technik wurde zur Konstruktion aller Figuren im Roman verwendet. Wie gezeigt, ist beispielsweise in Bezug auf die Figur des Gendarmeriekommandanten die Frage nach Recht und Unrecht, nach Schuld und Sühne nicht eindeutig zu beantworten. Der Täter erscheint zunächst als Opfer, ist ein Opfer, aber seiner selbst und seiner Verstrickungen in den Lauf der Geschichte. Die in Landläufiger Tod oftmals den Rezipienten bestimmende Unsicherheit in Bezug auf die klare Identifikation von Opfer und Täter, Schuldigem und Beschuldigtem ist ein auch über die Thesen der Figur des Alois Jenner transportiertes Grundthema des Zyklus. 857 So sagt Jenner beispielsweise zum Direktor des Circus Saluti: „Mich interessieren in erster Linie Tatbestände und die Ursachen von Ereignissen“, fährt er fort, „und ich bin zur Erkenntnis gekommen, daß es keine Schuldigen gibt, aber auch keine Unschuldigen.“ Schuld und Unschuld seien Ausschnitte, die zu praktischen Zwecken herausgegriffen würden. In einem höheren Sinne gebe es nur Ankläger und Angeklagte. (LT 30) Eine absolute Relativierung von Täter- und Opferrolle kann aber nicht im Interesse Gerhard Roths sein, liegt darin doch dieselbe Gefahr wie bei dem von manchen postmodernen Theoretikern vertretenen radikalen Konstruktivismus, bei dem die Rede über die Shoah nur noch als Erfindung und Fiktion läufiger Tod und den anderen fiktionalen Bänden ging der Autor nicht auf den Antisemitismus und die jüdischen Opfer der Nazis ein, wahrscheinlich, weil es keine Oral- History-Basis dafür gab und eine Implementierung eines solchen Narrativs problematisch erscheinen hätte können. Allerdings erwähnt Roth den katholischen Antisemitismus in Im tiefen Österreich (25). Dass der österreichische Antisemitismus in Roths „Werk eine entscheidende leitmotivische Rolle“ spiele, wie das Thomas Wolber behauptet, kann man mit Blick auf das Ganze eigentlich nicht behaupten. (Thomas Wolber: „Das Antisemitische sitzt so tief ...“ Die Geschichte der Dunkelheit von Gerhard Roth. In: Modern Austrian Literature Vol. 27 (1994) Nr. 3/ 4, S. 143-150, hier S. 146.) 857 Für Saur ist die Konstruktion einer Verteidigung des Wahnsinns bisher in der Rezeption des Zyklus überbewertet worden, für sie stehen vielmehr im Zentrum: „justice, bad conscience, guilt, atonement, punishment, sympathy for suffering that goes beyond clever courtroom arguments and runs at the deepest level of the seven books.“ (Pamela S. Saur: Guiltless Confessions in Gerhard Roth’s „Archives of Silence“. In: Nicholas J. Meyerhofer (Hg.): The Fiction of the I. Contemporary Austrian Writers and Autobiography. Riverside, California: Ariadne Press 1999 (Studies in Austrian Literature, Culture, and Thought). S. 164-183, hier S. 166.) <?page no="335"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 331 kategorisiert wird. Zwar gilt: „Roth does take advantage of the potential of postmodern forms to explore from many directions the complications and contradictions of conventional morality and social systems of justice“. 858 Jedoch ist, wie schon erwähnt, Konstruktivität nicht ident mit Fiktionalität, weshalb „surely this postmodern tendency allows for the expression of a more refined moral sense rather than a simple rejection of the concept of morality.“ 859 Über Verweise auf die Konstrukthaftigkeit jedweden Rechtssystems, jedweder Moral soll neben der Relativierung eines Schwarz-Weiß-Denkens außerdem die über solche Diskurse ausgeübte Macht in Frage gestellt werden, die eben nur die ihr genehmen „Ausschnitte“ beurteilt, wie in Der Untersuchungsrichter festgestellt: Ganz egal, ob Gefängnis oder Todesstrafe, der Staat macht sich mit Hilfe der Justiz selbst zum „Verbrecher“. Zur Verantwortung gezogen wird in der Regel der Wehrlose. Selbstverständlich ist Justiz Klassenjustiz. Es geht nicht um „Gerechtigkeit“, was immer man darunter versteht, sondern um den Ritus, es geht nicht um Tatsachen, sondern um deren sprachliche Festlegung. (UR 11) 860 Bei Roth geht es also um die seiner Meinung nach problematischen Konstruktionsmechanismen von Recht und Moral, die in Frage gestellt werden sollen, nicht darum, Recht und Moral völlig aufzuheben. Die in der Darstellung dieser Problematik mitschwingende Sensibilität für einseitige Zuschreibungen, für die Relativität von Rechtssprüchen ist Roths Figuren eingeschrieben. Sogar das ,Opfer‘ Karl Gockel ist ja - obwohl eindeutig mit Sympathie bedacht - kein ,reiner‘ Unschuldiger, sondern ein marginaler Täter, da er eben ein Rad gestohlen hat. 861 In diesen Kontext gehört ebenso die Figur des Pfarrers aus „Hahnlosers Ende“ oder die Bergarbeiter in „Drei Tote“; immer bleibt, bei allen sympathisteuernden Akzenten, ein Überschuss, der über eine ,reine‘ Opferrolle hinausweist. Eine nicht vereinseitigende Beschreibung, welche menschliche Schwächen, mögliche Fehltritte und bedenkliche Kompromisse der Opfer mitakzentuiert, nimmt diesen nichts von ihrem 858 Saur: Gerhard Roth’s Die Archive des Schweigens, S. 91. 859 Ebenda. 860 Roth stellt, in diesem Kontext wichtig, zur akademischen österreichischen Geschichtswissenschaft nicht nur fest, dass sie „neurotisch“ ist, sondern auch, dass sie „[e]ine Geschichtsschreibung [ist], die die Ethik auf Kosten der Macht verdrängt hat.“ (Roth: Anatomie des österreichischen Hirns, S. 76.) 861 Weshalb es nicht ganz richtig ist, wenn Schütte „Gockel“ als „die Geschichte eines zweifellos unschuldigen Opfers der Historie“ bezeichnet. (Schütte: „Obschon die Häuser brennen, zeigt sich kein Nordlicht.“, S. 283.) <?page no="336"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 332 Leid, rückt sie aber zurück aus der auratisierten Sphäre des Übermenschlichen auf die Ebene des (allzu) Menschlichen. In typischer Überzeichnung hat Roth in „Wenn der geworfene Stein ein Bewußtsein hätte, so würde er sagen, ich fliege, weil ich will“ (Pascal) (LT 365-368) seinen diesbezüglichen Zugang dargestellt. In diesem Text wird ein Mörder seinem Opfer immer ähnlicher, bis er schließlich bei der Mutter des Ermordeten als verloren geglaubter Sohn einzieht - worauf er allerdings in das „Irrenhaus“ gebracht wird. Schütte schreibt, dass Roth in diesem Text „in der Dekonstruktion von Täter und Opfer die Umkehrbarkeit beider Rollen“ 862 demonstriert. Aufgrund dieses Verständnisses für die Relativität von Täter- und Opferrolle beziehungsweise oft wirksame homogenisierende Tendenzen bei deren Zuschreibung ging es, laut Giacomuzzi-Putz, Gerhard Roth „nie um die Verurteilung der begangenen Taten, sondern um das Verschweigen derselben.“ 863 Herausgenommen aus dem vor allem in den Zyklusbänden drei bis fünf betriebenen literarisch-formalen Spiel mit dem Verwischen von gut und böse, von Recht und Unrecht, von Moral und Unmoral wird nur der reale Remigrant Karl Berger. 864 Der sechste Zyklusband ist linear erzählt, angesichts des ungeheuren realen Leids verzichtet Gerhard Roth auf das literarische Spiel, auf das postmoderne Formexperiment. 865 Die hybride, mehrfach gebrochene Nicht-Identität Bergers, der zwischen allen Stühlen zu sitzen gekommen ist, 866 wird auf eine formal völlig reduzierte und deskriptive Weise über lebenschronologisch aneinander gereihte Bilder in zwölf „Berichten“ erzählt. 867 Für Pamela S. Saur hat deshalb Die Geschichte der Dunkelheit 862 Ebenda. 863 Giacomuzzi-Putz: Verdrängte Geschichten in seichten Gewässern, S. 82. 864 Während beispielsweise für die Erzählebenen von Der Untersuchungsrichter - das Metanarrativ und die Kriminalgeschichte - gilt: „In both narratives, rejection of the normative order represented by the legal system is paralleled by rejection of the normative rules of literary conventions.“ (Schreckenberger: Personalizing Fiction - Fictionalizing the Personal, S. 197.) 865 Vogl: Arche Noah, auf hoher See gebaut, S. 127, erklärt diese Veränderung der literarischen Verfahrensweise über Landläufiger Tod: „Es ist wohl kein Zufall, daß er sich nach der literarischen Parforcetour des Romans Landläufiger Tod, in dem er sich und seine Sprache bis an die Grenzen der Belastbarkeit strapazierte, auf weniger ,riskante‘ Formen wie die Reportage und den Bericht zurückzog.“ 866 Roths Berger sagt in einem Abschnitt mit dem Titel „Identität“: „Ich wußte nicht mehr, was ich war. War ich Österreicher? Tscheche? War ich Jude? Oder schon Engländer? Irgend etwas mußte ich doch sein, sagte ich mir.“ (GD 97) 867 Roth hat sich bei seinem autobiographischen Roman Das Alphabet der Zeit erneut dieser Technik bedient. <?page no="337"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 333 no artistic intent. While Roth certainly includes references to war, Naziism and the Holocaust in several other volumes of the cycle, his decision to select a special treatment for Berger’s story strikes one as an ideological statement, an attempt to present Berger’s life as unvarnished truth, free of any whimsy or irony, clever games or artistic manipulations, so that Karl Berger’s voice will be heard and it will ring true. 868 Die von Roth gewählte Repräsentationsform hat nicht nur Zustimmung erfahren. Einige Kritiker, wie zum Beispiel der Psychiater und Schriftsteller Paulus Hochgatterer, 869 mokierten sich über die Roth unterstellte ,(Psycho-) Analyseverweigerung‘ gegenüber Berger oder, wie Erich Hackl, 870 über den nüchternen, berichtenden Ton, der die für das Erzählen entscheidende Aufladung des Textes mit positiven wie negativen Emotionen verunmöglicht habe. 871 So gesehen fällt das Buch nicht nur aus dem Schema der postmodernen Literatur, sondern der erzählenden Literatur insgesamt heraus: „Das Buch ist eine Übung in literarischer Totalreduktion und hat den Autor, nicht zuletzt durch das, was darin erzählt wird, an den Rand des Verstummens gebracht.“, 872 schreibt Walter Vogl über Die Geschichte der Dunkelheit. Aber es gibt eben für Gerhard Roth, trotz seines Faibles für avancierte Schreibweisen und der damit einhergehenden Relativierung moralischer Wertzuschreibungen, doch eine Essenz, einen nicht hinterfragbaren Kern, angesichts dessen die Verwischungen von Tätern und Opfern, von Guten und Bösen wieder aufgehoben werden: Just as many feminists and champions of minority causes would agree, embracing a necessary contradiction for our age, that the death of the subject does not mean the death of the female or minority subject, many would find it theoretically if not necessarily artistically appropriate that, when it comes to the Holocaust, it is appropriate for Roth to regress for a while and present the reader with an unfragmented subject and life story, with real history, viewed rationally, and even with meaning and morality. 873 868 Saur: Gerhard Roth’s Die Archive des Schweigens, S. 98. 869 Paulus Hochgatterer: Opus Ultimum - Eine Vertrocknung. Zum Abschluß von Gerhard Roths „Archive des Schweigens“. In: Literatur und Kritik 257/ 258 (Oktober 1991), S. 103-104. 870 Erich Hackl: „Der Zwang zur falschen Alternative.“ Lustlos, ja lieblos protokolliert: Gerhard Roths Bericht über die Dunkelheit in ihm. In: Die Presse, 5./ 6. 10. 1991. 871 Siehe weiters zur Kritik an der gewählten Repräsentationsform: Schütte: Auf der Spur, S. 275; Ensberg/ Schreckenberger: Gerhard Roth. Kunst als Auflehnung gegen das Sein, S. 126-127. 872 Vogl: Arche Noah, auf hoher See gebaut, S. 128. 873 Saur: Gerhard Roth’s Die Archive des Schweigens, S. 99. <?page no="338"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 334 Problematisch an diesem Buch ist also aus dieser Perspektive nicht die gewählte Form des Haupttextes, die über das heikle Sujet legitimierbar ist, sondern eher Pro- und Epilog, wie weiter unten dargestellt wird. Nicht unterschlagen werden soll an dieser Stelle, dass bei dieser Form der Auseinandersetzung mit der Shoa und der Rolle Gerhard Roths als eines sekundären Zeugen 874 natürlich ein gedächtnisgeschichtlicher Kontext wirksam ist. Roths Vorgehensweise und Zielsetzung lässt sich einer generationenspezifischen Haltung zuordnen: In den 80er Jahren war die lange und ferne deutsche Geschichte verblasst, und in den Vordergrund immer dringlicher die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust getreten, zusammen mit den fordernden Fragen nach dem ,Warum? ‘ und dem ,Wer? ‘. Diese historische Umorientierung ist zur Signatur der 68er Generation geworden. Sie blickte zurück im Zorn und klagte ihre Väter-Generation an, während sie zugleich die Leidensgeschichten der jüdischen Opfer ins allgemeine Bewusstsein hob. 875 Fragwürdig an diesem Zitat erscheint auf den ersten Blick, dass Assmann von einer systematischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus in den 1980ern spricht und diese mit den 68ern assoziiert. Im weiteren Argumentationsverlauf zeigt sich aber, dass die deutsche Gedächtnistheoretikerin die Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit in den 1980ern als Spätfolge von 1968 deutet. Zu bedenken gilt es weiters für unseren Kontext, dass sich, wie ja schon in „Auf dem Schneeberg“ ausführlich dargestellt, das deutsche und das österreichische Nachkriegsgedächtnis unterscheiden. Different war übrigens auch die eher auf künstlerischen Aktionismus abzielende österreichische von der eher auf politischen Aktivismus setzenden deutschen Studentenbewegung. Gerhard Roth steht nun, obwohl zu dieser Zeit nicht Teil einer Künstlergruppe oder Kommune, allein schon wegen seines Geburtsjahres 1942 in einer gewissen Nähe zu den 68ern. Diese wurden laut Aleida Assmann zwischen 1940 und 1950 geboren und sind, und in dieser Beschreibung scheinen sich Österreich und Deutschland nicht so stark zu unterscheiden, in einem 874 Sibylle Cramer sieht Gerhard Roths Funktion übrigens in der Tradition des Pausanias: „Pausanias hat sich als ,Logograph‘ bezeichnet, als einer, der mündliche Erinnerung, gewissermaßen frisch vom Munde der Zeugen weg, verschriftlicht. Das ist Roths Rolle in Die Geschichte der Dunkelheit.“ (Cramer: Das Gedächtnis ist die letzte Instanz von Moral und Recht, S. 117.) Für Klara Obermüller wiederum ist Roths Aufschreibetätigkeit von Bergers Erinnerungserzählungen Teil einer mit dem Theologen Johann Baptist Metz gedachten „anamnetischen Kultur“. (Vgl. Obermüller: Unterirdische Landschaften, S. 39.) 875 Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 16. <?page no="339"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 335 Spannungsfeld von staatlicher Re-Demokratisierung und familiärem Beschweigen der NS-Zeit aufgewachsen: Die Reaktion auf dieses double bind war eine aggressive Wendung gegen die Eltern und die Gesellschaft, die sie repräsentierten; den Widerstand, den die Eltern 1933 [in Österreich 1938; G. L.] nicht geleistet hatten, holten die Kinder zeitverschoben 35 Jahre später an ihnen nach. 876 Die Geschichte der Dunkelheit ist kein direktes Dokument dieses zeitverschobenen Widerstands - und in Österreich fand dieser Widerstand noch einmal zeitlich verschoben im Vergleich mit Deutschland eher ab den 1970er Jahren statt. Das Buch kann aber im Sinne Assmanns im Zusammenhang mit den Spätfolgen von 68, verstanden als konsequente Konfrontation mit der NS-Zeit ab den 1980ern, eingeordnet werden. Es ist der Versuch, sich von der Involvierung der Eltern in das Nazi-Regime zu distanzieren und einen neuen Dialog mit den Opfern des Nationalsozialismus, das heißt mit den Opfern der Eltern, zu beginnen. Jedoch ist es bei Roth eine Distanzierung über Umwege. Einen „Väterroman“, eine in den 1970ern und 80ern häufige Gattung, in der es um den „Bruch“ im Sinne einer „Konfrontation, [...] Auseinandersetzung, [...] Abrechnung mit dem Vater“ ging, 877 hat er in den Zyklus nicht inkludiert und auch nicht geschrieben. Unter Umständen kann zwar Lindners Vater als Stellvertreter gelten, aber für die Auseinandersetzung mit einer Generation, nicht mit dem eigenen Vater, dafür sind die Unterschiede zwischen dem realen Grazer Arzt und dem fiktiven südweststeirischen Imker dann doch zu groß. Die eigene Familie machte Gerhard Roth lange Zeit nur, was den sozialdemokratischen Großvater als Identifikationsfigur betraf, zu einem literarischen Thema. Erst 2007 legte Roth seinen autobiographischen Roman Das Alphabet der Zeit vor, der sich dem seit den 1990ern boomenden Genre des (neuen) Familienromans zuordnen lässt und in dem Roth seine eigene Ich- Werdung mit dem familiären und gesellschaftlichen Umfeld in Beziehung setzt. Hier geht es weniger um Abgrenzung von den Eltern, sondern um das Verstehen der Zusammenhänge. Punktgenau passt deshalb auf Das Alphabet der Zeit Assmanns Analyse der Besonderheiten des Genres „Familienroman“, der stärker von Recherchen angetrieben und mit Materialien aus dem Familienarchiv und anderen Dokumenten durchsetzt [...] [ist]. Diese Mischung von 876 Ebenda, S. 62. 877 Ebenda, S. 73. <?page no="340"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 336 Stimmen und Textsorten ist ein neues literarisches Moment, das den Familienroman zu einer hybriden Gattung macht, welche die klaren Grenzen von Fiktion und Dokumentation unterläuft. Während die Figur des Ich-Erzählers in der Väterliteratur von einem starken Abgrenzungswillen bestimmt war, stellt sie sich im Familienroman eher als eine suchende, erleidende, deutende und lernende dar. 878 Während Ausrichtung und Intention des Kerntextes der Geschichte der Dunkelheit gut nachvollziehbar sind, wirkt die fiktionale Rahmung nicht zwingend notwendig. Es scheint, dass sie einzig den Zweck hat, den Text in den Zykluskontext einzupassen. In dieser Rahmung schreibt ein Schriftsteller-Ich, das sich als Gerhard Roth identifizieren lässt, von seiner Freundschaft aus Studientagen mit dem Arzt Ascher. Diese Figur des Arztes Ascher wird simplifizierend dargestellt, indem es zum Beispiel heißt: „Und immer wollte er Auskünfte, Auskünfte über die politische Entwicklung, das Leben unter den Bauern - vor allem aber über die österreichische Geschichte, den ,verdrängten Alptraum‘, wie er sagte.“ (GD 7) Aber ebenso zeigt die Schriftstellerfigur selbst nur die Oberfläche: In Wien fing ich an, Artikel zur Politik und Geschichte Österreichs für deutsche Zeitungen zu schreiben, woraus man mir später den Vorwurf des Landesverrates machte, als würde es in Österreich Zeitungen geben, für die man als freier Schriftsteller arbeiten kann, ohne unter die Armutsgrenze zu fallen. (GD 8) 879 Über eine komplizierte, aus Kenntnis von Der Stille Ozean und Landläufiger Tod nicht nachvollziehbare Konstruktion wird dann der Übergang vom Land in die Stadt inszeniert, der doch schon in Am Abgrund und Der Untersuchungsrichter vollzogen worden war: Ascher habe vor seiner Arbeit im LKH Graz in Wien gearbeitet, wo er noch eine Wohnung gehabt hätte, in die das Schriftsteller-Ich gezogen, während Ascher in dessen Haus übersiedelt sei. 878 Ebenda. 879 Die schwierige finanzielle Situation Roths zu jener Zeit, von der mir der Autor in einem persönlichen Gespräch ausführlich berichtet hat, ist wichtig für ihn als schreibenden Menschen; sie sagt auch über die Produktionsbedingungen der letzten Zyklusteile, ja generell über die Produktionsbedingungen von Literatur einiges aus. Für das Verständnis des im Zentrum des Buches Stehenden, Karl Berger, und dessen Leben spielt sie keine wesentliche Rolle, ihre Erwähnung an dieser Stelle passt also nicht richtig in den Kontext der Leiden des Shoah-Überlebenden. Das gilt auch für die Thematisierung von Aschers Schuld, die im Prolog im Zusammenhang mit dem Kunstfehler Aschers erfolgt, der sich hier Selbstvorwürfe macht, die in Der Stille Ozean fehlen: „Wie man es auch drehe und wende, es sei Mord gewesen.“ (GD 8) <?page no="341"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 337 Etwas umständlich wirkt schließlich auch der autorpoetische Schlusssatz des Prologs: „Ich gebe diese für das Lesen übersetzten Aufzeichnungen ohne große Änderungen wieder, weil ich glaube, daß Bergers Berichte so modellhaft sind, daß sich die Grenzen zwischen Dokument und Literatur in ihnen aufheben.“ (GD 10) Die Form wird hier also über den Inhalt erklärt, die Literatur könne den Berichten Bergers nichts hinzufügen, sondern nur wegnehmen. Warum sich aber die Grenzen zwischen dem Dokumentarischen und dem Literarischen in diesen Berichten mehr aufheben sollen, als in allen anderen Oral-History-Protokollen zur Shoah, die von der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten angefertigt wurden, bleibt hier offen. Abgesehen davon ist Bergers Bericht insofern eine weniger „modellhafte“, als besondere Überlebendengeschichte, weil Berger nicht nur vor Auschwitz fliehen konnte - obwohl sein ganzes Leben um Auschwitz kreist und von Auschwitz bestimmt ist -, sondern eben auch, weil er wegen seiner besonderen Verbindung mit dem Ort nach Wien zurückgekehrt ist: Immer wieder fragte ich mich, was mich wieder nach Wien geführt hatte, und ich kam zu dem Ergebnis, daß es meine Wurzeln sind: vor allem die Sprache, aber auch die Stadt und ein gewisses Heimatgefühl. Die Juden waren zwar verschwunden und die Nichtjuden mir fremd geworden - aber die Parkanlagen, die Straßen, der Kahlenberg, die Donau ... Sie sind auch ein Teil der Heimat, nicht nur die Menschen. (GD 139) Der fiktive Karl Gockel hingegen kommt zunächst zwar aus Mauthausen ins Dorf, verlässt dieses aber, wie schon erwähnt, schlussendlich für immer. Uwe Schütte führt gegen Kritik, welche zur „Modellhaftigkeit“ der Geschichte der Dunkelheit geäußert wurde, 880 jedoch an, „daß es - von Autor und Zeitzeugen - wohl zuviel verlangt wäre, eine so komplexe wie gewalt(tät)ige historische Katastrophe wie den Holocaust im Lebenslauf eines einzelnen Opfers umfassend widerzuspiegeln.“ 881 Roth habe außerdem deshalb das Leben eines Wiener Remigranten erzählt, weil er den spezifischen Antisemitismus der österreichischen Hauptstadt und sein Weiterleben nach 1945 darstellten wollte, wie ihm auch die schwierige Lage der Emigranten ein Anliegen gewesen sei. 880 Cramer bemerkt zu Roths Satz von der Modellhaftigkeit seines Berichts lapidar: „Das bleibt eine Absichtserklärung.“ (Cramer: Das Gedächtnis ist die letzte Instanz von Moral und Recht, S. 117.) Und stellt weiters fest: Die Geschichte der Dunkelheit „dringt nicht zu den Grundlagen der Geschichtserfahrung dieses Jahrhunderts vor: der technischen Rationalität des faschistischen Totalitarismus und der Perversion menschlicher Vernunft, dem Zusammenbruch aller zivilisatorischen Sicherungen und der Instrumentalisierung ihres Wissens durch den Terror.“ (Ebenda, S. 117-118) 881 Schütte: Auf der Spur, S. 260. <?page no="342"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 338 Der Epilog der Geschichte der Dunkelheit hat einen versöhnlichen Ton und enthält die nicht mehr in den Kerntext eingeflossenen weiteren Entwicklungen im Leben des Karl Berger. Hinzu kommen einige Überlegungen zum Verhältnis vom Guten und Bösen in der Welt, angestellt anhand des Weltgerichtstriptychons von Hieronymus Bosch, das die Schriftstellerfigur und Karl Berger in der Akademie der Bildenden Künste gemeinsam betrachten. Berger sagt zu diesem Bild: „Die Erde ist die Hölle“. (GD 156) An diesem Zitat zeigt sich, inwiefern Roth literarische Verfahrensweisen in diesem „Bericht“ angewandt hat, wird doch das von Berger als Kind gespielte „Tempelhüpfen“, bei dem man die „Hölle“ überspringen muss, im „Himmel“ aber auf beiden Beinen stehen darf (vgl. GD 18), hier metaphorisch wieder aufgegriffen. Es handelt sich dabei um ein Leitmotiv, das ebenso auf dem Cover der Taschenbuchausgabe zu finden ist und das schon anklingt in der Formulierung Karl Gockels, der die gesamten Schrecken Mauthausens als „gewissermaßen den Grundriß der Hölle“ (LT 560) bezeichnet. Solche Bilder können aktualisiert werden, wenn Alois Jenner - ein Täter - feststellt: „Die Menschheitsgeschichte ist nichts anderes als eine Geschichte von Verbrechern und Mördern.“ (LT 73) Jenner steht übrigens im Zentrum eines einige Zyklusbände übergreifenden und damit das interzyklische Bezugssystem mitkonstituierenden Narrativs, das gleich zu Beginn des Epilogs der Geschichte der Dunkelheit einem vorgeblichen Ende zugeführt wird: „In einem der vielen Prozesse, die ich sah, stand ein Jusstudent aus dem Dorf vor Gericht, Alois Jenner. Er war wegen Mordes angeklagt.“ (GD 155) Man könnte also meinen, Schuld würde einmal beglichen, die Täter der gerechten Strafe zugeführt - ein Lichtstrahl am Ende der Geschichte der Dunkelheit gewissermaßen. Im Orkus-Zyklus aber wird diese Hoffnung wieder enttäuscht, denn in Der See liest der Untersuchungsrichter Sonnenberg einen Standard-Artikel, in dem von einem Rechtsanwalt Jenner die Rede ist: „Und wissen Sie, was daran Besonderes ist? “ Eck sah, daß Sonnenbergs Hand mit der Zeitung heftiger zitterte. „Ich habe als Untersuchungsrichter versucht, Jenner wegen Mordes zur Strecke zu bringen. Aber vor Gericht reichten die Beweise nicht aus.“ 882 In Der Strom tritt Jenner ebenfalls als Anwalt auf, in Das Labyrinth ist er sogar Staatssekretär, während Lindner in diesem Buch schließlich zu Tode kommt. 882 Roth: Der See, S. 229. <?page no="343"?> 3.5 Opfer-/ Tätergedächtnis 339 Die leicht positive Grundierung, die aus dem Epilog ablesbar war, wird also im späteren Werk vollständig zurückgenommen. Gerhard Roth hat zwei semi-fiktionale Texte (Prolog und Epilog) um seinen „Bericht“ gelegt, die meines Erachtens an Qualität den im dritten Teil dieser Studie analysierten Prosastücken aus dem „Mikrokosmos“-Buch von Landläufiger Tod nicht gleichkommen. Für die Erfüllung des indirekten (halbironisch geäußerten) Wunsches des Autors, dass Die Geschichte der Dunkelheit Schullektüre wird, 883 stellt diese zyklisierende Rahmung, die für mit dem Kontext der Archive des Schweigens nicht Vertraute eine Lektüre-Schwelle sein könnte, wohl eher ein Hindernis dar. 884 Im tiefen Österreich und Eine Reise in das Innere von Wien kommen ohne eine solche Rahmung aus und fügen sich dennoch nahtlos in den größeren Zykluskontext ein. Außerdem wären über den Essay „Leopoldstädter Requiem“ und die Fotografien von Karl Berger in Eine Reise in das Innere von Wien direkte narrative und intermediale Verbindungen zu zumindest einem weiteren Zyklusband vorhanden gewesen. Die Geschichte der Dunkelheit wäre also auch ohne diese Zyklisierungspassagen gut in den gesamten Zyklus einpassbar gewesen. Ein Ausweg wäre - wir betreten den Bereich des Spekulativen -vielleicht eine Bezugnahme auf „Gockel“ gewesen sowie eine autorpoetische Auskunft, welche die Intentionen des Autors, die Schwierigkeiten beim Schreiben des Buches und sein Selbstverständnis als sekundärer Zeuge offen legt. Jedenfalls aber ist die für Roths Werk ungewöhnlich unentschiedene Rahmung der Geschichte der Dunkelheit auch ein Ausdruck der sehr reflektierten, intellektuell wie emotional anspruchs-/ beanspruchungsvollen und gerade deshalb besonders schwierigen und vielfältige Probleme aufwerfenden Herangehens- und Arbeitsweise des Autors: Die Geschichte der Dunkelheit demonstriert paradigmatisch die eminenten Komplikationen, die sich gerade für einen nicht-jüdischen Schrif[t]steller ergeben, der sich dem Thema des Holocaust stellt. Die aus der emotionalen Be- 883 Das antwortete Roth auf eine diesbezügliche Frage Günther Fischers mit der Begründung: „Weil sie selbst von Dummköpfen verstanden werden könnte, wenn sie es nur wollen.“ [Gerhard Roth und Günther Fischer: Ein Werkstattgespräch. In: Fischer (Red): Gerhard Roth, S. 3-9, hier S. 9.] 884 Paulus Hochgatterer schreibt kritisch und Roths Intentionen ausblendend zur Geschichte der Dunkelheit: „Wüßte man nicht von Elend, von Vernichtung und vom schwer Begreiflichen, so würde man das Buch als ein Geschichtslehrbuch für schlechte Schüler bald auf Nimmerwiederlesen ins Regal stellen. Gottseidank weiß man und fragt sich.“ (Hochgatterer: Opus Ultimum - Eine Vertrocknung, S. 103.) <?page no="344"?> 3 Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ 340 lastung Roths resultierende Verzögerung im Vorfeld der Arbeit und seine intensive Suche nach einer geeigneten Form legen dafür ein beredtes Zeugnis ab. Daß Roth sich den Problemen stellte, ist so nicht das geringste Verdienst seines Buches. 885 885 Schütte: Auf der Spur, S. 273. <?page no="345"?> 4 Raum und Gedächtnis Laut Wendelin Schmidt-Dengler spielt in den Archiven des Schweigens „der Raum eine prägende Rolle“. 886 Die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Raum im Umfeld des spatial turn/ der spatialen Wende reicht nun von der Doris Bachmann-Medick’schen Auffassung des „Raum[es] […] nicht in erster Linie als Diskursproblem […], sondern als soziale[r] Konstruktion“ 887 - eine auch Gerhard Roth nicht fremde Annahme: „Der Raum ist eine menschliche Konstruktion.“ (UR 54) - bis zu einem von Sigrid Weigel formulierten Verständnis von Raum „als Signatur materieller und symbolischer Praktiken.“ 888 Der Diskurs zum Raum ist ergo ein breit geführter: Autoren wie Michel de Certeau, der in Kunst des Handelns von einer panoptischen Lektüre großstadt-räumlicher Geh-Praktiken seine Raumtheorie entwickelt, oder Michel Foucault, der mit seiner im Aufsatz „Von anderen Räumen“ getroffenen Feststellung, „[u]nsere Zeit ließe sich […] als Zeitalter des Raumes begreifen“ 889 und seinem Konzept der Heterotopien als einer der Auslöser des spatial turn bezeichnet werden kann, haben fruchtbare Ansatzpunkte zur Verfügung gestellt. Analysevarianten und Untersuchungsperspektiven auf den Raum sind ebenso bei Pierre Bourdieu mit seinen Arbeiten zum sozialen und symbolischen Raum, Henri Lefèbvre mit der in der Produktion des Raums formulierten These einer „Trias von Ebenen sozialer Räumlichkeit“ 890 (nämlich räumliche Praxis, Raumpräsentationen und Repräsentationsräume) 891 oder auch Gaston Bachelards Poetik des Raumes und Walter Benjamins Auseinandersetzung mit dem (großstädtischen) Raum im Passagenwerk zu finden. In Bezug auf spezifische Auseinandersetzungen mit literarischen Räumen ist beispielsweise Michail Bachtins schon erwähntes Konzept des Chronotopos zu nennen. Zurecht schreibt also Karl Schlögel: „Die Quellen 886 Schmidt-Dengler: Wie aus vielen Teilen auch ein Ganzes wird, S. 27. 887 Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 284. 888 Sigrid Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München: Wilhelm Fink 2004. S. 241. 889 Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Dünne/ Günzel: Raumtheorie, S. 317-327, hier S. 317. 890 Jörg Dünne: Einleitung: Teil IV. Soziale Räume. In: Dünne/ Günzel: Raumtheorie, S. 287-303, hier S. 298. 891 Vgl. Henri Lefèbvre: Die Produktion des Raums. In: Dünne/ Günzel: Raumtheorie, S. 330-340, hier S. 333. <?page no="346"?> 4 Raum und Gedächtnis 342 des spatial turn sprudeln reichlich, und der von ihnen gespeiste Strom ist mächtig - mächtiger als die Dämme und Barrieren der Disziplinen.“ 892 Der Relevanz des Raumes für die Archive des Schweigens wie für Landläufiger Tod wurde nun in dieser Studie bereits in einigen Kapiteln, vor allem in den Analysen von „Auf dem Schneeberg“, „Letzte Kriegstage“ und „Das Verstummen des Jünglings im Feuerofen“, analytisch nachgegangen. Insbesondere in „Letzte Kriegstage“ wurde die historische Aufladung konkreter Orte in den Blick genommen. Für eine solche geschichtswissenschaftliche Anwendung des spatial turn ist der eben zitierte Karl Schlögel mit seinem Buch Im Raume lesen wir die Zeit ein wichtiger Proponent. Der deutsche Historiker gibt zwar zunächst forschungspragmatisch an, es habe sich für ihn einfach „so ergeben, daß sich eine um den Geschichtsort kreisende Darstellung als die am meisten geeignete Form der Vergegenwärtigung von Geschichte herausgestellt hat.“ 893 Im Anschluss liefert er aber eine von zwei weltpolitischen Ereignissen ausgehende Deutung für die Entstehung des spatial turn, verweist auf das Innovationspotential einer Fokussierung auf den Raum und belegt, vielleicht so nicht unbedingt gewollt, gleichzeitig und als fast ebenso wichtig die Wende zum Erzählen in den Kulturwissenschaften: Es ist die geschichtliche Situation nach 1989 und nach dem 11. September 2001, die dafür gesorgt hat, daß die räumlichen Aspekte des Politischen schärfer gesehen und neu bedacht werden. Wer will, kann das als spatial turn bezeichnen, aber wichtiger als die Arbeit an einer aparten Geschichte des Raumes ist etwas anderes: die Erneuerung der geschichtlichen Erzählung [Herv. G. L.] selbst. 894 Für Schlögel deutet es sich aus wissenschaftstheoretischer Perspektive an, dass der raumtheoretische Zugang „zum Punkt der Reorganisation, zur Neu- Konfiguration der alten Disziplinen - von Geographie bis Semiotik, von Geschichte bis Kunst, von Literatur bis Politik - werden wird.“ 895 Eines der multidisziplinärsten Fächer ist nun die Gedächtnisforschung, für welche laut Nicolas Pethes der Raum in zweierlei Hinsicht zentral ist. 896 Zum einen gibt es eine von Jan Assmanns Buch Das kulturelle Gedächtnis ausge- 892 Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 12. 893 Ebenda, S. 10. 894 Ebenda, S. 12. 895 Ebenda. 896 Vgl. Nicolas Pethes: Diesseits der Leitha, jenseits der Lethe. Zehn Thesen zum Raumkonzept der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. In: Amália Kereks (u. a.) (Hg.): Leitha und Lethe. Symbolische Räume und Zeiten in der Kultur Österreich- Ungarns. Tübingen, Basel: Francke 2004 (Kultur - Herrschaft - Differenz 6). S. 1-18. <?page no="347"?> 4 Raum und Gedächtnis 343 hende Strömung, die sich auf konkrete Orte wie Landschaften, Städte, Museen, Archive, Denkmäler, Straßennamen etc. konzentriert, die als „Mnemotope“ verstanden werden: Jede Gruppe, die sich als solche konsolidieren will, ist bestrebt, sich Orte zu schaffen und zu sichern, die nicht nur Schauplätze ihrer Interaktionsformen abgeben, sondern Symbole ihrer Identität und Anhaltspunkte ihrer Erinnerung. Das Gedächtnis braucht Orte, tendiert zur Verräumlichung. 897 Zum anderen ist es die Verräumlichung der Erinnerung in der antiken Mnemotechnik, welche die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung fasziniert. Bei beiden Paradigmen geht es nun um die Sicherung von Gedächtnis im Raum und die Sicherung von Erinnerung in der Verräumlichung. Daraus ergibt sich folgende These: „Räume, symbolische wie reale, scheinen die Kontinuität und Identität des kollektiven Gedächtnisses zu gewährleisten.“ 898 Nicolas Pethes stellt diese These von der über ihre räumliche Ausprägung erfolgenden Stabilität der Inhalte des kulturellen Gedächtnisses und der Mnemotechnik mit einer Reihe von Gegenthesen in Frage 899 und macht stattdessen den Vorschlag, „den Anteil des Vergessens in räumlichen Gedächtnismodellen verstärkt zu berücksichtigen.“ 900 Für ihn gilt: Räume, die von Kollektiven als Bezugspunkt ihrer gemeinsamen Geschichte gewählt werden, sind aufgrund der steten Redefinition dieser Geschichte(n) nicht allein Schauplatz von Erinnerungsritualen, sondern zugleich der Ort aller vergangenen und abweichenden Besetzungen, weswegen der Forschung zum kulturellen Gedächtnis die Frage nach der Möglichkeit des Vergessens in Räumen aufgegeben ist. 901 Im nun folgenden letzten Teil dieser Studie wird der Verschränkung von Raum und Vergessen in dem Kapitel „Die Vergessenen“, das von einer Lektüre des gleichnamigen Märchens seinen Ausgang nimmt, unter anderem unter 897 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 39. 898 Pethes: Diesseits der Leitha, S. 3. [Alle Zitate kursiv im Original; G. L.] 899 Pethes Thesen lauten: das Gedächtnis ist nicht per se räumlich, sondern zeitlich organisiert (vgl. ebenda, S. 4); Räume erfüllen „die Funktion einer quasinatürlichen Metametapher des Gedächtnisses“ (ebenda, S. 6); aus mnemotechnischer Perspektive geht es nicht um „reale Topographien“, sondern um „den imaginativen Entwurf von Raumstrukturen“ (ebenda, S. 7) zu didaktischen Zwecken (vgl. ebenda, S. 9); die Rolle der Interpretation von Gedächtnisräumen destabilisiert ihre Speicherfunktion (vgl. ebenda, S. 10-11) ebenso tut dies ihre praktische Nutzung (vgl. S. 12-13); Raum ist zwar geographisch stabil, symbolisch jedoch wandelbar (vgl. S. 13); Gedächtnisräume sind nicht homogen, sondern weisen auch abweichende Bezüge auf (vgl. S. 15-16). 900 Ebenda, S. 3. 901 Ebenda, S. 17. <?page no="348"?> 4 Raum und Gedächtnis 344 einer metaethnographischen Perspektive nachgegangen. In den beiden anderen Kapiteln, „Machtorte des Gedächtnisses“, einem close reading des Textes „Der Tod des Generals“ aus dem vierten Buch von Landläufiger Tod, und „Archive in den Archiven des Schweigens“ werden aber konkrete Orte, „Mnemotope“ sensu Jan Assmann, in den Blickpunkt genommen, wobei auch die mnemotechnische, metaphorische Lesart von Gedächtnisräumen Berücksichtigung finden wird. <?page no="349"?> 4.1 Machtorte des Gedächtnisses 345 4.1 Machtorte des Gedächtnisses: „Der Tod des Generals“ Die Analysen dieses Kapitels nehmen ihren Ausgang von dem zentralen Machtakteur im dörflichen Mikrokosmos, General Napoleon von Kniefall. Dieser tritt wie der automatische Mensch in einer Reihe von Texten in Landläufiger Tod auf, wird ergo multiperspektivisch - eher konsonant als dissonant, eher kohärent als inkohärent - erzählt. Während nun aber der automatische Mensch nur in der seine Geschichte abschließenden Erzählung der Tante („Der Fall des Gendarmeriekommandanten“, LT 573-574) einen eigenständigen textuellen Raum erhält, wird dem General insgesamt eine höhere textuelle Signifikanz beigemessen. 902 Diese beiden Figuren sind nun, worauf weiter unten ausführlicher eingegangen wird, über ein Machtnarrativ miteinander verbunden. Das zeigt sich schon bei einer Perspektivierung der Textoberfläche, das heißt der äußerlichen Anordnung der Texte, da nämlich die Lösung des Rätsels des Gendarmeriekommandanten und die gewünschte Verteilung des Vermögens des Generals auf einer Seite des Romans an einer strukturell aufschlussreichen Stelle stehen, nämlich als drittletzter und vorletzter Text von „Mikrokosmos“. 903 Der Text zum General beinhaltet sein „Testament“ und lautet: Das Testament des Generals Testament „Ich vermache mein gesamtes Vermögen der Geschichte.“ gez. Napoleon von Kniefall General des 6. k.u.k. Luftregiments 902 Texte mit der Figur des Generals als wichtigem Akteur sind unter anderem „Die Vorspiegelung“ (LT 198-201), „Das Antlitz der Sterne“ (LT 227-230), „Der General greift ein“ (LT 242-244), „Eine Abenteuergeschichte“ (LT 296), „Die Befestigungsanlage“ (LT 304-306), „Apoplexie“ (LT 318-319), „Eindrücke von einer Raubtierfütterung“ (LT 386-390), „Der Zahnreißer“ (LT 476-477), „Der Tod des Generals“ (LT 581-589). Außerdem kommen Generalsfiguren zum Beispiel in den Märchen „Die verzagten Soldaten“ (LT 618), „Der Gesang der Nachtigall“ (LT 632-634), „Der Sohn des Generals“ (LT 687-691) und „Der Riß in der Welt“ (LT 729-731) vor. Eine Rolle spielt der General auch in der Dorfchronik zum „Landläufigen Tod“ (vgl. DLT 13-14, 29-30, 50- 51, 74-75, 97). Im fünften Buch von Am Abgrund, „Aus Lindners Papieren“, gibt es die in Steinhof spielende Vignette „Zwei Generäle“ (AA 168). 903 „Mikrokosmos“ schließt mit dem letzten Teil seines einzigen durchgängigen, chronologischen Narrativs, nämlich des von Alois Jenner erzählten „Die Schilderung des Freundes (Schluß)“ (LT 574-576). <?page no="350"?> 4 Raum und Gedächtnis 346 am 26. Mai 1918 (LT 573) 904 Positionierungen im textuellen Raum wie auch der Raum in den Texten selbst sind für eine Analyse der Figur des Generals - wie bei jener des automatischen Menschen - von großer Relevanz, gerade auch, weil sie miteinander verschränkt sind. So steht nicht nur an drittvorletzter, sondern ebenso an dritter Stelle von „Mikrokosmos“ ein Text zum General, und zwar „Die Vorspiegelung“ (LT 198-201), in dem das Schloss des Generals ausführlich beschrieben wird. Bei diesem Schloss handelt es sich um einen mit Geschichte ebenso wie mit Macht aufgeladenen Ort, der teleologisch auf den Untergang seines Herren ausgerichtet ist. Dieser finale Zusammenbruch des alten Generals und mit ihm der alten Ordnung wird dann in dem ersten der zwei Texte des vierten Buches „Aufbruch ins Unbekannte“, „Der Tod des Generals“, höchst vielschichtig inszeniert, wobei übrigens der zweite Text des vierten Buches, „Zwischen Himmel und Erde“, 905 ebenfalls von einem Tod erzählt. Doch während es sich hier um den tragi-komisch-phantastischen und finalen Tod des Generals handelt, wird dort vom möglichen, imaginären, imaginierten, in-finiten Tod des Gehilfen des Leichenbestatters berichtet, der am „Tag nach dem Tod des Generals“ (LT 590) im Erdboden versinkt und daraufhin eine wunderbare, mythologisch angereicherte Reise macht, die ihn - so die Kapitelnummerierung - von „a“ bis „o“ führt, von Alpha bis Omega also, vom Anfang bis zum Ende. Sibylle Cramer deutet diese Textkonstellation, diese textuelle Schnittstelle zwischen drittem, viertem und fünftem Buch als Hinweis auf das Sterben des Dorfes selbst: Der Autor rückt diesen Sachverhalt auch formal ins Zentrum des Romans. Auf seiner Achse, im archimedischen Punkt von Rekonstruktion und Destruktion, korrespondieren zwei Sterbeszenen. Hier stirbt der Untertan, dort sein Regent. [...] Das ist das Innenbild und die psychische Ansicht eines Abschieds, dessen historisch repräsentativste Form der Autor in das verfallene Schloss des alten Feldherrn verlegt. Dort stirbt der General [...], und mit ihm stirbt die feudale Ständegesellschaft des k.u.k. Österreich, der das Dorf seine Identität verdankte. 906 Cramers Feststellung deckt sich mit Ulrich Greiners bereits einige Jahre vor der Publikation von Landläufiger Tod geschriebenem Satz: „In der österrei- 904 Vgl. dazu: „372 Den Trommelrevolver in der Hand, befiehlt der General das Verbrennen der Testamente“ (LT 173). 905 Es heißt eben nicht zwischen „Himmel und Hölle“, da ja dieser Text, wie in dieser Studie schon erwähnt, als Pendant zu Dantes Paradiso gedacht war. 906 Cramer: Das Gedächtnis ist die letzte Instanz von Moral und Recht, S. 115. <?page no="351"?> 4.1 Machtorte des Gedächtnisses 347 chischen Literatur stirbt noch immer der habsburgische Mythos.“ 907 „Der Tod des Generals“ kann als ein hierfür paradigmatischer, sinnbildlicher Text rezipiert werden, der an zentraler Stelle des Romans gesetzt ist. Wobei generell der vom italienischen Germanisten Claudio Magris 1963 in seiner Dissertation konstruierte und postulierte „habsburgische Mythos“ 908 in der österreichischen Literatur eine nicht unwesentliche Folie für die Analyse des Generals abgibt. Während darauf aber an den gegebenen Stellen dieses Kapitels eingegangen wird, konzentrieren wir uns nun noch auf weitere Implikationen des Sterbens des Generals. Der für Cramer über den Tod des Generals mit-symbolisierte Untergang des ländlichen Lebens wird in W. G. Sebalds Lektüre von Landläufiger Tod noch etwas weiter gedacht: Wir aber verstehen beim Lesen bald schon, daß sie [die Dorfbewohner; G. L.] von der Idylle ländlicher Existenz, die es ohnehin nie gegeben hat, nicht nur Lichtjahre entfernt, sondern vielmehr vom Aussterben bedroht sind und in ihrer gefährdeten kollektiven Existenz ein anthropologisches Paradigma vom Ende der Menschheitsgeschichte repräsentieren. 909 Diese zentrale These von Sebald, dass Gerhard Roth „die Geschichte der Menschheit nur als eine besonders virulente und vielleicht die letzte Phase der Naturgeschichte begreift“, 910 kann nun im Hinblick auf die Figur des Generals in folgende Fragen umgewandelt werden: Muss das Sebald’sche „Ende der Menschheitsgeschichte“ - verstanden als Teil der Naturgeschichte - als Untergang gelesen werden, zu dem gehört, dass die beim Tod des Generals davonziehenden Vögel, wie es heißt, „die Zeit mit sich genommen“ (LT 585) haben, und der angezeigt wird über das Wort „Ende“ (LT 588), das die Ringelnattern auf dem Schlossboden bilden? Oder handelt es sich hier um ein „Ende der Geschichte“ sensu Francis Fukuyama, der nach der Wende in Zentral- und Osteuropa 1989 aufgrund eines Mangels an Alternativen (in Bezug auf politische Systeme) eine Menschheitsgeschichte ohne weitere große Veränderungen oder Umbrüche, eingebettet in eine von stabilen Demokra- 907 Greiner: Der Tod des Nachsommers, S. 52. 908 Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Wien: Paul Zsolnay 2000. Magris’ These wird immer noch zitiert sowie literaturkulturwissenschaftlich de- und rekonstruiert, ohne etwas von ihrer simplifizierenden Prägnanz eingebüßt zu haben. 909 Sebald: In einer wildfremden Gegend, S. 171. 910 Ebenda, S. 172. <?page no="352"?> 4 Raum und Gedächtnis 348 tien getragene freie Marktwirtschaft erwartet hatte? 911 In zweiterem Sinne wäre dann die Postmoderne als Posthistoire 912 aufzufassen und der General als am Ende der großen Geschichtserzählungen stehend beziehungsweise diese beendend. Das Ende kann aber ebenso bedeuten, dass es keinen Erben gibt, der die Familien-Geschichte fortführen könnte. Der Sohn des Generals ist nämlich von Geburt an schwach, leidet an der Bluterkrankheit (vgl. LT 687), sieht aus wie „ein abgerissener Vogel“ (LT 687), wird schließlich, nachdem er einen Vogelhändler ermordet, mithilfe einer magischen Feder unsichtbar und schlussendlich in der Gestalt eines Fasans vom Himmel geschossen (vgl LT 691). 913 Dies alles wird allerdings in dem Märchen „Der Sohn des Generals“ vom letzten verbliebenen Dienstboten des Generals erzählt, das übrigens mit dem Zusatz endet: „Soviel man weiß, hatte der General aber nie einen Sohn.“ (LT 691) Die Kontinuität ist jedenfalls gebrochen, das Familien- Gedächtnis ist so wie das Schloss und sein Herr dem Verfall anheim gegeben. Die Figur des Sohnes als Nichterbe gibt es auch in Thomas Bernhards Erzählung „Ungenach“ und in den Romanen Verstörung und Auslöschung. Ulrich Greiner schreibt über die beiden Sohn-Figuren der zwei erstgenannten Texte: Sie leben auf Landgütern und Burgen und zehren vom Erbe ihrer Väter. Dieses Erbe aber erweist sich als drückende Last, als unerträgliche Bürde, der die Söhne nicht entgehen. Wo es nicht von selber verfällt, versuchen sie, das zerstörende Erbe zu zerstören. 914 911 Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? A. d. Amerik. v. Helmut Dierlamm. München: Kindler 1992. Übrigens könnte man die Globalisierung als eine neue große Erzählung (im Lyotard’schen Sinne) verstehen - mit den Suberzählungen Neoliberalismus und Neokonservatismus - die in der 2008 einsetzenden Weltwirtschaftskrise eine Zäsur, wenn auch nicht ihr Ende gefunden hat. 912 Dieser Begriff wird häufig synonym mit Postmoderne verwendet, ist aber insofern treffender, als er - in einer Lesart - das Ende der Geschichte als Zeitlosigkeit im Sinne eines Endes der großen Erzählungen münzt, die ja auf Zeitlichkeit beruhen. Vgl. Eckart Voigts-Virchow: Posthistoire. In: Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 539-540. 913 Der Vogel ist das dem General zugeordnete Tier in Landläufiger Tod, dieses Märchen treibt die Vogelmetaphorik aber auf die Spitze. Helga Schreckenberger hat übrigens die verschiedenen Funktionen des menschlichen Tierwerdens in den Märchen von Landläufiger Tod besprochen, dabei auch das Märchen vom „Sohn des Generals“ angesprochen und festgestellt, dass sich hier wie in anderen Fällen „die Verwandlung in ein Tier als Strafe [erweist], [...] weil sie - wie in der Realität - Menschen zum Opfer fallen“. (Schreckenberger: „Man sieht an den Tieren immer die Grausamkeit des Menschen“, S. 198-199.) 914 Greiner: Der Tod des Nachsommers, S. 20. <?page no="353"?> 4.1 Machtorte des Gedächtnisses 349 Laut Greiner ist mit diesen Figuren „Geschichte am Ende“. 915 Wegen dieses Endes der Familiengeschichte kann die Dorfbevölkerung nach dem Tod des Generals Leichenfledderei betreiben, „die Räume [werden] vollständig geplündert [...]. Die Fensterscheiben waren zerbrochen, die wenigen Möbelstücke entfernt, die goldenen Armaturen abmontiert.“ (LT 588) Vielleicht gibt aber der Titel des vierten Buches die beste Antwort darauf, wofür der Tod des Generals steht: „Aufbruch ins Unbekannte“. Ganz abgesehen aber von der Frage der gesellschaftlichen Master Narratives kann, laut Cramer, für das literarische Großnarrativ Landläufiger Tod aus den Sterbeszenen im vierten Buch schließlich noch ein weiterer Schluss abgeleitet werden: „Versteckt und unsichtbar beginnt in diesem Augenblick ein drittes Sterben: der Weg des Erzählers in die geistige Umnachtung. Er zieht sich von der Außenwelt zurück, zu der Schritt für Schritt der Kontakt abbricht.“ 916 Wobei, das sollte hier angemerkt werden, dieses Sterben mit der „Entlassung aus der Anstalt“ (LT 581) beginnt und ebenso als Lindner’sche Befreiung von der Geschichte (über den Tod des Generals) und Weg ins Paradies entgrenzter (von der Anstalt) Phantastik „zwischen Himmel und Erde“ interpretiert werden kann. Über das in der Analyse der Positionierung der Sterbeszenen und anderer „Generals“-Texte skizzierte Ordnungssystem innerhalb eines auf den ersten Blick äußerst ,ungeordnet‘ wirkenden Textkonvoluts wird deutlich, dass Landläufiger Tod unter anderem über die Figur des Generals und dessen Schloss als Teil einer bis zu Grillparzer, Stifter und anderen zurückreichenden, von Walter Weiss 1975 beschriebenen, sich über „Ordnung als Bindeglied“ konstituierenden „literarischen Reihe innerhalb der österreichischen Literatur“ gelesen werden könnte. 917 Bestimmend für diesen Diskurs, der als literarhistorische Folie für die in diesem Kapitel vorgenommenen Analysen verwendet werden kann, sind: der unangefochtene Fortbestand oder die Erneuerung (Restauration) eines universalen ordo, der zwischen überzeitlich (ewig) und alt schillert; die Problematisierung der Ordnung als Oppression, als Negativum, als trügerischer Schein, als Versteinertes, Vergangenes, Abwesendes, und dabei doch wieder 915 Ebenda, S. 22. 916 Cramer: Das Gedächtnis ist die letzte Instanz von Moral und Recht, S. 115. 917 Walter Weiss: Thematisierung der „Ordnung“ in der österreichischen Literatur. In: Walter Strolz und Oscar Schatz (Hg.): Dauer im Wandel. Aspekte österreichischer Kulturentwicklung. Wien, Freiburg, Basel: Herder 1975 (Wort und Wahrheit). S. 19-44, hier S. 19. <?page no="354"?> 4 Raum und Gedächtnis 350 und trotz allem allgegenwärtiger letzter Maßstab; das Zurückweichen alter Ordnungen, Hand in Hand mit ihrer ästhetischen Verklärung. 918 Die von Weiss hier festgestellte Parallelität zweier auseinander strebender Bewegungen, die Vereinbarkeit des (und Vereinbarung mit dem) Unvereinbaren gilt ebenso für Gerhard Roths Darstellung des Generals und der mit dieser Figur zusammenhängenden Diskurse wie Orte, 919 wie sie auf das Strukturprinzip des gesamten Romans appliziert werden kann. Form und Inhalt, Narrative und Diskurse, Strukturen und Themenstellungen von Landläufiger Tod können aus dieser Perspektive als untrennbar miteinander verbundene Aspekte eines übergeordneten Un-/ Ordnungsmodus interpretiert werden. Wenn wir uns nun, nach diesen einführenden Bemerkungen, den Leitthemen dieser Studie, Gedächtnis und Erinnerung, zuwenden, so können in diesem Kapitel folgende Bereiche als relevant herausgearbeitet werden: Schloss und General werden im Hinblick auf eine Reihe von interessanten Fragestellungen zum Verhältnis von Gebäuden und Gedächtnis, von Macht und Mythos in der konkreten österreichischen Erinnerungskultur untersucht. Außerdem ist das Schloss von Landläufiger Tod über intertextuelle Relationen im Gedächtnis der österreichischen Literatur zu verorten, wie über intrazyklische Verbindungslinien über Eine Reise in das Innere von Wien mit Gebäuden wie dem Wiener Stephansdom in Bezug zu setzen. Auf der Figurenebene ist schließlich von Interesse, dass der General und sein Schloss nicht nur mit der Ohn-Machtsfigur des automatischen Menschen, sondern mit einem anderen räumlich ausgeprägten Machtzentrum narrativ verbunden sind, und zwar mit dem Zirkuszelt, das ein bewegliches und ständig auf und abgebautes, vom Zirkusdirektor regiertes Macht-Heterotop sui generis ist. 920 918 Ebenda, S. 30. 919 Lindner berichtet, dass um das Schloss „Büsche in Form eines Labyrinths angelegt waren, weshalb wir einige Zeit planlos herumirrten. [...] [B]is wir uns schließlich durch die Sträucher einen Weg bahnten.“ (LT 581) Im Schloss selbst verhält es sich nicht anders: „Wir wußten [...] nicht, wo der General auf uns wartete, auch wußten wir über die Anordnung der Räume nicht Bescheid, und die Vielzahl der Türen tat das Ihre, um uns mehr und mehr zu verwirren.“ (LT 581; Herv. G. L.) 920 Für das Zirkuszelt kann neben einigen anderen Parallelen mit Foucaults Heterotopen geltend gemacht werden, dass es jenen Orten zugezählt werden kann, die „einen illusionären Raum schaffen [sollen], der den ganzen realen Raum und alle realen Orte, an denen das menschliche Leben eingeschlossen ist, als noch größere Illusion entlarvt.“ (Foucault: Von anderen Räumen, S. 326.) <?page no="355"?> 4.1 Machtorte des Gedächtnisses 351 Das Schloss des Generals ist, um eine Formulierung Aleida Assmanns zu gebrauchen, „gebaute Geschichte“ 921 und somit materieller Speicher einer längeren Zeitperiode, als sie vom kommunikativen Gedächtnis des Dorfes, das zwischen 80 und 100 Jahre gespeichert hat, erfasst werden kann. Dieses Schloss und sein Bewohner wurden von Roth - eine nicht nur in Landläufiger Tod und den Archiven des Schweigens angewandte Methode - mit einer Vielzahl von Zeichen versehen, ja beinahe in einer gewissen Kleinteiligkeit übersemiotisiert. Die Beschreibungen der Interieurs sind von großer Detailliertheit und aus den Partikeln dieses Gebäudes ließen sich Erzählungen aus dem Gedächtnis des Schlosses, der Region, der Nation und des Erdteiles ableiten. Im dritten „Mikrokosmos“-Text „Die Vorspiegelung“ erhalten wir über die Perspektive Franz Lindners gewissermaßen als Einführung einen panoramatischen Blick auf das Schloss und die Geschichte seiner Besitzer, die ganz weit weg erscheinen und erst im Laufe des Textes über eine - an Fernglas und Mikroskop gemahnende - literarische Technik immer näher herangezoomt werden, wodurch aus der Außenschließlich eine Innenperspektive wird. Doch beginnen wir mit der anfänglichen Einstellung des Lindner’/ Roth’schen Kameraauges: Von meinem Standplatz aus kann ich weit über die Hügel sehen bis zu dem schmalen langgestreckten Schloß, in dessen südlichem Trakt jener einhundertsieben Jahre alte General lebt, mit Namen von Kniefall (denn sein Urgroßvater war als einziger Offizier der kaiserlichen Armee vor Napoleon auf die Knie gesunken und dafür von diesem mit dem angeführten Namen geadelt worden), jener General, der uns vor fünf Jahren in einem mit zittriger Schrift abgefaßten Brief einlud, besser vorlud, um uns den Vorschlag zu machen, Bienenmagazine in seinem Park aufzustellen und ihm dafür eine Abgabe zu entrichten, worauf wir letztlich eingingen. (LT 198-199) Dieser kurze und sachlich wirkende Absatz bietet eine Reihe bemerkenswerter Informationen: Nicht nur das Schloss übersteigt den Rahmen des nichtmateriellen dörflichen Gedächtnisses, auch der General selbst hat die durchschnittliche Dauer individueller Gedächtnisse bei weitem übertroffen, er ist mit 107 Jahren an der Grenze der für Menschen erreichbaren Lebensspanne angekommen, hat ein ,biblisches Alter‘, ist eine semi-mythologische Gestalt. Das zeigt sich deutlich in der einzigen Fotografie vom General, die von Franz Lindner gemacht wird, als der General das Zirkuszelt betritt und sich dabei vorstellt, dieses ginge in Flammen auf: 921 Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 12. <?page no="356"?> 4 Raum und Gedächtnis 352 Auf dem Abzug wird er [Lindner; G. L.] zu seinem Erstaunen feststellen, daß durch einen unerklärlichen Lichteinfall nur der Körper des Generals zu erkennen ist, während der Kopf und die Planen in Flammen aufgegangen zu sein scheinen. (LT 388) Natürlich gibt es zu dieser textuellen keine reale Fotografie in Im tiefen Österreich, allerdings gibt es dort sehr wohl das „,Schloß des Generals‘ in Spielfeld. Ich entdeckte es erst viel später - als ich es längst erfunden hatte.“ (ITÖ 118) Es handelt sich hier genau bedacht um keinen Zufall, sondern aufgrund der historischen Einschreibungen, der geschichtlich bedingten Markierungen der realen österreichischen Landschaften erscheint es zwingend, dass Roth ein Schloss in der Südweststeiermark findet, wie es aufgrund der symbolischen Markierungen der österreichischen Gedächtnislandschaften zwingend war, eines zu erfinden. Die fortlaufende Mythisierung des Generals findet schließlich ihren Höhepunkt in der im „Tod des Generals“ ausführlich geschilderten Sterbeszene, die von apokalyptischen (Natur-)Erscheinungen begleitet wird, welche an die übernatürlichen Begebenheiten beim Tod von Jesus Christus erinnern: Vogelschwärme verdunkeln den Himmel, starkes quellenloses oder von Löwenzähnen und Steinen abgesondertes Licht oder dichtes Schneegestöber ist in den Zimmern des Schlosses, verschiedenes Getier kriecht durch Ritzen in Mauern und Fußböden und verschwindet wieder etc. 922 Ähnlichkeiten gibt es noch mit einer anderen literarischen Figur, und zwar dem Diktator im Rang eines Generals aus Gabriel Garcia Marquez’ Roman Der Herbst des Patriarchen (1977), worauf Matthias Auer in seiner Zyklusstudie hingeweisen hat. Dieser General verstirbt „im unbestimmbaren mythischen Alter von 107 (! ) bis 232 Jahren“, die Einwohner des karibischen Staates verschaffen sich da-raufhin Zugang zum verfallenden Palast, finden aber nur noch den sich schon im Zustand des fortgeschrittenen Zerfalls befindenden Leichnam des Herrschers vor, ganz ähnlich wie in Gerhard Roths „Der Tod des Generals“. 923 Während nun die Überzeitlichkeit der Figur des Generals unter anderem über sein hohes Alter symbolisiert wird, verschränkt die Historie seiner Familie den Raum regionaler Geschichte mit der Weltgeschichte und einer ihrer 922 Schon während des langsamen Sterbens Jesu verfinstert sich die Erde, nach seinem Tod geschieht dann - laut Matthäusevangelium - Folgendes: „Und siehe, der Vorhang des Tempels zerriß von oben bis unten in zwei Teile, die Erde erbebte, und die Felsen spalteten sich, die Gräber öffneten sich, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt.“ (Mt 27, 51-52) 923 Auer: Der österreichische Kopf, S. 176. <?page no="357"?> 4.1 Machtorte des Gedächtnisses 353 berühmtesten Figuren, Napoleon Bonaparte, über den Roth schreibt: „Napoleon [...] war einer der größten Schlächter auf dem Schlachtfeld der Geschichte.“ (RIW 228) Der General ist so auf der Figurenebene die Verbindung des dörflichen mit dem nationalen österreichischen Gedächtnis, das Roth dann in Eine Reise in das Innere von Wien essayistisch, in dem zum Orkus-Zyklus gehörenden Roman Das Labyrinth jedoch wieder erzählerisch über die literarisch transformierte Figur des Otto Habsburg, Sohn des letzten Kaisers Karl I., in den Blick nimmt, wobei Otto Habsburg als spät nachgereichte, reale und fiktionale Gegenfigur zum greisen General gelesen werden könnte. Der General kann aber ebenso eine Anspielung auf den greisen, ewigen Monarchen Franz Josef sein. Außerdem sei hier festgestellt, dass der im Essayband und Jan Schüttes Film Eine Reise in das Innere von Wien durch das Heeresgeschichtliche Museum führende Oberst Krach als eine Parallelfigur/ Spiegelfigur des Generals aufgefasst werden kann. 924 Der Oberst im Heeresgeschichtlichen Museum und der rurale General symbolisieren unter anderem die militärische Schlag-Seite der Habsburger Monarchie. Schließlich ist es für Roth „unumgänglich, sich der Geschichte des Arsenals zuzuwenden, will man den Geist verstehen, der im Heeresgeschichtlichen Museum herrschte und nun dahindämmert, wie die Erinnerung im Kopf eines greisen Generals.“ (RIW 185) Das Überzeitliche bei gleichzeitigem Verhaftetsein in einer bestimmten Zeit (der Monarchie) und einem bestimmten Raum (Schloss, Südweststeiermark) an der Figur des Generals passt sich ein in die von Wendelin Schmidt- Dengler in seinem Aufsatz zum „Pathos der Immobilität“ getroffene Analyse der österreichischen Literatur nach 1945, die für ihn von einer zweiseitigen, negativen wie positiven Kontinuität des habsburgischen Mythos geprägt ist: Sei es die Suche nach einem positiven Kontinuum, das Zeitlosigkeit verbirgt, wie etwa in den großen Romanen Doderers, sei es die negative Befangenheit in einem ,Pathos der Immobilität‘ (Claudio Magris) wie in nahezu allen Werken Thomas Bernhards, - beides weist zurück auf den ,habsburgischen Mythos‘, dessen Autoren Bilder der Dauer und Unwandelbarkeit beschworen. 925 Renate Langer deduziert nun im habsburgischen Mythos „eine inhärente Affinität [...] zum Antidemokratischen jeder politischen Spielart - was in Österreich gerne übersehen wird, wenn die Habsburgnostalgie als landestypi- 924 Vgl. zur Figur des Obersts: Drynda: Schöner Schein, unklares Sein, S. 130. 925 Schmidt-Dengler: Europäische nationale Literaturen. I Österreich: „Pathos der Immobilität“, S. 60. <?page no="358"?> 4 Raum und Gedächtnis 354 sche Variante des Antifaschismus einseitig verklärt wird.“ 926 Diese antidemokratische, autoritäre, oppressive Seite des habsburgischen Mythos wird in obigem Zitat Lindners mehrfach thematisiert und geht von der Aristokratie auf der sozialen Stufenleiter hinab zum Bauerntum sowie vom Zentrum in die Peripherie. Der Vorfahre des Generals von Kniefall unterwirft sich Napoleon, der Herrscher auf dem Land ist also nur einer unter vielen, ja der sich am meisten Erniedrigende am hauptstädtischen Hof. Erkennbar wird so eine Traditionslinie der Zentrum-Peripherie-Asymmetrie, die sich vom Adel auf das Bürgertum (man denke an die Sommerfrischler um 1900) und schließlich auf die auswärts arbeitenden Pendler übertragen hat. Gleichzeitig aber ist die regionale Macht des Generals sogar im Jahre 1980 noch vorhanden - wenn sie vielleicht auch nur noch in der symbolischen Kraft herrschaftlicher Gesten liegt -, schließlich werden Lindner und sein Vater nicht eingeladen, sondern de facto vorgeladen, und es wird ihnen be-, nicht empfohlen, eine Abgabe zu zahlen. Und von solch einer sprachlich erfolgenden Disziplinierung ist jedes Schreiben des Generals geprägt: „Und nie enthielt es Bitten oder Schmeicheleien, immer nur Anordnungen oder als Ersuchen getarnte Befehle.“ (LT 200- 201) Welche immer die selbe Reaktion bei den Adressaten hervorrufen: „Obwohl er zu einem Mann ohne jegliche Macht geworden war, kamen die Empfänger seinen Anordnungen auf jene schwer erklärbare Weise nach, der eine Sehnsucht nach dem Gehorchen zugrunde liegt.“ (LT 201) Man hat es hier also nach wie vor mit einem Herr-Knecht-Verhältnis zu tun, das Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes als von wechselseitiger, wenn auch unterschiedlich formatierter Anerkennung bestimmt beschrieben hat. 927 An Hegel anschließend und auf Konzepte von Zentrum und Peripherie abzielend hat Wolfgang Müller-Funk in seinem Aufsatz „Kakanien revisited“ drei kulturwissenschaftlich zu modifizierende Aspekte in Bezug auf Machtasymmetrien angesprochen: Erstens sind die von der Sphäre der Kultur in Politik und Gesellschaft übergehenden expliziten Setzungen von Differenz zu beachten. Zweitens findet Herrschaftsausübung nicht außerhalb, sondern 926 Renate Langer: Die Schwierigkeit, mit Wolfsegg fertig zu werden. Thomas Bernhards „Auslöschung“ im Kontext der österreichischen Schloßromane nach 1945. In: Hans Höller und Irene Heidelberger-Leonard (Hg.): Antiautobiographie. Zu Thomas Bernhards „Auslöschung“. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1995 (stb 2488). S. 197-214, hier S. 198. 927 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1986 (Hegel Werke 3; stb 603). S. 145-155. (Kapitel „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft“) <?page no="359"?> 4.1 Machtorte des Gedächtnisses 355 innerhalb und mithilfe von kulturellen Parametern und Codierungen, mit kulturellem Kapital und Habitus statt. Und schließlich werden drittens Herrschaftsverhältnisse symbolisch in Narrativen gefasst. 928 Müller-Funk denkt nun diese Kategorien in Bezug auf eine postkoloniale Analyse der Habsburgermonarchie, weniger aber auf intraethnische und -kulturelle Machtausübung, auch wenn sie - ohne hierfür den Begriff des Kolonialismus zu gebrauchen -, auf solche Zusammenhänge angewandt werden können: Zum Beispiel im Falle der Anerkennung des Herrschaftsanspruches des Generals und der eigenen Rolle als ,Knechte‘ durch Lindner und seinen Vater oder über die vielfältigen Erzählungen, die im Dorf über den General kursieren, oder aber - Stichwort Differenzsetzungsstrategien - über den Umgang des Generals mit seiner dörflichen Haushaltsgehilfin: „Sie kam und grüßte und der General schwieg, auch wenn sie ging, schwieg er.“ (LT 200). Jedoch ist die größere, auf das nicht-österreichische habsburgische Territorium ausweitbare Dimension sehr wohl in der Figur des Generals verkörpert, wenn man die von Müller-Funk ausgewählten drei Beispiele aus der Literatur heranzieht, welche die kulturell asymmetrische Ausrichtung der Habsburgermonarchie belegen: „das Motiv des exotischen Souvenirs, der ,anderen Frau‘ und des Dienstboten aus der anderen Ethnie.“ 929 Im Schloss des Generals gibt es selbstverständlich exotische Objekte, die als Souvenirs aus anderen Bereichen der Monarchie gelten können, wie ein „Tintenfaß aus Opal“ (LT 200) oder „handgewebte Teppiche“ (LT 200), weiters findet der General als Jugendlicher im Anzug seines Bruders „einen elfenbeinernen Fächer“ (LT 387). Hinzu kommen zumindest im Vergleich mit den mikrokosmischen Gegenständen des Dorfes exotisch wirkende Dinge wie Daguerrotypien (LT 200) oder ein Bösendorfer Flügel (LT 199). Außerdem wird erwähnt, dass „der General früher seltene exotische Vögel gehalten hatte“ (LT 583), weshalb seine „immer seltener werdenden Besuche [...] hauptsächlich Ornithologen“ (LT 305) sind. Das Motiv der „anderen Frau“ wird zumindest in der, wie einige Texte zum General, Aspekte von Gedächtnis, von Vergessen und Erinnern mitthematisierenden Erzählung „Apoplexie“, die sich um einen Schlaganfall des Generals dreht, angedeutet: 928 Vgl. Wolfgang Müller-Funk: Kakanien revisited. Über das Verhältnis von Herrschaft und Kultur. In: ders., Peter Plener und Clemens Ruthner (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen, Basel: Francke 2002 (Kultur - Herrschaft - Differenz 1). S. 14-32, hier S.16. 929 Ebenda, S. 23. <?page no="360"?> 4 Raum und Gedächtnis 356 Plötzlich verstand er, daß er sein Gedächtnis verloren hatte. [...] Er schloß die Augen [...] und sah sich mit einem Mal als jungen Leutnant eine Apotheke in Ungarn betreten und Pulver eines getrockneten Salamanders kaufen, das als Aphrodisiakum galt. [...] Der General sah seine Erinnerung mit andächtigem Staunen. Er wußte, daß er alles bis in jede Einzelheit erlebt hatte, nur hatte er den Vorfall längst vergessen. [...] Damals hatte er die Absicht gehabt, mit einigen anderen Offizieren seines Regimentes ein Bordell aufzusuchen, und da er gefürchtet hatte zu versagen und deshalb verspottet zu werden (denn er hatte noch nie ein Bordell betreten), war er auf die Idee gekommen, sich zuvor zu stärken ... (LT 319) Doch so sehr sich der General auch zu erinnern sucht, wie seine Geschichte zu Ende ging, er weiß nicht mehr weiter: „Vermutlich war man in das Bordell gegangen, das war anzunehmen ... aber dann? “ (LT 320) Die brisanten „Ängste und Begierden“, die auftreten, wenn sich „Andersartigkeiten [...] überlagern - besonders im Bereich von Sexus und Ethnie“, 930 werden also abgesperrt. Der ethnisch differente Dienstbote schließlich wird bei Roth modifiziert und ambivalent repräsentiert in der Figur eines „winzigen Ulanen, der beim General den Dienst versah, mitunter an Sonntagen im Gasthaus die Dorfbewohner erheiterte und - alles in allem - nicht viel größer als eine Krähe war.“ (LT 584) 931 Dieser Ulane ist „der kleinste Soldat der Armee“ (LT 584) und damit ein Gegenpol zum riesenhaften slawischen Diener Joschko in George Saikos Roman Auf dem Floß, den - wie schon in der Analyse von „Der Russe“ erwähnt - sein Herr nach seinem Tod ausstopfen lassen möchte. Das kann der General mit seinem Diener nicht, 932 da dieser nämlich auf im Text widersprüchlich dargestellte Weise verschwindet und im Übrigen ethnisch nicht 930 Ebenda, S. 25. 931 Roth lässt den ihn durchs Heeresgeschichtliche Museum führenden Oberst in Eine Reise in das Innere von Wien von 11 Ulanenregimentern in der k.u.k.-Armee (vgl. RIW 253) erzählen. Dass der Ulane Krähengröße gehabt haben soll, kann man mit dem Zitat von Otto König verbinden, der die militärische Imponiersymbolik im Tierreich wiederfand: „Schon Heinroth verglich die Demuts- und Grußbewegungen verschiedener Vögel mit dem soldatischen Präsentieren des Gewehres.“ (RIW 254) 932 Sehr wohl ausgestopft ist allerdings der Schimmel des Generals, der unter einem Glassturz in einem Zimmer des Schlosses steht. Nach dem Tod des Generals „stürmten die Dorfbewohner in den Nebenraum, um die Glasvitrine aufzuheben, unter der sich der Schimmel befand. Aber kaum war der erste durch den Spalt gekrochen und hatte sich auf das Pferd geschwungen, als es zu Staub zerfiel.“ (LT 588) Der Schimmel allerdings ist kein Denkmal eines Triumphes: „,Ich verdanke Dir viele schlaflose Nächte‘, spricht der General, ,der Du dazu bestimmt bist, mich an meine elendsten Stunden zu erinnern.‘“ (DLT 75), denn: „Wie allen bekannt ist, handelt es sich um jenen Schimmel, auf dem der General die entscheidende Schlacht verlor.“ (DLT 74) <?page no="361"?> 4.1 Machtorte des Gedächtnisses 357 different von seinem Herren ist: „Wenn der General jemals einen Menschen geliebt hat, so heißt es, war es dieser winzige Ulane aus Tirol, der bei einem unserer Hochwasser ertrunken ist und nie mehr aufgefunden wurde.“ (LT 584-585) Hierin passen sich General und Ulane hervorragend in den österreich-spezifischen erinnerungskulturellen Kontext ein: „Das harmonische Herr-Knecht-Verhältnis ist ein traditioneller Bestandteil der Österreichideologie.“, 933 schreibt Renate Langer. Der Ulane ist also ein Tiroler und während die exotischen Vögel aus ihrer Voliere verschwunden sind, „hockt nur noch ein Gimpel auf einer Stange“ (LT 583), ein nicht exotisches, sondern einheimisches Tier, das mit dem Ulanen, der ja nicht größer als eine Krähe war, auf geheimnisvolle Weise aus einem gemeinsamen Pool von Kniefall’schen und Habsburgischen Gedächtnisdaten und -narrativen zu schöpfen scheint. Denn zu den „herausragendsten Eigenschaften“ des Ulanen gehörte es, auf Wunsch die Geburts- und Todestage aller Edlen von Kniefall auswendig aufzusagen, die Namen der Generäle und Feldmarschälle des Kaisers, sowie aller Adeligen der Monarchie. Und als habe der Gimpel es von dem winzigen Ulanen gelernt, fing er an, unsere Monarchen aufzuzählen, in der richtigen Reihenfolge, die Namen der Ehefrauen und Kinder und die Zeit, die sie geherrscht hatten, auch vergaß er nicht, die wichtigsten Ereignisse zu erwähnen, bei denen sie sich hervorgetan oder die sie verursacht hatten. (LT 585) Von diesen Erzählungen ausgehend vertieft sich der Gimpel nicht nur in die Menschheitsgeschichte, zu der wie selbstverständlich auch „japanische Herrscher“ (LT 585) gehören, es also tatsächlich eine Welt- und nicht nur eine europäische/ eurozentristische Geschichte ist, sondern ebenso in die Naturgeschichte, er spricht über „Fauna und Flora, über Kristalle, Erdbeben und die Sterne“ (LT 585). Diese Verschränkung, die schon in der phantastischen Figur des geschichtsbesessenen Vogels angelegt ist, deckt sich mit Sebalds These von der Ineinanderlegung von Natur- und Menschheitsgeschichte in Landläufiger Tod. Die Quelle für die Narrative des Gimpels ist - wie bei Lindners Stimmen - eine nicht-kognitive, im organischen Körper liegende, denn die Dorfbewohner, die vor dem Sterbebett des Generales auf Stühlen sitzen, bemerken, dass der Gimpel „alles, worüber er sprach, aus der Hand des Generals las oder in dessen Handlinien“ (LT 585), später „sprang der Gimpel auf den Kopf des Generals und begann über vergangene Schlachten zu sprechen.“ (LT 586) Die Dorfbewohner erhalten so Zugang zu einem kulturellen wie 933 Langer: Die Schwierigkeit, mit Wolfsegg fertig zu werden, S. 202. <?page no="362"?> 4 Raum und Gedächtnis 358 Natur-Gedächtnis, 934 es ist das Vermächtnis des Generals, das von einem übernatürlichen Gedächtnismedium am Ende der Geschichte vor dem „Aufbruch ins Unbekannte“ vermittelt wird. Diese Vermittlung legt wie die auf ,weiche‘ Aspekte achtende Gedächtnisforschung im Unterschied zur auf ,harte‘ Fakten konzentrierten Geschichtswissenschaft nicht nur historische Daten vor, sondern versteht Geschichte als Ensemble von Erzählungen, die mit Leben gefüllt sind, mit Emotionen und Spannung, mit Lust und Schmerz, Trauer und Angst, Verzweiflung und Hoffnung, Trauma und Erlösung: Wir durften hören, auf welche Weise sie [die Schlachten; G. L.] geführt wurden, und erfuhren die Gedanken von Generälen und Marschällen. Noch nie hatten wir verstanden, was im Getümmel eines Krieges vor sich ging, nun aber begannen wir zu begreifen. Besonderen Eindruck machte uns ein „Bericht aus dem Herzen der Schlacht“, in dem ein hoher Offizier sich, nachdem seine Armee geschlagen war, das Leben genommen hatte. (LT 586) Roth legt also in diesen Passagen sein geschichtspoetologisches Programm frei, das von den besonderen Eigenschaften des Narrativen seinen Ausgang nimmt, wodurch sich eine Schnittstelle zwischen den verschiedenen, von Wolfgang Müller-Funk in seinem Buch Die Kultur und ihre Narrative untersuchten Formen des Erzählens auftut, die mitsamt als literarische, kulturelle, kollektive, familiäre, individuelle, nationale und regionale Erzählungen in „Der Tod des Generals“ durchgespielt werden: Kulturanthropologisch besehen stellt das literarische Erzählen eine Ausdifferenzierung, den Sonderfall einer generellen Praxis dar, die sich ubiquitär in allen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens wiederfindet. Zweifelsohne sind es Erzählungen, die kollektiven, nationalen Gedächtnissen zugrundeliegen und Politiken der Identität bzw. Differenz konstituieren. Kulturen sind immer auch als Erzählgemeinschaften anzusehen, die sich gerade im Hinblick auf ihr narratives Reservoir unterscheiden. Das gilt für die Mythen traditioneller Gemeinschaften, ebenso wie für die modernen, großen Erzählungen. 935 Roths Gimpel-General vermittelt also den versammelten Dorfbewohnern ein „narratives Reservoir“, das die Erzähl- und Gedächtnisgemeinschaft des Dorfes formatieren kann, indem die Dorfbewohner die gehörten Erzählungen 934 Von dem manche Dorfbewohner bereits Kenntnis haben, denn Lindner merkt an, es heiße vom surrealen Licht der Steine, „es handle sich um deren Gedächtnis. Ich kann dieses Gedächtnis nicht deuten, doch verstand sich der alte Mautner darauf, der es zeit seines Lebens erforscht hat. Ich war erstaunt, diese Steine im Arbeits- und Krankenzimmer des Generals zu finden.“ (LT 584) 935 Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative, S. 14. <?page no="363"?> 4.1 Machtorte des Gedächtnisses 359 zirkulieren lassen und mit jener vom Tod des Generals - wie das Lindner tut, der vielleicht auch alle seine Erzählungen von diesem Gedächtnisgimpel hat - ergänzen. 936 Die Inkludierung von naturwissenschaftlichem Wissen in diese Erzählgemeinschaft ist hierbei der von Sebald herausgearbeitete besondere Aspekt des Roth’schen Geschichtsverständnisses, das ihn zum Teil einer das vorgeblich Empirische als Narratives verstehenden Avantgarde macht. Die Herkunft des allumfassend erscheinenden kulturellen und regionalen Wissens, das sich in der Figur des Generals über seine ,Satelliten‘ Gimpel und Ulane manifestiert, wird in Landläufiger Tod nicht einzig über das Andocken an eine Art Weltgedächtnis erklärt. Zumindest die Informationen über das Leben in der Region und das regionale Gedächtnis haben im Schloss einen besonderen Ort, der als Überwachungszentrale im Stile von George Orwells Big brother fungiert: „[I]m Spiegelzimmer […] bestaunten wir jenes Labyrinth aus Spiegeln und Fernrohren, mit Hilfe dessen es dem Schloßbesitzer möglich war, alle seine Besitzungen, Bedienten, Knechte und Mägde mit einem Blick zu erfassen.“ (LT 200) 937 Alle anderen Dinge, die einmal im Schloss waren, sind, als Lindner und sein Vater in „Die Vorspiegelung“ das Gebäude betreten, verschwunden, wurden als Antiquitäten verkauft, gingen vielleicht in den Fundus des Heimatmuseums über, nur das, wie Wolfgang Tietze mit Bezug auf Hans Blumenbergs Buch Höhlenausgänge schreibt, Observatorium aus Spiegeln und Fernrohren, panoptisches Überwachungsnetz [...] bleibt. Das Teleskop - oder Mikroskop - konstruierte seit der Neuzeit als archimedischen Punkt gerade die (Gesetzes-, Vernunft- und Vater-) Position als sichtbar, die der Mensch nicht innehat. 938 Auch der General hat diese Position nicht mehr inne, schreibt aber die realen Verhältnisse der Vergangenheit imginär in die Gegenwart weiter, indem er sein Instrumentarium nach wie vor nutzt, wie in der Dorfchronik beschrieben wird: 936 Siehe für eine alternative, ,wild wuchernde‘ Deutung von „Der Tod des Generals“ und der Funktion des Gimpels bei Tietze: Das mikroskopische Gedankenglas, S. 318-328. 937 Das Spiegelmotiv in Landläufiger Tod wäre eine eigene Studie wert. In sehr vielen Texten dieses Romans kommen Spiegel vor und werden auf ganz verschiedene Weisen semiotisiert. Das reicht von einem Meteoriten, der bei Untergreith vom Himmel fällt und dessen Wände „wie Spiegel waren, so daß das Sonnenlicht grell nach allen Seiten zurückgeworfen und noch in Tälern und Ebenen weit in der Ferne und sogar in anderen Ländern gesehen wurde.“ (LT 665) bis zum 56. Märchen „Der Mensch, der ein Spiegel war“ (LT 731-732). 938 Tietze: Vergessene Sinne und verlorene Madonnenuhren, S. 200. <?page no="364"?> 4 Raum und Gedächtnis 360 Oben, im Schloß, in einem Saal, durch dessen optische Einrichtung (eine Kombination von Linsen und Spiegeln) es dem General möglich ist, mit einem Blick die ehemaligen Güter zu erfassen (Äcker, Wiesen, Wälder, Obstgärten, Ställe, Gehöfte): Der 107-jährige sitzt auf dem knarrenden Drehstuhl. Nichts mehr von dem, was er durch das Fernrohr sieht, gehört ihm. Aus Gewohnheit schaut er zum Friedhof hinunter, um die Meisen, Dompfaffen, Goldamseln, Hühnerhabichte und Saatkrähen zu beobachten. (DLT 13-14) Diese Beobachtung - die neben den für den General typischen Vögeln vor allem den Friedhof und die Arbeit des Totengräbers beim Ausschaufeln des Grabes für die Sonntagsorganistin fokussiert - dauert in der Dorfchronik vom Morgen über den Mittag (DLT 29-30) bis in den Nachmittag (DLT 50-51) hinein, erst am Abend gibt der General seinen Posten auf, um sich anderen Erinnerungs-Räumen im Schloss zuzuwenden. Das Beobachten bezieht sich dabei nicht nur auf den ehemaligen Herrschaftsraum, sondern kann durchaus zur Selbstbespiegelung werden: „Sobald der 107-jährige General mit dem Fernrohr in das Spiegelsystem blickt, sieht er von allen Seiten nur noch sein Gesicht, und zwar auf eine so vervielfältigte Weise, daß es wie ein Muster wirkt.“ (DLT 50) Der Spiegel steht in dieser Passage gedacht mit Aleida Assmann, die hier allerdings ein gedächtnistheoretisch zu simplifiziertes Bild verwendet, metaphorisch für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: Die Vergangenheit ist ein Spiegel, in dem wir uns über den Augenblick hinaus wahrnehmen und das, was wir das Selbst nennen, in immer neuen Anläufen zusammensetzen. Dieser Spiegel kann heroisieren und einem das eigene Bild in doppelter Größe zurückwerfen, er kann aber auch negative und beschämende Züge hervorheben. 939 Aufgrund von Roths Affinität zu Theorien Michel Foucaults ist es naheliegend, das Spiegelobservatorium des Generals als „getreue Umsetzung des panoptischen Prinzips“ sensu Foucault, „als raffinierteste Form der Disziplinarmacht“, die in Überwachen und Strafen beschrieben wurde, zu interpretieren, wie das Matthias Auer getan hat. 940 Auer verweist auch darauf, dass Roth das Panopticon verstanden als vollständigen, aus der Konstruktion des Raumes sich ergebenden Überwachungsapparat in Eine Reise in das Innere von Wien mit der Kreisform des Wiener Narrenturms in Verbindung bringt: „Die [...] als ,panoptisch‘ bezeichnete Absicht ist im Gegensatz zu französischen Beispielen im Narrenturm nicht zur Gänze ausgeführt.“ (RIW 116) Übrigens wenden auch Ensberg und Schreckenberger Foucaults Panopticonsbegriff auf 939 Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 10. 940 Auer: Der österreichische Kopf, S. 176-177. <?page no="365"?> 4.1 Machtorte des Gedächtnisses 361 das Dorf an, jedoch bemerkenswerterweise nicht im Sinne einer Differenz zwischen Überwachenden und Überwachten, sondern im Kontext der wechselseitigen „dauernde[n] Beobachtung und Kontrolle“ im Dorf. 941 Wolfgang Tietze hat schließlich in seiner Roth-Studie Das mikroskopische Gedankenglas die Gleichung Macht = Kontrolle nicht nur auf den General, sondern ebenso auf den Direktor des Circus Saluti appliziert: Der General ist die Potenzierung jener Kontrollfunktion, die der Direktor des Circus über das Universum ausübt, wobei die Linie, die die Kontrolle über Menschen, Wahrnehmung und Schrift mit Macht und Gewalt verknüpft, bis in den Terror von Krieg und (Austro-)Faschismus verlängert ist. 942 General und Zirkusdirektor sind für Tietze machtstrukturbildende Figuren, welche als tragende Säulen der Romanarchitektur fungieren, weshalb sich mit „Der Tod des Generals“ der in der längsten Erzählung von Landläufiger Tod, dem ersten Kapitel Circus Saluti, geöffnete und in obigem Zitat umrissene Kreis schließt. Tietze versteht aus dieser Perspektive den „Tod des Generals“ als das „geheime Zentrum“, auf das alle Geschichten, Strukturen und Motive des Romans [konvergieren], um es sprengen zu können (in das Innere des Observatoriums zu gelangen). Der Beginn, Vorgeschichte, ist der Beginn des Zirkus in der Geschichte des Generals, das Ende der Gewalt, Nachgeschichte des Krieges, ist das Märchen des Wahnsinnigen [...]. 943 Während der General über sein Spiegelzimmer im Schloss das Dorf kontrolliert, tut dies der Zirkusdirektor in seinem Zelt, denn: „Der Zirkusrund ist auch ein ,heißes‘, befremdliches Allauge der eingefangenen Blicke, das selbst zur Hypnose von Hühnern taugt.“ 944 Im Kapitel Circus Saluti hypnotisiert der Zirkusdirektor die Hühner und mit ihnen auch die Zuschauer, die „[i]m Scheinwerferlicht, wenn plötzlich das Publikum um sie sitze, [...] aufgrund der neuen Situation automatisch“ (LT 22, Herv. G. L.) gehorchen würden. So beginnen die Dörfler wie die Hühner zu gackern, was der Direktor geflissentlich zu ignorieren scheint: Er versucht nicht einmal, uns umzustimmen, während einige von uns sich schon Tränen lachend und gackernd von den Sitzen erheben und mit den ausgestreckten Armen Flatterbewegungen machen, andere, als seien sie aufge- 941 Ensberg/ Schreckenberger: Gerhard Roth. Kunst als Auflehnung gegen das Sein, S. 85. 942 Tietze: Das mikroskopische Gedankenglas, S. 251. 943 Ebenda, S. 267. 944 Tietze: Vergessene Sinne und verlorene Madonnenuhren, S. 202. <?page no="366"?> 4 Raum und Gedächtnis 362 zogene Maschinenwesen, in einem fort gackern, darüber längst ihr Lachen vergessen und vor Atemlosigkeit rote Gesichter haben. (LT 47, Herv. G. L.) Schließlich lässt der Zirkusdirektor einen hypnotisierten Dorfbewohner ein Huhn köpfen und sich den Hühnerkopf in den Mund stecken (vgl. LT 49). Für Schreckenberger zeigt sich in dieser Szene, „[w]ie mühelos das Gewaltpotential eines willenlosen Menschen aktiviert werden kann [...]. Die politische Implikation dieser Szene ist unübersehbar. Sie verweist auf die vergangenen Kriege und steht als Warnung für die Zukunft.“ 945 Uwe Schütte hingegen sucht in seiner Relektüre von Landläufiger Tod diese Passagen zu aktualisieren, sie auf gegenwärtige Unterhaltungsformate zu beziehen: Heute lässt sich das erste Kapitel des Romanwerks genauso als Lehrstück zur Manipulation der Bevölkerung im Medienzeitalter lesen. [...] Offenkundig sind die Parallelen zu den kulturindustriellen Volksbelustigungen des Privatfernsehens, zumal auch eine der Geschäftsmaximen des Zirkusdirektors, nämlich dass „letztlich auch der aufgedeckte Schwindel nur Reklame für mich“ (41) darstellt, sich als Prinzip gegenwärtiger PR wiederholt aufs vortrefflichste bewährt hat. 946 Und der Schwindel ist vor allem in der Figur des automatischen Menschen, der ja ein Schild mit dem Namen „Circus Saluti“ um den Hals trägt - den Zirkus und das erste Kapitel des Romans bewerbend - exemplarisch vor- und aufgeführt. Er bewegt sich wie „automatisch“ und ist ein „aufgezogener Maschinenmensch“, ist nicht nur geistig manipuliert und diszipliniert. Bei ihm geht es um eine Disziplinierung des gesamten Körpers, auf eine Art, wie das Michel Foucault in seiner Diskursanalyse des Gefängnisses als Teil des Disziplinierungsapparates festgestellt hat: „Die Disziplin fabriziert auf diese Weise unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper.“ 947 Der ehemals Disziplinierende war selbst diszipliniert, war fügsamer gefügig machender Teil des Staatsapparates, wobei eben durch die Intervention des Zirkusdirektors die Disziplinierung anderer als Ergebnis des Selbstmordversuches zu einer Disziplinierung durch einen anderen wird. Diese Intervention hat als Schauplatz auch das Schloss des Generals und ist mit diesem wie mit der Gründung des Zirkus verbunden. Erzählt werden all diese Ereignisse in 945 Schreckenberger: „Man sieht an den Tieren immer die Grausamkeit des Menschen“, S. 188. Für die Figur des Zirkusdirektors siehe besonders S. 186-190. 946 Schütte: „Obschon die Häuser brennen, zeigt sich kein Nordlicht.“, S. 282. 947 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übers. v. Walter Seitter. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1989. S. 177. <?page no="367"?> 4.1 Machtorte des Gedächtnisses 363 der „Geschichte für einen dreibeinigen Hund“ (LT 523-531) von Konrad Wamprechtshammer, wie der Direktor eigentlich heißt, selbst. Wamprechtshammer hat sich im Sommer 1945 mit Hilfe von allerlei Tricks und Finten von Wien in die Grenzregion durchgeschlagen, wo er - der Familientradition entsprechend - einen Zirkus gründen will. Er macht fünf Kamele ausfindig und durchstreift das Land nach weiteren zirkustauglichen Gegenständen. Im Schloss entdeckt er hinter der Befestigungsmauer Käfige, die wie Tierwagen aussehen: „In den Wagen fanden sich Reste menschlicher Exkremente im Heu, am stärksten aber war der Geruch des Todes wahrzunehmen, der mir vom Krieg her bekannt ist.“ (LT 529) Er erfährt, dass die Käfige zum Transport von Gefangenen benutzt werden sollten, untersucht sie auffällig und bringt den General, der schließlich aufmerksam wird, mit unangenehmen Fragen um die Contenance: „Zuletzt war er mir dankbar, daß ich mich bereit erklärte, die besagten Wagen im Tausch gegen Zeltplanen, die in einem Schloßtrakt lagerten, verschwinden zu lassen.“ (LT 529) Der Urspungsort des Zirkuszeltes ist also das Schloss, aus dem sein Besitzer Spuren des nationalsozialistischen Gedächtnisses loswerden will. Der Mensch aber, der den Zirkus tatsächlich ins Leben ruft, ist der Gendarmeriekommandant, „dessen k.u.k.-Postmeisteruniform ich rasch durchschaute“ (LT 529), wie Wamprechtshammer feststellt. Der Kommandant wird von Wamprechtshammer unter Druck gesetzt: „Ich erklärte dem Kommandanten, daß er Parteimitglied gewesen sei, und ließ ihn stehen.“ (LT 529) Daraufhin läuft der Kommandant dem zukünftigen Direktor über das Land und die Hügel zum Dorf und wieder zurück zum Schloss nach, ohne ein Wort herauszubringen: „Als wir dann wieder vor den Tierwagen angekommen waren, fing ich an, mir Aufzeichnungen zu machen, die scheinbar mit seiner Person zu tun hatten.“ (LT 530) Mit dieser Aktion macht er den Kommandanten endgültig gefügig, er lässt von ihm die Kamele beschlagnahmen, die Artisten sowie alles weitere beschaffen, was er für die Gründung seines Zirkus benötigt, und erklärt „mit Bestimmtheit“, es sei „im Interesse der neuen Regierung, die Menschen mit Hoffnung zu erfüllen.“ (LT 531) General, Zirkusdirektor und Gendarmeriekommandant/ automatischer Mensch sind Teile eines Machtnarrativs, das hierarchisch gestaffelt ist und - das mag überraschend sein - nicht vom General, sondern vom Zirkusmenschen bestimmt wird, zumindest in dessen eigener Erzählung. In diesem Bermudadreieck der Machtfiguren, wenn man so will, kann natürlich die eine, andere oder auch die gesamte Erinnerung an die Verstrickungen in den <?page no="368"?> 4 Raum und Gedächtnis 364 Nationalsozialismus verschwinden, wobei zwischen konkreter und vermuteter, geahnter, aufgespürter oder einfach nur behaupteter Involviertheit kein großer Unterschied gemacht wird, was die gegenwärtige Wirkmächtigkeit betrifft. Dabei haben nicht nur der General und der Zirkusdirektor sowie der Zirkusdirektor und der Kommandant/ automatische Mensch eine besondere Verbindung, sondern laut Tietze auch der Kommandant/ automatische Mensch und der General: Im Landläufigen Tod gab es zwei ins Groteske verzerrte Bilder des Todeslaufs der Geschichte: ein General und seine Stiefel, die das Land durchschreiten und die k.u.k. Monarchie mit Austrofaschismus und Krieg verbinden; ein „automatischer Mensch“, ap(h)atischer [sic! ] ehemaliger Gendarmeriekommandant in der Uniform eines k.u.k. Postmeisters, der bewußtlos durch Ebenen und Täler streifend Werbeträger für den Circus Saluti ist. 948 Der General und seine Stiefel bilden eine Mini-„Abenteuergeschichte“: „Im Frühjahr legt der General seine feinsten Stiefel an und geht durch das Dorf. Kein Mensch zeigt sich auf der Straße, die Haustüren sind versperrt. Nur das Bellen der Hunde ist zu hören.“ (LT 296) Die Stiefel des Generals werden in „Der Zahnreißer“ nochmals erwähnt, da sich der General mit vom Schlamm schmutzigen Stiefeln seine Fußknochen röntgen lässt und danach frische Stiefel anzieht. Dazwischen jedoch möchte er sich vom Zahnreißer die Zukunft voraussagen lassen, was dieser mit folgenden Sätzen tut: „Sie werden als letzter sterben.“ (LT 476) und „Wenn es so weit ist, werden Sie einen Blick in die entfernteste Vergangenheit werfen.“ (LT 477) Im Hinblick auf diese Prolepse, die eine Prophezeiung ist, überraschen die Umstände beim „Tod des Generals“ genausowenig wie seine Aufmachung auf dem Sterbebett: „Der General war vollständig mit seiner Uniform bekleidet, seine Stiefel aber waren zu unserer Überraschung schmutzig von Lehm, als habe er einen längeren Fußmarsch hinter sich.“ (LT 583) Solche Korrespondenzen multiperspektivischen, mehrfach ge- und unterbrochenen Erzählens gibt es beim General wie beim Kommandanten, weshalb Tietze schlussfolgert: „General und Automat sind emblematische Figuren, aber sie verlieren sich in die Textur, in Zusammenhänge, wo sie nicht auftreten und dingfest sind.“ 949 Für beide gilt außerdem, dass ihre Macht zeitlich begrenzt ist. Symbolischer Ausdruck dieser endgültigen Zerstörung, dieser Endlichkeit der Macht ist die Plünderung des Spiegelzimmers nach dem Tod des Generals: „Der Saal mit den Spiegeln und 948 Tietze: Vergessene Sinne und verlorene Madonnenuhren, S. 196. 949 Ebenda. <?page no="369"?> 4.1 Machtorte des Gedächtnisses 365 Fernrohren war vollständig zertrümmert - alle optischen Einrichtungen gestohlen, die Kacheln herausgerissen.“ (LT 588) Und in dem aus 232 nicht nummerierten Einzelsätzen bestehenden „Mikrokosmos“-Kapitel „Der Gesang des Brandvogels“ lautet der 40. Satz: „Das Fernrohr des Generals, in dem wir uns zu Monstren vergrößerten, ist vergessen“ (LT 532). Fragen von Aufstieg, Glanz-/ Machtzeit und Untergang bestimmen Narrative des Schlosses, das der paradigmatische Ort des habsburgischen Mythos beziehungsweise seiner Verräumlichung in der österreichischen Literatur ist: „Das Schloß [...] [ist] der Ort, an dem sich die Geschichte entscheidet.“, 950 konzediert Wendelin Schmidt-Dengler. Aus intertextueller Perspektive steht das Schloss in Landläufiger Tod also in einem dicht gewobenen Relationssystem, ist Teil einer über mehrere Schriftstellergenerationen fortbestehenden Kontinuität. Diese wird von Walter Weiss ausgehend von Kafkas Roman Das Schloß als einem Ursprungs-Nicht-Ort in einem großteils schon 1969 geschriebenen Überblick zur österreichischen Literatur angedeutet: Es ist doch sehr bezeichnend, daß in drei zwischen 1955 und 1960 erschienenen bedeutenden Romanen von österreichischen Autoren der ältesten, der älteren und auch der jungen Generation das Schloß als Schauplatz und als geistiger Ort erscheint: in Güterslohs „Sonne und Mond“, Saikos „Auf dem Floß“ und Fritschs „Moos auf den Steinen“. 951 Die von Weiss genannten Texte können um eine Reihe weiterer Prosaarbeiten österreichischer Schriftsteller nach 1945 ergänzt werden, die Schlösser oder schlossähnliche Gebäudekomplexe zu Hauptschauplätzen machen: Franz Tumler: Ein Schloß in Österreich (1953), Herbert Zand: Erben des Feuers (1961), Thomas Bernhard: Der Italiener (entstanden 1963), Amras (1964), Verstörung (1967), Ungenach (1968), Watten (1969) und Auslöschung (1986), 950 Schmidt-Dengler: Bruchlinien, S. 93. 951 Walter Weiss: Literatur. In: Erika Weinzierl und Kurt Skalnik (Hg.): Österreich. Die Zweite Republik. Band 2. Graz, Wien, Köln: Styria 1972. S. 439-476, hier S. 450. George Saikos Auf dem Floß erschien 1948, Gerhard Fritschs Moos auf den Steinen 1956, Albert Paris Güterslohs Sonne und Mond 1962. Während auf Parellelen zu Fritsch und Saiko an anderen Stellen dieser Studie eingegangen wird, sei hier nur angemerkt, dass Güterslohs faszinierender Roman in Bezug auf das Moment formaler Innovativität und erzählerischer Monumentalität ebenso mit Landläufiger Tod vergleichbar ist wie im Kontext seiner ungenügenden Rezeption, Schmidt-Dengler spricht in diesem Zusammenhang gar von „etwas unqualifizierte[m] Herumgerede“ (Schmidt- Dengler: Bruchlinien, S. 154). Auf jeden Fall ist Güterslohs Schloss vom Literaturwissenschaftler (verstanden als homo semioticus) womöglich noch schwieriger zu deuten als jenes von Roth. <?page no="370"?> 4 Raum und Gedächtnis 366 Alfred Kolleritsch: Die Pfirsichtöter (1972), 952 Gerhard Amanshauser: Schloß mit späten Gästen (1975). Ab den 1990er Jahren finden sich dann kaum noch relevante Arbeiten mit zentralen Schlossbezügen. Roths Landläufiger Tod und Bernhards Auslöschung, für Hans Höller „wahrscheinlich der bedeutendste Schloßroman der österreichischen Literatur“, 953 scheinen hier am Ende des habsburgischen Mythos zu stehen. Der postulierte Verfall oder die Abschenkung zeigen die finale Zäsur der imperialen Kontinuität nicht nur historisch, sondern eben auch literarhistorisch an. Stefan H. Kaszyńskis in dem Aufsatz „Das Schloß als Identitätszeichen der österreichischen Gegenwartsliteratur“ geäußerte These gilt cum grano salis nur noch rückwirkend: „Einer der sinnprägenden Topoi, die eine Denkweise über Österreich verschlüsseln, ist das Schloß.“ 954 Allerdings gibt es noch immer oder immer wieder Nachschläge. So wurde 2008 Elfriede Jelineks Stück Rechnitz (Der Würgeengel) uraufgeführt, in dem es um die Ermordung von 180 bis 200 jüdischen Zwangsarbeitern im burgenländischen Schloss der Gräfin Margit von Batthyány in den letzten Kriegstagen 1945 geht. 955 Natürlich sind die ideologischen Stoßrichtungen der genannten Romane höchst unterschiedlich, wird der Rückgriff auf das kakanische Österreich mit wesentlich voneinander differierenden Zielen verbunden, sei es nun Österreichrestauration mit einem „Staatsvertrags-Roman“ 956 (Fritsch) oder eine 952 Roth schrieb zu diesem äußerst eigenwilligen Debütroman Alfred Kolleritschs eine unkonventionelle Rezension, die gewissermaßen eine literarische Annäherung an den Text darstellt, nachlesbar in: manuskripte 12 (1972), H. 36, S. 67-68. 953 Hans Höller: Das „Haus Österreich“ in der österreichischen Gegenwartsliteratur. In: Stefan H. Kaszyński und Sławomir Piontek (Hg.): Die habsburgischen Landschaften in der österreichischen Literatur. Beiträge des 11. Polnisch-Österreichischen Germanistentreffens, Warschau 1994. Poznań: Wydawn. Naukowe Uniw. im. Adama Mickiewicza 1995. S. 269-280, hier S. 272. 954 Stefan H. Kaszyński: Das Schloß als Identitätszeichen der österreichischen Gegenwartsliteratur. In: Herbert Zeman (Hg.): Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880-1980). Teil 2. Graz: Akademische Drucku. Verlagsanstalt 1989 (Die österreichische Literatur. Eine Dokumentation ihrer literarhistorischen Entwicklung). S. 1103-1116, hier S. 1103. Kaszyński bietet auch einen Überblick über österreichische Schlossromane vor 1945 und erwähnt noch einige weitere, literarisch weniger bemerkenswerte Texte nach 1945, die in dieser Studie nicht angeführt werden. 955 Vgl. dazu Elfriede Jelinek: Rechnitz (Der Würgeengel). In: dies.: Die Kontrakte des Kaufmanns. Rechnitz (Der Würgeengel). Über Tiere. Drei Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009. S. 53-205. Das Stück beginnt mit der Regieanweisung „Ein Schloß in Österreich.“ (ebenda, S. 55) und beruht auf einer wahren Begebenheit. 956 Reinhard Urbach schreibt über Moos auf den Steinen: „Wenn es einen österreichischen Staatsvertrags-Roman gibt, dann ist es dieser.“ Reinhard Urbach: Nachwort. „Mauso- <?page no="371"?> 4.1 Machtorte des Gedächtnisses 367 nachträgliche Legitimierung der Begeisterung für den Nationalsozialismus (Tumler). Aber es gibt Konvergenzen, wie Renate Langer in einem Aufsatz zu den österreichischen Schlossromanen feststellt: „Ein Gemeinsames liegt darin, daß in ihnen der österreichische Geschichtsverlauf als Verfall und Niedergang nach einer glorreichen monarchischen Vergangenheit erscheint und im ruinösen Zustand der vormals prächtigen Schlösser sinnfällig wird.“ 957 Dieser Bezug zur „glorreichen Vergangenheit“ soll vom Besitzer des Schlosses Schwarzwasser in Fritschs Moos auf den Steinen, Baron Suchy von Sternberg, in einem großen „Roman über das alte [habsburgische; G. L.] Österreich“ herbeigeschrieben werden, der „umfassender als Musil, noch trauriger als [Joseph] Roth“ sein soll. 958 Doch der emeritierte Major der k.u.k.-Armee scheitert an der Aufgabe: „Er hätte es leisten können, leisten müssen, es kam jedoch nie zur ersten Zeile des ersten Kapitels.“ 959 Bei Gerhard Roth hingegen wird die „glorreiche Vergangenheit“ von einem Gimpel am Ende der Geschichte besungen und ist nicht mehr von der Fritsch’schen und von diesem zitierten Joseph Roth’schen habsburgnostalgischen Melancholie, sondern von der Gerhard Roth’schen Vorliebe für ins Groteske gesteigerte Ironie bestimmt. Ruinös wie die anderen österreichischen Schlösser - mit Ausnahme jener von Bernhard, denn Wolfsegg und Hochgobernitz sind in gutem Zustand - ist nun aber auch das Schloss des Generals. In „Die Vorspiegelung“ stellt Franz Lindner fest: „Das ganze Schloß war in einem katastrophalen Zustand“ (LT 199). Die „Wände [sind] übersät von hellen, großen Flecken“, das ehemalige „Klavierzimmer [...] war jetzt ein Abstellraum für Holz und Äpfel, Zwetschgen und Nüsse, [...] eine Bibliothek ohne Bücher [...] diente als Werkzeugraum“ (LT 199). Ähnliche Bilder vom Ende einer Epoche und eines Ortes werden auch in „Der Tod des Generals“ abgerufen, als Lindner und sein Vater durch das Schloss irren, wobei sie zunächst phantastische oder magische Räume durchlaufen: „In den Spiegeln schwamm unter der klaren Oberfläche allerlei Getier: Ringelnattern und Ratten vor allem, außerdem wurden Hüte vorbeigetrieben, aus denen ein deutliches Grunzen zu vernehmen war.“ (LT 582) Erst als sie der blinde Jagdhund (nicht Blindenhund) des Generals zu leum der Trauer“. In: Gerhard Fritsch: Moos auf den Steinen. Roman. Mit e. Nachw. v. Reinhard Urbach. Graz, Wien, Köln: Styria 1981. S. 304-306, hier S. 305. 957 Langer: Die Schwierigkeit, mit Wolfsegg fertig zu werden, S. 198. 958 Fritsch: Moos auf den Steinen, S. 30. 959 Ebenda, S. 31. <?page no="372"?> 4 Raum und Gedächtnis 368 führen beginnt, verschwindet die Magie, denn „in den Sälen [...], die wir nun betraten, herrschte zum Unterschied von den vorhergegangenen nichts als die Ruhe der Abgeschiedenheit und der allergewöhnlichste Verfall.“ (LT 582) Hier wächst nur die Natur wieder über die Geschichte, „Enziane und Schafgarben“ (LT 582) sprießen aus den Kacheln der Badezimmer, werden zu einer Metapher für das Ende der Geschichte, die ganz ähnlich mit habsburgspezifischer Zuspitzung auch bei Fritsch zu finden ist, dessen Major seinen nie begonnenen Roman Moos auf den Steinen nennen möchte: Das Moos auf den Steinen, auf den zerbröckelnden Steinen der Donaumonarchie, das Moos auf den Steinen zerfallender Bahnhöfe in der Bukowina, auf den Steinen der verwahrlosten Karlsbader Promenaden, das Moos, das wächst an den Mauern der Schlösser, Kasernen, Schulen und Verwaltungsgebäude von einst. Das Moos, das auch an den feuchten Grundmauern von Schwarzwasser wächst. Das Moos, der weiche Polster der Vergänglichkeit über den Steinen, die nicht mehr Österreich sind. Österreich, das die einzige Herrschaft war, die wenigstens eine Zeitlang annähernd gerecht und milde über eine Vielzahl von Völkern regiert hat. 960 Dennoch schreibt sich in Zeiten politischer Transformation auch die Menschheitsgeschichte in die Bauwerke ein, die Schlösser werden von den jeweiligen Machthabern okkupiert, geplündert, zerstört: „Insgesamt wurde die Befestigungsanlage viermal geschleift und nach Abzug der fremden Soldaten neu errichtet.“ (LT 305) Der General behandelt die jeweiligen Okkupanten von oben herab, er „spuckte einen Strahl Kautabak vor die Füße der Besatzer, sodann richtete er sich wortlos im Bediententrakt ein und kümmerte sich nicht um die Verwüstungen.“ (LT 304-305) Im Fritsch’schen Schloss Schwarzwasser werden diese „Verwüstungen“ über von der Roten Armee eingekerbte Spuren in den Gemälden symbolisiert: Das Bild über dem Bett allerdings, dieser große Ölschinken, der den Schläfer leicht erschlagen konnte, fiele er einmal vom Nagel, sprach eine andere Sprache. Allerdings nicht die Darstellung, sondern der Zustand des Bildes. Gemalt war da der Raub einer Nymphe im Stil der Münchener Historienmaler. Aber diese Nymphe, eine üppige, weißfleischige Makartschönheit, hatte wie die adeligen Damen und Herren im Stiegenhaus keine Augen mehr. Nur ihre Räuber, braunhäutige, wüste Gesellen, konnten noch sehen. Sie rollten grimmig ihre Augäpfel, wie um zu betonen, daß sie noch welche besaßen. [...] Die Gerechtigkeit des Siegers: nicht alle Augen wurden bestraft. 961 960 Ebenda. 961 Ebenda, S. 45-46. <?page no="373"?> 4.1 Machtorte des Gedächtnisses 369 Das gedächtnis-metaphorische Auge im Außen bei Fritsch ist bei Roth ein imaginärer Blick auf das Innen, denn im Schloss des Generals mussten aus Geldmangel die Bilder von den Wänden verschwinden, sie haben nur noch weiße Flecken übrig gelassen: „Da der General jedoch ohne Anstrengung in der Lage ist, jedes einzelne dieser Bilder sofort und bis in jede Einzelheit vor seinem inneren Auge entstehen zu lassen, vermißt er keines von ihnen.“ (DLT 75) In beiden Fällen fungieren also Bilder als Bilder für Transformationsprozesse. Das Schloss des Generals an den Grenzen des Reiches hat mit dem Schloss Schönbrunn ein Pendant im Zentrum. Dieses Schloss wird von Sonnenberg in Der Untersuchungsrichter aufgesucht, der in halbhalluzinatorischen Sequenzen in das Innere des Gebäudes gelangt, wo ein hölzerner Rabe plötzlich zum Leben erwacht und Sonnenberg „in das Sterbezimmer [geführt wird], in dem die Angestellten […] des Schlosses starben. An den Wänden lehnten Särge, im einfachen Soldatenbett, in dem der Kaiser vorangegangen war, rang ein Hausmeister nach Luft.“ (UR 76) Die hier symbolisierte Rede von „Im Angesicht des Todes sind alle Menschen gleich“ ist, das macht schon der ironische Gestus der Schilderung klar, im Kontext des habsburgischen Memoriakultes als Teil der österreichischen Gedächtniskultur absurd. Der General erhält nun keine Begräbnisstätte und somit keinen materiellen Gedächtnisspeicher, ganz im Gegenteil, das Schloss wird ja von den Dorfbewohnern geplündert, während das Begutachten seiner Leiche und das Entdecken eines verkörperlichten Machtvakuums kathartische Folgen zeitigt: Einer der Dorfbewohner klopfte auf den Brustkorb, was ein Geräusch zur Folge hatte, als begehrte jemand Einlaß. Nun klopfte jeder von uns mit dem Knöchel auf den Körper des Generals und hörte das hölzerne, helle Geräusch, durch das sich für gewöhnlich der Specht verrät. Außer uns von einer plötzlichen kindischen Freude fingen wir an zu singen und auf dem General den Takt zu klopfen. (LT 588) Danach bricht Chaos aus, der General erhält nicht die Sterbesakramente und wird nicht begraben, nicht einmal auf eine verquere Weise wie andere Figuren im Roman (Korradow, Bergarbeiter, Hahnloser, Sonntagsorganistin). Schon zuvor war in den Beschreibungen des Schlosses nie die Rede von einer Kapelle oder einer Familiengruft, die als rurale Spiegelorte der in Eine Reise in das Innere von Wien beschriebenen Katakomben von St. Stephan oder der Kapuzinergruft (vgl. RIW 21-26) fungieren könnten. Über die Kapuzinergruft, wo für Gerhard Roth „[d]ie Todesgloriole der Habsburger [...] <?page no="374"?> 4 Raum und Gedächtnis 370 zu besichtigen“ (RIW 21) ist, schreibt Uwe Schütte in einem manuskripte- Aufsatz zur Reise in das Innere von Wien Bezug nehmend auf Roths von Freud abgeleitete Perspektivierung des unterirdischen Wien: Ein Ort wie die Kapuzinergruft etwa steht stellvertretend für den allgegenwärtig bewußten, repräsentativen Charakter des unterirdischen ,Gedächtnisses‘, überdauerten die Sarkophage als Zeugnisse der Habsburgerherrschaft doch dort die Jahrhunderte, während die Zeit des Nationalsozialismus im österreichischen Bewußtsein allenfalls so marginale und periphere Spuren hinterließ, wie die zur Seite geräumten Trümmer in den Stollen des Gipsbergwerkes in Hinterbrühl. 962 Ein zum „Tod des Generals“ passendes Bild findet man auf dem Cover der Taschenbuchausgabe von Eine Reise in das Innere von Wien: In der Illustration von Peter Pongratz trägt ein Totenkopf eine mit einem Kreuz versehene Krone - eine vielfach semantisierte Illustration. Bei einer nichtmetaphorischen Interpretation müsste offen bleiben, ob es sich hier um die kaiserliche österreichische Rudolfskrone oder die königliche ungarische Stephanskrone handelt. Jedenfalls steht die Krone mit dem Kreuz für die Verbindung von weltlicher und göttlicher Herrschaft. Deshalb kann dieses Machtsymbol der Habsburger als ein Wegweiser zu der von Roth in seinem Essay „Der Stephansdom“ als besonders wichtig herausgearbeiteten Verbindung von katholischer Kirche und Habsburgischem Staat gelesen werden, die zu „einem Kirchenstaat und einer Staatskirche“ (RIW 144) geführt habe: „Es ist in erster Linie ein habsburgisch-katholisches Monument, manchmal mehr habsburgisch als katholisch, manchmal mehr katholisch als habsburgisch.“ (RIW 133) Der Stephansdom ist für Roth ein zeichentheoretisch gedachter Gedächtnisspeicher, der archäologischen Lektüren unterzogen werden kann, „eine versteinerte Arche Noah, in der die Geschichte Wiens in Form von Zeichen und Spuren die Flut der Zeiten überlebt hat“ (RIW 132), ein aus „Graffiti der Geschichte“, die „auch in den Köpfen, im Bewußtsein der Österreicher eingekratzt“ sind, konstruiertes „Gedankengebäude“ (RIW 133). Uwe Schütte versteht dieses gebaute Imaginaire, dieses in Stein gehauene Symbol 962 Schütte: Die unheimlich vertraute, fremde Stadt, S. 161. In der so genannten Seegrotte in der Hinterbrühl bei Mödling befand sich eine Außenstelle des KZ Mauthausen, das der Rüstungsproduktion diente. (Vgl. RIW 27-28) Sogar im Jahr 2009 wird bei der offiziellen Führung durch die Grotte das Leid der im Dunkeln erblindeten Zugpferde stärker betont als das Leid der unterirdisch zum Teil zu Tode geschundenen KZ- Häftlinge. Auf dem Areal der Seegrotte gibt es außerdem kein Mahnmal, dieses liegt einige hundert Meter vom Eingang der Grotte entfernt versteckt neben einer Straße, ist kaum gepflegt und wurde in den letzten Jahren wiederholt geschändet. <?page no="375"?> 4.1 Machtorte des Gedächtnisses 371 einer imagined community im Sinne Benedict Andersons 963 als Teil des habsburgischen Mythos, wobei gilt: „Basis des Mythos ist die Gleichsetzung der habsburgischen Macht mit einem heilsgeschichtlichen Auftrag.“ 964 Als einen wichtigen Teil dieses über Jahrhunderte hinweg unternommenen Konstruktionsprozesses arbeitet Gerhard Roth in Schüttes Verständnis die von Kaiser Maximilian I. (1459-1519) in Auftrag gegebene Erstellung einer Genealogie der Habsburger, die bis zu Noah reicht und Verwandtschaftsverhältnisse mit allen wichtigen Akteuren der Kirchengeschichte (inklusive Jesus Christus) herstellt, heraus. (Vgl. RIW 156) Schütte fasst zusammen: „In dieser Strategie läßt sich ein typisches Mittel der Selbstlegitimierung von Macht erkennen. Indem man sich mit dem immer schon Dagewesenen, Unvordenklichen assoziiert, wird das Recht der Herrschaftsausübung unangreifbar.“ 965 Während nun aber Schütte Roth vor allem auf die Analyse der Verschränkung sakraler mit säkularer Macht in der Habsburgermonarchie liest, schreibt dieser die Traditionslinie noch einen Schritt weiter: Diese Vorstellung, der Mittelpunkt der Welt zu sein, ist in Österreich weit verbreitet und um so mehr, je weniger es stimmt. Kein Wunder, daß das Land zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und Größenwahn schwankt und daß die Einstellung zur Wahrheit einem Rohr im Wind gleicht. Ist es vermessen, den Größenwahn Adolf Hitlers in diesem Zusammenhang zu erwähnen und sein blutiges Ende? (RIW 156) Roth spielt hier auf den quasi-religiösen, jedoch nur indirekt katholisch geprägten Herrschaftsgestus Hitlers ebenso an wie, unterschwelliger, auf die Kontinuität der kirchlichen Kooperation mit staatlicher Macht sogar im Faschismus, auf die schon in der Analyse von „Hahnlosers Ende“ eingegangen wurde. Der General ist eine als Repräsentant des habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur lesbare Figur. Sein Schloss ähnelt als Machtort und -symbol in manchem dem Stephansdom: So sind beide, der reale wie der 963 Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. A. d. Engl. v. Christoph Münz und Benedikt Burkard. 2., um ein Nachwort von Thomas Mergel erw. Aufl. Frankfurt/ Main: Campus 2005. In diesem einflussreichen Buch zeigte Anderson Wege zu antiessentialistischen Perspektiven auf den Nationsbegriff; eine „Nation“ wird bei Anderson als Ergebnis narrativer und diskursiver Konstruktionsprozesse verstanden, also nicht als ,natürlich‘, sondern als vorgestellt. Roth nennt den Stephansdom hierzu passend einen „Dampfer des Nationalbewußtseins“ (RIW 144). 964 Schütte: Die unheimlich vertraute, fremde Stadt, S. 157. 965 Ebenda. <?page no="376"?> 4 Raum und Gedächtnis 372 fiktive Ort, zum einen „Beispiel[e] dafür, daß Macht in exemplarischen Objekten manifestiert sein muß, um auf diese Weise ihren Anspruch zu beweisen. Die Macht wird gleichsam in ihnen gespeichert.“ 966 Zum anderen ist diese Macht wie ihre Gebäude trotz ihrer Ausrichtung auf Ewigkeit vom Untergang bedroht: Der Dom verfällt, und sein Verfall ist natur- und zivilisationsbedingt. Nimmt man alle Reparaturen inklusive der Kriegsschäden her, so wurde der Dom wahrscheinlich schon zu zwei Dritteln erneuert - allein 1945 waren vierzig bis fünfundvierzig Prozent der Bausubstanz zerstört. [...] Nur mit Spenden [...] können die Ausbesserungsarbeiten durchgeführt werden, ohne fortwährende Renovierung würde das „Gedächtnis“ des „steinernen Zeugen“ nachlassen und sich schließlich selbst vergessen. (RIW 174-175) Eine weitere Parallele ergibt sich schließlich über den Blick, der von der Höhe aus ein panoptischer werden kann. Der 137 Meter hohe Südturm des Stephansdoms wurde bei der „k.k. Katastralvermessung von 1817 bis 1837“ zur Vermessung „wesentliche[r] Teile des Staates“ (RIW 140) verwendet, sogar 1937 nahm man von dort noch weitreichende Landvermessungen vor. Außerdem ist auf dem Turm eine Funkantenne des Senders der Wiener Polizei installiert: „Eine merkwürdige, aber alles in allem nicht ganz erstaunliche Allianz zwischen Kirche und Staat zur besseren Überwachung der Bürger.“ (RIW 139) Trotz dieser Gemeinsamkeiten zwischen Schloss und Stephansdom ist der General selbst nicht auf besondere Weise mit dem Katholizismus verbunden, ist sein Machtanspruch nicht über enge Verbindungen zur Kirche oder zu den verschiedenen Pfarrersfiguren besonders gedeckt, finden sich im Schloss keine religiösen Zeichen. Der General ist zwar eine überzeitliche Figur, jedoch profan oder profaniert, sein Mythos hat keinen konfessionellen Boden, sondern ist allgemeinerer Natur. Dennoch ist bei dieser Figur natürlich der spezifische österreichisch-habsburgisch-katholische erinnerungskulturelle Kontext mitzudenken, der von Roth in Eine Reise in das Innere von Wien zyklusintern im Essay zum Stephansdom sozusagen nachgeliefert worden ist. Im Text zum Heeresgeschichtlichen Museum wird jedoch deutlich, dass Roth selbst trotz aller essayistischen und literarischen Dekonstruktionsbemühungen den habsburgischen Mythos nicht völlig auf der Müllhalde der Geschichte entsorgen möchte: 966 Ebenda, S. 158. <?page no="377"?> 4.1 Machtorte des Gedächtnisses 373 Im Grunde war das Ende der Monarchie ein logisches, aber vielleicht ist es gerade deshalb ein besonders tragisches, denn gleichzeitig mit ihr wurde eine Utopie zerstört - wenn diese Utopie auch ein Zufallsprodukt der Geschichte war, genauer gesagt ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt der Habsburgischen Machtpolitik: es ist der habsburgische Österreicher als, wenn man so will, erster Europäer. (RIW 276-277) <?page no="378"?> 4 Raum und Gedächtnis 374 4.2 Archive in den Archiven des Schweigens In den Archiven des Schweigens findet sich eine Reihe von Gebäuden, die mit dem Begriff des Gedächtnisses und/ oder des Gedächtnisspeichers in Verbindung gebracht werden kann. In Im tiefen Österreich wird das Heimatmuseum des Bestatters abgebildet und beschrieben, in Der Stille Ozean wird ein Gang durch dieses Museum inszeniert, ebenso erwähnt wird es in der Dorfchronik zum „Landläufigen Tod“ und in Landläufiger Tod selbst. In Am Abgrund wird das Naturhistorische Museum besucht, in Die Geschichte der Dunkelheit die Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste. Eine Reise in das Innere von Wien ist auch eine Reise in das Innere von Museen und Erinnerungsorten: Der jüdische Friedhof in der Seegasse im neunten Wiener Gemeindebezirk und die Gedächtnislandschaft Leopoldstadt (der zweite Bezirk), die Nationalbibliothek und das Museum im Narrenturm, der Stephansdom und vor allem, im längsten Essay dieses letzten Zyklusteiles, das Heeresgeschichtliche Museum werden aufgesucht. Diese Orte und Gebäude stehen für unterschiedliche Aspekte der österreichischen Erinnerungskultur und können mit verschiedenen theoretischen Zugängen in den Blick genommen werden. Aus forschungspragmatischen Gründen sollen hier nur zwei wesentliche Charakteristika untersucht werden: die Einbindung Gerhard Roths und der von ihm beschriebenen Gebäude und Orte in erinnerungskulturelle und gedächtnispolitische Zusammenhänge sowie deren Funktionalisierung unter dem Gesichtspunkt der Gedächtnismetaphorik. In ihrem Buch Geschichte im Gedächtnis unterscheidet Aleida Assmann drei Dimensionen der Erinnerungskultur: „Geschichte als Marktfaktor, als Identitätsvergewisserung und als ethische[r] Imperativ“. 967 Geschichte soll zum einen also unterhalten und Profit einbringen, wobei beispielsweise Museen, Geschichtsparks, Ausstellungen, Computerspiele sowie Dokumentar- und Spielfilme auf den Impuls der Neugier an Geschichte reagieren. Zum anderen spielen aber kulturell relevante und miteinander verschränkte Fragen von Ethik und Identität eine bedeutende Rolle. Bei einem Interesse an Geschichte im Sinne einer „Identitätsvergewisserung“ geht es nämlich immer „um die eigene Geschichte. Individuelle oder nationale Identität, das war die Einsicht des 19. Jahrhunderts, ist nur über Geschichte zugänglich.“ 968 Geht es 967 Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S. 27. 968 Ebenda, S. 26. <?page no="379"?> 4.2 Archive in den Archiven des Schweigens 375 bei der „Identitätsvergewisserung“ um (potentiell natürlich einseitig) positiv besetzte Bereiche der eigenen Geschichte, so zielt der „ethische Imperativ“ auf unangenehme, negativ konnotierte Orte des Gedächtnisses ab: Das Gebot „Du sollst dich erinnern! “ gilt dort, wo es keinen spontanen Impuls zum Erinnern gibt und sich im Gegenteil die Dynamik des Vergessens einschaltet zur Entsorgung von Scham und Schuld. Es geht dabei um Anerkennung bestimmter Episoden der Vergangenheit als eine ethische Pflicht. 969 Das Erinnerungsgebot kann zu einer Destabilisierung von Identität führen, denn „[s]ich an etwas, das man lieber vergessen möchte, zu erinnern, entspricht keinem anthropologischen oder identitätssichernden Bedürfnis und macht eben deshalb den ethischen Charakter des Geschichtsbezugs aus.“ 970 Eine nach Assmanns Kategorien erfolgende Analyse mit einem Fokus darauf, welche Orte Roth aufsucht und wie er sie beschreibt, liefert nun folgendes Ergebnis: Als Orte, in denen es um die Sicherung einer österreichischen Identität geht, können die Nationalbibliothek, der Stephansdom und das Heeresgeschichtliche Museum genannt werden. Hier versucht Roth, im Sinne des „ethischen Imperativs“, jene Aspekte der katholischen (und) österreichischen Geschichte herauszuarbeiten, an die an diesen Orten nicht erinnert wird: „Roths Hauptantrieb [...] war es wohl, die musealen und literarischkünstlerischen Zeugnisse des ,habsburgischen Mythos‘ (Claudio Magris) von einer Gegenlegende her zu lesen.“, 971 schreibt Walter Hinck. Das versucht Roth auch bei seinen Streifzügen durch die Leopoldstadt oder beim Besuch des jüdischen Friedhofs, nur ist es hier der „ethische Imperativ“, der ihn zum Aufsuchen dieser Orte führt, und es ist das Ziel, eine jüdische Identität im Post-Shoa-Österreich neu zu ergründen. Das Heimatmuseum wiederum könnte der Etablierung einer regionalen, ja bedenklich heimattümelnden Identität dienen, jedoch scheint es sich aufgrund der chaotischen Aufstellung seiner Exponate und der scheinbaren Sistierung des archivalischen Prinzips der Auswahl nicht dafür zu eignen. Aber gerade deshalb ist es für Roth in Im tiefen Österreich ebenso interessant wie für seine Figur Ascher in Der Stille Ozean: Es wird zum Symbol des Exotischen und Fremden im Nahen, bezogen sowohl auf den Raum als auch auf die Zeit, die Vergangenheit, das sich den Kategorien „Identitätsvergewisserung“ und Erinnern als „ethische Pflicht“ zu 969 Ebenda, S. 27. 970 Ebenda. 971 Walter Hinck: Literarische Archäologie Österreichs. Zu dem Zyklus Die Archive des Schweigens. In: Wittstock: Materialien, S. 97-109, hier S. 107. <?page no="380"?> 4 Raum und Gedächtnis 376 entziehen scheint. Der Gründer des Museums, der Bestatter, findet im oststeirischen Landarbeiter Franz Gsellmann, der in Franz Gsellmanns Weltmaschine mit Fotografien von Franz Killmeyer und Texten von Gerhard Roth porträtiert ist, 972 ein Pendant. Gsellmann baute nach dem Prinzip der Bricolage eine Weltmaschine, das heißt, er erzeugte unter Verwendung sehr unterschiedlicher, oft auf dem Müll gefundener Gegenstände, eine Archivmaschine, die nichts produziert. In Bezug auf das Museum des Bestatters und die „Weltmaschine“ fällt vor allem ein Aspekt ins Auge, über den Aleida Assmann in ihrem Buch Erinnerungsräume schreibt: Das Archiv, das eine Sammel- und Konservierungsstelle für das Vergangene, aber nicht zu verlierende ist, kann als ein umgekehrtes Spiegelbild zur Mülldeponie betrachtet werden, auf der das Vergangene eingesammelt und dem Zerfall überlassen wird. 973 Gsellmann macht nun aus der Mülldeponie seine „Weltmaschine“, der Bestatter macht aus jenen Gegenständen, die die Menschen wegwerfen würden, Museumsobjekte, 974 Roth aus den nur im Privaten zirkulierenden Erzählungen der Dorfbewohner Literatur, alle drei also bewerten das Unterbewertete hoch und überführen es in selbst geschaffene Archive wie in das kulturelle Archiv in seinem Insgesamt. Gleichzeitig aber sind alle drei Archive auch Nicht-Archive, da sie keiner nachvollziehbaren Ordnung unterworfen werden, 975 ja wie das Heimatmuseum „ohne Ordnung“ (DSO 109) sind. So haben die beiden räumlichen Archive eine poetologische Entsprechung in der Konstruktion von Landläufiger Tod: Waren die Erzählbausteine im Stillen Ozean noch in das systematische Gerüst einer fortlaufenden und kohärenten Handlung eingebaut, so herrscht nun im Landläufigen Tod dieselbe Unordnung wie im Hause [das heißt bei der Weltmaschine; G. L.] Gsellmanns oder im Heimatmuseum Haintls. 976 972 Siehe dazu Gerhard Roth und Franz Killmeyer: Gsellmanns Weltmaschine. Bericht und Texte Gerhard Roth. Fotografien Franz Killmeyer. Konzept und Layout Loys Egg. Wien, München: Jugend und Volk 1986. 973 Assmann: Erinnerungsräume, S. 383. 974 „Als Bestatter führte er aus, sei er selbstverständlich in jedes Haus gekommen und habe dort ,Altertümer‘, wie er sich ausdrückte, durch den Unverstand der Menschen verkommen sehen. Er habe sie gerettet.“ (DSO 111) 975 Genauso wenig wie die angeblichen Studien des Bestatters: „Er sei Historiker, Botaniker, Musikwissenschaftler, Restaurator, mehrfacher Erfinder und Präparator. Daneben sei er Gutsbesitzer, Gärtner, Student, Komponist, Maler und Kaufmann.“ (DSO 108) 976 Schütte: Auf der Spur, S. 98. <?page no="381"?> 4.2 Archive in den Archiven des Schweigens 377 Das Heimatmuseum wird mit einer dingbesessenen Akribie beschrieben. Für Bauschinger ist es als „a museum with forty thousand objects, a feast for Roth the describer.“ 977 Allerdings bleibt es in dieser ausführlichen Darstellung des Heimatmuseums in Der Stille Ozean (DSO 106-115) bei einer Aufzählung, die für sich selbst sprechen muss, da der gestalterische Impetus und die Bedeutungsgebung eben in der Art des Aufzählens und nicht in der Deutung des Aufgezählten liegen. Das hat vor allem auch eine mimetische Ebene im Sinne der Wahrnehmung Aschers 978 und der Sprechweise des durch das Museum führenden Bestatters. Denn gerade in der Ergründung von Gedächtnis als räumlicher Speicher von Zeit hat der Bestatter keine Zeit: „Sobald er mit der Führung durch das Museum begonnen hatte, vollendete er die Sätze nicht mehr, sondern deutete deren Inhalt oft nur an.“ (DSO 108) Bei der Führung durch das Museum beginnen Signifikate und Signifikanten zu tanzen, der Bestatter stammelte, ohne Artikel oder beifügende Worte zu verwenden, Erklärungen, die immer kürzer ausfielen, ineinander übergingen und schließlich von der nächsten Erklärung überlagert wurden, zu der Ascher noch nicht den entsprechenden Gegenstand ausgemacht hatte. (DSO 109) Inwiefern die Objekte zu positiv oder negativ konnotierten Gedächtnisnarrativen gehören, bleibt offen, aber in einer merkwürdigen, dem kritischen Ton von Eine Reise in das Innere von Wien nicht entsprechenden Wendung, werden Museum und sein Leiter schließlich positiv dargestellt: Das Polyphon spielte ein Wienerlied, dessen verschnörkelte Unschuld in einem seltsamen Kontrast zu den abgerissenen, halbverschluckten Sätzen des Bestatters stand. Und Ascher, der dem Bestatter bisher mit Gefühlen der Neugierde und Vorsicht gegenübergestanden war, fühlte plötzlich Zuneigung. Er hatte den Eindruck, daß der Mann nichts verbergen konnte. (DSO 111) Und auch die vom gesamten Museum, das ja Teil eines Bestattungsunternehmens ist, ausgestrahlte Aura des Todes wird in einer kurzen Sequenz aufgehoben, als der Ball eines spielenden Kindes in das Areal fällt und von einem taubstummen Gehilfen des Bestatters diesem wieder zurückgegeben wird. Tietze sieht diese Szene neben dem Staccato des Bestatters und der Musik „als einziges Lebenszeichen [...] an diesem Ort des Vergessens [...]. Der Spielball 977 Bauschinger: Gerhard Roth, S. 353. 978 In Aschers Wahrnehmung archaischer Zustände wird übrigens der ganze Landstrich zum Heimatmuseum, weshalb Thomas schreibt: „In this living museum, the inner life of a bygone era is preserved along with its physical artefacts.“ (Thomas: Depth Charges, S. 177.) <?page no="382"?> 4 Raum und Gedächtnis 378 des Autor-Konstrukteurs nun wird die Geschichte der Toten und ihrer Gegenstände beleben.“ 979 Zurückgenommen wird diese Perspektive verstanden als eher positiver Ausblick in Landläufiger Tod, als der Bestatter Dominik in „Hahnlosers Ende“ als Nazisympathisant dargestellt wird: „Was beabsichtigte der Leichenbestatter? Soviel er [der Pfarrer; G.L.] wußte, war er ein Anhänger der bestehenden Verhältnisse und stand sicher nicht auf der Seite der Partisanen.“ (LT 383) Erst über diese Information gerät das Heimatmuseum in jenes schiefe Licht, das sich aus der in anderen, ,gewöhnlichen‘ Heimatmuseen betriebenen so genannten ,Traditionspflege‘ meist ganz von selbst ergibt. In seiner in Der Stille Ozean beschriebenen Form hingegen lässt sich das Heimatmuseum einem von Aleida Assmann am Ende ihres Aufsatzes „Zur Metaphorik der Erinnerung“ vorgestellten Modell zuordnen, das eine verkürzte und auf Gebäudebilder abzielende Version von Astrid Erlls Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses zu sein scheint: Die Metaphern des Magazins, der Sammlung, des Bestandes weisen in zwei verschiedene Richtungen: das monumentale und das archivarische Gedächtnis. Im ersten Falle handelt es sich um Gedächtnisbildung im Sinne der Kanonisierung einer Auswahl, um Stabilisierung werthafter Fixpunkte und Erzeugung von Verbindlichkeit; im anderen Falle handelt es sich um Konservierung einer grundsätzlich offenen und unstrukturierten Menge, einschließlich alles dessen, was aus der Gegenwart gefallen ist und anderswo keine Chance mehr hat zu überleben. 980 Das Heimatmuseum ist deutlich dem „archivarischen Gedächtnis“ zugehörig, es ist de facto näher am Archiv als am Museum, näher am Speicher-, als am Funktionsgedächtnis, es handelt sich um eine „unstrukturierte Menge“ von Objekten, denen nur gemeinsam ist, dass sie aus der Vergangenheit kommen und vom Bestatter-Archivar Dominik gefunden und aufgestellt wurden. Der „monumentale“ urbane Gegenort dazu wäre dann das Heeresgeschichtliche Museum mit seiner eine nationale Identität stiftenden Funktion. Über seine Ortsbegehungen und Streifzüge durch die österreichische Museums- und Archivlandschaft kann auch der Autor Gerhard Roth selbst verortet werden. Seine Position ist jene der „Abwehr des nationalen Diskurses, die 979 Tietze: Vergessene Sinne und verlorene Madonnenuhren, S. 201. 980 Assmann: Zur Metaphorik der Erinnerung, S. 30. <?page no="383"?> 4.2 Archive in den Archiven des Schweigens 379 unter Linken der 68er Generation verbreitet war“, da diese Intellektuellen die Nation mit dem Verbrechensregime der Nationalsozialisten gleichsetz(t)en: Das akute Bewußtsein von Scham und Schuld gegenüber der deutschen Vergangenheit, das von dieser Generation zu einem gesellschaftlichen Thema gemacht wurde, ließ ebenso wie die Abwehr jeglicher kollektivistischer Mythen keine Formen nationaler Identifikation mehr zu. 981 Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für Österreich, wie ebenso das von Assmann präsentierte Modell einer Unterscheidung in positiven und negativen Nationalismus auf die österreichischen Verhältnisse und Gerhard Roths Positionierung applikabel erscheint. Der positive Nationalismus deutscher Prägung privilegiert die positiven Momente der eigenen Geschichte und klammert die negativen Aspekte - inklusive Nationalsozialismus - weitestgehend aus: „Im Prozeß dieser Umdeutung von Geschichte gewann die Zunft der Historiker neue gesellschaftliche Bedeutung. Denn ihr oblag es, mit neuen, paßförmig gemachten Geschichtsbildern aufzuwarten.“ 982 Von einer Ausklammerung des Nationalsozialismus spricht Gerhard Roth in seiner Kritik an der österreichischen Geschichtswissenschaft nicht, von eindeutigen Tendenzen im Sinne des positiven Nationalismus aber durchaus. Bestimmte Bestände, die in den Archiven gespeichert sind, würden nicht aufgearbeitet, weil sie die negativen Seiten der Geschichte ans Licht bringen würden: Von Soldatenart und Führerpflicht, aber vor allem von der Überzeugung der Habsburger, daß mehr Land mehr Macht bedeutet, weswegen sie es sich während ihrer langen Geschichte aneigneten, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot und ohne Rücksicht auf daraus entstehende Probleme, ist in österreichischen Geschichtsbüchern wenig zu lesen. Die österreichische Geschichte ist eine gewalttätige, auch wenn es nicht den Anschein hat und alles verklärt und im Dreivierteltakt dargeboten [...] wird; die Gewalttätigkeit [...] ist in der Buchhaltung des Landes festgehalten, auch wenn noch so viele Konten gefälscht, durch Tintentod und Radierkunst unsichtbar gemacht und Konkurse und Insolvenzen durch geschickte oder plumpere Manipulationen zu Gewinnen umfrisiert wurden. (RIW 185) Der negative Nationalismus deutscher Prägung sieht eine Sonderstellung der Deutschen in der Weltgeschichte, aber im negativen, zerstörerischen Sinn: „Der Nationalstolz findet seine Umkehrung im deutschen ,Schuldstolz‘ (G. Konrad).“ 983 Entscheidendes Moment des negativen Nationalismus ist „eine 981 Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 63. 982 Ebenda, S. 66. 983 Ebenda, S. 66-67. <?page no="384"?> 4 Raum und Gedächtnis 380 Sakralisierung des Holocaust, eine ,Holocaustfixierung‘, die die Vernichtung der Juden zur negativen Sinnstiftung deutscher Geschichte macht.“ 984 Die deutsche Geschichte wird in diesem Kontext als teleleogisch auf den Holocaust zusteuernd interpretiert. Ein solcher negativer Nationalismus, aber mit österreichspezifischer Ausprägung, findet sich bisweilen auch bei Gerhard Roth, wobei besonders der Essayband Eine Reise in das Innere von Wien eine dahingehende Tendenz aufzuweisen scheint, 985 eine einseitige Tendenz, die Saur - die nicht mit dem Konzept des negativen Nationalismus operiert - in ihrem Aufsatz zu den Archiven des Schweigens kritisiert: If the book [RIW; G. L.] suggests that Naziism stems from some kind of national cultural sickness, for example, one can question whether it is fair to begin with a chapter on the eighteenth century „Hetztheater,“ which relied on cruelty to animals for entertainment. The theater’s performances ought to be assessed in light of the history of comparable traditions of cruelty to animals in various centuries and countries before a connection is implied between these shows and the Nazi movement or other aspects of Austrian culture. 986 Ebenso fragwürdig findet Saur Roths Gedanken, „daß Sigmund Freud seine Entdeckungen zwangsläufig in Wien machen mußte“ (RIW 14), weil es dort ein System von unterirdischen, nicht sichtbaren Gängen gäbe, das metaphorisch auf soziale und psychische Räume übertragen werden kann. Für Saur ist Wien eine durchschnittliche Großstadt, in der es ebenso wie in anderen vergleichbaren Städten privilegierte Eliten und Obdachlose, Gefängnisse und psychiatrische Kliniken gibt. Roths essayistische Technik der Verbindung von sozusagen literarischen oder poetischen Assoziationen und Bildern mit Ortsbegehungen, Interviews und Statistiken sowie aus geschichtswissenschaftlichen Büchern entnommenen Informationen zeigt in solchen Sequenzen jedenfalls ihre relativen Schwächen, die wiederum eine ideologische, aus der Autorintention ableitbare Schlagseite haben: „At one moment, when Roth mentions the death penalty, he seems to wish it were still in effect to bolster his portrait of Viennese cruelty; he writes in a rather forced sentence“: 987 „Zwar ist die Todesstrafe abgeschafft, und manches wurde verbessert, aber das Graue Haus bleibt ein Hades, mit langen, dunklen Gängen, Türen wie 984 Ebenda, S. 66. 985 Anders verhält es sich mit der in dieser Arbeit schon diskutierten Geschichte der Dunkelheit, die weniger vom Inhalt, als von der Form her auf kulturelle und soziale Prägungen des Autors verweist, die wiederum zu Schwierigkeiten im Finden der adäquaten Darstellungsform führten. 986 Saur: Gerhard Roth’s Die Archive des Schweigens, S. 97. 987 Ebenda. <?page no="385"?> 4.2 Archive in den Archiven des Schweigens 381 Fallen, trostlosen Zellen, traurigen Beamtenzimmern und nüchternen bis majestätischen Gerichtssälen.“ (RIW 67-68) Der für seine Minidramolette bekannte Schriftststeller Antonio Fian hat in dem satirisch-polemischen Text „Hysterischer Hausarzt von Österreich“ Gerhard Roths Betonung der negativen Besonderheit Österreichs, seine Art der Kritik an Österreich am schärfsten kritisiert: Der „Wunsch“ des „gnadenlos Gute[n]“ sei nicht zu helfen, es will retten, rücksichtslos, und wenn es das eigene Leben kostet. Das rührt daher, daß es davon überzeugt ist, in der Tradition des österreichischen Widerstands zu stehen. Nur die späte Geburt, weiß es, DER FLUCH DER SPÄTEN GEBURT hat es gehindert, selbst gegen die Nazis zu kämpfen, selbst HEROISCH zu sein, und um nun das Versäumte, wenigstens im Geiste, nachzuholen, erfindet es sich sein eigenes, zwar noch nicht, das ginge doch zu weit, in einen neuen Nationalsozialismus gekipptes, aber doch an der Kippe stehendes Österreich, es heroisiert sich am ausgedacht Schrecklichen. 988 Das Fian’sche „gnadenlos Gute“ verweist darauf, dass Gerhard Roth mit seiner die Form von Österreichkritik annehmenden negativen Österreichfixiertheit in der literarischen Szene keineswegs alleine ist, sondern sich vielmehr in einem größeren Diskurs positioniert. Klaus Zeyringer schreibt in seiner literaturgeschichtlichen Studie Österreichische Literatur seit 1945: „Die kritisch ausgeleuchtete Bühne in unzähligen Texten der achtziger Jahre ist Österreich, immer noch die kleine Welt, in der die große ihre Probe hält.“ 989 Für Zeyringer steht sogar in jener Literatur aus den 1980ern, in der „nicht Österreich selbst bereist wird, [...] es, mehr oder weniger deutlich, als eine Folie im Hintergrund.“ 990 Für eine Klärung dieser besonderen Konstellation könnten die Konzepte des positiven Nationalismus, der kritisiert wird, und des negativen Nationalismus, der vielleicht unbewusst vertreten wird, jedenfalls hilfreich sein. Vor allem auch deshalb, weil diese Österreichbezogenheit und die dafür verwendeten, als Verräumlichungen angelegten literarischen Bilder „selbst wiederum einen Möglichkeiten-Raum möblieren - Österreich und die verschiedenen historischen und gegenwärtigen Interdependenzen als Museum“, 991 weshalb, worauf Zeyringer hinweist, in vielen Romanen Museen eine 988 Antonio Fian: „Hysterischer Hausarzt von Österreich“. Der Schriftsteller Gerhard Roth als Verkörperung des gnadenlos Guten - Eine Polemik. In: Baltl/ Ehetreiber: Gerhard Roth, S. 318-322, hier S. 319. 989 Klaus Zeyringer: Österreichische Literatur seit 1945. Überblicke, Einschnitte, Wegmarken. Innsbruck: Haymon 2001. S. 589. 990 Ebenda, S. 591. 991 Ebenda. <?page no="386"?> 4 Raum und Gedächtnis 382 Rolle spielen: das Heimatmuseum in Gerhard Fritschs Fasching, das Kunsthistorische Museum in Bernhards Alte Meister, das Museum als Arbeitsplatz in Michael Scharangs Auf nach Amerika, Werner Koflers Film und Text Im Museum. Bei einer besonderen Konzentration auf bestimmte Aspekte der Vergangenheit gibt es allerdings Gefahren, auf die Elena Esposito im Einklang mit Umberto Eco (vgl. Kapitel 3.5.2) hinweist, denn ein Zuviel an Information führt zu „sozialem Vergessen“: Die beste Art, Erinnerung auszulöschen, besteht nicht im Löschen von Informationen (dies ist ja auch nicht möglich), sondern in der Produktion eines Überschusses an Information - nicht durch die Erzeugung einer Abwesenheit, sondern in der Vervielfältigung der Präsenzen. Das Vergessen wird nicht durch eine Hemmung […], sondern geradezu durch eine Förderung des Gedächtnisses durchgesetzt. 992 Wenn Gerhard Roth also die dunklen Seiten der österreichischen Geschichte (Antisemitismus, Habsburgischer Imperialismus, Nationalsozialismus) besonders stark hervorhebt, so hat das aus der Perspektive einer auf die gesellschaftliche Rezeption blickenden Gedächtnistheorie die beabsichtigte didaktische, aufklärerische Funktion, wenn tatsächlich die behaupteten Leerstellen im Geschichtsbewusstsein gefüllt werden. Wird aber die Verortung in einem österreichkritischen Diskurs zu einer übermäßig eingesetzten habituellen Geste, verliert die zu Recht geübte Kritik letztlich an Relevanz. Dann kann man mit Walter Vogl die Frage stellen, „ob Roths Österreich-Kritik wirklich dem historischen Moment angemessen war, ob sie nicht letztlich an ihrer guten Gesinnung gescheitert ist.“ 993 Die Archive in den Archiven können aber auch als Metaphern für Gedächtnis gelesen werden, häufig wird von Gerhard Roth die Gedächtnismetaphorik selbst aktualisiert. So schreibt er über das Heimatmuseum des Bestatters Haintl in Im tiefen Österreich, durch das der Autor mehrmals geführt wurde: „Ich faßte das Museum als ein chaotisches Gedächtnis des Landstrichs auf.“ (ITÖ 105) Ebenfalls metaphorisch erfasst Roth die Funktion der Österreichischen Nationalbibliothek in Eine Reise in das Innere von Wien: 992 Elena Esposito: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. A. d. Ital. v. A. Conti. M. e. Nachw. v. Jan Assmann. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2002 (stbw 1557). S. 29-30. 993 Vogl: Arche Noah, auf hoher See gebaut, S. 127. <?page no="387"?> 4.2 Archive in den Archiven des Schweigens 383 Ein Atlas des unterirdischen Wien ähnelte den Abbildungen eines Menschen in einem anatomischen Lehrbuch, auf denen die Nervenbahnen, Venen, Arterien und Organe dargestellt sind. Der Kopf, mit dem Gedächtnis dieses von außen unsichtbaren Organismus, wäre die Nationalbibliothek. (RIW 15-16) In dem inoffiziellen Zyklustext „Berggasse 19“ heißt es im Zusammenhang mit dem an Freuds ehemaliger Adresse angesiedelten Museum: „,Sie befinden sich, wie Sie wissen, in einem Museum, genauer gesagt, in einem Gedächtnisraum, d. h. einer meiner unzähligen Gedächtniszellen‘, hörte ich den Archäologen jetzt sprechen.“ 994 Eindrücklich und in gewissem Sinne eine Freilegung der metaphorisch gedachten eigenen Vorgehensweise ist die Beschreibung des Stephansdoms, dessen historische Einschreibungen sich für Roth auch in die Köpfe der Österreicher eingeschrieben haben: „So ist die Untersuchung des Stephansdomes auch die Untersuchung eines österreichischen Kopfes und damit seines Gedächtnisses und seiner von ihm bewußt oder unbewußt gesteuerten Denkungsweise.“ (RIW 133) Methodischer Ausgangspunkt für die metaphorische Schreib- und Lesart von Museen und Archiven im Zyklus ist nun die Verbindung räumlicher Gedächtnismetaphern mit der antiken Mnemotechnik, der ars memorativa oder ars memoriae. Die Mnemotechnik, die häufig als Beginn der kulturellen Auseinandersetzung mit dem Gedächtnis verstanden wird, geht folgendermaßen vor: „Die Dimension der Zeit wird von der Mnemotechnik ausgefiltert, Zeit greift selbst nicht strukturierend in den Prozeß ein, der sich deshalb auch als ein rein räumliches Verfahren darstellt.“ 995 Das zu Memorierende, Vergängliche wurde als loci et imagines, als Orte und Bilder und demnach in verräumlichter Form in das ebenfalls als begehbarer Raum vorgestellte Gedächtnis eingetragen oder eingeschrieben: „Von dieser topologischen Qualität ist es nur ein Schritt zu architektonischen Komplexen als Verkörperungen des Gedächtnisses. Es ist der Schritt von Räumen als mnemotechnischen Medien zu Gebäuden als Symbolen des Gedächtnisses.“ 996 Beschäftigen wir uns zunächst mit der Speicherung von Gedächtnisinhalten, die per se zeitlich sind, im imaginären Raum. In Der Untersuchungsrichter heißt es: „Die Zeit ist ein Raum“ (UR 54). In dieser Feststellung wird die Zeit, wie in der antiken Mnemotechnik, verräumlicht, was ähnlich gedacht ist wie in Friedrich Ratzels (1844-1904) berühmtem Satz: „Im Raume lesen wir 994 Gerhard Roth: Berggasse 19. In: Wittstock: Materialien, S. 60-63, hier S. 62. 995 Assmann: Erinnerungsräume, S. 27. 996 Assmann: Zur Metaphorik der Erinnerung, S. 14. <?page no="388"?> 4 Raum und Gedächtnis 384 die Zeit“. 997 In Schlögels Buch gleichen Titels zitiert der deutsche Historiker übrigens auch Richard Wagners Parsifal, in dem es heißt: „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.“ 998 Diese Vorstellung, die eben in der antiken Mnemotechnik vorformuliert ist, findet nun seine materiell räumliche Analogie im historischen Museum, das im 19. Jahrundert entstanden ist und seine Wurzeln in den Ruhmestempeln der Antike hat: „Im Bildersaal der Geschichte wird die Zeit zum Raum, genauer: zum Erinnerungsraum, in dem Gedächtnis konstruiert, repräsentiert und eingeübt wird.“ 999 Renate Giacomuzzi-Putz stellt nun fest: Roths Geschichtsschreibung folgt einem räumlichen Prinzip: Die Geschichte ist kein zeitliches, einem Kausalitätsprinzip verpflichtetes Aufeinanderfolgen von Handlungen, sondern sie ist ein Raum, wo Vergangenes und Gegenwärtiges gleich präsent sind. 1000 Zwar nicht die Geschichte, aber das hier eigentlich gemeinte Gedächtnis, kann so als ein zentraler Raum der Archive des Schweigens verstanden werden. A