Dante Alighieri und sein Werk in Literatur, Musik und Kunst bis zur Postmoderne
1027
2010
978-3-7720-5377-1
978-3-7720-8377-8
A. Francke Verlag
Klaus Ley
Der vorliegende Band versammelt Beiträge zur kunstarten- und gattungsübergreifenden Rezeption der "Divina Commedia". Dass Dantes Werk bis in die Gegenwart hinein eine besondere Anziehungskraft ausübt, belegen zahlreiche Bearbeitungen für die Bühne. Doch auch im Bereich des Comics und der Buchillustration zeigt sich - wie aktuelle Beispiele verdeutlichen - eine breit gestreute Auseinandersetzung unterschiedlicher Künstler mit der Divina Commedia. Einen weiteren Schwerpunkt des Bandes bilden die Beiträge zu früheren Rezeptionsphasen, wobei der (Musik-)Dramatik besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Daneben wird der Faszination nachgegangen, die Dante auf herausragende Vertreter der neueren europäischen Literatur ausübte. Weitere Studien befassen sich mit bedeutenden Prätexten aus der Antike.
Dem Band ist eie DVD mit ergänzenden Materialien beigelegt. Sie enthält neben Videoausschnitten zu dem Beitrag "Dante, 'Francesca da Rimini' und das Erinnern im italienischen Melodramma" eine umfangreiche Bibliographie zur musikalischen Rezeption von Dante und seinem Werk. Der Thematik der Bildrezeption widmet sich der Beitrag "Mainzer Drucker in Italien und die früheren Ausgaben der Divina Commedia", aus dem sich weitere Perspektiven auf die Kanonbildung und die "questione della lingua" an der Wende zum Cinquecento ergeben.
Klaus Ley (Hrsg.) Dante Alighieri und sein Werk in Literatur, Musik und Kunst bis zur Postmoderne mit Dante Alighieri und sein Werk in Literatur, Musik und Kunst bis zur Postmoderne Mainzer Forschungen zu Drama und Theater herausgegeben von Wilfried Floeck, Winfried Herget und Friedemann Kreuder im Auftrag des »Interdisziplinären Arbeitskreises für Drama und Theater« der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Band 43 Klaus Ley (Hrsg.) Dante Alighieri und sein Werk in Literatur, Musik und Kunst bis zur Postmoderne mit Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen ISSN 0940-4767 ISBN 978-3-7720-8377-8 Gedruckt mit Unterstützung des "Interdisziplinären Arbeitskreises für Drama und Theater" der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung .......................................................................................................... 7 D ANTE ZU B EGINN DES 21. J AHRHUNDERTS Christine Mundt-Espín Von „pulp“ bis „postdramatisch“: Dante on stage 2008. Drei Uraufführungen von Bühnenwerken nach Dantes Divina Commedia (Frisina, Andriessen, Castellucci)........................................... 15 Bettina Bosold-DasGupta Dante „travestito”: Von Edoardo Sanguinetis Commedia dell’Inferno zum Comic ........................................................................ 43 D ANTE IN HISTORISCHEN K ONTEXTEN Christine Walde Lucan und Dante .................................................................................................... 57 Helmut Seng Poetologischer Dialog und bukolisches Rollenspiel. Die „Eclogae“ des Giovanni del Virgilio und Dantes ...................................... 77 Irene M. Weiss Der Abstieg von Max Estrella in die Hölle der Madrider Nacht. Zur Parodie der Divina Commedia bei Valle-Inclán .......................................... 101 Anna Maria Arrighetti Vorbote des Neuen oder eigenwillige Konstruktion? Stefan Georges Dante-Bild im Spiegel seiner Übertragungen ....................... 123 Bernhard Reitz „The objective poetic emotion“ - T.S. Eliots Rezeption Dantes................................................................................ 141 Caroline Mannweiler Becketts Belacqua: Lob und Tadel einer Anti-Haltung .................................................................... 151 Inhaltsverzeichnis 6 (M USIK -)D RAMATISCHES ZU D ANTE Klaus Ley „Nessun maggior dolore …“ (Inf. V, 121) Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts ....................... 169 Matthias Krautkrämer Allegorie des Fortschritts. Zur Bedeutung Dantes in Franz Liszts Schaffen .............................................. 207 Ursula Kramer Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma .................................................... 223 I NHALT DER BEILIEGENDEN DVD Ursula Kramer Videoausschnitte zu: Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma Klaus Ley/ Anna Kristina Laue Bibliographische Arbeitsblätter: Dante und seine Dichtung in der Musik - Kompositionen vom 16. Jahrhundert bis heute Klaus Ley/ Bettina Bosold-DasGupta Mainzer Drucker in Italien und die frühen Ausgaben der Divina Commedia. Kanonbildung - Textkritik - Zensur Vorbemerkung Die Beiträge des Bandes gehen zurück auf eine Veranstaltungsfolge zum Thema „Dante Alighieri und sein Werk in der Musik, Kunst und Literatur“, die Ende des Wintersemesters 2008/ 09 an der Universität Mainz in Zusammenarbeit des Interdisziplinären Arbeitskreises „Drama und Theater“ mit der Hochschule für Musik stattfand. Den konkreten Anlaß bot die Eröffnung des Neubaus für den Fachbereich Musik an der Johannes Gutenberg-Universität. Die von Claudia Eder geleiteten musikalischen Veranstaltungen umfaßten - neben den bereits zuvor aufgeführten „VISIONEN. Gesänge, Bilder, Klänge zu Dante Alighieris Divina Commedia“ 1 - das Konzert „VITA NUOVA. Dante-Vertonungen des 20. und 21. Jahrhunderts“ sowie die Oper „Gianni Schicchi“ von Giacomo Puccini. Zum Rahmen des Unternehmens hieß es im Gesamtprogramm: Der mittelalterliche Dichter Dante Alighieri gilt als Autor von Weltrang: Diese Auffassung wird nicht zuletzt durch die jahrhundertelange produktive Auseinandersetzung mit seinem Werk gestützt. Gibt es in Italien spätestens seit dem 16. Jahrhundert etwa eine Reihe musikalischer Werke, die sich auf Dantes Schaffen beziehen, so steht die Dante-Rezeption unserer Gegenwart in der Nachfolge von Aufklärung und Romantik. Die ungebrochene Präsenz von Dantes Texten seit mehr als 200 Jahren in Dichtung, Musik und Bildender Kunst bis in die unmittelbare Gegenwart hinein verweist auf die Anziehungskraft, die Dantes Divina Commedia und die Vita Nova bis heute für Dichter und Künstler entfalten. Das Kolloquium präsentiert ausgewählte Zeugnisse solcher Begegnung an namhaften Beispielen und stellt auch neue Forschungen zu Dantes eigenem Schaffen vor. Die Behandlung des Themas Dante, mit besonderer Akzentuierung des (musik-)dramatischen Aspekts, zielte also auf die vielgestaltige Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart. Der bildwissenschaftliche Aspekt, der bei der Durchführung der Vortragsreihe neben der Einbeziehung der inzwischen etablierten Comic-Tradition durch einen Beitrag zu Dantes Höllenvorstellung vertreten war, wird nun ergänzt durch die Berücksichtigung des frühen Buchdrucks. Der Schwerpunkt des breiten Untersuchungsraums liegt auf der Frage nach der Rezeption. Es geht sowohl darum, wie die Divina Commedia im Laufe ihrer Wirkungsgeschichte jeweils begriffen wird, als auch, mit dem Blick in die Gegenrichtung, wie Dante sich zu seinen eigenen Bezugstexten ins Verhältnis setzt. Die behandelten historischen Zeiträume gliedern sich in 1 Das Konzert - mit Werken von Monteverdi, Palestrina, Donizetti, Blacher, Kiefer, Matthus u.a. - stand in Verbindung mit der 85. Jahrestagung der Deutschen Dante-Gesellschaft, die zum Schwerpunkt „Dante und die Musik“ vom 10. bis 12.10.2008 in Mainz stattfand. Vorbemerkung 8 folgende Bereiche auf: Neben den neuesten Konfrontationen aus unserer Zeit - Dante auf dem Theater und im Comic geht es um zwei wichtige Themenbereiche aus der antiken Literatur: die für das Selbstverständnis Dantes und seines opus magnum grundlegende Auseinandersetzung mit Lucan und dessen Epos Bellum civile sowie um die antike Bukolik als Konstituens des poetischen Briefwechsels mit Giovanni del Virgilio. Daran schließt sich ein Block an, der die zu Klassikern gewordenen Autoren des 20. Jahrhunderts in den Blick nimmt: Ramón Valle-Inclán, Stefan George, T.S. Eliot und Samuel Beckett. Sie alle sind bislang - im Vergleich zu den literarischen Größen der vorangegangenen Epoche - wenig zu ihrer Stellung gegenüber Dante befragt worden. Das Interesse, das Dante im Laufe seiner Wirkungsgeschichte gerade in der Oper gefunden hat, setzt, wie insgesamt die Tendenz, einzelne Aspekte seines Schaffens auf die Bühne zu bringen, eigentlich erst mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ein. Ein wichtiges Sujet, die Episode von „Paolo e Francesca“, wird in zwei das Jahrhundert rahmenden Ausführungen untersucht. Am Beginn stehen die Fassungen von Silvio Pellico und Felice Romani, am Ende die von D’Annunzios gleichnamiger Tragödie ausgehende Oper Riccardo Zandonais. Das dazwischen eingelassene Beispiel eines musikdramatischen Tongemäldes, Franz Lizsts Dante-Symphonie, bietet die zeittypisch zugespitzte, heroisierende Deutung der großen Künstlerpersönlichkeit, die für die gesamte Epoche des 19. Jahrhunderts gültig war und auch Jahrzehnte später noch ihre Faszination bewahren sollte. Angesichts der Attraktivität, die Dantes Divina Commedia gerade in den letzten beiden Jahrzehnten bei Autoren, Musikern und Zeichnern gefunden hat, bilden zwei Beiträge zu dieser „Gegenwärtigkeit“ den Auftakt des vorliegenden Bandes. Hier schiebt sich die Frage in den Vordergrund, wie Dantes Schaffen in unserer Zeit auf Resonanz stoßen kann, nachdem die Phase der Genieästhetik längst vergangen ist. Christine Mundt-Espín analysiert in „Von ‚pulp’ bis ‚postdramatisch’: Dante on stage 2008“ drei Uraufführungen von sehr frei nach Dante angelegten Bühnenwerken, die im Jahr 2008 in verschiedenen europäischen Städten gezeigt wurden. Darin verbinden sich ganz unterschiedliche Formen medialer Kommunikation miteinander. Das Werk Dantes, das so auf seine Bedeutung für die Gegenwart befragt wird, scheint dabei zum Sprungbrett für eine weitgehend freie Assoziationskunst zu werden, bei der einzig das Bauelement der Dreigliedrigkeit mit einem deutlichen Akzent auf dem „Inferno“ erhalten bleibt. Das im angestammten konfessionellen Kontext verbleibende Werk Marco Frisinas wird in der Analyse gattungsmäßig dem neueren Musical zugewiesen; entsprechend erscheint es eher als an der Oberfläche verbleibende Bebilderung denn als radikale Diskussion der von Dante vertretenen Positionen. In Louis Andriessens „Filmoper“ La Commedia finden sich zwar unübersehbar Struktur- und Handlungselemente aus Dantes Epos, die Textzu- Vorbemerkung 9 sammenstellung greift allerdings auch auf andere Autoren aus anderen Epochen und Literaturen bis hin zur Barockzeit zurück. Die große Dreiteilung von Dantes Werk, die Andriessen in seinem fünfgliedrigen Gesamtwerk beibehält, ist in einen modernen Kontext übertragen. Der raffinierte Einsatz technischer Mittel - Filmmontage, Bühnentechnik, Sound - ist im Ergebnis eine Collage, die sich in einer spielerischen Suche der Erprobung der in der Tradition aufgehobenen künstlerischen Aussage verschreibt. Romeo Castelluccis nach eigenen Worten frei nach Dante angelegtes Triptychon Inferno. Purgatorio. Paradiso begreift sich als Auflösung der Textvorlage in Bilderfolgen, die durch multimedialen Einsatz erzeugt werden. Die drei Teile der Darbietungen sind an verschiedenen Orten und Tagen in Avignon angesiedelt. Das Ganze gibt sich als Performance, greift auf Ausdrucksmittel der Installation zurück, bei der der Autor/ Regisseur an des Dichters Stelle die Leitung übernimmt. Der Sprung in die Moderne verdichtet sich zusätzlich im letzten Teil, dem „Paradiso“, das im Untertitel als „le catastrophique“ apostrophiert ist. Die abschließende Frage, ob bei diesen jüngsten Kreationen für das Theater, bei Einsatz von Elementen der veränderten Kunst- und Kommunikationstheorie, von einem überzeugenden Zugriff auf die literarische Hinterlassenschaft geredet werden kann, muss einstweilen offen bleiben. Bettina Bosold-DasGupta wendet sich bei ihrem historischen Querschnitt durch die Zeugnisse kreativer Dante-Rezeption in den letzten fünfzig Jahren zunächst den Arbeiten des jüngst verstorbenen Edoardo Sanguineti zu. Über dessen Reflexion des „travestimento“ wird die Betrachtung des lange aus dem Kanon fallenden Comic eingeholt - hier verstanden als „travestimento a fumetti“, wie er in der frühesten Ausprägung aus der Zeit um 1950 vorliegt. Sanguineti geht es darum, Dante mit den Mitteln einer kunstarten- und gattungsübergreifenden „Anverwandlung“ in die Neuzeit zu übersetzen, „wiederzuerfinden“. Sein vom Theater bestimmtes Interesse richtet sich vorrangig auf das Wort. Mit eigenwilliger Kombinatorik verfolgt er die Umformung des vorgegebenen poetischen Materials in die Commedia dell’ Inferno, wobei er den Danteschen Kerntexten kommentierende Abschnitte aus anderen mittelalterlichen Werken beigibt. So wird nicht zuletzt sprachspielerisch der plurilinguistische und -stilistische Aspekt von Dantes Schaffen neu aktiviert. Auf dieser Linie liegt auch die vor einigen Jahren von Roberto Piumini herausgebrachte Nuova Commedia, die allerdings den engen Bezug zu der mittelalterlichen Welt des Ausgangstextes kappt. So wird der Spielraum frei für die Einfügung von Personal aus dem großen Arsenal der Geschichte von der Antike bis in die jüngste Gegenwart, wobei gerade auch „dati di cronaca“ aus der Tagespresse Material liefern. Gewahrt bleibt allerdings die Frage nach dem Kanon der Werte, wie sie etwa in dem wiederholt als gültig vorgestellten Prinzip des „contrappasso“ gegenwärtig sind. Vorbemerkung 10 Wenn das Werk in fünfzig Gesängen mit zwanzig Tafeln illustriert ist, ergibt sich der Übergang zur Betrachtung des Comic, der sich als „theatralisierte Illustration“ begreifen läßt. Dessen Anfänge finden sich in dem von Angelo Bioletto gezeichneten und von Guido Martina getexteten L’Inferno di Topolino (erschienen 1949/ 1950). Auch hier spielt das „travestimento“ mit Elementen des Ausgangstexts, geht aber - wie auch die nachfolgenden Beispiele - gemäß dem ganz anderen Erkenntnisbzw. Unterhaltungsinteresse freizügig damit um. Der Themenbereich „Dante in historischen Kontexten“ beleuchtet das Schaffen des Dichters in seinem Verhältnis zu bedeutenden antiken Werken, die ihm als Prätexte gedient haben. Hier präsentiert sich eine hohe Komplexität der Spiegelungen und Deutungsverfahren - nicht nur zwischen den lateinischen Modellen und dem Schaffen Dantes. Denn überlagert wird dieses für sich bereits komplexe Verhältnis durch die Sehweise späterer Epochen, die ihr jeweils spezifisches Bild auf die unablässig in der Diskussion gehaltenen klassischen Werke samt ihrer Problematik ausgeprägt haben. Wie vor diesem Hintergrund die Annäherung an die Frage nach der Präsenz Lucans in der Divina Commedia geleistet werden kann, zeigt die Studie von Christine Walde. Bei der detaillierten Analyse geht es um den Stellenwert des kaiserzeitlichen Epikers und seiner Pharsalia im späten Mittelalter, wobei eine Reihe von seit längerem vorgefaßten Einstellungen aufgelöst werden können. Bei der kritischen Durchleuchtung der Schlüsselszenen der Divina Commedia, in denen Lucan involviert ist (so das „castello nobile“ im „Inferno“ und Catos Wächteramt am Eingang des „Purgatorio“), erweist sich, daß Dante nicht eigentlich die politische Dimension des republikanisch gesinnten Lucan schätzt, sondern daß er ihn, zusammen mit Homer, Vergil und Statius, als einen der Großen in den Katalog der Dichter einordnet. Mit den Funktionen des Rollenspiels, das Dante im poetischen Briefwechsel mit Giovanni del Virgilio über die Abfassung seines Epos in der Volkssprache vorträgt, befaßt sich Helmut Seng. Er kommt dabei zu differenzierten Einsichten über den Anspruch dieses Meinungsaustauschs, in dem sich Dante mittels seiner poetischen Selbstbestimmung als volkssprachlicher Epiker in geistreichen Variationen über eine so erst wieder belebte Gattung definiert. Die eindringliche Befragung der Textform erhellt die herausragende Qualität der Kommunikation, die Dante hier voller Ironie und unter Beimischung von Komik bestreitet; in der Dichte der Aussage lässt sich zugleich ein wichtiger Hinweis für das Verständnis des Adressatenkreises ermitteln. Wenn der Dichter der Commedia sich nicht an das Lateinische mit dessen kommunikativen Normen binden will, sondern seinen anspruchsvollen Gegenstand in der Volkssprache verfaßt, kommt damit die Reflexion der antiken Stiltheorie zu einer aufschlußreichen Freilegung der von den Dialogpartnern vertretenen poetologischen Absichten. Vorbemerkung 11 Die drei folgenden Studien behandeln den Bereich „Dante und die klassische Moderne des 20. Jahrhunderts“; die zentrale Frage bleibt die Einordnung des in Dantes Werk festgeschriebenen Rangs von Kunst und Künstlertum. Irene Weiss begreift in „Der Abstieg von Max Estrella in die Hölle der Madrider Nacht“ das Schauspiel Valle-Incláns, Luces de Bohemia, als Stationendrama. Dessen große Parodie der abendländischen Dichtung faßt sie als „proteische Rezeption“, die zu einer neuen Ästhetik führen soll. Dabei zeigen die Bezüge zur Divina Commedia, vor allem zum Inferno, das nächtliche Madrid als dantesken Höllenkreis, den der Protagonist und sein Begleiter, eine dem Vergil nachgebildete Figur, durchlaufen. Dieser Bedeutungsrahmen, in dem ein mimetischer Bezug zur zeitgenössischen Wirklichkeit vorgegeben ist, wird umspielt von einer als Umkehrung praktizierten Imitation der literarischen Bezüge. Auf diese Weise ergibt sich ein Zerrspiegel, der formal aufgehoben wird in der neuen Gattung des „Esperpento“, das Ausdrucksmittel für die Zukunft sein will. Während Valle-Inclán das Werk Dantes als freizügig zu bearbeitenden Prätext für eine totale Erneuerung von Kunst und Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts nutzt, rückt in den beiden anschließenden Beiträgen von Anna Maria Arrighetti und Bernhard Reitz ein anderer Aspekt in den Vordergrund: Dante als die nach wie vor große Autorität der europäischen Dichtung. Anna Maria Arrighetti analysiert Stefan Georges Ansatz aus seinem Bemühen heraus, bei der Betrachtung von Dichtung die in ihr enthaltene „eigentümliche Verschränkung von Mythos und Logos“ wiederzufinden und so zur Vorstellung eines neuen „Sinn-Bilds“ zu gelangen, das die Vorbildlichkeit des Künstlers für die Gemeinde der Lesenden unterstreicht. Diese eigenwillige Konstruktion, die bereits in der zeitgenössischen Diskussion ein durchaus geteiltes Echo fand, kann für sich beanspruchen, einen originären Zugang zur Kunst zu weisen, deren Anspruch sich nicht auf den unmittelbaren Nutzen beschränkt. In seinen Ausführungen zu T. S. Eliot läßt Bernhard Reitz die Gegensätze stärker aufeinander treffen, indem er das universalistische Werkverständnis von Dantes Weltentwurf konfrontiert mit der ganz anderen Vorstellung von Weltliteratur, die für die Gegenwart Umberto Eco in der Erfindung des „ebook“ erkennt. Die Kunde von Dantes ferner, in den Anfängen des modernen Europa angesiedelten Dichtung erfaßt in einer Fülle, wie es bereits Shakespeare nicht mehr gelang, den Kern des Erkenntnisanspruchs von Kunst als Diagnose des Seins - „the objective poetic emotion“, wie ihn T. S. Eliot bewundernd bezeichnet. Damit läßt sich nach Eliots Ansicht durch die Kunst eine Orientierung in der sich auflösenden Gesellschaft seiner Zeit finden. Die abschließende Bewertung dieser Denkfigur bleibt dem je und je gegenwärtigen Leser aufgegeben. Vorbemerkung 12 Bei Stefan George wie T. S. Eliot erscheinen der Künstler und seine Leistung noch einmal mit einem Anspruch und in einer Idealität, die den zeitgenössischen Tendenzen von Rationalisierung und Utilitarismus entgegengestellt wird. Aus heutiger Sicht wirkt dieser Zugriff als kaum mehr nachvollziehbar; die nur graduell unterschiedliche Feststellung dieses problematischen Befunds bildet denn auch in beiden Fällen das Ende der entsprechenden Analysen. Dennoch wird deutlich, welchen letztlich doch faszinierenden Rang der ganzheitliche Zugriff auf das Phänomen Dante im zeitgenössischen Kontext hier wie dort hatte. Der bereits einer späteren Generation angehörende Samuel Beckett orientiert seine Auseinandersetzung mit Dante, das zeigt Caroline Mannweiler, an einer seit längerem viel diskutierten Figur, dem kauernd-säumigen Lautenspieler Belacqua aus dem Purgatorio. Die Beschäftigung mit ihm konzentriert sich auf eine gewissermaßen grundlegende mentale Disposition, mit der Beckett potentiell ein Kontinuum der „conditio humana“ ins Bild faßt. Es geht bei der Verteidigung des Unentschiedenen, wie sie hier gesehen wird, letztlich um Wahrung der Offenheit. Die Form vertritt damit einen ethischen Anspruch: In Becketts gesamtem Werk, bis hin zu Anspielungen im „Endspiel“, werden Variationen dieses Erscheinungsbilds als Spielarten der dahinterstehenden Haltung aufgespürt. Mit der Verbindung einer prominenten und vieldiskutierten Gestalt aus der Divina Commedia wie dieser und deren für das Theater maßgeblichen „Schauspieler“-Haltung ist auch der Hauptgegenstand des Schlußteils gegeben, wobei die Perspektive zum Thema „(Musik-)Dramatisches zu Dante“ eingegrenzt bleibt auf das 19. Jahrhundert. In dessen Verlauf setzen mit einer seit dem Risorgimento gewonnenen neuen Aufmerksamkeit für den Dichter und Politiker Dante die Dramatisierungen von Schlüsselszenen und -episoden seiner Dichtung ein. Den eigentlichen Auftakt der „Dante-Dramatik“ bildet, was den Erfolg des Stücks und die Aufbereitung auch für die Musik betrifft, Silvio Pellicos Tragödie Francesca da Rimini. Dieser Text erweist sich zugleich als Anstoß zur musikdramatischen Ausgestaltung, was eine Reihe von Libretti dokumentieren. Das Sujet des tragischen Tods der beiden Geliebten von Rimini dürfte das erfolgreichste unter den Themen sein, die aus der Divina Commedia auf die Bühne gebracht wurden. Auch das sich zu seiner Zeit als Erfolgstext erweisende Libretto von Felice Romani behält das bereits von Pellico formulierte Kerninteresse bei. Der Rückgriff auf Dante ist hier wie dort in mehrfacher Absicht motiviert aus politischen Gründen: Das Risorgimento zielt nicht nur auf nationales Pathos, sondern ebenso sehr auf die Neusetzung gesellschaftlicher Normen. In diesem Rahmen richtet sich die Behandlung des Stoffs gegen das Modell der etwa aus Staatsräson arrangierten Ehe. Über diese Thematik wird auch das Erinnerungsmotiv in den Ablauf integriert. Vorbemerkung 13 Das Thema „Francesca“, das ja bereits im „Inferno“ den Dichter anrührt und zum Weinen bringt, führt nicht zuletzt zurück auf das Bild seiner Verfaßtheit als Betrachter der „letzten Dinge“. Es erscheint denn auch in einem Orchesterwerk aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, Franz Liszts „Dante- Symphonie“, in der der Komponist den titanischen Anspruch als Vorbild eigenen Selbstverständnisses formt. Mit seiner Zeit war er von der Mustergültigkeit Dantes und seines künstlerischen Schaffens überzeugt. Matthias Krautkrämer geht den auf eine neue Ganzheitlichkeit zielenden Denkmustern Liszts von Komposition und Musik nach, die sich aus dem epochalen Kunstverständnis heraus finden lassen. Die Frage, wie sehr sich das Thema der Erinnerung in der Entwicklung der Operngeschichte bis hin zur Wende zum 20. Jahrhundert als strukturell wichtig erweist, behandelt Ursula Kramer in „Dante, ‚Francesca da Rimini’ und das Erinnern im italienischen Melodrama“. In diesen Zusammenhang gehört auslösend die Oper Otello von Gioacchino Rossini, die ja mit den dramatischen Fassungen von „Francesca da Rimini“ nicht zuletzt deshalb in Verbindung steht, weil darin das Lied des Gondoliere auf Verse aus Dantes Inferno zurückgreift. Das bei Dante auf die scharfe Antithetik von Glück und Unglück angelegte Zitat mit seiner musikdramatischen Gestaltung durch Rossini steht am Beginn einer Entwicklung, die gerade die italienische Oper in den nachfolgenden Jahrzehnten durchaus maßgeblich prägt: Über Donizetti und Puccini bis hin zu Zandonai - hier wieder in Verbindung mit der „Francesca“-Thematik - werden die Lösungen analysiert. Die zu diesem letzten Beitrag gehörenden konkreten Beispiele aus der Aufführungspraxis werden auf der beiliegenden DVD mitgeliefert. Es bot sich an, dort ebenfalls zwei weitere Beiträge mit Gegenständen komplettierenden Charakters unterzubringen: Mit „Mainzer Drucker in Italien und die frühen Ausgaben der Divina Commedia“ wird nicht nur eine Erweiterung der Bildrezeptionsthematik des Bandes geboten. Es geht auch darum, die frühesten Drucke der Divina Commedia vorzustellen, die von Meistern aus dem Umfeld Gutenbergs gefertigt worden sind. Die kleine Ausstellung zu dem Thema, die anläßlich der Mainzer Tagung der Deutschen Dante Gesellschaft in der Villa Musica stattfand, wurde mit Facsimile-Ausgaben der drei Ersteditionen von 1472 bestritten und stieß auf eine erfreuliche Resonanz. Wir haben uns daher entschlossen, die Untersuchung dieser - nur vordergründig lokalpatriotisch auszuwertenden - Gegebenheit in den Band mit aufzunehmen. Für die Kanonisierung des volkssprachlichen italienischen Klassikers wie für Grundfragen der „questione della lingua“ im Umfeld Pietro Bembos, der die von Aldus Manutius gedruckte Ausgabe der Divina Commedia vorbereitete, ergeben sich in diesem Zusammenhang aufschlußreiche neue Erkenntnisse. Nicht anders als die Auseinandersetzung mit den Anfängen des Druckes von Dantes Hauptwerk beruhte die Erstellung der „bibliographischen Arbeitsblätter: Dante und seine Dichtung in der Musik“ auf einer praktischen Not- Vorbemerkung 14 wendigkeit. Sie bieten einen Beitrag zu der Frage, welche Verbindungen von Dante und seinem Werk zur Musik überhaupt existieren und wie sie ggf. verfügbar sind. Zum Schluß noch ein Wort der Anerkennung: Hanno Wierichs M. A. und Simona Turini leisteten bei den Vorarbeiten zur Erstellung des Bandes und der Druckvorlage gute Hilfe. Mit der Durchführung des nun im Ergebnis vorliegenden Projekts habe ich mich aus dem aktiven Berufsleben an der Universität verabschiedet. Ich danke allen, die an diesem Unternehmen wie auch im Laufe der vergangenen fast zwanzig Jahre an entsprechenden anderen mitgewirkt haben. Mir wird die immer interessierte, angenehme und effiziente Kooperation in guter Erinnerung bleiben. Klaus Ley Christine Mundt-Espín Von „pulp“ bis „postdramatisch“: Dante on stage 2008. Drei Uraufführungen von Bühnenwerken nach Dantes Divina Commedia (Frisina, Andriessen, Castellucci) Vorbemerkungen Schaut man sich an, wie sich Bildende Kunst, Musik, Film, Theater, Comic und Unterhaltungsindustrie in Europa und den USA im Laufe der letzten 10 Jahre mit Dante auseinandergesetzt haben, so kann einem schon ein wenig bange werden. Gewiss gibt es Künstler, die sich ernsthaft von Dante inspirieren lassen oder sich an ihm abarbeiten; daneben findet sich allerdings eine Menge Produktionen, die doch mehr am Rande dessen liegen, was man als „produktive Rezeption“ bezeichnen möchte. 1 In der Musik reicht das Spektrum von Elektronik-Rock- und Heavy-Metal-Gruppen, die Teile aus der Commedia als Vorlage nutzen 2 bis hin zu zahlreichen DJs, die sich als DJ Inferno vermarkten. Auch die Bildende Kunst fehlt nicht: So gibt es Maler, die unter Dante-Lesungen hinter der Bühne dekorative Bilder anfertigen. 3 Eine der jüngsten Adaptionen Dantes für die Moderne ist das Computerspiel Dante’s Inferno (Electronic Arts), in dem der „third person shooter“ - immer auf der Suche nach Beatrice - die neun Kreise des Höllentrichters durchtobt, und für das der treffliche Slogan wirbt: „die Hölle wartet auf Dich...“. 4 1 Vgl. Kuon, Peter, ‚Lo mio maestro e ’l mio autore.’ Die produktive Rezeption der ‚Divina Commedia’ in der Erzählliteratur der Moderne, Frankfurt 1993, S. 9ff. Zu weiteren zeitgenössischen Rezeptionsformen vgl. Havely, Nick, Dante’s Modern Afterlife. Reception and Response from Blake to Heaneyk, Houndmills/ London 1998 und ders., Dante, Malden/ Oxford 2007. 2 In den Vereinigten Staaten ist das zum Beispiel die in den 80er Jahren gegründete Gruppe ‚Iced Earth’ mit ihrer CD Burnt Offerings (1995), in Brasilien etwa die Heavy Metal-Gruppe ‚Sepultura’ mit ihrer CD Dante XXI (2006, Label: Steamhammer), außerdem die deutsche Elektronik-Gruppe ‚Tangerine Dream’ mit ihrer dreiteiligen Produktion Inferno-Purgatorio-Paradiso (2001-2004-2005/ 06) sowie die nordirische Pop- Gruppe ‚The Divine Comedy’ und etliche andere mehr (Zugriff 15.07.2009). 3 Siehe die Website des belgischen Malers Etyen Wéry, der nach eigener Aussage 1993 und 1994 in dieser Art mit einer italienischen Theatergruppe tätig war: http: / / www. et yen.be/ , 15.07.2009. 4 Das Spiel kam 2008 auf den Markt, vgl. die Website des Herstellers: http: / / www.dan tesInferno.com/ home.action (15.07.2009). Christine Mundt-Espín 16 Wendet man sich den Bühnenbearbeitungen von Dantes Commedia zu, so fällt rein statistisch gesehen auf, dass Dante auf dem europäischen Theater in jüngerer Zeit wesentlich präsenter erscheint als noch vor etwa 10 Jahren. Nach Albert Ostermaiers Bühnen-Road-Movie Death Valley Junction (Hamburger Schauspielhaus, 2000) 5 und der aufsehenerregenden Trilogie des slowenischen Regisseurs Tomaz Pandur in Hamburg (Thalia Theater, Spielzeiten 2001 und 2002) 6 ist nach einer Pause etwa seit 2006 ein zunehmendes Interesse von Sprech-, Musik- und Tanztheater an der Auseinandersetzung mit der Divina Commedia zu beobachten. Und im Jahr 2008 hätte der Liebhaber Dantes auf Bühnen sich eigentlich das ganze Jahr damit unterhalten können, von einer Commedia-Inszenierung zur nächsten zu fahren. Hamburg Titel: Death Valley Junction; Autor: Albert Ostermaier; Regie: Nikolaus Stemann Genre: Theater; Datum und Ort der UA: Februar 2000, Schauspielhaus Hamburg Titel: Inferno. A book of the soul; Purgatorio. Anatomy of melancholy; Paradiso. Lux; Musik: Goran Bregovic; Regie: Tomaz Pandur; Genre: Sprechtheater; Datum und Ort der UA: Inferno: 1993/ 94 in Maribor; dt. EA 20. Januar 2001, Thalia Theater; Purgatorio. Anatomy of melancholy und Paradiso. Lux März 2002 Bremen Titel: Inferno; Autor: Peter Weiss (1964/ 65, EV 2003); Musik u. Libretto: Johannes Kalitzke Genre: Oper in drei Kreisen; Datum und Ort der UA: 11. Juni 2005, Theater am Goetheplatz Rom Titel: La Divina Commedia, l’Opera. L’uomo che cerca l’Amore. Musik: Marco Frisina; Libretto: Gianmario Pagano Genre: Musical; Datum und Ort der UA: 23. November 2007, Tor Vergata Karlsruhe Titel: Inferno; Autor: Peter Weiss, Inferno (1965; EV 2003); Regie: Thomas Krupa Genre: Theaterstück (Oratorium); Datum und Ort der UA: 26. Januar 2008, Badisches Staatstheater 5 Zu Ostermaier vgl. Hölter, Eva, „Der Dichter der Hölle und des Exils”. Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante-Rezeption, Würzburg 2002 (= Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft, 382), S. 296-303. 6 Vgl. neben den Besprechungen in der Tagespresse den Artikel von Sabine Schrader‚ „‚Wer ist Dante? ‘ Zu Tomaz Pandurs Dante-Inszenierung Inferno. A book of the soul am Hamburger Thalia-Theater” (2001), in: Deutsches Dante-Jahrbuch 82 (2007), S. 175-200. Von „pulp“ bis „postdramatisch“: Dante on stage 2008 17 Genf Titel: Inferno - et leur peur se change en désir Genre: Workshop mit Schauspiel-Improvisation, Film, Vorträgen, Musik, Kunst, Installationen, Blog; Datum und Ort der EA: 9. Mai bis 6. Juni 2008, Théâtre du Grütli, Maison des Arts Heidelberg Titel: Der zweifelhafte Wunsch der Zärtlichkeit (Episode Paolo e Francesca) Genre: Tanz (Tanztheater pvc); Datum und Ort der UA: 6. Juli 2007 in der Heidelberger Schlossruine; wieder am 8. Juli 2008 Amsterdam Titel: La Commedia; Musik und Regie: Louis Andriessen und Hal Harley Genre: Filmoper; Datum und Ort der EA: 12. Juni 2008, Nederlandse Opera Amsterdam/ Avignon Titel: DHell; popopera: purgatorio; Choreographie: Emio Greco / Pieter C. Scholten Genre: Tanz; Datum und Ort der EA: 28. Juni 2006 Festival Montpellier Dance 2006, wieder Avignon 2008 u.ö. Avignon Titel: Inferno. Purgatorio. Paradiso. Genre: Theater Gruppe: Romeo Castellucci mit seiner Truppe Socìetas Raffaello Sanzio, Cesena; Datum und Ort der UA: 12. Juli 2008, verschiedene Spielorte Giessen Titel: Die göttliche Komödie; Regie: Thomas Goritzki Genre: Theater mit Tanz und Gesang Datum u. Ort der EA: 30. August 2008, Stadttheater Berlin Titel: fragmente infernali: Begegnung mit Pasolini (frei nach : La divina mimesi, 1975) Genre: Theater; Datum und Ort der EA: 13. November 2008, Studiotheater Alt- Moabit Hannover Titel: Die göttliche Komödie von D. Alighieri mit einem Vor- und Nachspiel von Arno Schmidt [Tina oder die Unsterblichkeit]; Regie: Christian Pade Genre: Theater; Datum und Ort der EA: 26. Februar 2009, Theater Ballhof 1, Schauspiel Drei sehr unterschiedliche Produktionen aus dem Jahr 2008 von Marco Frisina, Louis Andriessen und Romeo Castellucci möchte ich im Folgenden vorstellen. Bei der Beschreibung und Analyse soll es vorrangig um die Art des jeweiligen Bezuges zu Dantes Commedia gehen. Ich habe meine Überlegungen zu den drei genannten Autoren folgendermaßen überschrieben: 1. Marco Frisina (Rom): Dante pulp 2. Louis Andriessen (Amsterdam): Dante postmodern 3. Romeo Castellucci (Avignon): Dante postdramatisch Christine Mundt-Espín 18 1. Marco Frisina (Rom): Dante pulp 7 Beginnen möchte ich mit der Vorstellung des italienischen Musicals La Divina Commedia. L’Opera: L’uomo che cerca l’amore von Mons. Marco Frisina. In Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und in Frankreich sind es Städtische bzw. Staatliche Theater oder aber freie Theater- und Tanzgruppen, die in der Spielzeit 2007/ 2008 v.a. im Rahmen von Theaterfestivals Dante-Projekte auf die Bühne bringen. In Italien ist das anders, und das hängt vermutlich nicht zuletzt mit dem Denkmalcharakter Dantes in seinem Land zusammen: Alle Italiener lesen Dante in der Schule, danach begegnen sie ihm in allen Städten Italiens als Monument in Form von Namen von Schulen, Straßen und Plätzen. Fast könnte man glauben, diese Omnipräsenz wirke sich einigermaßen lähmend auf eine weitere Beschäftigung mit diesem Autor aus; die beinahe einzige Form der öffentlichen Darbietung von Dante jedenfalls sind nach wie vor die berühmten Lecturae Dantis, die nicht nur eine lange und ehrwürdige Tradition innerhalb des akademischen Betriebs haben, sondern auch gerne von berühmten Schauspielern übernommen werden. Besonders bekannt und auf Tonträgern festgehalten sind u.a. die Lesungen von Carmelo Bene aus dem Jahr 1981 oder die von Vittorio Gassmann aus den 90er Jahren. 8 In dieser Tradition der Lecturae Dantis steht auch das Unternehmen von Roberto Benigni, dem deutschen Publikum bekannt geworden v.a. durch seinen Film Das Leben ist schön (1997). Er tourt mit TuttoDante seit Herbst 2006 mit nachgerade unbeschreiblichem Erfolg durch Italien, und seit Dezember 2008 auch durch das europäische Ausland 9 : In einem ca. zweieinhalbstündigen Programm stellte er in der Art einer kommentierten Lektüre zunächst jeweils einige Canti inhaltlich und sprachlich vor: Er liefert dabei eine launige Einführung, würzt das Ganze mit Anspielungen auf Personen der moderneren Zeitgeschichte wie Lady Di oder Silvio Berlusconi und rezitiert anschließend ca. eineinhalb Stunden lang. In Interviews verteidigt er vehement seinen Ansatz einer ein- und nachfühlenden Lektüre, die heftige Emotionen beim Publikum, aber auch beim Vortragenden selbst auslöst. Viel Benigni also, aber am Ende auch viel Dante für Tausende von 7 „Dante pulp“ ist ein Zitat aus einer Besprechung: Porro, Maurizio, „Un Dante pulp salvato da effetti speciali di Rambaldi“, in: Corriere della sera, 23. April 2008, S. 18. 8 Besondere Berühmtheit erlangte die inzwischen auf DVD vorliegende Lesung von Carmelo Bene, der am 31. Juli 1981 zum ersten Jahrestag des Bombenanschlags auf den Bologneser Bahnhof am 2. August 1980 in Bologna von der Torre degli Asinelli mehrere Canti und Dante-Sonette zum Gedenken an die Opfer vortrug (http: / / delteatro.it / video/ 2007-07/ carmelo_bene_lectura_dantis.php, 15.07.2007); zu den Lecturae Dantis in jüngerer Zeit vgl. Caputo, Rino, „Dante by Heart and Dante Declaimed: The ‚Realization’ of the Comedy in Italian Radio and Television”, in: Iannucci, Amilcare A., Dante, Cinema and Television, Toronto 2004, S. 213-242. 9 Im Frühjahr 2009 fanden ca. 90minütige Veranstaltungen in Paris, Brüssel und einigen deutschen Städten statt, so am 16., 20. und 21. April in München, Köln und Frankfurt. Von „pulp“ bis „postdramatisch“: Dante on stage 2008 19 Zuschauern und Zuhörern jeden Abend in den verschiedensten Städten in ganz Italien. Es gibt in Italien also Interesse und damit auch einen Markt für spektakuläre Dante-Events, und so scheint es, dass das Publikum seit vergangenem Jahr etwas hat, was garantiert marktverträglich ist: ein Dante-Musical. 10 Ähnlich wie in Deutschland ist auch in Italien die Bevölkerung für die angemessene Rezeption von Musicals geschmacklich und affektiv hinreichend vorbereitet. Ein Unterschied zwischen den beiden Ländern liegt vielleicht im Medium der Verbreitung: Werden in Deutschland die Kunden von Event- Agenturen busweise landauf-landab zu den eigens errichteten Spielstätten chauffiert, so ist in Italien sehr viel stärker das Fernsehen involviert. So gibt es seit einigen Jahren die Musical-Talentshow Amici, 11 moderiert von Maria de Filippi, in der Jugendliche nach dem Muster von Deutschland sucht den Superstar auf das Leben als Musical-Stars vorbereitet werden. Betreut wird das Dante-Musical La Divina Commedia von einer eigens zum Behufe der Produktion und Vermarktung gegründeten Firma, Nova Ars; 12 mit einer hochprofessionellen Medienkampagne wurde das Werk bereits seit Anfang des Jahres 2007 international vorbereitet. 13 Neben Tänzern und Akrobaten wurden berühmte italienische Musicaldarsteller verpflichtet, für die Maskenbilder zeichnet Carlo Rambaldi verantwortlich, der für seine Arbeiten in Filmen wie Alien, E.T. und King Kong bereits mehrere Oscars erhalten hat. Aufgeführt wird das mehr als zweistündige Spektakel in zwei Akten auf einer 650m großen, eigens für diesen Zweck konstruierten Bühne: In sie eingelassen ist ein drehbarer, mehrfach artikulierter Ring, der in seinen einzelnen Bestandteilen gehoben, gesenkt oder schräg gefahren werden kann, um die Herstellung verschiedener Ebenen zu ermöglichen. Das Bühnenbild umgibt diesen Ring im hinteren Teil als Halbkreis in Form abgehängter Stoffbahnen: Die bildnerische Gestaltung der Szenen erfolgt in Form von Projektionen und Lichteffekten nach den bekannten Illustrationen von Gustave Doré (entstanden 1861-1868). Hierfür ist der Projektionsdesigner Paolo Miccichè verantwortlich, dessen Doré-Projektionen zu Liszts Sinfonie nach Dantes Divina Commedia (1856) in der Fassung für zwei Klaviere 10 Wenn im Folgenden vom Musical die Rede ist, dann nicht im Sinne der klassischen Musicals wie Kiss me, Kate, Westside Story oder My Fair Lady. Es geht vielmehr um die Produkte, die seit etwa 15 Jahren in der Nachfolge und nach dem Rezept von Andrew Lloyd Webber zum raschen Konsum nach den ewiggleichen Vorgaben hergestellt werden. 11 Siehe http: / / www.musical.it (15.07.2009). 12 Geschäftsführer der Firma ist Gabriele Gravina, ein ehemaliger Fußballmanager. Die Firma produziert ansonsten vorwiegend in Koproduktion mit verschiedenen Fernsehprogrammen Spielfilme über katholische Persönlichkeiten der Geschichte, zu denen Marco Frisina die Musik schreibt (http: / / www.novars.info, 15.07.2009). 13 Sogar die nmz berichtet in einem Vorabartikel am 03.01.2007 unter der Überschrift „Rock-Inferno für den Papst“ über das Vorhaben. Christine Mundt-Espín 20 (1859) bereits 2002 bis 2004 auf verschiedenen europäischen Festivals, u.a. auch in Weimar, zu sehen waren. 14 Und so lässt die Produktion, was Sound, Licht, Tanz und Gesang angeht, keine Wünsche offen. Zu den singenden Protagonisten kommen akrobatische Teufel, die an Trapezen durch den Raum schwingen, der Triumphmarsch goldgeflügelter Engel und ein gigantischer Greif mit seinem goldenen Wagen: Die Inszenierung liefert gleichsam eine 1: 1-Visualisierung der Commedia. Und es scheint, dass die Zuschauer zu Tausenden in die Aufführungen strömen, allein in Rom gab es zu Beginn der Tournee zwischen der Premiere am 23. November 2007 und Mai 2008 150 angeblich ständig ausverkaufte Vorstellungen mit jeweils etwa 2500 Zuschauern. 15 Das Libretto stammt von Gianmario Pagano, einem notorischen Drehbuchautor zahlreicher Fernsehfilme über Propheten, Päpste, Heilige und Apostel. Textgrundlage ist die Commedia in Auszügen, die musical-like eingerichtet sind - bei Bedarf wird der Text auch schon mal zu paarreimenden Versen zusammengezogen. Die Zweiaktigkeit resultiert daraus, dass Purgatorio und Paradiso in einem Akt Platz finden müssen - wieder einmal wird von den Autoren die Attraktivität der Hölle ganz offensichtlich höher eingeschätzt als die der beiden anderen Teile. Die ausgewählten Episoden (Paolo e Francesca, Ulisse, Ugolino etc.) sind die hinlänglich bekannten, die den Zuschauer vermutlich genau da abholen, wo ihn seine Schullektüre abgesetzt hat. 16 Die Musik stammt von Marco Frisina, der wohl überhaupt entscheidenden Figur in dem Projekt. Seit 1985 von Johannes Paul II. zum Kapellmeister an San Giovanni in Laterano berufen und seit 1991 zusätzlich Direktor des Amtes für liturgische Fragen des Vikariats von Rom, begann er Anfang der 14 Pèlerinages, Weimar 2004; die Lesung übernahm bei diesem ersten Kunstfest in Weimar Sunnyi Melles, die Pianisten waren Vittorio Bresciani und Francesco Nicolosi. 15 Natürlich wird das Unternehmen von einer Website begleitet, in der auch die Sponsoren und Schirmherren aufgelistet sind: Keine wichtige nationale, regionale oder kirchliche Organisation, die nicht hier vertreten wäre (Vatikan, Senat, Abgeordnetenkammer etc., vgl. http: / / www.ladivinacommediaopera.it/ ). Der Aspekt des Kolossalen, der sich auf allen Ebenen wiederfindet (das Italienische hat für Events dieser Größenordnung die Bezeichnung „un kolossal“ parat), wird in allen Vorankündigungen und Besprechungen in Form beeindruckender Zahlen ausführlich hervorgehoben (Produktionskosten von mehr 14 Mio. Euro, 600 Kostüme, 54 Akteure etc.). Die Musik wird von einer aufwändigen Soundanlage (d&b Backnang bzw. Limelite Rom) eingespielt. Die generalstabsmäßige Planung der Tournee sieht für Orte, die nicht über geeignete locations mit entsprechendem technischem Equipment verfügen, eine abgespeckte Fassung unter dem Titel I canti di Dante vor, die dann auch von Städten wie Cagliari oder Frascati angemessen unter freiem Himmel zu stemmen ist (es werden dann bevorzugt Aufführungen auf Plätzen angeboten, wobei für die Projektionen die umliegenden Hausfassaden des jeweiligen Spielortes genutzt werden). 16 Eine Synopse des Musicals findet sich auf der Website: http: / / www.ladivinacommediaopera.it/ index.php? option=com_content&view=article&id=85&Itemid=110 (15. 07.2009). Von „pulp“ bis „postdramatisch“: Dante on stage 2008 21 90er Jahre neben zahlreichen liturgischen Werken Filmmusiken zu komponieren, genau für das Genre von TV-Spielfilmen, für das der oben erwähnte Giuseppe Pagano die Drehbücher schreibt (zuletzt 2008 Papa Paolo VI); 17 jedenfalls scheint sich die Zusammenarbeit mit Pagano bei den Papst- und Bibelfilmen bestens bewährt zu haben, und damit war offensichtlich die Voraussetzung geschaffen, sich auch einmal Dante etwas ausführlicher vorzunehmen. Die musikalische Gestaltung, die Frisina dem Werk verordnet, ist durch zweierlei charakterisiert: Zum einen ordnet er den drei Bereichen Inferno, Purgatorio und Paradiso schwerpunktmäßig und durchaus exklusiv bestimmte musikalische Stile zu. Während er in der Hölle rhythmische und melodische Elemente verwendet, die man aus dem Jazz, der Punk-Musik oder dem Rock bis hin zu Heavy Metal kennt, bevorzugt er im Fegefeuer eine Tonsprache, die an Gregorianik erinnert (gern auch in harmonisierter Form). Im Paradies schließlich greift Frisina tief in den Fundus klassischsymphonischer Klangsprache. Zusammengehalten wird das Ganze aber durch den typischen Musical-Sound, was Melodiegestaltung und Arrangements betrifft: Das moderne Musical ist [...] ein einziges arioses Rezitativ, aus dem ein oder auch zwei Leitmotive hervorragen, die, geschickt wiederholt in wechselnden Arrangements, als Erkennungssignal funktionieren. [...] Die Melodiefetzen [...] halten sich an einfache, aber wirkungsvolle Regeln: die Entwicklung der Melodie aus dem Sprachrhythmus, die Auflösung von Tonleitersegmenten in auf- und absteigende Dreiklänge [...]; zur An- oder Aufregung dann ein paar aparte Synkopen oder ein krönender Sextsprung. Der emphatische Sextsprung aufwärts [...] spielt in der Popmusik deshalb eine so wichtige Rolle, weil er musiktherapeutische Wirkung zeitigt: Er macht die Menschen glücklich. [...] Die Musik [...] strebt möglichst schnell nach der Klimax. Jeder Song hat einen markanten Anfang, eine schöne erste Phrase - und kein Ende. Es handelt sich also nicht um Melodien, sondern um Kopfmotive von Melodien. Sie werden wiederholt und sequenziert, auf die nächstbeste, nächsthöhere Oktave transponiert, vergrößert, verlangsamt, fetter instrumentiert und abermals wiederholt. Irgendwann brechen sie weg oder versickern im fade away. Und das Orchesterarrangement deckt das Malheur zu, entweder mit einem herzhaften Tusch, einem Trommelwirbel, hochtoupiert mit Crescendo, mit raffinierten Hall- oder Echoeffekten oder aber mit einem süßen Harfenarpeggio, das nach oben klimpernd abreißt. So etwas wirkt gewaltig aufs Gemüt. 18 Wenngleich der zitierte Artikel bereits aus dem Jahr 1996 stammt, liest er sich wie ein Kommentar dessen, was in der Commedia zu hören ist, da Frisina die Handgriffe der beschriebene Musical-Ästhetik offensichtlich mei- 17 Es darf aber auch schon mal etwas Weltliches sein: So schuf Frisina auch die musikalische Untermalung für TV-Produktionen wie Pompei, Callas und Onassis und Der Kurier des Zaren. 18 Büning, Eleonore/ Rückert, Sabine, „Schale Gefühle und sterbliche Melodien“, in: DIE ZEIT 07/ 1996 (http: / / www.zeit.de/ 1996/ 07/ Schale_Gefuehle_und_sterbliche_Melodien, 15.07.2009). Christine Mundt-Espín 22 sterlich beherrscht. Frisina selbst besteht in Interviews auf der Bezeichnung ‚Oper’: Er nennt sein Werk im Untertitel L’Opera und scheint mit der Verwendung des bestimmten Artikels das Genre der Dante-Oper geradezu annektieren zu wollen. In affektierter Bescheidenheit distanziert er sich vom typisch amerikanischen Musical, bedient dabei aber musikalisch gnadenlos alle Erwartungen, die vom Publikum an ein solches Spektakel gestellt werden. Wiewohl die Zuschauer laut Aussage der Veranstalter scharenweise in die Aufführungen strömen, hagelte es Kritik von allen Seiten: Kaum eine Besprechung in der seriösen nationalen und internationalen Presse, in der nicht das stark Befremdende des Unternehmens hervorgehoben wird. 19 Und nicht allein die weltliche Kritik beklagt den fehlenden Tiefgang des Werkes. Wegen seiner populistischen Kirchenmusik 20 und seiner notorischen Nähe zur Welt des Fernsehens ohnehin stark diskutiert 21 und offen angefeindet von Kollegen wie dem Präsidenten des Päpstlichen Instituts für Kirchenmusik, Valentino Miserachs Grau, wird Frisina von seinesgleichen auch für die Dante-Oper scharf angegriffen. 22 Von den innerkirchlichen Gegnern wird sein Erfolg vorrangig dem Umstand zugeschrieben, dass er ein Protegé von Johannes Paul II. gewesen sei; Frisina selbst sucht gerade im Zusammenhang mit seinem Musical Rückhalt beim Heiligen Stuhl: So lässt er in den von der Firma Nuova Ars verbreiteten Pressemitteilungen verbreiten, der Untertitel des Werkes l’uomo che cerca l’amore sei als Rückgriff auf die erste Enzyklika Benedikts XVI., Deus caritas est, vom 25. Dezember 2005 zu verstehen. Wenn Frisina immer wieder den Schulterschluss mit Papst Benedikt XVI. sucht, dann vermutlich nicht zuletzt, um seinem Werk diejenige Dignität zu ertrotzen, an der es ihm nach Ansicht der Kritik gebricht. Was geschieht hier mit Dantes Divina Commedia? Nach dem Verständnis der Produzenten ist das Werk Frisinas vermutlich am ehesten so etwas wie „textgetreue“ Umsetzung: Wo „Greif“ im Text steht, kommt - in einer Art maximaler Mimesis - garantiert ein Greif auf die Bühne. Die musikalische 19 Porro, Dante pulp, 2009: „Quel che si guadagna in stile iper kolossal, le mille meraviglie dei pannelli con proiezioni come al cinema, stroboscopiche luci e colori per cui i tecnici vanno glorificati, si perde in profondità spirituale.” 20 So wird Miserachs von Borsari mit dem Satz zitiert: „Nella Basilica Lateranense si sentono assurdità come armonizzare il canto gregoriano a quattro voci”, wofür niemand anders als der Organist dieser Kirche, eben Frisina, verantwortlich zu machen sei. Vgl. die heftig widerstreitenden Meinungen zum Fall Frisina http: / / www.edumus.com/ forum/ read.php? 16,113546,page=2, einem Forum von Musiklehrern (15.07.2009). 21 Vgl. den Artikel über die gegensätzlichen Tendenzen in der zeitgenössischen vatikanischen Kirchenmusik von Federico Borsari‚ ‚Redde Rationem’ negli Apostolici Palazzi.... unter http: / / xoomer.alice.it/ fborsari/ arretra/ fondo/ fondo70.html (15.07.2009). 22 Vgl. den erbitterten Gegner Frisinas, Federico Borsari: „[…] un mix di colonne sonore americane per films di terzultima categoria e di arrangiamenti morriconeggianti, senza peraltro possederne lo spessore musicale, maturiamo la solida idea che questo signore abbia sicuramente sbagliato mestiere e che invece che il sacerdote avrebbe fatto molto meglio a fare il musicista leggero-neomelodico-strappalacrime.” (a.a.O.). Von „pulp“ bis „postdramatisch“: Dante on stage 2008 23 „Aktualisierung“ mithilfe der Musical-Ästhetik ist in ihren Augen vermutlich eine harmlose Lizenz, die den pädagogischen Zweck und pekuniären Gewinn auf das angenehmste miteinander verbindet. Letztlich hängt das eigentliche Problem von Frisinas Opus mit dessen bedenklicher Position zwischen Konsumartikel und religiösem Offenbarungsanspruch zusammen: Die Jenseitsfahrt Dantes wird als platte Liebesgeschichte mit Mitteln inszeniert, die das Werk auf das Niveau einer phantastischen Reise in der Art des Herrn der Ringe oder des König der Löwen herunterbrechen, womit sich die Autoren bedenkenlos den Gesetzen des Musical-Marktes unterwerfen. Das eigentliche Ärgernis mag jedoch darin liegen, dass einerseits der theologisch-religiöse Anspruch des Werkes durch die Reduzierung auf die Liebes- Geschichte aus dem Werk hinauseskamotiert wird, andererseits jedoch vermittels der platten Bildumsetzung und des Bezuges der Liebesgeschichte auf die Enzyklika Deus caritas est auf billigste Art durch die Hintertür wieder hereingeholt wird. Dieses inextrikable Gewirr von lovestory und Paradieskitsch, von hemmungsloser Marktstrategie und klügelnder Autoritätshörigkeit verleiht dem Werk jenen Grad von Kitsch, neben dessen Giftigkeit viele andere Musicals mit ihren üblichen, einsinnigen Liebesgeschichten geradezu harmlos erscheinen. Gleichweit von der Kunst wie von der Lebensrealität entfernt, ist Frisinas La Commedia, wie der Kritiker des Corriere della sera so treffend sagte, „pulp“. 2. Louis Andriessen (Amsterdam): Dante postmodern Im Folgenden geht es um ein radikal anderes Musikbeispiel. Es handelt sich um die Produktion La Commedia. Filmoper in 5 Teilen, ein Werk, das als Produktion der Niederländischen Oper Amsterdam in Zusammenarbeit zwischen dem niederländischen Komponisten Louis Andriessen und dem amerikanischen Regisseur Hal Hartley entstand; die Uraufführung fand statt am 12. Juni 2008 am Königlichen Theater Carré Amsterdam, einem ehemaligen Winterzirkus und Varieté-Theater in Amsterdam, und zwar aus Anlass des Holland Festivals 2008; die musikalische Leitung hatte Reinbeert de Leeuw. 23 Louis Andriessen, geboren 1939, gilt als einer der bekanntesten zeitgenössischen Komponisten in den Niederlanden. 24 Komponisten, die neben 23 Vgl. das von De Nederlandse Opera herausgegebene Programmbüchlein aus Anlass der Uraufführung Louis Andriessen 1939: La Commedia. Filmopera in vief delen, Amsterdam 2008; es enthält zahlreiche Artikel, eine Synopse, Szenenfotos sowie das Libretto mit Quellennachweisen. 24 Als allgemeine Einführung eignet sich Yayoi Uno Everett, The Music of Louis Andriessen, Cambridge University Press 2006. Sehr informativ sind auch die Materialien, die Andriessens Verlag Boosey & Hawkes auf seiner Website inklusive Biographie, Werkverzeichnis und Diskographie bereitstellt: http: / / www.boosey.com/ cr/ composer/ Louis+Andriessen&ttype=Biography&ttitle=Biography&langid=2. (15.07.2009). Im Christine Mundt-Espín 24 anderen nach eigenen Aussagen sein Musikschaffen beeinflusst haben, sind Strawinski, Kurt Weill und Steve Reich; all diese Einflüsse lassen sich auch wunderbar an der Commedia ablesen: Strawinskis Vergnügen an Pastiche und Parodie, Kurt Weills Konzept des Musiktheaters und seine „Dreigroschenästhetik“ und aus jüngerer Zeit Steve Reichs und Philip Glass’ Verfahren der minimal music. Weiter zu erwähnen ist Andriessens Interesse für den Film bzw. für die Zusammenarbeit mit Film-Regisseuren (es gibt mehrere Koproduktionen mit Peter Greenaway 25 ), für die Bildende Kunst und last but not least für die Literatur: So hat Andriessen die Texte für das Libretto der Commedia selbst zusammengestellt. Der 20 Jahre jüngere Hal Hartley ist ein amerikanischer Regisseur, der sich im Bereich des sog. Independentfilms bewegt, also Filme macht, die außerhalb des amerikanischen Studiosystems produziert und vertrieben werden, die sich aber v.a. in Europa großer Beliebtheit erfreuen; er lebt mittlerweile in Berlin. 26 Bevor ich auf die Machart und Inszenierung der Filmoper eingehe, einige Bemerkungen zu den verwendeten Dante-Texten. Die Divina Commedia ist nämlich nur einer der Texte, die Andriessen benutzt, allerdings der quantitativ gesehen umfangreichste und wohl auch, wenn man sich die handelnden Personen betrachtet, der wichtigste: Auf der Opernbühne wie auch im Film gibt es die Hauptfiguren Dante, Vergil, Beatrice, Casella, Lucifer und Cacciaguida. Die ausgewählten Commedia-Texte stammen in den ersten drei Teilen aus dem Inferno, im vierten Teil aus dem Purgatorio und im fünften aus dem Paradiso. Weitere Quellen sind Dantes Convivio, das Alte Testament (Psalmen und das Hohelied), das Narrenschiff von Sebastian Brant, Texte aus einem frühniederländischen Gedicht sowie Auszüge aus zwei Trauerspielen des niederländischen Dichters Joost van den Vondel, nämlich aus Lucifer (1654) und Adam in ballingschap (1664). 27 Wenngleich der dreiteilige Aufbau von Dantes Commedia in der Faktur der Oper noch durchschimmert, löst sich Andriessen in gewisser Weise vom Muster des dreischrittigen Aufbaus schon allein dadurch, dass er sich nicht allein an Dante hält, sondern andere Texte in sein Werk integriert; er nutzt den gewonnenen Spielraum, um sein Werk fünfteilig anzulegen, genauer in fünf vom Umfang her gesehen genau gleichlange Teile à 20 Minuten. Zwei ältere Teile wurden bereits vor der UA der Commedia aufgeführt: Racconto dall’Inferno (UA 2004 in Jahr 2010 wird es amerikanische Erstaufführungen von La Commedia in Los Angeles und New York geben. 25 Z.B. Writing to Vermeer (1997-1998), Oper in 6 Szenen, in Zusammenarbeit mit Peter Greenaway. 26 Weiterführende Informationen auf der Website von Hal Hartley http: / / www.possible films.com/ (15.07.2009). 27 Alle Texte finden sich in dem Programmheft der Nederlandse Opera (vgl. Fußnote 23). Die im Original niederländischen Texte werden natürlich auf Niederländisch verwendet, die anderen entweder in ihrer Originalsprache oder in niederländischer bzw. englischer Übersetzung. Für die Auswahl und Kombination der Texte zeichnet ebenfalls der Komponist verantwortlich. Von „pulp“ bis „postdramatisch“: Dante on stage 2008 25 Köln, jetzt Teil II) und De Stad van Dis (UA 2007, Los Angeles, jetzt Teil I); die Überlegungen, eine größer angelegte Commedia-Oper gemeinsam mit Hal Hartley zu gestalten, gehen allerdings schon auf das Jahr 2003 zurück. Auch die topographische Vorgabe der Commedia mit dem allmählichen, aber stetigen Aufstieg in den bekannten drei Etappen differenziert Andriessen, und zwar gleich in doppelter Weise: Zum einen dadurch, dass er als szenischen Rahmen für die gesamte Oper ein Raum-Geschehen vorschreibt, das er als ‚Fegefeuer’ bezeichnet, also gleichsam eine mittlere Ebene, die die kontinuierlich präsente Hintergrund-Spielfläche für die gesamte Spielzeit abgibt und die Wahrnehmung aller Aufbzw. Abstiegs-bewegungen relativiert. Zum anderen betreibt Andriessen ein Verwirrspiel, was die räumliche Strukturierung der Handlung betrifft, indem er für sein Werk eine Umgewichtung der Danteschen Teile und eine überraschende Behandlung der Figuren vornimmt: Für das Vordergrund-Geschehen der Oper hält er sich zwar chronologisch in der Verwendung der Textausschnitte an Dantes Reihenfolge Inferno, Purgatorio und Paradiso; in der Gesamtgewichtung nimmt das Inferno mit drei Teilen klar den größten Raum ein, die imaginierte Abstiegsbewegung die Höllenkreise hinab ist mithin deutlicher akzentuiert als die Aufstiegsbewegung von Purgatorio und Paradiso in den beiden letzten Teilen. Im vierten Teil, dem Garten der Lüste (De Tuin der Lusten) mit Texten aus dem Convivio, dem Purgatorio und dem Hohenlied, kommt es gar zur Katastrophe, die jegliche Rettungsperspektive auszuschließen scheint: Mitten in einem Purgatorio-Abschnitt verstirbt Dante, nachdem ihm sein Freund Casella eines seiner Sonette vorgesungen hat; parallel dazu erleidet die Beatrice im Film einen schweren Verkehrsunfall, an dessen Folgen sie ebenfalls verstirbt. Im fünften Teil, Luce Etterna, der schwerpunktmäßig mit Paradiso-Texten gestaltet ist, wird es noch heikler: Durch das Vexierspiel der Figurenbesetzung im Film und auf der Bühne - ein einziger Schauspieler gibt im Film und auf der Bühne die drei Rollen von Lucifer, Dante und Cacciaguida - könnte man fast den Eindruck gewinnen, Luzifer sei auf irgendeine Weise ins Paradies gelangt, und zwar nach seinem Sturz - eine nachgerade beklemmende Vorstellung. Natürlich stellt sich dem Zuschauer die Frage, in welchem Verhältnis in einer „Filmoper“ Film und Oper zueinander stehen, die - zumindest dem Anschein nach - auch unabhängig voneinander funktionieren könnten. Zur Erhellung dieses Verhältnisses in formaler und inhaltlicher Hinsicht sei zunächst ein Blick auf das Bühnengeschehen geworfen, anschließend auf die Spielhandlung des Films. Die Bühnendarsteller bewegen sich auf einer ringförmig um das tiefgelegte Orchester angelegten Bühne, die sie in verschiedenen Richtungen in der Horizontale beschreiten. Ab und zu besteigen sie Hebebühnen, die parallel zur Leinwand am vorderen und hinteren Bühnenringrand angebracht sind und erheben sich in die Vertikale. Die Instrumentalisten befinden sich ebenso wie die Chormitglieder in dem tiefgelegten Raum innerhalb des Christine Mundt-Espín 26 Bühnenrings, von den Chorsängern steigen einige von Zeit zu Zeit auf den Ring, wenn sie dort gesanglich zu tun haben. Das Geschehen auf der Bühne ist gleichsam in zwei Ebenen gestaffelt angelegt. Da gibt es zum einen das bereits erwähnte Hintergrundgeschehen ‚Fegefeuer’, das die ganze Spielzeit über als eine Art Continuo unbeirrt von allen anderen Vorgängen abläuft; und - davon unabhängig - Figurenbewegungen auf dem Bühnenring, die von den Sängern und Schauspielern vollzogen werden. Die Akteure des ‚Fegefeuers’, die ebenso wie die Orchestermusiker Arbeitskleidung tragen, sind während der kompletten Spielzeit damit beschäftigt, durchsichtige luftgefüllte Ballons, die in einer Art Becken auf der Bühne unmittelbar vor der Filmleinwand schwimmen, behutsam an Vorrichtungen zu befestigen, mithilfe derer sie dann emporgezogen werden. Laut Andriessen sind diese Figuren die Arbeiter des Fegefeuers, die für die Vorbereitung der Seelen für deren Aufstieg ins Paradies zuständig sind. Während die Arbeiter des Fegefeuers ihre einzige zielgerichtete Handlung vollführen, lassen sich aus dem, was die Sänger im Vordergrundgeschehen tun, einzelne in sich geschlossene Szenen ablesen: In Teil I begegnen sich im Inferno Dante, Vergil und Beatrice; in Teil II trifft Dante die Teufelsrotte um Malacoda; Teil III enthält neben einer Einführung durch den Chor einen gewaltigen Monolog Lucifers nach Texten von Joost van den Vondel. In Teil IV, der hauptsächlich Texte aus dem Purgatorio enthält, kommt es zur Begegnung zwischen Casella und Dante - Dante verstirbt. In Teil V ersteht Dante zu neuem Leben, als Beatrice ihn mit Versen aus dem Paradiso anspricht; in einer harten Fügung spricht Cacciaguida seinen großen Monolog aus dem 15., 16. und 17. Gesang des Paradiso über die Geschichte von Florenz. Der Film präsentiert zwei locker miteinander verbundene Handlungsstränge, deren mögliche Berührungspunkte mit dem Bühnengeschehen sich nach und nach erschließen. Da gibt es einmal die Geschichte der wilden Straßenmusikergruppe (die Gilde), die nach einem Auftritt in Amsterdam zu einem fröhlichen Gelage in die Bar ‚Das Narrenschiff’ in der Nähe eines Strandes aufbricht. Nach einem anschließenden Streit am Strand werden alle gemeinsam mit zwei politischen Aktivistinnen von der Polizei verhaftet. Nach ihrer Entlassung werden sie von der Polizei aus der Stadt gejagt. Parallel bzw. intermittierend zu dieser Handlung wird die Geschichte des Fernsehreporters Dante eingeblendet: Er bereitet eine Reportage über den ausländischen Star Beatrice vor, die in Amsterdam eine Zwischenstation einlegt; die von ihm offensichtlich herbeigesehnte persönliche Begegnung kommt allerdings nicht zustande, da Beatrice das Opfer eines Autounfalls wird. Angesichts des Umstandes, dass der Film ein Stummfilm ist, während die Darsteller auf der Opernbühne singen oder sprechen, liegt die Vermutung nahe, es könne sich um eine Art Transposition handeln: Auf der Bühne, gleichsam im Vordergrund, spielt eine Episode auf der Grundlage von literarischen Texten, die einen Zeitrahmen von der hebräischen Antike bis zum Von „pulp“ bis „postdramatisch“: Dante on stage 2008 27 niederländischen Barock aufspannen Der Film, der simultan auf den Bühnenhintergrund projiziert wird, liefert so etwas wie eine moderne Version des Geschehens im heutigen Amsterdam. Freilich ist die Projektion des Schwarz-Weiß-Films so angelegt, dass sie durchaus ein gewisses Eigenleben zu beanspruchen scheint: So enthält sie Sprünge, bricht plötzlich unvermittelt ab, setzt dann auf seitlich des Bühnenhintergrundes angebrachten Leinwänden wieder ein; Szenen werden gelegentlich ineinander geschoben projiziert oder erscheinen zeitlich versetzt. Wenngleich also ein Transpositionsverhältnis nicht sklavisch durchgehalten ist, lassen sich gleichwohl zwei formale Mittel ausmachen, die die beiden Bereiche miteinander verklammern: Die Einteilung in fünf Teile gilt ebenso für die Bühne wie für den Film, der jeweils zu Beginn eines neuen Teils dessen jeweiligen Titel einblendet. Entscheidender aber ist, dass Film und Oper in ihren Episoden den Rhythmen und Charakterisierungen gehorchen, die klar durch die Musik vorgegeben sind. Des Weiteren gibt es motivische Bezüge: Ein Beispiel für eine motivische Parallele ist das Liebesmotiv. Es spielt selbstverständlich in der Oper eine Rolle, aber auch im Film, in dessen beiden Handlungssträngen - die Erlebnisse der Gilde sowie die Geschichte um den Reporter Dante und den Star Beatrice - die Figuren Liebesbeziehungen suchen. In Teil II scheint es, dass die groteske Begegnung Dantes mit der Teufelsrotte eine Entsprechung im wilden Treiben der Musikertruppe findet. Ein weiteres Beispiel ist das Motiv des Künstlers, das in den Dante-Figuren der Oper und des Films Gestalt annimmt. Die eigentlichen Bezüge zwischen Film und Oper werden in der Tat durch die Figuren und ihre jeweiligen Besetzungen hergestellt: Es gibt auf der Bühne wie im Film je eine Dante-Beatrice-Beziehung und je einen Luzifer. Während die Figur der Beatrice in Film und Oper von der Sopranistin Claron MacFadden verkörpert wird, erscheint die Figur des Dante in verschiedenen Besetzungen: Auf der Bühne gesungen von Cristina Zavalloni, wird er im Film dargestellt von dem Schauspieler Jeroen Willems, der allerdings auf der Bühne Lucifer spielt, und zwar sprechend und singend. Auch im Film gibt es eine Figur namens Lucifer, einen Geschäftsmann, der ebenfalls von Jeroen Willems gespielt wird. Gerade am Beispiel der Figur des Dante wird das Vexierspiel mit den Personen höchst komplex und in Hinsicht auf das Konzept der Künstlerfigur sehr interessant gestaltet: Schon in der Oper spricht Lucifer Sätze, die in der Divina Commedia eigentlich Dante gehören; im Film werden Luzifer, Dante und Cacciaguida durch die Besetzung mit ein und demselben Schauspieler (nämlich dem bereits erwähnten Jeroen Willlems) auf beunruhigende Weise ineinandergespielt. Dabei divergieren die Geschicke der Personen auf Bühne und Leinwand z. T. stark: Im 4. Teil des Films kommt Beatrice bei einem Autounfall ums Leben, im 4. Teil der Oper verstirbt Dante, nachdem er zu Beatrice Worte aus dem Hohenlied gesprochen hat „Quanto sono soavi le tue carezze, / sorella mia, sposa...“. Gemeinsam ist den beiden vierten Teilen nurmehr der Umstand, Christine Mundt-Espín 28 dass auf der Leinwand wie auf der Bühne der Tod die Annäherung zwischen Liebenden verhindert. Es scheint, dass dieses Moment des komplexen Ineinanderspiegelns von Motiven und Konstellationen eines der tragenden Konzepte des gesamten Kunstwerks ist. Der Montage- oder Collage-Charakter lässt sich auf verschiedenen Ebenen beobachten: Zunächst auf der formalen Ebene der Kombination bzw. Konfrontation von Oper und Film. Darüber hinaus gehört auch die Kombination von verschiedenen Texten, die sich im neu entstehenden Kontext gegenseitig erhellen, in diesen Zusammenhang. In ähnlichem Sinne spielen Andriessen und Hartley mit der Besetzung der Figuren: Dante wird von der Sängerin Cristina Zavalloni gesungen, die neben ihrer Tätigkeit im Bereich des klassischen Gesangs gerne in Cross-Over-Projekten tätig ist; neben sie stellt Andriessen mit Claron MacFadden (Beatrice) eine Sängerin, die sich vor allem im Bereich der Alten Musik, aber auch in Jazz und zeitgenössischer Musik in den Niederlanden einen Namen gemacht hat: Beide Sängerinnen können für die Gestaltung ihrer Rollen Gesangstechniken einbringen, die üblicherweise recht disparaten Fächern zugerechnet werden. Der Film- und der Bühnen-Lucifer wird von einem Schauspieler gespielt, der aber auch singen können muss. Desgleichen werden die Stilebenen gemischt: Burleskes und Groteskes wird mit Sublimem kombiniert, ohne dass es eine definitive Entwicklung in die eine oder andere Richtung gäbe. Und natürlich steckt das Werk auch musikalisch voller Stilmischungen: Verfahren der minimal music, Rockiges, Anklänge an Alte Musik, Schlager, Latin Jazz und zarteste ariose Passagen der Beatrice werden auf eine Weise kombiniert, die eine eindeutige Zuordnung zu einem bestimmten Genre kontinuierlich unterläuft. Setzt man das Konzept der Mischung im weitesten Sinne als charakteristisch für das Werk an, dann erhält der Titel La Commedia einen Sinn, der sich zwar zu Recht auf Dantes Werk berufen kann, aber darüber hinaus seine Bedeutung auch aus der eigenen Faktur bezieht. In der Tat handelt es sich um eine moderne Komödie in dem Sinne, dass hier mithilfe der oben angedeuteten Montagetechnik ein Theater produziert wird, das mit traditionellen Zügen von commedia ein unterhaltsames Spiel treibt: • Genau wie in Dantes Commedia werden alle Bereiche zwischen Hölle und Himmel ausgeschritten - freilich ohne dass die religiösen Konnotationen des Urtextes in anderer als ästhetisch relevanter Hinsicht verwendet würden. • Travestie, Parodie, Verkehrung und Groteske sind als Elemente des Komischen vor allem im musikalischen Duktus präsent und tun ihre Wirkung, ohne die erhabenen Partien etwa der Beatrice zu desavouieren. • Die für die Komödie vorgeschriebene Stilebene des humile prägt den Charakter der Produktion in mindestens zweierlei Hinsicht: Zum einen Von „pulp“ bis „postdramatisch“: Dante on stage 2008 29 sprachlich, indem z. B. Dante auf Niederländisch, also in der Volkssprache, zu hören ist; zum anderen aber auch musikalisch, wenn man denn die Anklänge an populäre Musik, die sich zuhauf als Versatzstücke finden, so deuten will. • Die zentralen Figuren in Film und Oper sind ganz offensichtlich Künstlerfiguren, nämlich Musiker, Dichter und Sänger: Als Gruppe angesiedelt zwischen gesellschaftlichen Outcasts und grotesker Teufelsrotte einerseits (die Gilde im Film), als Individuum zwischen künstlerischer Schwundstufe als TV-Journalist, dem Dichter Dante und einem rachsüchtigen Luzifer andererseits, eignen sie sich offensichtlich nicht mehr zu Helden einer Tragödie, wie das 19. Jahrhundert sie im sog. Künstlerdrama liebte, sondern müssen in der Komödie ihr schwieriges Schicksal zu meistern versuchen. • Der zum Schluss hin ansteigende Handlungsverlauf ist trotz der zugunsten des Inferno verschobenen Gewichtung durchaus erhalten; dazu erledigen die Arbeiter des Fegefeuers als einer Art mittlerer Ebene ihren tröstlich-himmelstrebenden Dienst mit großer Zuverlässigkeit durch alle Katastrophen von Film und Oper hindurch. • Selbst das Belehrende der Komödie findet seinen Niederschlag in dem Rausschmeißer, den der Kinderchor am Schluss singt: „Das sind unsere Noten für Euch; und wenn man sie nicht versteht, dann versteht man auch das Jüngste Gericht nicht, dann versteht man es nie.“ Und spätestens da hätte die Oper den Anschluss an den ansteigenden Handlungsverlauf der Fegefeuer-Handlung wiedergefunden, wenngleich auch nur in einem Nachspiel. Sicher geht es Andriessen und Hartley in ihrer Beschäftigung mit Dante nicht um eine Neubelebung des Danteschen Transzendenzmodells. Obgleich die religiösen Konnotationen der ausgewählten Texte neben der Liebesgeschichte zu ihrem Recht kommen, indem sie ausdrücklich zur Sprache gebracht werden, kann man nicht von Kunstwerk mit theologischem Hintergrund sprechen. Es ist eben kein „altertümelndes Oratorium“, was da entsteht, wie ein Kritiker beim diesjährigen Holland Festival die dort uraufgeführte Oper Adam in ballingschap (Adam in Exil) von Rob Zuidam nach dem Text von Vondel bezeichnete. 28 Was zu den vernichtenden Kritiken dieser diesjährigen Produktion führte, scheint weniger die musikalisch brave und harmlos-dekorative Inszenierung gewesen zu sein (Regie: Guy Cassier), sondern eine schlechterdings naive Haltung gegenüber dem religiösen Gehalt der Vorlage. Wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt eine Tradition bemühen möchte, dann steht La Commedia in der Nähe dessen, was man schon bei Romantikern wie Victor Hugo findet: In seinem Gedicht 28 Fuchs, Jörn Florian, „Die Tristesse nach dem Apfelbiss“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 7. Juni 2009. Die UA der Oper fand am 5. Juni 2009 in Amsterdam statt. Christine Mundt-Espín 30 Après une lecture de Dante unterzieht er die Höllenfahrt in einer Umkehrung der allegorischen Lesart einer radikalen Säkularisierung, indem er sie als Chiffre für den Lebensweg Dantes liest: „Quand le poëte peint l’enfer, il peint sa vie.“ Andriessens und Hartleys gestalterisches Interesse gilt offensichtlich mehr der Frage, was sie Texten wie der Divina Commedia oder den Dramen von Vondel im Zusammenhang ihrer Überlegungen zum modernen Künstlerselbstverständnis abgewinnen können und wie sie ihre jeweiligen Kunstformen in ein beziehungsreich geknüpftes Netz gegenseitiger Erhellungen einbringen können. Dabei beziehen sie in ihrem postmodernen Spiel die theologisch-religiösen Aspekte der Vorlagen mit gleichsam ästhetisch motivierter Zuneigung ein, ohne allerdings deren verkünderisches Pathos allzu wörtlich zu nehmen. 3. Dante - postdramatisch (Romeo Castellucci, Avignon) Ich komme damit zum dritten und letzten Beispiel einer Dante-Neuinszenierung aus dem vergangenen Jahr, das ich unter der Überschrift ‚Dante - postdramatisch‘ vorstellen möchte. Es geht um die Produktion des Italieners Romeo Castellucci in Avignon, die einer der Höhepunkte des dortigen Theaterfestivals im Juli 2008 war: das Tryptichon Inferno. Purgatorio. Paradiso. Trilogie librement inspirée de la Divine Comédie de Dante, inszeniert an drei verschiedenen Spielorten. 29 Romeo Castellucci unterhält seit dem Beginn der 80er Jahre gemeinsam mit seiner Familie und Freunden in Cesena eine Theatergruppe namens Socìetas Raffaello Sanzio. 30 Die Orientierung an Raffael, die dem Namen der Truppe zu entnehmen ist, ist Teil des theatralischen Programms: Castellucci kommt seiner Ausbildung nach von der Bildenden Kunst her und ist selbst weder Schauspieler noch Regisseur im konventionellen Sinne. In der Arbeit der Truppe geht es immer um die Integration von Bildender Kunst in gleich welcher Form bei der Suche nach der theatralisch unmittelbaren Wirkung möglichst unverbrauchter Bildkompositionen: Je me vois comme une sorte de collecteur d’images, plutôt qu’un inventeur: je les recrée sur le plateau, avec mes outils avec les corps et les sensations. 31 29 Das Inferno (UA: 5. Juli 2008) fand statt auf der Bühne der Cour d’honneur im Papstpalast, das Purgatorio (UA: 9. Juli 2008) in einer Messehalle in Châteaublanc bei Avignon und das Paradiso in der Église des Célestins (ab dem 11. Juli 2008). 30 Zu Geschichte, Theorie und Praxis vgl. Castellucci, Romeo/ Guidi, Chiara/ Castellucci, Claudia, Epopea della polvere. Il teatro della Socìetas Raffaello Sanzio 1992-99. Amleto, Masoch, Orestea, Giulio Cesare, Genesi, Milano 2001. Castellucci, Claudia et Romeo, Les Pèlerins de la matière. Théorie et praxis du théâtre. Écrits de la Socìetas Raffaello Sanzio, Besançon 2001. Castellucci, Claudia/ Castellucci, Romeo/ Guidi, Chiara/ Kelleher, Joe/ Ridout, Nicolas: The Theatre of Socìetas Raffaello Sanzio, New York 2007. 31 So Castellucci in einem Gespräch mit den beiden Direktoren des Festivals in Avignon sowie seiner Kollegin als artiste associée, Valérie Dréville: Dréville, Valérie/ Castellucci, Von „pulp“ bis „postdramatisch“: Dante on stage 2008 31 Sie besteht u.a. im unermüdlichen Ausprobieren und Einbeziehen je neuer Techniken wie Film, Video, Elektronik und Klangexperimenten. Stets in unmittelbarer Nähe zur Performance, gelten ihre Produktionen in der internationalen Theaterszene als dazu angetan, die Avantgarden des europäischen Theaters neu zu inspirieren. In klarer Absetzung von einem an Sprache orientierten avantgardistischen Theater von Valère Novarina, dem Vorjahresstar von Avignon, ist Castellucci ein radikaler Sprachskeptiker: „Sur le plateau [...] la parole [...] est inutile [...].“ 32 Indem er der Sprache jegliche Möglichkeit abspricht, Sinn für eine Gemeinschaft zu erzeugen oder auch nur zu reflektieren, verweigert er ihr folgerichtig auch einen Platz auf der Bühne: Die Figuren sprechen, wenn überhaupt, dann nicht, um sich zu verständigen, sondern um Sprache ad absurdum zu führen; sie inszenieren nur das Vakuum, das die abwesende Sprache hinterlassen hat. Hand in Hand mit seiner Absage an mimetisches Theater geht eine Ästhetik, die im Sinne Roland Barthes’ das Theatralische als Theater ohne Text begreift. Ein solches Theater will nicht primär eine andere Wirklichkeit zeigen, sondern vor allem selbst eine andere Wirklichkeit sein [...] und dafür eine eigene, nicht unbedingt verbale Sprache entwickeln. So zerfließen die Grenzen zwischen Schauspiel und Performance, zwischen Repräsentation und Präsentation. 33 Mit seiner Absage an Mimesis, an Handlungs- oder Sprechtheater sowie mit seinem Beharren auf einem weitgehend performativen, stark autoreferentiellen Theater gehört Castellucci in den Bereich dessen, was seit etwa zehn Jahren als „postdramatisches Theater“ bezeichnet wird. 34 Castellucci kommt über weite Strecken mit einigen wenigen professionellen Schauspielern aus; von Interesse an Bühnendarstellern ist nahezu ausschließlich ihre Eignung, sich in Castelluccis Bildkompositionen integrieren zu lassen. Daher mag zum einen seine Vorliebe kommen, mit Laien zu arbeiten; 35 seiner Nähe zur Performance mag es zu verdanken sein, dass er dabei auch gerne auf sehr kleine Kinder oder Leute mit physischen Handicaps zurückgreift (Spastiker, Personen mit Tracheotomie, Adipositas oder Anorexie), also auf Personen, deren Agieren auf der Bühne in gewisser Weise mehr Authentizität zuzusprechen ist, als einem Schauspieler, der Zuckungen, Sprachschwierigkeiten oder eine besondere Art der Körperlichkeit fingiert. Romeo/ Archambault, Hortense/ Baudriller, Vincent, Conversation pour le Festival d’Avignon 2008. Propos recueillis par Antoine de Baeque les 23 et 24 janvier 2008, Avignon 2008, S. 46. 32 Ebd., S. 13. 33 Malzacher, Florian, „Ein Künstler, der nicht Englisch spricht, ist kein Künstler. Die Produktionsform bestimmt das Produkt - wo steht das postdramatische Theater? “, in: Theater heute Heft 10 (2008): Die süßen Versprechen der Postdramatik, S. 8-13, S. 8. Vgl. auch Stegemann, Bernd, „Nach der Postdramatik. Warum Theater ohne Drama und Mimesis auf seine stärksten Kräfte verzichtet“, ebd., S. 14-21. 34 Vgl. Lehmann, Hans-Thies, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999. 35 Im Inferno in Avignon waren mindestens 80% der Personen auf der Bühne Laien. Christine Mundt-Espín 32 Wenngleich für Castelluccis Theater, verstanden als „arte visiva“, Sprache höchstens so interessant ist wie Klang, Ton oder Geräusch, heißt das doch nicht, dass er gänzlich auf Texte als Inspirationsquelle verzichten würde. Vielmehr können ihm Texte durchaus zur Vorbereitung einer Inszenierung dienen, wie etliche seiner Produktionen in Avignon in den letzten Jahren belegen (Orestie, Giulio Cesare etc.). Seine Umgangsweise mit Texten beschreibt er selbst folgendermaßen: Das Buch muss auf eine gewisse Weise aufgesogen und zum Verschwinden gebracht werden. Es geht also um einen Konflikt des Theaters mit dem Buch. Das Ziel dieses kleinen Krieges lautet: Das Buch muss verschwinden [...]. Es gibt einen schönen Satz von Kafka: ‚Nur wenn ein Haus brennt, kann man die Struktur sehen, die es aufrechterhält oder trägt.’ Also muss man diese Häuser verbrennen, um mit ihrer Struktur zu arbeiten. 36 In Avignon und auf vergleichbaren europäischen Theaterfestivals 37 ist Castellucci seit etwa 10 Jahren mit wechselnden Produktionen ständiger Gast; in Avignon war er 2008 gemeinsam mit der Schauspielerin Valérie Dréville als sogenannter ‚artiste associé’ eingeladen: In dieser Eigenschaft war er gemeinsam mit den beiden künstlerischen Leitern des Festivals Hortense Archambault und Vincent Baudriller auch mitverantwortlich für den thematischen Schwerpunkt in Avignon 2008, „Dante“. Und in der Tat gab es neben den Aufführungen Castelluccis verschiedene Veranstaltungen zu Dantes Commedia: Lesungen aus der französischen Übersetzung von Jacqueline Risset, zwei Tanzproduktionen aus Amsterdam von Emio Greco und Pieter Scholten, Konzerte, den italienischen Film Inferno von 1911 (mit improvisierter Musik dazu) und verschiedene Vorträge. 38 Als ‚artiste associé’ 36 Schneider, Lena/ Raddatz, Frank, „Das Haus muss brennen. Der italienische Regisseur und artiste associé beim diesjährigen Festival d’Avignon Romeo Castellucci im Gespräch“, in: Theater der Zeit September 2008, Heft 9, S. 16-20, Zitat S. 17. 37 Castelluccis Theaterproduktionen entstehen, wie im modernen Festivalbetrieb üblich, nicht als Einzelproduktionen, sondern sind von vorneherein für mehrere Aufführungsorte auf internationalen Theaterfestivals konzipiert, vgl. „Production de la Trilogie Socìetas Raffaello Sanzio, Festival d’Avignon, Le Maillon-Théâtre de Strasbourg, Théâtre Auditorium de Poitiers - Scène nationale, Opéra de Dijon, barbicanbite 09 (Londres). Dans le cadre du Spill Festival 2009, de Singel (Anvers), Kunstenfestivaldesarts/ La Monnaie (Bruxelles), Festival d’Athènes, UCLA Live (Los Angeles), Napoli Teatro Festival Italia, Emilia Romagna Teatro Fondazione (Modène), La Bâtie-Festival de Genève, Nam June Paik Art Center/ Gyeonggi-do (Corée), Vilnius Capitale européenne de la Culture 09, Sirenos - Festival international de théâtre de Vilnius, Cankarjev dom (Ljubljana), F/ T 09 - Tokyo International Arts Festival.” - Das Projekt Castelluccis war darüber hinaus im laufenden Jahr 2009 der umjubelte Mittelpunkt des Festivals Barcelona Grec 09, vgl. die enthusiastischen, wenngleich etwas ratlosen Besprechungen in der Tageszeitung AVUI: Massip, Francesc, „Un infern hipnòtic”, in: AVUI, 1. Juli 2009, S. 40 (Inferno); Olivares, Juan Carlos, „El silenci trencat”, in: AVUI, 7. Juli 2009, S. 36 (Purgatorium). 38 Vgl. das Festival-Programm Festival d’Avignon. 62e édition du 4 au 26 juillet 2008, Avignon 2008, v.a. S. 11-17. Von „pulp“ bis „postdramatisch“: Dante on stage 2008 33 hatte Castellucci Gelegenheit, sein Inferno zur Eröffnung des Festivals im Ehrenhof des Papstpalastes zu inszenieren, eine dieser Aufführungen wurde von dem Fernsehsender ARTE übertragen; Purgatorio fand in einer Mehrzweckhalle auf dem Messegelände von Avignon statt, das Paradiso schließlich war in der Église des Célestins im Zentrum von Avignon zu sehen. Ich versuche, eine knappe Beschreibung der drei Werkteile zu geben. Im Anschluss daran möchte ich versuchen, die Inszenierungen noch einmal auf ihr Verhältnis zu Dante zu befragen. Inferno (affection), cour d’honneur du palais des papes: Der Ort - einmal im Jahr zur Bühne mit Zuschauerraum umgestaltet - gilt als extrem schwierig zu bespielen. Der gewaltige Innenhof, der mit seinen 30-40 Meter hohen Mauern und darüber nichts als dem Himmel wie ein abnormer Schuhkarton wirkt, ist allein aufgrund seiner gigantischen Ausmaße eine Herausforderung für jeden, der eingeladen ist, dort zu inszenieren. Castellucci, dem Spezialisten für verstörendes Bildtheater, wurde offensichtlich zugetraut, dort die bildhafte Faszinationskraft zu entfalten, deren Ruf seinen Inszenierungen vorauseilt. Sein Zugriff auf Dante ist, wie aus den obigen Zitaten bereits erhellt, im Prinzip der gleiche wie auf andere Texte, nämlich der eines „Logoklasten“, der erst aus der Vernichtung eines Textes die kreative Energie für dessen Inszenierung gewinnt; im Falle Dante mag, wie sich in zahlreichen Interviews bestätigt, das besondere Verhältnis der Italiener zu Dante noch hinzugekommen sein: In ihm mischen sich der Horror des Schülers Castellucci vor der überwältigenden Lektüre mit der Faszination des Künstlers angesichts der Sprach- und Bildgewalt des Werkes. Denkt man an Castelluccis Maxime, dass die Inszenierung eines literarischen Textes den Text vernichten müsse, dann verwundert auch nicht weiter, dass man in diesem Inferno nur ein einziges Wort von Dante findet, ganz am Schluss in Form einer Projektion an exponierter Stelle, das dann auch im Purgatorio wieder auftauchen wird: „étoiles“. 39 Castelluccis primordialer Akt der Bemächtigung liegt darin, die Rolle Dantes als die des sehenden Künstlers zu usurpieren, um dessen Text bis auf einige Reminiszenzen oder wiedererkennbare Motive vollkommen zu eliminieren. Folgerichtig wählt Castellucci einen aussagekräftigen Einstieg für seine ca. 2 Stunden dauernde Inszenierung, der wie ein Präludium der gesamten Produktion erscheint: Nachdem einige als Touristen verkleidete Personen die Bühne verlassen haben und etwa zehn belfernde Schäferhunde von Hundeführern auf die leere Bühne geführt wurden, tritt Castellucci auf und spricht den Satz: „Je m’appelle Romeo Castellucci“. Er legt einen Schutzanzug an, und drei der Hunde werden auf ihn losgelassen; sie zerren 39 Vgl. die jeweiligen Schlussverse „[…] E quindi uscimmo a riveder le stelle“ (Inf., XXXIV, 139), „[…] Puro e disposto a salire alle stelle.“ (Purg. XXXIII, 145) und „[…] l’amor che move il sole e l’altre stelle.“ (Par. XXXIII, 145). Christine Mundt-Espín 34 wie rasend an ihm herum, lassen wieder von ihm ab und werden gemeinsam mit den anderen von der Bühne gebracht. Diese drastische Umsetzung von der Angst, Verzagtheit und Gefährdung des Dichters oder Künstlers, die Dante zu Beginn des Inferno (Inf. I, 43ff.) unmittelbar vor seinem ersten Kontakt mit Vergil in der Begegnung mit den wilden Tieren gestaltet, rückt den Künstler in den Mittelpunkt des Interesses. Das Motiv mag man bei Castellucci auch im unmittelbar folgenden Auftreten des Mannes mit dem umgehängten Wolfsfell sehen, der sich als Freeclimber anschickt, im atemlosen Schweigen der Zuschauer die Palastmauer bis zu deren Zinnen zu erklettern. Kunst ist gefährlich ... - doch dieser Zusammenhang oder thematische Nukleus der Künstlerinszenierung, der sich hier anzudeuten scheint, wird in der Folge bis fast zum Schluss der Inszenierung wieder fallengelassen. Auch die Bezüge auf den Danteschen Text scheinen weitgehend in den Hintergrund zu treten. Nach den beiden Auftaktszenen betritt nun die Masse die Bühne, die nach einer Art von nichttänzerischer Choreographie agiert: Gruppen bis zu 60 Personen (die meisten Laien) bewegen sich stumm auf der Bühne hin und her, bilden Formationen, berühren sich zärtlich oder erwürgen einander sanft. Es wird ein etwa 10 mal 10 Meter messender Kubus aus durchsichtigem Plastik auf der Bühne enthüllt, in dessen Innerem eine Gruppe von etwa zehn Kleinstkindern spielt, schläft oder herumwandert. Unvermittelt wird ein strahlender Schimmel auf die Bühne geführt, die Zuschauer breiten kooperativ von vorne nach hinten ein gewaltiges weißes Leintuch über ihren Köpfen aus, ein Flügel verbrennt auf offener Bühne, einem schrottreifen Unfallfahrzeug entsteigt eine als Andy Warhol verkleidete Figur mit der typischen Perücke, die ins Publikum hinein fotografiert, die Masse fällt gruppenweise mit waagerecht ausgebreiteten Armen nach rückwärts ins Nichts, ihre Mitglieder legen sich schließlich gegenseitig in die Fenster-Gräber der Palastwand, während Titel von Warhol-Werken an die rückwärtige Palastwand projiziert werden. Die ganze Zeit gibt es z. T. erschreckende, z. T. unerklärliche Geräusche und Illuminationen des Palastinneren, die durch die Fenster sichtbar werden, dazwischen Kompositionen von Arvo Päärt. Am Schluss stürzen Fernsehgeräte vom Dach des Palastes auf die Bühne, das an die Palastwand projizierte Wort „étoiles“ verlischt sukzessive, bis nur noch das Wort „toi“ übrig bleibt. Der schwebende Eindruck des Katastrophischen, der sich bei den wenigen aufschreckenden Szenen und öfter bei den sanft wogenden Massenszenen diffus und je nach Zuschauer wohl unterschiedlich intensiv einstellt, ebbt ab und macht Reminiszenzen an die heute eher harmlos wirkende Poesie nach dem Modell von Jean Cocteau oder Jacques Prévert Platz. Inmitten dieser Gesamtfolge von Bilder-Szenen, deren Wirkung auf die Zuschauer von der Kritik als stark oder eben nicht stark beschrieben wurde, scheint das Motiv der Künstlers noch das konsistenteste zu sein: der von den Von „pulp“ bis „postdramatisch“: Dante on stage 2008 35 wilden Hunden bedrohte Künstler, 40 der gefährdete Freeclimber, die Zerstörung des Flügels, 41 Andy Warhol, der vielleicht so etwas wie ein Vergil, vielleicht aber auch ein Luzifer ist, vielleicht aber auch eine Entsprechung zu Giotto oder Cimabue aus Dantes Commedia, eventuell sogar das Pferd, wenn man es denn nicht als Psychopompos, sondern als Pegasus deuten will. 42 Ansonsten laufen eigentlich alle tastenden Deutungsversuche ins Leere, möglicherweise nicht zuletzt deshalb, weil Sinn und Deutung überhaupt nicht intendiert sind. Die französische Presse verhielt sich enthusiastisch; freilich fällt auf, dass ihre Kommentare nahezu ausschließlich Beschreibungen dessen sind, was man sieht, verziert mit positiven Wertungen wie „douce mélancholie“, „formidable intuition“, „spectacle hallucinant“, „cette force qui nettoie le regard“, „l’enchantement de la cour d’honneur“; 43 das Publikum vor Ort reagierte höflich bis gelangweilt. In abschließenden Beurteilungen der Presse im Anschluss an das Festival sowie in den Berichten nichtfranzösischer Journalisten fielen die Kommentare im Übrigen distanzierter aus. Purgatorio (intervalle), eine Messehalle außerhalb von Avignon. Wieder findet das Geschehen auf einer Guckkastenbühne statt, die mit Gaze zum Zuschauerraum mit ansteigenden Sitzreihen hin abgeschlossen ist. Von Konzept und Realisierung her ist dieses Stück radikal anders als Inferno: Es präsentiert unter massivem Einsatz verschiedener technischer Mittel (viel Sounddesign und eine ausgefeilte Lichtregie) eine pseudo-realistisch inszenierte Familiengeschichte in einem Interieur der 70er Jahre. Dank der distanzierenden Gaze, dem stark verlangsamten Sprechen der Protagonisten in einer Art von künstlichen Dialogen, die dazu leicht zeitversetzt als Übertitel projiziert werden, dank der Lichtregie und den retardierten Bewegungen der Figuren wirkt das Schauspiel über weite Strecken wie die filmische Umsetzung eines Bildes von Edward Hopper. Der erste Teil enthält Szenen aus einer Kleinfamilie, in der der heimkommende Vater seinen kleinen Sohn wie unter einem Zwang in einem Nebenzimmer vergewaltigt, wobei die Mutter in keiner Weise eingreift. Der 40 Der Kritiker der Frankfurter Rundschau fühlte sich an eine Aktion von Joseph Beuys vom Mai 1974 erinnert: "Coyote; I like America and America likes me“: Beuys ließ sich drei Tage und drei Nächte lang mit einem Koyoten in einen Raum einsperren; vgl. Tigges, Stefan, „Alptraum mit Dante“, in: Frankfurter Rundschau, 14. Juli 2008, FR-Online.de; vgl. auch Tigges‘ resümierenden Artikel „Zwischen Hölle und Paradies: Avignon 2008: ästhetische und politische Standpunkte“, in: http: / / www.zeitschrift-dokumente.de/ downloads/ artikel/ art_26042008.pdf (15.07.2009). 41 Vielleicht eine Reminiszenz an Nam June Paiks Performances der 60er Jahre, bei denen gern Klaviere zertrümmert wurden. 42 Tigges (a.a.O.) vermutet einen Zusammenhang mit den Pferde-Aktionen von Jannis Kounellis aus den 60er Jahren. 43 Vgl. v.a. die Kritiken von René Solis: „L’Enfer, c’est nous“, in Libération, 7. Juli 2008, „Les larmes du Purgatoire“, in: Libération, 11. Juli 2008 und „Paradiso à l’œil“, in: Libération, 17. Juli 2008. Christine Mundt-Espín 36 Sohn verzeiht anschließend dem Vater, der nach der Tat verstört am Klavier herumklimpert, und beruhigt ihn. Im zweiten Teil steigt das Kind mit seinem Spielzeugroboter im Arm in den Schlafzimmerschrank im Bühnenhintergrund und betrachtet die Welt durch das Schlüsselloch. Nach einer kurzen Verdunkelung von Bühnen- und Zuschauerraum sieht sich das Publikum mit einem Bühnenbild konfrontiert, das in einer räumlichen Umkehrung der vorangehenden Szene besteht: Die Zuschauer sehen auf die abgedunkelte Bühne durch ein riesiges rundes Loch im Vorhang, das das Schlüsselloch des Kleiderschranks ins Gigantische transponiert. Durch diese Perspektivumkehr teilt das Publikum den Blick des Kindes und betrachtet mit ihm gemeinsam, gleichsam aus dem Schrank heraus, was sich „draußen“ abspielt: Wie in einer Art Lichtblase erscheinen merkwürdigste, sich bewegende Pflanzenbilder, die dank dem Einsatz raffiniertester Projektionstechniken (Laterna magica) unter nervenerschütternden Geräuschsequenzen in der Lichtblase zu sehen sind. Die Beklemmung bei dieser technisch brillanten Darbietung steigert sich noch in dem Moment, als man - immer noch aus der Perspektive des Kindes - den Vater in der Alptraumflora scheinbar planlos herumstolpern sieht. „Innen“ und „Außen“ schieben sich in dieser Szene in einer Art ineinander, dass man nicht unterscheiden kann, ob man Zeuge der Angstphantasien des Kindes wird oder einem fiktional „wirklichen“ Geschehen auf der Bühne beiwohnt. Die nachfolgende Schlussszene spielt wieder in den Wohnräumen der Familie: Der Sohn wird nun von einem riesigen Erwachsenen in Kinderkleidung dargestellt, während der Vater damit deutlich kleiner erscheint. In der Begegnung der beiden scheint es nun zu einer Umkehrung der Vorgänge vom Anfang des Stückes zu kommen: Der spastisch zuckende Vater - von einer Person mit spastischen Lähmungen dargestellt - wird von seinem riesigen Sohn vergewaltigt. Angesichts der totalen Verschiedenheit zwischen Inferno und Purgatorio, die allem Anschein nach vollkommen unabhängig voneinander bestehen und aufgeführt werden könnten, stellt sich die Frage nach der möglichen Beziehung zwischen den beiden Stücken. Strukturell könnten sie unterschiedlicher kaum sein: Hier ein Stück mit einem großen Anteil an Massenszenen, dort ein Kammerspiel; hier eine Folge von kaum miteinander verbundenen Sequenzen, dort eine sorgfältig komponierte, mehrschichtig angelegte Handlung. Verbindungen lassen sich vielleicht in der Wirkungsabsicht finden: Das Empfinden der Katastrophe, das sich dem Betrachter sehr viel stärker aufdrängt als im Inferno, liegt vermutlich an dem pseudomimetischen Charakter des Stückes. Stärker auch als im Inferno wird das theaterhafte Schauen zum Thema, was Castellucci in Interviews als expliziten Rückgriff auf die Gesamtanlage der Divina Commedia bezeichnet, in dem Dante ja nicht nur als Dichter, sondern v.a. auch als ein zum Schauen Verurteilter erscheine: In der Tat wird die Rolle des Zuschauers, der Dinge sehen muss, die er vielleicht gar nicht sehen möchte, bis ins Voyeuristische zugespitzt. Das bereits im Zusammenhang mit dem Inferno angedeutete Von „pulp“ bis „postdramatisch“: Dante on stage 2008 37 Machtspiel zwischen Regisseur und Publikum, das der Regisseur durch extreme Bilder und Effekte zu seinen Gunsten entscheiden möchte, ist hier deutlich intensiviert. Motivische Bezüge auf die Vorlage wie die zentrale Künstlerfigur im Inferno scheinen im Purgatorio überhaupt keine Rolle mehr zu spielen, wenn man nicht den klavierspielenden Vater als Künstler interpretieren möchte. Dass das Purgatorio bei Dante den zeitlich begrenzten Aufenthalt für seine Bewohner mit dem Versprechen des Erlösung bedeutet, gibt für Castelluccis Version keinen wirklichen Ausschlag, obwohl er selbst mit seinem Untertitel Intervalle auf dem zeitlich begrenzten Charakter des Purgatorio besteht. Auch wenn hier Themenkomplexe wie Schuld, Buße und Vergebung angesprochen werden, wirken Vater und Sohn, die am Ende beide von unbeherrschbaren Krämpfen geschüttelt scheinen, nicht so, als stehe irgendeine Art von Erlösung für den einen oder anderen oder auch im Entferntesten in Aussicht. Die Gewissheit der Danteschen Purgatorio-Bewohner, nach Verbüßung ihrer Schuld in den Genuss der göttlichen Vergebung zu gelangen, scheint völlig illusorisch: Diese Absage an die Wirksamkeit göttlicher oder menschlicher Vergebung könnte man immerhin als Negation der Vorlage verstehen. Paradiso (le catastrophique), Église des Célestins: Castelluccis Paradiso ist kein Theaterstück, sondern eine Installation. In Gruppen von jeweils etwa zehn Leuten werden Interessierte in die Kirchenruine hereingeführt, die durch einen quer gespannten schwarzen Vorhang in zwei Bereiche unterteilt ist. Sie haben sodann einige Minuten Gelegenheit, jeweils einzeln durch ein etwa 80 cm großes Loch in dem schwarzen Vorhang in den abgetrennten Bereich zu spähen, wobei das Loch periodisch von einem ebenso schwarzen Stück Tuch zugeschlagen wird. Der Blick geht auf eine in gleißendes Licht getauchte Installation, in der, umgeben von Wasserpfützen auf dem Boden, ein verbrannter Flügel zu sehen ist. Das Paradies ist menschenleer, es inszeniert eine Art Endstation nach dem Ende der Zeit, eine Vorstellung, die heutzutage nicht besonders überrascht, die einem im Gegenteil sogar besonders plausibel vorkommen mag. Dass Castellucci diesen Teil mit den Worten „le catastrophique“ überschreibt, rettet den Aspekt der Katastrophe, der schon die beiden ersten Teile grundiert, bis ins Paradies hinein. Der Flügel, das zerstörte Instrument bürgerlicher Kunstausübung, mag an die entsprechende Szene im Inferno erinnern. Spekulationen darüber, ob das Paradies heute einfach nicht mehr darstellbar ist oder ob die Klavierkarkasse das Ende der Kunst bedeutet, bleiben dem Ermessen des Betrachters anheimgestellt. Castelluccis Theater vertraut in seiner Absage an die Sprache fast ausschließlich auf die Wirkung von Bildern und Bildfolgen; es zielt auf die kontinuierliche Herstellung magischer Momente, in denen diese Bilder ihre Christine Mundt-Espín 38 Wirkung entfalten sollen. Diese Konzeption setzt einen Zuschauer voraus, der permanent offen ist für die Suggestionskraft der Bilder: Mon spectateur idéal serait celui qui tomberait dans la salle par hasard: sans outillage intellectuel, son regard est tout entier sensation, connaissance par les sens, pure ouverture physique à la représentation, pore ouvert aux affections qui lui viennent de la scène. 44 Das Dilemma des Zuschauers, der zwar weiß, dass seine Wahrnehmung „noch immer in schlechter Gewohnheit nach einem Zusammenhang sucht in der Figur, in der Handlung und in der Mimesis überhaupt“, 45 sich aber auch nicht kampflos der verlangten Dekonstruktion dieser seiner Betrachtungsweisen ergeben mag, kann durchaus zum eigentlichen Störfaktor in einem solchen Theater werden. Und so war das Publikum in Avignon durchaus sehr geteilter Ansicht über das Gebotene: Während die einen sich dem Bilddiktat hingeben und begeistert applaudierten, reagierten zahlreiche andere eher verärgert. In der Tat stellt sich die Frage, wieso ein Theatermacher überhaupt das Etikett „Dante“ für Produktionen verwendet, die letztlich so wenig Dante enthalten - selbst wenn sie im Anschluss an intensive Dante- Lektüren entstanden sind. Dass Castellucci die Dreiteilung der Commedia beibehält, aber den architektonischen Zusammenhang zerschlägt, indem er die Bezüge zwischen den drei Teilen auf ein verbranntes Klavier reduziert, mag man als sinnfälligen Affekt gegen sinnbeanspruchende Konstruktion in und durch Kunst überhaupt begreifen. Die Vernichtung des sprachlichen Kunstwerks im bildschaffenden Prozess schafft es allerdings nicht zwingend, es an Bildgewalt mit dem Vernichteten aufzunehmen. Und so stellt m. E. der Kritiker der Humanité zurecht die Frage, wovon diese Inszenierung eigentlich spricht, da sie von Dante eben nicht oder doch sehr wenig spricht. 46 Bei der Beantwortung dieser Frage helfen auch die zahlreichen Selbstkommentierungen Castelluccis im Programmheft von Avignon und andernorts nicht viel weiter, wie z. B. „La Divina Commedia è un progetto impossibile, sia chiaro.“ 47 Ein oder mehrere Stücke, die mit Titeln wie Passages, Later, Kreuzungen oder Strange moments überschrieben gewesen wären, hätten vielleicht mehr Wirkung entfalten können, wenn sie nicht so ausdrücklich die Bindung an einen gründlich vernichteten Prätext behaupteten. 44 Castellucci in: Conversation, S. 27. - Dass ein solcher Wunsch bei einem Festival in Avignon geäußert wird, wo das Publikum der Aufführungen im Ehrenhof zu mehr als 60% aus Kritikern aus aller Welt besteht, erscheint entweder extrem naiv oder pure Heuchelei. Vgl. auch seine Bemerkung im Festspielprogramm: „J’aime à Avignon cette rencontre avec le spectateur inconnu, avec un public élargi, qui échappe à l’assemblée des spécialistes.“ (Festival d’Avignon, S. 21). 45 Stegemann, Nach der Postdramatik, S. 17. 46 Han, Jean-Pierre, „Une vision politique d’Avignon“, in: L’Humanité, 6. September 2008. 47 Castellucci, Romeo/ Socìetas Raffaello Sanzio, Inferno. Purgatorio. Paradiso. Trilogie librement inspirée de la Divine Comédie de Dante, Avignon 2008, S. o. S. [S. 19]. Von „pulp“ bis „postdramatisch“: Dante on stage 2008 39 Schlussbemerkungen Mit der Behandlung der drei Inszenierungen wird ein Bogen ausgeschritten, der von einer Illustrationsorgie mit Musical-Begleitung (Frisina) über eine postmoderne Zitaten-Collage (Andriessen/ Hartley) bis zum Verschwinden des Textes bzw. Prätextes (Castellucci) reicht. Andere Aspekte oder Vorgehensweisen hätten hinzugefügt werden können, hätte man weitere Commedia-Inszenierungen zu den drei genannten hinzugezogen (z. b. den Modus der transponierenden Aktualisierung wie bei den erwähnten Inszenierungen von Tomaz Pandur oder in dem Stück Inferno von Peter Weiss 48 ). Wenn es auch auf dem Theater einen zeitgenössischen Trend zu Dante geben mag, so wird das Nachdenken über die möglichen Gründe dafür Spekulation bleiben müssen: Zu unterschiedlich sind die Annäherungsweisen der jeweiligen Theatermacher, als dass man daraus einen Trend ablesen könnte. Dass Dante als Künstler dazu dienen kann, die Reflexion über zeitgenössische Kunst- und Künstler-Konzepte zu inspirieren, sieht man sowohl bei Andriessen wie auch bei Castellucci. Diese Art der Nutzung ist aber natürlich weder sehr originell noch auf eine Figur wie Dante beschränkt. Über den Gewinn all dieser Fälle „produktiver Rezeption“ lässt sich in jedem Fall trefflich streiten. Gewinnt Dante etwas, indem er wieder für heutige Zuschauer oder gar Leser interessant wird? Gewinnen die Theatermacher, die den Steinbruch Dante öffnen und möglicherweise mithilfe des großen Namens viele Zuschauer mobilisieren? Und was gewinnt letztlich der Zuschauer? Sollte er zufällig Dante-Liebhaber sein, so ist für ihn oder für sie vermutlich ein Werk wie das von Andriessen das Interessanteste, da es der philologischen Leidenschaft für Spurensuche und kombinatorisches Spiel entgegenkommt. Frisina in seiner nassforschen Mischung aus platter Musicalästhetik und religiösem Verkündigungseifer mag ihn anöden oder immerhin in Erstaunen versetzen. Castellucci schließlich, der Textvernichter, stellt den Dante-Liebhaber auf die härteste Probe: Vermutlich trägt dieser ihm insgeheim nach, dass bei der Theaterarbeit das auf der Strecke bleibt, was ihn selbst am meisten interessiert: der Text von Dantes Divina Commedia. 48 Die Uraufführung des Theaterstückes war am 26. Januar 2008 im Badischen Staatstheater Karlsruhe zu sehen; bereits 2005 fand in Bremen die UA der Oper von Johannes Kalitzke statt: Inferno. Oper nach dem gleichnamigen Stück von Peter Weiss. UA am 11. Juni 2005 im Theater am Goetheplatz, Bremen. Musikalische Leitung: Stefan Klingele, Inszenierung: David Mouchtar-Samorai. - Zur Beschäftigung von Peter Weiss mit Dante und dessen Dante-Projekt vgl. zuletzt Müllender, Yannick, Peter Weiss’ „Divina Commedia“-Projekt (1964-1969): „... läßt sich dies noch beschreiben“. Prozesse der Selbstverständigung und der Gesellschaftskritik, St. Ingbert 2007. Christine Mundt-Espín 40 Literaturverzeichnis Andriessen, Louis, La Commedia. Filmopera in vief delen, Amsterdam 2008. Borsari, Federico, ‚Redde Rationem’ negli Apostolici Palazzi...., http: / / xoomer.alice.it/ fborsari/ arretra/ fondo/ fondo70.html (15.07.2009; Seite existiert nicht mehr, 02.07.2010). Festival d’Avignon. 62e édition du 4 au 26 juillet 2008, Avignon 2008. 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Jahrhunderts von der Parodie unterschiedene Travestie gemeint - als ein der Parodie entgegengesetztes Verfahren bzw. als durchgehend burlesk-komische Herabsetzung eines (vorzugsweise epischen) Einzelwerks, sondern ein kunstarten- und gattungsübergreifendes Verfahren der „Anverwandlung“ einer literarischen Vorlage, das zwar auf die Erzielung komischer Effekte hin angelegt sein kann - aber nicht unbedingt sein muss. 1 In dieser Weise hat der herausragende Vertreter der italienischen Neoavantgarde und des Gruppo 63, Edoardo Sanguineti, sein Konzept des travestimento formuliert, das er vor dem Hintergrund seines Übersetzungs- und Theaterschaffens entwickelt. In der Einleitung zu dem 2006 erschienenen Band Teatro antico. Traduzioni e ricordi, in dem ein großer Teil seiner von den 60ern bis in die 90er Jahre hinein entstandenen Versionen klassischer Dramen versammelt sind (u.a. von Euripides, Seneca, Aischylos, Aristophanes, Sophokles), erläutert Sanguineti die wesentlichen Parameter seines travestimento-Begriffs. 2 Insbesondere drei Aspekte sind hervorzuheben: Die herausragende Stellung des Wortklanges (d.h. des „gesprochenen Wortes“), die Ablehnung „textgetreuer“ Übersetzungen sowie schließlich die Definition von Übersetzungen als travestimenti. Sanguineti unterstreicht die Bedeutung der unmittelbaren klanglichen Wirkung gesprochener Sprache im Verhältnis zur stillen Lektüre - ein Text muss nach seiner Auffassung „gut im Mund eines Schauspielers bestehen können“. 3 Aus dieser Perspektive begründet er seine Zurückweisung textge- 1 Dementsprechend wird ein breiteres Spektrum von Werken zu betrachten sein, darunter Bearbeitungen der Divina Commedia für das Theater (die Commedia dell’Inferno (1989) von Edoardo Sanguineti), Bearbeitungen „epischen“ Charakters (La nuova Commedia di Dante (2004) von Roberto Piumini mit Illustrationen von Francesco Altan) sowie Bearbeitungen „a fumetto“ (L’Inferno di Topolino (1949-50) von Guido Martina und Angelo Bioletto sowie La Divina Commedi a fumetti (1994/ 98-2004/ 06) von Marcello Toninello). 2 Sanguineti, Edoardo, Teatro antico. Traduzioni e ricordi, a cura di F. Condello e C. Longhi, Milano: BUR 2006, „Prefazione“, S. 5ff. 3 „Quel che a me interessa è la sensibilità verso l’immediatezza del parlato, verso una parola che risuona come parola verbale e non solo per una lettura silenziosa. Qualcosa Bettina Bosold-DasGupta 44 treuer Übersetzungen: Es sei ohnehin unmöglich, einen Satz perfekt von einer in eine andere Sprache zu übertragen, immer handele es sich um zwei unterschiedliche Texte, zwischen denen zwar Verbindungen bestehen, die aber niemals identisch sein können. Als Beleg führt er an, dass viele großartige Übersetzer der Vergangenheit - von Vincenzo Monti bis Salvatore Quasimodo - die Ausgangssprachen nicht beherrschten. Folglich sei deren Kenntnis nicht erforderlich (wenn auch nicht schädlich), und das Übersetzen sei primär „eine Art Alibi, um Dinge sagen zu können“. 4 Der Akt des Übersetzens ist für ihn ein „lavoro di travestimento“, eine Wiederbzw. Neu- Findung des Textes. 5 Sanguinetis Konzept des travestimento bleibt nicht auf die Übertragung fremdsprachiger Dramentexte zur Aufführung beschränkt, sondern wird - mit Beginn der Ausarbeitung des Orlando Furioso - sukzessive zu einem zentralen und spätestens seit den 80er Jahren konstanten Begriff seiner Theaterpoetik. 6 Eine programmatische Konturierung erhält er (wie auch der Titel verdeutlicht) mit Faust. Un travestimento, den Sanguineti 1985 realisiert. Entsprechend bezieht er sich in den Anmerkungen zu seiner Bühnen-Bearbeitung von Dantes Hölle, der Commedia dell’Inferno (von 1989) explizit auf seinen Faust, um den Begriff des travestimento (bezogen auf beide Stücke) als Synonym für Theater überhaupt fassbar zu machen: Per intanto, molto elementarmente, nel senso in cui „travestimento“ è il migliore sinonimo esplicativo che io conosca per „teatro“, giacché chi sta in scena sta comunque per un altro, è in „maschera“, e questo luogho finge un altrove, e questo tempo simula un diverso allora. (...) Ma „travestimento“ è categoria che incide, e questo adesso importa soprattutto, ove intervenga un materiale verbale, nella trasformazione che subisce il testo, facendosi voce e gesto corporeo, straniandosi in azione. Il teatro di parola è travestimento di parola. 7 Einerseits ist travestimento also ein Begriff, der das Phänomen des Theaters als solches kennzeichnet: Das „In-Maske-Stehen“ bzw. das „Für-einen-Anche stia bene in piedi sulla bocca dell’ attore.“, zitiert nach Di Stefano, Paolo, „Traduttori traditori“, im Corriere della Sera vom 15.10.2006, S. 33 . 4 „(...) in realtà qualunque locuzione, anche di una lingua straniera moderna, trasposta in altra lingua non viene mai resa alla perfezione. Si tratta sempre di due testi diversi, pieni di correlazioni, ma tra di essi non c’ è mai un’ identità o una totale fedeltà. Molti grandi traduttori del passato, da Vincenzo Monti a Salvatore Quasimodo, non conoscevano le lingue da cui traducevano. Il fatto è che secondo me non è che nuoccia conoscerle, ma non è affatto necessario: la traduzione è una specie di alibi per poter dire delle cose. “, ebenda. 5 „(La traduzione) è appunto un lavoro di travestimento. Le grandi traduzioni non sono opera di filologi: le citazioni virgiliane di Dante sono del tutto arbitrarie; Foscolo, traducendo Sterne, scrive un capolavoro, ma non certo perché conosce bene l’ inglese (e lo conosce davvero bene), ma per il fatto che reinventa il testo.“, ebenda. 6 Vgl. hierzu die Studie von Pesce, Maria Dolores, Edoardo Sanguineti e il teatro. La poetica del travestimento, Alessandria: Edizioni dell’Orso 2003, insbes. S. 68-85. 7 Sanguineti, Edoardo, „Notizia“, in: Commedia dell’Inferno. Un travestimento dantesco, Introduzione di Federico Tiezzo, Genova: Costa & Nolan 1989, S. 86-88; hier S. 86. Dante „travestito“: Von E. Sanguinetis Commedia dell’Inferno zum Comic 45 deren-Stehen“der Schauspieler, die Ersetzung des Ortes und der Zeit durch einen anderen Ort bzw. eine andere Zeit. Andererseits - und dieser Aspekt steht für Sanguineti im Vordergrund - handelt es sich für ihn um eine Kategorie, die das Wortmaterial betrifft, die Transformation des Textes, der zur Stimme und körperlichen Geste wird und sich in der Handlung verfremdet. Als Sanguineti den Regisseur Federico Tiezzi mit seiner Vorstellung von einem „Wort-travestimento“ der Divina Commedia konfrontiert, hat dieser zunächst die Bilderwelten des Inferno (mit Teufeln, nackten Verdammten, Feuersbrunst, Wasserfluten und Wind) vor Augen, deren Abwesenheit ihm als beunruhigender Affront gegen Dante erscheint. Auch Sanguineti ist sich durchaus der Tatsache bewusst, dass eine „Theatralisierung“ der Commedia einen Wettstreit mit den Illustratoren bedeutet - und das in zweifacher Hinsicht: als „glossatori“, also auf der Ebene der Interpretation und als „Übersetzer“ der Erzählung in Bilder, denn Theater und Schauspiel seien in erster Linie an das Auge gerichtet, gleichsam figurative und figurale Phänome. 8 Diesem Wettstreit stellt sich Sanguineti mittels seiner Poetik des travestimento (man könnte auch sagen, mit der materiellen Füllung des Raums durch den Klang des Wortes), deren Verfahren sich in der Commedia dell’Inferno folgendermaßen skizzieren lassen: 9 - Der Erzähler Dante und sein „Komplize“ Virgilio werden weitestgehend emarginiert (in Prolog und Epilog), die Figuren richten ihre Rede (auch wenn sie den Jenseitsreisenden ansprechen) direkt an das Theaterpublikum, was entsprechende Eingriffe in Dantes Verse auf der Ebene der Personaldeixis zur Folge hat. - Sanguineti vollzieht eine Selektion der Episoden, die als Stationen einer fraktionierten Szenensequenz (als Montage) präsentiert werden; diese „selezione naturale degli episodi“ bietet auch einen Querschnitt des Spektrums figuraler Rede: Die großen Monologe von Francesca und Ugolino, die „a parte“ gesprochenen Dialoge Farinatas und Cavalcantes, die Streitdialoge von Adamo und Sinone, die Polyloge der Sodomiten und Gruppen der Malebranche. - Als Textmaterial des Wort-travestimento dient zum einen der Text der Divina Commedia (mit Auslassungen einiger Verse - also eine Fragmentierung des Verses durch Pausen, die dem „fehlenden“ gesprochenem Text besonderes Gewicht verleihen); die Vita nova; Sonette Giacomo da Lentinis; die Espo- 8 „(...) teatralizzare Dante, occorre dirlo con assoluta tranquillità, significa entrare in gara con gli „illustratori“ della Commedia, nella duplice valenza del vocabolo, un po’ di glossatori in margine, poiché si tratta comunque di „interpretare“ e di traspositori del racconto in termini visivi, poiché teatro e spettacolo sono come in etimo, in primissima istanza, discorso rivolto allo sguardo, fenomeno „figurativo“ - e „figurale“.“ Ebenda, S. 88. 9 Vgl. ebenda, S. 87-88. Bettina Bosold-DasGupta 46 sizione Boccaccios, der Commento von Benvenuto da Imola; Andreas Capellanus’ De amore; Ezra Pounds Cantos sowie Chrétien de Troyes’ Lancelot. Ganz offensichtlich ist Sanguinetis travestimento des Inferno eine Würdigung des plurilinguistischen und pluristilistischen Dante, die einerseits durch die kontrastierende Klangqualität der Sprachen (das Latein des Andreas Capellanus, das Altfranzösisch Chrétiens, das Italienisch Dantes, das Englisch Ezra Pounds), andererseits durch den mit diesen in einer Art Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen verbundenen Rezeptionsstufen (Dantes Rezeption von Vergil, Chrétien, Capellanus; die Dante-Rezeption von Boccaccio, Benvenuto da Imola, Ezra Pound, etc.) transportiert wird. Ich möchte das am Beispiel der Francesca da Rimini-Episode vorführen, die ja im vorliegenden Band insbesondere unter (musik-)dramatischem Aspekt eingehende Berücksichtigung findet. Der Bühnenanweisung zufolge befinden sich Paolo und Francesca in einer großen frei hängenden Voliere; es sind weitere Volieren (leer oder mit weiteren Liebessündern) zu sehen. Paolo trägt die ersten vier Verse des bekannten Sonetts von Giacomo da Lentini vor: PAOLO: Amor è un desio che ven da core per abbondanza de gran plazimento, e gli occhi en prima generan l’amore, e lo core li dà nutrigamento. (Commedia dell’Inferno, S. 30). An diese Verse schließt sich in seiner Rede ein Ausschnitt aus Sonett Nr. 20 aus der Vita Nova an: Amore e ’l cor gentil sono una cosa, sì come il saggio in suo dittare pone (ebenda) Den Text des Erzählers hat Sanguineti der Figur Minosse in den Mund gelegt, der die Beschreibung der fliegenden Liebessünder rezitiert, allerdings beschränkt auf die drei Vogelvergleiche (Star, Kranich und Taube), d.h. ohne die namentliche Erwähnung der Liebespaare. Im Folgenden erklingt aus dem Lautsprecher der Text „amor est passio...“ (Buch I, 1) von Andreas Capellanus und eine weitere Stimme trägt (ebenfalls über den Lautsprecher) abermals einen Text von Capellanus vor, „dicitur autem AMOR ab amo verbo“ (Buch III, 1). Es folgt der Monolog Francescas entsprechend dem Text der Commedia; nur die letzten drei Verse sind von Sanguineti umgestaltet worden. Francescas Rede wird von zwei weiteren Stimmen aus dem Lautsprecher fragmentiert, die jeweils Passagen aus Chrétiens Lancelot rezitieren. Während also in Sanguinetis theatralischem Wort-travestimento der Commedia die „dicibilità“, die Sprechbarkeit und die akustische Dimension von Wort und Sprache(n) im Vordergrund stehen, setzt das im Folgenden zu betrachtende „epische“ travestimento von Roberto Piumini, die 2004 erschienene La nuova Commedia di Dante, auf der Ebene der „lettura silenziosa“ an. Dante „travestito“: Von E. Sanguinetis Commedia dell’Inferno zum Comic 47 Es handelt sich um einen Text, der sich unter den im Sinne von Sanguineti erweiterten Begriff des Literatur-travestimento fassen lässt: (Per „travestimento“) intendo ciò che tradizionalmente si intendeva per letteratura in età barocca: la ripresa talvolta parodica, ma non necessariamente, di testi narrativi o poetici del passato, rielaborati attraverso processi di comicizzazione o di modernizzazione con estrema libertà, in modo da costituire un testo assolutamente nuovo. („Traduttori - traditori“, S. 33) Eine solche Vorgehensweise lässt sich deutlich in Piuminis Werk nachvollziehen: Narrative oder poetische Texte der Vergangenheit werden parodistisch aufgenommen und mit äußerster Freiheit über Komisierungs- oder Modernisierungsprozesse reelaboriert, so dass daraus ein vollkommen neuer Text entsteht. Piumini präsentiert seine Nuova Commedia als Herausgeber eines in Expertenkreisen mit Zurückhaltung betrachteten Autographen, dessen Entstehung er folgendermaßen rekonstruiert: Unter dem Einfluss eines halluzinogenen Pilzes, der starke aber nur kurz anhaltende Zukunfts-Visionen verursache, habe Dante eine Anzahl von Fragmenten verfasst, die ihm beim Aufwachen aus dem Rausch als von seiner Hand stammend und mit der Commedia zusammenhängend, zugleich aber auch fremd und unzusammenhängend erschienen. Allerdings war ihm der Inhalt vollkommen unverständlich, da in ihnen von Personen und Situationen die Rede war, die ihm und seiner Welt nicht bekannt waren. Aus Respekt vor der mysteriösen Inspiration zerstörte er sie zwar nicht, fügte sie aber nicht in seine Commedia ein. Zwar stimmten Stil und literarische Struktur der Texte mit der Divina Commedia überein, es sei allerdings eine leichte Ent-Medievalisierung auf lexikalischer und syntaktischer Ebene auszumachen. Die philologische Überprüfung durch verschiedene Experten habe ergeben, dass sich an verschiedenen Stellen von Dantes Commedia stilistische Einflüsse und thematische Anklänge an die unveröffentlichten Texte nachweisen ließen, so dass man behaupten könne, dass das Werk ohne diese Zeugnisse einer poetisch-visionären Rausch-Erfahrung teilweise ein anderes gewesen wäre. 10 Die dominierenden Anknüpfungspunkte von Piuminis travestimento sind die Terzinenform der Commedia und einige - für die Episodenstruktur des Inferno charakteristische Elemente: Die Fortbewegung der Protagonisten Dante und Virgilio von Ort zu Ort (die allerdings nicht in einer kohärenten Topographie, sondern sprunghaft gestaltet ist), die realistisch-bildhafte Beschreibung der Geräusche, Lichtverhältnisse, Bewegungen, Objekte und Personen, die Dialoge des Protagonisten mit Virgilio, den Teufeln und Dämonen sowie den verschiedenen Verdammten bzw. Seligen. Bei den Figuren der insgesamt 50 Gesänge der Nuova Commedia handelt es sich um mehr oder weniger bekannte Personen aus Gegenwart und Vergangenheit, darunter Milo evi , Andreotti, Taormina, Berlusconi, Hitler, Giotto, Sokrates, 10 Vgl. Piumini, Roberto, „Premessa“, in: La nuova Commedia di Dante. Illustrata da Francesco Altan, Milano: Feltrinelli 2004, S. 9-10. Bettina Bosold-DasGupta 48 Herodot, aber auch Kollektive, wie etwa die Opfer des Unglücks von Vajont. Um eine konkretere Vorstellung von den Figuren und Episoden zu vermitteln, ist der Blick auf einige repräsentative Passagen unerlässlich. Der 13. Gesang führt den Protagonisten in eine Höhle, in der ein Verdammter vergeblich versucht, eine unübersehbare Menge von „carri strani“, von merkwürdigen Wagen, in kompakter Form zu stapeln. Alle Versuche schlagen fehl, die W äußert sich die verzweifelt agierende Figur folgendermaßen: E lui come chi rantola e s’affanna, ripose con un’erre moscia e blesa „Gianni io fui, per cui fu grassa manna produrre automobili a distesa, coprendo a tal punto tutto il suolo, che poi la terra non s’è più ripresa.“ E forse avrebbe proseguito il duolo, e di altri fatti raccontato e pianto, ma su quella poltiglia da bugliolo i carri scivolavano frattanto, e urtandosi stridevano lamenti come sirene in luttuoso canto. (La nuova Commedia, XIII, S. 42-44) Piumini folgt hier dem in Dantes Commedia geläufigen Muster von Begegnung und Gespräch: Die Figur stellt sich mit „Gianni io fui“ als Fiat-Chef Agnelli vor und erläutert die Gründe für ihre Bestrafung in der Hölle: Die Geldgier habe sie zu maßloser Produktion von Automobilen angetrieben, die nun die gesamte Erde so zudecken, dass sie sich nicht mehr davon erholen kann. Ebenso wie in Dantes Commedia werden die Informationen über das Schicksal der einzelnen Seelen dem Protagonisten entweder von diesen selbst oder aber von seinem Reisebegleiter Virgilio, in einigen Fällen auch vom Höllenpersonal, den Teufeln und Dämonen, vorgetragen. So ist es im 19. Gesang eine „diavola“, die der Protagonist um die Erklärung eines ihm unverständlichen Phänomens bittet. Ein dunkler Ort wird mit kurzen Unterbrechungen von Licht erhellt. Die Dämonin führt den Reisenden zu einer Grotte, in der ein Verdammter mit seinen Beinen Räder in Schwung setzt und sagt: Pantani è costui, che a virtuose fatiche del pedale, con ingegno, sostituì sostanze fraudolente, e adesso, pedalando con impegno, dà forza per accendere le spente luci di questa buca. Quando è stanco rallenta, e allora, provvisoriamente, la luminosità mostra un ammanco. (La nuova Commedia, XIX, S. 57-58) Dante „travestito“: Von E. Sanguinetis Commedia dell’Inferno zum Comic 49 Pantani wird hier für sein betrügerisches Doping mit Dauer-Radfahren bestraft, um die Beleuchtung der Höhle aufrechtzuerhalten. Das Licht flackert oder erlischt, wenn er aus Erschöpfung aufhört, die Pedale zu betätigen. Wie bei den Sündern Agnelli und Patani spielt das von Piumini assimilierte Prinzip des „contrappasso“ auch bei dem folgenden Beispiel eine wesentliche Rolle: Im 36. Gesang wird geschildert, wie ein menschlicher Körper mit überdimensionalen Gliedmaßen auf einem rot-gelben Wagen vorüberfährt. Dabei wird ihm von 50 Dämonen eine breiige Fleischmasse in den Mund geschüttet, die sich (wie der Protagonist feststellt) äußerst ephemer verhält, indem sie den Körper umgehend in flüssiger Form als Jauche („letame“) wieder verlässt. Die Figur enthüllt auf Anfrage des Protagonisten ihre Identität: Macco Donaldo vedi in parata! Io uccisi le foreste della terra per farne carne unta e macinata, io feci più bruciore di una guerra, e una vaccata della sacra fame! Il tempo che l’eternità rinserra lo passerò facendo il letame per rinverdire i luoghi cui fui rozzo. (La nuova Commedia, XXXVI, S. 100) Die allegorische Figur des McDonald hat die Wälder der Erde vernichtet, um sie in schmieriges Hackfleisch zu verwandeln. Ihre Strafe besteht darin, bis in alle Ewigkeit den für eine zukünftige Begrünung erforderlichen Dünger zu produzieren. Wie alle drei Beispiele verdeutlichen, reflektiert Piuminis travestimento gerade vorrangig den moralischen Apparat der Divina Commedia. Es wird zwar keine hierarchische Abstufung der Sünden vorgeführt, aber das für Dantes Straf- und Sühnesystem konstitutive Prinzip des „contrappasso“ fungiert ganz offenkundig als eigentlicher „nucleo narrativo“ der Gesänge in der Nuova Commedia. Piuminis Material ist der Tagespresse, den „attualità“ und den „dati di cronaca“ entnommen, die er sprachlich, formal und stilistisch in eine danteske Perspektive rückt - ein Versuch, die Diskrepanz zwischen dem Ephemeren der lebensweltlichen Erfahrung des 20. bzw. 21. Jahrhunderts und einem literarischen Apparat darzustellen, der auf eine zeitübergegreifende Gültigkeit und Wahrheit abzielt. Diesen Aspekt des Werks betont Piumini, indem er die Abweichung des Erfahrungshorizonts seines Protagonisten thematisiert, der mit Unverständnis und Neugier auf die ihm vorgeführten Manifestationen reagiert. So fragt dieser etwa angesichts des mit dem Autofriedhof kämpfenden Agnelli seinen Begleiter Virgilio, wo bei diesen Karren ein Pferd eingespannt werden könne: Chiesi con voce curiosa e compunta: ‚Virgilio, dove il cavallo si attacca a quei carretti, ciacché sulla punta Bettina Bosold-DasGupta 50 non v’è timone? ’. E lui, con voce fiacca: ‚Fiat voluntas domini! ’ rispose come colui che la domanda stracca. ‚Non serve che ti spieghi queste cose: ma vieni, proseguiamo il nostro viaggio per le regioni amare e tenebrose.’ (La nuova Commedia, XIII, S. 44) Die Informationsbedürfnisse des Protagonisten bezüglich der modernen Welt werden nicht befriedigt: Piuminis Virgilio antwortet mit einem lakonischen Wortspiel („Fiat voluntas domini! “) und fordert zum Weitergehen auf. Ebensowenig erhält Piuminis Dante eine Antwort auf die sich ihm angesichts des lichterzeugenden pedalierenden Pantani aufdrängende Frage nach der Funktionsweise von Elektrizität. Die Dämonin verwehrt ihm explizit den Einblick in künftige Wissenschaft und möchte sich nicht der Aufgabe mühsamer Erklärungen stellen: ‚spiegami come possa quella cinta, volgendo il rovello ferruglioso accendere una luce.’ Ma una grinta di cruda noia e scherno malmostoso le apparve sulla brutta faccia scura e mi gridò: ‚O ospite curioso, non impicciarti di scienza futura, e lascia questa luce al suo mistero: sarebbe impresa dissennata e dura spiegarti questi fatti, e dico il vero! ’. (La nuova Commedia, XIX, S. 58) Wenn die Divina Commedia als eine Art Paradigma der Welterklärung und der Sinnstiftung des Kosmos angesehen werden kann (das keine Frage unbeantwortet lässt), so ist Piuminis Nuova Commedia die - vor den Augen eines „Dante-Protagonista“ inszenierte - Demontage des Traums von der Welt als einer durchdringbaren und in irgendeiner Weise transparenten oder überhaupt verstehbaren Einheit. Das insistent vorgeführte Verfahren des „contrappasso“ - als wesentliches Element der „Anverwandlung“ der Commedia in Piuminis travestimento - suggeriert jedoch das Fortwirken eines Wertesystems, das als solches nicht durch die offenkundigen Komisierungsstrategien demontiert wird. Auch die insgesamt zwanzig Illustrationen des bekannten Cartoonisten Francesco Altan zu den Gesängen der Nuova Commedia unterstreichen mit ihrer Betonung der physischen Deformation der Figurenkörper und -gesichter (der gekrümmte Pantani, der gekreuzigte Macco Donaldo, etc.) den dantesk-mittelalterlichen Charakter des „contrappasso“ in Piuminis Text. Die dichterische Vision des Grauens einer modernen und zugleich mittelalterlichen Hölle findet ihr Gegenstück in der offensichtlichen Anlehnung Altans an Themen und Gestaltungsmittel (Perspektivenlosigkeit bzw. -verzerrung, etc.) des deutschen Expressionismus. Dante „travestito“: Von E. Sanguinetis Commedia dell’Inferno zum Comic 51 Die für das travestimento unabdingbare Auseinandersetzung mit dem Text der Commedia schließt immer auch die (bereits im Zusammenhang mit Sanguineti angesprochene) Auseinandersetzung mit der reichhaltigen bildkünstlerischen Rezeption des Werks ein. Vor diesem Hintergrund ist gerade die Betrachtung der „travestimenti a fumetto“ von Interesse, die ja - gattungsbedingt - als „theatralisierte Illustrationen“ eine Synthese der hier angesprochenen Verfahren bieten. Eine der wohl gelungensten Comic-Versionen der Commedia (und zugleich die erste große italienische Disney-Parodie) ist das zwischen Oktober 1949 und März 1950 erschienene L’Inferno di Topolino, gezeichnet von Angelo Bioletto und getextet von Guido Martina. Bemerkenswert ist insbesondere die Terzinennachdichtung Martinas (in „rima alternata“ nach dem Schema ABA BCB), die dazu geführt hat, dass er sogar namentlich in der ersten Vignette erwähnt wird „verseggiatura di Guido Martina“, was angesichts der üblichen Anonymität der Disney-Autoren überraschend ist. Der Prolog des fumetto präsentiert eine Rahmenhandlung: Topolino und und Pippo (Mickey und Goofy) stehen im letzten Akt einer Theateraufführung der Divina Commedia in den Rollen Dantes und Virgilios auf der Bühne. Topolinos Erzfeind Gamba di Legno kann den vom rauschenden Applaus des Publikums attestierten Erfolg der Schauspieler nicht verkraften und lässt Topolino und Pippo von seinem Komplizen hypnotisieren: Sie bleiben dadurch in ihren Rollen gefangen („Abracadabra! Non uscirede mai biù da guelle vesdi! Mai biù! ! “) 11 und verhalten sich, nach dem Verlassen des Theaters wie Dante und Virgilio. Dante hält nun Minnie für Beatrice und drückt seine Verehrung entsprechend mit den Versen eines Sonetts aus der Vita Nova („Tanto gentile e tanto onesta pare“), womit er anschließend ihren Zorn auf sich zieht. Um mehr über die Commedia zu erfahren, gehen Topolino und Pippo in die Bibliothek und beginnen, ein Exemplar des Werks zu lesen (erkennbar mit den Illustrationen von Doré versehen); allerdings werden sie rasch müde und schlafen ein. Topolino wird von einem Ast des Baums der Doré-Illustration gepackt und in das Buch hineingerissen - und findet sich im Inferno wieder. Augenfällig ist das im Prolog reflektierte Zusammenwirken verschiedener Rezeptionsformen als Grundlage des travestimento: die Rezitation im Theater mit der „Verkleidung“ der Figuren als Voraussetzung für die psychologische Verkörperung (ironischerweise durch bösartige Magie), die Macht der Lektüre und die Macht der Bilderwelt der Commedia, verdeutlicht durch die als autonom handelnd dargestellte Doré-Illustration. Das Inferno di Topolino folgt in seiner Makrostruktur den Gesängen der Commedia, die - bis zu Gesang 17 - auch markiert sind; im Folgenden existiert keine Einteilung mehr, aber dennoch lassen sich die Canti, auf die in den dargestellten Episo- 11 Zitiert nach Disney, Walt, L’Inferno di Topolino, in: Le grandi parodie, Milano: Mondadori 1970, S. 17-89, hier S. 17. („Abrakadabra! Ihr werdet nie mehr aus diesen Kleidern herauskommen! Nie mehr! ! “). Bettina Bosold-DasGupta 52 den jeweils Bezug genommen wird, klar erkennen (einige sind - aus verschiedenen Gründen - auch ganz ausgelassen). Von besonderem Reiz sind Marinas Text- und Wort-travestimenti, die sowohl in den Sprechblasen der Figurenrede als auch vor allem in den Bildunterschriften, den „didascalie“, anzutreffen sind, die die auktoriale Rede in Terzinenform enthalten. So wird etwa im Prolog „Nel mezzo del cammin“ durch „Correva l’ anno tal dei tali“ ersetzt (L’Inferno di Topolino, S. 17), an Stelle von „Tanto era pien di sonno“ tritt „io mi sento morire dal sonno“ und „E io... sogno di morire...“ (ebenda, S. 18) in den Sprechblasen von Pippo und Topolino. Das Inferno di Topolino ist aber natürlich auch eine Parade unterschiedlichster Disneyfiguren - deren Einfügung in das Höllenszenario aufgrund von Übereinstimmungen oder auch starken Kontrasten zu charakterlichen oder physischen Eigenschaften von Dantes Verdammten - motiviert wird. 12 So erscheint anstelle des Drachens Gerione, der in Dantes Commedia als Allegorie des Betrugs fungiert, der friedliche „Reluctant Dragon“ - der Drache wieder Willen mit seiner Flöte. Die Terzinennachdichtung Martinas greift (wohl wegen des Reims sospetto-clarinetto) ein (natürlich in keiner Weise mit Gerione in Zusammenhang stehendes ) Francesca da Rimini-Zitat auf, das mit dem modernen umgangssprachlichen Begriff „Fifa“ für Angst (paura) kontrastiert: Soli eravamo e senza alcun sospetto. Quando, con meraviglia indescrivibile udimmo un dolce suon di clarinetto! Pippo fu colto da un’incontenibile Fifa, vedendo un drago svolazzare gonfio e panciuto come un dirigibile. (L’Inferno di Topolino, S. 68) Für das Inferno di Topolino ist das Wort-travestimento, die Oszillation zwischen zitathafter Nähe zu Dantes Text und Neuschöpfung geradezu konstitutiv. Martina entwickelt einen vielschichtigen Dialog zwischen Dantes Text- Welt und den vielfältigen Welten der Disneyfiguren. Wenn der „Reluctant Dragon“ ein freundliches und friedliches Gegenstück zu Dantes Gerione darstellt (die „Ehrlichkeit“ im Gegensatz zum „Betrug“), wird er von Martina auch entsprechend mit einem Vers aus der Vita nova bedacht „Tanto gentile e tanto onesta pare“ (mit dem Topolino auch schon Minnie angesprochen hatte) - er ist also ein Wesen, das Vertrauen und Zuneigung verdient: 12 Pinocchios Fatina rettet die in Bäume gebannten Kinder; es erscheinen Pluto, Donald Duck, Kater Carlo und unzählige weitere Disney-Figuren. Dante „travestito“: Von E. Sanguinetis Commedia dell’Inferno zum Comic 53 Io dissi allor: „Maestro, non tremare! “ Non vedi che la bestia che t’angoscia Tanto gentile e tanto onesta pare. (Ebenda) Erwähnenswert ist auch der in den Disney-Protagonisten Topolino-Dante und Pippo-Virgilio angelegte Rollentausch: Topolino ist der Mutige, Unerschrockene, während Pippo die Rolle des „Maestro“ aufgrund seines Charakters nicht ausfüllen kann. So entwickelt sich - und dies gilt auch für die Nebenfiguren - eine einzigartige Disney-Dante-Infernowelt, die als travestimento dantesco und als travestimento Disney gleichermaßen ihre Wirkung entfaltet. In der Disney-Hölle gibt es keinen Luzifer. Der gefrorene Kozytus wird als „pista da pattinatori“, als Eislaufbahn bezeichnet, die von den Protagonisten rasch durchbrochen wird. Jenseits des Eises treffen Topolino und Pippo auf den Zeichner und Texter des Inferno di Topolino, die an einen Pfahl als „traditori massimi“, als Erzverräter, gefesselt sind und von Dante Alighieri „in punizion dei lor peccati veri“ mit einer spitzen Schreibfeder in Schach gehalten werden. Dank der Fürsprache von Topolino und den auf Wolken schwebenden Kindern beruhigt sich der erzürnte Dante Alighieri und ist bereit, den Verrat an seiner Commedia diesmal noch ungestraft zu lassen. Martina und Bioletto fliegen mit Topolino, Pippo und Paperino auf der Schreibfeder mit den Ausrufen „Ciao, Collega! “, „Ciao, Dante! “ davon, während ihnen der Dichter wohlwollend hinterherblickt. Verbunden mit dem Entschweben der Figuren ist die hoffnungsvolle Grundstimmung, die in die letzten Terzinen des Comics gefasst ist und eine klare Opposition zu Dantes „Ahi, serva Italia, di dolore ostello“ darstellt: O patria mia, solleva il capo affranto, sorridi ancora, o bella fra le belle, O madre delle madri, asciuga il pianto! Il ciel per te s’accenda di fiammelle splendenti a rischiararti ancora la via, Sì che tu possa riveder le stelle! (Ebenda, S. 89) Unter den vielfältigen aktuelleren Illustrationen und Comic-Bearbeitungen 13 der Commedia sind die des Zeichners Marcello Toninello hervorzuheben, der alle drei Teile des Werks von 1994 an in der Kinderzeitschrift Il giornalino als Strips aufbereitet hat. Die inzwischen als dreibändige Sammelausgabe (Inferno, Purgatorio, Paradiso) vorliegenden „strisce“ führen verstärkt eine an die 13 Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang u.a. Div., Die göttliche Entenkomödie und andere Streifzüge durch die Weltliteratur, Berlin: Ehapa 2001; Panter, Gary, Jimbo im Purgatory, Seattle: Fantagraphics 2004 und Jimbo’s Inferno, Seattle: Fantagraphics 2006 sowie die von dem Mailänder Verlagshaus Nuages edierte dreibändige Ausgabe mit den Illustrationen von Milton Glaser, Lorenzo Mattotti und Moebius. Bettina Bosold-DasGupta 54 aktuelle Lebenswelt angepasste, multimediale Dimension (Fernsehen, Computerspiele, Zeichentrickfilme, - und natürlich auch immer wieder die Welt der Comics) in das travestimento ein: Jesus verfolgt im Purgatorio den Aufstieg der Protagonisten Dante und Virgilio auf dem Bildschirm mit seiner Spielkonsole und kommentiert den Eintritt der Wanderer in die nächste Stufe mit den Worten: „Wow! Sono arrivato al secondo livello! “ (Marcello Toninello, Purgatorio, S. 7), während Maria als fürsorgliche Mutter ihren Sohn vor der augenschädigenden Wirkung des Dio-Games warnt („Spegni un po’ quel Dio-Game, Gesù! Ti ci stai rovinando la vista! “, ebenda). Wortspiele dieses Typs (Dio-Game/ Video-Game) sind ein charakteristisches Element von Toninellos travestimento. Während Martina und Bioletto sich auf die Disney-Welt beschränken konnten und mussten, bewegt sich Marcello Toninello innerhalb der zweifellos komplexeren Unterhaltungs- und Medienrealität einer jüngeren Generation. Das führt aber nicht dazu, dass „Klassiker“ in seinem travestimento zu kurz kommen: So heften sich Dante und Beatrice als Hommage an Superman vor dem Flug ins Paradies die Buchstaben B und D an, wobei Beatrice Dante erklärt, dass der ausgestreckte Arm mit der geballten Faust à la Superman eigentlich überflüssig, aber beim Fliegen eben einfach eindrucksvoller sei: „per volare fa più scena“ (Marcello Toninello, Paradiso, S. 3). Trotz der freien „Anverwandlung“ der Divina Commedia spielt die konkrete Auseinandersetzung mit Dantes Text (ebenso wie bei Sanguineti, Piumini und Martina) auch bei Marcello Toninello eine wichtige Rolle: Er stellt jeweils wortlautliche Anführungen einzelner Verse seinen Strips voran und verstärkt damit die komisierende Spiegelung zentraler Passagen der Divina Commedia. Der Verfasser eines travestimento dantesco muss letztlich sein Verhältnis zu den verschiedenen Dimensionen von Dante Alighieri - als historische Figur, als Erzähler und als Protagonist - bestimmen und damit eine oder mehrere dieser Dimensionen manipulieren bzw. neu definieren: Sanguineti emarginiert den Erzähler Dante, Piumini versetzt den historischen Dante in einen Rausch, Martina und Bioletto erschaffen einen Dante-Topolino-Protagonisten sowie einen historischen Dante-Poeta als Nebenfigur, Marcello Toninello schließlich tritt selbst in Wettstreit mit dem Dichter Dante, indem er als traditionell mit den Florentinern verfeindeter Sienese die wahre Geschichte der Jenseitsreise erzählen will und einen entsprechend veränderten Dante-Protagonista ins Feld schickt. Dante „travestito“: Von E. Sanguinetis Commedia dell’Inferno zum Comic 55 Literaturverzeichnis Alighieri, Dante / Glaser, Milton, La Divina Commedia. Il Purgatorio, Milano: Nuages 1999. Alighieri, Dante / Mattotti, Lorenzo, La Divina Commedia. L’inferno, Milano: Nuages 2006. Alighieri, Dante / Moebius, La Divina Commedia. Il Purgatorio, Milano: Nuages 2006. Disney, Walt, L’Inferno di Topolino, in: Le grandi parodie, Milano: Mondadori 1970, S. 17-89. Div., Die göttliche Entenkomödie und andere Streifzüge durch die Weltliteratur, Berlin: Ehapa 2001. Panter, Gary, Jimbo im Purgatory, Seattle: Fantagraphics 2004 sowie Jimbo’s Inferno, Seattle: Fantagraphics 2006 Pesce, Maria Dolores, Edoardo Sanguineti e il teatro. La poetica del travestimento, Alessandria: Edizioni dell’Orso 2003. Piumini, Roberto, La nuova Commedia di Dante. Illustrata da Francesco Altan, Milano: Feltrinelli 2004. Sanguineti, Edoardo, Commedia dell’Inferno. Un travestimento dantesco, Introduzione di Federico Tiezzo, Genova: Costa & Nolan 1989. Sanguineti, Edoardo, Teatro antico. Traduzioni e ricordi, a cura di F. Condello e C. Longhi, Milano: BUR 2006. Di Stefano, Paolo, „Traduttori traditori“, in: Corriere della Sera, 15.10.2006, S. 33 . Toninello, Marcello, Dante. La divina commedia a fumetti. Inferno, Rimini: Foxtrot 2004. Toninello, Marcello, Dante. La divina commedia a fumetti. Purgatorio, Rimini: Foxtrot 2005. Toninello, Marcello, Dante. La divina commedia a fumetti. Paradiso, Rimini: Foxtrot 2006. Christine Walde Lucan und Dante Einleitung Die Einladung zum Mainzer Dante-Symposion war mir eine willkommene Gelegenheit, mich der Divina Commedia als einem Kunstwerk zuzuwenden, das eine näher zu definierende Rezeption der antiken lateinischen Literatur aufweist. Deren wirkmächtige Resorption hat sich in vielfacher Hinsicht vor unser Verständnis der antiken Texte geschoben, so scheint es. Beschäftigt man sich z.B. mit dem 6. Buch von Vergils Aeneis, in dem Aeneas mit der Sibylle von Cumae in die Unterwelt hinabsteigt, muss man erst einmal Assoziationen und Vorstellungen, die durch Dantes Inferno in unser Denken gekommen sind, für sich selbst sichtbar machen und - will man zum zeitgenössischen antiken Gehalt der Aeneis durchdringen - zur Seite schieben. Die enthusiastische Leserin, die mit den antiken Epen vertraut ist, genießt diese Überblendungen natürlich, weil sich die Divina Commedia durchaus im Erfahrungshorizont der antiken Epik verorten lässt als Reiseepos, allerdings mit visionärer innerer Dimension. Vor der Alterität zu oder Homogenität mit den einschlägigen Texten der lateinischen Literatur gewinnen Dantes und unser eigenes Verständnis der Antike Konturen. Die Beschäftigung mit diesem Dichter erhöht aber auch den Druck, den man bei einer Auseinandersetzung mit Vergil empfindet, noch weiter ins gänzlich Unerträgliche. Denn wenn Vergil der antike Autor ist, zu dem seit mehr als 2000 Jahren durch seine kontinuierliche Rezeption in Literatur, Kunst und Kommentierungspraxis eine für ein Individuum nicht mehr überschaubare Menge an Interpretationen produziert wird und man es kaum wagt, in diesem polyphonen Chor selbst die Stimme zu erheben, so dürfte - sub specie aeternitatis - Dante der Autor sein, der ihm in dieser Hinsicht lediglich in der Zeitdauer der Rezeption nachsteht. Nicht zu vergessen, dass Dantes Geniestreich, gerade Vergil zum Führer durch die Unterwelt und das Purgatorium zu machen, zu einer Wahrnehmungsverengung geführt hat, in der die Werke des Mantuaners und des Florentiners in der überzeitlichen Kanonisierung der westlichen Literatur eine unauflösliche Allianz eingehen: Selbst derjenige, der nie eine Zeile der Göttlichen Komödie gelesen hat, wird Christine Walde 58 es nicht vermeiden können, Vergil eben auch mit den Augen Dantes zu sehen (oder Dante mit den Augen Vergils). 1 Tritt zu dem Duo Vergil-Dante der römische Epiker Lucan, potenziert sich die Problematik noch um ein Vielfaches. Im Folgenden möchte ich versuchen, verschiedene Dimensionen der Lucan-Rezeption bei Dante aufzuzeigen. Zu Lucan: Antike, Dante, heute Wer war Lucan? Die Frage, wer denn Lucan ist, hätte Dante ohne Zögern mehr oder minder richtig beantwortet. Heute werden das nur wenige Menschen können. Der 39 nach Chr. geborene Marcus Annaeus Lucanus entstammte einer angesehenen Intellektuellen-Familie aus Cordoba, zu der u.a. Seneca der Jüngere gehörte. Er wuchs in enger Verbindung zum Kaiser Nero auf, mit dem er sich das Talent für Dichtung teilte. Diese Freundschaft zerbrach deshalb, weil Lucan Nero in seinem Ansehen als Dichter überflügelte. Lucan schloss sich mit einer Gruppe von Senatoren zur so genannten Pisonischen Verschwörung zusammen, die der wenig nobilitätsfreundlichen Herrschaft Neros ein Ende setzen wollte. Nach deren Aufdeckung musste Lucan - wie die anderen Verschwörer oder Mitwisser - auf Geheiß Neros 65 n. Chr. Selbstmord begehen. Der knapp 27 Jahre alte Dichter hinterließ ein umfängliches Oeuvre, von dem wir heute nur das unvollendete Bellum Civile erhalten haben, das zur Unterscheidung von Caesars gleichnamigen Commentarii auch unter dem Namen Pharsalia kursiert. Das Epos in zehn Büchern besingt den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius, der 49 vor Chr. mit Caesars Übergang über den Rubicon begann und den Julier auch als Sieger in der Entscheidungsschlacht bei Pharsalos (48 v. Chr.) zeigen sollte. Lucan zeichnet diesen Bürgerkrieg als Krieg kosmischen Ausmaßes, in dem Caesar als glanzvoll schillernder Übermensch alle anderen Protagonisten in einer Form überstrahlt, dass deren Niederlage, auch wenn der Epiker ihnen Sympathie entgegenzubringen scheint, an hoher Plausibilität gewinnt. Zudem lässt er durch die Anklage der moralischen Verderbtheit aller Bevölkerungsschichten Roms deutlich werden, dass das politische System der späten Republik an ein Ende kommen musste. Lucans expressives Epos, das sich auch durch groteske Darstellungen des menschlichen Todes auszeichnet, wurde bis in das 17. Jahrhundert im überzeitlichen Kanon an zweiter Stelle hinter Vergil eingeordnet, den er in sensiblen Zeiten sogar überflügelte. Im Zuge der generellen Abwertung der lateinischen Literatur vor der griechischen, des Geltungsverlustes der Rhetorik und als Folge einer normativen Poetik fiel Lucan so konsequent aus dem 1 Denn umgekehrt wird sich vor das Verständnis Dantes die Vorstellung schieben, die seine Interpreten von der Antike entwickelt haben. Lucan und Dante 59 Kanon der Schulautoren, dass er heute außerhalb der Latinistik praktisch unbekannt ist. 2 Seit ungefähr 50 Jahren erlebt er zumindest in der Forschung eine gewisse Rehabilitation. Die Erfahrungen der Gewaltexzesse des 20. und 21. Jahrhunderts, die Weltkriege, Vietnam, Irak usw. scheinen das Bellum Civile zu einem prädestinierten Referenztext zu machen. Man verengt Lucans Rolle hierbei häufig auf den „Dichter geistigen Widerstandes“, der mit seinem Epos - auch auf Kosten des eigenen Lebens - ein Fanal gegen das tyrannische Caesarentum setzen wollte. 3 Durch diese biographische Verkitschung gerät der Facettenreichtum des Epos völlig aus dem Blickfeld. Sicher wird Dante Lucan und sein Bellum Civile in seinem eigenen kulturellen Horizont anders wahrgenommen haben als wir heute, und wir müssen ohne Zweifel damit rechnen, dass diese Wahrnehmung nicht mit Lucans Intentionen innerhalb seines eigenen soziokulturellen Kontextes übereinstimmt. Dante und Lucan Forschungsstand In der Dante-Forschung gibt es gar nicht so wenige, oft sehr anregende und verdienstvolle Studien zu Lucan und dem Verfasser der Göttlichen Komödie 4 , und zwar von Seiten der Klassischen Philologie und der Romanistik/ Komparatistik, oft, aber nicht immer in Doppelkompetenz der Verfasser. Eine erste Blüte dieser Studien ist Ende des 19. Jahrhunderts und dann wieder in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu beobachten. 5 Aktuell zeichnet sich aufgrund des z.T. etwas fragwürdigen Lucan-Booms, der auch einige Werke hervorgebracht hat, die das Bellum Civile einem größeren akademischen Leserkreis schmackhaft zu machen suchen, eine erneute intensivere Beschäftigung mit Dantes Lucan-Rezeption ab. 6 Dass dies insbesondere in Italien und in den Vereinigten Staaten der Fall ist, hängt damit zusammen, 2 Vgl. einführend Walde, Christine, „Le partisan du mauvais goût? oder: Anti-Kritisches zur Lucan-Forschung“, in: Bianca Jeanette Schröder / Jens-Peter Schröder (Hrsg.), Studium declamatorium. Untersuchungen zu Schulübungen und Prunkreden von der Antike bis zur Neuzeit. J. Dingel zum 65. Geburtstag, München u. a. 2003, S. 127-152. 3 Vgl. z.B. Pfligersdorffer, Georg, „Lucan als Dichter des geistigen Widerstandes“, in: Hermes 87 (1959), S. 344-377. 4 Zu einem konzisen Überblick über die Forschungsgeschichte, siehe Schnapp, Jeffrey T., „Lucanian estimations“, in: Zygmunt G. Baranski (Hrsg.), Seminario Dantesco Internazionale. International Dante seminar 1: Atti del primo convegno tenutosi al Chauncey Conference Center, Princeton, 21-23 ottobre 1994, Firenze 1997, S. 111-134. 5 Vgl. De Angelis, Violetta, „‚...e l‘ultimo Lucano‘“, in: Amilcare A. Iannucci (Hrsg.), Dante e la ‚bella scola’ della poesia: Autorità e sfida poetica, Ravenna 1993, S. 145 (mit weiteren Literaturangaben). 6 Wie z. B. Johnson, Walter Ralph, Momentary monsters. Lucan and his heroes, Cornell Studies in Classical philology 47 (1987), oder Bartsch, Shadi, Ideology in cold blood: A reading of Lucan’s Civil War, Cambridge 1997. Christine Walde 60 dass in beiden scientific communities die Klassische Philologie institutionell eng mit der Komparatistik verbunden ist und sich von daher Synergie-Effekte ergeben. Natürlich findet sich der eine oder andere Beitrag, der dieser Beziehung rein von der Warte der Klassischen Philologie aus nachspürt, läutete doch gerade Eduard Fraenkels Aufweis einer lebhaften Rezeptionsgeschichte Lucans am Anfang des 20. Jahrhunderts dessen Rehabilitierung ein. 7 Schon an Fraenkels einflussreichem Vortrag vor der Warburg-Gesellschaft kann man die Überblendung der Rezeptionsgeschichte mit den neuzeitlichen Werturteilen beobachten: einerseits skizziert er eine erstaunliche Präsenz Lucans, andererseits kategorisiert er ihn am Ende als einen Autor, der keinerlei Resonanz in der europäischen Geistesgeschichte gehabt habe, ja, er entschuldigt sogar Dantes Vorliebe für den römischen Epiker als kleine intellektuelle Schwäche. Romanisten und Komparatisten, die sich heute nur passager mit Lucan beschäftigen, haben die relativ junge Neubewertung und Rehabilitierung der römischen Epik des ersten nachchristlichen Jahrhunderts nicht zur Kenntnis nehmen können, weil sie ihren Weg noch nicht in die einschlägigen Literaturgeschichten gefunden hat. 8 Ich möchte die aus dieser verfahrenen Situation entstehenden Verwerfungen an einem Beispiel aufzeigen: Dauervergleich Vergil - Lucan Dass die Dante-Forschung diese Entwicklung der Latinistik meist nicht zur Kenntnis genommen hat, bedeutet in erster Hinsicht, dass der unproduktive, da prinzipiell auf ästhetischen Werturteilen beruhende Vergleich von Vergil und Lucan, bei dem immer Vergil die Palme davonträgt, unreflektiert auf die Divina Commedia übertragen wird. Dieser normative Vergleich, der selbst in der Klassischen Philologie in der praktizierten Extremform ein aus der normativen Poetik des 17. Jahrhunderts übernommenes Sekundärphänomen darstellt, ist nicht nur nachantik, sondern sogar nachdantesk. Man kann aber Bewertungen und Interpretationen einer späteren Rezeptionsphase eines Autors zu Zwecken der Interpretation weder auf die Antike noch auf das Mittelalter bzw. speziell auf Dante zurückprojizieren. Vielmehr sind die Rezeptionsphasen ein Forschungsgegenstand eigenen Rechts. Dass Vergil und Vergils Dichtung in der Divina Commedia eine tragende Rolle spielen, 7 Siehe Fraenkel, Eduard, „Lucan als Mittler des antiken Pathos“, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924-1925, Leipzig/ Berlin 1927, S. 229-257. 8 Dies liegt an der Beharrungsnatur des wissenschaftlichen Genres „Literaturgeschichte“, das auf normative Sicherung des Forschungsstandes abzielt und in eher längeren Zeitabständen auf den neusten Stand gebracht wird. So tradieren sich einstweilen unsinnige Vorurteile, wie z.B. die Aussage, dass das Bellum Civile keinen Helden habe, was dann zu völlig schiefen Interpretationen des Verhältnisses von Lucan und Dante führt (siehe etwa: Wetherbee, Winthrop, The ancient flame. Dante and the poets, Notre Dame 2008, S. 104). Lucan und Dante 61 bedeutet nicht, dass schon Dante Lucan als Dichter gänzlich verachtete. Geht man aber mit dieser Vorannahme der generellen Abwertung an die Untersuchung, wie Dante Lucan einschätzte, dann wird man sie auch bestätigt finden. Kompliziert wird das dadurch, dass in der Klassischen Philologie diese wertende Gegenüberstellung Lucans und Vergils oft auch in einer etwas schizophrenen Weise ideologisch überformt wird: denn einerseits wird dem poeta princeps eine Verherrlichung des Kaisers Augustus zugeschrieben, andererseits Lucan zum Sprachrohr aller Prinzipatsgegner und damit zum Anti-Vergil stilisiert. Problematisch ist natürlich, dass sich der moderne Forscher nicht mit Vergils (vermeintlicher) Lobhudelei wird anfreunden können, insofern also in Schwierigkeiten kommt, seine generell positive Einschätzung aufrechtzuerhalten. Hingegen ist eine persönliche Identifikation mit dem jungen Dichtergenie Lucan im Kampf gegen die Caesaren für den modernen Interpreten sehr leicht. Man versucht sich dieses Dilemmas mit der so genannten two voices -Theorie zu entledigen, nach der Vergil an der Oberfläche Augustus gehuldigt habe, um aber zwischen den Zeilen in subversiver Manier Kritik zu äußern, die denen, die es sehen wollten, ganz offensichtlich gewesen sei. Das nähert Vergil der politisch korrekten Haltung Lucans an und macht es möglich, wieder die Hierarchie zwischen beiden zu wahren, was vermutlich den gesamten zeitgenössischen Kontext beider Epiker verkennt. Bei meiner Lektüre von neuster Sekundärliteratur habe ich festgestellt, dass die two-voices-Theorie der Vergil-Forschung auch ihren Weg in die Dante-Forschung gefunden hat. Wenn jedoch auch Dante zum halben Anti- Augusteer gemacht wird, bringt dies natürlich die gesamte Konstruktion des Heilsplans der Divina Commedia zum Einsturz. Zudem scheint die Deutung Dantes als eines ‚republikanischen‘ Dichters sich auch auf die Einschätzung seiner Lucan-Rezeption ausgewirkt zu haben. Die uneingeschränkte Verherrlichung der Republik und die entsprechende Verdammung der Caesaren bzw. des Prinzipats kann bei Dante trotz aller kritischer Einstellung dem Papsttum gegenüber nicht a priori vorausgesetzt werden, weil sie erst eine Generation später mit Petrarca und dem Humanismus aufkommt. Vielmehr bilden bei Dante Republik und Prinzipat des antiken Roms ein notwendiges Kontinuum der Geschichte, das strikt dem Heilsplan Gottes folgt. Gott wählte das römische Imperium, genauer gesagt die friedensreiche Regierungszeit des Augustus, um seinen Sohn auf die Erde zu schicken und so den Menschen das Christentum zu schenken. Die vierte Ekloge des Heiden Vergil kündigte in diesem System die Geburt Christi an. Insofern setzt Dante konsequent unter christlicher Perspektive die Botschaft der Aeneis fort, in der die Herrschaft des Augustus Gipfelpunkt der römischen Geschichte und Garant der ewigen Herrschaft Roms ist. Die Geschichte des paganen Roms geht über in diejenige des christlichen Roms, wobei Rom trotz Kritik am Papsttum immer ideelles Zentrum der Christenheit bleibt. Christine Walde 62 Es ist also nicht nur höchst zweifelhaft, sondern mehr oder minder ausgeschlossen, dass Lucan für Dante a priori der identifikationsfähige Dichter der römischen Republik und des geistigen Widerstands gegen die Caesaren gewesen sein konnte, auch wenn er sich mit ihm die Pose des moralischen praeceptor populi teilt. Vielmehr hat er Lucan ganz anders wahrgenommen. Ich möchte hier drei Punkte besonders hervorheben: (a) Das 11. und 12. Jahrhundert ist eine wahre aetas Lucanea gewesen: aus dieser Zeit stammen die meisten Handschriften und Kommentare (Arnulf, von Orleans etc.). Allein fürs 12. Jahrhundert sind 66 Lucan-Handschriften bezeugt. Der Text war also auch im 13./ 14. Jahrhundert sehr präsent. In dieser Zeit avancierte Lucans Epos als historische Darstellung einer menschengemachten Katastrophe „Bürgerkrieg“ zum wichtigen Referenzpunkt und zur Bewältigungshilfe eigener Krisen ähnlicher Couleur (etwa die Kämpfe zwischen den Guelfen und Ghibellinen oder der schwarzen gegen die weißen Guelfen), wie man das immer wieder im Laufe der Rezeptionsgeschichte Lucans beobachten kann. 9 Zudem wurde das Bellum Civile als Quelle für historische und literarische Verarbeitungen der Caesar-Gestalt eher affirmativ rezipiert, indem man Lucans Ambivalenzen ignorierte. (b) Im Mittelalter wurde Lucan aber auch als naturwissenschaftlicher, geographischer Autor, als Dichter der mirabilia geschätzt. Die einschlägigen Passagen werden heute gerne als schmückendes Beiwerk angesehen. 10 In der Tat bietet Lucan viele geographische und astronomische Angaben, liebt Kataloge, besonders von Flüssen, Beschreibungen von Tieren (v. a. von Schlangen), beschreibt magische Praktiken oder den Bau von Belagerungsanlagen. In der Betrachtung, wie etwa Dante in seiner minutiösen langsamen Textlektüre den Gelehrten Lucan aufnimmt, können wir Fehleinschätzungen korrigieren, die sich einer modernen Ästhetik verdanken, die den poeta doctus vor dem Originalgenie abwertet und so einen antiken Autor auch wieder für uns zurückgewinnen. Heute sieht man Lucan nämlich aufgrund einer selektiven Lektüre einseitig als Dichter des Hässlichen und Grotesken. 11 Es 9 Vgl. De Angelis, Violetta, „Il testo di Lucano, Dante e Petrarca“, in: Zygmunt G. Baranski (Hrsg.), Seminario Dantesco Internazionale. International Dante seminar 1: Atti del primo convegno tenutosi al Chauncey Conference Center, Princeton, 21-23 ottobre 1994, Firenze 1997, S. 67-109. Zu Lucans Rezeption generell siehe Walde, Christine (Hrsg.) unter Mitarbeit von Concetta Finiello, Daniel Groß, Martin A. Steinrücken und Mirjam Vischer, Lucans Bellum Civile. Das Spektrum seiner Rezeption von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 78, Trier 2009, und darin insbesondere die Bibliographie von Finiello, Concetta, Auswahlbibliographie zur Lucan-Rezeption von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, S. 505-574. 10 Siehe dazu z. B. Crosland, Jessie, „Lucan in the Middle Ages, with special reference to French epic“, in: Modern Language Review 25.1. (1930), S. 32-51. 11 Vgl. z.B. die einseitige Einschätzung von Wetherbee, Ancient Flame, S. 61. Lucan und Dante 63 sei auch gar nicht abgestritten, dass Ovid und Lucan in dieser Hinsicht und in der Markierung persönlicher Betroffenheit Dantes vordringliche literarische Modelle waren. Doch hört deshalb nicht - wie in der Forschung gerne behauptet - der poetische „Einfluss“ Lucans mit dem Purgatorio auf. Vielmehr bleibt er in der Adaption von Bildern, Metaphern, geographischen und historischen Erläuterungen sowie in besonders gelungenen Formulierungen präsent. Das hängt auch mit dem anderen Textbegriff des Mittelalters zusammen. (c) Textbegriff: 12 Wenn wir für diese Zeit von der Rezeption Lucans oder eines anderen Autors sprechen, dann meint das nicht die Lektüre eines Teubner-Textes oder einer wohlfeilen zweisprachigen Ausgabe, sondern Manuskripte, in denen neben dem so genannten Accessus, der z.B. durch Darbietung der meist legendenartig ausgeschmückten Biographie das Verständnis eines Werkes bahnen sollte, auch zahlreiche Glossen und Anmerkungen ihren Platz hatten. Diese erläuterten nicht unbedingt kulturelle Differenzen, sondern markierten den interpretativen Gewinn für die eigene Zeit. Diese Paratexte gehörten für den mittelalterlichen Rezipienten unauflöslich zum Text dazu. Eine Aussage „wie Lucan sagt“ wird unter Umständen sehr relativ zu verstehen sein. Die Kommentierung erfolgt hierbei - wie bei der Bibel - nach dem vierfachen Schriftsinn, der sich immer weiter vom Ursprungskontext entfernt und sogar eine christliche Auslegung der paganen Texte möglich macht. Diese Harmonisierung mit dem christlichen Weltbild, so forciert sie uns heute erscheinen mag, kann dennoch im Kontext der damaligen Zeit nicht als Fehldeutung gesehen werden. Dazu kommt noch eine weitere Nutzung von Texten, die sich ganz an der Memorabilität orientiert: In Florilegien wurden eingängige exempla und gute, also bewährte Formulierungen gesammelt, die ohne viel Federlesens in anderen Kontexten wiederverwendet wurden. Insofern ist es auch bei Dante manchmal sehr schwierig, zwischen der Wiederverwendung einer guten Formulierung und intrikateren Formen der intertextuellen Bezugnahme zu unterscheiden. 13 Dantes poetische ‚Modelle‘ Mit dem Beginn, der Wanderung durchs Inferno, ergibt sich zwangsläufig der Bezug auf bestimmte Prätexte, die gleichsam von Dante in ‚Großschrift‘ 12 Dazu siehe generell: De Angelis, Il testo di Lucano. 13 De Angelis, Ultimo Lucano, S. 152, zeigt dies am berühmten Löwengleichnis Lucans auf (Bellum Civile 1, S. 205-210), mit dem er Caesars Motivationen, den Rubicon zu überschreiten, illustriert. Dieses wird aber von Dante - ohne Bezug auf Caesar - transformierend zur plastischen Schilderung einer Bestie aufgenommen. Christine Walde 64 ausgeschrieben werden, weil bei ihnen die Unterwelt nur eine Einzelszene ist. Dante nennt diese sich mit Notwendigkeit anbietenden Prätexte im Inferno alle selbst: Die Epen von Vergil, Lucan, Ovid und Statius. Diese intertextuelle Bezugnahme inszeniert er auch dadurch, dass er diesen Dichtern persönlich begegnet, auch wenn er uns nicht am Inhalt des Gesprächs teilhaben lässt. Immerhin muss man als Lucan-Forscherin doch erfreut zur Kenntnis nehmen, dass wir den jungen Epiker im Castello Nobile, der im vierten Buch des Inferno beschrieben wird, unter den fünf berühmtesten Dichtern der Antike 14 finden: Was ist der Castello Nobile? Dieses Schloss liegt im Limbo, wo auch die ungetauften Kinder untergebracht sind, also in einem Bereich, der zwar zum Inferno gehört, aber keinen spezifischen Strafcharakter hat. Im Castello Nobile, der innerhalb des Limbo eine abgeschlossene Einheit bildet, sind nach Dante die tugendhaften Heiden untergebracht, die rein zeitlich nicht in die Gnade der Taufe kommen konnten. 15 Schauen wir uns Dantes Begegnung in Inferno IV, 83ff. mit den antiken Dichtern einmal näher an: Erst hört man nur eine Stimme, die euphorisch Vergils Wiederkehr feiert. Die Stimme erstirbt, der Erzähler schildert nun seine visuelle Erfahrung: [...] vidi quattro grand‘ ombre a noi venire; sembianza avevan nè trista nè lieta. Lo buon maestro cominciò a dire: „Mira colui con quella spada in mano che vien dinanzi a‘ tre si come sire: quegli é Omero, poeta sovrano; l‘altro é Orazio, satiro, che viene; Ovidio é il terzo, e l‘ultimo Lucano. Pero che ciascun meco si conviene nel nome che sonò la voce sola, fannomi onore; e di ciò fanno bene“ Cosi vidi adunar la bella scuola di quell‘ signor dell‘altisimo canto che sovra gli altri com‘ aquila vola. Da ch‘ebber ragionato insieme alquanto, volersi a me con salutevol cenno; e il mio maestro sorrise di tanto: e più d‘onore ancora assai mi fenno, che sì mi fecer della loro schiera, sì ch‘io fui sesto tra cotanto senno. Così n‘andammo infino alla lumiera, 14 Dass diese Autoren im Mittelalter auch als Stilmodelle galten, bleibt von der hier vorgelegten Deutung unberührt. 15 Zu dieser Problematik siehe Iannucci, Amilcare A., „Vergil and the tragedy of the virtuous pagans in Dante's Commedia“, in: Alexander Gordon McKay (Hrsg.), Vergilian bimillenary lectures, College Park 1982, S. 145-178. Lucan und Dante 65 parlando cose che il tacere é bello, sì com‘era il parlar colà dovèra. Übersetzung (CW): ... sah ich vier große Schatten auf uns zukommen, sie hatten weder eine traurige noch fröhliche Anmutung. Der gute Meister (sc. Vergil, CW) begann zu sagen: ‚Schau den an, der mit jenem Schwert in der Hand, der vor den anderen geht wie ein Fürst/ König: Das ist Homer, der königliche Dichter, der andere ist Horaz, der Satiriker, der kommt, Ovid ist der dritte und der letzte ist Lucan. Weil uns allen der Name zukommt, den die einzelne Stimme ertönen ließ, erweisen sie mir die Ehre - und das ist auch gut so.’ So sah ich die schöne Schule wogen mit jenem Meister des höchsten Gesangs, der über den anderen schwebt, wie ein Adler fliegt. Nachdem sie eine Weile unter sich diskutiert hatten, wandten sie sich an mich mit einem huldvollen Zeichen, und mein Meister lächelte darüber. Sie erweisen mir sogar noch größere Ehre, als sie mich zu einem ihrer Gruppe machen wollen, dass ich der sechste in ihrer Runde wäre. So gingen wir zusammen zum Licht, sprechend über Dinge, die zu verschweigen schön ist, so wie es schön war, damals zu sprechen. Dass Lucan in der bella scola als letzter erscheint, ist immer wieder als generelle Abwertung gesehen worden. 16 Dagegen spricht die pure Tatsache, dass er überhaupt in diese illustre Gruppe eingereiht wird. Insofern überzeugt mich von den mir bekannten bisherigen Deutungen immer noch die chronologische am meisten, denn Lucan ist in der Tat der zeitlich letzte. Doch schauen wir uns die Logik der Szene genauer an: Die bedeutendsten Dichter sind Homer, Horaz, Ovid und Lucan, wobei Vergil als der fünfte, aber auch als der erste in der Gruppe vorzustellen ist. 17 Er ist es, der Dante in die bella scola einführt und von den anderen mit hoher Ehrerbietung empfangen wird; gerne würde die bella scola Dante aufgrund seiner poetischen Begabung schon jetzt in ihre Gruppe aufnehmen. Natürlich ist das freundlich wie naiv, denn nicht nur lebt Dante noch, er ist auch Christ. Trotz oder gerade wegen der Ablehnung von Seiten Dantes ist diese Szene 16 Eine Zusammenfassung der Forschungslage bietet Paratore, Ettore, „Lucano“, in: Enciclopedia dantesca, Roma 1971, S. 697-702. 17 Dante zeigt seine ganz eigene Kanonisierung der Autoren, die nicht mit unserer eigenen oder der zeitgenössischen antiken verwechselt werden sollte (es fehlen z.B. Autoren). Dante hat sie alle gleichzeitig wahrgenommen, was ihm die Möglichkeit zur Inszenierung einer postmortalen Begegnung verschafft. Christine Walde 66 wohl eine der stolzesten Selbstanzeigen dichterischen Könnens, die sich in der Weltliteratur finden lässt. Die Kluft zwischen paganer und christlicher Dichtung wird im Purgatorio XXI/ XXII, wo in Aufnahme dieser Szene noch weitere Bewohner des Castello Nobile genannt werden, in der Gestalt des Epikers Statius (Purg. XXII, 64ff.) inszeniert, der gleichsam Dantes Spiegelbild und sein internes Sprachrohr ist: denn nicht die Dichter der bella scola sind Dantes direkte Vorgänger, sondern Statius. Für uns mag es vielleicht erstaunlich sein, Statius nicht auch im Inferno zu finden, aber nach mittelalterlicher Vorstellung war er getauft (Purgatorio, XXII, 76-81). 18 Im Purgatorio (XXII) verweilt er aufgrund seiner Habgier und seiner Lauheit im Glauben. Er wartet auf seine Weiterbeförderung ins Paradies. Diese tritt auch ein, während Dante noch durch das Purgatorio wandert. In der Chronologie der lateinischen Dichtung wäre Statius eigentlich direkt hinter Lucan anzusetzen, aber er ist durch die Konversion zum Christentum von der bella scola auf ewig getrennt - wie Dante. Und doch ist die bella scola für beide von grundsätzlicher Bedeutung. In Unkenntnis, dass der Begleiter Dantes Vergil ist, erzählt Statius dem florentinischen Dichterkollegen sein Lebensschicksal: Die Lektüre und Imitation der Schriften Vergils habe ihn in die sittliche Grundhaltung versetzt, die seine Bekehrung zum Christentum möglich gemacht habe. Zur allegorischen Erläuterung dieses Sachverhalts wählt Statius-Dante hier das schon aus der antiken Philosophie bekannte anrührende Bild eines Menschen, der ein Licht auf dem Rücken trägt und anderen als sich selbst leuchtet (Purgatorio XXII, 94-99). 19 Vergil also zeigte den Weg zur Weisheit und zur rationalen Lebensführung, der vom Christentum fortgesetzt wird, ohne dass er jedoch selbst - rein zeitlich - von der Gnade Gottes im Christentum profitieren konnte. An Vergil und den anderen paganen Dichtern wird in ziemlicher Härte der Heilsplan Gottes demonstriert, der sie trotz ihrer Leistungen aus dem Paradies ausschließt. Gerne würde er, Statius, zusätzliche Jahre im Purgatorio verbringen, wenn er Vergil noch persönlich hätte kennen lernen können. Von der Warte des Christentums aus ist diese Aussage natürlich ein Sakrileg und in diesem Fall eine Illustrierung der Glaubenslauheit des Statius, wegen der er ja nach eigener Aussage im Purgatorio festsitzt. Obwohl Vergil Dante durch Blicke zu verstehen gibt, dass er seine Identität bitte nicht enthüllen solle, will Dante auf Statius‘ Frage, wer sein Begleiter sei, nicht lügen. So kommt es durch die poetische Phantasie der Divina Commedia doch noch zu einer postmortalen Begegnung zwischen Statius und seinem Idol Vergil, der schon durch die Erzählung Iuvenals von Statius‘ Verehrung für ihn erfahren 18 Zur Rolle des Statius vgl. Paratore, Ettore, „Stazio”, in: Enciclopedia dantesca, Roma, 1970-78, V, S. 419-25; Wetherbee, Ancient Flame, S. 159-202. 19 Dazu: MacDonald, Ronald R., The burialplaces of memory. Epic underworlds in Vergil, Dante and Milton, Amherst 1987, S. 68-81. Lucan und Dante 67 hatte. Ich sehe übrigens Statius‘ kurz darauf erfolgende Weiterbeförderung ins Paradies als Folge davon, dass er nun von seinem brennenden Wunsch, Vergil zu treffen, befreit ist. Diese Umsiedlung trennt ihn natürlich noch weiter von den Kollegen im Castello Nobile, wo - wie wir wissen - auch einige Gestalten seines Theben-Epos wohnen, die er nun ebenfalls hinter sich lässt. Dante weist den antiken Autoren und der antiken Bildung eine bedeutende Rolle zu, aber zugleich ist seine Haltung die eines schönen Bedauerns: sie sind durch die Schuld der frühen Geburt von der Gnade Gottes ausgeschlossen, weshalb er nur mittelbar und selektiv mit ihnen kommunizieren kann. Die Kluft zwischen ihnen ist nicht zu schließen - höchstens oder wenigstens poetisch. 20 Vergil und Lucan Zweifellos spielt Vergil als Person bei Dante eine überragende Rolle. Natürlich eignet er sich wegen des 6. Buches der Aeneis, in dem er die Sibylle von Cumae den Helden Aeneas durch die Unterwelt führen lässt, seinerseits zum guida d‘inferno. Wir wissen aus der Aeneis, dass die Sibylle von Cumae - wie sie auf Nachfrage des Aeneas erklärt - ihrerseits ihre Ortskenntnis der Göttin Hekate verdankt, die ihr nach ihrer Ernennung zur Oberpriesterin eine Spezialführung durch die ganze Unterwelt gegeben habe. 21 Insofern haben wir es in der Divina Commedia mit einer intertextuellen Volte zu tun, in der Dante den Part des ebenfalls noch lebenden Menschen Aeneas übernimmt und der Schatten Vergils denjenigen der in der Aeneis ebenfalls noch lebenden Sibylle. Eigentlich müsste die Autorität Vergils also außer Frage stehen. Aber Dante modifiziert dieses Bild doch noch einmal in unerwarteter Weise. Als die beiden zum innersten Kreis des Inferno gelangen, fragt ihn der nun etwas verängstigte Dante, wie sein Geleiter denn eigentlich seine Ortskenntnis dieses Bereichs gewonnen habe, ob es denn den Seelen frei stünde, innerhalb des Inferno sich frei zu bewegen. Vergils Antwort ist ehrlich und verblüffend zugleich (Inferno IX, 19-33): Questa question fec’io; e quei „Di rado incontra” mi rispuose „che di noi faccia ’l cammino alcun per qual io vado. 20 Darum kann sich Dante mit ihnen, die ihn in ihren Bund rufen (und damit einen erstaunlichen Vertrauensvorschuss gewähren) vermutlich nur über Dichtung unterhalten, ein Gespräch, das er in bemerkenswerter Geheimhaltung aber gerade nicht berichtet. 21 Vergil, Aeneis 6, 562-565: „constitit Aeneas strepitumque exterritus hausit: / ‚quae scelerum facies? o virgo, effare; quibusve / urgentur poenis? quis tantus plangor ad auras? ‘/ tum vates sic orsa loqui: ‚dux inclute Teucrum, / nulli fas casto sceleratum insistere limen; / sed me cum lucis Hecate praefecit Avernis,/ ipsa deum poenas docuit perque ‚omnia duxit.’“ Christine Walde 68 Vero è altra fiata qua giù fui, congiurato da quella Eritòn cruda che richiamava l‘ombre a‘ corpi sui. Di poco era di me la carne nuda, ch‘ella mi fece intrar dentr‘a quel muro per trarne un spirto del cerchio di Giuda. Quell‘è ’l piú basso loco e ’l piú oscuro, e ’l più lontan dal ciel che tutta gira: ben so il cammin: peró ti fa sicuro.“ Übersetzung (CW): Diese Frage stellte ich, und jener antwortete mir: ‚Selten trifft es sich, dass einer von uns den Weg macht, den ich nun gehe. Wahrlich war ich bei anderer Gelegenheit schon hier, beschworen von jener grausigen Erichtho, die den Schatten in seinen Körper zurückrief. Kurze Zeit war nur mein nacktes Fleisch übrig, als diese mich in die Mauern eintreten hieß, um einen Geist herauszuziehen aus dem Kreis des Judas. Das ist der unterste Ort und der dunkelste, und am weitesten entfernt vom Himmel, der alles sich drehen lässt. Ich kenne den Weg gut, also sei unbesorgt! ‘ Wer ist jene Erichtho, die es doch vermochte, die frische Seele Vergils auf Botengänge in den innersten Kreis der Hölle zu schicken? Sie ist die mächtigste Zauberfrau der Antike und nur aus dem 6. Buch von Lucans Bellum Civile bekannt, wo sie im Auftrag des Sextus Pompeius einen frisch gefallenen Soldaten wiederbelebt und dessen Seele in die Unterwelt schickt. Dort soll er Auskünfte über den Ausgang der Entscheidungsschlacht bei Pharsalos einholen. Die grausam-skurrile Erichtho ist so etwas wie ein lucanisches Leitfossil: wo immer sie bei anderen Autoren auftaucht, geht diese Nennung direkt oder indirekt über sehr wenige Zwischenstufen auf Lucan zurück. 22 Bei Dante ist von einem direkten Bezug auszugehen. Was sollen wir für eine Schlussfolgerung aus Dantes erneuter intertextueller Volte ziehen? Wenn Vergil die Unterwelt nur dank Erichtho kennt, lernt dann Dante die Unterwelt nur dank Lucan kennen? Hat Lucan nach Ansicht Dantes der Imagination der Unterwelt etwas hinzugefügt, was Vergil in dieser Form noch nicht vermittelt hatte? Will uns Dante hiermit kundtun, dass er mit seiner Darstellung des Inferno in direkter Nachfolge Lucans steht und - wie Erichtho - Toten wenigstens zu einem temporären literarischen Leben verhilft? Auf jeden Fall ist Lucan für ihn eine Autorität, mit der es sich zu messen gilt, wie die nächste programmatische Passage zeigt. 22 Siehe dazu z.B. Finiello, Concetta, „Lucans Erictho in der spanischen Literatur des Siglo de Oro“, in: Christine Walde (Hrsg.), Rezeption, S. 175-220. Lucan und Dante 69 Dante und Lucan Im 25. Gesang des Inferno schildert Dante, dass die Fälscher in der Unterwelt zur Strafe auch körperlich deformiert werden. Im Zuge der drastischen Beschreibung der idropsia brüstet sich Dante, dass er in der Ausmalung einer abstoßenden oder dauerhaften Veränderung menschlicher Körper sowohl Lucan als auch Ovid übertreffe (Inferno XXV, 94-102): Taccia Lucano omai là dove tocca del misero Sabello e di Nassidio; ed attenda a udir quel ch‘or si scocca. Taccia di Cadmo e d‘Aretusa Ovidio; chè se quello in serpente, e quella un fonte converte poetando, io non lo invidio; chè due nature mai a fronte a fronte non trasmutó, sì ch‘ ambedue le forme a cambiar lor matera fosser pronte. Übersetzung (CW): Es schweige jetzt Lucan, wo er beschreibt den elenden Sabellus und den Nasidius, 23 und höre aufmerksam zu, was sich in dieser Stunde begibt. Es schweige nun von Cadmus und Arethusa Ovid, der durch Dichtung jenen in eine Schlange und diese in eine Quelle verwandelt. Das neide ich ihm nicht. Er verwandelte niemals so zwei Naturen, Stirn an Stirn, dass beide Gestalten in der Lage waren, Materie auszutauschen. Auch diese Passage wurde in der Forschung so gedeutet, 24 dass Dante die Lucan- und Ovid-Lektüre generell abwerte, aber dies verkennt die Topik der Überbietungs-Formel des Dichterwettbewerbs, die auch schon einen antiken Vorlauf hat. Ernst Robert Curtius hat ihre häufige Verwendung im Mittelalter aufgezeigt. 25 Sie impliziert ja gerade keine Ablehnung, sondern nennt die bevorzugten Modelle, die gleichwohl vom letzten Dichter, in diesem Falle Dante, übertroffen werden. Wir haben es also erneut mit einer hochgemuten Anzeige der eigenen dichterischen Qualität zu tun, die sich gerade an den in dieser Hinsicht Besten, Lucan und Ovid, messen lassen will. 23 Hier bezieht sich Dante auf Catos Marsch durch die libysche Wüste, auf dem sehr viele seiner Soldaten durch Schlangenbisse einen grotesken Tod sterben (Sabellus: 9, 763; Nasidius: 9, 790) 24 Vgl. z.B. Brownlee, Kevin, „Dante and the Classical Poets“, in: Rachel Jacoff (Hrsg.), The Cambridge Companion to Dante, Cambridge 1993, S. 109. 25 Zum Dichterwettbewerb und zur Überbietungsformel, siehe Curtius, Ernst Robert, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern und München 10 1984, S. 171ff., bes. S. 173. Christine Walde 70 Cato und Caesar bei Lucan Nach dem Aufweis der dichterischen Selbstverortung Dantes möchte ich schließen mit einem Blick auf das Wiederaufreten prominenter Gestalten Lucans in der Divina Commedia und hieraus einige allgemeine Gedanken zu Dantes Antikerezeption formulieren. Die drei großen männlichen Hauptfiguren Lucans sind Caesar, Cato und Pompeius. 26 Der Befund bei Dante sieht folgendermaßen aus: Pompeius kommt als Gestalt nicht vor; sein Name taucht lediglich einmal als Beispiel für einen großen römischen Feldherrn und einmal - allerdings adjektiviert - im Geschichtsüberblick im Paradies auf. 27 Sein Fehlen ist umso bemerkenswerter, als der Reiche Crassus, das dritte Mitglied des ersten Triumvirats, das aus Caesar, Pompeius und eben Crassus bestand, durchaus im Inferno unter den Goldgierigen sein Dasein fristet (Purgatorio XX, 116). Dante sieht Caesar im Inferno 28 , er tritt aber nicht als handelnde und sprechende Figur auf. Genauer gesagt weilt auch er im Castello Nobile, d.h. unter den Seelen der ungetauften, aber schuldlosen und verdienstreichen Heiden. Im Rahmen des christlichen Heilsplans spielt Caesar aber als Wegbereiter des Augustus eine entscheidende Rolle. Dadurch dass seine Mörder Brutus und Cassius im innersten Kreis der Hölle, noch dazu im Maul des Teufels, zusammen mit dem Verräter Judas vorgestellt werden, wird ihm eine geradezu überragende Ehrung zu teil. 29 Die ambivalente oder vielleicht gar negative Einschätzung Caesars, die wir bei Lucan finden, wird bei Dante nicht reproduziert, so wenig wie die häufig anzufindende ambivalent positive Würdigung des Caesar-Mörders Brutus. 30 Zur Kontrolle ein Blick auf Vergil: Caesar hält sich auch bei Vergil im angenehmen Bereich der Unterwelt auf, zusammen mit seinem zukünftigen Schwiegersohn Pompeius, mit dem er, 26 Caesar ist in allen Büchern des Bellum Civile präsent oder Gegenstand dauernder Bezugnahme. Pompeius aber tritt nur bis Buch IX auf. Noch reduzierter ist das Auftreten Catos, der lediglich in zwei sehr eindrücklichen Szenen aufscheint, in Buch 2, 234-391, wo er mit dem späteren Caesar-Mörder Brutus über eine Beteiligung am Bürgerkrieg diskutiert und danach seine Gattin Marcia ein zweites Mal heiratet; dann begegnet er dem Leser wieder in Buch 9, das den Marsch der verbliebenen Pompeianer unter Catos Leitung durch die libysche Wüste schildert, wo sie von wundersamen Giftschlangen dezimiert werden. 27 Paradiso VI, 53 und 72. 28 Inferno IV, 123. 29 Immerhin ist dies auch ein gutes Beispiel für Dantes Konsequenz, zwischen Christen und Nichtchristen zu unterscheiden: während Cassius und Brutus noch aus dem Maul des Teufels herausschauen, sitzt der Verräter Jesu tief in dessen Schlund. Wie es Natur der Interpretation ist, wird Dante immer viel wortreicher ausgelegt, als er selbst schreibt. Er begründet an der entsprechenden Stelle z.B. nicht genau, warum Brutus in der Hölle schmort oder warum Cato der Unterwelt entkommen ist. 30 Einen (teilweise mit Vorsicht zu genießenden) Überblick über die verschiedenen Interpretationen der Brutus-Gestalt bietet Piccolomini, Manfredi, The Brutus revival: Parricide and tyrannicide during the Renaissance, Carbondale/ Edwardsville 1991. Lucan und Dante 71 bevor er auf die Welt kommt, noch in Eintracht lebt (Aeneis 6, 826-833). Die Caesar-Mörder erwähnt Vergil nirgends namentlich, doch das Ende des ersten Buches seiner Georgica (1, 463-514) macht deutlich, dass er die Ermordung Caesars für ein summum nefas hält. In der Einschätzung Caesars folgt Dante also Vergil, dessen ‚Heilsplan‘ er fortschreibt. 31 Eigentlich müsste diese positive Einschätzung Caesars eine entsprechend negative Catos nach sich ziehen, denn dieser war bekanntermaßen der erbittertste Gegner Caesars, nach dessen Sieg bei Thapsos er sich aus Verbitterung das Leben nahm. Doch in beiden Fällen, Caesar wie Cato, hebt Dante Ambivalenzen resp. Antipathien oder Sympathien auf, die - provisorisch gesagt - Lucans Darstellung kennzeichnen. Dieses Verfahren lässt sich auch in Bezug auf andere antike Autoren und deren Gestalten nachweisen. Ein schlagendes Beispiel ist die Karthagerkönigin Dido, der man in der Rezeptionsgeschichte der Aeneis immer wieder Sympathie, ja Mitleid entgegenbrachte - man denke nur an das gerührte Weinen des Kirchenvaters Augustinus. Sie ist bei Dante im vierten Kreis der Hölle (Inferno V) untergebracht als Wollüstige, weil sie mit ihrer Liaison mit Aeneas den Treueschwur ihrem toten Gatten Sychaeus gegenüber gebrochen habe. Weder ist wie im 6. Buch der Aeneis Sychaeus wieder an ihrer Seite noch ist sie im Castello Nobile, sondern vielmehr in einem Strafbereich der Hölle. 32 Dante richtet Dido sub specie aeternitatis ein für alle mal: die Karthagerkönigin ist eine Unwürdige (gewesen). Hingegen finden wir im Castello Nobile u. a. Aeneas, Lavinia und Latinus, 33 sowie die großen römischen Frauengestalten Lucans: Iulia, Caesars Tochter und Frau des Pompeius (4, 128); Cornelia, Witwe des Crassus und nach Iulia die nächste Frau des Pompeius (4, 128); und schließlich Marcia, bekanntermaßen zweifache Frau Catos (4, 128). Und das führt uns direkt zu Cato: Der historische Cato gab seine Frau Marcia, nachdem sie ihm einige Kinder geboren hatte, an den kinderlosen Redner Hortensius weiter, der nicht nur alt, sondern auch steinreich war. Marcia schenkte diesem keine Kinder, und er starb darüber hinaus auch recht bald. Nachdem Marcia nun wieder frei war, heiratete sie erneut Cato und brachte als vermehrte Mitgift das Vermögen des Hortensius mit. Kein Wunder, dass man beiden unlautere Motive unterstellte: Dieser Vorgang war einer der spektakulärsten Ge- 31 Diese Vereinfachung bedeutet nicht, dass er in der Zeichnung Caesars nicht doch Lucan folgte, wie Dantes geschichtlicher Überblick im Paradiso (VI, 55-69) zeigt: Der dort erwähnte Besuch Caesars in Troia ist nur bei Lucan verbürgt, was zeigt, dass eine Lucan-Lektüre Dantes naheliegt. An dieser Stelle wird auch Cleopatra (Paradiso VI, 76) erwähnt, aber keineswegs gänzlich negativ. 32 Was bei Vergil eine mögliche Deutung des Geschehens um Dido ist, die durch das Auftreten mit Sychaeus in der Unterwelt wieder entschärft wird, wird hier ein für alle Mal geklärt. 33 Dort sind auch die tugendhafte Selbstmörderin Lucrezia (Inferno IV, 128) und Camilla, die wehrhafte Königin aus dem 11. Buch der Aeneis, die hinterhältig umgebracht wird (IV, 127) - was ausschließen lässt, dass Dido dort etwa fehlte, weil sie Königin und emanzipiert war. Christine Walde 72 sellschaftsskandale des antiken Rom. 34 Lucan hat im Bellum Civile daraus eine etwas doppelbödige Geschichte gemacht, wo Marcia weinend - die Urne mit der Asche des zweiten Gatten unterm Arm - Cato um Wiederverheiratung bittet, was er denn auch gewährt. Doppelbödig ist dies deshalb, weil Lucan oberflächlich daraus ein stoisches Rührstück macht, dies gleichzeitig dadurch unterläuft, dass er vermittels fast wörtlicher Zitate Intertextualität zur Ars Amatoria (3,153ff.) Ovids herstellt, der die besonderen erotischen Reize frischer Witwen anpreist, die sich am besten noch während der Bestattungsfeierlichkeiten den nächsten Ehemann sichern sollten. 35 Man kann das auch als Kontrastimitation werten, aber den Rezipienten kann nicht bindend vorgeschrieben werden, darin nicht doch eine maliziöse Parallele zu sehen. Auch hier ist bei Dante wieder ein Prozess der Vereinfachung zu beobachten: Marcia ist im Castello Nobile unter den tugendhaften Heidinnen; sie hat also in ihrem Leben weder der Wollust noch der Habgier gefrönt. Cato fehlt hier, falls man ihn denn vermissen sollte. 36 Und wir begegnen ihm auch erst im Purgatorio. Dort hat er einen sehr prominenten Auftritt; denn er wird als Türwächter im Ante-Purgatorium dargestellt, den man gnädig stimmen muss, damit man überhaupt Einlass erhält. Vergil, der kundige ‚Cicerone‘, verweist als captatio benevolentiae auf Catos Frau Marcia, die er doch aus dem Castello Nobile kenne. In harschen Worten repliziert Cato, dass er diese zu gemeinsamen Lebzeiten sehr geschätzt habe, dass sie ihn nun, da sie eine endgültige Zuweisung zum Castello Nobile erhalten habe, nicht mehr interessiere. 37 Cato erfährt insgesamt eine sehr positive Einschätzung als Sinnbild der vier Kardinaltugenden und der Freiheit von Lastern und einer Missachtung irdischer Güter, wozu der politische libertas-Begriff bei Dante moralischspirituell umgedeutet wird. Diese rein allegorische Lesung als exemplum blendet bestimmte Aspekte des historischen Cato aus, zum Beispiel seine enge Beziehung zum späteren Caesar-Mörder Brutus. Wie ist diese Darstellung in Bezug auf Lucans Cato-Bild zu deuten? Sprachlich schließt sich Dante in dieser Passage so eng an Lucan an, dass 34 Eine Zusammenstellung der wichtigsten Testimonien und eine kritische Interpretation der Marcia-Cato-Szene Lucans finden sich bei: Finiello, Concetta, „Der Bürgerkrieg: Reine Männersache? Keine Männersache! Erictho und die Frauengestalten im Bellum Civile Lucans“, in: Walde, Christine (Hrsg.), Lucan im 21. Jahrhundert, München/ Leipzig 2005, S. 155-185. 35 Finiello, Bürgerkrieg, S. 168. 36 Man könnte das damit erklären, dass hier eher das julisch-claudische Kaiserhaus präferiert würde. Marcia wäre dann aber fehl am Platz, es sei denn man hätte präsent, dass sie eine Halbschwester Octavians war. 37 Der Verweis auf den Auftrag der Beatrice reiche völlig. Dante verweigert uns eine rührende Vereinigung von Cato und Marcia in der Unterwelt, und Cato ist auch nicht unter den sonst strikt verurteilten Selbstmördern zu finden, obwohl auch bei Dante sein Freitod für die libertas erwähnt wird. Vielleicht ist das eine große Assoziation zu Lucans „victrix causa deis placuit sed victa Catoni? “ (Bellum Civile 1, 128) Lucan und Dante 73 man wirklich mit einer bewussten Bezugnahme rechnen kann: Dante beschreibt ihn als mürrischen alten Mann (Purgatorio I,134ff.) in enger Orientierung an der lucanischen Beschreibung des römischen Trauergestus Catos (2, 372ff.), der von Dante in hohes Alter umgedeutet wird (was nicht der historischen Realität entspricht). In der Tat bilden Lucan und sein Onkel Seneca die wichtigsten Referenzen für das Cato-Bild des frühen Prinzipats. Da Dante die Cato-Vita des Griechen Plutarch nicht kennen konnte, könnte man dies ausschließlich für eine direkte Auseinandersetzung mit den römischen Texten halten. Nicht selten wird denn auch in der Lucan-Forschung Dantes Deutung der Cato- Gestalt auf Lucan zurückgespiegelt. Aber in Wirklichkeit handelt es hier um einen viel komplizierteren Sachverhalt: Das Verhalten Catos wurde schon bei den Kirchenvätern sehr heftig diskutiert, ist er doch einer der römischen heidnischen „Weisen“ und wird etwa bei Seneca dem griechischen Philosophen Sokrates vorangestellt. Da die Kirchenväter Cato gegenüber eine ambivalente Wertung changierend zwischen Kuppler und Tugendheld einnehmen, wirken sie dahingehend aufklärerisch, dass sie die historische Gestalt zur Korrektur der idealisierten Figur aus Literatur und Philosophie benutzen. Ihnen stand es fern, Cato als Heros der untergehenden Republik zu sehen. Sie sahen seine Motive für den Selbstmord in anderen Bereichen, etwa in seiner persönlichen Herrschsucht. Die Tradition der mittelalterlichen Lucan-Kommentare - aufgenommen im Convivio Dantes (4, 15-18) - deutet Lucans Hochzeit von Cato und Marcia allegorisch um: Marcia wird zur Allegorie für die Kirche, die um die Gnade Gottes, der durch Cato repräsentiert wird, fleht. Diese Tradition verselbständigt sich im Mittelalter weg vom Lucantext, Cato wird zu einer absolut gesetzten Idealgestalt, die sogar als im Paradies 38 weilend vorgestellt wird. Dante setzt sich also mittels des sprachlichen und inhaltlichen Rekurses auf Lucan von all diesen heterogenen Traditionen 39 ab und unterzieht die Geschichte von Cato einer sanften Mythenkorrektur, indem er einerseits der Wiederverheiratung mit Marcia den Skandal nimmt, ihn andererseits als verdienten Heiden im Ante-Purgatorium als Türwächter arbeiten lässt (wo er aber auf ewig verbleiben wird), und ihn insofern doch auf einem mittleren Niveau der Wertschätzung belässt. Dante intendiert hier also nicht eine dezidierte Zurechtweisung Lucans, auch wenn er dessen Text gegen den Strich lesen sollte, sondern er bewegt sich in für uns sehr schwer zu eruierenden unterschiedlichen Erwartungshorizonten, auch in Sichtweise zu den Kommentartraditionen aus dem eigenen zeitgenössischen Kontext. 38 Dazu De Angelis, Il testo di Lucano, S. 75. 39 De Angelis, Il testo di Lucano, zeigt sehr schlüssig auf, dass Dante in seiner Darstellung Catos sich nicht nur von Lucan selbst, sondern auch dessen Auslegern hat inspirieren lassen. Christine Walde 74 Literaturverzeichnis Bartsch, Shadi, Ideology in cold blood: A reading of Lucan’s Civil War, Cambridge 1997. Brownlee, Kevin, „Dante and the Classical Poets“, in: Rachel Jacoff (Hrsg.), The Cambridge Companion to Dante, Cambridge 1993, S. 100-119. Crosland, Jessie, „Lucan in the Middle Ages, with special reference to French epic“, in: Modern Language Review 25, 1 (1930), S. 32-51. 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Zwar steht am Anfang ein poetischer Brief des Giovanni del Virgilio, der Dante zur Dichtung in lateinischer Sprache auffordert. 2 Dante aber antwortet mit einem bukolisierenden Gedicht, das dieses Ansinnen ablehnt, freilich in einer Weise, die Giovanni del Virgilio zu einer insistierenden Antwort ermutigt, die er ebenfalls in bukolisches Gewand kleidet. Dante reagiert mit einem weiteren bukolisierend gestalteten Gedicht, das seine Weigerung jetzt deutlicher ausspricht. 3 Zu weiterem Austausch kommt es nicht. Dante stirbt, bevor Giovanni del Virgilio das Gedicht erhält. Noch vor dessen Kenntnis indessen feiert er Dantes bukolisierende Dichtung als den Beginn seiner Poesie in lateinischer Sprache, an deren Fortsetzung ihn nur der Tod gehindert habe. 4 Einige Jahre später richtet er ein bukolisierendes Gedicht an Albertino Mussato, in dem er auf den Austausch mit Dante zurückblickt. 5 Die vier Gedichte zwischen Giovanni del Virgilio und Dante können hier weder vollständig wiedergegeben noch durchgängig kommentiert werden. Vielmehr zielen die folgenden Ausführungen darauf, die poetologische Auseinandersetzung zwischen den beiden Verfassern wenigstens in ihren Grundzügen herauszustellen. Neben den Primärtexten sind dabei vor allem die Kommentierungen aus dem 14. Jahrhundert, 6 Dantes poetologische Pro- 1 Zur Person vgl. Pasquini, Emilio, „Del Virgilio, Giovanni”, in: Dizionario biografico degli Italiani 38 (1988), S. 404-409. 2 Entsprechend ist schon in der frühen Kommentierung diskutiert, inwiefern dieses Gedicht als bukolisch bezeichnet werden kann; vgl. Martellotti, Guido, „Dalla tenzone al carme bucolico“, in: Italia medioevale e umanistica 7 (1964), S. 325-336, hier S. 327-328. 3 Ausgabe der vier Gedichte mit italienischer Übersetzung und Kommentar durch Brugnoli/ Scarcia (1980). Interpretatorisch grundlegend Krautter, Konrad, Die Renaissance der Bukolik in der lateinischen Literatur des XIV. Jahrhunderts: von Dante bis Petrarca, München 1983, S. 23-59. 4 Vgl. Krautter, Die Renaissance der Bukolik, S. 60. 5 In Albini [Pighi], S. 58-73 (mit italienischer Übersetzung). 6 Vgl. die Texte bei Wicksteed/ Gardner, S. 287-311. Helmut Seng 78 grammatik, wie er sie an anderer Stelle formuliert, sowie Vergils Eklogen als maßgeblicher Bezugstext zu berücksichtigen. (1) Das erste Gedicht des Giovanni del Virgilio arbeitet mit Kontrasten, insbesondere zwischen Inhalt und Form der Divina Commedia, zwischen den intendierten und den gerade nicht angesprochenen Lesern, sowie zwischen unterschiedlichen Werken bzw. poetischen Vorhaben. Zunächst arbeitet Giovanni del Virgilio die inhärente Spannung heraus, die zum Projekt der Divina Commedia gehört: Der Inhalt ist, zu beachtlichen Teilen jedenfalls, gelehrt bis hin zum Arkanen; die Sprache jedoch, „volkstümliches“ Italienisch (wenngleich natürlich durchaus artifiziell) statt elitären Lateins, richtet sich ausdrücklich nicht an Gelehrte, sondern an breitere Leserschichten. Deren Fassungsvermögen, so der Einwand des Giovanni del Virgilio, sei jedoch inhaltlich überfordert. Die Wendung an Leser außerhalb akademischer Bildungszirkel bringt Dante selbst in programmatischen Zusammenhang mit dem Titel Com(m)edia. Bei der Erläuterung des Werktitels in seinem bekannten Schreiben an Cangrande della Scala nennt Dante zwei Begründungen (§ 29-31 in Auswahl): (29) Comedia vero inchoat asperitatem alicuius rei, sed eius materia prospere terminatur, ut patet per Terentium in suis comediis [...] (30) Similiter differunt in modo loquendi: elate et sublime tragedia; comedia vero remisse et humiliter [...] (31) Et per hoc patet, quod comedia dicitur presens opus. Nam si ad materiam respiciamus, a principio horribilis et fetida est, quia Infernus, in fine prospera, desiderabilis et grata, quia Paradisus; ad modum loquendi, remissus est modus et humilis, quia locutio vulgaris, in qua et muliercule comunicant. Zum einen also entspricht der glückliche Ausgang der Dichtung einer Komödie, zum anderen ordnet Dante das Werk gerade wegen der Sprache dem genus humile zu, das auch die Komödie umfasst. 7 Bekannt ist die bereits spätantike Zuordnung der Stilarten zu den Werken Vergils, die schließlich in der rota Vergilii des Johannes de Garlandia ihre elaborierteste Form findet: 8 Bucolica: genus humile Georgica: genus mediocre Aeneis: genus sublime 7 Vgl. auch Heil, Andreas, „Die Milch der Musen”, in: Antike und Abendland 49 (2003), S. 113-129, hier S. 115-118, zu Dantes Begründung für die Verwendung des volgare im Convivio. 8 Vgl. Quadlbauer, Franz, Die antike Theorie der genera dicendi im lateinischen Mittelalter, Wien 1962, S. 114-115 und Klopsch, Paul, Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters, Darmstadt 1980, S. 149-152 mit weiteren Angaben. Zur nachmittelalterlichen Rezeptionsgeschichte vgl. auch Burkard, Thorsten, „Rhetorik in der Gattungspoetik der frühen Neuzeit: Die Dreistillehre bei Scaliger und in Jesuitenpoetiken des 17. Jahrhunderts“, in: Wolfgang Kofler/ Karlheinz Töchterle (Hrsg.), Pontes 3: Die antike Rhetorik in der europäischen Geistesgeschichte, Innsbruck 2005, S. 270-280. Poetologischer Dialog und bukolisches Rollenspiel 79 Den zugehörigen Sprachaspekt nimmt Giovanni del Virgilio in seiner Kritik auf (Giovanni del Virgilio, E I 9-16): Davus et ambigue Sphyngos problemata solvet, Tartareum preceps quam gens ydiota figuret 10 et secreta poli vix experata Platoni: que tamen in triviis nunquam digesta coaxat comicomus nebulo, qui Flaccum pelleret orbe. „Non loquor his, ymo studio callentibus“, inquis. Carmine sed laico: clerus vulgaria tempnit, 15 et si non varient, cum sint ydiomata mille. Einerseits karikiert er die quakende Rezitation 9 des Werks durch einen unverständigen Taugenichts, den er mit dem Beiwort comicomus belegt, dessen Bedeutung zwar unklar ist, aber in jedem Fall an comicus anklingt (möglicherweise eine absichtliche Verballhornung oder auch Textverderbnis); 10 die ästhetische Qualität der Divina Commedia wird durch diese Form der Darbietung erheblich beeinträchtigt. Andererseits formuliert er als Adynaton, dass Davus, also der sprichwörtliche Komödiensklave, die Rätsel der Sphinx löst: Komödie und rätselvolle Gelehrsamkeit passen nicht zusammen (v. 9). 11 Der Zuordnung von Volkssprache und Rezeption des Werks durch die gens idiota (v. 10) korrespondiert nach Giovanni del Virgilio die Verweigerung der Rezeption durch die Gelehrten; den Kontrast drückt das Gegensatzpaar von clerus für letztere, laicus zur Bezeichnung des volkssprachlichen Gedichtes aus (v. 15). Verbunden damit ist der Kontrast zwischen der weltumspannenden Gelehrtensprache Latein und der geographisch eng umgrenzten Volkssprache Italienisch (v. 16, aufgenommen 30-34): carmine quo possis Alcide tangere Gades et quo te refluus relegens mirabitur Hyster, et Pharos et quondam regnum te noscet Helysse. Si te fama iuvat, parvo te limite septum non contentus eris, nec vulgo iudice tolli. Unter den zahlreichen Themenvorschlägen, die Giovanni del Virgilio für eine lateinische Dichtung Dantes unterbreitet, dominieren bei weitem solche, die auf ein zeitgenössisches Epos mit panegyrischem Charakter weisen - also auf das genus sublime im Gegensatz zum genus humile, dem Dante wie gesehen die Divina Commedia ausdrücklich zuordnet (v. 26-29.41-44). 9 Auf die Differenz zwischen öffentlicher Rezitation volkssprachlicher Dichtung und privater Lektüre lateinischer Poesie weist Ahern, John, „Singing the Book: Orality in the Reception of Dante’s Comedy“, in: Amilcare A. Iannucci (Hrsg.), Dante: Contemporary Perspectives, Toronto, Buffalo, London 1997, S. 214-239. 10 Denkbar wäre etwa comiculus (als verächtlicher Diminutiv) > comicmus (ein vielleicht kurz geratenes l als erste Haste eines m interpretiert) > comicomus. 11 Vgl. Terenz, Andria 194: „Davus sum, non Oedipus.“ Helmut Seng 80 dic age quo petiit Iovis armiger astra volatu, dic age quos flores, que lilia fregit arator, dic Frigios damas laceratos dente molosso, dic Ligurum montes et classes Parthenopeas, [...] Iam michi bellisonis horrent clangoribus aures: quid pater Apenninus hiat? quid concitat equor Tirrenum Nereus? quid Mars infrendet utroque? Tange chelim, tantos hominum compesce labores. Mit dem Vorschlag alternativer Themen ist auch die inhaltliche Begründung Dantes für den Titel seines Hauptwerks aufgenommen. Die von Giovanni del Virgilio ausgemalte Dichterkrönung, unter seiner gelehrten Leitung, stellt das Gegenbild zum Anklang Dantes beim Volk dar - und zur Ausmalung seiner volkstümlichen Verbreitung durch den comicomus nebulo (v. 35-40). En ego iam primus, si dignum duxeris esse, 35 clericus Aonidum, vocalis verna Maronis, promere gimnasiis te delectabor ovantum inclita Peneis redolentem tempora sertis, ut prevectus equo sibi plaudit preco sonorous festa trophea ducis populo pretendere leto. 40 Die in diesem Bild bereits vorweggenommene Hierarchisierung zwischen dem Dichter und seinem „Herold“ nimmt die abschließende Bescheidenheitsfloskel vorweg, die einen Vers aus Vergils neunter Ekloge nahezu wörtlich zitiert. Dort sagt der Hirte Lycidas über sein eigenes Dichten (E IX 32-36): et me fecere poetam Pierides, sunt et mihi carmina, me quoque dicunt uatem pastores; sed non ego credulus illis. nam neque adhuc Vario videor nec dicere Cinna 35 digna, sed argutos inter strepere anser olores. Giovanni del Virgilio nimmt dies folgendermaßen auf (E I 47-51): Si tamen Eridani michi spem mediamne dedisti quod visare notis me dignareris amicis, nec piget enerves numeros legisse priorem quos strepit arguto temerarius anser olori, 50 respondere velis, aut solvere vota, magister. Möglicherweise ist ein gattungstheoretischer Hintersinn impliziert. Giovanni del Virgilio schlägt Dante heroische Themen vor, die sich zum Gegenstand eines Epos eignen, also der erhabensten Gattung nach antiker Anschauung, im Gegensatz zur Bukolik als niederem genus wie die Komödie. Der Kontrast, der sich in der Bescheidenheitsfloskel des Giovanni del Virgilio ausdrückt, bestätigt also die an Dante gerichtete Aufforderung zur epischen Dichtung - und wenn Giovanni del Virgilio die schnatternde Gans aus Poetologischer Dialog und bukolisches Rollenspiel 81 Vergils Bukolik zitiert, mag eine Kritik am genus humile mitschwingen, die auf die Divina Commedia zielt. Formuliert ist sie freilich als Kompliment, mit dem als Pendant zur einleitenden Anrede „Pyeridum vox alma“ (v. 1) das Gedicht des Giovanni del Virgilio ringkompositorisch endet. (2) Zur Auseinandersetzung mit diesem Vorschlag wählt Dante in seiner ersten Ekloge eine zum Teil indirekte Strategie. Dazu gehören insbesondere das bukolische Rollenspiel, mit den Masken des Tityrus für Dante und des Mopsus für Giovanni del Virgilio, ferner das durchaus selektive Eingehen auf den Inhalt des Schreibens von Giovanni del Virgilio sowie die Neukonfiguration der Gegensätze. Zunächst eine Bemerkung zu den Einleitungsversen. Die Umschreibung der Versepistel ist von preziöser Ausführlichkeit und dabei nur schwer zu verstehen (Dante, E I 1-2): Vidimus in nigris albo patiente lituris Pyerio demulsa sinu modulamina nobis. „Schwarze Ausstreichungen auf geduldigem Weiß“ - das könnte bedeuten, dass auf einem Blatt das Weiße durch die Buchstaben überschrieben und somit ausgestrichen wird. 12 Da Ausstreichen jedoch in der Regel Korrektur meint, könnte es sich auch um die Bezeichnung als ein besonders ausgefeiltes Gedicht handeln. Das ist nicht unbedingt ein uneingeschränktes Lob, da der Hinweis nicht fehlt: „Papier ist geduldig.“ Insofern lautet der Subtext: „Da hat sich jemand sehr bemüht.“ Zugleich ist die Schriftlichkeit der Versepistel herausgestellt, die mit der mündlichen Darbietung der Divina Commedia kontrastiert, die im Schreiben des Giovanni del Virgilio ausgeführt war. Dass diese Schriftlichkeit einer breiteren Rezeption im Wege steht, zeigt im Folgenden die Notwendigkeit, den Inhalt des Schreibens im Gespräch zweier Hirten zu referieren. Wenig Beachtung hat bislang der Humor gefunden, der sich bereits in den beiden einleitenden Versen zeigt. Die Anrede Dantes als Pieridum vox alma bei Giovanni del Virgilio E I 1 ist mit Pierio demulsa sinu modulamina zwar aufgenommen, doch das Kompliment klingt durchaus ironisch: Die kuriose Vorstellung, den Busen der Musen zu melken, stellt diese in eine Reihe mit Kühen und Ziegen - und nimmt insofern die bukolisierende Ausführung des Gedichts vorweg. 13 Auch an späterer Stelle prägt die Beschreibung des Mopsus ein lächerlicher Zug (v. 31-33): 12 Bei Ovid, Her. 3, 3 ist litura von Tränenflecken auf einem Brief gebraucht. 13 Vgl. auch Allegretti, Paola, „Un acrostico per Giovanni del Virgilio”, in: Studi Danteschi 69 (2004), S. 289-293, hier S. 291. Helmut Seng 82 Vatificis prolutus 14 aquis, et lacte canoro viscera plena ferens et plenus ad usque palatum, me vocat ad frondes versa Peneyde cretas. Die gelehrte Umschreibung des Lorbeers, in den sich Daphne verwandelte, 15 kontrastiert komisch mit der grotesken Beschreibung der musischen Überfülle, 16 die an der Qualität des poetischen (Milch-) Produkts zweifeln lässt; umso treffender passen die aus der Babypflege bekannten Laute, die entstehen, wenn das Gedärm bis zum Gaumen mit Milch gefüllt ist, zum ländlichen Ambiente - ganz wie die Töne des comicomus bei Giovanni del Virgilio: Das zu erwartende laute Tönen macht noch keinen Heldendichter aus. Tityrus lacht und kann mit dem Lachen kaum aufhören (v. 7-9). In der Schwebe bleibt, ob ihn der Inhalt des Briefes erheitert, den er liest, oder die drängende Nachfrage des Meliboeus, der insgesamt etwas lächerlich gezeichnet ist, sowohl durch die Anrede als Dummkopf und Spinner 17 als auch durch seinen Vorschlag, die Dichtungen des Mopsus seinen Ziegen vorzutragen (v. 24-26). 18 Die Schilderung des Mopsus und seiner Umgebung entfernt ihn weit von der Welt, in der sich Meliboeus und Tityrus befinden. Wirklich unbekannt sind Mopsus und die Gefilde seines Aufenthalts freilich nur ersterem, während letzterer sie näher charakterisieren kann. Die Beschreibung des Ortes ist zwar auch bukolisch geprägt, die Inhalte der Dichtung jedoch, die Mopsus bedenkt und vorträgt, entsprechen den epischen Themen, an denen der Brief des Giovanni del Virgilio Interesse bekundet hatte: „hominum superumque labores“ (v. 19): Wenn Mopsus schließlich orpheusgleich mit seinem Gesang nicht nur die Herden leitet, sondern auch wilde Löwen bezähmt, Flüsse zurückfließen lässt und die Blätter in den Wäldern des arkadischen 19 Maenalus-Gebirges 20 14 Möglicherweise liegt eine Anspielung auf Persius, Prologus 1 vor: „nec fonte labra prolui caballino“ - damit spräche Dante, in Aufnahme der Polemik bei Persius, seine Ablehnung des Dichters Giovanni del Virgilio aus. 15 Wenn Dante (so die Vermutung bei Krautter, Die Renaissance der Bukolik S. 54, Anm. 105) die Metamorphosen-Kommentierung des Giovanni del Virgilio gekannt hat, die sonst auf die Zeit seiner Lehrtätigkeit datiert wird, die er erst nach Dantes Tod antrat, so ließe sich in v. 33 eine Anspielung hierauf sehen. 16 Pertile, Lino, „Le ‚egloghe’, Polifemo e il ‚Paradiso’”, in: Studi Danteschi 71 (2006), S. 285-302, hier S. 287, Anm. 6 erwägt „dissimulazione ironica“ im „eccesso di latte”. 17 Dante, E I 9: „Stulte quid insanis inquam tua cura capellae” nach Vergil, E X 22, „Galle, quid insanis inquit tua cura Lycoris”. 18 Siehe unten bei Anm. 21. 19 Zu Arkadien in Vergils Bukolik vgl. Schmidt, Ernst August, „Vergils späte Eklogen: Die innere Geschichte seines bukolischen Dichtens und die Periodisierung der Eklogen“, in: Ernst August Schmidt, Bukolische Leidenschaft oder über antike Hirtenpoesie, Frankfurt, Bern, New York 1987, S. 197-237 [Veränderte Fassung von Zur Chronologie der Eklogen Vergils. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1974, 6], hier S. 208-213 (andere Schlüsse zur Chronologie bei Seng, Helmut, Vergils Eklogenbuch. Aufbau, Chronologie und Zahlenverhältnisse, Hildesheim 1999, S. 109-115) Poetologischer Dialog und bukolisches Rollenspiel 83 in Bewegung versetzt (v. 21-23), dann sind das zwar Elemente, die sich aus den Eklogen Vergils herleiten lassen: E VI 27-28 tum uero in numerum Faunosque ferasque uideres ludere, tum rigidas motare cacumina quercus. E VIII 1-5 Pastorum musam Damonis et Alphesiboei, immemor herbarum quos est mirata iuuenca certantis, quorum stupefactae carmine lynces, et mutata suos requierunt flumina cursus, Damonis musam dicemus et Alphesiboei. Doch der Kontrast zur Welt des Meliboeus ist überdeutlich. Er will die Lieder des Mopsus, wie erwähnt, seinen Ziegen vorsingen, die er bezeichnenderweise als vagulae bezeichnet, „umherschweifend“: Sie mithilfe solch effektvoller Lieder ohne Anstrengung zu sammeln wäre sehr praktisch. 21 Tityrus fährt mit der Schilderung fort, die jetzt konkreter wird: Der Hinweis auf andere, die im Gegensatz zu Mopsus sich damit zufrieden geben, die Rechte zu studieren (v. 29), ist eine Anspielung auf die Aktivität des Giovanni del Virgilio als Literat in Bologna, vielleicht schon auf seine Stellung als Professor der Poesie an der juristisch bedeutenden Universität. 22 Andererseits ist konkret die Einladung zur Dichterkrönung angesprochen. Die Reaktion hierauf ist komplex (v. 36-44). Tityrus bestätigt grundsätzlich seinen Anspruch auf den Dichterlorbeer - aber gerade nicht durch eine Dichtung mit heroischer Thematik, sondern in pastoral getönter Beschreibung. Und während er den Ort des Mopsus als gottlos fürchtet, hielte er es für besser, den Triumph am heimatlichen Sarnus bzw. Arno zu feiern. Damit ist die Zuordnung von Dichterkrönung, Bologna und genus sublime, die Giovanni del Virgilio hergestellt hatte, ersetzt durch den Zusammenhang von Dichterkrönung, Florenz und genus humile, das heißt der Divina Commedia, deren theologischer Inhalt im Gegensatz zur zeitgenössisch-panegyrischen Dichtung steht, zu der Giovanni del Virgilio auffordert, die insofern als „gottlos“ bezeichnet werden kann. Gerade der Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Dichtungsarten und der Möglichkeit der Dichterkrönung wirft noch einmal Licht auf das pragmatische Verständnis der Mopsus- Dichtung durch Meliboeus: Offensichtlich ist es absurd, das genus sublime zu pflegen, nur um praktische Zwecke zu erreichen. und Schmidt, Ernst August, „Arkadien: Abendland und Antike“, in: Ernst August Schmidt, Bukolische Leidenschaft oder über antike Hirtenpoesie, Frankfurt, Bern, New York 1987, S. 239-264 [Erste Fassung in Antike und Abendland 21 (1975), S. 36-57], hier S. 251- 253. 20 Der Maenalus ist erwähnt in E VIII 22 und X 15; als n. pl. Maenala X 55; das Adjektiv Maenalius kommt in einem Kehrvers in E VIII 21.25.28a.31.36.42.46.51.57.61 vor. 21 Dies könnte als Seitenhieb gegen eine utilitaristisch aufgefasste Verwendung des Lateinischen zu verstehen sein, auf die Heil, Die Milch der Musen, S. 118 hinweist. 22 Siehe oben Anm. 15. Helmut Seng 84 Komplementär zum Zusammenhang von Dichterkrönung und genus humile, Volkssprache und Divina Commedia tritt die Abwehr der von Giovanni del Virgilio entwickelten Vorstellung einer unwürdigen Rezeption der Divina Commedia, emblematisch gefasst im comicomus nebulo. Im Munde des Tityrus richtet sich die Kritik an den comica verba, wie mit deutlichem Anklang formuliert, gegen die Rezeption durch eine weibliche Leserschaft (v. 52-53). Dass die Divina Commedia bei öffentlichen Vorträgen auch von ungebildeten und selbst des Lesens unkundigen Hörern rezipiert wird, die dem Inhalt nur sehr oberflächlich zu folgen vermögen, ist damit nicht explizit bestritten; doch ist die Vorstellung korrigiert, gerade diese bildeten das intendierte Publikum. Tatsächlich erreicht die Divina Commedia alle Bildungsschichten, wie nicht zuletzt Giovanni del Virgilio selbst unter Beweis stellt, zwischen dessen lateinischer Gelehrsamkeit, an der typischerweise, da sie in der Regel eine berufliche Komponente hat, kaum eine Frau partizipiert, und dem Analphabetentum einfacher Volksschichten sich breiter Raum für durchaus differenzierte Bildungsniveaus erstreckt, deren gemeinsame Sprache das volgare ist. 23 Die Bedenken, die Giovanni del Virgilio formuliert hatte, sind damit geradezu weginterpretiert und durch ein positives Ansinnen Dantes ersetzt, wie im bereits zitierten Schreiben an Cangrande formuliert. Der Dissens ist damit deutlich herausgearbeitet. Doch steht fast am Ende des Gedichts 24 eine versöhnliche Geste, 25 ein Geschenk an Mopsus, bestehend in zehn Gefäßen Milch (v. 64). Was dieser schickte, war ja ebenfalls gemolken (vom Busen der Musen), insofern handelt es sich um eine passende Gegengabe. Damit ist nicht nur ein ringkompositorisches Element gegeben, sondern auch das bukolische Motiv des Gabentausches aufgenommen: Am Ende von Vergils E V tauschen Mopsus und Menalcas Gaben, die poetologisch zu interpretieren sind (v. 85-90), wobei Menalcas sich auf Vergils E II und III bezieht, die er als seine eigenen Dichtungen benennt. 26 Der Vorschlag, im Milchgeschenk des Tityrus an Mopsus Dantes Ekloge selbst zu sehen, leuchtet nicht nur angesichts der vom Anfang des Gedichts übernommenen Milch- und Melkmetaphorik ein, sondern auch angesichts der zehn Eklogen Vergils 27 - während der Hinweis auf das eine, außerge- 23 Vgl. Ahern, Singing the Book mit weiteren Hinweisen. 24 Freilich folgt noch der Hinweis auf die dura crusta als Speise der Hirten, poetologisch auf italienischsprachige Literatur gedeutet bei Heil, Die Milch der Musen, S. 122-129. 25 Vgl. Chiarini, Eugenio, „I ‚decem vascula’ della prima egloga dantesca,“ in: Facoltà di Lettere e Filosofia dell’Università di Bologna (Hrsg.), Dante e Bologna nei tempi di Dante, Bologna 1967, S. 77-88, hier S. 84-86. 26 Vgl. Seng, Vergils Eklogenbuch, S. 21-22. 27 Alternative Deutungen sind nicht nur eine, sondern zehn - versprochene - Eklogen oder zehn Gesänge des Paradiso. Die Frage wird anhaltend kontrovers diskutiert; vgl. Pertile, „Le ‚egloghe’”, S. 291 Anm. 14, Brugnoli/ Scarcia, Dante, Le egloghe, XIV; S. 45- 46, Chiarini, „I ‚decem vascula’“, Krautter, Die Renaissance der Bukolik, S. 34-35, Heil, Die Milch der Musen, S. 121 mit weiteren Literaturhinweisen. Poetologischer Dialog und bukolisches Rollenspiel 85 wöhnliche und abgesonderte Schaf, das hierzu gemolken werden soll (v. 58- 62), die beabsichtigte Einmaligkeit des lateinischen Gedichts zu verstehen geben mag. 28 Anders als das Gedicht des Giovanni del Virgilio enthält Dantes Ekloge auch keine Aufforderung zur Fortsetzung der Kommunikation; der Gabentausch ist vielmehr ein klares Schlussmotiv. Für Dante ist die Angelegenheit erledigt. Was aber, so bleibt zu fragen, ist der Sinn des bukolischen Rollenspiels? 29 Zunächst erlaubt es eine poetische Gestaltung, die über versifizierte Direktheit hinausgeht, und damit auch ganz pragmatisch eine größere Freiheit in der Darstellung. Dazu gehört nicht zuletzt der Humor, der die Bedeutung der Frage herunterspielt und der Auseinandersetzung die Schärfe nimmt. Aber auch der Dialog zwischen Tityrus und Meliboeus eröffnet Möglichkeiten, die im Rahmen eines direkten Antwortschreibens nicht gegeben wären. Zum einen kann Tityrus, indem er zu Meliboeus spricht, ein seinen Intentionen entsprechendes Bild des Mopsus zeichnen, zum anderen den Inhalt des Briefes verändert wiedergeben. Meliboeus auf der anderen Seite kann durch Fragen oder Missverständnisse zur Lenkung des Gesprächs in die vom Autor gewünschte Richtung dienen. Gelegentlich wird er als Repräsentant des volkssprachlichen Publikums gesehen, dessen Bezug zur lateinischen Dichtung notwendig etwas Lächerliches hat. 30 Das Rollenspiel gehört aber auch zur Rezeption speziell bukolischer Dichtung der Antike. 31 Die spätantiken Vergilkommentare enthalten weitgehende Allegorisierungen. 32 So werden die in den Eklogen genannten Personen mit zeitgenössischen Politikern gleichgesetzt, aber auch mit Vergil selbst oder anderen Dichterpersönlichkeiten, und die Aussagen über die Personen in den Bucolica als Aussagen über Leben und Handeln der historischen Persönlichkeiten gedeutet. Ein Beispiel aus Philargyrius 33 soll genügen. Zugrunde liegt der Vergiltext: 28 Seine Bezeichnung als lactis abundans gibt zu verstehen, dass Dante mühelos in lateinischer Sprache dichten kann, wenn er will. 29 Assoziationen zur Milch- und Nahrungsmetaphorik in Paradiso XXIII und die Vermutung, dieser Gesang sei unmittelbar vor der Ekloge entstanden (so Pertile, Le ‚egloghe’, S. 284-291) reichen als Erklärung nicht aus, zumal die umgekehrte Erklärung ebenso möglich ist. 30 Vgl. Krautter, Die Renaissance der Bukolik, S. 32 und Heil, Die Milch der Musen, S. 119. 31 Vgl. Korenjak, Martin, „Tityri sub persona. Der antike Biographismus und die bukolische Tradition“, in: Antike und Abendland 49 (2003), S. 58-79, insbesondere S. 66-71, sowie Monno, Olga, „Teoria e applicazione dell’allegoresi nel commento serviano alle ‚Bucoliche’”, in: Auctores nostri 4 (2003), S. 97-134 mit ausführlichen Literaturangaben. 32 Entsprechend können in der frühen Kommentierung die metaphorisch verschlüsselten Themenvorschläge bei Giovanni del Virgilio, E I 26-29, als bukolisch angesehen werden, vgl. Martellotti, „Dalla tenzone al carme bucolico“, S. 327-328 und Martellotti, Guido, „La riscoperta dello stile bucolico”, in: Vittore Branca/ Giorgio Padoan (Hrsg.), Dante e la cultura veneta, Firenze 1961, S. 335-346, hier S. 339. 33 Vgl. Geymonat, Mario, „Filargirio”, in: Enciclopedia Virgiliana 2 (1985), S. 520-521. Helmut Seng 86 E VII 57-60 Aret ager, uitio moriens sitit aëris herba, Liber pampineas inuidit collibus umbras: Phyllidis aduentu nostrae nemus omne uirebit, Iuppiter et laeto descendet plurimus imbri. Philargyrius kommentiert (I, S. 138, 15-139, 6): ARET AGER VITIO AERIS per ‚herba moriens’ et caelum vitiatum ait et omnia inculta, quod (Mantuani) cultores amiserunt agros, quos si Caesar restituerit, redituram (eis) fecunditatem ... PHYL- LIDIS id est Caesaris. Im Falle der politischen Ereignisse sind solche Deutungen meist leicht zu widerlegen, 34 im Falle der biographischen Interpretation bleiben Unsicherheiten, wenngleich sich weitgehend die Ansicht durchgesetzt hat, dass es sich um reine Philologenexegese ohne eigenen Zeugniswert handelt. 35 Auch im zitierten Beispieltext ist die Entwicklung der Interpretation aus den Eklogen Vergils selbst offensichtlich: Die Enteignung der Mantuaner ist in E IX 27-29 erwähnt, die Rückgabe seines Besitzes an Vergil, der aus Mantua stammte, durch „Caesar“ (das heißt Octavian) ist ein Motiv, das sich in der biographischen Tradition zu Vergil findet, wie sie allgemein bekannt ist, aber aus E I herausgesponnen sein könnte, wo Tityrus (der nach E VI 1-5 mit Vergil gleichgesetzt wird) 36 durch die Intervention eines göttlichen Jünglings als einziger nicht von den mit dem Landverlust verbundenen Vertreibungen betroffen ist. Für Dante und für Giovanni del Virgilio jedenfalls dürfen die spätantiken Vergilkommentare bzw. die mittelalterliche Zwischenquellen als maßgebliche Interpretationsvorgaben gelten, 37 mit rezeptions- und produktionsästhetischer Relevanz. Die poetische Verfremdung kann sich somit auf ein Verfahren beschränken, das ein hohes Maß an Eindeutigkeit des Diskurses zulässt. Auch in gattungstheoretischer Hinsicht ist die Wahl der Bukolik von besonderer Bedeutung. Die lateinische und das heißt auch: gelehrte Antwort Dantes gestattet eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe mit Giovanni del Virgilio. Die Zugehörigkeit der Bukolik zum genus humile aber erlaubt, des- 34 Vgl. etwa Zetzel, James, „Servius and triumviral history in the Eclogues”, in: Classical Philology 79 (1984), S. 139-142 (dessen Schlussfolgerungen zu E VIII freilich nicht überzeugen, vgl. Seng, Vergils Eklogenbuch, S. 64-75). 35 Vgl. dazu auch Seng, Vergils Eklogenbuch, S. 77; 81-82 mit weiteren Angaben. 36 Siehe auch unten bei Anm. 40. 37 Zur mittelalterlichen Kommentierung der Eklogen vgl. etwa Nicolas Trivet Anglico, Comentario a las Bucólicas de Virgilio. Estudio y edición crítica por Aires Augusto Nascimento y José Manuel Díaz de Bustamante. Santiago de Compostela 1984; Vianello, Roberto, „Appunti sul commento alle Bucoliche virgiliane nel codice 1084 della Biblioteca Universitaria di Padova“, in: Atti e memorie dell’Accademia Patavina di Scienze, Lettere ed Arti 3, 99 (1986), S. 51-65; Vianello, Roberto, „Su un commento virgiliano attribuito a Nicola Trevet“, in: Studi medievali 3, 32 (1991), S. 345-367; Lord, Mary Louise, „Virgil’s Eclogues, Nicholas Trevet, and the harmony of the spheres”, in: Mediaeval Studies 54 (1992), S. 186-273 (jeweils mit weiteren Hinweisen). Poetologischer Dialog und bukolisches Rollenspiel 87 sen programmatische Zuordnung zur Volkssprache gegenüber der Zusammenstellung von genus sublime und Latein zu unterlaufen. Damit ist nicht nur die Opposition aufgebrochen, die ein wesentlicher Bestandteil der Argumentation von Giovanni del Virgilio war, sondern zugleich Dantes Bekenntnis zum genus humile bekräftigt. 38 An das Vorbild Vergils, den er damit wie in der Divina Commedia zum Führer nimmt, kann Dante schließlich darin anknüpfen, dass Fragen der Poetik in dessen Eklogen eine gewichtige Rolle spielen. Dass Vergils Bukolik wesenhaft poetische Reflexion darstelle, 39 wird Dante zwar nicht in den Sinn gekommen sein. Die erwähnten allegorischen Deutungen der ihm vorliegenden Kommentare zielen zum Teil ja auf ganz andere Themen als die Poetik, und Dantes eigenes Verfahren ist zu direkt, um sich als imitatio subtiler Selbstspiegelung verstehen zu lassen. Aber die Diskussion über Dichtung ist bei Vergil doch omnipräsent, in indirekter Form wie in den verschiedenen Varianten von Wechselgesängen zwischen Hirten, aber auch in direkter Form wie insbesondere im Prooemium zur sechsten Ekloge: E VI 3-9 cum canerem reges et proelia, Cynthius aurem uellit et admonuit: ‚Pastorem, Tityre, pinguis pascere oportet ouis, deductum dicere carmen.’ 5 nunc ego (namque super tibi erunt, qui dicere laudes, Vare, tuas cupiant et tristia condere bella) agrestem tenui meditabor harundine Musam. Damit ist für jeden klar, der Vergils Eklogen gelesen hat: Wer Tityrus heißt, oder wer die Maske des Tityrus nimmt, kann kein Epos dichten. 40 Der Begriff der recusatio, der in der Latinistik die programmatische Ablehnung der hohen Form zugunsten anderer, in der Gattungshierarchie niedriger angesiedelter Weisen der Dichtung bezeichnet, 41 trifft auch auf Dantes erste Ekloge zu. 42 Dabei lässt sich die Aufnahme der vergilischen Eklogendichtung durch Dante auch als Antwort auf die Schlusswendung des Giovanni del Virgilio interpretieren, der Vergils neunte Ekloge aufgenommen hatte. Während jedoch Giovanni del Virgilio zwar den Gegensatz von hoher und niedriger Dichtung treffend aus Vergil übernimmt, geht Dante über diese isolierte Bezugnahme hinaus. Er übernimmt auch die Distanzierung von der hohen Dichtung, wie sie bei Vergil ausgesprochen ist. 43 38 Vgl. auch Servius, In Vergilii Bucolicon librum commentarius S. 2, S. 4-5: nam personae hic rusticae sunt, simplictate gaudentes, a quibus nihil altum debet requiri. 39 Vgl. die grundlegende Deutung von Schmidt, Ernst August, Poetische Reflexion. Vergils Bukolik, München 1972. 40 Vgl. Seng, Vergils Eklogenbuch, S. 17-20. 41 Zur recusatio vgl. Schmitzer, Ulrich, „Recusatio“, in: Der Neue Pauly 8 (2001), S. 821-822 mit weiteren Hinweisen. 42 Vgl. neben Ansätzen bei Chiarini, I ‚decem vascula’ S. 84 und Martellotti, La riscoperta dello stile bucolico S. 336 insbesondere Krautter, Die Renaissance der Bukolik, S. 35-37. 43 Vgl. Seng, Vergils Eklogenbuch, S. 31-33. Helmut Seng 88 (3) Giovanni del Virgilio reagiert auf Dantes Antwort allerdings nicht enttäuscht, sondern enthusiastisch. Zwar hat Dante mit seiner Ekloge nicht genau das poetische Projekt aufgegriffen, zu dem Giovanni del Virgilio ihn aufgefordert hatte - im Gegenteil, er hat ihm eine deutliche Absage erteilt. Indem er dies aber in der Form einer Dissoziierung von Elementen durchführt, die Giovanni del Virgilio miteinander verknüpft hatte, bietet sich für diesen die Möglichkeit einer Rekonfiguration. Insbesondere hatte Dante einen Aspekt des von Giovanni del Virgilio vorgeschlagenen Programms dadurch aufgegriffen, dass er ein lateinisches Gedicht verfasste. Dieses kann Giovanni del Virgilio nun zum Ausgangspunkt eines neuen poetischen Projekts machen. Das Geschenk von zehn Gefäßen voll Milch, die Tityrus an Mopsus senden will, fasst er als die Ankündigung einer Serie von lateinischen Eklogen Dantes auf. Dabei mag offen bleiben, ob es sich um ein unabsichtliches oder ein absichtliches Missverständnis handelt; plausibler scheint Letzteres. Doch damit zu einigen Einzelheiten. Giovanni del Virgilio beginnt mit der Ausmalung einer bukolischen Landschaft, in welcher sich der Ich-Sprecher befindet. Die einleitende Wendung klingt an die Eröffnung der siebten Ekloge Vergils an: E VII 1.9-14 Forte sub arguta consederat ilice Daphnis [...] ‚huc ades, o Meliboee; caper tibi saluos et haedi; et, si quid cessare potes, requiesce sub umbra. 10 huc ipsi potum uenient per prata iuuenci, hic uiridis tenera praetexit harundine ripas Mincius, eque sacra resonant examina quercu.’ quid facerem? neque ego Alcippen, nec Phyllida habebam [...] Der Vergleichstext von Giovanni del Virgilio ist E II 1-10.33-35: Forte sub inriguos colles, ubi Sarpina Rheno obvia fit, viridi niveos interlita crines nympha procax, fueram nativo conditus antro. Frondentes ripas tondebant sponte iuvenci, mollia carpebant agne, dumosa capelle. 5 Quid facerem? Nam solus eram puer incola silve: irruerant alii causis adigentibus urbem, nec tum Nisa michi nec respondebat Alexis, suetus uterque comes. Calamos moderabar ydraules falce recurvella, cuncte solamina 10 [...] A, divine senex, a sic eris alter ab illo! Alter es, aut idem, Samio si credere vati sic liceat Mopso, sicut liceat Melibeo. 35 Während Vergil den Mincius nennt, den Fluss seiner Heimatstadt Mantua, weist die Erwähnung von Sarpina und Rhenus (Savena und Reno) auf Bolo- Poetologischer Dialog und bukolisches Rollenspiel 89 gna, wo Giovanni del Virgilio sich aufhält. Dantes bukolisierendes Gedicht, bzw. die Vergilimitation im genus humile, aber in lateinischer Sprache, ist dadurch in einer Weise aufgegriffen, die sich als Zustimmung zu dieser Art von Dichtung verstehen lässt. Auch die ihm zugewiesene Maske des Hirtensängers Mopsus nimmt Giovanni del Virgilio ausdrücklich an; noch vor der Namensnennung in v. 35, 39, 80, 87 weist die in v. 3 genannte Höhle oder Grotte auf das Eingangsgespräch von Vergils fünfter Ekloge. Dort setzt sich der jüngere Hirtensänger Mopsus gegen den älteren Menalcas mit dem Vorschlag durch, zum gemeinsamen Singen eine Höhle aufzusuchen (E V 6.19); zur relativen Altersbestimmung dort passt die Bezeichnung als puer bei Giovanni del Virgilio in v. 6; sie korrespondiert freilich auch mit der Anrede des Tityrus in v. 33: „a divine senex, a sic eris alter ab illo“. Giovanni del Virgilio kontaminiert hier zwei Stellen aus Vergils Eklogen: Mit „fortunate senex“ preist Meliboeus in E I 46 Tityrus glücklich, da er sein Land behalten darf; in E V 45-52 lobt Menalcas das Lied des Mopsus, indem er diesen mit „divine poeta“ anredet (v. 45) und ihm die Nachfolge in der Kunst des verstorbenen Daphnis bescheinigt, des Hirtensängers par excellence (v. 49): „fortunate puer, tu nunc eris alter ab illo“. Selbst mit dem pathetischen a imitiert Giovanni del Virgilio die Ausdrucksweise Vergils, der die Interjektion freilich nur im Kontext von Liebesleid verwendet. 44 Drei Grundzüge des Gedichts werden schon aus diesen wenigen Beobachtungen deutlich: 1. Die intertextuelle Gestaltung ist mit höchstem Eifer ausgeführt - strekkenweise kommt das Ergebnis fast einem cento nahe. 45 2. Die Maske des Mopsus bleibt eine solche der Bescheidenheit, Giovanni del Virgilio als der Jüngere drückt seine Anerkenntnis der poetischen Überlegenheit Dantes hyperbolisch aus. 3. Zugleich ist Mopsus, wie bei Vergil, eine Gestalt, die ihre Vorstellungen durchsetzt. In E V war es die Ortswahl, die Entscheidung für die Grotte; außerdem wählt Mopsus sein Thema gegen die Vorschläge des Menalcas nach eigenen Vorstellungen (E V 10-15). Auch Giovanni del Virgilio macht deutlich, dass er seine Vorstellung durchgesetzt hat: Die Formulierung „a sic eris alter ab illo“ (und ihre Weiterführung mit der Vorstellung des reinkarnierten Vergil - wohlgemerkt hier und nicht im Zusammenhang der Divina Commedia) trägt den Ton auf dem sic: Das Lob umfasst die ausdrückliche Anerkennung dieser Art von Dichtung (und damit gerade nicht der Vergilnachfolge in der Divina Commedia, wie Dante sie narrativ inszeniert); es hängt an der Bedingung, lateinisch zu dichten, die Giovanni del Virgilio vorgegeben und auf die Dante sich eingelassen hatte. 44 Vergil, E II 60.69; VI 52; X 47.48.49. 45 Vgl. auch die Angaben zu (möglichen) Vorbildern aus Vergils Eklogen bei Wicksteed/ Gardner, S. 208-210. Helmut Seng 90 Einige weitere Aspekte sind hier zu ergänzen. Insbesondere fällt auf, dass Mopsus in der Ekloge keineswegs als einziger Initiative zeigt. Vielmehr ist er zunächst als weitgehend untätig oder unschlüssig gezeichnet. Er beschäftigt sich zwar gelangweilt mit den Flötenrohren seines Instruments, aber er singt nicht. In diese Situation bringt das Gedicht des Tityrus Bewegung, das von dessen breit geschildertem Aufenthalt (Ravenna ist ekphrastisch umschrieben) 46 zu Mopsus gelangt. Die Milchmetaphorik ist übernommen; 47 die begeisterte Reaktion der Hirten und Tiere, der Nymphen und Faune entspricht der Orpheusmotivik, die Tityrus auf Mopsus gewendet hatte. 48 Pragmatisch ist dies im Sinne des Austauschs von Komplimenten zu verstehen, weist aber zugleich auf einen darüber hinausgehenden Austausch voraus. Durch das Gedicht des Tityrus angeregt, entschließt sich Mopsus zu eigener bukolischer Dichtung. Indem er dies als den Wechsel von größeren zu kleineren Rohren formuliert, ist auf die Systematik der Gattungen und Stilarten angespielt; er lässt sich auf die zum genus humile gehörige Bukolik ein. Mopsus teilt die Trauer des Tityrus über die Verbannung und wünscht ihm die Dichterkrönung in der Heimat. Die Formulierung lautet (v. 44-46): O si quando sacros iterum flavescere canos fonte tuo videas et ab ipsa Phillide pexos, 45 quam visando tuas tegetes miraberis uvas! Die Vermutung, Phyllis stehe für die Gattin Dantes, 49 ist nicht mehr als die Philologenexegese, wie sie aus der Vergilkommentierung bekannt ist. Der Name ist treffsicher gewählt: Phyllis flicht in E X 41 dem Dichter Gallus Kränze. Abgeleitet ist der Name von dem griechischen Wort für „Blatt“; wie gesehen ist Phyllis mit dem Sprießen von Grün in Verbindung zu bringen. 50 Im Zusammenhang bringt Mopsus nicht nur die enge emotionale Verbindung mit Tityrus zur Sprache, deren Schilderung einer Vereinnahmung gefährlich nahe kommt, 51 sondern erneuert zugleich mit wachsender Emphase die Einladung, gleichsam als Überbrückungsmaßnahme. Das ist ein typisches recusatio-Motiv, in höchstem Maße außergewöhnlich allerdings, dass nicht der Dichter spricht, der das andere Vorhaben abweist, sondern derjenige, der sein Ansinnen an den Dichter heranträgt. Dabei schildert er den Besuch und Aufenthalt des Tityrus als gemeinsames poetisches Projekt mit altersgemäßer Rollenverteilung. Die Idylle wird mit einer Fülle bukolischer Motive ausgemalt, die Anerkennung dieses poetischen Projekts ihrerseits in Anlehnung an eine Dichterkrönung umschrieben. 46 Giovanni del Virgilio, E II 11-15. 47 Giovanni del Virgilio, E II 19. 48 Giovanni del Virgilio, E II 22-25. 49 So Wicksteed/ Gardner, S. 232 mit weiteren Hinweisen; dagegen Brugnoli/ Scarcia, S. 60. 50 Vgl. Philargyrius, S. 91, I 8-23 und II 8-22; ferner Brugnoli/ Scarcia, S. 60. 51 Nach E X 73-74: „Gallo, cuius amor tantum mihi crescit in horas / quantum uere nouo uiridis se subicit alnus.” Poetologischer Dialog und bukolisches Rollenspiel 91 Das Werben des Mopsus greift umfänglich auf Motive erotischen Werbens in den Eklogen Vergils zurück. Insbesondere auf zwei Bezüge ist hinzuweisen. Zum einen nimmt das wiederholte huc ades nicht nur den Anfang von E VII auf, wie bereits gesehen; im Kontext erotischer Werbung findet es sich auch in E IX 39-43, gesprochen aus der Rolle des verliebten Kyklopen Polyphem: huc ades, o Galathea; quis est nam ludus in undis? hic uer purpureum, uarios hic flumina circum 40 fundit humus flores, hic candida populus antro imminet et lentae texunt umbracula uites. huc ades; insani feriant sine litora fluctus. Hier taucht auch das Motiv des locus amoenus auf, wohin die Einladung erfolgt, einschließlich der Höhle. Umfassender ist zum anderen die zweite Ekloge Vergils imitiert, die als Werberede des Hirten Corydon an den Knaben Alexis gestaltet ist. Auch hier gehört zu den Argumenten, die der Verliebte zu seinen Gunsten anführt, der locus amoenus; und es fehlt nicht die Formulierung „huc ades, o formose puer“ (E II 45). Gerade der Schlussteil der 2. Ekloge ist bei Giovanni del Virgilio aufgenommen. Zunächst der Ausschnitt aus Vergil (E II 56-73): rusticus es, Corydon; nec munera curat Alexis, nec, si muneribus certes, concedat Iollas. heu heu, quid uolui misero mihi? floribus Austrum perditus et liquidis immisi fontibus apros. quem fugis, a! demens? habitarunt di quoque siluas 60 Dardaniusque Paris. Pallas quas condidit arces ipsa colat; nobis placeant ante omnia siluae. torua leaena lupum sequitur, lupus ipse capellam, florentem cytisum sequitur lasciua capella, te Corydon, o Alexi: trahit sua quemque uoluptas. 65 aspice, aratra iugo referunt suspenca iuuenci, et sol crescentis decedens duplicat umbras; me tamen urit amor: quis enim modus adsit amori? a, Corydon, Corydon, quae te dementia cepit! semiputata tibi frondosa uitis in ulmo est: 70 quin tu aliquid saltem potius, quorum indiget usus, uiminibus mollique paras detexere iunco? invenies alium, si te hic fastidit, Alexin. Giovanni del Virgilio, E II 72-89 formuliert folgendermaßen: Huc ades, et nostros timeas neque, Tityre, saltus; namque fidem celse concusso vertice pinus glandifereque etiam quercusque arbusta dedere. Non hic insidie, non hic iniuria, quantas 75 esse putas. Non ipse michi te fidis amanti? sunt forsan mea regna tibi despecta ? Sed ipsi di non erubuere cavis habitare sub antris: Helmut Seng 92 testis Achilleus Chyron et pastor Apollo. Mopse, quid es demens? Quia non permittet Iollas 80 comis el urbanus, dum sunt tua rustica dona, hisque tabernaclis non est modo tutius antrum, quis potius ludat. Sed te quis mentis anhelum ardor agit, vel que pedibus nova nata cupido? Miratur puerum virgo, puer ipse volucrem, 85 et volucris silvas et silve flamina verna; Tityre, te Mopsus: miratio gignit amorem. Me contempne: sitim Frigio Musone levabo, scilicet, hoc nescis? fluvio potabor avito. In v. 72-78 nimmt Giovanni del Virgilio die Bedenken auf, die in Dantes erster Ekloge formuliert waren (v. 41). Er versichert, dass in seinen Gefilden keine Gefahr drohe, und weist vor allem die befürchtete Gottlosigkeit zurück (v. 77-78). Besondere Nähe zu E II zeigen die Selbstbezeichnung des Verliebten als demens (v. 80), der Stadt-Land-Gegensatz mit dem Rivalen Iollas (v. 80-81), die gnomisch zugespitzte Priamel (v. 85-87) und die angedrohte Möglichkeit, sich im Falle einer Zurückweisung an einen anderen zu wenden (v. 88-89). Diese Neubesinnung folgt bei Vergil der Erkenntnis des eigenen Wahnsinns; auch bei Giovanni del Virgilio folgt auf diese ein neuer Impuls, der freilich nicht als Abkühlung, sondern als neues Verlangen beschrieben ist (v. 83-84), und der über die Aufnahme vom Motiv einer Alternative hinweg zu einem Finale strebt, das über Vergil hinausgeht. Mit der Erwiderung der Milchsendung greift er Dantes erste Ekloge auf (wobei der Austausch von Geschenken im Sinne wechselseitiger Anerkennung das Schlussmotiv der fünften Ekloge Vergils bildet) 52 und fasst den weiteren Austausch ins Auge: Dante hatte ja eine konkrete Zahl genannt, die sich als konkrete Zahl von Gedichten auffassen lässt. Giovanni del Virgilio hat damit ein präzises poetisches Projekt entwickelt, nämlich einen wechselseitigen Austausch von Gedichten, vielleicht nach der Weise einer tenzone, 53 selbstverständlich in lateinischer Sprache, einen poetischen Briefwechsel, nicht anders, als er ihn zuvor mit einem gewissen ser Nuccio geführt hatte (überliefert unter dem Titel Diaffonus), 54 und wie er ihn nach Dantes Tod mit einer Ekloge an Albertino Mussato versuchen wird zu initiieren - auf den als alternativen Briefpartner sich schon v. 88-89 beziehen. 55 Die inhaltliche Vor- 52 Siehe oben bei Anm. 26. 53 Vgl. Martellotti, Dalla tenzone al carme bucolico, S. 327. 54 Vgl. Krautter, Konrad, „Der ‚Diaffonus’ des Giovanni del Virgilio: mittelalterliche Liebesallegorie und humanistische Klassikerimitation in lateinischen Elegien des frühen 14. Jahrhunderts“, in: August Buck (Hrsg.), Die Rezeption der Antike. Zum Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance, Hamburg 1981, S. 129-144 sowie Cecchini, Enzo, „Giovanni del Virgilio - ser Nuccio ‚Diaffonus’”, in: Ulrich Justus Stache/ Wolfgang Maaz/ Fritz Wagner (Hrsg.), Kontinuität und Wandel. Lateinische Poesie von Naevius bis Baudelaire. Franco Munari zum 65. Geburtstag, Hildesheim 1986, S. 570- 597. 55 Vgl. Brugnoli/ Scarcia, S. 69-70, ferner Martellotti, Dalla tenzone al carme bucolico, S. 332- Poetologischer Dialog und bukolisches Rollenspiel 93 gabe des ersten Gedichts ist fallen gelassen, das Motiv der Dichterkrönung ist Florenz überlassen - zwar ohne dass eine Form der Anerkennung für Bologna ganz ausgeschlossen würde; aber der lokale Aufenthalt der Dichter, die einander schreiben, spielt im Grunde keine Rolle. Die alten Kommentierungen 56 identifizieren die verschiedenen auftretenden Gestalten mit unterschiedlichen Personen; wichtig ist Iollas. Eine Glosse setzt ihn mit dem Machthaber von Ravenna gleich, Guido Novello da Polenta (dem Neffen der Francesca da Rimini). 57 Demnach wäre zu befürchten, dieser Rivale, um im Rahmen der erotischen Metaphorik zu bleiben, werde Dantes Besuch in Bologna - oder gar eine Übersiedelung - nicht gestatten, bzw. Ravenna biete Dante durch die Protektion Guidos ein höheres Maß an persönlicher Sicherheit als die politischen Verhältnisse in Bologna. Diese Deutung klingt plausibler denn die der Phyllis als Gattin Dantes. Gleichwohl fällt auf, dass die Ausmalung des locus amoenus durch Giovanni del Virgilio weniger die reale Landschaft von Bologna als vielmehr eine Dichterlandschaft bezeichnet. Insofern ist, auch im Sinne von einander überlagernden Bedeutungsebenen, abweichend von der communis opinio, an eine poetologische Interpretation zu denken. Der bukolischen Dichtung, die durch die bukolische Dichterlandschaft symbolisiert ist, steht eine andere Dichtung gegenüber, symbolisiert durch Iollas, der aus der nachgestalteten E II übernommen ist und der als Stadtbewohner im Gegensatz zur ländlichen Hirtenwelt steht. Eine Deutung des Iollas als poetologische Allegorie muss ihn auf die Divina Commedia beziehen. Das poetische Projekt, das Giovanni del Virgilio Dante vorschlägt, wäre also eine Nebentätigkeit, keine Alternative zur Divina Commedia - gewissermaßen ein Entgegenkommen von Giovanni del Virgilios E I aus. (4) Damit zu Dantes Reaktion, seiner zweiten Ekloge. Sie beginnt mit einer preziösen Bestimmung der Mittagszeit, der zugehörigen Hitze und der Siesta-Stimmung im Schatten, die ganz als Replik auf die Angaben wirkt, die bei Giovanni del Virgilio die Ekloge eröffnet hatten. 58 Tityrus und Alphesiboeus sind beieinander, letzterer beginnt zu sprechen (v. 16-27): „Quod mentes hominum“ fabatur „ad astra ferantur, unde fuere, nove cum corpora nostra subirent, quod libeat niveis avibus resonare, Caistrum temperie celi letis et valle palustri, quod pisces coeant pelagi pelagusque relinquant 20 flumina qua primum Nerei confinia tangunt, 333 und Krautter, Die Renaissance der Bukolik, S. 60-69. 56 Vgl. die Texte bei Wicksteed/ Gardner, S. 287-311. 57 Vgl. Brugnoli/ Scarcia, S. 67-68, ferner Krautter, Die Renaissance der Bukolik S. 45 mit Anm. 87. 58 Hingegen ähnelt sie weniger Formulierungen antiker Hirtendichtung als vielmehr den elaborierten astronomischen Angaben in der Divina Commedia. Helmut Seng 94 Caucason Hyrcane maculent quod sanguine tigres, et Libies coluber quod squama verrat arenas, non miror, nam cuique placent conformia vite, Tityre, sed Mopso miror, mirantur et omnes 25 pastores alii mecum Sicula arva tenentes, arida Ciclopum placeant quod saxa sub Ethna”. Diese Ausführungen sind deutlich als Überbietung der Priamel in der Ekloge des Giovanni del Virgilio gestaltet, vor allem aber umfunktionalisiert: Während der gnomische Schluss bei Giovanni del Virgilio, wie bei Vergil, das Wollen und Wünschen des Sprechers rechtfertigt, folgt hier auf die generelle Anerkennung des Grundsatzes der Zweifel an Mopsus, verbunden mit seiner überraschenden Lokalisierung am Aetna, die keineswegs den Gegebenheiten in der Ekloge des Giovanni del Virgilio entspricht. Noch bevor dies näher erörtert werden kann, tritt Meliboeus auf (v. 28-33): Dixerat, et calidus et gutture tardus anhelo iam Melibeus adest et vix „En Tityre“ dixit. Inrisere senes iuvenilia guttura, quantum 30 Sergestum e scopulo vulsum risere Sicani. Tum senior viridi canum de cespite crinem sustulit et patulis efflanti naribus infit. Seine Beschreibung ist unschwer als Karikatur der Selbstbeschreibung zu erkennen, mit der Mopsus in der Ekloge des Giovanni del Virgilio den Vorschlag zum poetischen Austausch mit Tityrus einleitet; wie in Dantes erster Ekloge wird Meliboeus Gegenstand des Gelächters. 59 Seine Anrede durch Tityrus setzt die Persiflage fort (v. 33-35): O nimium iuvenis, que te nova causa coegit pectoreos cursu rapido sic angere folles? Meliboeus sagt nichts Eigenes. Er setzt die Flöte an den Mund, und es ertönt, wundersamerweise, die Ekloge des Giovanni del Virgilio im Wortlaut. Damit ist Meliboeus innerhalb dieses Gedichts der durchaus lächerliche Repräsentant des Mopsus bzw. des Giovanni del Virgilio. Den eingetretenen Moment der Spannung artikuliert Alphesiboeus (v. 46-47): Sic, venerande senex, tu roscida rura Pelori deserere auderes, antrum Ciclopis iturus? “ Deutlich ist der Anklang an die Formulierung a divine senex, a sic eris alter ab illo bei Giovanni del Virgilio. Mit der Äußerung des Alphesiboeus wird zugleich klar, dass Tityrus sich keineswegs in der von Giovanni del Virgilio beschriebenen Landschaft befindet, sondern auf Sizilien; später wird der 59 Luftschnappen patulis naribus nach Vergil, Georgica I 376 (dort von einer Kuh; aus dem gleichen Zusammenhang, Georgica I 384, auch der bei Dante E II 18 erwähnte Caystrus); Gelächter über den Schiffbruch des Sergestus vor Sizilien nach Vergil, Aeneis V 272. Poetologischer Dialog und bukolisches Rollenspiel 95 Irrtum des Mopsus über den Aufenthaltsort des Tityrus noch einmal explizit formuliert (v. 65-72). Alphesiboeus wendet sich vehement gegen die Möglichkeit, Tityrus könnte der Einladung Folge leisten (v. 50-62): tibia non sentis quod fit virtute canora 50 numinis et similis natis de murmure cannis, murmure pandenti turpissima tempora regis qui iussu Bromii Pactolida tinxit arenam? Quod vocet ad litus Ethneo pumice tectum, fortunate senex, falso ne crede favori, 55 et Driadum miserere loci pecorumque tuorum. Te iuga, te saltus nostri, te flumina flebunt absentem et Nymphe mecum peiora timentes, et cadet invidia quam nunc habet ipse Pachynus: nos quoque pastores te cognovisse pigebit. Fortunate senex, fontes et pabula nota desertare tuo vivaci nomine nolis. Mit Sehnsucht und Trauer der Hirten und Nymphen, die Tityrus davon abhalten sollen (v. 56-62), sind vergilische und speziell zu Tityrus passende Motive aufgenommen. 60 Poetologisch bemerkenswert ist die Beschreibung der Botschaft des Mopsus als Lied der den Wortlaut artikulierenden Rohre in Analogie zur Botschaft der Binsen, die von den Eselsohren des Midas berichteten - in gelehrter Anspielung umschrieben (v. 50-53). Sie kennzeichnen ihn als Dichtungsbanausen, der zwischen zwei Arten der Poesie die falsche Wahl trifft - die Spitze gegen Giovanni del Virgilio ist deutlich. 61 Gleichwohl betont Tityrus seine Zuneigung zu Mopsus und seine Bereitschaft, der Einladung zu folgen - hielte ihn nicht die Furcht vor Polyphem, deren Berechtigung Alphesiboeus mit mythischen Belegen bekräftigt. Zugleich aber wehrt er den Gedanken ab, Tityrus könne es gelüsten, sich von Rhenus und der Nymphe Sarpina, die bei Giovanni del Virgilio die Ekloge eröffnen, das Haupt entblößen zu lassen, dem baldiger Lorbeer bevorstehe. Tityrus lächelt und schweigt. Es wird Abend, Hirten und Herden gehen nach Hause (v. 88-94). Damit ist ein deutlicher Abschluss erreicht (auch ringkompositorisch: Die Schilderung des Abends nimmt die der Mittagshitze vom Anfang auf). Jedoch folgt noch eine unerwartete Coda (v. 95-97): Callidus interea iuxta latitavit Iollas, omnia qui didicit, qui retulit omnia nobis: ille quidem nobis; et nos tibi, Mopse, poymus. Dieser Abschluss leistet vor allem eine Distanzierung: Auch wenn Tityrus die Botschaft erhalten hat, antwortet er nicht. Und er gibt auch keinem anderen den Auftrag zu einer Antwort. Der auktoriale Sprecher hat seine Kennt- 60 Vgl. Vergil, E I 36-39. 61 Zugleich mag eine spöttische Reaktion auf die Hinzunahme der Esel zum bukolischen Viehbestand bei Giovanni del Virgilio E II 24 vorliegen („arrectisque onagri decursant auribus ipsi“). Helmut Seng 96 nis nur aus indirekter Vermittlung. Mit diesem Kunstgriff kann eine Antwort an Mopsus gesandt werden, die keine Antwort des Tityrus ist. Es ist eine Antwort, die den Abbruch der Kommunikation inszeniert. Zwischen Tityrus und Mopsus steht Iollas - oben im Rahmen der Ekloge des Giovanni del Virgilio als Symbol der Divina Commedia selbst interpretiert. Die Hauptschwierigkeit dieses Gedichts besteht in dem Ortswechsel gegenüber der vorangehenden Ekloge des Giovanni del Virgilio. 62 Die Szenerie ist nach Sizilien verlagert; Tityrus und sein Gesprächspartner Alphesiboeus befinden sich auf der Halbinsel Pelorus, die als locus amoenus gezeichnet ist, Mopsus hat seinen Aufenthalt bei der Höhle des Kyklopen Polyphem am Aetna und lädt dorthin ein. Das Problem dieser Diskrepanz löst sich sofort, wenn man, wie hier vorgeschlagen, die Orte poetologisch interpretiert. 63 Dante verhandelt wie Giovanni del Virgilio die poetologische Fragestellung im Modus der Opposition von Orten und ihrer spezifischen Beschreibung. Die Dichtung, die Giovanni del Virgilio so emphatisch einer Grotte zuordnet, die an die Eklogen ebenso anknüpft wie an das Motiv der Musengrotte, 64 assoziiert Dante mit der Grauensgrotte des Polyphem, 65 indem er die Motivverbindung durchaus übernimmt, aber inhaltlich anders ausführt: Er bezieht sich nicht auf den verliebten Polyphem in Vergils neunter Ekloge, auf dessen Werben Giovanni del Virgilio angespielt hatte, sondern auf den menschenfressenden Polyphem, von dem Achaemenides, den Odysseus zurückgelassen hatte, in der Aeneis bzw. in den Metamorphosen Ovids erzählt, wo der Kyklop zudem als der Mörder des Acis auftritt, seines erfolgreicheren Rivalen im Liebeswerben um Galathea. 66 Diese Neuverortung, die der Darstellung von Giovanni del Virgilio dezidiert widerspricht, lässt sich leicht dechiffrieren: Dante sieht im Projekt des Giovanni del Virgilio eine gleichsam tödliche, eine existentielle Bedrohung für sein Dichten, für sein eigenes poetisches Programm. Die Erwähnung von Rhenus und Sarpina (als Nymphe wie bei Giovanni del Virgilio), die geographisch im Widerspruch zur sizilischen Verortung steht, entfaltet noch einmal den Kontrast der Dichterkrönung in Florenz und Bologna und knüpft insofern kohärent an die erste Ekloge an. Immerhin lässt sich Dante auf ein lateinisches Antwortgedicht ein, sei es auch eine erneute Ablehnung. Dantes zweite Ekloge stellt somit eine poetologisch ausgerichtete Korrektur des Giovanni del Virgilio dar, der Dantes 62 Vgl. auch Pertile, Le ‚egloghe’, S. 293. 63 Hingegen bezieht Martellotti, Dalla tenzone al carme bucolico, S. 331-332 die Angaben auf die konkreten Orte Ravenna und Bologna. 64 Vgl. die Angaben bei Nisbet, Robert G. M./ Hubbard, Margaret, A commentary on Horace: Odes, II Oxford 1978, S. 31; gerade dieses Motiv fehlt bei Pertile, Le ‚egloghe’, S. 297-298. 65 Vgl. Pertile, Le ‚egloghe’, S. 297-299. 66 Mehr als erfolgreich: Nach der Darstellung Ovids (Met. XIII 755) sucht Galathea von sich aus seine Liebe: „hunc ego, me Cyclops nulla cum fine petebat“. Poetologischer Dialog und bukolisches Rollenspiel 97 erste Ablehnung nicht als prinzipielle aufgefasst hatte und aus der Ablehnung eines Projekts sogleich den Auftakt eines Folgeprojekts gemacht hatte. Die Schlussbemerkungen können kurz ausfallen. Die vier Gedichte, die Giovanni del Virgilio und Dante austauschen, stellen einen poetologischen Dialog in poetischer Form dar, nicht im Sinne einer pragmatischen Rollenverteilung, sondern als eine authentische Diskussion über die Frage des Dichtens in lateinischer Sprache oder in volgare, mit unterschiedlichen Standpunkten, die sich auch entwickeln, aber im Kern nicht wirklich annähern. Die bukolisierende Form, zu der Dante greift und die in seiner Zeit eine innovative Form der Antikerezeption darstellt, 67 zielt dabei zunächst auf den gattungstheoretischen Aspekt der Auseinandersetzung; sie ist insofern ein Mittel, das Giovanni del Virgilio indessen zum Selbstzweck zu erheben trachtet. Sind die Reaktionen Dantes auf Giovanni del Virgilio auch abweisend, so entsteht dabei doch ein gemeinschaftliches Werk, freilich nicht nach antikem Vorbild, sondern nach dem der tenzone, einer Form der poetischen Kontroverse zwischen zwei Poeten, die zur volksprachlichen Dichtung des Mittelalters gehört. 68 Sollte genau das auch schon von Anfang die eigentliche Absicht des Giovanni del Virgilio gewesen sein? Literaturverzeichnis Primärliteratur: Dante Alighieri, Das Schreiben an Cangrande della Scala. Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Thomas Ricklin mit einer Vorrede von Ruedi Imbach, Lateinisch-Deutsch, Hamburg 1993. Dante Alighieri, Le ecloghe. Testo, traduzione e note a cura di Giorgio Brugnoli e Riccardo Scarcia, Milano, Napoli 1980. Dante and Giovanni del Virgilio. Including a Critical Edition of the text of Dante’s „Eclogae Latinae” and of the poetic remains of Giovanni del Virgilio, by Philip H. Wicksteed and Edmund G. Gardener, Westminster 1902 [ND New York 1970]. Albini, Giuseppe/ Pighi, Giovanni Battista (Hrsg.), La corrispondenza poetica di Dante e Giovanni del Virgilio e l’ecloga di Giovanni al Mussato, Bologna 1965. 67 Zur mittelalterlichen Bukolik vgl. auch Klopsch, Paul, „Mittellateinische Bukolik“, in: Lectures médievales de Virgile, 1985, S. 145-165 mit weiteren Hinweisen. 68 Zur imitatio bei Boccaccio im Austausch mit Checco di Meletto Rossi vgl. Martellotti, Dalla tenzone al carme bucolico, S. 333-336 und Krautter, Die Renaissance der Bukolik, S. 69- 80. Helmut Seng 98 „Iunii Philargyrii Grammatici explanatio in Bucolica Vergilii”, in: Appendix Serviana ceteros praeter Servium et Scholia Bernensia Vergilii commentatores continens, Recensuit Hermannus Hagen, Leipzig 1887 [ND Hildesheim 1961], S. 1-189. Nicolas Trivet Anglico, Comentario a las Bucólicas de Virgilio. Estudio y edición crítica por Aires Augusto Nascimento y José Manuel Díaz de Bustamante, Santiago de Compostela 1984. Servii Grammatici qui feruntur in Vergilii Bucolica et Georgica commentarii, Recensuit Georgius Thilo, Leipzig 1887 [ND Hildesheim 1961]. P. Vergili Maronis Opera recognovit brevique adnotatione critica instruxit Roger A. B. Mynors, Oxford 1969. Sekundärliteratur: Ahern, John, „Singing the Book: Orality in the Reception of Dante’s Comedy“, in: Amilcare A. Iannucci (Hrsg.), Dante: Contemporary Perspectives, Toronto, Buffalo, London 1997, S. 214-239. Allegretti, Paola, „Un acrostico per Giovanni del Virgilio”, in: Studi Danteschi 69 (2004), S. 289-293. 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Neben der Episodenstruktur sowie manchen Situationen und Figuren, die bekannte Erzählstrukturen und Mythen aus epischen bzw. narrativen Vorgaben aufweisen, von Homer und Vergil über das Evangelium und die Divina Commedia (DC) bis zu Don Quijote 1 und vielleicht sogar dem schon teilweise publizierten Ulysses von James Joyce, 2 erkennt man die Dramaturgie mancher Szene aus Hamlet oder die aneinanderreihende Struktur von Strindsbergs Stationendramen. 3 Dazu enthält LdB eine sehr spanische Art humoristisch-konkreter Persiflage oder Satire auf zeitgenössische Politiker und Künstler, die an die im 19. und Anfang des 20. Jhs. in Spanien sehr populäre Gattung des género chico erinnert, eine komödienartige Kurzform. Für den umfänglich belesenen und über die aktuellsten literarischen Richtungen in Europa und Amerika wohlinformierten Valle-Inclán, der sich in seiner künstlerischen Laufbahn als notorischer Individualist 1 Bruce Swansey stellt in seinem Artikel „La cueva especular: de Montesino a Zaratustra“ die intertextuellen Parallelen zwischen Don Quijotes parodistischem Abstieg zur cueva de Montesinos (II, XXII-XXIV) und dem von Max Estrella in LdB heraus, vgl. Reichenberger, Eva/ Reichenberger, Kurt (Hrsg.): Cervantes y su mundo, vol. I, Kassel 2004, S. 391-398. Auf S. 384 werden beide Passagen als Parodien des Motivs des „descenso al infierno” bezeichnet. 2 Die Ähnlichkeiten sind teilweise bemerkenswert, jedoch ist Vorsicht angebracht, auch wenn die Vorliebe Valle-Incláns für zeitgenössische Autoren des englischen Sprachraums bekannt ist (vgl. Speratti-Piñero, Emma Susana, El ocultismo en Valle-Inclán, London 1974, S. 5; Reichenberger, Cervantes, S. 383). Der Ansatz von Darío Villanueva, der sich auf eine Rezeption von Joyce bei Valle-Inclán nicht festlegen möchte, sieht als Ziel des Vergleiches vielmehr „to extract aesthetic constants on which the literary art is based from the pure coincidences between works which have not established any intertextual dialogue but also to genuinely justify how the common extraliterary backgrounds […] condition the different literatures in the same way” (vgl. „Valle-Inclán and J. Joyce”, in: Revue de littérature comparée 1 (1991), S. 58). 3 Siehe dazu Roloff, Volker, „Luces de Bohemia“ als Stationendrama, in: Harald Wentzlaff- Eggebert (Hrsg.), Ramón del Valle-Inclán (1866-1936): Akten des Bamberger Kolloqiums von 6.-8. November 1986, Tübingen 1988, S. 217ff. Irene M. Weiss 102 in keine Richtung einordnen ließ, kann diese Kombination von Parodie und pastiche als charakteristisch gelten. 4 Eine Parodie stellt oft ein ästhetisches Gegenprojekt zum parodierten Text dar. Darin besteht das Wesen der Parodie als literarische Kunstform und ihre Wirkung. Im Falle von LdB erzeugen die vielen parodistischen Verweise einen besonderen Effekt, der teilweise an den unbeständig wechselnden Bezugstexten liegt. So ergibt sich eine Dynamik, die den Text in mehrere Richtungen öffnet. Bekanntlich führt nach Bachtin die Parodie in das parodierte Wort „eine Bedeutungsrichtung ein, die der fremden Richtung direkt entgegengesetzt ist“. 5 Diese entgegengesetzte oder zweite Stimme trägt jetzt den Sinn, der aber nur im Sinnkontrast mit der ersten Stimme zu verstehen ist. Was passiert jedoch, wenn sich mehrere Stimmen kontrastierend überlagern? In LdB bietet die Verkettung der parodierten Werke eine Art mehrstimmige Grundlage für eine Handlung, die durch Kontrast und Dissonanz einen Diskurs gegen einen anderen voranschreiten lässt. Dabei ist der ständige Wechsel von Simulation und Dissimulation der parodierten Worte ein wichtiges Strukturmoment zur Konstitution des Sinnhorizonts. Prätexte, auf die sich die Simulation bezieht, sind beispielsweise das género chico mit seiner umgangssprachlichen Redeweise und der charakteristischen Persiflage der politischen Klasse sowie die Friedhofsszene in Shakespeares Hamlet. Im Gegensatz dazu wird zunächst dissimuliert, dass die DC als Prätext zu Grunde liegt. Die allmähliche Aufdeckung dieses Sachverhalts erweist sich schließlich als entscheidendes Erkenntnismoment. Die Simulation ist eine Täuschung (engaño), weil sie vortäuscht, was nicht ist (so-tun-als-ob). Hingegen ist die Dissimulation eine Täuschung, weil sie zu verbergen sucht, was ist (so-tun-als-ob-nicht). 6 Die Dissimulation der DC in LdB aufzudecken, wirkt für den Rezipienten als Enttäuschung (desengaño), welche eine ernüchternde Erkenntnis als Effekt mit sich bringen kann. LdB als Gegendiskurs von DC zielt auf das enttäuschende Moment der Selbsterkenntnis, das in der kulturellen Geschichte Spaniens in intermittierenden 4 Die komplizierten Vernetzungen und Querverweise, durch die Valle-Inclán die literarischen Vorlagen inhaltlich und formal punktuell nachahmt und in Verbindung bringt, machen eine klare typologische Differenzierung in satirische (Parodie) bzw. nicht satirische (pastiche) Funktion (wie in Genette, Gérard, Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982, S. 34) unmöglich. 5 Bachtin, Michail, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 1971, S. 215, dazu Rose, Margaret A., Parody: Ancient, Modern, and Post-Modern, Cambridge 1993, S. 126. 6 Die zwei Begriffe werden in der antiken Rhetorik zur Unterteilung des Tropos der Ironie verwendet, bei dem „das gesetzte Wort […] in einer Gegenteil-Beziehung zum ersetzten“ steht, vgl. Buttkewitz, Uta, Das Problem der Simulation am Beispiel der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull und der Tagebücher Thomas Manns, Berlin 2002, S. 23. Der Vergleich dieser Aussage mit dem oben zitierten Text Bachtins hebt die Parallelen der zwei Methoden (Parodie und Ironie) hervor, die entscheidende Botschaft in einer Weise zu vermitteln, die den heuristischen Verstand und das Kulturwissen des Rezipienten einbezieht. Der Abstieg von Max Estrella in die Hölle der Madrider Nacht 103 Abständen immer wieder zum Ausdruck kommt (desengaño, desastre, desencanto). II. Das Drama Luces de Bohemia erschien 1920 in 12 Szenen in Fortsetzung in der Zeitschrift España, 1924 als Buch mit drei zusätzlichen Szenen, der 2., 7. und 11. 7 Der Autor gab seinem Werk den Untertitel Esperpento, der die beabsichtigte Deutung des Stückes als Groteske von Anbeginn erkennen lässt. Die Stationenstruktur lässt sich aus den 15 Szenen leicht erschließen. Die erste Szene bzw. Station spielt in der Mansarde, in der Max Estrella mit seiner Frau Colett und der gemeinsamen Tochter Claudinita lebt. Die zweite Station ist die Buchhandlung Zaratustras; dort wird der blinde Max von seinem Freund Latino de Hispalis und dem Buchhändler um Geld betrogen. Dritte Station ist die Kneipe von Pica Lagartos 8 , in der Max und Don Latino zu zechen anfangen, die vierte spielt vor der Buñolería Modernista und endet mit der Verhaftung von Max, die fünfte im Ministerio de la Gobernación. Von hier aus wird Max in den Kerker geschickt, in dem er (sechste Station) einen katalanischen Arbeiter kennen lernt, der wegen seines Anarchismus inhaftiert ist und der am Ende der Szene vermutlich zum Tode durch Erschießen abgeführt wird. Die siebte Station spielt in der Redaktion der Zeitung El Popular und ist die einzige Szene, in der Max nicht anwesend ist. Darauf folgt die achte Station, bei der Max mit dem Innenminister, einem ehemaligen Freund, über seine miserable Lage spricht. Die neunte Station spielt in einem Kaffeehaus, wo Max und Don Latino den Dichter Rubén Darío treffen; die zehnte auf einer Gartenpromenade; die elfte auf der Straße, wo Max und Don Latino einer armen Frau mit ihrem infolge der Schießereien zwischen Polizisten und Aufständischen getöteten Kind in den Armen begegnen. In der zwölften Station stirbt Max Estrella vor der eigenen Türschwelle, nachdem Don Latino ihm sein Portemonnaie weggenommen hat, das einen gewinnsicheren Lottoschein enthält, und ihn verlässt. Die drei letzen Stationen sind die Totenwache bei Max, bei der Soulinake, ein Freund des Verstorbenen, die Witwe vom Scheintod des Dichters zu überzeugen versucht (Sz. 13); die Beerdigung (Sz. 14), und noch ein Besuch des jetzt reich gewordenen Don Latino in der Kneipe von Pica Lagartos, der zweiten Etappe des nächtlichen Weges (Sz. 15). Durch die Morgen- 7 Die von mir verwendete Ausgabe ist Ramón del Valle-Inclán, Luces de Bohemia, edición Alonso Zamora Vicente; apéndice y glosario Joaquín del Valle-Inclán, Madrid 45 2002, der die letzte korrigierte Fassung des Autors zugrunde liegt. 8 Den Spitznamen Pica Lagartos übersetzt Fritz Vogelgsang mit Eidechsenpieker, von „picar“ = stechen, anpicken und „lagarto“ = Eidechse, in übertragenem Sinne soviel wie ‚Gauner’. Bis auf eine Ausnahme (Anmerkung 16) stammen alle folgenden Übersetzungen aus Ramón del Valle-Inclán, Wunderworte. Glanz der Bohème. Aus dem Spanischen übersetzt von Fritz Vogelgsang, Stuttgart 1983, im Folgenden abgekürzt mit GdB. Irene M. Weiss 104 zeitung erfahren dort die Anwesenden, dass Frau und Tochter des Dichters vermutlich Selbstmord begangen haben. III. Die Stationen des Leidens von Max Estrella, die durch seine Blindheit bedingte Hilflosigkeit, die Erniedrigung, die er unter Soldaten, die als „römische Soldaten“ bezeichnet werden, 9 unter Wächtern, Polizisten und Büroangestellten erleben muss, 10 die Begegnung mit dem katalanischen Arbeiter Mateo, 11 den er „tauft“ (Arbeiter: „Me llamo Mateo“, Max: Yo te bautizo Saúl“, Sz. 6, 103, „Ich heiße Mateo“, „Ich taufe dich auf den Namen Saulus“, 264), das letzte gemeinsame Mahl, der anschließende Verrat des selbsternannten Freundes, schließlich der Tod, dem er sich elend und verlassen ergibt, und die von Soulinake bei der Totenwache ausgesprochene Vermutung, dass er noch lebt, scheinen einer ins 20. Jh. eingebetteten Via crucis Ausdruck zu geben. Wenn ferner in der 11. Sz. das Klima als frühlingshaft bezeichnet wird, lässt sich dies auch als Anspielung auf die Passions- und Osterzeit verstehen. Diese Auslegung, die den Archetypus des leidenden Christus in einem außergewöhnlich begnadeten und armen Künstler aktualisiert sieht, ist eine geläufige Interpretation von LdB. 12 Eine solch ernsthafte Auslegung des Stücks wird jedoch gleichzeitig durch den Rückgriff auf die unmittelbar referentielle Welt des Madrider Lebens untergraben. Manche Zeitgenossen und Freunde des Autors erscheinen unter ihrem wirklichen Namen, wie beispielsweise Rubén Darío oder der weit weniger bekannte Epigone Dorio de Gádex, andere sind aufgrund ihrer Beschreibung oder ihres Verhaltens als im Madrid der Jahrhundertwende öffentlich bekannte Personen zu erkennen, wie Zaratustra, unter dessen Namen sich ein im Bohèmemilieu bekannter Buchhändler und Verleger verbirgt, Don Peregrino Gay, einige Dichter der Modernistenschar, der Minister oder Soulinake. 13 In Máximo Estrella selbst spiegelt sich ein Freund von Valle-Inclán wider, der blinde Dichter Alejandro Sawa, ein begnadeter und in der Bohèmeszene der Madrider Jahrhundertwende bestens bekannter 9 So in der Bühnenanweisung der 4. Szene. 10 Vgl. „¿No me veo vejado, vilipendiado, encarcelado, cacheado, interrogado? “ (LdB, S. 92), siehe weiter LdB, S. 121, S. 123-124; S. 141, „acuérdate de esta cena“. 11 Die Assoziation mit dem im spanischen Kulturbereich klischeehaften „buen ladrón“ (Lukas 23, 39-43) liegt nahe und ist sicher gesucht. 12 Neuschäfer, Hans-Jörg, Spanische Literaturgeschichte, Stuttgart 2006 3 , S. 330; March, María Eugenia, Forma e idea de los Esperpentos de Valle-Inclán, North Carolina 1969, S. 81, n. 9. Eine ausführliche Analyse der Rezeption des christlichen Urmythos in Luces de Bohemia unternimmt Smith, Alan E., „Luces de Bohemia y la figura de Cristo: Valle-Inclán, Nietzsche y los románticos alemanes“, in: Hispanic Review 57 (1989), S. 57-71. 13 Weitere Entsprechungen der Figuren mit Zeitgenossen des Autors in Zamora Vicente, Alonso, La realidad esperpéntica. Aproximación a Luces de Bohemia, Madrid 1974 2 , S. 88- 137. Der zuletzt genannte Soulinake ist übrigens unter diesem Namen auch in La lámpara maravillosa zu finden, einem früheren Werk von Valle-Inclán. Der Abstieg von Max Estrella in die Hölle der Madrider Nacht 105 Schriftsteller, der unter vergleichbaren Umständen von Armut und Verwahrlosung gestorben ist. Darüber hinaus enthält das Stück einerseits durch die Sprache, durch manche literarische und extra-literarische Zitate sowie durch das Personal eine Fülle parodistischer Verweise auf die durch das oben erwähnte género chico so oft kritisierte politische Klasse; andererseits spiegelt sich in den Gesprächen und Auseinandersetzungen zur spanischen Kultur und Politik, bei denen besonders Max Estrella defätistische Ansichten vertritt, die Stammtisch-Kultur der tertulia im Spanien des 19. und zu Anfang des 20. Jhs. Die Parodie der Via crucis findet hier offensichtliche Grenzen, aber indem diese Interpretation auf eine von der Hauptperson unternommene Reise in die Finsternis des Totenreiches deutet, gibt sie wiederum einen ersten Hinweis auf die Inferno-Auslegung. IV. In dem linearen Diskurs von LdB kommt die Hölle als Bild auf mehreren rhetorischen Ebenen zum Vorschein; Dantes Inferno als parodierter Prätext ist aber erst bei einer zweiten Lektüre zu entdecken. Auf der rein idiomatischen Ebene finden sich zum einen Ausdrücke, die oft in der Umgangssprache verwendet werden, wie „Que se vaya al infierno“ („sie soll zur Hölle fahren“), „Vete al infierno“ („mach, dass Du zum Teufel kommst“), 14 die aber im dramatischen Kontext eine differenziertere Bedeutung bekommen. Dazu treten viele Stellen, in denen die Hölle in Beziehung zur spanischen Kultur gesetzt wird bzw. zur Beschreibung oder Bezeichnung der spanischen Verhältnisse dient. Diese sind zumeist in von Max Estrella selbst formulierten Urteilen zu finden. So spricht Max schon in der 2. Sz., als er und sein Begleiter in der Buchhandlung von Zaratustra sind, folgende, in ihrem impressionistischen Stil vernichtende Darstellung der spanischen Kultur aus: La miseria del pueblo español, la gran miseria moral, está en su chabacana sensibilidad ante los enigmas de la vida y de la muerte. La Vida, es un magro puchero: La Muerte, una carantoña ensabanada que enseña los dientes: El Infierno, un calderón de aceite albando donde los pecadores se achicharran como boquerones: El Cielo, una kermés sin obscenidades adonde, con permiso del párroco, pueden asistir las hijas de María. (LdB, S. 56) Das Elend des spanischen Volkes, sein großes moralisches Elend, beruht auf seinem abgeschmackten Stumpfsinn gegenüber den Rätseln des Lebens und des Todes. Das Leben ist ihm ein kärglicher Eintopf; der Tod ein in Leintücher eingewickeltes Scheusal, das mit den Zähnen fletscht; die Hölle ein Riesenkessel voll brodelnden Öls, in dem die Sünder gesotten werden wie Sardellen; der Himmel 14 LdB, S. 61, GdB, 229, bzw. LdB, S. 75, GdB, 242. Ferner LdB, S. 125: „una santa del cielo, que escribe el español con una ortografía del Infierno“ („ein gütiges Himmelswesen, dessen spanische Orthographie ein wahrer Höllensud ist“, GdB, S. 288). Irene M. Weiss 106 eine keimfreie Kirmes, ohne alle Unanständigkeiten, an der, mit Genehmigung des Herrn Pfarrers, die Marientöchter teilnehmen dürfen. (GdB, S. 224) Leben und Tod, Himmel und Hölle werden hier von Max drastisch der platten Geschmacklosigkeit spanischer Sensibilität und Empfindung nachgebildet, und seine Worte lassen bereits die geistige Banalität erahnen, durch die er seinen nächtlichen Weg gehen wird. Gleichzeitig knüpft die Plastizität der von ihm erzeugten Bilder, durch welche die Sünder gepeinigt werden, an mittelalterliche Vorstellungen der Hölle an. In Sz. 9, in der der blinde Dichter auf Rubén Darío trifft, wechselt er von dem kritischen Ton zu einem spielerisch-ironischen, indem er seinen Nicht- Glauben an das Jenseits betont, gleichzeitig aber die bildhafte Vorstellung der Hölle aufnimmt. Max redet schon mit großer Sicherheit über den ihm bevorstehenden Tod und bietet Dienste in Jenseits an, „para la otra ribera de la Estigia“ (LdB, S. 134, [ich werde die Botschaft] ans andere Ufer des Styx [überbringen], GdB, S. 297). Später fragt er Rubén: ([tú crees] „en las llamas del Infierno? “, LdB, S. 139 („ [glaubst Du] an die Flammen der Hölle? “, GdB, S. 301). Auf einer anderen Ebene sind Symbole und Metaphern wie der Kreis und das Labyrinth zu finden, die das Inferno in mehreren Momenten des Dramas andeuten. 15 Die Kreise, círculos, sind schon im Kontext mehrdeutig markiert. So gewinnt der Kreis als Bild in der Sz. 7 eine sowohl beschreibende als auch parodistisch-mystische Funktion. Die Bühnenanweisung beschreibt die Mitte des Redaktionsraums durch einen „grünlichen Lichtkreis“ (GdB, S. 269, „el círculo luminoso y verdoso de una lámpara“, LdB, S. 105), das grünliche Teufelserscheinungen evoziert. 16 Später wird der Kreis von dem Journalisten Don Filiberto als theosophisches Symbol gebraucht: El periodismo es travesura, lo mismo que la política. Son el mismo círculo en diferentes espacios. Teosóficamente podría explicárselo a ustedes, si estuviesen ustedes iniciados en la noble Doctrina del Karma. (LdB, S. 109) Der Journalismus ist Schabernack, genau wie die Politik. Sie sind ein und derselbe Kreis auf verschiedenen Ebenen. Ich könnte Ihnen das theosophisch erklären, wenn Sie eingeweiht wären in die erhabene Lehre vom Karma. (GdB, S. 273) Der Kreis bekommt im Laufe der Szenen eine eigene Dynamik, die in die Sz. 11 mündet, in der das Inferno von einer anderen Figur als von Max in das Szenario einbezogen wird. Max und Don Latino stoßen auf ein erschüttern- 15 Max gibt dem Sekretär des Ministers seine Adresse und fügt eine Fußnote hinzu (LdB, S. 127): „Nota. Si en este laberinto hiciese falta un hilo para guiarse, no se le pida a la portera, porque muerde” („Fußnote: Falls in diesem Labyrinth ein Orientierungsfaden benötigt wird, sollte er nicht bei der Pförtnerin erbeten werden. Dieselbe beißt“ (GdB, S. 290). Das Bild des Inferno wird durch das hundeartige Verhalten der Pförtnerin (Cerberus) bekräftigt. 16 Auch in der Sz. 15 ist die Mitte des Raums durch einen Lichtkreis gekennzeichnet, vgl. LdB, S. 203. Der Abstieg von Max Estrella in die Hölle der Madrider Nacht 107 des Bild: Eine Mutter mit dem von Polizisten erschossenen Kind in den Armen, die schreit: „El fuego del Infierno os abrace las negras entrañas“ (LdB, S. 153, „Das Höllenfeuer soll eure schwarzen Eingeweide rösten“). 17 Max erkennt, dass dieser Ausdruck keine Floskel ist, und dass dieses Straßenbild einer Tragik entspricht, die der Bohème-artigen Leichtigkeit mancher vorangegangen Szenen gegenüberzustellen ist. Die für Max „von tragischem Zorn“ gekennzeichnete Stimme der leidenden Frau ist für ihn der Anlass, das Höllenbild aufzugreifen und eine weitere Invektive gegen Spanien einzuleiten: Zuerst bittet er Don Latino, er solle ihn aus dem Höllenkreis herausbringen („Latino, sácame de este círculo infernal“ LdB, S. 157, „Latino, bring mich weg aus diesem Höllenkreis“, GdB, S. 318). Kurz darauf, nachdem er die Erschießung des katalanischen Arbeiters zu erkennen meint, erklärt er das Leben in Spanien als einen „dantesken Höllenkreis“ („La Leyenda Negra en estos días menguados es la Historia de España. Nuestra vida es un círculo dantesco. Rabia y vergüenza“ LdB, S. 158, „Die schwarze Legende ist in diesen erbärmlichen Tagen die nackte Geschichte Spaniens. Unser Leben ist ein dantesker Höllenkreislauf. Wut und Scham”, GdB, S. 319). 18 In Sz. 11 führt also der Ernst der referierten Welt (Mutter mit totem Kind und Erschießung des Arbeiters) zur Aufdeckung des parodierten Textes. Die Ereignisse, die durch ihre Tragik die Grenze des Grotesken überschreiten, rufen in Max die danteske Hölle hervor, aber nicht als Ort im Jenseits, sondern als Ort mitten im Leben. Die bis dahin bestehende dissimulatio des Prätextes wird somit aufgehoben, die Stimme von LdB zeigt sich allerdings in Dissonanz mit der der DC. V. Die Parodie der DC in LdB beschränkt sich nicht auf die Andeutungen auf der Ebene von Sprache und Inhalt. Auch die Erzählstruktur sowie Grundthemen und -motive lassen den systematischen Umgang mit der Vorlage erkennen. Dies wurde in zwei Beiträgen zum Thema bereits festgestellt. Vor fast 40 Jahren versuchte Leda Schiavo in einem kurzen Artikel, sich konsequenter als ihre Vorläufer den Anspielungen auf die Struktur von Dantes Inferno in LdB zu nähern. 19 Sie scheint die erste zu sein, die in dem Dichter Max Estrella und seinem Begleiter, Don Latino, eine Parodie von 17 Vogelgsang übersetzt mit dem nicht zufrieden stellenden „fressen“, vgl. GdB, S. 315. 18 March, Forma e idea, S. 85ff., deutet das Bild des Kreises in LdB mit der Erklärung, die Valle-Inclán selbst vom Kreis in La lámpara maravillosa, Madrid 1960, S. 566, als Symbol der satanischen Zeit gibt: „Los círculos dantescos son la más trágica representación de la soberbia estéril” („Die danteske Kreisen sind die höchst tragische Vorstellung des sterilen Hochmuts“). 19 Schiavo, Leda, „La parodia de Dante en Luces de Bohemia“, in: Filologia 14 (1970), S. 181-184. Schon vorher hatte March, Forma e idea, S. 85, in der oben zitierten Stelle den Abstieg in die Hölle kurz angesprochen. Irene M. Weiss 108 Dante und Vergil sieht und in den aufeinander folgenden Räumen des Dramas eine Entsprechung der Höllenkreise erkennt. Leider entsteht oft der Eindruck, dass sie Dantes Text verfehlt. So findet sie in Zaratustras Buchhandlung einen ersten Kreis, der die Ausbeutung des Nächsten widerspiegelt, der in der DC jedoch nicht zu finden ist. Ebenso fehlt bei Dante eine Entsprechung zum vermeintlichen Kreis der „gente de taberna y vicio“ („Leute der Kneipe und des Lasters“), den Schiavo in Sz. 3 erkennen will. Die darauf folgende Aufzählung nennt die jeweiligen Laster, die jede Station von LdB darstellt, versucht aber nicht, die Entsprechungen zum Inferno zu erarbeiten. 1993 vertiefte Enrique Torner den von Schiavo schematisch durchgeführten Vergleich und führte ihn weiter. 20 Da einige seiner Deutungen manche meiner eigenen untermauern, fasse ich sie kurz zusammen. Torner arbeitet heraus, dass Max und Don Latino auf ihrem Weg durch Madrid neun Orte streifen, und dass die Ereignisse, die sich hier abspielen, eine Parodie der moralischen Bedeutung (moral meaning) der neun Kreise von Dantes Inferno sind. Er sieht sogar in dem correspondent moral symbolism zum Inferno die Strukturbasis von LdB. 21 Torner arbeitet in beiden Texten zwei Aspekte heraus: erstens, eine allgemeine Einstellung, die Florenz bzw. Madrid als Zentrum und Projektion eines universellen Dramas darstellt; 22 zweitens eine genaue Entsprechung von Szenen und Höllenkreisen, bei denen er sogar manche vermeintliche Unregelmäßigkeiten zufriedenstellend erklären kann. Da der Protagonist in der 12. Sz. stirbt, verzichtet Torner auf Vergleiche für die drei letzten Szenen, die er als Epilog deutet. Hier sein Schema der Entsprechungen: 23 Höllenkreise Szene Inferno Luces de Bohemia 1 1 Der Tugendhafte Nicht verzerrte Figuren 2 2 Wollust Physische und kulturelle Lust in Zaratustra und Don Latino 3 3 Gefräßigkeit Kneipe 4 4 Geiz und Verschwendung Lotterielos 5 5, 6, 8 (Styx) Mangel an Selbstbeherrschung, Wut Max im Kerker: Wut und Satire gegen die Institutionen 20 Torner, Enrique, „Valle-Incláns ‚Luces de Bohemia’ as a parody of Dantes ‚Inferno’”, in: Hispanófila, 1993, S. 33-47. 21 Torner, Hispanófila, S. 34. 22 Torner, Hispanófila, S. 37. 23 Nach Torner, Hispanófila, S. 38-39. Der Abstieg von Max Estrella in die Hölle der Madrider Nacht 109 6 9 Häretiker Rubén, Max und Latino machen die Religion lächerlich und parodieren die Massenrituale 7 10 Gewalttätigkeit Abend mit den Prostituierten 8 11 Betrug Regierungsbetrug löst den Volksstreik aus, die Polizei schießt auf die Aufständischen 9 12 Verräter und Luzifer, Gefrorener See Latino lässt Max in der Kälte sterben Auch wenn das Schema für sich spricht, möchte ich zu einer Stelle Torners Überlegungen referieren. Die Entsprechung des 5. Höllenkreises zu den Sz. 5, 6 und 8 stellt für ihn eine Unregelmäßigkeit dar, denn die Zuordnung geht nicht eins zu eins auf. Die Entsprechungen seien aber hier am deutlichsten, 24 denn die Wut und Maßlosigkeit, die in Dantes Styx die Figuren aufweisen, wird in LdB im Gefängnis sowie in der vorangehenden und der folgenden Szene gezeigt. Bei diesem scheinbar sehr genauen Vergleich der zwei Werke zeigen sich aber manche Unstimmigkeiten, die auf eine zu schematische Gegenüberstellung weisen. Nicht immer leuchtet die genaue Entsprechung der Orte in Torners Analyse ein. So finden nach seinem Schema z.B. in der 1. Sz. die Tugendhaften ihren Platz, dabei wird aber der für die Dramaturgie von LdB entscheidende Auftritt des lasterhaften Don Latino unterschlagen. Dass die Kneipe der 3. Sz., in der offensichtlich menschliche Habsucht zum Ausdruck kommt, der Gefräßigkeit entsprechen soll, oder dass der Spaziergang mit den Prostituierten, der eher durch eine verführerische als durch eine gewalttätige Handlung geprägt ist, die Gewalttätigkeit und nicht die Wollust darstellen soll, sehe ich als willkürlich behauptete Korrespondenz der jeweiligen Abschnitte. 25 Aufschlussreich ist zweifellos die Identifikation der 12. Sz., die mit dem Tod von Max Estrella endet, als Entsprechung zum letzen Kreis des Inferno. Sie bietet sicherlich einen klaren Anhaltspunkt und ist als Schlüsselszene der DC-Rezeption in LdB zu betrachten. VI. Die Szene 12 vervollständigt schließlich die von Max in der vorangegangenen Szene suggestiv formulierte Andeutung auf das Inferno. In der Todesszene des Max Estrella wird der letzte Kreis des Inferno, in dem die Verräter 24 Torner, Hispanófila, S. 42. 25 Es ist außerdem nicht klar, warum der Kreis der Häretiker mit der Szene im Café Colón und nicht mit der Verteidigung der Protestanten in Sz. 2 in Verbindung gebracht wird. Irene M. Weiss 110 durch eine unerträgliche Kälte gestraft werden, mit dem verzerrten Bild vom Tod des blinden Dichters wiedergegeben, das durch die Kälte und den Verrat von Don Latino bestimmt ist. Nicht den Verräter trifft in LdB die Strafe, sondern sein Opfer. Der Täter hingegen wird, im Unterschied zur DC, belohnt, wodurch der Unschuldige eine doppelte Pein erleiden muss. Um diese Art von parodistischer Entstellung des Prätextes in LdB zu verfolgen und nachzuvollziehen, sind drei grundlegende Punkte hervorzuheben: 1. LdB setzt meistens auf eine proteische Rezeption 26 und Bearbeitung der literarischen Vorbilder, wie wir schon am Anfang teilweise vorweggenommen haben. Deshalb ist es irreführend, eine genaue Entsprechung der Stationen finden zu wollen. 2. Valle-Incláns Art der Rezeption spielt systematisch mit der Entstellung von Figuren, Orten, Bildern und Sprache des rezipierten Textes; genaue Entsprechungen sind also auch in dieser Hinsicht gar nicht zu erwarten. 3. Diese parodistische Verzerrung entspricht der in der 12. Sz. angekündigten neuen Ästhetik, die Valle-Inclán mit diesem Drama ins Leben ruft. Im folgenden sollen diese drei Ansätze näher erläutert werden. Zu 1.: Ohne Zweifel ist die Zahl der neun Orte ein sicherer Hinweis auf die neun Kreise im Inferno. Dasselbe gilt auch für den durchwanderten Weg, der oft an Plätze führt, die als Höhlen, Grotten oder Kerker beschrieben sind. Die Laster jedoch, welche die Personen in LdB charakterisieren, scheinen nicht so präzise differenziert zu sein wie im Inferno. Für die m. E. aufschlussreichere allgemeine Typologisierung des Bösen in den Menschen, die in LdB auftreten, 27 scheint eher die Stelle in Inferno 11, 22-27 weiter zu führen. Bevor Dante und sein Begleiter in die drei letzten Kreise eintreten, wo die Bosheit (malizia) bestraft wird, erklärt Vergil, welche Art von Menschen dort zu finden ist: Gewalttäter und Betrüger; unter den 26 Ich übernehme den Ausdruck von Reynolds, Mary, Joyce und Dante. The Shaping Imagination, Princeton 1981, S.13, die die Rezeption von Dante in James Joyce auf diese Art und Weise bezeichnet. 27 Nur einige Beispiele: Zaratustra bezeichnet Max in der Szene 2 mit „ladrón“ („Dieb“), „bandido“ („Beutelschneider“), „majadero“ („alberner Schwätzer“), Don Latino bezeichnet la Pisa-Bien als „golfa“ („Straßendirne“), in unterschiedlichen Szenen sagt dazu Max: „Idos todos al diablo“ (LdB, S. 44, „Schert Euch alle zum Teufel! “, GdB, S. 212), „que se vaya al infierno“ (LdB, S. 61, „sie soll zur Hölle fahren“, S. 229 ), „vete al infierno“ (LdB, S. 75, „mach, dass du zum Teufel kommst“, S. 242). Überhaupt ist die Metaphorik der Sprache von Max oft wortwörtlich zu verstehen, etwa wenn er in der 1. Szene „¡Estoy muerto! “ sagt (LdB, S. 43, „Ich bin tot! “, S. 211), oder in der 3. Szene „Mañana me muero y mi mujer y mi hija se quedan haciendo cruces en la boca” (LdB, S. 64, „Morgen sterbe ich, und meine Frau und meine Tochter haben nichts zum Nagen und nichts zum Beißen“, S. 233) etc. Über die scherzhafte Wirkung, eine Metapher buchstäblich zu nehmen, vgl. Rose, Margaret A., Parodie, Intertextualität und Interbildlichkeit, Bielefeld 2006, S. 9. Der Abstieg von Max Estrella in die Hölle der Madrider Nacht 111 letzteren, aber noch einen Kreis tiefer, sind die Verräter, deren Trug Menschen trifft, mit denen sie ein besonderes Vertrauensverhältnis verbindet: D’ogni malizia, ch’odio in cielo acquista, ingiuria è il fine: e ogni fin cotale o con forza o con frode altrui contrista. Ma, perché frode è dell’ uom proprio male, più spiace a Dio: e però stan di sotto li frodolenti e più dolor li assale. (Inferno, 11, 22-27) Jede schlechtigkeit, die sich den haß des himmels erwirbt, hat ein unrecht zum ziel, und jedes solche ziel fügt anderen menschen schmerzen zu, entweder mit gewalt oder mit betrug. Aber weil betrug ein nur dem menschen eigenes übel ist, missfällt er Gott mehr, und darum stehen die betrüger unterhalb, und heftiger schmerz greift sie an. 28 Diese Aufteilung der malizia (Bosheit) in forza (Gewalt) und frode (Betrug) ist für LdB maßgebend, denn auf der einen Seite ist der Betrug ein Leitmotiv der heftigen Kritik, die Max vornehmlich in den Sz. 2, 6 und 12 an Spanien und der Kirche übt. Auf der anderen Seite sind Gewalt und Betrug konkret in den Menschen vorzufinden, denen Max auf seiner nächtlichen Wanderung begegnet. Zaratustra, der sich mit Don Latino verständigt, um Max zu betrügen; die Pisa-Bien, die Max mit dem Los täuscht; Dorio de Gádex und die Gruppe der Modernisten, die sich dem Leben der Bohème hingeben und die Produktion von Versen nur als Spaß verstehen (Sz. 4); der Minister, der eher Dichter hätte sein wollen, und der Journalist, der seine eigene Definition des Journalisten als „plumífero parlamentario“ („parlamentarisches Federvieh“, S. 273) kundtut; sogar Rubén Darío, der auf pathetische Weise seinen Glauben gegenüber Max behauptet (S. 138-139): Sie alle sind Figuren des Betrugs. Der Fall von Don Latino, Begleiter und vermeintlicher Freund von Max, ist bei weitem der beeindruckendste, denn sein Betrug reicht bis zum Verrat. Gewalttätige Menschen sind auf der anderen Seite diejenigen, die die Straßendemonstrationen und den Streik auflösen wollen: die Polizisten und weiteren Staatsbediensteten, die auf der Straße die Unruhen mit Gewalt unterdrücken; der Polizist, der den katalanischen Anarchisten erschießt, und der unbekannte Täter, der das kleine Kind ermordet. Ihnen allen stehen die wahrhaftigen Personen gegenüber: Max und seine Familie, der katalanische anarchistische Arbeiter, die Mutter mit dem erschossenen Kind. Auch in der Bedeutung, die in LdB den zwei Gruppen von Betrügern und Gewalttätigen zukommt, ist die Entstellung des vorangegangen Dante-Zitates festzustellen. Die Gewalttäter, die sich im Inferno im ersten der drei Kreise befinden, weil der menschentypische Betrug Gott noch verhasster ist, werden umgekehrt in LdB von Max am meisten verachtet. Auch hier ist die 28 Aus: Dante Alighieri, Die Divina Commedia. In deutsche Prosa übersetzt und erläutert von Georg Peter Landmann, Würzburg 1998 2 . Irene M. Weiss 112 Gegenstimme der Parodie zu hören: Im Zweifelsfall gilt seine Empathie eher den Betrügern, weil sie menschlicher als die Gewalttätigen zu sein scheinen. Ferner ist der bekannte numerologische Aspekt in beiden Werken als kontrastierend zu deuten. 29 Beide basieren auf der Zahl 3, aber während Dante bekanntlich die 3 als Symbol der Trinität deutet (1 Einleitung + 3 x 33 Gesänge in jedem der drei Abschnitte = 100 Gesänge, 10 -symbolische Zahl der Vollkommenheit - mal 10), baut die erste in nur zwölf Szenen gegliederte Version von LdB auf die Multiplikation von 3 x 4. Die 4 verweist auf eine irdische Teilung des Kosmos in die vier Elemente (Welt der Materie). Die definitive Fassung jedoch, mit fünfzehn Szenen, baut auf 3 x 5. Fünf fügt zur Vier der ersten Fassung das fünfte Element, das nicht zur Materie gehört, den Geist, nicht aber Gottes, sondern des Menschen. Dafür spricht auch die Fünf als Entsprechung des körperlichen-sinnlichen Wesens und des kurz vor dem Tode fünf Mal „menschlich“ verwundeten Christus. 30 Indem sie Jenseits und Diesseits, Gott und Mensch entgegensetzen, bekräftigen die Zahlen den parodistischen Gegendiskurs von LdB. Zu 2.: Der blinde Dichter Max verkörpert das Gegenteil des durch Schauen und Zusehen charakterisierten Dante; dazu ist Max derjenige, der von Don Latino und anderen „maestro“ genannt wird, und nicht der den Blinden nur führende Don Latino, der wiederum ausdrücklich kein Dichter ist. 31 Sogar der Rang des großen und wahren Dichters wird Max Estrella faktisch aberkannt, stattdessen sind es Rubén Darío und die mit ihm als hohle Figuren dargestellte Schar der Modernisten, die diese Ehre genießen. Darüber hinaus trägt das Paar Max Estrella und Don Latino sprechende Namen, die auf die DC in anderer Weise hinweisen, als die üblichen Interpretationen annehmen: Máximo Estrella, „Höchster Stern“, ist, genau wie die Lichter des Titels Luces de Bohemia, ein symbolischer Hinweis auf seine Helligkeit, metaphorisch: seine Verstandesschärfe, denn der blinde Dichter sieht, im Unterschied zu Dante, auch ohne erklärenden Begleiter die Wirklichkeit so, wie sie ist. 32 29 Auf das wohlbekannte Interesse Valle-Incláns für Esoterik und Okkultismus ist an diesem Ort nicht noch einmal einzugehen. Vgl. Speratti Piñeiro, El ocultismo, S. 3-5 und Torner, Hispanófila, S. 44f. Vgl. ferner Endres, Franz Carl/ Schimmel, Annemarie, Das Mysterium der Zahl. Zahlensymbolik im Kulturvergleich, Köln 1986, S. 55ff., für die Bedeutung einzelner Zahlen im Abendland. Das einschlägige Werk zur Bedeutung der Zahlen in der DC ist bis heute Hardt, Manfred, Die Zahl in der Divina Commedia, Frankfurt 1973, im vorliegenden Zusammenhang besonders Kap. III. 30 Vgl. Meyer, Heinz/ Suntrup, Rudolf, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, München 1987, S. 403. Dazu ist die Fünf auch die Zahl der Unvollkommenheit (=Mensch), die „in der Zahlenreihe unter der vollkommenen Sechs“ kommt (ibidem). 31 Vgl. Sz. 9, in der Don Latino sagt: „Servidor no es un poeta. Yo me gano la vida con más trabajo que haciendo versos” (LdB, S. 137). 32 Max Estrella sagt zu dem Minister (Sz. 8., LdB, S. 125): „Si hubiera pan en mi casa, maldito si me apenaba la ceguera. El ciego se entera mejor de las cosas del mundo, los ojos son unos ilusionados embusteros“ („Wäre Brot im Haus, dann - bei Gott! - würde mich die Blindheit nicht bekümmern. Der Blinde gewahrt die Welt weit besser; die Der Abstieg von Max Estrella in die Hölle der Madrider Nacht 113 In einer Welt, in der das allgemeine Verhalten darin besteht, die Augen zu schließen, ähnelt Max’ Blindheit derjenigen der antiken Dichter und Wahrsager. Auf den Bezug zwischen Estrella, Max und dem Titel Luces de Bohemia scheint auch die Wiederholung des Wortes „luces“ als Kernbezeichnung für Max im Munde des katalanischen Arbeiters in Sz. 6 abzuzielen: „Tiene usted luces que no todos tienen“ („Sie sehen die Dinge klar; klarer als die meisten Leute“, GdB, S. 262) und später: „Parece usted hombre de luces“ („Sie sind offenbar ein gebildeter Mann“, GdB, S. 263). In „Estrella“, das zu den als letztes Wort und Bild in jedem einzelnen der drei Teile der DC erscheinenden Sternen (stelle) passt, ist ein weiterer Bezug zur DC zu finden. Don Latino de Hispalis seinerseits ahmt wohl durch seinen Namen und die Funktion als Begleiter Dantes Vergil parodistisch nach, 33 der Name „Latino“ kann aber auch als Verweis auf Brunetto Latini betrachtet werden, den vom richtigen Weg abgekommenen und gleichwohl geliebten Lehrer Dantes (Inferno XV, 23-124). Der Betrüger Don Latino, der sich als in die Gnosis und die Magie Eingeweihter vorstellt, wäre sein Gegenbild. Ferner sind zwei Visionen, die Max in der 1. und der 12. Sz. erlebt, auch als Kontrast zum Inferno anzusehen. Torner sieht eine Gegensatzbildung zur DC in der Tatsache, dass in LdB die erste Vision (Sz. 1) in einem Traum stattfindet. 34 Tatsächlich aber kommt in LdB der Traum nach der Vision, die von Max in voller Wachheit erlebt wird. In beiden Visionen sieht und erlebt der Blinde glückliche Momente wieder, die seinen früheren Aufenthalt in Paris vergegenwärtigen. In der ersten sieht er den Palacio de la Moncloa, „el único rincón francés en este páramo madrileño” (LdB, S. 42, „der einzige französische Fleck in dieser Madrider Ödnis“, GdB 210), und als seine Frau fragt, was er genau sieht, antwortet er „die Welt“ (LdB, S. 43). Diese Weltvision, die aus Max Pariser Erlebnis entsteht, konterkariert in einem irdischen Bild die universale Jenseitsschau Dantes. In der zweiten Vision (Sz. 12) sieht Max eine Beerdigung, die er als die Apotheose von Victor Hugo deutet („¡Esa apoteosis es de París! ¡Estamos en el entierro de Víctor Hugo! “, LdB, S. 166, „Diese Apotheose - das ist Paris. Wir sind beim Begräbnis von Victor Hugo! ”, GdB, S. 327). Beide Visionen gehören zu dem ästhetischen bzw. literarischen Höhepunkt im Leben des Dichters Alejandro Sawa: Paris und die Bekanntschaft mit Victor Hugo. Der französische Romantiker war für ihn der wahre Wegweiser seines Lebens; somit nimmt er im Leben des Dichters die Stellung der Beatrice in Dantes Leben ein. Die Visionen weisen auf das wahre Leben und den wahren Künstler, die als Kontrast zu der höl- Augen sind betrogene Betrüger.”, GdB, S. 288). 33 Vgl.: „Don Latino […], dessen Name ein Hinweis auf den römischen Dichter Vergil […] sein mag“ (Falbe de Altez, Ruth, „Intertextualität bei Valle-Inclán: Die esperpentos“, in: Gerda Hassler (Hrsg.), Texte im Text. Untersuchungen zur Intertextualität und ihren sprachlichen Formen, Münster 1997, S. 206). 34 „The similarity seems to work here by the matching of opposites: as Max dreams that he sees, Dante wakes up from a dream“ (Torner, Hispanófila, S. 40). Irene M. Weiss 114 lischen Stadt Madrid und der Schar der modernistischen Dichter steht, denen Authentizität fehlt. Die zwei Visionen sind himmlische Visionen, die Max kurz vor dem Tode das Paradies für einen Augenblick erleben lassen. Die Opposition Madrid-Paris ist eine irdische Entsprechung der jenseitigen Gegenüberstellung von Inferno und Paradiso in der DC. Wie Florenz bei Dante, so steht Madrid, Schauplatz und verkommenes Abbild der ehemaligen Metropole des Imperiums, im Mittelpunkt der Kritik von Max. Jedoch ist das Höllenerlebnis von Max nicht allegorisch auf das Jenseits zu übertragen. Max glaubt nämlich nicht an das Leben nach dem Tod, wie er ausdrücklich Rubén mitteilt (Sz. 9, S. 139), der in pathetischer Weise seinen Glauben daran bestärkt. Max behauptet: „Para mí, no hay nada tras la última mueca“ (“Für mich gibt es nichts nach dem letzen Schnapper”, GdB, S. 302). Den Tiefpunkt seiner Lebenserfahrung erlebt er faktisch in der Heimatstadt Madrid, Spiegelbild Spaniens. Auf diese Funktion Madrids kann man die Aussagen in Sz. 2 beziehen: „Este pueblo miserable transforma todos los grandes conceptos en un cuento de beatas costureras. Su religión es una chochez de viejas que disecan al gato cuando se les muere“ (LdB, S. 56, “Dieses erbärmliche Volk verwandelt all die großen Ideen in ein Gefasel frömmelnder Näherinnen. Seine Religion ist die verblödete Gefühlsduselei alter Weiber, die ihre Katze ausstopfen, wenn sie eingegangen ist“, GdB, S. 224), ebenso in der entscheidenden Sz. 12: “España es una deformación grotesca de la civilización europea” (LdB, S. 162, „Spanien ist eine groteske Verzerrung der europäischen Zivilisation“, GdB, S. 324). Dieses Schauderbild wird ferner in der Sz. 6 ergänzt, in der Max seine Urteile über das spanische Volk mit dem katalanischen Arbeiter austauscht. Zu 3.: In der schon mehrmals erwähnten Sz.12 erklärt Max gegenüber Don Latino seine neue Ästhetik: Max: ¡Don Latino de Hispalis, grotesco personaje, te inmortalizaré en una novela! Don Latino: Una tragedia, Max. Max: La tragedia nuestra no es tragedia. Don Latino: ¡Pues algo será! Max: El Esperpento. […] Max: Los ultraístas son unos farsantes. El esperpentismo lo ha inventado Goya. Los héroes clásicos han ido a pasearse en el callejón del Gato. Don Latino: ¡Estás completamente curda! Max: Los héroes clásicos reflejados en los espejos cóncavos dan el Esperpento. El sentido trágico de la vida española sólo puede darse con una estética sistemáticamente deformada. Don Latino: ¡Miau! ¡Te estás contagiando! Max: España es una deformación grotesca de la civilización europea. (LdB, S. 160-162) Max: Don Latino de Hispalis, groteske Person, ich werde dich verewigen in einem Roman! Der Abstieg von Max Estrella in die Hölle der Madrider Nacht 115 Don Latino: In einer Tragödie, Max. Max: Unsere Tragödie ist keine Tragödie! Don Latino: Na was dann? Max: Eine Schauerposse. […] Max: Die Ultraisten sind Schmierenkomödianten. Die Kunst der Schauerposse hat Goya erfunden. Die klassischen Heroen bummeln nun durch die Katzengasse. Don Latino: Du bist sternhagelvoll! Max: Wenn die klassischen Heroen vor den Hohlspiegeln paradieren, bieten sie die Schauerposse dar. Das tragische Lebensgefühl Spaniens kann nur mit Hilfe einer systematisch verzerrten Ästhetik dargeboten werden. Don Latino: Miau! Dich hat’s wohl erwischt! Max: Spanien ist eine groteske Verzerrung der europäischen Zivilisation! (GdB, S. 322-324) Am Ende dieses Gesprächs fügt er hinzu: „Latino, deformemos la expresión en el mismo espejo que nos deforma las caras y toda la vida miserable de España.” (Sz. 12, S. 160-163, „Latino, wir wollen den sprachlichen Ausdruck von demselben Spiegel verzerren lassen, der uns die Gesichter und das gesamte erbärmliche Leben Spaniens verzerrt“, GdB, S. 325). Bei dieser viel zitierten Stelle interessiert uns die nähere Bestimmung des Esperpento, der neuen literarischen Form, die Max Estrella fordert, Heteronym von Alejandro Sawa und ab jetzt von Valle-Inclán. Diese neue ästhetische Form soll die für Max nicht existierende spanische Tragödie („La tragedia nuestra no es tragedia“) ablösen. Eine Wort- und eine Sacherklärung: Erstens, der Begriff esperpento gehört zur spanischen Umgangssprache und bedeutet soviel wie „Sonderling, komischer/ schnurriger/ wunderlicher Kauz, Vogelscheuche“. Das Wort kann auf Menschen, Sachen oder eben menschliche ästhetische Erzeugnisse angewendet werden. Der deutsche Übersetzer musste sich auf letzteres konzentrieren, die erste umgangssprachliche Anspielung konnte er im Deutschen nicht wiedergeben. Zweitens, zum Callejón del Gato: Er war am Anfang des 20. Jhs. ein bekannter Ort für die Madrider Gesellschaft, denn dort befanden sich vor einem Laden, zum Entzücken der vorbeigehenden Fußgänger, ein Hohl- und ein Konvexspiegel. 35 Das von den Spiegeln verzerrt wiedergegebene Bild der Passanten, die in der Spiegelung wie esperpentos aussahen, ist in der 12. Sz. von LdB das Gleichnis, das die neue ästhetische Form metaphorisch nahe legen soll. Die Personen, die sich dort spiegeln, sind lächerlich, für sich und für die anderen. Wenn Max behauptet, dass „die klassischen Heroen vor den Hohlspiegeln […] die Schauerposse [darbieten]“, heißt dies, dass sie ihre tragische Würde verlieren und lächerlich werden. Jedoch werden beide Wörter, Tragödie und Heroen, sowohl als termini tecnici der Literatur als auch, im übertragenen Sinne, als Bestimmung manch überdimensionierter 35 Vgl. Zamora Vicente, La realidad esperpéntica, S. 20-23. Irene M. Weiss 116 Erfahrung des Alltagslebens gebraucht. Mit dieser Zweideutigkeit spielt Valle-Inclán, was in den unterschiedlichen Referenten der termini in dem Abschnitt deutlich wird: Auf der einen Seite die auf die Realität Spaniens bezogene Behauptung, Spanien sei „eine groteske Verzerrung der europäischen Zivilisation“, auf der anderen die auf die sprachliche bzw. literarische Ebene bezogene Aufforderung, „wir wollen den sprachlichen Ausdruck von demselben Spiegel verzerren lassen, der uns die Gesichter und das gesamte erbärmliche Leben Spaniens verzerrt“. Die Verzerrung spiegelt also sowohl das Referenzobjekt Spanien als auch seine Spiegelung in der Literatur. Die doppelte Verzerrung wird zur genaueren Widerspiegelung des ursprünglichen Referenzobjekts in der Wirklichkeit. So kann Max in Sz. 12 hinzufügen: „La deformación deja de serlo cuando está sujeta a una matemática perfecta. Mi estética actual es transformar con matemática de espejo cóncavo las normas clásicas” (LdB, S. 163, „Die Verzerrung ist keine bloße Entstellung, wenn sie mit mathematischer Konsequenz erfolgt. Meine heutige Ästhetik gilt einer Verwandlung der klassischen Normen mittels einer Mathematik des konkaven Spiegels“, GdB, S. 324-325). 36 Diese neue Art des doppelt verzerrten Verweises, parodistisch auf eine literarische Vorlage und satirisch auf die kulturelle Realität bezogen, ist die von Valle-Inclán auf die DC angewandte Form: In der Verzerrung der literarischen Vorlage kann Max Estrella bzw. Valle-Inclán Spanien, die spanische Kultur und die spanische katholische Kirche widerspiegeln. Die Kritik wird dann deutlicher: Im Unterschied zur DC wird hier Betrug, in der besonders verwerflichen Form des Verrats, belohnt (Don Latino erhält den Lottogewinn), andererseits genießt die Gewalt öffentliche Anerkennung, insofern sie die vom Staat organisierte Rettung vor dem Anarchismus darstellt. 37 VII. Aus unserer Deutung folgt schließlich, dass die Sz. 12 ein metapoetisches bzw. ein ästhetisches Programm entwirft. 38 Indem das esperpento das Pro- 36 Die Theorie des Esperpento sowie die Klassifizierung von Teilen seines Werkes als Esperpento treten erst in LB zutage, aber Valle-Inclán wiederholt und erweitert später in zahlreichen Interviews und Äußerungen sowohl die Theorie als auch die Namen der für ihn wichtigen Vorbilder, die in LB noch auf Goya beschränkt sind. Vgl. Dougherty, Dru, Un Valle-Inclán olvidado: entrevistas y conferencias, Madrid 1983, S. 107-108; S. 122; S. 177; S. 181; S. 189; S. 191-192. 37 Der Innenminister, der Polizisten und weitere Angestellte gegen die Streikenden schickt, ruft nach der Begegnung mit dem aus der Jugendzeit bekannten Max Estrella aus: „Yo me salvé del desastre renunciando al goce de hacer versos“ (LdB, Sz. 8., S. 130) („Ich habe mich vor dem Verderben bewahrt, indem ich der Lust des Versemachens entsagte.“ GdB, S. 293). 38 Laut eigenen Aussagen Valle-Incláns sind die Motivationen seines Werkes viel eher in der Ästhetik als in der Moral zu suchen, vgl. Dougherty, Un Valle-Inclán olvidado, S. 215-216; dazu Speratti-Piñero, Emma Susana, De „Sonata de otoño“ al esperpento (Aspectos del arte de Valle-Inclán), London 1968, S. 153-154. Der Abstieg von Max Estrella in die Hölle der Madrider Nacht 117 gramm einer entstellten Tragödie verkörpert, tritt es der „commedia“ gegenüber, deren Titel Dante programmatisch gewählt hat. 39 Deshalb wäre der von Torner vertretene Grundgedanke der moralischen Bedeutung beider Werke zu relativieren: Die „Moral“ ist eher in der Form beider Werke zu finden, und zwar insofern diese (real oder imaginär vermittelt) auf die sinnliche Wahrnehmung des Zuschauers oder Lesers und somit ästhetisch wirkt. 40 Der Spanier nimmt in gewisser Weise vorweg, was später das dramatische Konzept von Beckett charakterisiert, bei dem der Inhalt allein durch die Form hervorgebracht wird. 41 Genau wie Dante hält Valle-Inclán der zeitgenössischen Gesellschaft einen Spiegel vor. Die Art und Weise, in der beide dies tun, ist in unverkennbarer Weise ästhetischer Art. Im Inferno durchlaufen Dante und Vergil Bezirke höchster Qualen, die körperlich empfunden werden, um die Erfahrung der Hölle zu machen; die Bilder der gestraften Verdammten haben seit Jahrhunderten die Fantasie der Leser angeregt. Auch diese beiden konstitutiven Komponenten des Höllenerlebnisses sind in LdB durch ihre Spiegelung in einem „Hohlspiegel“ einer Verzerrung unterworfen. Die katábasis, die Max Estrella durchmacht, ist in besonderer Weise von Personen geprägt, denen der Autor in den Paratexten jegliche Menschlichkeit abspricht. 42 In den Bühnenanweisungen werden manche 39 Inferno XVI, 128; ferner in dem viel zitierten Brief Dantes an Cangrande della Scala (Alighieri, Dante, Das Schreiben an Cangrande della Scala: Lateinisch-Deutsch, Hamburg 1993, S. 209-231). 40 Ich möchte behaupten, dass die DC von Valle-Inclán in dieser Weise gelesen wurde. Dafür würde das oft von Valle-Inclán geäußerte Interesse an der Ästhetik und ihrer Problematik sprechen, das ihn 1916 zu einem Lehrstuhl für Ästhetik führte. Viele seiner Überlegungen zum Thema sind in der schon genannten La lámpara maravillosa zu finden, einem Werk, das eine lange Entstehungszeit aufweist und vier Jahre vor der ersten Veröffentlichung von LB erschien. 41 Die esperpentización als moraltragende Form hat schon Zahareas herausgestellt, der sie als „vision of the human condition“ bezeichnet, vgl. A. N. Zahareas, „The Absurd, the Grotesque and the Esperpento“, in: Zahareas (Hrsg.), Ramón del Valle-Inclán. An Appraisal of Life and Works, New York 1968, S. 78. Jedoch stellt diese „visión desmitificadora“ des Menschen kein politisches Thesentheater dar, wie W. Floeck mit Recht feststellt: „Vielmehr entfalten die Stücke durch die Verwendung der ästhetischen Verfahren des esperpentización ein subversives Potential, das zur Demaskierung und Hinterfragung der sozialen Realität führen konnte, ohne dem Zuschauer ein positives Gegenmodell anzubieten“. Vgl. Floeck, „Parodie und Gattungsbildung. Bemerkungen zu Valle-Incláns Esperpentos“, in: Steland, Dieter/ Turk, Horst: Formen innerliterarischer Rezeption, Wiesbaden 1987, S. 292 42 „Zaratustra, abichado y giboso - la cara de tocino rancio […] promueve con su caracterización de fantoche una aguda y dolorosa disonancia“ (LdB, S. 49, „Zarathustra, klein, biestig und bucklig - das Gesicht eine ranzige Speckschwarte […] bewirkt durch seine klapprig-marionettenhafte Erscheinung eine schrille, schmerzhafte Dissonanz“, GdB, S. 217; ebenfalls in der Sz. 2 wird Zaratustra noch zweimal „fantoche“ genannt, vgl. LdB, S. 53 und S. 54); als „tres fúnebres fantoches en hilera“ (LdB, Sz. 13, S. 171 und S. 174, „drei Hampelmänner, angetreten zum Trauerdienst“, GdB, S. 332, „die drei aufgereihten Hampelmänner“, GdB, 335 ) werden drei der Modernisten bei der Leichenwache von Max bezeichnet, vgl. weiter LdB, S. 176, GdB, S. 336); Max und Don Irene M. Weiss 118 Figuren wie la Pisa-Bien, Pica-Lagartos oder die alte Prostituierte wie verkleidet dargestellt. Sie wirken theatralisch und in gewisser Weise unecht. Bei anderen wie dem Buchhändler, den modernistischen Dichtern oder Don Latino wiederholt der Autor Bezeichnungen, die ihre Puppenhaftigkeit betonen. Allein die Figuren, die sterben, sind es, die etwas Tragisches empfinden oder empfinden lassen: Max, seine Frau und seine Tochter, der katalanische Arbeiter, das kleine Kind im Schoß der Mutter. 43 Die anderen werden als fantoches oder peleles (Hampelmänner) bezeichnet, mit Tieren verglichen, sind auf lächerliche Weise habgierig, eitel, angeberisch, grob oder hohl. Dieses hohle bzw. verfälschte Leben ist selbst eine irdisch verkehrte Entsprechung der höllischen Strafen; die ästhetische Anstößigkeit solcher Figuren, die nicht vollständig als Menschen dargestellt sind, und ihr Verhalten gegenüber den existenziellen Fragen wirken wie ein Angriff auf die Sensibilität der Figuren, die als echte Menschen gezeichnet sind. So sind im Inferno Dante und Vergil, die die Hölle einmal durchschreiten, die echten, weil lebenden, Menschen; umgekehrt sind in LdB echte Menschen diejenigen, die der Tod trifft und dadurch in tragische Figuren verwandelt. Unter diesem Aspekt wird Max’ Äußerung in der Sz. 2 über den „abgeschmackten Stumpfsinn [des spanischen Volkes] gegenüber den Rätseln des Lebens und des Todes“ verständlicher (GdB, S. 224, chabacana sensibilidad ante los enigmas de la vida y de la muerte, LdB, Sz. 2, S. 56; Das Elend des spanischen Volkes […] beruht auf seinem abgeschmackten Stumpfsinn gegenüber den Rätseln des Lebens und des Todes, GdB, S. 224). 44 Der Gesamteindruck, den Max’ letzter Weg durch die Madrider Nacht erzeugt, mit vielen Personen (mehr als 50 Figuren einschließlich Tiere), unzähligen Orten, mehreren Sprachebenen und sprachlichen Anspielungen, trägt Züge einer karnevali- Latino sind in der Taverne des Eidenchsenpiekers „sombras en las sombras de un rincón“ (LdB, Sz. 3, S. 60, „Schattengestalten in einem Schattenwinkel“, GdB, 228; vgl. Bühnenanweisung der Sz. 9, LdB, S. 132, GdB, S. 295). In LdB, Sz. 7, S. 116, ist von einer „pantomima“ („eine pantomimische Darstellung“, GdB, S. 280) von Don Filiberto die Rede, und von Rubén heißt es: „su máscara de ídolo“ (LdB, Sz. 9, S. 133, „seine Götzenmaske“, GdB, S. 296). In Sz. 10, „viejas pintadas como caretas“ (LdB, S. 143, „maskenhaft geschminkte alte Weiber“, GdB, S. 306; vgl. weiter LdB, S. 146 und S. 152, GdB, S. 309 und S. 314). Die Sz. 14, in der sich eine historische Person, Rubén Darío, und der Marqués de Bradomín, die fiktive Person eines früheren Romans von Valle-Inclán, unterhalten, ist eine kunstreiche Nachahmung der Friedhofszene am Ende des Hamlets. Don Latino wird oft von Max als „buey“ („Ochse“), „buey Apis“ („Ochse Apis“) und „perro“ („Hund“) angeredet, dazu wird er in der Bühnenanweisung der letzten Szene als „pelele“ bezeichnet (LdB, Sz. 15, S. 201, „hampelmännisch“, GdB, S. 361). 43 Dazu möchte ich auch die Mutter zählen, weil sie den Tod des Sohnes als Hinführung zum eigenen Tod empfindet: „Que me maten“, LdB, S. 155 („Sollen sie mich doch umbringen“, GdB, S. 317), und ferner „Matadme“, LdB, S. 157 („Tötet auch mich! “, GdB, S. 318). 44 Später bezeichnet die Bühnenanweisung Don Serafín als „viejo chabacano“, LdB, Sz. 5, S. 90. Der Abstieg von Max Estrella in die Hölle der Madrider Nacht 119 sierenden Darstellung unterschiedlicher sozialer Schichten und Milieus, 45 die sich in einer Ästhetik des wechselhaft schillernden Scheines ausdrückt. VIII. Das Esperpento, dessen parodistische Ästhetik Valle-Inclán mit diesem Werk neu entwirft, soll wie das Inferno in der DC den Zeitgenossen einen Spiegel vorhalten; die Historizität mancher Dargestellten verschärft in beiden Werken die Kritik. Aber statt mit der Darstellung von Strafen im Jenseits zu arbeiten, stellt Valle-Inclán eine Welt im Diesseits vor, die sowohl echt lebende und leidende wie auch tierähnliche, maskenhafte, hohle Figuren darbietet. Für die unterschiedlichen Kreise des Inferno gibt es in LdB keine eindeutige Entsprechung, viel eher steht der Klassifizierung und Ordnung der Verfehlungen und Strafen ein Wirrwarr menschlichen Verhaltens gegenüber, der satirisch auf die zeitgenössische spanische Realität weist. Dabei ist festzustellen, dass die echt wirkenden Figuren es sind, welche der Tod wie eine Strafe trifft; umgekehrt leben die anderen weiter, ohne ihr unwirkliches Leben als fantoches zu begreifen, was in einer zweiten Bedeutungsebene der zitierten Stelle von Sz. 2 ebenfalls als Strafe bezeichnet werden kann. Der karnevalisierende Wirrwarr erweist sich so als bildhaftes Symbol und Spiegelung der Madrider bzw. spanischen Gesellschaft und Kultur. Der abwärts gerichtete Weg von Max durch die von Betrug und Gewalt gekennzeichnete Madrider Nacht führt ihn in eine abschließende Situation, welche durch das Motiv des Verrats seines Begleiters und vermeintlichen Freundes dem letzten Kreis des Inferno entspricht. Die für Max verdoppelte Dunkelheit (Nachtwanderung des blinden Dichters) endet damit in einer dritten, dem Tod. In Max Estrella entfaltet sich so eine dreifache Dunkelheit, welche die drei Momente der glücklich endenden Jenseitswanderung in der DC (Inferno, Purgatorio, Paradiso) konterkariert und ihnen damit eine zutiefst pessimistische Sicht entgegenstellt. Der parodistische Umgang mit der DC hat sich in LdB als grundlegender Gegendiskurs gezeigt, der im Verlauf des Werkes immer wieder den Prätext durch eine kontrastierende und sehr auf Spanien bezogene Gegenstimme dissimuliert. Wie im Falle der DC, so hat auch bei LdB das Werk eine literarische und eine extraliterarische Funktion, allerdings in deutlicher Dissonanz zur Vorlage. Für LdB als Drama ist die simulatio, das Vortäuschen einer referentiellen Welt, insofern ein Gattungsmerkmal, als das Drama als solches auf Simulation basiert. Bezeichnend dagegen für LdB als Parodie bzw. pasticcio ist das Verbergen der literarischen Vorlage, die dissimulatio. Die wechselseitige Wirkung des Vortäuschens und des Verbergens verstärkt auf der einen 45 Über die karnevalisierende Atmosphäre, die im Werk Valle-Incláns oft zu finden ist, spricht in einem anderen Zusammenhang Iris Zavala (vgl. Zavala, Iris, La musa funambulesca. Poética de la carnavalización en Valle-Inclán, Madrid 1990, Kap. V, „El carnaval político: el esperpento“). Irene M. Weiss 120 Seite das Scherzhafte, 46 wirkt aber gleichzeitig als dynamisierender Impuls, der zu einer grotesken bis karnevalisierenden Anhäufung betrügerischer, arglistiger und gewalttätiger Figuren und Handlungen führt. Sz. 12, die den Betrug zum Verrat steigert, darf als Chiffre der immer wiederkehrenden großen Enttäuschungen der spanischen Kultur (der desengaño im Spanien des Barock, der desastre bei der Generación del 98, aber auch der während der Transición bald entstandene desencanto) gedeutet werden - eine Schlüsselszene, die als reflektierendes Moment der kulturellen Selbsterkenntnis gelten darf. Literaturverzeichnis Primärliteratur: Alighieri, Dante, Commedia: Inferno. Revisione del testo e commento di Giorgio Inglese, Roma 2007. Alighieri, Dante, Die Divina Commedia. In deutsche Prosa übersetzt und erläutert von Georg Peter Landmann, Würzburg 1982. Alighieri, Dante, Das Schreiben an Cangrande della Scala: Lateinisch-Deutsch, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Thomas Ricklin, Hamburg 1993. Valle-Inclán, Ramón del, Luces de Bohemia, edición Alonso Zamora Vicente; apéndice y glosario Joaquín del Valle-Inclán, Madrid 45 2002. Valle-Inclán, Ramón del, Wunderworte. Glanz der Bohème. Aus dem Spanischen übersetzt von Fritz Vogelgsang, Stuttgart 1983. Valle-Inclán, Ramón del, La lámpara maravillosa, Madrid 1960. Sekundärliteratur: Bachtin, Michail, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 1971. Buttkewitz, Uta, Das Problem der Simulation am Beispiel der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull und der Tagebücher Thomas Manns, Berlin 2002. 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Dante, heißt es in der Vorrede der ersten Auflage von Georges Commedia-Übertragungen von 1912, stehe „am Anfang aller Neuen Dichtung“. 1 Unter den älteren und den vormodernen weltliterarischen Persönlichkeiten (Shakespeare neben Dante) wie unter den zeitgenössischen „fremdländischen“ Poeten (wie Baudelaire, D’Annunzio, Mallarmé, Rossetti, Verlaine und vielen anderen), an welchen George verwandte künstlerische Bestrebungen zu erkennen glaubt und die daher durch seine Umdichtung Eingang in die erlesenen Seiten der Blätter für die Kunst finden, bildet ausgerechnet Dante den Höhepunkt eines ehrgeizigen Programms. In einem Land, in dem Rationalisierung und Funktionalisierung der gesellschaftlich-kulturellen Verhältnisse in der Sicht Georges den Anforderungen einer dichterischen Existenz nicht mehr zu genügen scheinen („Es gibt jezt nur den gelehrten • beamten • bürger der gedichte macht und das schlimmste: den deutschen litteraten der gedichte macht“), 2 soll die Einführung vorbildlicher Poesie zu einem Neubeginn der künstlerischen Sprache verhelfen, mithin - der poetologisch-pädagogischen Anschauung Georges entsprechend - zur Bildung eines kollektiven Empfindens wesentlich beitragen. Dabei liegt es an Georges Umgang mit der kulturellen Überlieferung, insbesondere mit Dante, dass der exemplarische Charakter seines Modells die Grenzen eines rein literarischen Musters überschreitet: Dantes Dichtung ist nacheifernswertes Wunschbild, seine Gestalt ist das sublime Gleichnis des poetischen Menschen überhaupt, der Verkünder einer neuen geistesge- * Mein herzlicher Dank gilt Frau Dr. Christine Mundt-Espín für die geduldige Revision des Manuskriptes. 1 Stefan George, Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. X/ XI: Dante, Die Göttliche Komödie. Übertragungen, Stuttgart 1988, S. 5. 2 Bernhard Zeller (Hrsg.), Stefan George 1868-1968. Der Dichter und sein Kreis, München 1968, S. 67. Anna Maria Arrighetti 124 schichtlichen Epoche und die vielleicht bedeutendste kanonische Größe, die nicht zuletzt - zumindest in der Sicht vieler Kreisangehöriger - Georges Erneuerungsfunktion zu legitimieren vermag. Georges Commedia-Übertragungen lassen sich demnach zwar als das Streben nach einer verstehenden Aufnahme des Danteschen Werks begreifen; solche Aufnahme erweist sich jedoch gleichzeitig - in jenem mühsamen Prozess des ausgleichenden Gestaltens, das jede Übersetzung darstellt - als eine eigentümliche Aneignung des Originals, die „nach Absicht und Diktion“ 3 dem eigenen dichterischen Schaffen ebenbürtig ist und mit der ebenfalls die Begründung des Künftigen beansprucht wird. 4 Bei der folgenden, erneuten Annäherung an Georges Unterfangen soll nun der Versuch unternommen werden, einige wichtige Merkmale jenes eigentümlichen Dante-Bildes herauszuarbeiten, das aus bezeichnenden Zeugnissen aus dem Kreis, aus dem (manchmal sogar unstimmigen) Verhältnis zwischen der Textvorlage und der Nachschöpfung sowie insgesamt aus der selektiven Lektüre des Originalwerks zu erwachsen scheint. Zu Georges Verhältnis zu Dante sind wenige lapidare Aussagen überliefert, mit denen er auf die Herausforderung eines adäquaten Verständnisses von dessen Erbe hinweist: „Die Bindung, die bei Dante ist“, so soll er den Gegensatz zwischen Dante und der eigenen Epoche gedeutet haben, „ist etwas grundsätzlich Antimodernes“. 5 Als Beginn einer „neuen“ Poesie - so rechtfertigt George seine Wahl in den einleitenden Worten seiner Übertragungen - ist die Dantesche Dichtung für Georges Zeitgenossen also unzeitgemäß und daher von den Maßstäben und Wertkategorien der Modernität streng geschieden. Die Qualitäten eines „neuen“ und trotzdem „antimodernen“ Dante bilden in sich keinen Widerspruch, wenn sie im Hinblick auf den scharfen zeit- und kulturkritischen Ton betrachtet werden, der in diesem Urteil mitschwingt. Denn der sog. Moderne schreibt George die Zeichen des spätestens seit der Renaissance eingetretenen Zerfalls der antiken Einheit von Geist und Leib (Gott und Mensch, Glauben und Wissen) zu. Nicht nur die Voraussetzungen für Dantes poetisches Schaffen, sondern auch dessen außergewöhnliche Wirksamkeit lassen sich in Georges Sicht auf jene Einheit zurückführen, die dem Künstler der modernen Epoche hingegen prinzipiell verwehrt ist, nämlich die glückliche Synthese zwischen einer uralten Ordnung der Welt und des Lebens und individueller Gestaltungskraft. 6 Deshalb 3 Ralph-Rainer Wuthenow, Das fremde Kunstwerk. Aspekte der literarischen Übersetzung, Göttingen 1969, S. 115. 4 Hierzu vgl. Klaus Schuhmacher, „Das Textparadies als Autorenhölle. Dante-Lektionen deutscher Dichter“, in: Arcadia 31 (1996), S. 254-272; insbes. S. 261-266. 5 Vgl. Edith Landmann, Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf/ München 1963, S. 41. 6 Friedrich Gundolf, „Dichter und Helden“, in: ders.: Dichter und Helden, Heidelberg 2 1923, S. 23-58; insbes. S. 32: „[I]n ihm [scil. Dante] und seinem Werk ist die Einheit von Leib und Geist erreicht, und die Einheit zwischen ökumenischer Bindung und individueller Freiheit (dies war die damalige Form jenes allgemeinen Problems)“. Stefan Georges Dante-Bild im Spiegel seiner Übertragungen 125 könne sich Dantes Dichtung den Instrumenten der modernen „Kultur“ nicht erschließen: Dante gilt als Inbegriff des Dichtertums, wobei er eine Ganzheit verkörpert, die in inniger Verbundenheit mit einem gesellschaftlichen und göttlichen Gefüge - eben die „Bindung“ schlechthin - errungen wurde. So schildert es der Freund und Literaturhistoriker Friedrich Gundolf in einem seiner späten, mit besonderem Pathos beladenen Bekenntnisse zu George: Als deutscher Dichter unserer Tage vergegenwärtigt George menschliche Urtriebe, ewige Seinsarten wie sie in solcher Reinheit und in solcher Einheit vielleicht noch nie erschienen sind, seitdem Natur und Kultur sich getrennt haben…: er ist zugleich und mit der lautersten Wucht Künstler, Priester, Profet und Herrscher. All diese Schicksalsberufe hat es gegeben seit Beginn der Geschichte, aber nur selten sind sie in ganz einfachen Typen hervorgetreten, noch seltener sind sie eines gewesen, in der biblischen Welt stehen David und Moses, in der griechischen Pythagoras und Platon, in der christlichen Gregor der Grosse und Dante als Sinnbilder einer solchen Einheit da, die wir am Beginn der Gesittung keimhaft ahnen oder erschliessen aus dem mythischen Gedächtnis der Völker. 7 In der geistesgeschichtlichen Traditionslinie, zu deren Erhalt und würdiger Fortsetzung George sich sowohl durch eine normative Deutung des Vergangenen als auch durch das eigene dichterische Werk verpflichtet, konstituiere Dante zum einen die Verbindung zwischen Antike und katholischem Mittelalter: zwei Epochen, deren Sinngehalt er in der Prägnanz der Commedia- Bilder zu fassen vermöge. Zum anderen deute er bereits auf das nachkommende Zeitalter hin, insofern als alle nachantiken, großen Geister der Renaissance erst durch sein Werk, ja durch seine „runde“ Verkörperung einer „Kultureinheit“, 8 selbst wirklich - im Georgeschen Sinne von „wahrhaft“, „verbindlich“ und „wirksam“ - geworden seien. 9 Daher tritt Dante als „europäischer“ Dichter hervor, wobei ein solches Wesensmerkmal in den Notizen und Abhandlungen der Freunde Georges weniger in Hinsicht auf ein definiertes politisches Gefüge begegnet, als vielmehr um auf die übernationale Tragweite jener Maßstäbe hinzudeuten, die das Vorbild Dantescher Haltung in der kulturellen Tradition des europäischen Abendlandes erst wieder gesetzt habe. 10 7 Stefan George/ Friedrich Gundolf. Briefwechsel, hrsg. von Robert Boehringer mit Georg Peter Landmann, Düsseldorf/ München 1962, S. 368. 8 Gundolf, Dichter und Helden, S. 31. 9 Vgl. Landmann, Gespräche, S. 42: „Er ist Dichter der Renaissance, ja, aber nicht als Inaugurator der schönen harmonischen Formen und Verhältnisse, sondern als Elan, der allen Formen und der in ihnen waltenden eigentümlichen Grossheit der Renaissance zugrunde liegt. […] Alle führenden Geister der Renaissance, alle Maler, Architekten und Bildhauer sind von Dante inspiriert“. 10 Das Adjektiv „europäisch“ im Zusammenhang mit Dante tritt z. B. bei Edgar Salin auf, in: ders., Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, München/ Düsseldorf 1954 ( 1 1948), S. 280, bei dem es quasi als Vorstufe von dessen „kosmische[r] Weite“ verwendet wird; vgl. außerdem: Berthold Vallentin, Gespräche mit Stefan George 1902-1931, Amsterdam 1961, S. 56; Friedrich Gundolf, „Dante“, in: ders., Beiträge zur Literatur- und Geistesge- Anna Maria Arrighetti 126 Im Zeichen einer solchen nachhaltigen Wirksamkeit gibt Edith Landmann zudem in ihren überlieferten Gesprächen mit George den poetologischen Rahmen vor, der dessen nicht unumstrittener Übertragungsauswahl zugrunde liegt: Nicht die Hölle und Himmel, die aus dem Mittelalter stammen, sind bei Dante das Entscheidende, sondern das, was in ihnen vorgeht. Was bedeuten sie neben der einen Tatsache, dass Dante den Repräsentanten der Antike, Vergil, als seinen Führer an den Anfang seiner Dichtung stellt. 11 Nicht das lehrhaft-kosmologische und theologische Gerüst der Commedia also, auch nicht die historisch-politischen Bezüge wecken Georges Interesse, denn alles Geschichtliche sei der Vergänglichkeit unterworfen und stehe, wenn übermäßig angehäuft, (seit Nietzsche) prinzipiell der unmittelbaren Lebensfähigkeit gegenüber. Georges Interpretation von Dantes Werk wird hauptsächlich von der Anerkennung eindrucksvoller Gebärden gelenkt, die aufgrund ihres gleichsam überzeitlichen Wertes der erstrebten „neuen“ Kunst inspirierende Kraft und nicht zuletzt einen legitimierenden Grund zu liefern vermögen. Hierzu gehört auch - gemäß dem oben angeführten Zitat - die ebenso künstlerische wie moralische Ehrerbietung des Sprechenden gegenüber seinem Meister Vergil als Verkörperer des Mythos der Poesie - eine symbolträchtige Haltung, mit der Dante die Kontinuität zwischen lateinischer und mittelalterlicher Kultur besiegelt und zugleich den sicheren Kunstsinn der kommenden geistigen Epoche, des Humanismus, anzukündigen scheint. Von einer scharfen Kritik am Verfahren der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft ausgehend, die unter Berufung auf eine vermeintlich objektive, „voraussetzungslose“ Erforschung des Vergangenen kulturgeschichtliche Größen in die Niederungen einer einengenden Begrifflichkeit getrieben und somit letztlich „die Geschichte nationalistisch verfälscht“ habe, plädiert George für eine Interpretation der kulturellen Überlieferung, welche die ganze Menschlichkeit des Deutenden in ihren Rahmen einbeziehe. Eine derart „ganzheitliche“ Perspektive ermögliche eine adäquate Befragung des Vergangenen, bei welcher der Interpret, Wesen und Nöten seiner Epoche Rechnung tragend, lebendige Muster für die eigene Sprache, mithin für die nationale Identität zu gewinnen vermöge: „wie der Florentiner Dante schichte, ausgew. und hrsg. von Victor A. Schmitz und Fritz Martini, Heidelberg 1980, S. 196-204; insbes. S. 198. 11 Landmann, Gespräche, S. 42. Dementsprechend postuliert er die Unversöhnlichkeit zwischen Mittelalter (qua Christentum) und Dichtung: „Dichten ist eine unchristliche Aktion“. Hierzu vgl. Wolfgang Braungart, Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997, S. 183: „Georges ästhetischer Katholizismus ohne katholische Dogmatik bedeutet nicht römische Religion, sondern Haltung und ins Äußerste gesteigertes Formbewußtsein“. Stefan Georges Dante-Bild im Spiegel seiner Übertragungen 127 Italiener, so sei der Athener Platon nach Haltung und Willen Grieche gewesen.[…] Oder irren wir uns? Waren sie vielleicht - Deutsche? “ 12 Die Konsequenzen einer solchen Sichtweise betont Gundolf nochmals in späteren Jahren in den als Fragment gebliebenen Einführungsworten zu einem größeren Dante-Vorhaben (1922) und einer der letzten Würdigungen seines Meisters, die er selbst nach seiner Entfremdung von ihm auf seinen Lesungen aus den Dante-Übertragungen wiederholt vorträgt. Ist Dante den Italienern ein „geschichtliches Sinnbild“ und „Begründer ihrer Sprache, ihrer Kunst und ihrer Gedächtnisses“, so muss ein Gehalt anderer Art die historische Kontingenz überdauern und den Wert des italienischen Dichters für „die deutsche Bildung“ als erneut gültig erscheinen lassen - dies definiert Gundolf als „eine Seelennähe, ein überhistorisches unmittelbares, nacktes Wesen“. 13 Das, was als produktiver Kern der Überlieferung angesehen wird, d. h. Dantes symbolische Bedeutung und einmaliger Wert, kann demzufolge nur um den Preis seiner individuellen Besonderheit in die Gegenwart eines unterschiedlichen Kulturzusammenhanges hinübergerettet werden. So führt Gundolf Dantes Gestalt auf eine Reihe metaphysischer Wesenszüge zurück, die - gleich mythischen Figuren - vermöge ihrer anschaulichen Beschaffenheit kollektive Bedeutsamkeit erlangen können: Dante sei „der Minner“, „der gewaltige Eiferer“, die „anima sdegnosa (die zürnende Seele)“, „der stolze Dulder“, der „tiefsinnige Seher und Deuter der irdischen Erscheinungen und der göttlichen Gesetze“, der „Glaubensheld“, der „ritterlichste, gentilste der Menschen“, ein „ewiges Vorbild feiner Sitte und ausdrucksvollen Seelenadels“, der „Richter eines Weltalters“, der „weise Genius“. 14 Dabei sei es Georges Verdienst, die Einheit des dichterischen Kunstwerkes aus der konkreten Erfahrbarkeit der Sprache erfasst und wiederum all die „Gebärdenbilder“ und „zauberhaften Gesichter“ des Dichters, die im Werk paradigmatisch zum Vorschein kommen, „mit dichterischer Treue“ 15 im Deutschen erklingen lassen zu haben. Über Georges erste Annäherung an Dantes Commedia ist nichts Genaues überliefert. Sein autodidaktischer Erwerb des Italienischen soll bis in die Kindheit zurückreichen und die Sprachpflege während der Darmstädter Gymnasiastenzeit an den Werken Petrarcas, Tassos und anderer Dichter weiter geübt worden sein. 16 Die Lektüre von Rossettis ins Englische über- 12 Alle Zitate: Salin, Um Stefan George, S. 280. 13 Friedrich Gundolf, Dante, S. 196f. 14 Ebd., S. 200f. Ähnliche Epitheta finden sich in noch gedrängterer Akkumulation in: Friedrich Gundolf, George, Berlin 1920, S. 52f. 15 Gundolf, Dante, S. 202f. 16 Vgl. Gerd Michels, Die Dante-Übertragungen Stefan Georges. Studien zur Übersetzungstechnik Stefan Georges, München 1967, S. 24. Gerd Michels bietet eine kenntnisreiche Untersuchung von Georges Auswahl- und Übersetzungsverfahren, deren Ergebnisse er unmittelbar in Beziehung zur Kunstanschauung und zum Selbstverständnis des Dichters stellt. Anna Maria Arrighetti 128 setzter Vita Nuova, 17 deren Stellenwert für die europäische Kulturgeschichte wohl erst Rudolf Borchardt erkannte, 18 könnte George zu seinem Unterfangen angeregt haben. Entscheidend ist jedenfalls die Wiederaufwertung, die Dantes Werk dank A. W. Schlegels Übersetzung im 19. Jahrhundert in Deutschland erlebte. 19 Schon zu Beginn der Neunzigerjahre erscheint ein Zitat aus Dantes Musenanrufung aus dem zweiten Gesang des Inferno (V. 9: „Qui si parrà la tua nobilitate“) bezeichnenderweise als Motto für eines der wenigen Prosastücke Georges über das Verfahren des dichterischen Schöpfungsprozesses; es darf somit angenommen werden, Dante gelte für Georges eigene Dichtung spätestens ab diesem Zeitpunkt als richtungweisende poetische Größe. 20 Erst um die Jahrhundertwende finden Georges Übertragungen den Weg in die wenn auch beschränkte Leserschaft der Blätter für die Kunst, deren fünfte Folge (1900/ 01) zunächst sechs Stellen überwiegend aus dem Purgatorio und dem Paradiso enthält. Auf weitere Veröffentlichungen in der Zeitschrift seines Freundeskreises folgt sodann die erste Auflage der Übertragungen im Jahre 1912, die bis 1925 noch drei Erweiterungen erfahren wird. 21 In der Vorrede zur ersten Auflage fasst George in drei Begriffen das zusammen, was in seiner Sicht Dantes weiterhin lebendige Größe konstituiert: „das dichterische“, d. h. „ton bewegung gestalt“. Den Maßstab scheinen die Grundsätze zu liefern, die George als unerlässlich für das poetische Schaffen überhaupt ansieht: das Handwerklich-Meisterliche, ja die strenge Einhaltung der Form. Der höchsten Anforderung an die Form lassen sich nämlich alle drei von ihm benannten Aspekte zuordnen: die klanglichen Sprachmittel („ton“; Michels, S. 137), ihre Einfügung in die maßvoll kalkulierte, rhythmische „Bewegung“ der Vers- und der Terzinenform (deren Elfsilbler George sogar beibehält), schließlich jene harmonische, in ihrer Bestimmung 17 Paul Lieser, „Fremdsprachliche Übertragung als Nachgestaltung und Neuschöpfung. Stefan Georges Übertragungswerk“, in: Stefan George, Lehrzeit und Meisterschaft, Bingen 1968, S. 73-96; hier: S. 76; vgl. auch Mario Pensa, „Stefan George e Dante. Contributo alla storia della critica tedesca ed all’estetica dell’impressionismo in Germania“, in: Annali del corso di lingue e letterature straniere 1 (1950), S. 2-39; hier: S. 25f.; ders., „Stefan George e l’Italia“, in: Il Veltro. Rivista della civiltà italiana 6 (1962), S. 227-242; hier: S. 239. 18 Vgl. Rudolf Borchardt, „Dante und deutscher Dante“, in: ders., Prosa II, hrsg. von Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von Ernst Zinn, Stuttgart 1959, S. 354-388; insbes. S. 358ff. 19 Vgl. Pensa, George e Dante, S. 4ff.; Wuthenow, Das fremde Kunstwerk, S. 108. 20 „Rat für Schaffende“, zuerst in: Blätter für die Kunst 2 (1894), 3. Zur Tragweite dieser Art Bekenntnis zu Dante vgl. Paul Gerhard Klussmann, „Dante und Stefan George. Über die Wirkung der Divina Commedia in Georges Dichtung“, in: Eckhard Heftrich/ Paul Gerhard Klussmann/ Hans Joachim Schrimpf (Hrsg.), Stefan George Kolloquium, Köln 1971, S. 138-150; insbes. S. 140f. 21 Zum Wachstum von Georges Übertragungen vgl. die detaillierte Bestandsaufnahme und die Anmerkungen des Dante-Übersetzers Georg Peter Landmann, in: ders., „Anhang“, in: George, Sämtliche Werke X/ XI, S. 143-197. Stefan Georges Dante-Bild im Spiegel seiner Übertragungen 129 nicht unproblematische „Ganzheit“, die sich aus dem vollkommenen Einklang von dichterischer Intuition und Werkbild in sinnbildlicher Erhöhung zu ergeben hat: die im ganzen Umfeld Georges maßgebende „gestalt“. Die Erklärung des Verfassers aus derselben Vorrede, er habe sich zu einer Auswahl von „episoden“ berechtigt gesehen, insofern als das Eindringen ins Werk ihm auf diesem Wege des episodischen Vorgehens gelungen sei, bedarf angesichts seiner poetologischen Richtlinien einer gewissen Relativierung. Denn es scheint um mehr als bloße Selbstbeschränkung zu gehen - Georges sorgsam komponiertes Florilegium findet seine Rechtfertigung als gleichsam dichtungspolitische Setzung. Jedes Fragment (selten handelt es sich um den ganzen Gesang), das er aus insgesamt einem knappen Viertel des Werkes überträgt, versieht er mit einzelnen Überschriften. Aus philologisch-kritischer Perspektive entstellen diese das epische Kontinuum sowie die ästhetisch-ideelle Einheit der Dichtung, denn sie akzentuieren den jeweils in sich geschlossenen, gleichsam lyrischen Charakter des Stückes. Nicht nur formell werden also nur einer oder wenige zusammenhängende Aspekte des betreffenden Gesanges hervorgehoben, die auf den Leser wie verselbständigte Paradigmen eines anders konzipierten Werkes wirken. Der Versuch, sachimmanente Kriterien aufzustellen, die eine exhaustive Begründung für Georges Auswahl liefern, muss zum Teil am stilistischen und thematischen Reichtum des jeweiligen Werkausschnittes scheitern. Die Übersicht der Übertragungen lässt von Seiten des Verfassers jedenfalls mehr als die Vorliebe für jene exemplarischen Einzelschicksale erkennen, die jeweils den narrativen Höhepunkt des Gesanges bilden (vgl. Michels, S. 42). Denn selbst jene seelisch bewegenden Begegnungen mit Sängern, Dichtern und historischen Persönlichkeiten (wie z. B. „Franziska von Rimini“, „Farinata und Cavalcante“, „Petrus de Vinea“ usw.), die George herauszustellen pflegt, bieten dem Sprechenden neben dem kulturell-affektiven Wert des in die Erinnerung zurückgerufenen autobiographischen Motivs des Öfteren die Gelegenheit, eine Reflexion z. B. über die Dichtung, den Poeten und dessen Schicksal im weitesten Sinne anzustellen, über Themen also, die in engem Zusammenhang mit Georges dichterischem Selbstbewusstsein zu stehen scheinen. Inhaltliche Kriterien erschöpfen jedoch bei Weitem nicht die Charakterisierung der Auslese: Die übertragenen Ausschnitte verraten eine Neigung zu allem Rituellen, zu Passagen des Lobpreises und der Hingabe, zum Allegorisierend-Prophetischen, zu Traumvisionen und zu visuell stark geprägten Momenten, in denen die Darstellung sich in ihrer ebenso detailreichen Pracht wie auch - dies sollte bei George nicht unterschätzt werden - in ihrer musikalischen Wirksamkeit entfaltet. Zu den ersten Übertragungen (um 1901) gehören bezeichnenderweise einige unter dem Titel „Entsendung des Vergil“ erschienene Verse aus dem II. Gesang des Inferno (V. 58-93), mit denen der Sprechende Beatrices und Vergils Rollen als Vermittler zur höchsten Liebe vorgibt. Der Ausschnitt beginnt Anna Maria Arrighetti 130 mit Beatrices Bitte an Vergil um Beistand für Dante unter Anerkennung von Vergils „Höflichkeit“, d. h. von dessen erlesenen Sitten („O anima cortese mantovana“: „O hilfbereite Mantuaner Seele“) und seinem unvergänglichen Ruhm als Dichter („di cui la fama ancor nel mondo dura,/ e durerà quanto ’l mondo lontana“: „Mit einem Ruhm heute noch von dauer/ Und der solang die welt sich dreht nicht fehle“). Vergil möge dem womöglich schon verirrten Reisenden mit seiner Eloquenz („la tua parola ornata“ deutet George nochmals bezeichnenderweise als „mit deiner rede klange“) zur Seite stehen. In Tönen gleichsam menschlicher Zuneigung verspricht sie sich von Vergils Beistand für Dante den eigenen „Trost“; sonst stellt Beatrice sich als „die Selige“ vor - die von Gott Gesandte und bei Gott Fürsprecherin (also auch „Seligmachende“), die menschlichen Niedrigkeiten und Leidenschaften Überlegene: „Ich bin von Gott (sei dank ihm! ) so geschaffen/ Dass euer elend drunten mich nicht rühre/ Noch flammen eures brandes mich entraffen“ (V. 91-93). Ab diesem Zeitpunkt erscheint Beatrice bis zum Ende der zweiten cantica nicht mehr; erst im XXX. Gesang des Purgatorio krönt sie mit ihrer Anklage gegen Dante den moralisch-ideologischen Weg des nach Erlösung strebenden Reisenden. Auf die Entwicklung des Reifeprozesses des lyrischen Ich verzichtet George: Aus dem XXX. Gesang des Purgatorio wählt er in dieser ersten Übertragungsphase immerhin einige Terzinen („Wiedersehen mit der Seligen“, V. 22-48) aus, in denen Beatrice nun in einem Gefolge von Blüten streuenden Engeln triumphal auftritt und den Betrachter überwältigt: So zeigte sich mir im gewölk von blüten Die aus der engel händen niederschwammen Und stiegen und nach allen seiten sprühten Ein Weib […]: Und wenn auch eine lange Zeit sich streckte Seit sie durch ihre nähe meine sinne Zum zittern brachte niederschlug und schreckte: So ward ich jetzt - und ohne schauen - inne Der kraft die im geheimen auf mich drückte Und fühlte die gewalt der alten minne. Als kaum von der erscheinung niederzückte Die hohe macht die mich so früh gefangen Noch eh ich aus den knabenjahren rückte: Da wandt ich mich nach links mit dem verlangen Der kinder ihre mutter zu erreichen Wenn sie nicht froh sind oder wenn sie bangen Und sagte meinem führer mit erbleichen: Kein tropfen blut ist in mir der nicht bebe - Ich kenne noch der alten flamme zeichen. Stefan Georges Dante-Bild im Spiegel seiner Übertragungen 131 Beatrice erscheint nach dem charakteristischen Darstellungsverfahren der stilnovistischen Lyrik: Vor dem tatsächlichen Anblick der Frau ist das lyrische Ich von der tiefen, von ihr ausgehenden Kraft erschüttert. Die Anspielung auf das stilisierte, in der Commedia nunmehr überwundene Pathos des Stilnovismus durch den Rückgriff auf stark evozierende Wörter wie occulta virtù („kraft die im geheimen auf mich drückte“) oder alta virtù („hohe macht“) sowie der kraftvolle Effekt jenes Anblicks („Tosto che ne la vista mi percosse/ l’alta virtù che già m’avea trafitto“: „Als kaum von der erscheinung niederzückte/ Die hohe macht die mich so früh gefangen“) gehen in Georges Umdichtung nicht nur aus Mangel ebenso konnotierter, im Rahmen der frühen italienischen Kunstlyrik entstandener Begriffe verloren. Gleichwohl gewinnt Beatrices Mythos durch Georges Auswahl immer klarere Konturen. Aus der Vita Nuova, in deren Mittelpunkt die heilende Begegnung mit der engelhaften Frau stand, überträgt er zu einem nicht genau ermittelbaren Zeitpunkt das XXIV. Sonett („Io mi senti’ svegliar dentro a lo core“). 22 Nicht nur diese im Kreis sehr geschätzte metrische Form mit ihrer „strengarchitektonischen, zeremoniellen“, ebenso gebändigt wie harmonisch wirkenden Fügung des Gehalts 23 forderte George womöglich zu einem nachahmenden Versuch heraus, sondern auch der für die Poetik des stilnovistischen Dante typische Einklang zwischen erotischem Antrieb und intellektuellem Vermögen können sein besonderes Gefallen gefunden haben. 24 Die an Platon anklingende Auffassung des Eros als Mittler des Göttlichen setzt sich gewissermaßen zunächst bei Dantes christlicher, dann bei Georges säkularisierter Umdeutung der läuternden Liebe zu einem Wesen fort, das den Liebenden über sich selbst hinaus steigert, wobei es ihm einen Neubeginn verspricht. Die systematische Herauslösung „kostbarer Einzelheiten“ (Michels, S. 44) - wie oben das Erscheinungsbild der Seligen und deren Wirkung auf den Betrachter -, reduziert die Commedia in Georges Interpretation auf eine Reihe selbständiger Tableaus, deren Elemente George ebenfalls für die eigene Dichtung in Anspruch nimmt, wobei sie an mancher Stelle sogar zu manieristischen Darstellungen zu erstarren drohen. Es sei hier als Beispiel nur an die Ende 1906 in der Gedichtsammlung Maximin. Ein Gedenkbuch veröffentlichte „Vorrede“ erinnert, in der das Gedenken an den verstorbenen ideali- 22 Der Schlussband der Gesamtausgabe von Georges Werken (1932) enthält die Übertragungen zweier Sonette von Dante (Bd. XVIII S. 78, 79): das XXIV. Sonett aus der Vita Nuova („Io mi senti’ svegliar dentro a lo core“) und das LXIII. aus den Rime („Sonetto, se Meuccio t’è mostrato“). Zur Nummerierung der Sonette vgl. Bibliographie. 23 Friedrich Gundolf, Goethe, Darmstadt 1963, S. 579. 24 Vgl. Friedrich Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930, S. 376: „Für Dante ist die Dichtung selbst ein Hauch der Liebe, sie hat den Jugendlichen durch die Schönheit so erschüttert, daß er aus dieser Erschütterung den neuen süßen Stil gebar, daß die gewaltigen Bauten seiner göttlichen Komödie noch diesem gleichen Grund entstammen, daß ihm die ganze Ordnung der Welten vom Naturhaften bis zur geistigen Gnade nur ein Werk der Liebe ist“. Anna Maria Arrighetti 132 sierten Jüngling Maximin in einigen Bildern an Dantes poetischen Modus unverkennbar anklingt: Wir hatten eben die mittägliche höhe unsres lebens überschritten und wir bangten beim blick in unsre nächste zukunft […] als die plötzliche ankunft eines einzigen menschen in der allgemeinen zerrüttung uns das vertrauen wiedergab und uns mit dem lichte neuer verheissungen erfüllte. […] Und Maximin ging im rauschenden frühling an der hand der geliebten durch die gärten • die betäubenden blüten schwellten sein herz von dank und lust und sank er nieder vor dem kinde das für ihn geschaffen war und das er als engel im eignen spiegel sah. […] So steht er vor uns wie wir zuletzt ihn sahen: […] geschmückt und mit dem blumenkranz im haar […]. 25 Zur symbolischen Überhöhung des poetischen Erinnerungsbildes, die sich hier (wie bereits bei Dante) auf kennzeichnende Weise in einer floralen Ornamentik niederschlägt, gesellen sich die Töne der Huldigung, die George als grundlegenden Maßstab für die Beurteilung von Dichtung erachtet. Verschiedene Modalitäten mythischer Betrachtungsweise laufen somit in jener besonderen Form der Dante-Rezeption zusammen, die Georges Commedia-Übertragungen darstellen: zum einen auf gleichsam aktualisierende Weise, im Sinne einer Überführung von „deutbar gewordene[n] Zusammenhänge[n]“, von „zitierbare[m] Material“, 26 nämlich durch den Rückgriff auf überlieferte Themenkreise, Figuren und Formeln, die er jedoch auch durch seine selektierende Lektüre als ästhetischen Ausdruck eines eigenen Ideenkomplexes zu erneuern scheint; zum anderen auf gleichsam institutionelle Weise, insofern als er einige, vornehmlich aus der Tradition der klassischen Antike hervorgehende Grundsätze zum Wertmaßstab seines Dante- Bildes erhebt. Neben jener radikalen, sozusagen antimodernen Neubehauptung der Dichterrolle, in der Gesetzgeber, Sittenlehrer, Seher und Verkünder wie bei den alten Völkern zu einem verschmelzen, 27 gehört zu Georges eigentümli- 25 Vgl. Stefan George, Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. XVII: Tage und Taten. Aufzeichnungen und Skizzen, Stuttgart 1998, S. 62ff. Zu Dantes Einwirkung auf Georges Dichtung vgl. Pensa, George e Dante, S. 23ff. (auch in Bezug auf die Vita Nuova); ders., George e l’Italia, S. 238-241; Kurt Wais, „Die ‚Divina Commedia‘ als dichterisches Vorbild im XIX. und XX. Jahrhundert“, in: Arcadia 3 (1968), S. 27-47, insbes. S. 47, wo der Autor von der „Weitung“ spricht, die Georges Dichtung durch die Aufnahme von Dantes Werk insgesamt erfährt; Klussmann, Dante und Stefan George, S. 138-150; zuletzt Bertram Schefold, „Stefan George als Übersetzer Dantes“, in: Castrum Peregrini 56 (2007), S. 77-115. 26 Ralph-Rainer Wuthenow, „Mythologie und Mythos in der Literatur des 18. Jahrhunderts“, in: Hermann Schrödter (Hrsg.), Die neomythische Kehre. Aktuelle Zugänge zum Mythischen in Wissenschaft und Kunst, Würzburg 1991, S. 197-219; hier: S. 202. 27 Vgl. das erste längere Zitat dieser Untersuchung aus: George/ Gundolf. Briefwechsel, S. 368 (Anm. 7); außerdem die bezeichnenden Ausführungen Edith Landmanns zum „Wesen des Dichters“, in: dies., Georgika, Heidelberg 2 1924, S. 5ff.; Salin: Um Stefan George, S. 94: „Dies aber ist das Zeichen der hohen Gerechtigkeit, um derentwillen einst Sokrates von Platon der gerechteste der Menschen genannt wurde und Dante und Stefan Georges Dante-Bild im Spiegel seiner Übertragungen 133 cher mythischer Sehart nicht zuletzt die Anerkennung einer der wichtigsten Funktionen der antiken Poesie, nämlich deren enge Verknüpfung mit dem Lobpreis. Es ist nämlich Platon, der im Namen der Philosophie die Dichtung mit der Ausnahme erbauender Götterhymnen und Preislieder „auf treffliche Männer“ aus dem Bildungssystem seines „Staates“ verbannte. 28 Aufgrund dieser Voraussetzung lässt George (nicht ohne Polemik gegen die Positionen der zeitgenössischen Dante-Kritik) z. B. das Paradiso als poetischen Höhepunkt gelten. 29 Des Weiteren liefert Platon eines der immer noch klassischen Beispiele der Legenden- oder (in diesem Kontext annähernd synonymen) Mythenbildung - die Gestalt des Sokrates als eine eigene Schöpfung -, 30 die ein exemplarisches Nachleben in der Poetik Georges wie in der seiner Anhänger erfährt. Georges Versuch, aus der ungestalten Masse historisch-kulturellen Wissens sinnvolle Bilder hervorgehen zu lassen, die dem Leser der modernen, „zerbrochenen“ Epoche noch bedeutsam sein können, rückt Platons Vorgehensweise erstaunlich nahe, insofern als dieser das Schicksal seines Lehrers zum Vorbild nimmt, um sein eigenes Denken zu schildern. Die Frage nach der objektiven Historizität des Überlieferten lässt sich für uns im Fall des Sokrates nicht völlig lösen; doch erweisen sich Platons Sokrates ebenso wie Georges Dante als subjektive, zwar nicht willkürliche, dennoch zum Teil vielleicht sogar gewaltsam konstruierte Deutungen, die Erkanntes vermitteln möchten und somit schließlich eine eigentümliche Verschränkung von Mythos und Logos in einem neuen Sinn-bild ergeben. George als Sokrates-Platons späte Brüder zu erkennen sind: dass sie […] sich darin am deutlichsten kund tut, dass sie einen Jeden in seiner Art und seinem Rang und seinem Wert und ihm danach den Platz weist. Diese Gerechtigkeit ist die staatliche, die staatbildende und die staat-erhaltende Tucht schlechthin“. 28 Vgl. z. B. Platon, Der Staat, bearb. von Dietrich Kurz, griech. Text von Émile Chambry, dt. Übers. von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 2001 (Sämtliche Werke in 8 Bden., Bd. 4), S. 831, 607a: „[I]n den Staat [ist] nur der Teil der Dichtkunst aufzunehmen […], der Gesänge an die Götter und Loblieder auf treffliche Männer hervorbringt“; zum pädagogischen Wert von Lobliedern vgl. auch Platon, Protagoras u. a., bearb. von Heinz Hoffmann, griech. Text von Louis Bodin u. a., dt. Übers. von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 2001 (Sämtliche Werke in 8 Bden., Bd. 1), S. 125 u. S. 127, 325e- 326a. Zum Verhältnis zwischen Dichten und Preisen vgl. Ernst Morwitz, Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, München/ Düsseldorf 1960, S. 219: „Oberste Dichtung besteht im Preisen. Negieren hat nur dann Sinn in der Dichtung, wenn es vom Preisen übertroffen wird und zur Erhöhung des Preisens beiträgt“. Zu der möglichen Quelle des von George gerne zitierten Spruchs „poetry is praise“ vgl. Jeffrey D. Todd, „‚Poetry is praise‘. Beobachtungen zu Stefan Georges Dichtung“, in: Castrum Peregrini 52 (2003), S. 45-66. 29 Wie Georges Gedicht „Dante und das Zeitgedicht“ schildert; hierzu vgl. Morwitz, Kommentar, S. 218f.; Klussmann, Dante und Stefan George, S. 138f. 30 Zur näheren Bestimmung dieser zwei Begriffe in der Poetik Georges und seiner Freunde vgl. grundsätzlich Anna Maria Arrighetti, Mensch und Werk in kritischen Publikationen des George-Kreises. Zu Friedrich Gundolfs „Goethe“ und zu Ernst Bertrams „Nietzsche. Versuch einer Mythologie“, Heidelberg 2008, insbes. S. 33-53. Anna Maria Arrighetti 134 Es verwundert demnach nicht, dass Dantes Werk im Namen des „Göttlichen“ in der menschlichen Welt, d. h. eben jener angeblich verbindlichen, über die Zeit weisenden Gehalte, die in aller feiernden Dichtung zum Vorschein kämen, im Kreis um George in eine Reihe mit den Evangelien und den Werken der griechischen Antike in einer horizontal ausgebreiteten, beabsichtigt stilisierten „Wirkungsgeschichte“ gestellt wird: Griechische Hymnik und attische Tragödie und platonischer Dialog sind in antiker Zeit die drei Formen, in denen ein verwandtes Geschehen und Erleben seinen bis heute gültigen und mächtigen Ausdruck fand - und noch um die George nächste Erscheinung der Geschichte, um Dante, wirft die COMMEDIA wie die VITA NUOVA und wie Boccaccios Lebensbeschreibung im vollen Taglicht jenen Schleier der Legende, durch den alle Konturen klar und alle Vorgänge sinnhaft erscheinen und in Ehrfurcht und Liebe sich der schöne Lauf des grossen Lebens erfüllt. (Salin, Um Stefan George, S. 152.) Der Begriff „Legende“ soll in diesem Kontext gerade jenen besonderen, relativen Wahrheitsgehalt unterstreichen, den die höchste Dichtung als ein neu formalisierter Zusammenhang wiederzugeben vermag. Darauf deuten auch Gundolfs enthusiastische Töne hin, wenn er Dante die besondere Fähigkeit zuschreibt, „das All in seine gehobene Sprache“ gebannt zu haben, d. h. schöpferische „Kräfte“ erspürt, „heilige Seelengesetze“ mit seherischer Gabe „geschaut“ und diese durch die Gestaltung eines „ganz durchseelten und ganz geschlossenen Kosmos“ im Werk bewahrt, ja gesteigert zu haben (alle Zitate: Gundolf, George, S. 52-53). Als punktuelles Beispiel der gezielten „Anverwandlung“ Dantes an George sei hier noch ein Ausschnitt aus dem Inferno angeführt. Zu den um 1911 datierbaren Übertragungen gehört ein Teil der Begegnung mit Petrus de Vinea (XIII. Gesang, V. 22-45). 31 Die Eingangsszene mit der realistischen Schilderung des dunklen und leblosen, von grauenerregenden Harpyien bewohnten Selbstmörderwaldes im siebten Höllenkreis wird auf eine für George bezeichnende Weise übergangen. Die deutsche Übertragung beginnt an der Stelle, an der im Original ein dramatischer und stilistischer Wechsel eintritt, nämlich da, wo der lyrische Sprecher, nach Vergils Hinweis auf die Außerordentlichkeit des sich ihm bald darbietenden Anblicks, wieder in der ersten Person spricht: „Io sentia d’ogne parte trarre guai“ (V. 22). Bei Georges „Allseitig war von klagen ein geschwirre“ gibt das frequentative Abstraktum „geschwirre“ das expressive Ausstoßen von Wehklagen in erlesen gedämpfter Form wieder. Die nachfolgende dramatische Sequenz, in der Dante einen Zweig von einem Strauch abreißt und die den Dialog zwischen dem Besucher und der Seele in Gang setzt (V. 31-39), lautet im Original und in der Übertragung jeweils wie folgt: 31 Zu den folgenden Versen finden sich hilfreiche Anmerkungen in: Michels, Dante-Übertragungen, S. 65; Emmy Rosenfeld, L’Italia nella poesia di Stefan George, Milano 1948, S. 165f. Stefan Georges Dante-Bild im Spiegel seiner Übertragungen 135 Allor porsi la mano un poco avante E colsi un ramicel da un gran pruno; e ’l tronco suo gridò: „Perché mi schiante? ”. Da che fatto fu poi di sangue bruno, ricominciò a dir: „Perché mi scerpi? non hai tu spirto di pietade alcuno? Uomini fummo, e or siam fatti sterpi: ben dovrebb’esser la tua man più pia, se state fossimo anime di serpi”. Nun strecke ich die Hand hervor und kramme Ein ästchen ab von einer grossen hecke. Da schrie der strunk: Was machst du mir die schramme? Darauf bekam er von dem blute flecke Und schrie zum zweitenmal: Warum mich schinden? Ob denn in dir kein hauch von mitleid stecke? Wir waren menschen und nun sind wir rinden • Und hätten seelen wir gehabt von nattern • Wir hätten mildre hände dürfen finden… Die qualvollen Töne, die Petrus im Original erklingen lässt, erweisen sich bei George zwar als überraschend blasser: „Was machst du mir die schramme? […] Warum mich schinden? “; doch gibt Georges Reim kramme : schramme jene Amplifizierung zurückhaltend wieder, welche die gemäßigte Handlung des lyrischen Sprechers (colsi) bei der verletzten Seele (schiante) hervorruft. An die Beständigkeit, mit der affektiv aufgeladene, die Stimmung der Handlung charakterisierende Wörter bei Dante in Reimposition auftreten (schiante, bruno, scerpi, sterpi, serpi), hält sich George streng (schramme, flecke, schinden, rinden, nattern), wobei er insgesamt die realistische Wucht des Originals in eine distanzierte Gemessenheit umsetzt (vgl. hierzu Michels, S. 65). Die Antithese, die dem menschlich Flüchtigen das ewige Urteil wirksam entgegensetzt („Wir waren menschen und nun sind wir rinden“) nimmt George ebenfalls auf. Die persönliche Geschichte Petrus de Vineas - des Dichters der sizilianischen Schule und in Ungnade gefallenen Kanzlers Friedrichs II. - interessiert den Übertragenden weniger, dem es hier bei dem dramatischen wie musikalischen Höhepunkt des Zwiegesprächs darauf ankommt, die Harmonie des Gesamten durch den konsequenten Rückgriff auf die gleichen formalen - metrischen und rhetorischen - Mittel des Originals wiederzugeben. In Georges Bemühung, die eigenen Ausdrucksmittel möglichst eng - oft auch um den Preis einer nicht wortgetreuen Wiedergabe des Sinnes - an diejenigen Dantes anzugleichen, schwingt wohl eine Freude an der Ergründung, Handhabung und Verfeinerung der geheimen Möglichkeiten der Sprache mit, die jedem Übersetzer eignen: „Am Fremden“, so definiert Gundolf Georges Verhältnis zur zeitgenössischen europäischen Lyrik, „hat Anna Maria Arrighetti 136 er sein Eigenes sagen gelernt“. 32 Georges Verfahren liegt andererseits die Vorstellung zugrunde, dass die strengste künstlerische Formgebung („auswahl“, „die form d. h. […] jenes tief erregende in maass und klang“, „die zusammenstellung“, „reim“, „rhythmus“) 33 Sinnstiftung in der Dichtung zu gewähren und auch deren Wert zu begründen vermöge. Durch den Rückgriff auf bildliche Ausdrücke wie auf adäquate klangliche Sprachmittel empfängt der rationale - oder rational beherrschte - „Inhalt“ in Georges Sicht seine Legitimation. Die strenge Einhaltung des Danteschen Tonfalls ist es aber, was auch zu sprachlicher Gewaltsamkeit und zu Starre führen kann. Die große tatsächliche Schwierigkeit, den Elfsilbler und die Terzinenreime im Deutschen durchzuhalten, vermag nicht immer die vielen sprachlichen Abschwächungen und stilisierten Umschreibungen zu rechtfertigen, die an manchen Stellen von einer gewissen Unzulänglichkeit gegenüber dem Original zeugen. 34 Als die erste Ausgabe der Übertragungen erschien, teilten sich die Reaktionen im deutschen wie im italienischen Sprachraum in zwei kompromisslos entgegengesetzten Gruppen: den enthusiastisch zustimmenden und den scharf ablehnenden (vgl. hierzu Michels, S. 13ff.) Kühne Neologismen und stilistische Lösungen, vor allem aber die grammatikalischen Verstöße und die enge Anlehnung an die metrischen Formen des Italienischen, welche die deutsche Fassung ausschließlich an weibliche Versausgänge bindet und somit den Verfasser oft zu einer breiten, befremdend wirkenden Verwendung des Konjunktivs zwingt - 35 solche Gründe lassen nach Ansicht etlicher 32 Alle Zitate: Gundolf, George, S. 50-51. Dass es sich bei Georges Dante-Unterfangen allerdings um mehr als die Verfeinerung der eigenen stilistischen Mittel handelt, sollte auch angesichts der im Laufe dieser Untersuchung dargestellten Poetik nunmehr außer Zweifel stehen. Italo Michele Battafarano führt Georges Übertragungen auf den grundsätzlichen Willen zum Nacheifern (emulazione) zurück und sieht bei ihm vor allem den Reiz der Herausforderung, „unter ungleichen, ungünstigen Bedingungen“ zu übersetzen. Ob diese psychologische Komponente von entscheidender Tragweite für das Verständnis von Georges Ästhetik ist, bleibt dahingestellt. Nicht hinreichend differenziert erscheint jedenfalls die Behauptung, weder stilistische noch thematische Verwandtschaft mit den ausländischen Autoren habe George zum Übersetzen bewogen. Vgl. ders., Dell'arte di tradur poesia. Dante, Petrarca, Ariosto, Garzoni, Campanella, Marino, Belli. Analisi delle traduzioni tedesche dall’età barocca fino a Stefan George, Bern u. a. 2006, S. 181f. 33 Vgl. Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst, zit. n. Zeller (Hrsg.), Stefan George 1868-1968, S. 65; Stefan George, „Über Dichtung I“, in: George, Sämtliche Werke XVII, S. 68f. 34 Vgl. die Lektüre der Franziska von Rimini-Episode, in: Wuthenow, Das fremde Kunstwerk, S. 116ff. 35 Vgl. Wuthenow, Das fremde Kunstwerk, S. 116. Zu Beispielen für die wenigen männlichen Reime vgl. Michels, Dante-Übertragungen, S. 152. Weitere Betrachtungen zur Eigentümlichkeit der deutschen und der italienischen Verskunst liefert Kloepfer, der Georges und Vosslers Übersetzungen anhand eines naturwissenschaftlichen Analogie- Begriffs vergleichend untersucht, vgl. Rolf Kloepfer, „Das ‚notwendige, welthaltige Stefan Georges Dante-Bild im Spiegel seiner Übertragungen 137 Gegner die Lektüre der Übertragung insgesamt mühsamer und dunkler werden. Selbst der große Romanist Karl Vossler erkennt zwar die Neuheit und mithin die bedeutende ergänzende Funktion von Georges „wesentlich ästhetenmässige[r] und impressionistische[r]“ Arbeit gegenüber den hauptsächlich intellektualistischen der anderen Übersetzer, doch insgesamt kritisiert er, dass „das stilistische Virtuosentum und das spielerische grammatikalische Dilettantentum“ zu Lasten der Übertragung gingen. 36 Neben Borchardts Anerkennung, die sich gerade im Hinblick auf das eigene, dem Georges gleichsam entgegengesetzte Dante-Projekt als desto bedeutsamer erweist, 37 sei hier zuletzt die Besprechung des bedeutenden Dante-Philologen Erich Auerbach von 1924 erwähnt. In seiner lehrreichen Darstellung des Verhältnisses der Deutschen zu Dante hebt er nochmals die Lücke hervor, die Vossler bereits in seiner Rezension gewissermaßen anmerkte und die darin bestehe, dass all die vor George entstandenen Übertragungen trotz ihrer treuen, geschickten und bildungsreichen Wiedergabe der Inhalte kaum an Dantes „ganz geformte, ganz der Seele zugehörige Sinnlichkeit“ gerührt hätten. 38 Georges Auswahl beeinträchtige die Einheit des Danteschen Werkes keineswegs; vielmehr habe der Verfasser erstmals den Zugang zu einem Werk ermöglicht, das den Deutschen bei aller starken, von ihm ausgehenden Faszination wegen ihrer unterschiedlichen kulturellen Tradition lange versperrt geblieben sei: Die unendlich mühevolle Kommentierung jedes einzelnen Verses (ein Merkmal des früheren Dante-Studiums - denn ein Studium war es für die Deutschen -) das immer wiederkehrende Stutzen vor allzu anschaulichen Bildern - die Fremdheit gegenüber dem sinnlichen Abbild der himmlischen Hierarchie: diese drei großen Hindernisse für jedes Vertrautsein mit der Komödie fallen für den fort, dem Georges Übertragungen zugänglich sind […]. (Michels, S. 411) In Auerbachs Sicht bereichern sich an Georges Commedia-Übertragungen zum einen Sprache und Stil, die gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts an einer allgemeinen Verflachung litten; zum anderen stelle Georges Arbeit Wort‘ - Dantes Purgatorio I“, in: ders., Die Theorie der literarischen Übersetzung, München 1967, S. 97-112. 36 Alle Zitate: Karl Vossler, „Dante, ‚Göttliche Komödie‘. Übertragen von Stefan George, Berlin, Bondi 1912“ [Rez.], in: Deutsche Literaturzeitung 36 (1912), Sp. 2288-2290; hier: Sp. 2289f. 37 Rudolf Borchardt, Dantes Comedia Deutsch, hrsg. von Marie Luise Borchardt, unter Mitarbeit von E. Zinn und U. Ott, Stuttgart 1 1967. Eine kritische Gegenüberstellung beider Leistungen findet sich bei Wuthenow, Das fremde Kunstwerk, S. 99-127; zu diesem Thema vgl. außerdem Lucia Mancini, „Rudolf Borchardt und Stefan George: Übersetzer von Dantes ‚Divina Commedia‘“, in: Horst Albert Glaser (Hrsg.)/ Enrico De Angelis (Mitverf.), Rudolf Borchardt 1877-1945. Referate des Pisaner Colloquiums, Frankfurt/ Main u. a. 1987, S. 321-346; Schuhmacher, Das Textparadies als Autorenhölle, insbes. S. 261-266. 38 Erich Auerbach, „Stefan Georges Danteübertragung“, in: Karlheinz Barck/ Martin Treml (Hrsg.), Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, Berlin 2007, S. 410-413; hier: S. 410. Anna Maria Arrighetti 138 einen wesentlichen Schritt auf dem Weg jener Besinnung auf die nationalen Wurzeln wie auf gemeinsame europäische Ursprünge dar, welche den Deutschen das Fortleben gewährleisten könne. Jenseits eines ästhetischen Urteils von Georges Leistung über deren spezifischen, weiterhin gültigen Erkenntnisertrag im Rahmen der deutschen Dante-Philologie, bleibt uns heute somit als Aufgabe, den Zusammenhang zwischen Georges Dante-Bild und der Zeit zu begreifen, der jenes Bild als Exemplum gelten sollte. Ob das Resultat dieses eigenwilligen Versuchs, die antike Trennung zwischen Geist und Leib, Dichter und Priester durch ein neuen Anforderungen zu genügendes Gebilde aufzuheben, Legitimität beanspruchen darf oder nur Gültigkeit in einem begrenzten geistigen Kontext aufweisen kann, bleibt prinzipiell dahingestellt. Möglicherweise kann ein angemessenes Verständnis der kulturgeschichtlichen Bedeutung dieses Übertragungswerks nicht nur einen Beitrag zur Reflexion über Möglichkeiten und Grenzen künstlerischen Schaffens in der Moderne erbringen, sondern auch eine wichtige Grundlage für jenen kollektiven Sinn liefern, den Auerbach bereits als gefährdet ansah. Literaturverzeichnis Alighieri, Dante, La Divina Commedia, commentata da A. Momigliano, Firenze 1951. Alighieri, Dante, Rime, a cura di Gianfranco Contini, con un saggio di Maurizio Perugi, Torino 1995. Alighieri, Dante, La Vita Nuova, introduzione di Giorgio Petrocchi, commento e note di Marcello Ciccuto, 9. Aufl., Milano 2006 (1. 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Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller Nationalmuseum Marbach a. N., München 1968. Bernhard Reitz „The objective poetic emotion“ - T. S. Eliots Rezeption Dantes Auf der Frankfurter Internationalen Buchmesse 2008 war nicht die überraschende Verleihung des Literaturnobelpreises an den französischen Romancier Le Clézio, den nicht gelesen zu haben auch Marcel Reich-Ranicki freimütig eingestand, das beherrschende Thema. Was Verleger und was vor allem die Buchhändler umtrieb, das war vielmehr die Frage, ob mit dem Vordringen von E-Books, mit der Möglichkeit, aus dem Internet ganze Bücher herunterzuladen, nicht vielleicht das Ende ihres Berufstands bereits eingeläutet sei. Im Nachtrag zu dieser Debatte hat Umberto Eco in einem exklusiv für die FAZ geschriebenen Beitrag mit dem Titel Innerer Monolog eines E-Books diese inzwischen nicht mehr ganz neue Technologie anthropomorphisiert. 1 Allerdings ist der Titel seines Essays etwas irreführend und verweist vielleicht darauf, dass Eco - um seine Terminologie zu gebrauchen - lieber „Papierbücher“ liest, anstatt sich Texte aus dem Internet herunterzuladen. Unter E-Books versteht man Texte, die man entweder kostenfrei, wie etwa aus dem Gutenberg-Projekt 2 , oder gegen eine Lizenzgebühr von Anbietern wie Amazon oder Google abrufen kann. Diese Volltexte lassen sich auf dem heimischen PC speichern, aber auch auf einem E-Reader, einem Gerät, das kaum größer ist als ein Blackberry, und mit dem man eine veritable Bibliothek überall und jederzeit verfügbar haben kann. 3 Technisch gesehen ist Umberto Ecos Innerer Monolog nicht der eines E- Books, sondern eines E-Readers. Zur Beschreibung von dessen Befindlichkeit rekurriert Eco implizit auf John Lockes An Essay Concerning Human Understanding von 1690. Auch Ecos E-Reader ist zunächst „tabula rasa“, denn er hat keine angeborenen Ideen. In der Terminologie Lockes ist der E- Reader ein unbeschriebenes Blatt Papier und, ins 21. Jahrhundert übersetzt, ein Speicherchip, auf den noch nichts kopiert ist. Aus diesem ambivalenten Zustand - „ich bin, aber nur, weil ich unter Strom stehe“- wird das E-Book - 1 Eco, Umberto, „Innerer Monolog eines E-Books“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 302, 27. Dezember 2008, Beilage Bilder und Zeiten, Z3. Nachfolgende Zitate beziehen sich auf diese Seite. 2 Zu finden unter http: / / gutenberg.spiegel.de/ . 3 „Kindle“, der neueste E-Reader von Amazon, bietet Platz für 1.500 Bücher. Amazon hat derzeit ca. 230.000 E-Books im Angebot. Bernhard Reitz 142 um Ecos Bezeichnung wieder aufzugreifen - herausgerissen, als sein Besitzer den ersten Text herunterlädt: Plötzlich wurde ich [...] eingeschaltet, ich fühlte ein seltsames Rumoren in mir, und es war, als ob ich jemand anders würde. Ich war in einem dunklen Wald, und mir kamen drei wilde Tiere entgegen, dann bin ich einem Herrn begegnet, der mich an der Hand nahm und führte... Die erste Identität, die Ecos E-Book annimmt, ist die Dantes. Als alter ego Dantes verinnerlicht es die Bandbreite all jener Erfahrungen, die dieser in der Divina Commedia beschrieben hat. Obwohl das E-Book im Rückblick auf das Inferno schaudert, ist die Identifikation mit der Divina Commedia doch ein beglückendes, weil identitätsstiftendes Erlebnis. Dieses hält aber nicht lange an. Denn wie das E-Book erzählt, ist sein Benutzer „gierig und launisch“. In rascher Folge lädt dieser immer neue Texte herunter, und aus der verzückten Anschauung der Heiligen Dreifaltigkeit im letzten Canto des Paradiso wird das E-Book in die Selbstmordszene von Leo Tolstois Anna Karenina katapultiert. Zeit, die auf es einstürzenden Informationen zu verarbeiten, bleibt dem E-Book nicht. Denn unmittelbar darauf ist es als d’Artagnan an der Seite von Athos, Porthos und Aramis in Alexandre Dumas’ Die drei Musketiere unterwegs, um dann scheinbar übergangslos zu Pinocchio zu mutieren. Von nun an überschlagen sich die Rollenwechsel. Das E-Book muss die Identitäten der Rocambole-Romane von Pierre Alexis Ponson du Terrail, eines französischen Erfolgsautors des 19. Jahrhunderts, 4 ebenso verarbeiten wie die Abenteuer Jims in Robert Louis Stevensons Die Schatzinsel. Es wird zu Ishmael in Melvilles Moby Dick, und als Ausweis seiner wachsenden Verwirrung und Verunsicherung trifft es wieder als Pinocchio im Bauch des weißen Wals auf seinen „Vater“, den Figurenschnitzer Gepetto, „der im Licht einer Kerze gegrillten Fisch“ isst. Im Wal mutiert es zu Oedipus, der Laios vergeblich zu erklären versucht, er habe nicht gewusst, dass er seine Mutter heiraten würde, und in der Geschichte der Atriden und der Geschichte Medeas verheddert sich das „Ich“ des E-Books endgültig. Aber damit ist sein Leidensweg noch nicht zu Ende. Es muss auch noch Prousts À la recherche du temps perdu in sich aufnehmen - „Longtemps je me suis couché de bonne heure“-, dazu nachfolgend dann James Joyces Ulysses. In Umberto Ecos Essay verweiblicht sich das E-Book am Schluss durch den Verweis auf Molly Blooms „stream-of-consciousness“-Monolog, der Ulysses beendet: Ich bin eine Frau, die gerade einschläft und vor deren geistigem Auge (aber ich würde bei ihr eher sagen: vor deren unterleiblichem Auge) alles vorbeizieht, was sie gerade erlebt hat. Ich leide, weil ich keinem Komma und keinem Punkt begegne und nicht weiß, wo ich aufhören soll. Ich wäre gern eine andere, aber ich bin gezwungen zu sagen yes yes yes.... 4 Die insgesamt neun Rocambole- Romane erschienen ab 1857. „The objective poetic emotion“ - T. S. Eliots Rezeption Dantes 143 Ulysses endet so: ...and then I asked him with my eyes to ask again yes and then he asked me would I yes to say yes my mountain flower and first I put my arms around him yes and drew him down to me so he could feel my breasts all perfume yes and his heart was going like mad and yes I said yes I will Yes. 5 Das E-Book beendet die Geschichte seiner Identifikationen mit Molly Blooms orgasmischer Phantasie. Es lässt aber auch erkennen, dass es seine Objektrolle, ein passives Gefäß, in das sich alles und jedes ergießt - die sexuelle Konnotation ist von Eco intendiert - eher als Vergewaltigung denn als Beglückung begreift: „Ich wäre gern eine andere, aber ich bin gezwungen zu sagen yes yes yes“. Umberto Ecos Interpretation des Schlusses von Ulysses als einer Identität nicht konstituierenden, sondern sie auflösenden Erfahrung muss im Kontext der Joyce- und gender studies hier unkommentiert bleiben. Aufschlussreich ist allerdings, dass Ecos E-Book, nachdem es zuerst glaubte, in der Divina Commedia seine Identität gefunden zu haben, dann aber mit immer neuen und scheinbar immer weniger kompatiblen Identitäten zwischen Trivial- und Hochliteratur aufgeladen wurde, dennoch hartnäckig, wenngleich vergeblich, an dieser ersten Identität festzuhalten versucht. Ecos E-Book wähnt sich in „einem nichteuklidischen Universum“, „in dem sich die Parallelen andauernd überschneiden“: Ich weiß nicht, ob ich noch lange durchhalten werde. Ich bin ein fahriges, unzusammenhängendes Buch, viele Leben und viele Seelen zu haben ist wie kein Leben und keine Seele zu haben, und außerdem muss ich aufpassen, dass ich mich nicht zu sehr in einen Text verliebe, denn am nächsten Tag könnte mein Benutzer ihn löschen. Ich wäre so gern das Papierbuch, das die Geschichte jenes Herrn enthält, der die Hölle, das Fegefeuer und das Paradies besucht hat. Ich würde in einem ruhigen Universum leben, wo die Unterscheidung zwischen Gut und Böse klar ist, wo ich wüsste, wie man es anstellt, von der Qual zur Glückseligkeit zu gelangen, und wo die Parallelen sich nie überschneiden. Was, so kann man fragen, hat Umberto Ecos Innerer Monolog eines E-Books mit T. S. Eliot zu tun? Wo sind die Verbindungslinien zwischen dem postmodernen italienischen Erzähler Eco, der 1980 durch den Roman Der Name der Rose berühmt wurde, und dem der klassischen Moderne zugeordneten Lyriker, Dramatiker und Literaturnobelpreisträger Eliot, der 1965 verstarb? Die Schnittmenge lässt sich sowohl personalisieren wie auch vom jeweiligen Literaturverständnis beider Autoren her beschreiben. Eco und Eliot, der in seinen literaturtheoretischen Essays wie in seinen Gedichten immer wieder auf Dante Bezug nahm, sehen offensichtlich in Dante Alighieri eine Schlüsselfigur der europäischen Literatur. Das von ihnen geteilte Verständnis von 5 Joyce, James, Ulysses, Harmondsworth 1968, S. 704. Bernhard Reitz 144 Literatur kennzeichnet weiterhin, dass Eliot und Eco Intertextualität als deren wesentliches Merkmal begreifen. Beider Verständnis von Intertextualität ist zudem elitär. Im Inneren Monolog eines E-Books nennt Eco keinen Autor und keinen Werktitel, sondern nur Protagonisten, oder beschreibt, wie im Fall der Divina Commedia, von Tolstois Anna Karenina und Melvilles Moby Dick, szenische Zusammenhänge. Ob Pinocchio oder Proust, ob Dumas, Die Schatzinsel oder Joyce: Umberto Eco setzt den universal belesenen Adressaten voraus, für den die Allusionen des E-Books keineswegs kryptisch sind. Was für das E-Book verwirrend und verstörend ist, so unterstellt Eco, können seine Leser literaturgeschichtlichen Kontexten von der griechischen Antike bis zur Moderne problemlos zuordnen. Ob das bei den heutigen Studierenden der Philologien tatsächlich so vorausgesetzt werden kann, daran sind allerdings erhebliche Zweifel angebracht. Denn um Texte wiedererkennen zu können, muss man sich erst mal mit ihnen vertraut gemacht haben. Kaum weniger elitär verfährt T. S. Eliot, wenn er zu Beginn seines Dante-Essays von 1929 erklärt, man solle sich durch fehlende Italienischkenntnisse nicht davon abhalten lassen, die Divina Commedia im Original zu lesen. 6 Dieser zunächst verblüffende Anspruch - wie kann man einen Text rezipieren, wenn man die Sprache nicht beherrscht, in der er geschrieben ist - löst sich jedoch schnell auf. Denn bei den Adressaten seines Essays setzt Eliot als selbstverständlich voraus, dass sie des Lateinischen mächtig sind. Wer Latein gelernt hat, dem ist deshalb auch der Zugang zu den „tre corone“ der frühen italienischen Literatur, zu Dante, zu Petrarca und zu Boccaccio möglich. Als Lyriker wie als Dramatiker unterstellt auch Eliot, dass seine Leser und seine Zuschauer die intertextuellen Referenzsysteme seiner Texte erschließen können. Der Dramatiker Eliot versuchte sich an der Erneuerung des poetischen Dramas durch eine Synthese zwischen dem zeitgenössischen britischen Gesellschaftsdrama und der antiken Tragödie. The Family Reunion (1939) spielt wie viele der englischen „well-made plays“ aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf dem Landsitz einer begüterten, adligen Familie. Doch hinter der scheinbaren Gegenwartsbezogenheit des Handlungsgeschehens wird deutlich, dass Eliot auf den letzten Teil von Aischylos’ Orestie zurückgegriffen hat, und dass in Die Eumeniden der Schlüssel für das Verständnis seiner Charaktere und deren Konflikte liegt. Als weiteres Beispiel soll hier der Verweis auf The Cocktail Party genügen, das 1949 beim Edinburgh Festival uraufgeführt wurde und dessen Handlungsverlauf Euripides’ Alkestis folgt. Eliot hat sich erst in seiner späten Schaffensphase dem Drama zugewandt, und seine Versuche, das britische „well-made play“ mit dem antiken Drama, zudem Vers und Prosa mit dem Ziel christlicher Sinnstiftung zu 6 Vgl. Eliot, T. S., „Dante“ (1929), in: T. S. Eliot, Selected Essays, London 1956, S. 237-242. Nachfolgende Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe. „The objective poetic emotion“ - T. S. Eliots Rezeption Dantes 145 synthetisieren, wurden von einem sich erkennbar überfordert fühlenden Londoner Theaterpublikum zwar mit Respekt für den Nobelpreisträger, aber nach den Zuschauerzahlen nur zurückhaltend aufgenommen. Dass Intertextualität eine Herausforderung an Zuschauer wie an Leser ist, war Eliot allerdings schon zu Beginn seiner Karriere als Autor und Kritiker bewusst. Den Durchbruch als Lyriker erzielte Eliot 1922 mit dem Gedichtzyklus The Waste Land, der als Schlüsseltext für das Gefühl der Entwurzelung und der Sinnkrise in der Nachkriegszeit des I. Weltkriegs rezipiert wurde. Eliot veröffentlichte The Waste Land zunächst in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift The Criterion ohne Anmerkungen. Erst der zweiten amerikanischen Veröffentlichung bei Boni und Liveright im Dezember 1922 wurden auf Drängen des Verlags von Eliot Anmerkungen hinzugefügt. In diesen verweist er nicht weniger als fünfmal auf Dante. Allerdings decken die nur wenige Seiten umfassenden Notes on The Waste Land bei weitem nicht die Fülle der seinem Gedichtzyklus inkorporierten intertextuellen Verweise ab. Diese reichen von antiken Autoren wie Homer, Sophokles, Petronius und Vergil über die Bibel sowie das Book of Common Prayer hin zu Augustinus und Dante. Zu den englischen Autoren, auf die Eliot durch Zitat oder Verweis anspielt, zählen Geoffrey Chaucer, Edmund Spenser, Thomas Kyd, Thomas Middleton, William Shakespeare, John Webster, Andrew Marvell, John Milton, Oliver Goldsmith, Charles Dickens, Bram Stoker, Joseph Conrad und Aldous Huxley. Charles Baudelaire und Paul Verlaine sind ebenso vertreten wie Richard Wagner und Hermann Hesse, dazu die indischen Upanishaden, ergänzt um Anspielungen auf seinerzeit einflussreiche anthropologische Studien wie James Frazers The Golden Bough (1890) und Jessie L. Westons From Ritual to Romance (1920). Was Ecos E-Book 2009 den Lesern seines „inneren Monologs“ an intertextueller Kompetenz abfordert, ist im Vergleich zu dem, was Eliot bereits 1922 einforderte, eher bescheiden. Mit der Fülle der intertextuellen Verweise in seiner Lyrik, vor allem auch nachfolgend in den Four Quartets (1943), hat Eliot über Jahrzehnte hinweg eine anglistische Entschlüsselungsindustrie in Lohn und Brot gehalten, die zumeist aus jeder neu entdeckten intertextuellen Bezugnahme eine neue Lesart des jeweiligen Gedichts zu begründen versucht hat. Das hat die Eliot-Forschung ungemein verbreitert und aus einer rein philologischen Perspektive unstrittig auch bereichert. Aber damit stellt sich auch die Frage, ob sich nicht insbesondere Eliots Lyrik auf Dechiffrierungsherausforderungen an die so genannten „gebildeten Stände“ reduzieren lässt? Wer alle intertextuellen Verweise Eliots entschlüsseln konnte, der hat, so möchte man vermuten, auch alles verstanden - oder aber vielleicht auch gar nichts. Für Ecos E-Book sind die Texte, die auf es heruntergeladen werden, nicht kompatibel. Ecos Leser jedoch, so sie denn die Texte identifizieren konnten, vermögen in einem zweiten Schritt schon zu erkennen, dass es innere Zusammenhänge gibt. Denn alle von Eco auf seinem imaginierten E-Book ab- Bernhard Reitz 146 gespeicherten Texte handeln von Leit-, von Vaterfiguren, und den Konflikten, die sich daraus ergeben. Als Dante braucht das E-Book Vergil, der es an die Hand nimmt. Als Pinocchio ist es auf seinen Schöpfer Gepetto angewiesen. In der Rolle d’Artagnans vertraut es den erfahrenen Musketieren der Königin, und als Jim in Treasure Island hat es in Kapitän Smollett einen väterlichen Förderer. Dass solche Beziehungen zu Leitfiguren nicht nur positiv konnotiert sind, unterstreicht das E-Book als Ishmael, der von Ahab auf der Pequod angeheuert wird, ebenso wie durch seine Identität als Oedipus, der sich vor seinem Vater Laios zu rechtfertigen versucht. Nur am Rande sei hier darauf hingewiesen, dass Prousts À la recherche du temps perdu eine durch den Tod des Vaters bewirkte persönliche Krise des Autors vorausging, und dass in Ulysses der Beziehung zwischen Leopold Bloom und Stephen Dedalus, zwischen Odysseus und Telemach eine Schlüsselfunktion zukommt. Was sich hier als unifizierendes Element der auf das E-Book einstürmenden Texte abzeichnet, wird von diesem jedoch nicht erkannt, weshalb es sich auf das „ruhige Universum“ der Divina Commedia zurücknehmen möchte - auf das axiomatische Weltbild Euklids, das von der fraktalen Geometrie Benoit Mandelbrots und der Chaostheorie unbelastet ist. Mit fraktaler Geometrie und der von James Gleick 1987 popularisierten Chaostheorie, die schnell auch von der postmodernen Literaturtheorie appropriiert wurde, hat sich T. S. Eliot nicht mehr auseinandersetzen müssen. Jedoch war er sich schon 1922 des zentrifugalen Potentials seiner Zitate, Verweise und Allusionen bewusst, die immer neue Assoziationen generieren und sich rückblickend durchaus mit der stets neue Sinnzusammenhänge schaffenden fraktalen Geometrie Mandelbrots beschreiben lassen. Eliots The Waste Land spiegelt in seiner Überfrachtung mit Zitaten, Verweisen und Allusionen und deren scheinbarer Kontingenz - hierüber ist sich die Forschung einig - die Sinnkrise westlicher Kultur nach der traumatischen Erfahrung des I. Weltkriegs. Eliot wollte diese Sinnkrise jedoch nicht nur verbildlichen, er wollte sie auch mit einer eindeutigen christlichen - aus nachzeitiger Sicht vielleicht reaktionären - Botschaft überwinden. Hierzu bedient er sich Dantes, und es sei vorausgeschickt, dass er dabei weniger dem Stand der Dante-Forschung der Italianistik seiner Zeit Rechnung zu tragen versucht hat, sondern vielmehr eine sehr persönliche Deutung entwickelte. 1932, in erweiterter Form 1951, veröffentlichte Eliot seine Selected Essays. Sechs der sieben Abschnitte fassen thematisch verwandte Essays, z. B. die Beiträge zur elisabethanischen Literatur, zusammen. Im IV. Abschnitt findet sich jedoch nur ein einziger Essay. Es ist Dante, zuerst veröffentlicht 1929. Dante steht im Mittelpunkt des Bandes, und Eliot hat diesen Platz bewusst gewählt. Wer Eliots Essays, beginnend mit dem seinerzeit einflussreichen Tradition and the Individual Talent (1919) konsekutiv liest, sieht sich immer wieder mit Verweisen auf Dante konfrontiert. Dante ist Bezugspunkt unter „The objective poetic emotion“ - T. S. Eliots Rezeption Dantes 147 anderen in den Essays über William Blake (1920), über Hamlet (1919), über Ben Jonson (1919) und in A Dialogue on Dramatic Poetry von 1928. Auch in den auf Dante folgenden Essays greift Eliot wiederholt auf Dante zurück. In dem „sokratischen“ A Dialogue on Dramatic Poetry fordert der Sprecher „D“, Eliots alter ego: When the age has a set religious pratice and belief, then drama can and should tend towards realism, I say towards, I do not say arrive at. The more definite the religious and ethical principles, the more drama can move towards what is now called photography. The more fluid, the more chaotic the religious and ethical beliefs, the more drama must tend in the direction of liturgy.(49) 7 Für Eliots Lyrik löst Dante diesen Bedarf an Sinnstiftung ein. Das Inferno zeigt all jene, die sich als Täter, als Mitläufer und auch als verführte Opfer dem Chaos der „religious and ethical beliefs“ ihrer Zeit nicht gewachsen zeigten. Aber Dante, so T. S. Eliot, hat auch die Sünder des Inferno in ein den einzelnen übergreifendes, allegorisches, liturgisches Dichtungskonzept eingebunden. Deshalb gebührt Dante auch ein höherer Rang als Shakespeare, der ihm zwar in der Darstellung der Breite menschlicher Erfahrungen durchaus ebenbürtig ist, der ihm aber in der Visualisierung von deren Tiefe an Eindringlichkeit nachsteht: „[...] Dante understands deeper degrees of degradation and higher degrees of exaltation”. (252) In „[...] his universal mastery in the use of images” (268), in ihrer allegorischen Deutung des menschlichen Schicksals ist die Divina Commedia für T. S. Eliot „a complete scale of the depths and heights of human emotion”. (268) Diese Schlussfolgerung wird von ihm auch hermeneutisch begründet: The vital matter is that Dante’s poem is a whole; that you must in the end come to understand every part in order to understand any part. (258) Dante braucht in der Divina Commedia Vergil als Führer. Im ersten Canto des Inferno bekennt Dante seine Verehrung für Vergil: „Du bist mein Vorbild und du bist mein Meister, / Du ganz allein bist der, dem ich verdanke / Den schönen Stil, der mich zu Ehren brachte“ (I, 85-87) 8 . Auch wenn sich Dante schließlich vor dem Paradies von Vergil trennen muss ohne Vergils Führung hätte Dante weder seine dichterische Aufgabe noch die sittlich fundierte „Unterscheidung zwischen Gut und Böse“ meistern und den Weg „von der Qual zur Glückseligkeit“, zu deren Anschauung ihn schließlich Beatrice führt, nicht zurücklegen können. Am Beginn der Divina Commedia beschreibt sich Dante als einen, der „den rechten Weg verloren hatte“ (Inferno, I, 3). Hierin wird er für Eliot zur Identifikationsfigur. Dante braucht Vergil, um auf den „rechten Weg“ zurückzufinden, und Eliot braucht Dante, um sich in dem metaphorischen „wilden Wald“, in den im Gefolge des Ersten Weltkriegs volatil gewordenen 7 Eliot, T. S., „A Dialogue on Dramatic Poetry” (1928), in: Selected Essays, S. 43-58. 8 Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Stuttgart 1954. Bernhard Reitz 148 Wertesystemen Europas, der abendländischen Kultur zurechtzufinden. Wie für Dante Vergil, so ist für T. S. Eliot Dante dichterisches und moralisches Vorbild gleichermaßen. Dichterisches Vorbild kann Dante zunächst deshalb sein - und hier schreibt sich Eliot „seinen“ Dante erkennbar zurecht -, weil Dantes Italienisch ein „product of universal Latin“ (239) und im Vergleich mit Shakespeare oder Racine, deren Sprache Eliot als „more local“ einstuft, noch unbeeinflusst ist von „national or racial differences of thought“ (ibid.). Diese Affinität zum Lateinischen macht Dante zu „the most universal of poets in the modern languages“ (238). Um deutsche oder französische Lyrik zu lesen, bedarf es laut Eliot „some sympathy with the French and German mind“. Dante dagegen, „none the less an Italian and a patriot, is first a European” (239). Darauf ist noch zurückzukommen. Nicht nur die Nähe zum Lateinischen wertet Dantes Dichtung aus Eliots Sicht auch für das 20. Jahrhundert noch auf. Die von Eliot postulierte sprachliche Universalität Dantes findet ihren vollendeten Ausdruck darin, dass er die konventionellen Stilmittel der antiken Rhetorik wie Vergleich oder Metapher einbindet in die alle Aussagen strukturierende und die Divina Commedia unifizierende Allegorie. In seinem Hamlet-Essay von 1919 hatte Eliot gefordert: The only way of expressing emotion in the form of art is by finding an ‚objective correlative’; in other words, a set of objects, a situation, a chain of events which shall be the formula of that particular emotion; such that when the external facts, which must terminate in sensory experience, are given, the emotion is immediately evoked. (145) 9 Shakespeare ist dies ausweislich des Hamlet-Essays anscheinend nur unvollkommen gelungen: „Shakespeare tackled a problem which proved too much for him” (146). Folgt man Eliot, dann hätte sich Shakespeare Dante zum Vorbild nehmen sollen. Denn Dante gelingt es, für all die Begegnungen, die sein alter ego zwischen Inferno und Paradies erleiden und erfahren muss, „the objective ‚poetic emotion’“ (238), den adäquaten Ausdruck zu finden und, im doppelten Wortsinn, zu verdichten. In den Versen, die Individualität als ein persönlich zu erleidendes Schicksal, aber zugleich die Universalität menschlicher Erfahrung innerhalb einer den Gesamtentwurf der Divina Commedia übergreifenden Allegorie der Erlösung integrieren, wird für Eliot bei Dante „particular emotion“ zu „universal emotion“. Eliot hat in dem Essay What Dante Means To Me (1950) seine Rückgriffe auf die Divina Commedia nochmals präzisiert. Mit Bezug insbesondere auf The Waste Land schreibt er: 9 Eliot, T. S., „Hamlet”, in: Selected Essays, S. 141-146. „The objective poetic emotion“ - T. S. Eliots Rezeption Dantes 149 I have borrowed lines from him, in the attempt to reproduce, or rather to arouse in the reader’s mind the memory of some Dantesque scene, and thus to establish a relationship between the mediaeval inferno and modern life. 10 Aus diesem Eingeständnis zu folgern, Eliot habe die Bildhaftigkeit des Inferno nur ausgebeutet, um seine eigene Wahrnehmung und Darstellung der für ihn zerrütteten europäischen Nachkriegsgesellschaft zu validieren, wäre allerdings ungerecht. Denn der Schlüsseltext der Divina Commedia ist für Eliot nicht das Inferno, sondern das Purgatorio. Das Inferno hat Europa in den Gräueln des ersten Weltkriegs durchwandern müssen, und für diese liefert Dantes Text die passenden Referenzsysteme. Aber wie Dante an der Seite Vergils kann Eliot an der Seite Dantes, der ihm die Augen für die Befindlichkeit des „modern life“ geöffnet hat, der ihm das Leid gezeigt hat, wo keine Hoffnung mehr bleibt, noch zur Hoffnung finden. Hoffnung ist es, was die Seelen im Purgatorio verbindet. Diese Hoffnung bedarf allerdings einer Führung, die Vergil nicht mehr geben kann. Vergil tritt sie ab an die Kirche, für die in der Divina Commedia Beatrice spricht. Bevor Dante allerdings Beatrice begegnet, trifft er im 26. Canto des Purgatorio noch auf den okzitanischen Troubadour Arnaut Daniel de Riberac, der sich vorstellt als jener, „der immer singt und weint“ (Purgatorio, XXVI, 142). Dante rühmt Arnaut als „il miglior fabbro“, und Eliot zitiert eben dies in seiner Widmung von The Waste Land an Ezra Pound. Dies hat in der Forschung zu der zwar nicht zwingend beweisbaren, aber auch nicht unplausiblen These Anlass gegeben, auch das lyrische Ich von The Waste Land, letztlich Eliot selbst, sähe sich als „miglior fabbro“, als ein Sänger, der, indem er Europas Schicksal und Zustand besingt und beweint, nicht nur an die universale Bedeutung Dantes, sondern auch an die Bedeutung der Troubadoure für eine als zu ihrer Zeit universal verstandene mittelalterliche Dichtung anknüpft. Damit rückt als letzte hier zu berücksichtigende Deutungsebene Eliots Stilisierung Dantes zum Europäer ins Blickfeld. „The culture of Dante was not of one European country but of Europe”, schreibt Eliot, und er fährt fort: It is not particularly the Treaty of Versailles that has separated nation from nation; nationalism was born long before; and the process of disintegration which for our generation culminates in that treaty began soon after Dante’s time. 11 Dass im I. Weltkrieg und noch verheerender im II. Weltkrieg die Aporie des nationalstaatlichen Denkens zutage trat, das erkannte Eliot rückblickend und zugleich vorausahnend bereits 1929 durchaus zutreffend. Diese Stilisierung Dantes zum letzten universalistisch rezipierbaren Europäer ist allerdings historisch wie literaturwissenschaftlich nicht haltbar. Dante und auch der Troubadour Arnaut Daniel sind Wunschprojektionen eines universalisti- 10 Eliot, T. S., „What Dante Means To Me” (1950), in: T. S. Eliot, To Criticize the Critic and Other Writings, London 1965. 11 Eliot, T. S., „What Dante Means to Me”, in: To Criticize the Critic, S. 240. Bernhard Reitz 150 schen Verständnisses von Dichter und Dichtung, von Dichter und Welt. Wo die Politik versagt, wo sie wie im Vertrag von Versailles Europa nicht aus dem Inferno herausführt, sondern nur noch weiter spaltet, da sind nun die Dichter als Leitfiguren und Sinnstifter gefordert. Denn kraft ihrer Befähigung, den Weltzustand durch „the objective poetic emotion“ zu vergegenwärtigen, können sie hinter Disparatem die wechselseitigen Abhängigkeiten veranschaulichen und so tiefere Zusammenhänge, so den vielleicht trotz allem noch möglichen Weg „von der Qual zur Glückseligkeit“ offenlegen. An diesem Punkt schneiden sich dann auch die Parallelen zwischen T. S. Eliots Bestandsaufnahme der „conditio humana“ Europas nach dem Ersten Weltkrieg und Umberto Ecos E-Book, das sich wehrlos postmoderner Volatilität ausgeliefert sieht. Literaturverzeichnis Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, übers. v. Hermann Gmelin, Stuttgart 1954. Eco, Umberto, „Innerer Monolog eines E-Books“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 302, 27. Dezember 2008, Beilage Bilder und Zeiten, Eliot, T. S., „Dante” (1929), in: T. S. Eliot, Selected Essays. London 1956, S. 237-242. Eliot, T. S., „A Dialogue on Dramatic Poetry” (1928), in: T. S. Eliot, Selected Essays. London 1956, S. 43-58. Eliot, T. S., „Hamlet”, in: T. S. Eliot, Selected Essays. London 1956, S. 141-146. Eliot, T. S., „What Dante Means To Me”, in: T. S. Eliot, To Criticize the Critic and Other Writings, London 1965. Joyce, James, Ulysses. Harmondsworth 1968. Caroline Mannweiler Becketts Belacqua: Lob und Tadel einer Anti- Haltung Die Figur des Belacqua aus der Divina Commedia und deren Rezeption bei Beckett ist bereits häufig Gegenstand der Beckett-Forschung geworden, was nicht weiter verwundert, sind die Spuren dieser Figur in seinem Werk doch deutlich auszumachen. So gibt Beckett seinen ersten Protagonisten in den Frühwerken More Pricks than Kicks und Dream of Fair to Middling Women den Namen Belacqua, weiterhin tritt der Name explizit innerhalb einer Rückzugsphantasie in Murphy auf: „At this moment Murphy would willingly have waved his expectation of Antepurgatory for five minutes in his chair, renounced the lee of Belacqua’s rock […]“, eine Phantasie, auf die danach als „his Belacqua phantasy“ 1 sowie in dem Ausdruck „Belacqua bliss“ 2 Bezug genommen wird. In Molloy wird eine der kauernden Position Belacquas ähnliche Haltung als „à la façon de Belacqua“ 3 bezeichnet, in Comment c’est taucht der Name einmal zur Beschreibung des „Protagonisten“ auf, „contre le ventre les genoux remontés le dos en cerceau la tête minuscule près des genoux enroulés autour du sac Belacqua basculé sur le côté“. 4 Neben diesen expliziten Vorkommen des Namens Belacqua in Becketts Werk wird häufig auf das Vorkommen der foetalen Haltung, - als solche wird die Haltung Belacquas, die in der Commedia als die Knie umarmend und den Kopf gesenkt dargestellt ist, gerne bezeichnet - , ohne Erwähnung des Namens verwiesen (L’Innommable, Têtes mortes sind hier u. a. zu nennen), was eine gewisse Kontinuität dieser Figur in Becketts Werk nahe legt. In der Tat wird Belacqua in Becketts Werk nicht nur eine kontinuierliche Präsenz als eindeutig identifizierbarem intertextuellen Bezug zugeschrieben, vielfach wird Belacqua als ein Vorläufer oder eine Art Prototyp aller Beckett- Figuren gesehen: 5 Heinemann spricht im Falle Belacquas von einem „ge- 1 Beckett, Samuel, Murphy, New York 1970 (1938), S. 78. 2 Ebd. S. 111. 3 Beckett, Samuel, Molloy, Paris 1951, S. 12. 4 Beckett, Samuel, Comment c’est, Paris 1961, S. 37. Die Zitate aus Becketts Werk wurden in aller Regel in der Sprache belassen, in denen die ersten Versionen der jeweiligen Werke geschrieben wurden. 5 Kuon spricht diesbezüglich von einem Wandel des Belacqua-Bezugs von einem identifikatorischen Bezug (wie ihn die frühen Werke mit den Protagonisten namens Belacqua aufweisen) hin zu einem metaphorischen Bezug, womit Belacqua eine Rolle für die Entschlüsselung auch der späteren Protagonisten zukommt. Vgl. Kuon, Peter, Lo mio maestro e ’l mio autore, Die produktive Rezeption der Divina Commedia in der Erzählliteratur Caroline Mannweiler 152 heime[n] Vorbild späterer Protagonisten“, 6 wobei er sich auf die Protagonisten aus dem Frühwerk bezieht, deren Entwurf er aber auf den Danteschen Belacqua zurückführt. Das Vorbildmotiv in Bezug auf Belacqua findet sich auch bei Krämer: Die hier geschilderten Charakteristika des Beckettschen Belacqua (Trägheit von Körper und Geist, abwartende embryonale Haltung) machen ihn zu einer Art Adam, einem Prototypen für alle weiteren Beckettschen Charaktere. 7 De Logu spricht ebenfalls von Belacqua als „Prototypen“, wenn er schreibt: „[…] In the hands of Beckett, [Belacqua] becomes the prototype of most of the heroes or rather anti-heroes, of his tales and novels, such as Murphy, Molloy and Malone.” 8 Als weiterer Beleg für die These einer Prototyp-Funktion des Belacqua ist Kesting zu nennen: Von dieser Figur des Belacqua her entschlüsselt sich Becketts späteres Werk: es ist von lauter Belacquas bevölkert, die im unbewegten Grau des Purgatoriums sitzen, das nun nicht mehr ein Durchgangsstadium für die Seelen ist, sondern ein sich gleichbleibender endloser Zustand, dem weder Paradies noch Hölle Grenzen setzen. 9 Als Kronzeugen für die Verbindung zwischen Belacqua und den späteren Beckett-Figuren könnte man Strauss anführen, der in Dante’s Belacqua and Beckett’s Tramps bereits 1959 die intertextuellen Bezüge aufgedeckt und als Zugang zum Werk Becketts analysiert hat. Auch er sieht in den Beckettschen Außenseitern die Spur Belacquas, wie etwa in folgender Passage deutlich wird: In the other French writings [apart from Molloy] Belacqua is no longer specifically mentioned by name. He has been completely absorbed into the protagonists - that ghostly procession of lame, blind, impotent old men, the „dying gladiators“. 10 Wie bei Kesting bereits angeklungen ist, wurde die Belacquasche Haltung der Protagonisten häufig als Ausdruck der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ der modernen Welt beschrieben, wie es beispielhaft bei Breuer ausgedrückt wird: „Der passiv und ironisch-resigniert im Schatten kauernde Beder Moderne, Frankfurt 1993, S. 210. 6 Heinemann, Paul, Potenzierte Subjekte - Potenzierte Fiktionen. Ich-Figurationen und ästhetische Konstruktion bei Jean Paul und Samuel Beckett, Würzburg 2001, S. 302. 7 Krämer, Stefanie, Das Motiv des Fegefeuers bei Samuel Beckett, Münster 2004, S. 42. 8 De Logu, Pietro, „The Unifying Power of Tradition: The Presence of Dante in W. B. Yeats’s and Samuel Beckett’s Works,”, in: Zach, Wolfgang (Hrsg.), Literature(s) in English. New Perspectives, Frankfurt/ M. 1990, S. 61-67, S. 65. 9 Kesting, Marianne, „Belacqua im Purgatorium: Der frühe und der späte Beckett.“ In: Marianne Kesting (Hrsg.), Auf der Suche nach der Realität: Kritische Schriften zur modernen Literatur, München 1972, S. 100-103, S. 101. Es geht uns hier zunächst nur um den Beleg der Verbindung von Belacqua und den späteren Beckett-Figuren, zur Deutung des Purgatoriums und der damit einhergehenden Deutung der Moderne, siehe Fußnote 40. 10 Strauss, Walter, „Dante’s Belacqua and Beckett’s Tramps“, in: Comparative Literature 11.3 (1959), S. 250-261, S. 254. Becketts Belacqua: Lob und Tadel einer Anti-Haltung 153 lacqua ist Sinnbild der geistigen und (religiösen) Hoffnungslosigkeit des modernen Menschen.“ 11 Eine ganz ähnliche Beschreibung finden wir bei Sarang, der ebenfalls Belacqua als zentrale Figur der Beckettschen Welt bezeichnet: „Despair, lack of faith, weariness of the spirit - we are not strangers to these. […] The Beckettian world, with Belacqua at its centre, gives compelling expression to the boredom of modern life.“ 12 Auch Krämer stellt einen deutlichen Bezug zwischen der Belacquaschen Haltung und der modernen Welt her, in der der „Versuch jeglicher Sinnstiftung […] selbst sinnlos geworden [ist]“ und damit auch die „Untätigkeit“ der Belacqua-Figur „nicht allein durch Faulheit begründet“ ist, sondern „durch die Handlungsunfähigkeit angesichts einer absurden Welt.“ 13 Gleichzeitig ist zu bemerken, dass diese Figuren, wenn sie auch möglicherweise so etwas wie die „conditio humana“ in der Moderne „verkörpern“, gleichwohl nicht „repräsentativ“ für die moderne Gesellschaft stehen können: es sind Außenseiterfiguren 14 - Figuren, die sich gewissen Standards und Erwartungen entziehen, ihnen jedenfalls nicht gerecht werden. Hierzu schreibt Heinemann, den Bezug zu Belacqua fortführend: „Belacquas Antwort antizipiert die Aussagen der Verweigerer-Figuren Becketts, die von der Sinnlosigkeit jeglichen Handelns in der äußeren Welt überzeugt sind.“ 15 Und etwas weiter: Dieses Verhalten deutet darauf hin, dass sich die Außenseiterfiguren zunehmend aktiv ins soziale Abseits begeben und damit ihrem Degout gegenüber den Standards der bürgerlichen Gesellschaft Ausdruck verleihen. 16 Wo Heinemann die Reaktion auf die „Sinnlosigkeit“ der Moderne als aktiven, dezidiert anti-bürgerlichen Rückzug versteht, erscheint in anderen Arbeiten eher ein melancholischer oder, wie bei Breuer formuliert, resignativ gestimmter Rückzug. Gemein ist diesen Betrachtungen aber, dass sie Becketts Figuren als Außenseiterfiguren, als Verkörperungen einer der „äußeren“ Welt abgewandten Haltung ansehen, was folgende Beobachtung zu- 11 Breuer, Rolf, Die Kunst der Paradoxie: Sinnsuche und Scheitern bei Samuel Beckett. Samuel Beckett zum 70. Geburtstag, München 1976, S. 27. 12 Sarang, Vilas, „Sisyphus and Belacqua: Reflections on Four European Authors“, in: Chandrabhaga: A Magazine of World Writing, 13 (1985), S. 57-61, S. 58. 13 Vgl. Krämer, Stefanie, Das Motiv des Fegefeuers, S. 44. 14 Ob von „Anti-Helden“, „Ausgestoßenen“ (man denke an L’Expulsé, den Titel einer Kurzgeschichte Becketts), prekär lebenden Wesen, „clochards“ oder „tramps“, wie es bei Strauss lautet, die Rede ist: dass Becketts Figuren des öfteren am Rande der Gesellschaft leben, dürfte als Gemeinplatz in Bezug auf Becketts Werk gelten. 15 Heinemann, Potenzierte Subjekte - Potenzierte Fiktionen, S. 303. Die Antwort, auf die Heinemann hier Bezug nimmt, ist Belacquas Erwiderung auf den im Aufstieg begriffenen ‚Dante’, der die Trägheit des am Läuterungsberg kauernden Belacqua bemerkt: „Or va tu su, che se’ valente! “ (Purg. IV, 114). 16 Heinemann, Potenzierte Subjekte - Potenzierte Fiktionen, S. 305. Caroline Mannweiler 154 lässt: Die Beschreibungen Belacquas als Prototyp der Beckettschen Figuren schlagen eine Brücke zwischen Belacqua als weltabgewandter Figur und den Beckettschen „Außenseitern“ als paradigmatisch modernen Figuren, die durchaus nahe liegend scheint, aber auch Tücken aufweist, legt sie doch gewissermaßen Kausalitäten zwischen einer Rückzugshaltung und moderner Einsicht in Sinnlosigkeit nahe, die nicht unkommentiert bleiben können, nicht nur weil sie alle Menschen, die aktiv und nicht marginal bleiben, sozusagen als „Überzeugungstäter“ oder aber als unmodern erscheinen lassen, sondern auch und vor allem, weil sie den Außenseiterrollen selbst in Becketts Werk nur teilweise gerecht werden. Bei einem genaueren Blick auf die Beckettschen „Außenseiter“ wird schnell deutlich, dass das Problem dieser Figuren nicht mit der Sinnlosigkeit der modernen Welt anfängt, die ohne weiteres festgestellt wird und angesichts derer also keine Aktion mehr sinnvoll sein kann, sondern dass das Problem in den Protagonisten selbst liegt, in der, wie es bezüglich des Protagonisten Belacqua in Dream of Fair to Middling Women geschildert wird, „Krankheit“, in Frage zu stellen: „[…] his Smeraldinalgia was swallowed up immediately in the much greater affliction of being a son of Adam and cursed with an insubordinate mind“ 17 . Die Plage des infragestellenden Geistes schafft die fundamentalen Probleme der Beckettschen Außenseiter, eine Plage, die noch jede Sehnsucht in den Schatten stellt, schafft sie doch die Sehnsucht selbst ab, in dem sie alles, bis hin zur Welt und dem Dasein des Menschen selbst, in Frage zu stellen in der Lage ist. Es ist angesichts dieses „aufmüpfigen“ Geistes also gar nicht entscheidend, mit welcher Welt es die Beckettschen Figuren zu tun haben, sie sind nie davor gefeit, diese in Frage zu stellen, sich ihr nicht unterzuordnen, und damit nicht mehr ganz in ihr aufgehoben zu sein. Die Welt braucht dabei gar nicht den Widerspruch herauszufordern, das Bewusstsein widerspricht ganz ungefragt, wie in L’Innommable ausgedrückt ist: „Ici, tout est étrange. Non, c’est d’y penser qui est étrange.“ 18 Die Welt ist nicht „seltsam“, aber das darüber Nachdenken ist es, es erzeugt die Fremdheit, die Infragestellung des Vorhandenen. Die einzige Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, wäre also nicht eine auf einmal sinnvollere Welt, sondern die Abschaffung der Figuren oder zumindest ihres „Bewusstseins“, des „insubordinate mind“ selbst. 19 Das ist die radikale und vielzitierte Einsicht in Endspiel, von 17 Beckett, Samuel: Dream of Fair to Middling Women, New York 1993, S. 5. 18 Beckett, Samuel: L’Innommable, Paris 1953, S. 237. 19 Natürlich ließe sich das Problem des Bewusstseins und der damit einhergehenden „Erkenntnis“ von Kontingenz auch als Kennzeichen der Moderne beschreiben. Worum es uns geht, ist lediglich, den Eindruck zu vermeiden, Beckett ergäbe sich in einer Art larmoyanten Haltung, die die Situation des Menschen in der Moderne als besonders unerträglich und damit die Verzweiflung sozusagen als besonders gerechtfertigt erscheinen lässt und vor allem eine Annahme „besserer“ Zeiten, seien es kommende oder vergangene, nahelegt. Hier scheint uns Beckett es aber ganz mit Pozzo zu halten: „Ne disons donc pas de mal de notre époque, elle n’est pas plus malheureuse que les Becketts Belacqua: Lob und Tadel einer Anti-Haltung 155 Hamm ausgesprochen: „[…] vous êtes sur terre, c’est sans remède! “ 20 Sie sind auf der Welt. Dagegen gibt es kein Mittel. There’s no cure for that. Für unsere Protagonisten hat dies sehr konkrete Auswirkungen. Nicht nur, dass sie immer wieder die „Außenwelt“ in Frage stellen - man denke an Watt, den großen Skeptizisten - nein, da das Problem des Infragestellens für jede „Welt“ gilt, für alles, was den Protagonisten entgegentritt, gilt es auch für die innere, abgeschlossene Welt des Rückzugs. Man kann dieser inneren Welt sicher eine gewisse privilegierte Stellung einräumen, so sie wenigstens vor äußeren Störfaktoren sicher ist, und somit ein Minimum an Widerstand aufweist, aber solange der Geist wenigstens noch wach ist, solange hören auch die Stimmen nicht auf und solange besteht die Gefahr, dass auch die größte innere Ruhe irgendwann „in Frage gestellt“ würde: „Si cette voix pouvait s’arrêter, qui ne rime à rien, qui empêche d’être rien, nulle part […]”. 21 Auch wenn das Bedürfnis nach völliger Ruhe, nach einem Aufhören der Stimmen und damit des Widerspruchs in den Figuren durchaus vorhanden ist, so ist doch gleichzeitig klar, dass dieses nur im Nicht-Sein, im Tod möglich wäre und damit den Figuren, solange sie leben, nicht vergönnt ist. Souveräne Passivität und Überlegenheitsgefühl gegenüber der geschäftigen Außenwelt bleiben den Beckettschen Charakteren also weitestgehend verwehrt, genussvolles Einrichten in einer ästhetischen Sphäre reiner Kontemplation bleibt die Ausnahme, aber mehr noch: Tendenzen der Idealisierung einer solchen kontemplativen Lebensart, möglicherweise gepaart mit einem „plaisir de rompre“ und einer Art überlegener Freiheitsliebe, bleiben in Becketts Werk nicht unwidersprochen: dem sensiblen Künstler Belacqua in More Pricks Than Kicks wird die Bezeichnung „indolent bourgeois poltroon“ 22 zuteil, der Künstler erweist sich als durchaus bürgerlicher Charakter, dessen Rückzug nicht nur auf tiefer Einsicht in die Verhältnisse, sondern auch auf Feigheit beruht, wie es der Erzähler in Malone meurt feststellt: „Je sens s’amonceler ce noir, s’aménager cette solitude, auxquels je me reconprécédentes. […] N’en disons pas de bien non plus. […] N’en parlons pas.“ (Beckett, Samuel, En attendant Godot, Paris 1952, S. 42) Das Problem liegt für Beckett wohl in der Koexistenz von Mensch und Welt, die mit der Geburt gegeben ist, und immer problematisch bleibt, bedeutet sie doch stets potentiell „Fremdheit“, und während sich moderne Menschen eben mit ihrem „aufmüpfigen“ Bewusstsein plagen, das die Fremdheit zwischen ihnen und der Welt erzeugt, mussten es Menschen aus anderen Epochen mit ihnen unverständlichen Naturmächten. Entscheidend ist, dass solange es Mensch und Welt gibt, es auch Unterschiede gibt - seien sie nun der Welt oder dem Menschen attribuiert - die den Menschen sein Nicht-Aufgehobensein in der Welt spüren lassen. An diesem Problem ist nichts zu ändern, es sei denn durch Abschaffung eines der Elemente; kein „historischer Fortschritt“ kann dieses Grundproblem beheben, weshalb es Beckett fernliegt, die eigene Zeit als besonders „schlimm“ anzusehen - was naturgemäß nichts an ihrem „Schlimmsein“ ändert. 20 Beckett, Samuel, Fin de Partie, Paris 1957, S. 73. 21 Beckett, L’Innommable, S. 171 22 Beckett, Samuel, More Pricks than Kicks. New York 1994 (1934), S. 161. Caroline Mannweiler 156 nais, et m’appeler cette ignorance qui pourrait être belle et n’est que lâcheté.“ 23 Dem „plaisir de rompre“ 24 aus Murphy brauchen wir nur das genannte Zitat der „curse of an insubordinate mind“ an die Seite zu stellen, in dem die Freiheit zum Widerspruch als eine Plage empfunden wird, um zu erkennen, dass von anti-bürgerlichen Idealisierungen individueller Freiheit in Becketts Werk keine Rede sein kann: Hierzu vielleicht noch eine schöne Stelle aus Molloy: „Toutes les choses qu’on ferait volontiers, qu’il n’y a aucune raison apparemment pour ne pas faire et qu’on ne fait pas! Ne serait-on pas libre? “ 25 Freiheit heißt keineswegs, das zu tun, was man gerne tut, sondern Freiheit heißt, nicht im Einklang mit sich und der Welt leben zu können, genauer gesagt, noch nicht einmal im Einklang zwischen seinen eigenen Bedürfnissen und Handlungen: selbst die Dinge, die man manchmal gerne tun würde, tut man nicht - das ist Freiheit bei Beckett. Vor diesem Hintergrund erhält auch die Forderung Viktors aus Eleutheria, einem posthum erschienenen frühen dramatischen Werk Becketts, ihre ganze Ambivalenz: Victor: Je me demande mon bien, quand je peux. Vitrier: Votre bien, quel bien? Victor: Ma liberté. Vitrier: Votre liberté! Elle est belle, votre liberté! Liberté pour quoi faire? Victor: Pour rien faire. 26 Beckett spielt gerade mit dem Begriff Freiheit als „Kampfbegriff“, der dem Außenseiter dazu dient, ein Leben zu fordern, das nur den eigenen Bedürfnissen folgt, und der recht unemphatischen Realität dieser Freiheit im Leben der Beckettschen „Außenseiter“. Den vielleicht vehementesten Einspruch gegen den Eindruck einer souveränen, selbstsicheren oder gar ‚weisen’ Zurückgezogenheit finden wir in Malone meurt: Et si je me raconte, et puis l’autre qui est mon petit, et que je mangerai comme j’ai mangé les autres, c’est comme toujours, par besoin d’amour, merde alors, je ne m’attendais pas à ça, d’homuncule, je ne peux m’arrêter. 27 Das Schreiben selbst, das „se raconter“, das sich Erzählen in der ästhetischen Zurückgezogenheit, dient paradoxerweise der Kontaktaufnahme und dies nicht mit einem überlegenen Geist, einer überlegenen geistigen Sphäre, sondern mit einem Homunculus, einem Menschen, den Wesen, vor denen man sich gerade zurückgezogen hat. 23 Beckett, Samuel, Malone meurt, Paris 1951, S. 23 24 Beckett, Murphy, S. 48. 25 Beckett, Molloy, S.47. 26 Beckett, Samuel, Eleutheria, Paris 1995, S. 90. 27 Beckett, Malone meurt, S. 84. Becketts Belacqua: Lob und Tadel einer Anti-Haltung 157 Auch wenn Becketts „Protagonisten“ also in der Tendenz natürlich alle marginale Gestalten sind, den Rückzug, die „Anti-Position“ und die Einsamkeit suchen, oder besser aushalten, so darf man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Tendenz nie als definitive Position, als „Wahrheit“ des Außenseiters stehen bleibt. Zur Einsamkeit verdammt, sind die Charaktere Becketts doch nicht unbedingt immer für die Einsamkeit geboren. 28 Das heißt keineswegs, dass die Isolation aufgehoben würde: wir werden nicht erleben, wie Beckettsche Figuren auf einmal in der Ordnung „ankommen“ und so etwas wie Glück im bürgerlichen Leben finden. Die Integration in den Schoß der Gesellschaft wird nicht als Lösungsweg präsentiert. Dies hieße schließlich das Grundproblem zu umgehen, nämlich die Unmöglichkeit endgültiger Harmonie, das völlige Aufgehen in der Welt, ganz gleich welcher. Uns an dieses Grundproblem erinnernd und nach den bisherigen Ausführungen dürfte es nun plausibel erscheinen, wenn wir die offensichtliche Anti-Haltung der Beckettschen Figuren und deren Verkörperung in Belacquas foetaler Haltung vor allem als Einspruch gegen die Vorstellung verstehen, Ordnung könne totale Harmonie gewährleisten, könne Differenz ausschalten. Nur insofern die mehrheitliche Ordnung, und dies ist in Becketts historischem Kontext eine „bürgerliche“ Ordnung, dies suggeriert, trifft sie in Becketts Werk auf den Widerstand der Protagonisten. Es sind die Harmoniesucht der „bürgerlichen“ Ordnung, der Anspruch, Lösung für alle Probleme menschlicher Existenz sein zu können, letztlich die Illusion, Totalität herstellen zu können, die die Abkehr erzeugen, nicht die Tatsache, dass es überhaupt Ordnung gibt, dass Menschen sich an irgendwelchen Vorgaben orientieren, sich „aufraffen“, sich auch angesichts wohlmöglicher Sinnlosigkeit „Sinn“ geben. Und so ist es auch die Harmoniesucht, die die Außenseiter wie beschrieben bei sich selbst „kritisieren“ und die sie zu einer Relativierung ihrer Zurückgezogenheit führt. Das gleiche Kriterium, welches sie von der gesellschaftlichen Ordnung wegführt, führt sie auch dazu, ihre eigenen Positionen wieder zu verlassen, sie nicht als „ideal“, in sich vollkommen gelten zu lassen, sondern sie immer wieder in Frage zu stellen, ihre Brüche zuzugeben. Dass es den Außenseiterfiguren also nicht um einen Rundumschlag gegen jegliche Ordnung und damit verbundene alltägliche „Sinngebungen“ geht, lässt sich anhand einer Passage aus Dream of Fair to Middling Women illustrieren, in der eine Begegnung mit einem Schutzmann geschildert wird. 28 Auch Kesting stellt fest, dass die Sphäre der ästhetischen Produktion, welche sie als Endpunkt des Rückzugs der Beckettschen Figuren ansieht, nicht als definitive Lösung in Becketts Werk erscheint. Wie sich im Verlauf der vorliegenden Arbeit zeigen wird, sehen wir hierin aber nicht nur ein weiteres „Scheitern“, sondern eine Relativierung der gesamten Rückzugshaltung. Vgl. Kesting, Marianne: „Die Genese der Beckett-Figur in der Literatur des 19. Jahrhunderts“, in: Martin Brunkhorst / Gerd Rohmann / Konrad Schoell (Hrsg.), Beckett und die Literatur der Gegenwart, Heidelberg 1988, S. 9-25, S. 24-25. Caroline Mannweiler 158 Konfrontationen mit Schutzmännern wie sie bei Beckett häufig vorkommen, eignen sich natürlich, um die Ordnungssucht der Gesellschaft herauszufordern und es wäre ein leichtes, diese in der Logik der ideologischen Gewalt einfach als Eskalation darzustellen, die das „wahre“ Gesicht der Ordnung zeigt, nämlich der, „Ordnung“ zu sein. Stattdessen folgende Szene: ‚Get off my pier! ’ said the wharfinger rudely ‚and let me get home to my tea.’ This seemed fair enough. It even seemed natural enough to Belacqua that the man should speak of the pier as his. In a sense it was his pier. He was responsible for it. That was what he was there for. That was what he was paid for. And it was very natural that he should want to get home to his tea after his day’s work. ‚To be sure’ said Belacqua, rising from the stanchion, ‚how thoughtless of me. May I…’ He felt in his trouser pocket for a sixpenny bit or failing that a shilling, and pulled out all that he had left - twopence. Belacqua stood hatless in the mizzle before his adversary, the foreskirt of his reefer flung back, and the discoloured lining of the pocket protruded like we cannot think what. It was a very embarrassing moment. ‚May you what? ’ said the wharfinger. Belacqua blushed. He did not know where to look. He took off his glasses in his confusion. But of course it was a case of locking the stable door after the steed had flown. Dare he offer such a heated man twopence. ‚I can only apologise’ he stammered ‚for having put you to this inconvenience. Believe me, I had no idea…’ The wharfinger spat. No smoking was allowed on the pier but spitting was different. ‚Be off my pier’ he said with finality ‚before that spit dries.’ Belacqua thought what an extraordinary expression for a man in his station to use. The phrase was misapplied he thought, surely something was wrong with the phrase somewhere. And in such weather it was like inviting him to postpone his going until the Greek Kalends. These conceits passed through his mind as he walked rapidly landward down the wharf with his oppressor hard on his heels. When the gate had slammed safely behind him he turned round and wished the wharfinger a courteous good-evening. To his surprise the man touched his cap and replied with quite a courteous little good evening. Belacqua’s heart gave a great leap of pleasure. ‚Oh’, he cried ‚good-evening to you and forgive me, my good man, won’t you, I meant no harm.’ But to acknowledge an obvious gentleman’s courtly greeting was one thing and to pooh-pooh offhand a flagrant act of trespass was quite another. So the wharfinger hardened his heart and disappeared into his hut and Belacqua had no choice but to hobble away on his ruined feet without indulgence, absolution or remission. 29 Das Bemerkenswerte an dieser Passage ist eben, dass Becketts Protagonisten natürlich die Ordnungsgewalt herausfordern, aber nicht um sie als solche bloßzustellen, sie „verstehen“ den Ordnungshüter, seine Motive und seine Bedürfnisse. Dass er einer Ordnung folgt, ist verständlich, schlimm wäre nur, wenn er ihr bedingungslos folgen würde, wenn es für ihn „nur“ die Ordnung gäbe, und er somit den Störenfried einzig als Unordnung, als zu eliminierenden Irrtum ansehen könnte. Da der Schutzmann dies hier aber nicht tut, sondern eine wenn auch minimal respektvolle Geste zeigt, die den Störenfried doch als der Koexistenz würdig anspricht, ist das Verhalten des Ordnungshüters in der Passage hier nicht wesentlich kritikwürdiger als das 29 Beckett, Dream of Fair to Middling Women, S. 7-8. Becketts Belacqua: Lob und Tadel einer Anti-Haltung 159 des Protagonisten, der sich viel eher einer „Verabsolutierung“ von Ordnung hingibt: er möchte Absolution. Er möchte nicht nur von dem Ordnungshüter in Ruhe gelassen werden, nicht nur „nicht bestraft“ werden, sondern geradezu bedingungslos akzeptiert werden. Doch genau diese Tendenz wird in der Stelle nicht ohne Eingeständnis der eigenen Harmoniesucht, als Wunsch nach Absolution gekennzeichnet, als ein Nicht-Aushalten-Können der Differenz, die hier eigentlich selbstverständlich gegeben ist. Nun sollte unseren Ausführungen nicht entnommen werden, dass das Verhalten der Ordnungshüter bei Beckett als unproblematisch erscheint, dem ist natürlich nicht so: es erscheint durchaus als stur, grob, ein wenig „kleingeistig“ und böte sicher Anlass für Kritik an bürgerlicher Ordnungsliebe. Worum es uns aber geht, ist die genaue Zielsetzung der Kritik bei Beckett auszumachen, die eben nicht einfach im Bestehen von Ordnungen liegt, welche sozusagen von mangelnder Einsicht in die Tiefe der menschlichen Verzweiflung zeugen, sondern in der Suggestion, Ordnung könne allumfassend sein, könne totale Harmonie gewährleisten, die durch kein Bewusstsein mehr zu sprengen ist. Anders formuliert: Worüber sich der Protagonist in der zitierten Stelle regelrecht freut, ist die kleine „Inkonsequenz“ von Seiten des Schutzmanns, die kleine unerwartete Geste, das, was die Ordnung als allumfassend, als widerspruchsfrei und damit völlig vorhersehbar widerlegt. All dies, was die Perfektion der Ordnung und damit die Illusion totaler Harmonie ankratzt, ist in Becketts Werk grundsätzlich willkommen. Und vor diesem Hintergrund leuchtet die Vorliebe Becketts für solche Haltungen wie die Belacquas (oder Molloys oder anderer Figuren) ein: sie stören in jedem Fall ein wenig das Bild der Perfektion. Ebenso die Mülltonnen, die Rollstühle, die Krücken, etc., etc. - Man braucht nur einen Blick auf Becketts Werke zu werfen, um sich unwiderruflich der Tatsache zu erinnern, dass die Welt nicht nur schön ist. Eine Tatsache, die gerade von Seiten der Ordnungsliebenden gerne einmal vergessen oder uminterpretiert wird, wie es Clovs Aussage in Fin de Partie deutlich macht: „On m’a dit, C’est là, arrête-toi, relève la tête et regarde cette splendeur. Cet ordre! […] On m’a dit, Tous ces blessés à mort, avec quelle science on les soigne.“ 30 Der Anspruch der Ordnung, perfekte Harmonie herstellen zu können, wird hier in seiner höchst problematischen, menschliches Leid verkennenden Tendenz offenbar. 31 30 Beckett, Samuel, Fin de Partie, Paris 1957, S. 108. 31 Zu diesem Problem ließe sich noch eine weitere Passage aus Fin de Partie anführen, in der Hamm eine Begegnung mit einem „Alten“ schildert: „Je le prenais par la main et le traînais devant la fenêtre. Mais regarde! Là! Tout ce blé qui lève! Et là! Regarde! Les voiles des sardiniers! Toute cette beauté! (Un temps) Il m’arrachait sa main et retournait dans son coin. Epouvanté. Il n’avait vu que des cendres. (Un temps). Lui seul avait été épargné. (Un temps.) Oublié. (Un temps.) Il paraît que le cas n’est… n’était pas si… si rare.“ Vgl. Beckett, Fin de Partie, S. 62-63. Hier Anspielungen auf Auschwitz zu erkennen, ist sicher nicht unmöglich, in jedem Fall dient die Passage dazu, die Unerhört- Caroline Mannweiler 160 Die Gefahr der diese Ansprüche entlarvenden Haltungen in Becketts Werk aber ist eben, zu reinen Anti-Haltungen zu werden, die nicht mehr nur einen Perfektionsanspruch negieren, sondern das Streben schlechthin und damit auch positive Zustände in ihren Bann reißen, so als könnten Aktivität, Harmonie, eine gewisse Ordnung keine erstrebenswerten Zustände mehr sein. Beckett hat im Laufe seines Werkes interessanterweise eine Alternative zu diesen Anti-Haltungen gefunden, die beides ermöglichen: sowohl die Kritik an Perfektionsansprüchen und Harmonieillusionen als auch die Möglichkeit, an Ordnungen und den diesen Ordnungen zugrunde liegenden Bedürfnissen zu partizipieren. Man könnte diese Methode die des Scheiterns oder des Versuchs nennen. Beispielhaft nehmen wir die Szene aus Godot, in der Vladimir inmitten der verzweifelten Langeweile vorschlägt: „Si on faisait nos exercices? “ Dann turnen die beiden ein wenig, merken, dass sie müde sind, und reduzieren das Vorhaben auf „Atemübungen“: „Faisons au moins nos respirations.“ Bis Estragon einwirft: „Je ne veux plus respirer.“ 32 Ich will nicht mehr atmen. Solche Stellen findet man in Godot des Öfteren und selbstverständlich kann man in ihnen die „Sinnlosigkeit“ menschlichen Handelns dargestellt finden, aber dies ist doch ein wenig zu einfach. Es ist klar, dass die beiden durch ihre Turnübungen nicht auf einmal „Sinn“ finden werden und ihr Nicht-Aufgehobensein in der Welt ein für alle Mal aufheben können. Auch die evidentesten Tätigkeiten wie Atmen können noch auf Widerstand stoßen, in Frage gestellt werden, und so können wir uns auch nicht den Ansätzen anschließen, die in solchen Stellen bei Beckett so etwas wie das kleine Glück ausmachen, als läge in der Evidenz des Alltags bereits Glück. Es besteht kein Zweifel daran, dass die beiden „scheitern“, Therapie bleibt Therapie und nicht Heilung (Es wurde bereits erwähnt: There’s no cure for that…). Aber die Tatsache, dass sie etwas versuchen, gesteht ihnen zumindest Bedürfnisse zu, Wünsche. Wünsche, die, wie zuvor beschrieben, die großen Verweigerer ja durchaus haben und auch zugeben (man denke nur an Malones „Eingeständnis“ seines Kontaktbedürfnisses). Und insofern ist die scheiternde Haltung aufrichtiger und in Bezug auf die Grundproblematik, der wir am Anfang begegnet sind, die adäquatere Haltung; ja, man könnte durchaus sagen, dass der Zustand des Wünschens und des Scheiterns die Grundproblematik, die wir ausgemacht haben, „ausdrückt“, „verkörpert“, nämlich den Zustand der Unerreichbarkeit von Harmonie, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung eines Bedürfnisses danach. Bestünde kein Bedürfnis nach Harmonie, so wäre die infragestellende Haltung ja keine Plage. Vor dem Hintergrund dieser scheiternden Haltung wäre vielleicht auch ein veränderter Blick auf die kauernde Belacqua-Haltung angebracht. Wenn heit des Leugnens menschlichen Leids deutlich zu machen. 32 Vgl. Beckett, En attendant Godot, Paris 1952, S.99. Becketts Belacqua: Lob und Tadel einer Anti-Haltung 161 wir das Anliegen Becketts in der Vermittlung des Grundwiderspruchs von Bewusstsein um Unerreichbarkeit und gleichzeitigem Begehren situieren, dann müssten wir diesen Grundwiderspruch auch in der sitzenden Belacqua-Haltung zu finden suchen. Deleuze hat in seinen Ausführungen zu Beckett hierzu eine wichtige Idee geliefert. Er beschreibt das „Beckettsche“ Sitzen eben nicht als einfache „Rückzugshaltung“ und Ruheposition, sondern als Haltung, der die einfache „Logik“, die Ordnung von Stehen als Aktivität und Liegen als Ausruhen abhanden gekommen ist. 33 Man will aufstehen, aber man kann nicht, man kann sich aber auch nicht einfach zur Ruhe legen. Sitzen ist insofern sowohl gescheitertes Liegen, gescheitertes Ausruhen, als auch gescheitertes Stehen, gescheiterte Aktivität und es scheint für den Zugang zur Belacqua-Haltung bei Beckett wichtig zu sein, diesen Widerspruch im Sitzen zu erkennen und Sitzen als „Scheitern“ zu begreifen, als Position, die sich der Ordnung von Liegen und Stehen nicht völlig entzieht, die aber keine klar definierte Position in dieser Ordnung einzunehmen vermag, die sich nicht zu entscheiden vermag, damit aber ständig mit der Entscheidung konfrontiert bleibt. Bedenkt man diese Betrachtung des Sitzens, so findet man eine alternative Deutung der Belacqua-Haltung, in der Sitzen weder bloßes Gescheitertsein ausdrückt, also Sitzen als Zeichen der großen Hoffnungslosigkeit und möglicherweise folgender Aufgabe des Wunsches, überhaupt noch aufzustehen. Das wäre die resignative, bzw. nihilistische Version des Sitzens, der wir in den anfangs zitierten Deutungen Belacquas begegnet sind. Noch bedeutet es eine souveräne, gar genussvolle Position, ein Sitzen als Haltung an sich, die gar nicht mehr den Bezug zum Aufstehen kennt, ein Sitzen, das sich in der eigenen „Welt“ einrichtet, sei diese eigene Welt die innere, geistige Welt des Künstlers oder die praktische Alltagswelt des Bürgers. Was die „Abgeschlossenheit“ ihrer Welten angeht, unterscheiden sich beide nicht, weshalb es auch nicht verwundert, wenn Beckett die Haltung seiner frühen Protagonisten zum Teil als „bürgerlich“ bezeichnet. Beziehen wir diese unterschiedlichen Betrachtungen des Sitzens auf die Belacqua-Episode in der Divina Commedia, ergeben sich Deutungsrichtungen, die die Relevanz der Episode für Becketts Werk ausgemacht haben könnten. Insofern die Weltabgewandtheit Belacquas letztlich eine genussvolle Beschäftigung mit sich selbst bedeutet, einen Rückzug im Sinne von Nicht- Auseinandersetzung, wird sie als eher negativ bewertet, wie im Motiv der Trägheit deutlich wird, das zunächst die Beurteilung Belacquas in der Epi- 33 Vgl. Deleuze, Gilles, ‚L’Épuisé’, in: Beckett, Samuel, Quad et autres pièces pour la télévision suivi de ‚L’Épuisé’ par Gilles Deleuze, Paris 1992, S. 57-106, S. 64f. Es geht uns im Bezug auf Deleuzes Arbeiten zu Beckett nicht darum, sein philosophisches Konzept des ‚épuisement’ zur Grundlage unserer Deutung zu nehmen. Wir greifen lediglich die für uns fruchtbare Betrachtung des Sitzens auf. Caroline Mannweiler 162 sode bestimmt. 34 Hier bleibt die Beurteilung aber nicht stehen, Belacquas Trägheit ist nicht einfach Trägheit und damit abgetan, Belacqua begründet seine Trägheit, ihm wird eine Art legitimatorischer Diskurs eingeräumt: O frate l’andar su che porta? / ché non mi lascerebbe ire a’ martiri / l’angel di Dio che siede in su la porta. / Prima convien che tanto il ciel m’aggiri / di fuor da essa, quanto fece in vita, / per ch’io indugiai al fine i buon sospiri, / se orazione in prima non m’aita / che surga su di cuor che in grazia viva: / l’altra che val, che ‘n ciel non è udita? (Purg. IV, 127-135) Ganz gleich, wie wir diese Begründung nun bewerten mögen, sie unterscheidet Belacqua sogleich von den „Lauen“, den (im Beckettschen Kontext ja durchaus vorstellbaren) „Gleichgültigen“, denen, die noch nicht einmal wissen, welche Kriterien an sie herangetragen werden, die sich daher auch nie legitimieren könnten und nur in der Hölle, bzw. noch nicht einmal in der Hölle, ihren Platz haben. Belacqua aber weiß um die Kriterien, er hat den Bezug zum Absoluten, zu dem, was ihn aus seiner kleinen Welt herausführt, was diese als prinzipiell unzureichend ausweist, was ihn also zum „Aufstehen“ bewegen sollte. Er gibt nicht vor, dass das Kauern die endgültige Position und ein Aufstehen nicht wünschenswert sei. Was er in Frage zu stellen scheint, ist vielmehr der Eifer, den der Wanderer Dante an den Tag legt. 35 34 Vgl. vor allem Purg. IV, 109-111 35 Wenn wir der Figur des Belacqua auch innerhalb der Commedia eine gewisse „infragestellende“ Funktion zuschreiben, so ist dieser Ansatz natürlich durch unsere Deutung der Beckettschen „Belacquas“ beeinflusst. In ähnlicher Weise finden wir bei Kuon eine Deutung des Belacqua aus der Commedia als „überlegenem“ Charakter, (vgl. Kuon, Lo mio maestro, S. 209), der zu Kuons Interpretation der Beckettschen Charaktere passt, die er in den Werken ab Murphy und insbesondere in Le Dépeupleur als „überlegen“ und „weise“ deutet, da sie anders als ihre aktiven, suchenden „Zeitgenossen“ zu wahrer Einsicht in die „conditio humana“ gelangt sind: „Die angedeutete Wertung der Besiegten als ‚Sehende’ und ‚Weise’ lässt die vermeintlich negative entropische Dynamik als positiven Prozess der Aufklärung erscheinen, der Individuum und Gattung kurz vor dem Ende zur illusionslosen Einsicht in die ‚conditio humana’ bringt.“ (Kuon, Lo mio maestro, S. 231) Wie in unseren Analysen der Beckett-Figuren deutlich werden sollte, sehen wir in Belacqua keine rein überlegene Haltung, da die Inaktivität immer wieder durch Bedürfnisse gestört wird. Wir glauben für diese ambivalentere Deutung Belacquas nicht nur Hinweise aus Becketts Werk zu finden, sondern auch aus der Commedia. Sicher ist Kuons These plausibel, dass Belacqua in der Commedia ein überlegener Charakter zukommt, da sein Warten im Antepurgatorio im Einklang mit der göttlichen Ordnung steht: „Nicht ‚Dante’ freilich ist in dieser Begegnung der Überlegene, sondern Belacqua, dessen nicht mehr sündhaft träges, sondern tugendhaft geduldiges Warten im Einklang mit der göttlichen Vorsehung steht.“ (Kuon, Lo mio maestro, S. 209) Doch trotz der Legitimation durch die göttliche Ordnung scheint die Lage nicht ganz so eindeutig. Zum einen ließe sich anmerken, dass der Eindruck der Überlegenheit auch vor dem Hintergrund des latenten Vorwurfs steht, den ‚Dante’ zu Beginn der Episode vorbringt, die „Überlegenheit“ sich also auch gegen eine Art Vorverurteilung durch den im Urteil übereifrigen ‚Dante’ richtet und nicht nur durch die Befolgung der göttlichen Ordnung gegeben ist. Desweiteren scheint die Episode nicht nur auf die Eindeutigkeit und klärende Kraft der göttlichen Ordnung hinzuweisen, sondern auch auf deren Probleme. Wenn die Ordnung alleine eindeutige Orientierung Becketts Belacqua: Lob und Tadel einer Anti-Haltung 163 Es dürfte nach den Ausführungen zu Becketts Figuren nun einleuchten, wenn wir annehmen, dass Beckett in dieser kauernden Haltung Belacquas nicht einfach nur eine Verweigerungshaltung, keine bloße Negation erkannt hat, die die Erwartungen, die an sie gerichtet werden, als nichtig ansieht, und somit Inaktivität als konsequente und gegen jeden Zweifel erhabene Haltung darstellt, sondern eine Infragestellung gewisser Suggestionen von einfachen, eindeutigen Ordnungen. Dass es gerade diese infragestellende Funktion der Außenseiterhaltung ist, die Beckett in Dantes Belacqua interessiert hat, macht sich auch darin bemerkbar, dass Beckett nicht nur die Figur des Belacqua übernommen hat, sondern auch explizit die Reaktion des Dante als Figur der Commedia auf den kauernden Belacqua: Gleich in zwei Werken erwähnt Beckett das „Lächeln“ Dantes, als dieser Belacqua erkennt, einmal in Company „the old lutist cause of Dante’s first quarter-smile“ 36 und gäbe, so wäre ‚Dantes’ Nachfragen schwer zu motivieren, der ja, nachdem er darauf verweist, dass Belacquas Aufenthalt im Antepurgatorio ihm zwar deutete, dass dieser gerettet werden würde („[…]a me non dole di te omai“ Purg. IV, 123-124), den Kauernden trotzdem fragt, warum er solch eine sitzende Haltung einnähme („ma dimmi: perché assiso quiritto se’? “, Purg. IV, 124-125), die ‚Dante’ eben nicht ohne weiteres als weise zu erkennen bereit ist, sondern als die Trägheit, die Belacqua bereits zu Lebzeiten an den Tag gelegt hat („attendi tu iscorta, o pur lo modo usato t’ ha ripriso? “, Purg. IV, 125-126) und die, obwohl sie im Falle Belacquas sympathische Züge trägt, möglicherweise dazu beigetragen hat, dass Belacqua jetzt solange auf Einlass ins Purgatorio warten muss. Die „Trägheit“ bleibt unserer Meinung nach in der Episode ambivalent und deutet eher eine gewisse Diskrepanz an zwischen der „menschlichen“ Betrachtungsweise von Handlungen und der Beurteilung selbiger nach den Kriterien der göttlichen Ordnung, die man auch in anderen Passagen der Commedia, etwa den Francesca- Episoden ausmachen könnte. Inwieweit man in diesen Passagen erste Brüche der Ordnung wähnen mag, ist dabei nicht die entscheidende Frage. Entscheidend ist, dass jede wenn auch nur scheinbare Trübung der Ordnung sich im Menschen niederschlägt, in Unsicherheit und Zögern, welche ‚Dante’ des Öfteren plagen. Das Wissen um die Ordnung ist eine Sache, die Konfrontation mit der Realität eine andere. Immer wieder befindet sich ‚Dante’ daher in Situationen, in denen er nicht nur der Vergewisserung ob der Ordnung bedarf, sondern einer Qualität, die man modern wohl als Vertrauen bezeichnen müsste. Insbesondere die Rolle der Beatrice könnte darauf hinweisen, dass in vielen Situationen keine nachvollziehbare Gewissheit herrscht, dies aber nicht bedeutet, dass man an der Ordnung zweifeln müsse. Man kann und muss „trotzdem“ an ihr festhalten. Vor diesem Hintergrund erscheint es denkbar, die Figur des Belacqua nicht einfach als die göttliche Vorsehung vorbildlich erfüllende Figur zu deuten, sondern als eine, die sich durchaus fragt, ob ihr Verhalten der Ordnung entspricht, ohne dabei die Ordnung anzuzweifeln. Letztlich vertraut Belacqua der Ordnung, dem Warten und der Rettung, was aber nicht heißt, dass er sein Warten als „weises“, ideales Verhalten betreibt. Dies scheint uns nicht das dominierende Element der Episode zu sein, und auch nicht das Element, welches Beckett in der Belacqua-Episode interessiert haben könnte. Zu einer Deutung der Belacqua-Episode, die den von uns erwähnten Aspekt der „Konfrontation mit der Realität“ enthält, siehe: Schödel, Kathrin, „Intertextueller Dialog: Dantes ‚Belacqua‘ in Samuel Becketts Roman Dream of Fair to Middling Women.“, in: Deutsches Dante-Jahrbuch 77 (2002), S. 149-173. 36 Beckett, Samuel, Company, New York 1980, S. 85. Caroline Mannweiler 164 einmal in Le Dépeupleur „dans l’attitude qui arracha à Dante un de ses rares pâles sourires.“ 37 An dieser Stelle scheint es geboten, einen weiteren intertextuellen Bezug einzuarbeiten, der auf Becketts Beschäftigung mit Dante beruht, und in dem deutlich wird, warum Beckett gerade dieses Lächeln als Reaktion auf Belacqua so bemerkenswert findet: In More Pricks than Kicks hat Beckett aus der Divina Commedia den Satz „Qui vive la pietà quand’ è ben morta; “ (Inf. XX, 28) aus dem Inferno „kommentiert“ und zwar folgendermaßen: „why not piety and pity both, even down below? “, 38 „Warum nicht beides, Frömmigkeit und Mitleid? “. Im Kontext der Erzählung betrifft dieser Satz nicht zuletzt das „Mitleid“ des Protagonisten Belacqua mit dem vermeintlichen Verbrecher McCabe, der ohne sichere Beweise verurteilt wird. Es ist dies eine Verurteilung, die vor allem dem Ordnungsbedürfnis und der Harmoniesucht der Gesellschaft entgegenkommt, in der sich also „Ordnung“ und „Mitleid“ gegenseitig ausschließen, auch wenn die Realität beides zu erfordern scheint, wie im Falle des nicht eindeutig schuldig zu sprechenden McCabe. Das in diesem Kriminalfall illustrierte Problem lässt sich gewinnbringend auf die Belacqua-Episode übertragen: Wenn Beckett in More Pricks than Kicks seinen Protagonisten die Frage stellen lässt, warum Frömmigkeit nicht mit Mitleid koexistieren kann, so deshalb, weil es für Beckett oft, und dies mag auch an die Adresse der Commedia gerichtet sein, den Anschein hat, als könne sie dies nicht. Was der Frömmigkeit zuwider läuft, kann sie nicht einfach als „unfromm“ beurteilen und bestehen lassen. Mit der Beurteilung fromm/ unfromm ist das Gegebene im Grunde „entfernt“ oder eben aufgenommen und integriert. Erst wenn die Beurteilung als definitive unmöglich wird, wie im Falle Belacquas, stellt sich eine Art Koexistenz mit dem Gegebenen ein: Dante lächelt, er reagiert auf die Gegebenheit Belacquas, die eben nicht direkt einzuordnen ist und zunächst als ein Faktum bestehen bleibt. Es ist dies kein Mitleid im Sinne von Mitleid mit einem Sündigen, es ist vielmehr ein „Mit-Sein“, das keineswegs erfordert, dass man seine Kriterien über Bord wirft oder kurzzeitig aussetzt wie beim Mitleid. Dante kann seine Beurteilungen und die Kriterien seiner Frömmigkeit beibehalten, er muss nicht auf einmal zum Freund der Trägheit werden, und kann trotzdem mit Belacqua einen Moment lang „koexistieren“, „mit ihm leiden“. Die Ambivalenz Belacquas erzeugt eine Koexistenz von Mitleid und Frömmigkeit, eine Koexistenz, die Beckett, wie es auch in der oben zitierten Passage aus Dream of Fair to Middling Women deutlich geworden ist, sehr zu schätzen weiß, wirkt sie doch der destruktiven Kraft der Ordnung entgegen, ohne dabei die Ordnung ihrerseits zerstören zu müssen. Es dürfte Beckett an der Belacqua-Episode also nicht nur die isolierte Figur des Belacqua interessiert haben, sondern vor allem die Reaktionsmög- 37 Beckett, Samuel, Le Dépeupleur, Paris 1970, S. 13. 38 Beckett, Samuel, More Pricks than Kicks, S. 21. Becketts Belacqua: Lob und Tadel einer Anti-Haltung 165 lichkeiten auf ihn, sein Potential, die Ordnung zu reflektieren, sie „in Frage zu stellen“, und zwar auf die besondere Weise, die Beckett unserem Ansatz nach interessiert, d.h. weder als Verweigerer und Vertreter einer anderen „wahreren“ Ordnung - Belacqua bekennt sich zu Gott und legt nicht nahe, dass seine Trägheit einem höher einzuschätzenden Ideal verpflichtet gewesen wäre , noch als eifriger Anhänger der Ordnung, der sich damit deren Anspruch zu eigen machen würde, sie hätte das Leben voll und ganz „im Griff“. Wir legen nun nicht nahe, dass diese Ausführungen haltbare Annäherungen an den Danteschen Text darstellen, wir stellen lediglich Hypothesen darüber an, was Beckett an der Commedia interessiert haben könnte, für welche Konstellationen und Problemstellungen er hier fündig wurde. Es genügt dabei unserer Meinung nach nicht, einfach nur auf den „essentiellen“ Unterschied zwischen dem Kosmos Dantes und dem Beckettschen Kosmos zu verweisen, der darin besteht, dass der Beckettsche Kosmos „the absolute absence of the Absolute“ darstellte. Beckett hat dies in seinem Aufsatz Dante... Bruno. Vico.. Joyce in Bezug auf Joyce geäußert, 39 und es gibt sicher gute Gründe, diesen Ausdruck auch auf den Beckettschen Kosmos anzuwenden, 40 doch damit ist noch nicht viel erklärt, außer einer gewissen „Illu- 39 Vgl. Beckett, Samuel, „Dante... Bruno. Vico… Joyce“, in: Beckett, Samuel, Disjecta. Miscellaneous Writings and a Dramatic Fragment, Ruby Cohn (Hrsg.), London 1983, S. 19- 33, S. 33. 40 Sowohl Kesting als auch Strauss zielen darauf ab, dass Becketts Kosmos sich gerade dadurch auszeichnet, dass die Einteilung in Hölle, Fegefeuer und Paradies und damit vor allem die Perspektive auf Erlösung abhanden gekommen ist. In der Tat gibt es in Becketts Kosmos keine klare „vertikale“ Ordnung mehr, in der Abstieg und Aufstieg, Verdammnis und Erlösung, als deutliche Perspektiven vorhanden wären, als Perspektiven, die einen „Ausstieg“, ob in die eine oder die andere Richtung, ermöglichen. Ein Schritt vorwärts ist in Becketts Welt gleichzeitig ein Schritt rückwärts, ist doch die Möglichkeit eines „endgültigen“ Fort- oder Rückschritts abhanden gekommen. Dies heißt aber noch lange nicht, dass es eben kein „Fortschreiten“ mehr gibt, dass es trotzdem noch Unterschiede gibt, dass die Menschen das Gefühl haben, nach vorne oder aber rückwärts zu gehen, auch wenn dem keine finale Richtung zugeordnet werden kann. Becketts Kosmos ist kein Stillstand, wie es auch in einer vielzitierten Aussage Becketts deutlich wird: „If there were only darkness, all would be clear. It is because there is not only darkness but also light that our situation becomes inexcplicable.“, zitiert nach: Driver, Tom, „Beckett by the Madeleine“, in: Columbia University Forum 4 (1961), S. 24. Sicher ist es in Dantes Kosmos eher möglich, die Ereignisse der Welt eindeutig dem Dunkel oder dem Licht zuzuordnen, Licht und Dunkel haben in Paradies und Hölle einen eindeutigen Ort. Allerdings gibt es bereits in der Commedia Ereignisse und Situationen, in denen Licht und Schatten aufeinandertreffen, etwa die bereits erwähnte Francesca-Episode aus dem Inferno. Gerade diese Situationen stellen den Betrachter vor Probleme, weil sie das Wirken der Ordnung selbst in Frage stellen. Allerdings erschöpft sich das Problem dieser schwer zu erklärenden Situationen nicht in der persönlichen Verunsicherung des Betrachters bezüglich der Ordnung. Man könnte sich vorstellen, dass gerade die ständigen Rückfragen des verunsicherten ‚Dante’ Beckett eher weniger beeindruckt haben, denn fatal wäre angesichts der nicht immer eindeutigen Ordnung nicht die persönliche Verunsicherung, sondern die Aufgabe des Bemü- Caroline Mannweiler 166 sionslosigkeit“ der Moderne. Man wird nicht umhinkommen, in der „absolute absence of the Absolute“ die Präsenz des Relativen zu entdecken, und es könnte sein, dass der Umgang mit diesem Relativen das eigentliche Problem darstellt: Denn wenn die „absolute absence of the Absolute“ einfach als Ergebnis präsentiert wird, muss entweder davon ausgegangen werden, dass die Menschen dieses Absolute überhaupt nicht brauchen, womit das Relative problemlos an die Stelle des Absoluten rücken kann, oder dass sie ohne es nicht leben können, und somit eigentlich „alles zu Ende“ ist. Beides sind keine brauchbaren Lösungen, denn erstens ist in Becketts Werk nichts zu Ende, alles geht weiter, auch wenn es keine Fortschritte macht, und zweitens ist in Becketts Werk aber auch nichts problemlos. Es geht also offensichtlich um ein Dazwischen, und hier hat Beckett klare Positionen zu bieten: Aufgabe ist es, angesichts der „absolute absence of the Absolute“ darauf zu achten, dass kein „Relatives“ sich anmaßt, absolut zu werden. Die Ordnung ein wenig zu stören ist insofern ein wichtiges Anliegen, so kommt diese, flapsig ausgedrückt, gar nicht auf die Idee, allumfassend sein zu können. Wie dieses „Stören“ aussieht, hängt naturgemäß von der Art der Ordnung ab: Wenn sich die „bürgerliche Ordnung“ in Becketts Werk anmaßt, absolut zu werden, d.h. alles „Irrationale“, alles nach dem Unmöglichen Strebende auszuschalten, bzw. das Streben vorneweg nur auf das Mögliche zu beschränken, dann ist es durchaus geboten, Figuren auftreten zu lassen, die sich mit genau solchem Unmöglichen befassen, und dabei das „Mögliche“ zunächst vernachlässigen - was von außen schon einmal wie endloses „Rumsitzen“ aussehen kann. hens um das Gute schlechthin. Wenn man, nur weil die Kriterien nicht immer und nicht in Gänze greifen, sie geradezu vollends aufgeben würde, gar nicht mehr nach dem Guten streben würde, bzw. gar keine Unterscheidungen mehr zwischen Gutem und Schlechtem treffen würde. Hier zeigt sich auch ein unserer Meinung nach für Beckett wichtiger Aspekt der Commedia, nämlich der ethische, der auch sein eigenes Werk betrifft. Begreift man das Problem der Erlösung nicht auch als ethisches Problem, so könnte man in der Tat die Moderne als hoffnungslos bezeichnen, und Beckett scheint diese Angst des modernen Individuums und die Verzweiflung des Erlösung wünschenden durchaus nachzuvollziehen. Doch die Abwesenheit von Erlösung ist eben nicht nur ein individuelles Problem, sondern auch ein ethisches, insofern sie die Abwesenheit von Gott oder einem moralischen Prinzip impliziert. Und gerade vor diesem Hintergrund scheint es Beckett wichtig, zu betonen, dass es nicht nur „schwarz“ gibt, und dass man zwar nicht weiß, ob man Erlösung findet, dass man aber auch nicht sicher sagen kann, dass man keine Erlösung findet. „Un des larrons fut sauvé. […] C’est un pourcentage honnête.“, wie Vladimir in En attendant Godot feststellt (vgl. Beckett, En attendant Godot, S. 12). Insofern ist es weniger die Abwesenheit einer Perspektive auf Erlösung, die Becketts Kosmos auszeichnet, als vielmehr die Abwesenheit eines Anspruchs auf Erlösung, einer eindeutigen Ordnung, die Erlösung sozusagen garantieren könnte. Es ist angesichts dieser Abwesenheit von geltend zu machenden Ansprüchen, dass sich das Leben abspielt, und dies impliziert durchaus die Möglichkeit von Empathie, moralischer Wertung und Streben nach dem Paradies, auch wenn diese eben keine Aussicht auf endgültige Erfüllung haben. Becketts Belacqua: Lob und Tadel einer Anti-Haltung 167 Gleichzeitig aber geht es darum, das Relative nicht vorneweg nur am Maßstab des Absoluten zu messen und damit permanent zu entwerten, ganz nach dem kindischen Motto: Wenn ich nicht alles haben kann, dann will ich gar nichts. Das Relative zu entwerten heißt, das Leben zu entwerten. Es gilt daher zu „leben“, ohne davon auszugehen, dass dies ein einfaches sich Einrichten im Leben sein könnte. Denn das Absolute bleibt, es ist nicht einfach abgeschafft: es bleibt in den Menschen, als „Wunsch“. Hier liegt vielleicht der am meisten übersehene Aspekt im Beckettschen Umgang mit dem „Absoluten“, sicher auch, weil wir es gewohnt sind, Wünsche auf ihre Erfüllbarkeit hin zu deuten, so als wären Wünsche nur dann sinnvoll, wenn sie erfüllbar sind. Dann aber wären sie keine Wünsche mehr, sondern Ansprüche. Man kann Wünsche daher auch als genau den Zustand deuten, in dem klar ist, dass das Ziel nicht unbedingt erreichbar und jedenfalls nicht erreicht ist: Wunsch ist immer gleichzeitig auch Enttäuschung, Unerfülltheit, es geht ja gar nicht anders. Gleichzeitig aber führt diese Unerfülltheit eben nicht zur Aufgabe des Wunsches. Nun ließe sich einwenden, das sei dumm oder masochistisch oder unvernünftig, es ist aber wohl die einzige Position, die in der Tat beides beinhaltet, das Wissen um die notwendige Frustration, weshalb eben das Wünschen der Beckettschen Figuren nicht in einen Anspruch umschlägt, der dann bitter enttäuscht das Ziel gleich mit in den Wind bläst, und die gleichzeitige Beibehaltung von Zielen, die nicht vorneweg als erfüllbar garantiert sind, also eine Art „Transzendenz“. Man könnte also sagen, dass die Transzendenz bei Beckett sich aus der Welt verabschiedet hat - anders als bei Dante - aber in gewissem Sinne als „Bedürfnis“ in den Menschen weiterexistiert. In einem poetologischen Werk spricht Beckett von einem „besoin d’avoir besoin“ 41 , von einem Verlangen nach Verlangen, einem Wunsch zu wünschen. Und dieses Bedürfnis gesteht Beckett allen Menschen zu. Worum es den „Anti-Helden“ also geht, ist nicht, den Mitmenschen die „Sinnlosigkeit“ jeden Handelns vorzuhalten, sondern sie dazu zu bringen, ihr Bedürfnis nach Sinn nicht mit einem Anspruch auf Sinn zu verwechseln. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Literaturverzeichnis Primärliteratur Beckett, Samuel, Comment c’est, Paris 1961. Beckett, Samuel, Company, New York 1980. Beckett, Samuel, Disjecta. Miscellaneous Writings and a Dramatic Fragment, Ruby Cohn (Hrsg.),London 1983. 41 Beckett, Disjecta, S. 55-57. Caroline Mannweiler 168 Beckett, Samuel, Dream of Fair to Middling Women, New York 1993. Beckett, Samuel, Eleutheria, Paris 1995. Beckett, Samuel, En attendant Godot, Paris 1952. Beckett, Samuel, Fin de Partie, Paris 1957. Beckett, Samuel, Le Dépeupleur, Paris 1970. Beckett, Samuel, L’Innommable, Paris 1953. Beckett, Samuel, Malone meurt, Paris 1951. Beckett, Samuel, Molloy, Paris 1951. Beckett, Samuel, More Pricks than Kicks, New York 1994 (1934). 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Gelli vorweg, wenn er lange Zeit zuvor als Gattungsbezeichnung des Werks nicht commedia vorschlägt, sondern „dipoi ancor più tosto Tragedia, trovandosi in quella [commedia] una infinità di casi tragici, come son verbigrazia la morte di Paulo e Francesca da Rimini, del Conte Ugolino, della Pia sanese, […] e di molti altri“. 2 Alle diese Stoffe sind, seit sie auf das Theater kamen, nicht nur über den großen Kontext der Divina Commedia, sondern fast mehr noch über den außerordentlichen Bedeutungszuwachs, den Dante als Dichter und „uomo politico“ seit dem 18. Jahrhundert erlebte, miteinander verbunden. 3 Dabei spielt ein jeweils gesondert auszumachendes Interesse an den einzelnen Themen und ihrer konkreten Ausführung eine entscheidende Rolle. Die Francesca-Episode erfreute sich über lange Zeit besonders großer Beliebtheit, wie an den zahlreichen Bearbeitungen abzule- 1 Laut Bericht von Piero Maroncelli, Silvio Pellico, con alcune ‚Addizioni’ alle ‚Mie prigioni’ (1833), Roma 1954, S. 28. 2 Der Tragiker beschränkt sich auf Darstellung, während der epische Dichter beschreibt: „il Tragico […], fingendo la persona sua propia, lo rappresenterà e farà venire in su la scena, e faragli dire tutto quel che gli occorrerà. Questi due modi de lo imitare, se bene ei rappresentano amendue una persona medesima, son tanto diversi infra loro (imperochè l'uno la descrive, e l'altro la rappresenta si può dire personalmente)“. (Giovan Battista Gelli (1541-63), Inferno Intro. Nota; zit. nach http: / / dante.dartmouth.edu/ search_view.php? doc [im folg. zit. als: Dartmouth Dante Project]). 3 Nach dem Auftakt bei Vico und Varano (um 1750) sind hier vor allem Monti und Foscolo zu nennen. Foscolo hatte bereits in den Ultime Lettere di Jacopo Ortis die Bedeutung des großen Dichters aus dem Trecento für die Erneuerung des italienischen Selbstbewußtseins unterstrichen; in späteren Studien setzte er sich erneut intensiv gerade mit ihm auseinander; vgl. dazu Ley, Klaus, „Leopardis ‚Sopra il monumento di Dante’ und die Anfänge der ‚Canti’. Zum Kontext kontroverser Symbolfiguren des Risorgimento“, in: Ginestra 16 (2006), S. 27-49; ders., Rezension zu Thies Schulze: „Dante Alighieri als nationales Symbol Italiens (1793-1915)“, Tübingen 2005, in: Deutsches Dante Jahrbuch 53 (2007), S. 226-233. Klaus Ley 170 sen ist. 4 Darunter ist vieles, das - wenn es überhaupt bekannt war - schon bei den Zeitgenossen keine große Resonanz fand. 5 Das gilt in unterschiedlichem Maße bereits für die beiden ersten, deutsch verfassten Tragödien - zunächst Franzeska und Paolo von H. J. Burke (d.i. Heinrich Keller), 1808 erschienen und heute fast unauffindbar 6 , dann Ludwig Uhlands Fragment gebliebenes Werk Franceska da Rimino, Trauerspiel in fünf Aufzügen, an dem der schwäbische Dichter von 1808 bis 1815 gearbeitet hat. 7 Dabei war der Schweizer Heinrich Keller, der in Rom lebte, dort allerdings vornehmlich als Bildhauer arbeitete, eine wichtige Vermittlungsinstanz zwischen den Kulturen; nicht nur deshalb verdiente sein Text eine gründlichere Analyse. Auffallend ist jedenfalls Kellers Absicht, etwas nicht Eindeutiges, das sich schneller Festlegung entzieht, zu präsentieren, wie es gleich in der dem Drama vorangestellten Widmung herauskommt: Verstimmt zu Trauertönen meine Leyer, Wollt’ ich besingen inn’ger Liebe Sehnen, Des Schicksals Tücke und verhaßten Zwang, Der unsern Herzen, statt der Wonne Feyer, Nur Qualen giebt und der Entsagung Thränen; Doch fühl’ ich bald mein inn’res Herz so krank, Daß ich vergeblich rang; Den eignen Blick umhüllten bald die Zähren; Drum kann mein Saitenspiel, So weit von seinem Ziel, Die inn’re kranke Trauer nur erklären Und das Geheimnis dir noch nicht entsiegeln. Wie sich in Wohllaut Lieb’ und Schmerzen spiegeln. 8 Der Versuch, die tragisch endende Liebesgeschichte zu verstehen, gestaltet sich schwierig; allein darin, in der das Subjekt betroffen und traurig machenden Begebenheit, liegt für Keller aber schon der Anreiz für die Beschäftigung mit dem damals neuen Themenkreis. 4 Vgl. dazu die alte Studie von Locella, Guglielmo, Dantes Francesca da Rimini in der Literatur, bildenden Kunst und Musik, Esslingen 1913; O’Grady, Deirdre, „Francesca da Rimini from Romanticism to Decadence“, in: Eric G. Haywood, (Hrsg.), Dante Metamorphoses, Dublin 2003, S. 221-239. (Heute erscheinen im Italienischen Verbundkatalog ca. 600 Einträge zum Stichwort.) 5 Das hat dazu geführt, daß heute bei der Auseinandersetzung mit dem Thema das mitunter wenig abwechslungsreiche Übermaß eher abschreckt; vgl. Hölter, Eva, Der Dichter der Hölle und des Exils. Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante-Rezeption, Würzburg 2002, S. 93; 70f. 6 Das derzeit einzig nachweisbare Exemplar: Keller, Heinrich, Franzeska und Paolo, Zürich 1808. (LBMV Schwerin; Sign. OB V 5/ 9650); vgl. dazu - neben Locella - die gleichfalls alte Studie von Hertkens, Johannes, Francesca da Rimini im deutschen Drama, Dortmund 1912. 7 Uhland, Ludwig, „Franceska da Rimino, Trauerspiel in fünf Aufzügen“, in: Sämtliche Dramen und Dramenfragmente, Walter Scheffler (Hrsg.), München 1980, Bd. 2, S. 227-243. 8 Keller, Heinrich: Franzeska und Paolo, aus der Widmung (S. VIIf.). Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 171 Die Notwendigkeit, genauer hinzusehen, betrifft in wenigstens gleichem Maße die kleine Gruppe von rein italienischen Francesca-Dramatisierungen in der frühen Zeit. Lange vor D’Annunzios Welterfolg von 1901 gibt es eine Tragödie, die bereits seit 1815/ 18 über mehr als ein halbes Jahrhundert nicht nur in Italien auf den Bühnen präsent und überaus populär war, sondern die anhaltend auch die europäische Diskussion bestimmt hat. 9 Ihr Verfasser ist der bis heute aus ganz anderen Gründen bekannt gebliebene Silvio Pellico (1789-1854), der 1820 als Carbonaro - als politisch aufsässig, verhaftet und eingesperrt - mit seiner Autobiographie Le mie prigioni (1832) die eigentümliche Selbstdarstellung lieferte, über die sich generationenlang große Teile der italienischen Öffentlichkeit definierten. Durch sein Schauspiel angestoßen, folgten in kurzem Abstand zwei weitere damals wichtige Werke, die nun bereits - zu denken ist an die spätere Parallele D’Annunzio/ Zandonai - in das Musiktheater hinüberreichen. Ein Jahr nach der Aufführung von Pellicos Drama kommt es 1816 zunächst zu einer interessanten und folgenreichen Überschneidung von Dante mit einem anderen Großen der europäischen Literatur. In Rossinis Otello, allerdings nur sehr bedingt nach Shakespeare, wird ein entscheidendes Zitat aus der Francesca-Episode (Inf. V, 121-123) in dem Moment von einem Gondoliere vorgetragen, als Desdemona sich zu Bett begibt und dann Opfer der Eifersucht des Ehegatten wird. Die spätere Konkurrenz, die Neuauflage des Themas in der Oper von Verdi und Boito, hat dieses Werk Rossinis bis heute im öffentlichen Ansehen in den Hintergrund gedrängt. Obwohl der Text Pellicos langfristig auch eine beachtliche Karriere als begehrte Operngrundlage erlebte, gilt ebendas noch weit mehr von einem anderen Libretto, das sich nun wieder ganz auf das Dantesche Handlungsmuster konzentriert. Felice Romani, der Textdichter u.a. von Bellinis Norma, hat um 1819 seine Version von Francesca da Rimini ausgearbeitet; zu den Komponisten, die sich damit auseinandergesetzt haben, zählen so bedeutende wie Saverio Mercadante und Francesco Morlacchi, aber - wenngleich peripher - auch Giacomo Meyerbeer. Selbstverständlich geht es bei der Entscheidung für die tragischen Stoffe aus Dantes Commedia jeweils wesentlich um die Aussagekraft des Themas für die neue Zeit. In dem als Autorität geschätzten Werk der großen nationalen Vergangenheit wird eine Vorstufe und damit eine zusätzliche Legitimierung gesucht. 10 Als verbindlichen Ausgangspunkt für den Neuansatz bringt Foscolo die zeittypischen Veränderungen der psychologisch-morali- 9 Zu dem vor Pellicos Tragödie entstandenen, wenig bekannten Drama von Pieracci liegen kaum Nachrichten vor. 10 Zum Rahmen solcher Identitätsbildung bemerkt ein anonym schreibender früher englischer Rezensent: „Why should not Dante be to them what Homer was to the Greek tragedians? “ In: The Quarterly Review XXIV (1820), S. 101; zit. nach Finocchiaro Chimirri, Giovanna: La Francesca da Rimini nella produzione teatrale di S. Pellico, Catania 1985, S. 25. Klaus Ley 172 schen Einordnung gerade der Francesca da Rimini-Episode früh auf den Punkt. Die enge literarisch-ethische Einbindung in den Ordnungsrahmen der Commedia überspringend, formuliert er als Vorgabe für ihre Geschichte das Argument: „vedere nel personaggio inventato da Dante la manifestazione poetica ‚vera’ e ‚reale’ della natura femminile.“ 11 Eigentliches Zentrum der Liebeshändel bleibt dabei der Regel-, also Ehebruch, den Dante - trotz erkennbar großer Ambivalenz - nach eindeutig christlich-mittelalterlichen Kategorien noch verurteilt hatte, über den aber nach dem Ende des Ancien Régime neu nachgedacht wird. Die Diskussion über die fällige Veränderung von Formen des Zusammenlebens vollzieht sich im Rahmen des romantischen Bilds vom Menschen, seiner Natur und der ihr angemessenen Vergesellschaftung. Dem entspringt ein ganz neues Empfinden von Betroffenheit und Empathie. 12 Neben den allgemeinen anthropologisch begründeten Veränderungen nach 1800 sind aber gerade in der italienischen Auseinandersetzung mit dem Thema die Leitideen des Risorgimento unübersehbar. Dabei kommt es für dessen Verständnis in der Frühphase zu der folgenreichen Weichenstellung: Im spontanen, fast unbewußten Vollzug des Regelverstoßes von Francesca und Paolo, dem Paar, das seine Liebe nicht leben darf, weil die Zwänge einer arrangierten Ehe dagegen stehen, wird das Mißverhältnis als ein durch die herrschenden Machtverhältnisse erzeugtes gedeutet. Unerwartet richtet sich so die Reflexion auf die Frage nach den überindividuellen, historisch-politischen Gründen des berühmten Sündenfalls. Gesellschaftlich zu verortende Fehlentwicklungen werden als Anlaß der Schuld bzw. Verantwortung ins Feld geführt und 11 Zit. nach Poppi, Claudio, „Il mito di Francesca da Rimini tra amore e morte nell’arte dell’Ottocento”, in: Claudio Poppi (Hrsg.): Sventurati amanti. Il mito di Paolo e Francesca nell’Ottocento, Milano 1994, S. 10f. Zurecht wird im Zusammenhang, als die nachfolgende Auseinandersetzung prägend, auf G. B. Vicos Hervorhebung des „valore barbarico e primitivo“ von Dantes Gedicht verwiesen, begriffen als „espressione di un sublime visionario e terribile“, dessen Form auf das „medioevo semi-barbaro“ zurückgeführt wird, vgl. dazu auch Caesar, M., Dante. The critical heritage, London 1989, S. 448f.; 39. Zu Foscolos Deutung der Struktur der Divina Commedia als Abfolge von einzelnen Episoden, die mit einer gewissen Eigenständigkeit in das Epos eingebaut seien und entsprechend herausgelöst werden können, vgl. Ley, Klaus, „Foscolos ‚Dante illustrato’: Zu den Anfängen neuerer Dante-Deutung“, in: Deutsches Dante-Jahrbuch 55 (1980), S. 138-168. 12 Eine entsprechend psychologisierend-biographistische Deutung, die zur Frage der Motive für das dramatische Geschehen führt, vertritt auch Foscolo mit leicht anachronistischer Ausmalung: „the poet had probably known [Francesca] when a girl, blooming innocence and beauty under the paternal roof. He must, at least, have often heard the father mention his ill-fated child. He must therefore have recollected her early happiness, when he beheld the spectacle of her eternal torment. (…) The episode, too, was written by him in the very house in which she was born &c.“ (Edinburgh Review 30 (1818), S. 342). Damit verbindet sich in Italien zunächst die traditionelle, in breiten Publikumskreisen verankerte und noch lange dominante christliche Verhaltenslehre (auch Sexualethik), die - dort früh diskutiert - vor allem in der englischen und französischen Kunst und Literatur aufgebrochen wird. Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 173 damit auch allgemein für die Dekadenz des Landes seit dem Mittelalter verantwortlich gemacht. Wenn so die bewußtseinsmäßigen Voraussetzungen von ehelicher Bindung hoch geschätzt werden, tritt als konfliktauslösend das Motiv der arrangierten Ehe verstärkt in den Vordergrund. Die radikale Umkehrung, die Ausrichtung auf eine ungehindert gelebte freie Liebe, bei der der Regelverstoß an sich als Befreiungsakt gewertet wird, wie sie die Thematik wenig später mit durchschlagendem Erfolg erfährt, kündigt sich auf dieser frühen Entwicklungsstufe allerdings nur anderswo in Europa, so in England etwa bei Byron, nicht aber in Italien selbst an. 13 Dort geht es stattdessen zunächst um einen mentalitätsgeschichtlich interessanten anderen Aspekt, der unter den späteren Rezeptionsformen allerdings lange Zeit kaum beachtet wurde. Er steht letztlich im engen Zusammenhang mit der neugefaßten Vorstellung vom Affekthaushalt im zivilen Miteinander, von der Sozialpsychologie im nachrevolutionären Europa. 14 So gewinnt das Thema „Paolo e Francesca“ zum Auftakt der Restauration, allerdings immer in mehr oder weniger latenter Opposition zu dieser, für die Erfassung der Epochenschwelle neue Bedeutung. Hier ist daran zu erinnern, daß Dante selbst bereits die Episode der unglücklich Liebenden zur Markierung eines Epochenbruchs eingesetzt hatte: Der von Francesca zu Beatrice beschrittene Weg führt in der Divina Commedia aus dem nur scheinbar folgenlosen, aber doch hoch gefährdenden Tändeln der Liebesdichtung, bis zum „dolce stil novo“, zu der auf feste metaphysische Maßstäbe gegründeten Verehrung der geliebten Frau. Über sie erschließt sich dem Erkennenden die Schöpfung; die gescheiterte und in das Inferno verbannte Francesca aber, die für das andere Programm steht, wird zur Antipodengestalt. 13 Die Ausgestaltung des Liebestriangels in der Form, wie sie Byron betreibt, wenn er aus der Familienkonstellation das inzestuöse Moment auf das Verhältnis des liebenden Mannes und seiner als Liebesobjekt gewählten Halbschwester verschiebt, bildet zunächst noch eher einen Nebenaspekt; vgl. dazu Beaty, Frederick L., „Byron and the story of Francesca da Rimini“, in: PMLA 75 (1960), S. 395-401 [hier: S. 398]. Zu den Vorstufen in der bereits entsprechend argumentierenden englischen Deutungsgeschichte vgl. Havely, Nicholas R., „Gli amanti di Francesca da Rimini“, in: Lilla Maria Crisafulli Jones (Hrsg.): Romanticismo europeo e traduzione. (Atti del sem. internaz., Ischia 10./ 11.4.1992), Napoli 1995, S. 95-107 [hier: S. 100ff.]. 14 Da auch diese Argumentation, nicht weniger als die fast zeitgleich einsetzende „libertine“ Deutung, bereits eher von Dante wegführt, ist sie lange - bis heute - entsprechend verkannt worden. Insofern fließen, allerdings mit anderer Gewichtung, die Dimensionen ineinander, die Poppi als maßgeblich für die Entwicklung der beiden berühmtesten tragischen Sujets im 19. Jahrhundert beobachtet: „le storie di Francesca da Rimini e Ugolino si caricano di altri significati, fino a diventare incarnazioni mitiche dell’amore romantico nei suoi due aspetti: passionale e familiare“ (ebenda, S. 10). Die angesprochenen Aspekte werden dann aus unterschiedlichen Gründen im Theater und in der erzählenden Literatur aktualisiert; zu einer grundsätzlichen Umdeutung in den romantischen „Erlösungsepen“ neuer Art, wo Paolo und Francesca u. a. als Simon von Cyrene und Veronika auftreten vgl. Pitwood, Dante, S. 120ff. Klaus Ley 174 Beide Male, im Spätmittelalter wie im frühen 19. Jahrhundert, sichert die hohe Attraktivität des Sujets, in dem - verbunden mit der Problematik von Kunst und Dichtung, so der Lektüre des „Galeotto“, - archetypische Erlebensformen zum Ausdruck kommen, das Interesse beim Publikum. Das tragende Element ist in gedrängter Kombination neben der arrangierten bzw. erzwungenen Heirat das Inzestmotiv, der Ehebruch mit dem Schwager, gefolgt von Gatten- und Brudermord. 15 Als Gegenstand des Exempels über die unvorhersehbaren Gefährdungen der Liebe hatte Dante ein in die Zeit seiner frühen Jugend fallendes Ereignis gewählt: Francesca, die Tochter des Guido da Polenta aus Ravenna, wurde um 1275 aus politischen Gründen dem Herrn von Rimini, Gianciotto Malatesta, vermählt. Den Ehebruch der Gattin mit seinem Bruder Paolo ahndete Lanciotto durch die Ermordung der beiden Liebenden. 16 Der von Dante nur knapp umrissene Fall erfuhr erst seit Boccaccio verschiedene Ausschmückungen. Im „Comento“ zur Divina Commedia (von 1373) wird - im Rückgriff auf volkstümliche Quellen - der Ehebruch dann auf eine Prokurationsheirat zurückgeführt; damit steht das für das Risorgimento entscheidende Kernthema bereit. 17 Während die ethische Problematik der Francesca-Episode in der Divina Commedia, durch deren Aufbau eine Art Gegenposition zu Beatrice konstruiert wird, seit langem vielschichtig und nuancenreich analysiert worden ist 18 , hat daneben die Untersuchung gerade der frühen literarischen Rezeption auf dem Theater kaum Aufmerksamkeit gefunden. Oft bleibt es hier beim Konstatieren der Übernahmen und der Abwandlungen von Handlungs- und Sinnelementen, ohne daß die Beweggründe hinreichend deutlich würden. Als das Thema im frühen 19. Jahrhundert zum Dramenstoff wird, fügen sich für die Kunstauffassung dieser Epoche charakteristische Elemente, das 15 Die im Inferno suggerierte, durch das Bild des fliegenden Liebespaars vermittelte erotische Intensität wird in der bildenden Kunst seit dem 19. Jahrhundert besonders geschätzt. Die Behandlung des Themas stellt hier in gewisser Weise einen Sonderfall dar. Dazu liegt eine neuere Studie vor, die in großem Zuge die Entwicklung des Bildthemas über mehr als zweihundert Jahre verfolgt; vgl. Soennecken, Ilka, Dantes Paolo und Francesca in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Entstehung und Entwicklung eines „romantischen“ Bildthemas, Weimar 2002. Die literarische Basis der Themenbehandlung beschränkt sich hier allerdings ausschließlich auf die Texte Dantes und des weit zurückliegenden Kontextes der frühen Kommentare. 16 Vgl. dazu Baldelli, Ignazio: Dante e Francesca, Firenze 1999. 17 Der wohlgestalte Paolo vertritt seinen Bruder Lanciotto nicht nur bei der Hochzeitszeremonie, sondern auch in der Brautnacht. - Späte Beispiele für die Transformation des Stoffes sind die 1903 in Florenz bei Salani erschienene Verserzählung in Oktaven Francesca da Rimini, nella quale si raccontano gli amori di Paolo, le gelosie di Lanciotto, e la tragica morte dei due amanti infelici sowie Lodi, Francesco, Francesca da Rimini. Romanzo storico popolare, Milano 1905. 18 Zur Forschungsdiskussion vgl. die Übersicht in dem einschlägigen Artikel der Enciclopedia Dantesca 3, S. 1ff. Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 175 „forte sentire“ 19 und die politische Dimension des Risorgimento, ineinander. Im Vergleich zum Ausgangstext fällt eine Reihe von Eigentümlichkeiten auf, wobei es in den frühen Fassungen auch um die grundsätzliche Frage nach der Theatralität des Sujets geht. Auffallend ist gerade bei Pellico die Tendenz zu einem eigentümlichen Dialogtyp, zu vielem Reden, ja scheinbar leerlaufendem Diskutieren und Selbsterklären, während bei Romani eine verstärkte Neigung zur Handlungsauffüllung, zu Aktionen, Kämpfen etc., unübersehbar ist. Von den Hauptkonstellationen der Handlungsführung bei Dante - dem Ehebruch in flagranti, dem Brudermord (Kain und Abel), der ambivalenten Rolle des Vaters Guido da Polenta - werden in der frühen Phase um 1820 nur Teile in tragender dramatischer Funktion eingesetzt. Gemeinsam ist den genannten Textzeugnissen - von Keller, Uhland, Pellico, Romani - ein effektvolles Zurechtrücken der Handlungsteile auf den familiären und den amourösen Kern: die Opposition des feindlichen Brüderpaars und die Vater- Kind-Beziehung (pater familias). Hinzu kommt die - oft nur angedeutete - politische Dimension, die vor allem in den militärischen Aktivitäten des nichtregierenden Bruders, eben des Sympathieträgers Paolo, Ausdruck findet. Signifikant ist auch, daß in allen frühen Fassungen die heikle Thematik des Ehebruchs ausgeklammert bleibt. In Uhlands Fragment endet die gemeinsame Lektüre von Paolo, dem „schönen, edlen Menschen mit milden Sitten“, und Francesca mit einem Kuß, bei dem sie überrascht werden von dem lahmen und ungestalten Lanciotto. 20 Er führt, als die unausgeglichene, zerrissene Gestalt, liebend und hassend, eifersüchtig, die Tragödie herbei. Mit seinem körperlich-seelischen Defekt fällt er allerdings aus dem Rahmen, wie er bei den in Italien erfolgreichen Werken zunächst vorgegeben ist. Hier leitet sich die Psychologie des Täters weit mehr aus sozialen, ja gesellschaftspolitisch bedingten Motiven her. Das richtig einzuordnen erscheint auch insofern vorrangig, als sich durch den als Tat eines Ausgeschlossenen und Außenseiters angelegten Mord gegenüber Dante der Einsatz des Deutungsgefüges im gesamten Ablauf und damit auch der Erinnerungstechnik verändert. In der Divina Commedia steigert das anfängliche Glück ja die später nur halb gewollte Versündigung und damit letztlich die ewige Schuld. Im frühen 19. Jahrhundert verstärkt das anfangs spontan-unschuldige Glückserleben nur das spätere Unglück, wobei die Folgen im Jenseits nicht akzentuiert werden, eigentlich unthematisiert bleiben. Nostalgisch wird so das intensiviert, was fast wie eine Paradieserfahrung dazu beigetragen hat, daß ganz ohne eigene Verantwortung etwas Gegenläufiges daraus folgt. Damit stellt sich die Frage, wie es zu solcher Pervertierung kommen kann: Nicht, warum haben wir das und das 19 Vgl. dazu Havely, Nicholas R., „Gli amanti di Francesca da Rimini“, in: Romanticismo europeo, S. 96-98. 20 Uhland, Sämtliche Dramen, II, S. 227. Klaus Ley 176 getan, was jetzt unser Elend, unsere Schuld ausmacht, ist das Problem, sondern: Warum durfte es nicht so bleiben, wie es anfangs war, bzw. warum mußte es zu solchem Leid, zur Katastrophe kommen. Die als natürlich begriffene spontane Liebeserfahrung rechtfertigt sich dabei aus sich selbst; die Amor-Konzeption Dantes wird im Geiste Rousseaus gelesen. Zum Schwerpunkt wird so in der Geschichte Paolos und Francescas das „innamoramento“; das Skandalon des Ehebruchs tritt ganz zurück. Schon bei Keller verbindet sich diese Verschiebung des Interesses mit einer deutlichen Tendenz zur Verrätselung. Die Betroffenen selbst begreifen die eigenen Seelenregungen, die im Fortgang der Handlung der unnatürlichen, gesellschaftlich erzwungenen Verformung ihrer Lebensform entspringen, zunächst gar nicht. So verunsichert, können sie ihrem eher undeutlichen Gefühl vom Unglücklichsein durch das Leid, das sie erfahren, nur allmählich auf den Grund kommen. Erst gegen Schluß von Franzeska und Paolo (V, 6; S. 78ff.), kurz vor der Katastrophe, werden denn auch beim Bericht der Umstände, die zur Eheschließung geführt haben, die Kernmotive aufgedeckt: Franzeska sieht Paolo auf einer Hochzeit in Urbino und verliebt sich in aller Unschuld in ihn. Dort wird sie aber auch von Lanciotto, dem anderen der beiden ungleichen Brüder, gesehen, der sie für sich haben will und, ohne mit ihr in Kontakt getreten zu sein, die Heirat über ihren Vater, Guido da Polenta, erreicht. Dabei bereits erfaßt sie, wie sie sich noch viel später erinnert, ein ihr unerklärlicher Schwindel; gegenüber ihrer Freundin Laura kommentiert sie das Geschehen: Ich ward Lanciotto’s Weib, und weiß nicht wie. Kennst Du ein Schicksal meinem zu vergleichen? (II, 6, S. 81) Die Distanz, die sie dem ungewollten und ungeliebten Mann gegenüber immer stärker entwickelt, erzeugt in diesem, obwohl er keinen erkennbaren Anlaß findet, eine sich ständig steigernde Eifersucht. Sie treibt ihn am Ende zum Mord. Kellers Drama weitet sich hier aus zu einer Tragödie um verlorene Ehre; in blinder Anklage rechtfertigt sich der Täter wider Willen, der den Einflüsterungen eines Intriganten erlegen ist: Verräther waren sie! Du weißt nicht Alles. Frag Hugo nur. - O, wär’ sie [Franzeska] rein gewesen - Ich hätte eh’ mein eigens Herz zerfleischt, Mit tausend Dolchen es durchbohrt, als sie. Ich mußte sie verhöhnter Ehre opfern - Der Ehre opfert’ ich das Leben selbst. Hier deutet sich die Nähe zu Shakespeare an; die Verbindung der beiden Themen wird dann in Rossinis Otello explizit vollzogen. Wenn bei Keller ganz am Schluß der Verräter Hugo, ein Jude, dem die Jago-Rolle zugewiesen ist, erstochen wird, zeigt sich die Verschiebung der Dramatik von der Liebestragödie weg auf den ganz anderen Konfliktzusammenhang von gesellschaftlicher Reputation. Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 177 Für den Rückgriff auf die Divina Commedia, deren Verfasser selbst als „dramatis persona“ in Kellers Tragödie präsent ist 21 , wird implizit eine nachvollziehbare Begründung geliefert. Auf ihn, im Stück ein erklärter Gegner Lanciottos, und auf die in seiner Dichtung mitgeteilten Ideale, die ihr zur Orientierung im Leid verhelfen, beruft sich die unglückliche Franzeska ausdrücklich: An Dantes Munde hieng ich, wenn der Dichter Im Strome lieblicher Begeisterung Des Hörers Seele auf in seine Himmel Verklärend zog, und sie der Erd’ entrückte. Diese Verehrung und der Glaube an die umfassende Richtigkeit seines gesamten Schaffens entsprechen nicht nur dem Dante-Bild, das sich im Risorgimento vermittelte - gemäß seiner Rolle als Dichter, Staatsmann und bis zur Gefährdung des eigenen Lebens authentische Persönlichkeit. Hier ist es vor allem auch die auf Beatrice zentrierte Liebeskonzeption, die mit den Vorstellungen von frühbürgerlicher Moral und Ehe zusammengeht. Auf der offenbar breit akzeptierten Basis dieses letztlich antiaristokratischen, antifeudalistischen Identitätskonzepts funktioniert die Selbstfindung Francescas und Paolos in der ersten Phase der italienischen Theaterproduktion. Im Risorgimento eingesetzt bedeutet Dante, als Medium der Bewußtseinssteuerung, immer auch das Eintreten für eine republikanische Gesellschaftsordnung. Silvio Pellico und seine Tragödie Francesca da Rimini (1815/ 18) Hast Du im Dante nachgelesen, was Ich dir gezeigt, den Schluß der schönen Stelle: ‚An diesem Abend lasen wir nicht weiter! ’ Kennst Du schon die Francesca Rimini Von Silvio Pellico? Ein Kommentar Zu unsres größten Dichters hold’stem Text? 22 Pellico hatte seine Tragödie Francesca da Rimini bereits verfaßt, bevor er 1818 in die Redaktion der Zeitschrift Il Conciliatore eintrat und zwei Jahre später gefangengesetzt wurde. Das fünfaktige Drama in endecasillabi (UA 18.7.1815; gedruckt 1818) fand sofort bei seinem Erscheinen große Beachtung. 23 Lord Byron schätzte es; Pellico selbst ging davon aus, es sei von die- 21 Dantes Schicksal wird im Dialog so umrissen: Franzeska: Es floh, verbannet aus Florenz,/ Im blinden Wüthen ihrer Bürgerkriege/ Alighieri zu meines Vaters Hofe; / Und Dante fand bey Guido in Ravenna/ Vergnügten Aufenthalt, und Lob und Ehre./ Da lebt’ er froh, als ob daheim er wäre./ Laura: Ich sah ihn auch, als er in Pisa weilte -/ Ein edler Mann […]. 22 Arnd, Eduard, Die Geschwister von Rimini, eine Tragödie, Breslau 1829, S. 101. 23 Vgl. Finocchiaro Chimirri, Giovanna, La Francesca da Rimini nella produzione teatrale di S. Klaus Ley 178 sem ins Englische übersetzt worden. 24 Über ein halbes Jahrhundert blieb es ein anhaltender, offenbar gesamteuropäischer Erfolg. 25 Es ist richtig, daß Pellico seine Tragödie angelegt hatte nach der Konzeption seiner Vorbilder Alfieri und gerade auch Foscolo, der sie dann zwar korrigierte, aber auch für mißraten hielt. 26 Deren Klassizismus war er zwar stark verpflichtet; das Werk zeigte aber - wie oft betont wurde - zugleich romantisches Landschaftsempfinden und eine eher sentimentale Stimmungsfülle, die auf das Neue verweisen. Auch in diesem Argumentationsrahmen wird die Forschung allerdings dem Phänomen kaum gerecht, wie ein Reflex in Kindlers Literaturlexikon beispielhaft zeigt. Hier wird das Stück in unangemessener Kürze als unbedeutend erklärt: Das Publikum erfreute sich an dem romantisierenden Spiel, schätzte die schüchternen patriotischen Andeutungen (die etwas von Manzonis nationaler Romantik vorwegnehmen) und begeisterte sich an der Darstellung der berühmten Schauspielerin Carlotta Marchionni, deren Paraderolle die Francesca war. Das Werk hielt sich bis in die siebziger Jahre auf dem Spielplan. 27 Ein wichtiger Grund für das völlige Unverständnis ist darin zu finden, daß eine Affektkultur präsentiert wird, die noch heute als eher verklemmt erscheint und daher zu einem angemesseneren Verständnis der ausdrücklichen Verortung im frühen 19. Jahrhundert bedarf. Dem Werk sollte also eine gewisse Alterität zugestanden werden. 28 Denn, daß das Stück seit langem als démodé gilt und als muffig-veraltet empfunden wird, resultiert wesentlich aus einer erst später hinzugekommenen Entwicklung. Als allgemeiner, von Pellico offenbar aus Vorsicht nicht explizit benannter Hintergrund ist zunächst festzuhalten, daß er Vorstellungen von Privatheit und Familienglück thematisiert, deren Gefährdung nicht eigentlich gezeigt wird, sondern deren radikale Grundlegung und der daraus abgeleitete Anspruch, ernst genom- Pellico, Catania 1985; Mola, Aldo, Silvio Pellico. Carbonaro, cristiano e profeta della nuova Europa, Milano 2005. 24 Tatsächlich hatte sich Byron 1816 mit Hobhouse an die Übertragung gemacht, das Projekt aber bald dem Freund ganz überlassen; vgl. Beaty: Byron and the story of Francesca da Rimini, S. 396f.; zum weiteren Kontext Havely, N. R., „Francesca Frustrated. New evidence about Hobhouse’s and Byron’s translation of Pellico’s ‚Francesca da Rimini’”, in: Romanticism 1 (1995), S. 106-120; Kraeger, Heinrich, „Lord Byron und Francesca da Rimini“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen 98 (1897), S. 403-406. 25 Pellicos Tragödie wurde ins Deutsche übersetzt von P. J. J. Schädelin, Zürich 1835; K. L. Kannegießer u. H. Müller, Zwickau 1835, Stuttgart 1850 (2. A.); M. Waldau, Hamburg 1850; A. Seubert, Leipzig [1870]. 26 Nach der später kolportierten Stellungnahme gipfelte die Ablehnung Foscolos in dem Rat an Pellico: „Getta [la tragedia] al fuoco e portami altro.“ (Maroncelli, Piero, Silvio Pellico, con alcune ‚Addizioni’ alle ‚Mie Prigioni’ (1833), Roma 1954, S. 28). 27 KLL, München 1974, Bd. 9, S. 3655. 28 Es kann darauf hingewiesen werden, daß sich das Libretto zu Francesca da Rimini, der unvollendeten Oper von Hermann Goetz, die von Ernst Frank und Johannes Brahms beendet und 1877 in Mannheim uraufgeführt wurde, an Pellicos Tragödie orientiert. Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 179 men zu werden, überhaupt erst einmal formuliert werden. Dieser Zugriff ist entscheidend für die Anlage der Tragödie. Es wird gewissermaßen ein bekanntes Bild aus dem Nationalfundus, den die Divina Commedia anbietet, dem staunenden Publikum vorgestellt, und es soll in subversiver Absicht gezeigt werden, wie die - falschen - Grundlagen auch der eigenen gesellschaftlichen Verfassung zu sehen sind, damit sie korrigiert werden. Dabei argumentiert Pellico eigentlich systemimmanent - er sieht sich noch ganz in der Nachfolge Dantes. Wie bereits dieser, so soll auch der moderne Dichter zur Kritik und zur Beseitigung andauernder Mißstände aufrufen. Das wird in einem späteren Aufruf an die Leser deutlich: Giovani che sì giustamente ammirate quel sommo, studiatelo col vostro nativo candore, e scorgerete che non volle mai esservi maestro di furori e d’incrudelità, ma bensì di virtù religiose e civili. 29 Der Bruder- und Gattenmörder Lanciotto ist bei Pellico, wie mehrfach herausgestellt wird, nicht der grimmige Rächer, sondern ein zutiefst Leidender, der nur in aufflammendem Jähzorn zum Schwert greift und die Liebenden tötet, die ihrerseits weniger schuldbeladene Verlorene als bedauernswerte Opfer sind. Die Frage nach dem eigentlichen Motiv stellt sich nicht explizit. Pellico fragt aus anderer Perspektive nach der Verantwortlichkeit der menschlichen Natur. 30 Im Ablauf der Handlung auffallend bleibt so als vorherrschender Eindruck die Diskrepanz von großen Affekten - dem „forte sentire“ in schöner Sprache - und einer uneindeutigen und scheinbar unangemessen suchenden Psychologie, die mit rätselhafter Wirkung am Werk zu sein scheint. Gleich in der Exposition des Dramas schlägt Francesca das eigentümliche Thema und die Art seiner Behandlung an. Wegen ihres den anderen unbegreiflichen Leids ist sie im Begriff, von Rimini, der Stadt ihres Gemahls Lanciotto Malatesta, zurückzukehren in ihre Heimat Ravenna, über die ihr Vater Guido da Polenta herrscht, der aber nun in Rimini weilt, um der - wie vermutet wird - gemütskranken Tochter, die er aus Staatsräson an den Malatesta verheiratet hatte, in der Not beizustehen. Ihrem Mann Lanciotto versucht Francesca zu erklären, welche Angst sie im tiefsten Innern bewegt: 29 Aus Pellicos eigener Vorbemerkung zu dem 1837 in den Poesie inedite erschienenen Gedicht La morte di Dante; dem geht die klare Positionsbestimmung voraus: „Non ho mai capito in qual modo Dante, perch’egli fra i magnanimi suoi versi ne ha alcuni iratissimi di varii generi, sia potuto sembrare ai nemici della Chiesa Cattolica un loro corifeo; cioè un rabbioso filosofo, il quale o non credesse nulla, o professasse un cristianesimo diverso dal Romano. Tutto il suo poema a chi di buona fede lo legga, e non per impegno di sistema, attesta un pensatore, sì, ma sdegnoso di scismi e d’eresie, e consonissimo a tutte le cattoliche dottrine.“ (Paris 1837, S. 446). 30 Die sonst gegenwärtigen Zusammenhänge individuell-persönlicher Befindlichkeit - so etwa auch, daß der wohlgestalte Paolo seinen häßlichen Bruder nicht nur bei der Hochzeitszeremonie, sondern vor allem in der Brautnacht vertritt - bleiben ausgeklammert, womit zugleich die ethische Problematik von Ehebruch und Brudermord hintangesetzt wird. Klaus Ley 180 Troppo tu m’ami. E temo ognor, che in odio Cangiar tu debba l’amor tuo … punirmi … Di colpa ch’io non ho … d’involontaria Colpa almeno …. 31 Lanciotto erscheint so bereits potentiell als grenzenlos eifersüchtig. Er, dessen Hang zum Extremen schließlich im Mord an Frau und Bruder endet, versucht, Francescas Andeutungen zu verstehen: Rea non ti tengo … involontari sono Spesso gli affetti … Auf Rückfrage wird er explizit; er meint, daß sie, eigentlich schuldlos, dennoch in etwas befangen sei, was sich gegen ihn richte - eine Liebe, die ihn ausschließe und deren Wahrnehmung ihn zunehmend zornig und eifersüchtig macht. Damit ist, wie erst der Fortgang zeigt, der Kern des Konflikts benannt: Rea non ti tengo, tel ridico, o donna: Ma il tuo dolor … sarebbe mai … di forte Alma in conflitto con biasimato … amore? (S. 13) Aus der Haltung offenbar unwillentlichen, unfreiwilligen, aber doch nicht unbewußten Agierens, die in Charakteren mit starken Gefühlen angesiedelt ist, deren Grundlagen aber zunächst nicht ausgesprochen werden, läßt Pellico sich das Drama entwickeln. Francesca will aus doppeltem Grund fort aus Rimini. Zunächst, weil sie ihren Gatten nicht so liebt, wie sie es - ihrem eigenen Vorstellungshorizont entsprechend - von sich selbst verlangen müßte. Sie weiß, daß sie die Normen der ehelichen Liebe, denen sie genügen will, nicht erfüllt. Sie hat sich aber auch nie für ebendiese Ehe entschieden; ungefragt ist sie hineingedrängt worden. Aktuell und nachhaltig verstärkt wird der Wunsch zur Flucht aber dadurch, daß sie erfahren hat, die Rückkehr Paolo Malatestas stehe bevor. Er, Lanciottos Bruder, ist hier nicht nur ihr Schwager, der zudem ihren eigenen Bruder in einer dynastischen Fehde, also aufgrund patriarchalischen Zwangs, getötet hat bzw. haben soll, sondern er war auch der, der vor der Heirat - unerkannt - nach Ravenna gekommen und schicksalhaft auf sie getroffen war. Die beiden jungen Leute, Paolo und die - wie er nun bei der Rückkehr erfahren muß - inzwischen seinem Bruder angetraute Francesca, gerieten damals in ein Spiel unschuldiger Verliebtheit, das ohne ihr Wollen, ganz aus spontanem seelischen Zueinanderfinden, in tiefe Liebe umschlug, als sie das schon bei Dante schicksalsträchtige Buch lasen. Angesichts der bereits damals deutlichen Ausweglosigkeit ihrer Situation war Paolo in die Welt geflohen, hatte sich in Byzanz für den Kampf gegen die Feinde dieses 31 Francesca da Rimini, in: Opere di Silvio Pellico, Firenze 1833, Bd. 1, S. 12 (benutzte Ausgabe). Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 181 großen Reiches verdingt, konnte aber doch das Erlebnis der Liebe zu Francesca nicht vergessen. Die Liebe zum Vaterland, die am Thema der Schönheit der oberitalienischen Städte, in denen die Handlung angesiedelt ist, präsentiert wird, ist - wie schon gesagt - das andere, allerdings hier weitaus weniger tragende Motiv der Tragödie. Nun, da Paolo in die Heimat zurückgekommen ist, will er in Zukunft allein für sie, für ihr gutes Gedeihen, d.h. für ihre Freiheit kämpfen - und das markiert das hier ein einziges Mal pointiert vorgetragene, riskante Risorgimento-Motiv. 32 Das erhalten gebliebene Manuskript der Erstfassung zeigt die hohe Brisanz, die in dieser politischen Stellungnahme steckt; denn ursprünglich hieß es statt „Bisanzio pel trono“ dezidierter „pel germanico trono“ (I, v). 33 Das weitere Geschehen besteht in der Darstellung der psychischen Prozesse, die in den Köpfen der einander liebenden und hassenden Protagonisten ablaufen. Es ist ein Hin und Her von zentrifugalen und zentripetalen Kräften, die - im Gegeneinander von Hoffnungen und Enttäuschungen, von falschen und richtigen Einstellungen gegenüber der Natur des Menschen - den emotionalen Haushalt aller Beteiligten durcheinander bringen. Unberechenbares Liebesgefühl, das authentisch ist bzw. als solches angesehen wird, steht dabei gegen festgefügte patriarchalische Familienstrukturen, deren unbedingten Gültigkeitsanspruch vor allem Lanciotto, der Ehemann Fran- 32 Auf solche Kombinationen erklären sich auch später, in der siegreichen Phase des Risorgimento, die eigentümlichen Begründungen für nationales Pathos; davon sind einige Zitate zusammengestellt in Dartmouth Dante Project, z.B. Niccolini, G. B., Dell'universalità e nazionalità della Divina Commedia - Lezione detta nell’Accademia della Crusca il 14 settembre 1830; dann: „L'accorgimento di Dante è veramente maraviglioso quando nell'Inferno Francesca da Rimini, a manifestar la sua patria, favella del Po con queste parole. Il cuore travagliato della misera ragiona del fiume in riguardo al suo stato. il Po trova finalmente pace nel mare; ma essa non può averla in quell'oceano di dolore, perchè ‚Di qua, di là, di giù, di su gli mena; / Nulla speranza gli conforta mai,/ Nonchè di posa, ma di minor pena.’ Così, conchiude egli, la fantasia del Poeta riscalda i minimi oggetti inanimati, e ci desta amore per essi, mantenendogli in quella misteriosa relazione che hanno con l'uomo.” (Gregorio di Siena (1867), Inf. V, 97). Ebenso: „Tra la caduta di Firenze dal suo felice stato, e la miseria della Francesca da Rimini v'era anche alcuna somiglianza.“ (Gregorio di Siena (1867), Inf. VI, 1). - „La pena minore può spiacer dippiù che la maggiore, non quanto alla intensità, ma al modo. Quello appunto di che dolevasi Francesca da Rimini (Inf. V, 102). Altro è invero morire o soffrire per la patria e per l'onore come cento, che come dieci per delitto o vergogna: ogni uomo affronta con bravura una morte che gli merita fama, siccome abborre da quella che lascia macchiata la memoria del proprio nome. Lo stesso patibolo ha più gradi di pena, e più grave si reputa quella che fa maggior disonore a chi è condannato nel capo. Tutto l'Inferno non ha pena più spiacente, cioè, che più mortifichi gli spiriti e gli faccia tenere a vile; […]“. (Gregorio di Siena (1867), Inf. VI, 48). 33 An seinen Bruder schreibt Pellico: „Ti ricordi della parlata sopra l’Italia? Con una leggera correzione la polizia me la passò: l’entusiasmo che questo parlare mosse è indici bile“ (Brief vom 21.8.1815). - Finocchiaro (S. 34) weist im Zusammenhang hin auf den „singolare riscontro con la coeva canzone leopardiana ‚All’Italia’“. Klaus Ley 182 cescas, verkörpert. Er ist mit seiner Starrheit - bis in seine Einstellung zur Liebe - ganz den Konventionen verhaftet und fühlt sich ungeschützt, wenn er Verstöße gegen sie aushalten muß. Deshalb begeht er schließlich, als er seine Gemahlin in einer verfänglich wirkenden Situation mit dem Bruder vorfindet, beinah gegen seinen Willen, aus heftigem Affekt, der einer Art Beschädigung der Eigenliebe durch den radikalen Bruch der erwartbaren Konvention entspringt, den Doppelmord. Die Problematik wird so von Pellico als anscheinend rein innerseelisches Konfliktszenario nach einer Psychologie von einander inkompatibel konditionierten Potenzen vorgestellt. Die Schuld, wenn man denn in diesem Fall überhaupt von solcher bei Paolo und Francesca sprechen will - bei Lanciotto ist die Mordtat ganz und gar aus einem automatisierten Affekt motiviert -, erscheint dabei formal-äußerlich noch dem christlichen Sündenregister, wie es sich bei Dante findet, konform. Es wird nicht negiert, daß die Erfüllung des Liebesbegehrens unerlaubt wäre. Der spätere Verfasser von Le mie prigioni gestaltet denn auch das tragische Ende aus keinen konkreten Verfehlungen. Es geht ihm hintergründig offenbar um die Darstellung eines neuen, bereits von Foscolo und Alfieri vorgegebenen Bilds vom Menschen, der nicht zuletzt als von Impulsen gelenkt gedacht wird, die rational (noch) nicht voll erfaßbar sind und so auch nicht zu klarem Ausdruck zu finden vermögen. Das ist die eine Seite dieses Aufbruchs in das neue Jahrhundert. Das traditionelle Gefüge der Zeit und der Erinnerung, wie es die anhaltende Verpflichtung auf die alte Sündenordnung zeigt, wird demgegenüber auch noch auf andere, für die weitere Auswertung der Thematik in der europäischen Dichtung durchaus folgenreiche Weise gewahrt. Die von Dantes Francesca im Inferno vorgetragene Motivation für die maßlose Steigerung ihres Leids, die in der Gegenwart der ewigen Verdammnis durch die Erinnerung an das verflossene Glück bewirkt wird, erscheint so auch bei Pellico. Allerdings ist hier alle Qual übersetzt in die Gegenwart, die gelebte Zeit des gegenwärtigen Diesseits; ob es so auch „in aeternum“ gilt, bleibt undiskutiert. Vor allem aber dient die Steigerung jetzt nicht der Intensivierung von Schuld und Strafe, sondern allein der Behauptung von Widerständigkeit. Das Leid bekräftigt das Empfinden von Unrecht durch die erzwungene Entscheidung für die falsche Verbindung. Neben solcher Bezugsetzung zum schicksalhaften Zueinanderfinden der beiden jungen Liebenden wird das Motiv der Erinnerung an das verflossene Glück zuvor noch gegenläufig eingesetzt; die „memoria“ erscheint in der Tragödie in eine Doppelperspektive aufgespalten. Denn zu Beginn ist es Lanciotto, der im glücklichen Nacherleben der Epoche schwelgt, als er, der Erbfürst, noch zum Zeitpunkt der Eheschließung mit Francesca als guter Herrscher ein florierendes Reich regierte. Wie sein Vater war er damals ein guter „pater patriae“. Erst durch die Enttäuschungen auf rein persönlicher Seite geriet er in ein Ungleichgewicht, aus dem das große Unglück sich auch für ihn entwickeln sollte, das sich angesichts des verlorenen Hochgefühls Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 183 nur noch potenziert. Im Gegenzug zu seiner patriarchalisch grundierten, als objektiv und starr geprägten Form des Erinnerns sind das Glück von Paolo und Francesca sowie deren Erinnerung daran ganz im privat-intimen Bereich verortet - und hier, in der Betonung des Subjektiven, findet sich bald nach Pellico der eigentliche Grund für die Behandlung des Themas. In seinem Stück haben sich die beiden - absichtslos - ineinander verliebt und kommen nicht mehr voneinander los. Ihr wie schicksalhaft beharrliches Drängen auf Erfüllung des Liebesglücks bringt schließlich das Leid im Tode, dessen Schrecken sie als Folge ihres kompromißlos verfochtenen Erlebens und dessen Vergegenwärtigung in der Erinnerung ereilt. 34 Die überraschende Wirkung des Stücks kann aus der darin greifbar werdenden Verkettung sozialpsychologischer Motive erklärt werden, die gar nicht zur mittelalterlichen Vorgabe paßt. Bedingt durch die politischen Gegebenheiten müssen damit verbundene Konflikte zwar halb verschwiegen werden und eher am Rande bleiben, die Botschaft kann sich aber dennoch um so intensiver vermitteln. Für das zeitgenössische Publikum ist der Konflikt zentriert auf die unschuldig-fatale Liebe, die Francesca und Paolo seit ihren frühen Tagen zueinander empfinden. Damit erweist sich das Werk - auf dieser Stufe des Zueinanderfindens - zumindest auch als ein Zeugnis des Propagierens einer Form romantischer Liebessetzung, die sich gegen jede arrangierte Form von Ehe wendet. Aktiviert werden hier unerwartet die Folgen des „drame bourgeois“, wie sie sich mustergültig aus der Theorie Diderots ergeben. Allerdings findet dabei kein volles Ausleben der Triebkräfte statt; für den der christlichen Ethik und Ehemoral verpflichteten Pellico bleibt es bei dem raschen Verzicht. Stattdessen ergibt sich für die Lösung der Problematik eine Veränderung auf anderer Ebene: Guido, der Vater Francescas, bekennt sich schließlich ohne Einschränkung zu seiner Tochter und bedauert heftig sein früheres Handeln, das ja die Zwangsheirat herbeigeführt hatte. Die Mißstände können, so lautet der Vorschlag, über das bessere Verstehen der Generationen untereinander aufgehoben werden. In diesem Zusammenhang von sich verschiebenden Mustern der Familienordnung findet sich nun die deutlichste Erklärung für die heute aufgesetzt scheinende Form des „involontario“, die die Handlung von Pellicos Tragödie bestimmt. Hier artikuliert sich ein entschiedenes Bekenntnis zu einer neuen, wenngleich nur moderat modernen Auffassung von Liebe im familiär-gesellschaftlichen Miteinander. 35 Wenn der vom „Ancien Régime“ tradierten und konservierten Form der arrangierten Ehe auf der Grundlage einer spontanen und freiwilligen Entscheidung zur Liebe widersprochen wird, bedeutet das im Italien der Re- 34 Das hier nicht gelöste Problem von Selbstverantwortung und Fatalität wird angesprochen von Krömer, Wolfram, Dichtung und Weltsicht des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1982, S. 9; 84. 35 So auch Finocchiaro: „Non c’è l’esaltazione dell’ego e l’abbandono incondizionato alla passione, ma lo sforzo di comprendere e di perdonare.“ (ebenda S. 35 u.ö.). Klaus Ley 184 stauration zugleich die Infragestellung der starren patriarchalischen Gesellschaftsverfassung und ihrer Institutionen. Allerdings verbleibt die Vorstellung der der Liebe entspringenden Ehe im erwartbaren Rahmen der neu formulierten bürgerlichen Familienkonzeption, wie sie wenig später auch von Manzoni in den Promessi sposi vorgestellt wird; und dessen historischen Tragödien entsprechend liefert Pellico einen Deutungsansatz für den durch Dante berühmt gewordenen Kriminalfall des Fürstenmords aus dem Duecento. Gegeneinander stehen die objektiven Machtstrukturen, die sich in dem das Drama prägenden Antagonismus Ghibellinen/ Guelfen gleichfalls wiederfinden, und die - in einer „neuen“, zugleich aber auch dem christlichen Mittelalter verpflichteten Natürlichkeit begriffenen - Bilder von der Richtigkeit spontaner Erlebensformen. Sie sollen für die zukünftige Wirklichkeit prägend werden. 36 Der anhaltende, auch von dem zeitbedingten Interesse am „genre troubadour“ bestimmte Erfolg des Stücks im gesamten Europa führte zu Stellungnahmen, die um Präzisierung bzw. Verallgemeinerung der Aussage bemüht waren. Das wird konkret greifbar an französischen Übersetzungen; so zeigt sich in deren Argumentation ein Bemühen um Verdeutlichung der Rolle Dantes und der Stellung der Commedia. 37 Gustave Drouineau, der dem Drama fehlende Handlungsfülle („vide d’action“) vorwirft, bringt in seiner eher frei bearbeitenden Übersetzung von 1830 den großen Dichter selbst auf die Bühne. Als verbitterter Flüchtling trägt dieser ein aus der Commedia zusammengesetztes Pastiche-Gedicht vor, in dem er seine ghibellinischen Vorstellungen propagiert. Um das Liebesideal Dantes am Beispiel der beiden Frauenfiguren, die auch hier in Bezug zueinander gebracht werden, vorstellen zu können, geht es dann etwas verwirrend weiter. Dantes Gastgeber Bertold ist nämlich der Ehemann der Francesca da Rimini. Als der Dichter sie bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal sieht, fühlt er sich an die dahingeschiedene eigene Geliebte erinnert: En admirant madame et sa grâce touchante, Je songe à Béatrix, objet de purs amours, Montée aux cieux bien jeune, et que j’aime toujours. (Avec extase) Oh! Quand notre beau ciel, la nuit, brille sans voiles, Je crois la voir passer le corps semé d’étoiles. 38 36 Zum Weiterwirken dieser Deutung in der italienischen Librettistik bis hin zu Antonio Ghislanzoni vgl. Putignano, Letizia, „Francesca da Rimini. La fortuna di un soggetto in opere dimenticate”, in Salvetti, Guido (Hrsg.): Il mito di Dante nella musica della Nuova Italia (1861-1914), Milano 1994, S. 129-139. 37 So wurde 1827 Constant Berriers dramatische Fassung von Francesca da Rimini aufgeführt. Entgegen der eigenen Stellungnahme bezieht sich der Autor weniger auf Dante als Prätext denn auf Pellico, dessen Tragödie eine „tremendous popularity“ zugesprochen wird; vgl. Pitwood, Michael, Dante and the French Romantics, Genève 1985, S. 105. 38 Zit. nach Pitwood, S. 105. Als weitere Eigentümlichkeit zu erwähnen ist, daß Dante, als er im Stück auftritt, die Inferno-Episode bereits geschrieben hat. Bevor Bertold eifersüchtig wird auf Paolo, hat er den Troubadour Sordello im Visier, dann den Della Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 185 Die für die spätere Deutungstendenz aussagekräftigste Veränderung findet sich 1841 in der Bearbeitung von Arthus Fleury, der die Schuldfrage auf den Kopf stellt. 39 Einzuordnen ist diese Umwertung im Zusammenhang mit einigen Stellungnahmen berühmter französischer Literaten, so vor allem Stendhal und Musset, die sowohl die ethische wie auch die psychologische Grundstruktur der Episode, wie die italienischen Autoren sie bei Dante verbindlich vorfanden, auflösen und neu gestalten. 40 Darüber soll gesprochen werden, wenn die nächsten Etappen der Bearbeitung in Italien behandelt sind. Der in der Tragödie umschriebene Anspruch auf persönliche Selbstfindung, die - wie die Promessi Sposi - durchaus auch die Gefahren der neuen, eigenbestimmten Lebensform zeigen will, erlaubt es, zunächst ein anderes Problem der frühen Rezeption von Dantes Inferno-Episode anzugehen, das sich im Genre der Oper, eben in Rossinis Otello, findet. Rossinis Otello (1816) und das Lied des Gondoliere Im Jahr nach der ersten Aufführung von Pellicos Schauspiel, noch bevor dieses 1818 im Druck erschien, kam nach Shakespeares berühmtem Werk, aber doch in freier Bearbeitung Rossinis Oper Otello auf die Bühne. Dieser Otello, mit dem Text von Francesco Maria Berio di Salsa, wurde 1816 am Teatro del Fondo in Neapel uraufgeführt. Als eine wichtige Vorlage für das Libretto diente das 1813 herausgekommene Schauspiel Otello von Giovanni Carlo Cosenza. Einem auch größeren Publikum immer bekannt war zudem, daß das in der Oper vor dem Tode Desdemonas gesungene Lied des Gondoliere ebender Rede entstammt, die Francesca da Rimini dem Dichter Dante im Inferno (V, 121-123) zuruft: Scala. (Beide kommen bei Pellico nicht vor.) 39 „(Fleury) feels that Pellico has failed to make clear Francesca’s guilt, so that Dante’s punishment of her in the ‚Inferno’ is unjust, and he modifies Pellico’s play accordingly.“ (Pitwood, S. 105). Ein weiteres interessantes Indiz für die Umdeutung - im Epos - bietet Alexandre Soumet in La divine Epopée (1840). Darin erleidet Christus im Jenseits noch einmal den Opfertod, um die Seelen zu retten. Bei dem Aufstieg auf den Kalvarienberg übernehmen Paolo und Francesca die Rollen des Simon von Cyrene und der Hl. Veronica; bei der Kreuzigung treten sie an die Stelle von Johannes und Maria Magdalena. Als das Blut Christi fließt und der Erlösungsprozeß beginnt, singen „les deux beaux enfants“ eine Lobeshymne, „which suggests that Soumet, like so many others, could not accept the culpability of the love which was Paolo and Francesca’s sin in Dante’s terms“. Die beiden werden schließlich wiedergeboren im Paradies. In einem anderen dieser dem neuem Denken entstammenden Erlösungsepen, Parseval-Grandmaisons Philippe-Auguste (1826), begegnet man im Jenseits einem Paar, das wie Paolo und Francesca sündigt, dieses Mal durch die Lektüre des Hohen Lieds; vgl. Pitwood, S. 120, 116. 40 Dennoch beschreibt Stendhal die Liebe in Pellicos Tragödie als „divinement peint“ (zit. nach Finocchiaro, S. 34). Klaus Ley 186 Nessun maggior dolore che ricordarsi del tempo felice ne la miseria. Über die Gründe dieser Wahl findet sich nach wie vor wenig Zuverlässiges. 41 Jedenfalls dürfte es nicht reiner Zufall sein, wie man immer wieder liest, daß gerade dieser Text über die Erinnerung gesungen wird. Daß ein innerer Zusammenhang zwischen den beiden Themenkomplexen - also „Francesca da Rimini“ und „Otello“ - bestand, galt für die Zeitgenossen als selbstverständlich. 42 Auch in Rossinis Otello spielt die Erinnerung an glückliche Zeiten kurz vor der Ermordung Desdemonas durch den Mohren als leidsteigernd die entscheidende Rolle. 43 Entsprechend hat der Librettist Berio (nach mehreren Vorlagen, von Jean-François Ducis, Gaetano Rossi und dem bereits genannten Giovanni Carlo Cosenza) den Gang der Handlung, wie er von Shake- 41 Aus musikwissenschaftlicher Sicht die wichtigen Aspekte zusammengeführt hat Petrobelli, Pierluigi, „On Dante and Italian music: three moments“, in: Cambridge Opera Journal 2 (1990), S. 219-249 (hier: S. 229ff.). 42 Wenig später, nach Rossinis Oper, hat Foscolo (in: Edinburgh Review, XXIX, 458) die gedankliche Verknüpfung auf den Begriff gebracht, indem er sie darüber hinaus zugleich mit der ebenfalls tragischen Episode der Pia de’ Tolomei verknüpfte; nach diesem Stoff komponierte dann G. Donizetti seine gleichnamige Oper: „Shakespeare unfolds the character of his persons, and presents them under all the variety of forms which they can naturally assume. He surrounds them with all the splendor of his imagination, and bestows on them that full and minute reality with his creative genius could alone confer. Of all tragic poets, he most amply develops character. On the other hand, Dante, if compared not only to Virgil, the most sober of poets, but even to Tacitus, will be found never to employ more than a stroke or two of his pencil, which he aims at imprinting almost insensibly on the hearts of his readers. Virgil has related the story of Eurydice in two hundred verses; Dante, in sixty verses, has finished his masterpiece, the tale of Francesca da Rimini. The history of Desdemona has a parallel in the following passage of Dante. Nello della Pietra had espoused a lady of noble family at Sienna, named Madonna Pia. Her beauty was the admiration of Tuscany, and excited in the heart of her husband a jealousy, which, exasperated by false reports and groundless suspicions, at length drove him to the desperate resolution of Othello. It is difficult to decide whether the lady was quite innocent; but so Dante represents her. Her husband brought her into the Maremma, which then as now, was a district destructive to health. He never told his unfortunate wife the reason of her banishment to so dangerous a country. He did not deign to utter complaint or accusation. He lived with her alone, in cold silence, without answering her question, or listening to her remonstrances. He patiently waited till the pestilential air should destroy the health of this young lady. In a few months she died. Some chroniclers, indeed, tell us, that Nello used the dagger to hasten her death. It is certain that he survived her, plunged in sadness and perpetual silence. Dante had, in this incident, all the materials of an ample and very poetical narrative. But he bestows on it only four verses.“ (Dartmouth Dante Project). 43 Die musikalische Weiterentwicklung dieser Problematik bis hin zum Beginn des 20. Jahrhunderts behandelt Ursula Kramer in ihrem Beitrag in diesem Band. Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 187 speare bekannt ist, abgewandelt. 44 Wie im Falle Francescas verlagert sich der Kern der Handlung auf den Konflikt Desdemonas, die - anders als bei Shakespeare - nach dem Willen ihres Vaters den Sohn des Dogen heiraten soll; heimlich ist sie aber - es gibt eine sonderbare „legalistische“ Veränderung des Stoffes - bereits mit Otello verheiratet, was sich erst am Ende des ersten von drei Akten herausstellt. Das corpus delicti, das Objekt der Eifersucht, ist hier nicht ein Taschentuch, sondern ein Liebesbrief mit einer Locke der begehrten jungen Frau. Die affektische Konstellation innerfamiliärer Auseinandersetzungen in dieser Version - samt Zwangsheirat und beigefügter Eifersucht - erscheint somit der von Pellicos Drama vergleichbar. Sie erlaubt schließlich sogar, daß bei einer der späteren Otello-Aufführungen - 1820 im römischen „Teatro Argentina“- ein „lieto fine“ gegeben wird: Desdemona erwacht und verscheucht die Zweifel des Mohren mit vernünftigen Erklärungen. Wenn solche Verfremdungen nicht erst Verdi und seinem Librettisten Arrigo Boito in der gleichnamigen Oper (1887) als kaum mehr vertretbar erschienen, so halten doch auch sie bei der Auswahl des Ersatztextes für das Francesca-Zitat den Verweis auf Dante bei. In Verdis Othello singt Desdemona als Nachtgebet das Ave Maria - in der Fassung, die den Dante zugeschriebenen Text präsentiert. 45 Das Gebet, das Dante-Zitat also, kommt bei Verdi erst nach dem Lied an die Weide. Zugleich ist aber die Funktion eine völlig andere geworden. Die liebende Frau ist in ihrem Unglück ganz auf sich konzentriert, sie versenkt sich in ihrem Leid in die Religion - ob mittelalterlich kirchentreu, bleibt offen, jedenfalls nach zeitgenössischen Vorstellungen dem Vorbild Shakespeares näher. Dagegen hatte das Lied des Gondoliere bei Rossini nicht eigentlich Ausdrucks-, sondern Verweischarakter. Der Gesang des Schiffers liefert gewissermaßen den Kommentar zu dem dramatischen Geschehen aus der Sicht des Unbetroffenen, der - wie das Publikum - am Drama nur von außen beteiligt ist. Die Zuschauer erleben sich so in ihrer Betrachterrolle bestätigt und sind beeindruckt von den großen Gefahren, die sich in der Bühnenaktion anbahnen, potentiell Wirklichkeit werden können. Bereits von der Uraufführung der Oper Rossinis gibt es eine Stellungnahme Lord Byrons, in der er sich über die Verzerrungen ausläßt, denen das Werk Shakespeares hier ausgesetzt sei. Das aber sagt ein Engländer zu einer Zeit, als die Shakespeare-Rezeption auf dem europäischen Kontinent sich nur bedingt auf Werktreue verpflichtet sieht. Der Basistext, auf den sich auch Shakespeare bezieht, ist bekanntlich die Novelle des Mohren von Venedig, in Giraldi Cinzios Ecatommiti (III, 7). Hier 44 Vgl. dazu die entsprechenden Texte in Raffaelli, Renato (Hrsg.): Otello (Libretti di Rossini. 3), Pesaro 1996, S. 11-129 (Einleitung); ders., „Riflessi continentali su Otello: finali tragici e lieti da Ducis a Rossini-Berio“, in: Emanuele Kanceff, Annarosa Poli, (Hrsg.): Riflessi europei sull’Italia romantica, Moncalieri 2000, S. 143-157. 45 Zum weiteren Zusammenhang wieder Petrobelli, S. 236. Klaus Ley 188 geht es um die ungewöhnliche und außerordentliche Liebe der jungen und schönen venezianischen Patrizierin, die sich - „tratta dalla virtù del Moro“ - aus freiem Willen gegen die Konventionen für diesen ausgefallenen Menschen entscheidet. Die „öffentliche“ Hochzeit wird bei Rossini offenbar auch deshalb in eine heimliche Ehe umgeformt, um - wie bei Pellico - gleichfalls die Kritik an der arrangierten Form der Familiengründung unterbringen zu können. Es folgt hier wie dort die bekannte Kehrtwende, daß nämlich der Mohr sich zur Eifersucht verleiten läßt und die ihn liebende und von ihm wiedergeliebte heimliche Gemahlin umbringt. Im damaligen Italien steht diese Motivation, bei der ein Hauptgewicht ganz auf den Anfang, das „innamoramento“ und die Entscheidung zur Liebe, gelegt ist, durchaus gleichgewichtig zu Shakespeares Steigerung des dramatischen Kerns der Tragödie, der unter den ganz anderen Voraussetzungen den Blick in die Abgründe der menschlichen Seele freigibt. Den Ablauf der Erzählung, vor allem den Fortgang des Geschehens in der Novelle, verändert Shakespeare mit ähnlicher Freizügigkeit, wie es seit Boccaccio auch mit dem Text Dantes im Falle von Francesca praktiziert erscheint. Es kommt in beiden Fällen zunächst wesentlich auf die unerschütterliche Gefühlssicherheit an, die dann durch Strategien von außen, durch die Einflüsterungen bei dem gefährdeten Charakter Otello erschüttert wird. Raffaelli weist bei der Deutung von Giraldis Novelle auf die Tradition des gerade darin schon angelegten „mutamento repentino“ hin, das er bis in die Antike, bis zu Apuleius’ Metamorphosen (10,2-12), zurückreichend sieht. 46 Wenn also in Otello, vor der abschließenden Katastrophe, im Lied des Gondoliere Dantes Inferno-Text zitiert wird, versteht sich das als Parallelsetzung zweier Liebesdramen, die von gleichen Ursachen geprägt sind. Der „coup de foudre“ des Anfangs gelangt hier wie dort zum tragischen Ende, bei unterschiedlichen Folgen allerdings - bei Otello mittels eines „mutamento repentino“, des in sich geschlossenen Kreises von Veränderungen und Umstürzen, die Pellico in seiner Francesca nicht interessieren. Der Bericht, den der Pianist Ignaz Moscheles über Rossinis Auskunft überliefert, er selbst habe statt eines vom Librettisten geplanten Tasso-Zitats den Dante-Text durchgesetzt, bekommt so volle Plausibilität. Zu einem Mißverstehen dieser offenbar erst 1872 allgemein bekannt gewordenen Information, die auch von Raffaelli 47 nicht ganz zutreffend eingeordnet wird, konnte es nur kommen, weil unpassenderweise nicht die auf Giraldi Cinzio rekurrierende Textfiliation, sondern ausschließlich Shakespeare als Prätext ins Visier genommen wurde und wird. Ist diese Sichtweise korrigiert, zeigt sich, daß Rossini Absichten verfolgt, die denen Pellicos voll entsprechen. 46 Raffaelli, Otello, S. 15, Anm. 18. 47 Raffaelli, Otello, S. 68. Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 189 Felice Romanis Libretto Francesca da Rimini (vor 1819) 48 Offenbar unter dem unmittelbaren Einfluß des Erfolgs von Pellicos Stück - und auch des Textbuchs von Rossinis Oper - verfaßte Felice Romani, einer der namhaften italienischen Librettisten dieser Zeit, seine Neufassung des Danteschen Stoffs. Dieses Libretto ist nicht erst, wie man immer wieder liest, anläßlich der Komposition von Feliciano Strepponi (UA Vicenza, 23.7.1823) geschrieben worden, sondern möglicherweise schon im direkten Zusammenhang mit der frühen Aufführung von Pellicos Tragödie, vielleicht noch vor deren Druck, also zwischen 1816 und 1819. 49 Giacomo Meyerbeer vermerkt nämlich in einem Brief an Franz Sales Kandler vom 2.11.1819: Das Buch, welches mir von der Impresa zur composition für diesen Carneval gegeben ward, Francesca da Rimini von Romani (eines der schönsten lyrischen Drama’s die je geschrieben worden sind) ist von der Censur verbothen worden. Im August 1821 bezieht sich der Bruder des Komponisten, Michael Beer, noch einmal auf den Text und seine politische Brisanz: Übrigens beschwöre ich Dich, falls Du das [aus einem neuen Concorso Petracchis stammende] Sujet wählst, Romani durchaus keine von den Extravagancen zu erlauben wodurch dir Francesca da Rimini verboten worden ist und zu welcher sich der Stoff leicht prestrirt. 50 Zum Kontext sind einige wichtige Informationen zu nennen: Romani hatte nach seinen frühen Anfängen und Erfolgen - u.a. mit Texten für Simone Mayr und Rossini - um 1816 offenbar das Interesse des kaiserlichen Wien auf sich gezogen. Er lehnte jedenfalls das Angebot ab, wie Metastasio dort zu einem neuen „poeta cesareo“ ernannt zu werden. Hinter solcher Planung vermutet wurde das österreichische Bemühen eines „recupero degli intellettuali milanesi“. Gedacht war neben anderen an „Pellico, Di Breme, Borsieri e lo stesso Foscolo“. 51 Statt auf ein solches Angebot einzugehen, verfaßte Romani, gerade für Mailand, weitere Libretti, die in der Regel aller- 48 Vgl. Roccatagliati, Alessandro, Felice Romani librettista, Lucca 1996. 49 Zu einem anschließenden Projekt Romanis mit Strepponi (8.6.1830) vgl. auch Roccatagliati, S. 32, Anm. 26. Vertont wurde Romanis Libretto nach der Uraufführung der ersten Opernfassung von Strepponi noch mehrfach; so 1825 (L. Carlini), 1828 (S. Mercadante), 1829 (M. Quilici), 1831 (G. Stoffa); 1832 (G. Fourrier Gorre), 1835 (G. Tamburini), 1836 (E. Borgatta), 1841 (G. Devasini), 1842 (F. Canneti), 1843 (A. Brancaccio); vgl. Putignano, Letizia, „Francesca da Rimini sulle scene del teatro d’opera italiano“, in: Poppi, Claudio (Hrsg.), Sventurati amanti: Il mito di Paolo e Francesca nell’Ottocento (Catalogo della mostra tenuta a Rimini, Museo della città 15.7.-11.9.1994), Milano 1994, S. 39-44; Roccatagliati, S. 297. 50 Meyerbeer, G., Briefwechsel und Tagebücher, H. u. G. Becker (Hrsg.), Berlin 1960, I, S. 391; 434. 51 Roccatagliati, S. 23. Vergleichbar sind die Unternehmungen der Madame de Staël zur Erneuerung der italienischen Literatur, die zwar in einem von der österreichischen Regierung geförderten Blatt erschienen, dann aber wenig regimetreue Folgen zeitigten. Klaus Ley 190 dings weniger exponierte politische Gegenstände präsentierten, als sie in Francesca da Rimini enthalten waren. 52 Romanis auf Dante bezogenes Libretto nach Pellicos Tragödie fand nach den Schwierigkeiten, die Meyerbeer mit dem Text erlebt hatte, dennoch Erfolg. Es wurde in den Jahren 1821 bis 1857 wenigstens elfmal Grundlage von Opernkompositionen. Der auf zwei Akte zusammengestrichene Tragödientext Romanis lehnt sich in der Exposition, gattungstypisch umgestaltet, an das Werk Pellicos an. 53 Das Geschehen setzt ein mit einer Volksszene im festlich geschmückten Rimini, wo eine Art Ausgleich zwischen den Parteiungen der Guelfen und der Ghibellinen, wie sie die italienische Nationalgeschichte seit dem Mittelalter durchziehen, gefeiert wird. Auch in diesem Libretto gibt es keinen Ortswechsel nach Ravenna, der zweite Akt spielt allerdings an einem anderen Schauplatz in Rimini. Der in dem Textbuch vorgestellte Konflikt des Hauses Malatesta ist zunächst der bereits skizzierte, wobei die Titelfigur „von innen“ heraus, allerdings nach traditionellen Gestaltungsmustern der Tragödie, entwickelt wird, so daß der Musik Raum zur Entfaltung affektischer Kontraste gegeben wird. Das gesamte Geschehen ist auf Verdeutlichung und große Explizitheit angelegt, zumal ja der sich weitgehend verrätselt gebende Prätext Pellicos bekannt war. Das gilt bereits für die einleitende Traumerzählung, in der Francesca in der Phantasie das glückliche Zusammensein mit dem Geliebten, unausgesprochen das Lesen des gefährlichen und verführerischen Buchs, im Vorgriff durchlebt: Seco d’un rio sul margine Sedeva in prato ameno. Era la notte placida, Rideva il ciel sereno, E a noi spirar sembravano Celeste ambrosia e fior. (S. 9). 54 52 Roccatagliati, S. 27f. Dennoch wurde er einige Jahre später doch noch einmal in dieser Richtung tätig, als er Stellung bezog in der „querelle“ um Tommaso Grossis I Lombardi alla prima crociata. Das auf die ersten fünf Gesänge gerichtete Ragionamento di Don Libero professore d’umanità, tenuta a mente, e pubblicato da Don Sincero di lui discepolo (Milano 1826) provozierte mehrere Pamphlete und ein zweites Ragionamento […] pubblicato da Don Sincero (ebenfalls Mailand 1826). Vincenzo Monti deckte das Pseudonym auf. Als Romani im folgenden Jahr als verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift La vespa tätig war, erschienen dort die polemischen Texte gegen Manzonis Promessi Sposi; vgl. auch Roccatagliati, S. 29f. 53 Petrobelli vermutet noch: „(the libretto) may derive from Silvio Pellico’s tragedy rather than from Dante’s poem.“ (ebenda, S. 234). 54 Die zitierte Libretto-Ausgabe: Francesca da Rimini, melodramma di Felice Romani, da rappresentarsi nel teatro Eretenio di Vicenza, l’estate 1823, Vicenza [1823]. Die Technik der Traumerzählung ist bereits geläufig in der Dramatik des frühen Cinquecento (Trissino/ Rucellai/ Speroni/ Giraldi Cinzio), erinnert also an die Monumente der Nationalkultur. Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 191 Während sie die glückhafte Nähe erfährt, kommt der Umschlag; der Ehemann drängt sich - so ihr „sogno orrendo“ (S. 9) - gefahrbringend dazwischen: Quando repente un turbine Selve sconvolge e arene … Si copre il ciel di tenebre, Torrente il rio diviene … Lanciotto in forma orribile Siede fra Paolo e me. (S. 10) Unklar ist hier noch, ob und wie dieser Blick in die Zukunft - „sono del ciel talvolta/ Avvisi i sogni“ - zu deuten ist; in den nachfolgenden Szenen gegen Ende des ersten Akts zeigt sich aber, daß der Traum tatsächlich ein Vorgriff auf die bekannte Lektüre-Szene in der „wahren Wirklichkeit“ sein will. Paolo gesellt sich zu der lesenden Francesca; er rezitiert aus dem Text, und der Funken springt über: A te d’accanto Lancilotto son io, Tu sei Ginevra. (S. 21) Bis es soweit gekommen ist und Lanciotto die in Liebe ganz füreinander entflammten Lesenden überrascht, spielt sich nach dem von Pellico vorgeprägten Muster das Motivschema von drängender Liebe und Enttäuschung Lanciottos sowie dessen Zurückweisung durch Francesca ab. Sie macht die zu seinem und zu ihrem Unglück geschlossene Ehe von dem Zwang durch den - sie durchaus liebenden - Vater abhängig: Io per le nozze Nata non era; irresistibil forza Me al ritiro chiamava … a te piangendo Un ritiro chiedea; me lo negava Paterna autorità (S. 12). Es wird aber zugleich deutlich, daß sie früh in Liebe zu Paolo, dem Bruder, entbrannt war, der vor der Ausweglosigkeit dieser Liebe floh und nun aus der Ferne zurückkommt. Wie bei Pellico ist also ein klares Wiederholungsmotiv in der Handlungsstruktur, durch das sich der „memoria“-Effekt begründet; er wird nicht nur als im Diesseits sich ereignend, vielmehr zugleich mit der Steigerungsabsicht in transzendente Zusammenhänge dargestellt. Eingelassen in die drohende Liebeskatastrophe ist ein psychologisches Argument, das in der zeitgenössischen Literatur gängig ist. Während Lanciotto seine Frau verdächtigt, „ardi di un’ altra fiamma“, sagt Francesca von sich selbst: „La mia tristezza … è naturale istinto.“ (S. 12). Sie - wie auch die anderen - präsentiert sich als melancholisch, als von „ennui“ erfaßt; entsprechend stimmt Guido da Polenta, der liebende Vater, zu: „Figlia infelice“ (S. 17). Lanciotto setzt dagegen: „L’infelice son io …“. Klaus Ley 192 An dieser Gedankenkonstellation entzündet sich das Affekttheater: Lanciotto ruft seinem zurückgekehrten Bruder Paolo zu: [...] Ira, dolore, Amore, gelosia, tutti gli affetti Mi straziano a vicenda. - Il più infelice De’ mortali son io. (S. 17). Paolo, der ja selbst der Frau des Bruders in Liebe verfallen ist, erscheint diese Selbstsicht widersinnig: Sposo a Francesca: Esser misero puoi? - Se vi è nel mondo Felicità, solo è riposta in quella Impareggiabil donna. (S. 17) Der den ersten Akt abschließende Chor bringt das Geschehen mit dem Einsatz des Pelops-Stoffs schockartig auf den in mythische Dimensionen übersetzten Punkt: È sparita, fuggita la pace: Questo è giorno di sangue, d’orrore. […] Nella casa di Pelope orrenda Questa reggia mutata sarà. (S. 24). Im zweiten Akt, der im Vergleich zu Pellicos Schauspiel einen rasanten Wechsel der Handlung bringt und eine ganz neue Motivverkettung vorgibt, die in manchem bereits an Verdis Nabucco erinnert 55 , wird zunächst durch Verstärkung des Motivs der väterlichen Sorge und Verantwortung, die Guido seine „schuldige“ Tochter vor den Angriffen des vor Eifersucht und blindem Haß fast wahnsinnigen Lanciotto verteidigen läßt, die Todesdrohung eingeführt: Per difender la figlia. Amor paterno Ravviverà il mio braccio, ed il mio core, Trema. (S. 26). Dagegen setzt Lanciotto die Drohung: […] nè tu, nè tutta Ravenna tua, nè quante il mondo ha spade Valgono a torre a me la rea consorte: Morte sola il potrà. (S. 16). Ab der vierten Szene des zweiten Akts wechselt der Ort des Geschehens. Lanciotto hat seine Gegenspieler, Frau und Bruder, in einem „atrio sotterraneo“ gefangengesetzt, um sie zu töten. In das heftige Gegeneinander von 55 Zu der in der zeitgenössischen Librettistik gängigen Konstellation der Eltern-Kind- Beziehungen, bei Verdi dann vor allem Vater-Sohn-Beziehungen, vgl. Ley, Klaus, Latentes Agitieren: „Nabucco“, 1816-1842. Zu Giuseppe Verdis früher Erfolgsoper, ihren Prätexten, ihrem Modellcharakter, Heidelberg 2010, S. 77ff. u.ö. Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 193 Tod und Liebe, deren Erfüllung im „point suprême“ Paolo und Francesca begehren, bricht als Retter der Vater Francescas, Guido da Polenta, mit seinen Mannen ein. Nach einem erneuten Ortswechsel, der an einen „luogo remoto presso le mura di Rimini“ (S. 32) führt, stoßen die gegnerischen Kräfte aufeinander. Die feindlichen Brüder werden miteinander konfrontiert, während sich Francesca entscheidet, der Welt zu entsagen und sich in ein Kloster zurückzuziehen: Non son più tua, Lanciotto: i nodi nostri Spezzò la colpa .. nè tua sono, o padre, Che altrui mi desti … Altri non m’abbia mai. Quel che da te bramai Sacro ritiro un dì, quello or mi accoglia E nasconda il mio fallo e il mio rossore. (S. 33) Paolo gelingt es dann aber noch, eine Vertraute Francescas für den Plan zu gewinnen, ihr im Kloster einen letzten Besuch abzustatten, bevor er erneut in die Welt ziehen will. In einem „chiostro“ treffen sie bei Nacht zusammen. Zum Klange einer „musica religiosa“, die aus einem „tempio gotico“ (S. 36) ertönt, wollen sie voneinander Abschied nehmen: Siamo infelici … E più rei che infelici - Ultimo addio Da me chiedesti, e il prende. (S. 36). In der Entsagung und der Hoffnung auf Vereinigung im Tode - „Addio: riposo e pace/ Serbi la tomba a te“ 56 - trennen sie sich, nicht ohne daß Paolo, in diskretem Verweis auf Othello, zuvor noch ein „fazzoletto“ erbittet, „che almeno una tua lagrima / Meco ti porti“ (S. 376). Da aber stürzt Lanciotto herbei und verwundet Francesca tödlich, worauf Paolo sich selbst ersticht. Im allgemeinen Entsetzen endet das Drama; Lanciotto steht erschüttert da, „scuotendosi“ (S. 58). Das gegenüber Pellico die Dramatik befördernde, zugleich die Zensur provozierende politisch-risorgimentale Moment kreist, wie gesagt, um die altbekannte Thematik von Guelfen und Ghibellinen, die sich gegenseitig die Herrschaft in den oberitalienischen Städten streitig machen. Hier liegt eine deutliche Absicht der Ausweitung auf die zeitgenössischen Machtverhältnisse, auf Aktualisierung in politischer Hinsicht. Jedenfalls wird dieser Aspekt im ersten Akt bereits von Francescas Vater, als dem „lieto e felice/ De’ Guelfi vincitor“ und als nun wieder „libero e solo di Ravenna Signor“ (S. 11), auch mit Lanciotto zusammengebracht. Neben Meyerbeers Zeugnis über den brisanten Aspekt von Romanis Textbuch gibt es Jahre später noch die Stimme eines anderen Komponisten, Vincenzo Colla, der von seiner eigenen Kompositionsarbeit in einem Brief (vom 30.6.1839) berichtet. Es geht hier wieder entschieden um die hohe Af- 56 Angemerkt sei, daß auch hier gewissermaßen Vorgriffe auf Verdis Schaffen (Liebestod in Aida) erkennbar sind. Klaus Ley 194 fektivität des Stoffs gegenüber dem, was zuvor als musikalisches Rokoko bezeichnet worden ist. 57 Aufschlußreich sind die Vorstellungen zur Veränderung der üblichen Verfahrensweisen, die Colla zur Wirkungssteigerung seiner eigenen Oper plant. 58 Hinzu kommt eine weitere wichtige Stellungnahme: Ein Jahr nach Colla meldet sich Francesco Morlacchi, mit Datum vom 24.4.1840, aus dem sächsischen Dresden beim Librettisten. Nach großen Komplimenten über die Cantabilität von Romanis Versen 59 trägt auch er seine Änderungswünsche vor. Er beabsichtige vor allem, die Verabredungs-, besser Verabschiedungsszene im Kloster so in Szene zu setzen, daß sie nicht allein als von Paolo ausgehend motiviert sei. Francescas unerschütterliche Festigkeit, der Welt zu entsagen, erscheint ihm unangebracht. Das Ganze müsse einhergehen mit einer Veränderung der Struktur des Textes. 60 Die Klosterszene solle einen eigenen Schlußakt bilden, in dem die Liebenden dann von Lanciotto überrascht und unversehens getötet werden. Während die Auftrittsarie Paolos erweitert werden soll, hält Morlacchi das kriegerische Getümmel, in dem Lanciotto Francesca ersticht, für überflüssig. Die Konzentration auf das Liebesdrama erscheint ihm wichtiger: 57 Nachdem er sich zustimmend auf Romanis Besprechung des Werks eines anderen Tonsetzers bezogen hat, „che tu la chiami musica alla ‚rococò’, mi fece ridere assai“, fährt er mit Anmerkungen zu seiner eigenen Arbeit fort: „a tutto mio rischio sto scrivendo in musica uno de’ tuoi bei libretti, che è la ‚Francesca da Rimini’.“ Zum Stand der Arbeit heißt es: „Ho già terminato il primo atto. Dico già perché, da aprile fin’ora coll’interruzione di un mese di malattia, l’estro sembra che mi abbia favorito, almeno così dissero alcuni dilettanti, a cui feci sentire qualche pezzo. Ma pria d’incominciare il s.[econ]do atto voglio fare le necessarie pratiche per poter produrre il mio lavoro in Autunno o in Carnevale prossimo.“ (Roccatagliati, S. 415f. ). 58 Es geht im Wesentlichen um die Ersetzung der offensichtlich als künstlich und unnatürlich, dem Geschlecht der Personen nicht angemessen empfundenen „Contra“- Stimmen: „è d’uopo dirti, che si riserva delle arie di s[econ]da parte che farò ridurre in Recitativi, non ho levata né cambiata una sillaba, come fanno alcuni maestri per servire alla musica forse fatta prima! E soltanto per seguire l’uso moderno, ho scritto la parte di Paolo, ch’era il contralto per il tenore, e quella di Lanciotto per il basso. Così vi saranno tre prime parti assolute e tre s[econ]de, meno però la parte di Guelfo, che non dev’essere affatto secondaria, avendo questi una bella parte nell’Introduz[io]ne. Così anche il Guido canta in un terzetto col tenore e la prima donna, ma ebbi la precauzione di tenerlo in ‚status quo’, senza però che abbia a lamentarsi.“ (Roccatagliati, S. 415). 59 Dazu führt er aus: „Sono due anni che giornalmente mormoro i tuoi versi, né mai stanco ne sono! Intendimi, per mormoro voglio dire canticchio; e compongo, con vero piacere, note espressive nel tuo libro di ‚Francesca da Rimini’. […] Ti ho già detto che quest’opera la compongo per mio piacere e la dedico a te. I pezzi principali dell’atto primo, che ho già fatto cantare in casa mia, mi sono riusciti, mi pare, degni di te e di me. […] Mandami presto questi cambiamenti, perché mi sento in voga e voglio finirla in questa Estate.“ (Roccatagliati, S. 416). 60 „Sono già nell’ atto se[con]do e mi ricordo, che tu volevi farci qualche piccolo cambiamento. Esamina questa tua bella produzione e vedi dove puoi ammegliorarla. Io bramerei, dopo l’aria di Francesca dell’atto 2do di finire l’atto 2do e fare un piccolo atto terzo con la scena 13 ma 14 ma e 15 ma , […].“ (Roccatagliati, S. 416). Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 195 perciò ho bisogno 1 o che tu mi facci andare il ‚rendevou’ tra Paolo e Francesca, con qualche verso introdotto nell’aria di Francesca, per evitare la scena 11(? [! ]) tra Paolo e Francesca [scil. Isaura]. Sie, die „damigella“ Francescas, und ihre Szene (Nr. 12) sollen offenbar gestrichen werden. 61 Hier kommt plötzlich wieder die Frage nach dem oder den Prätexten des zweiten Akts ins Spiel. Daß die Hofdame, deren Namen Morlacchi nicht richtig im Kopf hat - er spricht von Francesca selbst - , bei Romani Isaura heißt, führt zurück auf die Spur von Rossinis Otello. Im Lied auf die Weide, das dort Desdemona nach dem Gesang des Gondoliere singt, heißt das junge Mädchen, dessen Schicksal das Thema des Gedichts ist, Isaura; bei Boito/ Verdi wird ihr Name dann Barbara sein; bei Shakespeare war das entsprechende Personal noch namenlos. Es ist dieser Moment des Innehaltens, des Akzentuierens der Erinnerung an die verflossene Zeit, durch das die fatale Gegenwart unerträglich zu werden droht, die „memoria“ ihre verharrende Wirkung ausübt. Die Schlußbemerkungen im Brief Morlacchis spiegeln die Hinweise V. Collas aus einem ganz anderen Blickwinkel. Er bemerkt - von außen, von der Oper in Dresden - zu ebender Zeit, als ein erneuter und entscheidender Umbruch in der italienischen Opernästhetik stattfand, der nicht zuletzt durch Verdis wenig später triumphal gefeierten Nabucco voll zum Durchbruch kam, eine Veränderung des Geschmacks. 62 Dabei blieb seine Komposition schließlich unvollendet. Stendhal und die Umdeutung des Wirkungsprozesses von Dantes Inferno Episode hin zur Moderne Als Ergebnis der frühen Rezeption von Dantes Francesca da Rimini-Episode auf dem Theater zeigt sich nun: Nach einer Phase eher unklar vermittelter tragischer Introspektion, wie sie vor allem in Pellicos Schauspiel vorliegt, wo auf der Suche nach dem eigenen Selbst die Frage nach Verantwortlichkeit 61 Zur weiteren Argumentation: „2 o che Paolo nella scena 13 ma abbia qualche strofa di più da cantare dopo quella: ‚Tu che forse in questo istante/ Hai cessato di soffrir/ Se giammai vivesti amante/ Prega pace al mio martir.’ Mi pare che Paolo può cantare una Romanza più lunga in questo luogo, e poi tutto va bene. Mi pare, se non sbaglio, che tu avevi anche l’idea di ommettere quella specie di zuffa guerriera, ma non mi ricordo bene che volevi sostituire.“ (Roccatagliata, S. 416). 62 „Secondo le musiche che si scrive ora in Italia vedo che tutti si danno al canto declamato, ma non più come io intendeva, bensì esagerato e nauseante. Mi pare, che tutto il bello delle moderne composizioni teatrali consiste nel gridare. Chi ha migliori polmoni è il miglior cantante! E il bel canto espressivo dov’è andato? E tu nel tuo giornale non levi la tua possente voce per reprimere questo torrente devastatore? “ (Roccatagliata, S. 416f.). Zum Argument des Lärms beim frühen Verdi vgl. Ley, Latentes Agitieren, S. 85 u.ö. Klaus Ley 196 und Schuld fast ausgeblendet scheint 63 , kommt es über Romanis Betonung der Rivalität der Brüder, die Motivkette Kain und Abel also, zu einer Verschiebung hin zu größerer Entäußerung von dramatischer Handlung und zur Ausweitung in die politische Auseinandersetzung. Während bei Pellico allein durch das aus Anlaß von Paolos Rückkehr von Byzanz ausgesprochene Engagement für Italien ein Moment von nationalem Pathos vorgegeben ist, entfaltet sich dieses scheinbar blinde Motiv voll bei Romani. 64 Die in lockerer Verbindung zu den Francesca-Dramen stehende Fassung von Rossinis Otello mit dem Inferno-Zitat bietet sich nun noch einmal an, um einen Lösungsansatz für die Wirkungsabsicht in diesen frühen Texten zu finden. Das Lied des Gondoliere fungiert als Schlüsseltext, indem es den Kontrast zwischen vom Schicksal herausgehobenen Personen zu dem gewöhnlichen Menschen illustriert. Der außerhalb der dramatischen Handlung stehende Mann singt, bevor er von der Arbeit zu seiner Familie zurückkehrt, in einer Art Moritat vom Schicksal eines großen Glücks, das in Unglück und Elend erst zeigt, wie es zu seiner schrecklichen Verkehrung gelangt. Der Exempelcharakter des Geschehens auf der Bühne wird so unterstrichen; nur durch die Kommentarfunktion wird der Bezug deutlich. Der Gondoliere steht als Folie des Normalen der Katastrophe gegenüber, mit der hier Desdemona - wie auch Francesca - sich konfrontiert sieht. Der Betrachter ist sich damit seiner Zuschauerrolle bewußt; er erlebt nur bedingt spontan mit, ist nur auch kritischer Zeuge des Geschehens, in das er nicht voll eingebunden ist, das er aber dennoch voller Empathie teilt. Die Behandlung des tragischen Stoffs selbst zeigt im Auseinanderfallen der Perspektiven eine hohe Ambivalenz. Bezogen auf die Absicht des „forte sentire“ ist es zugleich ein vorsichtig vermittelter Appell zum Aufbrechen der althergebrachten Emotionalität und eine Warnung vor der so provozierten Unkontrollierbarkeit der Schlußfolgerungen. Die Folge ist ebendas sich in Träumen verlierende Dahingetriebensein, das bereits die Protagonisten in Kellers und Pellicos Tragödien auszeichnet. Die darin zum Ausdruck kommende Haltlosigkeit - sie hatte gleichfalls bereits in dem von Dante evozierten Schweben der Liebenden Gestalt angenommen - erklärt auch einen Teil der andauernden Popularität dieses Themas in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts. Das Motiv findet sich in 63 Es bleibt zu klären, ob die manifeste Unsicherheit zwischen traditionsverbundener Fremdbestimmung und spontaner Selbstfindung, die diese Ambivalenz als Schwanken zwischen Fatalität und Autonomie prägt, nicht die zentrale Wirkungsabsicht von Pellicos Tragödienkonzept bildete und als treffendes Erlebensmuster auch den heute so wenig verständlichen, aber damals lang anhaltenden Publikumserfolg garantierte. Verbunden mit dieser Fragestellung ist die ja auch für Verdis Opern mustergültige Familienkonstellation; vgl. dazu Baldacci, Luigi, Libretti d’opera e altri saggi, Firenze 1974, (Kap. „Padri e figli“), S. 177ff. u.ö. 64 Das bildet dann - über noch auszuwertende Zwischenstufen - die Voraussetzung für die Ausgestaltung von Affektkonstellationen, wie sie bald über Heyse, Boker etc. bis zu D’Annunzio weiterentwickelt werden. Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 197 treffender und seinerzeit besonders erfolgreicher Form in dem bald auch als Lithographie verbreiteten Bild, das Adolphe Yvon (1817-1893) im Salon von 1848 ausstellte. Es trägt den Titel La luxure und ist Teil eines sich auf die Divina Commedia beziehenden Zyklus, der den Sieben Todsünden gewidmet ist. Auch hier erscheint die Verbindung des Themas mit ethischen Positionen Dantes eher locker. (Vgl. Abb. im Anhang, S. 205) Das ungerichtete Gleiten umschreibt zunächst das dem subjektiven Erleben nur halbbewußte, nicht voll kontrollierbare Ausgesetztsein gegenüber dem eigenen Empfinden und den allgemeinen Normvorstellungen. Später erst wird es, mehr und mehr unter vitalistischen Voraussetzungen begriffen, zu einer letztlich positiven Erfahrung von Ungebundenheit und Freiheit umgedeutet. An diesem Punkt setzt in Frankreich 65 , von Stendhal auf den Begriff gebracht, die Gegenbewegung bei der Bewertung und Zuordnung der Handlungsmuster und ihrer Grundeinstellungen ein. Der Franzose äußert sich dazu explizit in zweien seiner Werke; neben De l’amour (1822, Kap. 19) auch in der Vie de Rossini (1823/ 4, Kap. 8 u. 14) - hier anläßlich der gegenüber der hymnisch geäußerten Bewunderung für die anderen Werke des Komponisten eher negativen Besprechung der Oper mit dem Lied des Gondoliere. 66 Während die Musik von Otello noch eine relativ gute Resonanz findet, trifft die Kritik das Libretto und damit zugleich die durch das Zitat gegebene Nähe zu der Geschichte von Francesca da Rimini. Entscheidend geht es dabei um das Thema der Erinnerung. Zum Lied des Gondoliere nimmt Stendhal mehrfach, durchaus auch mit Bewunderung, Stellung: „Man hört einen vorüberfahrenden Gondoliere die schönen Verse des Dante singen“; auf die Frage Desdemonas „Wer bist du, der du also singst? “ heißt es auch bei ihm: „Da gibt ihr die Vertraute die rührende Antwort: ‚Es ist der Schiffer, der mit Singen verkürzt die Fahrt auf der ruhigen Woge, denkt seiner Kinder, wenn der Himmel sie schwärzet.’“ 67 Das Interesse kreist aber letztlich in kritischer Absicht um die Qualität der Erinnerung (memoria), durch die hier Glück und Unglück in ein problematisches Verhältnis zueinander gesetzt werden. Der Widerspruch richtet sich auf das in Francescas Rede fixierte Prinzip, bei großem Unglück wirke im erinnernden Erleben das frühere Glück so, 65 Die dort um diese Zeit sehr bekannte Geschichte der Francesca da Rimini war noch wenig früher eher unbeachtet gewesen. In J. Delilles L’imagination (ca. 1784; publ. 1806) wird nur die Ugolino-Episode erwähnt; eine der frühesten bildnerischen Darstellungen stammt von Ingres (Ausstellung 1819; 1816 Skizze an Artaud de Montor); vgl. Pitwood, S. 67ff.; 90. 66 Wie auch Mérimée berichtet, habe Stendhal mit der Vergangenheit verbundene Glücksgefühle nicht akzeptieren können als Anlaß für Traurigkeit aus der Erinnerung; vgl. Pitwood, ebenda, S. 134. Zur Verbindung von Stendhal mit Pellico und Byron vgl. Havely: Francesca frustrated, S. 106. 67 Der Text wird zitiert nach der zeitgenössischen Übersetzung von A. Wendt: Rossinis Leben und Treiben, (1824), repr. Hildesheim 2003, S. 144. Klaus Ley 198 daß es das Leiden nur noch verstärke, extrem ins Negative steigere. Das Leid bzw. die Schuld werde durch solches Erinnern, so die Schlußfolgerung, dadurch intensiviert, daß es auf die Ausgangssituation zurückwirke mit der Frage, ob es falsch war, diesem Erleben nachzugeben. Für die Verfechter dieser Haltung folgt daraus im Ergebnis eine grundsätzliche Erziehung zur Verhaltenheit, zu ständiger Selbstkontrolle über die ganze Breite des Bewußtseins. Gegen eine so bewirkte Aufstauung des Erlebensstroms, die zu einer Distanzierung des eigenen Ich von sich selbst führt, setzt Stendhal Spontaneität und den Willen zu bedingungslos zukunftsoffener Selbstverwirklichung. Ihm geht es mit seiner Kritik darum, daß das Liebeserleben, wenn es denn glückhaft war, seine Aura bewahrt, entsprechend von Beginn an und anhaltend positiv erfahren wird. Jedes mögliche Moment von Vorsicht oder Zurückhaltung, von „reservatio mentalis“, soll ausgeklammert bleiben. Das ursprüngliche Empfinden soll so rein und ungemischt bleiben, wie es zunächst war, und nicht durch moralischen Druck umgewertet werden. Umgekehrt bedeutet das: Wenn es bereits zuvor schon überlagert ist von nicht aus der Spontaneität des Gefühls entspringenden Antrieben, kann es sich nicht um echte Liebe handeln. Bei dieser Forderung nach scheinbar planer, neuer und unverklausulierter Authentizität stützt sich Stendhal auf literarisch-psychologische Muster, die, bevor sie im frühen 19. Jahrhundert geläufig waren, ihren Ausdruck bereits bei Rousseau oder auch - wie Stendhal selbst sagt - bei Goethe gefunden hatten. In den Anmerkungen zu Otello skizziert er die Grundlagen seiner Kritik: So lange man die Liebe nur aus Büchern kennt, wird man schwerlich ihre Eifersucht zu schildern im Stande seyn. Soll die Darstellung der Eifersucht in den schönen Künsten rührend seyn, so muß sie ihren Ursprung in einer Seele haben, die, wie Werther, von der Liebe eingenommen ist, von einer Liebe, die vielleicht bis zum Selbstmord gehen kann. Erhebt sie sich nicht bis zu diesem Grade von Energie, so ist sie nur die Anmaaßung eines gemeinen eiteln Herzens, welche keine Rührung hervorbringt. (S. 128) 68 Bezogen auf die korrespondierenden Fassungen von Francesca da Rimini, wo die Eifersucht des Ehemannes auf den sie auslösenden „coup de foudre“ der beiden Gegenspieler trifft, heißt das zugleich auch, daß eine spontane Liebe, die rasch bereits in der Entsagung endet, nicht für die folgende dramatische Entwicklung tragend sein kann. Hier wie dort ergibt sich damit als Schlußfolgerung: 68 Der Übersetzer A. Wendt distanziert sich hier ausdrücklich: „Auffallend ist es in der That, daß Herr von Stendhal gerade bei Othello als heftiger Tadler Rossinis auftritt, da gerade diese Oper bei allen Mängeln im Einzelnen, selbst von den erklärtesten Gegnern dieses Componisten unter den Deutschen als das beste Werk Rossinis im tragischen Ausdruck anerkannt worden ist.“ (Leben und Treiben, S. 133, Fußnote). Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 199 Diese moralische Hauptbedingung der Theilnahme an ihm […] fehlt in der Oper Othello ganz. Dieser Othello ist gar nicht so zärtlich; es ist nur die Eitelkeit, die ihm den Dolch in die Hand gibt. (S. 129). Der entscheidende Vorwurf gegen das Libretto Berio di Salsas lautet denn auch: Um diese Oper zu retten, hätte das Genie Rossini’s nicht nur, wie gewöhnlich, die albernen Worte, sondern, was noch weit schwieriger ist, selbst das Widersinnige in den Situationen überwinden müssen. […] Statt des tiefsten Elends wird man nur immer den Ausdruck des Unwillens wahrnehmen, immer beleidigte Eitelkeit eines Wesens, von dem das Schicksal seines Schlachtopfers völlig abhängig ist, statt des fürchterlichen und mitleidswürdigen Schmerzes der Liebesleidenschaft, die durch den Gegenstand ihrer Liebe sich verrathen glaubt. (S. 131f.). Wie die eine, so ist - im Falle von Pellicos Francesca da Rimini als volles Gegengewicht - auch die andere der beiden Seiten erotischer Betroffenheit zu beurteilen. So erklären sich hier wie dort die Vorbehalte gegen eine Lösung, die Situationen zeigt, die nach dieser Deutung eigentlich nicht als archetypisch bewegend wahrgenommen werden können. Stendhal stellt in seiner Kritik über den Werther-Verweis die Verbindung her zu einem Verständnis von Charakter, das letztlich in einer neu sich etablierenden literarischen Anthropologie begründet ist. 69 Verbunden erscheint sie, mehr noch als mit Werther, mit dem Bild des Dichters Tasso, das sich seit etwa 1770 nach der Maxime „sii grande e sii infelice“ ausbildet. Diese Entwicklung umfaßt die Etappen des „poète malheureux“ - so der Satiriker Nicolas-Joseph Gilbert - und gipfelt im Konzept des „poète maudit“. 70 Sie erscheint verpflichtet auf eine neue sincérité, die vor den im Wesen des Menschen verborgenen Rätseln nicht ausweicht und dafür auch Widerspruch und Ablehnung in Kauf nimmt. Nicht zuletzt Stendhal steht für die mit der Romantik in lockerer Verbindung befindliche Haltung zu einer Zeit, als eine dieser Erneuerung entspringende weitere Linie sich ausprägt. Deren nur für kurze Zeit bekannt gebliebene Repräsentanten in Frankreich, die um 1815/ 18 wirkten, sind verbunden unter der Bezeichnung „poètes mourants“. 71 Als vielleicht namhaftester Vertreter ist Charles-Hubert Millevoye zu nennen, und im weiteren Umfeld dazu ist auch - seinem ganzen Programm nach - Silvio Pellico zu verorten. 72 69 Vgl. auch Luti, Giorgio, „Romanticismo europeo e romanticismo italiano”, in: E. Kanceff/ Annarosa Poli (Hrsg.): Riflessi europei, I, S. 3-14; Didier, Béatrice, „L’ennui à la française et le romantisme italien”, in: Ebenda., I, S. 15 -26. 70 Vgl. dazu Mundt-Espín, Christine, Dichterische Selbstinszenierung im französischen Thea ter von Vigny bis Vitrac, Frankfurt 1990; Ley, Klaus, „’Sii grand’uomo e sii infelice’. Zur Umwertung des Tasso-Bildes am Beginn des Ottocento: Voraussetzungen und Hinter gründe im europäischen Rahmen“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 46 (1996), S. 131-173. 71 Purper, Karena, Gilbert, der ‚poète malheureux’. Zur Konstituierung des Paradigma vom ‚unglücklichen Dichter’ in der Spätaufklärung. (Magisterarbeit Mainz 1998, unpubl.) 72 Auch ein literarisches Faktum legt die Annäherung nahe. In Millevoyes Nachlaß (1816) Klaus Ley 200 Mit großer Radikalität tritt Stendhal an gegen solche ihm trotz allem als halbherzig vorkommende Modernität. Dante, zu dem er sich in Racine et Shakespeare äußert, stuft er nach seinen Zuordnungsmustern von „classique“ und „romantique“ durchaus als Romantiker und d. h. als Dichter der Moderne ein. 73 Durch seine christlich-scholastischen Wurzeln sei Dante allerdings, so meint er, zu stark mit der Vergangenheit verbunden, als daß er in der Gegenwart vorbehaltlos Gültigkeit beanspruchen könne. Treffend läßt sich das an ebender Erinnerungsthematik festmachen. Dante, um es auf Grundsätzliches zu bringen, ist hier in seiner Konzeption ganz dem Boethius verpflichtet, in dessen Consolatio philosophiae es heißt: „nam in omni adversitate fortunae infelicissimum est genus infortunii fuisse felicem.“ 74 Die so in der christlichen Ethik verankerte Memoria-Deutung kehrt Stendhal um. 75 Mit ihm vertreten auch Lamartine und Musset grundsätzliche Ansichten zur Aufhebung dieser Maxime. Im Cours familier etwa kommentiert Lamartine die Episode von Paolo und Francesca, „(qui) laisse le lecteur indécis si un tel enfer ne vaut pas le ciel.“ 76 Und in seinem Gedicht Souvenir bezieht sich Musset explizit auf das ihn an der Francesca-Episode interessierende große Thema: Dante, pourquoi dis-tu qu’il n’est pire misère Qu’un souvenir heureux dans les jours de douleur? Quel chagrin t’a dicté cette parole amère, Cette offense au malheur? En est-il donc moins vrai que la lumière existe, Et faut-il l’oublier du moment qu’il fait nuit? fand sich eine Tragödie nach Dantes Inferno, mit dem Titel Ugolin. Ihr besonderes Kennzeichen ist, wie bei Pellico, eine latente Subversivität. 73 Stendhal stellt in der Einleitung zur Vie de Rossini selbst die direkte Verbindung zwischen Dante und den Carbonari her; vgl. Pitwood, S. 141; vgl. 134ff. 74 „Bei jedem Schicksalsschlag ist die unglücklichste Art des Unglücks, glücklich gewesen zu sein.“ (Cons. Phil., 2; vgl. auch Raffaelli, Otello, S. 68, Fußn. 13). 75 Damit kann er auch in Italien Zustimmung finden. Zum Vergleich von Dante und Shakespeare heißt es etwa bei Carlo Tenca: „Nel mentre Dante, poeta cattolico e credente, dipinge gli uomini ne’ suoi rapporti colla fede, coll’eternità, con Dio, Shakespear, poeta del dubbio e dell’ironia, ci mostra l’uomo in lotta con sé medesimo, colla sua natura, col suo destino. In Dante le azioni buone o malvagie hanno la loro spiegazione nell’intervento della provvidenza; ed egli impone all’uomo la vigilanza continua della sua coscienza sotto l’occhio inevitabile di Dio che ne scruta i segreti. In Shakespear invece l’uomo è abbandonato al suo istinto, non trova se non nel suo cuore la ragione delle proprie azoni; il pensiero dell’avvenire non gli è di scorta alla vita presente, ma gli è invece di tormento, d’incertezza, di lotta incessante. L’anima è libera per lui, non ha legami che ne circoscrivano l’attività; e perciò appunto più terribile è lo strazio delle passioni che la agitano, e quasi direbbesi selvaggia la realtà che ce le raffigura. E in ciò sta il segreto principale dell’arte e della potenza di quel poeta, che poté esser chiamato il più grande creatore d’uomini dopo Dio.“ (Tenca, Carlo, „Re Riccardo III di Shakespear, tradotto da Giulio Carcano”; in: Il Crepuscolo, Milano 1851, S. 83). 76 IV, 101 - Entretien 20, VI; vgl. Pitwood, S. 164. Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 201 Est-ce bien toi, grande âme immortellement triste, Est-ce toi qui l’as dit? Non, par ce pur flambeau dont la splendeur m’éclaire, Ce blasphème vanté ne vient pas de ton coeur. Un souvenir heureux est peut-être sur terre Plus vrai que le bonheur […] Et c’est à ta Françoise, à ton ange de gloire, Que tu pouvais donner ces mots à prononcer, Elle qui s’interrompt, pour conter son histoire, D’un éternel baiser! 77 Literaturverzeichnis Arnd, Eduard, Die Geschwister von Rimini, eine Tragödie, Breslau 1829. Avalle, D’Arco Silvio, Analyse du récit de Paolo et Francesca, Krefeld 1975. Baldacci, Luigi, Libretti d’opera e altri saggi, Firenze 1974. Baldelli, Ignazio: Dante e Francesca, Firenze 1999. Beaty, Frederick L., „Byron and the story of Francesca da Rimini“, in: Publication of the Modern Language Association 75 (1960), S. 395-401. Caesar, M., Dante. The critical heritage, London 1989. 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Aus der Vielzahl der Bildfindungen bietet sich, wie bereits gesagt, als Parallele die Fassung von Adolphe Yvon (1848) an, eines Schülers von Paul Delaroche, der aber auch im Umfeld Ary Scheffers anzusiedeln ist. Dessen früher berühmtes Gemälde von 1834 zeigt, allerdings bereits zurückgenommener als die Darstellung Heinrich Füsslis (1777), noch ein heroisches Moment, das der Fassung aus dem Zyklus von Yvon ganz fehlt. Die hier wiedergegebene Lithographie, ein Indiz für weite Verbreitung, ist offenbar anonym, ohne Titel und undatiert herausgekommen; das verfügbare Exemplar trägt als handschriftlichen Zusatz den Titel Le Rêve. Heinrich Füssli Ary Scheffer Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts 205 A. Yvon: La Luxure/ Le Rêve Kernaspekte der Bildfindung begegnen in vielen weiteren Darstellungen des 19. Jahrhunderts, so in den Illustrationen der Göttlichen Komödie von Gustave Doré (um 1860), hier wieder im gewohnten Kontext mit Dante und Vergil. 78 G. Doré 78 Vgl. auch neben G. Locella (Dantes Francesca da Rimini in der Literatur, bildenden Kunst und Musik, Esslingen 1913) Schirra, Doris (Hrsg.): „An jenem Tage lasen wir nicht weiter“. Illustrationen zu Dantes Göttlicher Komödie aus den Beständen der Universitätsbibliothek Köln, Köln 2000; Soennecken, Ilka: Dantes Paolo e Francesca in der Kunst des 19. u. 20. Jh. Entstehung und Entwicklung eines romantischen Bildthemas, Weimar 2002. Klaus Ley 206 Eine geistreiche Abwandlung findet sich in der Karikatur auf Franz Liszt, die den Titel Das Ewigweibliche zog ihn hinauf trägt. 79 Sie ironisiert Liszts Auseinandersetzung mit Goethe, aber mehr noch - nur im Bild sichtbar - mit Dante: Über Gretchen/ Faust sowie Beatrice/ Dante ist das Gegenbild Francesca/ Liszt gelegt. 79 Die Wiedergabe des Vexierbilds findet sich in der Besprechung der Gesamtedition der Lieder von F. Liszt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.3.2010, S. 39). [mit unzu treffender Quellenangabe]. Matthias Krautkrämer Allegorie des Fortschritts. Zur Bedeutung Dantes in Franz Liszts Schaffen Die Neubestimmung der Künste Alle Welt ist gegen mich, Katholiken, weil sie meine Kirchenmusik profan finden, Protestanten, weil meine Musik katholisch sei, Freimaurer, weil sie meine Musik als klerikal empfinden; für die Konservativen bin ich ein Revolutionär, für die Fortschrittler ein Jakobiner. Was die Italiener anbetrifft: Wenn sie Garibaldianer sind, verachten sie mich als Betbruder, wenn sie auf Seiten des Vatikans stehen, werde ich beschuldigt, die Venusgrotte in die Kirche einzuführen. Für Bayreuth bin ich nicht ein Komponist, sondern ein Reklameagent. Die Deutschen lehnen meine Musik als französisch, die Franzosen als deutsch ab, für Österreicher mache ich Zigeunermusik, für die Ungarn fremdländische Musik. Und die Juden lehnen mich und meine Musik ohne erkennbaren Grund ab. 1 Als Liszt im hohen Alter auf diese Weise sein Schicksal beklagt, hat er bereits alles erreicht, was ein Künstler zu Lebzeiten erreichen kann. Er ist der berühmteste Virtuose seiner Zeit, hat als hoch angesehener Komponist die Musikwelt verändert, er ist wohlhabend und gesellschaftlich anerkannt. Unter diesem Gesichtspunkt klingt sein Klagen sicherlich etwas überhöht und selbstverliebt. Doch vor dem Hintergrund seiner Biographie, vor allem seiner mittleren Schaffensphase, ist es durchaus nachvollziehbar, dass sich in Liszts Innerem das Selbstbild des unverstandenen und abgelehnten Künstlers festgesetzt hat. Das Zitat charakterisiert Liszt als vielseitigen, rebellischen und unbequemen Menschen. Durch ihn scheinen Politik, Religion, die unterschiedlichsten Kulturen und schließlich die Musik in einem Widerspruch vereint. Diese Vielseitigkeit ist die entscheidende Schnittstelle, die ihn mit Dante verbindet und weshalb der Dichter nicht zufällig eine tragende Rolle in Liszts Schaffen einnimmt. Die Commedia, die Liszt mit Begeisterung in den dreißiger Jahren während seiner Italienreise liest, hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck bei ihm und fordert ihn heraus. Er widmet sich dem Dante-Stoff zuerst in einem frühen Werk, der 1837 komponierten Sonate Après une lecture de Dante. 1856 beschließt die Dante-Symphonie als sein Hauptwerk das Ende seiner Weimarer Schaffensphase, in der er eine neuartige Gattung entwickelt, die Symphonische Dichtung. Das Verständnis des Werks und seine Verbindung zum Dichter setzt eine Auseinandersetzung 1 Zit. nach Haschen, Reinhard, Franz Liszt oder die Überwindung der Romantik durch das Experiment, Frankfurt am Main 1989, S. 160. Matthias Krautkrämer 208 mit Liszts vielfältiger und oft eigenwilliger Gedankenwelt unbedingt voraus. Denn nicht zuletzt geht dem Ergebnis seiner Arbeit ein langer Entwicklungsprozess voran, der in seinen zahlreichen theoretischen und kritischen Schriften nachvollzogen werden kann. Die entscheidenden Denkanstöße, die Liszt zunächst weniger als Musiker, sondern als kritischen, politischen, religiösen und vor allem belesenen Menschen auszeichnen, erhält er im Paris der 30er Jahre. Dem ausgereiften Pianisten bietet die Großstadt als kulturelles Zentrum Europas die Möglichkeit, den Entbehrungen seiner Kindheit entgegenzuwirken. Durch die Zurückgezogenheit und soziale Isolation bei seiner musikalischen Ausbildung und während der Reisen als Wunderkind war ihm eine ausreichende Schul- und Allgemeinbildung verwehrt, was Liszt als demütigend empfindet. Als wolle er die Entbehrungen seiner Kindheit ausgleichen, stürzt er sich ins öffentliche Leben. Er beteiligt sich an den unterschiedlichsten geistigen Strömungen und Debatten seiner Zeit, wobei ihn vor allem die neue katholische Soziallehre, wie sie Félicité de Lamennais vertritt, prägt. So beschreibt ihn Heinrich Heine 1837: Höchst merkwürdig sind seine Geistesrichtungen. Er hat große Anlagen zur Spekulation und mehr noch als die Interessen seiner Kunst interessieren ihn die verschiedensten Schulen, die sich mit der Lösung der großen, Himmel und Erde umfassenden Fragen beschäftigen. 2 Zentrale Probleme, die mit den „Himmel und Erde umfassenden Fragen“ zusammenhängen, sind für Liszt die Rolle des Künstlers und der Zustand der Künste seiner Zeit, die er als stark defizitär empfindet. Liszt findet im Journalismus ein wichtiges Ventil, seiner heftigen Kritik Luft zu machen und gleichzeitig Lösungen zu präsentieren. In seiner Aufsatzreihe Zur Stellung des Künstlers macht er zunächst auf die Missstände aufmerksam und nennt die Ursachen dafür. Der vordergründige Kritikpunkt, den Liszt anführt, ist die Feststellung, dass der Künstler im nachrevolutionären Frankreich immer noch wie ein Bediensteter niederen Standes behandelt und betrachtet wird. Er agiere wie ein Objekt zur Unterhaltung einer „gedankenlosen und materialistischen Gesellschaft“, von deren Wohlwollen er abhängig sei, um etwas soziale und materielle Sicherheit zu gewinnen. 3 Künstlerischer Wagemut und Pioniergeist werden so durch mangelnde Risikobereitschaft von vornherein unterbunden. Liszt unterstreicht seinen Vorwurf am Beispiel seines Freundes Hector Berlioz. Da dessen gewagte und ungewöhnliche Kompositionen ein Risiko für den Konzertveranstalter bedeuten, werden sie nicht aufgeführt. 2 Zit. nach Rueger, Christoph, Franz Liszt. Des Lebens Widerspruch, München 1997, S. 59. 3 Liszt, Franz, „Zur Stellung des Künstlers“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Lina Ramann (Hrsg.), Hildesheim 1978, S. 4. Allegorie des Fortschritts. Zur Bedeutung Dantes in Franz Liszts Schaffen 209 Was soll demnach Berlioz tun? Was sollen die hervorragenden jungen Komponisten, was ernste, gewissenhafte Männer tun, deren Lage mit geringen Unterschieden der seinen ähnlich ist? 4 Liszt beantwortet die Frage ironisch, indem er die Position der „gedankenlosen Gesellschaft“ bezieht: „‚Die Antwort ist leicht’ wird man erwidern: ‚Sie sollen Romanzen, Liederchen und Konzerttänze über beliebte Motive aus neuen Opern verfassen’.“ 5 Verantwortlich für das Dilemma scheint in erster Linie die Gesellschaft zu sein. Der einflusslose Künstler ist gezwungen, sich ihren Vorgaben und Wünschen unterzuordnen. Doch Liszt nimmt ebenso den Künstler in die Verantwortung und bemängelt unter anderem geschäftlichen Eigennutz, Bequemlichkeit, vor allem aber fehlenden künstlerischen Glauben. Liszt beschwört somit das Bild einer Gesellschaft herauf, die durch einen fatalen Stillstand in ihrer Selbstgenügsamkeit gefangen ist. Kritiker werfen Liszt vor: Warum fangen Sie einen doppelten Prozess mit der Gesellschaft und mit den Künstlern (…) an, Sie - ein Musiker, der sich so sehr seiner sozialen und künstlerischen Beziehung zu rühmen hat? 6 Liszt entgegnet ihm: Die Sache … sie ist endlich die sittliche Würde, die geistige Wiederherstellung, die soziale und religiöse Weihe der Kunst und des Künstlers, dessen Aufgabe es ist das menschliche Bewusstsein nach allen Richtungen hin auszudrücken, zu betätigen, zu erhöhen und zu vergöttlichen! 7 Damit öffnet er den eigentlichen Kern der Debatte. Denn Liszt deutet damit an, dass die untergeordnete Stellung des Künstlers lediglich die offensichtliche Folge eines viel tiefer liegenden Problems ist. Und das ist ein - sowohl von der Gesellschaft als auch vom Künstler - falsch verstandener Kunstbegriff. Die Kunst soll sich eben nicht am Unterhaltungswert messen lassen. Vielmehr liegt ihr eine Essenz zugrunde, die auf das ethisch-religiöse Bewusstsein des Menschen abzielt und an sein Werteverständnis appelliert. Liszt fordert von Künstler und Werk deshalb mehr denn alles andere einen individuellen Gestaltungsprozess und unterscheidet deshalb polemisch den „Handwerker“ vom „echten Künstler“. 8 Wenn der Künstler auch nicht praktisch-konkret wie ein Politiker handelt, so hat er doch ideologisch einen wesentlichen Einfluss auf soziale und politische Abläufe. Liszt deutet an, dass er mit seinen Forderungen im Grunde nichts Ungewöhnliches verlangt. Schließlich spiegelt sich in seinem Appell der aufstrebende Geist der Aufklärung wider. So entspricht die Achtung und Gleichberechtigung des Künstlers den Grundwerten, die die Gesellschaft eigentlich für sich selbst bean- 4 Ebenda, S. 23. 5 Ebenda, S. 24. 6 Ebenda, S. 17. 7 Ebenda, S. 18. 8 Vgl. ebenda, S. 11. Matthias Krautkrämer 210 sprucht. Da Liszt diese Werte jedoch nicht umgesetzt sieht, geht er noch einen Schritt weiter. Er stellt seine religiös geprägte Motivation in den Vordergrund, obwohl er weiß, dass er damit im aufgeklärten Frankreich bei vielen Seiten anstößt, indem er behauptet, es sei nun die Aufgabe des Künstlers und des Priesters, „alle Klassen zu versöhnen, zu beleben und in gemeinsamer Liebe dem Ziele der Menschheit entgegenzuführen“. 9 Damit möchte er einerseits beweisen, dass christliche und aufklärerische Werte einander entsprechen. Andererseits deutet er damit an, dass, wie die gegenwärtigen Missstände zeigen, aufgeklärtes Denken allein nicht ausreicht, um ihre Ziele durchzusetzen. Im Gegenteil, denn den Zustand der Künste betrachtet Liszt als „geschichtliches Hauptergebnis der letzten zwei Jahrhunderte“, in denen Religion und Kunst gegenüber den empirischen Wissenschaften abgewertet wurden. 10 Eine zunehmend materialistische und atheistische Haltung steht jedoch einem zuvor im Glauben geeinten Welterleben entgegen. Liszt beschwört das Bild eines „Goldenen Zeitalters“ 11 herauf, in dem die Künste wesentlicher Bestandteil der Gesellschaftsordnung sind. Der Materialismus hat durch einen falsch verstandenen analytischen Wissens- und Forschungsdrang diese Einheit zerstört. Das hat nicht nur die Menschen, sondern auch die Künste untereinander entfremdet. Ihre soziale Kraft und Bedeutung, die ursprünglich in einer natürlichen Einheit von Literatur, Kunst und Musik begründet war, ging somit verloren. Der Einwurf eines Kritikers markiert schließlich den Wendepunkt in Liszts Erörterung: Glauben Sie denn wirklich an jene vorgebliche Oberherrschaft der Kunst? Glauben Sie denn zuversichtlich gegenüber einer in Selbstsucht versunkenen und nur von materiellen Interessen regierten Gesellschaft an ihre religiöse, ihre moralische und erzieherische Kraft? Und angenommen, diese Oberherrschaft könnte wirklich in der Theorie bestehen, wie soll sie durch Künstler in das Leben treten können? 12 Liszt pflichtet dem zweiten Kritikpunkt scheinbar bei. Es ist in der Tat nicht möglich, diese Ideen umzusetzen, wenn kein Bewusstsein dafür vorhanden ist. Doch wie soll dieses Bewusstsein entstehen, wenn die Gesellschaft dem Künstler keine angemessene Bedingung dafür schafft? Liszt beschreibt einen Teufelskreis, indem er beispielhaft die mangelnde Förderung und den Zustand der Bildungsanstalten heranzieht: Entspricht die Anstalt allen Bedürfnissen? Sind Sie (Schüler und Lehrer) sich der Aufgabe, des Wertes, das zu realisieren Sie beauftragt sind, auch strenge bewusst? Steht die Unterrichtsmethode und der Unterrichtsstoff auf gleicher Höhe 9 Ebenda, S. 25. 10 Vgl. ebenda, S. 12. 11 Ebenda. 12 Ebenda, S. 17. Allegorie des Fortschritts. Zur Bedeutung Dantes in Franz Liszts Schaffen 211 mit dem Fortschritt der Kunst? Verdienten nicht endlich Geschichte, Literatur und Ästhetik (Philosophie) der Musik einen besonderen Lehrstuhl? 13 Der Stillstand, den Liszt beklagt, ist also in dem wechselseitigen Verhältnis begründet, in dem Künstler und Gesellschaft zueinander stehen und aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Genau darin sieht Liszt aber auch die Lösung des Dilemmas, denn er setzt voraus: „Die Reinigung der Kunst ist die Reinigung der Menschheit.“ 14 Auch wenn Gesellschaft und Künstler eine gemeinsame Verantwortung für die Misere tragen, muss der Künstler, will er seiner besonderen Rolle gerecht werden, den ersten Schritt wagen und den Teufelskreis durchbrechen. Liszt wagt mit seiner Aufsatzreihe diesen Schritt, um eine Erneuerung der Kunst einzuleiten. Ja gewiss, gegen und wider alles „weil“ und „obgleich“ glauben die Künstler; denn sie wissen, dass ihr Glaube Berge versetzt. Wir glauben so unerschütterlich an die Kunst, wie an Gott und Menschheit, die in ihr ein Organ und ihren erhabenen Ausdruck finden. Wir glauben an einen unendlichen Fortschritt, an eine unbeengte soziale Zukunft der Tonkünstler; wir glauben daran mit aller Kraft der Hoffnung und der Liebe! Weil wir glauben, darum reden wir und werden wir reden. Treten wir unsere Wanderung an! 15 Soll eine Veränderung stattfinden, so muss der progressive Künstler jedoch außer seiner Glaubensfähigkeit über eine weitere besondere Eigenschaft verfügen: die Leidensfähigkeit. Das verdeutlicht Liszt, indem er beispielhaft auf die Autoritäten Mozart und Beethoven verweist. Obwohl sie große Entbehrungen und Ablehnung hinnehmen mussten, schenkten sie in einem aufopfernden Akt der Selbstlosigkeit den Menschen ihre Kunst. 16 Selbstlosigkeit, Opferbereitschaft, Leidensfähigkeit, gewagtes Brechen mit Traditionen, das Auflehnen gegen den status quo in der Gesellschaft: das sind Tugenden, die Liszt mit der mythischen Gestalt des Prometheus in Verbindung bringt. Die Künstler zeichnen sich, wie Prometheus mit seinem Diebstahl des Feuers, durch wagemutiges Handeln aus. Obwohl der Diebstahl im Sinne der Menschheit geschieht, wird Prometheus dafür bestraft. Die Künstler sind jedoch „von feinerem Thon geformt, als die Durchschnittsmenschen…“, sie sind „diese gottgesalbten, niedergeschmetterten, in Fesseln geschmiedeten Menschen, die dem Himmel die Flamme geraubt haben“. 17 Wegweiser zur musikalischen Moderne Für Liszt, der als gefeierter Virtuose den Geschmack des Publikums kennt und beliebig bedienen kann, haben derartige Äußerungen weit reichende 13 Ebenda, S. 36. 14 Ebenda, S. 18. 15 Ebenda, S. 30. 16 Ebenda, S. 5. 17 Ebenda, S. 5. Matthias Krautkrämer 212 Folgen. Er muss sich überlegen, wie er - als Musiker - den eigenen Forderungen gerecht wird. Das ist erstens die Schaffung eines Bewusstseins für einen modernen Kunstbegriff, der seinen ethisch-religiösen Ansprüchen gerecht wird. Zweitens ist es die Wiederherstellung der Einheit der Künste, um ihre soziale Kraft wieder zu erwecken. Daraus resultiert drittens die Aufwertung des Künstlers in der Gesellschaft im Allgemeinen und vor allem die des Musikers im Besonderen, an der Liszt eigentlich gelegen ist. Denn obwohl Liszt meistens vom Künstler spricht, so sieht er doch vor allem Musiker und Musik von der gegenwärtigen Schieflage betroffen. Liszt entgeht selbstverständlich nicht, welche enormen literarischen Entwicklungen und welche soziale Sprengkraft das poetische Zeitalter, in dem er lebt, enthält. Gerade im Vergleich zur gegenwärtigen Literatur muss die Musik in einer faktisch bestehenden Hierarchie der Künste einen weit untergeordneten Rang einnehmen. Mit einer derartig starken und progressiven Vitalität, wie sie die Literatur vorweist, hält die Musik nicht Schritt. Geschweige denn, dass sie in gesellschaftliche Debatten eingreifen könnte. Schließlich fehlt ihr ein wesentliches Organ dafür: die Sprache. Die Musik ist „Sklave der Poesie“, wie eine gängige Operntheorie treffend feststellt. 18 Bevor sich also Liszts ethisch-religiöse Forderungen realisieren lassen, muss die Musik überhaupt auf einen modernen und fortschrittlichen Stand gebracht werden. Vorbild dazu ist für Liszt die gegenwärtige Literatur. Sie sagt sich von einer veralteten klassischen Formästhetik zugunsten einer romantischen Gefühlsästhetik los. Das neuartige Poesieverständnis rückt die literarischen Debatten in den Mittelpunkt. Dadurch entwickelt sich die übergeordnete Gattungsbezeichnung Dichtung oder Poesie selber zu einer modernen ästhetischen Kategorie. Liszt greift den vagen Schlüsselbegriff Poesie auf. An ihm soll sich auch der Wert eines musikalischen Werkes messen: Wir behaupten, dass der Künstler viel mehr Gefühlsinhalt von dem Gefäß - den Formen - fordern muss. Nur wenn es von ersterem durchdrungen ist, kann das letztere Bedeutung für ihn haben. Wir behaupten, dass Künstler und Kenner, die im Schaffen und Beurteilen nur die sinnreiche Konstruktion suchen, mit solchen zu vergleichen sind, welche Gedichte nur der Sprache und Grammatik wegen ansehen, ohne ihren poetischen Zusammenhang zu berücksichtigen. 19 Ähnlich wie in der Literatur möchte Liszt auch in der Musik die Grenzen der Form zugunsten des Inhalts, einer poetischen Idee, aufgelockert wissen. Der Komponist soll sozusagen als Dichter in Tönen mehr individuelle Gestaltungsmöglichkeit und vor allem Gefühlsausdruck in sein Werk legen. Das möchte Liszt konsequenterweise in der Instrumentalmusik umsetzen — 18 So etwa bei Remond de Saint-Mard, Réflexions sur l’Opéra, La Haye 1741, S. 79. 19 Liszt, Franz, „Berlioz und seine Harald-Symphonie“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Lina Ramann (Hrsg.), Hildesheim 1978, S. 45. Allegorie des Fortschritts. Zur Bedeutung Dantes in Franz Liszts Schaffen 213 einer Musik also, die keine Sprache benötigt und somit auch nicht Gefahr läuft, eine untergeordnete oder beigeordnete Rolle im Werk zu erfüllen. Lässt sich in einem musikalischen Werk Poesie ohne die Dominanz der Sprache verwirklichen, so wären folglich ihre Eigenständigkeit und ihre Gleichberechtigung bewiesen. Um seine Wertschätzung der Musik zu unterstreichen, geht Liszt sogar einen Schritt weiter. Er misst ihre Möglichkeiten an denen der Literatur und kommt zum Schluss, dass sich in der Musik „die seltensten, anormalsten und abnormsten Triebe des Menschen“ treffender ausdrücken lassen. 20 Diese offenbaren sich in der Literatur durch moderne Heldengestalten wie Faust oder Manfred. Der moderne Held zeichnet sich nicht durch klassische Tugenden, sondern durch einen inneren emotionalen Kampf aus. In seinem Streben nach einem seelischen Gleichgewicht erkennt Liszt im Grunde den modernen Menschen wieder, der sich nach einer Einheit in Natur, Mensch und Gott sehnt. Für die Darstellung des modernen Helden sei jedoch die Musik besser als die Literatur oder Bühne geeignet, denn das Gefühl inkarniert sich in der reinen Musik, ohne, wie es bei seinen übrigen Erscheinungsmomenten, bei den meisten Künsten der Fall ist, seine Strahlen an den Gedanken brechen zu müssen. 21 Die „reine Musik“, ist die Instrumentalmusik, die mit Beethoven zunehmend an Ausdruck gewinnt. Liszt erkennt das Bedürfnis des Publikums, diesem Ausdruck eine genauere Bedeutung beizuordnen. Damit verbunden sind jedoch häufige Fehlinterpretationen von Werken. Den später hinzugefügten Titel Mondscheinsonate zu Beethovens Klaviersonate Nr. 14 nennt Liszt als typisches Beispiel dafür. 22 In der fehlenden sprachlichen Präzisionsmöglichkeit der Musik stellt Liszt somit wiederum einen Nachteil der Musik gegenüber der Literatur fest. Deshalb fordert er die Komponisten von modernen Instrumentalwerken dazu auf, die Intention ihres Werkes durch die Hilfe eines Programms, für das Publikum transparent zu machen: Das Programm, - also irgend ein der rein-instrumentalen Musik in verständlicher Sprache beigefügtes Vorwort, mit welchem der Komponist bezweckt, die Zuhörer gegenüber seinem Werke vor der Willkür poetischer Auslegung zu bewahren und die Aufmerksamkeit im Voraus auf die poetische Idee des Ganzen, auf einen besonderen Punkt derselben hinzulenken … 23 Mit seiner Forderung des Programms, obwohl er die Musik als sprachunabhängig erachtet, eröffnet Liszt eine Debatte, die die Musikwelt seiner Zeit gespalten hat. Für Liszt stellt jedoch das Einbeziehen der Sprache keinen Widerspruch dar, denn er befürwortet den Rückgriff auf sprachliche Mittel 20 Ebenda, S. 54. 21 Ebenda, S. 29. 22 Ebenda, S. 25. 23 Ebenda, S. 21. Matthias Krautkrämer 214 nur unter bestimmten Bedingungen. Entscheidend für ihn ist, dass die Sprache nicht die Eigenständigkeit der Musik beeinträchtigt, sondern tatsächlich nur Hilfsmittel ist, um die poetische Substanz hervorzuheben. Die poetische Ausrichtung eines musikalischen Werks ist aber nicht nur ein Merkmal dafür, dass die Musik an die moderne Ästhetik, wie sie für Liszt die Literatur verkörpert, aufgeschlossen hat. Durch die Poesie als gemeinsame Schnittstelle, können sich die Künste untereinander ergänzen, unabhängig davon, wo ihre Vor- und Nachteile und Unterschiede bei der Umsetzung des Poetischen sind. Darauf verweist der synthetische Name von Liszts neuartiger Gattung, die Symphonische Dichtung, die er in den 40er Jahren in Weimar entwickelt. In seinen Symphonischen Dichtungen lässt Liszt sich von Werken und Motiven aus Literatur, Kunst und Philosophie inspirieren. Die Funktion des Programms als sparsam verwendetes Hilfsmittel wird beispielsweise anhand der Faust-Symphonie deutlich. Die schlichte Betitelung der drei Sätze mit Faust, Gretchen und Mephisto genügt, um beim Publikum das Verständnis des Werkes zu garantieren, da es sich bei Goethes Faust um eine aktuelle literarische Quelle handelt, die nach Liszts Auffassung die modernen poetischen Kriterien erfüllt. Im Gegensatz zur Faust-Symphonie fällt das Programm zur Dante-Symphonie wesentlich umfangreicher aus. Die Vorschrift, die Richard Pohl zu dem Werk verfasst hat, umfasst mehrere Seiten und informiert den Leser über Dante, die Commedia und gibt darüber hinaus Hinweise zu Liszts musikalischer Umsetzung. 24 Der Umfang des Programms verdeutlicht, dass die Auseinandersetzung mit Dante und seinem Hauptwerk wesentlich schwieriger war als mit Goethe. Ein Kernproblem ist, dass Dante ein Autor ist, dessen Schaffen über ein halbes Jahrtausend zurückliegt und somit für Liszts Erneuerungsambitionen kaum geeignet zu sein scheint. Liszt ist sich dieses Widerspruches bewusst und stellt Dante deshalb als Autor vor, der „aus einer dem Altertum unbekannten Inspiration hervorgegangen ist“. 25 Damit meint er, dass Dante seiner Zeit voraus war und ihn somit allein schon dieses Kriterium mit einem modernen Autor wie Goethe verbindet. Auffällig ist, dass Dante und sein Hauptwerk, die Commedia, für Liszt offenbar synonym sind. Das zeigt die unbekümmerte Bezeichnung seines Hauptwerkes als Dante-Symphonie oder Symphonie zu Dantes Divina Commedia. Dadurch zeichnet sich Liszt als typischer Leser seiner Zeit aus. Als Liszt das Werk in den 30er Jahren las, zog Dante erst seit kurzer Zeit die Aufmerksamkeit eines größeren Leserkreises auf sich. Somit erschienen Autor und Werk als synonym, weil Dante selber in seinem Hauptwerk die Heldenfigur ist. Zudem geschah es aber aus der Unkenntnis seiner anderen Werke heraus, die weitgehend in Vergessenheit geraten waren. 24 Vgl. Pohl, Richard, Liszts Symphonie zu Dantes Divina Commedia, Prag 1858. 25 Liszt, Berlioz und seine Harald-Symphonie, S. 59. Allegorie des Fortschritts. Zur Bedeutung Dantes in Franz Liszts Schaffen 215 Diese Unkenntnis ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Commedia mit ihrer ungewohnten allegorischen Sprache und theologischen Ausprägung in einem aufgeklärten und atheistischen Umfeld auf Unverständnis und Ablehnung stößt. Wohlwollende Leser wie Schlegel erkennen darin ein für Liszts Zeit charakteristisches Rezeptionsproblem: Einer der eigensten Sonderlinge, die je unter Gottes Himmel herumgewandelt sind, war Dante. Weil jenes den Lesern seiner Werke natürlich zuerst auffallen muss, und weil Dichtersinn und Dichterwert unter einer mönchischen Verkleidung, ebenso wenig als Tugend im Kittel, von gemeinen Blicken erkannt wird, verlassen ihn die meisten wieder, ehe sie ihn noch gefunden haben. 26 Ein in Schlegels Sinne typischer Leser ist Richard Wagner, dem die Dante- Symphonie gewidmet ist. In einem mit Liszt intensiv geführten Meinungsaustausch beschreibt Wagner seine Eindrücke über die Commedia: Ich bin Dante mit tiefster Sympathie durch Hölle und Fegefeuer gefolgt; mit heiliger Rührung wusch ich mich, aus dem Höllenpfuhl aufgestiegen, am Fuße des Fegefeuerberges mit dem Dichter, bis ich endlich, vor dem Feuer angelangt, den letzten Willen zum Leben fahrenließ, mich in die Glut warf, um in Beatrices Anblick versinkend, meine ganze Persönlichkeit willenlos von mir zu werfen. (…) Dass aber Beatrice den ganzen spitzfindigen Scholastizismus auskramt, macht sie mir trotz des Dichters Versicherungen, dass sie immer mehr erglänze und erglühe, immer kälter. 27 Während Wagner lediglich seine Verbundenheit mit der Höllenwanderung des Dichters bekundet, scheint die theologisch-moralische Anlage der Dichtung auf den stark katholisch geprägten Liszt beinahe zugeschnitten. Liszt verliert kein kritisches Wort über die Commedia. Die Wanderung Dantes durch Hölle, Fegefeuer und Paradies - durch Nacht zum Licht - ist schließlich auch ein Grundgedanke Liszts, der im Streben des modernen Helden die Sehnsucht nach Gott und Erlösung sieht. Nur an Dantes Frauenbild stößt sich Liszt, denn er ist enttäuscht, dass der Dichter Beatrice nicht als Ideal der Liebe, sondern als Ideal des Wissens aufgefasst hat. Es will mir nicht gefallen, in diesem schönen, verklärten Leibe den Geist einer Theologin zu wissen. Nicht durch Abhandlungen und Beweisführungen beherrscht das Weib des Mannes Herz. Es ist nicht ihre Aufgabe, ihm Gott zu beweisen, sondern ihn diesen kraft der Liebe ahnen zu lassen und ihn mitzureißen, dem Himmlischen entgegen. Im Gefühl und nicht im Wissen liegt ihre Macht: Das liebende Weib ist erhaben, es ist der wahre Schutzengel des Mannes; das pedantische Weib ist ein Unding, ein Misston, und findet nirgends seinen Platz in der Hierarchie der Wesen. 28 26 Schlegel, August Wilhelm, „Über die Göttliche Komödie“, in: Kritische Schriften und Briefe, Bd. 4, Edgar Lohner (Hrsg.), Stuttgart 1962-1967, S. 67. 27 Kesting, Hanjo (Hrsg.), Briefwechsel Franz Liszt - Richard Wagner, Frankfurt am Main 1999, S. 426. 28 Liszt, Franz, „Der Comer See“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Lina Ramann (Hrsg.), Hildesheim 1978, S. 174f. Matthias Krautkrämer 216 Umso überraschender ist, dass Liszt in der Dante-Symphonie zwar Inferno und Purgatorio in zwei Teilen behandelt, jedoch von einer Vertonung des Paradieses absieht. Dies kann einerseits ein Indiz dafür sein, dass Liszt den antiklerikalen Tendenzen seiner Zeit nachgibt. Denn schließlich ist es wieder Wagner, der ihm von der Vertonung abrät. Der kompositorisch bodenständigere Wagner, der auf Liszts verklärenden Idealismus oft gereizt reagiert, befürchtet die Ablehnung des Publikums durch derart, so Wagner, „pöbelhafte Vorstellungen“. 29 Wagner erkennt nämlich im potentiellen Publikum vorwiegend den Leser des Infernos, der wie er selbst das irdische Dasein und das Schicksal des Menschen realistisch und damit in seiner Tragik erfährt. Der Künstler kann höchstens diesen irdischen Aspekt des Lebens widerspiegeln, alles andere wäre anmaßend und zum Scheitern verurteilt. So erkennt Wagner in Dantes Commedia dramaturgisch und inhaltlich eine Parallele zu Beethovens 9. Symphonie. Die pathetische Steigerung durch die Chöre im letzten Teil der Symphonie wertet das Werk letztendlich ab. Das Chorfinale decke „auf sehr naive Weise die Verlegenheit eines Tondichters auf“, der nicht weiß, wie er endlich, nach Hölle und Fegefeuer das Paradies darstellen soll. Mir scheint es, als ob dies auch dem Dante, namentlich mit dem Paradiese, nicht vollständig gelungen wäre. Vielleicht gelingt es Dir besser und da Du dieses Bild in Tönen zu malen unternimmst, so möchte ich Dir fast das Gelingen voraussagen, denn die Musik ist das eigentliche künstlerische Ur-Abbild der Welt selbst. Nur für das Paradies - und namentlich für die Chöre - trage ich freundschaftliche Sorge. 30 Liszt, der außerdem befürchten muss, den Widmungsträger zu enttäuschen, scheinen Wagners Argumente zu überzeugen. Er behält zwar ein Chorfinale bei, verzichtet aber auf die Betitelung Paradiso zugunsten eines Magnificat. In dem Lobgesang preist Maria die Ankündigung der Geburt Jesu durch den Engel Gabriel. Auf diese Weise bewahrt Liszt einerseits die moralische Zielsetzung der Dichtung Dantes, indem der Erlösungsgedanke zumindest angedeutet wird. Andererseits beugt er durch den Verzicht auf das Paradies in zweierlei Hinsicht dem von Wagner befürchteten Vorwurf der Anmaßung vor. Einmal dadurch, dass es dem Künstler überhaupt möglich ist, eine derart erhabene Thematik darzustellen. Im Programm, das der Musikjournalist Richard Pohl für die Uraufführung anfertigt, heißt es schließlich: Den Himmel selbst vermag die Kunst nicht zu schildern, nur den irdischen Abglanz dieses Himmels in der Brust der dem Licht der göttlichen Gnade zugewandten Seelen. Und so bleibt für uns dieser Glanz noch immer ein verhüllter, wenn auch ein mit der Reinheit der Erkenntnis sich steigernder. Nur bis hierher wollte der Tondichter dem Sänger nachwandeln. 31 29 Kesting, Briefwechsel, S. 427. 30 Ebenda, S. 431. 31 Zit. nach Raabe, Peter, Liszts Schaffen, Tutzing 1968, S. 84. Allegorie des Fortschritts. Zur Bedeutung Dantes in Franz Liszts Schaffen 217 Der zweite Vorwurf, den sich Liszt gefallen lassen müsste, wäre, dass er sich mit dem Wagnis einer Darstellung des Paradieses auf die Stufe seines Vorbildes Dante stellen wollte. Denn bei aller Kritik an seiner theologischen Ausrichtung ist Dante besonders in modernen Künstlerkreisen eine Autorität. Während Kritiker einer älteren Generation, wie Voltaire, das Inferno als geschmacklos, grotesk und barbarisch ablehnten, tritt bei Liszts Zeitgenossen gerade dieser Aspekt, wie bei Wagner gesehen, unter umgekehrten Vorzeichen in den Vordergrund. 32 Dabei spielt vor allem die Biographie Dantes für die Rezeption eine entscheidende Rolle, die ebenso von Schlegel als wesentliche Deutungsebene erkannt wird. Die Wirren und Grausamkeiten des Inferno verteidigt Schlegel in Hinblick auf die Situation in Italien und Florenz zu Dantes Lebzeiten. Dantes Verbannung aus seiner Heimat, seine Eindrücke als Umherirrender in der Einsamkeit des Exils fließen aber nicht nur in sein Hauptwerk ein. Sie erscheinen als entscheidender Handlungsmotor, weshalb Dante als Hauptfigur in seinem eigenen Werk auftritt. Das Leid des Dichters treibt ihn zur Schöpfung seines Werkes und motiviert ihn außerdem zum Abstieg in die Hölle, in der er auf viele Zeitgenossen trifft. Da Wahrheit und Dichtung auf diese Weise in der Commedia miteinander verschmelzen, wird Dantes Höllenwanderung mit seinem Lebensweg gleich gesetzt. In der Vorstellung des Wirklichkeitsbezugs liegt somit ein besonderer Reiz, mit dem sich gerade die modernen Leser identifizieren. Die überwiegende Rezeption von Dantes Höllenwanderung und seinen Leiden wird deshalb zum beliebten Motiv bei zeitgenössischen Künstlern wie zum Beispiel Eugène Delacroix. In dem Gemälde Die Dante-Barke thematisiert er die Überfahrt Dantes über den Styx. Delacroix zeichnet ein erschreckendes Szenario, in dem die Schatten der Verdammten sich an das Boot klammern und versuchen, es zu besteigen. Der ängstliche Dante hebt abwehrend den Arm und ergreift die Hand seines Führers Vergil. Dantes Vorbild Vergil, der in der Commedia als Allegorie der Vernunft auftritt, gewährt ihm in der Hölle mehrfach Schutz und ermuntert ihn zum Weiterwandern. Auch in dem Gemälde wirkt Vergil gefasst und distanziert sich von den Verdammten mit verächtlichem Blick. Als Delacroix 1822 sein Bild vorstellt, löst er durch die schockierenden Motive und die gewagte Farbgebung eine Debatte über die moderne Malerei aus. Auch Victor Hugo bezieht sich in seinem 1836 verfassten Gedicht Après une lecture de Dante auf Delacroix’ Gemälde. Er erkennt allerdings darin außer Dantes Leidensweg noch einen anderen Aspekt. Hugo beschreibt zunächst Dantes beschwerlichen Weg durch die Hölle und setzt das Leben des Dichters mit den Schrecken der Hölle gleich. 32 Vgl. von Jan, Eduard, „Dante in der französischen Romantik“, in: Deutsches Dante Jahrbuch, 33 (1954), S. 6. Matthias Krautkrämer 218 Quand le poëte peint l’enfer, il peint sa vie. Sa vie, ombre qui fuit des spectres poursuivie; Forêt mystérieuse où ses pas effrayés S’égarent à tâtons hors des chemins frayés; Das Ende des Gedichts markiert hingegen einen positiven Wendepunkt. Obwohl Dantes Wanderung ausweglos scheint, präsentiert Hugo mit Vergil dem Leser einen Hoffnungsträger, der mit seiner Aufforderung „Continuons“ zum Weiterwandern animiert. Oui, c’est bien là la vie, ô poète inspiré! Et son chemin brumeux d’obstacles encombré. Mais, pour que rien n’ y manque, en cette route étroite, Vous nous montrez toujours debout à votre droite Le génie au front calme, aux yeux pleins de rayons, Le Virgile serein qui dit: Continuons! Auffällig ist, dass Hugo am Ende des Gedichts verallgemeinert. Während er am Anfang das Leben des Dichters, „sa vie“, in Analogie zur Hölle stellt, spricht er zum Schluss von „la vie“. Damit meint er den schwierigen und leidvollen Lebensweg, den alle Menschen beschreiten müssen, und bezieht konsequenterweise mit dem Pronomen nous den Leser in sein Gedicht ein. Das Gedicht und das Gemälde lassen also auf ein düsteres Welterleben der Menschen schließen und erklären somit die Affinität zum Inferno. Doch Hugos Gedicht lässt auch eine andere Deutung zu. Zwar bringt der Leser mit „le poète“ Dante in Verbindung. Aber Hugo erwähnt ihn nicht einmal explizit. Er suggeriert damit, dass er in Dante nicht nur den Dichter, sondern den Künstler im Allgemeinen verkörpert wissen möchte. Schließlich zeichnet („peint“) in seinem ersten Vers der Dichter („le poète“) die Hölle, womit Hugo auf einen Maler, also Delacroix, anspielt. Sind Dichter und Maler jedoch identisch, so zeigt sich bei Hugo das gleiche einheitliche Kunstverständnis, wie es zuvor bei Liszt erörtert wurde. Die Künstler sollen nicht unabhängig voneinander als Maler, Musiker oder Dichter agieren, sondern sich in einem gemeinschaftlichen Streben, im „nous“ ergänzen. In der Poesie finden sie diesen gemeinsamen Nenner. Dantes Leben und die Commedia, namentlich das Inferno, erfüllen hierbei eine Vorbildfunktion. Schließlich gebe Dante in der Höllenwanderung die Eigenschaften preis, die der Künstler benötige, um seinen künstlerisch-progressiven Weg zu beschreiten. Es sind die von Liszt genannten „prometheischen Tugenden“. Seine Leidensfähigkeit, Aufopferung und sein Wagemut unterscheiden Dante vom Durchschnittsmenschen und verleihen ihm die Gestalt eines modernen Helden, damit ist er für Liszts Vorhaben prädestiniert. Die Untrennbarkeit Dantes von seinem Werk steht sogar in gewisser Weise in Analogie zu Liszts Klagen im Eingangszitat. Denn Liszt erscheint dort, genauso wie Dante und sein Werk, den Anfeindungen der Gesellschaft ausgeliefert. Was Dante darüber hinaus als modernen Künstler auszeichnet, ist die Tatsache, dass sich die Widerstände, mit denen er zu kämpfen hat, in Allegorie des Fortschritts. Zur Bedeutung Dantes in Franz Liszts Schaffen 219 Liszts Zeit fortsetzen. Liszts Idealtypus des unverstandenen und fortschrittlichen Künstlers wird also bereits bei Hugo und Delacroix durch Dantes Höllenwanderung versinnbildlicht. Und wenn Hugo zuletzt Vergil „Continuons“ sagen lässt, so ist das vor allem eine Aufforderung an den Künstler, trotz des schweren Künstlerlebens seiner Bestimmung zu folgen. Nachdem nun Delacroix das Thema exponiert und Hugo sich mit seinem Gedicht gewissermaßen als Weggefährte ihm zugesellt hat, bekundet Liszt als Zeit- und Leidensgenosse ebenso seine Zugehörigkeit, indem er 1837 Hugos Gedicht seiner gleichnamigen Sonate als Programm zugrunde legt. Nach Malerei und Dichtung solidarisiert sich also auch die Musik mit dem „nous“, der Gemeinschaft der Künste und der Künstler. Liszts Appell „Treten wir unsere Wanderung an! “ steht somit in Analogie zu Vergils „Continuons! “ bei Hugo und wirkt durch die Gemeinschaft der Künstler, in der Liszt sich befindet und zu der schließlich auch Dante gehört, umso selbstbewusster. In der Trias Delacroix, Hugo und Liszt thematisiert sich die Kunst mit ihrer Leitfigur Dante also im Grunde selbst. Sie demonstriert ihre Einheit, die Notwendigkeit der Modernität und die Rolle und Bedeutung des Künstlers in der Gesellschaft. Da es aber nunmehr der gefühlsbetonte Dante und nicht der vernünftige Vergil ist, der sich für die jüngere Künstlergeneration als Vorbild herausformt, müsste im Grunde er, in Anlehnung an Delacroix’ Bild, den Platz von Vergil in der Barke einnehmen, während sich die junge Künstlergeneration seiner Führung anvertraut. Ethische Erbauung und musikalischer Fortschritt: Die Dante- Symphonie Die unbedingte Forderung nach der Modernität und ihre unmittelbare Umsetzung ins Kunstwerk finden in der Musik im Gegensatz zur Bildenden Kunst und der Literatur später statt und stoßen auf andere und schwierigere Problembereiche. Das zeigt das ambivalente Verhältnis, das die Musik zur Sprache hat. Eine Parallele zu Delacroix‘ radikalen Stilbrüchen oder Hugos Abwendung vom Regeltheater ist bei Liszt nur bedingt festzustellen. So verweist seine neue Gattung Symphonische Dichtung nicht nur auf die Synthese von Literatur und Musik. Das Adjektiv „symphonisch“ deutet an, dass Liszt den formalen Sinfoniegedanken nicht endgültig aufgeben möchte. Tradition und Moderne stehen für ihn in einer stetigen, sich gegenseitig bedingenden Entwicklung. Dafür ist die Dante-Symphonie ein treffendes Beispiel. Ihre Dreisätzigkeit, auch wenn darüber gestritten werden muss, ob das Magnificat als eigenständiger Satz gelten kann, ist das offensichtlichste Zeichen dafür, dass Liszt an die Gesetze der Sinfonie anknüpfen will. Entscheidend ist aber, in Anlehnung an Liszts Zitat, dass der Inhalt die Form bestimmt und nicht die Form um ihrer selbst willen steht. Die äußere Anlage der Symphonischen Dichtung orientiert sich so in erster Linie an der dreiteiligen Gliederung der Commedia. Matthias Krautkrämer 220 Im Inferno-Teil ist ebenfalls die klassische Struktur des Sonatensatzes erkennbar. Nach einer Einleitung, in der das musikalische Grundmaterial angeführt wird, folgen drei Teile, die durchaus als Exposition, Durchführung und Reprise verstanden werden können. Aber auch hier tritt der Inhalt, Dantes Höllenwanderung, durch die gewagte harmonische Gestaltung hervor. Denn Liszt verstößt gegen die gängigen Harmonieregeln und entwickelt ein Tonsystem, das nur auf einer unschön klingenden Tonkombination basiert. Es handelt sich um ein Intervall, das aus der Alten Musik als diabolus in musica bekannt und laut Regelwerk unbedingt zu vermeiden ist. Damit erfasst Liszt mit rein musikalischen Mitteln einen Grundgedanken des Inferno, der durch die Musik vielleicht unmittelbarer und mindestens ebenso prägnant wie bei Dante zum Tragen kommt. Er charakterisiert durch den Regelbruch die Hölle als Ort der Gesetzlosen, wo Schönheit keinen Platz hat. Der konkrete Bezug zu Dante wird dabei durch programmatische Querbezüge gewährleistet. So verweist einerseits Pohl in seinem Programm auf die Aufschrift des Höllentors, die in den martialischen Phrasen der Einleitung zu hören ist. Andererseits unterlegt Liszt die Verse des Höllentors der Partitur selbst, indem er den endecasillabo auflöst und jedem Ton eine Silbe zuordnet. Dadurch vernimmt der Hörer zwar nicht die Worte, wohl aber den Sprachcharakter der Passage und ihre unmittelbar bedrohliche Wirkung für Dante selbst. Mit einem rhythmisch-akzentuierten Motiv schmettern die Blechbläser den Vers „Lasciate ogni speranza voi ch’entrate“ (Inf. III, 9), dem ein gewaltiger Trommelwirbel Nachdruck verleiht. Dann weht Dante der Höllenwind entgegen, dargestellt durch rasante chromatische Läufe, und es erklingen in den scharfen Halbtönen der Violinen mit zunehmender Intensität die Schmerzensschreie der Schatten. Das Höllenspektakel hält nur im langsamen, ruhigen Mittelteil inne, in dem Liszt die Francesca-Episode ansetzt. Hier greift er in ähnlicher Weise wie am Anfang auf sprachliche Mittel zurück und zitiert in die Partitur die Klage Francescas „Nessun maggior dolore che ricordarsi del tempo felice nella miseria“ (Inf. V, 121-123). Dabei kontrastiert der musikalische Ausdruck, entsprechend der Sonderstellung, die die Episode auch in der Commedia einnimmt, mit dem überwiegend lauten, schnellen und verzerrten Klangbild des restlichen Satzes. Die lyrische Melodie zum Vers wirkt opernhaft, begleitet von Harfe und Streichern, die der Passage eine schwebende Leichtigkeit verleihen. Doch auch wenn bei der musikalischen Analyse im Gegensatz zum übrigen Satz harmonische Dreiklänge aufzuweisen sind, wirkt die Musik befremdend. Bei genauerem Blick ist erkennbar, dass eine harmonische Einheit nur vorgetäuscht ist. Denn nebeneinander gestellt weisen die Akkorde keinen funktionsharmonischen Zusammenhang auf. Die jeweiligen Töne der Akkorde übereinander geschichtet ergeben aber wiederum das Intervall des diabolus in musica. Liszt entwickelt so einen perfiden Gesamtausdruck, der Francescas nostalgische Mischung aus Erinnerung an vergangenes Glück und gegenwärtiger Verdammnis widerspiegelt. Allegorie des Fortschritts. Zur Bedeutung Dantes in Franz Liszts Schaffen 221 Für Liszt ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Musik nicht nur ein Nacherzählen von Eindrücken und der Handlung ist, um dem Vorwurf der Tonmalerei, der Programmmusik anhaftet, entgegenzuwirken. Das zeigt sich daran, dass Liszt - wenn auch mit Hilfe des Programms - die wesentlichen populären Stellen der Commedia hervorhebt. Darüber hinaus wird durch eine streng durchdachte musikalische Grundidee, die auf dem diabolus in musica fußt, eine kohärente formale Struktur gewährleistet, die unabhängig vom Programm die Musik in sich schlüssig erscheinen lässt. Dass es sich nicht um irgendeine, sondern um Dantes Jenseitsdarstellung handelt, wird jedoch erst im Zusammenspiel der Musik mit dem Programm offenbar. So auch im Purgatorio, das mit einer ruhig fließenden Klangfläche aus Streichern und Hörnern beginnt, die zu den Dissonanzen und Pointierungen des Inferno-Satzes kontrastiert. Damit führt Liszt, wie Dante im ersten Gesang des Purgatorio, das Fegefeuer nicht als Ort der Strafe und Buße ein, sondern betont seine reinigende und hoffnungsvolle Natur. Obwohl der Inferno-Satz weitaus umfangreicher, unterhaltsamer und musikalisch gewagter ist, erweist sich jedoch der Purgatorio-Satz als eigentliche Schlüsselstelle der Dante-Symphonie. Denn schließlich ist der Reinigungsgedanke in Liszts Denken von entscheidender Bedeutung. Um diesen zu betonen, greift Liszt symbolisch auf eine zu seiner Zeit archaisch wirkende Technik aus der Kirchenmusik zurück und baut am Ende des Satzes eine Fuge ein. Das Thema der Fuge leitet er aus einem Motiv des Inferno-Satzes ab, wodurch er den Schmerz der Seelen erneut hervorhebt. Durch die Fugentechnik wird das Thema in den verschiedenen Stimmlagen wiederholt, so dass der Eindruck entsteht, als rängen die Büßenden mit ihrer Schuld. Nach und nach wandelt sich jedoch der Gesamtausdruck. Die Musik wird belebter, reicher an Instrumenten und gewinnt an harmonischer Farbe. Das Thema löst sich stetig auf und mündet schließlich in pathetische Akkorde, die im strahlenden Dur erklingen, womit Liszt nicht nur die Überwindung des Leids, sondern auch den Triumph des Christentums verstanden wissen will. Diesen Gedanken unterstreicht schließlich der letzte Teil, das Magnificat, in den Liszt sinnfälliger Weise fließend überleitet. Was im Inferno gar nicht vorhanden ist, im Purgatorio nur stellenweise hervortritt, nämlich die Harmonie, erscheint hier im Übermaß durch die Verwendung von ausschließlich reinen Dreiklängen. Der Ausdruck wird durch einen Knabenchor verstärkt, der meistens einstimmig gesetzt ist, damit der Text des Lobgesangs verständlich bleibt und ein transparenter und schlichter Klang entsteht. Zum Ende erwirkt Liszt eine sanfte Steigerung, indem die Basslinie nach Manier der alten Kirchenmusik in diatonischen Schritten aufwärts strebt, womit die Nähe der Erlösung angedeutet wird. Die Auslassung des Paradiso zugunsten eines offenen Endes erweist sich jedoch auch insofern als schlüssig, als dass er somit möglichen Kritikern vorbeugt. Liszt maßt sich weder an, es Dante gleich zu tun, noch erstellt er lediglich ein Abbild der Commedia. Matthias Krautkrämer 222 Als moderner Künstler bietet Liszt dem Hörer seine eigene Auffassung von Dantes Divina Commedia und verknüpft sie mit seiner eigenen ethischen Sichtweise, die eine Vertonung des Paradieses ausschließen muss. Das progressive Wesensmerkmal des modernen Künstlers ist in der innovativen musikalischen Gestaltung nachweisbar und zeigt sich am offensichtlichsten im Inferno-Satz. Doch stünde dieser, allein betrachtet, in einer endlosen Reihe von schauerromantischen Vertonungen und Danses Macabres, wenn sich nicht in der religiösen Kernbotschaft des letzten Teils der Komponist in erster Linie selber offenbaren würde. Auch wenn diese Ebene selbstverständlich bei Dante gegeben ist, so erfährt sie durch Liszt eine individuelle Prägung. Zwar erweist sich Liszt einerseits als typischer Rezipient seiner Zeit, indem er beispielsweise gerade die populärsten Stellen der Dichtung im Inferno-Satz aufgreift. Doch in der religiösen Botschaft, die im Schlussteil zum Tragen kommt, stellt er sich einem materialistischen und atheistischen Zeitgeist, wie er sich in der oft scharf geführten Korrespondenz mit Wagner offenbart. In der Dante-Symphonie hat Liszt somit alle Punkte, die er zuvor theoretisch gefaßt hat, konsequent umgesetzt, wodurch das Werk nicht lediglich ein Zeugnis der Danterezeption wird, sondern als musikalisches Manifest mit dem Ziel einer künstlerisch-ethischen Moderne zu verstehen ist. Literaturverzeichnis Haschen, Reinhard, Franz Liszt oder die Überwindung der Romantik durch das Experiment, Frankfurt a. M. 1989. von Jan, Eduard, „Dante in der französischen Romantik“, in: Deutsches Dante Jahrbuch, 33 (1954), S. 5-21. Kesting, Hanjo (Hrsg.), Briefwechsel Franz Liszt - Richard Wagner, Frankfurt a. M. 1999. Krautkrämer, Matthias, Fortschritt als Prinzip. Liszts Schaffen am Beispiel der Dante- Symphonie, London 2007. Liszt, Franz, Gesammelte Schriften, Bd. 2-6, Lina Ramann (Hrsg.), Hildesheim 1978 - „Zur Stellung des Künstlers“, Bd. 2, S. 3-42. - „Der Comer See“, Bd. 2, S. 174-178. - „Berlioz und seine Harald Symphonie“, Bd. 4, S. 38-68. Raabe, Peter, Liszts Schaffen, Tutzing 1968. 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Es handelte sich vielmehr um eine tendenziöse Abrechnung von beispielloser Heftigkeit; doch traf der Bannstrahl des Musikologen nicht Puccini allein, er richtete sich vielmehr gegen eine ganze Generation, eine, wie Torrefranca schrieb, „generazione - oramai vecchia - rappresentata da coloro che della loro mediocrità sprituale hanno fatto il fondamento di sicuri successi e di lauti guadagni.“ 2 Es war das Aufbegehren der so genannten ‚generazione dell’ ottanta’, der auch Torrefranca selbst angehörte, einer Gruppe jüngerer Musiker, der es um „più intensa vita sprituale“ ging, die an die Stelle von Geschäftstüchtigkeit und Unterordnung unter einen internationalen Massengeschmack treten sollte. Torrefrancas Unterstellungen gipfelten schließlich in einem Frontalangriff gegen Puccini, dem er musikalische Impotenz 3 unterstellte und dessen Werkästhetik er als „dekadenten Psychologismus“ 4 geißelte. Im Folgenden sei der Versuch unternommen, zu ergründen, was mit diesem Vorwurf gemeint war. Einen Schlüssel zur Beantwortung der Frage hält mög licherweise der Kontext bereit, dem der vorliegende Text seine Entstehung verdankt: Dantes Divina Commedia und ihre Rezeption - hier im Musiktheater - und zwar bezogen auf die Francesca-Episode des Inferno im italienischen Melodramma des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. 1 Zum unmittelbareren Nachvollzug ist den nachfolgenden Ausführungen eine DVD beigegeben, auf der einige der hier angesprochenen Schlüsselszenen in kurzen Ausschnitten zusammengestellt sind. Siehe dazu jeweils die Einzelverweise im Text. Die umfangreicheren Notenbeispiele werden im Anhang mitgegeben. 2 Torrefranca, Fausto, Giacomo Puccini e l’opera internazionale, Turin 1912, S. VIII. 3 Ebenda, u.a. S. 113. 4 Für die Wortprägung, die kein exaktes Pendant bei Torrefranca hat, vgl. Ulrich Schreiber, „Vom Futurismus zum Faschismus. Italiens Oper der „‚generazione dell’ottanta’“, in: ders., Opernführer für Fortgeschrittene. Die Geschichte des Musiktheaters. Das 20. Jahrhundert I. Von Verdi und Wagner bis zum Faschismus, Kassel 2000, S. 625. Torrefranca selbst spricht immer wieder von „decadenza“ (u.a. S. 26) und übertitelt eines seiner Hauptkapitel „Psicologia dell’opera pucciniana.“ Ursula Kramer 224 Der Frage des Dichters nach ihrem Schicksal begegnet Francesca da Rimini im literarischen Original mit der Erkenntnis: „Nessun maggior dolore che ricordarsi del tempo felice ne la miseria“ (Inf. V, 121-123); das „tempo felice“ bezeichnet ihre unerlaubte Liebe zu ihrem Schwager Paolo. Es scheint, als lasse sich mit dieser Einsicht von Dantes Protagonistin ein charakteristischer Wirkmechanismus der (italienischen) Oper insbesondere des Ottocento erklären. Dabei geht es - jenseits des konkreten stofflichen Gehaltes der Dante-Episode - ganz grundsätzlich um die Diskrepanz zwischen einer grausamen Gegenwart und einer glücklichen Vergangenheit, und es geht zuvorderst um das bewusste Inbeziehungsetzen dieser beiden Zeitebenen. Letzteres wird vollzogen durch den Akt der Erinnerung, der Rückschau und des daraus resultierenden Leidens an und in der Gegenwart. Es handelt sich dabei zunächst um eine szenisch-dramaturgische Kategorie, die ihr wahres wirkungsästhetisches Potential jedoch erst durch eine entsprechende musikalische Realisierung entfaltete. Allerdings spielte solches in der italienischen Oper (um die es in der Folge ausschließlich gehen soll) nicht zu allen Zeiten eine Rolle, und es gilt, zunächst nach den Voraussetzungen zu fragen, unter denen eine Dramaturgie des Erinnerns überhaupt wirksam werden konnte. Sodann soll der Versuch einer kursorischen Rekonstruktion derselben unternommen werden, wobei auch aufzuzeigen ist, wie sich diese im Laufe der Zeit veränderte und entwickelte. Die Frage nach der ‚stoffgeschichtlichen’ Rezeption der Francesca-Episode auf der italienischen Opernbühne ist in diesem Zusammenhang nur von untergeordneter Bedeutung und wird deshalb auch nur punktuell berücksichtigt. Nach Meinung Richard Wagners erschöpfte sich die Funktion des Orchesters in der italienischen Oper seiner Zeit ohnehin in der Funktion einer „monströse[n] Gitarre zum Accompagnement der Arie“. 5 Und selbst in der jüngeren musikwissenschaftlichen Literatur kommt die italienische Oper bei der Diskussion von Leit- und Erinnerungsmotivik überhaupt nicht vor. 6 Sogar der singuläre Aufsatz von Anselm Gerhard, der sich mit der Frage von Erinnern im Musiktheater konkreter auseinandersetzt, streift die italienische Oper eher am Rande. 7 5 Wagner, Richard, „Zukunftsmusik“. Zitiert nach der Ausgabe von Borchmeyer, Dieter (Hrsg.), Richard Wagner. Dichtungen und Schriften, Band 8, Frankfurt 1983, S. 93. 6 Veit, Joachim, „Leitmotiv”, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. neu bearb. Ausg., Sachteil Bd. 5, Kassel u.a., Sp. 1078-1095. 7 Neben dem Fluch in Verdis Rigoletto nennt Gerhard insbesondere dessen Don Carlos, in dem die Verknüpfung über das rekapitulierte Thema des Liebesduetts von Carlos und Elisabeth freilich von der Aufführungsgeschichte außer Kraft gesetzt wurde (Verzicht auf den Fontainebleau-Akt). Gerhard, Anselm, „Das „im Gedenken“ uns „dünkende“ Bild eines Ungegenwärtigen. Erinnern und Entäußern in der Oper des 19. Jahrhunderts“, in: Andreas Dorschel (Hrsg.), Resonanzen. Vom Erinnern in der Musik, Wien 2007, S. 134-148, hier inbes. S. 143f. In den Werkmonographien des von Gerhard herausge- Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma 225 Ein einziger Blick auf die Funktionsweise eines der zentralen Werke des ausgehenden 19. Jahrhunderts vermag jedoch anzudeuten, dass die Erinnerungsmotivik auch für diese Phase sehr wohl von Bedeutung war - warum etwa rührt Puccinis La Bohème auch über 100 Jahre nach ihrer Uraufführung (einerlei, ob eher traditionell oder modern inszeniert) sein Publikum an manchen Abenden noch immer zu Tränen? Diese Art von Wirkungsästhetik ist - wie im folgenden zu zeigen sein wird - auf das engste mit der musikalischen Substanz und ihrer Disposition verknüpft. Dazu bedurfte es zunächst einiger grundsätzlicher Konstellationen, die geschaffen werden mussten, so dass es relativ leicht ist, ein Datum bzw. einen Zeitraum post quem für das musikalische Erinnern auszumachen. Zwar spricht Jan Assmann bereits im Zusammenhang mit Mozarts Zauberflöte und den drei Es-dur Akkorden explizit von Erinnerungsmotivik, doch zielen seine Ausführungen vorrangig auf eine Abgrenzung derselben von den sogenannten Pathosformeln (Aby Warburg). 8 Und bezeichnenderweise bleiben die Klagen der Gräfin in Le Nozze di Figaro („Dove sono i bei momenti“; Arie, III. Akt) ebenfalls (musikalisch) folgenlos, denn da Pontes Handlung setzt überhaupt erst zu dem Zeitpunkt ein, als sich die Beziehung zwischen Graf Almaviva und Rosina längst abgekühlt hat. Den Ausgangspunkt für den anschließend skizzenhaft zu beschreibenden Weg 9 markiert vielmehr aus einer Reihe von Gründen erst Gioacchino Rossini mit seiner im Jahr 1816 uraufgeführten Oper Otello: 1. Mit der Hinwendung zu einem Shakespeare-Stoff vollzieht die italienische Oper des frühen 19. Jahrhunderts nicht nur eine grundsätzliche Literarisierung, sondern folgt der Dramenvorlage mit einer neuartigen Konsequenz. Die Dramaturgie des Originals wird bis in die Schlussgestaltung hinein geachtet und nicht länger im Sinn der eigenen, angestammten Ästhetik umgebogen. 2. Hinsichtlich seiner Rezeptionsgeschichte muss Rossinis Otello als Ausnahmeerscheinung in der Zeit gelten: Als einzige ernste italienische Oper des beginnenden Ottocento erlangte sie Repertoirestatus und wurde erst durch Verdis Komposition 1881 von den Spielplänen verdrängt. 3. Vor dem Hintergrund des Entstehungszusammenhangs der vorliegenden Ausführungen ist es von besonderer Bedeutung, dass Rossinis Otello gebenen Verdi-Handbuch (Kassel, Stuttgart 2001) bleibt die Frage nach der (Wieder)- Verwendung von motivischem Material unterbelichtet (Don Carlos, Otello). 8 Assmann, Jan, „Pathosformeln, Figuren und Erinnerungsmotive in Mozarts Zauberflöte“, in: Herbert Lachmayer (Hrsg.), Experiment Aufklärung im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Wien 2006, v.a . S. 782ff. 9 Es kann und soll bei den folgenden Beispielen weder um eine „kleine Geschichte des italienischen Erinnerungsmotivs“ noch um ein Aufspüren der erstmaligen Verwendung desselben gehen. Das Phänomen motivischer Rückgriffe im Sinne eines bewussten Erinnerns kommt selbstverständlich auch in anderen, hier nicht erwähnten Melodrammi des 19. Jahrhunderts vor; die hier vorgelegten Ausführungen möchten lediglich auf das Phänomen hinweisen, das im frühen 19. Jahrhundert virulent wurde. Ursula Kramer 226 das früheste Beispiel einer Francesca da Rimini-Rezeption auf der italienischen Opernbühne darstellt. Wenngleich „nur“ als Spiegel für die eigentliche Handlung fungierend, findet somit innerhalb des Shakespeare-Plots eine zusätzliche Stufe von Literarisierung statt. 1. Die Wahl eines Shakespeare-Stoffes als Vorwurf für eine Oper war vor dem Hintergrund der italienischen Tradition bis zur Wende des 19. Jahrhunderts ein noch immer sehr bemerkenswerter Schritt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Rossini bzw. sein (literarisch durchaus ambitionierter) Librettist Berio de Salza weniger auf das literarische Original als auf jüngere Bearbeitungen (eine französische sowie eine italienische Adaption) zurückgriffen. 10 Mag dies aus streng literaturwissenschaftlicher Perspektive auch mehr als bedenklich erscheinen, so bedeutete dies für die Oper dennoch nicht weniger als eine grundsätzliche Neupositionierung, indem sie nicht nur Anschluss an ein Stück Weltliteratur suchte, sondern zugleich mit einer uralten Konvention brach, mit der Oper - die ernste Oper - von Anfang an ausgestattet war: die Verpflichtung zu einem ‚lieto fine’, zu einem glücklichen Ausgang des Ganzen, mochten dazu auch noch so atemberaubende Verrenkungen in Form von Deus ex machina Konstruktionen notwendig gewesen sein. 11 Es war insbesondere die Kompromisslosigkeit Shakespearescher Dramenschlüsse, die das Musiktheater vor seine größte Herausforderung stellte. 12 Wie immens diese tatsächlich war, wie labil sich diese Neuorientierung zunächst gestaltete, zeigt nichts deutlicher als der Umgang mit dem Rossinischen Otello: Der tragische Schluss mit dem Tod der beiden Protagonisten, wie er von Berio und Rossini konsequent umgesetzt worden war, wurde im Rahmen einer Neuproduktion am römischen Teatro Argentina 1820 wieder rückgängig gemacht und durch ein ‚lieto fine’ ersetzt - dabei handelte es sich noch nicht einmal um eine fremde Bearbeitung, sondern der Komponist nahm diese höchstpersönlich vor. Allerdings blieb diese Kehrtwende in die alte Zeit der Opera seria bei dieser Oper singulär, bei der weiteren, durchaus intensiven Rezeption des Werkes auf den italienischen Bühnen wurde der Tragödienschluss restituiert. 13 Auf längere Sicht kündigte sich darin ein 10 Vgl. Henze-Döhring, Sabine, „Gioacchino Rossini, Otello ossia Il Moro di Venezia”, in: Carl Dahlhaus (Hrsg.), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 5, München 1994, S. 394. 11 Vgl. zum Themenkomplex des ‚Lieto fine’ und seiner allmählichen Infragestellung am Ende des 18. Jahrhunderts in den verschiedenen nationalen Erscheinungsformen von Oper den von der Verfasserin herausgegebenen Band Lieto fine? Musik-theatralische Schlussgestaltung um 1800, Tübingen 2009. 12 Dass man auch im Sprechtheater mit dieser Radikalität zunächst Schwierigkeiten hatte, zeigt die Otello-Aufführung in Neapel im Jahr 1813, bei der man ein ‚lieto fine’ hinzufügte. Vgl. auch Lüderssen, Caroline, „Shakespeares Othello in Italien und Deutschland“, in: Marcus Chr. Lippe (Hrsg.), Oper im Aufbruch: Gattungskonzepte des deutschsprachigen Musiktheaters um 1800. Kassel 2007, S. 259. 13 Wie Anmerkung 10, S. 397. Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma 227 grundlegender Paradigmenwechsel in der italienischen Oper an: Sie wurde tragödientauglich bis zur letzten Konsequenz der Finalgestaltung. 2. Die nachhaltige Präsenz dieses so berühmten Stoffes auf der Opernbühne des frühen 19. Jahrhunderts mag ihrerseits dazu beigetragen haben, dass das alte Modell eines ‚lieto fine’ um jeden Preis in der Folge weit grundsätzlicher zugunsten einer neuen Werktreue gegenüber dem literarischen Original außer Kraft gesetzt wurde. Eine Finalgestaltung ohne rettende Eingriffe von höherer Hand begann, ihre Geschichte zu schreiben - und genau sie wurde im weiteren Verlauf des 19. Jahrhundert mithilfe einer psychologisierenden Behandlung des musikalischen Materials schließlich zum Motor für eine neue Art von Wirkungsästhetik. 3. In der spezifischen, von Rossinis Otello vorgegebenen dramaturgischen Disposition des Schlussaktes lag die Voraussetzung dafür, dass Erinnerung (zunächst) als dramaturgischer, in der weiteren Entwicklung aber vor allem auch als musikalischer Faktor wirksam werden konnte. Otello fungiert als Vorstufe, da hier noch keine unmittelbaren, werkübergreifenden musikalischen Konsequenzen gezogen wurden. Wie wichtig aber bereits Rossini die Dimension einer Retrospektive und eine damit verbundene Fallhöhe zwischen einer glücklichen Vergangenheit und einer unglücklichen Gegenwart war, zeigt die Einbindung des berühmten Zitates aus der Francesca da Rimini-Episode im III. Akt (Otello, von Desdemonas (vermeintlicher) Untreue überzeugt, ist zum rächenden Handeln bereit, als Desdemona in ihrem Schlafzimmer aus der Ferne das Lied eines Gondoliere vernimmt: „Nessun maggior dolore che ricordarsi del tempo felice ne la miseria“). Vordergründig handelte es sich auch in dieser Szene zunächst um ein Realitätszitat, wie es die zeitgenössische Oper im Sinn einer Couleur locale im früheren 19. Jahrhundert gerne einflocht. Dass es Rossini damit jedoch um etwas anderes ging, zeigt die Art, wie er diese Passage musikalisch in seine Partitur integrierte. 14 Möglicherweise hätte man ein solches Lied von einer Mandoline oder einer Gitarre (und bestenfalls ergänzt durch Streicherpizzicati zur harmonischen Stütze - wie Mozart es in seinem Don Giovanni getan hat 15 -) von der Bühne herab klingen lassen können, um den Realitätscharakter so deutlich wie möglich herauszustellen. Doch Rossini favorisierte eine andere Lösung: Er bindet den Gesang des Gondoliere über eine Tre- 14 Marcus Chr. Lippe unterzieht die Canzone des Gondoliere zwar einer genaueren musikalischen Analyse, deutet sie aber trotz der Unterlegung durch das Streichertremolo als abgegrenztes Bühnenlied mit der Funktion einer Couleur locale. Lippe, Rossinis opere serie. Zur musikalisch-dramatischen Rezeption, Wiesbaden 2005, S. 94-98, hier v.a. S. 96 und S. 97. 15 Akt II, Canzonetta Nr. 16: Don Giovanni hat mit Leporello die Kleider getauscht und verstellt sich mit der vergleichsweise schlichten Form einer Canzonetta auch musikalisch, um so dem Ziel seiner jüngsten Begierde leichter nahezukommen. Das dominierende Soloinstrument der Mandoline, die Mozart nur in dieser Nummer verwendet, wird von akkordischen Streicherpizzicati begleitet. Ursula Kramer 228 molo-Begleitung der Streicher in die musikalische (Kunst-)Sphäre des III. Aktes ein, so dass die inhaltliche Aussage des Gesangs dadurch unmittelbar mit dem Schicksal Desdemonas verknüpft wird. 16 Das szenisch vermeintlich unabhängige Lied draußen auf dem Wasser fungiert jedoch durch die spezifische Art musikalischer Rückbindung in Form des Tremolo als Chiffre für die gleichermaßen trostlose Situation der Protagonistin, und es ist bezeichnend, dass Desdemona selbst auf diesen Bezug eingeht, indem sie das gerade Gehörte nach dessen Abschluss entsprechend kommentiert: „Oh come infino al core giungon que‘ dolci accenti! “ 17 (Notenbeispiel 1, Anhang, S. 241ff.) Otello war nicht nur ein Meilenstein für Rossinis eigenes Schaffen; das Werk stand vielmehr am Beginn eines neuen Zeitalters der ernsten italie nischen Oper, dem Melodramma. Neben dem Erproben von Shakespeare- Stoffen 18 kamen nun erstmals auch andere, bis dato für die (italienische) Opernbühne untaugliche Sujets in Betracht, insbesondere solche mit negati vem Ausgang. Alles andere als zufällig erscheint dabei, dass ausgerechnet in dieser Phase erstmals auch Francesca da Rimini als Stoff für die Opernbühne interessant wurde: Erst jetzt, durch die neu errungene Tragödienfähigkeit, war dieses Sujet grundsätzlich auf der Opernbühne denkbar. Als Vermittlungsinstanz kann dabei das Drama von Silvio Pellico angesehen werden (1815/ 18), das auf den Bühnen Italiens präsent war. 19 Nur unwesentlich später schrieb Felice Romani, der in den späten 1820er und 30er Jahren für die großen Libretti von Bellini und Donizetti (darunter Norma, Sonnambula, Anna Bolena, Lucrezia Borgia) verantwortlich zeichnete, zwischen 1816 und 1819, ein Francesca da Rimini-Drama. 20 Dass dieser Stoff für die Komponisten jener Jahre ein innovatives Faszinosum darstellte, zeigt sich an einer ganzen Reihe von (zumindest angedachten) Francesca-Vertonungen innerhalb kurzer Zeit. 21 Wenn allerdings einige von ihnen gar nicht erst zur Auf- 16 Pierluigi Petrobelli hat darauf hingewiesen, dass Rossini mit der Art des Gondoliere- Gesangs in Form einer freien Deklamation eine alte volksmusikalische venezianische Tradition wiederaufleben ließ, indem die Gondolieri früherer Zeiten Verse aus Tassos Gerusalemme liberata, übertragen in venezianischen Dialekt, rezitierend vortrugen. Vgl. ders., „On Dante and Italian Music: Three moments”, in: Cambridge Opera Journal 2 (1990), H. 2, v. a. S. 229-231. 17 Rossini, Gioacchino, Otello ossia Il Moro di Venezia. Dramma per musica in 3 Atti di Francesco Berio di Salsa, Partitur, hrsg. v. Michael Collins, Pesaro 1994. Akt II, Canzone del Gondoliero, S. 775-778. 18 Neben Othello wurde auch der Romeo und Julia-Stoff für die italienische Opernbühne adaptiert: als Romeo e Giulia durch Niccolo Vaccai (1825) sowie unter dem Titel I Capuleti e i Montecchi von Vincenzo Bellini (1830). 19 Vgl. dazu den Aufsatz von Klaus Ley, „‚Nessun maggior dolore‘ - Francesca da Rimini im Theater des frühen 19. Jahrhunderts“ in diesem Band. 20 Ley, Dolore, S. 189ff. 21 Vgl. als erste Übersicht die Auflistung bei Horst Stieger, Opernlexikon, Titelkatalog Bd. II, Tutzing 1975, S. 481f. Stieger nennt für die Zeit zwischen 1823 und 1846 in Italien 18 verschiedene Francesca-Adaptionen, von denen die Mehrheit auf dem Libretto Felice Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma 229 führung gelangten, 22 dürfte dies höchstwahrscheinlich mit der Zensurpolitik der Zeit zusammenhängen: Es war das politische Element des Stückes, das die Verantwortlichen auf den Plan rief. 23 Keines der Werke erlangte jedoch auch nur ansatzweise einen (zumal mit Rossinis Otello vergleichbaren) Repertoirestatus. 24 Mit der grundsätzlichen thematischen Neuorientierung im italienischen Musiktheater des früheren 19. Jahrhunderts gingen auch massive musikalische und wirkungsästhetische Veränderungen einher. Die neue Ernsthaftigkeit und Intensität der Stoffe bedeutete schließlich auch das Ende des Belcanto-Gesangs, an dessen Stelle der unbedingte Wille der Komponisten nach Wahrhaftigkeit ihrer musikalischen Diktion trat. Deren erklärtes Ziel war - wie Bellini es 1834 ausgedrückt hat - das Publikum unmittelbar zu erreichen und sympathetisches Mitfühlen hervorzurufen: „Il dramma musicale deve far piangere, inorridire, morire cantando.“ 25 In einem solchen Musiktheaterkonzept ließ sich der Faktor „Erinnerung“, insbesondere die Erinnerung an bessere, glücklichere Zeiten, als dramaturgischer Mechanismus äußerst produktiv und zielorientiert in Richtung Publikum einsetzen. Um „Erinnerung“ als eigenständige Kategorie zur vollen Entfaltung bringen zu können, begann man in der Folge, neben der textlichen und szenischen Ebene auch die Möglichkeiten der Musik zu nutzen. Deren spezifische Chance lag darin, dass sich der Orchestersatz für einzelne Augenblicke gewissermaßen verselbständigte und so die zeitliche Diskrepanz und Di- Romanis basierte. Die bei Letizia Putignano, „Francesca da Rimini sulle scene del teatro d’opera italiano“, in: Claudio Poppi (Hrsg.), Sventurati amanti: Il mito di Paolo e Francesca nell‘ Ottocento, Milano 1994, S. 39-44 aufgeführten einzelnen Vertonungen decken sich mit den Angaben bei Stieger. Siehe dazu Ley, Dolore, Anm. 49, S. 189, der die verschiedenen Kompositionen aufführt. Einzelne Hinweise zu den verschiedenen Libretti finden sich auch bei Letizia Putignano, „Francesca da Rimini: la fortuna di un soggetto in opere dimenticate“ im o.g. Band, S. 129-139. Siehe auch die Bibliographie bei Maria Ann Roglieri, Dante and Music. Musical Adaptations of the Commedia from the Sixteenth Century to the Present, Aldershot 2001 sowie Klaus Ley/ Anna Kristina Laue, „Bibliographische Arbeitsblätter: Dante und seine Dichtung in der Musik - Kompositionen vom 16. Jahrhundert bis heute“ auf der beiliegenden DVD. 22 Vgl. die entsprechenden Hinweise bei Stieger, wonach ein Drittel der unter Anmerkung 17 erwähnten Kompositionen nicht zur Aufführung gelangten; auch in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden einzelne Produktionen nicht realisiert. 23 Vgl. dazu ausführlicher Ley, Dolore, S. 189ff. Dort findet sich auch die Wiedergabe eines Briefes von Meyerbeer vom 2.11.1819, der das Verbot des vorgelegten Librettos von Romani explizit thematisiert. 24 Aufgrund des (wohl von den Behörden verordneten) Ausbleibens einer nachhaltigeren Bühnenrezeption des Francesca da Rimini-Sujets in den 1820er bis 1830er Jahren und der damit einhergehenden Problematik der Materialbeschaffung (Klavierauszüge) wird dieser Strang der unmittelbarer thematischen Dante-Rezeption hier nicht weiter verfolgt. 25 Vincenzo Bellini, undat. Brief von 1834. Zitiert nach: Luisa Cambi (Hrsg.), Vincenzo Bellini. Epistolario, Verona 1943, S. 400. Ursula Kramer 230 stanz aufhob, um damit das „Damals“ aus der Rückschau punktuell auf das aktuelle szenische Geschehen treffen zu lassen. Eine diesbezügliche Schlüsselszene findet sich im II. Akt des zweiten Teils von Donizettis Lucia di Lammermoor, in der die Protagonistin nach ihrem Mord an dem ihr aufgezwungenen Ehemann dem Wahnsinn verfällt und sich dabei an das vergangene Glück mit ihrem Geliebten, Edgardo, erinnert, den sie jedoch aus persönlichem Kalkül des Bruders nicht hatte heiraten dürfen: In den ersten Teil der großen Nummer, die dem traditionellen Schema der „solita forma“ verpflichtet ist, wird eine kurze Phrase (2 Takte Einleitung + 7 Takte Thema) interpoliert, die substantiell eine wörtliche Reminiszenz der Cabaletta aus dem großen Duett der beiden Liebenden am Ende des ersten Teils der Oper darstellt: Was sich dort - zunächst von Lucia, dann von Edgardo und schließlich von beiden im Unisono vorgetragen - ins Gedächtnis einschrieb, wird hier nun als leise Reminiszenz im Orchester wiederholt. Dabei wird die Erinnerung textlich zuvor explizit motiviert, in ihren Fantasien denkt Lucia auch an Edgardo, und die Musik lässt die Vergangenheit scheinbar zur unmittelbaren Gegenwart werden: Angesichts ihres erbärmlichen äußerlichen Zustandes könnte die inzwischen eingetretene Fallhöhe nicht plastischer realisiert werden. Doch die Phantasmagorie ist nur von kurzer Dauer: Donizetti lässt sie noch nicht einmal mehr vollständig erklingen, die musikalische Gegenwart fährt jäh noch vor dem zu erwartenden Schlusston dazwischen: Notenbeispiel 2 (Anhang, S. 245f.) sowie DVD Ausschnitte 1 (Duett Lucia/ Edgardo I) und 2 (Wahnsinnsarie II). Eine Nachfahrin findet Lucia in Verdis La Traviata. Am Ende der Oper erlebt man Violetta, dem Tod geweiht, auf dem Krankenbzw. Sterbebett, als ihr zunächst ein Brief überbracht wird: Es ist das erklärende Schreiben von Vater Germont, der aus Sorge um den Ruf der Familie die ehemalige Kurtisane Violetta dazu gedrängt hatte, ihre Beziehung zu seinem Sohn aufzugeben. Violetta hatte verzichtet und sich unter Vorwänden von dem Geliebten zurückgezogen. Inzwischen hat Alfredo vom Vater die Wahrheit erfahren, und er ist auf dem Weg zu Violetta. Doch es ist zu spät: Die Krankheit ist zu weit vorangeschritten. Wieder fungiert hier die Erinnerung an die glücklichen Zeiten als besonders scharfer Kontrast zur Gegenwart. Während Violetta den Brief laut liest, erklingt eine Phrase aus dem Cantabile-Teil ihrer großen Arie am Ende des I. Aktes, nachdem ihr Alfredo bereits seine Liebe gestanden hatte und sie sich nun tastend diesem für sie neuartigen Gefühl von Liebe hingab. Unmittelbar darauf erscheint Alfredo, gerade noch rechtzeitig (so dass Raum für ein letztes Duett bleibt, das musikalisch allerdings ohne Reminiszenzen auskommt). Erst in einer letzten Fieber-Fantasie Violettas bemüht Verdi erneut die bereits zuvor zitierte Stelle: Wahnsinn (Lucia di Lammermoor) und Delirium im Angesicht des Todes (Violetta Valery) sind von der dramaturgischen Konstellation her identisch, es geht darum, Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma 231 das Bewusstsein der Protagonistin klingend in die Szene hineinzuholen (Notenbeispiel 3, Anhang, S. 247ff.). Auch wenn der Weg, den Verdi als Opernkomponist im Laufe seines Lebens musikalisch zurücklegte, außerordentlich weit war, so blieb für ihn das Melodramma doch zeit seines Lebens dem Primat des Gesangs verpflichtet, 26 auch dann noch, als er in seinen Spätwerken eine ganz neuartige musikalische Sprache fand, die streckenweise mit den klar fasslichen, periodisch gegliederten Melodiebögen der frühen und mittleren Zeit nicht mehr viel gemeinsam hatte, und an ihre Stelle statt sangbarer Kantilenen große Deklamationsbögen setzte. Um so bedeutsamer erscheint die Tatsache, dass Verdi in seinem 1887 uraufgeführten Otello die musikalische Verklammerung zwischen glücklicher Vergangenheit und unheilvoller Gegenwart über ein Motiv herstellte, das von Anfang an (und nicht erst in der Erinnerung) im Orchester erklang und nicht erst nachträglich (im Sinn einer auktorialen Erzählhaltung des Autors/ Komponisten) aus ihrem ursprünglich vokalen Zusammenhang ins Orchester als Medium einer emotionalen Erinnerung transferiert wurde. Es handelt sich um eine zunächst zweitaktige Phrase, die mehrmaligen Anlauf nimmt, bevor sie schließlich erst beim dritten Mal zu ihrem melodischen Höhepunkt gelangt und sich so zu einer insgesamt klassischen achttaktigen Periode aufaddiert. Die Singstimme hat daran nur partiellen Anteil, indem sie sich nur in den mittleren Takten 3 und 4 der Linie der Violinen anschließt, um den Rest wiederum dem Orchester alleine zu überlassen: Gleichsam überwältigt von seinen Gefühlen tritt Otello in der zentralen Liebesszene am Ende des I. Aktes hinter die reine Musik zurück (Notenbeispiel 4, Anhang, S. 250). Genau diese Phrase erklingt ein zweites Mal unmittelbar vor Ende der Oper, als die Katastrophe schon vollzogen ist: Nach seinem Mord an der vermeintlich untreuen Desdemona hat auch Otello sich selbst bereits den tödlichen Dolchstoß zugefügt, und sterbend wiederholt er die Worte „un bacio, un bacio ancora“. Verdi hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass der „effetto“ eine ganz wesentliche Kategorie für ihn als Opernkomponisten darstellte. Hier nun zeigt sich auf der Spätstufe seines Schaffens, wie viel ihm diese Wirkungsästhetik noch immer bedeutete und wie zugleich sublim er sie inzwischen handhaben konnte. 27 (DVD Ausschnitte 3 (Duett Otello/ Desdemona Ende II) und 4 (Schluss IV)). 26 „Oper ist Oper; Symphonie ist Symphonie“. Ausschnitt aus einem Brief Verdis an Opprandino Arrivabene v. 10.06. 1884; zitiert nach: Hans-Joachim Wagner, „Paradigmen der Verdi-Rezeption“, in: Gerhard, Verdi-Handbuch, S. 532. In diesem Zusammenhang thematisiert Wagner auch den grundsätzlichen Unterschied zwischen Verdi und Puccini, indem er auf die „psychologische Metaebene zur dramatischen Handlung“ hinweist (ebenda). Diese Meta-Ebene wird erst durch die Handhabung von Erinnerungsmotivik greifbar. 27 Anders als Rossini verzichtet Verdi im letzten Akt auf den Gesang des Gondoliere aus der Ferne; doch auch er sucht - gleichsam als Antwort auf die Vorlage Rossinis - den konkreten Bezug zu Dante. Während Rossini dem Lied von der Weide den Gesang des Ursula Kramer 232 Diese überaus klar gegliederte melodische Phrase verdient auch deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil es sich bei ihr um die einzige erinnerbare „Melodie“ im traditionellen Sinne handelt, die die gesamte Otello-Partitur aufzuweisen hat. Ausgerechnet sie wird zum tönenden Inbegriff für unwiederbringliche Vergangenheit. Somit bekommt das Thema der Erinnerung eine viel weitere Dimension, geht es doch jenseits des musikalisch-dramaturgischen Mechanismus innerhalb eines einzelnen Stückes von Theaterfiktion ganz grundsätzlich um die Entwicklung des italienischen Melodrammas selbst und dabei auch um jenen Anteil, den er, Giuseppe Verdi, an dieser Entwicklung hatte. Eine quantitativ wie qualitativ neue Stufe im Gebrauch derartiger Erinnerungstechnik kommt schließlich Giacomo Puccini zu, jenem Vertreter der jüngeren Generation, den Verdi anfangs ob seines vergleichsweise intensiven Gebrauchs des Orchesterapparates durchaus kritisch beurteilt hatte. 28 Genau diese Aufwertung des orchestralen Anteils macht sich auch im letzten Bild von La Bohème bemerkbar, jener Geschichte der Pariser Näherin Mimi, die durch einen Zufall den erfolglosen Dichter Rodolfo kennen- und lieben lernt, sich aber von ihm trennt und erst von Krankheit gezeichnet zum Sterben wieder in die Mansarde von Rodolfo und seinen Künstlerkollegen zurückkommt. Anders als bei Verdi, der die Kategorie der Erinnerung im letzten Akt (Otello) musikalisch nur an einem einzigen, zentralen Motiv festgemacht hatte und diesem auch nur einen singulären Moment des Wieder-Aufscheinens gewährt hatte, unterlegt Puccini gleich einem atmosphärischen Erinnerungsteppich die gesamte zweite Hälfte des letzten Bildes viel weiträumiger mit motivischem Material, das er aus den vorangegangenen Bildern übernimmt. Diese Rekapitulation beginnt bereits ganz unmittelbar mit dem Auftritt von Mimi, in dessen Folge das Orchester ihr „Mi chiamano Mimi“ aus der Begegnung mit Rodolfo im ersten Bild wiederaufgreift, noch bevor die kranke Mimi tatsächlich die Szene betritt. Hier manifestiert sich eine Verselbständigung des Orchesterpartes, wie sie für Verdi noch nicht denkbar gewesen wäre. Dazu bedurfte es wohl erst der Rezeption Wagnerscher Gondoliere vorausgehen ließ, schließt Verdi mit einem Gebet Desdemonas an, dessen Text - das „Ave Maria“ - in einer Version Verwendung fand, die nach Verdis Auffassung von Dante stammte („volgarizzato da Dante“), und die er bereits vor dem Otello als kleine geistliche Komposition ausgeführt hatte. Vgl. ausführlicher Petrobelli, „Dante: Three Moments“, S. 236-238. 28 „Ich habe viel Gutes über den Musiker Puccini gehört […] Er folgt den modernen Tendenzen, und das ist natürlich, aber er bleibt doch der Melodie verbunden, was weder modern noch alt ist. Es scheint jedoch, daß das symphonische Element bei ihm überwiegt! […] ich glaube nicht, daß es schön ist, in der Oper ein symphonisches Stück zu machen, nur um den Spaß zu haben, das Orchester zum Tanzen zu bringen.“ Nachweis wie Anm. 26. Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma 233 Ideen, mit denen sich die nachfolgende Generation so bewusst wie interessiert auseinandergesetzt und diesen Einfluss einer produktiven, wenn auch durchaus eigenen Anverwandlung unterzogen hat. 29 Das Wiederaufgreifen der „Mi chiamano Mimi“-Phrase lässt in seiner harmonischen Veränderung nichts Gutes ahnen. Das zweitaktige Motiv basierte in seiner Grundform im ersten Bild auf einer schlichten Kadenzkonstellation aus dominantischem Akkord (zweimal, auf zwei unterschiedlichen Zählzeiten) und seiner Auflösung. Verschleiert wird dies aufgrund des durchgehaltenen Orgelpunktes, bei dem der Grundton des Dominantakkordes (C in C7) zur Quint der Zieltonart wird. Allerdings stellt der Auflösungsakkord keinen Dreiklang in Reinform dar, sondern wirkt durch die hinzugefügte Sexte etwas weniger bestimmt. 30 Im vierten Bild steht der Rückgriff auf das augmentierte Motiv (Viertelstatt Achtelnoten) in einem anderen Tonartenzusammenhang; der Beginn des Motivs als G-dur Septakkord lässt eine Auflösung nach C-dur erwarten. Mit der 5. Note weicht Puccini vom diastematischen Verlauf des Originals ab, aus dem Tritonussprung wird eine Quint. Das horizontale Ausscheren geht auch mit einem vertikalen einher; an die Stelle der zweiten, um jegliche Vorhaltsnoten bereinigten Dominantbestätigung tritt hier nun gerade das Gegenteil: eine zusätzliche Schärfung durch einen dreiklangsfremden Ton (c). Die Auflösung wird geradezu zwangsläufig versagt; der dominantische Akkord mündet in einen verminderten, der seinerseits nochmals durch einen Vorhalt geschärft ist: klingende Chiffre für das Versagen einer „versöhnlichen“ Lösung auf der szenisch-dramatischen Ebene. 29 Dazu gehört die Gruppe der Scapigliatura ebenso wie Puccini. Allerdings stellt sich Boitos Auseinandersetzung mit Wagner insgesamt wohl weit weniger enthusiastisch dar, als es der Deutsche mit seinem an Boito gerichteten „Ein Brief an einen italienischen Freund“ nach außen kommunizierte oder es Verdi in seiner gekränkten Reaktion auf die (ihn selbst betreffende) von Boito öffentlich gemachte Bestandsaufnahme der gegenwärtigen italienischen Oper empfand („da quando il melodramma ha esistito in Italia in fino ad oggi, vera forma melodrammatica non abbiamo avuto giammai, ma invece sempre il diminutivo, la formula“, in: La Perseveranza, 13 settembre 1863, zitiert nach: Piero Nardi (Hrsg.), Arrigo Boito. Tutti gli Scritti, Mailand 1942, S. 1080); vgl. hierzu auch William Ashbrook, Artikel „Arrigo Boito“, in: Stanley Sadie (Hrsg.), The New Grove of Music & Musicians, 2. Auflage, London 2001, Bd. 3, S. 814. Puccini interessierte sich bereits als Jugendlicher für das Werk Wagners, und im Rahmen seines Studiums in Mailand wurde er durch seinen Lehrer Amintore Galli mit der Wagnerschen Ästhetik vertraut gemacht. 30 Die drei genannten Faktoren - Verwendung eines Orgelpunktes, Verlegung der Quinte eines Akkordes in den Bass (Quart-Sext-Akkord-Stellung) und Erweiterung des Dreiklangs zum Vierklang - sind typische Konstituenten des Puccinischen Tonsatzes. Sie alle tragen zu einer Entfunktionalisierung der Harmonik bei, indem das Gefälle von Dominante zu Tonika abgeschwächt wird. Vgl. Christen, Norbert, Giacomo Puccini. Analytische Untersuchungen der Melodik, Harmonik und Instrumentation, Hamburg 1978, S. 102, 91 bzw. 126. Ursula Kramer 234 Verstärkt wird diese Wirkung noch durch die gegenüber der Originalversion variierte Instrumentierung: Nicht länger sind es die ersten Violinen, denen das Motiv (in Verdopplung der Singstimme) zugewiesen wird, sondern - klanglich abgeschattet - Englischhorn und Bratschen. Puccini lässt diese kurze Phrase sodann noch ein zweites Mal anlaufen, nun mit dem originalen 5. Ton der Melodiefolge. Dafür aber brechen die melodietragenden Instrumente einen Takt später aus dem ursprünglichen diastematischen Verlauf aus, und die zu erwartende Entspannung im nachfolgenden Takt wird noch weiter abgeschwächt, indem der Vorhalt zum verminderten Akkord (als ohnehin labiler Stellvertreter einer erwarteten Tonika) nun keinerlei Auflösung mehr erfährt (s. Notenbeispiel). Puccini macht den Zuschauer bzw. Zuhörer somit sofort und quasi über die Köpfe der Protagonisten auf der Bühne hinweg zu seinen Mitwissern: Noch vor Rodolfo und den anderen ahnt bzw. weiß das Publikum um das tragische Ende des Geschehens. Notenbeispiel 5: Verwendung des „Mi chiamano Mimi“-Motivs im 1. Bild (Ziffer 35): Verwendung des „Mi chiamano Mimi“-Motivs im 4. Bild (16. Takt vor Ziffer 13): 31 Das sich anschließende, weit reichende Beziehungsbzw. Erinnerungsgeflecht (während sich die Freunde Rodolfos zunächst um Mimi kümmern, 31 Die Angaben beziehen sich auf den bei Ricordi erschienenen Klavierauszug (München 1965). Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma 235 um dann die beiden Liebenden noch einmal alleine zu lassen) wird von Puccini auf zwei unterschiedliche Arten disponiert: 1) Den Rahmen bildet die Handhabung von Erinnerung durch den selbständigen Erzähler Puccini wie gerade beschrieben, wobei mit der harmonischen Verfremdung des „Mi chiamano Mimi“ zu Beginn des Auftritts von Mimi zum Ende der Szene hin die mehrmalige Wiederkehr des zweiten Teils von Rodolfos „Che gelida manina“-Melodie aus dem ersten Akt korrespondiert. Was dort zunächst der Singstimme vorbehalten und anschließend von der Harfe aufgegriffen worden war, wird von Puccini nun ins Register der hohen Violinen verlegt: Über einem einsamen Basston a (ausgeführt von der Bassklarinette und solistischen Celli und Kontrabass) lässt er zwei Sologeigen mit Dämpfer spielen und führt das Zitat förmlich ins Nichts: Notenbeispiel 6: 9. Taktff. vor Ziffer 29: 2) Eingelagert in diesen aus erzähltechnischer Perspektive: auktorialen Rahmen wird die bewusste personale Erinnerung des Paares an jenen Moment, als sie sich zum ersten Mal begegneten: Neben der Originalversion des „Mi chiamano Mimi“ rekapituliert die Protagonistin nun auch noch die ersten Takte von Rodolfos „Che gelida manina“. Dass Puccini schließlich die instrumentale Fortführung des „Che gelida“ durch die beiden Soloviolinen nicht punktgenau mit dem (fast unbemerkten) Verlöschen von Mimis Leben zum Abschluss kommen lässt, sondern sie wenig später (6. Taktff. nach Ziffer 30) erneut und so lange bemüht, bis schließlich auch Rodolfo begreift, was bereits geschehen ist, belegt ein letztes Mal seine subtile Handhabung der klingenden Dramaturgie der Erinnerung. (DVD Ausschnitt 5 (Bohème 4. Bild)) Genau das war wohl gemeint, als Fausto Torrefranca 1912 Puccinis Psychologie als „dekadent“ bezeichnete. Keine Frage: Puccinis Komponieren Ursula Kramer 236 hatte eine Menge mit Psychologie zu tun, indem es die librettistische Vorlage mittels der Musik gleichsam ins Dreidimensionale übersetzte: „Nessun maggior dolor“, erzielt durch die subtile klingende Infiltration von Erinnerung, und dieser Schmerz war weniger eine Sache der Protagonisten auf der Bühne selbst, sondern zielte als „effetto“ unmittelbar auf das Mit-Leiden der Zuschauer. Bis zum heutigen Tag verfehlt er diese Wirkung nicht. Dabei ist allerdings eine weitere Komponente zu bedenken, ohne die das Mit-Empfinden der Zuschauer/ -hörer ungleich weniger intensiv ausfallen würde. Der musikalischen Gestaltung geht die dramaturgische Disposition des Librettos voraus, und diese zeigt bei allen bisher genannten Beispielen eine charakteristische Gemeinsamkeit, auf die bereits Catherine Clément aufmerksam gemacht hat: 32 Ob Lucia, Violetta, Desdemona oder Mimi - stets ist die weibliche Protagonistin Opfer. Im weitesten Sinne trägt das Schicksal Schuld, zumeist begegnet es ganz konkret in der Kategorie eines schädigenden Dritten, der (wie Germont oder Iago) die Zweierbeziehung eines Paares stört bzw. zerstört. 33 Ausnahme bildet allein La Bohème: hier reicht Mimis Krankheit aus, um ihr - wie ihren Vorgängerinnen - besondere Sympathie zu garantieren. Wie entscheidend dieser psychologische Faktor für das sympathetische Mitfühlen und schließlich -leiden des Publikums ist, soll das letzte hier zu behandelnde Beispiel verdeutlichen, bei dem es nun nicht mehr nur um das grundsätzliche musikalisch-dramaturgische Prinzip des Erinnerns geht, sondern auch um die Geschichte von Francesca da Rimini selbst: Die Uraufführung von Riccardo Zandonais gleichnamiger Oper fand 1914 in Turin statt. Eine wesentliche Rolle bei der Realisierung dieses Projektes kam Tito Ricordi, dem Sohn des berühmten Mailänder Verlegers zu, der Zandonai auf das elf Jahre zuvor entstandene Drama von Gabriele d’Annunzio aufmerksam machte und selbst die Umarbeitung des Originaltextes (im wesentlichen eine erhebliche Kürzung 34 ) vornahm. Zandonai war Jahrgang 1883, also 32 Clément, Catherine, L’opéra ou la défaite des femmes (1979). (deutsche Übersetzung als: Die Frau in der Oper. Besiegt, verraten und verkauft, München 1994.) 33 Auf diesen fundamentalen dramaturgischen Mechanismus ist in der Forschungsliteratur immer wieder mit unterschiedlichem Vokabular hingewiesen worden. Während Kurt Ringger („Che gelida manina … Betrachtungen zum italienischen Opernlibretto“, in: Arcadia 19 (1984), Heft 2, S. 120), auf G. B. Shaw zurückverweist (die Oper als „Geschichte eines Tenors und einer Sopranistin, die nicht zusammenkommen, weil ein Bariton sie daran hindert“), spricht Ulrich Schreiber in Anlehnung an Freud von einer „Kategorie der durch einen Dritten geschädigten Zweierbeziehung“. Ders., „Kikeriki und Beefsteak oder Der Alltagsmythos als Kleinkunst. Zu Text, Musik und Dramaturgie in Puccinis La Bohème“, in: Attila Csampai, Dietmar Holland (Hrsg.), Giacomo Puccini. Texte, Materialien, Kommentare, Reinbek 1981, S. 11. 34 Zandonai berichtet selbst über den durchaus kooperativen Entstehungsprozess, in dessen Verlauf d’Annunzio sich sehr wohl auch dazu bereit erklärte, bestimmte Passagen seines Dramas gemäß den Vorstellungen des Komponisten abzuändern. Vgl. hierzu Bruno Cagnoli, Riccardo Zandonai, Trento 1983, wiedergegeben nach Jürgen Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma 237 nochmals eine Generation jünger als Puccini und dementsprechend fortschrittlich in seiner musikalischen Sprache, was vor allem hieß: hinsichtlich der weitreichenden Verselbständigung des orchestralen Apparates. 35 Auch bei ihm spielt die Kategorie der Erinnerung eine wichtige Rolle; allerdings gestaltet sie sich hier grundsätzlich anders als in den vorangegangenen Beispielen: Es geht nicht länger um die Intensivierung der Fallhöhe hin zur Katastrophe mithilfe der akustischen Dimension, sondern eher um den Gebrauch der Orchestermotivik im Sinne Wagners, der das selbständige Sprachvermögen des Orchesters nicht nur als Möglichkeit zur Erinnerung, sondern ebenso auch - in umgekehrter Richtung - als Option einer Ahnung beschrieben hatte. 36 Wenn Paolo (als Lockvogel für seinen hässlichen Bruder) Francesca am Ende des ersten Bildes gegenübertritt, vollzieht sich diese Begegnung im wesentlich stumm (sieht man einmal von den Einwürfen des Chores der Francesca begleitenden Frauen ab) - „stumm“ im Sinn eines Orchesterzwischenspiel, das von einem großen Violoncellosolo dominiert wird (Notenbeispiel 7, Anhang, S. 251ff.). Durchaus vergleichbar - wenn auch kompositorisch auf einer anderen Stufe stehend - mit dem Stellenwert des Bacio-Orchestermotivs im Schlussakt des Otello - unterscheidet sich diese Cellokantilene wie bei Verdi deutlich von der übrigen kompositorischen Faktur der Partitur und betont um so mehr ihren Ausnahmestatus. Und wenn Francesca und Paolo - sehr wohl im Bewusstsein dessen, was sie tun - im letzten Akt ihre Liebe ausleben, erklingt diese Cellomelodie ein weiteres Mal - als Erfüllung der Ahnung aus dem I. Akt. 37 Diesmal allerdings verwendet Zandonai nicht nur entschieden dickere Pinselstriche bei seiner musikalischen Zeichnung, sondern kehrt gegenüber Puccini und dessen Handhabung des Motivmaterials in La Bohème auch die Verwendungsrichtung desselben um: Hier wird ein ursprüngliches Instrumentalmotiv bzw. eine instrumentale Kantilene in die Vokalstimmen überführt. (DVD Ausschnitte 6 und 7) So großartig und pathetisch diese Stelle auch klingt bzw. gerade weil diese Stelle einen derartigen Klangeindruck hervorruft, empfindet der Zuschauer mit dieser weiblichen Protagonistin kein Mitleid. Anders als ihre Maehder, „The Origins of Italian ‚Literaturoper’: Guglielmo Ratcliff, La Figlia di Iorio, Parisina and Francesca da Rimini“, in: A. Groos, Roger Parker (Hrsg.), Reading Opera, Princeton / N.Y. 1988, S. 125. 35 Zandonai war ein großer Verehrer von Wagners Werk; er sah die Götterdämmerung in der Scala und äußerte sich begeistert. In einem 1908 gegebenen Interview bezeichnete er vor allem die deutschen Komponisten - Wagner, Schumann und Beethoven - als seine großen Vorbilder. Nach: Dryden, Konrad Claude, Riccardo Zandonai. A Biography, Frankfurt 1999, S. 65 bzw. 64. 36 Wagner, Richard, „Oper und Drama, Dritter Teil: Dichtung und Tonkunst im Drama der Zukunft“, v.a. Abschnitte V und VI, in: Dieter Borchmeyer (Hrsg.), Richard Wagner. Dichtungen und Schriften, Frankfurt 1983, Band 7. 37 Zandonai, Riccardo, Francesca da Rimini. Klavierauszug Ricordi Mailand o.J. [1921], im Anhang, S. 251f. Ursula Kramer 238 Vorgängerinnen ist sie kein Opfer, sondern vollzieht den Ehebruch bewusst, was die Haltung des Publikums ihr gegenüber grundlegend beeinflusst. Worum es Ricordi und Zandonai mit diesem Stück vorrangig ging, macht nichts deutlicher als das Plakat zur Uraufführung, das eine so ganz andere Sprache spricht als jenes Bild, mit dem man 18 Jahre zuvor La Bohème beworben hatte (Abbildungen 1 und 2, Anhang, S 255-256). Wollte man den grundsätzlichen Charakter von Zandonais Partitur mit Hilfe eines Vergleiches beschreiben, könnte man sie wohl am treffendsten als „italienische Salome“ bezeichnen. Das Schwergewicht liegt auf der Schilderung des Atmosphärischen, die immer wieder eine Strauss’sche Schwüle atmet. Gemessen an den musikalischen Möglichkeiten des italienischen Melodramma des 19. Jahrhunderts war dies ein klarer Fortschritt, ein Aufbruch in eine neue Zeit, wenngleich noch keinesfalls jene grundlegende Wende, die Torrefranca zwei Jahre zuvor beschworen hatte. Zandonais Vertonung bedeutete zugleich das Ende der Francesca-Rezeption auf der italienischen Opernbühne. 38 Dass aus Dantes Stoff auch etwas anderes herauszuholen gewesen wäre, beweist der acht Jahre früher (1906) in Moskau uraufgeführte Einakter Francesca da Rimini von Sergei Rachmaninow. Schon das Libretto von Modest Tschaikowski bemühte sich um eine deutlich größere Nähe zum literarischen Vorwurf Dantes, indem es den epischen Zugriff der Vorlage aufnahm und den zentralen Teil der Liebes- Episode in einen Rahmen stellte, der die Höllenfahrt und die Begegnung des Dichters mit den beiden Protagonisten thematisiert. Damit wird der inhaltliche Kern des Geschehens zu einer „Geschichte in der Geschichte“. Literarisch somit eine deutliche Stufe näher am Original, „scheitert“ diese Idee freilich an der Unmittelbarkeit der Bühnenrealisierung. Mag auch der um die Liebesepisode gelegte Rahmen (die Höllenfahrt) von Rachmaninow musikalisch avancierter gestaltet sein als die eingerahmte Geschichte von Francesca und Paolo, so wird diese musikalische Differenz nur genau zweimal - an den Nahtstellen von Rahmen und Binnenhandlung - in der unmittelbaren Kontrastwirkung spürbar. Literarische bzw. dramaturgische Anführungszeichen lassen sich musikalisch eben nur auf einem sehr kurzen Raum - in Form eines stilistischen Bruches - nachvollziehen. Damit überließ das italienische Musiktheater die Rezeption Dantes aber keinesfalls dauerhaft anderen Nationen. Vor dem Hintergrund der in den 1910er Jahren greifbaren politischen wie künstlerischen Umwälzungen war es jedoch erst der Generation nach Zandonai vorbehalten, neue Wege der Aneignung zu gehen. Sie entdeckte „ihren“ Dante, wie etwa Dallapiccola 38 Vereinzelt gab es auch danach noch weitere Francesca-Adaptionen auf der amerikanischen Opernbühne, doch machte das Sujet jenseits von 1914 v.a. als Ballett eine eigene Karriere; so gab es 1915 eine Realisierung durch Michel Fokine. Vgl. Maria Ann Roglieri, Dante and Music, Table 3: Musical settings of particular characters from the Commedia by character and year of composition, o. S. Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma 239 mit seinem Ulisse, doch wäre dies ein anderes Kapitel der musikalischen Dante-Rezeption. 39 Darin kam das Modell des „Nessun maggior dolor“ nicht mehr vor. Als Konstruktionsprinzip einer auf sympathetisches Mitfühlen ausgerichteten Publikumsdramaturgie hatte es endgültig ausgedient. Literaturverzeichnis Ashbrook, William, „Arrigo Boito“, in: Stanley Sadie (Hrsg.), The New Grove of Music & Musicians, Bd. 3, London 2001, S. 810-815. 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Ursula Kramer 242 Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma 243 Ursula Kramer 244 Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma 245 Notenbeispiel 2: Lucia di Lammermoor, Wahnsinnsszene Lucia, Parte II, Atto II (Klavierauszug Ricordi Mailand 1961), Ziffer 25, S. 224f. - Die erinnerte Melodie ist durch Rahmen hervorgehoben. Ursula Kramer 246 Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma 247 Notenbeispiel 3: La Traviata, Schlusszene (Klavierauszug hrsg. v. Fabrizio della Seta, Riduzione condotta sull‘ edizione critica della partitura) University of Chicago Press 1996, S. 393-395. - Die erinnerte Melodie ist durch Rahmen hervorgehoben. Ursula Kramer 248 Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma 249 Ursula Kramer 250 Notenbeispiel 4: Otello, Duett Desdemona - Otello Ende I. Akt (Klavierauszug Ricordi Mailand 1983), Buchstabe YY, S. 86. - Die erinnerte Melodie ist durch Rahmen hervorgehoben. Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma 251 Notenbeispiele 5 (La Bohème) und 6 (La Bohème) siehe Text. Notenbeispiel 7a und 7b: Francesca da Rimini, I. Akt. Begegnung Francesca - Paolo. Beginn der Cello -Kantilene (die am emphatischen Kulminationspunkt der letzten Begegnung der beiden im IV. Akt in die Singstimmen transformiert wird, Bsp. 7b; vgl. auch DVD-Beispiel), im 3. Takt nach Ziffer 53 (Klavierauszug Ricordi Mailand 1921), S. 76-78 bzw. S. 327. - Die erin nerte Melodie ist durch Rahmen hervorgehoben. - Ursula Kramer 252 Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma 253 Ursula Kramer 254 Dante, „Francesca da Rimini“ und das Erinnern im italienischen Melodramma 255 Abbildungen: Die Uraufführungsplakate, mit denen der Verlag Ricordi die Werke von Zandonai und Puccini bewarb (im Original farbig) Ursula Kramer 256